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German Pages 124 Year 2020
Carlotta Voß
Wo Hoffen zugleich Haben ist
Diese Arbeit wurde an der Freien Universität Berlin als Masterarbeit eingereicht und mit der Höchstnote bewertet. Auf Empfehlung von Herrn Prof. Dr. Christian Wendt und Herrn Prof. Dr. Ernst Baltrusch wurde diese Arbeit in das Programm der wbg Young Academics aufgenommen.
„Mit ganz neuen Interpretationsmöglichkeiten wird ein neuer Thukydides-Ansatz in die Diskussion eingebracht, der nicht nur literaturwissenschaftlich, sondern auch geschichtswissenschaftlich von größter Bedeutung sein kann.“ Ernst Baltrusch
„Selten hat man Gelegenheit, eine so meisterhafte Beherrschung aller Arbeitsgrundlagen und eine fast ausufernde intellektuelle Freude in Symbiose zu erleben.“ Christian Wendt
Carlotta Voß
Wo Hoffen zugleich Haben ist Hoffnung als historischer Faktor bei Thukydides
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnd.d-nb.de abrufbar
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Inhalt Einleitung������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 7 Zu den Hoffnungsverdikten im Melierdialog und in der Mytilenedebatte���������� 16 Hoffnung als Erklärung Athens in den Reden der Bücher I und II����������������������� 31 Hoffen und Handeln im Tatenbericht der Bücher II–V������������������������������������������ 51 Hoffnung als militärische Ressource in den Büchern VI und VII������������������������� 76 Hoffnungsrhetoriken in Buch VIII��������������������������������������������������������������������������101 Résumé, oder: Noch einmal für Hermokrates�������������������������������������������������������111 Quellenverzeichnis�����������������������������������������������������������������������������������������������������116 Literaturverzeichnis���������������������������������������������������������������������������������������������������117
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Einleitung Gierige Hoffnung, verzweifelte Hoffnung, ohnmächtige und ermächtigende Hoffnung – Thukydides’ Peloponnesischer Krieg ist durchwirkt von Hoffnungsbildern. Sie begegnen an den ideellen und dramatischen Schlüsselstellen des Werkes, mal in der Unmittelbarkeit der auktorialen Ereignisdarstellung, mal vermittels der theoretischen Reflexion der historischen Akteure: Thukydides beschreibt in leuchtenden Farben, wie die Athener mit großer Hoffnung zur Eroberung Siziliens aufbrechen und er legt, nur wenig vorher, athenischen Gesandten in Melos ein volltönendes Hoffnungsverdikt in den Mund; er lässt Perikles im Epitaphios von einer kollektiven Hoffnung künden, die den Tod zu transzendieren vermag, und Diodotos Hoffnung als unsichtbare Gefahr konzeptualisieren; er illustriert den Einfluss von Hoffnung auf militärischen Erfolg und zeichnet die Effekte von Hoffnungsrhetorik nach. Das Substantiv ἐλπίς, das zentrale Bedeutungsinhalte des Begriffs Hoffnung enthält, findet sich im Werk insgesamt fünfundsiebzig Mal und damit fünf Mal so häufig wie in Herodots Historien1 – ein Zahlenverhältnis, das die Prominenz des Themas Hoffnung bei Thukydides zu quantifizieren und es zugleich als potenziellen hermeneutischen Schlüssel zu seinem Werk aufzuweisen scheint. Verwundern muss es denn, dass der thukydideische Hoffnungsdiskurs in der Forschung bislang kaum untersucht worden ist.2 Eine Betrachtung der verstreuten Kommentare, die sich in der Literatur zu dem Thema finden, er1
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Vgl. dazu Pierre Huart: Le vocabulaire de l’analyse psychologique dans l’oeuvre de Thucydide, Paris 1968, S. 141. Die Übersetzbarkeit von ἐλπίς/ἐλπίζειν wird im Folgenden noch zu problematisieren sein. Selbst in Arbeiten, die ausdrücklich der Untersuchung von Handlungsmotivationen, Affekten und Antizipation im thukydideischen Narrativ gewidmet sind, herrscht meistenteils Schweigen über ihn – bei Schneider etwa (Christoph Schneider: Information und Absicht bei Thukydides. Untersuchung zur Motivation des Handelns, Göttingen 1974) fehlt eine Auseinandersetzung mit Hoffnung vollständig, Tamiolaki (Melina Tamiolaki: Ascribing Motivation in Thucydides. Between Historical Research and Literary Representation, in: Dies., Antonis Tsamakis, (Hrsg.): Thucydides Between History and Literature, Berlin u. a. 2013, S. 41–72) verhandelt das Thema in wenigen Sätzen. Huart unterzieht den thukydideischen Umgang mit ἐλπίς/ἐλπίζειν 7
laubt es allerdings, das vorherrschende Desinteresse als Nachwehe der eigentlich überholten Lehrmeinung zu erklären, die Reden im thukydideischen Werk seien dramatisierte auktoriale Kommentare oder doch zumindest in ihren anthropologischen Inhalten auktoriale Aussagen. Denn wo die Sprache auf Hoffnung bei Thukydides kommt, dient selbst in modernen Forschungsbeiträgen, in denen an anderer Stelle die positivistische Interpretation der logoi fundiert abgelehnt wird, ein Verweis auf die Hoffnungsverdikte des Diodotos und der athenischen Gesandten in Melos aus III, 453 und V, 1034 als Ersatz für eine analytische Auseinandersetzung mit dem auktorialen Hoffnungsdiskurs; allenfalls ist das vermeintlich repräsentative Potenzial der zitierten Textstellen noch mit selektiv aus dem Tatenbericht entnommenen Passagen belegt, in denen hoffnungsgeleitetes Handeln fehlschlägt.5 In Frage gestellt worden ist die These des auktorialen Gehalts von III, 45 und V, 103 bisher lediglich in zwei kaum rezipierten Forschungsbeiträgen, in denen zugleich Hoffnung erklärtermaßen im Zentrum des Erkenntnisinteresses
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zwar einer zehnseitigen philologischen Untersuchung, sie verbleibt jedoch in der Begriffsgeschichte, vgl. Ders.: Vocabulaire, S. 141–152. „Immer wieder aber stiften Hoffnung und Begierde den größten Schaden, diese führend, jene folgend: diese klügelt den Anschlag aus, jene stellt das Wunschbild glücklichen Gelingens bei – und obwohl unsichtbar sind sie doch stärker als alle augenfälligen Gefahren.“ (Übersetzung hier und im Folgenden weitgehend Vretska/Rinner.) „Hoffnung, ein Trostmittel in der Gefahr, wird den Starken, wenn er sich an sie klammert, vielleicht schädigen, aber nicht vernichten. Wer aber alles, was er besitzt, aufs Spiel setzt – denn ihrem Wesen nach ist sie verschwenderisch – erkennt sie erst nach seinem Sturz; da aber lässt sie ihm nichts mehr übrig, womit er sich nach seiner Erkenntnis gegen sie schützen könnte.“ So etwa bei Tamiolaki: Ascribing Motivation, S. 58f., siehe des Weiteren Virginia J. Hunter: Thucydides. The Artful Reporter, Toronto 1973, S. 142f., Adam M. Parry: Logos und Ergon in Thukydides, New York 1981, S. 186, Hunter R. Rawlings: The Structure of Thucydides ,History‘, Princeton 1981, S. 236, Raymond Geuss: Thucydides, Nietzsche, and Williams, in: Manuel Dries (Hrsg.): Nietzsche on Time and History, Berlin u. a. 2008, S. 35–50, hier: S. 224, Hans-Peter Stahl: Thukydides. Die Stellung des Menschen im geschichtlichen Prozess, München 1966, S. 5, Anton Hackl: Die spes als negativer Charakterisierungsbegriff in Caesars Bellum civile, Ciceros Catilinariae, Lucans Pharsalia, Diss. Innsbruck 1962, S. 8 und Francis M. Cornford: Thucydides Mythistoricus, London 1907, S. 167–173. Cornfords Prämisse von der negativen Konnotation der Hoffnung bei Thukydides entspringt freilich weniger einer Überbewertung von III, 45 und V, 103, denn der seine Arbeit tragenden Absicht, Thukydides’ Verwurzelung in der Gedankenwelt der Archaik aufzuzeigen. 8
steht: In der Dissertation des Philologen Robert A. Gervasi und in einem Artikel des Politikwissenschaftlers Joel Alden Schlosser.6 Insofern in beiden Beiträgen freilich versucht wird, eine Ambivalenz in Thukydides’ Bewertung der Hoffnung aufzuweisen, wird in beiden schließlich doch die in III, 45 und V, 103 wurzelnde Forschungsprämisse fortgeschrieben, dass Thukydides’ Perspektive auf Hoffnung eine normative sei. In unausgesprochenem Widerspruch zu diesem Forschungskonsens steht nur eine wenige Seiten lange Untersuchung des Philologen Harry C. Avery zu ἐλπίς als Leitmotiv des thukydideischen Siziliennarrativs, die indes keine grundsätzliche Neubetrachtung des Hoffnungsdiskurses im Werk angestoßen hat.7 Das allgemein geringe Interesse der Forschung an Thukydides’ Hoffnungsdarstellung ist bedauerlich in Anbetracht des Erkenntnispotenzials, das eine Analyse derselben besitzt: In der Hoffnungsdarstellung eines Autors liegt weit mehr geborgen als gefühlshistorisches Forschungsmaterial, sie vermag auktoriale Prämissen zur menschlichen Wirklichkeit, zur menschlichen Begrenztheit und Transzendenzfähigkeit aufzuschließen – kurz: Sie enthält das Potenzial, Zugang zur Anthropologie eines Autors zu gewähren. Im konkreten Fall des thukydideischen Werkes verspricht eine Analyse des auktorialen Hoffnungsdiskurses damit auch, die vieldiskutierte Frage nach der Bedeutung von Thukydides’ Postulat zu erhellen, sein Werk sei geschrieben, „nützlich (ὠφέλιμος)“ zu sein.8 Es ist das Ziel der vorliegenden Arbeit, mit Blick auf eben dieses Erkenntnisinteresse Thukydides’ Darstellung des Phänomens Hoffnung in logoi und erga über narrative Analysen einer systematischen Betrachtung zu unterziehen.9 Besonders soll es dabei gelten 6
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Vgl. Robert A. Gervasi: The Concept of Elpis in Thucydides, Diss. Ohio 1981 und Joel Alden Schlosser: ,Hope, Danger’s Comforter‘: Thucydides, Hope, Politics, in: The Journal of Politics 75/1 (2013), S. 169–182. Vgl. Harry C. Avery: Themes in Thucydides Account of the Sicilian Expedition, in: Hermes 101/1 (1973), S. 1–13. Vgl. I, 22,4. Siehe dazu auch unten, S. 112. Ohne die Forschung, die in den vergangenen Jahren das thukydideische Werk aus narratologischer Perspektive untersucht hat, wäre die vorliegende Arbeit nicht möglich. Vgl. exemplarisch Jonas Grethlein: Philosophical and Structuralist Narratologies – Worlds Apart?, in: Ders., Antonio Rengakos (Hrsg.): Narratology and Interpretation, Berlin 2009, S. 153–174, und Ders.: Social Minds and Narrative Time: Collective Experience in Thucydides and Heliodorus, in: Narrative 23/2 (2015), S. 123–139. 9
zu fragen, welchen Stellenwert Thukydides Hoffnung in seinem historischen Deutungsentwurf zuweist – und wie repräsentativ die Hoffnungsverdikte, die in Mytilenedebatte und Melierdialog artikuliert werden, wie repräsentativ die normative Perspektive überhaupt für den auktorialen Diskurs ist. Ehe an der Hand dieser Fragen das thukydideische Narrativ betreten werden kann, muss es freilich gelten, die Differenz zwischen dem deutschen Hoffnungsbegriff, der der Untersuchung gleichsam Rahmen und Struktur vorgibt, und Thukydides’ Hoffnungsbegriff zu vermessen. Hoffnung ist keine primäre Emotion, sie gilt der Kognitions- und Emotionspsychologie als nicht instinktgeboren, sondern als abhängig von sozio-kulturellen Faktoren. Wenn aber Hoffnungserleben von Kulturgemeinschaft zu Kulturgemeinschaft verschieden ist, so müssen die jeweils für das Phänomen geprägten Begriffe der adäquaten Übersetzung entzogen bleiben.10 Es folgt daraus nicht, dass unsere Fragestellung inadäquat ist, wohl aber, dass ihre Historizität, die Historizität unseres Hoffnungsbegriffs also, als hermeneutischer Standpunkt in die Untersuchung schon miteinbezogen werden muss. Das deutsche „Hoffnung“ bezeichnet eine lustvoll vorwärtsstrebende Gebärde, das Sich-strecken auf ein bejahtes Zukünftiges hin, das jenseits des gegenwartsverankerten Zugriffs liegt und dessen Erfüllung ungewiss ist, weder beeinflusst noch berechnet werden kann und doch für real möglich gehalten wird. Hoffnung ist uns getrennt von der Erwartung durch affektiven Gehalt, vom Wunsch durch ein Mindestmaß rationalen Selbstanspruchs, dessen Qualität freilich nach Standpunkt des Betrachters variieren kann, sodass die Hoffnung immer potenziell in Illusion zerfasert.11 „Hoffnung“ ist nicht zu sagen, ohne auch von der jüdisch-christlichen Tradition zu sprechen, die den Bedeutungsgehalt des Begriffes mit ihrer eschato-
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Vgl. Robert Plutchik, Henry Kellerman (Hrsg.): Emotion. Theory, Research, and Experience, Bd. 1. Theories of Emotion, New York u. a. 1980, S.16 und Burkhard Meyer-Sickendiek: Affektpoetik. Eine Kulturgeschichte literarischer Emotionen, Würzburg 2005, S. 254f. Vgl. Josef Pieper: Hoffnung und Geschichte. Fünf Salzburger Vorlesungen, München 1967, S. 20–36, Alois Edmaier Alois: Horizonte der Hoffnung. Eine philosophische Studie, Regensburg 1968, S. 34–110, Karl Woschitz: Elpis – Hoffnung. Geschichte, Philosophie, Exegese, Theologie eines Schlüsselbegriffs, Wien u. a. 1979, S. 1–9. 10
logischen Perspektive geprägt hat: Hoffnung ist ein Schlüsselbegriff der christlichen Ethik, seit Paulus sie wortgewaltig zur Tugend erhöht hat.12 Diese paulinisch-christliche Hoffnung nun wird zwar historisch zunächst mit „ἐλπίς“ und „spes“ begrifflich realisiert, unterscheidet sich inhaltlich aber substantiell davon, was in der griechisch-römischen Antike zuvor mit diesen Vokabeln ausgedrückt worden ist: Die paulinisch-christliche Hoffnung ist weniger ein Zukunftsaffekt, denn eine menschliche Willenshaltung, die bewusste Entscheidung zur totalen, vertrauensvollen Hinwendung an den einen Gott, der zugleich als Inhalt, Ziel und Spender von Hoffnung fungiert.13 Die fast vorbehaltlos positive Konnotation der Hoffnung in christlicher Theologie setzt sich in der modernen Philosophie fort, deren Vertreter einige, zuvorderst Gabriel Marcel, Ernst Bloch und Erich Fromm, versucht haben, der Religion das Monopol auf den Hoffnungsbegriff zu entziehen und die Hoffnung als innerweltliches Potenzial zu entdecken.14 Als geistesgeschichtlich besonders einflussreich hat sich Ernst Blochs monumentale Hoffnungsenzyklopädie „Das Prinzip Hoffnung“ erwiesen: „Wahre Hoffnung“ wird hier charakterisiert als ein aus Mangel geborener Erwartungsaffekt, der dem Menschen das „Noch-Nicht-Gewordene“ schöpferisch entdeckt und ihn so auf das mögliche, bessere Zukünftige hin entwirft.15 Hoffnung ist bei Bloch folglich kein Medium der Transzendenz, sondern der Ermächtigung. Nun ist sowohl der Fortschrittsidealismus, der sich in Blochs Hoffnungskonzept ausdrückt, wie auch die Eschatologie, die das jüdisch-christliche Hoffnungskon12
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Vgl. beispielhaft 1 Kor 13,13; Röm 8,24; Röm 15,13, 1 Thess 4,13. Siehe für eine ausführliche Untersuchung des Hoffnungsbegriffs bei Paulus Woschitz: Elpis, S. 429– 633. Für Paulus’ Erhebung der Hoffnung zur Tugend siehe besonders Josef Pieper: Über die Hoffnung, München 1949. Vgl. außerdem für eine umfassende Studie zur Hoffnung im Tanach und in den sogenannten spätjüdischen Schriften Woschitz: Elpis, S. 219–327. Vgl. Pieper: Über die Hoffnung, S. 38–57, Edmaier: Horizonte, S. 240–245. Vgl. Gabriel Marcel: Homo Viator. Philosophie der Hoffnung, übersetzt von Wolfgang Rüttnauer, Düsseldorf 1949, Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, 3 Bd., Frankfurt a.M. 1954–1959, Erich Fromm: The revolution of hope. Toward a humanized technology, Toronto 1968. Für eine umfassende Untersuchung der Philosophie der Hoffnung siehe Edmaier: Horizonte. Vgl. Bloch: Das Prinzip Hoffnung, S. 10–18, Edmaier: Horizonte, S. 232–239, Pieper: Hoffnung und Geschichte, S. 81–102. 11
zept prägt, der griechischen Welt der Archaik und Klassik fremd. Dieser Befund allein erlaubt die Hypothese, dass die positive Konnotation, die für uns „Hoffnung“ besitzt, nicht ohne Weiteres auch für „ἐλπίς“ im Kontext des archaischen und klassischen griechischen Diskurses angenommen werden kann. Um diese Hypothese freilich überprüfen zu können, ist es zunächst notwendig, den Versuch zu unternehmen, die Denotation von „ἐλπίς“ bzw. „ἐλπίζειν“ philologisch zu bestimmen. Dabei zeigt sich, dass das archaisch-klassische „ἐλπίς“ bzw. „ἐλπίζειν“ zwei Bedeutungen zu besitzt, die im Deutschen begrifflich geschieden werden: Einerseits die Bedeutung eines lustvollen Zukunftsaffekts, der sich in der Übersetzung mit „Hoffnung“ angenähert werden kann, andererseits die Bedeutung eines kognitiven Zukunftsblicks, die sich mit „Erwartung“ oder „Berechnung“ übertragen ließe. Worin die inhaltliche Grundbedeutung von „ἐλπίς“ bzw. „ἐλπίζειν“ besteht, ist offen für Interpretation – Ottmar Lachnit hat 1965 für eine rationale Grundbedeutung argumentiert, eine Gegenposition vertreten überzeugend Michael Theunissen oder, im angelsächsischen Sprachraum, Douglas Cairns.16 Dass Thukydides „ἐλπίς“ bzw. „ἐλπίζειν“ eine affektive, lustvolle, unserer Hoffnung eng verwandte Gebärde bedeutete, darauf lassen die Begründungen der Hoffnungsverdikte in Mytilenedebatte und Melierdialog zweifelsfrei schließen, doch gelegentlich drückt er mit dem Begriff auch die Antizipation einer negativ konnotierten Zukunft17 oder einen Modus affektfreien Planens aus.18 Dieser Umstand, die Ambiguität des archaisch-klassischen ἐλπίς-Begriffs überhaupt, macht es zur Notwendigkeit für jede Untersuchung, die wie die vorliegende Thukydides’ Verhandlung von Hoffnung – dem lustvollen Zukunftsaffekt – gilt, alle Verwendungen von „ἐλπίζειν“ und „ἐλπίς“ im thukydideischen Werk einer Relevanzprobe zu unterziehen: Nur Passagen, in denen das Ziel der Gebärde, die der ἐλπίςBegriff beschreibt, von dem Subjekt, dem sie zugeordnet ist, positiv bewertet und
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Vgl. Ottmar Lachnit: Elpis. Eine Begriffsuntersuchung, Diss. Phil., Tübingen 1965, Michael Theunissen: Pindar. Menschenlos und Wende der Zeit, München 2000, S. 307–395, besonders S. 310–314 und Douglas Cairns: Metaphors for Hope in Archaic and Classical Greek Poetry, in: Ruth R. Caston, Robert A. Kaster (Hrsg.): Hope, Joy and Affection in the Classical World, Oxford 2016, S. 13–44. Vgl. II, 85; IV, 34; IV, 43; IV,71; IV, 55; V, 7; VII, 38; VII, 61; ambivalent ist VI, 87. Siehe I, 1; II, 102; IV, 43 und IV, 71. Vgl. auch Huart: Vocabulaire, S. 141f. 12
als der persönlichen Verfügung grundsätzlich entzogen vermutet wird, können in die Untersuchung mit einbezogen werden.19 Kehren wir von dieser methodischen Überlegung noch einmal zu dem archaischen und klassischen griechischen Hoffnungsdiskurs im Allgemeinen zurück. In der Forschung herrschte lange ein Konsens darüber, dass ἐλπίς im Sinne von Hoffnung in der griechischen Literatur der Archaik und Klassik grundsätzlich negativ konnotiert sei, ja sein müsse in Anbetracht der von Vergangenheitsorientierung und Mahnungen zur Maßhaltung geprägten Kultur.20 Tatsächlich sind die überlieferten Texte der Archaik und Klassik reich an Hoffnungskritik – ἐλπίς wird dort als Antithese der Ratio porträtiert, als Aufwieglerin, als Betrügerin, als blind und leer: „Kein Übel gleicht der Hoffnung, die viele Städte schon entzweit, da sie des Menschen Sinn zum Unmaß treibt“, heißt es bei Euripides,21 „Aber beflügelte Hoffnung (trübt) uns Tageswesen den Verstand“ bei Bakychylides,22 „Auf keines Menschen Weisheit leg’ ich hohen Wert, der sich an leeren Hoffnungen erwärmen kann.“, spricht Aias bei Sophokles23 und auch im hesiodischen Pandoramythos scheint die ἐλπίς im Fass eher Übel als Gut zu sein.24 Doch parallel zu all diesem Hoffnungsskeptizismus erschließt sich in der literarischen Überlieferung auch ein
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In der folgenden Analyse der Passagen, die dem erläuterten Auswahlkriterium entsprechen, werden die Begriffe ἐλπίς und Hoffnung der Einfachheit halber synonym verwendet. Vgl. repräsentativ Andreas Spira: Angst und Hoffnung in der Antike, in: Roland Varwig (Hrsg.): AINITMA, Festschrift Helmut Rahn, Heidelberg 1987, S. 129–181, hier: S. 141: „Ja, man darf sagen, wo immer bei den Griechen ernsthaft, und das heißt ethisch oder politisch, von dem Phänomen menschlicher Hoffnung die Rede ist, wird sie negativ gesehen“. Siehe ähnlich Bernhard Abraham van Groningen: In the Grip of the Past. Essay on an Aspect of Greek Thought, Leiden 1953, S. 110, Hackl: Spes, S. 7 und Meyer-Sickendiek: Affektpoetik, S. 256. Eur. Suppl., 479–485. (Übers. Donner) Bakchyl. epin. 3,74. (Übers. Maehler) Soph. Ai. 477f. (Übers. Willige) Die Diskussion um die Auslegung des Pandoramythos in Hes. Erga 42–105 ist freilich immer noch nicht abgeschlossen. Vgl. für einen Querschnitt durch die Rezeptionsund Interpretationsgeschichte Spira: Angst und Hoffnung, S. 174–181, siehe auch Heinz Neitzel: Pandora und das Fass. Zur Interpretation von Hesiod, Erga 42–105, in: Hermes 104 (1976), S. 387–419. 13
Diskurs, in dem ἐλπίς emphatisch affirmiert wird,25 in dem sie als nährend gilt,26 als Ausdruck für erhebende Transzendenzerfahrungen.27 Es ist der Verdienst Michael Theunissens, ihn der Forschung wieder sichtbar gemacht zu haben – seine Studien zur archaischen Lyrik lesen sich bisweilen wie eine Gegenerzählung zu dem Kanon in der klassischen Philologie, der den pejorativen Klang von ἐλπίς in der Archaik und Klassik betont. Fortgesetzt worden sind Theunissens Bemühungen von Douglas Cairns, der jüngst für den Hoffnungsdiskurs der klassischen Dichtung ähnliches nachgewiesen hat, wie Theunissen für jenen der Archaik: Eine große Ambivalenz, ein Schwanken der Werturteile zwischen Affirmation und Ablehnung.28 Nun ist es nicht das Ziel der vorliegenden Arbeit, den thukydideischen Hoffnungsbegriff ideengeschichtlich zu kontextualisieren, sondern Thukydides’ Verhandlung des Phänomens Hoffnung hermeneutisch zu erschließen, und so sei es bei der Skizze des archaisch-klassischen Hoffnungsdiskurses belassen. Sie schärft das Bewusstsein für unseren, im Begriff der Hoffnung manifestierten hermeneutischen Standpunkt so weit, dass mit der angestrebten Untersuchung des Werkes begonnen werden kann. Im Folgen wird es zunächst gelten, die theoretische Verhandlung von Hoffnung in den Reden der Bücher I und II und die auktorialen Hoffnungsdarstellungen im Tatenbericht der Bücher II bis V einer Analyse zu unterziehen;29 in Anknüpfung
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Vgl. Eur. Herc. 105: „Der aber ist der Beste, der auf Hoffnungen allzeit vertraut: verzagen mag der Schlechte nur.“ (Übers. Donner), vgl. auch Sappho, fr. 63 LP, Pind. Pyth. 8, 88–92a. Vgl. Pind. fr. 214 SM: „Wer recht und heilig das Leben zubringt, süß ihm das Herz ernährend, lang Leben machend, begleitet die Hoffnung, die am meisten Sterblichen die vielgewandte Meinung regieret.“ (Übers. Hölderlin) Vgl. Bakchyl. epin. 1, 163–165: „Doch wer an den Göttern Recht handelt, kann mit gewichtigerer Hoffnung seinem Herzen schmeicheln.“ (Übers. Maehler) Siehe für eine weitere, differenzierte Betrachtung der ἐλπίς in archaischer und klassischer Dichtung Fritz Wehrli: Lathe biosas. Studien zur ältesten Ethik bei den Griechen, Leipzig u. a. 1931. S. 6–10. Vgl. auch die umfassende Untersuchung von Woschitz: Elpis, S. 63–169. Dass erga und logoi im thukydideischen Narrativ sich ergänzen und es für ein umfassendes Verständnis des Werkes einer Betrachtung beider in ihrem Wechselspiel bedarf, ist ein Gemeinplatz, der hier nicht weiter ausgeführt zu werden braucht. 14
an Avery soll darauf die narrative und analytische Funktion des Hoffnungsmotivs in der exkurshaften Schilderung der athenischen Sizilienexpedition in den Büchern VI und VII sowie schließlich in Thukydides’ Darstellung der inneren Verhältnisse Athens in Buch VIII beleuchtet werden. Vorangestellt sei dieser chronologischen Untersuchung gleichsam präludisch eine Analyse von Inhalt und Funktion der Hoffnungsverdikte, die im Melierdialog und in der Mytilenedebatte formuliert werden, besteht ihre fatale Prominenz in der Thukydidesrezeption doch nicht ohne Grund: Die Vehemenz, mit der die athenischen Gesandten in V, 103 und Diodotos in III, 45 Hoffnung zum Übel und das Hoffen zum Laster erklären, scheint wie intendiert, den Leser einzuladen, die Akteursaussagen mit einer auktorialen Wahrheit zu identifizieren. Es wird sich schließlich zeigen, dass diese Einladung, wenn sie denn besteht, eine falsche Fährte von im Effekt dann freilich didaktischem Potenzial ist, und dass Thukydides sich dem Phänomen der Hoffnung grundsätzlich anders nähert als seine Akteure. Lediglich in der zweiten Rede des syrakusischen Strategen Hermokrates, so wird im Résumé vorgeschlagen werden, findet die auktoriale, thukydideische Perspektive auf Hoffnung ein Echo und zugleich eine praktische Umsetzung.
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Zu den Hoffnungsverdikten im Melierdialog und in der Mytilenedebatte Eigentlich wird Hoffnung gleich zu Beginn des Melierdialogs30 als Thema daraus verwiesen, werden doch Zukunftsspekulationen in ihm verboten, und zwar von den athenischen Gesandten, die das Gespräch initiieren. Ihr Ziel ist es, das kleine Melos argumentativ von der Unterwerfung unter Athen zu überzeugen; für den Fall ihres Scheiterns haben sie bereits ein großes Heer vor den Mauern der Stadt zusammengezogen.31 Ihr Angebot eines Dialoges im Wortsinne, einer Unterredung auf Augenhöhe mit offenem Ausgang, muss vor dem Hintergrund dieser militärischen Drohgebärde wie eine Farce anmuten, und eben diesen Umstand adressieren die Melier denn auch, als ihnen die Unterredung angetragen wird: Sie stellen die These auf, dass der Ausgang der Verhandlung von
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Der Melierdialog ist zweifellos ein konzeptioneller und „ideeller Knotenpunkt“ (Deininger, S. 80) des thukydideischen Werkes; seiner Komplexität wird die folgende Betrachtung, die streng auf die Verhandlung des Hoffnungsmotivs in ihm konzentriert sei, unweigerlich nicht gerecht. Für umfassende Untersuchungen seiner Struktur, seiner Stellung im Gesamtwerk und der machtpolitischen Erörterungen, die ihm inhaltlich zentral sind, vgl. Georg Deiniger: Der Melierdialog, Diss. Erlangen 1939, Felix Wassermann: The Melian Dialogue, in: TAphA 78 (1947), S. 18–36, Colin W. Macleod: Form and Meaning in the Melian Dialogue, in: Hist. 23 (1974), S. 385–400, Brian Bosworth: The Humanitarian Aspect of the Melian Dialogue, in: JHS 113 (1993), S. 30–40, Clifford Orwin: The Humanity of Thucydides, Princeton 1994, S. 97–141 und Klaus Meister: Das Recht des Stärkeren bei Thukydides, in: Ernst Baltrusch, Christian Wendt (Hrsg.): Ein Besitz für immer? Geschichte, Polis und Völkerrecht bei Thukydides (Staatsverständnisse Bd. 41), Baden-Baden 2011, S. 229–271. Besonders hervorgehoben sei die sensible und gedankenreiche Interpretation von Stahl: Die Stellung des Menschen, S. 158–171. Vgl. V, 84. 16
den Machtverhältnissen schon vorherbestimmt sei.32 Die athenischen Gesandten nun erwidern darauf ärgerlich mit dem Verbot von Zukunftsspekulationen: „Wenn ihr freilich hier zusammengekommen seid, um Vermutungen über die Zukunft anzustellen oder sonst etwas (εἰ μὲν τοίνυν ὑπονοίας τῶν μελλόντων λογιούμενοι ἢ ἄλλο τι), statt gemäß der gegenwärtigen Lage, wie ihr sie jetzt vor Augen habt, über die Rettung der Stadt zu beraten, so können wir ja gleich wieder aufhören“33
Eigentlich hätte freilich dieser Satz nicht fallen dürfen im Dialog, denn eigentlich haben die Athener das Gesprächsformat seines egalitären Charakters wegen vorgeschlagen, und eben diesen führen sie hier nun – in Erwiderung auf den in außerdialogischen Umständen gründenden Hinweis der Melier über die Künstlichkeit der dialogischen Egalität – innerdialogisch selbst ad absurdum: Indem sie nämlich in einem Ton, der für ihre Darstellung der Dinge objektive Geltung fordert, den so realitätsnahen wie hellsichtigen Einwand ihrer Gesprächspartner zur haltlosen Zukunftsspekulation erklären und auf dem Boden dieser Tatsachen umkehrenden Prämisse Vorbedingungen für die Fortsetzung der Verhandlungen diktieren, etablieren sie ihre Diskursmacht – und zwingen sie ihr Gegenüber in eine Position intellektueller Inferiorität. Die Melier haben kaum eine andere Wahl, als sich in die ihnen zugewiesene Rolle zu fügen, und sie tun dies mit einer Demutsbezeugung, die in Anbetracht ihres späteren Selbstbewusstseins freilich einen ironischen Beiklang hat: „Es ist natürlich und verzeihlich, wenn man in solcher Not zu mancherlei Worten und Gedanken Zuflucht nimmt; diese Versammlung hier gilt aller-
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Vgl. V, 86: „Gegen euren gerechten Vorschlag, einander in aller Ruhe zu überzeugen, haben wir nichts einzuwenden, doch scheinen die kriegerischen Rüstungen […] damit nicht übereinzustimmen. Sehen wir euch doch gekommen, selbst Richter zu sein über alles, was gesprochen werden wird. Und das Ende davon wird schließlich sein: Siegen wir in dem Rechtsstreit und geben daher nicht nach, so droht uns der Krieg, lassen wir uns aber von euch bereden, Knechtschaft.“ V, 87. 17
dings unserer Rettung, und daher entwickle sich die Verhandlung, wenn es euch recht ist, in der Art, wie ihr sie fordert.“34
Die Athener lassen sich besänftigen und so nimmt der Dialog seinen Lauf, die Gesprächspartner verhandeln ihren Interessenskonflikt entlang der Kategorien Recht, Nutzen und Ehre. Es geschieht unter der Überschrift der letzten, dass die Melier plötzlich Hoffnung als Parameter ihrer Handlungsentscheidung in die Diskussion einbringen. Die Athener haben eben argumentiert, dass Melos’ Sinnen auf Widerstand um der Ehre willen in Anbetracht der asymmetrischen Machtverhältnisse unvernünftig sei.35 Zur Antwort erhalten sie nun: „Aber wir wissen, dass im Krieg sich das Glück (τὰς τύχας) oft gleichmäßiger verteilt, als es dem Kräfteunterschied der beiden Gegner entspräche. Für uns bedeutet Zurückweichen sofortige Hoffnungslosigkeit (εὐθὺς ἀνέλπιστον), handeln wir aber zuerst, besteht noch Hoffnung, uns aufrechtzuerhalten (μετὰ δὲ τοῦ δρωμένου ἔτι καὶ στῆναι ἐλπὶς ὀρθῶς.).“36
Der ἐλπίς-Begriff begegnet hier zunächst in der Verneinung zur Hoffnungslosigkeit als negativ konnotierte Zustandsbeschreibung, als Resultat und Höhepunkt von Passivität zugleich, als Synonym für Selbstaufgabe. ἐλπίς gewinnt darob einen Eigenwert, den es nach Ansicht der Melier durch den Widerstand gegen Athen zu schützen gilt.37 Der Hoffnung Gestalt in dieser Schlussfolgerung schillert indes so sehr, dass sie kaum analytisch in den Blick zu nehmen ist: Sie scheint gleichermaßen der Nahrung durch den Entschluss zur Gegenwehr zu bedürfen, folglich nicht Handlungsmotivator, sondern Ertrag zu sein, und doch schließlich selbst als ein Motor des Unternehmens zu wirken. Ihr erster Ursprung ist unbekannt, verborgen bleibt die Natur ihrer Beziehung zur τύχη im ersten Satz der melischen Rede. Die Athener zeigen keine Neugier, dem melischen Hoffnungsbegriff auf den Grund zu gehen: In ihrer Antwort greifen sie den vorgelegten ἐλπίς-Begriff zwar
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V, 88. Vgl. dagegen Deininger: Der Melierdialog, S. 10, der die Melier hier „eingeschüchtert […] um Entschuldigung bitten“ glaubt. Vgl. V, 101. V, 102. Vgl. auch Gervasi: The Concept of Hope, S. 98. 18
auf, entkleiden ihn aber all der Komplexität und Ambivalenz, den er in melischem Mund erhielt: „Hoffnung, ein Trostmittel in der Gefahr (ἐλπὶς δὲ κινδύνῳ παραμύθιον οὖσα), wird den Starken, wenn er sich an sie klammert, vielleicht schädigen, aber nicht vernichten. Wer aber alles, was er besitzt, aufs Spiel setzt – denn ihrem Wesen nach ist sie verschwenderisch – erkennt sie erst nach seinem Sturz; da aber lässt sie ihm nichts mehr übrig, womit er sich nach seiner Erkenntnis gegen sie schützen (φυλάξεταί τις αὐτὴν γνωρισθεῖσαν) könnte. Trachtet doch, dass es euch nicht so ergeht, da ihr schwach seid und für euren Untergang ein einziger Ausschlag des Waagebalkens genügt, und handelt nicht wie die vielen, die zwar (zuerst) die Möglichkeit hatten, sich noch mit Menschenkraft zu retten, aber dann, wenn in Not und Bedrängnis alle sichtbaren Hoffnungen (αἱ φανεραὶ ἐλπίδες) geschwunden sind, auf die unsichtbaren (τὰς ἀφανεῖς) vertrauen: Weissagung, Göttersprüche und dergleichen mehr, was im Gefolge der Hoffnungen ins Verderben führt (μαντικήν τε καὶ χρησμοὺς καὶ ὅσα τοιαῦτα μετ᾽ ἐλπίδων λυμαίνεται).“38
Es ist einleitend darauf hingewiesen worden, dass eben diese Passage in der Forschung höchste Autorität genießt, wenn es gilt, den thukydideischen Hoffnungsbegriff zu bestimmen, und tatsächlich lädt der rhetorische Prunk der Worte dazu ein, an ihre Bedeutsamkeit glauben. Die ersten Sätze der athenischen Rede sind von geradezu dramatischer Wucht; sie entfalten vor dem Zuhörer ein tragisches Schauspiel, in dem die personifizierte ἐλπίς zugleich als unheilbringende Verführerin und als betäubendes Laudanum39 besetzt ist. In der ersten Rolle präsentiert sie sich verkleidet als schöne Wegweiserin, die den hilfesuchenden Menschen tief ins Verderben lockt und ihn sich dabei so hörig macht, dass er, wenn er den Trug schließlich erkennt, nicht mehr vor ihr lassen kann, in der zweiten Funktion wirkt sie als vernunftvernebelnde Droge. Die Metaphern vereinigen sich zu einem Reigen negativer Assoziationen, in deren Widerschein wir ἐλπίς als Plage erblicken, als natürliche Feindin der Ratio. Im 38 39
V, 103. Vgl. Schlosser: Thucydides, Hope, Politics, S. 169 für die Ambiguität der Vokabel „παραμύθιον“ in diesem Kontext. 19
Fortlauf der Rede, wenn die Athener von der abstrakten Szenerie zum konkreten Rat an die Melier übergehen, erfährt das dämonische Hoffnungsporträt indes eine in der Forschung oft übersehene Modifikation, wird doch plötzlich zwischen zwei wesensverschiedenen Hoffnungen differenziert: Den „sichtbaren (φανεραὶ)“ und den „unsichtbaren (ἀφανεῖς)“. Während Gestalt und Substanz der ersteren nicht näher erläutert sind, werden letztere über eine Bindung an die metaphysische Sphäre charakterisiert und, insofern diese ganz als Bereich naiver Religiosität beschrieben ist, abgewertet. Nun impliziert der Akt der Klassifizierung von Hoffnungstypen entlang ihrer rationalen Dichte unweigerlich, dass ἐλπίς in bestimmter Manifestation für die Athener Legitimität haben kann – eine Schlussfolgerung, die im Widerspruch zur generalisierenden Verdammung der Hoffnung am Beginn der Rede steht. Entweder also müssen wir deren erste Sätze von dem ihnen oft unterstellten Anspruch der Allgemeingültigkeit befreien – oder aber annehmen, dass Thukydides die Athener einer logischen Inkonsistenz entlarven will. Ein Blick zurück in den Verlauf der athenischen Argumentation enthüllt eine weitere Unstimmigkeit in V, 103,2, ob der die zweite Interpretation an Wahrscheinlichkeit gewinnt: Die der Hierarchisierung von Hoffnungstypen immanente athenische Selbstzuschreibung, über die Verlässlichkeit einer Hoffnung, also gleichsam über die Belastbarkeit einer Zukunftseinschätzung richten zu können, steht nämlich in Spannung zu ihrem zitierten Verbot jeder Antizipation der Zukunft am Beginn des Dialogs40– und zeigt sie nebenbei in dramatischer Selbstüberschätzung gefangen. So scheinen also die griffigen Reflexionen über ἐλπίς in V, 103 weniger dazu komponiert, das Wesen der Hoffnung zu enthüllen, als vielmehr das Wesen der Athener.41 Es ist bezeichnend, dass die Melier in ihrer Antwort nicht ausdrücklich auf die athenischen Ausführungen eingehen, sondern – wie auch sonst ohne den gewichtig philosophisch-anthropologischen Ton ihrer Vorredner fortzuführen – unverdrossen das Fundament ihrer konkreten Hoffnung auf Erfolg im Kampf gegen die athenische Übermacht erörtern: Sie erklären, fest auf göttliche Gerechtigkeit und spartanische Hilfeleistungen zu vertrauen.42 Die Reihenfolge, in der sie die 40 41 42
Vgl. V, 87. Vgl. dagegen etwa Deiniger: Der Melierdialog, S. 31. V, 104: „Schwer freilich scheint es auch uns, wisst es wohl, gegen eure Übermacht und das Schicksal, wenn es nicht gleich zu gleich steht, den Kampf aufzunehmen. Den20
Säulen ihrer Hoffnung aufzählen, liest sich wie ein still ironischer Kommentar auf das athenische Konzept von Hoffnungstypen, verdreht sie doch ganz die diesem zentrale Hierarchie: Zuerst und ohne Vorbehalt bekennen die Melier sich zu eben jenen theologisch begründeten „ἀφανεῖς ἐλπίδες“, die von den Athenern delegitimiert worden sind, dann erst führen sie ihre empirisch begründete Hoffnung auf die Unterstützung der Lakedaimonier an. Die Tragfähigkeit beider melischer Hoffnungskatalysatoren wird sofort zum Gegenstand weiterer Diskussion – bis die Athener, halb erbost, halb resigniert, das gesamte Gespräch mit einem vernichtenden Urteil beenden: „Wir müssen uns aber sagen, dass ihr trotz eurer Ankündigung, ihr wolltet nur über eure Rettung beraten, überhaupt nichts in der bisherigen Unterredung vorgebracht habt, worauf Menschen ihr Vertrauen auf Rettung gründen könnten; eure stärksten Stützen sind die Hoffnungen auf die Zukunft (ἀλλ᾽ ὑμῶν τὰ μὲν ἰσχυρότατα ἐλπιζόμενα μέλλεται), eure derzeitigen Anstalten aber sind zu schwach, um gegen den bereits vorhandenen Gegner zu Erfolg zu führen.“43
Noch einmal dringen sie auf die Melier ein, sich kampflos Athen zu unterwerfen, und nicht im sinnlosen Widerstandsversuch den eigenen Untergang zu besiegeln, noch einmal vermögen ihre Mahnungen nicht zu fruchten: Unbeirrt bekräftigen die Melier ihren Entschluss, den eingeforderten Gehorsam zu verweigern.44 Die Athener brechen daraufhin die Verhandlungen ab – nicht, ohne die Tür rhetorisch mit einem so fürchterlichen Scheppern zuzustoßen, dass Meliern wie Lesern für einen Moment der Atem stocken muss:
43 44
noch vertrauen wir, dass wir vom Schicksal um der Gottheit willen nicht verlassen werden, weil wir gottesfürchtig ungerechten Angreifern entgegentreten und unserem Mangel an Macht das Bündnis mit den Lakedaimoniern abhelfen wird, die, wenn schon aus keinem anderen Grund, uns wegen der Stammesverwandtschaft und um ihrer Ehre willen zu Hilfe kommen müssen; und nicht ganz unvernünftig ist somit unser Selbstvertrauen.“ V, 111,2. Vgl. V, 112. 21
„Ihr seid also wirklich die Einzigen (μόνοι), so scheint es uns nach diesen Entschlüssen, die in der Zukunft mehr Sicherheit erkennen als in dem, was vor Augen liegt, und die das Verhüllte, allein weil sie es wünschen, als wirklich betrachten (τὰ μὲν μέλλοντα τῶν ὁρωμένων σαφέστερα κρίνετε, τὰ δὲ ἀφανῆ τῷ βούλεσθαι ὡς γιγνόμενα ἤδη θεᾶσθε); und da ihr in blindem Vertrauen auf Lakedaimonier und Schicksal und Hoffnungen (καὶ Λακεδαιμονίοις καὶ τύχῃ καὶ ἐλπίσι) alles auf eine Karte gesetzt habt, werdet ihr auch alles verlieren.“45
Zitternd vor Pathos bleiben die Worte in der Luft hängen, die ganze Dramatik des Dialogs scheint in ihnen zu kulminieren. ἐλπίς zeigt sich in ihnen eingebunden in eine Reihung, „καὶ“ verknüpft sie linear mit τύχη und den Λακεδαιμονίοι. Die Dreiheit ist aus der Rede der Melier in V, 104 und der anschließenden Diskussion bekannt, dort aber schien sie hierarchisch strukturiert: τύχη und Λακεδαιμονίοι waren als Parameter der ἐλπίς festgelegt, zu ihr folglich in ein Abhängigkeitsverhältnis gesetzt, das sich auch im Aufbau des Dialogs spiegelte, überwölbte doch die philosophische Reflexion über das Wesen der Hoffnung im Allgemeinen die Verhandlung der ihr situativ gesetzten Variablen Schicksal und Sparta. Im soeben zitierten, letzten Satz der Athener nun ist diese Wechselbeziehung grammatisch und logisch verschwunden, ἐλπίς mithin zu einem widerlegten Faktor degradiert, und – auf eine Ebene mit der ihr unmittelbar vorangehenden τύχη gehoben – endgültig in die Sphäre des Irrationalen verrückt. Sie steht im Kontext einer Verdammung von illusionärem Handeln, die Vokabeln „βούλεσθαι“ und – ein Echo von V, 103,2 – „ἀφανής“, beide pejorativ als Gegenbegriffe zu Empirie und Vernunft gesetzt, werfen ihren Widerschein auf sie. Verschwunden sind die Nuancen des Hoffnungsbildes von V, 103 – der generalisierende Ton von V, 113 negiert jede Möglichkeit einer legitimen, tatsachenbewussten ἐλπίς: Die historische, aus athenischer Perspektive hochgradig illusionäre melische Hoffnung erscheint pars-pro-toto gesetzt. In Anbetracht unserer Fragestellung muss uns interessieren, ob diese synekdochische Tendenz in der athenischen Aussage durch das thukydideische Narrativ approbiert wir. Die Tatsache, dass Melos, ganz wie von den Athenern prophezeit, tatsächlich bald am hoffnungsmotorisierten Widerstand scheitert, lässt sich leichthin als positive Antwort auf diese Frage interpretieren, 45
V, 113. 22
bestätigt sich so doch scheinbar die athenische Einschätzung der melischen ἐλπίς und damit die Autorität der athenischen Ausführungen allgemein. Thukydides nutzt das historische Faktum jedoch nicht für einen entlarvenden Kommentar auf die melische Hoffnungshaltung – er marginalisiert den Untergang der Stadt in seinem Narrativ beinahe, und weckt mehr an der athenischen, denn an der melischen Lageanalyse Zweifel: Der lakonisch kurze Tatenbericht über die Belagerung der Widerständischen, der dem Dialog folgt, besteht im Wesentlichen aus der Beschreibung zweier erfolgreicher melischer Ausfälle, die Athen schließlich zur Entsendung eines weiteren Heeres nötigen46 – Ereignisse, die entweder Zweifel an der im Dialog von den Athenern behaupteten totalen Aussichtlosigkeit des melischen Widerstands wecken47 oder als auffällige Glücksbegünstigung der Melier interpretiert werden müssen, im letzteren Fall also: als partieller Erweis der Tragfähigkeit ausgerechnet der, nach athenischer Klassifizierung, „unsichtbaren“ melischen Hoffnung.48 Die Hoffnung auf lakedaimonische Unterstützung erfüllt sich den Meliern demgegenüber nicht, es ist dies allerdings kein Umstand, den Thukydides betont: Im Ereignisbericht nach dem Dialog schweigt er sich so vollkommen über Sparta aus, dass sich fast die Frage erheben muss, ob die Melier es überhaupt noch um Hilfe ersucht haben. Die befremdliche Stille hält gleichsam nachträglich dazu an, der Plausibilität der im Dialog von den Meliern artikulierten Hoffnung auf die Spartaner noch einmal besonderer Betrachtung zu unterziehen. Es zeigt sich dabei rasch, dass die melische Argumentation bei Weitem nicht so träumerisch ist, wie es die Athener glauben machen wollen – sie ruht, wie V, 110 deutlich wird, auf einer kenntnisreichen Analyse der politischen Verhältnisse in Hellas, die zum Teil sogar gegen die Darstellung der Athener Bestätigung im vorangegangenen Narrativ findet. So behaupten diese in V, 109 selbstbewusst, ein spartanisches Hilfskontingent könne Melos ob der athenischen Seebeherrschung gar nicht erreichen; die Melier halten dagegen, dass das Meer sich in seiner Weite der lückenlosen Kontrolle entzöge – und finden Bestätigung ausgerechnet im Ereigniskomplex um Mytilene, wo gleich zweimal feindliche Trieren die athenische Flotte narren49 und ein lakedaimonisches Geschwader zur Rettung der belager46 47 48 49
Vgl. V, 115,4 und 116,2. So Schlosser: Thucydides, Hope, Politics, S. 174. Vgl. Orwin: Humanity, S. 110f. Vgl. III, 4,5f. sowie 5,4. 23
ten Stadt herannahen kann, ohne bemerkt zu werden,50 eine Flotte wohlgemerkt, mit deren Entsendung die Spartaner der mytilenischen Bitte folgten, sie möchten doch „die Hoffnungen, die die Hellenen auf euch setzen“51 nicht enttäuschen. Dass Mytilene am Ende trotzdem fällt, beeinträchtigt die Qualität des melischen Arguments nicht grundsätzlich, der Realitätsferne werden eher die Athener entlarvt – durch ihr Seeherrschaftspostulat in V, 109, vor allem aber durch ihre zunehmend offenbare Unfähigkeit, ihren Gesprächspartner als das zu erkennen, was er ist: Ein ihnen intellektuell ebenbürtiges Gegenüber. Stattdessen stilisieren sie sich die Melier, von V, 87 an, zur Antithese des Ideals, das sie sich im künstlichen Dualismus glauben machen, selbst zu erfüllen, zum Inbegriff von Einfalt, Unvernunft und Hoffnungsverblendung. Sie sind laut und überzeugend dabei, doch dem aufmerksamen Leser enthüllt Thukydides die Wirklichkeitsverzerrung in ihren Wortbeiträgen – und straft alle Interpreten ab, die „Äußerungen des philosophierenden Historikers“52 in ihnen hören wollen. Die athenischen Reden sind nicht komponiert, um eine auktoriale Wahrheit zu vermitteln – über die Melier schon gar nicht, auch nicht über ἐλπίς – sondern um ihre Sprecher zu charakterisieren. Auch in der Mytilenedebatte53 lässt Thukydides Athener normativ über ἐλπίς sprechen, auch hier bieten vermeintlich hoffnungsverführte, widerspenstige Untergebene den Anlass: Verhandelt wird in ihr über das Schicksal der lesbischen Stadt Mytilene, die ein Jahr zuvor von Athen abgefallen ist und nun endlich erobert werden konnte. Voll Zorn über den Ungehorsam des Bündners hat die athenische Volksversammlung beschlossen, die gesamte männliche Stadtbevölkerung hinzurichten und Frauen und Kinder zu versklaven, doch kaum ist die Triere mit 50
51 52 53
Vgl. dazu Hans Kopp: Das Meer als Versprechen. Bedeutung und Funktion von Seeherrschaft bei Thukydides (Thoukydideia Bd. 1), Göttingen 2017, S. 185f. und Simon Hornblower: A commentary on Thucydides, Oxford 1991–2008, Bd. 3, S. 246. Siehe bei Kopp auch S. 153–155. Vgl. III, 14,1. Vgl. Deininger: Der Melierdialog, S. 31. Vgl. für verschiedene Gesamtuntersuchungen der Debatte Felix Wassermann: Post-Periclean Democracy in Action: The Mytilenean Debate, TAPA 87 (1956), S. 27– 4, Donald Kagan: The Speeches of Thucydides and the Mytilene Debate, in: YCS 24 (1975), S. 71–94, Orwin: Humanity, S. 142–171 und Bernd Manuwald: Diodotus Deceit (On Thucydides 3. 42–8), in: Jeffrey S. Rusten (Hrsg.): Thucydides, Oxford 2009, S. 241–260. 24
dem grausamen Urteil abgegangen, beschleicht die Athener schon Reue über die eigene Härte und sie treten ein zweites Mal zusammen, die Sache zu verhandeln.54 Thukydides präsentiert die Debatte als ein Rededuell zwischen den Antagonisten Kleon und Diodotos, die entlang ihrer Plädoyers für und gegen eine Beibehaltung des ersten Strafbefehls das Verhältnis von Recht, Macht und Nutzen einer grundsätzlichen Betrachtung unterziehen. Kleon, „der gewalttätigste aller Bürger“, verteidigt den getroffenen Volksbeschluss als vollkommen gerecht: Die Mytilener hätten sich grundlos und vorsätzlich gegen die Athener erhoben und sich damit ins Unrecht gesetzt, eine harte Bestrafung sei geboten. Auf ἐλπίς bringt er die Sprache, als er das Argument des Vorsatzes zu belegen sucht: „Kein warnendes Beispiel war ihnen das Geschick der anderen, die schon früher abfielen und unterworfen wurden, und in all ihrem Glück trugen sie keine Bedenken in ihr eigenes Unheil zu rennen. Voll kühnem Vertrauen auf die Zukunft und voll Hoffnung, die weit über ihre Kräfte ging, aber noch immer hinter ihren Wünschen zurückblieb, begannen sie Krieg, da sie einmal entschlossen waren, Gewalt vor Recht zu setzen (γενόμενοι δὲ πρὸς τὸ μέλλον θρασεῖς καὶ ἐλπίσαντες μακρότερα μὲν τῆς δυνάμεως, ἐλάσσω δὲ τῆς βουλήσεως, πόλεμον ἤραντο, ἰσχὺν ἀξιώσαντες τοῦ δικαίου προθεῖναι).“55
Es ist kein positives Bild von Hoffnung, das dieser Darstellung innewohnt: Kleon zufolge war ἐλπίς den Mytilenern zentraler Handlungsmotivator im Moment des Abfalls, Anstifterin zur Straftat also, Urheberin des ganzen Übels, über das nun verhandelt werden muss. Er zeigt sie ganz als Affekt, als gleichgültig gegenüber empirischen Tatsachen, gegenüber Erfahrung und Berechnung; allein den Wunsch lässt er sie noch an Irrationalität übertreffen, impliziert also, dass ihr ein letzter Rest von Realitätsverhaftung innewohnt – über den er freilich nicht die Gefährlichkeit relativiert, die er ihr unterstellt. Der negative Hoffnungsbegriff wird schon bald ein zweites Mal wichtiger Bestandteil von Kleons Beweisführung: So argumentiert er, als er im Weiteren einen Erweis für die politische Notwendigkeit des von ihm verfochtenen Hinrichtungsbefehls zu erbringen sucht, eine mil54 55
Vgl. III, 36. III, 39,3. 25
de Strafe an Mytilene würde Samen gefährlicher Hoffnung in Hellas ausstreuen – und Athen gleichsam zum Gärtner des eigenen Verderbens: „wer, glaubt ihr, wird nicht unter dem nichtigsten Vorwand abfallen, wenn auf Erfolg Freiheit steht, auf Misserfolg aber keine unheilbare Strafe? Wir müssen dann gegen jede einzelne Stadt Macht und Leben aufs Spiel setzen […]. Wir dürfen also in ihnen [den Bundesgenossen] keine Hoffnung wecken (οὔκουν δεῖ προθεῖναι ἐλπίδα), weder eine, die auf Überredungskraft vertraut, noch eine, die für Geld käuflich ist, sie könnten für ein menschliches Verschulden Gnade erhalten.“56
Kleon betrachtet ἐλπίς hier ganz aus der Perspektive des Machthabers in einem hegemonialen System, eine Perspektive, aus der er sie nur als Unruhestifterin wahrzunehmen vermag. Folgerichtig empfiehlt er, sie mit der Wurzel auszumerzen – und zwar durch eine Politik größtmöglicher Konsequenz, von der er glaubt, dass sie ob ihrer Berechenbarkeit Hoffnungskeime sofort erstickt. Dieser Schluss erlaubt ihm endlich, die beispielhafte und kompromisslose Bestrafung Mytilenes für notwendig zu erklären – widerspricht aber den Thesen zur Hoffnung aus III, 39,3, wo die Gefährlichkeit der ἐλπίς eben mit ihrer affektiven Gleichgültigkeit gegenüber vernünftiger Wahrscheinlichkeitsberechnung begründet worden war: Einmal von Hoffnung gepackt, so sprach Kleon dort, seien die Mytilener blind für das „warnende Beispiel“ jener gewesen, „die schon früher abfielen und unterworfen wurden“.57 Logisch lässt sich die Widersprüchlichkeit nicht auflösen, wohl aber erklären, wenn Kleons Rede – und die Reflexion über ἐλπίς in ihr – weniger als philosophische Erörterung mit Anspruch auf Allgemeingültigkeit, denn als situationsbezogene Politikanalyse gelesen wird. Diodotos greift die Unstimmigkeit in Kleons Rede stillschweigend auf, vertieft er doch die in III, 39,3 implizierte These von der Blendkraft der Hoffnung, um die Argumentation von III, 40,1, Mytilenes exemplarische Bestrafung sei notwendig, zu widerlegen. Seine Ausführungen sind in einen gewichtigen anthropologischen Ton gefasst, der sie über die Situationsanalyse des Vorredners erhebt und der in
56 57
III, 39,7–40,1. Vgl. entsprechend auch Stahl: Die Stellung des Menschen, S. 121. 26
der Forschung immer wieder zu der Überzeugung geführt hat, in ihnen seien thukydideische Grundüberzeugungen ausgedrückt.58 Diodotos spricht: „In den Städten steht die Todesstrafe auf viele Vergehen, die nicht gleich schwer sind wie dieses, sondern geringer: Und dennoch setzen sie sich, emporgehoben (τῇ ἐλπίδι ἐπαιρόμενοι) von der Hoffnung, der Gefahr aus, und noch nie hat jemand einen gefährlichen Anschlag unternommen, obwohl er sicher wusste, er werde mit seinem Plan kein Glück haben.“59
Kleons Beobachtung von III, 39,3 ist hier zur Theorie erhöht, und Hoffnung, wiederum funktional als perfekte Verführung des Menschen zu unbelehrbarem Wagemut begriffen, zur anthropologischen Konstante erklärt. Als beugte er sich ihrer Unausweichlichkeit, spricht Diodotos zunächst kein Werturteil über sie, doch als er in III, 45,5, auf dem Höhepunkt seiner Ausführungen über die Unzähmbarkeit menschlicher Natur durch das Recht, zur Betrachtung der ἐλπίς zurückkehrt, sind seine Worte schärfer: „Immer wieder aber stiften Hoffnung und Begierde (ἥ τε ἐλπὶς καὶ ὁ ἔρως) den größten Schaden, diese führend, jene folgend: diese klügelt den Anschlag aus, jene stellt das Wunschbild glücklichen Gelingens bei (ἡ δὲ τὴν εὐπορίαν τῆς τύχης ὑποτιθεῖσα) – und obwohl unsichtbar sind sie doch stärker als alle augenfälligen Gefahren (καὶ ὄντα ἀφανῆ κρείσσω ἐστὶ τῶν ὁρωμένων δεινῶν).“
Eine Dramenbühne en miniature schafft die Rhetorik hier, auf der ἐλπίς – endgültig personifiziert, ja, durch ihre Paarung mit dem maskulinen ἔρως zu weiblicher Körperlichkeit modelliert – als unglückbringende Verführerin entgegentritt, diskreditiert schon durch den Dunstkreis von Verbrechen, Irregularität und Leidenschaft, der sie umgibt, vor allem aber durch ihre Betitelung als Gefahr.60 Indes, anders als aus Kleons Rede oder aus dem Melierdialog bekannt tritt Hoffnung nicht 58
59 60
Vgl. so etwa Wassermann: Post Periclean Democracy, S. 34, Gervasi: Concept of Hope, S. 80, Stahl: Die Stellung des Menschen, S. 122, S. 124. III, 45,1. Vgl. auch Gervasi: The Concept of Hope, S. 79. 27
alleine als Anstifterin zum Leichtsinn auf, sie teilt sich die Rolle mit der Begierde, mehr noch: Sie ist dieser untergeordnet. Diodotos lässt an den Abhängigkeitsverhältnissen keinen Zweifel – ἔρως führt in der Intrige, ἐλπίς folgt ihm und wird gleichsam partiell von der Verantwortlichkeit für den Ereignisverlauf entlastet. Die Worte „stärker als alle augenfälligen Gefahren“ verlieren in diesem Kontext zwar etwas an Heftigkeit, dürfen sie doch nicht mehr als grundsätzliches Verdikt über die Hoffnung gedeutet werden: vielmehr erschließen sie sich als Urteil über das Duett von ἐλπίς und ἔρως. Innerhalb dieses Singspiels aber ist die Hoffnung negativ konnotiert, schließlich sorgt sie dafür, dass der Mensch seine besonnene Skepsis gegenüber der sirenenhaften Melodie, die ἔρως angeschlagen hat, verliert. Diodotos zeigt seinen Zuhörern die Verführerin ἐλπίς am Werk, zeigt, wie sie mit einem falschen Versprechen von Sicherheit, mit dem „Wunschbild glücklichen Gelingens“, von der misstrauischen Vernunft, Wächterin der Affekte, Approbation für von ἔρως geborene Pläne erschmeichelt, den Menschen also gleichsam über seine eigene Affektivität hinwegtäuscht, ihn der Selbstreflexionsfähigkeit beraubt. Ob Hoffnung nun selbst ein Affekt in Verkleidung ist oder eine auf Abwege geratene Vermittlerin zwischen Affekt und Ratio, darüber schweigt Diodotos sich aus: Sein Interesse gilt ihr nur in den Momenten ihrer Vereinigung mit ἔρως, und nur in dieser Vereinigung auch spricht er ihr ausdrücklich toxische Wirkung zu. III, 45,5 lässt sich folglich nur um den Preis erheblicher Komplexitätsreduktion als apodiktische Verwerfung der ἐλπίς interpretieren. Im Hinblick auf die Hoffnung ist nur eines in der Rede allgemeingültig gesetzt: Diodotos lässt keinen Zweifel an der anthropologischen Größe der ἐλπίς. Kleons Vorschlag, sie gleichsam präemptiv auszumerzen, gewinnt vor dem Hintergrund dieser These den Anschein von Lächerlichkeit. Als Diodotos selbst von seinen philosophischen Erörterungen zur Situationsanalyse übergeht, plädiert er denn auch für eine Politik, die Hoffnung nicht bekämpft, sondern für sich nutzbar macht: „Wir dürfen also nicht allzu viel Vertrauen in die Wirksamkeit der Todesstrafe setzen und einen nachteiligen Beschluss fassen, auch nicht den Abtrünnigen alle Hoffnung nehmen (οὔτε ἀνέλπιστον καταστῆσαι τοῖς ἀποστᾶσιν), als ob es unmöglich sei, zu bereuen und eiligst den Fehler wiedergutzumachen. Denn überlegt, jetzt würde seine abtrünnige Stadt, wenn sie die Ausweglosigkeit ihrer Lage erkennt, sich zu einem Vergleich entschließen und wäre dabei immer noch imstande, die Kriegskosten zu 28
zahlen und auch in Zukunft Steuern zu entrichten; im andren Fall aber – welche Stadt, meint ihr, wird sich nicht noch besser rüsten als jetzt und sich durch eine Belagerung aufs äußerste foltern lassen, wenn späte oder rasche Übergabe zum gleichen Ende führen?“ 61
Athen wird, so Diodotos also, zwar nie die unruhestiftenden, überschießenden Hoffnungen der Bundesgenossen unterbinden können, wohl aber vermögen, sie zu lenken: Im von ihm entworfenen Herrschaftsmodell hat sich die Stadt gleichsam selbst als letzter Verwalter der ἐλπίς eingesetzt und ist darob in der Lage, nicht nur den Schaden zu kontrollieren, den diese anrichtet, sondern auch, die eigene Machtposition auszubauen. Diese praktische Politikempfehlung ist konsistent mit den anthropologischen Betrachtungen aus III, 45 – anders als Kleon macht Diodotos sich innerhalb seiner Rede also nicht des Selbstwiderspruchs schuldig. Doch von außerhalb untergräbt Thukydides beider Redner Hoffnungsreflexionen gleichermaßen, indem er ihnen den empirischen Beweis entzieht: Mytilenes Abfall, Anlass und Beispielmaterial beider Reden, wird im Narrativ, das der Debatte vorangeht, gerade nicht als Kind von impulsiver Hoffnung gezeichnet, sondern als Ergebnis von sorgfältiger Planung und äußeren Zwängen gleichermaßen.62 Ausdrücklich heißt es, der Aufstand sei „gezwungen eher als beabsichtigt“63 gewesen – zwar hätten die Mytilener sich schon länger mit dem Gedanken getragen, von Athen abzufallen, aber sie hätten „warten wollen bis zur Vollendung der Hafenbefestigung, der Mauern und Schiffe, und bis all das aus dem Schwarzen Meer eingetroffen sei, worum sie gebeten hatten, Bogenschützen und Getreide.“64 Gewissenhaft und bedacht erscheinen die Mytilener ob solch vorsorglicher Planung, keinesfalls geblendet von wilder Hoffnung. Zum übereilten Handeln drängt sie denn auch nicht die Leidenschaft, sondern Verrat: Bei Athen denunziert und vor das Ultimatum gestellt, alle Schiffe auszuliefern und die Mauern zu schleifen, sieht sich die Stadt – ein zweites Mal wird die Unfreiwilligkeit betont – „plötz-
61 62 63 64
III, 46,1f. Vgl. ähnlich Gervasi: Concept of Hope, S. 80, S. 89. III, 2,1. III, 2,2. 29
lich zum Krieg gezwungen“.65 Auch in der militärischen Konfrontation zeigen sich die Mytilener mehr zaghaft denn hoffnungsfroh, treten gar verfrüht den Rückzug aus der Schlacht an, weil sie „nicht genug Vertrauen in sich hatten“66, und berauben sich damit – so legt es die parallele Darstellung athenischer Schwäche und Unsicherheit nahe67 – einer realistischen Siegeschance, mehr noch, sie besiegeln ihre eigene Niederlage: Ob der Zögerlichkeit der Feinde gewinnen die Athener nämlich „neuen Mut“ und vermögen auch die Verbündeten zur Unterstützung zu verpflichten, die „viel schneller zu Stelle waren, da sie kein Zeichen der Stärke bei den Lesbiern sahen“.68 So ist es am Ende der Mangel und nicht das Übermaß an Hoffnung, der den Mytilenern zum Verhängnis wird. Der Leser muss denn in der Mytilenedebatte ein Motiv aus dem Melierdialog bzw. im Melierdialog ein Motiv aus der Mytilenedebatte wiederholt sehen: Athener, die sich unter Verkennung der Tatsachen herablassend über vermeintlich verblendete Dritte erheben. Die Entlarvung des Hochmuts folgt jeweils auf dem Fuße: Der Mytilenedebatte setzt eine ironische Pointe, dass im Narrativ zum Hergang des Abfalls einzig Athen als hoffnungsgenarrter Akteur gezeichnet wird69 und hinter dem Melierdialog reißt unmittelbar der Vorhang zur Sizilienexpedition auf.
65 66 67
68 69
III, 4,2. III, 5,2. Vgl. III, 3,1: „Die Athener aber, erschöpft von der Seuche und dem Krieg, der eben erst zum Ausbruch und voller Entfaltung gekommen war, hielten es für äußerst gefährlich, auch noch Lesbos zum Freund zu haben, da es über eine Flotte und unverbrauchte Kräfte verfügte“; vgl. auch die Einschätzung der athenischen Strategen in III, 4,3. III, 6,1. Vgl. auch Stahl: Die Stellung des Menschen, S. 105. Vgl. III, 3,1f., besonders 3,2: „ἐλπίδα εἶναι“ 30
Hoffnung als Erklärung Athens in den Reden der Bücher I und II Es ist 432, das Jahr vor Ausbruch des großen Krieges. In Sparta haben sich die peloponnesischen Verbündeten versammelt, um ihren Hegemon aufzufordern, energischer gegen Athens wachsende Macht vorzugehen – sie werden mit ihrem Drängen Erfolg haben. Thukydides nutzt den Anlass der Konferenz, um das rhetorische Vorspiel des Krieges zu inszenieren: Nacheinander gibt er jeweils eine Rede der Bundesgenossen, einer athenischen Gesandtschaft, einer kriegsdurstigen und einer zur Besonnenheit mahnenden Partei in Sparta wieder. Stellvertretend für die Bundesgenossen lässt er die Korinther auftreten, denen er zuschreibt, als Initiatoren und Regisseure der Bundesversammlung sich eifrig bemüht zu haben, den eigenen Redebeitrag zum Höhepunkt der Gesamtinszenierung zu stilisieren.70 Freilich ergreifen die korinthischen Gesandten in seiner Darstellung das Wort in so scharfem Ton, dass es ihres dramaturgischen Aufwandes möglicherweise gar nicht bedurft hätte: Heftig und ohne alle Präliminarien klagen sie die Lakedaimonier an, ganz Hellas der Versklavung durch Athen anheimgestellt, ja, mit pflichtvergessener Passivität die Wucherung athenischer Machtexpansion noch begünstigt zu haben.71 Der Kontrast von athenischer Dynamik und spartanischer Trägheit erweist sich im Folgenden als Leitmotiv der Rede; die Korinther stellen ihr anstelle einer Situationsanalyse ein essentialistisches, mit kräftigen Strichen gemaltes Doppelporträt der beiden Mächte ins Zentrum.72 Wie im Versuch, den nach korinthischer Interpretation prekären Missstand athenischer Dominanz in
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71 72
Vgl. I, 67. Siehe für eine detaillierte Untersuchung der ersten Korintherrede und eine umfassende Bibliographie Martin Hagmaier: Rhetorik und Geschichte. Eine Studie zu den Kriegsreden im ersten Buch des Thukydides, Berlin u. a. 2008, S. 41–76, vgl. auch die kurze Betrachtung bei Gervasi: Concept of Hope, S. 44–48. Vgl. I, 68f. Vgl. I, 79f. 31
der politischen Realität von Hellas rhetorisch spürbar zu machen, sind dabei die Vergleichskriterien ganz an Athen ausgerichtet. Unheimlich in ihrer Rastlosigkeit erscheint die Stadt im Bildnis der Korinther, unersättlich nach Wachstum, nimmermüde in der Innovation, wagemutig und unerschrocken, immunisiert gegen Rückschläge durch die Kraft ihres atemlosen Drängens, gleichsam wesenhaft unbesiegbar also, ähnlich einer Hydra, der für jeden verlorenen Kopf zwei neue wachsen.73 Im Ringen darum, ihre Idee von der flirrenden Unermesslichkeit der athenischen Dynamik in Sprache zu bannen, fallen die Redner immer wieder auf einen Begriff zurück: ἐλπίς. Drei Mal auf kleinstem Raum dient er als Signum des athenischen Phänomens: „Sie sind über ihre Macht hinaus wagemutig, wider alle Vernunft (παρὰ γνώμην) draufgängerisch, auch in Gefahren voller Hoffnung (καὶ ἐν τοῖς δεινοῖς εὐέλπιδες)“, heißt es gleich zu Beginn der direkten Gegenüberstellung von Athen und Sparta in I, 70,3; wenig später folgt die Diagnose: „Wenn ihnen aber ein Versuch fehlschlägt, setzen sie ihre Hoffnung auf etwas anderes und machen so den Mangel wett (ἀντελπίσαντες ἄλλα ἐπλήρωσαν τὴν χρείαν); für sie allein ist vollkommen gleichbedeutend Haben und Hoffen auf das, was sie ins Auge gefasst haben, weil sie sofort in die Tat umsetzen, was sie beschlossen haben (μόνοι γὰρ ἔχουσί τε ὁμοίως καὶ ἐλπίζουσιν ἃ ἂν ἐπινοήσωσι διὰ τὸ ταχεῖαν τὴν ἐπιχείρησιν ποιεῖσθαι ὧν ἂν γνῶσιν.)“74
Mit diesen Worten gelangt die korinthische Darstellung Athens an ihren rhetorischen Höhepunkt, in ihnen kulminiert die These von der bezwingenden Unausweichlichkeit des atemlosen athenischen Drängens, dessen Motor nun enthüllt wird: Es ist der Modus des Hoffens, der Athen immer neuen Höhen zutreibt, ein Hoffen freilich, das – schon der Neologismus ἀντελπίζειν verrät es – alle konventionellen Maßstäbe sprengt. Denn die ἐλπίς, die sich in den zwei rasch aufeinanderfolgenden Verbformen in I, 70,7 ausdrückt, scheint ganz des Elements der Ungewissheit, der zaghaften Scheu benommen, die Hoffnung gewöhnlich innewohnt: Ihre athenische Ausprägung im korinthischen Porträt drückt einen radikalen Anspruch aus. Wo „Haben und Hoffen“ in der Wahrnehmung zu einer Identität ver73 74
Vgl. I, 70,2; 70,3f.; 70,7f. I, 70,7. 32
schmelzen, ist die Zukunft schließlich zu einer Verfügungsmasse geworden, die sich gemäß der formulierten Hoffnung modulieren muss.75 Nichts weniger als die gemeinmenschliche, demutfordernde Urerfahrung der Ungewissheit der Zukunft ist damit überwunden – die korinthischen Athener vermögen, so scheint es, den Graben, der für den Menschen eigentlich unüberwindbar zwischen Gegenwart und Zukunft klafft, mit der Kraft ihres Willens, mit dem Tempo ihres Drängens, für sich zu schließen. Es ist in der Logik der Rede dabei völlig unerheblich, dass Athen keinesfalls immun gegen Niederlagen ist – die Korinther selbst weisen auf gescheiterte athenische Unternehmungen hin,76 versagen ihnen aber die Funktion eines Arguments gegen das athenische Hoffnungsprinzips: Als so ungerichtet, so totalitär im Wesen wird die athenische ἐλπίς beschrieben, dass situative Fehlschläge sie ganz unberührt lassen müssen, ja, die im Neologismus ἀντελπίζειν ausgedrückte Flexibilität des athenischen Hoffens negiert in letzter Konsequenz die Möglichkeit des Scheiterns, spiegelt sich in ihm doch eine Hoffnung, die jeden aus ihr geborenen Fehlschlag selbst zu heilen und in neuen Aktivismus zu übersetzen vermag. Für Athen ist der radikale Modus des Hoffens in der Rhetorik der Korinther so mehr als nur Antriebsmotor des gegenwärtigen Erfolgs, er entdeckt sich als Lebenssaft der Stadt und Garant von Unverwundbarkeit. Als Kriegsgegner könnte Athen kaum bedrohlicher gezeichnet werden, und doch gelingt es den korinthischen Gesandten, den Schrecken noch zu steigern, indem sie die athenische ἐλπίς dem Zugriff der Ratio – und damit der strategischen Analyse und Adaption – entziehen. In I, 70,3 ist die hochgradig affektive Textur von Athens Hoffnung besonders betont: Vollkommen losgelöst von empirischen Grundlagen zeigt sie sich dort; die von ihr Beseelten stürmen wagemutig παρὰ γνώμην voran. Der naturgewaltig-zwingende Charakter der hoffnungsmotorisierten athenischen Dynamik wird im weiteren Verlauf der Rede immer stärker betont und im Begriff der φυσις schließlich manifestiert: Wenn die Korinther I, 70,9 zusammenfassend feststellen, die Athener seien „dazu geschaffen, weder selbst Ruhe zu halten, noch anderen Menschen Ruhe zu lassen“, so erklären sie damit das athenische Vorwärtsdrängen, dem ἐλπίς so zentral, ja synonym ist, zu einem Wesensmerkmal, das sich in seiner Urtümlichkeit der zivilisatorischen Rationalität entzieht.77 75 76 77
Vgl. auch Hagmaier: Rhetorik und Geschichte, S. 68. Vgl. besonders I, 69,5. Vgl. zu I, 70,9 auch Hagmaier: Rhetorik und Geschichte, S. 70. 33
Das Athen korinthischer Rhetorik bewegt sich also auf Bahnen, die abseits von Vernunft und Berechnung verlaufen, ist leidenschaftlich einer Hoffnung von so affektiver wie totalitärer Qualität hingegeben – und wird von den Korinthern in ihrer Rede doch als ideale Vergleichsgröße gesetzt. Kein Wort der Kritik finden sie für die wirklichkeitsferne Hoffnung von I, 70,3 und I, 70,7. Dabei verkörpert diese ἐλπίς athenischer Ausprägung in jeder Hinsicht, wovor der archaisch-klassische Diskurs um den Begriff gemeinhin warnt; der scharfe Tadel der Athener im Melierdialog und Diodotos’ Diktum von der „unsichtbaren Gefahr“ könnten ihr gelten. Die Korinther selbst zeigen eben in ihrer Rede in Sparta Bewusstsein für die Tücken von Hoffnung: Zu Beginn ihrer Ausführungen verweisen sie auf das bedauerliche Schicksal jener Städte, die in der Hoffnung auf Hilfe und Schutz von Sparta eigene Rüstung unterließen – und für diese sorglose Zuversicht mit der Unterwerfung durch Athen bezahlen mussten. 78 Wiewohl diese Epidode erzählt wird, um Sparta zu kritisieren und nicht die hoffnungsvollen Städte, trifft doch auch diese ein leiser Tadel dafür, in gedankenloser Hingabe an ἐλπίς den Blick für die Realitäten verloren zu haben. Sobald indes dann, ab I, 70, die Sprache auf die Athener kommt, ist es gerade die Radikalität, gerade die Leidenschaft ihres Hoffens, der die Korinther unverhohlene Bewunderung entgegenbringen, die sie, mehr noch, zum nachahmenswerten Ideal stilisieren. Gleich nach ihrer Beschreibung Athens gehen die korinthischen Gesandten nämlich dazu über, sich über den spartanischen Umgang mit der Zukunft zu beklagen, den sie in Antithese zum athenischen Hoffnungsmodus formulieren: Ob ihres Hanges zum „zaudernden Bedenken“79 seien die Spartaner wie gelähmt, in ihrer obsessiven Konzentration auf die Wahrung des Bestehenden mangele es ihnen an Tatkraft und an beflügelnden Visionen, als Zukunftsaffekt kennten sie nur die Furcht, deren Einfluss auf die spartanische Politik in keinem Verhältnis zu den empirischen Tatsachen stehe.80 In unmittelbarer Folge des oben zitierten Satzes über die παρὰ γνώμην wagemutigen und bedingungslos hoffnungsvollen (εὐέλπιδες) Athener wird den Beklagten schließlich vorgeworfen:
78
79 80
Vgl. I, 69,5: „die Hoffnung auf euch (ὑμέτεραι ἐλπίδες) hat nämlich schon manchen zugrunde gerichtet, weil er in seinem Vertrauen die Rüstung unterließ.“ I, 69,4. Vgl. I, 70,2f. 34
„[E]ure Art ist es, weniger zu leisten, als in eurer Macht stünde, nicht einmal der sicheren Grundlage vernünftiger Überlegung zu trauen und in gefahrvoller Bedrängnis zu glauben, niemals daraus befreit zu werden (τὸ δὲ ὑμέτερον τῆς τε δυνάμεως ἐνδεᾶ πρᾶξαι τῆς τε γνώμης μηδὲ τοῖς βεβαίοις πιστεῦσαι τῶν τε δεινῶν μηδέποτε οἴεσθαι ἀπολυθήσεσθαι.)“81
Die lakedaimonische Vernunft ist hier zur ohnmächtigen Tugend geworden – trotz, vielleicht gar wegen ihr sprechen die Korinther den Spartanern jede Fähigkeit zur Einsicht in die Sachlage ab.82 Da umgekehrt die Athener nie mit ähnlichem Vorwurf belegt werden, ergibt sich ein Paradox, erscheinen doch ausgerechnet die vorsichtigen Hoffnungsskeptiker – in I, 69,5 treten sie gar als personifizierte Antagonisten der Hoffnung auf – als bis zur Fahrlässigkeit verblendet, die affektiv Hoffenden aber als weitsichtig. Die Wendung widerspricht gänzlich dem klassischen ἐλπίς-Diskurs und fügt sich doch ganz in den Duktus der korinthischen Rede. Die spezifisch athenische, das heißt totalitäre, affektive, von Empirie losgelöste Hoffnung, die in ihr entworfen und zum zentralen Charakteristikum Athens erhoben wird, berührt kein negativer Schatten, sie scheint ganz durch ihre Effektivität gerechtfertigt und von der Ambivalenz des gewöhnlichen ἐλπίς-Begriffs gereinigt. Abperlen muss an ihr die Hoffnungskritik, die in der Mytilenedebatte und im Melierdialog artikuliert wird – nichts berechtigt, die von den Korinthern beschriebene Ἀθηναίων ἐλπίς als unsichtbare Gefahr oder fatales Laudanum zu klassifizieren, im Gegenteil, sie wird präsentiert als Impfstoff gegen Niederlagen, als Motor von Tatkraft und Entschlossenheit. Die Zukunft, so scheinen die Korinther zu verkünden, gehört dem athenisch Hoffenden. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie vom erfolgsbringenden Konzept des athenischen Hoffnungsmodus sprechen, lässt unweigerlich aufhorchen; sie suggeriert eine Bedeutsamkeit, die die Frage aufwerfen muss, ob in der Korintherrede ein werkumfassender Diskurs seinen Anfang nimmt, in dem Athen und ἐλπίς miteinander assoziiert sind. Die zweite Rede der Korinther arbeitet zunächst gegen diese Vermutung und wirft den Verdacht auf, dass die Ἀθηναίων ἐλπίς nicht mehr als eine kalkulierte rhetorische Konstruktion war, entworfen, Sparta von einem energischen Vorgehen gegen Athen zu überzeugen. Denn nachdem Sparta den 81 82
I, 70,3. Vgl. besonders I, 68,1f. 35
Kriegsbeschluss getroffen hat, präsentieren die Korinther den peloponnesischen Verbündeten eine neue Erklärung für die athenische Macht, die jener aus I, 70 fast entgegengesetzt ist: Nicht ein einziges Mal fällt der Hoffnungsbegriff, statt auf Wesenseigenschaften wird der Erfolg Athens trivial auf Geld und langjährige Übung in der Schifffahrt zurückgeführt,83 und als politisches Ideal nicht mehr stürmisches Vorwärtsdrängen sondern ruhige Bedachtsamkeit gefordert.84 Flexibel scheint sich die korinthische Rhetorik den neuen politischen Anforderungen angepasst zu haben: Um den gesamten peloponnesischen Bund zum Kriegsentschluss zu treiben, bedarf es nicht mehr des Alarmismus, sondern der Furcht dämpfenden Worte. Indes, das korinthische Postulat einer athenischen Affinität zur ἐλπίς findet ein Echo in der athenischen Selbstdarstellung zu Kriegsbeginn. In der Rede der athenischen Gesandten auf der großen Versammlung in Sparta, die Thukydides direkt auf den korinthischen Auftritt folgen lässt und die im Werk das wichtigste Zeugnis außenpolitischer athenischer Selbstrepräsentation vor Ausbruch des Krieges darstellt, lässt die Rede von Hoffnung freilich zunächst auf sich warten: Statt an die Ausführungen der Vorredner anzuknüpfen, formulieren die athenischen Gesandten eine rationalistische Begründung der athenischen Herrschaft; dem korinthischen Entwurf einer urtümlich-leidenschaftlich athenischen Dynamik stellen sie dabei eine Erzählung über die historische Genese athenischer Macht entgegen, in der politische Zwänge statt wildlaufender Triebe das Handeln der Stadt motivieren, in der aktivisches Ausgreifen im reaktiven Gewand erscheint – und in der nicht Hoffnung, sondern Furcht regiert.85 Die korinthische Behauptung von der Singularität Athens wird damit unweigerlich relativiert, aufgehoben der essentialistische Dualismus zu Sparta: Ausdrücklich zeigen die athenischen Gesandten ihre Stadt als den allgemeingültigen Naturgesetzen untertan.86 Im Epilog schließlich, einer langen Mahnung an Sparta, nicht überstürzt einen Kriegsbeschluss zu fassen, entwickelt sich die Rede zu einem Plädoyer für Besonnenheit: Eindringlich weisen die Athener auf die Unvorhersehbarkeit des Kommenden hin, scharf tadeln sie überstürztes Handeln und sie betonen den Wert sorgfältiger Überle83 84 85 86
Vgl. I, 121, 3f. Vgl. I, 122,1. Vgl. I, 75,2f., 76,2. Vgl. I, 76,2 und I, 77,6; siehe auch Hagmaier: Rhetorik und Geschichte, S. 78. 36
gung. Athen selbst, behaupten die Redner mit verdächtiger Vehemenz, hätte noch nie den Fehler begangen, sich unbedacht in Unternehmungen zu stürzen – eben diese Besonnenheit sei ihr ja mit Sparta gemein.87 Spöttischer könnte die Spannung zur Athendarstellung der Korinther kaum werden. Deren Porträt einer himmelstürmenden, hoffnungsmotorisierten, fiebernden, drängenden Stadt steht nun eine athenische Selbstdeutung gegenüber, in der Notwendigkeit, Rationalität und Berechnung die zentralen Kategorien bilden. ἐλπίς hat in diesem Narrativ keinen Platz. Einmal zwar, im Zusammenhang einer Nacherzählung von Athens Verdiensten in den Perserkriegen, bedienen sich die athenischen Gesandten des Begriffs – doch sie scheinen ihn sofort mit einem dämpfenden Adjektiv einzuschränken. So betonen sie die heroische Standhaftigkeit ihrer Stadt gegenüber den persischen Invasoren mit den Worten: „Wir aber konnten uns nur auf eine Stadt stützen, die es gar nicht mehr gab, und für sie, für die nur noch eine kleine Hoffnung (βραχείᾳ ἐλπίδι) bestand, nahmen wir Gefahren auf uns und retteten mit unserem Teil zugleich euch und uns selbst.“88
Bei der oberflächlichen Lektüre des Satzes erschließt sich kaum, welche Rolle ἐλπίς für den Entschluss der Athener zum Widerstand spielte – ist sie damals, obwohl so klein, der zentrale Handlungsmotivator der Stadt gewesen, oder soll ganz gegenteilig darauf verwiesen werden, dass Athen in jener historischen Situation fast ohne Hoffnung auskam und die Kraft zum Widerstand aus alternativer Quelle bezog, die, da ungenannt, in Interpretationsarbeit ergänzt werden muss, mit Verzweiflung oder Stolz etwa? Der Fortgang der Rede gibt einen Deutungshinweis, denn die Gesandten führen aus: „Hätten wir uns aber schon vorher dem Perser angeschlossen wie andere, aus Furcht um unser Land, und hätten wir nicht dann mutig die Schiffe bestiegen (mit dem Wissen, ohnehin) verloren zu sein (ἢ μὴ ἐτολμήσαμεν
87 88
Vgl. I, 78,4. I, 74,3. 37
ὕστερον ἐσβῆναι ἐς τὰς ναῦς ὡς διεφθαρμένοι,) […] hätten sich (dem Perser) die Dinge entwickelt, ganz wie er wollte.“89
Begreift man die Partizipialkonstruktion um die Besteigung der Schiffe als situativ gleichzeitig zum vorangegangenen Satz in I, 74,3, so ergibt sich eine Diskrepanz zwischen dem Perfektpartizip διεφθαρμένοι, das die Gewissheit der Athener ausdrückt, mit Sicherheit verloren zu sein, und der nichtsdestotrotz bestehenden ἐλπίς. Die Spannung lässt sich nur auflösen, wenn vorausgesetzt wird, dass die βραχείᾳ ἐλπίς unabhängig von der resignativen, empiriegestützten Realitätseinschätzung funktioniert. Für die Lektüre von I, 74,3 ergibt sich dann freilich, dass die Betonung nicht auf das Adjektiv βραχείᾳ gelegt werden darf, sondern ἐλπίς gelten muss: Bemerkenswert ist, wie I, 74,4 nahelegt, nicht die geringe Größe der Hoffnung, sondern die Tatsache, dass jene überhaupt noch bestand. Nun wäre eine explizite Erwähnung ihrer Existenz überflüssig, hätte die Hoffnung keinerlei Auswirkung gezeigt, und so darf angenommen werden, dass die βραχείᾳ ἐλπίς in I, 74,3 den entscheidenden Handlungsmotivator Athens bezeichnet. Die zitierten Worte der Gesandten lassen sich also wie folgt übersetzen: Einst, als in den Perserkriegen die Stunde der Bewährung schlug, entschied sich Athen auf Basis einer Hoffnung, die keinerlei Wurzeln in der Realität haben konnte, für den fast aussichtslosen Widerstand gegen eine überwältigende Übermacht – und errang einen historischen Sieg, der obendrein ganz Hellas rettete. ἐλπίς ist damit unauslöschlich dem Beginn der athenischen Erfolgsgeschichte verbunden. Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, bedarf es freilich eines hohen analytischen Aufwandes, und so wäre es illegitim, den Hoffnungsverweis bei der Gesamtdeutung der Rede zu überbewerten: Im großen Athenporträt der Gesandten bildet die βραχείᾳ ἐλπίς nicht mehr als einen winzigen Punkt, der wohl nicht zufällig leicht zu übersehen ist. Dem durchschnittlichen Betrachter zeigt sich auf dem Bild eine Stadt, die in ihrer kühlen Rationalität und Nutzenorientierung kaum Ähnlichkeiten mit dem Athenporträt aus der Hand der Korinther aufweist. Nun entwickeln auch die athenischen Gesandten ihre Darstellung entlang eines situativen politischen Ziels, eines Ziels, das jenem der Vorredner entgegenläuft: Sie wollen den Kriegsbeschluss der Spartaner hinauszögern.90 Da die Korinther 89 90
I, 74,4. Vgl. I, 77. 38
sich Gehör zu verschaffen suchten, indem sie die athenische Expansion für den dramatischen Effekt als Produkt unheimlich-irrationaler Dynamiken beschrieben, ist es nur folgerichtig, dass die Athener in ihrer Gegenrede zur Relativierung des korinthischen Alarmismus antreten und zu diesem Zweck die Rationalität der athenischen Politik betonen: Schließlich verlieren Erfolge, die sich mit der Vernunft erklären lassen und vermeintlichen Naturgesetzen folgen, einiges an Bedrohlichkeit, sind sie doch, so eindrucksvoll sie auch sein mögen, in ihrer Entwicklung vermeintlich berechenbar. Das Wissen um den politischen Kontext der Gesandtenrede muss also davor warnen, auf ihrer Basis allein die korinthische These von einer Ἀθηναίων ἐλπίς als Situationspolemik zu verwerfen. Für ihre Validität spricht überdies die Prominenz von Hoffnung im innerathenischen Diskurs der ersten Kriegsjahre. Thukydides stellt ihn durch drei Reden dar, die er alle Perikles in den Mund legt. Von der Korintherrede kommend muss für uns zunächst der Epitaphios von besonderem Interesse sein, besteht er doch im Wesentlichen in einem Athenporträt, dessen Bombast an die Athenbeschreibung der Korinther erinnert.91 Wie dort wird in ihm ein Athen-Sparta-Dualismus formuliert, dessen Vergleichsparameter bis ins Detail den korinthischen ähneln,92 wie dort wird die epochale Singularität des athenischen Phänomens ausgerufen – in Tönen, die das korinthische Pathos sogar noch übertreffen: Als der Epitaphios in II, 41 seinen ersten Höhepunkt erreicht, erkühnt sich Perikles, nachdem er Athen bereits zur „Schule von Hellas“ erklärt und gleich zweifach ihre Einzigartigkeit betont hat (μόνη … μόνη), zu dem Satz: „Mit sichtbaren Zeichen, wahrlich nicht ohne Zeugen, entfalten wir unsere Macht, in Gegenwart und Zukunft ( τοῖς τε νῦν καὶ τοῖς ἔπειτα) uns zum
91
92
Vgl. für Gesamtuntersuchungen der Rede exemplarisch Johannes Th. Kakridis.: Der thukydideische Epitaphios. Ein stilistischer Kommentar, München 1961, Helmut Flashar: Der Epitaphios des Perikles. Seine Funktion im Geschichtswerk des Thukydides, Heidelberg 1969, Georg Peter Landmann: Das Lob Athens in der Grabrede des Perikles (Thukydides II 34–41), in: MH 31 (1971), S. 65–95, Lowell Edmunds: Chance and Intelligence in Thucydides, Cambridge Mass. 1975, S. 44–70, Orwin: Humanity, S. 15–29 und Jonas Grethlein: Gefahren des logos. Thukydides ,Historien‘ und die Grabrede des Perikles, in: Klio 87 (2005), S. 47–71. Vgl. besonders II, 39,1f. und 39,4. Siehe dazu auch Walter Robert Connor: Thucydides, Princeton 2013, S. 67. 39
Ruhme: […] zu jedem Meer und Land (πᾶσαν μὲν θάλασσαν καὶ γῆν) haben wir uns durch unseren Wagemut Zutritt verschafft, überall haben wir mit unseren Siedlungen unvergängliche Denkmäler unseres Glückes oder Unglückes (μνημεῖα κακῶν τε κἀγαθῶν ἀίδια) hinterlassen.“93
Korinths These von der Immunität Athens gegen die Fährnisse der Zukunft findet sich hier radikal auf die Spitze getrieben: Zeit und Raum gleichermaßen sind zur athenischen Verfügungsmasse erklärt, die Stadt scheint vollkommen über territoriale Grenzen und die Wechselspiele des Schicksals erhaben.94 Denn Niederlagen mögen sich wohl ereignen, aber – und hier echot Perikles ganz die Korinther von I, 70,7, um sie dann noch zu überbieten – sie können den Glanz der athenischen Größe insgesamt in keiner Weise trüben, nein, sie müssen zu ihn vielfach verstärkenden Reflektionsflächen werden.95 So ist Athen in letzter Konsequenz unbesiegbar und ewig. Perikles kommt zu dieser Schlussfolgerung freilich auf anderem Weg als die Korinther: Wo diese das leidenschaftlich-irrationale athenischer Dynamik betonten – wie dargelegt besonders durch den gehäuften Rekurs auf ἐλπίς –, präsentiert Perikles den Expansionsdrang seiner Stadt als Kind von Rationalität, Einsicht und Berechnung. Umsichtige Beratung und „kluge Überlegung (ἐκλογίζομαι)“ bezeichnet er als Charakteristikum athenischer Entscheidungsfindung,96 er lobt die Fähigkeit seiner Mitbürger zur zweckrationalen Einsicht97 und befreit die Stadt wie in apologetischer Mission vom etwaigen Vorwurf gedankenloser Verwegenheit.98 Vernunft und Tatendrang motorisieren das Athen seiner Worte, ihr Machtwachstum erscheint als das Ergebnis eines wohldurchdachten
93
94
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96 97 98
Vgl. zur Übersetzung des letzten Satzes Arnold W. Gomme/Arnold Andrewes/Kenneth James Dover: A historical commentary on Thucydides, 5 Bd., Oxford 1945–1981, Bd. 2, S. 128f. und Connor: Thucydides, S. 74. Vgl. dazu auch Ryan K. Balot: Greed and Injustice in Classical Athens, Princeton 2001, S. 174 und Kopp: Das Meer als Versprechen, S. 118f. Vgl. zur vieldiskutieren Bedeutung von „κακῶν τε κἀγαθῶν“ exemplarisch Daniel Tompkins: The Language of Pericles, in: Antonis Tsamakis, Melina Tamiolaki (Hrsg.): Thucydides Between History and Literature, Berlin u. a. 2013, S. 447–464, hier: S. 101f. Vgl. II, 40,3. Vgl. II, 43,1. Vgl. II, 40,3. 40
Plans. Nicht ein Mal fällt der Begriff ἐλπίς in dieser ersten Hälfte von Perikles’ Rede. Doch dann, ab II, 41, wird Hoffnung plötzlich zum Thema: Fünf Mal findet ἐλπίς in II, 42–47 Erwähnung, öfter als in jeder anderen Rede im Werk und mehr als zweimal so oft wie γνώμη, vermeintlicher Schlüsselbegriff der perikleischen Rhetorik.99 Die Stellen fügen sich indes nicht zu einem homogenen Hoffnungskonzept; Hoffnung präsentiert sich in ihnen in ganz unterschiedlicher Gestalt. Erste Erwähnung findet ἐλπίς in II, 42,4, als Perikles zum Lob der Gefallenen übergeht. Es heißt dort über diese: „Von ihnen hat keiner den weiteren Genuss seines Reichtums vor alles andere gestellt und sich etwa feige benommen, keiner hat in der Hoffnung der Armut (πενίας ἐλπίδι), er könnte ihr vielleicht doch einmal entrinnen und zu Reichtum kommen, Aufschub des Furchtbaren gesucht.“
Als Individualhoffnung auf privates Glück zeigt sich ἐλπίς hier, als Affekt, umweht vom Hauch des Illusionären, als potenziell schädlich für die Gemeinschaft, deutet sich in der Negation doch an, dass sie die Einsicht in die Notwendigkeiten des Augenblicks zu trüben und die Bereitschaft, sich den Bedürfnissen des Kollektivs unterzuordnen, zu mindern droht. Bald darauf, II, 43,5 wird allerdings die Abwesenheit von Hoffnung als größtes Hindernis für aufopfernden Heldenmut ausgemacht – „Nicht wer im Elend lebt und keinen Wandel zum Guten erhoffen (ἐλπὶς οὐκ ἔστιν ἀγαθοῦ) darf, hat rechten Grund, sein Leben einzusetzen“ –, eine prinzipielle Ablehnung von ἐλπίς ist aus dem zitierten Satz in II, 42,4 also wohl nicht abzuleiten,100 allerdings aber eine Kritik ihrer Privatisierung. Der Fortgang der Passage stützt diese Interpretation, denn Perikles spinnt sein Lob auf die edelmütige Gesinnung der gefallenen Kämpfer weiter mit den Worten: „Die Rache an den Feinden war ihnen begehrenswerter als all dies, und weil sie von allen Gefahren diese als die Schönste erachteten, waren sie entschlossen, unter Gefahr sich an ihnen zu rächen und das andere aufzugeben. Der Hoffnung übergaben sie das Ungewisse des Erfolges, für die Tat, bei dem, was bereits klar vor ihnen lag, wollten sie auf sich selbst bauen 99 100
Vgl. auch Gervasi: Concept of Hope, S. 55. Vgl. Ebenda, S. 56f. 41
(ἐλπίδι μὲν τὸ ἀφανὲς τοῦ κατορθώσειν ἐπιτρέψαντες ἔργῳ δὲ περὶ τοῦ ἤδη ὁρωμένου σφίσιν αὐτοῖς ἀξιοῦντες πεποιθέναι).“
ἐλπίς erscheint hier wie verwandelt vom privaten Affekt in ein kollektives Erlebnis, in das Ziel einer kollektiven Entscheidung gar. Ihr Objekt, der Sieg in der unmittelbar bevorstehenden Schlacht, ist so konkret wie greifbar, ihre empirische Grundlage scheint gegeben, schließlich hören wir nichts von einem dramatisch überlegenen Gegner, und es darf vorausgesetzt werden, dass alles menschenmögliche ins Werk gesetzt wurde, um den Schlachtausgang dem Wankelmut des Schicksals zu entreißen. Ein unvermeidbarer Rest der Ungewissheit ist, so scheint es, dennoch geblieben und wird nun mit der Hoffnung bekämpft, die offensichtlich gerade durch ihren affektiven Anteil die lähmenden Ängste und Zweifel, die sich im Kämpfer regen, zu absorbieren und – der Reaktionsverlauf entwickelt sich ganz gegenläufig zum vorangegangenen Satz – in die Kraft der Entschlossenheit zu transformieren vermag: ἐλπίς und ἔργον verschmelzen zu einer Synthese.101 Im Destillat entdeckt sich Hoffnung in dieser zweiten Hälfte von II, 42,4 als elementar für den produktiven Umgang des Menschen mit den Unwägbarkeiten der Zukunft. Freilich ließe sich anmerken, dass die Hoffnung der einzelnen Kämpfer, insofern als diese gefallen sind, sich schließlich zerschlagen hat – und die gesamte Rede auf den zerstreuten Scherben baut. Doch Perikles delegitimiert eine solche Schlussfolgerung, indem er ein Hoffnungskonzept entwickelt, dass die Trümmer der situativen Siegeshoffung aufnimmt und transzendiert: Seinen pathosschweren Appell an die Zuhörer, den Gefallenen in Tatkraft und Mut nachzueifern und die Gefahren des Krieges nicht zu fürchten, schließt er mit den Worten: „Denn schmerzlicher ist für einen Mann von Ehrgefühl die Schmach der Feigheit als der im Bewusstsein der Kraft und der gemeinsamen Hoffnung eintretende empfindungslose Tod (ἀλγεινοτέρα γὰρ ἀνδρί γε φρόνημα
101
Vgl. dagegen Edmunds: Chance and Intelligence, S. 63–65, der II, 42,4 mit beachtlicher Gleichgültigkeit für den Sinngehalt des Passus, allein auf Basis der ihn prägenden μὲν-δὲ-Antithese, in eine gewaltsame Schematisierung presst, anhand derer er schließlich für eine negative Konnotierung von ἐλπίς argumentiert. Vgl. auch Gervasi: Concept of Hope, S. 58f. 42
ἔχοντι ἡ μετὰ τοῦ [ἐν τῷ] μαλακισθῆναι κάκωσις ἢ ὁ μετὰ ῥώμης καὶ κοινῆς ἐλπίδος ἅμα γιγνόμενος ἀναίσθητος θάνατος).“102
Eine Hoffnung unerhörten Ausmaßes entfaltet sich hier, eine Hoffnung, die den Tod des Einzelnen, die körperliche Schmerzen zu überwinden vermag, eine Hoffnung also, die den Menschen aus seiner Körpergebundenheit, seiner Endlichkeit erlöst. Sie ist über individuelle Niederlagen erhaben, ja, verwandelt sie in eine sinnhafte Tributzahlung an das große Ganze, auf das alles in Perikles’ Rede zustrebt: das Gemeinschaftsprojekt Athen. Einzig aus ihr, aus der Stadt als ideellem Potenzial, kann Hoffnung von so transzendierender Kraft erwachsen – anders lässt sich das Diktum von der κοινῆ ἐλπίς in jenem Kontext kaum übersetzen. Über den in jenem Begriff ausgedrückten Entwurf einer übermenschlichen Kollektivhoffnung scheinen egoistisch-materialistische Individualhoffnungen, wie sie zu Beginn von II, 42,4 angedeutet sind, jede Berechtigung zu verlieren; Legitimität haben sie nach Perikles nur dann, wenn sie dem Gemeinschaftsprojekt zuarbeiten: Als er in II, 44,3 die Eltern der Gefallenen zur „Hoffnung auf neue Kinder (ἄλλων παίδων ἐλπίδι)“ ermuntert, okkupiert er die intime Hoffnung auf privaten Trost augenblicklich für Athen und übersetzt sie in eine Pflicht, der Stadt das verlorene Menschenmaterial zu ersetzen. So entdeckt sich also im Epitaphios die Entwurfsskizze eines gleichsam totalitaristischen Hoffnungskonzepts, das ἐλπίς untrennbar an Athen bindet. Laut dröhnt das Echo der Korintherrede – doch es muss zunächst scheinen, dass die perikleische Hoffnung im Mark eine andere Marmorierung aufweist als die Ἀθηναίων ἐλπίς aus korinthischer Darstellung. Bedingungslos zeigte sich diese schließlich, urtümlich der athenischen DNA verwoben und in ihrer esoterischen Gleichgültigkeit gegenüber Empirie hochgradig affektiv. Perikles präsentiert seine κοινῆ ἐλπίς hingegen als Endprodukt eines Prozesses: Indem er sie begrifflich erst einführt, nachdem er in II, 37–41 die Genese des Gemeinschaftsprojekts Athen ausführlich nachgezeichnet hat, verleiht er ihr einen robusten Ergebnischarakter, zeigt er sie gleichsam rational unterfüttert durch die empirische Grundlage der historisch gewordenen athenischen Gegenwart – die, seinen Worten zufolge, auf Vernunft und Berechnung fußt. Entsprechend kognitiv muss sie erscheinen, so kognitiv, dass sich jede Verwunderung da102
II, 43,6. Vgl. für eine der folgenden Interpretation widersprechende Deutung der Stelle Orwin: Humanity, S. 25. 43
rüber verbietet, dass sie mit solcher Prominenz eine Rede regiert, die Rationalität zu atmen beansprucht. Die athenische ἐλπίς, wie von Perikles entworfen, eignet nicht zur Antithese von γνώμη, sondern besteht gleichzeitig mit ihr.103 Allerdings entdecken sich bei aufmerksamer Lektüre rasch Risse in der Logik der Rede, die Zweifel an der in ihr postulierten Rationalität der Hoffnung aufwerfen müssen. Ein offener Widerspruch besteht zwischen Perikles’ Postulat der Unabhängigkeit athenischen Ruhms von jeder Preisdichtung und dem elegischem Ton der Rede, der gleichsam anti-rational wirkt.104 Konkrete Beispiele von der Macht und den Taten Athens gibt Perikles dabei kaum,105 ein Mangel, der sich durch einen Blick in das auktoriale Umfeld der Rede erklären lässt: Was Thukydides uns dort nämlich von der athenischen Realität zeigt, bleibt weit hinter der perikleischen Rhetorik zurück, ja, steht zum Teil in scharfem Gegensatz zu ihr.106 Nichtsdestotrotz weist Perikles seinen Überzeichnungen in ihrer Gesamtheit explizit und mit aller Vehemenz Wirklichkeitscharakter zu: „Dass dies nicht Prunk mit Worten für den Augenblick ist, sondern Wahrheit der Tatsachen, beweist die Macht der Stadt“, verkündet er in II, 41,2.107 Indem er solchermaßen einen Wahrheitsanspruch für sein Idealbild reklamiert, verwirklicht er radikal den korinthischen Ausspruch über die Identität von Haben und Hoffen im athenischen Diskurs – und wirft Fragen über den der Rede unterliegenden Wirklichkeitsbegriff auf, die insofern nach einer dringenden Antwort verlangen, als den bisherigen Untersuchungsergebnissen zufolge ja die Wirklichkeitsverankerung der perikleischen ἐλπίς ihre charakteristisch kognitive Form verlieh. Was also ist die Wirklichkeit Athens, die Perikles sich in seiner Rede als Bezugsgröße setzt? Ist sie bestimmt durch die empirisch manifeste Stadt – oder durch deren Potenzial? Unterstellen wir den ersten Wirklichkeitsbegriff, so müssen wir den gesamten Epitaphios unweigerlich als Illustration einer dramatischen Selbsttäuschung lesen, und das perikleische Hoffnungskonzept als ihr Spiegelbild. Wird 103 104
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107
Vgl. dagegen Edmunds: Chance and Intelligence, S. 65f. Vgl. dazu besonders Grethlein: Die Gefahren des logos, S. 43–56. Siehe außerdem Kakridis: Der thukydideische Epitaphios, S. 64f. und Flashar: Epitaphios, S. 27. Vgl. dazu besonders Foster: Thucydides, Pericles and Periclean Imperialism, S. 190– 198. Vgl. Flashar: Epitaphios, S. 16–25; siehe auch Grethlein: Die Gefahren des logos, S. 58–65. Vgl. Flashar: Epitaphios, S. 25. 44
die Rede freilich im Lichte des zweiten Wirklichkeitsbegriffs gelesen, so muss ihr ein paradigmatischer Anspruch zugestanden werden, der es unmöglich macht, sie durch den Abgleich an der manifesten Realität zu entlarven. Dem ihr immanenten Hoffnungskonzept muss, sofern es nur innerhalb des paradigmatischen Systems Gültigkeit beansprucht, seine postulierte Rationalität zugestanden werden. Halten wir vorerst nur fest, dass, insofern als beide der entwickelten Interpretationsmodelle für den Epitaphios sich hierin überschneiden, Empirieferne wohl als Charakteristikum des perikleischen Hoffnungsbegriffs definiert werden kann. Mit dieser Beobachtung kann nämlich zu der Frage nach den substanziellen Ähnlichkeiten zwischen perikleischem und korinthischem Konzept einer athenischen ἐλπίς zurückgekehrt werden – mit dem Resultat, dass die Verwandtschaft weitreichender ist als ursprünglich angenommen. Welche Schlussfolgerungen aus dieser Erkenntnis zu ziehen sind, ist wieder abhängig von dem Pfad der Textdeutung, über den zu ihr gelangt wird: Von der Warte des ersten Wirklichkeitsbegriffes aus ist das entdeckte Verwandtschaftsverhältnis vor allem insofern von Interesse, als es nicht von Perikles reflektiert wird – er wäre dann ja ertappt worden bei dem Irrtum, einen Hoffnungsbegriff rein kognitiver Natur zu entwerfen. Dessen tatsächlich affektive Natur wird durch das Echo der Korintherrede noch akzentuiert und ἐλπίς mithin zum Marker eines blinden Flecks in Perikles’ Selbstreflexion, der auf Athen in seiner Gesamtheit übertragen werden muss: Da Perikles auktorial als ein Mann präsentiert wird, der den Diskurs seiner Zeit machtvoll zu lenken verstand,108 dürfen wir davon ausgehen, dass der prominent platzierte Epitaphios auch mit Blick auf seine formende Funktion für das athenische Selbstverständnis gelesen werden soll. Seine Rede zeigte sich damit als Ort der Entlarvung einer Stadt, die sich viel auf ihre klarsichtige Vernunft einbildet und sich doch einer κοινῆ ἐλπίς hingibt, über deren affektive Natur sie in völliger Selbsttäuschung gefangen ist, auf eine Stadt also, die ihre eigene Rationalität gnadenlos überschätzt. Freilich kann diese Schlussfolgerung nicht ohne Weiteres Gültigkeit beanspruchen, wenn der Epitaphios als Perikles’ Beschreibung von Athens Potenzial gelesen wird. In diesem Fall könnte Perikles selbst nicht eines logischen Widerspruchs entlarvt werden – woraus freilich nicht zwingend folgt, dass die Athener, sein Publikum, dann vom Vorwurf der Selbsttäuschung frei wären: Das Narrativ immerhin, das die Rede umrahmt, illustriert wiederholt die Differenz zwischen 108
Vgl. I, 127,3; I, 139,4; II, 59; II, 65,4f., 8f. 45
Perikles’ intellektueller Spannkraft und Weitsicht auf der einen und der Kurzsichtigkeit des momentverhafteten athenischen Volkes auf der anderen Seite: In II, 21f., II, 59 und II, 65 zeigt sich sehr deutlich, dass das letztere die Visionen seines einflussreichsten Strategen nie wahrhaft zu begreifen vermag. Diese Passagen müssen zweifeln lassen, dass die Athener nach Thukydides’ Interpretation in der Lage wären, die Athenbeschreibung im Epitpahios, sollte sie denn von Perikles so intendiert sein, als Beschreibung eines Potenzials zu verstehen. In jedem Fall also kann der Hoffnungsdiskurs des Epitaphios als Medium einer Entlarvung allgemeinathenischer Selbsttäuschung gelesen werden. Bekanntlich lässt Thukydides dem Epitaphios mit harter Unmittelbarkeit ein auktoriales Porträt Athens unter Einfluss der Pest folgen, das wie aus dem Negativ der perikleischen Beschreibung geschnitten erscheint.109 Während die Stadt im Lobgesang des Redners als symbiotischer Organismus gezeigt ist, präsentiert der Historiker die Autopsie einer anomischen Gesellschaft im Auflösungsprozess, in der ἐλπίς, nebenbei, nur noch in ihrer Negation und in der pervertierten Form wildlaufender Individualhoffnungen auftaucht.110 Es ist hier nicht der Platz, die so kunstvolle wie dramatische Antithese einer detaillierten Analyse zu unterziehen111 – insofern unser Erkenntnisinteresse vorerst Hoffnung im athenischen Diskurs gilt, muss vielmehr die Verhandlung von Hoffnung in Perikles’ dritte Rede in den Blick geraten.112
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Vgl. II, 47–54. Vgl. II, 51,4 („Das Furchtbarste an dem ganzen Übel aber war die Mutlosigkeit, sobald sich einer krank fühlte – denn sie überließen sich gleich der Verzweiflung, gaben sich vollends auf und leisteten keinen Widerstand“) sowie 51,6 („Sie [die Geretteten] wurden glücklich gepriesen von den anderen und hegten auch selbst in der übergroßen Freude des Augenblicks für alle Zukunft die unbeschwerte Hoffnung, es könnte ihnen nie mehr eine andere Krankheit den Tod bringen.“). Vgl. auch Gervasi: The Concept of Hope, S. 63f. Vgl. dazu exemplarisch Karl Reinhardt: Thukydides und Machiavelli, in: Ders.: Vermächtnis der Antike. Gesammelte Essays zur Philosophie und Geschichtsschreibung, 2. Aufl., Göttingen 1966, S. 184–218, hier: S. 214f. Flashar: Epitaphios, S. 34–36, Connor: Thucydides, S. 63f., Foster: Thucydides, Pericles and Periclean Imperialism, S. 204–210. Vgl. für eine Gesamtuntersuchung der Rede exemplarisch Parry: Logos und Ergon, S. 171–175, Edmunds: Chance and Intelligence S. 70–75 und Kopp: Das Meer als Versprechen, S. 115–130. 46
Seit der öffentlichen Bestattung der ersten Gefallenen ist ein halbes Jahr vergangen, die Kriegsbegeisterung in Athen hat sich zu Verzweiflung gewandelt: Erschöpft von der Seuche, das Land verwüstet von gegnerischen Einfällen, reut das Volk die Entscheidung zum Krieg, und kehrt sich mit bitteren Vorwürfen gegen dessen größten Befürworter, Perikles. Also tritt jener an, sich gegen die persönlichen Anfeindungen zur Wehr zu setzen, seine Kriegspropaganda zu verteidigen, vor allem aber der Stadt neuen Mut einzuflößen. 113 Wohl kein Mittel scheint zu diesem Zweck besser geeignet als ein Rekurs auf Hoffnung, als ein Rückgriff auf die im Epitaphios konzeptionell entwickelte κοινῆ ἐλπίς. Tatsächlich greift Perikles die hyperbolische Rhetorik, die dort in den Hoffnungsbegriff mündete, in seiner dritten Rede bald auf:114 Die Situationsanalyse, die den Kern der Ansprache bildet, schöpft an zentralen Stellen aus dem Athenporträt des Epitaphios, wobei die freien Zitate das Original zum Teil an Eindringlichkeit noch überbieten. So konkretisiert Perikles die in II, 41,4 recht abstrakte These von der athenischen Verfügungsgewalt über Land und Meer in II, 62,1f. zu einem Postulat unumschränkter athenischer Seeherrschaft – das, nebenbei, in der Formulierung wieder an das korinthische Diktum über die Identität von Hoffen und Haben im athenischen Diskurs erinnert 115 –, in II, 64,3 radikalisiert er die erstmals in II, 41,3 erprobte These von der Unvergänglichkeit athenischen Ruhms.116 Umso mehr überrascht, dass ausgerechnet die Sentenz von der κοινῆ ἐλπίς in der dritten Rede keinerlei Widerhall findet – stattdessen krönt Perikles seine Machtrhetorik, die jener so ähnlich ist, die im Epitaphios auf den todtranszendierenden Hoffnungsbegriff zuläuft, mit folgendem Fazit:
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Vgl. II, 59. Vgl. Foster: Thucydides, Pericles and Periclean Imperialism, S. 183–210 für eine umfassende Untersuchung der ideologischen Kontinuitäten zwischen der zweiten und dritten Rede des Perikles; siehe auch Connor: Thucydides, S. 65–71. „Von den zwei Bereichen, die dem Menschen zur Nutzung offen stehen, dem Land und dem Meer, seid ihr alleiniger Herr des einen, so weit ihr jetzt darüber verfügt und sogar noch weiter, wenn ihr wollt“. Vgl. allgemein zum perikleischen Postulat der unumschränkten Seeherrschaft Kopp: Das Meer als Versprechen, S. 115–120 und Foster: Thucydides, Pericles and Periclean Imperialism, S. 188. Vgl. auch Connor: Thucydides, S. 70f. 47
„Denn leere Prahlerei gibt es auch bei Unbesonnenheit, gepaart mit Glück, ja selbst bei einem Feigling – hoher Sinn steht nur dem zu, der sich auch geistig seinem Gegner überlegen fühlt, und das trifft bei euch zu. Klare Einsicht (ξύνεσις), bei gleichem Glück erwachsen aus dem Gefühl der Überlegenheit, stärkt auch den Wagemut und baut nicht auf Hoffnung (ἐλπίδι), die ihre Stärke bewährt, wenn man nicht weiter weiß, sondern auf wirklichkeitsnahes, tatbereites Wissen (γνώμῃ δὲ ἀπὸ τῶν ὑπαρχόντων), dessen Voraussicht (πρόνοια) verlässlicher ist.“117
Die im Epitaphios reklamierte Symbiose von Einsicht und Hoffnung ist hier radikal zerbrochen: ἐλπίς ist zur Antithese von γνώμη geworden, unvereinbar mit ξύνεσις; in schärfstem Gegensatz zu empiriegegründeter Rationalität erscheint sie vollkommen affektiv, unzuverlässig als Führerin, nicht würdig dem Mächtigen, nicht würdig Athen.118 Als das sinnstiftende Triebmittel, als das sie so prominent in der Gefallenenrede wirkte, hat sie ihre Berechtigung verloren und Perikles füllt die offene Position in II, 63 mit Furcht und Notwendigkeit. Wo er ἐλπίς also im Epitaphios mit größter Unbefangenheit dem Selbstanspruch auf Rationalität eingliederte und sie in ihrer radikalsten Form als kollektive Tugend propagierte, weiß er sie in seiner dritten Reden nur mehr als Negativbegriff zu nutzen, als Sinnbild für affektive Wirklichkeitsferne und Schwäche, von der es sich abzugrenzen gilt. Ein offener Widerspruch bleibt zurück, der kaum auf die unterschiedlichen Rahmenbedingungen der beiden Reden zurückgeführt werden kann – zumal beide demselben Ziel dienen, das athenische Volk zu Standhaftigkeit im Krieg zu motivieren. Die erste von Perikles’ Reden, die Kriegsrede von I, 140–144, fügt der diagnostizierten Ambivalenz des perikleischen Hoffnungskonzept noch eine Facette hinzu.119 Über lange Strecken ist sie freilich vollständig frei von Verweisen auf 117 118 119
II, 62,5. Vgl. auch Parry: Logos und Ergon, S. 174 und Gervasi, S. 64f. Vgl. für umfassende Untersuchung der Rede Rose Zahn: Die erste Periklesrede (Thukydides I 140–144). Interpretation und Versuch einer Einordnung in den Zusammenhang des Werkes, Diss Kiel 1934, Hans Herter: Zur ersten Periklesrede des Thukydides, in: George E. Mylonas, Doris Raymonds (Hrsg.): Studies Presented to David Moore Robinson on His Seventieth Birthday, Bd. 2, St. Louis, S. 613–623, Hagmaier: Rhetorik und Geschichte S. 199–233, Edmunds: Chance and Intelligence, S. 7–36. 48
Hoffnung: Ihren Kern bildet eine Analyse von Spartas strategischen Schwächen, die von einer auffallend knappen Darlegung athenischer Potenziale begleitet wird; abschließend sucht Perikles mit Argumenten der Notwendigkeit und der traditionsbegründeten Pflicht zum Kriegsbeschluss zu motivieren.120 Nicht aus ihnen gewinnt die Rede allerdings ihre Überzeugungskraft, sondern aus dem selbstbewussten Ton, der ihr im Ganzen unterliegt, dem Ton eines Mannes, der sich des eigenen Urteilsvermögens sicher ist. Gleich im Proömium relativiert Perikles den Grundsatz von der Machtlosigkeit des Menschen vor den Entwicklungen der Zukunft, indem er andeutungsweise eine vollendete Form rationaler Einsicht skizziert, der das Spiel des Zufalls nichts anhaben kann.121 Sie macht Hoffnung, so muss es scheinen, zuletzt überflüssig – und doch: an hochprominenter Stelle, in der Schlussfolgerung, die auf die Analyse der strategischen Potenziale Spartas und Athens folgt, entdeckt sich ἐλπίς plötzlich als Fluchtpunkt der perikleischen Rhetorik: „Noch viele andere Gründe bestärken mich in der Hoffnung (πολλὰ δὲ καὶ ἄλλα ἔχω ἐς ἐλπίδα τοῦ περιέσεσθαι), dass wir siegen werden, wenn ihr nur entschlossen seid, eure Herrschaft während des Krieges nicht auszubreiten und keine selbstgewählten Gefahren auf euch zu nehmen. […] Aber jene Gründe sollen in einer anderen Rede dargestellt werden im Zusammenhang mit dem Kriegsgeschehen.“122
Im Abgleich mit den bisher untersuchten Reden, in denen der ἐλπίς-Begriff meistenteils verwendet wurde, um das mit ihm bezeichnete Abstraktum thematisch zu verhandeln, fällt die Kontextbindung der Vokabel im vorliegenden Zitat sofort ins Auge. Die Hoffnung hier ist keine anonyme, emotive Kraft, keine kollektive Gefühlsregung, sie ist vielmehr personell an Perikles gebunden, auf ein scharf umrissenes Objekt – den Sieg – gerichtet, und in abschwächende Bedingungen eingeknüpft: Unmittelbar folgt ihr ein einschränkender Konditionalsatz, voran steht der Verweis auf ihre robuste Grundlage, die sich zu unbestimmbaren Anteilen 120 121
122
Vgl. besonders I, 144,3f. Vgl. I, 140,1. Siehe dazu Hagmaier: Rhetorik und Geschichte, S. 199–204, Herter: Zur ersten Periklesrede, S. 623, Edmunds: Chance and Intelligence, 7–23. I, 144,1. 49
aus den in der Rede dargelegten Beobachtungen und einer zwar noch nicht spezifizierten, aber – wie zugesichert wird – der argumentativen Aufbereitung zugänglichen Informationsmasse zusammensetzt. Durch die wiederholte Betonung der „πολλὰ δὲ καὶ ἄλλα“ fordert Perikles für seine persönliche Hoffnung geradezu die Autorität rationaler Erkenntnis ein – funktional nutzt er sie allerdings, um die Ratio der Hörer kurz zu betäuben: Schließlich ersetzt er mit dem Verweis auf ihre Existenz eine weitere Darlegung der athenischen Erfolgsaussichten im Krieg. Kehren wir von der Betrachtung der perikleischen Reden zur ersten Korintherrede zurück, deren These von der affektiven Hingabe Athens an ein totalitäres Hoffnungsprinzip ja den Anstoß dazu gab, den athenischen Diskurs der ersten Kriegsjahre einer genaueren Betrachtung zu unterziehen. Die Analyse der Gesandtenrede und der logoi des Perikles ermöglicht uns, ein Selbstporträt Athens neben das korinthische Bild zu projizieren. Bei identischen Konturen – jeweils erscheint Athen synonym mit rastloser Bewegung – entdecken sich grundsätzliche Unterschiede: Während die Korinther als Antriebskraft der Stadt Leidenschaftlichkeit identifizieren, beschreiben die Athener sich als in besonderem Maße rational. Ob dieser Differenz muss erstaunen, dass ἐλπίς in beiden Athenbeschreibungen als Schlüsselbegriff fungiert. Darüber darf nicht hinwegtäuschen, dass im athenischen Diskurs zum Teil Athens Distanz zur ἐλπίς behauptet oder gefordert wird und der Begriff in der Außenrepräsentation marginalisiert erscheint: Gerade in der widersprüchlichen Haltung zur Hoffnung, die im athenischen Diskurs greifbar wird, zeigt sich der Hoffnungsbegriff als Schauplatz athenischer Identitätskämpfe. Die Korintherrede kann als Interpretationsfolie des Konflikts gelesen werden: Als solche entdeckt sie ihn als Ausdruck eines Unbehagens Athens über die eigene Affektivität, die so wenig mit der ideal gesetzten Rationalität zusammenpasst. Der Widerspruch zwischen der Affirmation des ἐλπίς-Begriffs im Epitaphios und seiner Negation in Perikles’ letzter Rede lässt sich dann wiederum deuten als Zeichen eines wachsenden Unwillens der Stadt, sich kritisch mit der eigenen Realität auseinanderzusetzen – und als erstes Indiz eines unheilverkündenden Mangels in Athen: des Mangels an Selbstreflexion.
50
Hoffen und Handeln im Tatenbericht der Bücher II–V Viele Forschungsbeiträge, die Thukydides auf Basis von Melierdialog und Mytilenedebatte einen negativen Hoffnungsbegriff unterstellen, stützen ihre These mit der Behauptung, dass Hoffnung, wenn sie im Tatenbericht des Werkes auftauche, fast immer von der Wirklichkeit widerlegt werde, in der Regel also synonym mit leeren Illusionen sei.123 Schon der flüchtige Blick in die Kriegserzählung hinein, auf die ersten drei Verwendungen der ἐλπίς-Vokabel in Buch II, enthüllt indes eine narrative Wirklichkeit von weit größerer Ambivalenz, als sie der selbstbewusste Ton solcher Behauptungen zulassen dürfte: In II, 7,1 heißt es über die Kriegsvorbereitungen der Athener und Peloponnesier: „Sie hatten vor, Gesandtschaften zum Großkönig und anderswohin zu den Barbaren zu schicken, beide in der Hoffnung (ἤλπιζον), von irgendwo Hilfe zu erhalten.“ Ein plakatives Beispiel dafür, dass das thukydideische „ἐλπίζειν, d’une maniére plus générale, designe des espérances ou l’ homme se laisse entrainer, par ses désirs, a faire fi des régles de la logique“, wie Pierre Huart meint?124 Das den Satz unmittelbar umschließende Narrativ gibt keinerlei Anhaltspunkte für eine solche Deutung, weder explizit noch implizit entlarvt es die Hoffnung der sich rüstenden Rivalen als irrational oder falsch. Nur ein weitschweifiger Textspaziergang erlaubt es, die Tragfähigkeit der Hoffnung zu beurteilen: Schon in II, 65,12 verweist Thukydides darauf, dass am Ende des Krieges „Kyros, der Sohn des Großkönigs, […] den Peloponnesiern Geld gab für den Flottenbau“, in Buch VIII überliefert er drei persisch-peloponnesische Bündnisverträge, in II, 29 wird von einem Bündnis der Athener mit dem Thrakerkönig Sitalkes berichtet, in VII, 42,1 von „ἀκοντιστάς […] βαρβάρους“ 123
124
Vgl. Rawlings: Structure, S. 236: „Now it is a fact, well documented and exampled, that Thucydides uses the word ἐλπίς almost uniformely throughout his work to designate and emphasize unfulfilled expectations.“, siehe ähnlich Tamiolaki: Motivation, S. 58 und Huart: Vocabulaire, S. 143. Huart: Vocabulaire, S. 143. Er fragt weiter: „quelle vraisemblance y a-t-il que le rou de Perse oublie ses propres intérêts, pour favoriser ses ennemis?“ 51
und in VII, 53,2 von Etruskern, die für Athen kämpfen. Die verstreuten Passagen fügen sich zu einer narrativen Wirklichkeit, die das Hoffen der Athener und Spartaner zu Kriegsbeginn approbiert. Nun lässt sich natürlich gegen dieses Urteil einwenden, dass die Realität der Bücher VII und VIII jenseits des Erfüllungshorizonts der in II, 7,1 artikulierten Hoffnungen liegt, und dass der Umstand, dass Thukydides von den Gesandtschaften, an denen sich die Hoffnungen ursprünglich entzünden, nie wieder berichtet, ein negatives auktoriales Urteil über diese Hoffnungen impliziert. Und tatsächlich erlaubt der thukydideische Text beide Interpretationen, ohne je zur Entscheidung für eine von beiden aufzufordern: Da nirgends erwähnt wird, dass das Hoffen Athens und Spartas in II, 7,1 einen Einfluss auf die jeweiligen Kriegsentscheidungen nimmt, etwa Übermut und Leichtsinn befördert und so den Handlungsverlauf beeinflusst, besteht keine Notwendigkeit, der Substanz des Erwartungsaffekts nachzuspüren. II, 7,1 ist folglich gleichsam versperrt gegen die Eingliederung in Beweisführungen zur Bewertung von ἐλπίς im thukydideischen Narrativ und vor allem gänzlich ungeeignet, als plakatives Beispiel für einen hoffnungsskeptischen Werkdiskurs herangezogen zu werden. Ähnlich verhält es sich mit II, 20,1, wiewohl sich das Verhältnis von Hoffnung und Realität hier eindeutiger und zu Ungunsten der Hoffnung bestimmen lässt. Als hoffendes Subjekt tritt der spartanische König Archidamos entgegen, der den ersten spartanischen Einfall nach Attika anführt. In Acharnai, unmittelbar vor Athen, entschließt er sich zum Halt, um die Athener zu einer für Sparta vorteilhaften Landschlacht zu provozieren: „Er hoffte (ἤλπιζεν) nämlich, dass die Athener, auf dem Höhepunkt ihrer Macht sowohl reich an junger Kriegsmannschaft als auch zum Krieg gerüstet wie niemals zuvor, vielleicht zu einer Schlacht antreten könnten und die Verwüstung ihres Landes nicht mit ansehen würden.“
Archidamos’ Hoffnung ruht auf einer psychologischen Überlegung, die durch eine Blende nach Athen unmittelbar auktoriale Bestätigung findet: Angesichts des lagernden Feindes kommt es in der Stadt zu einem Aufruhr, eine starke Partei mit vornehmlich jungen Leuten fordert wild entschlossen den sofortigen Ausfall.125 Nur das Einschreiten des Perikles verhindert die impulsive Aktion – und Archi125
Vgl. II, 21,2f. 52
damos muss unverrichteter Dinge wieder abziehen.126 Seine Hoffnung hat sich, wiewohl sie zum Teil empirische Bestätigung fand, zerschlagen, indes: Ihr Scheitern schädigt weder den Hoffenden noch den Feldzug, den er führt, und so muss die Szene jedem zwischen den Händen zerrinnen, der aus ihr eine fundamentale Hoffnungskritik ableiten will. Gleiches gilt für II, 56,4, wo ἐλπίς sich als Substantiv auf Seite der Athener zeigt: Eben ist ein athenisches Heer nach Epidauros übergesetzt und verwüstet dort das Umland und als die Kämpfer „zur Stadt vordrangen, schöpften sie bereits Hoffnung (προσβαλόντες ἐς ἐλπίδα), sie zu nehmen, aber es glückte ihnen einfach nicht.“ Die ἐλπίς hier ist aus dem Moment entsprungen, hochsituativ, im Ziel eng begrenzt, sie wirkt entsprechend punktuell und nur im Rahmen eines Unternehmens, das unabhängig von ihr entwickelt wurde. Ob ihres begrenzten Wirkradius bleibt es ohne Konsequenz, dass sie sich zerschlägt – unverdrossen ziehen die Athener weiter und verwüsten eine Reihe anderer Siedlungen an der peloponnesischen Küste.127 Es fehlt in II, 56,4 – genau wie in II, 7,1 – also schlichtweg an Material, um Thesen zu Thukydides’ Hoffnungsbegriff bekleiden. Der bloße Umstand des jeweiligen Hoffnungsscheiterns genügt nicht, um die Szenen als Beweis für Hoffnungskritik zu nutzen – Pläne, Figuren und Feldzüge scheitern im thukydideischen Werk in einem fort ganz unabhängig von ἐλπίς. Vor diesem Hintergrund scheint es wenig zielführend, sich Thukydides’ Gebrauch der ἐλπίς-Vokabel im Tatenbericht mittels einer gegenüberstellenden Auflistung all jener Stellen im Werk, in denen Hoffnung von der Wirklichkeit widerlegt wird, und solchen, in denen sie sich bestätigt, zu nähern. Die kurze Untersuchung der ersten drei Begriffsverwendungen in Buch II verweist vielmehr auf die Notwendigkeit einer kontextsensiblen Gewichtung und Selektion der „ἐλπίς“ enthaltenden Passagen entlang des paradigmatischen Potenzials, das sie für unsere Fragestellung bergen. Stellen, in denen Hoffnung einem größeren Handlungszusammenhang untergeordnet ist, den sie weder angestoßen hat noch im Ergebnis zu beeinflussen mag, eignen sich, wie an II, 7,1 oder II, 56,4 gezeigt wurde, ganz unabhängig davon, wie sich in ihnen die Wirklichkeit zur Hoffnung verhält, grundsätzlich nicht für die Bildung von Thesen zu Thukydides Perspektive auf Hoffnung und werden daher aus der folgenden Untersuchung ausgeklammert.128 126 127 128
Vgl. II, 22f. Vgl. II, 56,5f. Es gilt dies für II, 75 und 77; II, 84,2; IV, 24; IV, 76,5 und V, 39. 53
Nur Passagen, in denen Hoffnung erkennbare Auswirkung auf Entscheidungen und Handlungsverläufe nimmt, in denen sie also als Stimulus oder Planungsfaktor wirkt und für Ergebnisse verantwortlich gemacht werden kann, lassen sich gewinnbringend für unsere Fragestellung verwerten. Dort ist es dann von Relevanz, welche Tragfähigkeit der Hoffnung durch Realitätsabgleiche zugesprochen wird, aber auch ihre Genese, ihre Konsistenz, ihre implizierten Antonyme gilt es zu untersuchen: Kommt sie aus dem Nichts, oder ist sie das Ergebnis rhetorischer Beschwörung? Wird sie als anthropologischer Grundzug präsentiert oder als polisspezifische Disposition? Erscheint ihre Substanz mehr rational oder affektiv? Tritt sie in Opposition zur Vernunft oder steht sie im Einklang mit ihr und wie verhält sie sich zur Furcht? Gleich aus der zuerst formulierten Frage nach der Genese der Hoffnung lässt sich, so zeigt eine rasche Durchsicht der Stellen, die unseren Relevanzkriterien genügen, eine Gliederung des Untersuchungsmaterials ableiten, enthüllt sie doch eine im Text angelegte Unterscheidung zwischen Hoffnungen, die an einen rhetorischen Akt gebunden sind, und solchen, die unabhängig von der zielgerichteten Beschwörung entstehen. Das Motiv der Hoffnungsrhetorik spielt Thukydides schon in I, 138 an: In seinem Themistoklesexkurs erklärt er den Erfolg des verbannten athenischen Strategen am Achämenidenhof unter anderem damit, dass jener es vermocht habe, dem Großkönig „Hoffnung […] auf die Unterwerfung von Hellas (τοῦ Ἑλληνικοῦ ἐλπίδα)“ zu machen. Hoffnungsversprechungen werden hier als mächtiges Mittel psychologischer Einflussnahme gezeigt, dessen sich Themistokles im gegebenen Kontext allerdings nur für den persönlichen Prestigegewinn bedient, nicht, um den Großkönig tatsächlich zu militärischen Initiativen anzutreiben. Eben dafür wird Hoffnungsrhetorik nach Ausbruch des Peloponnesischen Krieges freilich oft von den thukydideischen Akteuren genutzt: In II, 80,1 etwa hören wir die Amprakioten und Chaonier, die Arkanien unterwerfen wollen und Sparta dafür um umfangreiche militärische Unterstützung ersuchen, folgendes Plädoyer halten: „sie [die Amprakioten und Chaonier] sagten, wenn sie [die Peloponnesier] mit Schiffen und einem Landheer zugleich mit ihnen kämen, so gewännen sie leicht Arkanien, dazu noch besiegten sie Zakynthos und Kephallenia […]; dann werde es für die Athener kein Umfahren des Peloponnes geben wie bisher. Es bestehe die Hoffnung, auch Naupaktos zu erobern (ἐλπίδα δ᾽ εἶναι καὶ Ναύπακτον λαβεῖν).“ 54
Das Hoffnungsargument steht verheißungsvoll am Schluss der kurzen Rede und gewinnt dadurch ein besonderes Gewicht – wenn also im Folgesatz berichtet wird, dass die Lakedaimonier sich im Sinne der Sprecher überzeugen ließen und eifrig mit der Rüstung für den Feldzug begannen, so ist die rhetorisch in ihnen geweckte Hoffnung als ein zentrales Kriterium für ihren Entschluss impliziert. Illusorisch, so legt es der folgende Bericht über das Unternehmen nahe, ist die beschworene ἐλπίς nicht: Nur 20 athenische Schiffe sind in Naupakatos stationiert, aus 47 besteht das peloponnesische Kontingent – ein Zahlenverhältnis, dass die technische Überlegenheit und Erfahrung der Athener zumindest zu relativieren vermag.129 In den zwei Seeschlachten, in denen sich die Flotten begegnen, und die Thukydides mit großer Ausführlichkeit wiedergibt, ist die athenische Überlegenheit zur See denn auch keinesfalls eindeutig; im Verlauf der zweiten Seeschlacht, die damit endet, dass beide Gegner ein Siegeszeichen aufstellen, geraten die Athener für einen Moment gar in Furcht um Naupakatos.130 Indes, am Ende zerschlägt sich die „Hoffnung, auch Naupakatos zu erobern“ doch: Statt im Triumph in die Stadt einzufahren, wird der führende spartanische Stratege des Unternehmens bedeutungsschwanger als Leiche in ihren Hafen gespült und die Peloponnesier ziehen aus Furcht vor der herannahenden athenischen Verstärkungsflotte ab.131 In III, 30f. bleibt der ἐλπίς ein Realitätsabgleich erspart, schlägt der Versuch, sie rhetorisch in einen Handlungsstimulus zu übersetzen, hier doch gleich zweimal fehl: Der Spartaner Alkidas zeigt sich gänzlich resistent gegen jede Hoffnungsrhetorik – und wird, überraschenderweise, gerade darob zur negativen Figur. Kulisse der gescheiterten Überredung ist ein peloponnesisches Lager in Embaton – Alkidas hat dort mit seiner Flotte angelegt, nachdem er erfahren musste, das Mytilene, die Stadt, zu deren Rettung er mit 40 Schiffen entsandt worden war, bereits gefallen ist. Vor Anker werden Beratungen abgehalten; es scheiden sich die Meinungen, wie das Unternehmen weiterzuführen ist. 132 Thukydides lässt uns zwei Stimmen aus der Verhandlung vernehmen; dem Eleer Teutiaplos gesteht er
129 130
131 132
Vgl. II, 83. Vgl. II, 90,3. Siehe für den Ereigniskomplex insgesamt auch Kopp: Das Meer als Versprechen S. 141f. und Henry D. Westlake: Individuals in Thucydides, Cambridge 1968, S. 43–51. Vgl. II, 92. Vgl. III, 29. 55
gar eine kurze wörtliche Rede zu, in der jener dafür plädiert, den Kurs auf Mytilene beizubehalten und die Rückeroberung zu versuchen, schließlich dürfe man annehmen, die Stadt noch weitgehend unbewacht vorzufinden: „Wenn wir sie also plötzlich und bei Nacht überfallen, wird alles, so hoffe ich (ἐλπίζω), im Bunde mit denen drinnen – falls noch jemand von unseren Anhängern am Leben ist – zu unserem Vorteil ausschlagen.“133
Einige ionische Verbannte und Lesbier präsentieren einen alternativen Vorschlag: Sie empfehlen, gegen eine ionische Stadt oder Kyme zu fahren und die Eroberung dann als Stützpunkt für weitere Unternehmungen zu nutzen: „Von dieser Stadt aus würden sie Ionien abtrünnig machen – die Hoffnung bestehe (ἐλπίδα δ᾽ εἶναι), denn niemandem kämen sie ungelegen –, außerdem würden sie damit den Athenern ihre ergiebigste Einnahmequelle entziehen“134
Zweimal kurz hintereinander Hoffnungsrhetorik also, jeweils aber in unterschiedlicher Ausprägung: Während die Ionier und Lesbier, ähnlich wie die Amprakioten und Chaonier in II, 80, ἐλπίς ins Herz ihres Zuhörers zu pflanzen versuchen, indem sie ein verheißungsvolles Szenario entwerfen, das seine Begierde wecken muss, bekennt Teutiaplos sich persönlich zur Hoffnung, um die Überzeugungskraft seiner Argumentation zu erhöhen. Beide rhetorische Strategien scheitern freilich an Alkidas – weil, so entdeckt sich im Fortlauf des Narrativs, seine Furcht jedes Keimen von Hoffnung verhindert: Im Anschluss an die Reden der Verbündeten wird dem Leser ein schreckhafter, jedem Risiko abholder Alkidas gezeigt, der nichts anderes will, als „möglichst rasch wieder die peloponnesische Küste zu erreichen“, der „fluchtartig“ das Weite sucht, als er auf dem Weg die Kunde von nahen athenischen Schiffen erhält, ängstlich beschließend „ohne Notwendigkeit nirgendwo an Land zu gehen, außer am Peloponnes.“135 Thukydides kommentiert die Lageeinschätzung des Alkidas nicht, aber er deutet in III, 33,2 subtil an, dass 133 134 135
III, 30, 3. III, 31,1. Vgl. III, 33,1. 56
der einfallsreiche und hoffnungsgetragene Plan der Ionier und Lesbier Erfolgschancen gehabt hätte, denn „Ionien war ohne Festungen, und so herrschte große Angst, die Peloponnesier könnten im Vorüberfahren durch Überfälle die Städte gleichzeitig zerstören, selbst wenn sie nicht an einen Verbleib dächten.“136 Auch in IV, 71,2 scheitert Hoffnungsrhetorik an Furcht. Es ist diesmal ein Spartaner, der ἐλπίς im Munde führt, Brasidas nämlich, der gerade mit seiner Streitmacht vor Megara steht. Er ist alarmiert herbeigeeilt, nachdem er erfahren hat, dass die Athener, die sich schon länger mit peloponnesischen Truppen einen Kampf um die Stadt liefern, den Hafen Nisaia genommen haben. In der Sorge, das von Parteikämpfen gespaltene Megara könne an den Feind fallen, sucht er nun die Stadtbevölkerung zur Kooperation zu überreden: „Als er aber den Stand der Dinge erfuhr […] rückt [er] an die Stadt Megara heran, ohne dass die Athener es merkten, die am Meer standen. Er wollte angeblich und, sofern möglich, auch tatsächlich einen Handstreich gegen Nisaia versuchen; hauptsächlich aber lag ihm daran, sich in die Stadt Megara Einlass zu verschaffen und sich diese Stadt zu sichern. Er verlangte, man sollte ihn aufnehmen und gab an, er habe Hoffnung, Niasaia zurückzugewinnen (λέγων ἐν ἐλπίδι εἶναι ἀναλαβεῖν Νίσαιαν).“
Das persönliche Bekenntnis zur Hoffnung dient hier als plakatives Überzeugungsargument; für den rhetorischen Effekt verkürzt Brasidas mit ihm gefällig seine vielschichtige Lageanalyse. Dem Bekenntnis wohnt ein Angebot auf Hoffnung inne – doch die Furcht lässt den Megarern den Preis dafür als zu hoch erscheinen: In Sorge vor den innenpolitischen Konsequenzen verwehren sie dem werbenden Strategen vor ihren Stadtmauern die Aufnahme.137 Zum dritten Mal also scheitert Hoffnungsrhetorik und es muss sich bei dem Leser der Eindruck manifestieren, dass sie ihre Wirkung nur in einem Klima zu entfalten vermag, das dem Gedeihen der von ihr ausgestreuten Hoffnungskeime bereits zuträglich ist. Nicht immer freilich scheint es überhaupt rhetorischen Düngers zu brauchen: Mehrfach zeigt Thukydides im untersuchten Tatenbericht wie Hoffnung ganz von selbst zu keimen beginnt. In III, 97,2 etwa schildert er, wie Demosthenes froh136 137
Vgl. auch Gervasi: Concept of Hope, S. 51–53. Vgl. IV, 71. 57
gemut einer aus Kriegsglück geborenen Hoffnung folgt. Der athenische Stratege steht mit seinem Heer aus Verbündeten in Aitolien, wo er schon einige Erfolge errungen hat, und eigentlich möchte er den vorläufigen Rückzug antreten. Doch einige Messenier, die ihn begleiten, raten ihm zu, mit der Unterwerfung der aitolischen Dörfer fortzufahren, und da „gab er ihnen nach und fasste wegen seines Kriegsglückes Hoffnung (τῇ τύχῃ ἐλπίσας), weil nichts sich ihm widersetzte.“ Fern jeder Rationalität ist die Hoffnung, die sich hier zeigt, geboren zwar aus empirischen Siegen, gespeist aber aus einem vagen Gefühl der Glücksbegünstigung. Sie verführt Demosthenes zu fahrlässigem Handeln: Statt auf die Verstärkung der Lokrer zu warten, deren Hilfe er, so setzt Thukydides streng hinzu, „gebraucht hätte, denn leichte Speerschützen benötigte er am meisten“,138 dringt er weiter vor und erleidet, nicht zuletzt ob seines Mangels ans Speerschützen, eine so vernichtende Niederlage, dass er für lange Zeit nicht mehr wagt, nach Athen zurückzukehren.139 Thukydides lässt keinen Zweifel daran, dass Demosthenes vollumfänglich Schuld an dem Debakel trägt, dass er Schuld trägt, weil er sich von einer hochmütigen Hoffnung hat leiten lassen.140 Demgegenüber scheint die aus Bedrängnis erwachsene Hoffnung in IV, 80 durch den ihr folgenden Ereignisverlauf wie auktorial approbiert: Hoffnung wird dem Leser dort als Motivator von Brasidas’ ruhmreichem Feldzug des Jahres 424 gezeigt. Thukydides berichtet, dass die Spartaner seit der Besetzung von Pylos schwer unter athenischen Einfällen auf die Peloponnes leiden müssen und in dieser Lage nun „hofften (ἤλπιζον) […], [die Athener] am besten dadurch zu vertreiben, dass sie ihnen auch ihrerseits als Vergeltung Schäden zufügten, indem sie zu deren Verbündeten ein Heer schickten“. Hoffnung auf Erleichterung der gegenwärtigen Bedrückung überschreibt also die gesamte lakedaimonischen Motivlage für den Feldzug, mit dem Brasidas bekanntlich Erfolgsgeschichte schreiben wird. Indes: Der Rückhall seines Triumphs auf das Hoffnungsverb in IV, 80 ist nicht zu überbewerten, da ἐλπίς nicht, wie im Falle des Demosthenes in III,97, als Planfaktor des Unternehmens herausgestellt wird und ihre Erfüllung auch nicht Bedingung für einen Erfolg der aus ihr geborenen Handlung ist. Eine solche Kausalität findet sich in V, 28,2: Der Nikiasfrieden hat Hellas eben erst die von Thukydides 138 139 140
III, 97,2. Vgl. III, 89. Vgl. auch Westlake: Individuals, S. 101. 58
zur Atempause stilisierte Erleichterung von den Anstrengungen des Krieges verschafft und die politischen Akteure suchen sich unter dem Eindruck der veränderten Großwetterlage neu zu formieren. Vor allem die Argeier treten mit großen Ambitionen hervor und beginnen, ein Bündnissystem zu schmieden – zum einen, weil sie glauben, dass ihnen ein Krieg mit dem Erzrivalen Sparta bevorsteht, vor allem aber „weil sie sich Hoffnungen machten (ἐλπίσαντες), die Vorherrschaft über den Peloponnes zu erringen.“ Machtgier ist es also, die diese Hoffnung gebiert, ihre Nahrung findet sie in einer Lageeinschätzung, über deren Grad optimistischer Verzerrung Thukydides vage bleibt: „Denn zu dieser Zeit stand Lakedaimon in schlechtem Ruf und wurde wegen seiner Misserfolge verachtet, die Argeier aber erlebten in jeder Hinsicht eine Hochblüte, sie hatten nicht die Belastungen des Attischen Krieges getragen, vielmehr gute Gewinne gemacht, da sie mit beiden Seiten im Frieden lebten.“141
Auch im fortdauernden Hader zwischen Sparta und Athen erblicken die Argeier einen persönlichen Vorteil, den sie sogleich mit Hoffnung besetzen: In V, 40,2 wird aus der Retrospektive berichtet, dass sie „früher wegen der Uneinigkeit (beider Mächte) gehofft hatten (πρότερον ἐλπίζοντες ἐκ τῶν διαφορῶν), wenn sie schon nicht bei dem Vertrag mit den Lakedaimoniern bleiben könnten, dass ihnen jedenfalls das Bündnis mit den Athenern möglich sein werde.“ Das „πρότερον“ deutet bereits an, dass die Einschätzung der Argeier sich mittlerweile verändert hat und ihrer Hoffnung damit die Grundlage entzogen wurde, und tatsächlich liest sich V, 40 wie ein Kommentar auf die hochstrebenden Ambitionen von V, 28,2: Argos zeigt sich bis zur Panik verstört, weil es bemerken muss, dass die Boitoer, die es schon länger für ein Bündnis umwarb, mit den Lakdaimoniern einen Vertrag abgeschlossen haben. Überzeugt, damit stünde der Zerfall ihres jungen Bündnissystems, die fatale politische Isolation, ja, ein Mehrfrontenkrieg unmittelbar bevor, bereut die Stadt ihre von ἐλπίς stimulierten Pläne, Sparta die Herrschaft streitig zu machen, und sucht, nun von Furcht getrieben, ihre wagemutigen diplomatischen Vorstöße wieder rückgängig zu machen: 141
V, 28,2. 59
„obwohl sie vorher den Vertrag mit den Lakedaimoniern nicht angenommen hatten, sondern in Zuversicht schwelgte, im Peloponnes die Hegemonie zu bekommen (ἐν φρονήματι ὄντες τῆς Πελοποννήσου ἡγήσεσθαι), schickten sie, so rasch sie konnten (ὡς ἐδύναντο τάχιστα), die Gesandten Eustrophos und Aison nach Lakedaimon, die im Ruf standen, besondere Spartanerfreunde zu sein, und hielten es unter den gegenwärtigen Umständen für das Beste, durch Abschluss eines Vertrages für alle Fälle Ruhe zu haben.“142
In ihrem abrupten Stimmungsumschwung wirken die Argeier beinahe lächerlich; parodiert wird durch die Darstellung indes weniger ihre Hoffnung aus V, 28,2 denn ihre Furcht: Sie vor allem erscheint unmäßig und eingebildet. Als ein Hauptgegenstand der thukydideischen Analyse zeigt sich Hoffnung in den Berichten zum einen der athenisch-spartanischen Kämpfe um Pylos, zum zweiten der Brasidaskampagne. Insofern in der Darstellung des Brasidasfeldzugs Fragen der Hoffnungsgenese, deren Verhandlung im Werk uns eben schon beschäftigt hat, im Zentrum der Analyse zu stehen scheinen, sei der Blick zuerst hierauf gerichtet. Wir haben bereits gesehen, dass die Entsendung des Brasidas auf eine Hoffnung der Spartaner zurückgeht, die athenischen Einfälle auf die Peloponnes durch eine Gegenoffensive mindern zu können. Tatsächlich wird der Feldzug Sparta weit mehr als situative Erleichterung verschaffen: Weil sich in ihm an Brasidas eine neuer Spartasdiskurs entzündet, wird er die Stimmung in Hellas nachhaltig zugunsten der Stadt verändern, wie Thukydides schon in IV, 81 in einer weitreichenden Prolepse diagnostiziert: „Auch für den Krieg nach den sizilischen Ereignissen bewirkten vor allem die damalige Tüchtigkeit und Klugheit des Brasidas, dass sich die Verbündeten der Athener den Lakedaimoniern geneigt zeigten, weil die einen sie selbst erfahren hatten, die anderen sie aufgrund von Hörensagen anerkannten. Als Erster war er nämlich ausgezogen und hatte sich den Ruf erworben, in jeder Hinsicht menschlich vollkommen zu sein, und so ließ er die unerschütterliche Hoffnung zurück, dass auch die anderen (Lake142
V, 40,3. 60
daimonier) so wären (πρῶτος γὰρ ἐξελθὼν καὶ δόξας εἶναι κατὰ πάντα ἀγαθὸς ἐλπίδα ἐγκατέλιπε βέβαιον ὡς καὶ οἱ ἄλλοι τοιοῦτοί εἰσιν).“
Der gesamte Feldzug des Brasidas wie auch sein historisches Erbe stehen gemäß dieser Darstellung im Zeichen von Hoffnung. Brasidas’ militärische Fähigkeiten, seine Kriegstaten – sie werden in der analytischen Prolepse nicht erwähnt, das Augenmerk liegt ganz auf seinem Vermögen, Hoffnung zu wecken: Dieses gilt Thukydides, wie es scheint, als Erklärung für die situativen Erfolge von 424 und des Brasidas historische Bedeutung gleichermaßen. Mit Blick auf die Frage nach Thukydides’ Hoffnungsdarstellung müssen sich bei der Lektüre der zitierten Passage mehrere Fragen aufwerfen: Wie wird Brasidas nach Thukydides’ Darstellung zum Hoffnungsträger – durch Rhetorik, durch Verdienste oder durch Projektionen der Außenwelt? Welchen Verlauf nehmen die Reaktionsprozesse, die von der mit Brasidas verknüpften ἐλπίς hervorgerufen werden und wie werden die reagierenden Elemente dargestellt? Thukydides schildert im Anschluss an die Prolepse Brasidas’ Auftreten als Feldherr detailliert an exemplarischen Beispielen; das erste von IV, 84–88 enthält sogar eine direkte Rede des Strategen. Ihr Schauplatz ist Akanthos. Das peloponnesische Heer steht noch vor den Mauern der Stadt, haben die Akanthier doch gezögert, die Spartaner einzulassen – lediglich Brasidas wurde vorläufig Eintritt gewährt, denn er drang darauf und die Stadtbevölkerung gab ihm aus „Furcht um die die noch draußen stehende Ernte (διὰ τοῦ καρποῦ τὸ δέος ἔτι ἔξω ὄντος)“ nach.143 Seiner Rede zentral ist eine Drohung. Zwar beginnt sie mit Freiheitsrhetorik, die naturgemäß eng mit Hoffnung verbunden ist, doch in Brasidas’ Worten gerät die Freiheit, die er aus Sparta zu bringen verspricht, rasch zu einem Imperativ, als deren Vollstrecker er sich präsentiert. Seine Ankündigung, Akanthos zur Not auch mit Gewalt von athenischer Herrschaft zu befreien, empfiehlt ihn nicht als Hoffnungsträger – und er scheint von seinen Zuhörern zunächst auch nicht vornehmlich als solcher wahrgenommen zu werden. Thukydides beschreibt die Reaktion seiner Ansprache auf die Akanthier wie folgt: „Die Akanthier erörterten zunächst in vielen Reden alles Für und Wider, dann stimmten sie geheim ab, und weil Brasidas so Verlockendes (τὸ 143
IV, 84,2. 61
ἐπαγωγὰ) gesagt hatte und sie um ihre Feldfrüchte fürchteten (περὶ τοῦ καρποῦ φόβῳ ἔγνωσαν), beschloss die Mehrheit, von den Athenern abzufallen. […] Und so nahmen sie das Heer auf.“144
Keine bedingungslose Begeisterung, keine emporschießende Hoffnung ist hier zu erkennen. Zwar wird die Freiheitsrhetorik zum Teil durchaus als Verheißung rezipiert, sie gibt aber nicht den alleinigen Ausschlag für die Entscheidung der Akanthier, Brasidas nachzugeben: Furcht um die Ernte wird im zitierten Satz als gleichberechtigtes Motiv präsentiert. Der erweiterte Kontext legt sogar nahe, dass die Furcht stärker auf die Akanthier einwirkt als die Hoffnung, die Brasidas’ Verlockungen zu zeugen vermögen, schließlich ist die Furcht durch den oben zitierten Satz von IV, 84,2 betont – der doppelte Verweis auf sie umrahmt die Rede geradezu.145 Auch die Einnahme von Amphipolis, Brasidas’ nächster Erfolg, über den mit Ausführlichkeit berichtet wird, ist nicht von ausgeprägter Hoffnungsrhetorik begleitet – tatsächlich tritt Brasidas hier zunächst damit Erscheinung, dass er Hoffnungen unterbindet. In Amphipolis sind die prospartanischen Verräter nämlich den Athentreuen unterlegen, die das Stadttor vor Brasidas verschlossen halten und eilig ein Hilfegesuch an Thukydides abschicken, der damals in Thrakien stationiert ist. Brasidas erkennt, dass das Eintreffen einer athenischen Flotte bei den Athenfreunden in der Stadt unweigerlich Hoffnung auf Rettung schüren würde, Hoffnung, die er als mächtig genug fürchtet, um die Situation zu seinem Nachteil zu verändern: „Deshalb drängte es ihn, womöglich vorher die Stadt in seine Gewalt zu bekommen, damit nicht das Volk von Amphipolis, wenn Thukydides einmal da wäre, hoffe (ἐλπίσαν), er werde Bundestruppen vom Meer und vom Festland herbeiziehen und sie retten und dann würden sie kaum mehr zu ihm übertreten.“146
Er kommt dem Erwachen solcher Hoffnung zuvor, indem er die Stadtbevölkerung mit einem Versprechen von Milde zur Aufgabe überredet. Und da plötzlich, nach 144 145 146
IV, 88,1. Vgl. auch Tamiolaki: Motivation, S. 56f. IV, 105,1. 62
der Einnahme von Amphipolis, beginnt der Diskurs um Brasidas als Hoffnungsträger Fahrt aufzunehmen. Thukydides spürt seinen Mechanismen in IV, 108,3–6 im Detail nach: „(3) Kaum hatten die Städte von Amphipolis Fall erfahren, von seinen [Brasidas] Versprechungen und seiner Milde, waren sie mehr als je zuvor zum Umsturz entschlossen; sie schickten heimlich Gesandtschaften an ihn und forderten ihn auf, zu ihnen zu kommen, und jede wollte die Erste sein, die abfiel. (4) Es schien ihnen das sogar ziemlich gefahrlos zu sein, da sie sich täuschten in der Macht Athens, deren Größe sich später noch zeigen sollte, und sie mehr nach ihren verschwommenen Wünschen (ἀσαφεῖ βουλήσει) urteilten als mit verständiger Voraussicht; es sind ja die Menschen gewohnt, was sie begehren (ἐπιθυμοῦσιν), unbedachter Hoffnung (ἐλπίδι ἀπερισκέπτῳ) anheimzustellen, was sie nicht an sich heranlassen wollen, mit selbstherrlicher Überlegung abzuweisen. (5) Dazu kamen noch die jüngste Niederlage der Athener in Boiotien und die verlockenden, aber unwahren Reden des Brasidas […]. (6) Hauptsächlich aber (τὸδὲ μέγιστον) weil es ihnen für den Augenblick Freude machte und weil sie als erste die Tatkraft der Lakedaimonier erproben würden, waren sie zu jedem Wagnis bereit.“
Eine dramatische Kettenreaktion ist hier beschrieben. An ihrem Beginn steht eine hochsituative Entscheidung des Brasidas, die Thukydides’ Darstellung zufolge nicht mit dem Kalkül ihrer Signalwirkung getroffen worden war, aber in der Fernrezeption ein ungeheures Echo erfährt. Die Städte gewinnen Deutungshoheit über das Geschehen, Deutungshoheit über Brasidas auch. Er ist in der zitierten Passage nur noch Projektionsfläche, bespielt von den Leidenschaften anderer; fast wirkt es, als sei er Hellas ein willkommener Vorwand, sich dem Rausch der Affekte hinzugeben. Eine ἐλπίς ἀπερίσκεπτα, Hoffnung in maximal affektiver Manifestation also, überwölbt den wilden Exzess: Im Bunde mit Begehren und Wunschdenken (βούλησις) verführt sie zu grenzenloser Leichtsinnigkeit; die Schilderung von der fiebrigen Suche der Städte nach Argumenten für die Gefahrlosigkeit eines Abfalls erscheint wie eine Echtzeiteschreibung von ἐλπίς bei der Arbeit. Es ist aufschlussreich, woraus die Hoffnungsgeleiteten sich ihre fadenscheinige Illusion von Sicherheit stricken: Nach IV, 108,5 ziehen sie zuerst die jüngste militärische 63
Niederlage Athens heran, und dann die „verlockenden, aber unwahren Reden des Brasidas“. Die Rhetorik des Spartaners erscheint somit fast wie ein beliebiger Vorwand für die Umsetzung einer Hoffnung, die gleichsam unabhängig von ihr, naturwüchsig sich entfaltet haben muss. Thukydides zeigt sie als einen Affekt so mächtig, dass er das Tempo der Geschichte vervielfachen kann. Der Leser freilich weiß – und Thukydides lässt es ihn keinen Moment vergessen – , dass die Hoffnung der Städte, die den Namen des Brasidas beliebig trägt, sich zerschlagen wird; er weiß um Athens Niederschlagung der Aufstände und die grausame Bestrafung, die auf manche Abtrünnige wartet, er weiß auch um die baldige Errichtung eines Harmostensystems durch die Spartaner, das all deren Freiheitsverheißungen spottet.147 Thukydides bestätigt dieses Wissen im Fortlauf des Narrativs sukzessive, komponiert aber keine große Gegenerzählung zu IV, 108.148 Dieser Umstand erlaubt zu vermuten, dass er IV, 108 nicht als Hoffnungskritik intendiert hat, sondern als Kommentar auf die notorische Abhängigkeit der menschlichen Ratio von den Leidenschaften.149 Für diese Interpretation spricht, dass Thukydides nicht lange vor der Schilderung des Brasidasfeldzuges, im ausführlichen Bericht der athenisch-spartanischen Auseinandersetzung um Pylos nämlich, die produktive Wirkung von Hoffnung herausstellt. Es ist dieser Bericht einer der erzählerisch lebendigsten Sequenzen im gesamten Werk. Er beginnt mit einer detailreichen Schilderung der Umstände, die das unbedeutende Pylos zum Ort historischen Geschehens machen. Eigentlich hatten die Athener nie dorthin segeln wollen; unter den Feldherren Eurymedon und Sophokles haben sie eine Flotte aus 40 Schiffen nach Sizilien entsandt, die auf dem Weg noch im von innenpolitischen Unruhen zerrissenen Kerkyra für Ordnung sorgen soll. Demosthenes, der seit seiner hoffnungsirrgeleiteten Niederlage bei Aigition als Privatmann gelebt hat, ist gestattet worden, sich dem Unternehmen anzuschließen.150 Er ist es, der vorschlägt, in Pylos zu ankern, als die Flotte von der Nachricht erreicht wird, dass ihr die Peloponnesier in Kerkyra zuvorgekommen sind. Was er sich von der Kursänderung verspricht, erläutert
147 148
149 150
Vgl. Connor: Thucydides S. 135f., S. 138. Obwohl er aus reichlich Material hätte schöpfen können: Zu denken ist hier etwa an die Zerstörung von Skione. Siehe auch dazu Connor: Thucydides, S. 147f. Vgl. dagegen Tamiolaki: Motivation, S. 58. Vgl. IV, 2. 64
Thukydides zunächst nicht und lässt den Leser damit in derselben Verwirrung wie Eurymedon und Sophokles, die sich dem Ansinnen ihres Mitstrategen widersetzen und drängen, trotz der Peloponnesier nach Kerkyra zu fahren, wie es ihrem Auftrag entspricht. Doch da spielt ein wundersamer Zufall Demosthenes in die Hände: Ein Sturm kommt auf und verschlägt die athenische Flotte ausgerechnet nach Pylos. Demosthenes fordert sogleich, das Ufergelände zu befestigen, das ihm „durch seine natürliche Lage gesichert“ und als idealer Standpunkt für Feldzüge ins lakedaimonische Land erscheint.151 Sein Plan wirkt merkwürdig vage und willkürlich in Anbetracht der unbedingten Entschiedenheit, mit der er ihn vertritt, fast schrullig Demosthenes selbst – ein Leseeindruck, den Eurymedon und Sophokles unmittelbar bestätigen, wenn sie den Eifer ihres Mitstrategen mit ironischem Spott kommentieren: Sie „hielten dagegen, es gebe viele unbewohnte Vorgebirge auf dem Peloponnes, wenn er sie besetzen und den Staat in Unkosten stürzen wolle.“152 Und nicht nur sie sind skeptisch: Das gesamte Heer steht gegen Demosthenes’ Plan, der damit verworfen scheint. Doch die Ereignisse nehmen zum zweiten Mal eine überraschende Wendung: Die Soldaten sind von ihrer unfreiwilligen Rast bald so gelangweilt, dass sie ganz von selbst beginnen, ihren Lagerplatz mit Mauern zu umgeben – obwohl es an allem nötigen Werkzeug fehlt.153 Ausführlich beschreibt Thukydides die Schwierigkeiten und Strapazen des Baus, die abenteuerlichen Improvisationen und Kraftanstrengungen der Soldaten, deren Enthusiasmus umso mehr verwundern muss, als sie ja eigentlich zum bloßen Zeitvertreib ans Werk gegangen waren. Die Szene bildet eine ideale Kontrastfolie für die ihr in IV, 5 abrupt folgende Blende nach Sparta: Nachdem wir eben die Athener sich in fast manischem Schaffensdrang abmühen sahen, blicken wir dort nun auf geruhsame Lakedaimonier, die eben ein Fest feiern und sich auch von der Nachricht der athenischen Aktivitäten in Pylos nicht im Mindesten verstören lassen. Sie „maßen der Sache keine Bedeutung bei […]; wenn sie ausrückten, dann würden die Athener ihnen entweder gar keinen Widerstand entgegensetzen, oder sie würden leicht gewaltsam (diese Festung) erobern.“ Die Selbstsicherheit der Spartaner scheint nach allem menschlichen Ermessen berechtigt: Als sie sich bald darauf doch entschließen, mit einem großen Landheer 151 152 153
Vgl. IV, 3. Vgl. IV, 3. Siehe dazu auch Hornblower: Commentary II, S. 155. Vgl. IV, 4. 65
und einer Flotte von 60 Schiffen gegen die Athener vorzugehen, liegen nur noch fünf Trieren unter Demosthenes’ Kommando bei Pylos; der Rest der athenischen Flotte hat den Kurs auf Sizilien wieder aufgenommen.154 Thukydides artikuliert die Zuversicht der anrückenden Spartaner mit der ἐλπίς-Vokabel: „Sie hofften (ἐλπίζοντες), das in Eile angelegte und nur schwach besetzte ,Bauwerk‘ leicht erobern zu können.“155 Die Hoffnung ruht, davon kündet schon der Satz, in dem von ihr berichtet wird, auf einem breiten empirischen Fundament, fast scheint sie den Rang einer rationalen Schlussfolgerung beanspruchen zu können, so redundant wird im umschließenden Narrativ betont, wie improvisiert und angreifbar das athenische Unternehmen ist – der Ort „nicht mit Verpflegung versorgt und mit geringen Vorkehrungen besetzt“,156 die athenische Mannschaft nicht hinreichend gerüstet,157 die Befestigungsanlage mangelhaft.158 Der letzte Punkt verlangt nach unserer besonderen Aufmerksamkeit, führt Thukydides die Schwächen des Bauwerks doch auf ein hoffnungsgenährtes athenisches Selbstbewusstsein zurück: Die Athener hätten sich gar nicht bemüht, die Befestigung gegen das offene Meer stark zu machen, „weil sie nicht hofften, jemals zur See besiegt zu werden (οὔτε γὰρ αὐτοὶ ἐλπίζοντές ποτε ναυσὶ κρατήσεσθαι)“.159 Die Sprengkraft des Satzes wird deutlicher, wenn die Verneinung, wie in der Vretska/Rinner-Übersetzung geschehen, umgedreht wird: „Sie hofften, niemals zur See besiegt zu werden.“ Die Hoffnung, die hier entgegentritt, ist in ihrem absoluten Anspruch unverkennbar illusionär und irrational, entzieht sich ihr Horizont doch der menschlichen Berechnung. Sie erinnert an die totalitäre ἐλπίς, die Perikles im Epitaphios propagierte – fast scheint es, als sei seine Rhetorik hier zum Leitfaden praktischer Entscheidungen geworden. Wie anders nimmt sich gegenüber diesem hochgemuten, hochgespannten athenischen Hoffnungsmodus der in IV, 8,4 vorgeführte Umgang der Spartaner mit ἐλπίς aus: Nicht allein, dass jene dort nur mit eng begrenztem Ziel und unter der Bedingung empirischer Sicherheit hoffen, sie kalkulieren auch die Möglichkeit des Hoffnungsscheiterns in ihre Pläne ein, verweigern dem Affekt
154 155 156 157 158 159
Vgl. IV, 5,2–8. IV, 8,4. IV, 8,8. IV, 9,1. IV, 9,3. Vgl. dazu auch Kopp: Das Meer als Versprechen, S. 201. 66
also die bedingungslose Hingabe: Ausführlich beschreibt Thukydides in IV, 8,5–8, wie sie sich planvoll und vorsorglich für einen Ereignisverlauf entgegen der von ihnen berechneten Wahrscheinlichkeit (τὸ εἰκός) vorbereiten. Auch die Athener vergessen über ihre hohe Hoffnung die Rüstung freilich nicht ganz: Als die Nachricht vom Anrücken der Spartaner Pylos erreicht, werden die Trieren gesichert, das Heer mit aus Weiden improvisierten Schilden und Waffen ausgestattet, die – unerhörter dritter Glücksfall – ein zufällig gerade vorbeisegelndes Piratenschiff und ein Schnellsegler an Bord hatten,160 und Demosthenes stationiert ein schlagkräftiges Hoplitenkontingent an der schwach gesicherten Meerseite der Befestigung.161 Gerade dort hält er auch eine ermunternde Ansprache, als der Kampf unmittelbar bevorsteht, eine Ansprache, die sich nachgerade wie ein Plädoyer für die Kraft der Hoffnung liest: „Männer, mit mir zu diesem Wagnis entschlossen! Keiner von euch soll in dieser Bedrängnis den Eindruck erwecken wollen, gescheit zu sein, indem er sich all den Schrecken, der uns umgibt, in Gedanken ausmalt (ἐκλογιζόμενος). Nein, vielmehr muss man ohne diese Rücksicht hoffnungsfreudig (εὔελπις) den Feinden zu Leibe rücken und wohl daraus seine Überlegenheit gewinnen! Wenn es nämlich so weit in unserer Zwangslage gekommen ist wie jetzt, dann ist kluges Abwägen (λογισμὸν) am wenigsten gefragt, sondern es bedarf des Wagnisses, und das sehr rasch!“162
Die gesamte Wirrnis des Pylos-Unternehmens – geboren aus einem Instinkt, zusammengepuzzelt aus Zufällen und geleimt von merkwürdig naturhafter athenischer Tatkraft – scheint in diesem Ausruf ihren Kulminationspunkt zu finden: Unverhohlen fordert Demosthenes zu Irrationalität, zur scheinbar synonymen Hingabe an Hoffnung auf, die mit „εὔελπις“ durch eine Vokabel ausgedrückt ist, derer sich zuletzt die Korinther für ihre Beschreibung des hoffnungsfiebrigen Athen in I, 70 bedienten. Um mit Stahl zu sprechen: „Er verbietet den Soldaten geradezu, sich mit Hilfe der ratio ein klares Bild von den gegenwärtigen Zwangs160
161 162
Vgl. dazu auch Hornblower: Commentary II, S. 161f. und Hunter: Artful Reporter, S. 66. Vgl. IV, 9. IV, 10,1. 67
lage zu machen.“163 Ab IV, 10,2 allerdings beginnt Demosthenes nichtsdestotrotz, empirische Gründe für seine Zuversicht aufzuzählen, er appelliert also an die zuvor untersagte Ratio und begibt sich so in einen Selbstwiderspruch, der zum Innehalten zwingt.164 Er wäre einfach erklärt, würde Thukydides unterstellt, er habe die Rede primär mit Blick auf ihre Authentizität als Feldherrenansprache komponiert: Nicht auf logische Konsistenz ist eine solche gewöhnlich angelegt, sondern auf den größtmöglichen Motivationseffekt, die Nutzung mehrerer, auch widersprüchlicher Ermunterungsstrategien folglich legitim. Der einleitende Aufruf zur bedingungslosen Hoffnung erschiene unter dieser Prämisse wie ein geschicktes Manipulationsmittel, mit dem ein weitsichtiger Stratege seine Truppe gefügig und schlagkräftig zu machen versucht – ohne sich selbst dem Affekt hinzugeben, wie der anschließende Rekurs auf scheinbar rationale Erwägungen verrät. Nun sind die Reden bei Thukydides aber nicht auf ihre Authentizität hin entworfen, sondern auf ihr analytisches Potenzial, und so scheint es naheliegend, sie im Zeichen des in ihrem auktorialen Kontext herausgehobenen Themas der Hoffnung zu interpretieren. Demosthenes’ Ausführungen von IV, 10,2 könnten dann als von Hoffnung mitgeführtes „Wunschbild glücklichen Gelingens“ gelesen werden, als gleichsam zeitechte Illustration jener ἐλπίς am Werk, die Demosthenes zu Beginn seiner Rede beschwört. Dass er selbst zu Hoffnung neigt, ist immerhin aus III, 97,3 bekannt, und gewöhnlich ist es um die Lernfähigkeit der Figuren bei Thukydides schlecht bestellt – und dass, weiter, die vermeintlichen Berechnungen in IV, 10,2 sich zum Teil in der Schlacht bestätigen werden, spricht nicht gegen die These, dass sie eigentlich Selbstrechtfertigungen sind: Die Häufung von Glück und Zufall in der Pylos-Passage165 verbietet es, innerhalb ihrer die rationale Qualität einer Akteursprognose durch den Abgleich am Ereignisverlauf zu ermitteln – eine Methode, der sich Rüdiger Leimbach dennoch bedient hat, um schließlich zu der viel rezipierten These zu kommen, Thukydides zeige Demosthenes als hochrationales strategisches Genie, das zu jedem Zeitpunkt aufgrund sicherer Berech-
163 164 165
Vgl. Stahl: Die Stellung des Menschen, S. 143. Vgl. auch Westlake: Individuals, S. 109. Vgl. für die ungewöhnliche Häufung von Glücksfällen im Passus Hornblower: Commentary II, S. 149, Schneider: Information und Absicht, S 95–99, Edmunds: Chance and Intelligence, S. 176–178. 68
nung den athenischen Sieg vorausgesehen habe.166 Wenn wir gegen Leimbach die Bedeutung des Glücks in der Pylos-Passage betonen und auf die im Narrativ angelegte Möglichkeit verweisen, Demosthenes als Hoffenden zu begreifen, so nicht, um gänzlich abzustreiten, dass Thukydides der kognitiven Erkenntnis des Strategen einen Anteil am Triumph der Athener beimisst: Ausdrücklich wird in IV, 12,2 als ein Grund für den Sieg die Topographie von Pylos angeführt, deren Potenzial Demosthenes so früh erkannte.167 Als noch siegentscheidender erscheint in der Schlachtendarstellung aber die „Ausdauer der Athener“ – eine Ausdauer, die plausibel als Resultat der Hoffnungsbeschwörung in IV, 10,1 gedeutet werden kann. Thukydides betont den Gegensatz zwischen den ausdauernden, hoffnungsbeseelten Athenern und den zögernden, sicherheitsbedachten Spartanern, auf deren Zaghaftigkeit die Aufmerksamkeit noch zusätzlich lenkt, dass ihnen mit Brasidas eine energische und tatkräftige Kontrastfigur in die Mitte gestellt ist.168 Wird freilich die Tatkraft der Athener mit ihrer Hoffnung erklärt, muss das Zaudern der Spartaner im ersten Moment verwundern, zogen sie doch ebenfalls, gemäß IV, 8,4, mit ἐλπίς zum Feldzug aus. Auch noch in der Schilderung der Kampfhandlungen werden sie, ein zweites Mal, mit der Hoffnung assoziiert: „Am dritten Tag hatten sie einige Schiffe an der Küste entlang nach Asine geschickt, um Hölzer für Belagerungsmaschinen zu holen. Sie hatten sich nämlich Hoffnungen gemacht (ἐλπίζοντες), von der Hafenseite her, wo die Mauer zwar hoch, aber doch eine Landung am besten (möglich) war, den Platz durch Belagerungsmaschinen einzunehmen.“169
Der Begriff ἐλπίς dient in der Pylos-Passage also nicht exklusiv der Beschreibung der Athener, auch die Spartaner hoffen. Doch bei genauer Betrachtung zeigt sich, dass die Textur ihrer Hoffnung sich fundamental von der athenischen unterscheidet und entsprechend andere Wirkkräfte entfalten muss: Die spartanische ἐλπίς in IV, 8,3 und IV, 13,1, ist eng eingebunden in empirische Parameter, sie ist das
166
167 168 169
Vgl. Rüdiger Leimbach: Militärische Musterrhetorik. Eine Untersuchung der Feldherrnreden des Thukydides, Stuttgart 1985, S. 56–63. Vgl. IV, 3. Vgl. IV, 11,4 und 12,1. IV, 13,1. 69
Resultat gewissenhafter Berechnungen – die athenische ἐλπίς dagegen, die in IV, 9,3 aufflackerte und die Demosthenes mit der Vokabel εὔελπις fordert, erhebt sich über jede Empirie und bildet den Anfangspunkt des Planungsprozesses; sie ist affektiv und radikal. Und sie bewährt sich in der historischen Situation: Während die so gut fundierten Hoffnungen der Spartaner sich rasch zerschlagen, siegen die Athener bei Pylos entgegen aller Wahrscheinlichkeit. Der Sieg ist das Ergebnis ihrer Ausdauer und ihres Wagemuts, der sich, wie aufgezeigt, eben aus ihrer totalitären ἐλπίς gespeist hat, aber auch das Glück, das so irrwitzig oft das Unternehmen begünstigte, hat Anteil an ihm. Fast scheint sich mit dem athenischen Triumph bei Pylos so die korinthische Prophezeiung vom qua ihrer Hoffnung den Zufall bezwingenden, dem Zufall diktierenden Athen erfüllt zu haben. Die Spartaner freilich ziehen diese Schlussfolgerung nicht: In IV, 17,4 mahnen einige lakedaimonische Gesandte, die nach der Schlacht mit einem Friedensgesuch in Athen auftreten: „In eurer Hand liegt es jetzt, das Glück der Stunde gut zu nutzen, indem ihr behaltet, worüber ihr herrscht, und Ehre und Ruhm hinzugewinnt, nicht in den gleichen Fehler zu verfallen wie Menschen, denen unverhofft ein Gewinn zufällt: Voll Hoffnung stürmen sie immer weiter, da ihnen ja bis jetzt wider Erwarten alles glückte (αἰεὶ γὰρ τοῦ πλέονος ἐλπίδι ὀρέγονται διὰ τὸ καὶ τὰ παρόντα ἀδοκήτως εὐτυχῆσαι). Wer aber schon oft und oft das Wechselspiel des Schicksals erfahren hat, der sollte zutiefst dem Glück misstrauen; diese Haltung, aus Erfahrung erwachsen, dürfte wohl eurer Stadt und uns am ehesten anstehen.“170
Die Mahnung geht noch lange weiter, eine Mahnung zur Mäßigung, zur Selbstbegrenzung, zur Sicherung des Bestehenden, zur Zügelung überschießender Hoffnungen, eine Mahnung also, die das Wesen der athenischen Dynamik, das sich in Pylos gerade erst bewiesen hat, vollkommen verkennt. Das Unvermögen der Spartaner, ihren Gegner zu begreifen, wird nirgendwo deutlicher als im Hoffnungskonzept der Rede, genauer: in der konventionellen Bestimmung der Kausalität von Glück und Hoffnung. Die Spartaner gehen davon aus, dass Hoffnung aus unerwartetem Glück entsteht und als Führerin eben darum gefährlich ist, weil 170
IV, 17,4f. 70
sie den Irrtum überträgt, der Ausnahmefall, der sie geboren hat, sei die Regel. Die Ἀθηναίων ἐλπίς aber, wie aus dem Athenporträt der Korinther, aus Perikles’ Gefallenenrede, und aus dem Kampf um Pylos entgegentritt, scheinen umgekehrte Gesetzmäßigkeiten zu charakterisieren: Sie geht dem Glück voraus und stellt den Anspruch, es zu bezwingen, ihm zu diktieren, gleichsam selbst Verwalterin von Ausnahme und Regel zu sein. Es überrascht ob der ideologischen Differenzen von spartanischem und athenischem Hoffnungsbegriff nicht, dass die Mahnung der friedenssuchenden Gesandten auf taube Ohren stößt. Thukydides verliert denn auch nicht ein Wort über die Rezeption der Rede, stattdessen zeigt er die Athener, kaum dass er die Worte der Spartaner hat verklingen lassen, in völlig unveränderter, vorwärtsdrängender, selbstbewusster Gier: „Die Athener aber dachten, da sie nun einmal die Männer auf der Insel eingeschlossen hielten, sei ihnen ein Waffenstillstand jederzeit sicher […]; daher schraubten sie ihre Forderungen höher (τοῦ δὲ πλέονος ὠρέγοντο).“171
Es ist wohl kein Zufall, dass das athenische Handeln mit der Vokabel ὀρέγειν bezeichnet ist, derselben, die die Spartaner in IV, 17,4 für den Modus des hoffnungsgetriebenen und unheilbringenden Voranstürmens nutzen: Deutlicher könnte die totale Missachtung der lakedaimonischen Mahnung durch die Athener erzählerisch kaum herausgestellt werden. Die Betonung athenischer Ignoranz evoziert eine Ahnung von Unheil, auch wenn ein auktoriales Urteil zur Validität der Ἀθηναίων ἐλπίς für den Leser an jener Stelle im Narrativ nicht greifbar ist. Greifbar wird indessen in IV, 65 ein erster Hinweis auf ihre Substanz: Thukydides entdeckt die athenische Hoffnung hier als Gefolgsfrau des Glücks. Seit dem Unternehmen in Pylos ist genau ein Jahr vergangen, Demosthenes’ Mitstrategen von damals sind lange an ihrem ursprünglichen Bestimmungsort Sizilien eingetroffen, haben die Insel aber bald wieder verlassen – der Krieg, in den sie intervenieren sollten, war von den Siziliern selbst beigelegt worden. Die Athener empfangen ihre Feldherren mit wütender Empörung, glauben sie sich doch um die Möglichkeit betrogen
171
IV, 21,2. 71
„Sizilien zu unterwerfen […]. So sehr waren sie in ihrem gegenwärtigen Glück überzeugt, es dürfe sich ihnen nichts entgegenstellen, das Mögliche ebenso wie das Schwierigere (τὰ δυνατὰ ἐν ἴσῳ καὶ τὰ ἀπορώτερα172) müssten sie mit großer oder auch schwacher Heeresmacht durchsetzen. Die Ursache hiervon war der unerwartete Erfolg bei den meisten ihrer Unternehmungen, das ihrer Hoffnung solche Kraft verlieh (εὐπραγία αὐτοῖς ὑποτιθεῖσα ἰσχὺν τῆς ἐλπίδος).“173
Mit ihrem Fokus auf die radikale Realitätsverachtung erinnert diese auktoriale Beschreibung der Ἀθηναίων ἐλπίς an jene in der Korintherrede auf der ersten Versammlung in Sparta. Doch während die athenische Hoffnung dort als grundsätzlich neues und originäres Phänomen erschien, zeigt Thukydides sie, indem er sie auf Glück zurückführt, als Ausprägung des gemeinmenschlichen Affekts, den er schon vorher an vielen nicht-athenischen Akteuren dargestellt hat.174 Der ironische Rückbezug zur Warnung der spartanischen Gesandten, dem Glück der Stunde zu misstrauen – und zur hochmütigen athenischen Reaktion – stellt sich gleichsam von selbst her. Unklar bleibt freilich, ob die Ironie den Athenern gilt, weil sie sich Hoffnung hingeben – oder weil sie ihre Hoffnung nicht als solche erkennen und sich als Hoffende für rationale Akteure halten. Die Hermokratesrede von IV, 59–63, die der Szene um die Bestrafung der athenischen Strategen unmittelbar vorangestellt ist, scheint der zweiten Interpretation zuzuarbeiten.175 Hermokrates spricht dort vor einer Versammlung sizilischer Städte, die zugekommen sind, um über eine Beilegung ihrer ständigen Fehden zu beraten; sein vornehmliches Ziel ist es, die Zuhörer von einem Friedensbund zu überzeugen, fürchtet er doch, dass seine Insel durch fortwährenden Zwist zur leichten Beute des begehrlich ausgreifenden Athen werden 172 173 174
175
Scharf übersetzt von Jowett mit „impossible“. IV, 65,3f. Nicht zufällig klingt so wohl auch in der Wortwahl das Hoffnungsverdikt in Diodotos’ anthropologischen Aussagen an. Vgl. auch Tamiolaki: Motivation, S. 58. Vgl. für eine Gesamtinterpretation der Rede Georg Peter Landmann: Interpretation einer Rede des Thukydides. Die Friedensermahnung des Hermokrates, Tübingen 1932, C. M. Fauber: Hermocrates and Thucydides: Rhetoric, Policy, and the Speeches in Thucydides, in: ICS 26 (2001), S. 37–51, Connor: Thucydides, S. 119–126 und Orwin: Humanity, S. 163–171. 72
könnte. Seine Friedensargumente schöpft er nicht nur aus der Situationsanalyse, sondern auch aus politiktheoretischen Betrachtungen. So erörtert er in der Mitte seiner Rede: „Wenn jemand zuversichtlich glaubt, aufgrund seines Rechtes oder mit Gewalt etwas zu erreichen, so möge er sich nur nicht im Unverhofften (παρ᾽ ἐλπίδα) schwer täuschen und bedenken: Manche wollten sich schon an ihren Beleidern rächen, andere wieder erhofften (ἐλπίσαντες) dank einer beträchtlichen Macht einen Gewinn – und dann haben die einen nur ihre Rache verfehlt, ja, sie konnten sich nicht einmal selbst retten, und den anderen widerfuhr es, statt mehr zu haben, sogar ihren eigenen Besitz zu verlieren. Denn Rache muss niemandem nach einer Art Rechtsgrundsatz glücken, weil ihm Unrecht widerfährt; und Stärke ist nicht deshalb verlässlich, weil sie voll hochgemuter Hoffnung (εὔελπις) ist. Das Unberechenbare der Zukunft (ἀστάθμητον τοῦ μέλλοντος) herrscht eben in weitestem Umfang, und ist es auch noch so trügerisch, so erweist es sich doch als nützlich; denn da Furcht auf beiden Seiten waltet, ziehen wir mit größerer Vorsicht gegeneinander in den Kampf. Und jetzt, wegen der unbestimmten Furcht vor diesem Unsichtbaren (τοῦ ἀφανοῦς) und wegen der nun schon Furcht erregenden Anwesenheit der Athener, durch beides also erschreckt, ferner, was das Fehlschlagen unserer Erwägungen betrifft, in der hinreichenden Erkenntnis, dass die Pläne jedes Einzelnen von uns gerade durch diese beiden Hindernisse vereitelt wurden, wollen wir die drohenden Feinde außer Landes schaffen und selber am besten Frieden auf ewige Zeit schließen, wenn aber nicht, so doch durch langfristige Verträge unsere Streitigkeiten auf später verschieben. […] Ich also, der ich, wie anfangs erwähnt, die mächtigste Stadt vertrete und mich besser auf Angriff als auf Verteidigung verstehe, bin in richtiger Erkenntnis des Kommenden zur Nachgiebigkeit bereit; ich will nicht […] in törichtem Ehrgeiz glauben, ebenso selbstherrlich wie über den eigenen Entschluss auch über das Schicksal zu gebieten, das ich ja doch nicht beherrsche; nein, soweit es vertretbar ist, will ich nachgeben.“176
176
IV, 62, 3–64, 1. 73
Kein anderer Akteur im thukydideischen Werk formuliert mit solcher Kompromisslosigkeit die totale Unberechenbarkeit der Zukunft wie Hermokrates hier. Alle menschlichen Versuche, das Künftige durch metaphysisch-naturrechtliche Vorstellungen greifbar zu machen, erweist er als fallibel, alle menschlichen Institutionen als instabil. Er entwirft das Dasein des Menschen als ein Dasein in Ohnmacht – aber er zeigt auch zwei Menschenmöglichkeiten auf, sich selbstbeschränkend zu verhalten und so die Gefahren des Handelns hinein ins Ungewisse zu mindern: Am eigenen Beispiel weist er Rationalität als ein mögliches Medium der Selbstbeschränkung auf, wenn er verkündet, ob der Erkenntnis der eigenen Grenzen zum Nachgeben bereit zu sein. Gleichzeitig beschreibt er als alternatives Medium die Erwartungsaffekte Furcht und Hoffnung, von denen er wertfrei als natürliche menschliche Reaktionen auf die Zukunft spricht. Er skizziert eine ideale Balance zwischen beiden, in der die Furcht die Hoffnung – und zugleich die jener immanente Gefahr, selbstvergessenen Übermut zu stimulieren – dämmt.177 Aus dieser Perspektive hermokratischer Theorie erscheint die Ἀθηναίων ἐλπίς, wie sie uns bisher im Narrativ begegnete, als eine gefährliche Entartung, ist ihr doch charakteristisch, sich als Zukunftsaffekt absolut zu setzen und die Furcht dogmatisch zu negieren – folglich muss sie das Affektgleichgewicht verunmöglichen, das Hermokrates gleichsam präskriptiv beschreibt. Dass seine Rede kommentierend auf den athenischen Hoffnungsmodus verweist, darüber kann kein Zweifel bestehen; nicht nur verknüpft Hermokrates die Hoffnung mit der Position des Mächtigen, er nutzt auch mit „εὔελπις“ zur Beschreibung zerstörerisch hochgemuter Hoffnung jene Vokabel, die im Werk exklusiv als Marker einer spezifischen athenischen Hoffnungsqualität auftaucht.178 Mit Blick auf die Ironie von IV, 65 ist besonders entscheidend, dass seine Formulierungen auch auf den Melierdialog verweisen, auf jene Szene im Narrativ also, in der die Athener ihre eigene Hoffnungsgetriebenheit ausdrücklich bestreiten.179 Denn wenn Hermokrates spricht: „Manche wollten sich schon an ihren Beleidern rächen, andere wieder
177 178
179
Vgl. zur Verhandlung der Furcht bei Hermokrates auch Orwin: Humanity, S. 169f. Wie noch zu zeigen sein wird, bezieht sich auch VIII, 2,4 auf die Hoffnung der Athener. Vgl. auch Connor: Thucydides, S. 152f. 74
erhofften dank einer beträchtlichen Macht einen Gewinn – und dann haben die einen nur ihre Rache verfehlt, ja, sie konnten sich nicht einmal selbst retten, und den anderen widerfuhr es, statt mehr zu haben, sogar ihren eigenen Besitz zu verlieren“ – so stellt er in einem Satz nicht nur den von den Athenern im Melierdialog gegen die Melier erhobenen Anspruch auf die Rationalität ihrer Selbstsicherheit in Frage, er weist auch auf den Sizilienfeldzug und sein Scheitern voraus und enthüllt ihn als hoffnungsgetrieben.
75
Hoffnung als militärische Ressource in den Büchern VI und VII Sizilien flimmert lange am Horizont athenischer Hoffnung, vor Ausbruch des Krieges schon.180 In IV, 65,4, nach der ersten Expedition unter Laches und Eurymedon, scheint die Insel gleichsam ins Zentrum der Ἀθηναίων ἐλπίς zu rücken, ja, als Chiffre für „τὰ ἀπορώτερα“, die nicht sein dürfen für Athen, fast zum Fetischobjekt der Stadt zu werden. Mit der Darstellung des Nikiasfriedens verschwindet sie danach, ebenso wie die Ἀθηναίων ἐλπίς überhaupt, zunächst als Thema aus dem Narrativ, aber wenn sie in VI, 1 wieder in den Fokus der historischen Analyse rückt, so muss es scheinen, dass die athenische Gier auf Sizilien über die vermeintlichen Friedensjahre nichts an Intensität verloren hat. Ausdrücklich knüpft Thukydides denn auch an IV, 65,4 an: „Im gleichen Winter wollten die Athener zum zweiten Mal und mit größerer Macht als damals unter Laches und Eurymedon gegen Sizilien segeln und es unterwerfen, wenn sie könnten; dabei waren sich die meisten völlig im Unklaren über die Größe der Insel und die Zahl der dort wohnenden Hellenen und Barbaren und dass sie darangingen, einen nicht viel geringeren Krieg anzufangen als den gegen die Peloponnesier.[…] der eigentliche Grund war ihr Wunsch, das ganze Land zu beherrschen, zugleich aber wollten sie – ein schöner Vorwand – ihren Verwandten und deren später dazugestoßenen Bundesgenossen zu Hilfe kommen.“181
Es erinnert diese Darstellung des Winters 415 unvermeidlich an die Darstellung des Sommer 424, wieder zeigt sich ganz Athen in Wallung bei dem Gedanken an
180 181
Vgl. I, 44,3 und I, 36,2. VI, 1–6. 76
das ferne Sizilien, nur das diesmal die Begierde unmittelbar in Taten umgesetzt wird: Die Athener beschließen kurzerhand einen Feldzug, mit erregter Geschäftigkeit wird die Ausfahrt einer Flotte vorangetrieben. Thukydides unterbricht seine Beschreibung des rastlosen Treibens mit der Schilderung einer Volksversammlung, in der er zuerst Nikias sprechen lässt. Nikias ist zum Strategen des Unternehmens gewählt worden, wiewohl ihm alles daran widerstrebt, und ergreift die letzte Gelegenheit, das Volk mit mahnenden Worten vom schon gefassten Kriegsbeschluss abzubringen. Seine Rede ist ein Plädoyer für Mäßigung und Vorsicht, er geißelt impulsiven Übermut und ἐπιθυμία und betont dagegen den Wert von bedächtiger Überlegung und προνοίᾳ;182 dem Reiz der Ferne setzt er die vertraute Zuverlässigkeit des Bestehenden entgegen,183 wilden Hoffnungen Vorsorge und Bedenken,184 der Aufregung des Abenteuers die Beschaulichkeit von Sicherheit. Fast verzweifelt müht er sich ab zu überzeugen, doch gelingen will es ihm nicht. Inmitten der laut aufgespielten Marschmusik klingen seine Worte schwerfällig und angestrengt, bieder und fad, unangemessen fast im Angesicht der allgemeinen Ausgelassenheit. Selbst dem Leser, der von Thukydides nicht nur zum kritischen Analysten der fiebrigen Erregung der Athener, sondern eben auch zum stillen Ästhet der Bewegung erzogen worden ist, müssen Nikias’ Ausführungen als lästiger Störmoment anmuten, als ein hässliches Stocken der Fallbeschleunigung, die gerade ihre Schönheit zu erkennen lassen begann. Nikias’ Mahnungen verhallen indes rasch; Thukydides lässt ihnen eine Rede des Alkibiades folgen – eines Akteurs, in dem die hoffnungsmotorisierte Aufbruchsstimmung der Athener geronnen scheint. Alkibiades, so führt Thukydides dessen Rede ein, „wollte Feldherr werden und hoffte (ἐλπίζων), dabei Sizilien und Karthago zu erobern und gleichzeitig, wenn er Glück habe, für sich selbst durch (Gewinn an) Reichtum und Ruhm Nutzen zu ziehen.“185 In seiner Rede freilich erwähnt Alkibiades ἐλπίς mit keinem Wort und er scheint sie auf den ersten Blick auch nicht zu beschwören. Statt die sehnsüchtige Begierde der Athener, die ihn selbst durchglüht, anzufachen, sucht er Furcht bei seinen Zuhörern zu wecken, Furcht vor dem Verlust der athenischen Macht, die er ganz an182 183 184 185
Vgl. VI, 11,6 und 13,1. Vgl. IV,9,3 und 13,2. Vgl. VI, 10f. VI, 15,2 77
ders als Nikias nicht als statischen Besitz verhandelt, sondern von der er als einem lebendigen Organismus spricht, als Organismus, der in stetiger Dynamik besteht, der nur lebt, solange er wächst, und der darum bei dem kleinsten Moment des Stillstands in sich zusammenfallen muss. Athen, so folgert Alkibiades, sei daher gezwungen zur beständigen Expansion,186 jede Politik der Mäßigung eine Politik der Selbstvernichtung, eine Selbstverleugnung gar: Rastlosigkeit schließlich – Alkibiades betont dies gleich zweimal und weckt Erinnerungen an die essentialistischen Momente der ersten Korintherrede – bilde den Kern athenischer DNA, sei das vornehmste Charakteristikum ihrer „Sitten und Bräuche (ἤθεσι καὶ νόμοις)“, die zu negieren nichts anderes bedeuten würde, als die Stadt zu negieren.187 Nahtlos fügt sich die Rede ob solcher Thesen in den uns bekannten Diskurs um die organische Triebhaftigkeit der athenischen Dynamik, ein Diskurs, in dem ἐλπίς wieder und wieder als Schlüsselbegriff erschien. Auch wenn Alkibiades sie begrifflich nicht erwähnt, hält sie also über die Hintertür der intratextuellen Assoziation, die seine Worte evozieren, doch Einzug in die Rede – und geht mit der plakativ beschworenen Furcht eine eigentümliche Symbiose ein: Begreifen wir den Zwang zur ständigen Expansion, den Alkibiades mit seiner Angstrhetorik formuliert, nämlich gemäß des diskursiven Umfelds, in den seine Thesen gestellt sind, als Zwang zur totalitären Hoffnung, so entdeckt sich, in letzter Konsequenz, dass die Furcht zum Instrument geworden ist, um ἐλπίς absolut zu setzen, um Hoffnung zum athenischen Lebensprinzip zu erheben. In dieser scheinbar sinnwidrigen, doch in ihrem Ergebnis so hochexplosiven Vereinigung der gegensätzlichsten
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187
Vgl. VI, 18,3: „Wir können es uns nicht einteilen, wie weit wir herrschen wollen, sondern sind gezwungen (ἀνάγκη) […] die anderen nicht hochkommen zu lassen...“ Wiederum besteht hier übrigens eine Analogie zwischen Stadt und Alkibiades als Privatperson, ist doch auch er durch seinen Lebensstil zur ständigen Rastlosigkeit, zur ständigen Neuerwerbung gezwungen: verharrte er, würden ihn wohl die Schulden einholen, wie Thukydides in VI, 15,3 impliziert. Vgl. VI, 18, 6f.: „unsere Stadt wird, wenn sie untätig verharrt, sich selbst aufreiben – wie das auch sonst zu geschehen pflegt – und das Können auf allen Gebieten wird dabei verkümmern […] Überhaupt meine ich, dass eine (von Natur) keineswegs untätige Stadt am schnellsten, so glaube ich, durch den Übergang zu Untätigkeit zugrunde geht und von den Menschen diejenigen am sichersten ihren Staat lenken, die möglichst wenig von den bestehenden Sitten und Bräuchen, sollten sie auch weniger gut sein, abweichen.“ 78
menschlichen Zukunftsaffekte zeigt sich Alkibiades’ Rede als ein energetischer Höhepunkt im Hoffnungsdiskurs des thukydideischen Werkes. Bei ihrem historischen Publikum verfehlt sie ihre Wirkung nicht. Als Alkibiades verstummt, hat sich die Erregung in Athen zu einem solchen Grad gesteigert, dass das Volk Nikias’ zweite Rede – ein verzweifelter Versuch, dem Unternehmen durch eine erschöpfende Darlegung der notwendigen Rüstungsanstrengungen seine Attraktivität zu nehmen – nicht einmal mehr angemessen zu interpretieren vermag: Nikias’ superlative Erörterungen, zur Abschreckung gedacht, steigern die Lust der Athener, statt sie zu dämpfen; sie begreifen die Warnung als praktischen Rat, setzen ihn um und gewinnen darüber – ironischer könnten Rednerintention und Publikumsrezeption nicht auseinanderfallen – ein Gefühl „umfassender Sicherheit“.188 Kein Halten kennt ihr Enthusiasmus nun mehr: Über alle Standes- und Altersgrenzen hinweg gibt sich das Volk hemmungslos dem Verlangen (ἐπιθυμία) nach Sizilien, der Leidenschaft (ἔρως) hin, Sehnsucht nach der Ferne ergreift die einen, Gier nach Macht, Geld und Abenteuer die anderen – und es ist die Hoffnung, ausgedrückt mit der Athen bekanntlich exklusiven Vokabel „εὔελπις“, die all dem, ganz gemäß Diodotos’ Anthropologie, ein „Wunschbild glücklichen Gelingens“ beistellt und jeden Gedanken an Furcht und Vorsicht zerstreut.189 Die vibrierende, fast erotischen Spannung, die über der Stadt liegt, kulminiert in der Ausfahrt der Flotte. Die Beschreibung des Spektakels gehört zweifellos zu den erzählerischen Höhenpunkten von Thukydides’ Werk, sie ist eine Verführung des Lesers zur sinnlichen Imagination: Ein Panorama von schwelgerischer Opulenz wird vor seinen Augen entfaltet, Gold und Silber blitzen, Trompeten erschallen, Schiffe mit dem teuersten und prächtigsten Dekor recken sich in das Licht des Sommermorgens.190 Struktur und Tiefe erhält die plastische Kulissenbeschreibung durch regelmäßige Blenden in die unruhige Gefühlswelt der Schaulustigen; 188 189
190
Vgl. VI, 19–24,2. Siehe auch Connor: Thucydides, S. 167. Vgl. VI, 24,3: „Und eine Sucht nach diesem Unternehmen überkam alle in gleicher Weise: die Älteren, (das Land) zu unterwerfen, gegen das sie ausfuhren […], die in ihren besten Jahren Stehenden aus Sehnsucht, die Ferne zu sehen und kennen zu lernen, voll Vertrauen, heil davonzukommen (εὐέλπιδες ὄντες σωθήσεσθαι) und die große Masse der Soldaten in der Hoffnung, fürs erste Geld zu verdienen und dann eine Macht zu gewinnen, durch die ihnen dauernde Soldzahlung gewährleitet werde.“ Siehe dazu auch Gervasi: Concept of Hope, S. 108. Vgl. VI, 30,1; 31,3; 32,1. 79
„ἐλπίς“ begegnet hier als Schlüsselbegriff.191 In ihrer ersten Verwendung bezeichnet die Vokabel eine affektive Regung, die eng an das Bewusstsein über die Ungewissheit der Zukunft gebunden ist: Die Athener, so erfahren wir gleich zu Beginn der Szene, versammelten sich am Piräus „unter Hoffen und zugleich unter Klagen (μετ᾽ ἐλπίδος τε ἅμα ἰόντες καὶ ὀλοφυρμῶν), was sie alles erobern, andererseits aber, ob sie sie [die aussegelnden Männer] jemals wiedersehen würden, da sie überlegten, welch gewaltige Flotte sie von ihrer Heimat absandten. In diesem Augenblick aber, als sie nunmehr in Gedanken an die Gefahren einander verlassen sollten, kam ihnen das Schreckliche mehr zur Bewusstsein als zur Zeit, da sie das Unternehmen beschlossen hatten; indes, aufgrund der gegenwärtigen Machtentfaltung, bei der Menge dessen, was sie vor Augen sahen, fassten sie wieder Mut (ἀνεθάρσουν).“192
Ein in Athen seltener Moment der Erkenntnis über die eigenen Verwundbarkeit und Ohnmacht gerade in der Potenz ist hier formuliert; die Stadt wird von kaltem Schrecken über die eigene Verwegenheit durchschauert – und sucht in den materiellen Tatsachen nach Stärkung und Trost. Thukydides folgt narrativ dem schweifenden Blick der Athener und setzt zu einer Beschreibung der Flottenparade im Piräus an. Der Leser, solchermaßen auf die Perspektive der Schaulustigen festgelegt, kann kaum umhin, selbst ins Staunen über die Machtparade zu geraten – doch anders als den historischen Athenern wird ihm von Thukydides der Schaucharakter der Veranstaltung enthüllt.193 Die letzten Worte der auktorialen Beschreibung enthüllen die prachtvolle Hafenkulisse gleichsam als Pappmachéattrappe: „das Ganze glich mehr einer Zurschaustellung der eigenen Macht und Wohlhabenheit vor den 191
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Vgl. so auch Borimir Jordan: The Sicilian Expedition was a Potemkin Fleet, in: CQ 50 (2000), S. 63–79, hier: S. 68f. VI, 30,2. So auch Jordan: Sicilian Expedition, S. 71f., der, wie im Titel seines Aufsatzes angezeigt, gar argumentiert, Thukydides habe die Armada als „Potemkin Fleet“ zeigen wollen. Vgl. dagegen Orwin: Humanity, S. 118f. Entschieden zu widersprechen ist Gervasi: Concept of Hope, S. 110, der die Beschreibung als erzählerischen Hinweis darauf wertet, dass die athenischen Hoffnungen „in every way […] firmely based“ gewesen seien. 80
anderen Hellenen als einer Rüstung gegen Feinde“, analysiert Thukydides und entlarvt, indem er danach unmittelbar auf die verzückten Athener schwenkt, diese als Opfer ihrer eigenen Inszenierung. Unfähig, das von eigener Hand ins Werk gesetzte Blendwerk als solches zu erkennen, haben sie durch den Blick auf die Flottenparade zu altem Selbstbewusstsein zurückgefunden: „Und das Unternehmen war ebenso, weil jeder staunte über die Kühnheit und die Pracht des Geschauten ringsum, in aller Munde wie wegen der Übermacht des Heeres über die Angegriffenen und weil nunmehr die Überfahrt zu dem am weitesten von der Heimat entfernten Ziel begonnen wurde, mit mächtiger Hoffnung auf das Künftige im Vergleich zu dem schon Vorhandenen (ἐπὶ μεγίστῃ ἐλπίδι τῶν μελλόντων πρὸς τὰ ὑπάρχοντα ἐπεχειρήθη).“194
All die widersprüchlichen Gefühle, all die Zweifel, die eben noch das Volk bewegten, sind hier aufgelöst in ἐλπίς, die zu ihrer alten Größe zurückgefunden hat: Groß (μεγίστη) zeigt sie sich, ausgreifend und ungerichtet – und damit wie das Echo der Hoffnung von IV,65,3f. Durch den Bezug erscheint der Feldzug plötzlich wie prädeterminiert, wie die unausweichliche Konsequenz von Athens schon viele Jahre zurückliegender Selbstpreisgabe an eine unersättliche Hoffnung. So ist es denn für den Leser kaum möglich, die hoffnungsdurchglühten Athener im Piräus ohne ein Gefühl tragischen Mitleids zu betrachten – obwohl Thukydides beständig zur kritischen Distanz ermahnt: Der gesamte Bericht um die Entscheidung zum Sizilienfeldzug ist marmoriert von intratextuellen Verweisen, die dazu angetan sind, dem Leser die Fahrlässigkeit und Ignoranz der Athener zu entdecken:195 Alkibiades’ wichtigstes strategisches Kriegsargument, die Bewohner Siziliens seien ob ihres Partikularismus und ihrer Zerstrittenheit unfähig zum geeinten Vorgehen und für Athen so mühelos zu unterwerfen,196 ist von Thukydides daraufhin
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196
VI, 31,6. Vgl. dazu Stahl: Speeches and the Course of Events in Books Six and Seven of Thucydides, in: Jeffrey S. Rusten (Hrsg.): Thucydides, Oxford 2009, S. 141–358, hier: S. 350f. Siehe auch Connor: Thucydides, S. 162. Vgl. VI, 17,2–4. Siehe dazu Jordan: Sicilian Expedition, S. 73 und Connor: Thucydides, S. 166. 81
formuliert, den Leser sich an IV, 65,1f. zurückerinnern zu lassen, wo berichtet wurde, wie die Sizilier knapp zehn Jahre zuvor aus Furcht vor den Athenern ihre inneren Streitigkeiten beilegten und zusammenstanden. Insofern die Einigung dort als das Resultat der hermokratischen Rede schien, erzeugt Thukydides eine nicht zu überhörende ironische Spannung, wenn er Alkibiades in der Siziliendebatte die Worte in den Mund legt, es sei doch ganz „unwahrscheinlich, dass ein solcher Haufen einmütig auf eine Rede hört“.197 Der Querverweis nämlich projiziert Hermokrates’ Warnung über die Unberechenbarkeit der Zukunft auf die selbstgewissen Athener des Jahres 415 – und verstärkt überdies noch den Bezug zwischen dem Melierdialog und dem Bericht um den athenischen Entschluss zur Sizilienexpedition. Auch ohne Vermittlung durch Hermokrates ist dieser Bezug freilich unübersehbar und entsprechend viel in der Forschung diskutiert: 198 Nicht nur folgt die Siziliendebatte dem Melierdialog im Werk unmittelbar, Thukydides flicht ihr auch einen Verweis auf den Dialog ein, so legt er dem unglücklichen Nikias – dessen strategische Analyse, nebenbei, ganz anders als jene des Alkibiades vielfache Bestätigung in den auktorialen Partien des Werkes findet – einen Satz in den Mund, der zum Teil wörtlich mit den prägnanten Abschiedsworten der athenischen Gesandten im Melierdialog übereinstimmt: „Bei eurer Denkungsart aber würde meine Rede wenig ausrichten, riete ich euch, das Bestehende zu bewahren und nicht das Vorhandene für Ungewisses und Künftiges (τῶν ἀφανῶν καὶ μελλόντων) aufs Spiel zu setzen“199, eröffnet Nikias bitter seine Rede und charakterisiert die Athener also mit fast denselben Worten, mit denen in V, 113 die athenische Gesandtschaft tadelnd die Melier beschrieben hat: „Ihr seid also wirklich die Einzigen […] die in der Zukunft (τὰ μέλλοντα) mehr Sicherheit erkennen als in dem, was vor Augen liegt, und die das Verhüllte (τὰ ἀφανῆ), allein weil sie es wünschen, als wirklich betrachten.“200 Die Parallele ist reich an ironischem Potenzial und entlarvend für Athen, findet Nikias’ Urteil doch sofort auktoriale Bestätigung: Thukydides’ Beschreibung der Sizilienausfahrt präsentiert eine Stadt, die nach dem Ungewissen giert, die – wir erinnern uns an VI, 24,3 – εὐέλπιδομενος
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199 200
VI, 17,4. Vgl. exemplarisch Wassermann: Melian Dialogue, S. 30, Cornford: Mythistoricus, S 184f., Connor: Thucydides, S. 158, S. 161f., Orwin: Humanity, S. 118f. VI, 9,3. V, 113. 82
im Wunsch schon die Errungenschaft sieht, die also genussvoll den im Melierdialog selbst formulierten Maßstäben zuwiderhandelt. Nun haben wir die Athener sich schon oft leichtfertig über Mahnungen zu maßvoller Besonnenheit hinwegsetzen sehen – in IV, 21 schlugen sie den spartanischen Rat in den Wind, in IV, 65,3f. gerierten sie sich als Antithese von Hermokrates’ weisen Worten. Doch die Ignoranz erreicht mit dem Entschluss zum Sizilienfeldzug so unmittelbar nach dem Melierdialog eine neue Qualität, schließlich ist es nun die selbstformulierte Mahnung, der die Athener sich widersetzen. Die gesamte Erzählung der Flottenausfahrt erschließt sich vor dem Hintergrund des Melierdialogs folglich als eine Illustration von Athens Mangel an Selbstreflexion. Die Ankunft der athenischen Flotte in Sizilien gestaltet sich so ernüchternd wie der Aufbruch triumphal: Fest eingeplante Finanzierungsquellen und Bündnisse zerschlagen sich, das athenische Heer hat Schwierigkeiten, Lagerplätze zu finden, und schließlich wird auch noch Alkibiades, Kopf, Herz und diplomatischer Trumpf des Feldzugs, vom Unternehmen abgezogen und nach Athen zurück beordert, wo er umstürzlerischer Machenschaften angeklagt worden ist.201 Nach einem halben Jahr weitgehender Untätigkeit hat sich die zunächst ehrfurchteinflößende Wirkung der gewaltigen athenischen Flotte abgenutzt, mehr noch, die vormals ängstlichen Syrakusaner blicken mit Verachtung auf das athenische Heer herab.202 Der neue Übermut der Feinde beschert Athen immerhin einen ersten Erfolg, so gelingt schließlich die Besetzung eines strategisch bedeutsamen Geländes vor den Toren der Stadt, auf die es zur ersten Schlacht zwischen athenischen und syrakusanischen Truppen kommt.203 In ihr begegnen wir ἐλπίς, zum ersten Mal seit der Flottenausfahrt, wieder. Den jüngsten Ernüchterungen zum Trotz ist sie den Athenern als Kampfgefährtin exklusiv, ihre Gestalt hat sich seit ihrer letzten Manifestation im Piräus allerdings leicht gewandelt: Nikias, der sie in einer kurzen Ermunterungsrede vor Beginn des Kampfes beschwört, spricht von ihr als der „großen Hoffnung (μεγάλην τὴν ἐλπίδα)“204, die jeder (πάντα τινὰ) in Anbetracht der Kräfteverhältnisse auf den Sieg haben dürfe – im Vergleich zu VI, 31,6 zeigt sie sich also um eine Komparationsstufe degradiert und ist überdies an 201 202 203 204
Vgl. VI, 46–62. Vgl. VI, 63. Vgl. VI, 64–67. VI, 69,2. 83
empirische Tatsachen rückgebunden worden. Thukydides weist auktorial zudem auf Hoffnung in den Reihen der athenischen Verbündeten hin, dort aber findet sie sich, entgegen athenischer Gewohnheit, inhaltlich defensiv bestimmt, als zu schützendes Gut mehr denn als Triebkraft: Es heißt, die Bündner hätten sich „vor allem bei dem Gedanken an die mit einem Schlag verlorene Hoffnung auf Rettung (τῆς αὐτίκα ἀνελπίστου σωτηρίας), falls sie nämlich nicht siegten, zum Kampf entschlossen“ gezeigt.205 Die Schlacht endet mit einem Sieg des athenischen Heeres, der freilich weniger dessen tatsächlicher Überlegenheit als einem überraschenden Unwetter geschuldet ist.206 Nichtsdestotrotz scheint er die Kette der athenischen Fehlschläge vorerst zu durchbrechen: Nach der Winterpause können die Athener von ihrem Hauptquartier in Katane aus einige kleine Siege erringen, Kavallerie und Geld treffen ein, eine strategisch zentrale Hochebene bei Syrakus wird erobert und mit dem Bau von Belagerungsmauern begonnen.207 Auch wenn sich die Erfolge in Anbetracht der überwältigenden Ambitionen, mit denen das Heer vor nunmehr einem Jahr aufgebrochen war, als überfällige Pflichtsiege ausnehmen müssen, ist ihre psychologische Wirkung gewaltig. Thukydides visualisiert die Rückkehr des Optimismus ins Lager der Athener mit einem Rekurs auf ihr Verhältnis zur Hoffnung: „überhaupt ging ihnen alles gemäß ihren Hoffnungen vonstatten (καὶ τἆλλα προυχώρει αὐτοῖς ἐς ἐλπίδας)“208, endet er seinen Bericht über die kurze Siegesserie. Bei dem Syrakusanern und ihren alarmierten peloponnesischen Verbündeten macht sich dagegen proportional zur wachsenden athenischen Siegesgewissheit Hoffnungslosigkeit breit: Die abschließende Lageeinschätzung der zum Entsatz herannahenden Spartaner in VI, 104,1 liest sich wie eine Antithese zu VI, 103,2: „Als aber Unglücksbotschaften sie erreichten, alle in dem einen Punkt falsch, dass nämlich Sizilien schon völlig abgeriegelt sei, hatte Gylippos für Sizilien gar keine Hoffnung mehr (τῆς μὲν Σικελίας οὐκέτι ἐλπίδα οὐδεμίαν εἶχεν).“ In Syrakus selbst ist die Furcht vor dem eben noch verlachten Feind plötzlich so groß, dass sogar über einen Ausgleich mit den Athenern beraten wird,209 und so 205 206 207 208 209
VI, 69,3. Vgl. VI, 70. Vgl. VI, 94 und 97–99. VI, 103,2. Vgl. VI, 103,4; VII, 2,1. 84
scheint die athenische Unterwerfung Siziliens plötzlich zum Greifen nahe.210 Thukydides stellt heraus, dass zu diesem abrupten Umschwung der Machtverhältnisse kaum tatsächliche Kriegsereignisse beigetragen haben, sondern fast ausschließlich psychologische Dynamiken von geringer rationaler Substanz: Die Hoffnung der Athener beruht nach auktorialer Darstellung ganz auf einer affektiven Überbewertung kleiner Etappensiege, die Hoffnungslosigkeit der Syrakusaner und Peloponnesier wiederum auf Falschmeldungen, die in Reaktion auf die erstarkte Hoffnung der Gegner entstanden sind. Die Wechselbeziehung ist aufschlussreich; in ihr zeigt sich mit besonderer Deutlichkeit die Effektivität der Hoffnung als militärische Ressource. Indem sie die Athener blind macht für die Diskrepanz zwischen himmelstürmender Ambition und militärischer Potenz, zwischen Anspruch und Wirklichkeit, verleiht sie ihnen eine Selbstsicherheit, die nach außen strahlt, die den Gegner einschüchtert – und so auf die tatsächlichen Machtverhältnisse wirkt: ἐλπίς wird zur Erfüllungsgehilfin ihrer eigenen lockenden Prophezeiungen. Es scheint als entdeckte Thukydides seinem Leser in Sizilien das korinthische Diktum von der hoffnungsgeharnischten Unbesiegbarkeit Athens, von der athenischen Besitz-und-Hoffnung-Identität, als Beschreibung eines psychologischen Mechanismus. Unmittelbar entdeckt er auch, dass dieser Mechanismus anfällig ist für den Umschlag. Schon in VI, 104 deutet Thukydides die Potentialität einer Wende an: Er berichtet suggestiv erst von Umtrieben der peloponnesischen Flotte unter Gylippos in Italien, dann von der sorglosen Geringschätzung, mit der Nikias, der vorsichtige und hoffnungsskeptische Nikias ausgerechnet, das ferne Unternehmen der Feinde ignoriert. Seine im Werk einmalige Sorglosigkeit erweist sich als fatal. Gylippos erreichen bald zuverlässige Berichte über die Lage in Syrakus, die das Gerücht über den bevorstehenden athenischen Sieg relativieren, und setzt die Segel nun doch in Richtung Sizilien. Die Beschreibung seiner Fahrt liest sich wie ein höhnischer Kommentar auf Nikias’ geringschätziges Urteil aus VI, 104,3, Gylippos’ Flotte sei nicht mehr als ein „Seeräuberunternehmen“, wächst das peloponnesische Aufgebot doch mit jeder Meile, die es sich Syrakus nähert, an Verbündeten und Schlagkraft.211 Noch aus der Ferne stärkt es den Kampfgeist der Syrakusaner – und rasch wird dieselbe psychologische Dynamik, die eben, von Falschmeldungen angestoßen, die Athener dem Sieg zutrug, zum Antrieb 210 211
Vgl. Avery: Themes, S. 3. Vgl. VII,1. 85
ihrer Gegner: Die Hoffnung wechselt das Lager. In VII, 3,1, unmittelbar nach der Vereinigung der peloponnesischen und syrakusanischen Truppen, übergehen die Athener Gylippos Aufforderung zum Abzug noch verächtlich, aber schon in VII, 4,4 ändert sich ihre Lageeinschätzung drastisch:212 Nikias, heißt es dort, kommt im Angesicht von Gylippos’ Streitmacht zu der Einschätzung, dass „die Lage zu Land […] ziemlich hoffnungslos (ἀνελπιστότερα ὄντα)“ sei; als bald darauf die athenischen Versuche, Syrakus mit Belagerungsmauern einzuschließen, vom Feind endgültig unterbunden werden und fast zeitgleich eine Verstärkung für die peloponnesische Flotte eintrifft, setzt er einen Brief an die athenische Volksversammlung auf, in dem von Sieg nicht einmal mehr die Rede ist – nur noch von der „Möglichkeit zur Rettung (οὐδεμίαν εἶναι σωτηρίαν)“, die, in dieser Reihenfolge, an einen unverzüglichen Abbruch des Unternehmens oder das rasche Eintreffen von Verstärkung gebunden wird.213 Nikias’ Auftreten im vorangegangenen Narrativ, seine Tendenz zur Skepsis gegenüber den hoffnungsgeleiteten Ambitionen des athenischen Volkes, darf nicht davon abhalten, seine Hoffnungslosigkeit als Indikator für die athenische Gefühlslage zu interpretieren: Indem Thukydides in Sizilien Nikias’ Pessimismus und Passivität ausdrücklich mit Gylippos’ Optimismus und Aktivismus kontrastiert, scheint er beiden Strategen ausdrücklich die narrative Funktion von Repräsentanten einer überindividuellen Dynamik des Hoffnungstransfers zwischen athenischem und syrakusanisch-peloponnesischem Lager zuzuweisen. In VI, 21,2 bekennt sich Gylippos, der eben noch „für Sizilien gar keine Hoffnung mehr“ hatte, vor den Syrakusanern persönlich zur Hoffnung: Um sie für seinen waghalsigen Plan eines Doppelangriffs auf das athenische Unternehmen zu gewinnen, spricht er zu ihnen, „er hoffe (ἐλπίζειν), auf solche Art einen entscheidenden Schlag, wert der Gefahr, zur Beendigung des Krieges zu führen“214 – und nutzt also „ἐλπίς“, wie es bisher ausschließlich bei den Athenern begegnet ist, als Argument in einem Aufruf zur Tollkühnheit. Seine Rhetorik wirkt: Die Syrakusaner sind auf eine Schlacht bald „ganz versessen (ὥρμηντό)“,215 Gylippos’ Plan kommt zu Ausführung. Zwar unterliegen die Syrakusaner, die den Kampf 212 213 214 215
Vgl. auch Avery: Themes, S. 4. Vgl. VII, 81. Vgl. VII, 21,2. VII, 21,5. 86
zur See übernommen haben, zu Land aber erringen die peloponnesischen Truppen einen Sieg, der verheerende psychologische Auswirkungen auf die Athener hat – kollektiv verfallen sie „Niedergeschlagenheit und Mutlosigkeit (κατάπληξιν καὶ ἀθυμίαν)“.216 Ihre Feinde dagegen geben sich endgültig ἐλπίς hin: In VII, 25,1 und 25,9 berichtet Thukydides mit identischem Wortlaut, wie die Syrakusaner Boten nach Sparta und später in die sizilischen Städte abschicken, die von der „hoffnungsvollen Entwicklung ihrer eigenen Lage (ὅτι ἐν ἐλπίσιν εἰσὶ)“ berichten sollen. Die Dublette ist auffällig und betont nicht nur die Nutzbarkeit von Hoffnung als Propagandamittel – schließlich werben die Syrakusaner mit ihrer Rhetorik ja um militärische Verstärkung –, sondern auch und vor allem den Hoffnungstransfer zwischen den Kriegsparteien.217 Ab VII, 41,4 darf kein Zweifel mehr bestehen, dass er sich endgültig vollzogen hat – die Syrakusaner zeigen sich hier, nach zwei weiteren Seeschlachten, aus denen sie als Sieger hervorgehen konnten, ganz durchdrungen von einer Hoffnung, die in ihrer ausgreifenden Intensität der Ἀθηναίων ἐλπίς wie aus dem Gesicht geschnitten ist: „Sie hegten bereits sichere Hoffnung (τὴν ἐλπίδα ἤδη ἐχυρὰν), zur See bedeutend überlegen zu sein“.218 Der Seitenwechsel der Hoffnung ist eng verknüpft mit einem markanten Wandel im Aktivitätsprofil der Gegner: Im gleichen Maß, in dem die Syrakusaner und ihre Verbündeten an Hoffnung gewinnen, nimmt ihre Aktivität zu – unermüdlich werden neue Verbündete gewonnen und die Truppen ausgebaut,219 die syrakusanische Flotte wird technisch weiterentwickelt220 –, während die Athener im gleichen Maß, in dem sie an Hoffnung verlieren, in Passivität verfallen und sich bald nur noch in der Reaktion zeigen.221 Thukydides durchbricht indes das Schema des symmetrischen Umschlags, das zusehends die Darstellung der Ereignisse in Sizilien strukturiert, mit zwei narrativen Blenden nach Athen, die aufweisen, dass von dem pathologischen Bericht über das athenische Heer vor Syrakus nicht auf die gesamtathenische Psyche geschlossen werden kann: In ihnen zeigt sich dem Leser
216 217 218
219 220 221
VII, 24,3. Vgl. auch Gervasi: Concept of Hope, S. 116. Vgl. zur in der Forschung oft bemerkten Syrakus-Athen-Analogie exemplarisch Rawlings: Structure, S. 172f. und Connor: Thucydides, S. 191. Vgl. VII, 7,2f.; 25,9; 32,1. Vgl. VII, 36. Vgl. VII, 8,3. 87
eine Stadt, in der das Hoffnungsfeuer so hell und bedingungslos lodert wie nur je, ungeachtet Nikias’ resigniertem Lagebericht aus Sizilien und der zermürbenden spartanischen Einfälle aus dem befestigten Dekleia. Statt an der Sizilienexpedition auch nur zu zweifeln, rüsten die Athener im Winter 414/413 sogar ein zweites Heer für den Feldzug aus. Bei der Betrachtung der Stadt in ihrer ganzen rastlosen, unverwüstlichen Triebhaftigkeit hält Thukydides für einen Moment zum analytischen Kommentar inne: „[S]ie [hatte] so starker Siegeswille erfasst, wie ihn früher niemand für möglich gehalten hätte, selbst wenn er davon gehört hätte: Selbst bedroht von einer Befestigungslage der Peloponnesier ließen sie trotzdem nicht von Sizilien ab, sondern belagerten ihrerseits dort Syrakus auf dieselbe Weise, eine Stadt, die an und für sich nicht kleiner ist als Athen. Und so sehr liefen ihre Schlagkraft und Kühnheit den Berechnungen der Hellenen zuwider – am Anfang des Krieges glaubten die einen, sie würden ein Jahr, andere zwei Jahre, wieder andere drei Jahre, aber keiner länger, Widerstand leisten, wenn die Peloponnesier in ihr Land einfielen; und jetzt, im siebzehnten Jahr nach dem Einfall, waren sie nach Sizilien gefahren, obwohl sie schon alle Bedrängnis des Krieges erlebt hatten, und hatten einen neuen, nicht geringeren Krieg auf sich genommen als den vom Peloponnes aus gegen sie geführten.“222
Die Analepse erschließt, dass Athens Resilienz jedes bekannte Menschenmaß übersteigt, und sie ruft damit Erinnerungen an die Rede der Korinther zu Kriegsbeginn wach, in der Athen qua ἐλπίς hydraesk beschrieben worden ist. Fast scheint Thukydides den Leser zu animieren, wider besseren Wissens doch noch an den Umschlag in Sizilien zu glauben – in der folgenden Ereignisdarstellung wird er denn auch die ausgesandten Verstärkungstruppen als Potenzial eines solchen Umschlags beschreiben, indem er ihren energischen Zug nach Sizilien in beständigem und kontrastreichem Wechsel zum Bericht über die Passivität des Heeres vor Syrakus erzählt. Und tatsächlich: Bei Eintreffen der Verstärkungstruppen wird das athenische Lager vor Syrakus sofort von neuem Mut belebt, während die Syrakusaner, im symmetrischen Wechselspiel, von der 222
VII, 28,3. 88
Furcht des Anfangs erfasst werden.223 Das Heft des Handelns geht wieder auf die Athener über: Umstandslos ergreifen diese die Initiativmacht, fallen unter der Führung des entschlossenen Demosthenes, der die Verstärkungstruppen geführt hat, bei einem kühnen, nächtlichen Überraschungsschlag über die Gegner her und können sich schon bald als Sieger wähnen – doch die Siegesfreude sorgt für eine in der Dunkelheit fatale Unordnung in den Reihen und schließlich triumphieren doch die Feinde.224 Die Niederlage bringt den stimulierenden Effekt, den das Eintreffen der Verstärkungstruppen auf das athenische Lager hatte, fast sofort zum Verpuffen; der eben noch ganz vom Geist der athenischen Heimat gestärkte zweite Heeresteil wird mit der Hoffnungslosigkeit des ersten infiziert: Allgemeine Mutlosigkeit macht sich im Lager breit, Thukydides beschreibt kriegsmüde, von Krankheiten zermürbte Soldaten, denen „alles äußerst hoffnungslos (ἀνέλπιστα)“ erscheint.225 Die Verbindung von Krankheit und Hoffnungslosigkeit erinnert an die auktoriale Schilderung der Pest, doch während die Hoffnungslosigkeit sich dort als Folge der Krankheit einstellt,226 scheint die Ursächlichkeit hier umgekehrt: Vor der Folie des werkumspannenden, essentialistischen Diskurses um Athen und ἐλπίς kann die Krankheit der Soldaten als körperliche Reaktion des athenischen Körpers auf den ihm wesensfremden Hoffnungsentzug gedeutet werden. Während die Athener solchermaßen leiden, finden die Syrakusaner über den glücklichen Nachtsieges zu voller Kraft und Hoffnung zurück: „So fassten die Syrakusaner über diesen unerwarteten Glücksfall wiederum neuen Mut, so wie das erste Mal. […] Gylippos bereiste zu Land aufs Neue das übrige Sizilien, um weitere Truppen aufzubieten; er hegte nämlich die Hoffnung (ὡς ἐν ἐλπίδι ὢν), nun sogar die Befestigungswerke der Athener im Sturm zu nehmen, da auf den Epipolai alles so gut gegangen sei.“227
223 224 225 226 227
Vgl. dazu auch Avery: Themes, S. 4 und 7 sowie Westlake: Individuals, S. 269. Vgl. VII, 43f. Vgl. VII, 47,1f. Vgl. II, 51,4. VII, 46. 89
Die Verbindung von Aktivität und Hoffnung, die sich in der zitieren Passage andeutet, ist ein schon bekanntes Motiv; ungewöhnlich ist mit Blick auf ihr spartanisches Subjekt die Konsistenz der dargestellten Hoffnung: Gylippos’ ἐλπίς wurzelt in einem Sieg, der im Wesentlichen auf Glück beruhte; indem er sich von ihr nun ganz leiten lässt, handelt der spartanische Stratege – wie einst die Athener – der Mahnung der spartanischen Gesandten aus IV, 17,4 zuwider, nicht „in den gleichen Fehler zu verfallen, wie Menschen, denen unverhofft ein Gewinn zufällt: Voll Hoffnung stürmen sie immer weiter (αἰεὶ γὰρ τοῦ πλέονος ἐλπίδι ὀρέγονται), da ihnen ja bis jetzt wider Erwarten alles glückte.“228 Der Hoffnungstransfer scheint perfekt. Gylippos selbst wird bald darauf in einer direkten Rede die psychologische Dynamik des Überführungsprozesses analysieren und zugleich performativ zur endgültigen Vollendung bringen, wenn er den ἐλπίς-Begriff zwei Mal für seine Zwecke verwendet und ihr, ganz wie es für den athenischen Diskurs charakteristisch ist, superlative Adjektive beistellt:229 „wenn Männer dort, wo sie sich überlegen glauben, einen Rückschlag erleiden, so sinkt, so weit noch vorhanden, ihr Selbstvertrauen tiefer, als wenn sie von Anfang an nichts für sich erwartet hätten, und gelingt ihnen etwas wider die Hoffnung (παρ᾽ ἐλπίδα) ihrer stolzen Zuversicht nicht, so geben sie auch über das tatsächliche Kräfteverhältnis hinaus nach; so scheint es jetzt den Athenern ergangen zu sein. Unsere frühere Stellung, in der wir, noch unerfahren, das Wagnis des Kampfes auf uns nahmen, ist jetzt viel gefestigter, und da noch die Zuversicht hinzugekommen ist, wir seien die Stärksten, wenn wir die Stärksten besiegt haben, so darf jeder doppelte Hoffnung hegen (διπλασία ἑκάστου ἡ ἐλπίς); bei den meisten Taten verleiht aber die größte Hoffnung auch größte Entschlossenheit (ἡ μεγίστη ἐλπὶς μεγίστην καὶ τὴν προθυμίαν παρέχεται).“230
Gylippos’ Worte, gesprochen vor der letzten Seeschlacht im Hafen von Syrakus, der Entscheidungsschlacht, die die Niederlage der Athener besiegeln wird, sind mehr als Rhetorik, sie bilden die Stimmung in seinem Lager ab: Vor allem die Sy228 229 230
IV, 17,4. Vgl. auch Avery: Themes, S. 5. VII, 66,3f. 90
rakusaner beseelt μεγίστη ἐλπὶς bereits; beflügelt von einer neuen Erfolgsserie, die auf den Glückssieg bei Nacht gefolgt ist, gilt ihr Streben schon längst nicht mehr bloß der Verteidigung Siziliens, sondern einem möglichst glorreichen Gesamtsieg über die Athener und – ganz als echoten sie Perikles’ Programmatik aus dem Epitaphios – zeitlosem Ruhm „bei den übrigen Menschen und bei der Nachwelt“.231 In der dramatischen Seeschlacht, die auf Gylippos’ Rede folgt, gelingt es den Syrakusern, die Wirklichkeit näher an ihre Ambitionen heranzuzwingen: Gemeinsam mit ihren Verbündeten bringen sie den Athenern eine vernichtende Niederlage bei.232 Für das athenische Heer ist es psychologisch der Vernichtungsschlag. Hemmungslos gibt es sich grenzenloser Verzweiflung hin: „in einem einzigen Aufschrei beklagten und bejammerten alle in bitterem Schmerz das Geschehen […] Lähmendes Entsetzen lastete in dieser Stunde auf allen wie niemals zuvor. Am eigenen Leibe erfuhren sie nun, was sie ähnlich in Pylos anderen zugefügt hatten; denn nach dem Verlust der Schiffe mussten die Lakedaimonier auch ihre auf der Insel abgesetzten Leute verloren geben und jetzt hatten die Athener keine Hoffnung (Ἀθηναίοις ἀνέλπιστον ἦν), auf dem Landweg heil durchzukommen, wenn nicht etwas ganz Unerwartetes (τι παρὰ λόγον) geschähe.“233
Die Hoffnungslosigkeit paralysiert die Athener fast vollständig. Nicht einmal ihre Toten bergen sie, und statt umgehend den Abzug anzutreten, verharren sie bangend und ohnmächtig auf der Stelle – während ihre unermüdlich energetischen Gegner die Zeit nutzen, um alle Fluchtwege zu sperren.234 Erst am dritten Tag nach der Seeschlacht setzt sich das athenische Heer endlich in Bewegung. Thukydides gestaltete die Szene als monumentale literarische Antithese zu seiner Schilderung der Flottenausfahrt in VI, 30–32;235 der ἐλπίς-Begriff dient ihm dabei als Marker für den Querbezug:
231 232 233 234 235
VII, 56, 1f. Vgl. II, 41,4. Vgl. VII, 70f. VII, 71,7. Vgl. VII, 72–74. Vgl. dazu exemplarisch Jordan: Sicilian Expedition, S. 76–79 und Grethlein: Philosophical and Structuralist Narratologies, S. 165f. 91
„Furchtbar war das ganze Geschehen nicht nur in der einen Hinsicht, dass sie nun nach dem Verlust aller Schiffe abziehen mussten, statt voll mächtiger Siegeshoffnung (μεγάλης ἐλπίδος), unter der Gefahr für sich selbst und die eigene Stadt; auch beim Verlassen des Lagers musste jeder noch Schmerzliches sehen und fühlen…“236
Die „μεγάλη ἐλπίς“ hier verweist auf die „μεγίστη ἐλπίς“ von VI, 31,6, in der die ganze athenische Zuversicht des Sommers 415 sich kristallisierte. 413 ist das athenische Heer nicht nur von Hoffnung verlassen, es wird vom ihr gegensätzlichsten Zukunftsaffekt geführt: Angst. „so kam es, dass das ganze Heer vor Tränen und Verzweiflung sich nur sehr schwer auf den Weg machte, wiewohl aus Feindesland und nach den Leiden, die alle Tränen überstiegen, in angstvoller Erwartung, was sie in der ungewissen Zukunft noch durchmachen müssten (τὰ δὲ περὶ τῶν ἐν ἀφανεῖ δεδιότας μὴ πάθωσιν).“237
Ein grundlegender Wandel in der athenischen Zukunftsperzeption tritt hier zutage: In Hoffnung stehend war „Zukunft“ für die Athener eine formbare Verfügungsmasse – nun, ohne Hoffnung, ist sie ihnen zur fernen und bedrohlichen Größe, zum Ohnmachtserweis geworden. Auf ihrem beschwerlichen, verlustreichen Rückzugsversuch werden die athenischen Soldaten noch einmal Hoffnung verspüren, doch diese Hoffnung hat nichts mit dem fordernden, zwingenden Hoffnungsmodus gemein, der sie so lange motorisierte: In VII, 80,5 „hoffen (ἤλπιζον)“ sie auf Verstärkungstruppen der Sikeler, eine situative und verzweifelte Hoffnung, die sich sofort zerschlägt. Im Schlamm des Asinaro geht das athenische Heer unter. Nun wird der lineare Hoffnungstransfer, das Leitthema des Narrativs der Bücher VI und VII, ab VII, 48 von einer Variation des Hoffnungsmotivs begleitet, die ebenfalls nach einer Analyse verlangt. In ihrem Zentrum steht Nikias. Er nämlich, der zunächst als Repräsentant und Verstärker der wachsenden Hoffnungs236 237
VII, 75,2. VII, 75,4. 92
losigkeit im athenischen Lager erschien, schert ab VII, 48 aus der allgemeinen Transferbewegung in Sizilien aus, indem er sich auf Hoffnung besinnt, eine Hoffnung freilich, die sich in der Gestalt von der athenischen wesentlich unterscheidet. Virulent wird diese Nikias’sche Hoffnung erstmals unmittelbar nach dem gescheiterten athenischen Nachtangriff auf die Epipolai, in dessen Folgen sich im athenischen Lager endgültig die Überzeugung festsetzt, dass „alles äußerst hoffnungslos (ἀνέλπιστα)“ sei.238 Demosthenes drängt mit derselben Entschlusskraft, mit der er den Nachtangriff umgesetzt hat, auf einen raschen Abzug der Truppe.239 Doch ausgerechnet Nikias, der nur wenig vorher einen Abbruch der Expedition für unabdingbar erklärt hat und bekanntlich höchst unfreiwillig das Unternehmen führt,240 plädiert plötzlich, von Hoffnung geleitet, dafür, zu bleiben: „Nikias wusste zwar auch, wie bedrohlich ihre Lage sei, wollte sie aber im Wort doch nicht als ganz aussichtlos darstellen […] Was […] die Lage der Feinde betraf, über die er mehr als die anderen Bescheid wusste, so hegte er noch einige Hoffnung (ἐλπίδος τι ἔτι παρεῖχε), sie sei noch bedrohlicher als ihre eigene, wenn sie nur die Belagerung fortsetzen; Geldmangel würde den Syrakusanern arg zusetzen, zumal sie selbst jetzt mit den vorhandenen Schiffen (wieder) in stärkerem Maße die See beherrschten. Außerdem gab es in Syrakus Leute, die die Stadt den Athenern in die Hände spielen wollten, ihm Nachrichten zukommen ließen und einem Abzug widerrieten.“241
Auf den ersten Blick scheint Nikias’ Hoffnung hier gegründet in einer realitätsnahen Lageanalyse, die wesentlich auf den Mitteilungen syrakusanischer Informanten beruht.242 Thukydides schweigt sich indes gänzlich über die Verlässlichkeit der 238 239 240 241 242
VII, 57,2. Vgl. VII, 47,4. Vgl. VII, 15, VI, 47, 24,1 und 8,1. VII, 48,1f. Es birgt Ironie, dass die Feinde später, in VII, 73,3, Nikias’ Vertrauen in seine syrakusanischen Gewährsmänner nutzen, um ihn nach ihren Plänen zu manipulieren – und die Niederlage des athenischen Heeres zu besiegeln. Vgl. dazu auch Daniel R. Tompkins: The Death of Nicias: No Laughing Matter, in: Emily Baragwanath/Edith Foster (Hrsg.): Clio and Thalia. Attic Comedy and Historiography (= Histos Supplement 6), 2017, S. 99–128, hier: S. 118f. 93
Mitteilungen aus und animiert so den Leser, das umgebende Narrativ insgesamt unter der entsprechenden Fragestellung zu lesen. Der Leser nun kann in VII, 73,3 und 86,4 zwar Nikias’ Kontakte zum Feind auktorial bestätigt finden, nicht aber die kleinste Notiz über eine nennenswerte proathenische Fraktion in Syrakus – im Gegenteil betont Thukydides die siegessichere Stimmung in der Stadt seit dem Eintreffen von Gylippos. So muss den bei dem Leser der Eindruck entstehen, dass Nikias’ Lageeinschätzung ein Versagen seines Urteilsvermögens über die Nachrichten der syrakusanischen Informanten zugrunde liegt. Insofern nun aber Nikias vorher im Narrativ vornehmlich durch seine Umsichtigkeit und strategische Einsicht auffiel,243 verlangt eine solche Deutung nach einer Erklärung. Die ἐλπίς-Vokabel in VII, 48,2 kann als ein auktoriales Erklärungsangebot interpretiert werden, sofern für den Zustand, den sie beschreibt, Vorzeitigkeit gegenüber den Mitteilungen der Informanten angenommen wird: Wenn Nikias seine Informanten schon als Hoffender empfangen haben sollte, würde seine mangelnde Skepsis ihren Meldungen gegenüber verständlich. Die zuerst unterstellte Kausalität von Hoffnung und Situationsanalyse in VII, 48,2 wäre demzufolge umzudrehen: Nicht dürfte Nikias’ Hoffnung als Ergebnis der Situationsanalyse, vielmehr müsste die Situationsanalyse als Ergebnis von Nikias’ hoffnungsgetrübtem Blick interpretiert werden. Thukydides scheint dieser Lesart zuzuarbeiten, indem er Nikias seine Lageeinschätzung von VII, 48,2 wenige Sätze später noch weiter ins Positive gesteigert wiederholen lässt und so deren psychologische Bedingtheit aufweist: „Nikias […] beharrte auf seiner Meinung, da er genau (ἀκριβῶς) Bescheid wusste über die Verhältnisse in Syrakus, die Geldknappheit und die Tätigkeit einer starken Partei, die den Athenern die Stadt übergeben wollte und ihn durch Boten von einem Abzug abzubringen suchte; außerdem hoffte er zuversichtlich, wenigstens mit der Flotte eine größere Überlegenheit zu gewinnen als bisher“244
243
244
Vgl. Nikias’ Situationsanalysen in VI, 20–22 und VII, 11–15, die sich weitgehend mit der auktorialen Darstellung decken, sowie, für seine Voraussicht bezüglich der Intrige der Egester, VI, 22 und 46,2. VII, 49,1. 94
Gegenüber VII, 38,2 ist aus Nikias’ kleinem Einblick in die syrakusanischen Verhältnisse hier eine „genaue“ Kenntnis der Lage geworden, aus der vermuteten Geldknappheit eines definitive, aus der unbestimmten Zahl von Informanten eine ganze Partei von proathenischen Aktivisten, die den Athenern überdies nicht nur widerraten, abzuziehen, sondern sie mit persönlichem Aufwand davon abzubringen suchen. Die zwei Varianten von Nikias’ Situationsanalyse erzeugen den Eindruck, dass in ihnen ein Mann bei dem Versuch zu beobachten ist, sich selbst nicht weniger als andere von der Zweckhaftigkeit und Rationalität eines Plans zu überzeugen, der tatsächlich ganz in Hoffnung wurzelt.245 Woraus aber wurde nun diese Hoffnung geboren? In VII, 48,2 findet sich kein Hinweis auf diese Frage, aber das umgebende Narrativ weist auf die Furcht: In V, 16,1, in VI, 11–15 und in VII, 86,5 erfährt der Leser, dass Nikias in Angst vor dem negativen Urteil seiner Mitwelt lebt, dass er die athenische Volksversammlung fürchtet und beständig um sein Ansehen bangt – und dass er weiß, nicht als Stratege eines gescheiterten Feldzugs nach Athen zurückkehren zu können, ohne dieses Ansehen aufs Spiel zu setzen. Wie stammelnd erklärt er in VII, 48,3 seinen Mitstrategen „er wisse sehr wohl, dass die Athener nicht billigen würden, wenn sie ohne ihren Beschluss abzögen. Nicht die würden ja über sie entscheiden, die gleich ihnen selbst aus eigenem Wissen, ohne auf Tadel anderer zu hören, ein Urteil fällen könnten; nein, den Verleumdungen, die einer in schönen Worten vorbringe, würden sie Glauben schenken. Von den hier anwesenden Soldaten würden viele, ja die meisten, sagte er, die jetzt über ihre gefährliche Lage schrien, dort angekommen, das gegenteilige Geschrei erheben; bestochen seien die Feldherren worden, als Verräter hätten sie den Rückzug angetreten. Da er also die Art der Athener kenne, so wolle er nicht auf so schmähliche Beschuldigung hin und ungerecht von den Athenern hingerichtet werden, sondern eher von Freundeshand, wenn es sein müsse, in ehrlichem Kampf fallen, allein auf sich gestellt.“246
245
246
Vgl. dagegen Westlake: Individuals, S. 197, der argumentiert, Thukydides habe des Nikias Einschätzung als „well-founded“ zeigen wollen. Vgl. zu der Stelle auch Tompkins, S. 110–112. 95
Der lange Monolog ist dazu angetan, Nikias’ Hoffnung aus VII, 48,2 als Medium eines Selbstbetruges zu entdecken: Mit ihr, scheint es, täuscht Nikias sich selbst und die anderen darüber hinweg, dass er einzig seiner persönlichen Ängste wegen für den Verbleib des Heeres in Sizilien plädiert.247 Die Wirkweise von Nikias’ ἐλπίς wäre damit nicht etwa Stimulation, sondern Betäubung, und tatsächlich zeigt sie sich als Verstärker der Apathie, die das athenische Lager bereits so schädlich durchsetzt. Seine Hoffnung leitet Nikias nämlich nicht etwa zu beherzter Tat an, sondern vergrößert seine notorische Unentschlossenheit: Er schwankt „zwischen den beiden Möglichkeiten [d. h. Abzug oder Fortsetzung des Feldzugs], überlegte hin und her und wartete ab, in offener Rede aber erklärte er sich nicht bereit, das Heer zurückzuführen.“248 Sein Zaudern lähmt das gesamte athenische Heer, für dessen Rettung es dringend eines raschen Handlungsentschlusses bedürfte, es entsteht „Ungewissheit und Zaudern, zumal man vermutete, Nikias wisse doch etwas mehr und sei deshalb so fest entschlossen. Auf diese Weise ließen die Athener die Zeit verstreichen und blieben an Ort und Stelle.“249 Nikias’ ἐλπίς scheint in abgeschwächter Form also dieselbe ansteckende Wirkung zu entfalten, die Hoffnung im gesamten thukydideischen Narrativ charakterisiert: Durch sie ist Nikias so überzeugend, dass selbst der energische Demosthenes in seinen Abzugsplänen zu zögern beginnt – er überstimmt Nikias jedenfalls nicht, obschon ihm das im Bunde mit Eurymedon wohl möglich gewesen wäre.250 In den Tagen der Unentschlossenheit verlieren die Athener jede Kontrolle über die Situation, Thukydides zeigt sie als Getriebene der syrakusanischen Taten, die Nikias’ hoffnungsvolle Lageanalyse und besonders seine Einschätzung, dass die athenische Flotte „jetzt mit den vorhandenen Schiffen (wieder) in stärkerem Maße die See beherrsche“, ausdrücklich widerlegen.251 Nikias aber lässt von seiner Hoffnung nicht, im Gegenteil: Je verzweifelter die Situation, je größer auch die
247 248 249 250
251
Vgl. dazu auch Orwin: Humanity, S. 121f. VII, 48,3. VII, 49,4. Siehe dazu Westlake: Individuals, S. 199 und Orwin: Humanity, S. 122. Vgl. im Übrigen auch die Entscheidungsszene in VIII, 27, die sich wie ein Kommentar auf die hier behandelte Passage liest. Vgl. besonders VII, 51–54. 96
Hoffnungslosigkeit im athenischen Heer wird, desto mehr wendet er sich ihr zu. Als die letzte Entscheidungsschlacht im Hafen von Syrakus bevorsteht, richtet er sich mit einem Hoffnungsaufruf an die Truppen: „Mutlos zu sein ist nicht nötig, ebenso wenig, sich so zu verhalten, wie ganz unerfahrene Menschen, die nach anfänglichen Fehlschlägen hernach immer in angstvoller Erwartung leben, es werde ihnen Gleiches noch einmal widerfahren. Nein, ihr, die ihr aus Athen seid, gestützt auf die Erfahrung vieler Kriege, und ihr von den Bundesgenossen, auf allen Feldzügen mit dabei, denkt an die unberechenbaren Wendungen im Krieg; in der Hoffnung, dass sich das Glück auch einmal auf unsere Seite stellen wird (τὸ τῆς τύχης κἂν μεθ᾽ ἡμῶν ἐλπίσαντες στῆναι) und mit dem Willen, euch so zu schlagen, wie es einer solchem Streitmacht ziemt, die ihr hier vor euch seht, rüstet euch zu neuem Kampf.“252
Die Hoffnung, zu der Nikias hier aufruft, wurzelt nicht einmal mehr dem Vorgeben nach in der gegebenen Wirklichkeit, sondern ist gänzlich auf den glücklichen Zufall bezogen. In ihrem Verhältnis zur Zukunft zeigt sie sich als radikaler Gegenentwurf der Ἀθηναίων ἐλπίς: Während dieser, wie gezeigt werden konnte, der Anspruch zentral ist, der Zukunft zu diktieren, die Ungewissheit der Zukunft zu eliminieren, speist sich die Hoffnung in VII, 61,3 eben aus der Ungewissheit, sie ist am Zufall ausgerichtet, statt seine Negation auszudrücken. Besiegelt wird diese Transformation des athenischen Hoffnungsbegriffs durch Nikias in dessen letzter Rede. Nikias adressiert in ihr, im Moment des Abzugs, das nach der finalen Niederlage verzweifelte und hoffnungslose Heer. Ungewohnt eifrig (ὑπὸ προθυμίας), seinen Truppen Trost zu spenden,253 spricht er: „Auch in gegenwärtiger Lage, Athener und Verbündete, müsst ihr noch hoffen (ἐλπίδα χρὴ ἔχειν) – schon manche wurden aus drohenderen Gefahren als diese gerettet – und dürft euch nicht allzu schwere Vorwürfe machen wegen der Misserfolge und unverdienten Leiden. Ich selbst […] schwebe jetzt in der gleichen Gefahr wie der Schlechteste und habe doch 252 253
VII, 61,2f. Vgl. VII, 76. 97
in meinem Leben den Göttern reichlich gegeben, was ihnen zukommt, und mich gegenüber den Menschen gerecht und vorurteilsfrei verhalten. Deshalb hege ich, was das Kommende betrifft, zuversichtliche Hoffnung (ἀνθ᾽ ὧν ἡ μὲν ἐλπὶς ὅμως θρασεῖα τοῦ μέλλοντος); die Misserfolge aber schrecken uns mehr als notwendig. Vielleicht haben sie auch jetzt ein Ende, lange genug hat ja unseren Feinden das Glück gelacht, und wenn unser Feldzug einem Gott verhasst war, so sind wir schon genug dafür bestraft. Es sind doch schon manche gegen ihre Feinde in den Krieg gezogen, haben nach Menschenart gehandelt und Erträgliches erlitten. So dürfen auch wir mit gutem Grund jetzt ein gnädigeres Walten der Götter erhoffen (καὶ ἡμᾶς εἰκὸς νῦν τά τε ἀπὸ τοῦ θεοῦ ἐλπίζειν ἠπιώτερα ἕξειν) – ihr Mitleid verdienen wir ja schon mehr als ihren Unwillen“254
Die Hoffnung des Nikias zeigt sich hier als endgültig von der Empirie gelöst. Sein Versuch, ihr mit einem theologischen Fundament einen letzten Rest an Rationalität zu verleihen, scheitert schon im Ansatz – sein abschließendes Diktum vom Mitleid der Götter unterwandert seine blass skizzierte Gerechtigkeitslehre, die im Übrigen nirgends im Werk Bestätigung findet.255 In der Forschung ist immer wieder angemerkt worden, dass Nikias’ Hoffnungsbegriff in dieser letzten Rede ob seiner theologischen Gestalt wie ein Echo der melischen Hoffnung in V, 85–111 wirke.256 Clifford Orwin hat in seiner einflussreichen Monographie „The Humanity of Thucydides” diese Beobachtung in die These übersetzt, dass Thukydides die Hoffnung des Nikias als Grund für das Scheitern der Sizilienexpedition identifiziert habe. So folgert er: „Athens fails in Sicily not because the project is doomed from the start, but because Nicias and the rank and file doom it by their Melianism.“257 Wenige Seite später heißt es: „the Athenians have left their Sicilian venture in the hands of the man whose unques-
254 255
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257
VII, 77,1–4. Siehe zu den logischen Brüchen in Nikias theologischen Bemühungen Orwin: Humanity, S. 137f. Vgl. auch Connor: Thucydides, S. 202. Vgl. exemplarisch Wassermann: Melian Dialogue, S. 30, Connor: Thucydides, S. 201 und Orwin: Humanity, S. 123 Orwin: Humanity, S. 123. 98
tioned justice and piety repel distrust and who, acting on Melian hopes, incurs for himself and the whole armada a Melian fate.“258 Insofern diese Deutung nahelegt, dass Thukydides den negativen Hoffnungsbegriff der Athener im Melierdialog teilt, ist ihr im Rahmen der vorliegenden Untersuchung zu begegnen. Nun ermöglichen die bisher erlangten Interpretationsergebnisse festzustellen, dass zwischen der Nikias’schen und der melischen Hoffnung fundamentale Unterschiede bestehen – gleichgültig übrigens, ob die athenische Kritik an der melischen Hoffnung im Melierdialog als Wirklichkeitsbeschreibung aufgefasst wird, wie Orwin es tut, oder nicht, wie früher in dieser Arbeit vorgeschlagen. Vor der Folie des perikleischen Epitaphios, der sich als ein Kernstück des Hoffnungsdiskurses im thukydideischen Werk erwiesen hat, muss zunächst ins Auge fallen, dass die Hoffnung der Melier in der Polis wurzelt und gänzlich auf diese bezogen ist, während die Hoffnung des Nikias ihren Anfangs- und Endpunkt in der Privatheit hat – in seiner letzten Rede verortet Nikias seine Hoffnung, wie in VII, 77 zu sehen war, sogar explizit in seinem persönlichen Lebenswandel. Noch schärfer treten die Unterschiede zwischen melischer und Nikias’scher ἐλπίς hervor, wenn ihre jeweilige Funktion und Wirkung ins Zentrum der Betrachtung rücken: Während den Meliern ihre Hoffnung nämlich Kraft und Stärke gibt, im Handeln Verantwortung für das eigene Schicksal zu übernehmen, dient Nikias seine Hoffnung dazu, sich Verantwortung zu entziehen; während die Melier mit dem hoffenden Rekurs auf Götter, Glück und Gerechtigkeit eine Pflicht zu Widerstand und Tat begründen, rechtfertigt Nikias aus demselben Passivität. Mit diesem Aufweis der Unterschiede zwischen melischer und Nikias’scher Hoffnung soll nicht in Abrede gestellt werden, dass zwischen Nikias’ Hoffnungsinvokation in VII, 77 und dem Melierdialog eine intratextuelle Beziehung besteht, wohl aber, dass diese intratextuelle Beziehung auf den Hoffnungsmodus der Melier verweist. Es liegt näher, als Bezugspunkt von VII, 77 allein die athenische Mahnung von V, 103 anzunehmen, sich nicht unsichtbaren Hoffnungen hinzugeben. Das intratextuelle Echo würde dann zum Aufweis einer Parallele zwischen Nikias’ Verhalten und jenem der Athener insgesamt, von denen er so verschieden
258
Orwin: Humanity, S. 126. 99
scheint: Beide schließlich verstoßen gegen die Mahnung der Gesandten in Melos – und Nikias tut dies, nachdem er eben diesen Verstoß in seiner Rede in der Siziliendebatte den Athenern vorgeworfen hat.259 Statt ihn seiner „melischen Natur“ zu enttarnen, würde der Querverweis damit Nikias erneut als Repräsentanten Athens entdecken und an seinem Beispiel zum wiederholten Mal den Mangel athenischer Selbstreflexion thematisieren.260
259 260
Vgl. VI, 9,3. Insofern kann auch die Orwins These implizite – und in der Forschung überaus prominente – Behauptung, in Nikias’ unathenischem Verhalten sei ein entscheidender Grund für das Scheitern des Sizilienfeldzugs zu suchen, der vom „athenischen Geist“ beseelte Alkibiades hätte ihn zum Sieg führen können, nur zum Teil gefolgt werden – um ausführlich in diese Diskussion einzusteigen, fehlt hier allerdings der Platz. 100
Hoffnungsrhetoriken in Buch VIII Der Untergang des athenischen Heeres in Sizilien wirft die Frage auf, ob das Verhältnis von Athen und Hoffnung grundsätzlich neu zu bestimmen ist. Einerseits geben der oben zitierte, auktoriale Kommentar von VII, 28 zur Resilienz der Athener261 sowie das bekannte korinthische Diktum über die Unerschöpflichkeit der athenischen Hoffnung262Anlass zu der Vermutung, dass die Ἀθηναίων ἐλπίς Immunität gegen Niederlagen besitzt; andererseits ist die Sizilienexpedition von Thukydides gleichsam als die Manifestation der Ἀθηναίων ἐλπίς beschrieben worden, sodass die Vergleichbarkeit des Scheiterns in Sizilien mit anderen Niederlagen der Athener in Frage steht. Thukydides’ Darstellung der Reaktionen in Athen auf die Botschaft von der Vernichtung der athenischen Expeditionskontingente lässt es zunächst scheinen, als würde sich die Mentalität der Stadt im Schock fundamental wandeln: „Als die Nachricht nach Athen kam, konnten sie es lange nicht glauben, auch nicht den tüchtigsten Soldaten, die dem Kampf selbst entronnen waren und genau berichteten; so ganz und gar könne doch nicht das ganze Heer vernichtet sein. Als sie dann aber zur Gewissheit kamen, waren sie erbittert gegen die Redner, die ihnen für die Ausfahrt Mut gemacht hatten – als hätten sie nicht dafür gestimmt –, und zürnten den Orakeldeutern und Sehern und allen anderen, die damals ihnen durch irgendwelche Weissagungen die Hoffnung auf die Eroberung Siziliens genährt hatten
261
262
Vgl. noch einmal VII, 28,3: „Und so sehr liefen ihre Schlagkraft und Kühnheit den Berechnungen der Hellenen zuwider – am Anfang des Krieges glaubten die einen, sie würden ein Jahr, andere zwei Jahre, wieder andere drei Jahre, aber keiner länger, Widerstand leisten, wenn die Peloponnesier in ihr Land einfielen; und jetzt, im siebzehnten Jahr nach dem Einfall, waren sie nach Sizilien gefahren, obwohl sie schon alle Bedrängnis des Krieges erlebt hatten, und hatten einen neuen, nicht geringeren Krieg auf sich genommen als den vom Peloponnes aus gegen sie geführten.“ Vgl. noch einmal I, 70,7: „Wenn ihnen aber ein Versuch fehlschlägt, setzen sie ihre Hoffnung auf etwas anderes und machen so den Mangel wett“. 101
(θειάσαντες ἐπήλπισαν ὡς λήψονται Σικελίαν). Alles Elend brach von allen Seiten auf sie herein und rings um sie standen nach diesem Ereignis Furcht und höchste Bestürzung. Verloren hatte jeder Einzelne und die Stadt viele Schwerbewaffnete, Reiter und eine Jungmannschaft, für die sie keine zweite vorhanden sahen; das bedrückte sie sehr. Da sie außerdem in den Werften nicht genug Schiffe sahen, kein Geld in der Staatskasse und keine Mannschaften für die Schiffe, gaben sie alle Hoffnung auf Rettung in solcher Lage auf (ἀνέλπιστοι ἦσαν ἐν τῷ παρόντι σωθήσεσθαι). Sie glaubten, ihre Feinde aus Sizilien würden sogleich (εὐθὺς) gegen den Piräus fahren, zumal bei ihrer großen Überlegenheit, und die Feinde in Griechenland, jetzt in allem doppelt gerüstet, würden auch von der Land- und Seeseite her angreifen und mit ihnen ihre abgefallenen Bundesgenossen.“263
Das Psychogramm einer bis ins Mark erschütterten Stadt wird hier vor dem Leser ausgebreitet. Thukydides zeigt uns die Gesichter der Athener im lebendigsten Mienenspiel: Unglaube, Wut und totale Hoffnungslosigkeit lösen sich ab, ein Erkenntnisprozess in drei Schritten – Erkenntnis freilich nur im Sinne der trivialen Kenntnisnahme eines evidenten Sachverhalts. Anzeichen eines ordnenden, sich selbst verortenden Verstehens zeigen die Athener nicht, sie verweigern sich einer Kausalanalyse der Niederlage – und ergehen sich stattdessen in Schuldzuweisungen: Sie zürnen den Orakeldeutern und Sehern „und allen anderen, die damals durch irgendwelche Weissagungen die Hoffnung auf die Eroberung Siziliens genährt hatten.“ Auf den ersten Blick scheint in der empörten Schuldsuche ein Fingerhut von Selbstreflexion geborgen, wird in ihrem Zuge doch Hoffnung als zentraler Handlungsmotivator der Sizilienexpedition identifiziert und problematisiert und sogar eine Widersprüchlichkeit zwischen den athenischen Reden in Melos und den Entschlüssen des Sommers 415 erahnt: Rückwirkend diagnostizieren die Athener bei sich, worüber sie im Dialog mit den Meliern selbstgerecht urteilten: das Vertrauen auf „unsichtbare [Hoffnung][…]: Weissagungen, Göttersprüche und dergleichen, was im Gefolge der Hoffnungen ins Verderben führt“.264 Indes, sie liegen falsch mit ihrer Diagnose: Die Hoffnung, die ihnen den Weg nach Sizilien wies, war von keiner theologischen Konsistenz, voran ging ihnen 263 264
VIII, 1,1f. V, 103,2. 102
die Ἀθηναίων ἐλπίς, die gerade nicht in konventionellen religiösen Vorstellungen wurzelte und nie der Verführungskraft von wahrsagenden Mittelsmännern bedurfte, um mächtig in der Stadt zu werden. In der ausführlichen Darstellung vom Auftakt der Sizilienexpedition findet das religiöse Element überhaupt erst Erwähnung, als alles schon ins Werk gesetzt ist: In der letzten Minute vor dem Auslaufen der Flotte lässt Thukydides die Athener das Haupt zum Gebet und Opfer neigen und entdeckt die religiöse Handlung so als weitgehend irrelevant im politischen Diskurs; Mantik zeigt er überhaupt nie als Kategorie athenischer Entscheidungsfindung. So werden die Athener ausgerechnet da, wo sie einer Erkenntnis der eigenen Widersprüchlichkeit und damit der Selbsterkenntnis vermeintlich nahe sind, zum wiederholten Mal ihrer Selbstblindheit überführt. Freilich scheint ihre Ignoranz fast belanglos, ist doch die Hoffnung, der sie gilt, gemäß der Darstellung von VIII, 1 nach 413 ohnehin ein Phänomen der Vergangenheit: Als hoffnungsleer bis in den letzten Winkel beschreibt Thukydides die Stadt. Nun erzählt er das Verlöschen der Ἀθηναίων ἐλπίς – und dieser Umstand ist im Hinblick auf unsere Fragestellung bemerkenswert – nicht als Geschichte einer Reinigung, nicht als Chance auf Besonnenheit und Mäßigung. Vielmehr zeichnet er die Hoffnungslosigkeit, ebenso wie vorher die Hoffnung, als sturmgewaltigen Exzess von vernunftzersetzender, realitätsverzerrender Kraft, und die hoffnungslosen Athener als so affektgetrieben wie zu Zeiten, als Hoffnung sie beseelte: In VIII, 1,2 geben sie sich mit derselben Maßlosigkeit, mit der sie einst von Herrschaft über ganz Hellas sprachen, der Überzeugung hin, dass jenes ganze Hellas gegen sie versammelt sei, ihnen augenblicklich den Todesstoß zu versetzen, und wie sie früher ihre Potenz überschätzten, unterschätzen sie sie nun.265 Gänzlich wahnhaft sind ihre Befürchtungen freilich nicht, tatsächlich entwickelt sich die Stimmung in Griechenland nach dem Scheitern des Sizilienfeldzugs zu Ungunsten Athens: Neutrale Städte treten gegen sie in den Krieg ein, die athenischen Bundesgenossen kokettieren mehr denn je mit dem Abfall und von den Spartanern heißt es:
265
Thukydides lässt durch die ironischen Übertreibungen in VIII, 1, 2 jedenfalls keinen Zweifel daran, dass er die Befürchtungen der Athener für unverhältnismäßig hält und widerlegt sie einzeln im nachfolgenden Narrativ. Vgl. dazu Connor: Thucydides, S. 213. 103
„Weil sie in jeder Hinsicht hoffnungsvoll waren, dachten sie daran, sich ohne Bedenken auf den Krieg einzulassen (πανταχόθεν τε εὐέλπιδες ὄντες ἀπροφασίστως ἅπτεσθαι διενοοῦντο τοῦ πολέμου). Ihre Überlegung war, dass sie nach seinem glücklichen Ende für die Zukunft von all den Gefahren befreit wären, die wohl von den Athenern gedroht hätten, wenn diese Siziliens Macht dazugewonnen hätten. Wenn sie Athen niedergerungen hätten, würden sie selbst endlich ungestört die Hegemonie über ganz Hellas ausüben.“266
Die Spartaner hoffen, und nicht nur das: Thukydides bezeichnet sie als „εὐέλπιδες“ und also mit einer Vokabel, die er im Werk vorher ausschließlich zur Bezeichnung des spezifisch athenischen Hoffnungsmodus verwendet hat. Wenn er sie nun zur Charakterisierung des spartanischen Gemütszustandes nutzt, so scheint er das Schema des Hoffnungstranfers, das in der Darstellung der Sizilienexpedition entwickelt worden ist, als Deutungsfolie für die kommenden Ereignisse in Hellas vorzuschlagen und folglich den Leser zu der Annahme zu animieren, dass die peloponnesischen Verbündeten im weiteren Kriegsverlauf stark an Tatkraft und Unternehmungslust gewinnen und die Athener sich im selben Maße in Passivität und Resignation hineingeben werden. Tatsächlich aber kommt es anders: Während die Spartaner im Handeln grundsätzlich zögerlich bleiben, 267 stellen sich die Athener mit fast ungebrochener Entschlusskraft und Energie unmittelbar nach Erhalt der Nachricht aus Sizilien zur Fortsetzung des Krieges in Hellas auf; sie rüsten eine neue Flotte aus – Thukydides spricht von einem Wettrüsten „wie beim ersten Anfang“268 in Hellas – , sie setzen innenpolitische Reformen ins Werk und behaupten sich noch zehn weitere Jahre.269 Dabei scheint die Hoffnung auch in Hellas endgültig das Lager gewechselt zu haben; im Kriegsnarrativ jedenfalls sind die Athener im gesamten Buch VIII nicht mehr als Hoffnungssubjekte gezeigt, dafür aber ihre Gegner: In VIII, 23,4 ist es ein Spartaner, der Flottenkommandant Astyochos, dem Hoffnung als situativer Handlungsmotivator dient – er fährt mit seiner Flotte an der Küste von Methymna vorbei „in der Hoffnung (ἐλπίζων)“ die 266 267 268 269
VIII, 2, 4. Vgl. besonders VIII, 11,3 und 96,4f. VIII, 5,1. Vgl. VIII, 1,3f. und II, 65,12. 104
Stadt durch eine solche Machtdemonstration zum Abfall von Athen zu bewegen –; in VIII, 40,3 nutzen die Bewohner des von Athen belagerten Chios Hoffnung erfolgreich als rhetorisches Mittel, um eben jenen Astyochos zu überreden, ihnen militärischen Beistand zu leisten;270 in VIII, 44,1 schicken die Spartaner ein großes Schiffskontingent nach Rhodos ab in der – sich bestätigenden – Hoffnung, die Insel als Verbündeten zu gewinnen; und in VIII, 71,1 schließlich zieht der spartanische König Agis mit seinem Heer vor die Mauern Athens, weil er erfolgssicher, in Anbetracht der athenischen Resilienz aber fälschlich hofft, dass sich die von inneren Unruhen zerrissene Stadt angesichts der feindlichen Übermacht ergeben wird. Jenseits der großen Kriegsschauplätze freilich, in der innenpolitischen Sphäre, die in Buch VIII zu einem zentralen Thema wird,271 findet der Hoffnungstransfer einen Kontrapunkt: Die auktoriale Darstellung des internen athenischen Diskurses ist von dem ἐλπίς-Begriff geprägt; er wird in den zitierten Sprachakten genutzt und dient zur auktorialen Beschreibung von Gemütszuständen. Dieser Umstand muss überraschen ob der in VIII,1 geschilderten Hoffnungsleere Athens, und tatsächlich scheint es, dass sowohl die späteren Hoffnungsbeschwörungen der Redner als auch die historischen Hoffnungserlebnisse nicht genuin in Athen entstehen, wie es vor der Niederlage in Sizilien der Fall war, sondern dass sie alle in demselben Hoffnungsimport von außen wurzeln. Importeur ist Alkibiades. Der umtriebige Flüchtling kehrt in VIII, 45 als Hauptfigur in das thukydideische Narrativ zurück, wie stets umwirbelt von Verwicklungen und Intrigen. Nachdem er sich mit den Spartanern überworfen hat, denen er sich nach seiner Verbannung aus Athen angedient hatte,272 ist er zum Ratgeber des persischen Satrapen Tissaphernes geworden und versucht aus dieser Position seine Rückkehr nach Athen zu orchestrieren.273 Zu diesem Zweck lässt er in der Führungsriege der in Samos stationierten athenischen Flotte verlauten, könnte er unter den Bedingun270
271 272 273
„Die Chier erklärten also, dass Astyochos zu Hilfe kommen müsse, solange noch Hoffnung und die Möglichkeit (ἐλπὶς καὶ δυνατὸν) vorhanden sei, (den Athenern) entgegenzutreten […]. Astyochos entschloss sich nun doch, obwohl er wegen seiner damaligen Drohung keine Lust hatte, im Hinblick auf die Wünsche der Verbündeten, ihnen zu Hilfe zu kommen.“ Vgl. dazu etwa Connor: Thucydides, S. 211f. Vgl.VII, 88,8f. Vgl. VII, 45f. 105
gen einer Oligarchie heimkehren, würde er den persischen Großkönig selbst der Stadt zum Freund gewinnen. Seine verlockende Rhetorik, die er in einer persönlichen Zusammenkunft mit Abgesandten aus Samos noch elaboriert, sät Hoffnung, mehr noch, „große Hoffnung“: Thukydides beschreibt die δυνατώτατοι, mit denen Alkibiades gesprochen hat, als von „große[n] Hoffnungen (πολλὰς ἐλπίδας)“ entflammt, Hoffnungen, „nicht nur [….] einmal die Macht an sich zu ziehen, sondern dass sie ihre Feinde besiegen würden.“274 Unter Weitergabe der alkibiadischen Rhetorik propagieren die solchermaßen neu Hoffnungsbeseelten im Heer auf Samos offen die Abschaffung der Demokratie. Die Soldaten sind zunächst voller Vorbehalt, dann aber geben sie „doch Ruhe wegen der verlockenden Hoffnung (διὰ τὸ εὔπορον τῆς ἐλπίδος) auf den Sold vom Großkönig.“275 Die Hoffnung, die sich hier gleich zweimal hintereinander mit athenischen Subjekten zeigt, ist verschwenderisch – nicht mehr bloß Rettung, sondern Sieg erwarten die Heerführer unter ihrem Einfluss –, sie entfaltet dynamisierende Wirkung, breitet sich epidemisch aus und stiftet mit ihrer schillernden Gestalt – für den einen spiegelt sie politische Macht, für den anderen Geld – Einigkeit. Die Einigkeit im Hoffen muss an den Zustand Athens am Vorabend der Sizilienexpedition erinnern; Thukydides betonte auch dort die Diversität der Hoffnungsbilder und beschrieb die Hoffnung der Masse der Soldaten fast identisch zu VIII, 48 als „Hoffnung, fürs Erste Geld zu verdienen und dann eine Macht zu gewinnen, durch die ihnen dauernde Soldzahlung gewährleistet werde.“276 Der Umstand, dass Alkibiades in beiden Passagen als zentrale Figur auftritt und sich Hoffnungsrhetorik bedient, um persönliche Hoffnungen wahrzumachen, betont die Parallele, deckt aber auch einen entscheidenden Unterschied zwischen den Szenen auf: Im Vorfeld der Sizilienexpedition artikulierte und konkretisierte Alkibiades lediglich Hoffnungen, die bereits schwer in der Luft lagen, war Exponent, nicht jedoch Urheber des Affekts, eben als letzterer aber wird er in VIII, 47f. gezeigt: Von außen tritt er hier an ein hoffnungsleeres Athen heran und führt aus der Ferne eine Hoffnung ein, die er ganz auf sich geprägt hat und die er zu verwalten beansprucht – erfolgreich, wie es zunächst den Anschein hat: Die oligarchischen Verschwörer von Samos geben seine Rhetorik fast unverfälscht nach Athen weiter; sie nutzen seinen Namen als 274 275 276
VIII, 48,1. VIII, 48,3. VI, 24,3. 106
Argument, um dort den Umsturz der Demokratie voranzutreiben – nachdem sie zuvor, wieder ganz wie die Athener von 415, Mahnungen zur Mäßigung und zur Skepsis gegenüber Alkibiades’ Worten ignoriert haben.277 Als in Athen Empörung über die antidemokratischen Reden losbricht, kommt es zu folgender Schlüsselszene: „Peisandros begegnete dem heftigen Widerspruch und lautem Jammern, ließ jeden Einzelnen der Gegenredner vortreten und befragte ihn, ob er irgendeine Hoffnung habe, dass sich die Stadt retten könne (εἴ τινα ἐλπίδα ἔχει σωτηρίας τῇ πόλει)“278
Mit Peisandros weist hier ein historischer Akteur in Bestätigung der auktorialen Diagnose von VIII,1 auf die Hoffnungsleere in Athen hin, nicht allerdings deskriptiv, sondern normativ: Peisandros artikuliert die Abwesenheit von Hoffnung als empfundenen Mangel, präsentiert ἐλπίς also als begehrenswertes Gut, ja, als Bedingung für Athens Überleben. Indem er weiter Alkibiades das alleinige Hoffnungsmonopol zuspricht, stilisiert er dessen Rückkehr – und damit die Abschaffung der Demokratie – zur Notwendigkeit ohne Alternative; Alkibades, Hoffnung, Rettung, sie werden bei ihm zu Synonymen. Die Argumentation verfehlt ihre Wirkung nicht: „Das Volk nahm beim ersten Hören die Sache mit der Oligarchie übel. Es wurde aber von Peisandros unmissverständlich belehrt, dass es keine andere Rettung gäbe; da fügte es sich voll Angst und zugleich in der Hoffnung (ἐπελπίζων) auf Änderungen in der Zukunft.“279
Wie schon in Samos also beugt sich die Masse ihren hoffnungsgetriebenen Führern und wird sogar selbst von Hoffnung ergriffen, wiederum von Hoffnungen ganz eigener Gestalt, wilden Ablegern gleichsam des alkibiadischen Setzlings. Auch jener selbst wuchert bald aus und entwächst den Händen des Pflanzers: Die oligarchischen Verschwörer emanzipieren sich von Alkibiades, kaum dass es 277 278 279
Als neuer Nikias erscheint somit Phrynichos, vgl. VIII, 48, 4–49. VIII, 53,2. VIII, 54,1. 107
ihnen, hoffnungsgenährt, gelungen ist, sich im Kampf um die Macht in Athen durchzusetzen.280 Abseits der Stadt allerdings bleibt die Alkibiadeszentrierte Hoffnung bestehen, bei der demokratischen Gegenpartei nämlich, die sich nach der Einrichtung der Oligarchie in Athen auf Samos formiert hat: Ihre führenden Männer schöpfen aus Alkibiades’ Versprechen, mit ihm sei die Unterstützung der Perser zu gewinnen, weiter Hoffnung und laden ihn bald, unter Zusicherung von Straffreiheit, zu sich auf die Insel.281 Thukydides beschreibt seinen Auftritt mit einer Häufung von Hoffnungsvokabeln: „Als nun eine Volksversammlung einberufen wurde, sprach zunächst Alkibiades unter Vorwürfen und Klagen über sein persönliches Schicksal der Verbannung, kam dann ausführlich auf die politische Lage zu sprechen und erweckte in ihnen keine geringen Hoffnungen (ἐλπίδας οὐ σμικρὰs) für ihre Zukunft. Dabei übertrieb er die Größe seines Einflusses auf Tissaphernes, einmal, damit die oligarchischen Machthaber zu Hause ihn fürchteten und ihre verschworenen Klubs sich eher auflösen sollten, die Athener auf Samos aber ihn mehr in Ehren hielten und selbst mehr Mut fassten, andererseits aber auch, damit die Feinde und Tissaphernes möglichst gründlich entzweit würden und ihre auf ihn gesetzten Hoffnungen begraben sollten (καὶ [ἀπὸ] τῶν ὑπαρχουσῶν ἐλπίδων ἐκπίπτοιεν). […] Das und vieles andere hörten sie [die Athener auf Samos] von ihm und wählten ihn sogleich zum Feldherrn zu den früheren hinzu; sie unterstellten das Ganze seiner Leitung und jeder hätte seine gegenwärtige Hoffnung auf Rettung und Bestrafung der Vierhundert um nichts in der Welt eingetauscht (τήν τε παραυτίκα ἐλπίδα ἕκαστος τῆς τε σωτηρίας καὶ τῆς τῶν τετρακοσίων τιμωρίας οὐδενὸς ἂν ἠλλάξαντο); sie waren schon bereit, weil sie nach all dem Gesagten für den Augenblick die Gegenwart der Feinde gering schätzten, sogar gegen den Piräus zu fahren.“282 280
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Vgl. VIII, 63,3f.: „Als nämlich Peisandros und seine Gesandten von Tissaphernes nach Samos zurückgekehrt waren, bekamen sie die Dinge im Heer noch fester in den Griff […]. Unter sich kamen die Athener in Samos bei weiteren Erwägungen überein, Alkibiades, da er nun einmal nicht wolle, ganz aus dem Spiel zu lassen; er sei nämlich als Mitglied einer oligarchischen Regierung auch gar nicht geeignet.“ Vgl. VIII, 81. VIII, 81,2–82,1. 108
Erneut zeigt sich Alkibiades hier als hochbegabter Hoffnungsbeschwörer; mit nichts als Rhetorik, deren mangelnde Realitätsgrundlage Thukydides fast redundant betont,283 gelingt es ihm, bei den versammelten Athenern von Samos innigste Hoffnung zu entflammen. Erneut droht er aber die Kontrolle über diese Hoffnung zu verlieren: Plastisch illustriert Thukydides die hohe Verselbstständigungstendenz, die Unberechenbarkeit von ἐλπίς und mithin die Gefahren, die ihre Stimulation zu politischen Zwecken birgt. Mit ungewöhnlicher Deutlichkeit urteilt er, als wenig später sich die hoffnungswilden Forderungen, gegen den Piräus zu fahren, wiederholen, dass ihre Umsetzung Athen gewaltige Verluste gebracht hätte.284 Zwar gelingt Alkibiades noch rechtzeitig, was er kurz vorher bei der Oligarchenpartei nicht vermochte: Er schneidet die Auswüchse seines Hoffnungsgewächses wieder zurück, zwei Mal gleich, in VIII, 82,2 und wieder in 86, 4.285 Doch Thukydides lässt keinen Zweifel, dass ihm damit ein außergewöhnliches, vielleicht unwiederholbares politisches Meisterstück gelingt.286 Alkibiades scheint aus seinen Erfahrungen mit der Eigendynamik von Hoffnung überraschenderweise zu lernen: Seine Hoffnungsrhetorik ändert sich nach VII, 86,2. Zu den Abgesandten aus Athen, die erfolglos in Samos versucht haben, das Heer mit der neuen politischen Führung auszusöhnen, spricht er, sie sollten den Athenern überbringen, er verlange von der Stadt „standzuhalten und den Feinden nichts zuzugestehen. Denn wenn die Stadt gerettet werde, bestehe die Hoffnung (ἐλπίδα εἶναι), sich untereinander auch wieder zu vertragen, wenn aber ein einziger Teil […] unterliege, werde es auch niemanden mehr geben, mit dem sich jemand versöhnen könne.“287
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Vgl. VIII, 56; 82,3; 88. Siehe auch Westlake: Individuals, S. 251, S. 256f. Vgl. VIII, 86,4. ἐλπίς ist hier zwar nicht mehr ausdrücklich als Motivator genannt, doch das Selbstbewusstsein, das die Entschlossenheit des Heeres trägt, nährt sich unmissverständlich noch immer aus der Hoffnungsrhetorik des Alkibiades von 81f. Vgl. VIII, 86,4f. VIII, 86,7. 109
Hoffnung ist hier eine Option mit Vorbedingungen, kein reißerisches Versprechen und überdies klar festgelegt auf einen bestimmten Inhalt – die Versöhnung der zerstrittenen Stadt. Indes: Die Athener werden Alkibiades’ Worte nicht in jener sorgsam abgewogenen Form überbracht bekommen: „Als die Gesandten, die von der Vierhundert ausgeschickt worden waren, von Samos nach Athen gekommen waren, berichteten sie, was Alkibiades ihnen gesagt hatte, wie er aufgefordert hatte, durchzuhalten und den Feinden keinesfalls nachzugeben, und dass er die besten Hoffnungen (ἐλπίδας πολλὰς) habe, das Heer mit ihnen auszusöhnen und die Peloponnesier zu besiegen.“288
Die zitierten Passagen scheinen ganz für den Abgleich konzipiert; sie entdecken sich darin als plakative Illustration der Eigendynamik von Hoffnungsrhetorik. Während die Abgesandten den ersten Teil von Alkibiades’ Rede noch unverfälscht zu übermitteln vermögen, ist der Satz mit der ἐλπίς-Vokabel bei ihnen gänzlich verfälscht: Aus der in Vorbedingungen eingeknüpften, im Ziel eng begrenzten und singular formulierten ἐλπίς der Originalbotschaft haben sie plurale, voraussetzungslose „ἐλπίδας πολλὰς“ gemacht, die bis zum totalen Sieg reichen. So schlägt Alkibiades’ verantwortungsbewusster Versuch, die Hoffnung zu dosieren, fehl; zum dritten Mal wuchert sie aus, kaum dass sie gepflanzt worden ist. Fast muss es scheinen, als würde das athenische Diktum aus dem Melierdialog, Hoffnung sei „verschwenderisch von Natur“, auktorial bestätigt – indes, das notorisch zögerliche Auftreten der Spartaner in Buch VIII widerlegt diese These. Schlussfolgern lässt sich aus der auktorialen Darstellung der athenischen Verhältnisse nur, dass Thukydides eine athenische Disposition für Hoffnung diagnostiziert hat.289
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VIII, 89,1. Vgl. dagegen Schlosser: Thucydides, Hope, Politics, S. 173, der, unverständlicherweise, zu dem Fazit kommt, Thukydides zeige die Athener in Buch VIII als grundsätzlich gewandelt: „they are changed – hope does not return, and one wonders, if the Corinthians praise of successful Athenian hopefulness in Book I could ever be heard again.“ 110
Résumé, oder: Noch einmal für Hermokrates Thukydides’ Werk bricht bekanntlich mitten im Bericht des Sommers von 411 ab, desselben Sommers, in dem im Narrativ von den Athenern erstmals seit der Niederlage in Sizilien wieder von „ἐλπίδας πολλὰς“ gesprochen wird. Im Rückblick entdeckt sich ein buntes Hoffnungspanorama: Hoffnung erschien im thukydideischen Narrativ pluralisiert und im Singular, situativ und konstitutiv, ephemer und als Prinzip, als rhetorisches Argument und militärische Ressource, als Betäubungsmittel und Stimulans. Ihre Subjekte waren Individuen und Kollektive, Soldaten und Feldherren, Athener, Spartaner, Syrakuser, Melier, Argeier oder Eleer; manchen von ihnen erfüllte sie sich und vielen nicht. Es sind der Textpassagen nicht wenige, in denen Hoffnung als destruktive Kraft gezeigt wird, in denen ἐλπίς zu Leichtsinn verführt oder blendet: Da sind die kontrastierenden Szenen von der Ausfahrt der athenischen Flotte nach Sizilien und dem Niedergang des entsandten Heeres, da ist die Darstellung von Nikias’ verderbenbringender Verblendung, die Schilderung der Massenhysterie unter Athens Verbündeten 424, der Umstand von Melos’ Vernichtung oder die auktoriale Erklärung für Demosthenes’ schmähliche Niederlage bei Aigition in III, 97,2; die Sizilienerzählung schließlich lässt sich gar als hoffnungskritische Parabel lesen. Indes, auch an Textbeispielen, in denen an Hoffnung konstruktive, schöpferische, sinngebende Wirkung entdeckt wird, mangelt es nicht: Erinnert sei an den athenischen Sieg bei Pylos, an die athenische Erzählung vom Widerstandsentschluss der Väter gegen die Perser auf Grundlage nur von Hoffnung in I, 74,4, oder an die hoffnungsbeflügelten Siege der Syrakusaner und ihrer Verbündeten in Sizilien; die Sizilienerzählung schließlich kann auch als hoffnungsaffirmative Parabel gelesen werden: Thukydides nämlich erklärt den athenischen Feldzug nie ausdrücklich als zum Scheitern verurteilt, er legt sogar nahe, dass das Unternehmen mit einem Sieg hätte enden können, und verbietet so, die Niederlage nur auf
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hoffnungsverblendete Planung zurückzuführen.290 In der Darstellung der Feldzugswirklichkeit aber zeigt er unentwegt den athenischen Mangel an Hoffnung auf – den Mangel an jener totalen, trotzigen, gierigen Hoffnung jedenfalls, den er zuvor mit den Erfolgen Athens verbunden hat –, und er übt überdies suggestiv Kritik am Abzug des hoffnungstrunkensten Akteurs, Alkibiades, von dem Unternehmen.291 Es ist nicht möglich, zwischen der hoffnungsaffirmativen und der hoffnungskritischen Deutung des dargestellten Hoffnungsdiskurses im Werk zu entscheiden, ohne wesentliche Aspekte des Narrativs grundsätzlich auszublenden. Dieser Befund ermöglicht die These, dass Thukydides’ Hoffnungsdarstellung keine primär normative Stoßrichtung unterliegt, sondern eine analytische, dass nicht Hoffnung an sich, sondern kontextabhängige Ausprägungen von Hoffnung dort, wo sie sich als historischer Faktor zeigt, Gegenstand von Thukydides’ Interesse sind. Es würde daraus wiederum folgen, dass Thukydides sich von den Akteuren in seinem Werk, von Diodotos und den athenischen Gesandten im Melierdialog, gerade darin abgrenzt, dass er keinen normativen Hoffnungsbegriff formuliert, dass er die Sinnhaftigkeit eines normativen Hoffnungsbegriffs überhaupt in Frage stellt. Wenn diese unsere Schlussfolgerung Gültigkeit beanspruchen will, muss sie sich freilich mit der erklärten Intention des Thukydides vermitteln lassen, sein Werk sei konzipiert, dem Leser „nützlich“ zu sein. Im Proöm heißt es: „Wer aber klare Erkenntnis des Vergangenen erstrebt und damit auch des Künftigen, das wieder einmal gemäß des Menschlichen (τὸ ἀνθρώπινον) so oder ähnlich eintreten wird, der wird mein Werk für nützlich halten (ὠφέλιμα κρίνειν), und das soll mir genügen. Als ein Besitz für immer, nicht als Glanzstück für einmaliges Hören ist es aufgeschrieben.“292
Unter der Prämisse nun, dass Hoffnung eine anthropologische Konstante ist, besitzt eine analytische Darstellung von historischen Hoffnungen im Unterschied zum anekdotisch illustrierten Werturteil über Hoffnung in erhöhtem Maße das Potenzial, dem Leser von praktischem Nutzen zu sein: Sie sensibilisiert denselben 290 291 292
Vgl. II, 65,11. Vgl. VI, 15,4 und die Darstellung der Klage gegen Alkibiades in VI, 53–61. I, 22,4. 112
für die Vielfalt, die Potenziale und Gefahren des Phänomens und bietet damit einen Ansatzpunkt dafür, einen konstruktiven Umgang mit der menschlichen Hoffnungsdisposition zu entwickeln. Thukydides lässt den Leser mit dieser Aufgabe nicht gänzlich allein: Es scheint jedenfalls – und erhöht die Plausibilität unserer Schlussfolgerung –, dass er vermittels der Figur des Hermokrates andeutungshaft einen Modus des Hoffens skizziert, der wie aus dem Negativ der übrigen Hoffnungen im Werk geschnitten ist und der sich als Vorlage für einen konstruktiven Umgang mit der menschlichen Hoffnungsdisposition anbietet. Ganz grundsätzlich sind die Reden des syrakusischen Strategen mehr als die Äußerungen der anderen Akteure im Werk dazu angetan, als positive Hinweise auf die auktoriale Intention gelesen zu werden, sind sie doch weitgehend von der ironisierenden Kommentierung durch das Narrativ verschont.293 In seiner zweiten Rede nun demonstriert Hermokrates praktisch einen Modus besonnen Hoffens, der im Werk keine Entsprechung findet. Den Kontext der Rede bildet eine Volksversammlung in Syrakus, die einberufen worden ist, um über das umlaufende Gerücht eines bevorstehenden athenischen Angriffs zu beraten. Der Leser weiß bereits, dass es der Wahrheit entspricht – unmittelbar vorher hat Thukydides die von schrillen Hoffnungen untermalte Ausfahrt der athenischen Flotte nach Sizilien beschrieben. Die Mehrheit der Syrakuser indes mag den aus Hellas eintreffenden Nachrichten keinen Glauben schenken und so tritt Hermokrates, der, wie Thukydides berichtet, „genau Bescheid zu wissen glaubte“,294 dazu an, seine Mitbürger von der Unmittelbarkeit der athenischen Bedrohung zu überzeugen und zur raschen Tat, zur Rüstung, möglichst sogar zum Gegenangriff zu motivieren. Seine Rede ist nicht alarmistisch, sondern zeichnet sich durch ihren analytischen Charakter aus: Hermokrates zeigt systematisch die historischen Chancen auf, die die athenisch-syrakusische Konfrontation, deren
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Dieser Umstand ist in der Forschung bisher wenig behandelt worden; überhaupt scheint Hermokrates dort notorisch im Schatten des Perikles zu stehen, wiewohl Thukydides beiden Strategen jeweils drei Reden in den Mund legt. Unter den wenigen Forschungsbeiträgen, die Thukydides’ Hermokratesdarstellung zum Thema haben, vgl. Focke Tannen Hinrichs: Hermokrates bei Thukydides, in: Hermes 109 (1981), S. 46–59 sowie Henry D. Westlake: Hermocrates the Syracusan, in: BRL 41 (1958), S. 239–268. VI, 32,3. 113
Unvermeidlichkeit der diagnostiziert, für Syrakus birgt. In seinem Sprechen über diese Chancen nimmt er Rekurs auf Hoffnung: „Sie [die Athener] werden uns nicht mehr Schaden zufügen können, als sie selbst erleiden werden, auch dass sie mit gewaltigem Aufgebot herankommen, ist nicht ohne Nutzen, im Hinblick auf die anderen Sizilier sogar viel besser – in ihrem Schrecken werden sie eher geneigt sein, auf unserer Seite mitzukämpfen; und wenn wir sie etwa vernichten oder, ohne dass sie ihr Ziel erreichen, zurückschlagen – und ich fürchte wirklich nicht, dass sie erlangen, was sie erwarten – so wird das für uns die herrlichste Tat sein, und, mir wenigstens scheint dies nicht hoffnungslos (καὶ οὐκ ἀνέλπιστον ἔμοιγε). Denn nur wenige gewaltige Feldzüge von Hellenen und Barbaren, die sich weit von der eigenen Heimat entfernten, haben Erfolg gehabt […] und wenn sie aus Mangel an notwendigen Gütern in einem fremden Land Misserfolg haben, so hinterlassen sie dennoch, auch wenn sie hauptsächlich durch ihre eigenen Fehler scheiterten, den Angegriffenen namenhaften Ruhm. Wie es ja gerade den Athenern ergangen ist: Als der Perser, von dem es hieß, er sei gegen Athen losgezogen, unerwartet viele Rückschläge erlitten hatte, da wurden sie groß; und dass solches auch uns zuteilwird, ist nicht hoffnungslos (καὶ ἡμῖν οὐκ ἀνέλπιστον τὸ τοιοῦτο ξυμβῆναι).“295
Hermokrates’ Antizipationen sind durch die auktoriale Darstellung des Ereignisverlaufs gedeckt; alles, was er hier auf Basis von historischen Analogien voraussagt, wird bald darauf eintreten. Dem zum Trotz lässt Thukydides ihn die Berechnungen nicht in einem Ton absoluter Gewissheit vortragen: Als wollte er der Ungewissheit der Zukunft ein Zugeständnis machen, krönt Hermokrates seine Ausführungen vielmehr mit impliziten Ermutigungen zur Hoffnung: „mir wenigstens scheint dies nicht hoffnungslos“, setzt er seiner Prognose hinzu, dass ein geeintes Sizilien den athenischen Angriff abwehren und historischen Ruhm dafür ernten wird, „und dass solches auch uns zuteilwird, ist nicht hoffnungslos“, be-
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VI, 33,4f. 114
endet er seine argumentative Erläuterung dieser Prognose. Es sind dies freilich spröde Hoffnungsverweise, werden die euphorischen, fordernden, erregenden Hoffnungsbeschwörungen, die im thukydideischen Narrativ aus dem Mund anderer Akteure erklingen, zum Vergleich herangezogen. Bereits im sprachlichen Ausdruck grenzt Hermokrates sich von der geläufigen Hoffnungsrhetorik ab: Er spricht von ἐλπίς nur litotisch, eine stilistische Besonderheit, die er später in der Rede, in VI, 34,2, noch einmal wiederholt und die im Werkkontext singulär ist. Sie scheint ein Bewusstsein des Sprechers über die hohe Verselbstständigungstendenz von Hoffnung zu markieren. Dass Hermokrates dennoch von Hoffnung spricht und sich zu ihr bekennt, kann als pragmatisches Eingeständnis an die Einsicht gedeutet werden, dass Hoffnung eine anthropologische Größe ist – und als praktischer Versuch, konstruktiv mit dieser Größe umzugehen. Denn indem er seine historisch-analytisch basierte Antizipation in jene litotischen Invokationen der Hoffnung münden lässt, weist Hermokrates dieser gleichsam aus der rationalen Reflexion heraus dort einen Platz zu, wo er die Grenze seiner rationalen Erkenntnisfähigkeit verortet – ganz, als wolle er seiner eigenen und seiner Zuhörer Disposition zur Hoffnung vorausschauend begegnen. Es ist dieses Moment der Selbstreflexion und Besonnenheit, das Hermokrates’ Hoffen grundsätzlich von dem Hoffen unterscheidet, das Thukydides so divers an den anderen Akteuren im Werk darstellt – von dem radikalen Hoffen der Athener ebenso wie von dem verzweifelten Hoffen des Nikias, dem aufgeregten Hoffen von Athens abfallenden Bündern oder dem entschlossenen Hoffen der Melier: An ihnen allen entdeckt sich gegenüber Hermokrates’ Hoffen eine gemeinsame Totalität. Nichtsdestotrotz widerlegt dieses Hoffen des Hermokrates nachdrücklich die These der Athener im Melierdialog, dass ἐλπίς unweigerlich blende, Vernunft negiere und den Menschen entmündige. Gerade Hermokrates’ Hoffen besitzt das Potenzial, Modell zu sein für den nachhaltigen Umgang mit der Notwendigkeit im „Menschlichen“, sich zur Zukunft zu verhalten.
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