Wortbildungswandel und Produktivität: Eine empirische Studie zur nominalen '-er'-Derivation im Deutschen 9783110914887, 9783484304970

Language change is operative at all levels of a language. Alongside the effects of general linguistic change phenomena,

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German Pages 224 [228] Year 2005

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Table of contents :
Siglenverzeichnis
1 Einleitung
2 Was ist Wortbildungswandel?
2.1 Wortbildungswandel in der Forschung
2.2 Wortbildungsspezifischer Wandel
2.3 Wortbildungswandel und Produktivität
2.4 Hypothesen zum Wortbildungswandel
2.5 Zusammenfassung
3 Empirische Untersuchung von Wortbildungswandel
3.1 Konzeption der Sprachwandelstudie
3.2 Die nominale -er-Derivation
3.3 Methodische Überlegungen
3.4 Auswertung und Analyseverfahren
3.5 Zusammenfassung
4 Darstellung des Wortbildungsmusters
4.1 Historische Entwicklung
4.2 Beschränkungen des Wortbildungsmusters
4.3 Konzepte: Semantische Klassifikation der Derivate
4.4 Basiswortart: Die syntaktische Kategorie der Basis
4.5 Komplexität: Die Struktur von Derivat und Derivationsbasis
4.6 Zusammenfassung
5 Wortbildungswandel und Produktivität
5.1 Diachrone Entwicklung und Produktivität des Wortbildungsmusters
5.2 Diachrone Entwicklung und Produktivität der Konzepte
5.3 Diachrone Entwicklung und Produktivität nach Basiskategorie
5.4 Diachrone Entwicklung und Produktivität nach Basisstruktur
5.5 Wandeltendenzen der nominalen -er-Derivation
6 Resümee
7 Anhang
7.1 Ergebnisse absolut
7.2 Ergebnisse je 100.000 Wortformen
7.3 Relative Entwicklung
7.4 Relative Verteilung
7.5 Ergebnisse früherer Arbeiten
7.6 Erläuterungen zum Anhang
8 Literaturverzeichnis
8.1 Quellen des Zeitungskorpus
8.2 Weitere Quellen
8.3 Wörterbücher
8.4 Forschungsliteratur
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Wortbildungswandel und Produktivität: Eine empirische Studie zur nominalen '-er'-Derivation im Deutschen
 9783110914887, 9783484304970

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Linguistische Arbeiten

497

Herausgegeben von Hans Altmann, Peter Blumenthal, Klaus von Heusinger, Ingo Plag, Beatrice Primus und Richard Wiese

Carmen Scherer

Wortbildungswandel und Produktivität Eine empirische Studie zur nominalen -er-Derivation im Deutschen

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2005

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-30497-9

ISSN 0344-6727

© Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2005 Ein Unternehmen der K.G. Saur Verlag G m b H , München http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Laupp & Göbel G m b H , Nehren Einband: Nädele Verlags- und Industriebuchbinderei, Nehren

Vorwort

Diese Arbeit ist das Ergebnis meiner dreieinhalbjährigen Forschung über nominale -erDerivate im Deutschen. Und wenn ich auch viele Stunden alleine und grübelnd in meinem stillen Kämmerlein zugebracht habe, so wäre diese Arbeit doch ohne die Unterstützung von Kollegen und Freunden nicht zustande gekommen. Bei ihnen allen möchte ich mich an dieser Stelle bedanken. Mein besonderer Dank geht an meinen Betreuer Jörg Meibauer, der mir mit sicherem Instinkt zum 'richtigen' Thema geraten hat, der stets offen war fur einen anregenden Gedankenaustausch und der mir während der letzten Jahre die richtige Mischung aus Unabhängigkeit und Unterstützung geboten hat, sowie an meine Zweitgutachterin Damaris Nübling, deren Begeisterung für diachrone Wortbildung mein Interesse an diesem Thema positiv verstärkt hat. Die Konzeption der Untersuchung, das Erheben der Daten und der Aufbau der Belegdatenbank erfolgte im Rahmen des DFG-Projekts "Wortbildungswandel diachron und ontogenetisch". Allein diese Vorarbeiten nahmen anderthalb Jahre in Anspruch, und hätten nicht Claudia Faust, Edda Gerhart, Stefanie Nartschik und Stephan Scheffe monatelang geduldig Belege erfasst, würde ich noch heute meine Datenbank futtern. Ihnen sei an dieser Stelle herzlich für ihr Engagement gedankt. Mein Dank geht zudem an Astrid Blome und Johannes Weber von der Zentralen wissenschaftlichen Einrichtung "Deutsche Presseforschung" in Bremen für ihre Hilfe bei der Recherche und Auswahl der historischen Zeitungen sowie an Ingo Plag, der mir die Dissertation von Ciaire Cowie zugänglich machte. Gedankt sei auch meinen Kollegen Markus Steinbach, der mir bei meinen Fragen zur Semantik und Syntax mit kompetentem Rat zur Seite stand, und Carsten Jakobi, der mir in methodischer Hinsicht und bei den alltäglichen Problemen des Promovierens eine große Hilfe war. Für ihre Bereitschaft, meine Arbeit Korrektur zu lesen, danke ich Stephan Scheffe und Antje Dammel. Danken möchte ich an dieser Stelle auch meinen früheren Kollegen, Lehrern und Lehrerinnen aus Marburg Birgit Alber, Ruth Albert, Susanne Bartke und Richard Wiese, deren Unterstützung maßgeblich dazu beigetragen hat, dass ich das Projekt 'Promotion' in Angriff genommen habe. Abschließend möchte ich mich auch bei all jenen Menschen bedanken, die mir in den letzten Jahren geholfen haben, die Anspannung und den Stress, den eine Dissertation mit sich bringt, zu überstehen und das Leben außerhalb der Universität nicht vollständig aus dem Blick zu verlieren, bei meinen Freunden und Freundinnen Andrea, Anja, Carsten, Heike, Katja, Sabine, Suzi, Sylvia und Thobi. Für die Veröffentlichung wurde das zugrunde liegende Manuskript leicht bearbeitet und gekürzt. Entfallen mussten aus Platzgründen im empirischen Teil (Kap. 5) die Angabe des Bestimmtheitsmaßes (R2) sowie im Anhang (Kap. 7) die detaillierte Übersicht über die 2.083 ausgewerteten Derivate und die 27 nicht berücksichtigten Modifikationsbildungen. Diese Informationen sind für Interessierte im Internet unter folgender Adresse zugänglich: http://www.germanistik.uni-mainz.de/linguistik/wbw/

Inhaltsverzeichnis

Siglenverzeichnis 1 2

Einleitung Was ist Wortbildungswandel? 2.1

2.2 2.3

2.4 2.5 3

Wortbildungswandel in der Forschung 2.1.1 Morphologischer Wandel und historische Morphologie 2.1.2 Natürlicher Wandel 2.1.3 Historische Wortbildung 2.1.3.1 Historisch-synchrone Wortbildung 2.1.3.2 Diachrone Wortbildung Wortbildungsspezifischer Wandel Wortbildungswandel und Produktivität 2.3.1 Dimensionen der Produktivität 2.3.2 Produktivitätsbeschränkungen Hypothesen zum Wortbildungswandel Zusammenfassung

Empirische Untersuchung von Wortbildungswandel 3.1 Konzeption der Sprachwandelstudie 3.1.1 Das Mainzer Zeitungskorpus als Sprachwandelkorpus 3.1.2 Das Mainzer Zeitungskorpus und die historische Distanz 3.2 Die nominale -er-Derivation 3.2.1 Klassifikation von-er-Derivaten 3.2.2 Varianten und Suffixerweiterung 3.2.2.1 Native Suffixvarianten 3.2.2.2 Nicht-native Suffixerweiterungen 3.3 Methodische Überlegungen 3.3.1 Prinzipielle Festlegungen 3.3.2 Transparenz der Derivate 3.3.3 Mehrfachaffigierung und Komposition 3.3.4 Bildungsprozess 3.3.5 Gebundene Stämme als Basis 3.3.6 Abgrenzung Derivation vs. Flexion 3.3.6.1 Adjektivische Flexionsformen vs. nominale -er-Derivate 3.3.6.2 Nominale Flexionsformen vs. nominale -er-Derivate 3.3.7 Abgrenzung nominaler und adjektivischer Derivationsmuster 3.3.7.1 Adjektivische vs. nominale-er-Derivate 3.3.7.2 Modifikationsbildungen vs. Transpositionsbildungen 3.4 Auswertung und Analyseverfahren 3.4.1 Produktivitätsmessung und Produktivitätsmaße 3.4.2 Produktivitätswandel und diachrone Produktivitätsmessung 3.5 Zusammenfassung

XI 1 5 5 6 9 13 15 21 28 32 33 34 36 37 39 39 39 43 45 47 51 52 54 56 57 59 62 64 66 67 68 70 71 71 73 75 77 80 82

VIII 4

Darstellung des Wortbildungsmusters 4.1 Historische Entwicklung 4.2 Beschränkungen des Wortbildungsmusters 4.2.1 Outputbeschränkungen 4.2.2 Inputbeschränkungen 4.3 Konzepte: Semantische Klassifikation der Derivate 4.3.1 Zur semantischen Interpretation nominaler -er-Derivate 4.3.2 Kognitive und ontologische Konzepte 4.3.3 Referenzkonzept und Konzeptverschiebung 4.4 Basiswortart: Die syntaktische Kategorie der Basis 4.4.1 Appellativische und onymische Basen 4.4.2 Lexikalische und phrasale Kategorien als Basen 4.4.3 Ambige Basen 4.5 Komplexität: Die Struktur von Derivat und Derivationsbasis 4.5.1 Komplexität der Lexeme: Derivation oder Komposition? 4.5.2 Komplexität der Basen 4.5.3 Transparenz und Komplexität onymischer Basen 4.6 Zusammenfassung

83 83 88 89 91 94 95 99 102 104 105 108 109 111 112 117 118 118

5

Wortbildungswandel und Produktivität 5.1 Diachrone Entwicklung und Produktivität des Wortbildungsmusters 5.2 Diachrone Entwicklung und Produktivität der Konzepte

121 121 127

5.2.1 5.2.2 5.2.3

5.3

5.4

5.5

Das Konzept PERSON Das Konzept OBJEKT Das Konzept ABSTARKTUM

5.2.4 Zusammenfassung Diachrone Entwicklung und Produktivität nach Basiskategorie 5.3.1 Deverbale Ableitung 5.3.2 Denominale Ableitung 5.3.3 Deonymische Ableitung 5.3.4 Andere Basiskategorien 5.3.5 Zusammenfassung Diachrone Entwicklung und Produktivität nach Basisstruktur 5.4.1 Monolexematische Basis 5.4.2 Multilexematische Basis 5.4.3 Zusammenfassung Wandeltendenzen der nominalen-er-Derivation

129 133 138

140 141 144 148 153 159 160 161 163 168 172 173

6

Resümee

183

7

Anhang 7.1 Ergebnisse absolut 7.1.1 Überblick 7.1.2 Typen (V) 7.1.3 Tokens (N) 7.1.4 Hapax Legomena (ni)

189 189 189 189 190 190

IX 7.2

7.3

7.4

7.5

7.6 8

Ergebnisse j e 100.000 Wortformen

191

7.2.1

Überblick

191

7.2.2

Typen ( V )

191

7.2.3

Tokens ( N )

192

7.2.4

Hapax Legomena (n,)

192

7.2.5

Produktivität i.e.S. ( [le:re]) (Maas 1999:246f.), darüber hinaus bei Wortbildungsmustern aber auch spezifische Veränderungen formaler und inhaltlicher Beschränkungen sowie der Produktivität auftreten können. Der Versuch, Wortbildungswandel als Wandel von Lexikoneinträgen zu fassen, greift demnach zu kurz. Die lexikalistische Hypothese lässt somit hinsichtlich diachroner Veränderungen in der Wortbildung einige Fragen offen. Bislang ist nicht ausreichend geklärt, ob die Wortbildung eine autonome Komponente der Grammatik darstellt oder ob ihr, sofern sie Bestandteil einer anderen Komponente wie der Morphologie, des Lexikons bzw. der Syntax bildet, zumindest ein gewisser Grad an Autonomie zukommt. Es erscheint mir jedoch sinnvoll, von einer Autonomie bzw. Teilautonomie der Wortbildung innerhalb der Grammatik, d.h. von einem eigenständigen Wort-

4 bildungsmodul, auszugehen, und die Ergebnisse meiner theoretischen und empirischen Untersuchung zum Wortbildungswandel liefern einige Evidenz für diese Annahme. Eine weitere wichtige Frage, die im Rahmen meiner Arbeit nicht hinreichend geklärt werden kann, ist die Frage nach den Auslösern bzw. Gründen des Wortbildungswandels. Prinzipiell ist beim Wortbildungswandel wie bei jeder Art sprachlichen Wandels von sprachinternen und -externen Auslösern für den Wandel auszugehen. Gerade jene Veränderungen aber, die charakteristisch sind für den Wortbildungswandel wie die Veränderung formaler und inhaltlicher Beschränkungen oder die Veränderung von Produktivitätsverhältnissen, lassen sich nur schwer auf konkrete sprachexterne Einflüsse zurückführen. Bei der Diskussion meiner Daten verweise ich zwar wiederholt auf sprachexterne Faktoren, die möglicherweise einen Einfluss auf die diachrone Entwicklung des untersuchten Wortbildungsmusters ausüben bzw. ausgeübt haben, entscheidender scheinen im Hinblick auf Wortbildungswandel aber vielmehr sprachinterne Faktoren zu sein, die sich mittelbar in der Veränderung der Produktivitätsverhältnisse niederschlagen.

2

Was ist Wortbildungswandel?

2.1 Wortbildungswandel in der Forschung

Obwohl die diachrone Erforschung der Wortbildung in der germanistischen Forschung eine lange Tradition hat (J. Grimm 1826, 1831, Wilmanns 1899, Henzen 1965, Erben 2000) und der Begriff 'Wortbildungswandel' in der aktuellen Forschung wiederholt fallt (Demske 2000, Meibauer 1998, Munske 2002, engl, 'word formation change' Scherer 2003), handelt es sich dabei im Gegensatz zu 'Lautwandel' oder 'Bedeutungswandel' keinesfalls um einen etablierten Begriff. Munske (2002:24) macht "die Unmerkbarkeit dieses Phänomens" dafür verantwortlich, dass dem Wortbildungswandel bislang so wenig Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Diese Unauffalligkeit des Wandels erklärt sich aus der "erstaunlichefn] Kontinuität des Wortbildungssystems" (Munske 2002:24), in dem die meisten Wortbildungsmodelle der Gegenwart schon seit dem Alt- und Mittelhochdeutschen ausgebildet oder zumindest angelegt waren. Tatsächlich scheint es so zu sein, dass lange Zeit nur jene Sprachwandelphänomene wahrgenommen wurden, die über die Grenzen der Wortbildung hinausgreifen wie Reanalyse-, Lexikalisierungs- oder Grammatikalisierungsprozesse. Dieser Eindruck verstärkt sich noch bei der Sichtung jener Forschungsliteratur, die eine diachrone Auseinandersetzung mit der Wortbildung erwarten lässt. Die Fülle an Beiträgen zum Sprachwandel ist nahezu unüberschaubar. Beschränkt man sich darauf, nur jene Monografien zu nennen, die sich in den vergangenen zehn Jahren unter theoretischen Gesichtspunkten mit Sprachwandel allgemein befasst haben, so sind allein die Arbeiten von Aitchison (2001), Berg (1998), Cooper (1999), Croft (2000), Rudi Keller (1994), Lass (1997), Lightfoot (1999), McMahon (1994, 2000) und Trask (1994) - soziolinguistische Werke wie Labov (1994, 2001) und Milroy (1992) nicht eingeschlossen - anzuführen, ohne dass deshalb die Aufzählung Anspruch auf Vollständigkeit erheben könnte. Dabei wird die Übertragbarkeit der Theorien, die in der Regel auf der Beobachtung phonologischer, syntaktischer oder flexionsmorphologischer Veränderungen beruhen, auf andere Komponenten der Grammatik, speziell die Wortbildung, bislang eher stillschweigend vorausgesetzt als empirisch untermauert. Die grundlegende Voraussetzung, um den Nachweis führen zu können, dass der Wandel in der Wortbildung bestimmten Prinzipien unterliegt, ist allerdings, dass, wie in dieser Arbeit angestrebt, zuvor diachrone Entwicklungen in der Wortbildung systematisiert und auf deren Spezifität für die Wortbildung hin überprüft werden. Solange die spezifischen Wandelphänomene der Wortbildung nicht erfasst worden sind, erscheint eine Einordnung in allgemeine Wandeltheorien verfrüht, weshalb ich mich bei meiner Untersuchung für eine induktive Vorgehensweise entschieden habe. Dies ist auch der Grund, warum ich auf Arbeiten zum Sprachwandel allgemein oder zu bestimmten Typen des Wandels nur eingehe, wenn diese wie der morphologische Wandel für die Wortbildung einschlägig oder in methodischer Hinsicht relevant sind. Theoretische Überlegungen zum Wandel in der Wortbildung sind selten. Ansätze dazu sind zu erwarten in der historischen Wortbildung, die sich teilweise explizit unter diachronen Aspekten mit der Wortbildung beschäftigt, sowie in Arbeiten zum morphologischen

6 Wandel und zur Natürlichen Morphologie, da sich diese beiden Forschungsrichtungen explizit (morphologischer Wandel) oder implizit (Natürliche Morphologie) mit Wandelprozessen in der Morphologie befassen, deren Teilgebiet die Wortbildung darstellt. Wie der folgende Forschungsüberblick zeigen wird, sind jedoch die Erkenntnisse, die der wissenschaftliche Diskurs über morphologischen Wandel und Natürliche Morphologie für den Wortbildungswandel beizusteuern hat, stark begrenzt. Dahingegen hat sich eine ganze Reihe von Autoren mit der nominalen -er-Dcrivation auseinandergesetzt, d.h. mit jenem Wortbildungsmuster, das im empirischen Teil dieser Untersuchung dazu dient, die Thesen zum Wortbildungswandel zu überprüfen. Neben ausführlichen Darstellungen der -er-Derivation in allen gängigen Wortbildungslehren (z.B. Fleischer/Barz 1995, Mötsch 1999) und Grammatiken (z.B. Eisenberg 1998) liegt eine beachtliche Zahl semasiologischer, onomasiologischer und kontrastiver Studien vor, die sich mit der -er-Derivation in verschiedenen germanischen Sprachen beschäftigen. An neueren semasiologischen Arbeiten sind fur das Deutsche etwa Bittner (1995, 1997, 2004) und Meibauer (1995a, 1995b, 1998) anzuführen, für das Englische unter anderem Heyvaert (1997, 1998, 2001), Levin/Rappaport (1988), Rappaport Hovav/Levin (1992) und Ryder (1991, 1999) sowie für das Niederländische die Aufsätze von Booij (1986) und de Caluwe (1992, 1995). Daneben werden nominale -er-Derivate regelmäßig im Zusammenhang mit Personenbezeichnungen (z.B. Baeskow 2002, Stricker 2000), seltener mit Objektbezeichnung e n - hier nur Wollermann (1904) - behandelt sowie in Arbeiten, die sich mit nominaler Wortbildung (z.B. Brendel et al. 1997, Döring/Eichler 1996, P.Müller 1993a) oder mit bestimmten syntaktischen Aspekten deverbaler Derivate wie der Argumentvererbung (Olsen 1986, Szigeti 2002) oder der Inkorporation (Rivet 1999) befassen. Ich klammere an dieser Stelle weitere Ausführungen und Titel aus, da die entsprechende Literatur bei der Charakterisierung des Wortbildungsmusters in Kapitel 4 aufzugreifen und eingehend zu diskutieren sein wird.

2.1.1

Morphologischer Wandel und historische Morphologie

Diachrone Veränderungen in der Wortbildung sind Bestandteil morphologischen Wandels. Dass diese Sicht jedoch nicht allgemeiner Konsens ist, zeigt die Auffassung von Leiss (1998:851 f.), der zufolge die Veränderung grammatischer Funktionen - und damit lediglich von Flexionselementen - den Gegenstand morphologischen Wandels bildet. Auch Andersens (1980) Typologie morphologischen Wandels bleibt auf Fragen der Flexionsmorphologie beschränkt. Nach Cowie (1999:7) tendieren diachrone Darstellungen der Morphologie generell dazu, die Wortbildung wenn nicht vollständig auszusparen, so doch zumindest zu vernachlässigen. Nur in geringem Umfang werden Veränderungen in der Wortbildung in der Literatur zum morphologischen Wandel (Anderson 1988, Baldi/Schmalstieg 1990) bzw. zur diachronen Morphologie (Joseph 1998, Panagl 1987) thematisiert. Unter dem Stichwort 'morphologischer Wandel' werden häufig nicht nur Veränderungen im Rahmen von Flexion und Wortbildung, also Veränderungen, die innerhalb einer Morphologie-Komponente der Grammatik stattfinden, behandelt, sondern auch Fälle, in denen einzelne morphologische Phänomene ihren Ursprung in anderen Komponenten der Grammatik haben. Anderson (1988:328-354) etwa legt den Schwerpunkt weniger auf innermorphologische Wandelprozesse als vielmehr auf die Morphologisierung phonologischer Re-

7 geln (z.B. r-Plural im Deutschen) und syntaktischer Strukturen. Die Morphologisierung stellt zwar keinen genuin wortbildungsspezifischen Vorgang dar, wirkt sich jedoch insofern auf die Wortbildung aus, als durch Reanalyse neue morphologische Kategorien, insbesondere Affixe, entstehen können. Grammatikalisierungsprozesse können zur Ausbildung von gebundenen Morphemen aus ehemals freien Lexemen fuhren wie beispielsweise im Fall der etymologisch verwandten Wörter aeng. häd und ahd./mhd. heil (beide 'Wesen, Person, Rang'), die ursprünglich als Kompositionsglied dienten, später aber als Derivationsaffixe (engl, -hood, nhd. -heif) reanalysiert wurden (Anderson 1988:336). Was innermorphologischen Wandel betrifft, so bemängelt Anderson (1988:354) zwar das Fehlen von "real results or established principles", beschränkt sich aber im Folgenden auf die Diskussion verschiedener Analogieansätze. Für den Wandel in der Wortbildung hat die Analogie allerdings nur geringe Erklärungskraft, da Wortbildungsprodukte im Normalfall nach produktiven Regeln und nur in Ausnahmefallen in Analogie zu bestehenden Vorbildern gebildet werden.1 Analogie ist insofern im Bereich der Wortbildung allenfalls bei der Erklärung von Innovationen wie Hausmann zu Hausfrau und Rückbildungen (staubsaugen < Staubsauger) von Bedeutung. Auch Baldi/Schmalstieg (1990:347-354) erörtern die Rolle der Analogie im morphologischen Wandel, betonen jedoch deren begrenzten Prognosewert: "We may know an analogy when we see one, but it is doubtful that we will ever be able to predict one" (Baldi/Schmalstieg 1990:354). Als weitere Arten morphologischen Wandels diskutieren die Autoren Veränderungen im Kasussystem (Entstehen von Synkretismen), im Bestand an Stämmen und Affixen (u.a. die Aufspaltung eines Stamms in zwei als Folge phonologischen Wandels) und in der Wortbildung. Im Rahmen der Wortbildung behandeln Baldi/Schmalstieg (1990:358ff.) einzelne Wandelprozesse, die entweder ausschließlich die Wortbildung oder neben der Wortbildung zusätzlich das Lexikon betreffen. Konkret gehen sie ein auf den Verlust der komplexen Struktur bei Wortbildungsprodukten (Lexikalisierung), den Wandel von exozentrischen zu endozentrischen Kompositions- und Derivationsmustern in den indogermanischen Sprachen (z.B. Sanskrit räja-putra- 'Könige zum Sohn habend' > 'Sohn des Königs') sowie auf das Entstehen neuer Suffixe, sei es aus Kompositionsgliedern (germ. *-Ukaz 'Körper' > nhd. -lieh; vgl. die Morphologisierung syntaktischer Strukturen bei Anderson 1988) oder durch das Verschmelzen bestehender Affixe (mhd. -ec + -heit > nhd. -igkeit). Die offensichtliche Heterogenität der zusammengestellten Wandelprozesse resultiert aus zweierlei Versäumnissen: Zum einen unterlassen es Baldi/Schmalstieg (1990) wie Anderson (1988) und die Mehrheit der noch zu diskutierenden Autoren, morphologischen Wandel auf innermorphologische Entwicklungen bzw. Wortbildungswandel auf wortbildungsspezifische Veränderungen, d.h. auf autonome Komponenten bzw. Module der Grammatik, einzugrenzen. Zum Zweiten fehlt eine gründliche Prüfung, inwiefern die behandelten Phänomene für die Wortbildung bzw. die Morphologie spezifisch und nicht durch andere Wan-

1

Die ältere Forschung (z.B. Henzen 1965:13ff„ Paul 1896, 1995:112f.) vertritt allerdings den entgegengesetzten Standpunkt, nämlich dass Analogiebildungen den Motor von Veränderungen in der Wortbildung darstellen. Nach Henzen (1965:13) etwa basieren "weitaus die meisten Zusammensetzungen und die ganze Ableitung" auf Analogiebildung. In diese Tradition ist auch Becker ( 1 9 9 0 ) einzuordnen, der in seiner Arbeit zu Analogie und morphologischer Theorie den Unterschied zwischen Analogie- und Regelbildung aufhebt.

8 deltypen erklärbar sind, etwa die Verschmelzung von Affixen und die Aufspaltung von Stämmen durch phonologische Prozesse. Joseph (1998) strebt, bevor er sich der Darstellung von internen und externen Einflussfaktoren auf den morphologischen Wandels zuwendet, eine Bestandsaufnahme der Veränderungen an, die innerhalb der Morphologie auftreten bzw. nicht auftreten können. Von Wandel betroffen sein können nach Joseph (1998:352) die Flexion, die Derivationsmorphologie, der morphologische Status von Elementen, die Art der Beziehung zwischen den Morphemen und die Art und Anzahl der Lexikoneinträge für Morpheme und Lexeme. Veränderungen in der Derivation wiederum können sich in der Art, wie Stämme gebildet und modifiziert werden, und in der Produktivität der Wortbildungsprozesse manifestieren. Erläuterungen oder Beispiele gibt Joseph allerdings keine. Auffällig an Josephs Bestandsaufnahme sind zwei Dinge: Zum einen werden neben der Derivation keine anderen Wortbildungsprozesse genannt, zum Zweiten sind Veränderungen von Lexikoneinträgen eher dem lexikalischen als dem morphologischen Wandel zuzurechnen (vgl. Kap. 2.1.3.1). Morphologischer Wandel, insbesondere analogischer Wandel, betrifft, so Joseph (1998:366), im Gegensatz zu phonologischem Wandel üblicherweise nur einzelne Lexeme, etwa deren Form, Selektionsmerkmale und die Beziehung zu anderen Lexemen. Diese Aussage impliziert, dass morphologischer Wandel unabhängig vom morphologischen Status der betroffenen lexikalischen Einheiten auf Lexemebene und nicht auf Morphemebene ansetzt. Im Fall der Wortbildung würden somit lediglich konkrete Wortbildungsprodukte, nicht aber deren Bildungsprozesse morphologischem Wandel unterliegen, was in offenem Widerspruch zu den von Joseph genannten Veränderungen in der Produktivität von Derivationsprozessen steht. Was die Erarbeitung einer Theorie des morphologischen Wandels angeht, ist Joseph (1998:366) insgesamt eher skeptisch: Thus, it may well be that for morphological change, a general theory - that is, a predictive theory is not even possible, and that all that can be done is to catalogue tendencies [...].

Einer der Gründe, die die Erarbeitung einer Theorie des morphologischen Wandels behindern, könnte darin bestehen, dass bislang bei der diachronen Betrachtung von Morphologie die Unterschiede zwischen Flexion und Wortbildung ausgeklammert wurden, wohingegen die separate Behandlung der beiden Gebiete in der synchron ausgerichteten Forschung üblich ist. Ein weiterer liegt vermutlich darin, dass Schnittstellenphänomene, die mehrere Module der Grammatik betreffen, wie die Lexikalisierung (Wortbildung, Lexikon) oder Morphologisierung (Phonologie/Syntax, Wortbildung/Flexion) nicht als solche, sondern als ausschließlich morphologischer Wandel wahrgenommen werden. Ein ebensolches, allerdings innermorphologisches Schnittstellenphänomen, den Übergang des lateinischen Derivationsmusters mit dem Suffix -tu- in die Flexion, behandelt der Aufsatz von Panagl (1987). Stärker als Joseph betont Panagl den Stellenwert der Produktivität bei innermorphologischen Wandelprozessen. Erst die uneingeschränkte Produktivität der lateinischen Abstrakta auf -tu- habe die Grundlage dafür geschaffen, dass das Abstrakta bildende Wortbildungsmuster in Form des Supinums in die Flexion übertreten konnte (Panagl 1987:125). Zwar findet auch bei Panagl keine theoretische Klärung statt, welche Art von Wandelphänomenen spezifisch fur Flexion bzw. Wortbildung ist, dafür ist die von Panagl aufgestellte Produktivitätshierarchie aufschlussreich im Hinblick auf die nominale -er-Deriva-

9 tion. Die Produktivitätshierarchie beruht auf Implikationsbeziehungen und gibt im Rahmen der deverbalen Substantivderivation Auskunft darüber, wie produktiv einzelne semantische Kategorien sind und welche semantischen Klassen aus anderen abgeleitet werden können (Panagl 1987:136f.). Nach dem Umfang ihrer Produktivität geordnet, sind folgende semantische Wortbildungstypen bei der deverbalen Ableitung von Substantiven produktiv: (1)

action noun > agent noun > instrument noun

(Panagl 1987:136)

Dies bedeutet, dass ein Wortbildungsmuster, das bevorzugt deverbale Abstrakta bildet wie etwa X+ung (Bedienung 'Service'), auch genutzt werden kann, um Agentiva (Bedienung 'Kellner, Kellnerin') und Instrumente (Fernbedienung) abzuleiten. Darüber hinaus können ausgehend von Instrument-Bezeichnungen Lokativa gebildet werden (Panagl 1987:137). Panagls Produktivitätshierarchie ermöglicht zudem eine Voraussage über die Richtung, in die historische Sprachwandelprozesse verlaufen (vgl. Kap. 2.1.2). Der knappe Abriss der Forschungsliteratur macht die Verflechtung des morphologischen Wandels mit anderen Komponenten der Grammatik, insbesondere dem Lexikon, deutlich (Morphologisierung, Grammatikalisierung). Deutlich wurde aber auch, dass der Wortbildung im Rahmen des morphologischen Wandels bislang nur wenig Beachtung geschenkt wurde. Ein deutliches Indiz dafür ist neben der geringen Zahl an behandelten Beispielen die Fokussierung auf die Rolle der Analogie im morphologischen Wandel - was bis hin zu einer Gleichsetzung von morphologischem mit analogischem Wandel gehen kann (Hock 2003:449). Analogie allein kann jedoch die Wandelphänomene in der Wortbildung, wie etwa die von Joseph und Panagl genannte Veränderung von Produktivitätsverhältnissen, nicht ausreichend erklären. Joseph spricht mit Produktivität und Selektionseigenschaften zwei für den Wortbildungswandel zentrale Faktoren an, unterlässt es aber ebenso wie Anderson (1988) und Baldi/Schmalstieg (1990), Veränderungen innerhalb der Morphologie-Komponente der Grammatik und Schnittstellenphänomene voneinander zu trennen und flexionsmorphologischem und wortbildungsspezifischem Wandel im Rahmen des morphologischen Wandels einen eigenständigen Charakter einzuräumen. Eine exakte Definition des Untersuchungsgegenstands könnte ein erster Schritt in Richtung einer Theorie des morphologischen Wandels sein und muss ein erster Schritt zu einer Theorie des Wortbildungswandels sein. Die Erforschung von Wortbildungswandel dürfe sich, so Demske (2000:406), "nicht in der Katalogisierung von einzelnen Tendenzen erschöpfen", vielmehr sei eine systematische Untersuchung formaler Veränderungen notwendig, um heutige Produktivitätsverhältnisse zu verstehen. Auf die bereits von Joseph (1998) und Panagl (1987) thematisierte Bedeutung morphologischer Produktivität für den Wandel in der Wortbildung werde ich im Folgenden wiederholt zurückkommen.

2.1.2

Natürlicher Wandel

Wie die historische Morphologie befasst sich auch die Natürliche Morphologie vorrangig mit der Flexionsmorphologie (Dressler 2000, Mayerthaler 1981, Wurzel 2001). Fragen der Wortbildung werden zwar gelegentlich berührt, selten jedoch ausführlicher diskutiert. Eine Ausnahme bilden die Aufsätze von Dressler (1986, 1987) und Wurzel (1996). Da natürlicher Sprachwandel als "Epiphänomen der Markiertheit" (Wurzel 1994:34) gesehen wird, ist

10 die Natürlichkeitstheorie immanent diachron ausgerichtet. Diese immanente Diachronie könnte eine Erklärung dafür sein, warum sich bislang nur Wurzel (1994, 1996) explizit mit natürlichem morphologischem Wandel auseinandergesetzt hat. In seiner Monografie zum grammatisch initiierten Wandel unternimmt Wurzel (1994) den Versuch, natürlichen grammatischen Wandel zu systematisieren und zu erklären. Natürlicher morphologischer Wandel ist wie phonologischer und syntaktischer Wandel in das Konzept des natürlichen grammatischen Wandels eingebunden (Wurzel 1994:99). Für die Erklärung natürlicher grammatischer Wandelprozesse legt Wurzel das Prinzip des natürlichen grammatischen Wandels, Markiertheitsprinzipien, Prinzipien, die den Markiertheitsabbau steuern, und Merkmale des einzelsprachlichen Systems zugrunde. Wurzeis Prinzip des natürlichen grammatischen Wandels besagt, dass natürlicher grammatischer Wandel von stärker markierten zu weniger stark markierten Einheiten verläuft (Wurzel 1994:27, 2001:24). Ein Beispiel aus der Adjektivflexion ist die Bildung der Komparativform zu übel. Basiert diese Form im Mittelhochdeutschen noch auf dem Suppletivstamm Iwirsl, so wird die stärker markierte Form wirser im Übergang zum Neuhochdeutschen zugunsten von übler, der transparenteren unmarkierten Kombination von Basismorphem und Flexiv, aufgegeben (Wurzel 1994:58f.). Das Ziel natürlicher Wandelprozesse ist es demnach, die Markiertheit der betroffenen Einheiten abzubauen und deren Natürlichkeit zu vergrößern. Markiertheitsprinzipien, die von der jeweiligen Komponente der Grammatik abhängen, bestimmen, welche Ausprägungen einzelner Merkmale in welchem Grad als markiert gelten. Während phonologische Markiertheit phonetisch begründet ist, sind morphologische Markiertheitsprinzipien semiotisch motiviert (Wurzel 1994:57). Da natürlicher grammatischer Wandel von stärker zu weniger stark markierten Einheiten verläuft, ist er prinzipiell gerichtet und in seiner Richtung, wenn auch nicht in seinem Verlauf, vorhersagbar. Auf die Morphologie bezogen, bedeutet dies, dass natürlicher morphologischer Wandel zum Abbau morphologischer Markiertheit fuhrt. Wurzel (1994:55-71) diskutiert fünf morphologische Markiertheitsprinzipien: morphosemantische Transparenz, konstruktionellen Ikonismus, Morphemklassenikonismus, Systemangemessenheit und Distinktivität im Bereich des Nächstliegenden. Diese Markiertheitsprinzipien beruhen jedoch in der Regel auf flexionsmorphologischen Beobachtungen und ignorieren die Verhältnisse in der Wortbildung weitgehend. 2 Das einzelsprachliche System schließlich bestimmt zusammen mit den Markiertheitsprinzipien mögliche Ansatzpunkte natürlichen Wandels. In diesem Sinn ist natürlicher grammatischer Wandel bereits im System der einzelnen Sprache angelegt. Entstehen Konflikte zwischen gleichzeitig ablaufenden Wandelprozessen, so legen natürliche Steuerungsprinzipien fest, welcher Prozess des Markiertheitsabbaus Vorrang hat. Im Fall der deutschen Nominalflexion beispielsweise konkurrieren die Markiertheitsparameter 'konstruktioneller Ikonismus' und 'Systemangemessenheit' (Wurzel 1994:82f.). Während der konstruktioneile Ikonismus die aufwändigere Kodierung von semantisch abgeleiteten, komplexeren Formen wie etwa dem Dativ und Akkusativ gegenüber dem Nominativ for-

2

Das Prinzip der 'Distinktivität im Bereich des Nächstliegenden' formuliert Wurzel (1994:67) sogar ausdrücklich nur im Hinblick auf Flexionsparadigmen.

11 dert (Bär - Bär-en), ist im Deutschen die systemangemessene Markierung von Kasus bei Substantiven auf die Flexion des Artikels beschränkt (der Hund- dem!den Hund).3 Wie in der historischen Morphologie fokussiert auch Wurzeis Verständnis von natürlichem morphologischem Wandel auf die Gegebenheiten in der Flexion. Eine Übertragung morphologischer Markiertheitsprinzipien auf die Wortbildung ist allerdings nicht ohne weiteres möglich. Wie Dressler (2000:292f.) deutlich macht, gilt etwa das Prinzip morphosemantischer Transparenz fur Flexion und Wortbildung in unterschiedlichem Umfang. Einschlägiger für die Wortbildung ist Wurzeis (1996) Aufsatz zum morphologischen Strukturwandel, in dem er neben der Flexion auch die Wortbildung des Deutschen im Hinblick auf typologische Entwicklungen untersucht. Dabei stellt Wurzel im Rahmen der Wortbildung die Herausbildung polysynthetisch-inkorporierender Züge vom Althochdeutschen zum Neuhochdeutschen fest. An konkreten Tendenzen nennt Wurzel (1996:504ff.) zum einen die Entstehung von Mehrfachkomposita (spätahd. hazal-nu^=kerno 'Haselnusskern', nhd. Fußballweltmeisterschaftsqualißkationsspiel), zum Zweiten das Auftreten von Nominalkomposita mit verbalem Erstglied (ahd. wezzi-stein 'Wetzstein', nhd. Lesebuch) und schließlich die Herausbildung von verbalen Komposita mit nominalem oder adjektivischem Erstglied (danksagen, schlussfolgern). Da Wurzel jedoch primär darauf abzielt, den typologisch inkohärenten Charakter des morphologischen Systems des Neuhochdeutschen herauszuarbeiten, liegt das Hauptaugenmerk wiederum auf den typologisch uneinheitlicheren Entwicklungen in der Flexion, wohingegen die Behandlung von diachronen Tendenzen in der Wortbildung kursorisch bleibt. Stärker sprachvergleichend ausgerichtet als die Arbeiten von Wurzel (1994, 1996) sind die Aufsätze von Dressler, in denen dieser einen typologischen Überblick über einzelne Aspekte der Morphologie (Dressler 1986) bzw. der Wortbildung (Dressler 1987) gibt. Dressler (1986) behandelt die Bildung von Komparativformen und Agentiva. Interessant sind vor allem Dresslers Aussagen, die für morphologische Regeln allgemein oder für Wortbildungsregeln speziell gelten. Laut Dressler (1986:522) zeigen morphologische Regeln verschiedene Präferenzen bei der Wahl ihrer Basen. Prinzipiell werde die morphologische Einheit Wort wie Fisch in Fischer als Basis gegenüber kleineren Einheiten (Wurzeln) wie *fasch in Faschist und größeren Einheiten (syntaktische Einheiten) wie do it yourself in engl, do-it-yourselfer bevorzugt. Bei AGENS-Bildungen konstatiert Dressler (1986:522, 526f.) die Präferenz verbaler Basen (engl, writer) gegenüber nominalen (engl, gardener) und nominaler gegenüber adjektivischen Basen (engl, foreigner) sowie eine allgemeine Neigung der Bildungen zur Polysemie. Diese AGENS-Polysemien folgen nach Dressler (1986:526f.) einem hierarchischen Prinzip (vgl. (2)), das sich auch im Zusammenhang diachroner Bedeutungsausdehnung wiederfinde. (2)

Agens > Instrument > Lokativ/Quelle

(Dressler 1986:526)

Den entscheidenden Unterschied zwischen Flexion und Wortbildung stellt Dressler bei der morphosemantischen Transparenz fest. AGENS-Bildungen weisen gegenüber den Komparativen einen wesentlich geringeren Grad an morphosemantischer Transparenz auf, sie 3

Im Fall von Dativ- und Akkusativmarkierung setzt sich der Parameter der 'Systemangemessenheit' gegenüber dem 'konstruktionellen Ikonismus' durch. Kasusmarkierung in Dativ und Akkusativ wird bei der ohnehin geringen Zahl der schwachen Maskulina allmählich abgebaut (Wurzel

1994:82f.), vgl. den Wandel von dem Kinde > dem Kind und dem Menschen > dem Mensch.

12

seien "usually semantically opaque/noncompositional" (Dressler 1986:538). Diese Verdunklung ist Folge eines Eineindeutigkeitskonflikts zwischen Lexemebene (FISCHER) und Morphemebene (/fisch/, /er/).4 Ein solcher Eineindeutigkeitskonflikt ist bei Simplizia prinzipiell ausgeschlossen, da Lexemebene (FISCH) und Morphemebene (/fisch/) zusammenfallen (vgl. Kap. 2.2). Bei Wortbildungsprodukten, so Dressler (1986:539), werde der Konflikt wegen der semiotischen Priorität des Worts gegenüber dem Morphem zugunsten der lexikalischen Eineindeutigkeit entschieden. Die Tendenz zur semantischen Verdunklung resultiert demnach aus dem Vorrang der Lexemebene gegenüber der Morphemebene. Aus der Verbindung zwischen Eineindeutigkeit und Produktivität leitet Dressler (1986:541) zudem eine Korrelation zwischen Produktivität und morphotaktischer bzw. morphosemantischer Transparenz ab, wobei der Zusammenhang zwischen morphosemantischer Transparenz und Produktivität stärker ausgeprägt sei. Ein Jahr später greift Dressler in einem Aufsatz zu Wortbildung und Natürlichkeit (Dressler 1987) den Zusammenhang zwischen Natürlichkeit und Produktivität wieder auf. Ähnlich wie Mayerthaler (1981:131), der die These aufgestellt hatte: "Ein Prozeß Pj ist — ceteris paribus - um so produktiver, je natürlicher er ist", erklärt auch Dressler (1987:108), dass natürlichere morphologische Prozesse die produktiveren sein sollten. Zusätzlich fördere die Fähigkeit eines Wortbildungsmusters, syntaktische Umkategorisierungen vorzunehmen, dessen Produktivität (Dressler 1987:114). Von Bedeutung für den Wandel in der Wortbildung sind Dresslers unter typologischen Gesichtpunkten aufgestellte Natürlichkeitsskalen (vgl. (3)), da sie durch ihre Markiertheitshierarchie die Richtung festlegen, in die Sprachwandelprozesse in der Wortbildung verlaufen. Die Skalen bieten eine Ordnung der Wortbildungstypen (3a) bzw. möglicher struktureller Veränderungen (3b), wobei die Anordnung der Typen und Veränderungen von natürlichen bzw. unmarkierten Prozessen hin zu den weniger natürlichen, d.h. markierten Prozessen erfolgt. (3)

4

Natürlichkeitsskalen für die Wortbildung nach Dressler (1987:104) a

Wortbildungstypen 1) ikonische Affigierungsregeln 2) nicht-ikonische Konversionsregeln 3) kontraikonische Subtraktionsregeln

b

mögliche strukturelle Veränderungen 0) keine Modifizierung 1) Modifizierung durch (allophonische oder prosodische) phonologische Regeln 2) Modifizierung durch morphophonologische Regeln (und neutralisierende phonologische und morphologische Regeln), die die Morphemgrenze weitgehend intakt lassen 3) Modifizierung durch fusionierende morphophonologische Regeln (und phonologische und morphologische Regeln), die die Morphemgrenze vollständig auflösen 4) partielle Suppletion 5) vollständige Suppletion

Eineindeutigkeit, d.h. die 1:1-Zuordnung zwischen Form und Inhalt ist als maximal natürlich anzusehen. Die Forderung nach Eineindeutigkeit ergibt sich aus der Kombination zweier universeller Natürlichkeitsprinzipien, des Uniformitätsprinzips (1 Funktion —> 1 Form) und des Transparenzprinzips (1 Form —» 1 Funktion).

13

Diachrone Prozesse streben laut Dressler (1987:110) danach, die morphologische Transparenz in der Wortbildung zu erhöhen. So sei beispielsweise festzustellen, dass Affixe deutlich häufiger angefügt als ausgelassen würden. Allerdings sei auch die gegenläufige Tendenz, die Lexikalisierung, zu beobachten, wie die Diskussion zur morphosemantischen und lexikalischen Eineindeutigkeit zeigt. Insgesamt versucht Dressler in weitaus größerem Maß als Wurzel (1994, 1996), die Wortbildung in die Natürlichkeitstheorie zu integrieren und Markiertheitsskalen für die Wortbildung zu erarbeiten. Sind bislang auch keine allgemeinen Prinzipien der Markiertheit in der Wortbildung formuliert worden, so ermöglichen Dresslers typologisch fundierte Natürlichkeitsskalen und seine Theorie über Basispräferenzen und den hierarchischen Aufbau von AGENS-Polysemien immerhin, erste diachrone Tendenzen in der Wortbildung zu prognostizieren: Innerhalb einer Sprache sollten additive Wortbildungstypen nicht-additive und subtraktive ersetzen und sich jene Verfahren, die die Struktur einer Konstruktion erkennen lassen, gegenüber solchen durchsetzen, die die Transparenz verschleiern oder gar zerstören. Speziell bei AGENS-Bildungen ist ein Trend zu verbalen Basen zu erwarten. Wird Polysemie entwickelt, sollten neben AGENTIVA zuerst INSTRUMENTE, später Bezeichnungen für LOKATIVA und QUELLEN auftreten. Dresslers Thesen zur Basis und Polysemie von AGENS-Bildungen sind im Hinblick auf den Wandel nominaler -er-Derivate von besonderer Bedeutung. Festzuhalten bleibt, dass die Arbeiten zur Natürlichen Morphologie und zum natürlichen Wandel ebenso wie die historische Morphologie den Schwerpunkt auf die Flexion legen. Ist die Forschung auch noch weit entfernt von einer Theorie natürlicher Wortbildung, so ist doch anzunehmen, dass natürlicher Wandel in der Wortbildung dasselbe Ziel verfolgt wie natürlicher grammatischer Wandel in anderen Teilgebieten der Sprache, nämlich das Streben nach maximaler Natürlichkeit, was mit dem Abbau von Markiertheit einhergeht. Dresslers Natürlichkeitsskalen und seine Thesen über Basispräferenzen und die hierarchische Ordnung von AGENS-Polysemien sollten sich insofern in konkreten Wandelprozessen wiederfinden lassen. Obwohl Dresslers Arbeiten insgesamt konkreteren Aufschluss über natürlichen Wandel in der Wortbildung geben als es Wurzeis Theorie des natürlichen grammatischen Wandels vermag, hat auch Dressler die wesentlichen Fragen, nämlich was Wortbildungswandel ausmacht, und nicht wohin, sondern wie er verläuft, bislang offen gelassen.

2.1.3

Historische Wortbildung

Seit den siebziger Jahren dominieren synchrone und gegenwartsbezogene Fragestellungen in der deutschen Wortbildungsforschung (Donalies 2002, Eichinger 2000, Fleischer/Barz 1995, Mötsch 1999, Olsen 1986, Simmler 1998). Auch die historische Sprachwissenschaft konzentriert sich verstärkt auf synchrone Aspekte der Wortbildung (Solms 1998:606ff.). Eine Ausnahme bildet die Einführung von Erben (2000), die eine Reihe diachroner Entwicklungen im Verbal- und Nominalbereich skizziert. Jedoch fehlt abgesehen von den skizzenhaften Überblicksartikeln zur Wortbildung einzelner Epochen im Handbuch Sprachgeschichte (Heinle 2000, Splett 2000, Wegera/Prell 2000, Zutt 2000) gegenwärtig eine diachron ausgerichtete Gesamtdarstellung der deutschen Wortbildung, die die Entwicklungen in der linguistischen Forschung der letzten fünf Jahrzehnte berücksichtigt. Als Standard-

14 werke zur diachronen Wortbildung sind nach wie vor die Ende des 19. bzw. Mitte des 20. Jahrhunderts entstandenen Monografien von Wilmanns (1899) und Henzen (1965) anzusehen. Mitte der achtziger Jahre löste die Adaption theoretischer und methodischer Ansätze aus der gegenwartsbezogenen Wortbildungsforschung (Gersbach/Graf 1984-1985, Kühnhold et al. 1978, Kühnhold/Wellmann 1973, Wellmann 1975) eine synchrone Neuorientierung der bis dahin weitgehend diachron ausgerichteten historischen Wortbildungsdisziplin aus (P. Müller 2002:1 f.). In der Folge befasste sich eine ganze Reihe größerer Forschungsvorhaben unter synchronen Gesichtpunkten mit der Wortbildung einzelner Epochen. Die Wortbildung des Frühneuhochdeutschen war unter anderem Gegenstand des Bonner Projekts zur Derivation der Verben (Prell 1991, Prell/Schebben-Schmidt 1996), des Erlanger Projekts zur Wortbildung im Nürnberger Frühneuhochdeutschen (Habermann 1994, P. Müller 1993a, Thomas 2002), des Erfurter Projekts zur Derivation von Substantiven (Döring/Eichler 1996) und des Würzburger Projekts zur nominalen Affigierung in der Wissensliteratur (Brendel et al. 1997). Zum Neuhochdeutschen liegt die Arbeit von Stricker (2000) zu Personenbezeichnungen bei Goethe vor. Eine historisch-synchrone Aufarbeitung der mittelhochdeutschen Wortbildung wird im Rahmen des Projekts Mittelhochdeutsche Grammatik in Bonn, Bochum und Halle angestrebt (Wegera 2000:1311, Wegera/Solms 2002:159). Im Mittelpunkt historisch-synchroner Untersuchungen steht der Systemgedanke, die Betrachtung des Wortbildungssystems in seiner Gesamtheit oder bestimmter funktional definierter Teilbereiche desselben (P.Müller 1993b:407, 2002:3). Zur Analyse der Wortbildungsprodukte wurde ein eigens auf historische Belange ausgerichtetes Instrumentarium entwickelt (Habermann/Müller 1987, Moser/Wolf (Hgg.) 1989, Prell/Solms 1987, Wolf 1987). Zusätzlich löst die konsequente Anbindung der Untersuchungen an Textkorpora die bis dahin gängige Wörterbuchstudie ab, die im Rahmen diachroner Untersuchungen noch regelmäßig anzutreffen ist, etwa bei Kiesewetter (1987) und Pounder (2000). Nachdem Sprachwandelphänomene aus historisch-synchroner Perspektive lange Zeit von geringem Interesse waren und der diachronen Wortbildungsforschung vorbehalten blieben, unternahmen unlängst Habermann (2002), P. Müller (2002) und Munske (2002) den Versuch, synchrone und diachrone Aspekte der Wortbildung zu vereinen, um sich dem Phänomen Wortbildungswandel anzunähern (vgl. Kap. 2.1.3.1). Dennoch tritt in den letzten Jahren die Zahl der diachronen Untersuchungen zur Wortbildung (Demske 2000, Kiesewetter 1987, 1991, Pounder 2000, Wellmann 1997) in der germanistischen Forschung gegenüber der Fülle der historisch-synchron ausgerichteten Arbeiten deutlich in den Hintergrund (vgl. Kap. 2.1.3.2). Jedoch verläuft die Grenze zwischen diachronen und synchronen Studien fließend. Dies wird bereits bei einem Blick auf den Betrachtungszeitraum deutlich. Während Habermann (1994) und P. Müller (1993a) eine synchrone Studie der Schriften Dürers liefern, die rund 30 bis 35 Jahre abdeckt, zeigt die Produktivitätsstudie von Baayen/Renouf (1996), die vier Jahrgänge der Times (1989-1993) umfasst, deutlich diachrone Züge. Auf der anderen Seite analysieren Doerfert (1994) und Prell/Schebben-Schmidt (1996) ihr FrühneuhochdeutschKorpus, das Material aus 350 Jahren enthält, unter synchronen Gesichtspunkten, wohingegen dieselbe Zeitspanne Cowies (1999) diachroner Korpusarbeit zum Neuenglischen zugrunde liegt. Es ist also fraglich, wo genau die Grenze zwischen synchronen und diachronen Untersuchungen zu ziehen ist. Cowie/Dalton-Puffer (2002:421), die sich mit dieser

15

Frage im Hinblick auf diachrone Wortbildung auseinandergesetzt haben, kommen zu dem Ergebnis, "that what counts as synchronic and a time-point and what as diachronic and a time-stretch is ultimately a matter of definition and methodological necessities." Insofern ist von ausschlaggebender Bedeutung, ob eine Studie auf den Zustand (synchron) oder auf die Veränderungen (diachron) im untersuchten Zeitintervall fokussiert.

2.1.3.1

Historisch-synchrone Wortbildung

Im Bemühen um die synchrone Darstellung historischer Wortbildungssysteme oder Teilsysteme wurden von der historisch-synchronen Wortbildungsforschung diachrone Aspekte weitgehend ausgeblendet. Dass Sprachwandelprozesse aber auch bei synchroner Beschreibung nicht vollständig auszuklammern sind, zeigt sich an bestimmten Problemen, die bei der Analyse von Wortbildungsprodukten regelmäßig auftreten. Bereits die Frage, ob es sich bei einem Lexem um ein transparentes Wortbildungsprodukt handelt, impliziert die Auseinandersetzung mit diachronen Vorgängen, konkret der Lexikalisierung von morphologisch komplexen Wörtern. Bei der Ermittlung der Ableitungsbasis von Derivaten stellt sich die Frage nach der Entstehung der Bildung. Allein um letzteres Problem zu lösen, hat die historisch-synchrone Wortbildungsforschung ein differenziertes Instrumentarium zur Bestimmung von Basis und Motivationsdichte entwickelt (vgl. zuletzt Klein/Sieburg 2002). Allerdings besteht trotz intensiver methodischer Anstrengungen die Gefahr, dass historisch-synchrone Analysen etwa bei der Basisbestimmung historischen Befunden widersprechen oder dass - wie bei der Rückbildung - produktive Wortbildungsprozesse übersehen werden (Habermann 2002:54f.). Diese Erkenntnis scheint ausschlaggebend dafür gewesen zu sein, dass sich einige Vertreter der historisch-synchronen Disziplin, wie Habermann (2002), P. Müller (2002) und Munske (2002), wieder verstärkt mit Sprachwandel auseinandersetzen. P. Müller (2002) befasst sich in seinem Aufsatz schwerpunktmäßig mit Entstehung, Methodik und Zielen einer synchron ausgerichteten Beschreibung der historischen Wortbildung. Diachronen Kriterien misst er aufgrund der historisch-synchronen Zielsetzung lediglich untergeordnete Bedeutung bei. Insbesondere setzt die diachrone Erforschung der Wortbildung nach Ansicht Müllers notwendigerweise synchrone Strukturanalysen voraus: Erst das Vorliegen solcher Untersuchungen ermöglicht für die deutsche Sprachgeschichte das Nachzeichnen diachroner Entwicklungsprozesse im Systemzusammenhang. Erst der Vergleich historischer Wortbildungssysteme erlaubt weitergehende Aussagen über wesentliche Sprachwandelerscheinungen im Bereich der Wortbildung. (P. Müller 2002:7) Zwar stellt P. Müller (2002:7f.) abschließend eine nicht näher erläuterte Übersicht verschiedener Sprachwandelphänomen zusammen (vgl. (4)), insgesamt nehmen diese aber auf seiner Desiderata-Liste für die historische Wortbildungsforschung gegenüber der historischsynchronen Untersuchung des Althochdeutschen, Mittelhochdeutschen und Neuhochdeutschen und der Intensivierung der Kompositaforschung eine eher untergeordnete Rolle ein. (4)

Sprachwandelerscheinungen im Bereich der Wortbildung (P. Müller 2002:7) 1. 2.

Veränderungen im Inventar der heimischen und entlehnten Wortbildungselemente. Veränderungen bei Wortbildungsmustern, also etwa der Wandel von desubstantivisch gebildeten Adjektiven mit dem Suffix -bar zu deverbalen wie machbar.

16 3. 4. 5. 6. 7.

8. 9. 10.

Veränderungen im Funktionspotential von Affixen einschließlich der Fokussierung bestimmter Wortbildungsbedeutungen. Die Reduzierung semantischer Konkurrenzbildungen wie der Lexeme Abschneidung und Abschnitt aufgrund des Veraltens oder der Bedeutungsdifferenzierung einer Bildung. Der Rückgang von Wortbildungen mit pleonastischem - also funktionslosem - Affix wie bei Geschrift (neben Schrift) oder Feidung (neben Feld). Die Reduzierung allomorphischer Variation. Der Abbau sog. Halbkomposita des Typs der tochter mann als morphologische Mischgebilde, der aus der zunehmenden Nachstellung von Genitivattributen sowie einer konsequenteren Zusammenschreibung von Komposita resultiert. Idiomatisierungsprozesse. Grammatikalisierungsprozesse und die Entwicklung von Wortbildungsmorphemen aus Lexemen. Die Entstehung von Pseudomorphemen wie Him- in Himbeere oder Schorn- in Schornstein als Zeugnisse einer Fossilisierung.

Auffällig an dieser Sammlung von Wandelphänomenen auf dem Gebiet der Wortbildung ist, dass sich neun der von Müller thematisierten Phänomene direkt oder indirekt auf den unter Punkt (4-1) genannten Bestand der Wortbildungselemente auswirken. Univerbierung (4-7), Grammatikalisierung (4-9) und die Extraktion von Pseudomorphemen (4-10) können unmittelbar neue Wortbildungselemente und -muster schaffen, während die Idiomatisierung (=Lexikalisierung (4-8)) den Untergang von Affixen und Mustern zur Folge haben kann. Die anderen Phänomene, (4-2) bis (4-6), hingegen beeinflussen das Wortbildungsinventar auf mittelbare Weise, nämlich über Veränderungen in der Produktivität. Betrachten wir zuerst die Prozesse (4-4) bis (4-6). In allen drei Fällen spricht Müller von einer Reduzierung bzw. einem Rückgang. Diese Begriffe, 'Rückgang' bzw. 'Reduzierung', beziehen sich aber auf nichts anderes als auf eine quantitative, mit den geeigneten Mitteln und Methoden messbare Veränderung der betroffenen Wortbildungsprodukte (Tokenfrequenz) und der einzelnen Wortbildungsmuster (Typenfrequenz). Somit lassen sich sowohl die Reduzierung von Wortbildungsdubletten (4-4), der Rückgang pleonastischer Bildungen (4-5) als auch die Abnahme konkurrierender inhaltsgleicher Affixe (4-6) durch Veränderungen in der Produktivität der beteiligten Wortbildungsmuster erklären. Ähnliches gilt für die Änderungen der Basiswortart (4-2) und der Affix- bzw. Derivatbedeutung (4-3). Allerdings erfolgen die Produktivitätsveränderungen in diesen beiden Fällen in Abhängigkeit von bestimmten formalen oder inhaltlichen Kriterien der Konstituenten (Input) bzw. des Wortbildungsprodukts (Output). Nimmt beispielsweise die Produktivität deverbaler -iar-Derivate im Vergleich zur Produktivität denominaler -bar-Derivate stark zu, so äußert sich dies in dem von Müller zitierten Wandel von denominalen zu deverbalen -bar-Derivaten. Entsprechend ist etwa die Fokussierung bestimmter Wortbildungsbedeutungen auf einen Produktivitätszuwachs bei der favorisierten semantischen Klasse zurückzufuhren. Aber auch der Rückgang pleonastischer Markierung (4-5) kann als abnehmende Produktivität der betreffenden Wortbildungselemente in bestimmten, nämlich pleonastischen Kontexten gesehen werden. Diese Feststellung führt uns zu den wesentlichen Kritikpunkten an Müllers Zusammenstellung in (4). Sie wird in hohem Maß von ihrer Ausrichtung auf das Wortbildungssystem dominiert und enthält in Folge Redundanzen und Tendenzen, die hinsichtlich ihrer Einordnung als Wortbildungsphänomene anfechtbar sind. Bereits Müllers erster Punkt, die Veränderungen im Bestand des Wortbildungsinventars (4-1), ist nicht unproblematisch, sofern Wortbildungselemente als Bestandteile des Lexi-

17

kons angesehen werden. Weitere vier Tendenzen stellen Schnittstellenphänomene dar, bei denen das Wortbildungsmodul mit anderen Komponenten der Grammatik interagiert - und die insofern keine wortbildungsinternen Prozesse sind, obwohl sie das System und das Inventar der Wortbildung beeinflussen: Die Univerbierung (4-7) berührt Wortbildung und Syntax, Lexikalisierung (4-8), Grammatikalisierung (4-9) und die Entstehung von Pseudomorphemen (4-10) hingegen involvieren Wortbildung und Lexikon. Begrenzt man den Gegenstand einer Theorie des Wortbildungswandels auf jene Wandelprozesse, die spezifisch für die Wortbildung sind, die also innerhalb des Wortbildungsmoduls ablaufen, so bleiben von Müllers Liste neben den problematischen Veränderungen im Bestand der Wortbildungsmittel fünf wortbildungsinterne Erscheinungen. Diese lassen sich auf zwei grundlegende Tendenzen reduzieren, die im Wesentlichen in Müllers Punkten (4-2) und (4-3) angelegt sind. Punkt (4-2) umfasst im Kern Veränderungen der formalen Anforderungen eines Wortbildungsmusters an seine Konstituenten. Müller gibt dafür als Beispiel die historische Verschiebung von nominalen zu verbalen Basen beim Suffix -bar. (4-3) hingegen konzentriert sich auf inhaltliche Veränderungen eines Wortbildungsmusters, und zwar sowohl im Hinblick auf die Funktion der Affixe als auch auf die Wortbildungsbedeutung. Unter diesen Punkt lassen sich sowohl (4-5) als auch (4-4) und (4-6) subsumieren. Was Punkt (4-5) betrifft, so ist der Rückgang pleonastischer Affigierung als Folge einer Tendenz zu sehen, eine bestimmte Funktion des Affixes (nämlich die verdeutlichende) bzw. eine bestimmte Wortbildungsbedeutung (nämlich die gegenüber der Basis unveränderte) zu vermeiden. Auch die Reduzierung allomorphischer Variation (4-6) ergibt sich unmittelbar daraus, dass Affixe in bestimmten Funktionen seltener oder nicht mehr verwendet werden. Dies fuhrt dazu, dass die entsprechenden Wortbildungsbedeutungen seltener auftreten und semantische Konkurrenzbildungen (4-4) abgebaut werden. Werden wie bei Müller semantische Veränderungen als auslösender Faktor betont, ist die Reduzierung inhaltlicher Dubletten allerdings als Ergebnis von Lexikalisierungsprozessen (4-8) oder semantischem Wandel zu sehen. Müllers Liste der Wandelphänomene lässt sich demnach auf zwei wortbildungsinterne Tendenzen - bzw. drei, sofern man Veränderungen im Wortbildungsinventar primär der Wortbildungskomponente zurechnet - reduzieren, bei denen die Produktivität eine zentrale Rolle einnimmt. Behandelt P. Müller (2002) Wandelphänomene allenfalls am Rande, so geht es Habermann (2002) darum, die Möglichkeiten zu beleuchten, die die diachrone und die synchrone Wortbildungsforschung bei der Erforschung von Sprachwandel eröffnen. Habermann (2002:43ff.) kritisiert, dass die isolierte Betrachtung einzelner Wortbildungsmuster in der Vergangenheit dazu geführt habe, dass diachron orientierte Arbeiten das Bestehen von Produktivitätsbeschränkungen und den Verlust von Wortbildungsmitteln übersehen, da ihnen "der Blick auf das Ganze" fehle (Habermann 2002:45). "Um Sprachwandelphänomene adäquat beschreiben zu können," folgert sie, "müssen Methoden der Synchronic und Diachronie miteinander kombiniert werden" (Habermann 2002:42). Die historisch-synchrone Analyse des Wortbildungssystems könne dabei durch das Konstatieren von Varianten und doppelt motivierten Bildungen wertvolle Hinweise auf vorausgegangene Wandelprozesse geben (Habermann 2002:52fif.). An Sprachwandelphänomenen im Bereich der Wortbildung nennt Habermann (2002) neben dem auf Lautwandel zurückzuführenden Zusammenfall genetisch unterschiedlicher Affixe den morphosemantischen Wandel von Wortbildungselementen und -typen sowie funktionalen Wandel, der "das am Ausbau funktionaler Klassen beteiligte Inventar an

18 Wortbildungsmitteln, die Konkurrenz- und Oppositionsbeziehungen innerhalb von Systemen und das 'System im Wandel'" (Habermann 2002:48) erfasst. In (5) sind diejenigen Phänomene zusammengefasst, die Habermann zum morphosemantischen Wandel rechnet. (5)

Morphosemantische Wandelprozesse in der Wortbildung (Habermann 2002:46ff.) 1. 2.

Stammbildende Suffixe können zu Wortbildungssuffixen werden. [...] Flexionsmorpheme können als erstarrte Kasusformen zu Wortbildungssuffixen werden,

3. 4. 5.

Autonome Lexeme können sich zu Wortbildungsaffixen wandeln. [...] Aus bestimmten syntaktischen Gruppen entwickeln sich Komposita. [...] Die Wortbildungsart ändert sich. [...] Übergang von der Komposition zur Derivation sowie von expliziter Derivation zu impliziter Derivation bzw. Konversion [...]. Durch Umwertung von Basisteilen zu Suffixen entstehen explizite Ableitungen mit (neuem) Suffix oder mit Präfix und Suffix (Zirkumfixbildungen).

f...]

6.

Zentral für die angeführten Tendenzen sind "morphologische Umwertungen" (Habermann 2002:45), die den morphologischen Status von morphologischen, lexikalischen und syntaktischen Einheiten - und dadurch die Möglichkeiten des Wortbildungssystems - verändern. Diese sind wie die Univerbierung (5-4) an der Schnittstelle zwischen Wortbildung und Syntax angesiedelt oder an der Schnittstelle zwischen Wortbildung und Lexikon wie die Reanalyse und Resegmentierung von Wortbildungsprodukten (5-6) sowie die Grammatikalisierung (5-3), worunter auch die von Habermann in (5-5) thematisierten Veränderungen der Wortbildungsart fallen, sofern sie den Übergang von Komposition zu Derivation betreffen. Bei der Reanalyse von stammbildenden Affixen (5-1) oder Flexiven (5-2) als Derivationsaffixe, die primär eine Veränderung im Bestand der Wortbildungseinheiten bewirkt, handelt es sich um ein Phänomen an der Schnittstelle zwischen den Modulen Flexionsmorphologie und Wortbildung. Habermanns Aufzählung ist also insofern problematisch, als keines der genannten Phänomene wortbildungsinternen Wandel darstellt, wie etwa die Punkte (4-2) und (4-3) bei Müller, sondern dass morphosemantischer Wandel im Sinne von Habermann prinzipiell über die Grenzen der Wortbildung hinausfuhrt. Im Gegensatz zu den zitierten morphosemantischen Veränderungen verlaufen die von Habermann (2002:48ff.) thematisierten funktionalen Wandelprozesse innerhalb des Wortbildungsmoduls. Als Beispiele nennt die Autorin die Tendenz zur Konkretisierung bei Substantiven und zur Abstraktion bei Verben. Diese Entwicklungen im System gehen allerdings auf eine ganze Reihe kleinräumiger Veränderungen in einzelnen Wortbildungsmustern zurück. So resultiert etwa die Tendenz zur Abstraktion bei Verben unter anderem aus den von Habermann dargestellten diachronen Entwicklungen der Derivationsmuster mit den Präfixen be- und um-. Funktionaler Wandel im Wortbildungssystem kann somit als Summe der Veränderungen von einzelnen Wortbildungsmuster gesehen werden (vgl. Punkt (4-3) 'Veränderungen im Funktionspotenzial von Affixen' bei Müller). Müllers und Habermanns Zusammenstellungen von Wandelprozessen in der Wortbildung in (4) und (5) spiegeln die zentrale Rolle des Systemgedankens in der historisch-synchronen Wortbildungsforschung wider. Noch deutlicher wird dies bei Munske (2002), dessen erklärtes Ziel es ist, den Wandel im System der Wortbildung zu erfassen und "eine erste Übersicht über die Haupttypen des Wortbildungswandels zu geben" (Munske 2002:23). Zu diesen Haupttypen rechnet er zum einen Veränderungen im Bestand der Wortbildungsmodelle, zum anderen formalen und funktionalen Wandel der Modelle (vgl. Abb. 1).

19 Abb. 1:

Typen des Wortbildungswandels nach Munske (2002:26) Wortbi ldungswandel

Wandel der Anzahl von Wortbildungsmodellen

Unproduktivwerden von Wortbildungsmodellen

Grammatikalisierung von Konstituenten im Kompositum

ausdrucksseitiger Modellwandel

funktionaler Modellwandel

Entstehung neuer Wortbi ldungsmodel le

Reaktivierung der Wortbildung aus Lehnwörtern

Univerbierung und Inkorporation

Der Bestand an Wortbildungsmodellen verändert sich nach Munske (2002:27-30) einerseits dadurch, dass bestehende Modelle aufhören, produktiv zu sein, wie die Suffigierung mit -icht, und dass andererseits neue Muster entstehen durch Grammatikalisierung (-tum < mhd. tuom), das Herauslösen von Morphemen wie -thek aus Lehnwörtern (Bibliothek) sowie durch Univerbierung (sich wohl befinden > Wohlbefinden) und Inkorporation (Fleisch fressend > fleischfressend). Wie in der historischen Morphologie bzw. Wortbildung üblich trennt auch Munske nicht zwischen Veränderungen, die sich innerhalb des Wortbildungsmoduls vollziehen und jenen, die dessen Grenzen überschreiten. Auffallig ist aber, dass nach Munskes Aussage die Entstehung neuer Wortbildungsmodelle ihren Ursprung außerhalb der Wortbildung in anderen Komponenten der Grammatik nimmt, konkret dem Lexikon (Grammatikalisierung, Extraktion von Morphemen aus Entlehnungen) und der Syntax (Univerbierung, Inkorporation), wohingegen es sich bei deren Untergang um einen wortbildungsinternen Vorgang handelt: Sinkt die Produktivität auf null, so ist das Wortbildungsmuster als unproduktiv, d.h. als ausgestorben, anzusehen. Anzumerken ist allerdings wie bereits zuvor bei P. Müller (2002), dass, sofern Wortbildungselemente dem Lexikon zugerechnet werden, fraglich ist, ob die Zu- bzw. Abnahme von Wortbildungsmodellen nicht eher als Wandel des Lexikons bzw. als Wandel an der Schnittstelle zwischen Lexikon und Wortbildungsmodul verstanden werden sollte. Unter ausdrucksseitigem Wandel fasst Munske (2002:32) "Reduktion oder Schwund aus phonologischen Gründen einerseits, Suffixerweiterung andererseits". Jedoch ist ausdrucksseitiger Wandel, insbesondere phonologischer - aber auch graphematischer - Wandel, ein Phänomen, das nicht spezifisch für Wortbildungsprodukte, sondern unabhängig von deren Genese für alle lexikalischen Einheiten gilt, wie beispielsweise die althochdeutsche und die neuhochdeutsche Diphthongierung. Bei der Suffixerweiterung hingegen handelt es sich in der Regel um Reanalyseprozesse, die lexikalische Einheiten neu segmentieren und Morphemgrenzen verschieben bzw. neu schaffen (vgl. Kap. 3.2.2). Sie stellen insofern wie die Extraktion von Lehnmorphemen Schnittstellenphänomene dar (vgl. auch die Punkte (4-10)

20 'Entstehung von Pseudomorphemen' bei Müller und (5-6) 'Umwertung von Basisteilen zu Suffixen' bei Habermann). Die von Munske genannten Arten des ausdrucksseitigen Wandels sind somit im Gegensatz zu den von Müller angeführten 'Veränderungen bei Wortbildungsmustern' (4-2), die auf formale Merkmale der Konstituenten Bezug nehmen, weder als wortbildungsinterne noch als wortbildungsspezifische Tendenzen zu sehen. Zum funktionalen Wandel von Wortbildungsmodellen rechnet Munske (2002:34-36) folgende Tendenzen: zum einen das Entstehen von Wortbildungsmorphemen aus Flexionselementen wie etwa die Herausbildung der Fugenelemente und des Adverbien ableitenden Suffixes -s {abends) aus Genitivmarkern, zum Zweiten den Wechsel der Basiswortart bei Derivationsmustern, wie der Übergang von der denominalen zur deverbalen Bildung bei -bar, sowie drittens die Entstehung neuer Modelle durch regelmäßigen Bedeutungswandel. Als Beispiel für Letzteres nennt Munske (2002:35f.) das Wortbildungsmuster -ung, das ausgehend von Handlungs- und Vorgangsbezeichnungen (Erfindung bzw. Landung) etwa Reihen von Produkten (Übersetzung) oder Personen (Bedienung) ausbildet. Von den drei genannten funktionalen Wandelprozessen bewegt sich lediglich die Veränderung der Basiswortart im Rahmen des Wortbildungsmoduls, die Herausbildung von Wortbildungselementen aus Flexiven involviert neben der Wortbildung die Flexionsmorphologie und bei der Entstehung neuer Bedeutungen handelt es sich primär um semantischen Wandel, der jedoch zur Polysemie einzelner Wortbildungsmuster, wie z.B. bei der nominalen -er-Derivation, führen kann. 5 Wie bereits in der historischen Morphologie sowie bei P. Müller (2002) und Habermann (2002) beobachtet, verwischt Munskes Fokussierung auf das Wortbildungssystem die Grenzen zwischen Wortbildung, Flexionsmorphologie, Lexikon und Syntax. Somit geht die Möglichkeit verloren, zwischen 'Wandel in der Wortbildung', d.h. Wandel, der sich auf das Wortbildungsmodul auswirkt, und 'Wortbildungswandel', d.h. wortbildungsspezifischem Wandel innerhalb des Wortbildungsmoduls, zu unterscheiden. Während die Untersuchung von 'Wandel in der Wortbildung' die Veränderungen im Wortbildungssystem und im Bestand der Wortbildungsmittel betont, zielt die Auseinandersetzung mit 'Wortbildungswandel' darauf ab, Wandeltendenzen innerhalb des Wortbildungsmoduls und deren spezifische Merkmale herauszuarbeiten. Wortbildungsspezifischer Wandel ist aber auch für eine diachrone Analyse des Wortbildungssystems essenziell, da Wandel im System nicht nur aus Geburt und Tod von Wortbildungsmodellen resultiert, sondern insbesondere aus Veränderungen jener Bildungsmuster, die nach wie vor Verwendung finden. Deren weniger ins Auge stechende Entwicklungen bilden das Zentrum des Wortbildungswandels ebenso wie des Systemwandels in der Wortbildung. Diese Überzeugung scheint auch Munske (2002:26) zu teilen, der trotz seiner Fokussierung auf das System den "Wandel von Wortbildungsmodellen, nach denen Wörter gebildet werden", als Gegenstand des Wortbildungswandels bezeichnet. Gibt man folglich die Fokussierung auf Wortbildungssystem und -inventar auf, so bleiben zwei wortbildungsinterne Tendenzen, die zum einen auf formale, zum anderen auf 5

Gründe, warum diese Veränderungen als 'funktionaler Wandel' und nicht als 'Wandel im Bestand der Wortbildungsmodelle' einzuordnen sind, gibt Munske nicht. Verfolgt man hingegen Aronoffs (1976) Unitary-Base-Hypothese, so entsteht durch die Veränderung der Basiswortart ein neues Wortbildungsmodell. Dasselbe gilt bei semantischen Veränderungen des Outputs, legt man die Unitary-Output-Hypothese zugrunde (vgl. Plag 1999:49f.).

21 inhaltliche Aspekte einzelner Wortbildungsmuster Bezug nehmen. Beide sind eng verbunden mit dem Begriff der Produktivität. Alle von Habermann, Müller und Munske genannten Wandeltendenzen in der deutschen Wortbildung lassen sich direkt oder indirekt aus Produktivitätsveränderungen, die von den formalen und semantischen Merkmalen der Wortbildungsmuster abhängen, ableiten.

2.1.3.2

Diachrone Wortbildung

Diachron ausgerichtete Arbeiten zur Wortbildung sind, wie Kiesewetter (1991:133) feststellt, "rar geworden bzw. geblieben". Dennoch ist, seitdem Jakob Grimm in seiner Deutschen Grammatik (1819-1837) die Wortbildung als eigenständigen Bereich der Sprache beschrieben hat, die Diskussion von Wortbildungsphänomenen in diachronen Zusammenhängen nie vollständig versiegt. Unmittelbar in der Tradition Grimms stehen zum einen die Wortbildungslehren von Wilmanns (1899) und Henzen (1965), zum anderen eine ganze Reihe von Studien zu einzelnen Teilgebieten der Wortbildung (u.a. Maurer 1973, Sütterlin 1887, Weinreich 1971). Vollzieht sich die diachrone Einbindung in den Wortbildungslehren von J. Grimm (1826, 1831), Henzen (1965) und Wilmanns (1899) allein dadurch, dass die Autoren einzelne Wortbildungstypen und -muster über mehrere Sprachstufen - Gotisch, Althochdeutsch, Mittelhochdeutsch, Neuhochdeutsch- hinweg verfolgen, so bildet die diachrone Perspektive in den Monografien von Maurer (1973), Sütterlin (1887) und Weinreich (1971) zur Entwicklung der Personenbezeichnungen ('Nomen Agentis') eine essenzielle Voraussetzung für den Erkenntnisgewinn. Während Henzen (1965:17ff., 112ff.) allgemein auf das Entstehen und Vergehen von Wortbildungsmustern hinweist, thematisiert Wilmanns (1899:12ff.) einzelne diachrone Prozesse in der Wortbildung, beispielsweise die Herausbildung von Affixen aus freien Lexemen ('cline of lexicality' bei Hopper/Traugott 1993:7), die Ausdehnung eines Wortbildungsmusters auf neue Basiswortarten etwa bei den Suffixen -lieh und -er, die Verschmelzung von Suffixen (-ec+-heit > -keif) und die semantische Veränderung von Derivaten nach ihrer Ableitung, d.h. die Ausbildung von Idiosynkrasien. Wilmanns' (1899:19) Auseinandersetzung mit der "Lebenskraft und Dauer der Ableitungstypen" antizipiert zudem ansatzweise die aktuelle Diskussion über die Produktivität von Wortbildungsprozessen und deren diachrone Veränderung (vgl. Baayen 1989, Plag 1999, Bauer 2001). Dabei bildet die Produktivität eines Wortbildungsmodells weder für Wilmanns (1899:19ff.) noch für Henzen (1965:114) eine unveränderliche Konstante, sondern hängt von Eigenschaften des einzelnen Wortbildungsmusters (transparente Struktur, vorhersagbare Bedeutung) und der Konstituenten (Form der Basis, Salienz des Affixes) ab. Stärker noch als die junggrammatischen Arbeiten zur Wortbildung greifen neuere diachrone Untersuchungen wie die von Dalton-Puffer (1996), Demske (2000), Kiesewetter (1987) oder Pounder (2000) die Idee der Produktivität auf, bis letztlich bei Cowie (1999) der Produktivität eine zentrale Stellung im Wandel von Wortbildungsprozessen zugemessen wird. Obwohl die Arbeiten von Henzen (1965), Maurer (1973), Sütterlin (1887), Weinreich (1971) und Wilmanns (1899) eindeutig diachron ausgerichtet sind, wird die Dynamik von Sprachwandelprozessen, die nach Cowie/Dalton-Puffer (2002:417) das zentrale Erkenntnisinteresse der historischen Linguistik darstellt, allenfalls am Rande thematisiert. Vom

22 Ansatz her ist auch die Dissertation von Joeres (1995) über -wac/zer-Bildungen im Alt-, Mittel- und Neuhochdeutschen hier einzuordnen. Trotz der epochenübergreifenden Anlage der Untersuchung geht Joeres aber kaum auf den Wandel der untersuchten Bildungen ein. Sein Anliegen erschöpft sich vielmehr in der semantischen, syntaktischen und morphologischen Beschreibung des gesammelten Materials. Lediglich am Rande streift er die Frage nach diachronen Veränderungen im morphologischen Status von -macher. Explizit an Wandelphänomenen interessiert hingegen sind die Untersuchungen von Demske (2000), Kiesewetter (1987, 1991), Pounder (2000) und Wellmann (1997). Anhand einzelner Wortbildungsmuster arbeiten die Autoren Veränderungen innerhalb der deutschen Wortbildung heraus, wobei insbesondere Kiesewetter (1987:169) "wortbildungsspezifische Wandlungsprozesse und -mechanismen" thematisiert. Allen Arbeiten gemein ist, dass sie empirisch fundiert sind und dass, abgesehen von Wellmann (1997), die Produktivität einen zentralen Stellenwert in der Argumentation einnimmt. Ziel von Wellmann (1997) ist es, anhand adjektivischer Derivate (-isch, -lieh, Negation) sprachinterne und -externe Auslöser für Sprachwandelphänomene im Bereich der Wortbildung darzustellen. An Beispielen demonstriert er den Einfluss von Referenzänderungen, Sprachkontakt, gesellschaftlichen und geistesgeschichtlichen Entwicklungen auf die Wortbildung, betont jedoch, dass diese jeweils nur Einzellexeme betreffen, und zwar gleichermaßen morphologisch einfache und komplexe (Wellmann 1997:73). Insofern wirken sich die angeführten externen Faktoren zwar innerhalb der Wortbildung aus, sind aber nicht als wortbildungsspezifisch anzusehen. Deutlicher als etwa P. Müller (2002) und Munske (2002) erkennt Wellmann (1997:73ff.), dass bestimmte Veränderungen im Bereich der Wortbildung auf die Interferenz mit anderen Komponenten der Grammatik (z.B. Phonologie, Flexion, Syntax) zurückzuführen sind. So bedinge beispielsweise die Endsilbenabschwächung das Aussterben des Adjektivsuffixes ahd. -i bzw. mhd. -e (mhd. aeze 'essbar'), ehemalige Flexionselemente würden zu Fugenelementen umfunktioniert und syntaktische Einheiten als Derivationsbasen verwendet (vor der Sintflut > vorsintflutlich). An diachronen Veränderungen im Rahmen des Wortbildungssystems lassen sich nach Wellmann (1997:84) insbesondere der Schwund, die Genese und die Substitution von Wortbildungsaffixen beobachten. Darüber hinaus formuliert Wellmann (1997:84f.) vier konkrete Wandeltendenzen, die sich in der Bildung von Adjektiven abzeichnen. Zwei davon, die Ersetzung wenig salienter durch salientere Affixe und das Entstehen neuer Affixe aus Flexiven oder durch Umsegmentierung, stellen die bereits erwähnten problematischen Veränderungen im Wortbildungsinventar dar. Bei den anderen beiden Tendenzen, der vermehrten Ableitung aus verbalen anstelle nominaler Basen, die auch P. Müller (2002:7) anfuhrt, und bei der "Tendenz zu größerer lexikalischer Komplexität" (Wellmann 1997:84), handelt es sich hingegen um Vorgänge innerhalb des Wortbildungsmoduls, die explizit Bezug auf formale Merkmale von Wortbildungsmustern bzw. -produkten - und implizit auf deren Produktivität - neh6

men. Weniger um die Auslöser von Wandel oder die Interaktion einzelner Komponenten und Module der Grammatik als vielmehr um konkrete diachrone Veränderungen in der Wortbildung geht es Demske (2000), Kiesewetter (1987, 1991) und Pounder (2000). Leitgedanke von Demske (2000) bildet der Zusammenhang zwischen dem Wandel eines Wortbil6

Diese beiden Tendenzen stellt Meibauer (1995a) auch für nominale -er-Derivate fest.

23 dungsprozesses und Veränderungen in dessen Produktivität. Erklärtes Ziel der Autorin ist es, anhand von -w«g-Nominalisierungen semantische Beschränkungen diachron zu beschreiben und Produktivitätswandel darzustellen (Demske 2000:366f.)· Im Gegensatz zur historisch-synchronen Wortbildungsforschung fokussiert Demske somit nicht den Systemgedanken, sondern konzentriert sich auf den Wandel eines einzelnen Wortbildungsmusters. Dabei bezieht sie in Anlehnung an van Marie (1985, 1986) den Begriff der Produktivität "nicht auf die Zahl der belegten Lexeme, sondern auf die Größe der Anwendungsdomäne" (Demske 2000:370), d.h. auf die semantischen Beschränkungen einer bestimmten Wortbildungsregel. Bei ihrem Vergleich von frühneuhochdeutschen und neuhochdeutschen -w«g-Derivaten stellt Demske (2000:375, 402) fest, dass das Wortbildungsmuster im Frühneuhochdeutschen nicht systematisch durch semantische Eigenschaften der Basisverben beschränkt werde, wohingegen im Gegenwartsdeutschen semantische Restriktionen der Anwendungsdomäne bestünden. Entsprechend schließt Demske (2000:403), dass die Produktivität des Wortbildungsmusters zwischen den beiden Epochen abnimmt. Sehr viel breiter angelegt, sowohl was die Materialbasis als auch was den Untersuchungsgegenstand betrifft, ist die Arbeit von Pounder (2000). Anhand von Texten und Wörterbüchern aus dem 16. bis 19. Jahrhundert untersucht sie ein Teilsystem der deutschen Wortbildung, die Bildung von Adjektiven auf der Grundlage von Substantiven und Adjektiven. Gegenstand der Analyse bilden neben Derivaten (Präfix- und Suffixderivaten) auch Komposita und Konversionsprodukte. Zentral für Pounders Untersuchung sind zwei Gesichtspunkte: Zum einen ist dies die Unterscheidung zwischen Formregeln und semantischen Regeln, die im Rahmen von 'Wortbildungsoperationen' kombiniert werden (Pounder 2000:65-80). So wirken beispielsweise die Formregel X+lich und die semantische Regel W I E ( ' X ' ) bei der Bildung von -//c/j-Adjektiven aus Personenbezeichnungen, wie in meisterlich oder brüderlich, zusammen (Pounder 2000:249ff). Zum anderen differenziert Pounder zwei Arten von Produktivität, die durch die Zahl der wirkenden Beschränkungen bestimmte 'potential productivity' und die durch die Frequenz definierte 'absolute productivity', die sich gegenseitig beeinflussen. 7 Wortbildungsoperationen mit hoher absoluter Produktivität unterliegen in der Regel einer geringen Zahl an Basisbeschränkungen. Steigende Produktivität habe zur Folge, dass eine Wortbildungsoperation Beschränkungen überwinden und sich auf neue Domänen ausdehnen könne, wohingegen sinkende Produktivität zu einer Einengung der Anwendungsdomäne führe. Veränderungen in der Produktivität stellen nach Pounder (2000:158) die wichtigste Art von Wandel in der Wortbildung dar: "The most common and ultimately most significant type of change in a word-formation (sub)system in terms of its ultimate consequences is that of change in frequency and productivity of a formation type". Die Analyse des Materials für drei unterschiedliche Zeiträume (16. Jh., 17.-18. Jh., Ende 18.-Anfang 19. Jh.) bestätigt diese Aussage. Pounder stellt sowohl bei formalen als auch bei semantischen Regeln diachrone Produktivitätsunterschiede fest. Bei produktiven Wortbildungsoperationen beobachtet Pounder (2000:632, 662) insbesondere die Tendenz, dass sich Formregeln mit ande-

7

Pounders 'potenzielle Produktivität' deckt sich insofern mit D e m s k e s Produktivitätsbegriff, als sie diese nach der Zahl der Beschränkungen bemisst, denen ein Wortbildungsmuster unterliegt. Die 'absolute Produktivität' hingegen beruht auf der Berechnung oder Schätzung der "actual production activity o f a process" (Pounder 2 0 0 0 : 6 6 6 ) innerhalb einer bestimmten Anwendungsdomäne.

24 ren semantischen Regeln verbinden, wie im Fall der -/^-Affigierung. Produktivität fördert demnach die Polyvalenz einer Formregel, d.h. deren Verbindung mit mehreren semantischen Regeln, was sich auch bei nominalen -er-Derivaten beobachten lässt (vgl. Kap. 4.3). Diachrone Produktivitätszu- und -abnahmen zeigen sich aber auch in Abhängigkeit von semantischen Merkmalen des Erstelements ('lexico-semantic class') und dessen lexikalischem Paradigma (Pounder 2000:627-666). 8 Insgesamt ist Pounder jedoch mehr am (Produktivitäts-)Wandel im untersuchten Teilsystem der Wortbildung als am Wandel einzelner Wortbildungsoperationen oder Regeln interessiert, im Gegensatz zu Kiesewetter, die den Schwerpunkt ihrer Dissertation auf das "Werden und Vergehen von W B M [=Wortbildungsmodellen, die Verf.] (bzw. semantischen Submodellen)" legt (Kiesewetter 1987:169). Anhand von Wörterbüchern und ergänzenden Textbelegen untersucht sie für sechs bzw. sieben Zeiträume zwischen dem Althochdeutschen und der Gegenwart Verben mit den Kompositionsgliedern bzw. Präfixen bei-, dar- und ob-. Wie bei Demske (2000) und Pounder (2000) spielen Veränderungen in der Produktivität, die Kiesewetter (1991:137) als Eigenschaft von Wortbildungsmodellen definiert, Neubildungen zu produzieren, eine zentrale Rolle in der Untersuchung. Allerdings erscheint Kiesewetters Versuch, die Produktivität der Wortbildungsmuster mittels der 'Präsenzdauer' der einzelnen Bildungen in der Sprache zu bestimmen, noch nicht ausgereift, zumal sich verschiedene methodische Bedenken gegen ihre Untersuchung vorbringen lassen, insbesondere gegen die Einteilung der Erhebungszeiträume, die zwischen 50 und 500 Jahren schwankt, sowie den Vergleich der so ermittelten Daten. Ihr entscheidendes Verdienst besteht j e d o c h darin, deutlich zu machen, dass bei Entwicklungen im Rahmen der Wortbildung zwischen allgemeinen, für alle sprachliche Veränderungen gültigen und für die Wortbildung spezifischen Ursachen, Bedingungen und Mechanismen des Wandels zu unterscheiden ist (Kiesewetter 1987:17, 1991:134). Ohne in ihrer Argumentation weiter darauf einzugehen, stellt Kiesewetter (1991) eine Reihe möglicher Wandelphänomene im Bereich der Wortbildung zusammen, unter Rückgriff auf eine frühere Sammlung dynamischer, für die synchrone Wortbildung relevante Entwicklungsprozesse von Stepanowa/Fleischer (1985:168) (vgl. (6)). Ergänzend nennt Kiesewetter (1991:136) Veränderungen in der Verteilung der einzelnen Wortbildungsarten auf die einzelnen Wortarten. (6)

Wandelphänomene im Bereich der Wortbildung (Kiesewetter 1991:135f.) 1. 2. 3. 4.

5.

8

das Entstehen und Vergehen von Modellen, Veränderungen der lexikalischen Auffüllung von Wortbildungsmodellen bei gleichbleibender Modellbedeutung [...], die Veränderung und/oder Neuentstehung von Modellbedeutungen bei gleichbleibender oder sich verändernder Auffüllung des Strukturschemas, die Entfaltung semantischer Submodelle ein und desselben Strukturschemas auf Grund unterschiedlicher lexikalischer Auffüllungen und/oder infolge von Polysemie der Modellkonstituenten, de[r] Verlust semantischer Submodelle ein und desselben Strukturschemas,

Ein lexikalisches Paradigma definiert sich nach Pounder durch die Verwendung bestimmter Erstkonstituenten in unterschiedlichen Wortbildungsoperationen, z.B. Wolle in wollicht 'wie Wolle', wollig 'mit Wolle' und wollen 'aus Wolle' (Pounder 2000:537).

25 6.

Statusveränderungen einer Modellkonstituente, d.h. Entwicklung von A f f i x e n aus K o m positionsgliedern [ . . . ] ,

7.

Demotivierung der Konstruktion,

8.

Entwicklung von semantischen Isolierungen und unikalen Morphemen,

9.

Veränderung in der Distribution von Modellkonstituenten, v.a. von Affixen.

Mehrere der genannten Wandelphänomene wurden bereits in anderen Zusammenhängen diskutiert, etwa die Veränderungen im Inventar der Wortbildungsmittel (6-1), das Entstehen neuer Wortbildungsbedeutungen durch semantischen Wandel (6-3) sowie Grammatikalisierungs- (6-6) und Lexikalisierungsprozesse (6-7, 6-8). Die Punkte (6-2), (6-4) und (6-5) zielen auf einzelne Wortbildungsmuster ab. Hier stellt Kiesewetter formale Beschränkungen des Inputs und inhaltliche Beschränkungen des Outputs gegenüber (vgl. die Tendenzen (4-2) und (4-3) in Kap. 2.1.3.1): Im Fall von (6-2) verändern sich die formalen Anforderungen an die Konstituenten eines Wortbildungsmusters. Dies impliziert, dass aufgrund formaler Merkmale die Bildung mit den nun bevorzugten Konstituenten gegenüber der Bildung mit bisher favorisierten Konstituenten an Produktivität gewinnt. Noch offensichtlicher ist die Rolle der Produktivität im Fall von (6-4) und (6-5). Das Entstehen und Vergehen von semantischen Submodellen eines Musters lässt sich unmittelbar an dessen steigender bzw. fallender Produktivität in der Sprache festmachen. Unklar bleibt, ob Kiesewetter sich mit ihrem letzten Punkt, der Distribution der Konstituenten (6-9), auf die Position der Konstituenten im Wortbildungsprodukt oder auf deren Verteilung in bestimmten formalen bzw. inhaltlichen Kontexten bezieht. Am naheliegendsten erscheint, dass sie mit diesem Punkt auf die Distribution der Konstituenten auf bestimmte Wortarten abzielt. Im Hinblick auf die spärliche Forschung zur diachronen Wortbildung des Deutschen erweist sich ein Blick über die Grenzen der germanistischen Forschung als gewinnbringend, sowohl in theoretischer als auch in methodischer Hinsicht. Maßgebliche Arbeiten zum Wandel in der Wortbildung finden sich in der Literatur zur Wortbildung des Englischen. Neben den Wörterbuchstudien von Anshen/Aronoff (1989) und Aronoff/Anshen (1998) sind insbesondere die korpusbasierten Arbeiten von Dalton-Puffer (1993, 1996), Cowie (1999) und Cowie/Dalton-Puffer (2002) zu nennen. Eine ausfuhrliche Darstellung der anglistischen Forschungsliteratur zur diachronen Wortbildung bietet Cowie (1999:7Iff.). Die Untersuchungen von Anshen/Aronoff (1989) und Aronoff/Anshen (1998) haben mit Cowie (1999) und Cowie/Dalton-Puffer (2002) gemein, dass sie mehr noch als die jüngeren germanistischen Studien die Produktivität von Wortbildungsprozessen ins Zentrum ihrer Argumentation rücken. In zwei knappen Studien, die auf dem Oxford English Dictionary basieren, vergleichen Anshen und Aronoff Veränderungen in der Produktivität der Suffixe -ness und -ity vom Altenglischen bis zur Gegenwart. Im Gegensatz zu Kiesewetter (1987) und Pounder (2000) orientieren sie sich jedoch nicht am Nachweis der Bildungen in einzelnen Epochen, sondern stützen sich bei der Produktivitätsermittlung auf die Datierung der Erstbelege. Dabei zeichnet sich diachron eine vermehrte Ausbreitung von Bildungen auf -ity gegenüber -we.s.v-Dcrivaten ab (Aronoff/Anshen 1998:244f.). Auf die Konkurrenz zweier Affixe konzentriert sich auch Dalton-Puffers (1993) natürlichkeitstheoretisch ausgerichtete Studie. Anliegen der Autorin ist es nachzuweisen, dass sich das Suffix -able gegenüber seinem altenglischen Konkurrenzsuffix -tic aufgrund einer größeren morphologischen Natürlichkeit und Systemkongruenz sowie einer geringeren Zahl potenzieller Basen durchgesetzt hat (Dalton-Puffer 1993:159). Mit ihrer Aussage "suffixes which select only a small set of bases are more likely to survive in the long run"

26 (Dalton-Puffer 1993:166) steht sie jedoch in Widerspruch zu Pounder (2000:669ff.), die gerade eine breite Anwendungsdomäne als beste Voraussetzung für steigende Produktivität ansieht. Zu bedenken ist allerdings, dass Dalton-Puffers Aussage auf formale Aspekte der Basis referiert, wohingegen Pounder sich auf die Untersuchung semantischer Basismerkmale konzentriert. Auch in ihrer Dissertation zum Einfluss des Französischen auf das Mittelenglische greift Dalton-Puffer (1996) auf natürlichkeitsmorphologische Ansätze zurück. Gegenstand ihrer Untersuchung, die auf einer Auswertung der ersten drei mittelenglischen Perioden des diachronen Helsinki-Textkorpus beruht, bilden nominale, verbale und adjektivische Suffixderivate. Obwohl Dalton-Puffer bei der Analyse primär semasiologische Kriterien verfolgt, berücksichtigt sie wie Pounder neben formalen Merkmalen der Derivate auch deren Bedeutung sowie formale Merkmale der Basis. Die Frage nach dem Wandel einzelner Wortbildungsmuster tritt allerdings hinter der Beschreibung des Materials zurück, und nur am Rande, bei der Frage nach der Entstehung von englisch-französischen Hybridbildungen, streift Dalton-Puffer (1996:215ff.) das Thema Produktivität, das bei Cowie (1999) und Cowie/Dalton-Puffer (2002) zum zentralen Indikator für Wandel in der Wortbildung wird. In Cowie/Dalton-Puffer (2002) verfolgen die Autorinnen die Frage, wie die Dynamik der Wortbildung aus historischer Perspektive adäquat erfasst werden kann. Ein entsprechender Versuch müsse notwendigerweise auf dem Begriff der morphologischen Produktivität fußen, so die Überzeugung der Autorinnen, da die Beobachtung von Produktivität und ihrer Veränderungen gleichbedeutend sei mit der Betrachtung von Wandel in der Wortbildung (Cowie/Dalton-Puffer 2002:411). Wichtigstes Anliegen der Autorinnen ist deshalb, das Konzept der Produktivität, bei dem der Zeitfaktor bislang selten berücksichtigt wurde, für die diachrone Forschung zu erschließen (Cowie/Dalton-Puffer 2002:417f.). Neben der Ausklammerung des Faktors Zeit aus der Produktivitätsdiskussion erschweren nach Cowie/ Dalton-Puffer (2002:42Iff.) aber auch methodische Probleme, deren größtes das Fehlen von ausreichend dimensionierten historischen Korpora ist, diachrone Produktivitätsstudien. Anders als Demske (2000) räumen die beiden Autorinnen bei diachronen Untersuchungen aus methodologischen Gründen quantitativen Aspekten der Produktivität den Vorzug gegenüber qualitativen ein (Cowie/Dalton-Puffer 2002:413f.), unter anderem deshalb, weil die Beschränkungen einzelner Wortbildungsmuster selten hinlänglich untersucht würden (vgl. aber Plag 1999). Ihr Vorschlag ist deshalb, die Methoden der synchron orientierten Forschung zur quantitativen Produktivität, wie sie etwa Baayen (1992, 1993), Baayen/Lieber (1991) und Baayen/Renouf (1996) erarbeitet haben, auf diachrone Fragestellungen zu übertragen (Cowie/Dalton-Puffer 2002:432). Die neben dem Aufsatz von Cowie/Dalton-Puffer (2002) fur meine Fragestellung methodisch und theoretisch bislang einschlägigste Untersuchung hat Cowie (1999) mit ihrer Dissertation zur Wortbildung des Neuenglischen vorgelegt. Cowies Ziel ist es, am Beispiel von Register- bzw. Stilebenen den diachronen Einfluss sprachexterner Faktoren auf die Produktivität in der Wortbildung nachzuweisen. Im einfuhrenden Teil ihrer Arbeit stellt Cowie (1999:37ff.) eine Reihe von Wandeltendenzen zusammen, die die Derivation betreffen und den Gegenstand einer Theorie des Wandels in der Derivation umreißen sollen (vgl. (7)). Die einzelnen Phänomene betreffen nach Aussagen der Autorin "individual constructions, rather than rearrangements in systems of derivational morphology" (Cowie 1999:38).

27 (7)

Für die Derivationsmorphologie relevante Wandelphänomene (Cowie 1999:38) 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

change between derivational expression and other expression types creation of new derivational morphology through reanalysis and/or analogy fossilization of a derivational affix borrowing of a derivational affix lexicalization of a derivation semantic change in a derivational affix changes in the productivity of a derivational affix

Obwohl Cowie also einzelne Wortbildungsmuster ins Zentrum ihrer Überlegungen stellt, grenzt sie den Gegenstand ihrer 'theory of change in derivational morphology' nicht auf Prozesse innerhalb der Wortbildung bzw. Derivation ein. Sechs der genannten Phänomene, (7-1) bis (7-6), sind nicht wortbildungsspezifisch, sondern betreffen neben dem Wortbildungsmodul weitere Komponenten der Grammatik (vgl. die Diskussion in Kap. 2.1.12.1.3.2). Lediglich bei Veränderungen in der Produktivität eines Affixes (7-7) handelt es sich um wortbildungsinterne Vorgänge. Den optimalen Ausgangspunkt, um den Wandel einzelner Prozesse zu beobachten, bietet nach Cowie (1999:2f.) eine diachrone Korpusstudie, da der Wandel einzelner Wortbildungsmuster auf der Mikroebene durch die Messung von Produktivitätsveränderungen fassbar werde. Anhand von Daten des Helsinki-Korpus und des ARCHER-Korpus unternimmt Cowie (1999:39) eine solche "small-scale investigation of changes in productivity" fur die Abstrakta ableitenden Nominalsuffixe -ness, -ity und -(t)ion. Der Untersuchungszeitraum ist in sieben Teilperioden gegliedert und umfasst die Zeit zwischen 1650 und 1990. Zur Messung der Produktivität verwendet Cowie eine modifizierte Version der Methode, die Baayen/Renouf (1996) entwickelt haben (vgl. Kap. 3.4.2). Anstelle der Hapax Legomena ermittelt sie frequenzunabhängig die Zahl der 'new types' in den einzelnen Perioden und verwendet ein 'Startlexikon', um Artefakte in der ersten Untersuchungsperiode zu korrigieren (Cowie 1999:118, Cowie/Dalton-Puffer 2002:430f.). Cowie (1999:126-249) weist für die einzelnen Suffixe sowohl diachrone Veränderungen als auch registerabhängige Unterschiede in der Produktivität nach. Allerdings hat die komplexe Anlage von Cowies diachroner registerabhängigen Produktivitätsanalyse zwei Konsequenzen, die im Widerspruch zu ihren Zielen stehen. Zum einen schmälert die Feinmaschigkeit der Frequenzanalyse deren Aussagekraft, da die Datenbasis sehr dünn wird. So verteilen sich bei den einzelnen Suffixen zwischen 345 (-ness) und 827 Neubildungen (-(t)ion) auf sieben Perioden und zehn Register, was je Periode und Register durchschnittlich zwischen 5 und 12 Neubildungen macht. Zum anderen tritt die diachrone Perspektive trotz Cowies theoretischen und methodischen Ansprüchen gegenüber der soziolinguistischen über weite Teile der Arbeit in den Hintergrund, was sich auch in der Zusammenfassung der Ergebnisse zeigt (Cowie 1999:288ff.). Festzuhalten im Hinblick auf eine Theorie des Wortbildungswandels ist, dass sich die diachronen Arbeiten zur deutschen Wortbildung abgesehen von der Sammlung möglicher Wandelphänomene, die die Wortbildung betreffen (Kiesewetter 1991, Wellmann 1997), weitgehend auf die Darstellung bzw. Untersuchung einzelner Wortbildungsmuster (Demske 2000, Kiesewetter 1987) oder von Teilen des Wortbildungssystems (Pounder 2000, Weinreich 1971) konzentrieren. Sie basieren im Gegensatz zu historisch-synchronen Arbeiten

28 zum Deutschen und diachronen Studien zum Englischen ganz oder weitgehend auf der Auswertung von Wörterbüchern. Eine zentrale Rolle bei Veränderungen innerhalb der Wortbildung kommt im Rahmen neuerer Arbeiten zum Deutschen (Demske 2000, Kiesewetter 1987, 1991, Pounder 2000) und Englischen (Anshen/Aronoff 1989, Aronoff/Anshen 1998, Cowie 1999, Cowie/DaltonPuffer 2002) der Produktivität zu. Neue methodische Impulse sind im Rahmen der diachronen Wortbildungsforschung insbesondere den Arbeiten von Cowie (1999) und Cowie/Dalton-Puffer (2002) zu verdanken, wenn auch bis heute von keinem der Autoren geklärt worden ist, was konkret "wortbildungsspezifische Wandlungsprozesse und -mechanismen" (Kiesewetter 1987:169) sind.

2.2

Wortbildungsspezifischer Wandel

Wichtigstes Anliegen einer Theorie des Wortbildungswandels muss es sein, das Spezifische des Wortbildungswandels herauszuarbeiten, d.h. jene Merkmale zu bestimmen, die Wortbildungswandel von anderen Arten des sprachlichen Wandels unterscheiden. Wandel in der Wortbildung findet auf zwei Ebenen statt: auf der Ebene der Wortbildungsmuster und auf der Ebene des Wortbildungssystems. Forscher, die wie die Vertreter der historisch-synchronen Wortbildung von vornherein auf den Systemwandel fixiert sind, neigen dazu, sich auf Veränderungen im Bestand der Wortbildungsmodelle zu konzentrieren (vgl. Kap. 2.1.3.1). Dabei wird leicht übersehen, dass das Entstehen neuer und das Aussterben alter Muster in der Regel außerhalb des Wortbildungssystems initiiert wird, etwa durch die Überführung ehemals syntaktischer Konstruktionen in Wortbildungsprodukte, die Herauslösung von Affixen und Wurzeln aus Entlehnungen und anderen reanalysierten Simplizia oder die Lexikalisierung von Wortbildungsprodukten. In fast allen Fällen sind Veränderungen im Wortbildungsinventar auf die Interaktion des Wortbildungsmoduls mit anderen Komponenten der Grammatik, insbesondere mit Lexikon und Syntax, zurückzuführen. Während unter 'Wandel in der Wortbildung' üblicherweise uneingeschränkt alle Veränderungen zusammengefasst werden, die das Wortbildungssystem und insbesondere den Bestand an Wortbildungsmitteln betreffen, verstehe ich unter 'Wortbildungswandel' lediglich jene Veränderungen, die auf das Wortbildungsmodul beschränkt und somit spezifisch für die Wortbildung sind. Folglich stellt Wortbildungswandel zwar eine Art des 'Wandels in der Wortbildung' dar, aber eben nur eine Art des Wandels unter mehreren. Um das Charakteristische am Wortbildungswandel zu erfassen, ist zunächst zu klären, in welchem Verhältnis Wortbildungswandel zu phonologischen und semantischen Wandelprozessen steht, und was Wortbildungswandel von lexikalischem Wandel unterscheidet. 9 Für den Wandel von bedeutungstragenden Einheiten, wie sie etwa Affixe, Wurzeln, Derivate und Komposita darstellen, gilt allgemein, dass

9

Lexikalischer Wandel wird hier lediglich auf Lexeme bezogen, er umfasst jedoch neben der Veränderung von Einzelwörtern auch die Veränderung des Wortschatzes bzw. von Teilen des Wortschatzes (vgl. Reichmann/Wolf 1998:610).

29 [b]ei der Betrachtung des Wandels von bedeutungstragenden Einheiten [...] grundsätzlich zwei Wandlungsebenen angenommen werden [müssen], die Veränderung der Bedeutungsebene und ausdrucksseitige dauerhafte Wandlungsvorgänge, wobei diese beiden Wandlungstypen in der Sprachwirklichkeit naturgemäß häufig miteinander verschränkt auftreten. (Mattheier 1998:830) Formale und inhaltliche Veränderungen sind demnach kennzeichnend für sprachliche Zeichen an sich. Allerdings gibt es formale und inhaltliche Veränderungen, die nur bei komplexen sprachlichen Zeichen auftreten können, wie beispielsweise der Verlust formaler und/ oder semantischer Transparenz bei Wortbildungsprodukten und syntaktischen Einheiten (=Lexikalisierung). 10 Anhand der Lexikalisierung wird deutlich, dass es das Bestehen einer internen morphologischen Struktur ist, das Wortbildungsprodukte grundlegend von Simplizia unterscheidet (vgl. Abb. 2). Abb. 2: a

Aufbau von Simplizia und komplexen Lexemen

Simplex

b

Morphem

komplexes Lexem Μ ο rρ h emι Morphem; \ / Lexem z.B. Baumschule, Schüler

I Lexem z.B. Baum, Schule

Integriert man in diese Darstellung die Bilateralität sprachlicher Zeichen, so wird deutlich, dass bei Simplizia wie Baum eine formale und inhaltliche Übereinstimmung zwischen Morphem- und Lexemebene vorliegt (vgl. Abb. 3a), die bei Komposita oder Derivaten wie Baumschule bzw. Schüler nicht gegeben ist (vgl. Abb. 3b). Abb. 3: a

Aufbau morphologisch einfacher und morphologisch komplexer Lexeme

Simplex [bäum] — BAUM Form Inhalt \ / Morphem /bäum/ I L e x e m Baum / \ Form Inhalt [bäum] — BAUM

b

komplexes Lexem [bäum] — BAUM SCHULE Lfu:b] Form Inhalt Inhalt Form \ / \ / M o r p h e m l == = M o r p h e m 2 /bäum/ /schule/ \ / Lexem Baumschule / \ Form Inhalt [baomjuila] — BAUMSCHULE

arbiträre Beziehung (Form-Inhalt) === reguläre Beziehung zwischen bedeutungstragenden Einheiten

10

Diese Überlegungen gehen von konkatenativen Wortbildungsprozessen, d.h. Komposition und Derivation, aus, bei denen zwei bedeutungstragende Einheiten miteinander verknüpft werden. Konversion und Kurzwortbildung wurden nicht berücksichtigt (zu Analogie- und Rückbildung vgl. Kap. 3.3.4.).

30 Morphologische Simplizia wie Baum oder Schule, bei denen Morphemebene und Lexemebene zusammenfallen, sind im Idealfall eineindeutig: Eine Form entspricht genau einem Inhalt (Transparenzprinzip), und ein Inhalt wird durch genau eine Form bezeichnet (Uniformitätsprinzip) wie etwa im Fall von Brokkoli in (8)." Α und Β symbolisieren die Bedeutung eines Lexems, a und b dessen Form, das Zeichen = die Eineindeutigkeit der Beziehung. (8)

Eineindeutigkeit:

A = a BROKKOLI =

[brokoli]

Bei morphologisch komplexen Lexemen wie Baumschule oder Schüler hingegen ergibt sich ein Eineindeutigkeitskonflikt, da die morphosemantische und die lexikalische Eineindeutigkeit der Wortbildungsprodukte in Konkurrenz zueinander stehen (Dressler 1986:535ff., 1987:11 Iff.) (vgl. (9a) vs. (9b)). (9)

a

morphosemantische Eineindeutigkeit (Α

Ξ a

+ Β

Ξ

b

b)

BAUM = [bäum] + SCHULE Ξ [ f u : b ]

lexikalische Eineindeutigkeit (Α+Β

Ξ a+b)

BAUM+SCHULE = [ b a o m ] + [ f u : b ]

Dieser Konflikt wird nach Dressler (1986:538f.) wegen der semiotischen Priorität des Worts gegenüber dem Morphem zugunsten der lexikalischen Eineindeutigkeit entschieden. Der Vorrang der Lexemebene gegenüber der Morphemebene fuhrt somit bei komplexen Lexemen prinzipiell zu einem gewissen Verlust an inhaltlicher Durchsichtigkeit, was erklärt, warum die morphosemantische Transparenz bei Wortbildungsprodukten in der Regel deutlich weniger ausgeprägt ist als etwa bei Flexionsformen. Betrachtet man die Lexeme in (10), die einem bestimmten Wortbildungsmuster folgen, und die Bildungen in (11), die nach eben diesem Muster ausgeschlossen sind, so zeigt sich, dass das Wortbildungsmodell systematisch beschränkt ist. Die Movierung mit -in ist, wie der Vergleich zwischen (10) und (11) zeigt, auf Menschen und Tiere beschränkt, deren Geschlecht aus menschlicher Perspektive erkennbar und/oder relevant ist (Hündin vs. * Würmin) und nicht bereits im Basislexem inhärent ist (Ärztin vs. *Schwesterin). (10)

a b

Ärztin, Botin, Ingenieurin, Lehrerin, Professorin Hündin, Füchsin, Löwin

(11)

a b c

*Buchin, *Kleidin, *Mondin, *Schiffin *Bäumin, *Schlangin, *Würmin *Huhnin, *Schwesterin

Im Gegensatz zu dieser weitgehend semantisch motivierten Beschränkung liegt bei den Komposita in (12) eine formale Beschränkung vor. Laut Eisenberg (1998:218f.) sind bei Substantivkomposita in der Regel nur morphologisch einfache Adjektive als Erstglied möglich (12a), wohingegen suffigierte Adjektive wie in (12b) ausgeschlossen sind. (12)

"

a b

Bitterschokolade, Dunkelkammer, Edelstahl, Sauerkraut, Trockendock *Salzigwasser, *Seelischproblem, *Trinkbarwasser, *Zeitlichvertrag (Eisenberg 1998:219)

Andere Simplizia aus demselben Wortfeld wie Karotte und Birne sind nicht eineindeutig. Während im Fall von Synonymen (Karotte, Mähre) gegen das Uniformitätsprinzip verstoßen wird, verletzen polyseme Wörter wie Birne ('Frucht' bzw. 'Leuchtkörper') das Transparenzprinzip.

31 Gegen eine andere Beschränkung formaler Art verstößt die Bildung (un)kaputtbar. Das Suffix -bar tritt im Neuhochdeutschen nicht an Adjektive, sondern lediglich an verbale Basen (Fleischer/Barz 1995:252f.). 12 Formale und inhaltliche Beschränkungen können sich jedoch diachron verändern. So sind nach Demske (2000) im Frühneuhochdeutschen deverbale -««g-Derivate zu Zustandsverben belegt, die im Neuhochdeutschen nicht mehr möglich sind (vgl. (13)). Im Gegensatz zum Frühneuhochdeutschen unterliegt die Ableitung von -wwg-Derivaten im Neuhochdeutschen somit semantischen Beschränkungen (Demske 2000:375). (13)

fnhd. streiffung, zehrung, ansehung, verbleibung, begehrung

(Demske 2000:374)

Jedoch bestehen Beschränkungen nicht nur für die Konstituenten von Wortbildungsmustern, sondern auch für das Wortbildungsprodukt. Zwar können in gewissem Umfang formale Veränderungen zwischen Input und Output auftreten, wie etwa die Umlautung (/koch/+/in/ > Köchin) oder das Einfügen von Fugen (/lösung/+/ansatz/ > Lösungsansatz), jedoch ist der Grad der formalen Abweichung und die Anzahl der möglichen Veränderungen zwischen den einzelnen Konstituenten und dem komplexen Lexem stark beschränkt. Dass auch inhaltliche Beschränkungen für Wortbildungsprodukte bestehen, ist im Bereich der Komposita weniger deutlich als auf dem Gebiet der Derivation, da den unterschiedlichen semantischen Interpretationsmustern (z.B. Kopulativ-, Possessiv- und Determinativkomposita) keine eigenständigen formalen Bildungsmuster entsprechen. Anders ist dies bei der Derivation. Hier wird dem Output des Wortbildungsmusters in aller Regel eine vom konkreten Einzelfall unabhängige 'Wortbildungsbedeutung' zugeschrieben: im Fall von Hörer, Leser, Sprecher etwa 'Person, die die durch das Basisverb benannte Tätigkeit ausübt' (Fleischer/Barz 1995:19). Allerdings sind nur wenige Wortbildungsmuster monofunktional wie -chen, das nur Diminutiva bildet, und ex-, das immer die Aktualität negiert (vgl. Mötsch 1999:433f.). In der Regel besteht "keine Eins-zu-Eins-Beziehung zwischen Modellstruktur und Wortbildungsbedeutung" (Fleischer/Barz 1995:19). Komposition und die meisten Derivationsmuster lassen mehrere semantische Deutungen zu. Hörer kann sowohl eine Person (AGENS-Lesart) als auch ein Gerät (INSTRUMENT-Lesart) bezeichnen, andererseits können INSTRUMENTE nach Mötsch (1999:34Iff.) neben dem Suffix -er auch mittels -e (Klebe) und -el (Hebel) abgeleitet werden. 13 Aber auch bei polysemen Wortbildungsmustern ist der Output auf eine gewisse Bandbreite an Wortbildungsbedeutungen festgelegt: Verbale Derivate mit dem Präfix miss- etwa bezeichnen nach Mötsch (1999:152) die Tatsache, dass etwas falsch getan wird (missinterpretieren) oder die reine Wortnegation (missglücken). Die Präfigierung mit miss- kann aber nicht wie etwa bei er- und ver- zu einer inchoativen Interpretation führen (erblühen, verwelken). Der wesentliche Unterschied zwischen Simplizia und komplexen Lexemen besteht also darin, dass bei Simplizia Morphem und Lexem formal und inhaltlich identisch sind, wohingegen bei komplexen Lexemen Morphem- und Lexemebene unterschiedlich sind und die

12

Von diesen Regelbeschränkungen abzusetzen sind Fälle wie halbschwanger und mausgrün, die gegen das Weltwissen der Sprecher verstoßen, sowie Beispiele wie Katzer 'männliche Katze' und Stehler, deren Bildung durch die Existenz synonymer Wörter (Kater, Dieb) blockiert wird.

13

Zu beachten ist jedoch der unterschiedliche Grad der Verfügbarkeit der einzelnen Muster. Während -er nach Mötsch (1999:342f.) 'stark aktiv' ist, sei die Suffigierung mit -e nur 'schwach aktiv', die mit -el hingegen 'inaktiv'.

32 Beziehung zwischen den Konstituenten (Input) und dem Lexem (Output) erst durch das Wortbildungsmuster hergestellt wird. Input und Output von Wortbildungsmustern können variieren, begrenzt werden sie durch inhaltliche und formale Beschränkungen, die spezifisch für das jeweilige Wortbildungsmuster sind. Diachron gesehen unterliegen morphologisch einfache Lexeme und morphologisch komplexe Wortbildungsprodukte denselben formalen und inhaltlichen Wandelprozessen, was in ihrer gemeinsamen Eigenschaft als sprachliche Zeichen begründet liegt. Zu betonen ist allerdings, dass die Veränderungen auf der Lexemebene bei Wortbildungsprodukten erst nach Abschluss des Wortbildungsprozesses, d.h. wenn konkrete Wortbildungsprodukte vorliegen, einsetzen können. Im Gegensatz dazu stehen Veränderungen in den Beschränkungen des In- und Outputs, die spezifisch für den Wortbildungswandel sind (vgl. Abb. 4). Anders als lexikalische Wandelprozesse betreffen sie nicht nur einzelne sprachliche Einheiten, sondern den möglichen Input bzw. Output eines Wortbildungsmusters in seiner Gesamtheit. Abb. 4:

Sprachwandel bei morphologisch einfachen und komplexen Lexemen

Wandel des Lexems Wandel der Input- und Outputbeschränkungen

Simplizia

komplexe Wortbildungsprodukte





lexikalischer Wandel

V

Wortbildungswandel



Der Wandel der Input- und Outputbeschränkungen ist messbar. Zum einen kann Art und Umfang der bestehenden Beschränkungen diachron ermittelt werden (vgl. Demske 2000). Lässt ein Wortbildungsmuster wie die nominale -er-Derivation bei einer Beschränkung mehrere Merkmalsausprägungen zu (z.B. verbale und nominale Basen), so lassen sich zum anderen Wandelprozesse in der merkmalsabhängigen Produktivität erkennen, etwa an einem höheren Produktivitätsanstieg bei deverbalen Derivaten im Vergleich mit denominalen Bildungen. Merkmalsabhängige Produktivitätsveränderungen sind somit der Indikator für Wortbildungswandel.

2.3

Wortbildungswandel und Produktivität

Produktivität ist ein Merkmal morphologischer Prozesse (Bauer 2001:13ff.). Sie kann, wie Bauer (2001:7ff, 163, 204) mehrfach betont, diachronen Schwankungen unterliegen. Wie der Forschungsüberblick in Kapitel 2.1 und die anschließende Diskussion in Kapitel 2.2 deutlich gemacht haben, sind genau diese diachronen Produktivitätsveränderungen für Wortbildungswandel, wenn nicht sogar für die meisten Arten von Wandel in der Wortbildung charakteristisch. Bei der diachronen Untersuchung von Wortbildungsmustern stützen sich die meisten Forscher wie z.B. Cowie (1999) und Demske (2000) auf die Bestimmung diachroner Produktivitätsveränderungen (vgl. Kap. 2.1.3.2). Ziel dieses Abschnitts wird es sein, einen knappen Überblick über den Begriff der Produktivität und die in der Literatur diskutierten

33 Beschränkungen zu geben. Im Rahmen dieser Arbeit muss jedoch eine Skizze des Forschungsstandes genügen, eine ausführliche Darstellung und Diskussion der Produktivität findet sich in den Monografien von Bauer (2001) und Plag (1999). Was Fragen der Messung und Messbarkeit von Produktivität anbelangt, so sei an dieser Stelle bereits auf die Arbeiten von Baayen und dessen Kollegen hingewiesen, deren Verfahren zur Produktivitätsmessung das Instrumentarium für die Auswertung meiner Korpusdaten bilden (vgl. Kap. 3.4).

2.3.1

Dimensionen der Produktivität

'Produktivität' ist ein in der Wortbildungsforschung häufig verwendeter Begriff. Wortbildungsmuster werden als produktiv, unproduktiv, stark oder schwach produktiv beschrieben. Fleischer/Barz (1995) bezeichnen in ihrer Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache etwa -bar als "das produktivste Modell deverbaler Adjektivbildung", die Bildung von resultativen Verben mit dem Präfix ver- (verarbeiten, verspeisen) als "hochproduktiv" und die Suffigierung mit -sal als "kaum noch produktiv" (Fleischer/Barz 1995:252, 326, 168). Jedoch ist der Begriff 'Produktivität' alles andere als klar. Aronoff (1976:35) bezeichnet Mitte der siebziger Jahre Produktivität als "one of the central mysteries of derivational morphology", und Mayerthaler (1981:124) rechnet Produktivität fünf Jahre später "zu den unklarsten Begriffen der Linguistik". Seitdem sind mehrere wegweisende Arbeiten zur morphologischen Produktivität erschienen, unter anderem die Monografien von Baayen (1989), Bauer (2001) und Plag (1999) sowie mehrere Aufsätze von Baayen (1992, 1993, 1994a, 1994b) und dessen Kollegen (Baayen/Lieber 1991, Baayen/Neijt 1997, Baayen/Renouf 1996, Plag et al. 1999). Dennoch betrachtet Bauer (2001 :xiii) seine Erkenntnisse zur morphologischen Produktivität auch nach einem Vierteljahrhundert der Auseinandersetzung mit dem Phänomen lediglich "as provisional". Ein Konsens über die Definition von Produktivität besteht bis heute nicht. Bereits die Frage, ob es sich bei Produktivität um ein qualitatives oder ein quantitatives Phänomen handelt, wird in der Forschung unterschiedlich beantwortet (vgl. Bauer 1992:185f., Booij 2002:10f„ Plag 1999:1 lf.). Zentral für das Phänomen Produktivität ist die Möglichkeit eines morphologischen Prozesses, neue Formen auszubilden (Aronoff/ Anshen 1998:242, Bauer 1994:3357). Produktivität, so fasst es Bauer (2001:211), "deals with the number of new words that can be coined using a particular morphological process". Wird Produktivität als Möglichkeit eines Wortbildungsmodells aufgefasst, zu einem bestimmten Zeitpunkt Neubildungen hervorzubringen, liegt ein qualitatives Verständnis von Produktivität vor (vgl. Rainer 1987:190). Demnach ist ein Wortbildungsmodell nach diesem Verständnis entweder produktiv oder unproduktiv. Die Perspektivverschiebung von der bloßen Möglichkeit hin zur Wahrscheinlichkeit von Neubildungen kennzeichnet den quantitativen Produktivitätsbegriff, der z.B. Baayens Produktivitätsmaßen zugrunde liegt. In diesem Fall wird Produktivität als ein graduelles und empirisch fassbares Phänomen verstanden. Da als Indiz für Produktivität jedoch tatsächlich erfolgte Neubildungen dienen, steht der Begriff 'Produktivität' im Spannungsfeld zwischen dem Potenzial eines Wortbildungsmusters ('availability') und dessen tatsächlicher Ausschöpfung ('profitability') (Bauer 2001:211).

34 Empirische Wortbildungsforschung impliziert per se eine quantitative Auffassung von Produktivität. Zu unterscheiden ist zwischen Ansätzen, die die Produktivität am möglichen und/oder tatsächlichen Output morphologischer Prozesse festmachen (z.B. Baayen/Lieber 1991, Plag 1999, Bauer 2001) und solchen, die die Produktivität eines Wortbildungsprozesses über das Ausmaß an Input-Beschränkungen (Anwendungsdomänen) ermitteln (Demske 2000, Dressler/Ladänyi 2000, 'potential productivity' bei Pounder 2000:138). Ein ausfuhrlicher Überblick über verschiedene Produktivitätsbegriffe findet sich bei Bauer (1994), Plag (1999:11-35) und Rainer (1987). Auf quantitative Definitionsansätze werde ich im Zusammenhang mit der Messung von Produktivität im Folgenden noch umfassender eingehen (vgl. Kap. 3.4.1).

2.3.2

Produktivitätsbeschränkungen

Die Produktivität von Wortbildungsprozessen hängt von einer ganzen Reihe sprachinterner und -externer Faktoren ab (Koefoed/van Marie 2000:304f.). Transparenz wird häufig als Voraussetzung für die Produktivität morphologischer Prozesse erachtet, jedoch weisen etwa Anshen/Aronoff (1981:67ff.) in einem Experiment nach, dass bei englischen Adjektiven auf -ible die phonologisch weniger transparente Bildung von Substantiven auf -ibility produktiver ist als die nach dem transparenteren Muster -ibleness. Umgekehrt bieten inhaltliche und formale Transparenz keine Garantie für morphologische Produktivität, wie etwa im Fall der transparenten, aber unproduktiven Derivationsprozesse mit dem niederländischen Suffix -te (Baayen 1993:198) und dem englischen Suffix -ment (Bauer 2001:54). Unbestritten ist allerdings, dass die Transparenz eines morphologischen Musters dessen Produktivität begünstigt. 14 Rainer (2000) unterscheidet einzelsprachliche und übereinzelsprachliche Produktivitätsbeschränkungen, wobei einzelsprachliche Beschränkungen regelspezifisch oder regelübergreifend sein können. Sie können sich sowohl auf den Input ('Eingabebeschränkung') als auch auf den Output ('Ausgabebeschränkung') eines Wortbildungsprozesses beziehen (Rainer 2000:880). Plag (1999) stellt zehn in der Literatur diskutierte, für die Wortbildung relevante Beschränkungen zusammen, die einen übereinzelsprachlichen Geltungsanspruch erheben (vgl. (14)). (Zur ausfuhrlichen Diskussion der einzelnen Regelbeschränkungen vgl. Plag 1999:45-60). (14)

Wichtigste allgemeine Regelbeschränkungen nach Plag (1999:45) 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

14

the word base hypothesis the compositionality hypothesis the binary branching hypothesis locality conditions recursion and repetition constraints the open-class base hypothesis (Ν, V, A, Adv) the unitary base hypothesis

Dieser Einfluss ist jedoch keinesfalls einseitig zu sehen, da nicht nur ein transparenter Output zu einem Produktivitätszuwachs fuhren, sondern auch eine hohe Produktivität (indirekt) zur Transparenz eines Wortbildungsprozesses beitragen kann, da eine hohe Typenfrequenz den Sprechern die Analyse bestehender Formen erleichtert und somit die Transparenz des Musters fordert.

35 8. 9. 10.

the unitary output hypothesis blocking stratal constraints

Bauer (2001:128) kommt nach der Prüfung der von Plag gesammelten Beschränkungen allerdings zu dem Ergebnis, dass diese allgemeinen Regelbeschränkungen die Produktivität morphologischer Prozesse nur geringfügig beeinflussen, wohingegen "the most relevant constraints are precisely those which deal with the details". Es sei, so Bauer (1994:3356), "extremely unusual for there to be no restrictions applying to a particular set of bases." Anshen/Aronoff (1981:66) betonen, dass die Produktivität eines Derivationsprozesses nur unter Berücksichtigung der morphologischen Eigenschaften der Basis bestimmt werden könne, wohingegen Bauer (1992:185) annimmt, dass Derivationsbasen sowohl phonologischen, morphologischen, syntaktischen, semantischen, pragmatischen als auch ästhetischen Beschränkungen oder einer Kombination davon unterliegen können (vgl. auch Rainer 2000:880ff.). 15 Als Beispiel für das Zusammenspiel phonologischer und morphologischer Beschränkungen sei die Ableitung von Adverbien aus Adjektiven, die auf -ly (weekly, oilv) enden, im Englischen (Bauer 1992) und für semantische Restriktionen die -«wg-Nominalisierung im Deutschen (Demske 2000) genannt. Basisbeschränkungen sind jedoch nicht statisch, sondern können wie alle anderen sprachlichen Phänomene diachronem Wandel unterliegen (Bauer 2001:168). Bei den bislang erläuterten Basisbeschränkungen handelt es sich um Eingabebeschränkungen im Sinne von Rainer (2000), jedoch weisen verschiedene Autoren, etwa Kastovsky (1986b) und Bauer (2001), auch explizit auf das Bestehen von Ausgabebeschränkungen hin. So kann nach Bauer (2001:201) die Produktivität, abhängig von der jeweiligen Verwendung, innerhalb eines Wortbildungsmusters variieren. Und Kastovsky (1986b) demonstriert am Beispiel englischer Derivate, dass zwischen der Produktivität eines "global morphological pattern" und der Produktivität der "various semantic types within a morphological pattern" (Kastovsky 1986b:585) zu unterscheiden sei. Seine Analyse deverbaler -erDerivate etwa lasse eine klare Produktivitätshierarchie der Form "Agent - Instrument Experiencer - Patient - Locative - Action" erkennen (Kastovsky 1986b:597). Dieses Ergebnis veranlasst Kastovsky (1986b:596f.) zu der Forderung, "that we should not talk about the productivity of a morphological pattern as a whole, but rather about the productivity of a morphological-semantic type" (vgl. auch Pounder 2000:667ff.). Zwar befassen sich Bauer (2001) und Kastovsky (1986b) mit rein inhaltlichen Output-Beschränkungen, es existieren jedoch in der Wortbildung auch formale Ausgabebeschränkungen, beispielsweise das Prinzip der Rechtsköpfigkeit im Deutschen. So legt im Deutschen das Zweitglied die Wortart und die Flexionseigenschaften des Kompositums fest. Bei Derivaten bestimmt entsprechend das Suffix bei Suffigierung und die Basis bei Präfigierung die syntaktischen und morphologischen Eigenschaften der Bildung (zu Ausnahmen vgl. Eisenberg 1998:242ff, Olsen 1991). 15

A u f die Kombination semantischer und formaler Beschränkungen zielt Pounders (2000:667fT.) Aussage, Produktivität sei nicht an einzelne Regeln, sondern an bestimmte Wortbildungsoperationen, d.h. an eine Kombination von Formregel und semantischer Regel, gebunden (vgl. Kap. 2.1.3.2). Aussagen über die Produktivität einzelner Formregeln oder semantischer Regeln stellen insofern lediglich die Essenz aus der Produktivität aller an der entsprechenden Regel beteiligten Wortbildungsoperationen dar.

36 Neben den sprachinternen Produktivitätsbeschränkungen sollte jedoch die Bedeutung des Sprachgebrauchs nicht übersehen werden. Koefoed/van Marie (2000:305ff.) unterstreichen die Bedeutung systemexterner Variablen für die Produktivität wie etwa Stilebene, sprachgeografische Aspekte oder das Urteil der Sprachgemeinschaft über die Normgerechtheit und Akzeptanz von Neubildungen. Der Einfluss von Textsorte, Autorenstil oder Registerzugehörigkeit auf die Produktivität morphologischer Prozesse war in den letzten Jahren wiederholt Gegenstand empirischer Untersuchungen (Baayen 1994b, Baayen/Neijt 1997, Cowie 1999, Plag et al. 1999). Der entscheidende Punkt ist jedoch, so Bauer (2001:143), "that words are only formed as and when there is a need for them". Besteht kein Bedarf an neuen Wörtern, so bleiben Neubildungen aus. Eine geringe Zahl an Neubildungen kann somit z u m einen auf sprachinterne Beschränkungen ('constraint-restricted'), zum anderen aber auch auf mangelnden Bedarf ('usage-restricted') zurückzufuhren sein.

2.4

Hypothesen zum Wortbildungswandel

Z u m Abschluss dieses Abschnitts möchte ich nochmals kurz die Zielsetzung meiner Arbeit umreißen und eine Arbeitshypothese, bestehend aus drei Teilhypothesen, formulieren. Ziel dieser Arbeit ist die theoretische und empirische Annäherung an das Phänomen des Wortbildungswandels. Da ich unter Wortbildungswandel diachrone Entwicklungen verstehe, die spezifisch für die jeweiligen Wortbildungsmuster sind, stehen die für Wortbildungsprozesse charakteristischen Beschränkungen, denen der Input und Output eines Bildungsmusters unterliegt, im Zentrum meiner Überlegungen. Unterschiede im Input oder Output, wie man sie in der Wortbildung regelmäßig beobachtet, schlagen sich in der Produktivität nieder. Z u d e m kann sich die Produktivität von Wortbildungsprozessen diachron verändern (vgl. Kap. 2.3). Der Wandel von Produktivitätsverhältnissen ist folglich von maßgeblicher Bedeutung für Wortbildungswandel. Die grundlegende Hypothese z u m Wortbildungswandel, die den Abschluss meiner theoretischen Überlegungen bildet, ist: (15) Hypothese zum Wortbildungswandel Wortbildungswandel manifestiert sich im Wandel input- bzw. outputabhängiger Produktivitätsverhältnisse. Diese Hypothese lässt sich in drei Teilhypothesen, deren Zentrum die Veränderung von Produktivitätsverhältnissen bildet, aufgliedern: (16) Teilhypothesen zum Wortbildungswandel a b c

Produktivität kann sich diachron verändern. Produktivität kann sich abhängig vom Output des Wortbildungsmusters verändern, Produktivität kann sich abhängig vom Input des Wortbildungsmusters verändern.

Die Verifizierung der in (15) und (16) genannten Hypothese bzw. Teilhypothesen zum Wortbildungswandel wird Ziel des empirischen Teils meiner Arbeit (Kap. 5) sein. D e m voraus gehen in Abschnitt 3 einige methodologische Überlegungen, die für die empirische Untersuchung von Wortbildungswandel erforderlich sind. Diese werden an konkreten Fäl-

37 len aus dem Mainzer Zeitungskorpus erläutert. In Abschnitt 4 folgt eine ausführliche Darstellung der nominalen -er-Dcrivation im Deutschen, bevor in Abschnitt 5 die Ergebnisse der Korpusanalyse präsentiert werden.

2.5

Zusammenfassung

Ziel dieses Abschnitts war es, den B e g r i f f 'Wortbildungswandel' zu klären und zu definieren. Wortbildungswandel als eigenständige und für die Wortbildung spezifische Form von Wandel ist abzugrenzen von anderen Arten sprachlichen Wandels, wie etwa Lexikalisierung oder Grammatikalisierung, die Phänomene an der Schnittstelle zwischen dem Wortbildungsmodul und anderen Komponenten der Grammatik betreffen. Als wortbildungsspezifisch - und somit konstitutiv für den Wortbildungswandel - erweisen sich in der Auseinandersetzung mit der bisherigen Forschung Veränderungen im möglichen Input bzw. Output einzelner Wortbildungsmuster. Die Diskussion aktueller Literatur zur historischen Morphologie, zu natürlichem Wandel und historischer Wortbildung führte zu dem Ergebnis, dass Wortbildungswandel als eigenständige Form sprachlichen Wandels bislang kaum wahrgenommen, geschweige denn systematisch erforscht wurde. Der Überblick machte jedoch auch deutlich, dass die Produktivität von Wortbildungsmustern beim Wortbildungswandel eine zentrale Rolle spielt. Die Bedeutung, die den diachronen Veränderungen der Produktivität in Kombination mit veränderten Input- bzw. Outputbeschränkungen einzelner Wortbildungsmuster im Rahmen des Wortbildungswandels zukommt, führte zur Formulierung der zentralen These meiner Arbeit, die besagt, dass sich Wortbildungswandel im Wandel input- bzw. outputabhängiger Produktivitätsverhältnisse manifestiert. Während ich mich in diesem Abschnitt somit unter theoretischen Gesichtspunkten mit Wortbildungswandel auseinandergesetzt habe, erarbeite ich im folgenden Abschnitt die notwendigen methodischen und terminologischen Voraussetzungen für die empirische Überprüfung meiner Thesen zum Wortbildungswandel.

3

Empirische Untersuchung von Wortbildungswandel

3.1

Konzeption der Sprachwandelstudie

Zur empirischen Untersuchung lexikalischer Einheiten werden in der Forschung sowohl Wörterbücher als auch Textkorpora verwendet. Textkorpora haben gegenüber einer Wörterbuchanalyse den Vorteil, dass die Einbettung in den Kontext die Bestimmung der einzelnen Referenzkonzepte ermöglicht. Daneben erlauben Korpusdaten, Aussagen über den Verwendungskontext und die Gebrauchsfrequenz einzelner Lexeme zu machen. Wörterbücher hingegen sind essenziell für die Ermittlung historischer Wortkonzepte (vgl. Kap. 3.1.2). Die elektronische Aufbereitung und Verarbeitung von Textkorpora eröffnet neue Dimensionen in der Erforschung historischer Sprachstufen: Im Rahmen großer Forschungsprojekte entstanden das Bonner Frühneuhochdeutsch-Korpus, aus dem neben der Grammatik des Frühneuhochdeutschen (1970-...) mehrere Arbeiten zur Wortbildung hervorgegangen sind (Doerfert 1994, Prell/Schebben-Schmidt 1996), sowie das Bochumer MittelhochdeutschKorpus, das gegenwärtig die Grundlage für die Erarbeitung einer Grammatik und Wortbildungslehre des Mittelhochdeutschen bildet (Wegera 2000:1311-1318). Zur Untersuchung von Sprachwandel hingegen wurden Korpora bislang selten systematisch genutzt (vgl. jedoch zum Deutschen Best 1983, Best/Kohlhase 1983, Imsiepen 1983 sowie zum Englischen Cowie 1999, Dalton-Puffer 1996, Frisch 1997). Häufig dominiert selbst bei Untersuchungen, die einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten oder Jahrhunderten umfassen, der statische, synchrone Aspekt, d.h. die Arbeiten zielen auf die Erforschung einer bestimmten Sprachstufe ab, etwa des Frühneuhochdeutschen (Prell/Schebben-Schmidt 1996) oder der Goethezeit (Stricker 2000), und nicht darauf, diachrone Wandelprozesse nachzuvollziehen. Im Gegensatz zu dieser synchronen Herangehensweise dominiert in meiner Arbeit die dynamische, diachrone Perspektive, d.h. meine Untersuchung fokussiert gerade auf jene Daten, die bei einer Epochenbeschreibung durch ihr abweichendes Verhalten das Gesamtbild uneinheitlich erscheinen lassen. Bei der empirischen Untersuchung von Sprachwandel tritt neben methodische Probleme (vgl. Kap. 3.1-3.3) die Frage, wie überhaupt sprachliche Phänomene empirisch in ihrem zeitlichen Verlauf erfasst werden können (vgl. Kap. 3.4).

3.1.1

Das Mainzer Zeitungskorpus als Sprachwandelkorpus

Um Sprachwandelphänomene empirisch erforschen zu können, muss die sprachliche Entwicklung in einem Korpus möglichst realitätsnah simuliert werden.1 Anzahl und Größe der Sowohl bei synchronen als auch bei diachronen Untersuchungen handelt es sich zwangsläufig um Idealisierungen. Streng genommen ist es weder möglich, eine synchrone Analyse von Sprache vorzunehmen, da selbst kleinste Einheiten wie Phoneme eine zeitliche Dauer umfassen , noch einen diachronen Ausschnitt zu untersuchen, da jede Art linguistischer Beschreibung eine Untergliederung, d.h. Unterbrechung, des zeitlichen Kontinuums voraussetzt (vgl. Lass 1997:Kap.l-2).

40 Teilkorpora müssen so gewählt werden, dass sie den Untersuchungszeitraum gleichmäßig abdecken und eine ausreichende Menge an relevanten Daten bieten. Die konkrete Themenstellung gibt den Rahmen fur den Untersuchungszeitraum und die einzubeziehenden Texte (Textsorte, Stil, Sprachlandschaft...) vor. Im Idealfall ist das Korpus bei diachronen oder vergleichenden Fragestellungen "tailor-made for the research project" (Lindquist/Levin 2000:202), da die Verwendung unterschiedlicher, d.h. in der Regel unter verschiedenen Gesichtspunkten aufgebauten Korpora in der Praxis deren Vergleichbarkeit beeinträchtigt, und ein solcher Vergleich somit einer besonders sorgfältigen Abwägung und Prüfung durch den Forscher bedarf (Lindquist/Levin 2000:210f.). Das Mainzer Zeitungskorpus ist ein solches, eigens für den Untersuchungszweck erhobenes Korpus. Da fur das Deutsche neben dem Bonner Frühneuhochdeutsch-Korpus nur elektronisch verfügbare Korpora zur Gegenwartssprache (Korpora des IDS, NEGRA-Korpus, Projekt TIGER) existieren, konnte ich bei meiner Untersuchung nicht wie z.B. DaltonPuffer (1996) und Cowie (1999) für das Englische oder Doerfert (1994) und Prell/Schebben-Schmidt (1996) für das Frühneuhochdeutsche auf vorhandene Korpora oder wie Stricker (2000) auf digitalisierte Textausgaben zurückgreifen. 2 Um im Rahmen der Möglichkeiten des Projekts zu bleiben, mussten Prioritäten gesetzt werden. Die Entscheidung, möglichst umfangreiches Material zu sichten, machte es erforderlich, sich auf die Erhebung der Belege des untersuchten Wortbildungsmusters zu beschränken und auf die Digitalisierung des Korpus zu verzichten, was wiederum unmittelbare Auswirkungen auf das methodische Vorgehen, z.B. die Basisbestimmung, hatte (vgl. Kap. 3.1.2). Lediglich die exzerpierten Belege und deren Kontext wurden kodiert und in einer Datenbank erfasst. Doch selbst wenn das Korpus wie im Fall des Mainzer Zeitungskorpus auf die Fragestellung zugeschnitten wird, die Vergleichbarkeit der Teilkorpora also gewährleistet ist, stellt die interne Vergleichbarkeit der Daten bei der empirischen Analyse von Sprachwandelprozessen ein besonderes Problem dar. Gerade sprachliche Veränderungen, also der Untersuchungsgegenstand selbst, vereiteln bei exaktem Vorgehen das Erkennen von Entwicklungstendenzen. Wird jeder einzelne Beleg (Token) synchron adäquat beschrieben, so müssen etwa die beiden Belege für das Lexem (Type) PRANGER einmal als Derivat zum Verb prangen (1800/57:1), zum anderen - nach Untergang der Basis - als morphologisches Simplex (2000/272:11) behandelt werden. In anderen Fällen wie etwa ABENTEURER oder HAUSHÄLTER würde die Basisbestimmung im 17. Jahrhundert zu einem anderen Ergebnis fuhren {Abenthewer, abentheweren, haußhalten bei Hulsius 1607) als im 20. Jahrhundert (Abenteuer, Haushalt), da Basislexeme untergehen (abentheweren), sich semantisch vom Derivat entfernen (haushalten) oder erst später belegt sein können (Haushalt) (vgl. auch Habermann 2002:54f.). Um den Vergleich von Daten aus mehreren Jahrhunderten zu ermöglichen, ist es somit erforderlich, einen Bezugszeitpunkt für die Analysen festzulegen, auch auf die Gefahr hin, dass die sprachhistorisch adäquate synchrone Beschreibung der Belege gegebenenfalls den Erfordernissen diachroner Vergleichbarkeit untergeordnet wird. Bezugszeitpunkt bildet in meiner Arbeit der erste Erhebungszeitpunkt (1609), d.h. ich nehme keine an der Gegenwart orientierte retrospektive, sondern eine in der Vergangenheit verankerte, vorwärts gewandte 2

Über 9 9 % der beim IDS online recherchierbaren 1.013 Mio. Wortformen entfallen auf die letzten 50-60 Jahre. Lediglich das Goethe-Korpus (1,4 Mio. WF), das Grimm-Korpus (0,5 Mio. W F ) und das Marx-Engels-Korpus (2,5 Mio. W F ) enthalten Daten aus früheren Jahrhunderten.

41

Perspektive ein. Konkret bedeutet dies, dass die formalen und semantischen Merkmale der Derivate und ihrer Basen - soweit möglich - ausgehend vom Sprachzustand zu Beginn des 17. Jahrhunderts ermittelt wurden. Vor der Erstellung des Mainzer Zeitungskorpus sind in mehreren Arbeiten mit unterschiedlicher Themenstellung bereits Daten für nominale -er-Derivate erhoben worden. Dies sind für das Althochdeutsche Maurers (1973) und Weinreichs (1971) Untersuchungen zu 'Nomen Agentis', für das Frühneuhochdeutsche die Arbeiten von Brendel et al. (1997), Döring/Eichler (1996) und P. Müller (1993a) zur Substantivbildung, für die Goethezeit Strickers (2000) Arbeit zu Personenbezeichnungen und für das Gegenwartsdeutsche die Wortbildungslehre von Wellmann (1975) sowie die Untersuchung von Gersbach/Graf (19841985) zur gesprochenen Sprache. Für das Mittelhochdeutsche werden derzeit im Rahmen des Projekts Mittelhochdeutsche Grammatik - Wortbildung in Bochum Daten zur nominalen Wortbildung erhoben (Gl Halle 2001). Meine Untersuchung der Zeitungssprache des 17. bis 20. Jahrhunderts knüpft somit zeitlich unmittelbar an die Arbeiten zum Frühneuhochdeutschen an und überbrückt die Lücken, die für das Neuhochdeutsche bestehen. Dieser Zeitraum ist insbesondere deshalb von Interesse, da in diese Zeit die semantische Ausdifferenzierung der nominalen -er-Derivation fallt, d.h. die Ausbreitung von Objektbezeichnungen wie Bohrer und das Aufkommen abstrakter Bildungen wie Seufzer.3 Bezieht man darüber hinaus die Ergebnisse von Brendel et al. (1997), Döring/Eichler (1996) und P. Müller (1993a) zum Frühneuhochdeutschen ein, lässt sich der Wandel der -er-Derivate empirisch über einen Zeitraum von rund 600 Jahren verfolgen. Nach Abschluss des Bochumer Teilprojekts zur Wortbildung des Mittelhochdeutschen werden Daten vom Althochdeutschen bis zur Gegenwart vorliegen. Der Fokus meiner Untersuchung liegt wie bei Stricker (2000) und Wellmann (1975) auf der Standardsprache. Zusammengestellt wurde das Korpus aus Zeitungstexten, da Zeitungen von Anfang an eine breite soziale und geografische Reichweite hatten (Wilke 2000:65ff.). Starke dialektale bzw. regionale Variation ist in einem zeitungssprachlichen Korpus somit nicht zu erwarten. Zeitungstexte werden in der Regel innerhalb eines engen Zeitrahmens geschrieben. Den Verfassern geht es zudem weniger um Ästhetik, sprachliche oder terminologische Ausgefeiltheit - wie etwa Dichtern, Grammatikern, Wissenschaftlern und Übersetzern vielmehr arbeiten sie rezipientenorientiert und zielen primär auf die Vermittlung von Informationen ab. Zeitungstexte sind insofern besonders geeignet, ein realistisches Bild der Standardsprache wiederzugeben. Zudem gelten Zeitungen als Verbreiter von lexikalischen und grammatischen Innovationen (Nail 1985:1667), sodass Fehleinschätzungen, die sich aus einem konservativen oder archaisierenden Sprachgebrauch ergeben können, ausgeschlossen sind. Mit der Wahl der Textsorte stand als frühester möglicher Erhebungszeitpunkt das Jahr 1609 fest, in dem weltweit die ersten Zeitungen gedruckt wurden. Es handelt sich dabei um die Straßburger Relation (1609-1667) und den Wolfenbütteler Aviso (1609-1624), die einmal wöchentlich erschienen (Wilke 2000:4Iff.). Der vollständig erhaltene erste Jahrgang des Aviso bildet den Grundstock des Mainzer Zeitungskorpus. Das zweite Teilkorpus wurde für das Jahr 1650 erhoben, alle weiteren Erhebungszeitpunkte folgen in einem Abstand von 3

Für das Frühneuhochdeutsche verzeichnen Brendel et al. (1997) 2,2% Objekt-Bezeichnungen und 0,4% abstrakte Bildungen, für das Gegenwartsdeutsche ermittelt Wellmann (1975) 12,5% Objekte und 3,1% Abstrakta unter den -er-Derivaten (vgl. Anhang 7.5).

42 jeweils 50 Jahren. Insgesamt deckt das Mainzer Zeitungskorpus somit einen Zeitraum von knapp 400 Jahren zwischen dem 17. Jahrhundert und der Gegenwart ab (1609-2000). Ausgewählt wurden überregionale Zeitungen, die zum Erhebungszeitpunkt von herausragender politischer und gesellschaftlicher Bedeutung waren. Folgende Zeitungen sind im Mainzer Zeitungskorpus vertreten: 4 1609: 1650: 1700: 1750: 1800: 1850: 1900: 1950: 2000:

Aviso Relation oder Zeitung, Wolfenbüttel (=Aviso) Wöchentliche Zeitung auß mehrerley örther, Hamburg (=Wöchentliche Zeitung) Ordinari Zeitung, München (=Münchner Merkur) Aviso. Der Hollsteinische unpartheyische Correspondente Durch Europa und andere Teile der Welt, Schiffbeck bei Hamburg (=Hamburgischer Correspondent) Allgemeine Zeitung, München (=Allgemeine Zeitung) Vossische Zeitung, Berlin (=Vossische Zeitung) Berliner Tageblatt, Berlin (=Berliner Tageblatt) Frankfurter Allgemeine. Zeitung für Deutschland, Frankfurt/Main (=FAZ) Die Welt. Tageszeitung für Deutschland, Hamburg (=Welt)

Für jeden der neun Zeitpunkte wurden Texte im Umfang von etwa 100.000 Wortformen erhoben. Da alle Ausgaben vollständig, d.h. inklusive Beilagen und Extrablättern, in das Korpus aufgenommen wurden, schwankt die Zahl der tatsächlich ausgewerteten Wortformen zwischen 98.000 und 150.000 Wortformen (vgl. Tab. 1). Mit einem Gesamtumfang von rund 1.031.000 Wortformen ist das Mainzer Sprachwandelskorpus größer als das Erlanger Dürer-Korpus (440.000 Wortformen), das Erfurter Frühneuhochdeutsch-Korpus (718.380 Wortformen) und in etwa so groß wie das Würzburger Wissensliteratur-Korpus (1.073.000 Wortformen). Tab. 1:

Überblick über das Mainzer Zeitungskorpus 1609

Teilkorpus Aviso Wortzahl (in Tsd.) davon: Anzeigen 5

98,9

-

1650

1700

Wöchentl. Münchner

1750

1800

1850

1900

1950

2000

Korpus

FAZ

Welt

gesamt

Hamb.

Allgem.

Vossische

Berliner

Zeitung

Merkur

Corresp.

Zeitung

Zeitung

Tageblatt

98,3

98,0

102,8

101,1

108,6

149,5

136,5

137,4

1.031,1

55,4

13,9

8,0

77,3

-

-

-

-

-

Die Zeitungstexte wurden manuell auf das Vorkommen nominaler -er-Derivate hin überprüft. Die gefundenen Belege wurden anschließend mit ihrem Kontext in einer speziellen Datenbank erfasst ('Belegkorpus'). Da das Mainzer Zeitungskorpus nicht in digitalisierter 4

Die Titel wurden wie folgt angesetzt: Aviso, Wöchentliche Zeitung und Münchner Merkur nach Bogel/Blüm (1971), Bogel/Blüm/Levin (1985), Hamburgischer

Correspondent

nach Böning

(1996), Allgemeine Zeitung, Vossische Zeitung und Berliner Tageblatt nach Fischer (Hg.) (1972). 5

Für den vollständigen Nachweis der Titel vgl. Literaturverzeichnis. Die Wortzahl der Anzeigenteile wurde für alle Zeitpunkte ermittelt, bei denen Text und Anzeigen als abgegrenzte Bestandteile erkennbar sind (1900, 1950, 2000). Seit Ende des 19. Jahrhunderts verändert sich die Aufmachung der Zeitungen (Wilke 2000:272f.), sodass sich der Unterschied zwischen inhaltlichen und Werbeteilen im Korpus erstmals im Jahr 1900 niederschlägt. Textintegrierte Anzeigenteile sind in geringem Umfang bereits in den Korpora 1750 und 1850 enthalten.

43 Form vorliegt, wurde die Zahl der Textwörter anhand von Stichproben errechnet. Dazu wurden 5-10% des Textumfangs ausgezählt und die durchschnittliche Wortzahl je Zeile berechnet. Dieser Quotient wurde anschließend mit der Gesamtzahl der Zeilen je Zeitung multipliziert. Der Umfang der Anzeigenteile wurde separat ermittelt, um den Einfluss dieser Textteile auf die Ergebnisse eruieren zu können, und zum reinen Textanteil addiert. Nicht in die Auswertung einbezogen wurden die Titelleiste bzw. -seite der Zeitung, Teile mit tabellarischem Charakter (Regimentslisten, Börsennotierungen, Sportergebnisse, Fernsehprogramme u.ä.) sowie Texte innerhalb von Fotos. Bei der Auswertung der Daten in Abschnitt 5 wurde der unterschiedlichen Größe der Teilkorpora dadurch Rechnung getragen, dass alle Ergebnisse auf die Bemessungsgröße von 100.000 Wortformen je Erhebungsperiode umgerechnet wurden (vgl. Anhang 7.2). (Zu den Problemen der Normalisierung von Korpusdaten vgl. Cowie/Dalton-Puffer 2002:427). Auf einzelne Zeitungen bzw. Teilkorpora wird im Text durch bloße Nennung der entsprechenden Jahreszahl referiert. Der Nachweis einzelner Belege erfolgt unter Angabe des Erhebungszeitpunkts, der Ausgabennummer, eventueller Zusätze und der Seitenzahl. Die Angabe "1609/17:4" bezieht sich auf Seite 4 der Ausgabe Nr. 17 des Aviso von 1609, entsprechend "1650/33-Do:7" auf Seite 7 der Donnerstagsausgabe zu Nr. 33 der Wöchentlichen Zeitung von 1650 und "1900/37-2.Bbl:5" auf Seite 5 des 2. Beiblatts zur Ausgabe Nr. 37 des Berliner Tageblatts von 1900. Diskutierte Wortformen innerhalb eines Zeitungszitats hebe ich zur Erleichterung der Lektüre durch Unterstreichung hervor, ohne dies gesondert zu vermerken. Unterstreichungen innerhalb von Zeitungszitaten sind somit, soweit nicht anders angegeben, von mir gesetzt. Beim beispielhaften Nachweis von Belegen (Tokens) fur einzelne Lexeme gebe ich in Klammern lediglich eine einzelne Belegstelle pro Lexem an, z.B. " I N L Ä N D E R (1950/68:10)" oder " A U S L A N D E R (1609/31:4+)". Ein "+" im Anschluss an die Quellenangabe bedeutet, dass noch mindestens ein weiterer Beleg im Mainzer Zeitungskorpus existiert. Sämtliche Zeitungen aus den Jahren 1609 bis 1900 sind in Fraktur gesetzt, entsprechende Zitate werden stillschweigend in Antiqua wiedergegeben, Antiqua-Schreibung in diesen Texten wird durch Kursivierung im Zitat angedeutet.

3.1.2

Das Mainzer Zeitungskorpus und die historische Distanz

Eine der größten Schwierigkeiten, die es bei der Untersuchung von Wortbildungsbeziehungen auf historischen Sprachstufen zu überwinden gilt, ist der zeitliche Abstand zwischen Text und Bearbeiter. Kann im Fall gegenwartsnaher Studien die Kompetenz des Gegenwartssprechers ausreichen, um in einem Korpus die Wortbildungsprodukte und deren Konstituenten zu bestimmen, so erfordert die historische Distanz Fähigkeiten, die "die muttersprachliche sowie die sprachgeschichtliche Kompetenz des Bearbeiters" überschreiten (Prell/Schebben-Schmidt 1996:16). Es ist somit unverzichtbar, das Fehlen der zeitgenössischen Sprachkompetenz durch geeignete Hilfsmittel zu kompensieren. Zur Bestimmung von Derivaten und deren Basis kommen neben dem unmittelbaren Kontext insbesondere andere Texte desselben Verfassers, Texte derselben Gattung, aus demselben Zeitraum und/oder demselben Sprachgebiet, zeitgenössische Wörterbücher, Grammatiken, sprachtheoretische Abhandlungen sowie sprachhistorisch ausgerichtete Werke aus späteren Epochen infrage.

44 Können Referenzkonzepte, d.h. die Bedeutung eines Wortes im aktuellen Textzusammenhang (vgl. Kap. 4.3.3), in historischen Korpora üblicherweise aufgrund des Kontexts semantisch klassifiziert werden, insbesondere wenn, wie in dieser Arbeit, ein grobes Konzeptraster verwendet wird, so stellt die Bestimmung der Wortbildungsbasis eine Herausforderung anderer Dimension dar. Gängige Methoden zur Basisermittlung sind der korpusinterne Nachweis von Basislexemen sowie die Suche in anderen Korpora und Wörterbüchern. In der Praxis werden diese Methoden meist kombiniert angewendet, da selbst in größeren Korpora wie Strickers Goethe-Korpus mit ca. 3,3 Mio. Wortformen nicht für alle Derivate Basislexeme nachzuweisen sind. Um diese Lücken zu schließen, werden im Regelfall zeitgenössische, aber auch zeitlich spätere Wörterbücher herangezogen. Dennoch ist der korpusinterne Basisnachweis nach wie vor als Königsweg anzusehen, da sich zum einen Basen fur text- oder verfasserspezifische Bildungen eher im Kontext als in externen Quellen finden und zum Zweiten Ad-hoc-Bildungen zur Textverdichtung oft nur innerhalb des Textes nachvollziehbar sind. 6 Beim Mainzer Zeitungskorpus erschwert die spezifische Struktur des Korpus die Basisbestimmung zusätzlich. Die unterschiedlichen Erhebungszeitpunkte haben zur Folge, dass für jedes Teilkorpus die historische Distanz zwischen Text und Bearbeiter variiert. Da sich aber die "morphologische und semantische Motiviertheit einer Bildung [...] bedingt durch den Wandel der Sprache nur für eine bestimmte Zeit, also synchron, feststellen" lässt (Stricker 2000:50), sollte beim Basisnachweis im Fall von zeitlich breit angelegten Korpora eine möglichst große räumliche und zeitliche Nähe zwischen Basisbeleg und Derivat angestrebt werden (Prell/Schebben-Schmidt 1996:17). Für das Mainzer Zeitungskorpus mit seinen neun Erhebungszeitpunkten würde dies bedeuten, dass einzelne Derivate, die in mehreren oder allen Teilkorpora belegt sind, idealerweise für jeden einzelnen Zeitpunkt innerhalb und außerhalb des Teilkorpus zu überprüfen wären. Für das Derivat Lehrer müsste demnach die Basis für die Zeitpunkte 1609, 1700, 1750, 1850, 1900, 1950 und 2000 innerhalb der Teilkorpora und extern in anderen Korpora, Texten und Wörterbüchern nachgewiesen werden. Im Vergleich mit einer synchron ausgerichteten Epochenuntersuchung vervielfacht sich der Nachweisaufwand. Zudem ist zu bedenken, dass das Ergebnis der Basisbestimmung, wie im Fall von Pranger, Haushälter und Abenteurer dargestellt, zu den einzelnen Zeitpunkten unterschiedlich ausfallen kann (vgl. Kap. 3.1.1). Da im Fall des Mainzer Zeitungskorpus neun mitunter stark voneinander räumlich und zeitlich abweichende Teilkorpora zu vereinbaren sind und zudem nur ein geringer Teil des Gesamtkorpus, nämlich die Belegdatenbank, maschinenlesbar zur Verfügung steht (vgl. Kap. 3.1), wurde beim Basisnachweis eine doppelte Strategie verfolgt: eine begrenzte korpusinterne Basissuche für die Tokens und ein Nachweis der Typen über Wörterbücher. Für alle Belege wurde ein Fenster von jeweils 100 Textwörtern vor bzw. nach dem Beleg auf

6

Habermann und Müller erarbeiten ein Modell, das ihnen ermöglicht, die 'Motivationsdichte', d.h. die räumlich-zeitliche Entfernung zwischen Derivatbeleg und Basisbeleg, festzustellen (Habermann/Müller 1989:54ff., P . M ü l l e r 1993a:64ff.). Die unterschiedlichen Abstufungen bezeichnen sie als 'Basisränge'. Nach diesem Modell stehen Derivate in einem engeren Verhältnis zu ihrer Basis, wenn beide im selben Text vorkommen (Basisrang 1) als wenn die Basis lediglich in Wörterbüchern späterer Jahrhunderte nachzuweisen ist (Basisrang 6). Ihr Grundgedanke ist, dass der Basisrang ermöglicht, lexikalisierte und doppelmotivierte Derivate zu erkennen und zu bestimmen, welches Basislexem einem doppelmotivierten Derivat näher steht.

45 das Vorkommen der Ableitungsbasis überprüft. Diese Fenstergröße erscheint ausreichend, um das Phänomen der syntaktischen Umkategorisierung von Satzinhalten zur Informationskondensierung, wie beispielsweise bei Kastovsky (1986a:41 Iff.) oder Baayen/Neijt (1997:567) beschrieben, zu erfassen. 7 Hier zwei Beispiele aus dem Mainzer Zeitungskorpus: (17)

Calwer hält die Meiftbegünftigungsklaufel für gleichgiltig und Tagt: Wir können unfere Schutzzölle nicht eher aufheben, f o lange Amerika nicht daffelbe thut. Damit ftellt fich Calwer auf den Standpunkt Kanit3. Dcnlelbcn Standpunkt nehmen auch die Agrarier und andere Schutzzöllner ein. ( 1 9 0 0 / 4 8 0 - 3 . B b l : l )

(18)

Und dann fallt das Attribut, das in Dortmund immer noch adelt w i e kein zweites: "Männer, die Gras fressen". Gegen Bielefeld waren jedenfalls zu w e n i g e Grasfresser auf dem Platz - und zu viele Modefans auf der Südtribüne. ( 2 0 0 0 / 6 8 : 1 2 )

Darüber hinaus wurde die Basis korpusextern für alle Derivate für den ersten und letzten Messzeitpunkt bestimmt. Für den Bezugszeitpunkt 1609 wurde dazu das deutsch-französische Wörterbuch von Hulsius (1607) zugrunde gelegt, für den letzten Messzeitpunkt das einsprachige Wörterbuch von Wahrig (2000). Für den Bezugszeitpunkt 1609 wurde ein zweisprachiges Wörterbuch gewählt, da dessen Verwendungszweck eine realitätsgetreue Abbildung der Sprache gewährleistet und somit im Gegensatz zu einsprachigen Wörterbüchern ein Einfluss präskriptiver, sprachpflegerischer Tendenzen, wie sie im 17. Jahrhundert wirken, nicht zu erwarten ist. War weder im Kontext, noch in einem der beiden Wörterbücher die Basis zu ermitteln, wurden zusätzlich das Deutsche Wörterbuch (=DWB) der Brüder Grimm (1854-1971), das Universal-Lexikon von Zedier (1732-1754) sowie das Etymologische Wörterbuch von Kluge (1999) zurate gezogen.

3.2

Die n o m i n a l e

-er-Derivation

Das Morphem /er/ im Deutschen zeichnet sich durch seine Multifunktionalität aus. Es wird im Flexionsparadigma von Substantiven (Haus > Häuser), zur Flexion von Adjektiven (grün > grüner Baum) und Pronomen (mein > meiner) sowie zur Komparation von Adjektiven (schön > schöner) verwendet und dient im Bereich der Wortbildung als verbales Präfix (leben > erleben) sowie als nominales (lesen > Leser) bzw. verbales Suffix (schneiden > schneidern) (Bittner 1995:133). Darüber hinaus tritt /er/ als Fugenelement in Komposita auf (Kinderwagen) und bildet Adjektive zu geografischen Namen (Schweiz > Schweizer Käse) und Numeralien (achtzig > die achtziger Jahre). Im Rahmen der nominalen Wortbildung ist das -er-Suffix nach Fleischer/Barz (1995:151) an mehreren hochproduktiven Wortbildungsmodellen beteiligt. Es findet sich eine Vielzahl formal und inhaltlich unterschiedlicher Bildungen (vgl. (19)): Derivate, die 7

Kastovsky ( 1 9 8 6 a : 4 1 6 ) impliziert, dass dem englischen -er-Suffix primär die Funktion der syntaktischen Umkategorisierung zukommt. Dass -er-Derivate die Umkategorisierung von syntaktischen Einheiten leisten, ist unbestreitbar (vgl. die Beispiele in (17)-(18)). Ob dies im Deutschen jedoch deren vorrangige Aufgabe ist, halte ich für fraglich.

46 Personen (Bäcker, Barfüßer), Objekte (Aufkleber, Dosenöffner) oder abstrakte Sachverhalte (Dreiakter, Hüpfer) bezeichnen, Derivate mit erweiterten Suffixen wie Dörfler und Bernhardiner, Derivate mit verbalen (Aufkleber, Bäcker), nominalen (Fußballer, Musiker), toponymischen (Mainzer, Genueser) und anderen Basen (Barfüßer, Lutheraner, Sechser), Derivate mit morphologisch einfachen (Bäcker, Drucker) und mit morphologisch komplexen Basen (Aufkleber, Dosenöffner), umgelautete (Bäcker, Dörfler) und nicht umgelautete Derivate (Drucker, Liebhaber). (Zur Einbeziehung von Derivaten mit erweiterten Suffixen (Lutheraner) und Suffixvarianten (Dörfler) vgl. Kap. 3.2.2; zur Umlautung bei der nominalen -er-Derivation vgl. Kap. 4.2.1.) (19) Aufkleber, Bäcker, Bernhardiner, Barfüßer, Chemiker, Dosenöffner, Dörfler, Dreiakter, Drucker, Einser, Fallrückzieher, Frühblüher, Fußballer, Gärtner, Genueser, Gerichtsvollzieher, Glöckner, Hallenser, Hüpfer, Lehrer, Liebhaber, Lutheraner, Mainzer, Musiker, Partner, Sechser, Schäfer, Tischler, Überzieher, Vertreter, Wissenschaftler

Insgesamt unterscheidet Wellmann (1975) im Rahmen der nominalen -er-Derivation neun Ableitungsmuster und Stricker (2000) 26 Funktionsklassen. Im Hinblick auf die unterschiedliche Begrifflichkeit und Klassifikation der Derivate in der Literatur sind einige terminologische Klärungen an dieser Stelle angebracht. Als 'Wortbildungsmodell' oder 'Wortbildungsmuster' bezeichnen Fleischer/Barz (1995:53) ein "morphologisch-syntaktisch und lexikalisch-semantisch bestimmtes Strukturschema [...], nach dem Reihen gleichstrukturierter Wortbildungsprodukte mit unterschiedlichem lexikalischem Material erzeugt werden können". Dem Wortbildungsmodell, das die Genese von Wortbildungsprodukten, die Wortbildung, beschreibt, stellen sie den 'Wortbildungstyp' gegenüber, der durch die Analyse bestehender Wortstrukturen, der Wortgebildetheit, ermittelt wird (Fleischer/Barz 1995:53ff„ vgl. auch Dokulil 1968). Diese Unterscheidung ist bei produktiven Prozessen jedoch problematisch, da produktive, analytisch ermittelte Wortbildungstypen als Wortbildungsmodelle fungieren (Fleischer/Barz 1995:55). Dass die Trennung zwischen Wortbildung und Wortgebildetheit zudem in empirischen Arbeiten nicht zu leisten ist, zeigt Plags (1999:206-211) Darstellung englischer -ate-Derivate (vgl. Kap. 3.3.4). Ich werde somit im Folgenden nicht zwischen der Genese und der Analyse von Wortbildungsprodukten differenzieren und die Begriffe 'Wortbildungsmodell' und 'Wortbildungsmuster' sowie 'Wortbildungsprozess' gleichbedeutend verwenden. Fleischer/Barz' (1995) Definition des Wortbildungsmodells vereint Überlegungen der Unitary-Base-Hypothese und der Unitary-Output-Hypothese (Aronoff 1976:22, 48). Um nach Fleischer/Barz (1995) einzelne Ableitungen demselben Wortbildungsmuster zurechnen zu können, müssen die betreffenden Derivate die in (20) aufgeführten sechs Strukturmerkmale miteinander teilen. Konkret müssen sie einen einheitlichen Input (20a), einen einheitlichen Output (20c-f) und eine einheitliche Abfolge der beteiligten Konstituenten (20b) aufweisen. (20)

Strukturmerkmale eines Wortbildungsmodells (Fleischer/Barz 1995:54) a

b c

Morphemcharakteristik der UK [=Unmittelbare Konstituente, die Verf.]: Grundmorphem, Grundmorphemkomplex oder Konfix bzw. Affix; Wortart und semantische Klasse (falls Grundmorphem), Reihenfolge der UK. Wortart und semantische Klasse [...] der "Zieleinheit" (bei Derivaten).

47 d

Formativstrukturelle Spezifika der "Zieleinheit": morphonologische (Interfigierung), suprasegmentale (Akzentverteilung) und graphische (Bindestrich) Charakteristik,

e

Satzsyntaktisches Verhalten der "Zieleinheit" [ . . . ] .

f

Wortbi ldungsbedeutung [...].

Als Konsequenz dieses Kriterienkatalogs ergibt sich, dass Wortbildungsprodukte, die in einer oder mehreren Variablen voneinander abweichen, unterschiedlichen Wortbildungsmodellen zuzurechnen sind. Drucker 'Person' und Drucker 'Gerät' wären demnach ebenso verschiedenen Modellen zuzuordnen wie deverbales Lehrer und denominales Töpfer oder interfigiertes Chemiker und unmittelbar abgeleitetes Musiker. Da die Suffigierung eine feste Abfolge von Basis und Suffix impliziert, die einheitliche Konstituentenfolge bei -er-Derivaten also gegeben ist (vgl. (20b)), stellt sich angesichts der Beispiele in (19) die grundlegende Frage, ob es bei semasiologischen Untersuchungen notwendig und sinnvoll ist, bei Abweichungen im Input und/oder Output prinzipiell unterschiedliche Wortbildungsmuster anzunehmen. Im Hinblick auf das Ziel meiner Untersuchung, Tendenzen des Wortbildungswandels herauszuarbeiten, wird in den folgenden zwei Kapiteln zu klären sein, wie die nominalen -er-Derivate des Deutschen sinnvoll klassifiziert werden können (Kap. 3.2.1) und in welchem Umfang erweiterte Formen des -er-Suffixes einzubeziehen sind (Kap. 3.2.2).

3.2.1

Klassifikation von -er-Derivaten

Die von Fleischer/Barz (1995) vertretene Definition von Wortbildungsmuster impliziert die Existenz einer Vielzahl homonymer -er-Suffixe. Die Anwendung dieser Definition würde bei einer empirischen Arbeit zu einer großen Menge von Detailergebnissen fuhren, ohne dass diese unmittelbar miteinander vergleichbar wären. Jedoch ist weder die Unitary-BaseHypothese, noch die Unitary-Output-Hypothese, auf denen die Definition von Fleischer/ Barz (1995) beruht, unproblematisch. Plank (1981:53f.) etwa weist in einer typologischen Studie die Nachrangigkeit der Basiskategorie gegenüber der Derivatbedeutung nach, wohingegen Plag (1999:49ff.) zeigt, dass produktive Wortbildungsprozesse einen hohen Grad an Allomorphie tolerieren und Affixe Polysemie aufweisen können. Insbesondere AGENS-ableitende Muster, zu denen die nominale -er-Derivation gehört, sind häufig und in vorhersagbarer Weise polysem (Dressler 1980:11 Iff., 1986:524ff, Panagl 1978, van Marie 1988:15lf). Booij (1986:506), dessen Analyse ich mich im Folgenden anschließen werde, geht bei Wortbildungsprozessen von einer "core or prototypical meaning" aus und weist fur das Niederländische die Polysemie des -er-Suffixes nach (vgl. auch Meibauer 1995a: 117f.)-8 Kern der (deverbalen) -er-Derivation bilden nach Booij

Nach Booij ( 1 9 8 6 : 5 0 7 ) verhalten sich -fr-Derivate im Deutschen, Englischen und Niederländischen analog. Ich unterstelle in meiner Arbeit ein im Großen und Ganzen vergleichbares Verhalten von deutschen, englischen und niederländischen -er-Derivaten, bislang ist Booijs Hypothese jedoch nicht empirisch erhärtet. Analogieschlüsse sind somit prinzipiell aufmerksam zu überprüfen, da die -er-Derivation in den einzelnen Sprachen unterschiedlichen Beschränkungen unterliegen kann, wie etwa im Fall deadjektivischer Bildungen, die im Deutschen im Gegensatz z u m Englischen nicht produktiv sind (vgl. Kap. 4.4.1).

48 (1986:509) persönliche AGENTIVA. Von diesen ausgehend kann das Wortbildungsmuster auf unpersönliche AGENTIVA und INSTRUMENTE ausgedehnt werden: (21)

p e r s ö n l i c h e s A G E N S > u n p e r s ö n l i c h e s A G E N S > INSTRUMENT

Ganz ähnlich fuhrt auch Ryder (1991:299) die Vielzahl möglicher Bedeutungen von englischen -er-Derivaten auf eine "single prototype agentive f o r m " zurück, wie sie im Altenglischen die Regel war (Kastovsky 1971:295, Marchand 1969:275). Ryder geht davon aus, dass semantische Prototypen auf Rollen basieren, die den einzelnen Mitspielern in einer gut abgrenzbaren und wahrnehmbaren Episode ('basic-level episode', Ryder 1991) bzw. einem Ereignisschema ('event schema', Ryder 1999) zukommen. Diese Prototypen sind durch bestimmte semantische Merkmale gekennzeichnet. Die Möglichkeit des -er-Suffixes, neben dem AGENS andere semantische Rollen zu nominalisieren, erwächst nach Ryder aus d e m Zusammentreffen zweier Bedingungen. Zum einen verfügen INSTRUMENTE, KAUSATIVA und PATIENTIVA in unterschiedlichem U m f a n g über prototypische AGENS-Merkmale, 9 die j e nach Kontext mehr oder weniger deutlich hervortreten können. Z u m Zweiten kann bei veränderter Wahrnehmung das AGENS in einem Ereignis im Vergleich mit einem anderen Mitspieler, z.B. dem INSTRUMENT, weniger salient erscheinen: entities other than prototypical Agents can often be construed as being the most important and/or noticeable entity in their causal chain, especially if they seem in any way independent of outside control, as many Instruments and a f e w Patients do. (Ryder 1999:288)

Ähnliche Restrukturierungen im Ereignisschema können nach Ryder (1991:309) dazu führen, dass auch bestimmte Arten von KAUSATIVA und PATIENTIVA ('active patients') als AGENS-ähnlich interpretiert und mittels -er-Suffix abgeleitet werden. Anschließende Reanalyseprozesse ermöglichen es den Sprechern sodann, die Kontextbindung instrumentaler, kausativer und patientiver -er-Derivate aufzugeben und das Wortbildungsmuster X+er p r o d u k t i v z u r B i l d u n g v o n INSTRUMENTEN, KAUSATIVA u n d PATIENTIVA a n z u w e n d e n .

Allerdings gibt es laut Bauer (2001:20Iff.) keine 'richtige' Antwort auf die Frage, wie viele -er-Suffixe im Englischen existieren. Je nach der zugrunde liegenden Fragestellung könnten identische Daten unterschiedlich ausgelegt werden, sodass die Zahl der postulierten Affixe letztlich von der bevorzugten Analyse abhänge. Trotz dieser salomonischen Aussage betont Bauer (2001:199) aber ausdrücklich, "that different meanings of the same form should be treated separately where questions of productivity are concerned". Folglich sollten Derivate, wenn sie einem polysemen Muster zugerechnet werden, im Hinblick auf eine Produktivitätsermittlung semantisch subklassifiziert werden. Ich werde im Folgenden jedoch nicht nur die semantische Bestimmung des Outputs über eine Subklassifizierung vornehmen, sondern möglichst viele inhaltliche und formale Kriterien aus der Definition in die Subklassifizierung verlagern. Grundlegend wird unterschieden zwischen Kriterien, die fiir -er-Derivate konstitutiv sind und solchen, die eine detailliertere Klassifikation der Derivate ermöglichen (Subklassifikationskriterien). Z u m nominalen Wortbildungsmuster X+er rechne ich, unabhängig von sonstigen Merkmalen der Derivate und ihrer Basen, alle Wortbildungsprodukte mit -er-Suffix, die die folgenden zwei q Die sieben Merkmale des prototypischen AGENS sind nach Ryder (1991:301): "1. volitional, 2. self-moving, 3. concrete, 4. entity 5. producing a discernible change in 6. a concrete entity (patient) 7. by means of a discernible action with definable boundaries".

49 Kriterien erfüllen: Zum einen liegt eine syntaktische und/oder semantische Transposition zwischen Basis und Derivat vor. Zum Zweiten weisen die Derivate einheitliche Flexionseigenschaften auf, d.h. sie sind starke Maskulina. In diesem Sinne sind die Begriffe '-er-Derivat', '-er-Derivation', '-er-Suffix' sowie 'Wortbildungsmuster X+er' im Weiteren zu verstehen. Die genauere Beschreibung der Derivate erfolgt in einem zweiten Schritt im Rahmen der Subklassifikation. Die Definition des Wortbildungsmusters wird also sehr allgemein gehalten, und die Differenzierung einzelner 'Subklassen' oder 'Submodelle' wird von verschiedenen Subklassifikationskriterien geleistet. Soll hingegen explizit auf das nicht subklassifizierte Wortbildungsmuster referiert werden, so spreche ich im Folgenden von 'Gesamtmuster'. Im Rahmen meiner Erhebung ist dieses Verfahren zur Klassifikation komplexer Lexeme einer kombinierten Klassifikation vorzuziehen, da eine zu starke Differenzierung der einzelnen Klassen den Blick auf globale Sprachwandeltendenzen erschwert und semantische, morphologische und morphosyntaktische Einflüsse nicht voneinander zu trennen sind. Als Beispiel für eine Klassifikation über ein Merkmalsbündel sei hier die Funktionsklassendifferenzierung der -er-Derivate bei Stricker (2000) angeführt, die eine sehr differenzierte semantische Bestimmung vornimmt, wie die Beispiele in (22) zeigen. (22)

-er" -er17

Person, die an dem in dem Basissubstantiv genannten Ort/Institution (meist in leitender Funktion) tätig ist Person, die der in dem Basissubstantiv (=Name) genannten Person oder deren Lehre anhängt, diese vertritt (Stricker 2000:115f.)

Die kombinierte morphosemantische Klassifikation führt jedoch leicht zu einer großen Zahl morphosemantischer Mikroklassen, im Fall von Stricker zu 26 Funktionsklassen für das -er-Suffix. Die einzelnen Mikroklassen sind jedoch zu klein und zu stark differenziert, um jenen Abstraktionsgrad zuzulassen, der für das Herausarbeiten globaler Sprachwandeltendenzen erforderlich ist (Scherer 2002:277f.). Dies gilt umso mehr, wenn nicht nur wie in (22) zwei Parameter (Bedeutung des Derivats, Basiswortart), sondern drei zur Klassifikation kombiniert werden. Derivate wie Wagenheber, Viertürer und Mittvierziger werden von manchen Autoren (z.B. Mötsch 1999, Wellmann 1975) zu verbalen, nominalen bzw. numeralen Basen gestellt, von anderen (z.B. Fleischer/Barz 1995, P. Müller 1993a, Stricker 2000) hingegen zu verbalen, nominalen bzw. numeralen Wort- oder Lexemgruppen. Die Frage, wie diese Beispiele zu analysieren sind - ob als Derivate oder Komposita - , wird später noch ausführlich diskutiert werden (Kap. 4.5.1), vorerst ist entscheidend, dass in diesem Fall neben Derivatbedeutung und Basiswortart die Unterscheidung zwischen lexikalischer und phrasaler Kategorie als drittes Klassifikationsmerkmal herangezogen wird. Als wesentliche, in der Literatur genannte Klassifikationsmerkmaie für die Beschreibung von -er-Derivaten lassen sich somit folgende Kriterien zusammenstellen: (23)

a b

Merkmale des Outputs -> Bedeutung des Derivats Merkmale des Inputs Wortart des Lexems bzw. des Kopfs der Phrase, die als Basis dient morphologische bzw. syntaktische Komplexität der Basis

Ein -er-Derivat wie Pfannenßicker ist nach der kombinierten Klassifikation von Stricker (2000:114) dem Typ -er'a zuzurechnen: "Person, die das in der verbalen Basiswortgruppe

50 Genannte tut" (vgl. (24)). Betrachtet man die in (23) erarbeiteten Klassifikationsmerkmale getrennt voneinander, ergibt sich für Pfannenflicker die Klassifikation als -er-Derivat mit 1. der Bedeutung 'Person', 2. verbaler Basis und 3. komplex strukturierter Basis (vgl. (25)). (24) (25)

1. 2. 3.

Typ: -er1 a:

Person, die das in der verbalen Basiswortgruppe Genannte tut

Derivatbedeutung: Basiswortart: Basisstruktur:

'Person'(oder differenzierter:'handelnde Person') verbal komplex (syntaktische Einheit)

Der entscheidende Vorteil der Klassifizierung komplexer Lexeme nach einer Merkmalsmatrix, wie sie schon Koch (1976:69f.) fordert, gegenüber der Methode von Fleischer/Barz (1995) und Stricker (2000) liegt auf der Hand: Gegenüber der Paraphrase in (24) eröffnet die Subklassifikation in (25) eine Transparenz, die erstere nicht gewährleisten kann. Zwar enthält sie einerseits alle Merkmale der Paraphrase in (24), sodass diese durch die Kombination aller drei Klassifikationskriterien erzeugt werden kann (Kreuzklassifikation), andererseits aber können die Derivate abhängig von einzelnen Variablen, also z.B. in ihrer Eigenschaft als deverbale Derivate, betrachtet und mit anderen Bildungen mit demselben Merkmal (z.B. deverbalen Adjektiven) verglichen werden. Durch die klare Trennung inhaltlicher und formaler Informationen erleichtert die Subklassifikation nach voneinander unabhängigen Merkmalen onomasiologische Studien, erlaubt die Zusammenschau von Derivaten mit identischer Basiswortart auch über die Wortartgrenzen hinaus (z.B. den Vergleich deverbaler Substantive, Adjektive und Verben) und ermöglicht es, den Einfluss morphologischer und syntaktischer Komplexität in der Wortbildung systematisch zu untersuchen. Für die historische Wortbildungsforschung und insbesondere für die Untersuchung von Wortbildungswandel stellt dieses Vorgehen somit einen entscheidenden Fortschritt dar, da es ermöglicht, unterschiedliche Tendenzen innerhalb der Wortbildung unabhängig voneinander aufzuzeigen. Leider bietet die traditionelle Wortbildungsforschung aber weder eine geeignete Terminologie noch entsprechende Kategorien zur Subklassifikation von -er-Derivaten. Bisherige Kategorisierungen kranken neben der bereits festgestellten Tendenz, die (Sub)Klassifikationen anhand eines Bündels von Kriterien vorzunehmen, vor allem an terminologischen Unscharfen und einer Überbetonung der deverbalen Bildung. Zur Klassifikation von -er-Derivaten sind in der Literatur die Bezeichnungen 'Nomen Agentis', 'Nomen Instrument', 'Nomen Acti' und 'Nomen Patientis' verbreitet. Diese Begrifflichkeit ist jedoch aus zweierlei Gründen problematisch: Zum einen interferieren diese Bezeichnungen der traditionellen Grammatik mit den thematischen Rollen AGENS, INSTRUMENT u n d PATIENS, w i e sie in d e r K a s u s g r a m m a t i k (z.B. F i l l m o r e 1968, 1977, J a c k e n d o f f

1972) und der generativen Grammatik (z.B. Chomsky 1981) verwendet werden. Zum anderen schwankt der Anwendungsbereich der Termini beträchtlich. Wurde 'Nomen Agentis' in der älteren Literatur noch weitgehend unabhängig von der Basiswortart zur Bezeichnung handelnder Personen verwendet (z.B. Kluge 1925, Maurer 1973, Weinreich 1971), so schränken spätere Autoren wie Fleischer/Barz (1995) und Mötsch (1999) die Termini 'Nomen Agentis', 'Nomen Instrumenti' und 'Nomen Acti' auf deverbale Bildungen ein. Sie klassifizieren die Derivate somit anhand einer Kombination von Derivatbedeutung und Basiswortart.

51

Dass im heutigen Deutschen die deverbale Bildung von -er-Derivaten das Bewusstsein der Sprachbenutzer dominiert, zeigt sich aber nicht nur an der terminologischen Einengung, sondern auch daran, dass selbst formal eindeutig denominale Derivate wie Sänger als deverbale Bildungen interpretiert werden, z.B. bei Stricker (2000:91, 98) oder Wahrig (2000:1079), der folgende Paraphrase von Sänger gibt: "jmd., der singt; jmd., der berufsmäßig singt, Gesangskünstler {Konzerl-, Opern-); Mitglied eines Gesangvereines od. eines Chores". Diese kognitive Prädominanz deverbaler Muster manifestiert sich insbesondere in der generativistisch orientierten Wortbildungsforschung, wo fast ausschließlich deverbale -«'-Derivate diskutiert werden (z.B. Levin/Rappaport 1988, Rappaport Hovav/ Levin 1992). Dies birgt allerdings die Gefahr, dass Derivate mit anderen Basiswortarten in formale und semantische Strukturen gepresst werden, die zwar angemessen deverbale Bildungen beschreiben, deren Adäquatheit für denominale, deonymische und andere -er-Derivate jedoch nicht vorausgesetzt werden kann (vgl. Kap. 4.3-4.4). Die traditionellen Begriffe 'Nomen Agentis', 'Nomen Instrumenti', 'Nomen Acti' und 'Nomen Patientis' sind somit in mehrerlei Hinsicht problematisch. Sie werden in der Literatur uneinheitlich verwendet und regelmäßig durch ein Merkmalsbündel definiert. Kasusgrammatik (Fillmore 1968, 1977, Jackendoff 1972), Wortsyntax (Toman 1987) und Wortstrukturtheorie (Olsen 1986) trugen darüber hinaus dazu bei, den Fokus und die Terminologie auf deverbale -er-Derivate einzuengen. Da jedoch immerhin 34,6% der Typen (720 von 2.083) und 41,9% der Tokens (3.767 von 8.996) im Mainzer Zeitungskorpus nicht auf verbale Basen zu beziehen sind, halte ich eine inhaltlich und formal neutrale, deskriptive Klassifikation und Terminologie fur dringend erforderlich. 10 Im Hinblick auf meinen Untersuchungsgegenstand bin ich folglich darauf angewiesen, eine eigene, einprägsame Klassifikation und Terminologie zu entwickeln. Dabei wird die obige Definition des Wortbildungsmusters X+er um eine bestimmte Anzahl an Subklassifikationskriterien ergänzt, die die weitere Differenzierung der Derivate ermöglichen. Beispiele für Subklassifikationsmerkmale sind formale Eigenschaften des Outputs, z.B. umgelautete (Jäger) vs. nicht umgelautete (Sammler) -er-Derivate, oder des Inputs, z.B. nominale (Schüler < Schule) vs. verbale Basen (Leser < lesen). Die durch Subklassifikation entstandenen Teilmuster eines Wortbildungsmodells bezeichne ich als 'Subklassen' oder 'Submodelle'. Submodelle sind somit gegenüber den Wortbildungsmustern nach einem zusätzlichen formalen oder inhaltlichen Kriterium des Inputs oder Outputs klassifiziert, wie beispielsweise OBJEKT-bezeichnende -er-Derivate. Da die Subklassen auf unterschiedlichen Merkmalen beruhen, ist eine kombinierte Klassifikation nach mehreren Merkmalen (Kreuzklassifikation) problemlos möglich. In den Kapiteln 4.3-4.5 werden die einzelnen Subklassifikationsmerkmale und Subklassen ausführlich erläutert.

3.2.2

Varianten und Suffixerweiterung

Wortbildungsaffixe entwickeln sich auf vielfaltige Weise aus freien und gebundenen Morphemen. Dass die Bestimmung einer Wortbildungskonstituente als Affix jedoch nicht unproblematisch ist, zeigt etwa die Diskussion um die so genannten Affixoide (Mötsch 1996, Schmidt 1987) und Konfixe (Donalies 2000). Entstehen neue Suffixe aus bereits existieren10

Diese Angaben basieren auf den nicht normalisierten Rohdaten (vgl. Anhang 7.1).

52 den, so ist kaum zu entscheiden, ab wann von einem neuen Suffix gesprochen werden muss. Erst wenn sich eine Verschiebung der Segmentgrenzen und somit eine Reanalyse nachweisen lässt, ist der Morphemstatus des neuen Segments abgesichert (Eisenberg 1992:93). "Der Übergang von er [...] zu ler ist wohl der bekannteste Fall von Suffixerweiterung im Deutschen überhaupt" (Eisenberg 1992:103). Allerdings stellt die Ausbildung von Varianten beim -er-Suffix keinen Einzelfall in der deutschen Wortbildung dar. Insbesondere auf das Zusammenspiel der Allomorphe -heit und -(ig)keit, deren Distribution weitgehend prosodisch bedingt ist, wird immer wieder hingewiesen. Was das -er-Suffix betrifft, so ist es nach Sütterlin (1887:103) wegen seiner großer Verbreitung in den germanischen Sprachen "nicht verwunderlich, wenn dasselbe im Laufe der Sprachentwicklung durch analogische Einflüsse umgestaltet wurde." Neben -ler behandeln neuere Wortbildungslehren in aller Regel -ner, teilweise auch die Form -iker (Wellmann 1975), als eigenständige, aus dem -erSuffix entstandene Affixe. Stricker (2000) nennt in ihrer Arbeit zur Substantivbildung Goethes neben -er sogar ganze acht Suffixe, die auf /er/ enden: (26) -ler, -ner, -aner/-iner/-ianer, -iker, -eser, -enser, -arier, -aster Der Morphemstatus dieser acht nativen und nicht-nativen Elemente und ihr Verhältnis zum -er-Suffix soll in den nächsten beiden Kapiteln diskutiert werden.

3.2.2.1

Native Suffixvarianten

Über die Genese der Formen -ler und -ner ist sich die Forschung einig. Sie entstanden durch die Resegmentierung von -er-Derivaten, deren Basis ein finales IV bzw. /n/ enthielt. Das häufige Auftreten dieser Konsonanten vor dem Suffix ermöglichte es, den basisfinalen Konsonanten als Anlaut des Suffixes zu reanalysieren. Den Ausgangspunkt für diese 'Verschmelzung' (Paul 1920:61) von Basisauslaut und Suffix bildeten jene Derivate, die zwar von Basen mit finalem /!/ bzw. Μ abgeleitet waren, sich aber zugleich auch auf Wörter ohne entsprechende Endung beziehen ließen (Wilmanns 1899:294). So wurden im Althochdeutschen nach Vorbildern, deren Stamm wie in (27) auf /n/ auslautete, die Derivate gartinari (neben gartari) und sculdinari gebildet, im Mittelhochdeutschen glockcenere (daneben auch gleichbedeutendes glöckeler) (vgl. (28)). (27) a b

ahd. ahd.

hafan 'Topf weidinon 'jagen'

>

(28) a b c

ahd. ahd. mhd.

garto sculda glocke

>

'Garten' 'Schuld' 'Glocke'

>

> >

hafanari weidanari

'Töpfer' 'Jäger'

gartinari sculdinari glockcenere

'Gärtner' 'Schuldner' 'Glöckner'

(Köbler 1993) (Wilmanns 1899:294) (Lexer 1872-1878)

Aber auch Wörter wie Redner und Lügner zu ahd. redina 'Rede' bzw. lugina 'Lüge' fördern die Resegmentierung, da sie nach dem Untergang der ursprünglichen Derivationsbasen nicht mehr als -er-Derivate zu analysieren sind (Stricker 2000:427). Die Suffixvariante -ler 11

Die Form findet sich außer bei Wilmanns (1899) auch bei Paul (1920:61) und Wollermann (1904:15); anhand der zurate gezogenen Wörterbücher ließ sich ahd. sculdinari allerdings nicht nachweisen.

53 wurde in einem vergleichbaren Reanalyseprozess aus Derivaten wie ahd. fogalari 'Vogler' und stamalari 'Stammler' extrahiert. Erste -ler-Derivate sind im Mittelhochdeutschen überliefert (mhd. velschelcere 'Verleumder' neben velschoere, mhd. tischler neben tischer). Das entscheidende Kriterium für die Unterscheidung zwischen Allomorph- und Morphemstatus hat Eisenberg (1992:105) am Beispiel von -ler folgendermaßen formuliert: "Als morphologische Einheit ist ler dann etabliert, wenn es regelhaft in Substantiven auftritt, die kein [1] im Stammauslaut haben." Diese Bedingung, die zweifelsfreie und produktive Bildung von Derivaten mit dem neuen Element, ist bei -ler nach Eisenberg erfüllt. Hinzu komme eine Funktionsaufteilung zwischen -er-Suffix und -/er-Suffix, nämlich die Spezialisierung von -ler auf nominale Basen und von -er auf verbale (Eisenberg 1992:105f.). Ein semantischer Unterschied zwischen -ler- und -«--Bildungen bestehe im Allgemeinen nicht. 12 Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass -ler im Gegensatz zu -er ausschließlich Personenbezeichungen ableitet (Wissenschaftler, Tischler), während -er daneben auch Bezeichnungen für Objekte (Zeiger) und Abstrakta (Seufzer) bildet. Anders als -ler, das vereinzelt auch an verbale Basen tritt (Abweichler, Versöhnler) findet sich -ner im Neuhochdeutschen nur in denominalen Bildungen, und zwar überwiegend bei morphologischen Simplizia, während -ler komplexe Basen bevorzugt (Fleischer/Barz 1995:156ff). Im Gegensatz zu -ler, dessen Morphemstatus im Gegenwartsdeutschen außer Frage steht (Eisenberg 1992:105), lässt -ner weder eine Spezialisierung noch Neubildungen erkennen, sodass es nicht als eigenständiges Morphem betrachtet werden kann (Eisenberg 1992:106, Fuhrhop 1998:62). Empirische Untersuchungen zur historischen Wortbildung lassen keine konsistente Behandlung von -ler und -ner erkennen. Was das Frühneuhochdeutsche betrifft, so gehen Brendel et al. (1997) bereits für das späte 14. und das 15. Jahrhundert von drei eigenständigen Wortbildungsmustern mit den Suffixen -er, -ler und -ner aus, Döring/Eichler (1996) und P. Müller (1993a) für das 16. Jahrhundert hingegen nur von einem, der -er-Derivation, unter die sie auch Bildungen mit -ler und -ner einordnen. 13 Für die Goethezeit wiederum unterscheidet Stricker (2000) zwischen -ler, -ner und -er. Allerdings erweist sich die von Stricker und Brendel et al. vorgenommene Differenzierung nicht nur im Hinblick auf den Allomorphstatus, den -ner im Neuhochdeutschen erwiesenermaßen hat (Eisenberg 1992:106), als problematisch. Die Differenzierung zwischen den Suffixen -er, -ler und -ner bei Brendel et al. (1997) rührt primär von der Tatsache her, dass sie auf Wellmanns (1975) Beschreibungsmodell rekurrieren, das fur die Gegenwartssprache eine entsprechende Unterscheidung vorsieht. Zwar kommen die Autoren zu dem Schluss, dass bei den -/er-Derivaten in ihrem Korpus eine vielfaltige "Berührung" mit dem "Leitsuffix -er" vorliege, hingegen sei "-ner als N e b e n f o r m von -er in Analogie zu einigen wenigen lexikalisierten Bildungen wie Schuldner und redner prinzipiell möglich" (Brendel et al. 1997:268, 279, Hervorheb. durch die Verf.). Gegen diese Ergebnisse, die den Morphemstatus von -ler erhärten und -ner als Variante von -er erscheinen lassen, können jedoch methodische Einwände erhoben werden, die die

12

13

Die im 18. und 19. Jahrhundert herausgebildete pejorative Bedeutungskomponente des -/er-Suffixes wird im 20. Jahrhundert wieder abgebaut, sodass -ler heute weitgehend wertneutral ist (A. Müller 1953:146, Raabe 1956:55). Allerdings waren in Müllers Dürer-Korpus keine Belege für potenzielle -/er-Derivate enthalten. Im Korpus von Döring/Eichler (1996) hingegen fehlten potenzielle -ner-Derivate.

54 Klassifikation der Derivate betreffen. Im Hinblick auf gegenwartsdeutsche Verhältnisse wurden nämlich denominale Derivate mit IM im Basisauslaut (fnhd. maerlaer 'Dichter' < maerl 'Geschichtchen') den -/er-Derivaten zugerechnet, wohingegen Derivate aus -elnVerben (fnhd. mitteler 'Mittler, Vermittler' < mittein 'vermitteln') als -er-Ableitungen klassifiziert wurden, sodass bereits die Klassifikation das homogene Bild gewährleistet, das die -/er-Bildungen in Bezug auf ihre Basiswortart bieten. Ein wichtiges Argument gegen den Morphemstatus von -ler im Frühneuhochdeutschen und in der Goethezeit liefert jedoch Raabe (1956:46, Fn. 1), der feststellt, dass "[i]n älteren Grammatiken des 18. und 19. Jahrhunderts (z.B. Adelung, Heinsius, Heyse) [...] auf -ler überhaupt noch nicht hingewiesen" wird. Da sich folglich zwar die Entstehung der Varianten -ler und -ner aus -er-Derivaten überzeugend nachvollziehen lässt, bis heute aber keine zuverlässige Datierung möglich ist, wann -ler Morphemstatus erworben hat, ist die Unabhängigkeit von -ler für den Bezugszeitpunkt meiner Arbeit, das Jahr 1609, nicht nachzuweisen. Aus diesem Grund behandle ich wie Döring/Eichler (1996) und P. Müller (1993a) nicht nur -ner, sondern auch -ler im Rahmen meiner Arbeit als Variante bzw. Allomorph des -er-Suffixes. Die entsprechenden Belege wurden in der Datenbank aber zusätzlich als -ler- bzw. -«er-Bildungen gekennzeichnet. Insgesamt finden sich bei einer Gesamtzahl von 2.083 Lexemen und 8.996 Belegen 42 Typen (2,0%) und 175 Tokens (1,9%) mit dem -/er-Allomorph sowie 41 Typen (2,0%) und 156 Tokens (1,7%) mit der Variante -ner im Mainzer Zeitungskorpus. 14

3.2.2.2

Nicht-native Suffixerweiterungen

Wo aus fremden Sprachen Personenbezeichnungen übernommen werden, geschieht es zumeist unter Verleihung des Ausgangs -er. man denke an L u t h e r a n e r , I n s u l a n e r , T e r t i a n e r , M a t h e m a t i k e r , P h y s i k e r . (Behaghel 1901:64)

Anders als -ler und -ner sind die Formen -aner, -iner, -ianer, -enser, -eser, -iker und -arier nicht durch die Reanalyse von Morphemgrenzen entstanden, sondern durch partielle Suffixersetzung bei komplexen Entlehnungen. Die Suffixvarianten -aner, -iner, -ianer und -enser gehen auf lateinische Entlehnungen mit den Endungen -anus, -inus, -ianus bzw. -ensis zurück. Diese bezeichneten in der Regel Personen ausländischer Herkunft {Amerikaner, Florentiner, Indianer, Athenienser). Die Ersetzung der letzten Silbe der fremden Suffixe (lat. -anus > mhd. -aner, lat. -ensis > fnhd. -enser) bot zwei Vorteile: Zum einen baute sie phonologische und morphologische Fremdheitsmerkmale ab, zum anderen wurden die fremden Herkunftsnamen nicht nur semantisch, sondern auch formal an das bereits bestehende Muster zur Ableitung von Herkunftsnamen (Mainz > Mainzer) angeschlossen. Nach der anfanglich rein phonologischen Umgestaltung konnten die eingedeutschten Herkunftsbezeichnungen in gelehrten Kreisen reanalysiert und auch mit nativen Basen produktiv werden. Seit dem Mittelhochdeutschen verbinden sich -aner, -iner und -ianer nicht nur mit Toponymen, sondern auch mit Anthroponymen (mhd. romaner vs. augustiner, RWM:456, 458). In Verbindung mit Anthroponymen bilden sie Bezeichnungen für Personen, die An14

Allerdings liegt der Anteil von -ler-Derivaten unter den denominalen Bildungen deutlich höher: 9,5% aller denominalen Typen und 6,8% der denominalen Tokens sind mit -ler gebildet. Diese Angaben wurden ausgehend von den nicht normalisierten Rohdaten ermittelt (vgl. Anhang 7.1).

55 hänger einer Person bzw. deren Lehre sind. Im Falle von -aner handelt es sich dabei üblicherweise um Angehörige eines Ordens (Dominikaner, Franziskaner), wohingegen -ianerDerivate Anhänger säkularer Personen oder Lehren (Freudianer, Hegelianer) bezeichnen (vgl. auch die Neubildung Napsteraner 'Nutzer einer Internettauschbörse fur Musik (Napster)' bei Lemnitzer/Ule 2003). Die Suffixvariante -eser tritt ebenfalls in Herkunftsnamen auf, erklärt sich jedoch nicht aus lateinischen, sondern italienischen Vorbildern (Stricker 2000:459). Dass es sich bei -eser tatsächlich um eine reanalysierte Form handelt, belegen Bildungen zu Toponymen außerhalb Italiens wie Chineser, Japaneser (Kluge 1925:32) und Portugeser (1609/1:3+). Wie -aner, -iner und andere Suffixvarianten lateinischen Ursprungs ist die Form -iker durch den Austausch der fremden Endung und anschließende Resegmentierung entstanden (van Dam 1951:386). Zugrunde liegen lateinische Entlehnungen auf -icus wie lat. technicus oder mlat. chemicus, deren letzte Silbe bei der Übertragung ins Deutsche ersetzt wurde. Wie bei anderen Ersetzungsprozessen wird die Dominanz des -er-Suffixes bei der Ableitung von Personenbezeichnungen (Maurer 1973:2) diesen Vorgang begünstigt haben. Gestützt werden die -/Aer-Bildungen zudem durch -er-Derivate zu entlehnten Basissubstantiven, die auf /ik/ auslauten wie Musiker zu Musik, Scholastiker zu Scholastik, -iker-Derivaten liegen ausschließlich entlehnte Basen zugrunde (van Dam 1951:386). Als weitere Suffixe mit finalem /er/ fuhrt Stricker (2000) -arier und -aster an. Beide sind wie die meisten anderen Suffixvarianten durch Entlehnungen aus dem Lateinischen ins Deutsche gelangt. Während jedoch -aster formal identisch mit dem lateinischen Vorbild ist, basiert -arier auf einer erneuten Entlehnung und Umgestaltung des -ar/wi-Suffixes (Stricker 2000:478, 521). Diese zweite Entlehnung ist wesentlich später zu datieren als die erste, da nicht das gesamte Suffix, sondern lediglich die letzte Silbe umgeformt wurde. Beide Formen finden sich in der Regel mit fremden Basen. Neubildungen sind selten. Anders als Eisenberg (1992), der die regelhafte Ableitung mit dem potenziellen neuen Affix als Voraussetzung für dessen Morphemstatus ansieht, leitet Stricker (2000) den Suffixstatus der nicht-nativen Suffixerweiterungen aus deren distinktem Betonungsmuster ab. Während native -er-Bildungen Stammbetonung aufweisen, liegt bei Derivaten mit der Endung -aner, -iner, -ianer, -eser, -enser, -arier, -aster die Betonung auf der Paenultima, bei -iker auf der Antepaenultima. Strickers Argumentation ist jedoch insofern problematisch, als sie zwischen -/fer-Derivaten und -er-Ableitungen, bei denen -ik Basisbestandteil ist, unterscheidet. Denn nicht nur bei den - / ^ - B i l d u n g e n in (29a) trägt die Antepaenultima den Wortakzent, sondern auch bei den -er-Derivaten in (29b), deren Basis auf -ik auslautet. Es scheint also vielmehr so zu sein, dass die nominale -er-Derivation phonologisch neutral ist und keine prosodischen Restriktionen hinsichtlich potenzieller Basen aufweist (Wiese 1996:124). (29)

a b

Chemie Komik

> Chem-iker > Komik-er

σσσ σ σσ

Ironie Erotik

> Iron-iker > Erotik-er

σσσ σ σσσ σ

Vielversprechend für die Einordnung nicht-nativer Suffixerweiterungen erscheint mir der Ansatz von Fuhrhop (1998), die für Lexeme prinzipiell von einem 'Stammparadigma' ausgeht. Sie unterscheidet zwischen Flexionsstammform, Derivationsstammform und Kompositionsstammform. Diese drei Stammformen können wie in (30a) identisch sein oder wie in (30b) voneinander abweichen:

56 (30)

Stammparadigma für Tisch und Drama (Fuhrhop 1998:28) Flexionsstammform Derivationsstammform

tisch tisch

Kompositionsstammform

tisch

b

Flexionsstammform

drama

Derivationsstammform

dramat

Kompositionsstammform

drama

dram dramen

Wie das Stammparadigma für Drama in (30b) zeigt, sind Varianten innerhalb einer Stammformkategorie prinzipiell möglich. In unserem Zusammenhang ist insbesondere die Bildung der Derivationsstammform von Bedeutung, die durch das Anhängen von Interfixen erfolgt. Diese sind "Einheiten, die vor Endungen oder Suffixen auftreten" (Fuhrhop 1998:185). Während Fuhrhop Sequenzen wie -an- und -ian- in -aner bzw. -ianer als derivationsstammbildende Interfixe einordnet, weicht sie bei -iker von diesem Vorgehen ab: "Substantivstämme auf -i(k) bilden [...] Personenbezeichnungen auf -(,ik)er" (Fuhrhop 1998:61), in anderen Worten: Substantive auf /ik/ wie Musik werden mittels -er abgeleitet, Substantive auf H'J wie Chemie hingegen mittels -iker. Gerade Fälle wie Chemiker, neben dem Chemikant und Chemikalie stehen, legen jedoch die Ableitung einer Derivationsstammform *chemik mit dem Interfix -ik- nahe (vgl. (31a)). Demnach handelt es sich bei Chemiker genauso wie bei Musiker um ein -er-Derivat. Diese Analyse erscheint mir insofern stichhaltig, als auch andere Substantive, die nicht auf /i:/ enden, wie in (31b-c), Derivationsstammformen auf -ik- ausbilden {Kleriker, klerikal; Praktiker, praktikabel, Praktikum...) (vgl. auch Kap. 3.3.5). (31)

a

Flexionsstammform

chemie

Derivationsstammform

chem

b chemik

klerus klerik

c

praxis prakt

praktik

Ich werde mich in dieser Arbeit insofern Fuhrhops Argumentation anschließen, als ich für Lexeme von einer speziellen Derivationsstammform ausgehe, die nicht zwingenderweise identisch ist mit der Derivationsbasis (in Fuhrhops Terminologie: Flexionsstammform). Die von Stricker (2000) als Suffixe analysierten Sequenzen -aner, -iker, -iner, -ianer, -eser, -enser und -arier werden folglich als Kombination aus einem derivationsstammformbildenden Interfix und dem -er-Suffix behandelt. Wie Fleischer/Barz (1995:154) stehe ich jedoch mit der Analyse der -/^/--Bildungen als interfigierte -er-Derivate im Gegensatz zu Fuhrhop (1998) und Wellmann (1975:318f.). Insgesamt finden sich im Mainzer Zeitungskorpus 61 Typen (2,9%) und 257 Tokens (2,9%) mit nicht-nativen Suffixvarianten, wovon 15 Typen (0,7%) und 31 Tokens (0,3%) auf -/^er-Bildungen entfallen. 15

3.3

Methodische Überlegungen

Die empirische Untersuchung von Wortbildungsphänomenen beginnt mit der Ermittlung und Exzerption der relevanten Daten. Dass diese Aufgabe alles andere als trivial ist, macht Plag in seiner korpusbasierten Arbeit zur morphologischen Produktivität deutlich:

15

Diese Angaben basieren auf den nicht normalisierten Rohdaten (vgl. Anhang 7.1).

57 [I]t is necessary to count all words with a given affix in the corpus. This looks like a rather straight-forward task but in practice this may involve decisions, pivoting around two problems. The first is to determine which words can be considered to bear the affix in question, the second is to control for cohort effects in multiple affixation. (Plag 1999:28) Bei seiner Diskussion der Forschungsliteratur kritisiert Plag (1999:29), dass möglicherweise die Überzeugung, "that the affixes dealt with are unproblematic with respect to the questions just raised", die Autoren dazu veranlasse, auf die skizzierten "serious methodological problems" nicht einzugehen, sodass letztlich offen bleibe, auf welcher Grundlage Daten und Kennzahlen ermittelt werden. Plag (1999:107f.) verdeutlicht jedoch, dass über die semantische und/oder phonologische Transparenz der Derivate hinaus weitere Fragen zu klären sind, wie etwa das Vorgehen bei Mehrfachaffigierung (Kap. 3.3.3), die Behandlung von Analogie- oder Rückbildungen (Kap. 3.3.4) und von Derivaten, die gebundene Stämme als Basis haben (Kap. 3.3.5), sowie die Abgrenzung zwischen Derivations- und Flexionsaffixen (Kap. 3.3.6). Im Fall der nominalen -er-Derivate kommen zwei weitere affixspezifische methodische Fragen hinzu: Z u m einen müssen unterschiedliche nominale und adjektivische Derivationsprozesse voneinander abgegrenzt werden (Kap. 3.3.7). Darüber hinaus muss grundlegend der Einzugsbereich des -er-Suffixes geklärt werden, d.h. die Frage, ob -Ier, -ner, -iker und einige weitere, nicht-native Wortbildungselemente als Varianten des -er-Suffixes oder als eigenständige Affixe anzusehen sind oder nicht. Diese Frage wurde bereits in Kapitel 3.2.2 ausführlich diskutiert, mit dem Ergebnis, dass Bildungen mit nativen und nicht-nativen Suffixerweiterungen grundsätzlich der -er-Derivation zugerechnet werden. Da diese methodischen Entscheidungen im Vorfeld maßgeblich die Größe und Zusammensetzung des Belegmaterials - und dadurch mittelbar die Ergebnisse - beeinflussen, werde ich in den folgenden Kapiteln anhand von Beispielen darstellen, wie in den aufgetretenen Problemfällen verfahren wurde. Methodische Fragen, die das Untersuchungskorpus betreffen, wurden bereits eingehend in Kapitel 3.1. erläutert. Sie werden in diesem Kapitel nur insofern wieder aufgegriffen, als sie für die Einordnung der Daten relevant sind.

3.3.1

Prinzipielle Festlegungen

Morpheme wie das Suffix -er verfugen über eine formale und eine inhaltliche Seite. Sie haben eine Laut- (far] oder [B]) und eine Graphemgestalt (), die eine notwendige Bedingung für ihren Morphemstatus bilden. Dass die Graphemfolge allerdings nicht gleichzusetzen ist mit der Phonemfolge /ar/ bzw. dem Phonem /B/ sieht man insbesondere bei vorangehenden Vokalgraphemen. Hier hat häufig nicht Phonemqualität, sondern zeigt lediglich Umlautung ( [ty:B]) oder Vokallänge ( [ti:e]) an. 16 Zusätzlich ist zu beachten, dass die Graphemfolge häufig für das Lehnsuffix -ier und dessen Aussprachevarianten [I:B] (Juwelier, Kanonier) bzw. [je:] (Hotelier, Metier) steht (Fleischer/Barz 1995:190). Unter den -er-Derivaten findet sich die Graphemfolge insbe-

16

Aber auch bei vorausgehendem Konsonantengraphem ist die Aussprache far] bzw. [B] nicht gesichert, vgl. etwa Conseiller d' Estat (1700/6-Ex:3). Darüber hinaus kann die Grafie auch der Lautfolge [e:r] entsprechen wie bei Kratzberstöcken (1750/76:4) oder Gallern (1609/3:8+).

58 sondere bei Herkunftsbezeichnungen (Indien > Indier, Schlesien > Schlesier), aber auch bei Agrarier (1900/257:1+) und Parlamentarier (1900/258:2+). Substantive, deren Derivatstatus wie bei Keßläger in (32) nicht eindeutig zu klären war, wurden von der Auswertung ausgenommen 17 . (32)

Demnach von der Konigl. Meßings Hütte zu Reher, ohnweit Hameln, 4 Keßläger Gesellen, [...] ohngeachtet des empfangenen Hand=Geldes und fur fie bejahlter Reife=Koften heimlich weggegangen (1750/46:4)

Auch abgekürzte Wortformen, die das intendierte Wort nicht eindeutig erkennen lassen, wurden nicht berücksichtigt. So wird z.B. die Abkürzung Rußlandheimkehr, in (33) nicht ausgewertet, da sie sich sowohl als Russlandheimkehrer, d.h. als -er-Derivat, wie auch als substantiviertes Partizip (Russlandheimkehrender) auflösen lässt. (33)

Landwirt Rußlandheimkehr.. Ostpr., 40 J., verh., allen körperlichen u. geist. Anforderungen gewachs. sucht z. 1.4. 50 passenden Wirkungskreis. (1950/18:9)

Komposita mit elidierten Konstituenten hingegen können zweifelsfrei aus der koordinierten vollständigen Wortform ergänzt werden. Die Sequenz Kunft= vnd Buchhändler in (34) liefert folglich je einen Beleg für die Lexeme KUNSTHÄNDLER und BUCHHÄNDLER. (34)

Es wird jedermaniglich j u wiffen gemacht / daß auff Käyferl. Allergnad. Privilegium / Wolfgang Gottlieb Furft / Kunft= vnd Buchhändler in Wienn / das Furftifche Wappen= Buch continuieren werde. (1700/17:4)

Wortformen im Korpus, die offensichtliche Druckfehler enthalten, wurden wie die intendierten Belege behandelt. In den Beispielen (35) und (36) etwa wurde die Wortform Jnwohnet als Beleg für das Lexem INWOHNER gewertet, die Wortform Farmer hingegen als intendierte Flexionsform Farmen aus der Analyse ausgeschlossen. (35)

Die Jnwohnet in Candia halten ftets vmb Hülffe an / im wiedrigen müften fie fich gleichsfals den Türcken vntergeben. (1650/29-App:l)

(36)

Seine Anhänger hält Mugabe durch Land und Geld bei Laune, das er aus dem Raub von 500 Farmer weißer Besitzer bezieht. (2000/68:10)

Neben der Klärung dieser relativ geringen Zahl von Problemfallen, die weitgehend in der Schreibkonvention der einzelnen Zeitungen begründet liegen, sind in den folgenden Kapiteln einige morphologische Abgrenzungen zu leisten, die die Menge der auszuwertenden Belege in weit größerem Maß beeinflussen.

17

Neben Keßläger waren dies folgende Formen: Berdiczower (1750/110:2), Feiiber 'provenzalischer Dichter' (1900/480:3), Gesper (1609/23:4), Hummer (1700/29-Ex:5), Locker (1650/33-Do:2), Loddiger (1700/24-Ex:5), Pollfer (1800/187:4), Seraskier 'Heerführer im türkischen Reich' (1700/1-Ex:3) und Siewier (1650/43-Di: 1).

59 3.3.2

Transparenz der Derivate

Die Einordnung von Lexemen (Lehrer, Bürger, Schuster) als Derivate oder morphologische Simplizia beruht auf der Möglichkeit, diese in einzelne Morpheme zu zerlegen (lehr+er, Tbürg+er, *schust+er). Voraussetzung für die Morphemanalyse bildet das Vorhandensein einer transparenten inneren Struktur, die jedoch durch Sprachwandelprozesse verloren gehen kann. Der Prozess, in dem wortinterne Strukturen abgebaut werden, nennt sich Lexikalisierung (Lipka 1977:155, 1981:120).18 Lexikalisierung ist nach Kotin (1997:103) "eine allgemeine Tendenz in der Entwicklung komplexer Wörter, weil sie dem usuellen Funktionieren des Wortes als sprachlicher Einheit entspricht." Ausgangspunkt der Lexikalisierung bilden formal und inhaltlich durchsichtige Wortbildungsprodukte wie Käufer, die allmählich an Transparenz verlieren, bis ihre Struktur schließlich soweit verdunkelt ist, dass sie bei synchroner Betrachtung als Simplizia gelten müssen {Schuster). (37)

a

Ν

V käuf

b

N Sx er

Ν bürg

Ν

c

N Sx er

Ν

Ν schuster

Während die morphologische Struktur von Käufer in (37a) im Gegenwartsdeutschen zweifellos durchsichtig ist, ist bei nhd. Schuster (37c) die ehemals semantisch kompositionelle und morphologisch komplexe Struktur des mhd. schuoh-sut-cere 'Schuster' synchron nicht mehr erkennbar. Geht man davon aus, dass morphologisch komplexe Wörter formal u n d inhaltlich transparent sind, morphologische Simplizia hingegen weder formal noch inhaltlich transparent, so bleibt der Status von Bürger in (37b) und der Lexeme in (38) unklar. (38)

a b

Klempner, Böller, Pranger Bürger, Krämer, Uhrmacher

Die Belege in (38a) sind zwar semantisch, aber nicht mehr formal als komplex erkennbar. Im Fall von (37b) und (38b) ist die Struktur der Derivate zwar noch formal, jedoch nicht mehr semantisch transparent (Bürger = /burg/+/er/, aber nicht mehr: 'Burgbewohner'), d.h. sie sind demotiviert im Sinne von Lipka (1981). Aber "Demotivierung ist nicht mit dem Verlust der Analysierbarkeit gleichzusetzen" (Lipka 1981:121). Aus diesem Grund sind die Beispiele in (38b) auch in der Gegenwartssprache als komplex einzuordnen, wohingegen dies für die Fälle in (38a) nicht mehr gilt. Wo genau die Grenze zwischen morphologisch komplexen und morphologisch einfachen Lexemen verläuft, ist selbst bei einer synchronen Sprachbetrachtung wie etwa bei U. Grimm (1991) nicht immer klar zu bestimmen. Da komplexe Lexeme nach der Wortbil18 Lipka sieht Idiomatisierung ('semantische Isolierung') und Demotivierung ('formale Isolierung') als voneinander unabhängige Aspekte der Lexikalisierung. Fokussiert der Begriff 'Idiomatisierung' auf den Abbau des semantischen Zusammenhangs zwischen einem komplexen Lexem und seinen Bestandteilen, so beschreibt der Terminus 'Demotivierung' den außer- oder innersprachlich bedingten Verlust der Referenzbeziehung zwischen einem komplexen Lexem und dessen Konstituenten (Lipka 1977:155, 1981:121 ff.).

60 dung dazu tendieren, usualisiert zu werden, können semantische Veränderungen gegenüber der 'Wortbildungsbedeutung' die Folge sein. Nicht lexikalisiert sind nach Lipka (1977:158ff.) komplexe Lexeme mit rein kompositioneller Semantik, d.h. Wortbildungsbedeutung, wie z.B. im Fall von Käufer 'jemand, der etwas kauft'. Treten zusätzliche Merkmale sehr allgemeiner Natur hinzu wie etwa [HABITUELL] oder [BERUFLICH] bei Raucher bzw. Bäcker, so ist der Grad der Lexikalisierung laut Lipka (1977:158, 1981:126) gering. Lexeme schließlich, deren Semantik um "sehr spezifische, idiosynkratische zusätzliche Bedeutungselemente" erweitert ist, sind als stark lexikalisiert anzusehen (Lipka 1977:158). Bei ihrer Untersuchung von nominalen -er-Derivaten im Englischen stellte U. Grimm (1991:135) fest, dass knapp zwei Drittel (62,5%) des untersuchten Materials als nicht oder nur wenig lexikalisiert, das restliche Drittel (37,5%) jedoch als lexikalisiert bzw. stark lexikalisiert zu gelten haben. Eine entsprechende Studie fur das Deutsche liegt nicht vor. Für eine diachrone Korpusstudie stellt die Lexikalisierung ein doppeltes Problem dar, da sie sowohl diachron als auch synchron graduell verläuft. Ergibt sich bei synchroner Betrachtung des Lexikons, wie in Abb. 5 dargestellt, lediglich das Problem, wie die einzelnen Lexeme auf der Komplexitätsskala zu verorten sind, so kommt bei einer diachronen Untersuchung die historische Entwicklung der Lexeme als weitere Dimension hinzu, die wie im Fall von Schuster von einer ehemals durchsichtigen Struktur hin zur vollständigen Verdunklung fuhren kann (vgl. Abb. 6). Abb. 5:

Lexikalisierung synchron

Käufer



Lehrer

komplex

Abb. 6:

Bürger





synchron

Lexikalisierung diachron

Schuster



• einfach

61

Da es sich bei der Lexikalisierung um ein graduelles Phänomen handelt, ist eine eindeutige Entscheidung über die Transparenz von Derivaten nicht möglich. Vielmehr sind Korpuslinguisten darauf angewiesen, ein praktikables Verfahren zu finden, mit Wortbildungsprodukten in verschiedenen Stadien der Lexikalisierung umzugehen. Plag (1999:28, 107) und Cowie (1999:79f.) etwa berücksichtigen im Rahmen ihrer Korpusanalyse auch lexikalisierte Bildungen, solange diese formal eindeutig einem bestimmten Wortbildungsmuster zuzurechnen sind. Anders verfahren hingegen Plag et al. (1999:214), die semantisch opake, aber formal analysierbare Derivate explizit von ihrer Analyse ausschließen. Da in einem Sprachwandelkorpus bei ein und demselben Wort unterschiedliche Lexikalisierungsgrade auftreten können (vgl. das Beispiel Pranger in Kap. 3.1.1), schließe ich mich dem Vorgehen von Cowie (1999) und Plag (1999) an. Es werden also alle nominalen -er-Derivate im Mainzer Zeitungskorpus ausgewertet, deren morphologische Struktur zum Bezugszeitpunkt meiner Arbeit 1609 oder zu einem späteren Messzeitpunkt transparent ist (vgl. den stark umrandeten Bereich in Abb. 7). Von Transparenz gehe ich aus, sofern die Basis in gleicher oder verwandter Bedeutung in den für den Basisnachweis zugrunde gelegten Wörterbüchern, insbesondere bei Hulsius (1607) und Wahrig (2000), nachgewiesen werden konnte (vgl. Kap. 3.1.2). Abb. 7:

Morphologisch-semantisches Komplex-Simplex-Kontinuum sem. komposit. Derivat

sem. modifiz. Derivat

idiomatisiertes Derivat

lexikalisiertes Lexem

Simplex

morphologisch

morphologisch

morphologisch

morphologisch

morphologisch

komplex

komplex komplex

komplex

komplex einfach

einfach einfach

komplex

komplex

semantisch

semantisch

semantisch

semantisch

semantisch

kompositioneil kompositionell

kompositioneil modifiziert

kompositionell idiosynkratisch

kompositionell einfach

einfach einfach

Käufer

Lehrer

Bürger

Schuster

Mutter

W

Nominale -er-Derivate, die als Eigennamen verwendet werden, verlieren in der Regel jeden Bezug zur Basis - sie sind semantisch verdunkelt (vgl. die Diskussion zur Transparenz und Komplexität von onymischen Basen in Kap. 4.5.3). Aus diesem Grund wurden lediglich Chrematonyme, d.h. die Namen von menschlichen Artefakten, in die Untersuchung aufgenommen, da diese im Gegensatz zu anderen Namen ihre appellativische Motivation beibehalten (Srämek 1996:1564, Knappovä 1996:1567f.). Insbesondere handelt es sich dabei um die Namen von künstlerischen Produkten (Ergonyme) und Institutionen (Institutionyme). Beispiele aus dem Korpus sind der Titel von Zolas Roman Todtschläger (1900/257Bbl 1:4), dessen Hauptperson des Mordes verdächtigt wird, Wagners Oper "Flieg. Holländer'' (1900/37:3) oder die Zeitungen Zuschauer an der Elbe (1800/355:2) und Der württembergische "Staatsanzeiger" (1850/18-B1.1:3) sowie die Namen Künstlerdank (1900/37Bbl.3:2) und Künstlerklause (1950/18:12+), die eine Berliner Wohlfahrtseinrichtung bzw. ein Frankfurter Lokal bezeichnen.

62 Prinzipiell ausgeschlossen hingegen wurden Personennamen (Anthroponyme) wie in (39a-b), auch dann, wenn sie auf Produkte übertragen wurden wie im Fall von Wanderer in (39c), einem Automodell, das nach dem gleichnamigen Hersteller benannt wurde. (39)

a b c

der Herr Cannier Fifcher (1700/7:3), Emil Jäger (1900/37:41 "Fettnapf-Bohrer" (2000/272:40) [Anspielung auf den Schweizer Botschafter in Berlin] Wanderer / Typ W 22 'Automodell' (1950/18:10)

Die Abgrenzung zwischen Appellativen und Anthroponymen ist im Regelfall unproblematisch. Lediglich wenn textsorten- oder autorenspezifisch Appellative ohne Artikel stehen wie in den folgenden Ausschnitten aus einer Parlamentsdebatte, kann eine eingehendere Prüfung notwendig werden: (40)

a b

Sodann griff Redner heftig die englifche Regierung an. (1900/257:2) Redner unterfcheidet drei Bildungsfchichten, denen die öffentlichen allgemeinen Bildungsanftalten (Volksfchule, Realfchule, höhere Lehranftalt) entfprechen. (1900/257:3)

Ebenfalls ausgeschlossen wurden kleinräumige geografische Bezeichnungen wie Straßennamen, die sowohl auf Berufsbezeichnungen, also Derivate, wie auch auf Personennamen zurückgehen können. Beispiele dafür sind der Sackführerdamm (1850/115-B1.3:6) und die Jägerstraße (1850/220-B1.3:7) in Berlin oder der Walker=Damm (1750/59:4) in Kiel.

3.3.3

Mehrfachaffigierung und Komposition

Das -er-Suffix in nominalen Derivaten stellt nicht zwangsläufig den Abschluss einer Wortform dar. In syntaktischen Zusammenhängen können auf die Sequenz -er Derivationssuffixe, Kompositionsglieder und/oder Flexive folgen: (41)

a b c

derMal-er die Mal-er-ei, mal-er-isch der Mal-er-geselle, die Mal-er-palette

des Mal-er-s, den Mal-er-n die Mal-er-ei-en des Mal-er-geselle-n

Während die Beispiele in (41a) eindeutig als Formen eines Flexionsparadigmas identifiziert und somit als Belege dem Lexem MALER zugerechnet werden können, ist die Behandlung der Beispiele in (41b-c) nicht ohne weiteres zu klären. (Zu Problemen bei der Abgrenzung zwischen Flexion und Derivation vgl. Kap. 3.3.6.). Wie Plag (1999:108) und Baayen (1993:200) schließe ich Belege mit zusätzlichen Derivationssuffixen wie in (41b) aus. Dies hat sowohl formale als auch semantische Gründe. Zum einen ist die Klärung, ob im Einzelfall ein nominales -er-Derivat oder eine Derivationsstammform mit -er-Fuge vorliegt, im Rahmen dieser Arbeit nicht zu leisten. Insbesondere bei iterativen Bildungen wie Lauferei oder Backerei ist eine -e/'-Ableitung auf der Grundlage eines -«--Derivats ausgeschlossen, da die entsprechenden Derivate Umlaut aufweisen (Läufer, Bäcker). Aber auch bei anderen -era'-Bildungen {Bücherei, Schweinerei) und Adjektiven auf -erisch (regnerisch) oder -erlich (weinerlich) ist -er als Fuge bzw. Suffixerweiterung zu interpretieren (Mötsch 1999:14). Zum anderen löst die Suffigierung im Regelfall eine Transposition aus, d.h. die Wortart und/oder die semantische Klasse von Basis und Derivat weichen voneinander ab. Dies hat zur Folge, dass im Fall einer doppelten

63 Suffigierung weder die Wortart noch die Semantik des Basisderivats eindeutig festzumachen ist. Eine Ausnahme stellt in dieser Hinsicht das Movierungssuffix -in dar, das Bedeutung und Genus des Ausgangslexems in vorhersagbarer Weise modifiziert. Das movierte Derivat wird zum grammatischen Femininum und erhält gegenüber der Basis ein zusätzliches, subklassifizierendes semantisches Merkmal [+WEIBL1CH], ohne dass sich jedoch die Begriffsklasse (MENSCH, TIER) oder die Wortart (Substantiv) verändert. 19 Zudem tritt -in prinzipiell ohne Derivationsfuge an die Basis. Da in diesem Fall eine Fehlinterpretation weitgehend ausgeschlossen ist, wurden die 266 movierten -er-Derivate des Zeitungskorpus ausgewertet. Anders als bei Plag et al. (1999:214) wurden neben reinen -er-Derivaten wie in (41a) und movierten Feminina auch Derivate, die als Kompositionsglieder dienen, wie Malergeselle in (41c) oder Kunstmaler, in die Untersuchung einbezogen (vgl. das Vorgehen von Cowie 1999:114f.). Handelte es sich bei dem -er-Derivat um das Erstglied, so wurde bei der Analyse des Derivats die folgende Konstituente vernachlässigt, d.h. die Wortformen Hauslehrer=Stelle (1850/220-3.Bl:7) bzw. Dominicaner=Klosler (1750/102:2) wurden als B e l e g e f ü r d i e L e x e m e HAUSLEHRER

b z w . DOMINIKANER

gerechnet. Die Behandlung von

Lexemen, in denen das -er-Derivat als Kompositionszweitglied dient, bildet den Gegenstand von Kapitel 4.5.1. Die Entscheidung, Kompositionserstglieder einzubeziehen, machte in einigen Fällen die Abgrenzung zwischen Fugenelement und Derivationsaffix notwendig. Die Kompositionsfuge -er schließt sich sowohl an nominale Erstglieder wie in (42a) als auch an numerale Erstglieder wie in (42b) an. Bei nominalen Erstgliedern tritt das Fugenelement nur an Substantive, die einen r-Plural bilden (Wellmann 1991:98). (42)

a

Bilderbuch, Eierkuchen, Häusermeer, Kinderzimmer, Liederabend

b

Dreierkonferenz (1950/219:3+), Siebzehner=Commission (1850/115-B1.5:5), Viererkette (2000/68:31), 500er-Klasse (1950/116:4)

Ambiguitäten, die die Abgrenzung zwischen Fugenelement und Derivationsaffix erfordern, ergeben sich bei Komposita mit der Struktur N+er+N (vgl. (43a) vs. (43b)). In Kinderzimmer ist -er als Kompositionsfuge (Struktur: [N+Fu]+N), in Schülerzimmer als Ableitungssuffix des komplexen Erstglieds zu werten (Struktur: [N+N Sx ]+N]). (43)

a

Γ kind

Ν

er

zimmer

b

Ν

schul

er

c

zimmer

Ν

lehr

er

zimmer

Bei Komposita mit der Struktur V+er+N wie in (43c) besteht hingegen keine Verwechslungsgefahr, da die -er-Fuge nicht in Verbindung mit verbalen Erstgliedern auftritt (*Esser19

Ahnliches gilt auch für die Diminutivsuffixe -chen und -lein, wobei allerdings bei der Diminution eine -er-Fuge auftreten kann (Nickerchen, Pröslerchen) (Fleischer/Barz 1995:180f.). Im Mainzer Zeitungskorpus finden sich jedoch keine potenziellen -er-Derivate mit Diminutivsuffix.

64 zimmer vs. Lehrerzimmer). Insgesamt sind Komposita, deren nominales Erstglied in Verbindung mit einer -er-Fuge auftritt (Kinderzimmer) und Komposita mit einem -er-Derivat als Erstglied (Schülerzimmer) im Mainzer Zeitungskorpus leicht voneinander zu unterscheiden. Problematischer ist die Bestimmung des Fugenstatus, wenn Numerale als Erstglied im Kompositum stehen wie in (42b). Inhaltlich sind Bildungen wie Dreierkonferenz, Viererbob oder Fünfergruppe an andere Komposita mit numeralen Erstgliedern wie Dreibund oder Fünfkampf anzuschließen (Wellmann 1991:60, H. Ortner 1991:772). So handelt es sich bei der Dreierkonferenz nicht um eine Konferenz der Dreier, sondern eine Konferenz der drei Siegermächte des Zweiten Weltkriegs, genauso wie der Dreibund einen Bund aus drei Personen, Staaten, Mächten usw. bezeichnet. Formal gesehen sind Dreierkonferenz und Dreibund jedoch voneinander zu trennen (Fleischer/Barz 1995:115).20 Bleibt bei Nominalkomposita mit Numeralien als Erstglied "normalerweise die Grundform erhalten", so kann abweichend davon "bei der Zusammensetzung von Kardinalzahlen mit Substantiven in Fällen wie Drei-er-gespräch, Drei-er-mannschaft, Vier-er-bob" eine -er-Fuge auftreten (Wellmann 1991:60). Nach Wellmann (1991:60) ist diese Fuge auf eine Analogiebildung nach dem Vorbild von Komposita, in denen denumerale -er-Derivate als Erstglied fungieren {Achttausender-Expedition < Expedition auf einen Achttausender), zurückzuführen. Diese strukturell identischen Komposita mit denumeralem Derivat als Erstglied gilt es von jenen mit Fugenelement zu unterscheiden. Von der Auswertung ausgenommen wurden somit alle Belege, bei denen nicht das denumerale Derivat, sondern das zugrunde liegende Numerale als Bestandteil der Paraphrase erscheint (Dreierkonferenz vs. Achttausender-Exkursion). Neben den Belegen in (42b) wurden auch Achterbund (2000/68:21), Fünferausschuß (1850/220:2), Zwölferkommission (1900/37:3), 250er-Klasse und 350er-Klasse (beide 1950/116:4) ausgeschlossen.

3.3.4

Bildungsprozess

Plag (1999:211) stellt in seiner Untersuchung englischer Verben fest, dass es neben produktiv mit dem Suffix -ate gebildeten Verben zahlreiche -ate-Derivate gibt, "which arise from a number of different non-affixational morphological operations." Allerdings warnt Bauer (2001:144) davor, 'Wortbildung', d.h. die Genese der Wortbildungsprodukte, und 'Wortgebildetheit', d.h. die Struktur der Wortbildungsprodukte, zu verwechseln (vgl. Kap. 3.2). Eine Unterscheidung zwischen Wortbildung und Wortgebildetheit ist aber alles andere als einfach. Englische -ate-Verben beispielsweise, die analog zu existierenden Vorlagen (radioactivate < radioactive nach active > activate), durch Rückbildung aus komplexen Lexemen (formate < formation) oder durch Konversion (phosphatev < phosphateΝ) entstanden sind, entsprechen derselben semantischen Wohlgeformtheitsbedingung für -ate-Verben wie jene, die nachweislich durch Derivation abgeleitet wurden (Plag 1999:206-211).

20

H. Ortner (1991:772) bezeichnet die Erstglieder in Komposita wie Dreierkonferenz als "von der Morphologie her kompositionsspezifische Elemente". Er vertritt somit einen ähnlichen Standpunkt wie Fuhrhop (1998), die eine eigene Kompositionsstammform annimmt, die prinzipiell von der Flexionsstammform abweichen kann (vgl. Kap. 3.2.2.2).

65 Ähnliche Überlegungen sind auch für nominale -er-Derivate im Deutschen angebracht. So sind laut Fleischer/Barz (1995:352) etwa die Verben kurpfuschen, ehebrechen oder mähdreschen aus nominalen -«»/--Derivaten rückgebildet, sodass nicht die Verben, sondern die Substantive als primär im Wortbildungsprozess anzusehen seien. Da Analogie- bzw. Rückbildung aber Phänomene sind, die nur einzelne Lexeme betreffen, sind sie jeweils nur individuell nachweisbar. Daneben scheinen auch subtraktive -er-Derivate möglich zu sein, betrachtet man Bildungen wie Kriminaler 'Kriminalbeamter' zu Kriminalpolizei und Anaboler 'Anabolika-Abhängiger' (Nesser 2000: 63, 144) zu Anabolika.2I Als Spezialfall im Hinblick auf die Genese erweisen sich die -er-Bildungen in (44), die auf geografischen Namen beruhen, da sie nämlich in formaler Hinsicht nicht der Definition von nominalem -er-Derivat entsprechen, wie sie in Kapitel 3.2.1 gegeben wurde. (44)

a b c

Die Dresdner hat sich beholfen: Sie definiert sich als europäische Investmentbank mit globaler Reichweite. (2000/272:17) Ausfchank iTt Münchener, Pilfner u. hell Lagerbier (1900/480-2.Bbl:4) und jeder Arbeiter hielt einen fchäumenden Krug englifchen Burgunders (Porters) in die Hohe. (1800/218:1)

Nach dieser Definition leitet die nominale -er-Derivation ausschließlich Maskulina ab, die der starken Deklination angehören (der Lehrer > die Lehrer-0), weshalb beispielsweise das schwache Maskulinum Bauer (die Bauer-η) nicht ausgewertet wurde. 22 Die Beispiele in (44a-b) sind jedoch Feminina bzw. Neutra. Das Genus ist in diesem Fall ein Zeichen dafür, dass Dresdner in (44a), Münchner und Pilsner in (44b) nicht durch -er-Derivation entstanden sind, sondern vielmehr als Ellipsen aus Nominalgruppen mit attributivem Adjektiv zu erklären sind: (45)

Ellipse:

die Dresdner das Pilsener

< die Dresdner Bank < das Pilsener Bier

Bezeichnenderweise basieren diese Neutra bzw. Feminina (Lyoner 'Wurst', Licher 'Bier') alle auf geografischen Namen, und deonymische -er-Adjektive weisen prinzipiell einige formale Besonderheiten gegenüber anderen Adjektiven auf (Fleischer/Barz 1995:239f., Sugarewa 1974:201ff.; vgl. Kap. 3.3.7.1). Vergleichbare Substantivierungen wie Helles 'Bier' in (46b), die nicht auf einem Toponym beruhen, sind im Vergleich zu Pilsener in (44b) anhand ihres adjektivischen Flexionsverhaltens unschwer als elliptische Formen zu erkennen (vgl. Fleischer/Barz 1995:215). (46)

a b

Pilsener, das Pilsener, ein Pilsener Helles, das Helle, ein Helles

< das Pilsener Bier < ein helles Bier

Maskuline -er-Substantive mit toponymischer Basis wie Burgunder in (44c) oder Berliner in (47) sind bezüglich ihrer Genese ambig. Sie entsprechen in formaler (Genus, Flexions-

21

22

In beiden Fällen sind entsprechende Adjektive (anabol 'auf Anabolie beruhend', kriminal 'zu Strafrecht, Strafverfahren, Straftat und Täter gehörend') bei Wahrig (2000:166, 781) belegt, kommen jedoch aufgrund semantischer Differenzen kaum als Basis infrage. P. Müller (1993a:240) hingegen begründet den Ausschluss von Bauer mit der fehlenden Motivation durch das Verb bauen. Jedoch ist das Verb bauen noch zu Beginn des 17. Jahrhunderts in der Bedeutung "Bawen / das Feldt bereiten" (Hulsius 1607:47) belegt.

66

verhalten) und inhaltlicher Hinsicht nominalen -er-Derivaten, können jedoch ebenso wie die Neutra und Feminina in (45) durch eine Ellipse erklärt werden: (47)

a

Derivation:

b

Ellipse:

der der der der

Berliner Berliner Berliner Berliner

< < <
PI. Lehrer vs. Sg. Lehrender > PI. Lehrende. Lediglich deonymische Adjektive mit (adjektivischem) -er-Suffix wie Pilsener Bier vs. Pilsener stellen in dieser Hinsicht eine Ausnahme dar (vgl. dazu Kap. 3.3.4). Aufgrund ihres uneindeutigen Flexionsverhaltens sind im Mainzer Zeitungskorpus allerdings die Fälle Obrister und Expresser zu klären. Die Form Obrister ist zurückzuführen auf Obrist, eine Nebenform von Oberst. Bei beiden handelt es sich um substantivierte Superlative zum Adjektiv obere/r/s. Jedoch findet sich die Form Obrister im Korpus nicht nur bei starker Flexion (Obrifter Gersdorff), sondern auch nach definitem Artikel {der Obrifter Rebinder) (vgl. (52)). (52)

Deß Hn. General Feld=3eugmeifters vnfers Hert^ogs Ferdinandi Hoch=Fürstl. Durchl. haben infonderheit mit 3. Regimenter Dragoner / dabey der Hr. General Major Platz / Obrift Mulkau / vnd Obrifter Gersdorff gewefen / den rechten Flügel führend / Jhnen durch einen faft impaffablen Moraft nachgefetjet und fie fo weit ocupiret, daß Tie fich ins Gefechte einlaffen muffen / dabey auch der Obrifter Rebinder nebft vilen Ober=Officiers gebliben / vnd deffen Sohn ein Rittmeifter / nebft dem Rittmeifter Unger vnd andern Cubalternis gefangen genommen worden (1700/35- Ex:3f.)

69 Die Flexion des Adjektivs erfolgt im Neuhochdeutschen und Frühneuhochdeutschen in Kongruenz mit dem Substantiv und abhängig vom Vorhandensein bzw. der Art des Artikelworts. Die Flexionsparadigmen und verwendeten Flexive stimmen in beiden Epochen weitgehend überein (Solms/Wegera 1991:108-115, 223-273). Attributive und substantivierte Adjektive werden im Neuhochdeutschen nach definitem Artikel schwach flektiert: der Angestellte Müller vs. *der Angestellter Müller. Jedoch sind nach Solms/Wegera (1991:224ff.) bis ins 19. Jahrhundert hinein Substantivgruppen belegt, bei denen das attributive Adjektiv nach bestimmtem Artikel stark flektiert wird (der großer Mann). Dies ist zum Teil, wie im Ripuarischen, regional bedingt, wird jedoch zusätzlich durch die Grammatiken des 17. Jahrhunderts, insbesondere durch Schottelius' Ausführliche Arbeit von der Teutschen HaubtSprache (1663), gestützt, die sowohl starke als auch schwache Flexion nach dem bestimmten Artikel akzeptieren (Solms/Wegera 1991:225f.)· Bei Obrister in der syntaktischen Einheit der Obrifter Rebinder handelt es sich folglich nicht um ein nominales -er-Derivat, sondern um ein substantiviertes Adjektiv, das nach dem bestimmten Artikel abweichend vom Regelfall stark flektiert wird. Somit ist das Lexem OBRISTER aus der Analyse auszuschließen. Etwas komplizierter liegt der Fall bei Expresser. Ein Expresser ist nach Zedier (17321754, Bd. 8:2347) "einer, der 3U einer gewiffen Sache befonders befehliget und abgefchicket worden" (vgl. auch DWB, Bd. 3:1208). Die dazugehörige Basis, das Adjektiv express, wurde laut DFB im 16. Jahrhundert aus dem Lateinischen entlehnt und zunächst nur adverbial oder in den eingedeutschten Formen expressenlich bzw. expreßlich verwendet. Im 17. Jahrhundert wird express zunehmend attributiv verwendet und entsprechend flektiert: (53)

a b c

dennoch wird von den meisten Regenten a u f f j h r e n [der Räte] expressen Beyfall gedrungen (Seckendorff 1665, zit. nach DFB, Bd. 1:191) Ein öffentlicher oder expresser vnnd ein heimblicher Fürsatz (Dalhover 1687, zit. nach DFB, Bd. 1:191) einen expressen Bothen (Kuhnau 1700, zit. nach DFB, Bd. 1:191)

Aus expresser Bote wie in (53c) entwickelt sich gegen Ende des 17. Jahrhunderts die substantivische Form Expresse (DFB, Bd. 1:191), die auch im Mainzer Zeitungskorpus belegt ist (vgl. (54a-b)). (54)

a b c

Der Ritter de la Reque / C o m m a n d a n t deß Schiffs=Amphitrite / hat auß dem Haven von der Statt Canton in China einen Expreflen anhero gefand (1700/9-Ex:8) Der S p a n i f Bottfchaffter hat mit Kays. Gutheiffen einen Expreflen vorauß geschickt (1700/47-Ex:5) als ift vor etlichen Tagen ein expreffer Curier von hier auß / an obgemelten Groß= Bottschafften / abgefchickt worden / welcher feinen Weg gerad nach Conftantinopel nehmen folle. (1700/9:2)

Für das Lexem EXPRESSER liegen insgesamt elf substantivische Belege vor. Allerdings stehen zehn davon in ambigen Kontexten, im Nominativ Singular nach unbestimmtem oder fehlendem Artikel, wo -er sowohl nominales Derivationsaffix als auch Flexiv der starken bzw. gemischten Adjektivdeklination sein kann. Bei dem Beispiel in (55a) etwa kann Expresser wie im Fall von (54c), wo das Adjektivattribut express in derselben syntaktischen

70 Umgebung, nämlich im Nominativ Singular Maskulinum nach unbestimmtem Artikel, steht, entweder deadjektivisches -er-Derivat oder substantiviertes Adjektiv sein. (55)

a

An der Mittewoche traf ein R u ß i f c h = K a y f e r l . E x p r e f f e r allhier ein (1750/81:3)

b

Der Spanifche A m b a f f a d e u r hat einen E x p r e f f e r n nacher Madritt gefand / v m b f e i n e m Konig ebenfals davon Nachricht 311 geben. (1700/24-Ex:7)

Der einzige Beleg, der eindeutig nicht adjektivisch flektiert, Expressern im Akkusativ Singular in (55b), lässt sich jedoch nicht dem Flexionsparadigma nominaler -er-Derivate zuordnen, da diese als starke Maskulina im Akkusativ Singular endungslos bleiben (einen Lehrer-0). Die Beleglage in meinem Korpus erlaubt demnach keine sichere Identifizierung von Expresser als deadjektivisches -er-Derivat. Da auch die Überprüfung in historischen Wörterbüchern (Hulsius 1607, DWB, Adelung 1793-1801, Zedier 1732-1754), etymologischen Lexika (EWB, Kluge/Goetze 1948, Kluge 1999) und Fremdwörterbüchern (DFB) keine eindeutige Bestimmung von Expresser als nominales -er-Derivat zulässt, wie sie etwa Stricker (2000:117) vornimmt, habe ich das Lexem EXPRESSER bei der Auswertung nicht berücksichtigt. 24

3.3.6.2

Nominale Flexionsformen vs. nominale -er-Derivate

Der r-Plural entwickelt sich im Deutschen ausgehend von einer kleinen althochdeutschen Substantivklasse, den ehemaligen -/z/-az-Stämmen, die ursprünglich ein stammbildendes -r-Suffix hatten. Im Althochdeutschen ist dieses stammbildende Suffix jedoch nur noch im Plural in allen Kasus erhalten (Nom./Akk. PI. lemb-ir, Gen. PI. lemb-ir-o, Dat. PI. lemb-irum) (Braune 1987:186). "Die natürliche folge davon war, daß das suffix bald als speciell pluralbildend aufgefaßt" (Gürtler 1912:501) und als Pluralmarker reanalysiert wurde. Vereinzelt schon im Althochdeutschen, verstärkt jedoch seit dem Mittelhochdeutschen wird -er als Pluralmarkierung auch auf Wörter aus anderen Flexionsklassen übertragen (Bücher, Häuser). Seit dem 13. Jahrhundert breitet sich der r-Plural vor allem in den Dialekten weiter aus, wo er teilweise auch auf Fremdwörter übergreift (Gürtler 1912:501ff., Wegera 1987:196f.). Zum Neuhochdeutschen hin werden r-Plurale häufig wieder abgebaut, insbesondere bei Entlehnungen. Da Entlehnungen im Gegenwartsdeutschen den r-Plural ausschließen und -tum als einziges, wenig produktives Suffix den r-Plural zuweist, ist die Klasse der Substantive mit r-Plural heute weitgehend als geschlossene Klasse anzusehen (Scherer 2000:24). Zwar ist seit dem 17. Jahrhundert die Entwicklung des r-Plurals "nahezu vollständig auf dem nhd. Stand" (Wegera 1987:211), trotzdem finden sich in meinem Zeitungskorpus bis ins 19. Jahrhundert hinein r-Plurale bei Substantiven, die sich im Gegenwartsdeutschen an andere Flexionsklassen angeschlossen haben:

24

Bei Hulsius (1607) ist weder das Adjektiv express noch das Substantiv Expresser belegt. Die Einträge im D W B lassen nicht erkennen, ob Expresser als Derivat oder substantiviertes Adjektiv zu interpretieren ist, E W B und Kluge (1999) verzeichnen Expresser nicht. Z u d e m besteht die M ö g lichkeit, dass es sich bei Expressern u m einen reinen Fehler beim Satz handelt.

71 (56)

Bollwerker (1700/17-Ex:8), Fortifikationswerker (1700/17-Ex:5+), Kabinetter (1800/355:2), Kleinodier (1609/33:10), Kopfzeuger (1750/59:2), Örter (1800/325:2+), Parlamenter (1800/65:1+), Scheffer (1609/47:6), Stifter (1850/18-B1.2:30), Werker (1700/6:1+)

Die genannten Formen sind jedoch sprachgeschichtlich zweifelsfrei als Plurale nachzuweisen und bei Wegera (1987:197-213) und/oder in Gürtlers (1913:102-224) Liste historischer r-Pluralc belegt. Die Überprüfung im DWB ergab, dass die entsprechenden rPlurale im 19. Jahrhundert teilweise noch in speziellen Kontexten oder als Nebenformen (.Kabinetter) verbreitet waren. Im Mainzer Zeitungskorpus liegen in zwei Fällen homonyme r-Plurale und -er-Derivate vor: zum einen beim Derivat Stifter zum Verb stiften in (57a) und der Pluralform Stifter zum Singular Stift in (57b), zum anderen bei der Form Werker, die sowohl in Derivaten {Handwerker, Tagwerker, Feuerwerker) wie auch als Plural zu Werk belegt ist (vgl. (58a) vs. (58b-c)). (57)

a b

(58)

a b c

die Eroberung von Jndostan durch den Sultan B a b e r , den Stifter der mogolifchen Dynaftie (1800/52:1) es gehören folche 3U den Kl. Aemtern oder dem Domkapitul, denen v. Adel, Stiftern. Klöftern (1850/18-B1.2:2) ein experimentirter Ingenieur vnd Weltberühmter in der Artillerie=Kunft / uberauß wohl geübter Feuerwercker (1700/51:4) daß der Spanische Gouverneur Piementa / die Wercker von Cartagena in beffern Stand hat gebracht / alsjemalen nie gewefen feynd (1700/6:1) Die Bollwercker werden auch hin vnd wider mit mehrerm Graben Geschütze verfehen (1700/17-Ex.:8)

Andere Wortformen wie Musketierer oder Offizierer, die in der Forschung gelegentlich als r-Plurale interpretiert wurden, zeigen jedoch auch im Singular das Affix -er und sind somit als pleonastisch markierte Derivate einzuordnen (Wegera 1987:208ff.) (vgl. dazu Kap. 3.3.7.2).

3.3.7

Abgrenzung nominaler und adjektivischer Derivationsmuster

Im Rahmen der Wortbildung fungiert -er als nominales Suffix, das sowohl Transpositionsbildungen wie Lehrer als auch Modifikationsbildungen wie Witwer und Jesuiter vornimmt, sowie als adjektivisches Suffix (Teutoburger Wald). Bedingt kann -er auch zur Ableitung von Verben eingesetzt werden (Dreck > dreckern, Asche > einäschern), Belege dafür sind aber selten (vgl. Fleischer/Barz 1995:309f.). Formal identisch, jedoch nicht mit dem nominalen Suffix verwechselbar, ist das verbale Präfix er- {erhalten).

3.3.7.1

Adjektivische vs. nominale -er-Derivate

Während nominale Derivate eine Vielzahl unterschiedlicher Basiswortarten zeigen (vgl. Kap. 4.4.), sind adjektivische -er-Bildungen lediglich zu Kardinalzahlen und geografischen Namen, nicht aber zu Personennamen möglich (Fleischer/Barz 1995:239f., 255, Fleischer 1980:19). Belege wie Franciscaner Münch (1609/24:7) oder Dominicaner=Kloster

72 (1750/102:2) sind somit unabhängig von ihrer Schreibung prinzipiell als N+N-Komposita zu interpretieren. Hingegen lassen sich Adjektive und Substantive mit toponymischer Basis teilweise nur schwer voneinander unterscheiden, da sie in ihren Funktionen als Adjektivattribut, substantivisches Genitivattribut oder Kompositionserstglied jeweils links vom nominalen Kopf der Phrase bzw. des Kompositums stehen und die Gräfte nicht immer eine eindeutige Identifizierung der Wortart ermöglicht. Zum einen werden Adjektive bis ins 18. Jahrhundert hinein häufig groß geschrieben (Wegera 1996:390), und seit der zweiten Orthografiekonferenz 1901 in Berlin ist die Großschreibung detoponymischer -er-Adjektive im Gegensatz zu anderen Adjektiven verbindlich {Teutoburger Wald, Schweizer Bevölkerung) (Fleischer 1980:19). Darüber hinaus würde die Abgrenzung zwischen Adjektiven und Kompositionsgliedern anhand formaler Kriterien, die in gesprochener Sprache über das unterschiedliche Akzentmuster von Phrasen und Komposita möglich ist (die kranken Schwestern vs. die Kränkenschwestern) (Wiese 1996:303), in der Schriftsprache die konsequente Zusammenschreibung von Komposita voraussetzen, die nicht in allen Epochen gegeben ist. Die Textausschnitte in (59) zeigen Bindestrich- bzw. Zusammenschreibung von adjektivischem Attribut und Substantiv innerhalb der Nominalphrase, wohingegen die Kompositionsglieder in (60) nicht oder nur durch Bindestrich verbunden werden. (59)

a b

(60)

a

b

Von Mayland hat man / daß das abgedanckte Regiment S c h w e r e r nun im Marfch ift / zuruck wider nacher dem Schweitzer = Land 311 gehen. (1700/9:4) Die Hofnung , daß der Gen. L e c o u r b e die von feinem Vorgänger angefangenen, und f ü r das SchweizerVolk fo laftigen neuen BefeftigungsArbeiten bei 3ürich einftellen laffen würde, hatte fich nicht beftätigt; (1800/6:4) Sontags ift der Perfian. Ambr. alher gelangt / welcher ftatlich mit viel AdelsPerfonen vnd des Babfts Schweitzer Guardi eingeholt / vnd ins vorigen Ambr. Pallaft einlofirt worden (1609/40:7) Man glaubt / daß Franckreich das [...] Romifch= Catholifche S c h w e i t z e r Regiment / auff benothigten Fall / in feine Dienfte übernehmen werde (1700/9:4)

Bei der Identifizierung detoponymischer Adjektive kommt somit dem Kontext große Bedeutung zu. Erst die Kombination aus dem bestimmtem Artikel die und der Anapher eine erlaubt es, zwischen dem Adjektivattribut Maltheser in (61) und dem substantivischen Genitivattribut Maltheser in (62) zu unterscheiden. (61)

Die Türckifche Armada / in 60. Segel / hat fich vmb Nouorino er3eiget / vnd haben die Malthefer Galleen / gegen Barbaria / des Engelendifchen Seeräubers Predan eine / mit reicher Beuth bekommen (1609/31:6)

(62)

Aus Hifpanien feynd 800. Mann nebenft der Malthefer Galleeren bereits in Candia den vnferigen zu hülffe angekommen. (1650/21 -Di:3)

An detoponymischen Adjektiven wurden neben den Belegen in (59) und (61) unter anderem Spalterbräu (1900/37-Bbl.5:1), Aacher=Baad (1700/30:4), LaufferThor (1650/15Di:2+) und Dünemünder Schantz (1700/13, Ex:5+) ausgeschlossen. Denumerale -er-Derivate werfen ähnliche Fragen auf wie Ableitungen von Toponymen, obwohl sie nach den geltenden Rechtschreibkonventionen nicht der Großschreibung unterliegen. Problematisch ist insbesondere die Behandlung von Komposita wie in (63c). Lässt sich neunziger in (63a) leicht als Adjektiv, Neunziger, in (63b) ebenso leicht als Substantiv

73 klassifizieren, so ist in (63c) nicht ohne weiteres zu entscheiden, ob eine Univerbierung von (63a), und somit die Struktur A+N, oder ein Kompositum mit zwei nominalen Komponenten und der Struktur N+N vorliegt. (63)

a b c

die neunziger Jahre die Neunziger die Neunzigerjahre

Erschwerend kommt hinzu, dass bei Nominalkomposita mit numeralem Erstglied eine -erFuge auftreten kann wie in Dreierkonferenz (vgl. Kap. 3.3.3), -er in Neunzigerjahre also außer Derivationsaffix auch Fugenelement sein könnte. Um diese Entscheidung zu treffen, ist im Einzelfall die Existenz adjektivischer bzw. nominaler -er-Derivate sowie die semantische Interpretation des Kompositums zu berücksichtigen. In (64) finden sich, analog zu den Beispielen in (63a) und (63b), adjektivische (64a) und substantivische Belege (64b) aus dem Mainzer Zeitungskorpus. Fälle wie (63c), die ich als Univerbierung und somit als A+N-Struktur interpretieren würde, kamen im gesichteten Datenmaterial nicht vor. (64)

a b

Drei Jahre lang war es still um eines der erfolgreichsten deutschen Trios der 90er Jahre. (2000/272:40) Sade hat die techno-betonten, nervösen, schnelllebigen Neunziger mit Privatleben überbrückt, ein Kind bekommen, sich auf Jamaika mit der Polizei angelegt. (2000/272:34)

Als adjektivisch wurden neben 90er in (64a) auch 64er und 67er in 64er Runde bzw. 67er Runde (beide 2000/272:31) klassifiziert.

3.3.7.2

Modifikationsbildungen vs. Transpositionsbildungen

Das Nominalsuffix -er nimmt im Neuhochdeutschen drei Funktionen wahr. Zum einen leistet es im Rahmen mehrerer semantischer Muster die syntaktische und/oder semantische Transposition verbaler, nominaler, onymischer, numeraler, seltener auch anderer Basen: (65)

a

b c

Jn felbigem Gebiet ift auch ein Schäffer Nahmens Wilhelm Quans / fo 110. Jahren alt ift / vnnd noch würcklich eine Heerde Schaffe feinem Herrn bewahret vnnd weydet. (1700/12Ex:5) Sie riß ihre Hände aus dem Eimer, trocknete sie an der Schürze und lief in die Gaststube, nahm den Hörer ab und schrie ins Telefon (1950/68:5) Man kan die genugfamen R e h n t h i e r e der Laplander im Winter lebendig in Stockholm fehen (1800/21:1)

Transponierte -er-Derivate wie in (65) stellen den Untersuchungsgegenstand meiner Arbeit dar (vgl. Kap. 3.2.1). Eigenschaften und Merkmale der transponierenden -er-Derivation werden in Abschnitt 4 ausführlich dargestellt. Daneben dient das -er-Suffix aber auch zur reinen Modifikation von Konzepten. Es leitet aus einer begrenzten Zahl generischer Feminina movierte Maskulina ab, z.B. Witwe > Witwer oder Pute > Puter. Die Maskulinmovierung ist im Deutschen jedoch weder mit dem Suffix -er noch mit -erich produktiv (Doleschal 1992:26, Wellmann 1975:118f.). Im Mainzer Zeitungskorpus sind denn auch nur vier Fälle movierter Maskulina mit -er-Suffix be-

74 legt. Alle vier Belege aus den Jahren 1900 und 1950 entfallen auf das Lexem WITWER und finden sich in Heiratsannoncen. Ein Beispiel ist in (66) gegeben: (66)

Für j. Dame (Jüdin), hübfche Erfcheinung, fleißig und anfpruchslos, Mitg. 10,000 M., wird Herr in ficherer Stellung gefucht. Wittwer nicht ausgefchloffen. (1900/37-5.Bbl:2)

Die dritte Funktion des nominalen -er-Suffixes, die sich im Korpus erkennen lässt, ist die explizite Markierung des Merkmals [+MENSCHLICH] an Personenbezeichnungen wie bei Jesuit > Jesuiter und Offizier > Offizierer in (67). (67)

a b

Herr Pater Anderes Jefuiter allhie / hat diefer Tagen ein harten Strauß gehabt (1609/1:6) GEftern ift abermahl ein Officirer vom Konigl. Hoff alhie ankommen (1650/39-Do:2)

Bei der Basis handelt es sich in der Regel um Entlehnungen, wie bei den Beispielen aus dem Mainzer Zeitungskorpus in (68a). Da die unabgeleiteten Basen bereits Menschen bezeichnen, dient die Markierung mit dem -er-Suffix lediglich zur Verdeutlichung der Personen-Lesart, ist also als pleonastisch anzusehen (Scherer in Vorb.).25 (68)

a b c

Jesuiter (16009/29:7+), Kreoler (1750/32:3), Kurierer (1609/7:7+), Musketierer (1609/33:8+), Offizierer (1609/33:6+), Passagierer (1700/24:2) Barbierer (1700/51-Ex:6), Dolmetscher (1609/37:7+), Feldscherer (1700/45-Ex:3), Kassierer (1609/11:4+), Vorfahrer (1700/12:3) Barbarer (1609/43:7)

Manche Derivate, insbesondere solche mit nativer Basis, können entweder als pleonastische Bildungen oder als Transpositionsbildungen zu verbalen Basen interpretiert werden (vgl. (68b)). Ähnlich liegt auch der Fall Barbarer in (68c), der zum einen auf die Personenbezeichnung Barbar, zum anderen aber auch auf das im Korpus belegte Toponym Barbaria (1609/31:6+) bezogen werden kann. Als pleonastische Derivate wurden jene Personenbezeichnungen mit -er-Suffix klassifiziert, bei denen lediglich eine gleichbedeutende, nicht suffigierte Form im Korpus oder in Wörterbüchern (Hulsius 1607, Wahrig 2000) als potenzielle Basis nachweisbar ist. War neben der Personenbezeichnung eine weitere, plausible Derivationsbasis verfügbar, so habe ich die Belege wie im Fall von (68b-c) als Transpositionsbildungen eingeordnet. Fanden sich im Zeitungskorpus wie bei Passagierer nur Pluralbelege für ein pleonastisches Derivat, so wurde zur Abgrenzung von r-Pluralen das DWB zurate gezogen. Die Blütezeit der pleonastischen Bildungen im Mainzer Zeitungskorpus liegt im 17. und frühen 18. Jahrhundert. Seit dem 19. Jahrhundert wird die pleonastische Markierung abgebaut. In der modernen Standardsprache steht -er nicht mehr zur verdeutlichenden Markierung zur Verfügung. Nach wie vor scheint -er jedoch das bevorzugte Default-Suffix für die Ableitung von Personenbezeichnungen zu sein. Meibauer (1995b:146f.) diskutiert, ob doppelmarkierte Personenbezeichnungen in der Kindersprache wie Putzerer und Bucherer als -er-Derivate zu abgeleiteten Verben (*putzern, *buchern) zu analysieren sind oder als Bildungen zu nominalen -er-Derivaten (Putzer, Bucher), die von den Kindern nicht als Perso25

In diese Gruppe ist auch Roboter einzuordnen, das über das Englische aus dem Tschechischen (robot) ins Deutsche gelangte. Die pleonastische Suffigierung ist auf einen deutschen Übersetzer zurückzufuhren, der die tschechische Bildung robot 'Maschinenmensch' in den zwanziger Jahren unter Hinzufugen des -er-Suffixes ins Deutsche übernahm (Kluge 1999:689).

75 nenbezeichnung identifiziert werden. Henzen (1965:160) fuhrt Belege mit doppeltem -erSuffix aus den Mundarten an (Glaserer, Trinkerer), und Fuhrhop (1998:153, 239ff.) berichtet, dass in einer Befragung über Einwohnerbezeichnungen in 55 von 59 Fällen von den Probanden -«'-Bildungen angegeben wurden, und zwar auch dann, wenn die Standardsprache eine andere Form fordert (Laoter statt Laote, Senegaleser statt Senegalese). Insbesondere neuere pleonastische Bildungen wie Roboter zu tschechisch robot 'Maschinenmensch', Mohikaner zur amerikanischen Stammesbezeichnung mohocan (engl. Mohican) oder Szekler zu Szekely, einem Landstand in Siebenbürgen, sind dadurch gekennzeichnet, dass neben ihnen keine unabgeleitete Form steht wie etwa noch bei Offizierer vs. Offizier. Eine vollständige Liste über die 25 im Korpus belegten pleonastischen -er-Derivate und deren Verteilung auf die einzelnen Teilkorpora findet sich in Scherer (in Vorb.).

3.4

Auswertung und Analyseverfahren

Veränderungen in den Produktivitätsverhältnissen eines Wortbildungsmusters sind zentral für den Wortbildungswandel (vgl. Kap. 2.4). Wird Produktivität als quantitatives Phänomen verstanden, so lässt sich die Produktivität eines morphologischen Prozesses messen. Ausgangspunkt für die empirische Ermittlung von Produktivität sind in der Regel Wörterbücher (Kiesewetter 1987, Pounder 2000) oder Textkorpora (u.a. Baayen/Lieber 1991, Cowie 1999, Plag 1999). Wörterbuchanalysen tendieren allerdings dazu, die Produktivität von Wortbildungsprozessen zu unterschätzen, da Wörterbücher häufig wegen der Orientierung an den Bedürfnissen ihrer Benutzer ein verzerrtes Abbild der tatsächlichen Sprachverhältnisse widerspiegeln (Baayen/Renouf 1996:69f., Bauer 2001:160). Beispielsweise sind Lexeme mit opaker Bildungsstruktur in Wörterbüchern häufig überrepräsentiert, wohingegen Wörter, die aus transparenten, produktiven Prozessen resultieren, nicht konsequent aufgenommen werden. Darüber hinaus bieten Wörterbücher in der Regel keine Angaben über Gebrauchsfrequenzen, sodass die Produktivitätsmessung auf die Ermittlung der belegten Typen beschränkt ist. (Zu weiteren Nachteilen der Wörterbuchanalyse vgl. Baayen 1992:111, Bauer 1992:188.) Textkorpora hingegen stellen einen authentischen, wenn auch begrenzten und kontextbezogenen Ausschnitt der Sprache dar. Etablierte oder eigens zusammengestellte Korpora bilden die Grundlage für Wörterbücher (Reichmann 2002, Bergmann 2002), Grammatiken (Wegera/Solms 2002, Klein/Sieburg 2002) und Studien zu phonologischen (Imsiepen 1983), morphologischen (Dalton-Puffer 1996, P. Müller 1993a) und anderen linguistischen Fragestellungen. Aber auch unabhängig vom jeweiligen Erkenntnisinteresse gilt, "[ejmpirically based text research is a sine qua non of historical linguistics" (McEnery/Wilson 1996:106), da das Korpus ermöglicht, die historische Distanz zwischen Untersuchungsgegenstand und Forscher zu überbrücken. Im Bereich der Wortbildung ist die Korpusanalyse unmittelbar mit dem Begriff der Produktivität verknüpft, sobald eine Auswertung über das bloße Bestimmen von Vorkommenshäufigkeiten fur einzelne Lexeme wie LESUNG oder LESEBUCH hinausgeht. Die Bindung an ein Textkorpus eröffnet dem Forscher die Möglichkeit, neben der Frequenz einzel-

76 ner lexikalischer Einheiten (Typen) auch deren Belegzahl (Tokens) in die Berechnung von Produktivitätsmaßen einzubeziehen. Bereits die Anzahl der Typen und Tokens eines Wortbildungsmusters in einem Korpus kann als Gradmesser fur dessen Produktivität dienen (vgl. Kap. 3.4.1). Voraussetzung für zuverlässige Produktivitätskennzahlen ist allerdings die ausreichende Größe des zugrunde liegenden Korpus. Baayen/Lieber (1991) operieren mit Daten im Umfang von 18 Mio. Wortformen (CELEX, Version Ε 1.0), das von Plag (1999) ausgewertete Cobuild-Korpus umfasste zum Zeitpunkt der Bearbeitung rund 20 Mio. Wortformen. Korpora dieser Größenordnung sind in der Regel elektronisch gespeichert und annotiert. Die elektronische Kodierung kann aufgrund des Umfangs kaum für alle Tokens überprüft werden, erweist sich jedoch wie im Fall des Cobuild-Korpus bei Stichproben nicht immer als korrekt. Plag (1999:109) etwa schätzt die Fehlerquote für die von ihm untersuchten verbalen Derivate auf rund 10%. Die Extraktion ungetaggter Daten, d.h. die Suche nach Wortformen, die bestimmte Buchstabensequenzen wie bei nominalen -er-Derivaten z.B. enthalten, erfordert hingegen einen sehr hohen Nachbearbeitungsaufwand (vgl. Plag et al. 1999:213f.). So lieferte das British National Corpus Plag und seinen Kollegen bei der Suche nach nominalen -er-Derivaten jede Menge irrelevanter Daten wie Verben (cater), adjektivische Komparationsformen (higher) oder Eignnamen (Thatcher). Da sich die Arbeitsgruppe wegen der hohen Anzahl an Lexemen (V=48.476) gezwungen sah, auf die elektronisch codierten Informationen zurückzugreifen, gilt, dass "[t]he results based on the -er data are [...] to be interpreted with caution" (Plag et al. 1999:214). Aufbereitete historische Textkorpora sind zum einen selten, zum anderen weitaus kleiner (Cowie/Dalton-Puffer 2002:424f.). Das englischsprachige Helsinki-Korpus (750-1700) enthält beispielsweise knapp 1,6 Mio. Wortformen, das ARCHER-Korpus zum Neuenglischen (1650-1990) umfasste zum Zeitpunkt von Cowies (1999) Analyse rund 1,9 Mio. Wortformen. Im Vergleich zu CELEX oder dem Cobuild-Korpus handelt es sich beim Mainzer Zeitungskorpus mit gut einer Million Wortformen also um ein relativ kleines Korpus, im Vergleich mit anderen historischen Korpora zum Deutschen oder Englischen hat es hingegen mittlere Größe. 26 Allerdings bieten laut Baayen (1993:187) bereits Korpora mit einem Umfang von ca. 600.000 Wortformen wie das niederländische Eindhoven-Korpus ein verlässliches Bild der "major patterns of productivity", sofern das untersuchte Wortbildungsmuster im Datenmaterial ausreichend vertreten ist. Mit einem Anteil von 0,87% aller Wortformen (8.996 Tokens und 2.083 Typen auf rund 1.031.000 Wortformen) sind nominale -er-Derivate im Mainzer Zeitungskorpus etwa dreimal so häufig vertreten wie niederländische -er-Derivate im Eindhoven-Korpus (0,28% der Wortformen bei 1.676 Tokens und 299 Typen), sodass die Ergebnisse des Mainzer Zeitungskorpus trotz der vergleichsweise geringen Korpusgröße als zuverlässig angesehen werden können. Die Tatsache, dass im Gegensatz zur Auswertung von Plag et al. (1999) jeder Einzelbeleg des Korpus einge-

26

Dürer-Korpus: ca. 440.000 Wortformen (Habermann 1994, P. Müller 1993a), Goethe-Korpus: ca. 3,3 Mio. Wortformen (Stricker 2000), frühneuhochdeutsches Fachprosakorpus (Würzburg): ca. 1,073 Mio. Wortformen (Brendel et al. 1997), frühneuhochdeutsches Fachtextkorpus (Erfurt): 718.380 Wortformen (Döring/Eichler 1996). Die Arbeit von Dalton-Puffer (1996) zum Mittelenglischen basiert auf der Auswertung von knapp 400.000 Wortformen, die Studie von Cowie (1999) zum Neuenglischen auf rund 2,4 Mio. Wortformen inklusive eines Startlexikons von gut 550.000 Wortformen.

77 hend überprüft wurde, erhöht die Validität des Datenmaterials und der ermittelten Kennzahlen zusätzlich.

3.4.1

Produktivitätsmessung und Produktivitätsmaße

Das bereits erwähnte Verfahren, die Produktivität von Wortbildungsprozessen mit der Zahl der belegten Typen zu einem bestimmten Zeitpunkt ('extent of use') gleichzusetzen, ist weit verbreitet, gleichzeitig aber auch stark umstritten (Plag 1999:22f.). Die Beurteilung der Produktivität eines Prozesses sollte sich aber nicht allein auf die Typenfrequenz stützen, da diese nicht berücksichtigt, ob ein bestimmtes Wortbildungsmuster tatsächlich zur Produktion von Neubildungen verwendet wird und somit das Hauptkriterium für Produktivität überhaupt erfüllt ist. (Zu den grundlegenden Anforderungen an ein Produktivitätsmaß vgl. Baayen 1992:110f.). Elaboriertere typenbasierte Produktivitätsmaße wie die von Aronoff (1976), Lieber (1981) und Baayen (1989, 1993) beziehen sich auf belegte und/oder potenzielle Wortbildungsprodukte. Aronoff (1976) und Lieber (1981) schlagen vor, Produktivität über die Anzahl potenzieller Wortbildungsprodukte zu ermitteln. Während Lieber (1981) Produktivität anhand der Zahl der Formen, die mit einem bestimmten Affix bildbar sind, ermittelt, sieht Aronoff (1976:36) die "ratio of possible to actually listed words" als Produktivitätsindex für eine bestimmte Wortbildungsregel. (69)

/ = V/S

V = Zahl der tatsächlich in einem Korpus belegten Formen S = Zahl der möglichen Formen mit einem bestimmten Affix

Konkret misst Aronoffs Produktivitätsindex / in (69), wie oft innerhalb eines festgelegten Textumfangs von einem bestimmten Wortbildungsprozess Gebrauch gemacht wird, d.h. / beziffert weniger die Produktivität eines Prozesses als vielmehr den Ausnutzungsgrad einer Wortbildungsregel ('degree of exhaustion'). 2 7 Beide Ansätze, sowohl der von Lieber als auch der von Aronoff, stehen jedoch vor dem Problem, wie die Zahl der möglichen Formen ermittelt werden kann bzw. soll, da bei einer produktiven Regel die Zahl der möglichen Bildungen im Prinzip unbegrenzt ist (Plag 1999:23). Baayen (1992) und Baayen/Lieber (1991) gelingt es zwar, innerhalb eines Textkorpus die Zahl der möglichen Formen durch statistische Verfahren annähernd zu berechnen und Aronoffs Produktivitätsindex damit quantifizierbar zu machen, allerdings erfordert die Ermittlung potenzieller Derivate und Basen selbst im Rahmen eines begrenzten Korpus sehr aufwändige Berechnungen, sodass auch Baayen üblicherweise darauf verzichtet, / zu bestimmen. Gut zehn Jahre nach Aronoff entwickelt Baayen (1989) ein neues, korpusbezogenes Produktivitätsmaß. Die von Baayen als 'Produktivität im engeren Sinn' bezeichnete Kennzahl