Wissenschaft am Scheidewege: Kritische Beiträge über Slawistik, Literaturwissenschaft und Ostforschung in Westdeutschland [Reprint 2021 ed.] 9783112573860, 9783112573853


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German Pages 268 Year 1965

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
In gemeinsamer Front gegen aller Welt Feind
Wissenschaft in der geistigen Auseinandersetzung unserer Zeit
Die humanistische Mission der deutschen Slawistik
Vom gemeinsamen Anliegen der Slawisten Volkspolens und der DDR
Zu einigen Hauptproblemen der Slawistik unserer Zeit
Deutsche Slawistik und Ostforschung
Slawistik und Nation
Die westdeutsche Ostforschung und die ideologischen Konzeptionen der Bonner Ostpolitik 1956—1963
Der Held der sowjetischen Gegenwartsliteratur im Zerrspiegel westdeutscher Literaturkritik
Gegen eine grobe Verfälschung der tschechischen und slowakischen Literatur in der westdeutschen Zeitschrift „Osteuropa"
Formalistische Literaturbetrachtung in Aktion
Gegen Äußerungen der antikommunistischen Ideologie in Prof. Lettenbauers „Russischer Literaturgeschichte"
Ein Verfechter des Idealismus und Mystizismus
Prof. Dr. Klaus Mehnert — ein Ultra der westdeutschen „Sowjetologie"
Moderne bürgerliche Literaturwissenschaft und reaktionäre Soziologie
Über die Krise des modernen westlichen Komparativismus
Zur Edition und Interpretation sowjetischer Lyrik in Westdeutschland in den Jahren 1945—1960
Entstellte Sowjetliteratur
Westdeutscher Pressefeldzug gegen Gor'kijs Drama „Die Kleinbürger"
Bemerkungen zur Interpretation Šolochovs in Westdeutschland
Die „Süddeutsche Zeitung" und Baluev
Gedanken zur Auseinandersetzung mit der westdeutschen Ostforschung bei der Interpretation der russischen und sowjetischen Literatur
Inhalt
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Wissenschaft am Scheidewege: Kritische Beiträge über Slawistik, Literaturwissenschaft und Ostforschung in Westdeutschland [Reprint 2021 ed.]
 9783112573860, 9783112573853

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Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin Institut für Slawistik Literaturwissenschaftliche Abteilung

Wissenschaft am Scheidewege Kritische Beiträge über Slawistik, Literaturwissenschaft und Ostforschung in Westdeutschland

Herausgegeben von Dr. G . Ziegengeist

AKADEMIE-VERLAG

1964

• BERLIN

Erschienen im Akademie-Verlag GmbH, Berlin W8, Leipziger Straße 3 — 4 Copyright 1964 by Akademie -Verlag GmbH Lizenz-Nr. 202 . 100/30/64 Gesamtherstellung: VEB Druckhaus „Maxim Gorki", Altenburg Bestellnummer: S5S3 • ES 7 I • Preis: DM 25,—

Inhaltsverzeichnis Dr. G. Ziegengeist In gemeinsamer Front gegen aller Welt Feind

VII

Akademiemitglied Prof. Dr. W. Hartke Präsident der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin Wissenschaft in der geistigen Auseinandersetzung unserer Zeit Zum Geleit

1

Akademiemitglied Prof. Dr. H. H. Bielfeldt Die humanistische Mission der deutschen Slawistik

5

Akademiemitglied Prof. Dr. S. 2ölkiewski Vom gemeinsamen Anliegen der Slawisten Volkspolens und der DDR . . . .

9

Korresp. Akademiemitglied Prof. Dr. I. I. Anisimov Zu einigen Hauptproblemen der Slawistik unserer Zeit

12

Dr. Ch. Mückenberger Deutsche Slawistik und Ostforschung

16

Dr. E. Hexelschneider Slawistik und Nation Bemerkungen zu einigen Tendenzen und Erscheinungen in der westdeutschen Slawistik der letzten Jahre

36

R. Goguel Die westdeutsche Ostforschung und die ideologischen Konzeptionen der Bonner Ostpolitik 1956-1963

47

A. Hiersche Der Held der sowjetischen Gegenwartsliteratur im Zerrspiegel westdeutscher Literaturkritik '. .

70

Korresp. Akademiemitglied Prof. Dr. J . Dolanskjr Gegen eine grobe Verfälschung der tschechischen und slowakischen Literatur in der westdeutschen Zeitschrift „Osteuropa"

87

Dr. M. Wegner Formalistische Literaturbetrachtung in Aktion Prof. V. Setschkarefif und die russische Literatur

95

E. Weiß Gegen Äußerungen der antikommunistischen Ideologie in Prof. Lettenbauers „Russischer Literaturgeschichte" 110

VI

Inhaltsverzeichnis Dr. H. Graßhoff Ein Verfechter des Idealismus und Mystizismus Zum Wirken Prof. Tschizewskijs

130

A. Hiersche Prof. Dr. Klaus Mehnert — ein Ultra der westdeutschen „Sowjetologie"

. . 140

I. G. Neupokoeva Doktor der philologischen Wissenschaften Moderne bürgerliche Literaturwissenschaft und reaktionäre Soziologie Prof. Dr. R. M. Samarin Über die Krise des modernen westlichen Komparativismus

. . . 161 174

F. Mierau Zur Edition und Interpretation sowjetischer Lyrik in Westdeutschland in den Jahren 1945-1960 183 D. Müller f Entstellte Sowjetliteratur Über Fälschungsmethoden des offiziösen Bonner Informationsblattes „OstProbleme" 205 I. Idzikowski Westdeutscher Pressefeldzug gegen Gor'kijs Drama „Die Kleinbürger" . . . 215 G. Knobloch Bemerkungen zur Interpretation Solochovs in Westdeutschland

221

J a . E. El'sberg Doktor der philologischen Wissenschaften Die „Süddeutsche Zeitung" und Baluev

233

Prof. Dr. H. Jünger Gedanken zur Auseinandersetzung mit der westdeutschen Ostforschung bei der Interpretation der russischen und sowjetischen Literatur 243 CoflepmaHjie



250

D r . G . ZIEGENGEIST

In gemeinsamer Front gegen aller Welt Feind Der vorliegende Sammelband ist das erste gemeinschaftliche Werk von Slawisten der DDR, der Sowjetunion, Volkspolens und der ÖSSR, das sich mit der in Westdeutschland herrschenden verderblichen Ideologie des Antikommunismus und Revanchismus auf literaturwisssenschaftlichem Gebiet auseinandersetzt. Es ist verfaßt im Sinne jener verpflichtenden Worte, die N. S. Chruschtschow während seines Freundschaftsbesuches in der Deutschen Demokratischen Republik im Sommer 1963 äußerte: „Die Völker der Länder der sozialistischen Gemeinschaft, die in einer Kolonne dem großen Ziel entgegenschreiten, fürchten keine Prüfungen. Festigen und entwickeln wir diese brüderliche Gemeinschaft!" 1 Und: ,,Wir vereinen heute unsere Anstrengungen gegen den gemeinsamen Feind, gegen den Imperialismus, gegen den Krieg, gegen die imperialistischen Eroberer. Und unsere Kräfte sind unbesiegbar. Mögen sich das diejenigen hinter die Ohren schreiben, die wie Eroberer nach Osten schielen . . ." 2 Unser Sammelwerk, das wesentlich geprägt ist durch die Mitarbeit von führenden Literaturwissenschaftlern aus sozialistischen Bruderländern, bestätigt auf wissenschaftspolitischer Ebene eindrucksvoll die Feststellung Walter Ulbrichts auf dem VI. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands: „Ist das nicht schon für sich allein eine große geschichtliche Leistung, daß jetzt die Volksrepublik Polen, die Sowjetunion, die Deutsche Demokratische Republik, die Tschechoslowakische Sozialistische Republik und andere sozialistische Länder in Freundschaft und eng miteinander verbunden sind und brüderlich zusammenarbeiten ? Was ist das für eine große Kraft!" 3 Der Band demonstriert im besonderen die unerschütterliche Solidarität und Kampfgemeinschaft der Wissenschaftler unserer brüderlich vereinten sozialistischen Länder in der geistigen Auseinandersetzung mit dem aggressiven westdeutschen Imperialismus. Es ist das gemeinsame Anliegen der Autoren des Bandes, die Aufmerksamkeit der internationalen wissenschaftlichen Öffentlichkeit auf 1

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3

N. S. C h r u s c h t s c h o w und W. U l b r i c h t , Für eine Zukunft in Frieden und Sozialismus, Berlin 1963, S. 33. Die Welt grüßt Walter Ulbricht und unsere Republik. Reden und Grußschreiben zum 70. Geburtstag des Ersten Sekretärs des Zentralkomitees der SED und Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Berlin 1963, S. 103. W. U l b r i c h t , Referat: Das Programm des Sozialismus und die geschichtliche Aufgabe der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Berlin 1963, S. 257.

VITT

G. Ziegengeist

die drohende Gefahr zu lenken, die vom westdeutschen Militarismus und Revanchismus für den Friedensweg der Völker Europas, ihre Wissenschaft und Kultur, ausgeht. Wurde doch in der Bundesrepublik — wie der polnische Ministerpräsident Jözef Cyrankiewicz warnend hervorhob — die Wiedergeburt all dessen zugelassen, was vor mehr als zwanzig Jahren Deutschland und damit die ganze Welt in den Strudel von Krieg, Vernichtung und unermeßlichem Leid getrieben hat1. Der westdeutsche Staat ist heute der Hauptgegner der friedlichen Koexistenz und der Entspannung in Europa. Seine Politik ist beseelt vom Ungeist des Hasses, der Revanche und atomaren „Vorwärtsstrategie" gegenüber der Sowjetunion, der DDR und den anderen sozialistischen Ländern Ost- und Südosteuropas. Verbissen widersetzen sich die Bonner Ultras einer Politik der Vernunft und des guten Willens in den Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten, wie sie von Staatsrat und Regierung der DDR immer wieder vorgeschlagen wird. Auch nach dem Abgang Adenauers und dem völligen Bankrott seiner Annexionspolitik setzen die herrschenden Kräfte in Westdeutschland den alten revanchistisch-militaristischen Kurs gegen internationale wie innerdeutsche Entspannung und Verständigung in den Grundfragen fort2. Durch die internationale Entwicklung nach dem Moskauer Vertrag über die Einstellung der Kernwaffenversuche, durch die Einwirkungen der Friedenspolitik der Sowjetunion, der DDR und anderer sozialistischer Länder sowie durch die spürbaren Veränderungen im Denken der eigenen Bevölkerung werden jedoch Teile der westdeutschen Großbourgeoisie zunehmend zu dem Versuch veranlaßt, sich geänderter, beweglicherer Methoden bei der Verfolgung ihrer aggressiven Ziele zu bedienen. So greifen sie neuerdings häufiger zu einer elastischeren, verfeinerten Taktik im Verhältnis zu einzelnen Staaten der sozialistischen Gemeinschaft. Die führenden Kreise in Bonn wollen — wie Walter Ulbricht dazu erklärte — die Minderung der Spannungen, die sie trotz aller Anstrengungen nicht verhindern konnten, dazu ausnutzen, „um mit veränderten Methoden in die DDR und die volksdemokratischen Länder einzudringen"8. Durch sein hartnäckiges Festhalten an den Zielen der längst gescheiterten Politik der Revanche gegen die sozialistischen Länder, durch sein forciertes Streben nach atomarer Aufrüstung und durch seinen zähen Widerstand gegen 1

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3

Rede J. Cyrankiewiczs auf der Kundgebung der Brüderlichkeit in Frankfurt/Oder am 3. Juli 1963, in: Die Welt grüßt Walter Ulbricht und unsere Republik, a. a. O., S. 92. So hat Prof. Erhard in seiner Regierungserklärung vom 18. Oktober 1963, in der er sich zu einer Politik der Entspannung bekannte, offensichtlich unter dem starken Druck der Ultras die territorialen Ansprüche des westdeutschen Imperialismus auf weite Gebiete sozialistischer Länder unverändert geltend gemacht. Offen erhob er die alte revanchistische Forderung nach Wiederherstellung der Reichsgrenzen von 1937. Er wandte sich gegen eine Normalisierung der Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten auf dem Wege gleichberechtigter Verhandlungen, gegen jede Anerkennung der DDR. vgl. W . U l b r i c h t , Friedliche Koexistenz wird auch in Deutschland siegen, in: Neues Deutschland, 1963, Nr. 311 vom 12. XI., S. 2.

In gemeinsamer Front gegen aller Welt Feind

IX

eine deutsche Verständigung auf dem Wege gleichberechtigter Verhandlungen bleibt der imperialistische Bonner Staat nach wie vor der gefährlichste Herd der Friedensbedrohung im Herzen Europas. Volle Gültigkeit behalten deshalb die klaren Worte Walter Ulbrichts anläßlich eines Freundschaftsbesuches in Warschau im Herbst 1963: „An der Notwendigkeit, wachsam zu sein und den Kampf gegen den westdeutschen Revanchismus an allen Fronten nachdrücklich zu führen, ändert sich für uns nichts." 1 In dem ersten Arbeiter-und-Bauern-Staat auf deutschem Boden ist eine sichere, unüberwindliche Barriere erstanden, an der die Revanchepläne der Bonner Ultras gegen die Länder des Sozialismus zerschellen. Das ideologisch-politische Hauptmittel des deutschen Imperialismus zur Sicherung der eigenen Klassenherrschaft, zur Irreführung und Niederhaltung der Volksmassen und zur Vorbereitung seiner räuberischen Eroberungskriege wurde seit der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution der Antikommunismus2. Die in der Bundesrepublik herrschenden Kreise der Monopolbourgeoisie haben — die Lehren der deutschen Geschichte mißachtend — den Antikommunismus erneut zur Staatsdoktrin und Staatspolitik erhoben. Seine Grundidee und sein wirklicher Klasseninhalt bestehen heute darin, über die „europäische Integration" zur „Befreiung" der DDR und anderer sozialistischer Länder Ost- und Südosteuropas (nach Hallstein „bis zum Ural") zu gelangen und schließlich die imperialistische Herrschaft über die ganze Welt zurückzugewinnen und die sozialistische Ordnung überall zu beseitigen3. Westdeutschland muß als das gegenwärtig aggressivste Zentrum der antikommunistischen Ideologie, Propaganda und Diversion in Europa gelten. Der Antikommunismus des Bonner Regimes, der gemeinsame ideologische Plattform der Parteien des westdeutschen Imperialismus geworden ist, richtet sich nicht nur gegen die Arbeiterklasse, er richtet sich vielmehr „gegen alle demokratischen und verständigungsbereiten Kräfte, gegen die ganze friedliebende Bevölkerung Westdeutschlands und selbst gegen jene Kräfte in der Großbourgeoisie, die normale friedliche, ökonomische, politische und kulturelle Beziehungen mit den sozialistischen Ländern anstreben" 4 . Immer schärfer wurde in den letzten Jahren der 1

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3

4

Rede Walter U l b r i c h t s auf der deutsch-polnischen Freundschaftskundgebung in Warschau am 30. September 1963, in: Neues Deutschland, 1963, Nr. 269 vom i. X., S. 4. vgl. W. U l b r i c h t , Referat zum „Grundriß der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung", in: Einheit, 17. Jg., Sonderheft, August 1962, S. 14; d e r s . , Vergangenheit und Zukunft der deutschen Arbeiterbewegung. Referat auf der 2. Tagung des ZK der SED, 10. bis 12. April 1963, Berlin 1963, S. 44. vgl. die Diskussionsrede Hermann M a t e r n s auf dem 4. Plenum des ZK der SED, in: Neues Deutschland, 1963, Nr. 305 vom 6. XI., S. 5; ferner L. S t e r n , Der Antikommunismus als politische Hauptdoktrin des deutschen Imperialismus, Berlin 1963; Antikommunismus — Feind der Menschheit, Berlin 1963; T. I. O i s e r m a n , Der Antikommunismus — Ausdruck der Krise der bürgerlichen Ideologie, Berlin 1963. W. U l b r i c h t , Referat: Das Programm des Sozialismus und die geschichtliche Aufgabe der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands... Programm der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Berlin 1963, S. 310.

X

G. Ziegengeist

Druck des Antikommunismus — in seiner militant klerikalen, revanchistischen und „abendländischen" oder neuerdings in seiner weltanschaulich „verfeinerten" Ausprägung — auch auf die Bereiche des wissenschaftlichen und kulturellen Lebens in der Bundesrepublik. Die herrschenden Kreise unternehmen alles, um die Kultur, Wissenschaft und Kunst den militaristischen und revanchistischen Zielen der Bonner Ultras unterzuordnen 1 . Die sich in jüngster Zeit verstärkenden positiven Bemühungen in den Reihen der westdeutschen Intelligenz um eine demokratisch-humanistische Erneuerung des Geistes- und Kulturlebens der Bundesrepublik, um das offene deutsche Gespräch und um einen umfassenden kulturellen Austausch mit der DDR und den anderen sozialistischen Ländern im Geiste echter Völkerverständigung werden rücksichtslos verfolgt, bedroht oder boykottiert. I n aller Deutlichkeit wird sichtbar, daß der Antikommunismus, Militarismus und Revanchismus der Bonner Ultras eine tödliche Bedrohung für den Bestand und das Gedeihen humanistischer, völkerverbindender Wissenschaft und Kultur in Westdeutschland darstellt. Immer klarer erweist es sich, daß der Kampf gegen diese fluchbeladenen Ideen und Mächte für die Geistesschaffenden der Bundesrepublik zur zwingenden Lebensnotwendigkeit wird. Bloßes Unbehagen oder untätiges Verharren auf einer kritisch-ablehnenden Position reicht heute schon nicht mehr aus. Forderung des Tages an die westdeutschen Geistesschaffenden ist vielmehr die aktive Verteidigung des demokratisch-humanistischen Anliegens der Wissenschaft und Kultur. Es kommt darauf an, entschieden alle Versuche der antikommunistischen Ultras aus Wissenschaft, Kunst und Literatur Waffen des kalten Krieges gegen die sozialistischen Länder zu machen, zurückzuweisen. Dieser Kampf für den Schutz humanistischer Wissenschaft und Kultur vor dem verderblichen Zugriff des westdeutschen Imperialismus und Militarismus liegt im übereinstimmenden Interesse der friedlichen Geistesschaffenden beider deutscher Staaten. Hier gibt es echte nationale Gemeinsamkeiten und, daraus resultierend, Möglichkeiten gemeinschaftlichen Forderns und Handelns. Die unheilvolle Wirkung des Antikommunismus auf einen erheblichen Teil der Bevölkerung, darunter auch der Intelligenz, der Bundesrepublik erklärt sich nicht zuletzt daraus, daß die antikommunistische Ideologie und Politik in Deutschland, dem Geburtsland des wissenschaftlichen Sozialismus, über eine besonders lange, viele Jahrzehnte zurückreichende Tradition verfügt und sich als besonders wandlungs- und anpassungsfähig erweist. Der Antikommunismus der Bonner Ultras hat bewußt alle brauchbaren Elemente aus der antikommunistischen und antisowjetischen Hetze der Weimarer Republik und aus dem Antibolschewismus der faschistischen Diktatur in sich aufgenommen. Hinzu kommt, daß er heute vor allem auf das Ideenarsenal des politischen Klerikalismus zurückgreift, um als 1

Erklärung des Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Walter U l b r i c h t , vor der Volkskammer am 31. Juli 1963, in: Neues Deutschland, 1963, Nr. 208 vom 1. VIII., S. 7; Oskar N e u mann, Die Sache der deutschen Kultur und Wissenschaft, einer demokratischen Volksbildung vertreten!, in: Parteitag 1963 der Kommunistischen Partei Deutschlands. Protokoll, Berlin 1963, S. 251 f.

In gemeinsamer Front gegen aller Welt Feind

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auserwählter Vorkämpfer für das „christliche Abendland" und die „westliche Freiheit", gegen den „bolschewistisch-atheistischen Osten" auftreten zu können. Alle diese verschiedenen Bestandteile und Versionen des Antikommunismus sind jetzt in der sogenannten Europaideologie des westdeutschen Imperialismus zusammengefaßt worden. Unter der Losung der „Integration Europas" verfolgen die militaristischen Ultras ihre revanchistischen Pläne zur Unterwerfung der freien sozialistischen Völker 1 . Angesichts der wachsenden Stärke des sozialistischen Lagers, der erfolgreichen Friedenspolitik der Sowjetunion, der DDR und anderer sozialistischer Staaten und der Minderung der internationalen Spannungen gewinnt in der Bundesrepublik seit einiger Zeit der weltanschaulich „verfeinerte" Antikommunismus zunehmend an Boden 2 . Er wird charakterisiert durch das Bestreben, die aggressiven Ziele und Absichten des westdeutschen Imperialismus, den revanchistischen Drang nach Annexion der DDR und weiter Gebiete Volkspolens, der Sowjetunion und der ÖSSR in ideologisch-politischer Hinsicht geschickter und wirkungsvoller zu tarnen, und zwar nach innen und außen. Auf solche Weise will man die wachsende Enttäuschung und Unzufriedenheit, das fortschreitende Umdenken in breiten Schichten der westdeutschen Bevölkerung, vor allem seit dem 13. August 1961, und den zwangsläufig erfolgten Bankrott der Adenauer-Politik auffangen und zugleich die steigende Besorgnis anderer Völker „besänftigen". Um die ideologischen Barrieren gegen den Vormarsch des Sozialismus noch aufrechterhalten zu können, ist der Antikommunismus als die bestimmende Staatsdoktrin in Westdeutschland gezwungen, zu geänderten, weniger plumpen Methoden zu greifen, muß er geschmeidiger lavieren und raffinierter argumentieren. Hier zeigt sich deutlich seine Defensivposition, seine Schwäche und seine Krise. Weiter soll dieser „verfeinerte" Antikommunismus die von Bonn angestrebte flexiblere Politik gegenüber einzelnen sozialistischen Ländern begründen. Es handelt sich dabei um den Versuch eines Teils der in der Bundesrepublik maßgeblichen Kreise, zu einer beweglicheren Taktik überzugehen und die sozialistischen Staaten mittels kontrollierter Kontakte und Beziehungen allmählich „aufzuweichen" oder, wie Walter Ulbricht es einmal nannte, tödlich zu umarmen. Gleichzeitig wird die ganze wütende antikommunistische Hetze vornehmlich auf die Deutsche Demokratische Republik konzentriert und der kalte Krieg gegen ihre nationale wie internationale Position verschärft. Ausgehend von den Erfordernissen unserer Zeit, wird im Programm der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands nachdrücklich erklärt, daß in der Auseinandersetzung mit den im westdeutschen Staat herrschenden Ideen der ideolo1

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vgl. die Diskussionsrede Hermann Materns auf dem 4. Plenum des ZK der SED, in: Neues Deutschland, 1963, Nr. 305 vom 6. XI., S. 5; ferner E. A l b r e c h t , Der Antikommunismus — Ideologie des Klerikalmilitarismus, Berlin 1961; L. S t e r n , Die klerikal-imperialistische Abendlandideologie im Dienste des deutschen Imperialismus, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 1962, Nr. 2, S. 286 ff. vgl. die Diskussionsrede Hermann Materns auf dem 4. Plenum des ZK der SED, a. a. O.; ferner L. S t e r n , Der Antikommunismus als politische Hauptdoktrin des deutschen Imperialismus, Berlin 1963, S. 64ff.

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G. Ziegengeist

gische Kampf gegen den Antikommunismus, diese Grundtorheit unseres Jahrhunderts und verbrecherische Ideologie der Vorbereitung des Atomkrieges, die entscheidende Aufgabe bildet 1 . Die ständige, wirkungsvolle Bekämpfung und Entlarvung der antihumanistischen Ideologie des westdeutschen Imperialismus, des Antikommunismus, Revanchismus und Chauvinismus ist ein wichtiger Teil der geschichtlichen Verantwortung der Deutschen Demokratischen Republik zur Sicherung des Friedens und des Fortschritts für das deutsche Volk. Dieser Kampf fällt jedoch nicht in die alleinige und ausschließliche Verantwortung unserer Republik. Er ist — wie Prof. Kurt Hager überzeugend erläuterte — zugleich auch die ureigenste Sache und die unabweisbare Pflicht der friedliebenden, demokratischen Menschen Westdeutschlands. Der Kampf gegen diese verderbenbringenden Ideologien liegt im gemeinsamen nationalen Interesse, er ist ein Teil der gemeinsamen nationalen Verantwortung der Deutschen in Ost und West, nicht zuletzt der humanistischen Geistesschaffenden beider deutscher Staaten 2. Darüber hinaus ist dieser Kampf zwingend erforderlich im Interesse aller friedliebenden Völker und Staaten Europas. Das vorliegende Sammelwerk wird von dem übereinstimmenden Bemühen der beteiligten Autoren getragen, im Sinne dieser Aufgabe und Verantwortung die Auseinandersetzung auf dem speziellen Gebiet der Literaturwissenschaft zu führen. Insgesamt 17 Abhandlungen des Bandes befassen sich mit aktuellen Fragen der Entwicklung und der gegenwärtigen Lage in der Slawistik, Sowjetologie und Ostforschung sowie in der Literaturtheorie, Literaturkritik und Publizistik Westdeutschlands, und zwar vornehmlich im Hinblick auf ihre Stellung zu den Kulturen der sozialistischen slawischen Länder. Die Anregung zu diesem gemeinsamen Werk ging aus von einer internationalen Tagung über das Thema „Slawistik und ideologische Kriegsvorbereitimg in Westdeutschland", die das Institut für Slawistik der Deutschen Akademie der Wissenschaften unter Beteiligung zahlreicher Fachgelehrter aus sozialistischen Bruderländern im Jahre 1960 in Berlin veranstaltet hat 3 . Eröffnet wird unser Sammelband durch vier Geleitworte, die angesehene Repräsentanten der Deutschen Akademie der Wissenschaften, der Polnischen Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Wissenschaften der UdSSR verfaßt haben, an der Spitze Prof. Dr. W. Hartice, Präsident der Deutschen Akademie der

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W. U l b r i c h t , Referat: Das Programm des Sozialismus und die geschichtliche Aufgabe der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands... Programm der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Berlin 1963, S. 366. vgl. die Ausführungen Prof. Kurt H ä g e r s in: Sonntag. Wochenzeitung für Kulturpolitik, Kunst und Wissenschaft, 1963, Nr. 25 vom 23. VI., S. 3. vgl: die Berichte über die Berliner Tagung von Ch. S t u l z in: Neues Deutschland, 1960, Nr. 257 vom 17. IX., S. 4; U. L e h m a n n in: Das Hochschulwesen, 1960, Nr. 9, S. 433f.; R. M. S a m a r i n in: HaynHue ßOKJiaflLi B u c i n e i i HIKOJILI. O H J i c w i o r i m e c K i i e H a y K H , 1961, Nr. 1, S. 158—161; Ch. S t u l z / G . Z i e g e n g e i s t in: Bonpocii jiHTepaTypH, 1961, Nr. 5, S. 142-150.

In gemeinsamer Front gegen aller Welt Feind

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Wissenschaften zu Berlin, des weiteren Prof. Dr. H. H. Bielfeldt (Berlin), Prof. Dr. S. tölkiewski (Warschau) und Prof. Dr. 1.1. Anisimov (Moskau). Diese einleitenden Beiträge handeln in programmatischer Weise von der völkerverbindenden Mission der Slawistik, ihren humanistischen Zielen und Aufgaben in der geistigen Auseinandersetzung der Gegenwart. Die Slawistik ist im Gefolge der welthistorischen Entwicklung seit der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, der gewaltig gewachsenen Bedeutung der sozialistischen slawischen Nationen in der Welt von einem international wenig beachteten philologischen Randgebiet zu einer zentralen Literatur- und sprachwissenschaftlichen Disziplin unserer Zeit aufgestiegen. Die letzten Internationalen Slawistenkongresse in Moskau (1958) und in Sofia (1963) haben gezeigt, daß dieser Wissenschaftszweig zu einem gewichtigen Faktor innerhalb der Weltwissenschaft geworden ist. Als Wissenschaft von den Kulturen, Literaturen und Sprachen der slawischen Völker ist die moderne, humanistische Slawistik allein schon durch ihren Forschungsgegenstand der neuen Welt des Sozialismus zugewandt. Sie ist berufen, durch ihre spezifischen Mittel mitzubauen an der Brücke der Annäherung, Verständigung und Freundschaft zwischen den slawischen Völkern, die alle der befreiten sozialistischen Welt zugehören, und den anderen Völkern und Ländern der Erde. Es ist ihre Aufgabe, die beispielhaften kulturell-literarischen Leistungen der slawischen Nationen der Sowjetunion und der Volksdemokratien Ost- und Südosteuropas aus Gegenwart und Vergangenheit im Geiste der Völkerverständigung in den verschiedenen Ländern bekanntzumachen. Als vordringlich muß dabei die weltweite Erschließung und Propagierung der Sowjetliteratur und der anderen sozialistischen slawischen Literaturen gelten. Hat doch in den sozialistischen slawischen Nationalliteraturen, voran der russischen, ukrainischen und belorussischen Sowjetliteratur, die größte Revolution in der Geschichte der Menschheit, das heroische, opfervolle Ringen um die Erneuerung aller sozialen und politischen Existenzformen gültigen künstlerischen Ausdruck gefunden. Deshalb ist die Kenntnis der slawischen Literaturen, die die Ideen des Friedens, des Humanismus und Sozialismus über Grenzen und Schranken hinweg tragen, von eminenter Bedeutung für alle Menschen guten Willens in der Welt. In ganz besonderem Maße gelangt der humanistisch-völkerverbindende Auftrag der Slawistik heute in Deutschland zur Geltung. Dies resultiert aus dem Lebensinteresse unseres Volkes an Freundschaft und Verständigung mit den slawischen Völkern und aus der geschichtlichen Friedensmission der Deutschen Demokratischen Republik, die die Zukunft ganz Deutschlands verkörpert und vorbereitet. „Wir sind uns dessen bewußt," erklärte Walter Ulbricht auf dem VI. Parteitag der SED, ,,daß wir Deutsche eine besonders große Verantwortung für den Frieden tragen. Von Deutschland sind zweimal in einem halben Jahrhundert blutige Weltkriege ausgegangen. Das imperialistische Deutschland hat dem Sowjetvolk und anderen Völkern furchtbares Leid zugefügt. Der deutsche Imperialismus und Faschismus haben als der barbarischste Imperialismus schwerste Verbrechen begangen. Gerade deshalb sehen wir in der Deutschen Demokratischen Republik be-

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G. Ziegengeist

sonders deutlieh die hohe Verantwortung, das Banner des Friedens und des Humanismus reinzuhalten, es unserem Kampf voranzutragen, so daß alle Völker sehen: In der Deutschen Demokratischen Republik, im östlichen Teil Deutschlands, ist ein neuer Weg beschritten worden, wurde begonnen, das neue Deutschland zu schaffen."1 Von dieser hohen nationalen und humanistischen Verantwortung läßt sich die Slawistik der Deutschen Demokratischen Republik in ihrem gesamten Wirken und Wollen leiten. Es ist ihr oberstes Gebot, mit aller Kraft, Leidenschaft und Ausdauer dafür zu kämpfen, daß von deutschem Boden nie wieder Völkerhaß und Völkermord gegen die Sowjetunion, gegen slawische oder andere Länder ausgehen, sondern für immer nur noch Völkerverständigung und Völkerfrieden. Geschichte und Gegenwart Deutschlands haben schlüssig bewiesen, daß Frieden und Freundschaft mit der Sowjetunion und den slawischen Nachbarstaaten ein Lebensgesetz für unser Volk sind. In völliger Übereinstimmung mit diesem nationalen Grundinteresse betrachtet die Deutsche Demokratische Republik die brüderliche Freundschaft und Zusammenarbeit mit der Sowjetunion und den volksdemokratischen Ländern als ihre größte Errungenschaft, die sie stets hüten und bewahren wird. Die ständige Festigung des Bruderbundes mit der Sowjetunion als der führenden und mächtigsten Kraft des Friedens und des Fortschritts in der Welt ist Gesetz ihrer Entwicklung und Maxime ihres Handelns. Vor nunmehr anderthalb Jahrzehnten — 1951 — hat es Johannes R. Becher als eine der Grundvoraussetzungen für die Herausbildung einer neuen, demokratischen und sozialistischen deutschen Kultur bezeichnet, daß das deutsch-sowjetische Freundschaftsbündnis auf politischem Gebiet wirkungsvoll ergänzt wird durch ein deutsch-sowjetisches Freundschaftsbündnis auf kulturellem Gebiet. Dazu gehöre, die Errungenschaften der Sowjetkultur auf allen ihren vielartigen Gebieten breitesten Kreisen unseres Volkes zugänglich zu machen und sie schöpferisch in den eigenen deutschen Kulturleistungen auszuwerten 2 . Damit war auch die Ziel- und Aufgabenstellung für die junge Slawistik unserer Republik vorgezeichnet. Ihre besondere nationale Bestimmung liegt darin, im Bereich der Kultur, Wissenschaft und Erziehung durch Ausschöpfung all ihrer fachspezifischen Möglichkeiten Mitgestalterin des Bundes der Freundschaft und Gemeinschaft zu sein, der die Deutsche Demokratische Republik immer enger mit der Sowjetunion und den volksdemokratischen Staaten Osteuropas umschließt. Unsere Slawistik kann und muß ein vermittelnder und bewegender Faktor im Rahmen jenes historischen Entwicklungsprozesses sein, der gekennzeichnet wird durch die immer innigere gegenseitige Annäherung, Verbindung und Bereicherung der Nationalkulturen des sozialistischen Weltsystems. In der Gemeinschaft der sozialistischen Bruderländer werden die Errungenschaften der Kultur der einen Nation immer stärker zum Gut der anderen 3 . 1

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W. U l b r i c h t , Referat: Das Programm des Sozialismus und die geschichtliche Aufgabe der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Berlin 1963, S. 254. J. R. B e c h e r , Verteidigung der Poesie, Berlin 1952, S. 193. N. S. Chruschtschow, Der Triumph des Kommunismus ist gewiß. Rechenschaftsbericht

In gemeinsamer Front gegen aller Welt Feind

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Die Slawistik der DDR erfüllt ihren nationalen und humanistischen Auftrag, indem sie mit den ihr eigenen Mitteln maximal dazu beisteuert, daß die Literatur und Kultur der Sowjetunion, aller slawischen Nationen in ihrem ganzen Reichtum fortschreitend erschlossen werden und als menschenverbindende und menschenverändernde Macht in unserer Republik noch wirkungsvoller in Erscheinung treten. Es gilt insbesondere, das Literatur- und Geistesgut aus dem „Land des Menschheitsaufbruchs", wie J . R. Becher die Sowjetunion nannte 1 , in seiner ganzen Fülle und Vielfalt noch intensiver als lebendige, wirkende Kraft in unserer sozialistischen Kulturrevolution und in unserem nationalen Kampf zu nutzen. Darin besteht der spezifische Beitrag der Slawistik zur Verwirklichung der kulturellen Grundaufgabe im ersten deutschen Arbeiter-und-Bauern-Staat: der Formung der Geistes- und Gefühlswelt der Menschen unserer sozialistischen Gesellschaft, die — wie Walter Ulbricht programmatisch formulierte — noch in diesem Jahrzehnt in der Gesamtheit ein höheres Bildungs- und Kulturniveau besitzen werden, als es die bisher herrschenden Klassen in Deutschland je besaßen 2 . Freundschaft mit der Sowjetunion und den volksdemokratischen Nachbarstaaten ist eine Lebensfrage nicht nur für die Deutsche Demokratische Republik. Sie ist eine geschichtliche Notwendigkeit auch für die Bevölkerung der Bundesrepublik. „Die Deutsche Demokratische Republik, ihre Regierung und ihre Bürger sind für gute und normale, ja für freundschaftliche Beziehungen auch zwischen Westdeutschland und der Sowjetunion", betonte Walter Ulbricht. „Denn es ist ja die nationale Aufgabe der Bürger beider deutscher Staaten, dafür zu sorgen, daß nie wieder von deutschem Boden ein Krieg ausgeht. Und die beste Gewähr dafür sind gute, dauerhafte und freundschaftliche Beziehungen beider deutscher Staaten mit der Sowjetunion." 3 Hier zeichnet sich deutlich eine echte objektive Gemeinsamkeit zwischen den Slawisten unserer Republik und den friedensgewillten Slawisten Westdeutschlands ab, von der aus Trennendes überwunden und Verbindendes gefestigt werden kann und muß. Das Interesse der Nation gebietet, daß sich auch die westdeutschen Slawisten auf ihre Mission besinnen, der Idee der Freundschaft und Verständigung mit der Sowjetunion und allen slawischen Völkern in der Bundesrepublik unbeirrt den Weg zu bahnen. Es ist ihre ureigene Aufgabe, der Bevölkerung Westdeutschlands die unvergänglichen humanistischen Werte der slawischen Kulturen in völkerverbindendem Geiste nahezubringen und so mitzubauen an der Barriere wider die friedensbedrohenden Mächte des Revanchismus und Antisowjetismus, eingedenk der eindringlichen Mahnung, die Walter Ulbricht an die Bürger der Bundesrepublik richtete: „Revanchepolitik hat keine andere Perspektive als Krieg!" 4

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des Zentralkomitees der KPdSU an den XXII. Parteitag der KPdSU. Über das Programm der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Berlin 1961, S. 252. J. R. Becher, Verteidigung der Poesie, Berlin 1952, S. 189. Kulturkonferenz 1960. Protokoll, Berlin 1960, S. 293. Die Welt grüßt Walter Ulbricht und unsere Republik, Berlin 1963, S. 46. Neues Deutsehland, 1964, Nr. 31 vom 31.1., S. 5.

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G. Ziegengeist

Geleitet von den Lebensinteressen der Nation, müssen sich die humanistisch gesinnten Slawisten beider deutscher Staaten zusammenfinden zu gemeinsamem Wollen und Handeln für das hohe Ziel: daß die Bande der Freundschaft mit der Sowjetunion und allen sozialistischen slawischen Ländern in naher Zukunft das ganze deutsche Volk umschließen mögen. Es gilt, jener geschichtlichen Erkenntnis Bahn zu brechen, die Walter Ulbricht auf der Kundgebung der Brüderlichkeit an der Oder-Neiße-Friedensgrenze in die Worte faßte: „Das deutsche Volk kann in der Welt nur Ansehen gewinnen, wenn nicht nur in der DDR, sondern auch in Westdeutschland die friedliche Arbeit der Maßstab des Fortschritts ist und ein neues, freundschaftliches Verhältnis zu allen Völkern geschaffen wird, vor allem zur Sowjetunion."1 1

Die Welt grüßt Walter Ulbricht und unsere Republik, Berlin 1963, S. 84.

Akademiemitglied Prof. Dr. W.

HARTKE

Präsident der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin

Wissenschaft in der geistigen Auseinandersetzung unserer Zeit Zum Geleit

Das Präsidium der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin begrüßt es sehr, daß das Institut für Slawistik unserer Akademie im Zusammenhang mit dem Leibniz-Tag 1960 die internationale wissenschaftliche Tagung „Slawistik und ideologische Kriegsvorbereitung in Westdeutschland" veranstaltet hat und in Fortführung dieses zwingend erforderlichen Tätigseins nunmehr den Sammelband „Wissenschaft am Scheidewege" vorlegt. Am Leibniz-Tag wird traditionsgemäß über die im abgelaufenen akademischen Jahr geleistete Arbeit Rechenschaft abgelegt. Rechenschaft verstehen wir im kritischen Sinn, d. h. die Deutsche Akademie der Wissenschaften will kritisch zu ihrer Tätigkeit Stellung nehmen und warnende wie richtungweisende Beispiele hervorheben. Die Entwicklung seit 1945, die schließlich zur Gründimg der DDR und zum Aufbau unserer sozialistischen Gesellschaft führte, begann bekanntlich mit der Beseitigung des deutschen Militarismus, der Zerschlagung des Faschismus und der Vernichtung ihrer ökonomischen Grundlage, des Monopolkapitalismus und des Großgrundbesitzes, schließlich mit der Übernahme der Macht durch die Arbeiter, Bauern und die anderen werktätigen Schichten unseres Volkes. Die zuerst genannten grundsätzlichen Veränderungen waren, wie wir wissen, für ganz Deutschland auf der Grundlage des Potsdamer Abkommens vorgesehen. Das alles aber ist in Westdeutschland nicht durchgeführt worden. Wir in der Deutschen Demokratischen Republik haben den Weg des Friedens konsequent fortgesetzt. Wir sind der Meinung, daß unsere sozialistischen Errungenschaften einen entscheidenden Beitrag zum Frieden in Europa und der Welt liefern. Unser Ziel und Wille ist es, durch noch verbesserte Leistungen im Bunde mit dem sozialistischen Lager das ganze deutsche Volk von der Richtigkeit unseres sozialistischen Weges zu überzeugen. Unsere sozialistische Leistung, die erbracht werden muß, scheint manchem nur eine naturwissenschaftlich-technische oder ökonomische zu sein. Die Proklamationen der politischen und staatlichen Organe sowie der gesellschaftlichen Organisationen der DDR legen auf diese Seite — mit Recht — das Schwergewicht. Aber das Studium der Dokumente von Partei und Regierung gerade aus der letzten Zeit zeigt, daß die Erfüllung der großen ökonomischen Aufgaben eine bedeutende gesellschaftswissenschaftliche Seite hat. Welche Bedeutung die revolutionäre Veränderung des Bewußtseins der Menschen im historischen Prozeß besitzt, wissen die 1

Wissenschaft

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W. Hartke

Ideologen des westdeutschen Militarismus sehr gut. Sie versuchen, mit allen Mitteln diese fortschreitende sozialistische Veränderung im Bewußtsein unserer Bevölkerung zu hemmen und bedienen sich zu dem Zweck in den gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen, zum Beispiel in der Germanistik, der klassischen Philologie und Altertumskunde und ganz besonders in der Slawistik und Ostforschung raffinierter pseudowissenschaftlicher Diffamierungs- und Fälschungsmethoden. Die Widerlegung dieser nicht nur feindlichen, sondern auch falschen und unwissenschaftlichen Methoden und Konzeptionen des Antikommunismus ist keine Sache eines Handstreiches, keine Sache von Schlagwörtern, sondern ein ernstes wissenschaftliches Problem, dessen Lösung für die Wohlfahrt der Menschen von großer Bedeutung ist. Ich beglückwünsche das Institut für Slawistik unserer Akademie zu der bisher geleisteten gründlichen Arbeit auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit antihumanistischen Strömungen und Ideen in der westdeutschen Slawistik, Literaturwissenschaft und Ostforschung, die für den gesellschaftswissenschaftlichen Bereich der Deutschen Akademie der Wissenschaften als vorbildlich gelten darf. Die Ergebnisse dieser wissenschaftlich wie ideologisch wichtigen Arbeit werden jetzt einer breiteren Öffentlichkeit vorgelegt, nachdem sie vorbereitend schon auf der Tagung „Slawistik und ideologische Kriegs Vorbereitung in Westdeutschland" von interessierten Wissenschaftlern aus der DDR und den befreundeten sozialistischen Ländern diskutiert wurden. Ich hatte die Ehre, im Namen der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu dieser Tagung eine große Zahl von Gästen aus dem In- und Auslande zu begrüßen. Insbesondere hieß ich herzlich willkommen: Prof. Dr. I. Anisimov, Korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, Direktor des Gor'kij-Instituts für Weltliteratur der Akademie der Wissenschaften der UdSSR in Moskau. Prof. Dr. A. 8. Busmin, Korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, Direktor des Instituts für russische Literatur (Puskinhaus) der Akademie der Wissenschaften der UdSSR in Leningrad. Prof. Dr. R. M. Samarin, Professor mit Lehrstuhl an der Philologischen Fakultät der Lomonosov-Universität Moskau; Abteilungsleiter am Gor'kij-Institut für Weltüteratur der Akademie der Wissenschaften der UdSSR in Moskau. Akademiemitglied Prof. Dr. Stefan i.öikiewski, Wissenschaftlicher Sekretär der Abteilung Gesellschaftswissenschaften der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Warschau. Prof. Dr. Wiktor Jakubowski, Prorektor der Jagiellonischen Universität Krakow. Prof. Dr. Julius Dolansky, Korrespondierendes Mitglied der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften, Direktor des Instituts für Slawistik der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften in Prag. Prof. Dr. Paul Reimann, Stellvertretender Direktor des Instituts für Geschichte der KPÖ in Prag. Dr. Helena Prochäzkovd, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Slawistik der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften in Prag.

Wissenschaft in der geistigen Auseinandersetzung unserer Zeit

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Dr. habil. Slavomir Wollman, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut f ü r Slawistik der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften in Prag. Dr. Iwan Zwetkow, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften in Sofia. Ich möchte ihnen allen an dieser Stelle nochmals dafür danken, daß sie in gemeinsamer Arbeit und Diskussion dieses überaus wichtige wissenschaftliche und politische Problem klären halfen. Die konsequente kritische Auseinandersetzung mit friedensfeindlichen, antihumanistischen Auffassungen in der westdeutschen Slawistik und Ostforschung ist allerdings nur die eine Seite der Aufgabe, die vor unseren Slawisten — wie vor allen Gesellschaftswissenschaftlern unserer Republik — steht. Bekanntlich h a t die Zuspitzung der Frage Krieg oder Frieden, Vernichtung oder Wohlfahrt der Menschen gerade in letzter Zeit in westdeutschen Wissenschaftlerkreisen zu ernsten Überlegungen über Aufgabe und Zukunft der Wissenschaft geführt. Es gibt in Westdeutschland eine große Zahl von Gelehrten, die mit ihrem Herzen nicht auf der Seite derjenigen stehen, die im antikommunistischen und revanchistischen Sinne die Wahrheit über die Slawen verzerren. Aber tiefer, als man denkt, sitzt dort das Vorurteil, das ich in einem Brief des jungen Bismarck einmal wie folgt formuliert gelesen habe: „Grattez le Russe et vous trouvez le barbare". Es genügt in Westdeutschland jedoch nicht, die Ursachen dieser Verhetzung aufzudecken, ihre Initiatoren und deren dunkle Interessen anzuprangern. Bei uns in der Deutschen Demokratischen Republik gab es nach der Befreiung ein Aufatmen, und die Hoffnung auf einen kulturellen Frühling der Beziehungen zwischen Deutschen und Slawen regte sich. I n der T a t sind entscheidende Fortschritte erreicht worden, wie Akademiemitglied H. H . Bielfeldt, Direktor des Instituts f ü r Slawistik, in einem Vortrag anläßlich des 15. Jahrestages der Befreiung vom Faschismus als Auftakt zur Karl-Marx-Vorlesung der Deutschen Akademie der Wissenschaften ausgeführt hat. Aber noch sind — das müssen wir offen sagen — alle unsere Träume nicht in ganz Deutschland Wirklichkeit geworden. Wir müssen darum unsere prinzipielle wissenschaftliche Kritik stets damit verbinden, daß wir die wahrhaft humanistische Perspektive der deutsch-slawischen Beziehungen hervorheben und an die positiven Traditionen und Leistungen der deutschen Slawistik erinnern. Gleichzeitig sollten wir nicht versäumen, die K r ä f t e unter den westdeutschen Slawisten herauszustellen, die diesen humanistischen Traditionen trotz des immer stärker werdenden Druckes von offiziellen westdeutschen Stellen und der von dort geförderten revanchistischen Ostforschung treu bleiben. Wir dürfen keine Möglichkeit ungenützt lassen, mit diesen westdeutschen Slawisten in ein offenherziges wissenschaftliches Gespräch zu kommen und sie unserer Verbundenheit und Unterstützung zu versichern. Ich möchte der Slawistik in beiden deutschen Staaten und ganz besonders in unserer Deutschen Demokratischen Republik, dem Vorbild eines friedlichen und demokratischen Staates f ü r ganz Deutschland, weitere Erfolge in ihrer humani1*

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W. Hartke

stischen, völkerverbindenden Aufgabe wünschen, die der große deutsche Slawist Reinhold Trautmann, der Mitglied unserer Akademie war, wie folgt formuliert hat: „Der deutsche Slavist hat neben seiner Aufgabe als Forscher — deren Bedeutung nie unterschätzt werden sollte — noch den anderen, sozusagen mehr gesellschaftlichen und sehr verantwortungsvollen Dienst zu leisten: Er ist mehr als jeder andere Deutsche berufen, zwischen der deutschen und slavischen Geisteshaltung zu vermitteln, die Ergebnisse slavischer geistiger Arbeit in den Gesichtskreis der deutschen Öffentlichkeit zu tragen..."

Akademiemitglied Prof. Dr. H. H.

BIELFELDT

Direktor des Instituts für Slawistik der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin

Die humanistische Mission der deutschen Slawistik1 Das Thema der Konferenz, zu der das Institut für Slawistik der Deutschen Akademie der Wissenschaften eingeladen hat, steht in engem Zusammenhang mit allen Auffassungen, die die deutschen Slawisten von ihrer Arbeit überhaupt haben. Die Slawistik ist die Wissenschaft von den sprachlichen, literarischen, geistigen und kulturellen Äußerungen und Leistungen der slawischen Völker in Vergangenheit und Gegenwart. Der deutsche Slawist studiert sie, um sie seinem Volk zu präsentieren und zu interpretieren. Die Art der Aufnahme, der Rezeption und Interpretation slawischen Geistesgutes durch die deutsche Nation im Laufe der Geschichte und in der Gegenwart ist besonders für die neuere deutsche Slawistik ein wichtiger Gegenstand der Forschung geworden. Seit einem Jahrzehnt haben vor allem die jungen Slawisten unserer Republik sich der Erforschung der Wege und der Art zugewandt, wie die Werke slawischer Literaturen in Deutschland aufgenommen worden sind. Der deutsche Slawist kann nicht in den slawischen Dingen verbleiben; er muß immer wieder zurück, zurück in sein Volk, um zu wirken und um die Wirkung der Slavica in Deutschland zu beobachten. Das gilt für alle Gebiete unserer Slawistik. Selbst bei den Sprachstudien können wir nicht im eigentlichen Gegenstand unseres Studiums verharren. Immer wieder müssen wir zurück, um zu sehen und zu sorgen, wie slawische Sprachen von unserem Volk gelernt werden. In der Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft mit ihrer starken ideologischen Bezogenheit ist die Art der Aufnahme slawischer Werke durch das deutsche Volk für uns selbstverständlich von großem Interesse. Die deutsche Rezeption der slawischen Literaturen oder des slawischen Schrifttums reicht bis in das 17. Jahrhundert zurück. Die Arbeit des Instituts für Slawistik der Deutschen Akademie der Wissenschaften begann mit dem Studium der Rezeption im 19. Jahrhundert, stößt aber immer weiter in die voranliegenden Zeiten und in die Gegenwart vor. Wir haben bereits Arbeiten über die Aufnahme der Werke Belinskijs, Cernysevskijs, Herzens, Turgenevs, Dostoevskijs, L. Tolstojs, Öechovs, Gor'kijs, Majakovskijs u. a. in Deutschland; auch das Studium der Aufnahme Mickiewiczs sowie bulgarischer und tschechischer Literatur ist in Angriff genommen. Manches ist bereits veröffentlicht, vieles steht kurz vor dem Abschluß, und noch mehr ist 1

Begrüßungsrede, gehalten auf der Tagung „Slawistik und ideologische Kriegsvorbereitung in Westdeutschland" in Berlin.

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H. H. Bielfeldt

begonnen worden. Auch die Art der Rezeption slawischen Gutes durch Dichter und Schriftsteller wie Gottsched, Herder, Goethe, Varnhagen von Ense, Bettina von Arnim, Lenau, Wilhelm Wolfsohn, Bodenstedt, Moritz Hartmann, Fontane, Rilke, Thomas Mann, Johannes R. Becher, E. Weinert, Fr. Wolf u. a. wird bei uns studiert. Sowohl die Intensität, mit der in einigen Abschnitten der deutschen Vergangenheit slawische literarische Werke aufgenommen wurden, wie auch die sündhafte Unterlassung besonders in einer unserer jüngsten Phasen legen uns heute Verpflichtungen für die weitere Arbeit auf. Für unsere Konferenz steht die jüngste Gegenwart und sogar Zukunft im Vordergrund. Das Studium der Aufnahme der russischen und sowjetischen Literatur in Deutschland wird durch die Spaltung des Landes überschattet. Aber es gibt nicht erst seit einem Jahrzehnt zwei Deutschland. So bitter und tragisch wir die augenblickliche staatspolitische Trennung auch empfinden, so müssen wir in ihr doch einen Ausdruck einer schon viel länger währenden Auseinandersetzung innerhalb der deutschen Nation sehen. Mit dieser Auseinandersetzung hängt unsere Konferenz unmittelbar zusammen. Wir sehen große Unterschiede in der Auffassung der russischen Literatur bei uns und in Westdeutschland. Die gelehrte Slawistik ist an der Entstehung dieser Unterschiede beteiligt und weitgehend für sie verantwortlich, durch gutes oder böses Tun sowie auch durch Unterlassen. Die Rezeption der slawischen Literaturen und das Verhältnis zu den slawischen Völkern überhaupt sind in Deutschland durch wechselseitige Wirkungen miteinander verbunden. Über unsere Beziehungen zu den slawischen Völkern bestehen diesseits und jenseits der durch Deutschland gehenden Grenze verschiedene Auffassungen. Diesseits der Grenze gilt die Freundschaft zu den slawischen Völkern als ein wesentliches Element der kulturellen und politischen Erneuerung Deutschlands überhaupt. Wir haben guten Grund, diesen Weg der Freundschaft zu gehen: die Nachbargemeinschaft mit den Slawen, ihre großen Beiträge zum Kulturschatz der Menschheit und zur Weltliteratur, ihre entscheidenden Taten für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft. — I n unserer Erinnerung sind die beiden Weltkriege noch wirksam. Schon der erste Weltkrieg wurde von deutscher Seite aus nicht zuletzt gerade gegen slawische Völker geführt; im zweiten Weltkrieg war diese seine Richtung erst recht besonders stark unterbaut: das Kriegsziel der Vernichtung slawischer Völker und des Eingriffes in die Entwicklung slawischer Völker wurde mehr oder weniger offen deklariert. Das Deutschland diesseits der Grenze ist überzeugt von der völligen Verkehrtheit jenes verhängnisvollen Weges und von der Notwendigkeit, den Weg der Freundschaft des deutschen Volkes mit den slawischen Völkern zu gehen. Nicht nur, weil wir erlebt haben, daß Unaufgeschlossenheit, Unverständnis und Krieg gegen die slawischen Völker ein Grund für das Unglück Deutschlands und der Menschheit gewesen sind, sondern weil zum neuen deutschen Humanismus die Verbundenheit mit dem slawischen Kulturerbe und der slawischen Gegenwart gehört. Ich habe so weit ausgeholt, um die Sorge verständlich zu machen, die uns beim Blick nach Westdeutschland erfüllt. Von Jahr zu Jahr verstärkt sich der Eindruck, daß man dort für die deutsch-slawischen Beziehungen zu wenig hinzugelernt hat

Die humanistische Mission der deutschen Slawistik

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und zu wenige der alten Irrtümer aufgegeben hat. Wir fragen z. B., warum man dort so wenig tut, um russische Literaturwerke der sowjetischen Epoche dem deutschen Bildungswesen nutzbar zu machen, und warum man sich gegen diese Literatur feindselig verhält. Der Grund für die Feindseligkeit liegt letztlich nicht in der gelehrten Slawistik und auch nicht in der allgemeinen Literaturwissenschaft, sondern in der Furcht vor den fortwährenden Erfolgen des Sozialismus. Die Kälte und Feindschaft gegen Slawisches überhaupt bezieht sich darauf, daß die slawischen Völker vor unseren Augen die großen Erfolge des Sozialismus erkämpft haben und erkämpfen. Die Gedankenverbindung von slawisch und sozialistisch ist in Westdeutschland sehr populär. Wir fürchten, daß jene Haltung und das darauf gegründete Tun wieder zu einem Krieg führen wird, einem Krieg, in dem wieder Deutsche gegen Tschechen, Polen und Russen stehen sollen. Dem zu begegnen und zum Besseren zu wirken, halten wir für eine Pflicht der deutschen Slawisten. Wir können nicht, wie man so einfach sagt, bei unseren Dingen bleiben, bei den eigentlichen Gegenständen unseres Studiums, bei den slawischen Literaturen und Sprachen. Wir müssen immer wieder zurück, nach Deutschland. Es scheint unsere Aufgabe zu sein, immer unterwegs zu bleiben zwischen der slawischen Welt und unserer Nation. Es ist ein höchst merkwürdiges Zusammentreffen, daß die augenblickliche Grenze durch Deutschland sich in der Geschichte der deutschen Slawistik schon seit Jahrhunderten abzeichnet. Ich beziehe bei dieser Bemerkung in die Geschichte der deutschen Slawistik auch die Geschichte der Wege und des Anwachsens der Informationen und des Interesses in Deutschland an slawischen Literaturen und Sprachen ein. I n der Vergangenheit, besonders seit Ende des 17. Jahrhunderts, liegen die Orte des Ausgangs und des Empfangs fruchtbarer deutscher Beziehungen zu slawischen Völkern diesseits der heutigen Grenze zwischen beiden deutschen Staaten; ich nenne von vielen Orten nur Leipzig, Jena, Halle, Greifswald, Berlin. Ebenso verhält es sich mit den noch älteren Beziehungen, so auch den hansischen. Auch das Zusammenleben des deutschen Volkes mit mehreren slawischen Völkern im Mittelalter spielte sich vornehmlich auf dem heutigen Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik ab. Die Grenze durch Deutschland kann, so wie in der staatspolitischen, so erst recht in der geistesgeschichtlichen Perspektive, nicht ewig sein. An einer positiven Aufnahme der hohen Werte der slawischen Literaturen soll das ganze deutsche Volk, das gesamte deutsche Bildungswesen teilhaben. Von Gor'kij, Solochov, Tolstoj, Öechov, Puskin, Gogol' und all den anderen slawischen Schriftstellern soll Deutschland ein von gemeinsamer Kenntnis und Sympathie erfülltes Bild im Herzen tragen. Darum bemühen sich die Slawisten der DDR, und daher kommt unser besorgtes Interesse für die Vorgänge in Westdeutschland. Das Anliegen unserer Konferenz ist dennoch keineswegs ein beschränkt deutsches. Wir freuen uns daher, daß auch Slawisten aus slawischen Ländern unserer Einladung gefolgt sind. Unsere Verbindung mit ihnen ist einer der Ausgangspunkte f ü r unsere Blickrichtung nach Westdeutschland. Wir hoffen auf ihren Rat und wollen aus ihrer Kritik lernen. In der Anwesenheit unserer Freunde aus

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H. H. Bielfeldt

Prag, Warschau, Krakau, Sofia, Moskau und Leningrad auf dieser Konferenz sehen wir ein Symbol für die moralische Unterstützung von Seiten der Slawisten slawischer Länder, aus der uns wertvollste Kraft für die Erfüllung unserer Aufgaben erwachsen wird. Unsere Konferenz und unsere weitere Arbeit wird man als erfolgreich bezeichnen können, wenn sie den Blick schärfen für die Gefahren eines verfälschten Bildes von slawischer Geistigkeit, Kultur und Literatur aus Gegenwart und Vergangenheit in Westdeutschland, und wenn sie die Kräfte stärken zur Überwindung dieser Gefahren. Ich schließe mit dem Wunsch, daß unsere Konferenz wie unser künftiges gemeinsames Wirken solche Erfolge zeitigen möge.

Akademiemitglied Prof. Dr. S.

ZÖLKIEWSKI

'Wissenschaftlicher Sekretär der Abteilung Gesellschaftswissenschaften der Polnischen Akademie der Wissenschaften

Vom gemeinsamen Anliegen der Slawisten Volkspolens und der DDR 1 Es war mir eine besondere Ehre, im Namen der polnischen Delegation unserem verehrten Gastgeber, der Deutschen Akademie der Wissenschaften, und allen Teilnehmern der wissenschaftlichen Tagung „Slawistik und ideologische Kriegsvorbereitimg in Westdeutschland" die herzlichsten Grüße zu übermitteln und für die freundliche Einladung und gastliche Aufnahme zu danken. Mit großer Freude haben wir gerade an dieser Konferenz mitgewirkt, die dem Kampf gegen die Ideologie des westdeutschen Militarismus und Revanchismus auf unserem Fachgebiet gewidmet war. Unsere Beteiligung an so aktuellen und wichtigen wissenschaftlichen Diskussionen ist deshalb notwendig, weil die guten nachbarlichen Beziehungen zwischen Polen und der DDR ihre Resonanz nicht zuletzt in der verstärkten Zusammenarbeit der Wissenschaftler beider Völker finden müssen. Das im Jahre 1950 zwischen der Volksrepublik Polen und der DDR getroffene Abkommen über die Oder-Neiße-Friedensgrenze bildet die feste Grundlage für eine ständige und fruchtbare Zusammenarbeit beider Länder auf vielen Gebieten. Das Leben selbst hat die Notwendigkeit dieses Abkommens bestätigt. Die gemeinsamen deutsch-polnischen Feierlichkeiten in Magdeburg anläßlich des zehnten Jahrestages der Unterzeichnung dieses Abkommens, an denen die Regierungschefs beider Staaten teilnahmen, haben erneut das erprobte Freundschaftsverhältnis zwischen unseren beiden sozialistischen Ländern zum Ausdruck gebracht. Die wechselvolle Geschichte Deutschlands und Polens ist reich an tragischen Zusammenstößen und Konflikten, die den Menschen beider Völker nur Leid zugefügt haben. Zum ersten Male in der fast tausendjährigen Geschichte der deutschpolnischen Beziehungen haben wir nunmehr an unserer Westgrenze in der DDR, die das neue Deutschland des Friedens verkörpert, gute und loyale Nachbarn und Freunde, die mit uns denselben Weg gehen. Die Politik der Volksrepublik Polen und der DDR lenkte die schöpferischen Kräfte beider Völker auf den Weg der Gemeinsamkeit, der brüderlichen Freundschaft, die durch den Aufbau des Sozialismus in beiden Ländern fest begründet sind. Beide Länder streben dem gemeinsamen Ziel zu, gestützt auf das vereinte Lager der sozialistischen Staaten, gestützt auf das Freundschaftsbündnis mit der Sowjetunion. 1

Überarbeitete und erweiterte Fassung der Begrüßungsrede, gehalten auf der Tagung „Slawistik und ideologische Kriegsvorbereitung in Westdeutschland" in Berlin.

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S. ¿ölkiewBki

Eine eindrucksvolle Manifestation dieses unverbrüchlichen Freundschaftsbundes zwischen der Sowjetunion, der DDR und Volkspolen war die historische Kundgebung in Frankfurt/Oder im Juli 1963, auf der die Genossen Chruschtschow, Ulbricht und Cyrankiewicz gesprochen haben. Genosse Cyrankiewicz erklärte dort, daß diese Kundgebung der Freundschaft zwischen unseren Völkern gleichzeitig eine Kundgebung der tiefen Solidarität, der Freundschaft und Einheit unserer beiden Völker mit unserem gemeinsamen Freund — der Sowjetunion ist. Er betonte weiter, daß die Freundschaft zwischen Polen und der DDR und die Einheit mit dem ganzen Lager des Sozialismus ein bedeutender Beitrag zur Sache des Friedens in Europa, zur Sache der friedlichen Regelung der deutschen Frage ist. Gleichzeitig jedoch müssen wir mit wachsender Sorge beobachten, wie im westdeutschen Staat eine Politik der Revanche verfolgt wird. Man hört dort Stimmen nicht nur von einzelnen Fanatikern, die einer Revision der Oder-Neiße-Friedensgrenze das Wort reden. Der deutsche Militarismus, der in der Vergangenheit so entsetzliches Unheil über unser Land gebracht hat, wird vom Gebiet der Bundesrepublik aus erneut zur Gefahr für den Frieden in Europa. Ohne dauerhafte Sicherung des Friedens, ohne ein friedliches Zusammenleben der Völker gibt es auch keine freie, vielseitige und fruchtbare wissenschaftliche Arbeit. Es sind vor allem die gemeinsamen Anstrengungen der sozialistischen Staaten und besonders die konsequente Initiative der Sowjetunion, die den Frieden sichern und damit auch die Voraussetzung für eine gesunde wissenschaftliche Entwicklung schaffen. Daraus ergeben sich auch die unerläßlichen Bedingungen für eine noch engere Zusammenarbeit zwischen den Gelehrten Volkspolens und der DDR, für eine Zusammenarbeit, die gerade auf unserem Fachgebiet für den weiteren Fortschritt der Wissenschaft lebensnotwendig ist. Die Aufgaben der Slawistik sind heute von außerordentlicher gesellschaftlicher Wichtigkeit, dient doch diese Fachdisziplin in besonderem Maße der brüderlichen Annäherung unserer Völker, die in der Vergangenheit aufeinandergehetzt wurden und die die westdeutschen Revanchisten erneut aufeinanderhetzen möchten. Dabei spielten — und spielen — die demagogischen Theorien von den angeblich feindlich gegenüberstehenden Kulturen des Ostens und des Westens, vom „Kulturgefälle" und von der „Unselbständigkeit" der slawischen Nationalkulturen eine verhängnisvolle Rolle. Unser gemeinsamer Kampf gegen diese gefährlichen Vorurteile, die in Westdeutschland wieder geschürt werden, hat nicht nur eine wissenschaftliche, sondern auch eine große moralische, humanistische Bedeutung. In diesem Zusammenhang fällt der Slawistik die vordringliche Aufgabe zu, die Einwirkung der sozialistischen Kultur der slawischen Völker auf die Weltkultur, ihre historische Rolle bei der Entwicklung des humanistischen Bewußtseins der Völker, bei der Befreiung der Menschheit von Rückständigkeit, von sozialer, politischer und kolonialer Unterdrückung zu zeigen. Die Erfahrungen und Errungenschaften der sozialistischen Kulturrevolution auszuwerten und zu verallgemeinern, muß ein wichtiges Anliegen der Slawistik sein, da vornehmlich

Vom gemeinsamen Anliegen der Slawisten Polens und der DDR

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in den slawischen Ländern die proletarische Revolution und die sozialistische Kulturrevolution bereits gesiegt und ihren Niederschlag in den slawischen Nationalkulturen, in slawisch-sprachigen Werken der K u n s t und Literatur gefunden haben. Die Kenntnis der slawischen Kulturen und ihrer gegenwärtigen sozialistischen Entwicklung ist von eminenter Bedeutung für die gesamte Menschheit. Der Kampf um die Wahrheit auf unserem Fachgebiet ist Bestandteil des allgemeinen Kampfes um Frieden, Fortschritt und Sozialismus in der Welt. Das erprobte Werkzeug, das auch in der slawistischen Wissenschaft der Wahrheit den Weg bahnt und hilft, falsche und reaktionäre Theorien über die slawischen Völker und Kulturen zu widerlegen, ist der Marxismus-Leninismus. Die internationale Zusammenarbeit der Slawisten wird nur dann hohen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Nutzen erbringen, wenn sie auf dieser politischen, theoretischen und methodologischen Grundlage basiert. Die Entwicklung der Slawistik in dieser Richtung liegt im Interesse der Wissenschaft und im Interesse eines harmonischen Zusammenlebens und eines besseren Verstehens der Völker untereinander. Möge unser vorliegendes gemeinschaftliches Sammelwerk ein Schritt vorwärts sein auf diesem Wege, bei der Aneignung neuer Erkenntnisse, bei der Abwehr von Lüge, Hetze und Verleumdung, die von Westdeutschland aus geschürt werden, bei der Erweiterung der freundschaftlichen Beziehungen zwischen allen, die unserer schönen humanistischen Wissenschaft dienen. I n diesem Geiste wünsche ich der weiteren Arbeit der Slawisten der D D R im Namen der polnischen Slawisten, der Literatur- und Sprachwissenschaftler Volkspolens, viel Erfolg. Deutsche Redaktion: Dr. G. Ziegengeist

Prof. Dr. 1 . 1 . ANISIMOV Korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR Direktor des Gor'kij-Instituts für Weltliteratur der Akademie der Wissenschaften der UdSSR

Zu einigen Hauptproblemen der Slawistik unserer Zeit 1 Es ist nicht meine Absicht, auf die wechselvolle Geschichte der Slawistik einzugehen; ich beginne gleich mit einigen Bemerkungen, die sich auf die neueste Zeit beziehen. Nach der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution brach auch für die Slawistik eine neue Epoche mit neuen Entwicklungsbedingungen, neuen Perspektiven und mit einer neuen Problematik an. Gemeinsam mit den anderen Völkern des ehemaligen zaristischen Rußland beschritten die zahlenmäßig stärksten slawischen Nationen — Russen, Ukrainer und Belorussen — den Weg zum Sozialismus. Auf diesem Wege haben sie eine neue Gesellschaftsordnung errichtet. Vor nunmehr fast zwei Jahrzehnten schlössen sich ihnen im Kampf für eine neue, sozialistische Ordnimg die übrigen slawischen Völker Ost- und Südosteuropas an. In der Sowjetunion und den anderen slawischen Ländern des sozialistischen Lagers vollzieht sich eine gewaltige Kulturrevolution, die alle Bereiche des gesellschaftlichen und geistigen Lebens durchdringt und die die Kultur zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte zum Gemeingut der Volksmassen werden ließ. Von diesen historischen Gegebenheiten muß die heutige Slawistik bei ihren wissenschaftlichen Forschungen und Untersuchungen ausgehen. Hervorragende Erfolge auf allen Gebieten der modernen Slawistik wurden gerade dort erzielt, wo die neuen geschichtlichen Verhältnisse zum Fundament des wissenschaftlichen Studiums slawistischer Probleme geworden sind. Nur bei gebührender Berücksichtigung dieser neuen historischen Bedingungen kann die Slawistik die gewaltigen Veränderungen der letzten Jahrzehnte in der Kultur und Literatur der slawischen Völker begreifen und erfassen. Die Herausbildung der sozialistischen slawischen Literaturen und ihre Pionierrolle in der modernen Weltliteratur, die Vielgestaltigkeit der verschiedenen sowjetischen Nationalliteraturen, ihre hohen humanistischen Ziele und ihr kühnes Neuerertum, die Ästhetik des sozialistischen Realismus als theoretische Verallgemeinerung der Erfahrungen der Schriftsteller der Sowjetunion und der anderen sozialistischen slawischen Länder — all das sind neue, zentrale Probleme und Aufgaben für die Slawistik unserer Zeit. 1

Überarbeitete

und

erweiterte F a s s u n g der Begrüßungsrede, gehalten auf der

„ S l a w i s t i k und ideologische Kriegsvorbereitung in W e s t d e u t s c h l a n d " in Berlin.

Tagung

Einige Hauptprobleme der Slawistik unserer Zeit

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Außerordentliche Bedeutung kommt der Erforschung der Wechselbeziehungen und Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen nationalen Literaturen innerhalb der Sowjetunion zu. Das, was traditionell mit dem Begriff „Komparativistik" bezeichnet wird, reicht längst nicht mehr aus, um die umfangreiche Problematik der Wechselbeziehungen wissenschaftlich zu erfassen, und hindert die Slawistik nur daran, entsprechende theoretische Schlußfolgerungen zu treffen. Die sowjetische Philologie hat sich in den letzten Jahren intensiv bemüht, die Problematik der Wechselbeziehungen zwischen den Nationalliteraturen in Übereinstimmung mit den neuen historischen Bedingungen und Erkenntnissen zu erforschen. Hierbei sind die Wechselbeziehungen zwischen den slawischen und nichtslawischen Literaturen der Sowjetunion — etwa der grusinischen, armenischen, aserbaidshanischen, usbekischen oder tadshikischen Literatur — von großem Interesse. Es handelt sich also um komplizierte Probleme, die die Slawistik früher nicht gekannt hat. Das Leben selbst hat sie der Wissenschaft gestellt; ihre Lösung ist jedoch mit den alten, traditionellen Methoden nicht mehr möglich. I n der Sowjetunion wird das Erbe der klassischen russischen Literatur in Verbindung mit den Problemen der Sowjetliteratur studiert, da deren neuer sozialistischer Inhalt wesentlich durch die progressiven Traditionen des klassischen literarischen Erbes mitbestimmt wird. Diese marxistisch-leninistische Methode des Herangehens an die Probleme des klassischen Erbes ist eines der wichtigsten Ergebnisse unserer Kulturrevolution. I n der Kultur, Kunst und Literatur der anderen slawischen Länder des sozialistischen Lagers vollziehen sich unter voller Berücksichtigung der nationalen Besonderheiten analoge Entwicklungsprozesse. Ich führe alle diese Faktoren an, um zu betonen, daß die moderne Slawistik vor vielen außerordentlich interessanten Problemen steht. Die Slawistik ist zu einer Wissenschaft geworden, die allein schon durch ihren Forschungsgegenstand und ihr Forschungsmaterial der neuen sozialistischen Welt zugewandt ist. Diese Tatsache kann auch von bürgerlichen Slawisten nicht geleugnet werden, unabhängig davon, ob sie die sozialistische Ordnung akzeptieren oder nicht. Wenn ein Slawist all dem, was sich im heutigen Leben der slawischen Völker vollzieht, fremd und feindlich gegenübersteht und den gewaltigen gesellschaftlichen Umwälzungsprozeß der letzten Jahrzehnte mit kleinlicher Voreingenommenheit zu messen versucht, dann versperrt er sich den Weg zur historischen Wahrheit und zu neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Blicken wir auf die westdeutsche Slawistik, so müssen wir leider feststellen, daß dort einige Gelehrte am Werk sind, die die reaktionären politischen Ziele des westdeutschen Imperialismus unterstützen und unter dem Deckmantel einer völkerverbindenden Wissenschaft eine gefährliche und raffinierte Hetze gegen das sozialistische Lager verbreiten. Damit sind wir direkt bei dem Problem angelangt, das auf der Berliner Tagung diskutiert wurde und im vorliegenden Sammelband umfassend untersucht wird. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß die westdeutschen Revanchisten gerade auch Slawisten für ihre dunklen Ziele auszunutzen versuchen; unter Berufung auf die Slawistik betreiben sie ihre Politik

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1.1. Anisimov

der Völkerverhetzung, der psychologischen Kriegsvorbereitung. Ein solcher Mißbrauch unserer Fachdisziplin' ist jedoch nicht nur in Westdeutschland zu beobachten. Die Slawistik wurde seit dem Ende des I I . Weltkrieges von den herrschenden reaktionären Kräften in verschiedenen westlichen Ländern, vor allem in den Vereinigten Staaten von Amerika, aus politischen Gründen in besonderer Weise gefördert und entwickelt. In den USA erfreute sich die Slawistik eine Reihe von Jahren der ungewöhnlichen Aufmerksamkeit der am kalten Krieg interessierten Kreise wie selbstverständlich auch der an amerikanischen Universitäten und anderen Forschungszentren wirkenden reaktionären Emigranten. Diese entspannungsfeindlichen Kräfte sahen und sehen in der Slawistik weniger eine Wissenschaft als vielmehr ein Mittel zur antikommunistischen Propaganda. Die sowjetischen Forscher trafen auf dem IV. Internationalen Slawistenkongreß im Herbst 1958 in Moskau mit vielen amerikanischen Slawisten zusammen. Wir hatten Gelegenheit, uns mit eigenen Augen zu überzeugen, daß die amerikanische Slawistendelegation eine bedenkliche Voreingenommenheit gegenüber der sowjetischen Literatur, dem sozialistischen Realismus und allen revolutionären Tendenzen in der Kultur der slawischen Völker an den Tag legte. Amerikanische Slawisten hielten einige Vorträge, in denen sie die wissenschaftlich gesicherten Ergebnisse der sowjetischen Forschung anzweifelten und durch unhaltbare pseudowissenschaftliche Konzeptionen zu bestreiten suchten. Vorträge dieser Art, deren Argumentation sehr leicht ad absurdum geführt werden konnte, dienen nicht der Verständigung zwischen beiden Staaten. Ich führe diese Beispiele deshalb an, weil ich es für notwendig halte, nochmals zu betonen, daß der Teil der amerikanischen wie westdeutschen Slawistik, der den Zwecken der imperialistischen Ostforschung dient, nichts mehr mit echter Wissenschaft gemein hat, wie auch den Arbeiten revanchistischer „Ostforscher" selbst keine wirklich wissenschaftliche Bedeutung zukommt. Die antikommunistische Ostforschung, die wider die geschichtliche Wahrheit und wider bestehende Tatsachen ankämpft, degradiert diejenigen Slawisten der westlichen Länder, die in ihrem Dienst arbeiten, zu Propagandisten einer verhängnisvollen Politik gegen Entspannung, Verständigung und Frieden. Gelehrte Fälscher dieser Art repräsentieren nicht die Slawistik unserer Zeit, die Völkerfreundschaft und Humanismus auf ihr Banner geschrieben hat. Der beachtliche Erfolg des V. Internationalen Slawistenkongresses in Sofia im Herbst 1963 läßt hoffen, daß auch immer mehr Slawisten der USA und Westdeutschlands den Weg der Entspannung und der friedlichen Zusammenarbeit mitgehen werden. Die sowjetischen Wissenschaftler stellen erfreut fest, daß ihre Ansichten über die Lage, die Aufgaben und die Rolle der Slawistik in unserer Zeit mit denen der Slawisten der DDR völlig übereinstimmen. Wenn die deutsche Slawistik den Lebensinteressen ihres Volkes dienen will, muß sie für Freundschaft und Verständigung zwischen dem deutschen Volk und den slawischen Völkern eintreten. Daraus erwächst ihr die hohe Aufgabe, die kul-

Einige Hauptprobleme der Slawistik unserer Zeit

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turellen Reichtümer der slawischen Völker aus Gegenwart und Vergangenheit zu erschließen und sie zum geistigen Besitz des ganzen deutschen Volkes zu machen. Nur auf diesem Wege, der von den Slawisten der Deutschen Demokratischen Republik bereits erfolgreich beschritten wird, kann die deutsche Slawistik dem Frieden dienen. Wir begrüßen die Initiative und die wegen ihrer Aktualität äußerst wichtige wissenschaftliche Arbeit unserer mit den humanistischen Traditionen der Slawistik eng verbundenen Kollegen der Deutschen Demokratischen Republik und wünschen ihnen neue Erfolge. Deutsche Redaktion: Dr. 0. Ziegengeist

D r . CH. MÜCKENBERGER

Deutsche Slawistik und Ostforschung Die ersten slawistischen Bemühungen in Deutschland gehen auf den großen Humanitätsphilosophen J . G. Herder zurück, dessen „Ideen zur Geschichte der Philosophie der Menschheit" von P. J . Safarik, dem geistigen Vater der deutschen Slawistik, als eine Quelle der slawischen Philologie betrachtet wurden. 1 Bedeutende Wissenschaftler und Humanisten haben bei der Aneignung und Vermittlung von Kenntnissen über das Leben und die Kultur der slawischen Völker in Deutschland bahnbrechend gewirkt: Gottfried Wilhelm von Leibniz, von dessen slawischen Sprachkenntnissen fünf seiner bedeutenden Schriften zeugen; Wilhelm von Humboldt, der als Gesandter Preußens in Österreich tschechische Studien betrieb; Franz Bopp, der erstmalig in seine vergleichenden Sprachstudien die slawischen Sprachen mit einbezog und somit der Slawistik das Heimatrecht an deutschen Universitäten sichern half; und nicht zuletzt Johann Wolfgang von Goethe, der als erster in Deutschland J . Dobrovskys Bedeutung als Forscher auf altslawischem Gebiet erkannte und Korrespondierendes Mitglied des „Vaterländischen Museums" in Prag wurde. Es ist gewiß auch nicht von ungefähr, daß die ersten Bemühungen um eine deutsche Slawistik in die Zeit zurückreichen, als die Waffenbrüderschaft der Deutschen und Russen aus den Befreiungskriegen von 1812/13 noch wach war. Wenn auch im Jahre 1842 bei der Gründung des Lehrstuhls für Slawistik in Breslau, , des ersten in Deutschland, Friedrich Wilhelm IV. und sein Kultusminister Eichhorn günstigere Einflußmöglichkeiten auf die polnischen Untertanen im Auge hatten, so waren doch die slawistischen Vorlesungen, die damit an einer deutschen Universität begannen, von humanistischem Geist durchdrungen. Mit F. L. Öelakovsky, der 1842 seine Berufung nach Breslau als ordentlicher Professor für slawische Sprache und Literatur erhalten hatte, war ein Tscheche der erste Slawist an einer deutschen Hochschule. Enge Beziehungen zu fortschrittlichen Slawisten der slawischen Nachbarländer charakterisierten auch den Beginn der Vorlesungstätigkeit über slawische Sprachen und Literatur in Berlin im Wintersemester 1841/42, der mit dem Namen des Polen Adalbert Cybulski verbunden ist; er nahm dort als Privatdozent für 1

vgl. H. R ö s e l , Dokumente zur Geschichte der Slawistik in Deutschland. (Veröffentlichungen des Instituts für Slawistik. Hrsg. von H. H. Bielfeldt, Nr. 12) Berlin 1957, S. lff. — Im folgenden abgekürzt: Dokumente.

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slawische Sprachen seine Tätigkeit auf. Es war ein Mann, der laut Bericht des Berliner Polizeipräsidenten „als eifriger Anhänger der Polen und Vertreter der Interessen seiner Nation" unliebsam aufgefallen war 1 und den die Akten der Berliner Polizei deshalb als „verschiedentlich verdächtig" 2 charakterisierten. Dem in Deutschland wirkenden Slawisten gab Safarik die eindringliche Empfehlung, er müsse ,,... die Literatur aller slawischen Zweige, der größten wie der geringsten, mit gleicher Liebe und Sorgfalt umfassen und seine Zuhörer mit dem jezeitigen Gange der Sprach- und Geistesbildung und mit dem gegenwärtigen Zustande der Literatur bei den Slawen bekannt machen. Hier wäre seiner wissenschaftlichen Tätigkeit ein weites, freies Feld geöffnet, durch dessen verständigen Anbau er manches in Deutschland von altersher feststehende Vorurteil entwurzeln, manche fühlbare Lücke des Wissens ausfüllen könnte." 3 I n diesem Sinne äußerten sich noch ein halbes Jahrhundert später Gelehrte von Weltruf wie Karl Krumbacher, Professor der mittel- und neugriechischen Philologie an der Universität München: „Hüten wir uns in den Fehler zu verfallen, den wir so oft und nicht ohne schulmeisterliche Überhebung den Franzosen vorgeworfen haben, daß sie die Sprache ihrer östlichen Nachbarn als Pferdesprache abfertigten und ihre Kultur ignorierten! Sehen wir zu, ob wir nicht, den Balken im Auge, fremde Splitter richteten; die einstige Ignoranz unserer westlichen Nachbarn von Deutschland war nicht schlimmer als unsere eigene heutige Ignoranz von den östlichen Nachbarn. Muß denn nicht schon der einfache Blick auf die Landkarte Europas jeden Denkenden widerspruchslos überzeugen, daß die so viel gerühmte Universalität des deutschen Geistes hier eine gewaltige Lücke auszufüllen hat?" 4 Den Blick auf die Karte hatten zu dieser Zeit jedoch auch bereits diejenigen getan, die dabei von ganz anderen Reflexionen bewegt wurden: die Herren der Banken und Konzerne. Auch sie bemerkten den weiten Osten, den sie allerdings als Absatzmarkt, als Rohstoffquelle und als Reservoir für Arbeitssklaven zu nutzen gedachten. Ihr Wissensdrang entsprang einer ganz anderen Quelle: dem Wunsch, das Terrain künftiger Einflußsphären und Eroberungskriege zu sondie1

ebd., S. 61. ebd. — Zu Beginn der Märzunruhen 1848 kommandierte Cybulski die polnische Legion. Außerdem leitete er während der Revolution die Polentransporte aus Frankreich und Belgien ins Großherzogtum Polen. Wegen seiner patriotischen Gesinnung blieb C. bis 1860 nur Privatdozent. Auf diese Weise wurde der Berliner Lehrstuhl seit seiner Dekretierung erstmalig mit V. Jagió 1874/75 besetzt. Vgl. Dokumente, a. a. O., S. 61 f. — Über Cybulski vgl. auch H. H. B i e l f e l d t , Die Geschichte des Slavischen Instituts der Humboldt-Universität, in: Wiss. Zs. der Humboldt-Univ. zu Berlin, Jg. IX (1959/60), Beiheft, S. 36 ff. 3 Aus Safariks Empfehlungen für die Einrichtung eines Lehrstuhls für Slawistik an Eichhorn vom Mai 1841, zitiert nach: Dokumente, a. a. O., S. 167. * K. K r u m b a c h e r , Der Kulturwert des Slawischen und die slawische Philologie in Deutschland, in: Internationale Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik, Bd. II, 1908, S. 316. 2

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ren. Und so gründeten die Junker und Bankiers um die Jahrhundertwende ihre eigenen, deutlich zweckgerichteten Propagandainstitutionen wie den Alldeutschen Verband (1891) und den Deutschen Ostmarkenverein (1894). Zwar war die Mitgliederzahl verhältnismäßig gering, durch die berufliche Tätigkeit vieler ihrer Mitglieder aber — es handelte sich speziell um Universitätsdozenten, Lehrer, Pfarrer, Journalisten und Beamte — war eine große Verbreitung ihrer Ideen garantiert 1 . Der Übergang zum Imperialismus in Deutschland war die Geburtsstunde der Ostforschung. Es sei eingeräumt, daß nicht jedem Wissenschaftler, der an ihren Instituten arbeitete, die wahren Absichten ihrer Organisatoren und Geldgeber bekannt waren, und daß sogar hie und da ein Forscher in guter Meinung einer schlechten Sache diente. Fest steht aber, daß die Ostforschungsinstitute von Anbeginn den Zweck verfolgten, die Annexionsabsichten des deutschen Imperialismus pseudowissenschaftlich zu begründen, um dessen räuberischen Vorhaben einen wissenschaftlichen Anstrich zu geben. Nach der Niederlage im ersten Weltkrieg blieben der deutsche Imperialismus und Militarismus, seine Kriegspläne und somit auch sein „wissenschaftliches" Werkzeug, die Ostforschung, erhalten. Diese wurde sogar erheblich ausgebaut. In ernster Besorgnis um die völkerverbindende Mission der Slawistik schrieb darum Reinhold Trautmann gemeinsam mit dem unlängst verstorbenen Wiener Historiker Heinrich Felix Schmid im Jahre 1927: „Der deutsche Slavist hat neben seiner Aufgabe als Forscher — deren Bedeutung nie unterschätzt werden sollte — noch den anderen, sozusagen mehr gesellschaftlichen und sehr verantwortungsvollen Dienst zu leisten: Er ist mehr als jeder andere Deutsche berufen, zwischen der deutschen und slavischen Geisteshaltung zu vermitteln, die Ergebnisse slavischer geistiger Arbeit in den Gesichtskreis der deutschen Öffentlichkeit zu tragen .. ." 2 Wie recht hatte Professor Trautmann: Bereits fünf Jahre später wurde die selbstverständliche Tätigkeit des Slawisten, die Wahrheit über Leben und Kultur der Slawen zu vermitteln, als Staatsverbrechen geahndet. Und auch die achtungsgebietende Tat Max Vasmers, der gegen die braunen Machthaber für eingekerkerte polnische Kollegen eintrat, macht nur deutlich, in was für einen moralischen Abgrund, in welche Gewissenskonflikte der Faschismus auch oder gerade die Slawisten stürzte. Es kam die furchtbare Zeit, in der die Früchte geerntet wurden, für die nicht zuletzt die Ostforschung den Samen gelegt hatte. Die deutsche Slawistik zog sich während des Faschismus im günstigsten Falle auf die neutral erscheinenden Positionen der reinen Philologie zurück. Die Ostforschungsinstitute dagegen standen in dieser Zeit eindeutig im Dienste der braunen Machthaber, verzichteten weitgehend auf ihre bisherige Tarnung als wissen1

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vgl. F.-H. G e n t z e n , E. W o l f g r a m m , „Ostforscher" — „Ostforschung", Berlin i960, S. 78. H. F. S c h m i d , R. T r a u t m a n n , Wesen und Aufgaben der deutschen Slavistik 1927, S. 10.

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schaftliche Institutionen und fungierten unmittelbar als Spionage- und andere Hilfsorgane des faschistischen Staates zur Vorbereitung und Durchführung der Hitlerschen Raubkriege. Institute wie die im Dezember 1933 gegründete „Nordund Ostdeutsche Forschungsgemeinschaft", zu der als Vorstandsmitglied übrigens auch der ehemalige Bonner Minister Oberländer gehörte, ließen es sich angelegen sein, „vor allem den jungen völkischen Kräften, besonders den jungen Geländeforschern wissenschaftlichen Rückhalt und vielfach finanziell die Arbeitsmöglichkeit zu geben" 1 . Die Ergebnisse dieser „Geländeforschung" waren für die Vorbereitung des Überfalls auf Polen und als verwaltungstechnische Vorarbeit für die faschistischen Okkupanten von nicht geringem militärischem Wert, ebenso wie das von derselben „Forschungsgemeinschaft" herausgegebene „Verzeichnis der Ortschaften mit deutscher Bevölkerung auf dem Gebiet des polnischen Staates" 2 . Der unmittelbaren Spionage diente die Tätigkeit auch anderer Ostforschungsinstitute, wie desjenigen in Breslau, das u. a. 1934 einen Bericht über „Leistungsfähigkeit und Rohstoffbedarf der polnischen Roheisen- und Rohstahlindustrie im Kriegsfalle" zusammenstellte 3 . Im zweiten Weltkrieg gehörten die Ostforscher jedoch nicht nur zu den intellektuellen Urhebern zahlloser faschistischer Verbrechen in den besetzten Gebieten und zu den Helfern bei deren wirtschaftlicher Ausplünderung. Sie zählten auch direkt zu den unmittelbaren Ausführenden der faschistischen Greueltaten, so z. B. der Mörder von Lwow, Theodor Oberländer oder der SS-Sonderführer K u r t Lück. Auf den Letztgenannten, dessen verhängnisvolles Wirken heute noch spürbar ist, wollen wir kurz eingehen, demonstriert doch sein Werdegang die logische Konsequenz seiner theoretischen Maxime in der Praxis und die gesetzmäßige Endstation der Ostforschung. Kurt Lück, Verfasser der Werke „Deutsche Gestalter und Ordner im Osten" und „Mythos vom Deutschen in der polnischen Volksüberlieferung und Literatur", wird von den westdeutschen Ostforschern als einer ihrer verdienstvollsten Männer gefeiert 4 . In „Deutsche Gestalter und Ordner im Osten", das 1940 und 1942 in Verbindung mit dem „Grenzlandamt des Gaues Wartheland der NSDAP" bzw. dem „Institut für deutsche Ostarbeit" veröffentlicht wurde, „bewies" der Verfasser „die erstaunliche Dynamik der deutschen Einwanderungen", die für ihn mit der faschistischen Okkupation einen Höhepunkt erreicht hatte. Die Geschichte und Kulturgeschichte Polens präsentierte sich bei ihm als eine von deutschen Einwanderern inspirierte Entwicklung. Bereits in seinem 1934 erschienenen Buch „Deutsche Aufbaukräfte in der Entwicklung Polens" hatte Lück sich bemüht, 1 2 3 4

Zitiert bei P.-H. G e n t z e n , E. W o l f g r a m m , a. a. O., S. 86. ebd. ebd., S. 85. vgl. auch zum folgenden: J. K a i i s c h , Rez. zu: Deutsch-Polnische Nachbarschaft. Lebensbilder deutscher Helfer in Polen. Unter Mitwirkung zahlreicher Mitarbeiter hrsg, von Kurt Lück. 3., veränderte und erg. Aufl. Hrsg. v. Viktor Kauder, Holzner Verlag. Würzburg 1957, 531 S., in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, i960, Nr. 4, S. 987 bis 992.

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alle Errungenschaften des polnischen Volkes auf politischem, wirtschaftlichem und kulturellem Gebiet auf das Wirken von Zuwanderern aus Deutschland zurückzuführen. I m „Mythos vom Deutschen" traf er die Peststellung, daß das Verhältnis der Polen zu ihrem deutschen Nachbarn vom „primitiven Gruppeninstinkt" bestimmt sei. Seine wissenschaftlich aufgemachten nationalistischen Pamphlete verband er mit einer gegen Polen gerichteten Tätigkeit in chauvinistischen Vereinigungen, denen er schon während seiner Schulzeit in Bydgoszcz und auch als Slawistikstudent in Breslau angehörte. Sein Weg führte ihn folgerichtig in die Reihen der SS, wo sein Werdegang 1942 bei einer Mordaktion gegen sowjetische Partisanen ein schmähliches Ende fand. Es ist eine Biographie, die stellvertretend für die gesamte Ostforschung stehen kann und deren Entwicklungsweg und deren Perspektive symbolisiert. Nach 1945 wurde unter dem Deckmantel der objektiven Wissenschaft die Ostforschung in Westdeutschland erneut belebt. Wie im Dritten Reich sind heute in Westdeutschland die Ostforschungsinstitute Liebkind des Staates, während sich die humanistische Slawistik mit der Stellung der geduldeten Stiefschwester zu bescheiden hat. Schlagartig wird diese Situation durch die Analyse einiger Disziplinen der Philosophischen Fakultäten deutlich, die 1960 von der fortschrittlichen Münchner Zeitung „Deutsche Woche" — die inzwischen ihr Erscheinen einstellen mußte — durchgeführt wurde. Es heißt dort: „Für die Slawistik als der vierten der an unseren Universitäten vertretenen neusprachlichen Disziplinen sind etwa nur knapp halb so viele Lehrstühle vorhanden wie für ihre Schwesterdisziplinen, und der wissenschaftliche Nachwuchs in diesem Fach fehlt fast vollständig. Nach der jüngsten vom Hochschulverband veröffentlichten Übersicht über die Nachwuchslage an den westdeutschen Hochschulen gibt es an den 16 westdeutschen Universitäten nur 5 nichtplanmäßige Lehrpersonen, d. h. außerplanmäßige Professoren und Privatdozenten für Slawistik (gegenüber 44 für Germanistik, 20 für Anglistik und 18 für Romanistik)" 1 . Interessant ist die Gegenüberstellung von Slawistik und Ostforschung, wobei der Verfasser sich auf Zeugnisse junger Wissenschaftler stützt. In diesem Zusammenhang schreibt das Blatt: „Ein anderer Dozent weist auf Schwierigkeiten hin, die sich aus der allgemeinen politischen Situation ergeben. ,Ostforschung wird zwar heute groß geschrieben, und es gibt alle möglichen Institute dafür. Aber da kann mir einer sagen, was er will; zu allerletzt heißt das alles doch nur: festzustellen, daß die Schlesier wieder nach Breslau und die Ostpreußen wieder nach Königsberg müssen. Die Feststellung, daß die Slawen in früheren Zeiten bis nach Schleswig-Holstein hinein gesessen haben, ist hierzulande nicht erwünscht, auch wenn sie tausendmal stimmt. Natürlich wird unter diesen 1

Wissenschaft als Beruf. Germanistik und Neuphilologie an den westdeutschen Universitäten, in: Deutsche Woche, 10. Jg., 1960, Nr. 24, S. 11. — Das Zahlenverhältnis liegt heute günstiger, soweit es Ordinariate betrifft. Im Nachwuchs ist die Lage weitgehend unverändert.

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Umständen der Austausch mit den osteuropäischen Universitäten bewußt erschwert'." 1 Der Bericht in der „Deutschen Woche" weist jedoch noch auf einen anderen Gesichtspunkt hin, der in der gegenwärtigen Situation in Westdeutschland immer mehr Gewicht bekommt: „Trotzdem ist man in weiten Kreisen des westdeutschen Hochschulbetriebes der Überzeugung, daß je länger, desto unvermeidlicher die Slawistik im wissenschaftlichen Gesamtzusammenhang erheblich an Bedeutung gewinnen wird. Denn fast auf keinem Gebiet ist heute mehr Forschungsarbeit möglich ohne Kenntnis der osteuropäischen Publikationen. ,Wie wichtig die slawischen Sprachen heute sind, kann man an jeder westdeutschen Universität beobachten. Die Naturwissenschaftler, vor allem die Mathematiker, kommen ohne die russische Sprache gar nicht mehr aus. Es ist kaum noch möglich, eine wissenschaftliche Arbeit ohne das Heranziehen der russischen Fachliteratur zu schreiben'." 2 Diese Stimme ist typisch für eine weitverbreitete Meinung, die bis in die Spitzen des westdeutschen Hochschulwesens reicht. Aber nicht nur dort, auch in der breiten Öffentlichkeit ist das Interesse für die Sowjetunion außerordentlich gewachsen; besonders in den letzten Jahren hat sie durch achtunggebietende Taten dieses Interesse hervorgerufen. Man muß leider feststellen, daß die Gefahr, welche die aggressive Ostpolitik des westdeutschen Imperialismus, die sich in seinem Auftrag „wissenschaftlich" gebende Ostforschung und der Revanchismus der Landsmannschaften für die Existenz der völkerverbindenden Slawistik bedeuten, von den meisten westdeutschen Slawisten noch nicht erkannt wird. Mehr noch: einige „Slawisten" stehen in direkter Verbindung mit Ostforschungsinstitutionen und machen aus ihrer antisowjetischen Haltung keinen Hehl. Der typische Vertreter dieser extrem reaktionären Gruppe innerhalb der westdeutschen Slawistik, der an seine offen faschistische Vergangenheit anknüpft, ist Prof. Friedrich Wilhelm Neumann, Direktor der Abteilung Slawistik des Instituts für Osteuropakunde und neuerdings sogar Prodekan der Philosophischen Fakultät der Universität Mainz. Er lehrt und schreibt seit eh und je ganz im antikommunistischen Sinn der Bonner Ideologen und ihrer geistigen Vorgänger. I n einer seiner Publikationen, in der er die Werke Gor'kijs als „eintönig, ungeschlacht und roh" und die Masse seiner Prosageschichten als „belanglos" abgetan, Majakovskij mit der Zensur „dürftig, ermüdend, eintönig und ohne positive Zielsetzung" bedacht und Solochovs „Stillen Don" als einen Tatsachenbericht kategorisiert hat, kommt er zu dem Schluß: „Die sowjetischen Schriftsteller sind Schrift-Steiler in einem sehr wörtlichen Sinne. Sie .stellen die Schrift', wie man die Hebel einer Maschine stellt, genau nach der Bedienungsanweisung... es fehlt ihnen die dichterische Grundhaltung..., sie meiden die ewigen Themen aller Dichtung: Gott, Natur, Liebe". 3 1 3 2

ebd. ebd. F. W. N e u m a n n , Die Entwicklung der russischen Literatur unter dem Sowjetregime, in: Das Sowjetsystem in der heutigen Welt. Schriften des Auslands- und Dolmetscher-

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Schon einmal schien ihm eine derartige Beweisführung opportun: im Jahre 1942 nämlich, als er in seinem Beitrag „Irrwege sowjetrussischer Schrifttumskunde" zum berüchtigten, von Bolko von Richthofen herausgegebenen Sammelband „Bolschewistische Wissenschaft und Kulturpolitik' " die dem sowjetischen Dichter unzugänglichen Quellen wahren Dichtertums fast wörtlich ebenso benannte („Gott und Volk, Landschaft und Familie") 1 . Ob im Jahre 1942 oder 1957, derartige Behauptungen sollten nicht nur speziell die Sowjetliteratur als etwas der gesamten Entwicklung der Weltliteratur Entgegengesetztes und Wesensfremdes diskreditieren, sondern indirekt die These von der Kluft zwischen Abendland und „asiatischem" Rußland stützen. Wie Neumann die Ostpolitik der herrschenden Kreise des imperialistischen Westdeutschland bedingungslos unterstützt, zeigt in jüngster Zeit sein Wunschtraum : „Machen wir uns klar, daß die Satellitenvölker nur durch Druck und Drohung unter die Herrschaft Moskaus geraten sind. Hier hegt der Ansatzpunkt für eine aktive deutsche Ostpolitik." 2 Offen das Ziel der Bonner Kriegsvorbereitung vertretend, sich der slawischen Völker als Bündnispartner gegen den Sozialismus zu versichern, kommt Neumann zu dem Schluß, daß — unter einem solchen Aspekt — auch Kontakte mit Vertretern dieser Völker „ihren Sinn" gewinnen 3 , wobei er unmißverständlich betont, er meine nicht den Kontakt mit Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens der Volksdemokratien, sondern mit Emigrantenorganisationen. Neumanns Bündnispartner verkörpert besonders charakteristisch der Weißemigrant Fedor Stepun, Professor für russische Geistesgeschichte an der Universität München. Ihn verbindet mit Neumann zügelloser Haß gegen den Sozialismus und Kommunismus und eine offene Verquickung von wissenschaftlichtheoretischer „Forschung" und politisch-praktischer Nutzanwendung. In seinem Buch „Das Antlitz Rußlands und das Gesicht der Revolution" bekennt er: „Die Vorstellung, daß Rußland, welches sich eben erst den greisen Umarmungen des entarteten Monarchismus entwunden hat, sich einem zügellosen Kronstadter Matrosen hingeben könnte, der nichts in sich hat, als den mit ruchlosen russischen Schimpfworten gewürzten marxistischen Jargon und den Leninschen Räuberpfiff, rief in mir einen unüberwindlichen ästhetischen und nationalerotischen Ekel hervor, und dieser abgrundtiefe Ekel mehrte meine Bereitschaft, das Letzte zu wagen, um den Sieg des Bolschewismus zu verhindern." 4 Deshalb habe er sein

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instituts der Johannes Gutenberg-Universität Mainz in Germersheim. Bd. II, München 1956, S. 148, 146, 158, 162. Ders., Irrwege sowjetischer Schrifttumskunde, in: Bolschewistische Wissenschaft und „Kulturpolitik". Schriften der Albertus-Universität. Geisteswissenschaftliche Reihe, Bd. 14, Königsberg und Berlin 1938, S. 269. F. W. N e u m a n n , Der Ansatzpunkt für eine aktive Ostpolitik, in: Unser Danzig, Lübeck. 12. Jg., 1960, Nr. 17, S. 2. — Über Neumann vgl. auch den folgenden Beitrag von E.Hexel3 schneider. ebd. F. S t e p u n , Das Antlitz Kußlands und das Gesicht der Revolution. Aus meinem Leben 1884-1922, München 1961, S. 328.

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ganzes Leben „unter das Zeichen des Kampfes gegen den Bolschewismus" gestellt 1 . Mit der für ihn bezeichnenden religiösen Verbrämung seines Antikommunismus entspricht Stepun besonders gut der speziellen Erscheinungsform der ideologischen Kriegsvorbereitung in Westdeutschland. Im Jahre 1917 hatte er, wie er in seinen Lebenserinnerungen bekennt, an der Ausarbeitung des Erlasses über die Einführung der Todesstrafe mitgewirkt, die an Hunderten von Russen vollzogen wurde, als sie dem mörderischen Krieg ein Ende setzen wollten. Er scheut nicht davor zurück, dieses Verbrechen mit religiösen Gründen zu rechtfertigen. Er hatte angeblich „das zwingende Gefühl, die Todesstrafe sei nicht juristisch, sondern allein aus der Pflicht, das wahre Rußland seinen bolschewistischen Feinden unter keinen Umständen auszuliefern, zu rechtfertigen. Mir war es klar, daß der Tod auch als verhängte Todesstrafe nicht mit Recht, sondern immer nur mit Liebe zusammenhängt. Von meinem wahren Rußland erwartete ich in Zukunft ein neues Aufblühen des religiösen Lebens..." 2. In einem anderen Buch, „Bolschewismus und christliche Existenz", verfolgt Stepun, im Prinzip genau dieselbe antisowjetische Linie, nur daß er hier nicht mehr die Todesstrafe für das „Paktieren mit dem Bolschewismus" fordert, sondern um die indirekte Propagierung und Rechtfertigung eines Krieges gegen die Sowjetunion bemüht ist. Hämisch glossiert er die Bemühungen um friedliche Koexistenz und glaubt sich sogar in Westdeutschland für seine haßerfüllte Darstellung des Sozialismus (die, wie er wohl fühlt, die Glaubwürdigkeit des Gesagten beeinträchtigt) rechtfertigen zu müssen: „Sicher werden die um moralinfreie Koexistenz bemühten Realpolitiker mir vorwerfen, ich hätte ihn (den BolschewismusCh. M.) zu negativ geschildert."3 Um seinen Thesen eine philosophische Basis zu geben, beschwört er Dostojewskis „Dämonen"4 als Kronzeugen für die teuflische Verworfenheit der Revolutionäre. Daraus folgert er dann, daß es unmöglich sei, mit einem Land zusammenzuleben, in dem die sozialistische Revolution gesiegt hat. Den Kommunismus bewertet er als eine „phantomhafte Begegnung des entchristlichten russischen Mittelalters mit dem entarteten westeuropäischen Sozialismus"5. Und ein solches Buch wird den Slawistikstudenten der Universität München nachdrücklich als Lektüre empfohlen! In die gleiche antisowjetische Richtung zielt auch das vom Studentenwerk München herausgegebene Bändchen „Der Bolschewismus", das auf der Basis einer Ringvorlesung im Rahmen des ,Studium universale' an der Ludwig-Maximilians-Universität München im Sommersemester 1956 entstand. Als Autoren zeichnen neben anderen F. Stepun und H. Koch. In einer Rezension wird diese Darstellung allen Lesern empfohlen und den Verfassern bescheinigt, als Fachkenner zur urteilen6. 1 3 4

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2 ebd., S. 369. ebd., S. 327-328. P. S t e p u n , Der Bolschewismus und die christliche Existenz, München 1962, S. 253. ebd., vgl. Kapitel: Dostojevskijs prophetische Analyse der bolschewistischen Revolution, 6 S. 223-252. ebd., S. 253. H. K o c h , R. Maurach, F. S t e p u n , A. W e b e r , A. v. Z i e g l e r , Der Bolschewismus. Besprechung v. K. Meyer in: Zeitschrift für Ostforschung, 7. Jg., 1958, Nr. 1, S. 122 bis 124.

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Eng mit der Ostforschung ist auch Dmitrij Tschizewskij1, Direktor des Slawischen Instituts an der Universität Heidelberg, verbunden, der durch seine Tätigkeit ihren Zielen Vorschub leistet. Da seine Auffassungen sich gut in die klerikalmilitaristische Ideologie des westdeutschen Imperialismus einfügen, wird auch er von der Welle des Klerikalismus in Westdeutschland in den Vordergrund getragen. Tschizewskij verbindet seine Interpretation der russischen Literatur nicht so offen mit einer zielgerichteten politischen Konzeption, wie es Stepun und Neumann tun. Er propagiert vielmehr indirekt politische Thesen Bonns und ist in seiner Tätigkeit als Hochschullehrer führend daran beteiligt, unter der künftigen Intelligenz den Boden für ihre Aufnahme vorzubereiten. Seine mystifizierende Interpretation gesellschaftskritischer literarischer Werke, die die „russische Seele" mit einem Schleier des Unbegreifbaren umgibt, negiert die historische Konkretheit der Konflikte eines Kunstwerks und löst sie in den Nebel zeitloser abstrakter Maxime von Gut und Böse im Sinne der Religion auf. E r geht dabei so weit, daß er z. B. an einem wahrlich sehr untauglichen Objekt, an Gogol's „Mantel", eine völlige Umwertung des Ideengehalts in seinem Sinne geben will. Er sagt in seiner Untersuchung: „Wir sind dagegen davon überzeugt, daß Gogol' in seiner Novelle den sozialen Aspekt seines Themas gar nicht verwenden will..." 2 . E r versucht nachzuweisen, daß Gogol' die Leidenschaft Akakij Akakij evics verurteilen will, weil der Held durch sie seine Existenz auf weltliche Dinge zu gründen sucht, statt auf das einzig mögliche „centrum securitatis", auf Gott. E r vergleicht den Helden aus dem „Mantel" mit anderen „Stutzern" Gogol's wie Chlestakov und Cicikov und kommt zu dem Schluß: „Diese Leidenschaft ist bei Akakij Akakijevic auf eine noch tiefere Stufe gesunken, da sein Traum nicht über die allernotwendigste Körperbedeckung hinausgeht." 3 „Offenbar will Gogol' das ganze Abenteuer mit dem Mantel als eine .Versuchung' des Akakij Akakijevic durch den Teufel aufgefaßt wissen." 4 Dieses Beispiel mag hier als symptomatisch für das ganze Betrachtungsprinzip Tschizewskijs stehen, der die Probleme aus dem Bereich des Irdischen, des Gesellschaftlichen herauslöst und ins Transzendentale übersetzt. Tschizewskij ist j edoch keineswegs der einzige, der konsequent den Zusammenhang zwischen Literatur und Gesellschaft leugnet. Gleiches versucht der jetzt in den USA tätige Weißemigrant Vsevolod Setschkareff. Das Credo seiner Literaturbetrachtung enthält die von ihm verfaßte „Geschichte der russischen Literatur", worin er eindeutig erklärt, daß alle sozialen Gesichtspunkte bei der Betrachtung der Literatur nicht in das Gebiet der Dichtungsgeschichte gehören. Es gelte, „mit besonderer Sorgfalt das künstlerisch Wertvolle von zeitgebundenen außerästhetischen Momenten zu scheiden" 5 . Dadurch verschieben sich viele Wertakzente im 1 2

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Über ihn vgl. H. G r a ß h o f f im vorl. Band. D. ÖyievÄkyj, Gogol'-Studien. 2. Zur Komposition von Gogol's „Mantel", in: Zeitschrift für slavische Philologie, Bd. XIV, 1937, S. 79. 4 ebd., S. 89. ebd., S. 85. V. S e t s c h k a r e f f , Geschichte der russischen Literatur, Bonn 1949, S. 6 ; 2 Stuttgart 1962, S. 6. - Über Setschkareff vgl. M. W e g n e r im vorl. Band.

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Vergleich mit den bisher üblichen. Das führt Setschkareff zu der absurden Feststellung, daß nur die zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts von außerkünstlerischen Tendenzen frei seien 1 , womit er die Literatur dieser Jahre über die weltbedeutenden Werke der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stellt. Von dieser Position aus wertet er die russische Literatur ab, und die Sowjetliteratur negiert er völlig. Die Trennung von Literatur und Wirklichkeit, bekanntlich eine der Haupttendenzen in der gegenwärtigen bürgerlichen Literaturwissenschaft, nimmt überhaupt in den Arbeiten westdeutscher Slawisten beträchtlichen Raum ein. Jeder, der auch nur versucht, die Literatur zur gesellschaftlichen Realität in Beziehung zu setzen, ist von vornherein verdächtig. So nur ist F. W. Neumanns Kritik an der Literaturgeschichte des verdienstvollen dänischen Slawisten Adolf StenderPetersen zu verstehen. Neumann, der Stender-Petersen anfänglich warmherziges Lob für seine „formale Methode" gespendet hat, mit der „der Verfasser... mit dankenswerter Klarheit" ausspreche, „daß große literarische Epochen... jeglicher .sozialer Grundlage' entbehren" 2 , ist sehr ungehalten darüber, daß StenderPetersen diese Methode nicht konsequent zu Ende führt. E r kritisiert StenderPetersen wegen der in dessen Literaturgeschichte enthaltenen Angaben über ländliche Eigentumsverhältnisse nach der Bauernreform, wegen seiner Hinweise auf die Tätigkeit der Narodniki-Revolutionäre und ähnlicher Schilderungen gänzlich „außerliterarischer Art". E r wendet sich gegen „die allenthalben spürbare Neigung" Stender-Petersens, das politisch „Fortschrittliche" — das bei Neumann in Anführungszeichen erscheint — besonders hervorzuheben. Es gehe z. B . nicht an, das altrussische Igorlied ein „Pamphlet gegen die feudale Fürstenmacht" zu nennen oder dem „Nedorosl"' Fonvizins eine Kritik an der Regierung zuzuschreiben. Die Aufzählung derartiger „Verstöße" nimmt über eine Seite ein 3 . „Niemand wird die Rückständigkeit des zaristischen Rußlands und die Mißstände in ihm leugnen können", bemerkt Neumann weiter und attackiert Stender-Petersen mit den Worten: „Ist das aber die ganze Wahrheit? Stender-Petersen spricht allgemein von der ,schimpflichen Sklaverei... auf der alles nissische Gemeinleben ruhte'... Die patriarchalisch-agrarische Lebensordnung ermöglichte Unzähligen ein zufriedenbeschauliches Dasein." 4 Neumann kommt abschließend zu der rügenden Feststellung: „Man sieht, wie weit sich Stender-Petersen von seiner Zielsetzung entfernt, vorzugsweise eine Geschichte der russischen Literatur als einer Wortkunst zu schreiben. E r erkennt zwar prinzipiell immanente Gesetzlichkeiten der literarischen Entwicklung an, doch entsteht streckenweise der Eindruck, als sei die Literatur tatsächlich nur ein Überbau über der politisch-ökonomischen Basis... Schon die ab und an durch 1 2

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V. S e t s c h k a r e f f , ebd., Bonn, 1949, S. 5; 2 Stuttgart 1962, S. 6. F. W. N e u m a n n , A. Stender-Petersen, Geschichte der russischen Literatur, Bd. 1 und 2, München 1957, in: Zeitschrift für Ostforschung, 8. Jg., 1959, Nr. 4, S. 599. ebd. ebd.

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scheinende rationalistische Auffassung des dichterischen Schaffensvorganges stimmt bedenklich, desgleichen der triviale, auf die konkrete Gegenwärtigkeit begrenzte Begriff der Wirklichkeit'." 1 Die konsequente Trennung zwischen Literatur und gesellschaftlichem Auftrag und die nervöse Abwehr jedes Vorstoßes auf diese Bastion der spätbürgerlichen Ästhetik verfolgt einen sehr aktuellen Zweck. Diese These soll die wissenschaftliche Grundlage auch für die Abwertung der Sowjetliteratur schaffen. Bei Setschkareff z. B. ist die unmittelbare Schlußfolgerung für die Einschätzung der Literatur des sozialistischen Realismus offensichtlich: wenn bereits die russische klassische Literatur von außerästhetischen Momenten stark beeinträchtigt worden sei, dann verweise die gesellschaftliche Problematik die Sowjetliteratur ganz und gar aus dem Bereich der Kunst. Folgerichtig heißt es dann bei Setsehkareff beispielsweise über Gor'kij: „Seine Romane sind, trotz mancher Schönheiten, besonders auf den ersten Seiten, durchweg ein Fiasko; vor allem, was den Aufbau betrifft, oder wenn, wie z.B. in dem langweiligen und geschmacklosen Roman „Die Mutter", seine politische Tendenz über die künstlerische Gestaltung dominiert. Durchweg mißlungen sind auch Gorkijs Dramen; es sind schwache Imitationen Tschechovs, denen es an der inneren Dynamik seines Vorbildes gänzlich fehlt." 2 Über Majakovskij heißt es bei ihm: „Majakovskijs Dichtung ist grell, oratorisch, effektsüchtig und häufig von häßlichem Witz." Seine Vers- und Reimtechnik übersteigere diejenige Bloks 3 . Auf diese Weise systematisch vorbereitet, nimmt das westdeutsche Publikum, vor allem Studenten, kritiklos eine Gesamtdarstellung des in den USA wirkenden Weißemigranten Gleb Struve über die Sowjetliteratur auf, die eine direkte Unterstützung für die Ostforschung bedeutet. Seine „Geschichte der Sowjetliteratur" 4 , in der er sich offen zum Antikommunismus bekennt, wird von vornherein nach Prinzipien gegliedert, die eine unverhohlene Provokation darstellen. Den Abschnitt 1929—1932 z.B. überschreibt er „Die Gleichschaltung der Literatur". Man meint, einen Kriminalreißer in Händen zu halten, liest man folgende Überschriften: „Das Anziehen der Schraube"; „Der erste Schlag"; „Hexenjagd auf die Westler"; „Jagd auf die wurzellosen Kosmopoliten". Es ist höchst bemerkenswert, daß der verstorbene Ostforscher Hans Koch keine andere als Struves „Geschichte der Sowjetliteratur" empfiehlt. Struves Darstellung findet aber nicht nur in der Publizistik Verbreitung, sie wird auch von westdeutschen Slawisten widerspruchslos übernommen. Das trifft für die „Russische Literaturgeschichte" von Wilhelm Lettenbauer zu, die es sich eigentlich hätte zur Aufgabe machen müssen, Fälschungen und gefährliche Fehlinterpretationen richtigzustellen. Diese Literaturgeschichte ist der erste Versuch nach 1945, von deutscher Seite eine Gesamtdarstellung der russischen Literatur, einschließlich 1

2 3 4

ebd., S. 600. V. S e t s e h k a r e f f , Geschichte der russischen Literatur, Bonn 1949, S. 124. ebd., S. 129. G. S t r u v e , Geschichte der Sowjetliteratur, München 1957.

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der sowjetischen, zu geben. Um so bedenklicher ist es, daß Lettenbauer dabei verschiedentlich zur Kompilation unhaltbarer meist auf Struve zurückgehender Einschätzungen der Sowjetliteratur gelangt, wovon u. a. folgendes Urteil zeugt: „Der thematische Bereich, aus dem die vorrevolutionäre russische Literatur schöpfte, ist durch die offizielle Auslegung des Begriffs sozialistischer Realismus' in der Sowjetunion erheblich eingeschränkt. Moralische, soziale und politische Urteile sind die wichtigsten Kriterien für ästhetische Werte, was zur Folge hat, daß das dichterische Spiel der Phantasie sich kaum entfalten kann." 1 Ähnlich wie Struve verficht Lettenbauer die These von der angeblichen Kunstfeindlichkeit des sozialistischen Realismus und der Sowjetliteratur als Niedergangsepoche der Kunst. Er erinnert in seinem Bedauern über die angebliche „thematische Einschränkung" sehr an Neumann. Vollständig kann man erst die Schändlichkeit der Literaturgeschichte von Struve und aller auf ihr fußenden ermessen, wenn man berücksichtigt, daß sie die nahezu einzigen Informationsquellen der Slawistikstudenten über den so wesentlichen Bereich ihres Studiums — die Sowjetliteratur — sind. Eines haben diese Darstellungen gemeinsam: sie lösen die Sowjetliteratur aus dem allgemeinen Fluß der literarischen Entwicklung heraus. So wird Gor'kij gegen einen Vertreter der klassischen russischen Literatur ausgespielt, jede fruchtbare Verbindung zu den großen Traditionen der russischen Literatur geleugnet — und ebenso sorgfältig die „Unterlegenheit" der Sowjetliteratur gegenüber den zeitgenössischen — im Sinne Setschkareffs — modernen Literaturströmungen, wie z. B. dem Symbolismus, bewiesen. Günstigenfalls wird eingeräumt, die Literatur des sozialistischen Realismus sei eine schlechte Imitation von Vorbildern, wie man es beispielsweise aus Setschkareffs Schriften entnehmen kann. Nach seiner Auffassung bleibe ein Teil der Sowjetschriftsteller „bei den technischen Mitteln der großen russischen Tradition..., der andere bedient sich der Kunstgriffe des Westens, wobei Proust, Gide, Joyce und Dos Passos die am häufigsten verwandten Vorbilder sind..." 2 . Das ist nichts anderes als eine moderne, eigentümlich modifizierte Erscheinungsform der bekannten „Kulturgefälle"-Theorie. Man kann sie mehr oder weniger deutlich ausgeprägt in allen bisher erwähnten Literaturgeschichten finden. Leider gibt auch das Werk Stender-Petersens durch Überbetonung fremder Einflüsse auf die russische Literatur (vgl. u. a. die Periodisierung: Periode des Byzantinismus, Europäismus, Sowjetismus) begründeten Anlaß, es in diesem vom Verfasser gewiß nicht gewünschten Sinne propagandistisch auszuwerten. Wie steht es nun mit den Kräften, die sich gegen die wissenschafts- und verständigungsfeindlichen Bestrebungen in der westdeutschen Slawistik zur Wehr setzen und sich direkt oder indirekt von der revanchistischen Politik distanzieren? Von humanistischem Geist inspiriert ist zweifellos das Geleitwort zum ersten B a n d der Fachzeitschrift „Die Welt der Slaven", die im Jahre 1956 in München 1

2

W. L e t t e n b a u e r , Russische Literaturgeschichte, 2., verm. und verb. Aufl., Wiesbaden 1958, S. 312. V. S e t s c h k a r e f f , Geschichte der russischen Literatur, a. a. O., S. 132.

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ins Leben gerufen wurde. Dort schreibt Erwin Koschmieder: „Wenn auch fraglos andere Faktoren im Verhältnis des Westens zum Osten eine wichtige Rolle spielen als die Wissenschaft überhaupt und die Slavistik im besonderen, so darf eben doch die Bedeutung der Slavistik für dieses Verhältnis nicht übersehen werden. Im großen und ganzen jedenfalls sehen die Slaven mit Recht in jeder slavistischen Tätigkeit einen Beweis für die Existenz eines unvoreingenommenen Interesses für sie bei den betreffenden Völkern. Was wir aber bei einer solchen Zusammenarbeit rein geistig gewinnen können, ist unsagbar viel. Die wahre Bedeutung des slavischen Geistes in der europäischen Kultur ist nur eben leider vielen Westeuropäern völlig unbekannt. Sie dem Westeuropäer fachlich und sachlich von Petr Chelcicky bis Lev Tolstoj, von Kochanowski bis Majakovskij, von Maksim Grek bis J a n Rozwadowski darzustellen und näher zu bringen, soll das Anliegen der ,Welt der Slaven' sein." 1 I m folgenden wird auf die Notwendigkeit verwiesen, völkerverbindend zu wirken, und abschließend betont:,,... bei diesem großen Fortschritt der Menschheit mitzuhelfen, wird neben der Erringung tiefer Einsichten in Probleme unseres großen Gebietes die vornehmste Aufgabe unserer Zeitschrift sein. Wir alle sind berufen, unser Scherflein beizutragen zu dem großen Ziel, das uns hinieden gesetzt ist: pax hominibus bonae voluntatis." 2 Aber diese humanistischen Ideen sind äußerst unverbindlich und abstrakt formuliert; die Möglichkeiten, sie auszulegen und anzuwenden, sind deshalb offensichtlich derart vielfältig, daß die Zeitschrift in der Folgezeit leider auch Autoren zu Worte kommen ließ, die ihrem löblichen Motto keineswegs entsprachen. Darunter war sogar F. W. Neumann mit einem chauvinistischen Beitrag über die Darstellung des Deutschen in der russischen Literatur 3 . Um so erfreulicher ist es, daß in der westdeutschen Slawistik auch positive Erscheinungen zu verzeichnen sind. Als Beispiel sei auf eine Untersuchung von Alfred Rammelmeyer, Direktor des Slawischen Seminars der Goethe-Universität zu Frankfurt am Main, über „Dostoevskij und Voltaire" verwiesen. Sie unterscheidet sich wohltuend von der penetranten Tendenz, Dostoevskij zu mystifizieren und zum Modeschriftsteller im Sinne des klerikalen Militarismus in Westdeutschland zu machen. Gegen diese Art modernen Dunkelmännertums findet Rammelmeyer sehr deutliche Worte, wenn er als Fazit seiner Untersuchung sagt: „Heute, wo Gespenster, die man durch Voltaire auf ewig fortgelächelt glaubte, sich von neuem erheben und Verehrung heischen und wo ahnungslose Gemüter bereits fragen, ob denn Voltaire überhaupt noch eine Bedeutung zukomme, ist es wichtig, sich dieser Verdienste zu entsinnen. Zutreffend schrieb Friedrich Gundolf kurz vor seinem Tode und kurz, bevor das Unheil von Deutschland aus über die Welt hereinbrach : , . . . Was zum Beispiel Voltaire errungen hat, die Toleranz, die Aufklärung, 1

2 3

E. K o s c h m i e d e r , Die Welt der Slaven und wir, in: Die Welt der Slaven, 1. Jg., 1956, S. 2 f. ebd., S. 3. vgl. dazu H. B a u m a n n in Wiss. Zs. der Friedrich-Schiller-Univ. Jena, Jg. 10 (1960/61), GSR, Nr. 1., S. 114ff.

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kommt uns (gerade noch heut) leichter vor als es war. Vielleicht wird es bald wieder nötig und heilig'." 1 Gerade in Westdeutschland an diese beklemmende Vorahnung zu erinnern, die sich unter der faschistischen Diktatur und im Terror gegen die humanistische Wissenschaft bewahrheitet hat, ist von großer aktueller Bedeutung. I n einer anderen Untersuchung zeigt Rammelmeyer unseres Erachtens einen Weg, den die humanistische Slawistik in Westdeutschland beschreiten sollte, um ihrer völkerverbindenden Aufgabe gerecht zu werden und der schädlichen Theorie vom Kulturgefälle und der Kulturbringerrolle des deutschen Herrenmenschen entgegenzutreten : die Untersuchung der tatsächlichen deutsch-russischen Literaturbeziehungen. In seinem Artikel „Russische Literatur in Deutschland" legt er dar, daß das fast ausschließliche Interesse breiter Kreise der Leserschaft für Tolstoj und Dostoevskij vergessen ließ, daß die russische Literatur bereits im 18. J h . in Deutschland Eingang gefunden hat. Rammelmeyer zeigt, daß die russische Literatur zu dieser Zeit in Deutschland nicht nur bekannt geworden ist, sondern beweist, daß sie sogar der deutschen Literatur als Vorbild empfohlen wurde, wie beispielsweise Sumarokov, an dem die deutsche Kritik die Wahl von Themen aus der nationalen Geschichte als besonders nachahmenswert hervorhob. Auf das Gebiet des 19. Jahrhunderts übergehend, zitiert der Verfasser die „Blätter für literarische Unterhaltung", die 1834 schrieben, niemand sei in Europa gegenwärtig größer als Puskin und Adam Mickiewicz. Rammelmeyer erwähnt auch, die Entwicklung bis ins 20. Jahrhundert verfolgend, was Maksim Gor'kij für Bertolt Brecht oder Majakovskij für Johannes R. Becher bedeutet hat, welche schöpferischen Impulse von der Sowjetliteratur auf diese Großen der deutschen Dichtung ausgegangen sind 2 . In den sowjetischen Materialien über „Die Wechselbeziehungen und die Wechselwirkung zwischen den Nationalliteraturen" heißt es sehr richtig: „Das Problem der Wechselbeziehungen und der Wechselwirkung zwischen den einzelnen Nationalliteraturen hat eine große politische Bedeutung, die besonders zum gegenwärtigen Zeitpunkt anwächst, da der Gedanke einer friedlichen Koexistenz eine immer stärkere Verbreitung in der Welt findet und da überall die Einheit und Geschlossenheit der fortschrittlichen Kräfte im Kampf für Frieden, Demokratie und Völkerfreundschaft gefestigt wird. Die Geschichte der Weltliteratur, gesehen unter dem Blickwinkel der Wechselbeziehungen und Wechselwirkung zwischen den Nationalliteraturen, bietet ein dankbares Material zur Begründung der Völkerfreundschaft u n d der i n t e r n a t i o n a l e n Solidarität

der fortschrittlichen

Kräfte der W e l t . " 3

Nicht unwesentlich ist weiter die Entgegnung von H. Wissemann auf D. Tschizewskijs bereits angeführte Gogol'-Interpretation. Wir gehen keineswegs mit 1

a

3

A. R a m m e l m e y e r , Dostojevskij und Voltaire, in: Zeitschrift für slavische Philologie, Bd. XXVI, 1958, S. 278. Ders., Russische Literatur in Deutschland, in: Deutsche Philologie im Aufriß, 2. Überarb. Aufl., Bd. III, Berlin-Bielefeld-München 1962, Sp. 439—480. — Vgl. dazu auch die Rezension von H. G r a ß h o f f in: Deutsche Literaturzeitung, 1963, Nr. 1, Sp. 40ff. vgl. in: HaBecTHH AH CCCP, OJIhH, Bd. XVII, 1958, S. 3.

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Wissemanns Interpretation des „Mantels" in allen Punkten konform, bewerten es aber unbedingt als Positivum im Sinne einer unverfälschten Deutung dieses bedeutenden Werkes des russischen kritischen Realismus, wenn Wissemann, der Tschizewskij eklatante Verstöße gegen die Gesetze der Logik nachweist, betont: „In der Novelle ist der soziale Aspekt ganz offensichtlich." Wissemann schreibt weiter: „Nach Tschizewskij ist Akakij Akakijevic derjenige, der sich gegenüber den sittlichen Anforderungen... versündigt. Nach unserer Auffassung ist es die .bedeutende Persönlichkeit'". Sehr berechtigt weist Wissemann auch darauf hin, daß Tschizewskij s Deutung sich gegen die Interpretation richtet, wie sie von der russischen publizistischen Kritik seit Belinskij vertreten wird 1 . Dieses Eintreten für Gogol's „Mantel" als sozialkritisches Werk geht über den Rahmen einer engen fachwissenschaftlichen Polemik hinaus, richtet es sich doch gegen eine Tendenz, die nicht nur in der Slawistik, sondern allgemein in der westdeutschen Literaturkritik zu beobachten ist, nämlich das Bestreben, den Realismus für tot und überholt zu erklären. Außerordentlich fühlbar wurde diese Tendenz 1960 in zahlreichen Artikeln zum Öechov-Gedenkjahr, in denen man versuchte, Cechov als Symbolisten, Formalisten, Vorläufer des Expressionismus oder sogar als religiösen Prediger zu interpretieren. Auch in Monographien, Artikeln und den Vorworten zu Tolstoj- und Dostoevskij-Ausgaben wird die soziale Anklage fast ausschließlich negiert und in religiös verbrämte Mystik umgemünzt. Dieser Feldzug gegen den Realismus dient unter anderem dem Zweck, einen indirekten Angriff auch gegen den sozialistischen Realismus zu führen, der die großen Traditionen des kritischen Realismus auf höherer Stufe fortsetzt. Leider folgt auch „Die Welt der Slaven" kaum ihrer vielversprechenden Ankündigung, dem Westeuropäer die Welt der Slawen von Kochanowski bis Majakovskij (d. h. bis zur Sowjetliteratur unserer Tage) näherbringen zu wollen. Die passive Resistenz mancher Fachslawisten auf diesem Gebiet leistet den haarsträubendsten Verleumdungen der Sowjetliteratur Vorschub, begünstigt und ermuntert die Verfälscher der Sowjetliteratur in den Reihen der Hochschulslawisten, der Ostforschung und der Publizistik. Wie heißt es doch bei Erwin Koschmieder in der „Welt der Slaven"? Der Fachwissenschaftler „ . . . wird sein Wissen auf breitere Kreise ausstrahlen und so dazu beitragen, daß der augenblickliche Zustand einer weitgehenden Unwissenheit allmählich überwunden wird. Hier nämlich tritt eine ungeheuer gefahrvolle negative Seite dieses Zustandes mit Deutlichkeit in Erscheinung, die schon viel Unheil heraufbeschworen hat: Mangels einer eigenen wissenschaftlichen Unterrichtung unterliegt die öffentliche Meinung jeder propagandistischen Darstellung. Eine solche ist oft außerordentlich geschickt getarnt und legitimiert sich ganz einfach vor der Öffentlichkeit damit, daß die betreffende Person aus dem Osten stammt und (ganz gleich, ob und was sie studiert hat) diese Dinge ja ganz genau kennen muß." 2 1

2

H. W i s s e m a n n , Zum Ideengehalt von Gogol's „Mantel", in: Zeitschrift für slavische Philologie, Bd. XXVI, 1958, S. 408, 413, 391. E. K o s c h m i e d e r , a. a. O., S. 1—2.

Deutsche Slavistik u n d Ostforschung

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Wie sehr es darauf ankommt, nicht nur indirekt, wie die angeführten Beispiele zeigten — sondern in direkter Auseinandersetzung gegen die Entstellungen und Erfindungen über die Sowjetunion aufzutreten, soll ein Exkurs in den Wirkungsbereich jener „betreffenden Personen" zeigen, die, aus dem Osten stammend oder auch nicht, eine zum Teil geschickt getarnte perfide Propaganda in populärwissenschaftlichen Darstellungen und in der Presse betreiben. Wir hoffen, dabei aber auch nachweisen zu können, daß die Ursache dafür keineswegs in der Unwissenheit liegt, sondern eine bestimmte Absicht mit reaktionärer politischer Zielsetzung verfolgt wird. Ein typischer Vertreter derjenigen, „die aus dem Osten stammen" und ihn daher „ganz genau" kennen müssen und die mit diesem Hinweis ihren Erfindungen über die Sowjetunion das Gewicht des authentischen Berichts zu geben versuchen, ist der unrühmlich bekannte Ostspezialist Klaus Mehnert. Seine Darstellung des Lebens in der Sowjetunion ist kennzeichnend für die Methode jener antikommunistischen Propaganda, die von den führenden Kreisen Westdeutschlands betrieben wird, deshalb sei sie hier (stellvertretend für andere) in ihren Wesenszügen dargestellt 1 . Mehnerts Buch „Der Sowjetmensch" ist das Ergebnis von dreizehn Reisen in die Sowjetunion. „Selbstverständlich", wird auf dem Klappentext vermerkt, „ergänzt er (Mehnert — Ch. M.) seine Beobachtungen durch die Ergebnisse der von ihm genau verfolgten Ostforschung und auch durch Auswertung der modernen Sowjetliteratur." Ganz offensichtlich wendet sich das Buch besonders an die breiten Kreise der Bevölkerung in Westdeutschland, die sich von den Bonner Revanchisten in der Einschätzung der Sowjetunion schlecht beraten fühlen und unvoreingenommen zu erfahren suchen, was das für Menschen sind, was das für ein Staat ist, der in wachsendem Maße die Weltgeschichte bestimmt. Bei Mehnert glaubt der Leser eine objektivere Darstellung zu finden. Mehnert vermeidet die üblichen Schimpfworte, bei ihm erscheint der Russe nicht als Kinderschreck, ja der Autor betont auffallend häufig gerade seine guten persönlichen Kontakte zu russischen Menschen. Seine Konzeption ist eine andere. Mehnert geht davon aus, daß die alten Argumente an Überzeugungskraft eingebüßt haben, daß die Vertröstung aus den dreißiger Jahren, der erste sozialistische Staat werde bereits während des ersten Fünfjahrplanes zusammenbrechen, sich als Fehldiagnose erwiesen hat, daß die Version des Faschismus von Untermenschen und Pappanzern widerlegt wurde. Gegenwärtig geht es darum, und das weiß Mehnert sehr gut, den Völkern zu erklären, wie es die Sowjetunion fertiggebracht hat, die USA auch auf vielen technischen und anderen Gebieten hinter sich zu lassen. Dabei muß unwillkürlich die Frage nach dem Verhältnis des russischen Volkes und der anderen Sowjetvölker zu ihrem Staat neu aufgeworfen werden. Mehnert sucht diese Aufgabe zu lösen, die zu einem Kernproblem der ideologischen Kriegsvorbereitung und zur Lebensfrage für die westdeutsche Ostforschung geworden ist: den für die alte Welt lebensgefährlichen Einfluß der sowje1

Über Mehnerts Urteile zur Sowjetliteratur vgl. A. H i e r s c h e im vorl. Band, S. 140ff.

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tischen Erfolge zu eliminieren, das Überlegenheitsgefühl des Bundesbürgers zu stärken und den Umdenkungsprozeß in den Köpfen der Menschen aufzuhalten. Aufschlußreich ist dabei, daß er nur noch defensiv argumentiert. Mehnerts Publikationen sind als Reisereportagen, als Tatsachenberichte geschrieben, in denen er sich gern — um seine Unvoreingenommenheit zu demonstrieren — als gönnerhafter Freund des russischen Volkes ausgibt. Und in der Tat, Mehnert hat ein weites Herz. Mit besonderem Genuß erfreut er sich jedesmal in der Sowjetunion an den Schokoladenerzeugnissen des Werkes „Roter Oktober", der ehemaligen Zuckerbäckerei seines Großvaters. Die scheinbar zufällig, nur um den Amüsements willen eingestreuten Episoden erfüllen einen wichtigen Zweck: sollen sie doch zeigen, wie sehr der Autor über den Dingen steht, daß keinerlei Ressentiments seine Urteile trüben. Von einem so objektiv berichtenden Rußlandfreund erwartet der Leser am wenigsten böswillige Verleumdungen, und Mehnert kann ihn ungehindert irreführen. So darf er es sich leisten, auf die Kernfrage, was das sowjetische Volk zu solchen Leistungen befähige, zu antworten: sie seien trotz, ja im Kampf gegen die sozialistische Gesellschaftsordnung errungen worden. Die „gewissen technischen Erfolge", wie der Autor sie mißvergnügt apostrophiert, werden als Ausdruck der Konterrevolution dargestellt. Die Bolschewisten hatten nämlich laut Mehnert das gesamte Leben politisieren wollen; das sei ihnen jedoch gründlich mißlungen, da die russische Intelligenz als Reaktion darauf zu technischen. Berufen drängte. Und so bestaunt denn die Welt als rotierenden Beweis für die Niederlage des Kommunismus eine Plejade sowjetischer Sputniks und immer wieder neue sowjetische Weltraumfahrer im All. Die „Aufbaudynamik" in der Sowjetunion, die Mehnert nicht leugnet, ist nach seiner Erklärung eng verbunden mit einer Erscheinung, „die man als .technisches Pathos' bezeichnen könnte: der naive Glaube, daß alles Heil in der Entwicklung der Technik beschlossen liege. Diese mystische Überhöhung, ja Mythisierung einer uns in voller Nüchternheit erscheinenden Welt wird freilich erst verständlich, wenn man sie zugleich psychologisch deutet: Es ist die Gefühlsinbrunst eines Volkes von spezifischer Religiosität, die, von ihrer natürlichen und gewohnten Betätigung in seiner Volkskirche abgedrängt, nach neuen Gegenständen und Formen sucht." 1 Mehnert möchte mit allen Mitteln nachweisen, daß der russische Mensch, der selbst für die Begriffe eines mißgünstigen Bundesbürgers fast Unglaubliches leistete, keinesfalls mit der Sowjetmacht zu identifizieren sei. Um das glaubhaft zu machen, spürt er in der Sowjetunion sogar oppositionelle Kräfte auf. So berichtet er von einem „während des Krieges in den Westen verschlagenen Sowjetprofessor, der sich in den Jahren zuvor das Pfeifenrauchen angewöhnt hatte, weil er — nur so seinen Gesichtsausdruck im Zaume zu halten vermochte; er hatte die Beobachtung gemacht, daß die Züge um den Mund noch verräterischer sind als sogar die Augen. So stößt man immer wieder auf Menschen, die ein Doppelleben führen" 2 . 1 2

K. M e h n e r t , Der Sowjetmensch, Stuttgart 1959, S. 330f. ebd., S. 388.

Deutsche Slawistik und Ostforschung

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Mehnert schätzt diese von ihm entdeckte pfeifeschmauchende Opposition zwar selbst nicht hoch ein; aber seine Hoffnung auf „staatsgefährdende" Kräfte nicht aufgebend, warnt er immerhin davor, nicht in den Fehler Hitlers zu verfallen, der sich durch taktische Unklugheit das gesamte Volk zum unversöhnlichen Gegner gemacht habe. Mehnert möchte offensichtlich die Bonner Regierung vor den Fehlern Hitlers bewahren, dessen Ziel, die Unterjochung der Sowjetunion, auch nicht an einer Stelle des Buches angeprangert, dessen Taktik jedoch mehrfach kritisiert wird. Mehnert sieht einen großen Fehler Hitlers darin, daß er „den Kampf wohl theoretisch gegen den Bolschewismus, praktisch aber gegen das ganze russische Volk führte" 1 . Nachdrücklich erinnert er daran, daß selbst der Faschismus mit dem russischen Volk nicht fertig geworden ist und es günstiger sei, es als Verbündeten im Kampf gegen den Kommunismus, denn als Gegner zu haben. Mehnert beruft sich hierbei auf bemerkenswerte Gewährsmänner: „Den deutschen Landser hat an seinem russischen Gegenüber und auch an der Zivilbevölkerung des Landes nichts so sehr überrascht als die kaum noch faßbare Härte im Nehmen." 2 Der unüberhörbare Zynismus, der in diesen Worten mitschwingt, ist kein zufälliger Mißgriff im Ton, sondern die niederträchtige Nonchalance, mit der jemand über Verbrechen schreibt, die er zu decken hat. Wir haben Mehnert nicht zufällig so viel Raum gewidmet. Uns interessierte dabei weniger der Verfasser als vielmehr seine Methode, die uns ein Schulbeispiel für die antisowjetische Propaganda der herrschenden Kreise Westdeutschlands zu sein scheint. Es geht uns heute durchaus nicht darum, den westdeutschen Slawisten vor die Alternative zu stellen: Antikommunismus oder Bekenntnis zum Sozialismus, sondern darum, daß einer, der ein Nichtkommunist ist, begreifen muß, daß er in der gegebenen Situation kein Antikommunist sein darf, weil er durch den Antikommunismus zum Konformismus mit jenen aggressiven Kräften kommt, die das Verbrechen des Vernichtungskrieges vor allem gegen die slawischen Völker vorbereiten. Man kann heute als bürgerlicher Wissenschaftler nicht die Tradition Schlözers, Leskiens und Trautmanns weiterführen, während man gleichzeitig gegen den historischen Fortschritt ankämpft. Das ist ein unlösbarer Widerspruch. Wir wollten folgendes zeigen: Die Bestrebungen der westdeutschen Ostforschung, die Slawistik auf ihre Positionen herabzuziehen, ist die größte Gefahr für unsere Fachdisziplin. Es gibt Wissenschaftler, die glauben, daß die Herkunft der „Ostforschung" auf die Slawistik zurückzuführen sei, daß sie gewissermaßen als die jüngere legitime Schwester der Slawistik gelten dürfe. Diese gefährlich-irrige Ansicht wird von der Ostforschung bewußt genährt, ist eine solche Ansicht doch für sie das beste Alibi. In Wirklichkeit schließen Ostforschung und Slawistik einander aus, weil die Ostforschung der erklärte Feind jeder humanistischen Wissenschaft ist. Es sei hier nur als symptomatisch angeführt, daß einer der führenden Ostforscher und heuti1 2

ebd., S. 270. ebd., S. 307.

3 Wissenschaft

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gen wissenschaftlichen Berater des Münchner Instituts zur Erforschung der UdSSR, Bolko von Richthofen, während des Zweiten Weltkrieges als führendes Mitglied der NSDAP im Auftrage des Auswärtigen Amtes u. a. nachweisbar die Bibliothek der Novgoroder Altertums-Gesellschaft und des Museums in Staraja Russa vernichtet hat 1 . Und der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde gab unumwunden zu, daß es für die Ostforschung gelte, eine Lücke in der psychologischen Rüstung zu schließen2. Diese Lücke soll im Verein mit der Ostforschung gerade die Slawistik schließen helfen. Die Slawistik ist heute kein untergeordnetes Gebiet mehr in der Auseinandersetzung mit Militarismus und Imperialismus. Im Gegenteil. Schon Schmid und Trautmann hatten in Erkenntnis der humanistischen Mission ihrer Fachdisziplin bereits 1927 auf die Vermittlerrolle der Slawistik hingewiesen, die sie als „sehr verantwortungsvollen Dienst" hervorhoben. Wie verhängnisvoll aber ihr Irrtum war, daß diese Tätigkeit „abseits vom politischen Tageskampf ... den überzeitlichen Problemen der geistigen Kultur hingegeben" 3 möglich sei, mußte Trautmann selbst schmerzlich erleben, als auch ihm durch das Versäumnis, rechtzeitig gekämpft zu haben, die Möglichkeit genommen wurde, „die Doppeltätigkeit des deutschen Slawisten", ihre „Wirksamkeit als Forscher und Vermittler" 4 auszufüllen. Brutal unterband der Faschismus die von Trautmann so richtig erkannte Vermittlertätigkeit, die auszufüllen er selbst durch die Absage ans richtige Handeln versäumt hatte. „Der Mensch, der sich bloß erkennend verhält, kommt nie zur Einheit", schreibt Ricarda Huch, „weil es nur unendliche Möglichkeiten für ihn gibt; erst handelnd begrenzt er sich und wird dadurch ein einheitliches Selbst. I m Innern des bloß erkennenden Menschen ist ein Abgrund, der ihn verschlingt, handelnd schließt er den Riß, der durch sein Inneres und zugleich durch seine Welt geht." 5 Nicht zuletzt an den deutschen Slawisten wird es liegen, ob nochmals in der Geschichte ihrer Fachdisziplin ein Wissenschaftler gezwungen sein wird, wie einst Reinhold Trautmann, einen Aufsatz über Turgenev jahrelang im Schreibtisch zu verbergen, denn er durfte „nach dem Überfall Hitlers auf Sowjetrußland nicht gedruckt werden, da man ja dem deutschen Volk vorreden wollte, Rußland hätte nie eine nennenswerte Kultur besessen .. ," 8 Wem wollen es die westdeutschen Slawisten überlassen, für sie das freie Betätigungsfeld zu verteidigen oder zu erkämpfen? Müssen sie es nicht in eigner Sache tun? Handeln heißt aber in diesem Falle, sich frei zu machen von dem alten verhängnisvollen Erbe der politische Aktivität verachtenden Wissenschaft, die tief in der bürgerlichen Erziehung wurzelt. 1

2 3 5

6

B. S p i r u , in: Jahrbuch für Geschichte der UdSSR und der volksdemokratischen Länder Europas, Berlin, Bd. III, 1959, S. 50. ebd., S. 37. 4 vgl. S c h m i d , T r a u t m a n n , a. a. O., S. lOf. ebd. R. H u c h , zitiert nach H. H a u p t m a n n , Kunst in unserem Leben, in: Neue Deutsche Literatur, 1961, Nr. 12, S. 103. R. T r a u t m a n n , Turgenjew und Tschechow, Leipzig 1948, S. 7.

Deutsche Slawistik und Ostforschung

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Der große Humanist und Verehrer russischer Kultur, Thomas Mann, bekannte 1939 an der Schwelle des Zweiten Weltkrieges, indem er seinen noch 1918 geäußerten, an die erwähnte Position Trautmanns gemahnenden Standpunkt revidierte : „Mein persönliches Bekenntnis zur Demokratie geht aus einer Einsicht hervor, die gewonnen sein wollte und meiner deutsch-bürgerlich-geistigen Herkunft und Erziehung ursprünglich fremd war: der Einsicht, daß das Politische und Soziale ein Teilgebiet des Menschlichen ausmacht, daß es der Totalität des humanen Problems angehört, vom Geiste in sie einzubeziehen ist, und daß diese Totalität eine gefährliche, die Kultur gefährdende Lücke aufweist, wenn es ihr an dem politischen, dem sozialen Element gebricht." 1 Die Frage nach der öffentlichen Verantwortung der Wissenschaft ist für die westdeutsche Slawistik wie für jede andere Gesellschaftswissenschaft brennend und unaufschiebbar. Sie kann am wenigsten der Entscheidung in der Grundfrage unserer Zeit, der Frage nach Krieg oder Frieden, ausweichen. Es ist heute für die Slawistik nicht mehr möglich, den Versuch zu wiederholen, sich auf die reine, unpolitische Philologie zurückzuziehen, wie man es noch in der Regel im günstigsten Falle während der Nazizeit praktizierte, und so in der Etappe den Kampf um Bestand oder Untergang der Menschheit zu überdauern. Einer Entscheidung, einem politischen Bekenntnis kann heute kein deutscher Slawist aus dem Wege gehen. 1

Th. Mann, Kultur und Politik, in: Gesammelte Werke, Bd. 12: Zeit und Werk. Tagebücher, Reden und Schriften zum Zeitgeschehen, Berlin 1956, S. 828.

3*

D r . E . HEXELSCHNEIDER

Slawistik und Nation Bemerkungen

zu einigen Tendenzen und

in der westdeutschen Slawistik

Erscheinungen

der letzten Jahre

„Es gibt keinen unpolitischen Gelehrten und wissenschaftlichen Arbeiter in dem Sinn, daß ihn das politische Leben und Streben der Völker nichts anginge. Wir müssen und dürfen von unseren Slawisten verlangen, daß sie neben den Kenntnissen ihres eigentlichen gelehrten Studienbereiches auch ein präzises Wissen von allen Lebensfragen der slawischen Völker innehaben und daß dieses politische Wissen die geistige Haltung des Slawisten b e s t i m m t . . . Wir wollen uns dagegen zur Wehr setzen, daß die Wissenschaft der Slawistik für die Zwecke der Kriegsvorbereitimg mißbraucht wird. Auch die Antwort auf die Frage, warum das nötig ist, ist kurz und bündig: weil der Krieg unsere große Wissenschaft vernichten würde." 1 I m Sinne dieser aufrüttelnden Worte von Akademiemitglied H. H. Bielfeldt haben die Slawisten der DDR in den vergangenen Jahren immer stärker den Kampf gegen den Mißbrauch unserer Wissenschaft durch die imperialistische Ostforschung und einen Teil der westdeutschen Slawistik geführt. Bereits auf der 1. Literaturwissenschaftlichen Arbeitstagung der Slawisten der DDR im Frühjahr 1959 in Leipzig umriß H. Jünger die völkerverbindende Mission der sozialistischen Slawistik in der DDR und erhob die Bekämpfung der reaktionären Ostforschung (auch insoweit sie im Rahmen der Slawistik auftritt) zu einem der dringendsten Anliegen eines jeden fortschrittlichen Wissenschaftlers 2 . In Fortführung dieser Beratung fand im Sommer des gleichen Jahres eine Arbeitstagung am Institut für Slawistik der Deutschen Akademie der Wissenschaften statt, deren Resultate in dem Sammelband „,Ostforschung' und Slawistik" zusammengefaßt wurden 3 . I n 1

2

3

H. H. B i e l f e l d t , Zur Eröffnung, in: „Ostforschung" und Slawistik. Kritische Auseinandersetzungen. Hrsg. von der Literarhistorischen Abteilung des Instituts für Slawistik der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin unter Leitung von G. Ziegengeist, Berlin 1960, S. 11. H. J ü n g e r , Slawistik und Literaturwissenschaft. Zur Interpretation der russischen und sowjetischen Literatur, in: Zeitschrift für Slawistik, Bd. IV (1959), S. 475—496. — Im folgenden wird diese Zeitschrift stets abgekürzt: ZfSl, Bandzahl (Jahr). Autoren dieses Bandes sind H. H. Bielfeldt, R. Goguel, G. Ziegengeist, N. Ludwig, E. Weiß, A. Hiersche, K. Dornacher, E. Wolf, H. Graßhoff und G. Jonas. — Vgl. dazu die Besprechungen von J. K a i i s c h in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 1961, Nr. 2, S. 481 ff.; H./M. in: Sonntag, 1960, Nr. 42, S. 7; R. D a n i l e v s k i j in: PyccKaH JiHTepaTypa, 1961, Nr. 2, S. 221 und Nr. 4, S. 215—218; A. G r i g o r ' e v in: ebd., 1963, Nr. 1, S. 190; M. W e g n e r in: Deutsche Literaturzeitung, 1962, Nr. 3, Sp. 2 2 4 - 2 2 8

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der Folge wurde die Auseinandersetzung mit antihumanistischen Ideen und Theorien in der westdeutschen Literatur- und auch Sprachwissenschaft bei vielen Slawisten unserer Republik zu einem Arbeitsprinzip. Daneben erschienen aber auch speziellere Aufsätze zu Einzelthemen sowie verschiedene Rezensionen und Literaturübersichten1. Zu dem bisher bedeutendsten wissenschaftspolitischen Ereignis wurde die internationale Konferenz „Slawistik und ideologische Kriegsvorbereitung in Westdeutschland", veranstaltet vom Institut für Slawistik der Deutschen Akademie der Wissenschaften, die unter starker Beteiligung sowjetischer, polnischer, tschechischer und bulgarischer Gelehrter im Sommer 1960 stattfand 2 . Auch die 2. Literaturwissenschaftliche Arbeitstagung, die die Slawisten der DDR im Februar 1962 erneut in Leipzig vereinte, widmete der gesellschaftlichen Stellung der Slawisten in Ost und West und der Bekämpfung unwissenschaftlicher und reaktionärer Auffassungen breiten Raum 3 . In den letzten Jahren hat sich die Lage in der Welt und auch in Deutschland weiterhin zugunsten des Friedens und des Sozialismus verändert. Der Sozialismus wird zum entscheidenden Faktor der historischen Entwicklung und übt einen immer stärker werdenden Einfluß auf die um ihre Befreiung vom Kapitalismus kämpfenden Volksmassen in den nichtsozialistischen Ländern aus. In Deutschland äußert sich dieser Kampf zwischen Krieg und Frieden in einer weiteren Zu-

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(im folgenden wird abgekürzt: DLZ); V. V. P r o z o r o v in: Bonpocu oJiaBHHCKoft ijffljioJiorHH, Saratov, 1963, S. 266—275. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, seien hier nur (ohne kleinere Artikel in Tages- und Wochenzeitungen sowie Rezensionen) einige der wichtigsten Arbeiten gen a n n t : P. H o f f m a n n , Radisßevliteratur in Westdeutschland, in: ZfSl VI (1961), S. 120ff.; H. J ü n g e r , Bemerkungen zur Interpretation der russischen und sowjetischen Literatur in Westdeutschland, in: Wiss. Zs. der Karl-Marx-Univ. Leipzig, GSR, 10. J g . , 1961, Nr. 1, S. 19ff.; E. H e x e l s c h n e i d e r , Über die erkenntnistheoretische Bedeutung der Literatur und ihre reaktionäre Interpretation durch die „Ostforschung", in: ebd., S. 23ff.; K. B u t t k e , Die Weltbedeutung des Russischen, in: ebd., Nr. 3, S. 389ff.; d e r s . , Zu den Erziehungszielen des russischen Sprachunterrichts in Westdeutschland, in: ebd., 11. Jg., 1962, Nr. 4, S. 845ff.; P. F r e t w u r s t , Zum erzieherischen Charakter des Russischunterrichts in Westdeutschland und Westberlin, in: Fremdsprachenunterricht, 6. Jg., 1962, Nr. 12, S. 746ff. Das Slawische Institut der Friedrich-Schiller-Universität veranstaltete im Herbst 1960 eine Konferenz zur Auswertung der Berliner Tagung u n d veröffentlichte einige wesentliche Beiträge als Manuskriptdruck, so das Hauptreferat von Ch. S t u l z ( - M ü c k e n b e r g e r ) , Slawistik und ideologische Kriegsvorbereitung in Westdeutschland, und die Beiträge von M. W e g n e r , G. S c h a u m a n n , A. H i e r s c h e in: Wiss. Zs. der Friedrich-SchillerUniv. Jena, GSR, J g . 10, 1960/61, Nr. 1. Ebendort wurden auch weitere Beiträge der Jenaer Konferenz publiziert. Der Beitrag von M. W e g n e r über Setschkareff erschien auch in: PyccuaH JiHTepaTypa, 1961, Nr. 2, S. 222ff., der von S. W o l l m a n , Zur Frage der vergleichenden slawischen Literaturwissenschaft, in: ZfSl VI (1961), S. 211 ff. vgl. H. J ü n g e r , Wesen und Aufgaben der deutschen slawistischen Literaturwissenschaft, in: ZfSl V I I (1962), Nr. 4, Beilage.

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spitzung des Klassenkampfes, wobei sich auf der einen Seite der Imperialismus, auf der anderen nationale Interessen, Demokratie und Sozialismus als unversöhnliche Gegensätze gegenüberstehen 1 . Der westdeutsche Militarismus bildet gegenwärtig die größte Gefahr für den Frieden in Europa, da er sich durch besondere Raubgier und Aggressivität auszeichnet. Hand in Hand mit einer verstärkten Aufrüstung erfolgt die psychologische Einwirkung auf die westdeutsche Bevölkerung durch eine raffinierte Propaganda. Der westdeutsche Bürger soll politisch-ideologisch, moralisch und psychologisch im Interesse der aggressiven Strategie der westdeutschen Militaristen beeinflußt werden 2 . Dabei ist die wichtigste Waffe des westdeutschen Imperialismus der Antikommunismus, „dessen Hauptinhalt die Verleumdung der sozialistischen Gesellschaftsordnung sowie die verfälschte Darstellung der Politik und der Ziele der kommunistischen Parteien und der marxistisch-leninistischen Lehre ist" 3 . Der zweimal geschlagene, unbelehrbare deutsche Imperialismus will abermals Revanche nehmen, um seine aggressiven Annexionspläne durchzusetzen. Die Ereignisse des 13. August 1961 haben aber deutlich gezeigt, daß diese Revanchepolitik des westdeutschen Imperialismus dank der Existenz der Deutschen Demokratischen Republik ein für allemal gescheitert ist. Das beginnen auch gewisse Kreise der westdeutschen Großbourgeoisie zu begreifen, die das Risiko des Atomkrieges scheuen und die Revanchepolitik für aussichtslos halten. Diese Meinungsverschiedenheiten spiegeln — nach einem Wort Walter Ulbrichts — „letztlich den tiefen Gegensatz zwischen den friedlichen Interessen der Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung und den Kriegsinteressen der militaristischen Ultras wider" 4 . Dennoch verzichten die extrem militaristischen Kräfte in der Bundesrepublik nicht aus freiem Willen auf ihre Eroberungsziele, sondern bemühen sich, die internationale Situation weiter zu verschärfen. Zur Vorbereitung ihrer aggressiven Pläne bedienen sich die westdeutschen Imperialisten nicht nur militärischer Provokationen, Spionage, wirtschaftlicher Sabotage und Terrorakte. Eine bedeutende Rolle fällt im gegenwärtigen Klassenkampf der psychologischen Kriegführung zu. Innerhalb eines Systems von zentralgeleiteten Dienststellen und Propagandainstitutionen hat die revanchistische Ostforschung die Aufgabe, das Eroberungsstreben des westdeutschen Militarismus „wissenschaftlich" zu begründen. Wo stehen in diesen Auseinandersetzungen um die Grundprobleme unserer Zeit, die sich in der Wissenschaft direkt oder indirekt widerspiegeln, die Vertreter der deutschen Slawistik? Nehmen sie teil an den Kämpfen unserer Tage? 1

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vgl. W. U l b r i c h t , Der XXII. Parteitag der KPdSU und die Aufgaben in der Deutschen Demokratischen Republik. Bericht auf der 14. Tagung des ZK der SED, Berlin 1961, S. 31. vgl. G. Z a z w o r k a , Psychologische Kriegführung. Eine Darlegung ihrer Organisation, ihrer Mittel und Methoden, Berlin 1961, S. 33 und bes. S. 317ff. Programm und Statut der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Berlin 1961, S. 49. W. U l b r i c h t , Referat: Das Programm des Sozialismus und die geschichtliche Aufgabe der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Berlin 1963, S. 37.

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Die Slawistik als Hochschulfach ist, worauf auch die westdeutsche Slawistin M. Woltner 1947 unter Bezug auf Karl Krumbacher hinwies, aus politischen Gründen entstanden 1 . I n ihr spiegelten sich mehr oder weniger deutlich die jeweiligen weltanschaulichen Ansichten, die fortschrittlichen oder reaktionären Auffassungen jener Schichten und Kreise wider, deren Meinung die Slawisten direkt oder indirekt vertraten. Schon vor 1945 vereinigte die deutsche Slawistik in sich solche Antipoden wie Arthur Luther, der in der Literaturwissenschaft nach der Oktoberrevolution zu einem bösartigen Verleumder der Sowjetunion wurde 2 , und Georg Sacke, den Osteuropahistoriker, der als überzeugter Antifaschist und Widerstandskämpfer die deutsche Slawistik vor der nazistischen Barbarei verteidigte 3 . Die Entwicklung in Deutschland nach 1945 — insbesondere der Anschluß der Bundesrepublik an die NATO und die damit verbundene Vertiefung der Spaltung Deutschlands durch die westdeutschen Militaristen — war nicht zur Schaffung einer einheitlichen deutschen Slawistik angetan. Die Bildung von zwei Staaten mit unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen, der sozialistischen Deutschen Demokratischen Republik und der imperialistischen Bundesrepublik, hatte weittragende Folgen für das Schicksal der Slawistik in Deutschland. Mit Recht spricht deshalb H. H. Bielfeldt von einer neuen Phase in der Geschichte der deutschen Slawistik 4 . Tatsächlich entwickelte sich aber nur in der DDR die Slawistik aus der exklusiven Enge, aus einer im Schatten der westeuropäischen Philologien stehenden „Kathederwissenschaft" 5 immer mehr zu einer wahren Volkswissenschaft, gestützt auf das feste Bündnis mit der Arbeiterklasse und getragen von der Fürsorge der Arbeiter-und-Bauern-Macht. Vor dem Slawisten stand und steht die Aufgabe, „dem ganzen Volk lebendige Kenntnisse von den slawischen Völkern zu vermitteln und mit den spezifischen 1

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in: Colloquium, 1. Jg., Nr. 7, Nov. 1947, S. 18ff. So auch D. G e r h a r d t in: Osteuropa, 1954, Nr. 4, S. 247, und andere Slawisten. — Die Ausarbeitung eines Überblicks über die deutsche Hochschulslawistik und ihre Rolle im geistigen Leben Deutschlands von ihren Anfängen bis zur Gegenwart muß als dringliche Aufgabe der sozialistischen deutschen Slawistik angesehen werden. Über die bisher geleisteten Vorarbeiten und die notwendigen Aufgaben in der DDR vgl. H. H. B i e l f e l d t , Materialien und Begriffe der Geschichte der Slavistik in Deutschland, mit besonderer Berücksichtigung der Deutschen Demokratischen Republik, in: Wiener Slavistisches Jahrbuch, Bd. VIII, 1960, S. 28ff. vgl. dazu ausführlich E. W o l f g r a m m , Slawisten in der Ostforschung, in: Auf den Spuren der „Ostforschung". Wiss. Zs. der Karl-Marx-Univ. Leipzig, GSR, Sonderband I, Leipzig 1962, S. 157 ff. vgl. M. U n g e r , Georg Sacke — ein Kämpfer gegen den Faschismus, in: Karl-Marx-Universität Leipzig 1409—1959, Bd. 2, Leipzig 1959, S. 307—330, und die biographischen Notizen in: Jahrbuch für Geschichte der UdSSR und der volksdemokratischen Länder Europas, Berlin. Bd. 5, 1961, S. 201 ff. H. H. B i e l f e l d t , a. a. O., S. 30. H. F. S c h m i d , R. T r a u t m a n n , Wesen und Aufgaben der deutschen Slavistik, Leipzig 1927, S. 14.

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Mitteln (unserer Wissenschaft — E. H.) zum geistigen und moralischen Wachstum aller Bürger beizutragen" 1 . Die Einführung des obligatorischen Russischunterrichts an den allgemeinbildenden Schulen und Hochschulen muß als nationale Tat unseres Volksbildungswesens und der noch jungen Slawistik angesehen werden. Mit dem Aufbau des Sozialismus in der DDR wurde auch die Slawistik immer mehr zu einer Wissenschaft, die dem Frieden und der sozialistischen Umgestaltung dient, die ihre K r a f t in den Dienst der Völkerverständigung und der brüderlichen Zusammenarbeit mit den befreundeten sozialistischen slawischen Ländern gestellt hat. Einheitlich und geschlossen arbeiten die Slawisten der DDR an der Festigung der freundschaftlichen Verbindungen zu allen slawischen Völkern. Hier ist kein Platz mehr für Revanchismus und reaktionäre Ostforschung. Deshalb kann die junge sozialistische Slawistik der DDR mit Fug und Recht für sich in Anspruch nehmen, rechtmäßige Erbin der besten Traditionen der deutschen Slawistik zu sein 2 . Gleichzeitig aber bildet sie die wahre Heimstatt für alle demokratischen und friedliebenden Slawisten der Bundesrepublik, ungeachtet ihrer Weltanschauung. Die Slawistik der DDR eint mit den demokratischen Kräften in der westdeutschen Slawistik die Liebe zu den slawischen Völkern, zu ihrer Sprache und Kultur, das Streben nach echter wissenschaftlicher Erkenntnis und der Abscheu gegen alle Verleumdungen und Entstellungen. Die westdeutsche Slawistik ist in ihrer Zielsetzung uneinheitlich. Das wird auch von führenden Slawisten der Bundesrepublik anerkannt. So sprach der inzwischen verstorbene Gelehrte Max Vasmer 1956 von zwei Kategorien westdeutscher Slawisten, den Wissenschaftlern mit einseitiger (d. h. reaktionärer) Orientierung und den sogenannten objektiven Wissenschaftlern 3 . Auch Maximilian Braun erwähnte die Existenz verschiedener Richtungen und Strömungen innerhalb einer, wie er sagte, „slavistischen Welle" 4 , die zur Einrichtung von Slawischen Seminaren an allen westdeutschen Universitäten führte. Es erschien eine Reihe von Publikationen, vor allem linguistischer Art, etwa aus dem Kreis der Schüler Max Vasmers, Erwin Koschmieders, Alfred Rammelmeyers, Maximilian Brauns und Alois Schmaus', die an die Errungenschaften der bürgerlichen Vorkriegsslawistik anknüpfen. So sind u. E. die objektiven sprachwissenschaftlichen und zum Teil auch literaturwissenschaftlichen Untersuchungen in der „Zeitschrift für slavische Philologie" und in der „Welt der Slaven" oder die literaturwissenschaftlichen Arbeiten der Reihe „Frankfurter Abhandlungen zur Slavistik" 6 u. a. aufzufassen. 1

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H. J ü n g e r , Wesen und Aufgaben der deutschen slawistischen Literaturwissenschaft, a. a. O., S. 7. vgl. E. H e x e l s c h n e i d e r / H . J ü n g e r / R . R t i £ i ö k a / H . S c h u s t e r - S e w c , Der geschichtliche Auftrag des deutschen Slawisten, in: ZfSl YII (1962), S. l f f .

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i n : CnaBHHe, 1956, N r . 8, S. 13.

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in: Wiener Slavistisches Jahrbuch, Bd. VIII, 1960, S. 114. Hier u . a . M. F i s c h b a c h - P o s p e l o w a , Polnische Literatur in Deutschland, Meisenheim am Glan 1960 — vgl. hierzu die Rezension von A. H e r m a n n in: DLZ, 1961, Nr. 3, Sp. 239—244; L. V e n o h r , Thomas Manns Verhältnis zur russischen Literatur, Meisen-

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Gleichzeitig aber trägt der immer stärker werdende geistige Druck in der Bundesrepublik zu einer schnelleren Differenzierung der Kräfte auch innerhalb der Slawistik bei. Die von Bonn ausgehaltene Ostforschung strebt nach einer — wie E. Wolfgramm formulierte — „generellen Einbeziehung der westdeutschen Slawistik" in ihre Konzeptionen 1 . Schon 1959 wurde in der Zeitschrift „Osteuropa" von F. W. Neumann das „Programm der vollständigen Kapitulation und der Absorbierung der westdeutschen Slawistik durch die .Ostforschung'"2 entworfen. Diesen Bestrebungen leisten leider die meisten westdeutschen Slawisten keinen ausreichenden Widerstand. Sie stärken durch ihr Schweigen oder dadurch, daß sie Institutionen und Organen der Ostforschung ihren Namen leihen, bewußt oder unbewußt die reaktionären Kräfte in der Slawistik und Ostforschung. Auch stillschweigende Duldung reaktionärer Ziele und Ideen kann zum Untergang unserer Wissenschaft führen. Die Situation, wie sie sich in den letzten Jahren in der westdeutschen Slawistik herausgebildet hat, wird treffend im nationalen Dokument „Die geschichtliche Aufgabe der Deutschen Demokratischen Republik und die Zukunft Deutschlands" gekennzeichnet: „Gewiß gibt es in Westdeutschland heute noch manche gute Tradition der geschichtlich überlieferten deutschen Kultur, und es gibt auch in Westdeutschland fortschrittliche Vertreter der Wissenschaft und Kultur, die ehrlich bemüht sind, im Interesse eines demokratischen humanistischen Deutschland neue Wege zu gehen. Aber unter der Herrschaft der Imperialisten, der Militaristen und des politischen Klerikalismus dringen diese positiven Bemühungen nicht durch. In der Regel werden sie erstickt von den antihumanistischen Einflüssen des deutschen Militarismus, des Klerikalismus und der Unkultur des amerikanischen Imperialismus."3 Einer der Hauptvertreter dieses alten Ungeistes unbewältigter Vergangenheit ist der in den letzten Jahren durch objektive wissenschaftliche Forschung kaum hervorgetretene, auf politischem Gebiet dafür um so agilere Mainzer Slawist Friedrich Wilhelm Neumann 4 . Er veröffentlichte bereits 1926 ein revanchistisches Programm, das sich in nichts von dem anderer Ostlandritter unterschied und das schon 1918 Arthur Luther aufgestellt hatte 5 . Im Jahre 1938 wurde er zum Wortführer einer nazistisch ausgerichteten Slawistik. In seinem Aufsatz „Das Slaventum und die deutsche Slavistik" formulierte er das faschistische Programm für

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heim am Glan 1959 — vgl. hierzu die Rezension von A. H o f m a n in: ZfSl VII (1962), S. 415ff.; H.-B. H ä r d e r , Studien zur Geschichte der russischen klassizistischen Tragödie 1747 — 1769, Wiesbaden 1962. — Über den Herausgeber der Reihe, A. Rammelmeyer, vgl. H. G r a ß h o f f in: DLZ, 1963, Nr. 1, Sp. 40ff. E. W o l f g r a m m , a. a. 0., S. 155. ebd., S. 156; vgl. Osteuropa, 1959, Nr. 12, S. 773 ff. Das nationale Dokument, S. 37 f. ( = Schriftenreihe des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik, Nr. 3/1962). Über F. W. Neumann vgl. vor allem E. W o l f g r a m m , a. a. O., S. 154ff., undE. Weißin: „Ostforschung" und Slawistik, Berlin 1960, S. 57 ff. vgl. E. W o l f g r a m m , a. a. O., S. 161.

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eine Wissenschaft, die völlig dem Macht- und Eroberungsstreben des deutschen Militarismus untergeordnet war 1 . Wir sind weit davon entfernt, irgendeinem Wissenschaftler wegen der Teilnahme am letzten Kriege oder wegen früher gemachter Fehler Vorwürfe zu machen, wenn er aus ihnen gelernt hat und heute demokratische Positionen einnimmt 2 . Aber Neumann gehört zur Kategorie der Unverbesserlichen. Er beharrte auf seinen slawenfeindlichen Auffassungen und konnte gleich nach 1945 seine verleumderischen und völlig unwissenschaftlichen Artikel über die Aufgaben der Slawistik 3 und später über die Periodisierung der russischen und sowjetischen Literaturwissenschaft und die Entwicklung der Sowjetliteratur veröffentlichen 4 . Seine politischen Ansichten paßte er geschickt den Bedingungen des heutigen Westdeutschland an, indem er die Slawistik erneut der imperialistischen Ostforschung unterwerfen wollte. Aber er ist auch um größere Massenwirkung bemüht, weshalb er wiederholt in den Blättern der Landsmannschaften publiziert. I n einem Artikel „Der Ansatzpunkt für eine aktive Ostpolitik", der bezeichnenderweise in dem in hoher Auflage erscheinenden Revanchistenblatt „Unser Danzig" aus dem „Ost-West-Kurier" nachgedruckt wurde, entwikkelt Neumann völlig offen die Ideen des Revanchismus, die er ganz im Sinn der herrschenden westdeutschen Kreise unter dem Deckmantel der Europa-Idee verwirklichen möchte. Er sieht den Ansatzpunkt für eine aktive Ostpolitik, wie er sie versteht, in der Loslösung einzelner Länder aus dem sozialistischen Weltlager, da diese „nur durch Druck und Drohungen unter die Herrschaft Moskaus" geraten seien 5 . Neumann trifft sich hier mit den Ansichten des ehemaligen Bonner Kriegsministers Franz Joseph Strauß, der bekanntlich verkündete: „Wir müssen immer daran denken, daß ja die Völker hinter dem Eisernen Vorhang in überwiegender Mehrheit nicht mit ihren Regierungen und ihren Zwangssystemen übereinstimmen. Diese Völker sind also unsere Bundesgenossen." 6 Neumann fährt in 1 2

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in: Geist der Zeit, 16. Jg., 1938, Nr. 9, S. 618ff. Dabei ist nicht zu übersehen, daß einige deutsche Slawisten während des zweiten Weltkrieges führend exponiert waren, vgl. E. W o l f g r a m m , a. a. O., S. 161 ff. in: Göttinger Universitäts-Zeitung, 2. Jg., 1947, Nr. 8 vom 21. III., S. 8f. vgl. Neumanns Arbeiten: Sowjetrussische Literaturtheorie seit 1917, in: Europaarchiv, Jg. 7, 1952, Nr. 22/23, S. 5333—5336; Die formale Schule der russischen Literaturwissenschaft und die Entwicklung der russischen Literaturtheorien, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 29. Jg., 1955, Nr. 1, S. 99 — 121; Die Entwicklung der russischen Literatur unter dem Sowjetregime, in: Das Sowjetsystem in der heutigen Welt. Schriften des Auslands- und Dolmetscherinstituts der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz in Germersheim, Bd. II, München 1956, S. 139-163. Uns stand nur der Nachdruck in „Unser Danzig", 12. Jg., 1960, Nr. 17, S. 2, zur Verfügung, dessen Exzerption liebenswürdigerweise A. Hiersche, Berlin, übernahm. — Ein weiterer Artikel unter dem Titel „Die deutschen Ostgebiete und die deutsche Ostpolitik" in: Der Convent. Akademische Monatsschrift, Mannheim, 12. Jg., 1961, S. 33 bis 37 war uns nicht zugänglich. in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Bonn, Nr. 107 vom 14. 6. 1961, S. 1032.

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dem erwähnten Aufsatz fort: „Das Streben all dieser Völker, in freier Selbstbestimmung ihre eigene Lebensordnung zu gestalten, muß auch Deutschland sich zu eigen machen." 1 Aus dieser Sicht sucht er für die Einrichtung von speziellen westdeutschen Rundfunkstationen für die Volksdemokratien und für Kontakte mit Emigrantenorganisationen zu werben. Um sowohl die ultrareaktionäre „großdeutsche" Konzeption der westdeutschen Landsmannschaften als auch die berechtigte Furcht selbst der Emigranten vor dem deutschen Revanchismus auf einen Nenner zu bringen, schreibt er deshalb in dem genannten Blatt: „Eine Preisgabe deutscher Rechtsansprüche wäre falsch... Wohl aber sind Lösungen in größerem, z. B. europäischem Rahmen denkbar." 2 Neumann setzt hier die Ideen des in der Bohemistik durch seine Tätigkeit im faschistischen „Protektorat" stark kompromittierten Konrad Bittner fort. Dieser hat schon 1954 das Minimal- und Maximalprogramm des westdeutschen Revanchismus formuliert und von der „Möglichkeit eines Ausgleichs in der Zukunft" geträumt 3 . Kein ehrlicher, nationalbewußter Slawist wird nach zwei Weltkriegen, die vor allem gegen unsere östlichen Nachbarn gerichtet waren, mit diesen „Wissenschaftlern" etwas zu tun haben wollen. Deshalb gilt auch für die westdeutschen Slawisten, was im nationalen Dokument warnend erklärt wurde: „Das westdeutsche Bürgertum sollte sich rechtzeitig von den Militaristen und Scharfmachern in den eigenen Reihen trennen und sich damit selbst den Weg einer friedlichen Entwicklung frei machen." 4 Aber auch andere westdeutsche Slawisten unterstützen gewollt oder ungewollt (ohne daß wir sie mit den genannten „Wissenschaftlern" gleichsetzen!) indirekt Thesen der revanchistischen Ostforschung. Das zeigt sich besonders in einer ständigen Abwertung der russischen klassischen Literatur, ihrer religiös-mystischen Ausdeutung, in der abfälligen Beurteilung der Sowjetliteratur und in der Trennung von Literatur und Wirklichkeit, da soziale Inhalte mit echter künstlerischer Gestaltung unvereinbar seien. I n Veröffentlichungen sowjetischer und deutscher Slawisten wurden derartige Auffassungen, wie sie etwa von Wilhelm Lettenbauer oder — in gemäßigter Form — von Maximilian Braun vertreten werden, bereits einer umfassenden Kritik unterzogen 5 . Natürlich gehören hierher auch die den 1 2 3

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Unser Danzig, a. a. 0., S. 2. ebd. in: Sowjetzone, Osten, Ostkunde in Erziehung und Unterricht. Hrsg. v. J. Lohmüller, Trier 1954, S. 1 - 1 0 . - Über Bittner vgl. S. W o l l m a n in: ZfSl VI (1961), S. 214ff.; ders. in: Slavia, 26. Jg., 1957, S. 472 und (ohne Namensnennung, aber in sehr sorgfältiger Darstellung) A. D o s t ä l in: Zeitschrift für slavische Philologie, Bd. X X X , 1962, Nr. 2, S. 420. Das nationale Dokument, a. a. O., S. 50. vgl. u.a. K. D o r n a c h e r in: „Ostforschung" und Slawistik, S. 85ff.; V. I. K u l e s o v in: IIpoTHB 6ypjKya3Hbix H peBH3HOHHCTCKHx KOHijermHit pyccKolt jiHTepaTypu, Moskau 1963, S. 43ff.; R. D a n i l e v s k i j in: PyccKan JiHTepaTypa, 1961, Nr. 2, S. 210ff.; vgl. auch den Beitrag von E. W e i ß im vorl. Band.

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wahren Ideengehalt der russischen Literatur verdunkelnden Theorien eines Dmitrij Tschizewskij1 und die prononcierten Analysen der russischen Symbolisten, wie sie Johannes Holthusen vorgenommen hat 2 . Allerdings akzeptieren nicht alle westdeutschen Slawisten diese von der Wirklichkeit wegführenden Interpretationen, wie die zwischen Heinz Wissemann einerseits und Tschizewskij und Holthusen andererseits geführte Kontroverse um Gogol's „Mantel" zeigte 3 . Entscheidend für die Meinungsbildung über die Entwicklung der russischen und sowjetischen Literatur sind aber doch in erster Linie die Werke der beiden heute in den USA tätigen Weißemigranten Vsevolod Setschkareff4 für das 19. und Gleb Struve 5 für das 20. Jahrhundert, in denen die in der reaktionären westlichen Slawistik herrschenden literaturwissenschaftlichen Dogmen ihren komprimierten Ausdruck gefunden haben. Setschkareff bemüht sich sogar, jedes ehrliche wissenschaftliche Streben anderer Slawisten in Verruf zu bringen und in die Bahnen mystisch-religiöser Spekulationen zu lenken. Das beweist u. E. seine unlängst veröffentlichte Rezension 6 zu Erwin Wedels Buch „Die Entstehungsgeschichte von L. N. Tolstojs ,Krieg und Frieden'", das von der sowjetischen Kritik wohlwollend aufgenommen wurde7. M. Vasmer hatte bereits in seiner Begrüßungsansprache an den IV. Internationalen Slawistenkongreß in Moskau indirekt den Widerspruch in der westdeutschen Slawistik erkennen lassen, der darin besteht, daß einerseits nach dem Krieg viele neue Lehrstühle für Slawistik gegründet wurden, andererseits aber die Propagandainstitutionen der Ostforschung die stärkste finanzielle Unterstützung erhalten. Zugleich wies er auf die verhängnisvollen Polgen der verständigungsfeindlichen Politik der Bundesrepublik hin: „Wir bemühen uns auch heute, unser Fach unter bescheideneren Verhältnissen als früher zu fördern und haben in den letzten Jahrzehnten besonders schmerzlich die Beziehungen zu den slavischen Ländern vermißt, die auch jetzt für die junge Generation leider sehr erschwert sind."8 Es ist sicher nicht zufällig, daß immer mehr westdeutsche Slawisten aus der langjährigen Isolierung nach Kontakten mit den sozialistischen Ländern suchen, wie das durch die zunehmende Zahl von Studienreisen von Wissenschaftlern und Studenten, durch die Verpflichtung von Gastlektoren aus slawischen Ländern an westdeutsche Slawische Seminare und durch andere Tatsachen bewiesen wird. 1

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vgl. den Beitrag von H. Gr aß h o f f im vorl. Band sowie die Beurteilung von P. N. B e r k o v in: üpoßjieMH pyccKoro üpocBemeHHH B jiHTepaType XVIII Bena, Moskau-Leningrad 1961, S. 25. vgl. R. D a n i l e v s k i j , a. a. O., S. 215f. vgl. ebd., S. 212f. vgl. den Beitrag von M. W e g n e r im vorl. Band. Über Struve vgl. N. L u d w i g in: „Ostforschung" und Slawistik, S. 46ff. in: Zeitschrift für slavische Philologie, Bd. X X X , 1962, Nr. 2, S. 437ff. vgl. S. R o z a n o v a in: Bonpocu JiHTepaTypu, 1962, Nr. 10, S. 214ff. IV MejKjjyHapoAHtiit cte3H cjiaBHcroB. OrneT, Moskau 1960, S. 44. Ähnlich auch in Osteuropa, 1959, Nr. 12, S. 835.

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Ohne Kenntnis der in den sozialistischen slawischen Ländern erfolgten gesellschaftlichen Veränderungen und wissenschaftlichen Leistungen kann sich die westdeutsche Slawistik auf die Dauer nicht entwickeln. Daß diese Erkenntnis an Boden gewinnt, zeigt die Teilnahme einer stärkeren westdeutschen Delegation am V. Internationalen Slawistenkongreß in Sofia. Eine sachliche Mitarbeit in dieser, die Slawisten von fünf Erdteilen vereinenden Weltorganisation wird sicherlich von allen fortschrittlichen Wissenschaftlern als verdienstvoller Beitrag zur Verständigung, für den Frieden angesehen werden. Zugleich mehren sich in der Bundesrepublik die Stimmen, die sich gegen den Mißbrauch der Wissenschaft durch die Dunkelmänner in und außerhalb der Slawistik wenden, wie jener anonym gebliebene junge westdeutsche Slawist, der schon 1960 verbittert ausrief: „Ostforschung wird zwar heute groß geschrieben, und es gibt alle möglichen Institute d a f ü r . . . zu allerletzt heißt das alles doch nur: festzustellen, daß die Schlesier wieder nach Breslau und die Ostpreußen wieder nach Königsberg müssen." 1 Noch deutlicher kam dies 1961 in dem heftigen Protest ehrlicher westdeutscher Wissenschaftler gegen das Auftreten des noch aus der faschistischen Zeit belasteten Revanchistenführers Walther Steller, heute eines der führenden Funktionäre der schlesischen Landsmannschaft, zum Ausdruck. Er hatte 1959 sein Werk „Name und Begriff der Wenden (Sclavi)" ediert 2 , in dem er gegen die historischen Tatsachen eiferte, daß die Slawen einst in Ostholstein gesessen hatten. Unter Ignorierung und Verdrehung der Fakten bemühte sich Steiler, Tür und Tor für seine revanchistischen Ansichten zu öffnen und die Anwesenheit der Slawen in Norddeutschland überhaupt zu negieren. Sehr zu Recht bemerkte deshalb Georg Kossack: „Denn schlimm wird dieser Fall vor allem durch das Aufgebot an aufdringlicher, wohl auf Halbbildung abgestimmter Propaganda, die auch die zunächst wissenschaftlicher erscheinenden Abschnitte des Buches belastet. Offenbar sollten vor allem politische Wunschvorstellungen durch dieses Gedankengerüst gestützt werden..." 3 Gerhard Cordes unterstrich die „politische Gefährlichkeit" von Stellers Theorien, die sich besonders auf die ehemaligen Schlesier und die westdeutschen Studenten auswirken könne 4 . Auch Slawisten wandten sich gegen Steller, so Ludolf Müller und Max Vasmer, dessen Rezension den Nachweis der absoluten Unwissenschaftlichkeit Stellers führt und mit den Worten endet: „Die Wissenschaft braucht heute keine an die Nazizeit erinnernden Bücher wie dieses." 5 Ludolf Müller hatte bereits 1960 Stellers Thesen 8 mit aller Entschiedenheit zurückgewiesen, vor allem dessen demagogisches Argument, durch eine falsch orientierte wissenschaftliche Forschung seien die Gebiete 1

in: Deutsche Woche, 1960, Nr. 24, S. 11. W. S t e l l e r , Name und Begriff der Wenden (Sclavi). Eine wortgeschichtliche Untersuchung, Kiel 1959 (Mitteilungen der Landsmannschaft Schlesien. Landesgruppe Schleswig-Holstein. Nr. 15). 3 in: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte. Hrsg. v. Olaf 4 Klose, Neumünster, Bd. 85/86, 1961, S. 298. ebd., S. 317. 5 in: Zeitschrift für slavische Philologie, Bd. X X X , 1962, S. 206. • W. S t e i l e r , Ostholstein — slawisch?, in: Schleswig-Holstein, 1960, Nr. 8, S. 222f. 2

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jenseits von Oder und Neiße verlorengegangen: „Wenn aber schon von politischen Folgen gesprochen werden soll, so ist sicher, daß das Ansehen der deutschen Wissenschaft und damit des deutschen Volkes im Ausland durch die Aufstellung solcher Thesen... viel mehr geschädigt wird als durch die Anerkennung unbestreitbarer Tatsachen. U n d auch die deutschen Ostgebiete haben wir nicht verloren, weil wir diese Tatsachen anerkannt haben, sondern weil bei uns die Herrschaft in den Händen von Menschen lag, die alles, auch die wissenschaftliche Wahrheit, den Forderungen ihrer Politik unterwarfen." 1 Und 1961 schrieb Ludolf Müller, Reinhold Trautmanns wissenschaf tliche Leistung gegen die maßlosen Angriffe Stellers verteidigend, daß es nicht von der „politischen Instinktlosigkeit der Gelehrtenkreise" (ein Wort Stellers) zeuge, wenn man auch einer unbequemen wissenschaftlichen Wahrheit die Ehre gegeben habe, sondern daß diese eher bei jenen vorliege, „die in ihrer nationalen Überheblichkeit und Vermessenheit nicht nur die politische Gegenwart, sondern auch die historische Vergangenheit zu korrigieren suchen" 2 . Aber die Mehrzahl der westdeutschen Slawisten weicht unter dem immer stärker werdenden geistigen Druck zurück, der eine echte, auf die Wahrheitsfindung und damit die Aufdeckung historischer Gesetzmäßigkeiten gerichtete Forschung erschwert und letzten Endes ganz unmöglich macht. Wohl unter dem ständig wachsenden Einfluß der revanchistischen Ostforschung enthalten sich die meisten westdeutschen Slawisten heute noch einer positiven politischen Stellungnahme zu den Grundproblemen unserer Nation, die zugleich die Grundprobleme unserer Wissenschaft sind. Zugleich aber hindern der Antikommunismus und die Ablehnung der D D R eine Reihe von westdeutschen Slawisten, zu den Lebensfragen unserer Nation Stellung zu nehmen und konsequent f ü r eine Verständigung einzutreten. Aber offensichtlich geht es nicht um eine Anerkennung des Sozialismus durch den einen oder anderen westdeutschen Slawisten. Es geht um die Rolle der Slawisten in Deutschland, es geht um ihren Platz an der Seite des Volkes im Kampf gegen Atomtod und Militarismus, um die Rettung ihrer völkerverbindenden Wissenschaft vor dem Griff der Bonner Ostpolitik. Hier aber gibt es Berührungspunkte, gibt es Möglichkeiten zu einem Gespräch, das zu diesen Grundfragen (ohne dabei bestimmte weltanschauliche oder wissenschaftliche Streitpunkte zu vertuschen) stattfinden kann und stattfinden wird. I n diesem Sinn konnte der Wissenschaftliche Beirat f ü r Slawistik beim Staatssekretariat für das Hoch- und Fachschulwesen der D D R am 10. November 1961 die noch heute gültige Feststellung treffen: „Die vom X X I I . Parteitag gegebene Einschätzung der internationalen politischen Lage unterstreicht die Notwendigkeit einer prinzipiellen Auseinandersetzung mit der imperialistischen Ideologie. Für die Slawistik der D D R ergibt sich daraus die Verpflichtung, den Mißbrauch unseres Fachgebietes f ü r jede antikommunistische Propaganda, wie sie insbesondere durch die berüchtigte westdeutsche .Ostforschung' betrieben wird, entschieden zurückzuweisen und zugleich freundschaftliche Beziehungen zu fortschrittlichen Vertretern der westdeutschen Slawisten anzustreben." 3 1 2

ebd., 1960, Nr. 11, S. 293. Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte, Bd. 85/86, 1961, 8 S. 299f. vgl. ZfSl VI (1961), Nr. 4, Beilage.

R . GOOTJEL

Die westdeutsche Ostforschung und die ideologischen Konzeptionen der Bonner Ostpolitik 1956—1963 Die Entwicklung des internationalen Kräfteverhältnisses in der Welt ist gekennzeichnet durch das „stürmische Wachstum und die zunehmende Überlegenheit des sozialistischen Weltsystems, den völligen Zusammenbruch des imperialistischen Kolonialsystems infolge der breiten Entfaltung der nationalen Befreiungsbewegung in den Kolonien und abhängigen Ländern und die Entwicklung der antiimperialistisch-demokratischen Bewegung in den kapitalistischen Ländern unter Führung der kommunistischen und Arbeiterparteien"1. Dieser historisch gesetzmäßige Prozeß übt einen ständig wirkenden tiefgehenden Einfluß auf die Politik der imperialistischen Kräfte aus. Sie sind gezwungen, sich täglich mit den Ausstrahlungen der wachsenden Stärke des sozialistischen Weltsystems auf alle Gebiete des gesellschaftlichen Lebens auseinanderzusetzen und neue Argumente zu entwickeln, die ihre Politik vor ihren eigenen Völkern und der Weltöffentlichkeit rechtfertigen sollen. Gleichzeitig vollziehen sich innerhalb der kapitalistischen Welt infolge der ungleichmäßigen Entwicklung der imperialistischen Länder ebenfalls bedeutende Wandlungen. Im Rahmen der internationalen staatsmonopolistischen Organisationen finden Umgruppierungen statt: Die westdeutschen und französischen Monopole kämpfen um die Vorherrschaft in Westeuropa — sichtbares Zeichen ist die Achse Bonn—Paris und die Verhinderung der Aufnahme Großbritanniens in die EWG —, wobei sich am Horizont bereits ernste Konflikte mit den USA abzeichnen, die sich jeder Beschränkung ihrer Suprematie innerhalb der kapitalistischen Welt widersetzen. Obwohl die westdeutschen Monopole ökonomisch ihre europäischen Verbündeten England und Frankreich überflügelt haben, gelang es ihnen noch nicht, das Atom-Monopol der drei Westmächte zu brechen. So ergeben sich eine Fülle von Gegensätzen, die die Politik der Bonner Regierung und insbesondere deren Kernstück, das Programm der „Neuordnung" des europäischen Ostens, beeinflussen. Im vorliegenden Beitrag soll versucht werden, die allmähliche Umformung revanchistischer Argumentationen im Verlauf der letzten Jahre und deren schrittweise Anpassung an die veränderte Situation an einigen Beispielen darzustellen. 1

vgl. W. U l b r i c h t , Referat: Das Programm des Sozialismus und die geschichtliche Aufgabe der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands... Programm der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Berlin 1963, S. 286.

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R. Goguel

Verschiedene Aspekte der Ostpolitik des westdeutschen

Imperialismus

Obwohl in den Reihen der westdeutschen politischen Führungskräfte keine prinzipiellen Meinungsverschiedenheiten bestehen über das erstrebte Ziel — die Einverleibung der DDR, die Anexion der ehemals deutschen Gebiete Polens und des Sudetenlandes sowie die „Neuordnung" Ost- und Südosteuropas durch Einbeziehung der sozialistischen Länder dieses nicht näher umgrenzten Raumes in den Einflußbereich der westdeutschen Monopole — und dieses Ziel kontinuierlich verfolgt wird, so sind doch die Auffassungen über den einzuschlagenden Weg recht unterschiedlich. Deutlich ablesbar sind diese Meinungsverschiedenheiten an den in Westdeutschland aufgestellten verschiedenen völkerrechtlichen, historischen, ökonomischen oder kulturpolitischen Theorien, die die Beziehungen des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarvölkern zum Gegenstand haben. Hierbei lassen sich zwei Haupttendenzen erkennen. Die westdeutschen „Ultras" — repräsentiert durch die Landsmannschaften, die Militaristenverbände, extrem-reaktionäre Gruppen innerhalb der Regierungsparteien und auch der SPD — sowie die hinter ihnen stehenden Monopolgruppen kämpfen zäh um die Wiederherstellung „Großdeutschlands" als den beherrschenden „Ordnungsfaktor" in Europa. Jahrelang waren sie die Haupteinpeitscher der Politik der Stärke gegenüber dem sozialistischen Lager, die auf einer maßlosen Überschätzung der eigenen Potenzen und einer Unterschätzung der K r a f t und der Perspektiven des sozialistischen Weltsystems beruhte. Die von ihnen vertretene Konzeption bestimmte weitgehend die offizielle Ostpolitik der Bonner Regierung, die ihren sinnfälligen Ausdruck in der Forderung nach Wiederherstellung der Grenzen von 1937, der Rückgängigmachung der in Potsdam beschlossenen Umsiedlungen und schließlich in der bekannten Hallstein-Doktrin fand. I n der Ära Eisenhower—Dulles wurde die aggressive und provokatorische Politik dieser Gruppen durch die offizielle Außenpolitik der USA stark gefördert. Bis vor einigen Jahren beherrschten sie nahezu monopolartig die öffentliche Meinung Westdeutschlands. Bei anderen Gruppen der westdeutschen Führungsschieht, die das internationale Kräfteverhältnis realistischer einschätzen, dürfte die Erkenntnis Boden gewonnen haben, daß die gewaltsame Durchsetzimg der erstrebten Ziele unter den gegebenen Verhältnissen das Risiko einer erneuten — diesmal definitiven — Niederlage des deutschen Imperialismus in sich birgt. Diese Gruppen, die durch einflußreiche englische und in letzter Zeit auch amerikanische Kreise gestützt werden, befürchten, daß der zur Schau getragene überhebliche Chauvinismus der Ultras zur Isolierung Westdeutschlands von seinen eigenen Verbündeten führt. Sie orientieren sich auf verstärkte Integration der imperialistischen Mächte — selbst um den Preis bestimmter „Opfer" (gemeint ist der Verzicht auf die Proklamierung territorialer Forderungen gegenüber Polen und der Tschechoslowakei) — unter dem Aspekt, daß die nicht mehr zu leugnende Überlegenheit des sozialistischen Lagers neue taktische Konzeptionen erfordert.

Westdeutsche Ostforschung und Bonner Ostpolitik

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Diese basieren z.B. auf der Erwägung, die Geschlossenheit des sozialistischen Lagers könne durch geeignete Maßnahmen erschüttert, „aufgeweicht", werden. Bei der bekannten Mission des Krupp-Bevollmächtigten Beitz in Warschau im Dezember 1960 und im Frühjahr 1961 sowie in Budapest im Jahre 1962, die der Vorbereitung der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und diesen Ländern dienen sollte, dürften derartige Erwägungen eine nicht unwichtige Rolle gespielt haben 1 . Natürlich stehen sich die zwei hier kurz skizzierten Konzeptionen nicht als fest umrissene Programme gegenüber, sondern sie treten als Tendenzen der verschiedensten Schattierungen in Erscheinung, deren Übergänge fließend und bisweilen schwer feststellbar sind. Das zeigt sich vor allem dort, wo nicht Fragen der Tagespolitik zur Diskussion stehen, sondern wo es um die Schaffung eines neuen Geschichtsbildes geht, das einmal die bürgerlich-nationalistischen Traditionen des deutschen Imperialismus fortführen, andererseits sie in Einklang mit den durch die Integrationspolitik gebotenen politischen Erfordernissen der Gegenwart bringen soll. Hier bot sich nach dem Zusammenbruch der faschistischen Weltherrschaftsträume 1945 die „Abendlandideologie" als geeignete Plattform für ein erneuertes Geschichtsbild an. Die Auseinandersetzungen zwischen den Verfechtern der Abendlandtheorie und den Chauvinisten neonazistischer Prägung spiegeln in gewissem Sinne das Ringen der politischen und ökonomischen Gruppen in Westdeutschland um die Konzeption einer zeitgemäßen imperialistischen Ostpolitik wider. Die Durchsetzung der Abendlandideologie in der Bundesrepublik erfolgte — besonders in den Jahren nach 1956 — in zum Teil heftigen Auseinandersetzungen mit den landsmannschaftlichen Neofaschisten, wobei der westdeutschen Ostforschung die wichtige Aufgabe zufiel, den ideologischen Wandlungs- und Anpassungsprozeß durch die schrittweise Verlagerung bestimmter Argumentationen in die gewünschten Bahnen zu lenken. Die These von der „deutschen Kulturträgermission" Kriegsziele in Osteuropa

und die

imperialistischen

Ein Hauptargument zur Begründimg des imperialistischen deutschen Expansionsdranges nach Osten ist seit eh und je die These von der „deutschen Kulturträgermission" in Osteuropa. Schon 1905 hatte Adolf Harpf, ein hakatistischer Publizist 2 , die Behauptung vom „tiefgreifenden Gegensatz zwischen dem vorwiegend individualistisch gearteten und so sich auch kulturell betätigenden Deut1 2

4

Die Welt, Berliner Ausgabe, 1961, Nr. 22 vom 26.1. „Hakatisten": Volkstümliche, besonders in Polen gebräuchliche Bezeichnung für die Anhänger des „Deutschen Ostmarkenvereins" nach den Anfangsbuchstaben der drei Begründer dieses Vereins ¿/ansemann, ITennemann und von Tiedemann. Der DOV wurde 1894 als eine Propagandaorganisation des deutschen Monopolkapitals gegründet. Wissenschaft

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sehen und dem Typus des europäischen Herdenmenschen, dem Slaven," aufgestellt Solche und ähnliche „Thesen" finden sich in unzähligen Publikationen jener Zeit. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, daß an der Formulierung der imperialistischen deutschen Kriegsziele chauvinistische deutsche Historiker einen nicht unbedeutenden Anteil hatten. So forderte der Historiker Dietrich Schäfer 2 im ersten Weltkrieg, „Rußland möge aus den Gebieten, die ihm abgenommen werden müssen, herausnehmen, was wir nicht brauchen können, mag Platz machen für deutsche Siedler" 3 , und polemisierte noch 1918, als der Krieg praktisch schon verloren war, gegen die „Phrase vom Selbstbestimmungsrecht der Völker und der noch schlimmeren vom Frieden der Verständigung und der dauernden Versöhnung der Völker" als einer gefährlichen Äußerung „undeutscher Schwäche" 4 . Selbst Otto Hoetzsch 5 , der die kulturellen und politischen Leistungen der Slawen anerkannte, erklärte 1916 unumwunden: „Wir führen diesen Krieg nicht, um im Osten oder Westen Völker zu befreien, sondern zur Sicherung unserer europäischen Machtstellung..." 6 . Er lehnte daher jeden Gedanken einer Autonomiegewährung an die Polen — von einer nationalen Selbständigkeit ganz zu schweigen — kategorisch ab und warnte gleichzeitig vor Einmischungsversuchen seitens der verbündeten Donaumonarchie, deren Expansionsgelüste er auf den Balkanraum abzulenken riet 7 . Nach der Niederlage von 1918 waren es wiederum die „wissenschaftlichen" Verteidiger der deutschen Kulturträgermission — erwähnt seien hier u. a. Manfred Laubert, Hermann Aubin, Erich Keyser, Karl von Loesch, Hermann Raschhofer und Max Hildebert Boehm — die an der Entwicklung des Programms des deutschen Revanchismus maßgeblich mitwirkten 8 . 1 2

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6

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8

A. H a r p f , Der völkische Kampf der Ostmarkendeutschen, Berlin 1905, S. 218. Dietrich S c h ä f e r (1845—1929), einer der Initiatoren bei der Gründung des „Deutschen Ostmarkenvereins", für den er im ersten Weltkrieg mehrere Denkschriften mit der Forderung nach Annexionen in Osteuropa und Germanisierung der slawischen Bevölkerung anfertigte. vgl. die Denkschrift des „Deutschen Ostmarkenvereins" vom Oktober 1915, in: DZA Merseburg, Rep. 77, Tit. 863A, Nr. Ia, S. 162. D. S c h ä f e r , Die Neugestaltung des Ostens, München 1918, S. 15. Otto H o e t z s c h (1876 — 1946) war langjähriger Präsident der „Gesellschaft zum Studium Osteuropas" und führender Leitartikler in der konservativen „Kreuzzeitung". E r änderte in der Folgezeit seine Ansichten über das deutsch-sowjetische Verhältnis grundlegend, wandte sich 1930 gegen die Versuche, Deutschland in eine antisowjetische Front einzubeziehen und setzte sich unter dem Eindruck des Ergebnisses des zweiten Weltkrieges als Professor für osteuropäische Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin (seit 1945) für die deutsch-sowjetische Freundschaft ein. So schrieb Hoetzsch in einem Artikel in der „Kreuzzeitung" vom Juni 1916; zitiert nach: Die Ostmark, Berlin, 1916, Nr. 6, S. 39. Erwähnt sei ferner die bekannte Denkschrift Breslauer Professoren vom November 1915, in der ein umfassendes annexionistisches Programm entwickelt wurde, in: DZA Merseburg, Rep. 77, Tit. 875, Nr. 20, adh. V, Bd. 4, Bl. 1 0 8 - 1 3 0 . Über die Entwicklung der Ostforschung in Deutschland vgl.: F.-H. G e n t z e n , J . K a i i s c h , G. V o i g t , E. W o l f g r a m m , Die „Ostforschung" — ein Stoßtrupp des deutschen

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Man wird dem westdeutschen Historiker Imanuel Geiss zustimmen können, wenn er im Hinblick auf die deutsche Ostpolitik im Nationalsozialismus „ein Produkt dieses wilhelminischen Nationalismus völkischer Prägung" (richtiger wäre es von einer Fortsetzung zu sprechen!) sah 1 ; denn die Nazis haben zwanzig Jahre später im Prinzip nichts anderes getan, als das zu verwirklichen, was ihren Vorläufern im ersten Weltkrieg nicht gelungen war. Wenn heute die westdeutsche Historiographie zwar die barbarischen Methoden verurteilt, nicht aber ihre politische Zielsetzung — Gause z. B. schrieb 1952, die sittliche Berechtigung des Überfalls sei dadurch verdunkelt worden, daß Hitler sich unsittlicher Mittel bedient habe 2 — so muß daran erinnert werden, daß die ideologische Massenbereitschaft zur faschistischen Barbarei aus der gewaltsam eingehämmerten Überzeugung von der angeblichen völkischen oder rassischen Überlegenheit, vom Bekenntnis zum Herrenmenschentum herrührte. Jene westdeutschen Ostforscher, die heute in voller Kenntnis der nazistischen Greueltaten in den okkupierten Ländern erneut die Legende vom „deutschen Kulturträgertum" kolportieren, tun also nichts anderes, als alten, ungenießbar gewordenen Wein in neue Schläuche zu füllen; sei es Eugen Lemberg, der beklagt, daß „mit den Deutschen das gesellschaftliche Gerüst in Osteuropa herausgenommen sei"3, sei es der Göttinger Arbeitskreis, der sich seit Jahren vergeblich bemüht, die „polnische Minderwertigkeit" dadurch zu beweisen, daß er die polnischen Westgebiete in eine versteppte Einöde verwandelt, „in der Feldmäuse das noch übrig gebliebene deutsche Getreide fressen"4, seien es solche RechtImperialismus, in: ZfG, 1958, Nr. 6, S. 1181-1220; G. V o i g t , Methoden der Ostforschung in: ebd., 1959, Nr. 8, S. 1781-1803; B. S p i r u , Ostforscher — Ostfälscher - Ostfahrer, in: Jahrbuch der Geschichte der UdSSR und der volksdemokratischen Länder Europas, Bd. 3, Berlin 1959, S. 3 4 - 7 9 ; F.-H. G e n t z e n , E. W o l f g r a m m , „Ostforscher" — „Ostforschung", Berlin 1960; R. G o g u e l , Über Ziele und Methoden der Ostforschung, in: „Ostforschung" und Slawistik. Kritische Auseinandersetzungen, Berlin 1960, S. 12 — 39; Auf den Spuren der „Ostforschung". Wiss. Zs. der Karl-Marx-Universität Leipzig. GSR, Sonderband I, Leipzig 1962; R. G o g u e l , Der Einfluß der wachsenden Stärke des sozialistischen Lagers auf einige ideologische Konzeptionen der westdeutschen Ostforschung, in: Ostlandreiter ohne Chance. Beiträge zur Geschichte des faschistischen Überfalls auf die Sowjetunion, Berlin 1963, S. 149-184. 1

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I. G e i s s , Der polnische Grenzstreifen 1914—1918, Lübeck—Hamburg 1960; zitiert nach: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Stuttgart, 1961, Nr. 4, S. 256. — Geiss wurde durch führende Vertreter der westdeutschen Ostforschung wie H. Schienger u. a. wegen seiner antichauvinistischen Haltung scharf kritisiert. — Vgl. auch die Rezension des Buches von H. L e m k e in: ZfG, 1961, Nr. 6, S. 1385-1389. F. G a u s e , Deutsch-Slawische Schicksalsgemeinschaft, Kitzingen 1952, S. 279. E. L e m b e r g , Osteuropa und die Sowjetunion, 2. Aufl., Salzburg 1956, S. 263. Die deutschen Ostgebiete jenseits von Oder und Neiße im Spiegel der polnischen Presse. Hrsg. vom Göttinger Arbeitskreis. Redaktion K. O. Kurth, Würzburg 1958, S. 84; vgl. dazu : Achtung Fälschungen ! Ein Beitrag zu den Methoden des Göttinger Arbeitskreises. Hrsg. vom Redaktionsgremium der Zachodnia Agencja Prasowa, Poznan — Warszawa 1959, S. 18f.; ferner: Schwindelt für Deutschland, in: Der Spiegel, Hamburg, 1958, Nr. 51, S. 35.

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fertigungsversuche der deutschen Okkupationspolitik im zweiten Weltkrieg, wie die des bekannten Weltkriegshistoriographen und ständigen Mitarbeiters der „Welt" W. Görlitz, die Nazis hätten „vielerlei für den Aufbau der polnischen Industrie getan" 1 , oder des Mainzer Historikers G. Rhode, „breite Schichten hätten materielle Vorteile aus der Okkupation gezogen" 2 , oder des Mitarbeiters des Instituts für Besatzungsfragen in Tübingen H. v. Streng, „der Lebensstandard der Polen habe über dem Niveau vor dem Krieg gelegen" 3 . Derartige Bemühungen für die Berechtigung der Expansionspolitik des deutschen Imperialismus, die sich souverän über die historische Wahrheit hinwegsetzten, waren allerdings nicht dazu angetan, das seit der deutschen Okkupation tiefverwurzelte Mißtrauen der Völker Europas auszuräumen. I m Gegenteil: durch die peinliche Übereinstimmung mit den nazistischen Argumenten des Hitlerregimes stießen sie auf heftige Ablehnung, nicht nur in den sozialistischen Ländern, sondern auch bei den eigenen NATO-Partnern. Der extreme und bornierte Chauvinismus, der diesen „Geschichtsdeutungen" westdeutscher Ostforscher und Publizisten zugrunde lag, trug dazu bei, Westdeutschland in die Isolierung zu treiben und es zu einer Belastung des gesamten westlichen Bündnissystems werden zu lassen. Eine derartige Entwicklung konnte indes in der damaligen weltpolitischen Situation nicht im Sinne der strategischen Konzeption der imperialistischen Weltmächte liegen. So mehrten sich die Stimmen in den USA und vor allem in England, die die Argumentationsmethoden des westdeutschen Revanchismus offen kritisierten und den westdeutschen Ostpolitikern eine andere, der veränderten internationalen Lage angepaßte Taktik empfahlen. I n diesen Kritiken wurde stets darauf hingewiesen, daß Westdeutschland seine Punktion als antibolschewistische Aggressionsbasis nur dann erfüllen kann, wenn es seine nationalistischen Ambitionen den Interessen Gesamteuropas und des gesamten „Abendlandes" unterordne. Kritilc aus

England...

I m Jahre 1956 veröffentlichte die britische Historikerin Elizabeth Wiskemann ein Buch unter dem Titel „Germany's Eastern Neighbours" 4 . Man darf aus dem Zeitpunkt des Erscheinens und aus der Tatsache, daß es im Royal Institute of International Affairs erschien, mit Sicherheit schließen, daß das Buch ein sichtbarer Ausdruck des Überganges der englischen Ostpolitik zur „Aufweichstrategie" war. Mit erstaunlicher Offenheit sprach Wiskemann den westdeutschen neonazistischen Kulturträgern das Recht ab, sich als die allein berufenen Verteidiger des Abendlandes aufzuspielen, da sie durch ihre Aggression und ihre barbarische 1 2 3

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W. Görlitz, Der zweite Weltkrieg 1939 — 1945, Bd. 2, Stuttgart 1952, S. lOOf. G. R h o d e , Zur polnischen Zeitgeschichte, in: Osteuropa, 1952, Nr. 2, S. 147f. H. v o n Streng, Die Landwirtschaft im Generalgouvernement, Tübingen, Institut für Besatzungsfragen, 1955 (Masch.), Bl. 71. E. W i s k e m a n n , Germany's Eastern Neighbours. Problems relating to the Oder-NeisseLine and the Czech frontier regions, London—New York-Toronto 1956.

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Kriegführung dieses Recht verspielt hätten. Sie erklärte, daß in der Vergangenheit territoriale Gewinne noch immer „die übelsten Elemente dieser Nation" gestärkt hätten 1 , und daß es die ruchlose Politik Hitlers gewesen sei, „die schließlich die Sowjetarmee nach Berlin, Prag, Warschau, Wien und Budapest brachte" 2 . Eine Revision der in Potsdam festgelegten deutschen Grenzen lehnte Wiskemann ab. Die westdeutschen Revanchisten begriffen sehr wohl, daß sich hier eine Entwicklung anbahnte, die unter Umständen zu einer Preisgabe wichtiger Positionen führen könnte. Und sie reagierten entsprechend: Das Buch von Wiskemann fand nahezu einhellige und schärfste Ablehnung durch Sprecher der Regierungsparteien wie auch der SPD, der Landsmannschaften und militaristischen Organisationen und nicht zuletzt durch die westdeutsche Ostforschung. Im Auftrag der Bundesregierung gab der Präsident des Göttinger Arbeitskreises, Prof. Dr. H. Kraus, eine Erklärung ab, die „Verteidigung des Unrechts" betitelt war und in der er u. a. die Feststellungen des Nürnberger Gerichtshofes über die Ausnutzung der deutschen Volksgruppen im Ausland als Fünfte Kolonnen des deutschen Imperialismus als „kriegsbedingte Behauptung, um Massenaustreibungen von Millionen Menschen zu begründen", apostrophierte 3 . Eine Broschüre, die ein gewisser Hilmar Toppe im Auftrag des Münchner Osteuropa-Instituts und des Stifterverbandes für die deutsche Wissenschaft 1957 gegen das Buch von Wiskemann veröffentlichte, erregte durch ihre Impertinenz sogar so peinliches Aufsehen, daß sie kurz nach ihrem Erscheinen aus dem Buchhandel gezogen werden mußte 4 . Jeden Versuch, versöhnlichere Töne gegenüber der Volksrepublik Polen anzuschlagen — wie z. B. die Äußerungen des SPD-Bundestagsabgeordneten Prof. Carlo Schmid im Oktober 19565 — beantwortete die westdeutsche Ostforschung durch ihre berufenen Sprachrohre, die Landsmannschaften, mit lärmenden Attacken und Drohungen. ... und aus den USA Fast um die gleiche Zeit erregte der frühere USA-Hochkommissar für Deutschland, John McCloy, durch sein Vorwort zu dem Buch „Russia and America" ein nicht geringeres Aufsehen 6 . Auch er empfahl mit gewissen Einschränkungen die 1 2

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ebd., S. 294. vgl. O. Frei, Deutschlands östliche Nachbarn. Zu einer historisch-politischen Studie von Elizabeth Wiskemann, in: Neue Züricher Zeitung, 1956, Nr. 221 vom 12. VIII. H. K r a u s , Verteidigung des Unrechts, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Bonn, 1956, Nr. 156 vom 22. VIII., S. 1524f. H. T o p p e , E. Wiskemann und Deutschlands Nachbar Polen. Gemeinschaftsveröffentlichung des Osteuropa-Instituts München und des Stifterverbandes für die deutsche Wissenschaft Essen, Essen 1957. Zwei Reden auf einer deutsch-französischen Konferenz in Bad Neuenahr vom 5. bis 7. Oktober 1956; zitiert nach: Der Spiegel, Hamburg, 1956, Nr. 42, S. 17. Auszug aus dem Vorwort von John McCloy zu: Russia and America. Dangers and Prospects. Veröffentlichung des Council on Foreign Relations; zitiert in: Der Monat, Berlin, 1956, Nr. 94, S. 75f.

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Aufrechterhaltung des Status quo an Oder und Neiße. I n einem Interview mit der Zeitung „Die Welt" erläuterte McCloy seinen Standpunkt folgendermaßen: Die Angst vor dem deutschen Irredentismus trage dazu bei, daß Polen und Tschechen unter russischem Schutz Zuflucht suchen. Könnte man ihnen diese Angst durch eine gut durchdachte und solide Lösung der europäischen Frage nehmen, dann würde man ihre Sehnsucht nach Unabhängigkeit stärken, und zugleich würden die deutschen Ansprüche auf Wiedervereinigung bekräftigt werden. Mit aggressivem Beharren auf Grenzkorrekturen im Osten würde das deutsche Volk nur riskieren, seine Freundschaften im Ausland zu verlieren 1 . Zwar erfuhren die Äußerungen McCloys ebenfalls öffentliche Kritik, so z. B. in einem offenbar von der USA-Regierung inspirierten Artikel eines in den USA lebenden ungarischen Emigranten 2 , aber die Entwicklung war nicht mehr aufzuhalten. Ein J a h r später erschien in den USA ein Buch des amerikanischen Historikers Alexander Daliin unter dem Titel „German Rule in Russia", das — gestützt auf umfangreiche, bisher unveröffentlichte Dokumente — den bis dahin massivsten amerikanischen Angriff gegen die Methoden der deutschen Politik des Dranges nach Osten darstellte 3 . Darin wirft Dallin der faschistischen deutschen Führung vor, daß sie ihre Niederlage im zweiten Weltkrieg vor allem durch ihre bornierte Herrenmenschen- und Rassenpolitik selbst beschleunigt habe, daß im übrigen aber der Krieg so oder so nicht zu gewinnen war, da Deutschland ungeachtet seines europäischen Hinterlandes ökonomisch zu schwach gewesen sei, um eine so gewaltige Aufgabe — die Okkupation der sowjetischen Gebiete, ihre Ausbeutung und Eingliederung in den eigenen Wirtschaftsorganismus — aus eigener K r a f t zu bewältigen. Hierzu sei, so meint Dallin, nur eine wirkliche Weltmacht imstande. Der Gedanke liegt nahe, daß Dallin mit seiner Kritik am nationalsozialistischen Chauvinismus im zweiten Weltkrieg ein durchaus aktuelles Ziel verfolgte: die westdeutschen Imperialisten davor zu warnen, ihre eigenen Kräfte zu überschätzen, und ihnen damit zu empfehlen, ihre Ostpolitik der Konzeption der amerikanischen Imperialisten anzupassen und unterzuordnen. Nichts kennzeichnet die inzwischen vollzogene Anpassung eines Großteils der westdeutschen Ostforscher an die Erfordernisse der von den Westmächten eingeleiteten neuen Linie ihrer Ostpolitik besser als ihre Reaktion auf das Buch von Dallin: I m Gegensatz zu Wiskemann fand es ungeachtet der zum Teil noch härteren Kritik eine überwiegend günstige Aufnahme in der Bundesrepublik. Einschwenken auf die neue Linie Mit der Anerkennung der Kritik von Dallin war allerdings nur der erste Schritt getan. J e t z t kam es darauf an, praktische Schlußfolgerungen für die eigene Position zu ziehen. 1 2

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Die Welt, Hamburg, 1956, Nr. 153 vom 3. VII. Z. M. Szaz, Amerika und die deutsche Ostgrenze, in: Der Europäische Osten, München, 1956, Nr. 8, S. 457 f. A. D a l l i n , Deutsche Herrschaft in Bußland. Deutsche Ausgabe von „German Rule in Russia", Düsseldorf 1958.

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Hier gerieten die westdeutschen Ostexperten jedoch in ein kaum lösbares Dilemma. Jeder Versuch, einen Keil zwischen die Sowjetunion und ihre Verbündeten zu treiben, um diese allmählich in das imperialistische Lager einzubeziehen, setzte ein Minimum von Verhandlungsbereitschaft seitens der Bundesregierung voraus. Er setzte ferner voraus, daß die revanchistische Propaganda in Westdeutschland, die einer Normalisierung der Beziehungen etwa zu Polen oder der Tschechoslowakei im Wege stand, eingestellt würde. Was aber sollte eine platonische Anerkennung Polens und der Tschechoslowakei als „verbündete Außenposten des Abendlandes" bedeuten, wenn sie nicht zu konkreten Gesprächen über die Anerkennung der bestehenden Staatsgrenzen führten? Die bisherige Taktik, irgendwelche „Verzichterklärungen" zu umgehen, indem man mit antikommunistischen Emigrantengruppen Gespräche führte anstatt mit den Regierungen dieser Länder, hatte die Ostpolitik der Bundesregierung allmählich in eine Sackgasse geführt. Es konnte auf die Dauer der Öffentlichkeit nicht verborgen bleiben, daß es sich bei den Gesprächspartnern der Bonner Regierung überwiegend um Nazi-Kollaborateure und Kriegsverbrecher ohne Anhang und Einfluß handelte, wie etwa Vertreter der slowakischen Hlinka-Garde, der ungarischen Pfeilkreuzler, der kroatischen Ustascha, der rumänischen „Eisernen Garde" oder der ukrainischen Bandera-Organisation 1 . Diese Faschisten, die in Westdeutschland aus Steuermitteln der Bundesbürger ausgehalten und auf Landsmannschaftstreffen als Repräsentanten „der ostund südosteuropäischen Völker" herumgereicht werden, stellen sogar innerhalb der Exilgruppen eine verschwindende Minderheit dar und sind nicht einmal in der Dachorganisation dieser Gruppen, der in den USA stationierten ACEN 2 , vertreten. Die überwiegende Mehrheit dieser Gruppen aber lehnte eine Zusammenarbeit mit den westdeutschen Landsmannschaftsrevanchisten ab, da sie trotz ihrer antikommunistischen Grundeinstellung in der Frage der Grenzziehung und der Aussiedlung der deutschen Minderheiten auf dem Boden des Potsdamer Abkommens stehen. Charakteristisch für die Einstellung dieser Gruppen zum westdeutschen Revanchismus ist z. B. das bekannte Memorandum des „Polish American Congress" vom 17. 8. 1961 an Präsident Kennedy 3 . Darin wird dem westdeutschen Revanchismus der Vorwurf gemacht, daß er durch seine aggressiven Grenzforderungen, mit denen er die osteuropäischen Völker bedroht, direkt die Einheit des sozialistischen Lagers fördert, anstatt sie zu schwächen („is playing directly into Russian hands"). 1

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z. B. der ehemalige „Außenminister" der Slowakei Dr. Durcansky, der ehemalige ungarische Generaloberst Farkas, der „ukrainische Ministerpräsident a. D." Stecko (er amtierte in Lwow nach den blutigen Pogromen der ukrainischen „Nachtigall"-Einheiten Anfang Juli 1941 nur wenige Tage). Association of Captive European Nations (Vereinigung der versklavten europäischen Nationen). Der Wortlaut des Memorandums ist abgedruckt in: Poland and Germany, London, 1961, Nr. 3, S. 21—26.

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Um aus der entstandenen Sackgasse herauszukommen, setzte nun in der Bundesrepublik zunächst eine Kampagne unverbindlicher Erklärungen über Verhandlungsbereitschaft ein, die allerdings von vornherein den Stempel der Doppelzüngigkeit und der Unwahrhaftigkeit trugen. Denn weder erfolgte eine klare Abkehr von den territorialen Forderungen noch wurden ernsthafte Versuche unternommen, die revanchistische Hetze der Ultras zu dämpfen. In den volksdemokratischen Ländern wurde die zwielichtige Haltung der Bundesregierung völlig richtig eingeschätzt. So erklärte z. B. Wladyslaw Gomulka auf einer Kundgebung in Warschau Mitte März 1961: „Es ist nicht das erste Mal, daß wir die Erklärung des Kanzlers der westdeutschen Regierung über seinen angeblichen guten Willen für eine Normalisierung der Beziehungen zu Polen hören. Aber es ist auch nicht das erste Mal, daß wir solche territorialen Forderungen anhören, wie sie Kanzler Adenauer hochmütig an Polen stellt... Welche seiner Erklärungen ist ehrlich gemeint? Für das polnische Volk wird solange darüber kein Zweifel bestehen, wie die Bundesrepublik nicht entschieden von allen Forderungen auf polnisches Gebiet Abstand nimmt. Erst dann wird auch die Möglichkeit bestehen, daß diplomatische Vertretungen beider Staaten in Warschau und Bonn errichtet werden, was Voraussetzungen für eine Normalisierung der Beziehungen zwischen ihnen schaffen wird." 1 Aber so unverbindlich die Erklärungen der Bonner Regierung oder einzelner ihrer Vertreter auch waren, stießen sie doch auf die Ablehnung der revanchistischen Landsmannschaftsführer, die sich nach wie vor als die beratenen Hüter der Ostpolitik der Bundesregierung ansahen. In welchem Ausmaß diese Leute die westdeutsche Regierungspolitik bestimmten, hatte z. B. der Skandal um eine Erklärung des ehemaligen Außenministers von Brentano gezeigt. Brentano, dem man mit dem besten Willen keine Neigung zu friedlicher Koexistenz mit Deutschlands slawischen Nachbarvölkern nachsagen kann, hatte am 1. Mai 1956 den Anspruch der Bundesrepublik auf die Gebiete jenseits von Oder und Neiße als „problematisch" bezeichnet. Unter dem sofort einsetzenden Kesseltreiben der Landsmannschaften wurde er innerhalb weniger Tage zum offiziellen Widerruf gezwungen, und die Regierung distanzierte sich öffentlich in einer Erklärung vom 28. Juni 1956 von den Äußerungen ihres Außenministers 2 . Um eine Wiederholung derartiger Vorfälle zu vermeiden, erwies es sich als unumgänglich, die Landsmannschaften an die durch die veränderte politische Situation bedingte Taktik Bonns heranzuführen. Diese Aufgabe, bei deren Bewältigung die Regierungskreise auf die Hilfe der westdeutschen Ostforschung angewiesen waren, erwies sich als nicht leicht: Man konnte den Landsmannschaften ja nicht offiziell erklären, daß die Bundesregierung ihre Verständigungsbeteuerungen „mit Augenzwinkern" proklamiere in der Erwartung, Zeit zu gewinnen und zu 1

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Wöchentliche Rundschau der Polnischen Presse-Agentur PAP, Warszawa, 1961, Nr. 12 vom 24. III., S. lOf. Der Vorgang ist dargestellt in: Polen, Deutschland und die Oder-Neiße-Grenze, Berlin 1959, S. 6 7 6 - 6 7 9 .

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gegebener Zeit — wenn die erhoffte Spaltung des sozialistischen Lagers eingetreten sei — etwaige Zugeständnisse zu annullieren. Selbst führende westdeutsche Ostforscher begriffen die sich verändernde Lage nur widerstrebend. Es fiel ihnen offenbar schwer, sich von den jahrelang propagierten nationalistischen Vorstellungen zu lösen. So hatte z. B. der Präsident des Göttinger Arbeitskreises, Prof. Dr. H. Kraus, noch am 11. April 1957 auf der Jahrestagung des Arbeitskreises herausfordernd erklärt: „Wer hierzulande Zweifel in der Frage der deutschen Rechtsansprüche und deren möglicher friedlicher Durchsetzung hegt, sollte sie bei sich behalten." 1 Und weiter: „Sehr erfreulich ist es auch, daß Außenminister von Brentano am 6. April dieses Jahres eine Erklärung des Inhalts abgegeben hat, daß auf der Wiederherstellung der deutschen Ostgrenzen von 1937 bestanden werden muß. Damit wäre dem Wunsche der deutschen Bevölkerung der OderNeiße-Gebiete sowie der von dort Geflohenen und Vertriebenen Genüge geschehen und diese könnten in ihre Heimat zurückkehren, ohne in einen Zwiespalt zwischen Staatstreue und Heimatliebe zu geraten." 2 Der führende Kieler Geograph Prof. Dr. H. Schienger dozierte noch 1959 in altgewohnter revanchistischer Manier: „Unter dem deutschen Osten sei einmal Ostdeutschland in den Grenzen von 1937, dann aber auch das geschlossene oder inselhaft deutsch besiedelte östliche und südöstliche Vorfeld des Deutschen Reiches und Österreich verstanden, für das es eine allgemein anerkannte zusammenfassende und unmißverständliche Bezeichnung leider nicht gibt." 3 Es ist richtig, daß es in der westdeutschen Ostforschung eine einheitliche Sprachregelung über diesen Begriff nicht gibt. Im politischen Sprachgebrauch herrschte lange Zeit hindurch der der Geopolitik entlehnte Terminus „Zwischeneuropa" vor, der diesen Ländern die Rolle einer kulturell unselbständigen Pufferzone zwischen dem „östlichen" und dem „westlichen" Kulturkreis zuwies. Die Schlengersche Anregung, dieses „Zwischeneuropa" unter der Hand in den „deutschen Osten" zu verwandeln, genauer gesagt, diesem vom chauvinistischen Flügel der Ostforschung verwandten Begriff Allgemeingeltung zu verschaffen, fand indes nur geringen Widerhall. Vielmehr setzt sich in steigendem Maße die Bezeichnung „Ostmitteleuropa" durch, die zum Ausdruck bringen soll, daß man die „Pufferzone" zu einem Bestandteil Mitteleuropas deklariert hat und daß man sogar bereit ist, ihr ein gewisses kulturelles Eigenleben zuzugestehen. Man sollte die symptomatische Bedeutung derartiger Begriffsverschiebungen — die in Wirklichkeit selbstverständlich keine Veränderung des Inhalts bedeuten! — nicht unterschätzen. Erinnert sei hier an die amtlich verordnete Sprachregelung, die die Bezeichnung „Ostzone" für die Deutsche Demokratische Republik von dem Begriff „Mitteldeutschland" ablösen ließ, was sinnfälliger zum Ausdruck bringen sollte, daß hinter dem „Mitteldeutschland" auch noch ein „Ostdeutschland" liege. Seit dem Jahre 1960 mehren sich die Anzeichen, daß auch die bis dahin auf den nationalistischen Positionen verharrenden westdeutschen Ostforscher begonnen 1 2 3

Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg/Pr., Bd. VIII, Würzburg, 1958, S. 407. ebd., S. 411 f. H. S c h i e n g e r , Der Osten im Geographieunterricht, in: Osteuropa, 1959, Nr. 9, S. 541.

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haben, die „neue" taktische Linie der Ostpolitik der Bonner Regierung zu begreifen und für ihre eigene Mitwirkung bei deren Durchsetzung die entsprechenden Schlußfolgerungen zu ziehen. Selbst der Göttinger Arbeitskreis, die Hochburg des antipolnischen Chauvinismus in Westdeutschland, konnte sich dem allgemeinen Trend der Freundschaftsbeteuerungen zu Polen und der Tschechoslowakei nicht entziehen. Prof. Dr. H. Kraus korrigierte seine Ausführungen vom Jahre 1957 und verkündete nunmehr: „Kein Deutscher, der seine fünf Sinne beieinander hat, denkt an eine zwangsweise Rückführung der vertriebenen Deutschen oder an eine Zwangsaustreibung der an ihrer Statt in den deutschen Ostgebieten angesiedelten Menschen." 1 Zu einem Kristallisationspunkt dieser Tendenzen hat sich die im Jahre 1959 gegründete Zeitschrift „West-östliche Begegnung" entwickelt, die eine Reihe namhafter westdeutscher Ostforscher zu ihren ständigen Mitarbeitern zählt 2 . Obwohl sie auf den ersten Blick den Anschein großer Verständigungsbereitschaft erweckt, tritt das eigentliche Anliegen, auf keinen Fall eine Verständigung mit den Kommunisten herbeizuführen, in fast allen Beiträgen in versteckter oder offener Form in Erscheinung. „Der politischen Offensive des Kommunismus müssen wir mit einer moralischen zu begegnen suchen," forderte z. B. der Kölner Historiker Th. Schieder, „die nicht nur auf unseren höheren Anspruch pocht, sondern ihn auch konkret zu verwirklichen sucht."3 Die europäische Föderation (W. Hönig)4, die Überwindung des völkischen Nationaüsmus zugunsten von „Großgruppen — sei es nun eine der großen Nationen, sei es ein neu sich bildendes Europa" (E. Lemberg) 5 , „Kampf um die Seele der Ostvölker im Wettlauf mit den Sowjets" (H. Beske) 6 — das sind einige Thesen, die das Programm der hinter der Zeitschrift stehenden Kräfte abstecken. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, daß das laut geforderte Gespräch mit den östlichen Nachbarn sich trotz der entmutigenden Erfahrungen der Vergangenheit auch weiterhin auf Vertreter von antikommunistischen Emigrantengruppen beschränkte, wie z. B . ein sehr instruktiver Bericht über eine internatio1

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H. K r a u s , Staatsethische Betrachtungen zum Ringen um die deutschen Ostgebiete, in: Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg/Pr., Bd. X I , Würzburg, 1961, S. 16. West-östliche Begegnung. Deutschland und seine Nachbarn im Osten. Kulturprobleme, Jugendfragen, Berichte, Kommentare. Herausgeber: Gesellschaft zur Förderung der west-östlichen Begegnung in Europa e. V., Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln. Verantwortlicher Redakteur: Peter Nasarski. Erscheint ab Herbst 1961 nach der Fusion mit den Zeitschriften „Der Remter" und „West-Ost-Berichte" unter dem Titel „Europäische Begegnung. Beiträge zum west-östlichen Gespräch". Th. S c h i e d e r , Zwischen Freiheit und Notwendigkeit, in: West-östliche Begegnung, Köln, 1961, Nr. 7, S. 4 (Hervorhebung von mir — R. G.). W. H ö n i g , Um eine Neuordnung ohne Zwangsjacke, in: ebd., 1961, Nr. 3/4, S. 6. E. L e m b e r g , Wandlungen des Nationalbewußtseins, in: ebd., 1961, Nr. 7, S. 2. H. B e s k e , Partnerschaftslösung statt Grenzstreit oder Resignation, in: ebd., 1961, Nr. 2, S. 5.

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nale Europatagung des niedersächsischen Arbeitskreises für Ostfragen in Marienberg Anfang 1961 erkennen läßt 1 . Ein besonders instruktives Beispiel für die Bestrebungen der Bonner Politik, die westdeutsche Ostforschung auf die Notwendigkeit einer verstärkten antikommunistischen Spaltungs- und Aufweichstrategie gegenüber einigen Volksdemokratien zu orientieren, bietet der von Herbert Czaja und Gustav Kafka herausgegebene Sammelband „Deutsche und Polen" 2 . In seinem Beitrag „Zur besseren Verständigung zwischen Deutschen und Polen" erklärte kein geringerer als Ernst Majonica, einer der führenden Ost- und Kolonialexperten der CDU-Bundestagsfraktion, unter anderem: „Polen ist ein integrierender Bestandteil Europas, in seiner Geschichte, in seiner Kultur und Gesellschaftsauffassung. Es darf nie das Gefühl des Ausgestoßenseins aus Europa haben. Das legt uns als Nachbarn eine große Verantwortung auf. Diese Verantwortung erfordert zunächst ein Umdenken bei uns." 3 Sodann entwickelte er ein umfangreiches Programm, wie er sich die Verbesserung der Beziehungen denkt: Radiosendungen aus der Bundesrepublik in polnischer Sprache, Verbreitung westdeutscher Zeitungen, Zeitschriften und Bücher in Polen, Einladung polnischer Studenten zum Studium in der Bundesrepublik und dergleichen mehr. Gewiß — derartige mehr oder weniger unverbindliche Verlautbarungen hat es schon früher gegeben. Aber sie ermangelten des offiziösen Anstrichs und des politischen Gewichts, das dem Sprecher der Regierungspartei nicht abzusprechen ist. Aufschlußreich waren die Schlußfolgerungen Majonicas, denn sie wiesen einige bedeutungsvolle Nuancen auf: „Machtmäßig können und wollen wir den jetzigen Zustand nicht ändern, es würde Krieg bedeuten. Aber wir können unseren Beitrag dazu leisten, die Substanz eines freiheitlichen, christlichen Polens zu erhalten, damit es morgen ein fester Bestandteil eines christlichen Europas sein kann."4 Die Reaktion der

Landsmannschaften

Inzwischen waren westdeutsche Ostforscher nicht untätig geblieben, um die Landsmannschaften und Militaristenverbände als die militantesten Verfechter des westdeutschen Revanchismus auf ihre „gesamteuropäische Mission" hinzulenken. Hier bot die These vom Selbstbestimmungsrecht und vom „Heimatrecht der Deutschen" eine günstige Ausgangsposition. Diese These war zwar bereits in der sogenannten „Charta der deutschen Heimatvertriebenen" vom 5. April 19505 proklamiert worden, aber ihre Bedeutung für eine „abendländische" Kon1 2

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vgl. ebd., 1961, Nr. 3/4, S. 7. Deutsche und Polen. Probleme einer Nachbarschaft. Herausgeber Dr. H. Czaja MdB, Dr. G. Kafka, Recklinghausen 1960. ebd., S. 105. ebd., S. 109 (Hervorhebung von mir — R. G.). Material- und Personalkatalog für ost- und mitteldeutsche Kulturarbeit. Hrsg. vom Bund der Vertriebenen — Vereinigte Landsmannschaften und Landesverbände, Vereinigte Landsmannschaften Mitteldeutschlands, Hamburg 1961, S. 7 f.

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zeption des Dranges nach Osten war unter der Flut chauvinistischer Phrasen stark in den Hintergrund getreten. Es dürfte vor allem das Werk des prononciert revanchistischen Würzburger Völkerrechtlers Hermann Raschhofer sein, diesen Aspekt des „Heimatrechts" unter den westdeutschen Landsmannschaften popularisiert zu haben. Als Beweis möge das Referat dienen, das er am 2. Mai 1960 vor etwa 1500 Landsmannschaftsfunktionären in Kassel hielt und das in der Folge als Broschüre weite Verbreitung fand 1 . Raschhofer wies hier auf die größeren Möglichkeiten hin, die die Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht, das in der Satzung der Vereinten Nationen verankert sei und dessen Anerkennung als „Grundrecht" sogar die Sowjetunion 1960 beantragt habe, für die Wiedervereinigung Deutschlands und für die Festlegung seiner „künftigen" Grenzen biete. Die völkerrechtlich bindenden Bestimmungen des Potsdamer Abkommens überging Raschhofer in diesem Zusammenhang allerdings mit Schweigen. Die Bemühungen, die extrem-chauvinistischen Elemente in den Landsmannschaften zu diplomatischerem Auftreten zu erziehen, blieben nicht ohne Erfolg. Das bewies deren Reaktion auf den oben erwähnten Besuch des Krupp-Vertreters Beitz in Warschau. Die „Welt" zögerte nicht, ihnen dafür volle Anerkennung auszusprechen : „Niemand weiß, wohin nun das losgebundene Schiff der DeutschlandPolen-Frage steuern wird. Eines aber ist gewiß geworden im Verlauf der spannenden Mission des Krupp-Bevollmächtigten Beitz: Der Verband, der viele Hindernisse aufbauen, der Schlingen legen könnte für jeden Warschaufahrer, der Bund der Vertriebenen, er ist geschickter, ist klug geworden. Begleitete er die früheren Versuche Bonns, die zerrissenen Fäden zur Weichsel wieder aufzunehmen, mit zornigen Verdächtigungen, mit düsteren Vorhersagen, mit Wenn und Aber aller Art, so hält er sich jetzt zurück. Und nicht nur das, er läßt in seine offiziellen Kommentare und Berichte über das neue deutsch-polnische Gespräch jenen Hauch von Freundlichkeit und Wärme einströmen, den viele Beobachter bisher vermißten... Diese , Änderung der Haltung' braucht keine Veränderung der Ziele dieses Millionenverbandes zu sein. Viele wären erleichtert, handelte es sich nur um den endgültigen Durchbruch politischer Geschicklichkeit." 2 Natürlich vollzog sich dieser Prozeß nicht ohne Reibungen und Konflikte. Es hieße das geistige Fassungsvermögen vieler revanchistischer Propagandisten überschätzen, wollte man erwarten, daß sie widerspruchslos auf die jahrelang kultivierte Phraseologie verzichteten. So ließ es sich die Sudetendeutsche Landsmannschaft nicht nehmen, anläßlich ihres Bundestreffens in Köln am 20. und 21. Mai 1961 erneut mit massiven und provokatorischen Forderungen aufzumarschieren. Und doch waren auch hier einige neue Formulierungen nicht zu überhören, die eine Anpassung an die neue Situation erkennen ließen. Und zwar war es kein geringerer als Bundesminister Seebohm selbst, der vorsichtig zum Rückzug blies: auf seine Veranlassung nahm die Bundesversammlung der Landsmannschaft 1

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H. R a s c h h o f e r , Das Selbstbestimmungsrecht, sein Ursprung und seine Bedeutung, 2., erw. Aufl., Bonn 1960. Die Welt, Berliner Ausgabe, 1961, Nr. 22 vom 26. I. (Hervorhebung von mir — R. G.).

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in das „Pfingstmanifest 1961" erstmalig einen Punkt auf, der eine wenn auch gedämpfte Verurteilung der Nazipolitik gegenüber der Tschechoslowakei beinhaltete. Die Begründung für die Haltung Seebohms gab das westdeutsche Nachrichtenmagazin „Der Spiegel": „Der Eindruck, den der Verzicht auf jede Kritik am Nationalsozialismus in der Öffentlichkeit, vornehmlich aber bei den westlichen Verbündeten, hätte hervorrufen müssen, wurde von Seebohm rechtzeitig erkannt: Die Koalition mit den Westmächten, auf die allein die Sudetendeutschen heute ihre Heimkehr-Hoffnung stützen, schien ihm ein Bekenntnis zu Demokratie und Antifaschismus wert." 1 Ein weiterer Punkt (Nr. 19) dieses Pfingstmanifestes lautete: „Eine staatsrechtliche Gemeinschaft mit dem tschechischen und dem slowakischen Volk wird nicht von vornherein ausgeschlossen." Obwohl diese Losung ebenso wie die bisher vertretene eines deutschen Sudetenlandes „ohne Tschechen und Kommunisten" bar jeglichen Sinnes für die politischen Realitäten ist, deutet sie doch eine gewisse taktische Schwenkung des sudetendeutschen Revanchismus an, die zweifellos mit der oben dargestellten Gesamtentwicklung der westdeutschen Ostpolitik in Zusammenhang gebracht werden kann. Zunehmender Druck aus England und den USA Inzwischen ging der propagandistische Druck der westlichen Verbündeten auf Bonn unentwegt weiter. Er bezweckte vor allem, die westdeutsche Öffentlichkeit auf die Notwendigkeit von „Opfern" vorzubereiten, die Westdeutschland den höheren Interessen des gesamten Abendlandes zu bringen habe. Hierfür einige beliebig herausgegriffene Beispiele aus dem Jahre 1961: Gaston Coblentz in der „New York Herald Tribüne": „... Nichtsdestoweniger scheint Dr. Adenauer möglicherweise einen politischen Gewinn zu sehen, wenn er eine Art direkter Verbindung mit Polen herstellt, auf einer anderen Ebene als Warschaus unbedeutendes Handelsbüro in Frankfurt ... Es gibt viele Beamte in Dr. Adenauers Regierung — darunter hochgestellte Persönlichkeiten im Außenministerium —, die diese Ansicht teilen. Sie glauben, daß sogar eine nur teilweise Annäherung an Polen Westdeutschland größere Beweglichkeit bei künftigen Verhandlungen mit dem Osten geben würde." 2 Der englische Reporter Sefton Delmer: „Deutschlands betagter Kanzler Adenauer und seine Minister lassen keine Rede aus, ohne an den alten deutschen Chauvinismus zu appellieren, ohne lautstark zu verkünden, daß ihre Regierung sich weigert, die neuen Grenzen Deutschlands im Osten anzuerkennen. Sie fordern die Rückgabe der verlorenen Gebiete und, schlimmer noch, versprechen den Deutschen, daß sie all ihre Ziele mit der Unterstützung des Westens erreichen werden. Adenauer gibt dieses Versprechen, obwohl ihm klar sein muß, daß er es nur durch einen Krieg einlösen kann ... Wir sollten alles tun, um diese Illusionen zu zer1 2

Der Spiegel, Hamburg, 1961, Nr. 21, S. 44. New York Herald Tribüne vom 24.1. 1961.

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stören. Wie? Indem wir dem Beispiel General de Gaulles folgen und noch unmißverständlicher als er erklären, daß wir nicht beabsichtigen, die bestehenden Grenzen in Osteuropa in Frage zu stellen oder zu revidieren, sondern daß wir sie anerkennen, so wie sie sind ... Wenn wir die Polen und Tschechen von der Furcht vor einem neuen deutschen Angriff befreien, dann befreien wir diese unterdrückten Nationen gleichzeitig von der einzigen gefühlsmäßigen Bindung, die sie noch an ihre sowjetischen Herren fesselt — von der Angst, daß die deutsche Wehrmacht, unterstützt durch die gewaltige Streitmacht des Westens, eines Tages wiederkommen könnte, um die Eroberung zu vollziehen, an der Hitler scheiterte."1 Der amerikanische Publizist James Reston schlug vor, „der Sowjetunion die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als Preis für eine Lösung des Berlin-Problems anzubieten" 2 — und zahlreiche andere Stimmen zielten in die gleiche Richtung. Erneute Schwenkung Wer sich der Erwartung hingab, die Entwicklung würde in der hier skizzierten Form geradlinig weitergehen, wurde jedoch alsbald eines besseren belehrt. Während gegenüber den volksdemokratischen Ländern Osteuropas — insbesondere Polens — nicht mit Verständigungsbeteuerungen gespart wurde, Hefen subversive AggressionsVorbereitungen gegen die DDR auf Hochtouren. Die DDR beantwortete die provokatorische Aktivität mit den Schutzmaßnahmen des 13. August 1961. Die Erwartungen der Ultras, diese Maßnahmen würden automatisch ein militärisches Eingreifen der verbündeten Westmächte nach sich ziehen, erfüllten sich jedoch nicht, und die verhinderten Aggressoren machten ihrer Enttäuschung über den „Verrat" der Alliierten in lauten Klagen in der westdeutschen Presse Luft. In offenkundig herausfordernder Absicht veröffentlichte die Pressestelle des Bundes der Vertriebenen im September 1961 eine Erklärung, in der es u. a. heißt: „Der BdV stellt mit allem Nachdruck fest, daß eine Politik der Konzessionen, die an die Grundlagen der politischen Ziele des Deutschland-Vertrages rühren sowie eine Anerkennung der Oder-Neiße-Linie ohne Rücksicht auf den Friedensvertrag bezwecken würde, zu einem nicht abzuschätzenden Einbruch des Vertrauens in die Haltung des Westens, vor allem auch im Lager der Vertriebenen, führen müßte." 3 Es setzte eine verstärkte Aktivität ein, um die Gesinnungsgenossen in den verbündeten westlichen Ländern zu mobilisieren. Eine bedeutende Rolle spielte hierbei die Konferenz in Chicago vom 22. bis 26. März 1962, die vom Johann-Gottfried-Herder-Forschungsrat in Marburg in Verbindung mit der amerikanischen Foundation of Foreign Affairs einberufen wurde und an der etwa 100 Ostexperten 1

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S. D e l m e r , Trail Sinister, London 1961. Das Zitat stammt aus der Übersetzung des letzten Kapitels „Drang nach Osten", in: Der Spiegel, Hamburg, 1961, Nr. 48, S. 67 (Hervorhebung von mir — R. G.). Die Welt, Berliner Ausgabe, 1961, Nr. 172 vom 27. VII. Zitiert bei: R. N u r o w s k i , Revisionismus im Gegenangriff, in Presse-Agentur West, Informationsbulletin, Warschau, 1961, Nr. 11, S. 6.

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aus den USA, der Bundesrepublik, England, Frankreich und der Schweiz teilnahmen 1 . Über die Zielsetzung dieser Konferenz, die der amerikanische Publizist Drew Pearson als „den ersten Vorstoß des deutschen Revanchismus nach Amerika" charakterisierte, schrieb „Le Monde" einen Monat später: „Die Führer der Umsiedler, die eine Minderheit in ihrem Land darstellen, kamen im Bewußtsein der Vorbehalte und des Mißtrauens, die ihren Aktionen vom Ausland entgegengebracht werden, zu der Überzeugung, daß ein gewöhnliches Ableugnen, das sich auf feierliche Versicherungen stützt, nicht mehr ausreicht, um die nicht greifbare Quarantäne, in der sie sich befinden und zu der sie teilweise durch eigene Schuld verurteilt wurden, zu beseitigen. Deshalb beginnen sie auch Kontakte im Ausland zu suchen, um die Gestalt von,Sendboten des guten Willens' anzunehmen und Gespräche über die Grenzen und Ozeane hinweg aufzunehmen." 2 Bemerkenswert an der Konferenz war, daß anstelle der prononcierten Landsmannschafts-Faschisten jetzt solche Vertreter vorgeschickt wurden, die nicht ausdrücklich durch Teilnahme an den nazistischen Verbrechen kompromittiert waren und z. T. führende Funktionen in den im Bundestag vertretenen Parteien CDU, SPD und F D P bekleiden 3 . Über das Ergebnis der Konferenz stellte der in Frankfurt/M. erscheinende Informationsdienst „Neue Kommentare" fest, daß „die Beratungen und Beschlüsse dieser Konferenz in Gemeinsamkeit mit den Ergebnissen der zwei Beratungen, welche das Präsidium des BdV mit Bundeskanzler Adenauer in den Monaten März und April 1962 ... hatte, den Inhalt der Landsmannschaftstreifen" 1962 prägten 5 . Zur Charakterisierung der durch die Chicagoer Konferenz wesentlich beeinflußten neuen Entwicklung seien einige aufschlußreiche Äußerungen registriert. So erklärte der Vorsitzende der Deutschen Jugend des Ostens (DJO): „Nachdem die soziale Eingliederung weitgehend gelungen ist, ist der politische Bereich in den Vordergrund getreten. Über das Verlangen, in die Heimat zurückzukehren (1951), entwickelte sich allmählich die Forderung nach dem deutschen Osten für Deutschland. Bis 1961 hat sich die Forderung nach dem Selbstbestimmungsrecht für alle Völker entscheidend ausgedehnt. Aus der deutschen wurde eine europäische, ja sogar eine weltweite Frage." 5 Ein weiteres Charakteristikum der jüngsten Entwicklung ist die erneute Belebung der Kontakt-Bemühungen zur antikommunistischen Emigration aus den sozialistischen Ländern, während offiziöse Verlautbarungen über die Aufnahme 1

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Ausführliche Berichte in: Neue Kommentare, Frankfurt/M. 1961, Nr. 18, S. 5—9; Przeglad Zachodni, Poznan, 1962, Nr. 3, S. 157-163. Le Monde, Paris, 1962 vom 24. IV., zitiert in: Przeglad Zachodni a. a. 0 . (übersetzt aus dem Polnischen). z. B. Jaksch (SPD), weiter Guttenberg (CDU), Kühn (PDP) sowie aus dem Bereich der Ostforschung die Professoren Lemberg, Rhode, Gross, ferner Dr. Wagner und Dr. Ruffmann. Neue Kommentare, a. a. 0., S. 5. Zitiert in: Presse-Agentur West, Informationsbulletin, Warschau, 1962, Nr. 4, S. 13.

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diplomatischer Beziehungen zu diesen Ländern vermieden werden. Allerdings zielen diese Bemühungen im Unterschied zu früher stärker auf die Beeinflussung der in der ACEN zusammengeschlossenen Emigrantengruppen. Seitens der Landsmannschaften wurde die Losung geprägt: „Es geht nicht um die Grenzen innerhalb Europas, es geht um die Grenzen des freien Europas selbst" (v. Guttenberg in Chicago). „Neue Kommentare" schreiben über die in dieser Richtung gehende Offensive: „Seit Beginn des Jahres 1961 hat sich in den in ACEN vereinigten Emigrantenorganisationen, die ihren Sitz in den USA haben, eine neue Entwicklung angebahnt. Offensichtlich unter dem Druck der amerikanischen Geldgeber beginnt man die bisher ablehnenden Kreise vor allem in den polnischen und tschechischen Emigrantenführungen zu zwingen, mit den Landsmannschaften in der Bundesrepublik in gemeinsamer Front zusammenzuarbeiten und ihre politische Haltung in Bezug auf die Grenzen in Europa entsprechend den Gebietsforderungen, wie sie in Bonn erhoben werden, zu ändern." 1 Als ein Ergebnis dieser revanchistischen Erpressungsmanöver ist die Ablösung des „Rates der Freien Tschechoslowakei", der in der Grenzfrage auf dem Boden des Abkommens stand, durch ein sogenanntes „Komitee der Freien Tschechoslowakei", dessen erste Maßnahme die Einsetzung eines Delegierten in Bonn war, seitens der ACEN anzusehen. Dagegen leistete die polnische Emigration starken Widerstand, der sich z. B. im Auftreten der exilpolnischen Teilnehmer in Chicago und in einer aus diesem Anlaß veröffentlichten Erklärung äußerte. „Dziennik Zwi^zkowy", das Organ des Polish-American Congress, bemerkte in diesem Zusammenhang: „Und wenn die ACEN mit der Absicht, gefügige Polen zu finden, die bereit sind, ihren Delegierten nach Bonn zu entsenden, die Ablösung der gegenwärtigen polnischen Delegation durch eine andere erreichen möchte, dann müßte die derzeitige günstige Haltung des Polnisch-amerikanischen Kongresses gegenüber der ACEN von Grund aus revidiert werden." 2 Starken Auftrieb erhielt der Flügel der revanchistischen Ultras in Westdeutschland durch die Anfang 1963 abgeschlossene Achse Bonn—Paris, die von der polnischen Regierung in einer Note an die französische Regierung folgendermaßen eingeschätzt wurde: „Der Vertrag vom 22. Januar 1963 ermöglicht eine Stärkung der Positionen der westdeutschen revanchistischen Kräfte, die gegenüber Polen und anderen Staaten Gebietsansprüche erheben." 3 Verstärkter

Widerstand

der fortschrittlichen

Kräfte in

Westdeutschland

Die Versuche des Bonner Regimes, die Politik des kalten Krieges neu zu beleben, konnten jedoch nicht über die innere Schwäche der zu Ende gehenden „Ära Adenauer" hinwegtäuschen. Das Jahr 1964 ist nicht das Jahr 1956. Die von der Sowjetunion und allen sozialistischen Ländern beharrlich verfolgte Politik der friedlichen Koexistenz hat inzwischen auch in Westdeutschland Befürworter und Verteidiger 1 2 3

Neue Kommentare, a. a. O., S. 11. Zitiert in: ebd., S. 12. Neues Deutschland, 1963, Nr. 58 vom 27. II.

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gefunden. Was noch 1956 undenkbar erschien: beherzte Bürger der Bundesrepublik scheuen sich nicht mehr, laut und vornehmlich ihre Stimme zu erheben, um gegen die verhängnisvolle antinationale Bonner Politik zu protestieren. Ende Februar 1962 wurde in der westdeutschen Presse der Wortlaut einer Denkschrift veröffentlicht, mit der sich acht namhafte evangelische Persönlichkeiten bereits im November 1961 an die Bundestagsfraktionen der westdeutschen Parteien gewandt hatten 1 . Darin wird festgestellt, daß das Mißtrauen gegen Westdeutschland auch in der Politik der verbündeten Westmächte ein latenter, aber deshalb nicht weniger wichtiger Faktor geblieben sei. Die westdeutschen Positionen seien dadurch geschwächt worden, daß die Bundesregierung an Ansprüchen festgehalten habe, die auch bei den Verbündeten keine Zustimmung finden. „Als wichtigstes Beispiel für die Möglichkeiten einer aktiven Außenpolitik" — so heißt es wörtlich in dem Memorandum — „nennen wir die Normalisierung der politischen Beziehungen zu den östlichen Nachbarn Deutschlands." Die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze im Rahmen eines umfassenden Programms zur Regulierung aller Probleme würde die Beziehungen Westdeutschlands zu Polen entscheidend entlasten und den westlichen Verbündeten das Eintreten für die übrigen Anliegen der Bundesrepublik erleichtern. Die Erklärung der „Tübinger Acht" führte zu breiten öffentlichen Diskussionen, in denen die Meinungen heftig aufeinanderprallten. Es bildeten sich innerhalb aller Parteien regelrechte Fronten pro und contra, die sogar bis in die Landsmannschaften hineinreichten2. Fast um die gleiche Zeit erregte ferner ein Fernseh-Interview des Vizepräsidenten des Bundestages Thomas Dehler (FDP) großes Aufsehen, weil dieser sehr energisch die sofortige Aufnahme von Verhandlungen mit der DDR und mit der Sowjetunion über die deutsche Frage forderte3. Daß es sich bei dem Auftreten dieser — und zahlreicher anderer — Persönlichkeiten, denen man im allgemeinen keine besonderen Sympathien für den Kommunismus nachsagen kann, nicht um Äußerungen intellektueller Einzelgänger handelt, sondern um den Ausdruck des in breiten Kreisen der westdeutschen Bevölkerung schwelenden Unbehagens über die aggressive und daher risikobeladene Ostpolitik der Bundesregierung, mußten die Ultras bei verschiedenen Gelegenheiten zur Kenntnis nehmen. Bei den Bundestagswahlen im September 1961 hatten bereits BHE und Deutsche Partei, die von der Bevölkerung als politische Exponenten dieser Richtung angesehen wurden, eine vernichtende Niederlage erlitten 4 . Allerdings hatten die Landsmannschaftsführer vorsorglich für geeignete Auffangstellen 1 2

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Dokumentation der Zeit, Berlin, 1962, H. 260, S. lOf. Erwähnt sei hier die zustimmende Erklärung des „Beienroder Konvents", einer Gruppe ehemals ostpreußischer evangelischer Geistlicher und Laien, vom September 1962; vgl. Europäische Begegnung, Köln, 1962, Nr. 11, S. 46. Dokumentation der Zeit, a. a. O., S. 16f. Sie erhielten 870756 Stimmen = 2,8% gegenüber 2381348 Stimmen = 8% bei den Bundestagswahlen 1957; vgl. Dokumentation der Zeit, Berlin, 1957, H. 153, S. 47 f. und 1961, H. 249, S. 1. Wissenschaft

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innerhalb der großen Parteien CDU und SPD gesorgt, die die revanchistischen Forderungen der dezimierten Rechtsradikalen übernahmen. Deutlicher noch äußerte sich die Meinung der Bevölkerung bei den Wahlen zum Westberliner Abgeordnetenhaus am 7. Februar 1963. Hier erhielt die CDU wegen ihrer intransigenten Hintertreibung des Zusammentreffens zwischen dem SPDBürgermeister Brandt und dem sowjetischen Ministerpräsidenten Chruschtschow eine empfindliche Abfuhr durch die Westberliner Wähler1. Ferner sei auf die zahlreichen außerparlamentarischen Massenaktionen — Kundgebungen, Demonstrationen, Unterschriftensammlungen gegen die atomare Rüstung und dergl. — verwiesen, in denen sich der wachsende Widerstand von Millionen Bürgern der Bundesrepublik gegen Adenauer und die von ihm bis zuletzt zäh verfolgte Kriegspolitik manifestierte2. Aber auch im „verbündeten" Ausland mehrten sich besorgte Stimmen, die den von der Bonner Regierung eingeschlagenen Weg der Verschärfung der internationalen Spannungen durch das erneute Hochspielen revanchistischer Forderungen verurteilten. Aus der Fülle derartiger Äußerungen seien hier nur einige wenige herausgegriffen: Am 26. September 1962 trat der einflußreiche amerikanische Bankier James Warburg mit einem Plan an die Öffentlichkeit, der unter anderem die Defacto-Anerkennung der Deutschen Demokratischen Republik und die endgültige Bestätigung der Oder-Neiße-Grenze enthält 3 . Die gleiche Forderung erhob auf einem Podiumsgespräch in Hamburg am 12. Oktober 1962 der britische LabourAbgeordnete Crossman4 sowie Ende Februar 1963 der zum Nachfolger des verstorbenen Führers der Labour-Party Gaitskell gewählte Harold Wilson 5 . Auch die Teilnahme von 25 konservativen, liberalen und Labour-Abgeordneten an einer Konferenz über Probleme der Koexistenz und Sicherheit in Warschau am 25. Januar 1963 ist als eine Demonstration gegen den revanchistischen Kurs der Bonner Regierung und als Beweis dafür anzusehen, daß eine realistischere Einschätzung des Kräfteverhältnisses in allen politischen Parteien Großbritanniens Boden gewinnt 8 . Inzwischen ging die „Ära Adenauer", das Symbol des kalten Krieges und der politischen Provokationen, ruhmlos zu Ende 7 . Wenn auch die Monopolpresse West1

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Der Stimmenanteil der CDU sank von 37,7% im Jahre 1958 auf 28,9% im Jahre 1963. Über 160000 Wähler kehrten der CDU den Rücken. Im Frühjahr 1963 erregten die Reportagen des westdeutschen Fernseh-Redakteurs Neven DuMont „Polen in Breslau" und „Sind wir alle Revanchisten?" großes Aufsehen, die bei aller betonten Distanzierung vom Sozialismus für eine Verständigungspolitik gegenüber Polen eintraten. Neven DuMont entging auf dem Treffen der Schlesischen Landsmannschaft am 9. Juni 1963 nur knapp einem Lynchpogrom aufgeputschter Teilnehmer des Treffens. Vgl. Neue Kommentare, Frankfurt/M., 1963, Nr. 13. 4 Dokumentation der Zeit, Berlin, 1962, H. 272, S. 56. ebd., H. 273, S. 54. Neues Deutschland, 1963, Nr. 60 vom 1. III., und Dokumentation der Zeit, Berlin, 1963, 8 H. 284, S. 55. Dokumentation der Zeit, Berlin 1963, H. 280, S. 64. Adenauer trat Mitte Oktober 1963 nach vierzehnjähriger Amtszeit als Regierungschef zurück.

Westdeutsche Ostforschung und Bonner Ostpolitik

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deutschlands und des kapitalistischen Auslandes in ihren Nachrufen die Verdienste Adenauers Tim die Stärkung der „freien Welt" hervorhob, so waren in vielen Kommentaren doch Töne der Erleichterung unüberhörbar, daß jener Mann von der politischen Bühne abtrat, der immer mehr zu einer moralischen Belastung f ü r die gesamte Strategie des von den USA geführten Weltimperialismus geworden war. Der neue Bundeskanzler Prof. Erhard und ein Teil seiner Regierung — z. B. Vizekanzler Mende, Außenminister Schröder u. a. — gelten als Repräsentanten einer weniger provokativen, einer elastischeren Taktik in der Ostpolitik Bonns. Das kam allerdings in Erhards Regierungserklärung, die er vor dem Bundestag im Oktober 1963 abgab, kaum zum Ausdruck: Wie sein Vorgänger forderte auch er die Wiederherstellung der Grenzen von 1937, also die Fortsetzung der Revanchepolitik 1 . Gleichzeitig nahm er den scharfmacherischen Revanchistenführer Krüger in sein Kabinett auf. Auf der anderen Seite verabschiedete er einige der einflußreichsten Exponenten des Adenauerschen Regierungskurses, so den Staatssekretär Globke, die „graue Eminenz" des alten Bundeskanzlers, und den langjährigen Staatssekretär und faktischen Beherrscher des sog. „Gesamtdeutschen" Ministeriums, Thedieck. Die Dinge sind in Fluß geraten und nicht mehr auf den Stand von 1955 zurückzudrängen. Wie zäh der Widerstand der in die Defensive gedrängten Ultras in Bonn ist, zeigt sich auf Schritt und T r i t t : Dem 87-jährigen Bundeskanzler Adenauer mußte sein Rücktritt von seinen eigenen Parteifreunden im wahrsten Sinne des Wortes abgerungen werden. Globke ging erst, nachdem ihn das Oberste Gericht der D D R wegen begangener Kriegsverbrechen in Abwesenheit zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt hatte und seine Position moralisch unhaltbar geworden war 2 . Auf der Jubiläumstagung anläßlich des fünfzigjährigen Bestehens der Deutschen Gesellschaft f ü r Osteuropakunde in Westberlin, die offensichtlich von Verfechtern einer beweglicheren Ostpolitik beeinflußt wurde, beschwor der Bonner Botschafter bei der NATO, Prof. Wilhelm Grewe, die anwesenden Ostexperten, nicht „unsere Interessen preiszugeben, selbst wenn es sich u m solche handelt, die einer mächtigen Zeitströmung entgegenzustehen scheinen" 3 . Zweifellos meinte dieser Bonner Ultra damit die territorialen Forderungen der Bundesrepublik. Dennoch vermochte auch das aggressive Auftreten Grewes den Eindruck nicht zu verwischen, daß er Rückzugspositionen zu verteidigen suchte und daß die sterile Konzeption der Adenauerschen Ostpolitik nicht mehr zu neuem Leben erweckt werden kann. Perspektiven Es wäre verfrüht zu behaupten, die bewußten Verfechter der friedlichen Koexistenz in Westdeutschland hätten bereits die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich. Das wäre angesichts der seit Jahren betriebenen hemmungslosen antikommuni1 2

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vgl. Die Welt, Berliner Ausgabe, 1963, Nr. 244 vom 19. X. Das Urteil wurde am 23. Juli 1963 ausgesprochen. Globke trat Ende September 1963 als Staatssekretär zurück. Die Konferenz der Osteuropa-Gesellschaft fand vom 23. bis 26. Oktober 1963 in West-

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R. Goguel

stischen Hetze auch ein Wunder. Doch die Beweiskraft ihrer Argumentation wird durch die ständig neu aufbrechenden klassenbedingten Widersprüche zwischen den revanchistischen Illusionen und den Realitäten der heutigen Welt gestärkt. Dieser Sachlage müssen auch die Ideologen und Propagandisten des Revanchismus und Antikommunismus in Westdeutschland Rechnung tragen. Sie zwingt sie, „stärker zu lavieren und sich wirkungsvoller zu tarnen". Das ist ein Ausdruck der Schwäche des Antikommunismus1. Es ist sicherlich kein Zufall, daß sich die ideologischen Umgruppierungen, von denen hier berichtet wurde, im Ergebnis des X X . und X X I I . Parteitages der KPdSU vollzogen, wie auch die neuerlichen taktischen Schwenkungen durch die Maßnahmen der DDR am 13. August 1961, wenn nicht ausgelöst, so doch wesentlich beeinflußt wurden. Diesen Prozeß haben wir an den Schwankungen — oder besser gesagt: Winkelzügen — der Bonner Ostpolitik innerhalb dieses Zeitabschnittes zu verfolgen versucht. Dabei kam es uns vor allem darauf an, die enge Bezogenheit gewisser von westdeutschen Ostforschern entwickelter Konzeptionen zu den Erfordernissen der Ostpolitik des westdeutschen Imperialismus aufzudecken. Diese Wechselbeziehungen lassen sich etwa an der allmählichen Verlagerung der „KulturträgerThese" von der nationalistischen zur europäisch-abendländischen Variante im Zusammenhang mit der „Integrationspolitik" feststellen. Besonders deutlich treten sie bei der Forderung nach dem „Selbstbestimmungsrecht" und dem „Heimatrecht" der ehemaligen Umsiedler in Erscheinung. Doch auch diese Forderung trägt bereits den Keim unüberwindlicher Widersprüche in sich. Denn von Jahr zu Jahr wächst die Zahl der in den polnischen Westgebieten geborenen polnischen Bürger, die das Heimatrecht für sich in Anspruch nehmen, während die Zahl der deutschen Umsiedler abnimmt. Man wird also mit neuen Argumenten rechnen dürfen, die die alten Forderungen der westdeutschen Revanchisten rechtfertigen sollen. Die politische Entwicklung ist von vielen Faktoren abhängig, und unerwartete Ereignisse können über Nacht neue Situationen schaffen. Noch ist die Gefahr nicht gebannt, ja, sie ist größer denn je, daß sich die Bonner Militaristen in den Besitz von Atomwaffen setzen und die Welt durch überraschende Provokationen vor vollendete Tatsachen stellen möchten. Doch nichts wird die Erkenntnis entkräften können, die Walter Ulbricht auf dem VI. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands formulierte: „Imperialistische Kriegspläne, Revanchepolitik und ähnliche Vorstellungen in den Köpfen mancher Leute in den USA und Westdeutschland sind völlig anachronistisch. Sie stehen mit der Wirklichkeit nicht mehr im Einklang. Die Entwicklung des Kräfteverhältnisses in der Welt zugunsten des

1

berlin statt. Grewe hielt die Schlußansprache am 26. Oktober. — Zitiert nach dem auf der Konferenz verteilten hektographierten Manuskript der Rede Grewes. vgl. die Diskussionsrede von Hermann M a t e r n auf dem 4. Plenum des ZK der SED, in: Neues Deutschland, 1963, Nr. 305 vom 6. XI., S. 5.

Westdeutsche Ostforschung und Bonner Ostpolitik

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Sozialismus und die Entwicklung der neuzeitlichen Vernichtungsmittel gebieten allen Völkern, im eigenen Interesse diese kriegslüsternen Kräfte und gefährlichen Abenteurer ein für allemal von den Hebeln der Macht zu entfernen." 1 Es wird Sache der Friedenskräfte in ganz Deutschland sein, diese Entwicklung im Interesse der Nation zu beschleunigen. 1

W. U l b r i c h t , Referat: Das Programm des Sozialismus und die geschichtliche Aufgabe der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Berlin 1963, S. 21.

A . HIERSCHE

Der Held der sowjetischen Gegenwartsliteratur im Zerrspiegel westdeutscher Literaturkritik* I n jeder Entwicklungsphase der Sowjetunion haben Literatur und Kunst ihr einflußreiches Wort mitgesprochen, wenn es galt, der Partei bei ihrem verantwortungsvollen Tun zu helfen. Auch die Gegenwart des kommunistischen Aufbaus sieht die Sowjetliteratur an der Seite der Avantgarde, im Dienste des Volkes. N. S. Chruschtschow selbst äußerte sich wiederholt zu ihren Pflichten: „Im Kampf um den Kommunismus, den wir führen, ist es von besonders großer Bedeutung, alle Menschen im Geist der kommunistischen Ideale zu erziehen. Das ist gegenwärtig die Hauptaufgabe der ideologischen Arbeit unserer Partei. Wir müssen alle Arten des ideologischen Rüstzeugs der Partei in Gefechtsbereitschaft setzen. Dazu gehört auch ein so machtvolles Mittel der kommunistischen Erziehung wie Literatur und Kunst." 1 Ihren Traditionen folgend und den Forderungen der Epoche antwortend, hat die Sowjetliteratur unserer Zeit in den Mittelpunkt ihrer Werke den Menschen gestellt, der zum ersten Mal in der Geschichte eine Gesellschaftsordnung schafft, die allen gleichermaßen Wohlstand, Frieden und Glück garantiert. Es ist verständlich, daß dieser literarische Held zum Gegenstand allgemeinen Interesses in der ganzen Welt wurde, und das sowohl bei seinen Freunden als auch bei seinen Feinden. Die Menschen in der DDR, die durch gemeinsame Ziele und gleiche Anschauungen mit der Sowjetunion verbunden sind, sehen in dem Helden der sowjetischen Literatur unserer Tage ein Vorbild in ihrem Kampf um die Vollendung des Sozialismus, einen Pionier auf ihrem künftigen Weg zum Kommunismus, der ihnen durch das Programm der SED gewiesen wird. Obgleich das literarische Abbild des sowjetischen Menschen für Westdeutschland noch nicht die gleiche hohe Bedeutung haben kann, trifft es auch dort auf wachsendes Interesse. Es entspricht jedoch dem Wesen des westdeutschen Staates, der durch den Mund seiner führenden Politiker als Bollwerk gegen den Kommunismus deklariert wurde, daß dieses Interesse größtenteils in antikommunistischem Sinne befriedigt wird oder befriedigt werden soll. Die Slawisten der DDR haben bereits des öfteren auf weitverbreitete Erscheinungen in der westdeutschen Interpretation der Sowjetliteratur hingewiesen und werden es sich auch in Zukunft nicht nehmen lassen, zu mahnen und antihuma* Überarbeitete Fassung des Artikels aus ZfSl VIII (1963), S. 607—620. 1 N. S . C h r u s c h t s c h o w , In hohem Ideengehalt und künstlerischer Meisterschaft liegt die Kraft der sowjetischen Literatur und Kunst, in: N. S. C h r u s c h t s c h o w / L . F. I l j i t s c h o w , Die Kunst gehört dem Volke. Reden zur Kulturpolitik, Berlin 1963, S. 97f.

Sowjetische Gegenwartsliteratur im Zerrspiegel

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nistische Verzerrungen des sowjetischen literarischen Menschenbildes zu verurteilen. Diese Absicht liegt auch vorliegendem Aufsatz zugrunde. „Die Sowjetliteratur und -kunst sind dazu berufen, in eindrucksvollen künstlerischen Bildern die große und heldenhafte Zeit des Aufbaus des Kommunismus wiederzugeben und richtig widerzuspiegeln, wie sich die neuen kommunistischen Beziehungen in unserem Leben durchsetzen und siegen." 1 Demnach kann eine Kritik, die sich mit der Sowjetliteratur der Gegenwart befaßt, eine Stellungnahme zum Kommunismus selbst nicht umgehen. Interpretation der literarischen Äußerungen der werdenden kommunistischen Gesellschaftsordnung und Wertung des Kommunismus sind nicht voneinander zu trennen. Diesen Zusammenhang darf man nicht übersehen, will man die Aufnahme des Helden der Sowjetliteratur durch die westdeutsche Kritik untersuchen. I m offiziellen Westdeutschland ist die Einstellung zum Kommunismus — wie die Innen- und Außenpolitik und das Geistesleben tagtäglich demonstrieren — schroff ablehnend. Die Masse der Druckerzeugnisse suggeriert den Menschen vielfach längst überholte — teils primitive, teils für anspruchsvollere Leser gedachte — Vorstellungen vom Kommunismus, die auch von der westdeutschen Literaturkritik nach Kräften genährt werden. Dennoch wäre es unzulässig, ja geradezu falsch, nicht aufmerksam zu differenzieren. Den Prognosen vom angeblichen baldigen Ende der kommunistischen Entwicklung, vom „Todeskampf" 2 , der „Zersetzung" der neuen Gesellschaftsordnung stehen heute schon nüchterne Erkenntnisse westdeutscher Wissenschaftler und Kritiker gegenüber, die keinesfalls nur von Freunden der Sowjetunion geäußert werden. Der bekannte Ostforscher O. Schiller mag hier stellvertretend für andere zitiert werden. Mit vielen Vorbehalten und Einwänden gibt er zu, daß die Sowjetunion auf ihrem Wege zum Kommunismus nicht aufzuhalten ist und daß von ihrer inneren Zersetzung keine Rede sein kann: „Das kommunistische Regime hat nach so langer Dauer gewisse Tatsachen geschaffen, die einfach irreversibel sind. Das heißt, die Zustände können sich wandeln, aber nicht im Sinne einer Wiederherstellung der früheren Ordnung .. ." 3 Symptomatisch ist auch eine Feststellung H. Ischreyts: „Man hört bei uns immer wieder, der Kommunismus habe Ideale und vermöge deswegen besser als unsere Gesellschaft die Jugend zu fesseln. J a , man vernahm neulich sogar in einer Diskussion von Fachleuten für Probleme der kommunistischen Welt, der Vergleich der totalen Systeme von Kommunismus und Nationalsozialismus sei unzulässig, weil der Kommunismus im Gegensatz zum Nationalsozialismus ein humanes Ziel habe." 4 Wider ein weitverbreitetes gefährliches Vorurteil, das als Begründung der westdeutschen Politik gegenüber der Sowjetunion anzusehen ist, wendet; 1 2

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4

N. S. C h r u s c h t s c h o w , a. a. 0., S. 102. vgl. u. a. A. K a s h i n , Wie die Sowjetjugend denkt, in: Der europäische Osten, 7. Jg., 1961, Nr. 78, S. 2 2 2 - 2 2 7 . 0. S c h i l l e r , Die „Verbürgerlichung" in der Sowjetunion in ihrer Bedeutung für uns, in: Osteuropa, 11. Jg., 1961, Nr. 6, S. 404. H. I. (d. i. H. I s c h r e y t ) , Die Verbannung des homo Indens, in: Ostbrief, 7. Jg., 1961, Nr. 75/76, S. 482.

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A. Hiersche

sich der bekannte Göttinger Slawist Prof. M. Braun, wenn er schreibt, daß die Sowjetunion nicht an eine Aggression denkt und es mit der friedlichen Koexistenz ehrlich meint: „Die historische Aufgabe der Sowjetunion besteht also darin, diese endgültig richtige Lösung (den Sozialismus-Kommunismus, A. H.) im eigenen Lande zu wahren und auszubauen, bis dann alle anderen Völker die bisherigen Hemmungen und Hindernisse überwinden und sich dem sowjetischen Beispiel anschließen werden."1 Alle drei zitierten Äußerungen lassen gewisse Ansätze zu objektiver Bewertung der Sowjetunion und der sich entwickelnden kommunistischen Gesellschaftsformation erkennen. Es ist anzunehmen, daß die genannten Autoren die Meinung breiterer Kreise der westdeutschen Bevölkerung zum Ausdruck bringen. Es bestätigt sich auch hier die Einschätzung Walter Ulbrichts auf dem VI. Parteitag der SED, daß sich in Westdeutschland auch im geistig-kulturellen Bereich die Vertrauenskrise zwischen den Geistesschaffenden und den derzeitigen Bonner Machthabern mit ihrer bestimmenden Staatsdoktrin des Antikommunismus entwickelt2. Bei der unmittelbaren Betrachtung der Sowjetliteratur konzentriert sich die Aufmerksamkeit der bonnhörigen westdeutschen Kritik auf den Menschen der Übergangsperiode zum Kommunismus. Nicht zufällig betitelte K. Mehnert sein Buch über die Sowjetunion mit „Der Sowjetmensch"3, und nicht von ungefähr wurden auf der Jahrestagung 1961 der „Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde" gerade zu diesem Thema im Anschluß an ein Referat Mehnerts über „Lebensführung" einige bemerkenswerte Äußerungen getan 4 . Die Problematik des Übergangs zum Kommunismus führe letztlich wieder auf die Grundfrage nach dem Wesen des Menschen zurück. Die verschiedene Auffassung vom Menschen sei aber gerade der Angelpunkt der geistigen Ost-West-Spaltung, meinte der Soziologe A. Buchholz 5 . Ein anderer Diskussionsredner kam zu dem Schluß, daß die Umformbarkeit des Menschen — dieses für die Beurteilung kommunistischer Projekte so entscheidende Problem — noch immer nicht genügend ernst genommen werde6. Die Literaturkritik beweist, daß man in Westdeutschland in der Tat seit geraumer Zeit darum bemüht ist, sich diesem Gebiet zu widmen. Dafür scheinen drei Beweggründe ausschlaggebend zu sein: Erstens resultiert dieses Interesse für den Menschen aus der Defensivstellung, in welche die antikommunistische Propaganda durch die offensichtlichen ökonomischen und wissenschaftlichen Erfolge der Sowjetunion gedrängt wurde. Auf diesen Gebieten ist der Sozialismus kaum noch zu diskreditieren — konkretes Zahlenmaterial wirkt allen Spekulationen entgegen. Deshalb wird die Auseinandersetzung * M. B r a u n , Das russische Sendungsbewußtsein, Hannover 1960, S. 43. 2 vgl. W. U l b r i c h t , Referat: Das Programm des Sozialismus und die geschichtliche Aufgabe der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Berlin 1963, S. 225 f. 3 K. M e h n e r t , Der Sowjetmensch. Versuch eines Porträts nach 13 Reisen in die Sowjetunion 1929 — 1959, 8. Aufl., Stuttgart 1961. " vgl. Jahrestagung 1961 (Bericht), in: Osteuropa, 12. Jg., 1962, Nr. 1/2, S. 153-156. " vgl. ebd., S. 155. vgl. die Ausführungen von H. F r e n t z e l - W a g n e r , ebd., S. 156.

Sowjetische Gegenwartsliteratur im Zerrspiegel

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auf Gebiete wie Philosophie, Soziologie oder Literaturwissenschaft gelenkt, weil hier die Chancen für den Antikommunismus günstiger zu sein scheinen. Hier — um wieder zum Thema des Menschen zu kommen — kann mit nicht genau definierten Begriffen wie Freiheit, schwer faßbaren Größen wie Individualität oder auch irrationalen Faktoren wie Seele operiert werden. Letzten Endes findet sich immer noch ein Zufluchtsort, in dem sich der westdeutsche Literaturinterpret vor der marxistischen Argumentation sicher glaubt. Zweitens rückt das sozialistisch-kommunistische Menschenbild auch deshalb in den Mittelpunkt, weil viele Bürger Westdeutschlands in ihm möglicherweise einen Ausweg aus dem Dilemma ihres bisherigen Lebens erblicken könnten und das verhindert werden soll. Die bürgerliche Soziologie beschreibt in unzähligen Abhandlungen 1 die Kalamität, in der sich das Individuum im Kapitalismus befindet : „Die westliche Welt ist in einer Sackgasse. Sie hat viele ihrer ökonomischen Ziele erreicht und den Sinn für ein Ziel des Lebens verloren", resümiert E . Fromm 2 , und der führende amerikanische „Sowjetologe" E. Goldhagen klagt: „Der Gedanke des Fortschritts, der Glaube an das unaufhaltsame Fortschreiten der menschlichen Gesellschaft in Richtung auf eine immer größere soziale und moralische Vervollkommnung . . . ist heute im Westen praktisch ausgestorben . . . Trübsal, Pessimismus und Unsicherheit hüllen heute die westliche Zivilisation ein." 3 Die Zitierung solcher düsterer Diagnosen ließe sich beliebig fortsetzen, ebenso der utopischen Rezepte, die jede der vielen Abhandlungen als Ausweg empfiehlt. Angesichts dessen ist es gar nicht ausgeschlossen, daß insbesondere die Intellektuellen im SozialismusKommunismus eine reale Chance zur Überwindung ihres oftmals in der Tat perspektivelosen Daseins sehen könnten. Dem soll dadurch vorgebeugt werden, daß die Literaturinterpretation den sowjetischen Menschen als ebenso umstrickt von Pessimismus, Depressionen und Kleinigkeiten darstellt 4 . Das scheint ein nicht unwichtiger Grund dafür zu sein, daß es der westdeutschen Literaturkritik so sehr um die Deutung der Helden des sowjetischen Gegenwartsromans zu tun ist. Eng mit dem zweiten ist der dritte Grund für das wachsende Interesse am Menschen der beginnenden kommunistischen Ära verbunden. Unter Mißachtung der 1

2 8

4

Schriften über den Menschen in der kapitalistischen Gesellschaft sind in Westdeutschland Legion. Hier nur wahllos einige Titel: H. S c h e l s k y , Die skeptische Generation, Düsseldorf 1958; H. T h i e l i c k e , Die Lebensangst und ihre Überwindung, Gütersloh 1954; K. J a s p e r s , Die Atombombe und die Zukunft des Menschen, München 1958; A. Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter, Hamburg 1957; C. E . B e n d a , Der Mensch im Zeitalter der Lieblosigkeit, Stuttgart 1957, u. a. m. E. F r o m m , Der moderne Mensch und seine Zukunft, Frankfurt/M. 1960, S. 323. E. G o l d h a g e n , Die Zukunft der kommunistischen Gesellschaft, in: Der Monat, 13. Jg., 1961, Nr. 151, S. 7. vgl. z. B. H. v. S s a c h n o : „Der Pessimismus ist aus der russischen Literatur nicht wegzudenken. E r ist ein seelisches Klima, ein den Russen als Anlage mitgegebener Wesenszug". Vgl. dazu den Artikel: Ihre Helden scheitern wieder. Eine neue Generation in der sowjetischen Literatur, in: Die Kultur, 1958, Nr. 120, S. 4 ; vgl. ferner das in der Entstellung der sowjetischen Wirklichkeit kaum noch zu überbietende Buch von V. S h a b i n s k y , Ostlicht. Russische Lyrik und Prosa 1956—1957, Berlin 1958.

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A. Hiersohe

Tatsachen versucht die westdeutsche Kritik am literarischen Helden zu zeigen, daß er wieder zur bürgerlichen Gesellschaft zurückkehre, bürgerliche Gewohnheiten annehme, nach Eigentum strebe und so den Kommunismus von innen heraus zersetzen werde 1 . Die Schlußfolgerung für den westdeutschen Bürger, der sich nach einer Perspektive sehnt und sie in der Sowjetliteratur zu finden beginnen könnte, dürfte nicht schwer zu erraten sein: der Weg zum Sozialismus lohne sich nicht, da er letzten Endes wieder in den Ausgangspunkt münde. Gleichsam allen Spekulationen und Fälschungen westdeutscher Interpreten zum Trotz nimmt der Mensch des kommunistischen Aufbaus in der Sowjetliteratur immer vollkommenere künstlerische Form an. Zwar gibt es in den Romanen der Gegenwart noch keinen Pavel Vlasov, Pavel Korcagin, Grigorij Melechov oder Levinson, aber viele Helden sind doch bemerkenswerte künstlerische Erscheinungen. Die Lyrik überbot in den letzten Jahren teilweise die Leistungen der Prosa und schuf eine solche klassische Gestalt wie den Erzähler in A. Tvardovskijs Poem „Fernen über Fernen". Der Geist des kommunistischen Zeitalters lebt in diesen Menschen, beherrscht ihr Denken und Handeln. Die Romanhelden sind keine abstrakten Schemen, keine personifizierten Prinzipien, sondern blutvolle Menschen, die sich auch irren, Fehler begehen und mit Schwächen zu kämpfen haben. Sie werden als Ergebnisse der bisherigen Menschheitsentwicklung gezeigt, nicht als Kopien eines unwirklichen, konstruierten Idealbildes 2 . Vielfältig sind die künstlerischen Methoden der Darstellung; manche Autoren neigen zu einer romantischen Auffassung des Helden, wie Bubennov in „Adlersteppe", andere wieder drängen das Emotionale zurück, wie Kozevnikov in Baluev, einige sehen den Helden durch das Prisma des lyrischen „Ich", wie Tendrjakov seinen Andrej Birjukov, viele dagegen mit dem nüchternen Blick des objektiven Erzählers, wie Nikolaeva den Dmitrij Bachirev. Einer ihrer bemerkenswertesten Charakterzüge ist das Verantwortungsbewußtsein, wie I. Vinogradov unter Hinweis auf Gestalten Aksenovs feststellte: „Gerade diese schon zum Charakter gehörende Unfähigkeit, Eindrücke, die das Leben vermittelt, gedankenlos aufzunehmen, gerade das ernste, verantwortungsbewußte Verhalten zu ihren Überzeugungen, Anschauungen, Handlungen bilden 1

2

Als Popularisatoren für diese überall anzutreffenden Spekulationen seien nur die in diesem Artikel genannten Aufsätze bzw. Bücher von B. B o d e , F. F e j t ö , K. M e h n e r t u n d das der sowjetischen Literatur und Kultur gewidmete Heft der „Ost-Probleme" (1960, Nr. 25/26) angeführt. vgl. hierzu A. K u r e l l a , Der Sozialismus und die bürgerliche Kultur, in: Einheit, 16. Jg., 1961, Nr. 1, S. 88: „Nach unserer Auffassung können wir weder ein ideales .Menschsein' zugrunde legen, von dem sich die konkreten Menschen entfernen und das in der klassenlosen Gesellschaft .wiederhergestellt' werden soll. Ebensowenig ist als ,Menschsein' ein idealer Zukunftszustand anzusehen, auf den wir uns durch eine .unmenschliche' oder .noch nicht menschliche' Vorgeschichte hindurch zubewegen. Das Menschsein, die Entwicklung der Menschheit ist vielmehr ein Prozeß des Werdens, in dem jede Etappe sowohl relativ als auch absolut bedeutsame menschliche Werte hervorbringt."

Sowjetische Gegenwartsliteratur im Zerrspiegel

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nach meinem Dafürhalten das wichtigste und sympathischste psychologische Merkmal der jungen Helden V. Aksenovs." 1 Ein besonderes Maß an Verantwortungsgefühl entwickelte sich in den Sowjetmenschen schon seit der Oktoberrevolution, aber heute hat es eine neue Höhe erreicht, und was noch wesentlicher ist, es erfaßt immer breitere Massen und erstreckt sich auf alle Lebensgebiete. Ausgeprägt ist diese Eigenschaft u. a. auch in Leonid Bagrjanov, der Zentralgestalt aus M. Bubennovs Roman „Adlersteppe" 2 . Als in seiner Brigade um die Festsetzung der Norm diskutiert wird, ist er entgegen allen noch so vernünftig scheinenden Einwänden für das Maximum. Er hält auch dann an seiner Meinung fest, als erste Schwierigkeiten die Arbeit auf dem Neuland verlangsamen. Das t u t er aber nicht, um eine Verpflichtung um jeden Preis zu erfüllen, wie es z. B. V. Tendrjakov sehr drastisch an Pavel Mansurov aus dem Kurzroman „Der feste Knoten" dargestellt hat 3 . Als Bagrjanov sie abgab, war er nicht leichtsinnig, und seine etwas pathetische Rede war keine hohle Phrase. Bagrjanovs Prinzipienfestigkeit resultiert aus seinem hohen Verantwortungsgefühl für die ihm anvertraute Sache. Er baut auf die K r a f t der Menschen und ist überzeugt, daß sie sich ebenso verantwortlich fühlen werden wie er. Die nachfolgenden Ereignisse geben ihm recht. Igor' Maljutin aus D. Granins Roman „Nach der Hochzeit" 4 muß sich erst zu einem hohen Verantwortungsgefühl durchringen. Vom Komsomol aufs Land geschickt, glaubt er sich zunächst ungerecht behandelt, und seine inneren Auseinandersetzungen hindern ihn an der Entfaltung seiner Kräfte, er resigniert schon bei den ersten Schwierigkeiten: „Wozu hat man mich hierher geschickt? Um zu helfen? Aber wie soll man ihnen helfen, wenn sie es selbst nicht wollen... Mag doch alles so laufen, wie es lief." 5 Aber allmählich ist die Unordnung in seinem Bereich mit seiner Arbeiterehre nicht mehr zu vereinbaren, und sein Verantwortungsbewußtsein erwacht. Nun, da er sich nicht mehr als Außenstehender betrachtet, stellt er fest, daß auch die Arbeiter der MTS keinesfalls gleichgültig sind, sondern ihnen allen das Gedeihen ihrer Sache am Herzen liegt. Als Igor' zuletzt in die Stadt, in seinen alten Betrieb zurück kann, ja nachgerade dazu aufgefordert wird, siegt sein Bewußtsein über den brennenden Wunsch, das Angebot anzunehmen. Was ihn dazu bewegt, in der MTS zu bleiben, ist gerade das stolze Gefühl, in einem für den Aufbau des Kommunismus so wichtigen Gebiet wie der Landwirtschaft eine große Verantwortung zu besitzen. Weit umfassender ist dieses Gefühl in dem lebenserfahrenen Pavel Baluev aus dem Roman „Darf ich vorstellen — Baluev" vonV. Kozevnikov 6 ausgebildet, H. B i i H o r p a n o ß , O c 0 B p e M e H H 0 M repoe (I. Vinogradov, Über den Helden der Gegenwart), in: HOBBIÖ MHp, 37. Jg., 1961, Nr. 9, S. 235. 2 M. B u b e n n o w , Adlersteppe, Berlin 1961. 3 B. TeHRpHKOB, Tyroö y3eji (V. T e n d r j a k o v , Der feste Knoten), in: B. TeHHpHKOB, y x a Ö H . Ü O B e c T H H p a c c K a 3 t i (V. T e n d r j a k o v , Sehlaglöcher. Novellen und Erzählungen), Moskau 1959. 4 T p a H H H , IlocJie C B a f l b ß b i (D. Granin, Nach der Hochzeit), Leningrad 1959. 6 ebd., S. 155. • W. K o s h e w n i k o w , Darf ich vorstellen — Balujew, Berlin 1962. 1

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A. Hiersche

er steht auch auf einer höheren Stufe seiner Persönlichkeitsentwicklung. Baluev ist nicht allein um den Fortgang der Arbeit, den technischen Fortschritt und die Planerfüllung bemüht, seine Sorge um den Menschen übersteigt das gewöhnliche Maß. Wenn es die Interessen der Gesellschaft erfordern, steht er seinen Arbeitern in privaten Sorgen bei und sucht feinfühlig die Ursachen ihrer Bedrücktheit zu ergründen. Bei Arbeitsstockungen forscht er zuerst nach, ob nicht ein Arbeiter familiäre Sorgen oder seelische Nöte hat. Er erzieht junge Menschen, verwendet viel Zeit darauf, sich mit ihnen zu unterhalten, Vorurteile zu bekämpfen und jugendlichem Trotz zu begegnen. I n Baluev muß man in der Tat Eigenschaften des Menschen der künftigen kommunistischen Epoche sehen. Die Verantwortung des sowjetischen Menschen unserer Zeit und seines literarischen Abbildes beschränkt sich — wie schon erwähnt — nicht nur auf seinen engeren Lebensbereich, sie erstreckt sich vielmehr auf das ganze Land. Dieses Bewußtsein, das von jeher für die besten Sowjetmenschen charakteristisch war, ist ebenfalls zu einer Massenerscheinung geworden 1 . In der Literatur hat es u. a. G. Nikolaeva in ihrem Roman „Schlacht unterwegs" vor allem in Dmitrij Bachirev verkörpert 2 . Das Gefühl, daß auch von seiner Arbeit das Schicksal des Landes abhängt, ist die Triebfeder seines konsequenten Handelns, seines Kampfes mit den Fehlern im Traktorenwerk. „Unsere Mängel sind für mich wie offene Schwären am Körper der Mutter. Solange ich sie sehe, kann ich an nichts anderes denken als daran, daß ich sie heilen muß", sagt Bachirev 3 , der sonst so nüchterne und wortkarge, in bildhafter Sprache. Es quält ihn, daß er noch zu wenig tun kann, um dem Land bei der Erreichung eines technischen Höchststandes zu helfen: „Schon hier im Werk hängt so wenig von mir ab, dachte e r . . . So wie wir Traktorenbauer schlechte Hülsen und Lagerschalen herstellen, reinigen vielleicht die Erdölarbeiter den Treibstoff nicht genügend, und die Werkzeugmaschinenbauer denken die Konstruktion ihrer Maschinen nicht bis zu Ende durch? " 4 Man kann nicht umhin, hier noch die sogenannte lyrische Prosa zu erwähnen, deren Vertreter V. Solouchin, 0 . Berggol'c, J . Smuul u. a. in origineller, interessanter Form diesem Verantwortungsgefühl für das Schicksal des ganzen Landes, diesem Patriotismus, künstlerischen Ausdruck verleihen. Mit welchem Stolz auf die Erfolge der Sowjetunion betrachtet z. B. 0 . Berggol'c in „Tagessterne" 6 ihre Zeit aus der Perspektive des Kommunismus. In Gedanken und Gefühlen scheinbar rein persönlicher Natur durchlebt sie mit größter Intensität das Geschick ihrer großen Heimat, die Stimmungen, Leiden und Freuden des ganzen Volkes.

1

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vgl. fl. 9 j i b c 6 e p r , JlmepaTypa H a u i H X flHeft H jiiiHHOCTb c o B e T c n o r o qejioBeKa (Ja. El'sberg, Die Literatur unserer Tage und die Persönlichkeit des sowjetischen Menschen), in: ders., HepTu J i i i T e p a T y p b i n o c J i e A H H x JieT (Züge der Literatur der letzten Jahre), Moskau 1961, S. 35. G. N i k o l a j e w a , Schlacht unterwegs, Berlin 1962. ebd., S. 306. ebd., S. 309. Deutsch: O. B e r g h o l z , Tagessterne, Berlin 1963.

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Untrennbar mit dem Patriotismus ist der Internationalismus der Sowjetmenschen verbunden. Das Bewußtsein, aktiver Teilnehmer des Weltgeschehens zu sein, mit seinen Taten beim Aufbau des Kommunismus das Glück anderer Völker mitzuschaffen, beherrscht mehr und mehr jeden einfachen Bürger und findet dementsprechende Widerspiegelung in der Literatur. Igor' Maljutin beispielsweise wird der Zusammenhang seiner Arbeit mit der Weltpolitik besonders deutlich, als er im Radio das Organ des Klassenfeindes, die „Stimme Amerikas", vernimmt: „Hier, in Korkino, in Levasi, hinterm Fuchswäldchen, wurde Außenpolitik gemacht, denn jedes Pud Getreide oder Flachs mehr war nicht nur Brot und Stoff für die Menschen, sondern auch ein Pud auf der Weltwaage. Dieses Pud ließ das Land stärker werden. Mit ihm rechneten Diplomaten und Generale." 1 Ähnlich äußert sich auch der Parteisekretär Öubasov aus „Schlacht unterwegs": „Weißt du, es ist doch eine mächtig verantwortliche Geschichte, in der Sowjetunion zu leben! Und nicht nur vor den Nachbarn, sondern vor der ganzen Menschheit. Da muß man die Technik vervollkommnen und sich selbst vervollkommnen — kurz, man darf seinem Namen keine Schande machen und muß sich seiner Stellung entsprechend verhalten!" 2 Das Ziel — den Kommunismus — bereits in greifbarer Nähe, denken die Helden der Romane mehr als zuvor über ihre Bestimmung, ihre Arbeit und den Sinn des Lebens nach. Der in mancher Hinsicht nicht sehr anziehende Andrej Birjukov aus dem Roman „Dem enteilenden Tage nach" von V. Tendrjakov 3 erobert sich dennoch die Sympathien der Leser eben durch seine Konsequenz im Durchdenken aller Probleme. Vor die Wahl einer Lebensaufgabe gestellt, ergibt er sich nicht beruhigender Selbsttäuschung, so verlockend und bequem sie ihm auch erscheint, sondern wählt nach eingehender nüchterner Analyse seiner Fähigkeiten den schweren Weg, der ihn zum Lehrerberuf führt. Auch in seiner Tätigkeit an der Schule überlegt er angestrengt, wie er die Routine überwinden kann, experimentiert er mit den Schülern, um ihnen ebenfalls selbständiges, alles durchdringendes Denken beizubringen. Andrej Birjukov bescheidet sich nicht mit Erreichtem, stets forscht er nach neuen Unterrichtsmethoden, und sinnt darüber nach, wie er sein Leben und Tun nützlich und schön gestalten kann. Diese schöpferische Unruhe, diese fruchtbare Unzufriedenheit mit sich selbst, das Denken und Suchen nach neuen, nicht ausgefahrenen Wegen, das sind Eigenschaften, die der Mensch im Kommunismus braucht und die in der Sowjetunion immer häufiger anzutreffen sind. Auch der sozialistische Humanismus erfährt in der Literatur wie im Leben der Sowjetunion stete Bereicherung. I n klassischer Form stellt Solochov einige Züge dieses Humanismus besonders im zweiten Teil seines Romans „Neuland unterm Pflug" 4 dar. „Obwohl der Roman Solochovs von der Vergangenheit erzählt, lehrt 1 2 3

4

fl. TpaHHH (D. Granin), a. a. O., S. 420. G. N i k o l a j e w a , a. a. O., S. 802. B. TeH^pHKOB, 3a Serymi™ AHeM (V. T e n d r j a k o v , Dem enteilenden Tage nach), Moskau 1960. M. S c h o l o c h o w , Neuland unterm Pflug, 1. u. 2. Teil, Berlin 1960.

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und erzieht er heute vom Standpunkt der politischen und moralischen Forderungen, die die Epoche des entfalteten Aufbaus des Kommunismus stellt." 1 Ähnlich wie hier J a . El'sberg hat auch die übrige sowjetische Kritik diese Eigenheit des Romans gewürdigt. Davydov wirft sich zum Beispiel vor, er habe vor lauter Arbeit die Menschen im Dorf nicht kennengelernt. Dankbar läßt er sich von Nesterenko ermahnen, daß er auch auf die kleinen Sorgen der Bauern achten solle, die er im Arbeitseifer bisher übersah. Und in der T a t kümmert sich Davydov im zweiten Teil des Romans mehr um die einzelnen Menschen, er lauscht ihrer Stimme und gewinnt dadurch überraschende Erkenntnisse: vermeintliche Feinde entpuppen sich als einfache, gutwillige und kritische Bauern, und unscheinbare, wenig beachtete Gestalten erweisen sich als kluge, interessante und wertvolle Menschen, wie im Falle von Ustin Rykalin und Ivan Arzanov. Unter den Helden der Gegenwart bietet besonders Pavel Baluev ein anschauliches Beispiel für die unbegrenzten Möglichkeiten, die dem Gedeihen des Humanismus durch den Aufbau der kommunistischen Gesellschaft gegeben werden. Der hohe Grad der Mechanisierung hat die einstmals unübersehbare Masse der Bauleute eines Objekts zu einer Handvoll hochspezialisierter Facharbeiter zusammenschrumpfen lassen, so daß Baluev jeden einzelnen kennt, um seine Sorgen und Nöte weiß und sich um ihn kümmern kann, wie weiter oben bereits erwähnt wurde. Kozevnikov hat hier ausgezeichnet dargestellt, daß die entwickelte Technik nicht des Menschen Feind ist, der ihn beherrscht und verkrüppelt, wie die bürgerlichen Soziologen klagen, sondern daß sie ihn befreit, seine Persönlichkeit allseitig entfaltet und neue, menschlichere Beziehungen im Arbeitsprozeß entstehen läßt. Erst unter solchen Bedingungen kann Baluevs humanistische Lebensmaxime richtig zur Geltung kommen: „Suche in jedem Menschen das Beste." Und das wiegt um so mehr, weil Baluev fest daran glaubt, „daß jeder etwas Schönes, Besonderes in sich birgt und es keine größere Freude gibt, als dieses Schöne im Menschen aufzuspüren und ihm zu helfen, es zu entfalten" 2 . Alle genannten Charakterzüge des Helden im sowjetischen Gegenwartsroman sind natürlich — um es noch einmal zu sagen — nichts absolut Neues, sondern stellen vielmehr höhere Entwicklungsstufen bereits vorhandener Eigenschaften dar. Die ganze Problematik verdient eine ausführliche Behandlung, hier muß jedoch die knappe Skizzierung als Ausgangspunkt für die folgenden Bemerkungen zur Interpretation des sowjetischen Romanhelden in Westdeutschland genügen.

Der Antikommunismus, der das Geistesleben in Westdeutschland bestimmt, hat auch in der Literaturbetrachtung die Oberhand. Vielfach gibt man es selbst zu: „Leider hat der Kalte Krieg dazu geführt, daß auch im Westen ein Buch von jenseits des Eisernen Vorhangs nur dann Aussicht auf Erfolg hat, wenn es in irgend1

fl. 9 j i b c 6 e p r , EoraTCTBO jkh3hh h OTB6TCTB6HHOCTb 3a Hee (Ja-. El'sberg, Der Reichtum

des Lebens und die Verantwortung für das Leben), in: JlHTepaTypa h »H3Ht, 1960, 2

Nr. 96, S. 1. W. Koshewnikow, a. a. O., S. 125 u. 212.

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einer Weise der Propaganda dient oder zu dienen scheint." 1 Besonders augenfällig war das, als 1957 und 1958 regelrechte Hetzkampagnen anläßlich der Veröffentlichung von V. Dudincevs „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein" und B. Pasternaks „Dr. Schiwago" durchgeführt wurden. Diese Art der „Interpretation" wurde bis heute im wesentlichen beibehalten, obwohl sie nicht immer mit gleicher Intensität und ähnlichem Propagandaaufwand erfolgt. Nach wie vor beeinflussen führende Organe der sogenannten Ostforschung wie „Osteuropa" oder „OstProbleme" die Meinungsbildung und bemühen sich, das echte Interesse vieler Leser mit verzerrten, bruchstückhaften „Übersichten" über die Sowjetliteratur zu befriedigen 2 . Daraus schöpft eine massenwirksame Tagespresse hauptsächlich ihre Kenntnisse. Als markantestes Beispiel mag hier das der Sowjetliteratur und -kultur gewidmete Heft der „Ost-Probleme" dienen 3 , dessen Inhalt in einem Artikel der „Frankfurter Hefte" leicht variiert wieder auftauchte 4 , um dann schließlich in stark vergröberter Form von der „Welt" noch einmal offeriert zu werden 5 . Trotzdem machen sich auch hier — wie bei der schon erwähnten Bewertung des Kommunismus — hin und wieder realistische Anschauungen über den sowjetischen Menschen und sein literarisches Abbild geltend, die man in Anbetracht der Masse übelwollender Urteile nicht hoch genug schätzen kann. In einem sonst sowjetfeindlichen Artikel findet sich folgendes Eingeständnis: „Die junge Generation von heute ist die gebildetste, die die sowjetische Gesellschaft aufzuweisen hat. Noch nie gab es so viele Abiturienten, Studenten, Spezialisten und Wissenschaftler. Noch nie wurde soviel gelesen und diskutiert... Heute sind Millionen in diesen Prozeß mit einbezogen." 6 Der schon erwähnte Goldhagen hat sogar eine Definition parat: „Der Bolschewist ist eine der reinsten Inkarnationen des faustischen Menschens. Er verfolgt ständig sein historisches Ziel, gegen alle Hindernisse und Gegner kämpfend." 7 I n Gegensatz zu der weit verbreiteten Auffassung, die auch Mehnert in seinem Buch „Der Sowjetmensch" nährt, wonach die Bürger der Sowjetunion politisch nicht so geformt werden könnten, wie es der Aufbau des Kommunismus erfordere 8 , stellt sich ein Diskussionsredner auf der 1

E. K r o i s , Russische Dichtung als politisches Spiegelbild. Ein literarhistorischer Überblick, in: Hochland, 52. Jg., 1959/60, Nr. 1, S. 67. 2 vgl. als besonders charakteristisch und tonangebend die Jahres- und Halbjahresübersichten von B . B o d e , in: Osteuropa, 9. Jg., 1959, Nr. 12, S. 8 1 3 - 8 2 2 ; 11. Jg., 1961, Nr. 1, S. 2 9 - 4 6 ; Nr. 11/12, S. 8 4 5 - 8 5 6 ; 12. Jg., 1962, Nr. 1/2, S. 104-112. 3 vgl. Ost-Probleme, 12. Jg., 1960, Nr. 25/26. 4 vgl. F. F e j t ö , Intimistischer Realismus? Modernistische Strömungen in der sowjetischen Kunst und Literatur, in: Frankfurter Hefte, 16. Jg., 1961, Nr. 6, S. 395—401. 5 vgl. H. D. S a n d e r , Erwachen aus dem Alptraum des Kollektivs. Steht die sowjetische Literatur vor einer Wende? — Ein neuer Begriff: „Intimer Realismus", in: Die Welt, 1961, Nr. 148 vom 29. VI., S. 13. 6 H. v. S s a c h n o , a. a. O., S. 5. ' E. G o l d h a g e n , a. a. 0., S. 9. 8 vgl. K. M e h n e r t , Der Sowjetmensch, Frankfurt/M. 1961 (Fischer-Bücherei Nr. 388), S. 331: Die Sowjetmenschen seien „in ihrem Innern" noch nicht „zu Bolschewiken ge-

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Jahrestagung 1961 der „Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde". Er räumt ein, daß zumindest das Arbeitsethos des Sowjetmenschen kommunistischer Beeinflussung offenstehe1. Diese reichlich simple Erkenntnis, die allerdings eine Kernfrage der Menschenformung trifft, macht erneut die Defensivhaltung deutlich, in welche die „Ostexperten" durch die Tatsachen gedrängt werden. Es handelt sich hier um nichts weiter als um den Versuch, endlich eine plausible Erklärung für die weltbekannten Aufbauerfolge und den Arbeitselan der sowjetischen Menschen zu finden. Auch die Anschauungen über das Kollektiv, das im allgemeinen als Instrument zur Ausrottung jeglicher Individualität geschmäht wird, scheinen unter dem Druck der Wirklichkeit ersten bescheidenen Korrekturen zu unterliegen. Über das Mädchen Glasa aus A. Uspenskijs Drama „Das Mädchen mit den Sommersprossen" wird zum Beispiel gesagt, daß es „eine vom Kollektiv vermittelte Lebensklugheit" besitze2. So dürftig und schematisch alle diese Beurteilungen sein mögen, so unlauter auch die Absichten sind, mit denen sie meist ausgesprochen werden, so zeigen sie doch, daß die Realitäten auf die Dauer nicht geleugnet werden können. Diese vorderhand noch spärlichen Anzeichen objektiver Wertung des Sowjetmenschen tragen gewissen Umdenkungsprozessen in Westdeutschland und der westlichen Welt Rechnung. Alles in allem sind sie — wie schon betont — Ausdruck der Defensive, die auch von der lautstarken antisowjetischen Propaganda nur noch schlecht verborgen werden kann. Trotz der vielen überzeugend gestalteten Helden der beginnenden kommunistischen Epoche, die die Sowjetliteratur in den letzten Jahren schuf, hat die Masse der westdeutschen Literaturinterpreten die Stirn zu behaupten, es gäbe diese Menschen in Wirklichkeit gar nicht. „Der ersehnte ,neue' Mensch, der ,neue' Held lebt nur in den Werken der sowjetischen Literatur, die auf Lagern verschimmeln und in den Bibliotheken verstauben"3, schreibt N. Tarassowa. Jede Nummer einer sowjetischen Tageszeitung könnte sie eines Besseren belehren, wenn es ihr darum zu tun wäre. Die unwahrscheinlich rasche wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung der Sowjetunion ist das sichtbare Ergebnis und der beste Wertmesser des Wirkens von Millionen solcher Helden. Sie sind zwar keine „Übermenschen", zeichnen sich aber in ihrer Mehrzahl — wie weiter oben schon ausgeführt — durch selbstlose Hingabe an die Arbeit, hohes Verantwortungsgefühl und das Bewußtsein aus, als freie Menschen in einer wirklich freien Welt endlich für ihre eigenen Interessen schaffen zu können. Ein Volk unter kapitalistischer Herrschaft hat ihnen das in so einer historisch kurzen Frist, bei gleichen Bedingungen, nicht nachgemacht. Fügen wir der Vollständigkeit halber noch hinzu,

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worden"; und S. 332: der sowjetische Mensch werde „auch in zehn oder fünfzehn Jahren kein Bolschewik" sein. vgl. Osteuropa, 1962, Nr. 1/2, S. 153 ff. vgl. H. L a t h e , Familie und Erziehung im Spiegel der Moskauer Theatersaison, in: Osteuropa, 11. Jg., 1961, Nr. 10, S. 761. N. Tarassowa, Worin besteht die Auflehnung der sowjetischen Dichter?, in: Osteuropa, 8. Jg., 1958, Nr. 9, S. 583.

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daß es außer diesen augenfälligen Tatsachen noch Aussagen vieler sowjetischer Schriftsteller darüber gibt, daß die Vorbilder ihrer Helden wirklich leben. V. Kozevnikov z. B. bereiste jahrelang Großbaustellen des Kommunismus, lebte mit den Arbeitern und studierte sie. „Deshalb ist an der Gestalt Baluevs nichts Erdachtes... Aus nichts kann man nichts schaffen" 1 , erklärte er auf einer Leserversammlung. Bücher, die in ihren Helden die sowjetischen Menschen künstlerisch überzeugend dargestellt haben, „verschimmeln" ganz gewiß nicht und „verstauben" auch nicht in den Bibliotheken. Falls dieses, mit Verlaub zu sagen, „Argument" für einen Augenblick ernstgenommen werden soll, dann darf m a n nur daran erinnern, daß die meisten Werke der sowjetischen Gegenwartsliteratur in den Buchläden vergriffen sind, obwohl sie alle schon in hohen Auflagen vorher in Zeitschriften publiziert wurden. Lassen wir noch, um das anschaulicher zu machen, einen Augenzeugen darüber berichten, mit welcher Leidenschaft beispielsweise der Roman „Schlacht unterwegs" — ein Werk mit neuen Menschen — von den Arbeitern gelesen wurde: „Auf den Heften der Zeitschrift ,Oktjabr', in denen ,Schlacht unterwegs' von G. Nikolaeva veröffentlicht ist, sind Fingerabdrücke zu sehen; als Lesezeichen kann man in ihnen Straßenbahn- und Autobusfahrkarten finden. Die Seiten sind eingeklebt, geflickt und verklebt. Ganz neue H e f t e rochen schon nach Maschinenöl, Benzin und Parfüm. Kurzum, diesen Roman lasen die verschiedensten Menschen aufmerksam und bewundernd. Und man spricht über ihn ebenso wie man ihn las: mit Bewunderung und Interesse." 2 Die Auffassung westdeutscher Literaturinterpreten, daß es nicht möglich sei, einen Menschen kommunistischer Prägung zu erziehen, wird häufig dadurch glaubhaft zu machen versucht, daß man ein schematisches, vereinfachtes oder geradezu primitives Bild von der kommunistischen oder werdenden kommunistischen Persönlichkeit entwirft. Der neue Mensch in der staatenlosen Gesellschaft müßte „technisch allkompetent, sozial allwissend und moralisch unfehlbar sein", vermutet der Amerikaner E. Goodman 3 . Nach solcher Definition ist es natürlich leicht zu polemisieren und die Vorstellungen vom künftigen Menschen, der schon heute entsteht, zur Utopie zu erklären. Ähnlicher Schemata bedient man sich auch, um den neuen Menschen abstoßend, als nicht erstrebenswertes Ziel zu schildern, wie es die durch ihre „Übersichten" zur Sowjetliteratur übel beleumundete B. Bode t a t . Sie stellt sich den kommunistischen Menschen als „politisch bewußt, willensstark, zu einer großen T a t fähig, von einem großen Ziel... beseelt", aber ohne „Herz und Seele" 4 vor. Ein anderer 1

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3

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^HTaTejih h micaTejib (Der Leser und der Schriftsteller) in: JlHTepaTypa h h, 1960, Nr. 73, S. 2. ÜHCbMa HHTaTeJiefi. „EyTBa b nyTH". B.PyßHHinTeftH, TKuBLie ronoca (Leserbriefe. „Schlacht unterwegs". V. Rubinätejn, Lebendige Stimmen), in: MocKBa, 2. Jg., 1958, Nr. 4, S. 209. vgl. E. R. G o o d m a n , Die apokalyptische Vision des staatenlosen Weltkommunismus, in: Osteuropa, 11. Jg., 1961, Nr. 11/12, S. 806. vgl. B. B o d e , Sowjetliteratur im Winterhalbjahr 1960/61 (II), in: Osteuropa, 12. Jg., 1962, Nr. 1/2, S. 108.

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wiederum behauptet sogar, indem er sich allerdings mehr auf den Theater- und Filmhelden bezieht: „Der positive Sowjetheld... ist schematisiert, eine Stelzfigur, bar jeder Menschlichkeit, farblos, künstlerisch unbeholfen."1 So steht das Bild des Sowjetmenschen, das von vielen westdeutschen Literaturinterpreten mit bestimmten Absichten entworfen wird, im Widerspruch mit allen Tatsachen, die schon angedeutet wurden. Nach der Meinung dieser Kritiker kennzeichne den heutigen Sowjetmenschen, den heutigen literarischen Helden nicht höheres Verantwortungsbewußtsein für seine Arbeit, sein Land, ja für die Entwicklung der ganzen Welt, sondern im Gegenteil Hang zum „Unpolitischen", „Allgemeinmenschlichen"; nicht tieferes Nachdenken über den Sinn des Lebens, über seine Bestimmung, seine Aufgaben, sondern Pessimismus, Skeptizismus2, nicht größerer Humanismus im sozialistischen Sinne, sondern prinzipienlose Toleranz3 — das seien die Züge des neuen Helden. Er gerate bei der Entfaltung seiner Persönlichkeit immer mehr in Wider.spruch zum Kollektiv und suche deshalb die Einsamkeit. Im Rahmen dieses Aufsatzes mag es genügen, wenn zwei dieser vermeintlichen Charakteristika des sowjetischen Romanhelden der Gegenwart näher betrachtet werden. Das, was die führende großbürgerliche Zeitung „Die Welt" unter dem schlagwortartigen Titel „Erwachen aus dem -Alptraum des Kollektivs" Millionen Lesern Westdeutschlands offerierte4, hatte seine Wurzeln in den Artikeln der Zeitschriften „Ost-Probleme"5, „Frankfurter Hefte" 6 und „Osteuropa"7, die schon seit langem ihre Aufmerksamkeit dem Komplex Persönlichkeit und Kollektiv widmen. Der Artikelautor der „Welt" faßte die Deutungen der angeblich wissenschaftlichen Analysen in dem Satz zusammen: „Es geht in der gegenwärtigen sowjetischen Literatur darum, vom Überbau des Kollektivs auf die Basis des Individuums zurückzusteigen." 8 Das ist dem Inhalt nach das gleiche, was einige Monate vorher — im Januar 1961 — Dr. J. Striedter in einem Vortrag vor Westberliner Studenten zu verkünden wußte. Dieser inzwischen zum ordentlichen Professor und geschäftsführenden Direktor der Abteilung für slawische Sprachen und Literaturen des Osteuropa-1 Instituts an der Westberliner Universität avancierte Slawist behauptet, viele Helden im sowjetischen Gegenwartsroman spürten den „Widerspruch zwischen ihren individuellen Gefühlen und der kollektiven Norm". Bei dem Versuch, diesen Widerspruch durch „Verstellung" zu verbergen, gerieten die Menschen immer mehr 1

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N. K u l i k o v i ö , Das Problem der Zeitnähe in der sowjetischen Kunst, in: Sowjetstudien, Jg. i960, Nr. 9, S. 28. vgl. H. v. S s a c h n o , a. a. O. vgl. B. B o d e , a. a. O.; A. S t e i n i n g e r , Literatur, in: Osteuropa, 12. Jg., 1962, Nr. 1/2, S. 9 9 - 1 0 4 . vgl. H. D. S a n d e r , a. a. O. vgl. Ost-Probleme, 12. Jg., 1960, Nr. 2 5 - 2 6 . vgl. F. F e j t ö , a. a. 0 . vgl. B. B o d e , a. a. O. H. D. S a n d e r , a. a. O.

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in eine innere Vereinsamung. Auch in der Sowjetunion, so glaubt der neuernannte Ordinarius an der „Freien Universität" zu wissen, seien alle Menschen nur „Weggenossen auf Zeit". Diejenigen, die dennoch im Kollektiv emporsteigen und etwas gelten wollten, müßten zu „zynisch heuchelnden Opportunisten" werden 1 . I n diesem sowjetfeindlichen Geiste instruierte der steil aufgestiegene Westberliner Slawist auch Russischlehrer der Bundesrepublik auf einer Fachtagung, die vom 7. — 9. Oktober 1962 in Dreibergen (Oldenburg) stattfand. Mit diesen Auffassungen stellt sich Prof. Striedter als akademische Autorität schützend vor das führende Ostforschungsorgan „Osteuropa", dessen Mitarbeiterin B. Bode schon 1959 in einer ihrer aggressiv antisowjetischen literaturkritischen „Übersichten" erklärt hatte: „,Überflüssige Menschen' sind jetzt immer häufiger in der sowjetischen Optimismus-Literatur anzutreffen, Menschen, die für sich nicht den richtigen Platz im ,Aufbau des Kommunismus' finden." 2 Es gab in der Sowjetliteratur der Jahre 1956—1957 einige Erscheinungen der Loslösung des Helden von der Gemeinschaft, der Überbetonung des Einzelgängertums. Infolge des schroffen Widerspruchs zur sowjetischen Wirklichkeit war dieser Literatur kein Erfolg besehieden, die Zeit ist über sie hinweggegangen. Die Realitäten des Lebens, die ihren Niederschlag in den besten Werken fanden und finden, sagen auch das Gegenteil zu dem aus, was das deutlich politisch motivierte Wunschdenken der westdeutschen Ostexperten beinhaltet: Persönlichkeit und Kollektiv schließen einander nicht aus, sondern sie bedingen sich gegenseitig. Was wäre Davydov ohne Nagul'nov, Razmetnov, Salyj oder Nesterenko? Mit ihrer Hilfe gewinnt er größere Klarheit über seine Aufgaben, seine Rolle als Vorsitzender des Kolchos; auf sie gestützt, besteht er die vielen Bewährungsproben, findet er nach Irrtümern wieder zu sich selbst. Bachirevs nützliche Pläne gereichen dem Betrieb zunächst zum Schaden, weil er sie allein, ohne das Kollektiv verwirklichen will. Die starke Persönlichkeit Bachirevs ist außerhalb der Gemeinschaft hilflos, obwohl sie aus edelsten Motiven und subjektiv im Interesse der Gesellschaft handelt. Erst als er mit den Menschen zu rechnen beginnt, sich ihnen anschließt, setzt er seine Absichten durch. Er, der sich anfänglich einsam gefühlt hatte, bekennt vor sich selbst, als er das Vertrauen und die Sympathie der Arbeiter erfährt : „Er mußte an seine ersten Tage im Werk denken und erinnerte sich, wie er einsam und düster mit dem Traktor geredet hatte. Wie widerwärtig war er doch damals gewesen — mißmutig und überheblich! Und was für eine Lüge war die Einsamkeit! Wer standhaft kämpft, für eine Sache, die dem Volke Nutzen bringt, der kann nicht einsam bleiben! I m Gegenteil. Nur ein solcher Mensch lernt Freundschaft kennen." 3 Einsam, sogar ausgestoßen aus der Gemeinschaft der Sowjetmenschen fühlt sich anfangs Izol'da Bezuglova aus V. Kozevnikovs „Darf ich vorstellen — Ba1

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J. S t r i e d t e r , Persönlichkeit und Kollektiv im Sovetroman der Gegenwart, in: Universitätstage 1961. Marxismus-Leninismus. Geschichte und Gestalt, (West-)Berlin 1961, S. 169-184. vgl. B. B o d e , Sowjetliteratur 1959, in: Osteuropa, 9. Jg., 1959, Nr. 12, S. 817. G. N i k o l a j e w a , a. a. O., S. 670.



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luev", die Tochter eines SS-Mannes, der ihrer Mutter Gewalt angetan hatte. I m Kollektiv auf Baluevs Baustelle findet sie allmählich eine gesunde Einstellung zum Leben, wird sie sich ihrer Würde als Sowjetbürgerin bewußt. B. Bode bezeichnet diese Gestalt übrigens als „Opfer kommunistischer Seelenverrenkung", als „ein Schattenwesen, wenn nicht schon eine Abnormität" 1 . Künstlerisch besonders anziehend gestaltet M. Bubennov im Roman „Adlersteppe" die Entwicklung der von Hause aus etwas verwöhnten Svetlana, die dank der warmherzigen Hilfe ihrer Arbeitskameradinnen das schwere Leben auf dem Neuland ertragen und lieben lernt. Schon die wenigen Beispiele, die man beliebig vermehren könnte, zeigen die offenkundige Ignorierung der Tatsachen durch die westdeutsche Literaturinterpretation und lassen vermuten, daß der Widerspruch zwischen Kollektiv und Persönlichkeit aus bestimmten Absichten erfunden wurde. Einmal soll ein innerer Zersetzungsprozeß in der Sowjetunion vorgetäuscht werden. Ein bemerkenswertes Eingeständnis findet sich dazu bei der schon erwähnten N. Tarassowa: „Man muß immer und nur seine Eigenständigkeit bewahren, man muß nicht sein wie alle Menschen, wie die Partei- und KomsomolMitglieder, wie die ,Besten aus der Sowjetgesellschaft' — das ist der Sinn des Kampfes für die Persönlichkeit." 8 Daß die Spekulationen auf einen inneren Zerfall der Sowjetunion gegenstandslos sind, sagen heute selbst führende Ostforscher, wie der im Anfang zitierte 0 . Schiller. Die zweite und sicher wichtigste Absicht ist die Demonstration der „Persönlichkeitsfeindlichkeit" des Kommunismus. Das ist als Abschreckung vor allem für Intellektuelle gedacht, welche die Unzulänglichkeiten der westlichen Welt erkannt haben und nach einer Perspektive Ausschau halten, wobei sie sich unter Umständen auch dem Sozialismus zuwenden könnten. So alt wie der Marxismus sind auch die Versuche, ihn zu beschuldigen, er wolle die Menschen nivellieren, ihnen jede Individualität rauben, sie zu stumpfsinnigen Robotern erniedrigen. Verwunderlich ist nur, weshalb heute diese Argumente immer noch strapaziert werden, wo doch die wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Leistungen der Sowjetunion wie aller sozialistischen Länder schwerlich von Arbeitstieren hervorgebracht werden konnten. Offensichtlich fallen diese und die vielen anderen Verleumdungen doch noch auf fruchtbaren Boden. Sehr auffallend ist in der westdeutschen Interpretation der Sowjetliteratur das Bestreben, den Helden allgemeinmenschliche Charakterzüge anzudichten. Viele literarische Gestalten handelten angeblich losgelöst von den konkreten Gegebenheiten der werdenden kommunistischen Gesellschaft, sie seien ihrem Wesen nach unpolitisch. Die größten Leistungen gelängen der Sowjetliteratur dort, wo sie „das Individuum in seiner Einmaligkeit und in seinem Eingebettetsein in Natur, Heimat und Tradition" zeige 3 . Besonders die jungen Schriftsteller wendeten sich 1

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vgl. B . B o d e , Sowjetliteratur im Sommerhalbjahr 1960, in: Osteuropa, 11. Jg., 1961, a Nr. 1, S. 44. N. T a r a s s o w a , a. a. O., S. 584. vgl. (1 ö.) (W. Löser), In diesem Heft, in: Ost-Probleme, 12. Jg., 1960, Nr. 25/26, S. 832.

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„den ewigen Themen der Kunst zu: Mensch, Kind, liebe, heimatliche Natur" 1 . Ein anderer Kritiker behauptet noch kategorischer, daß die Literatur „zur Thematik der Einsamkeit, der Naturbetrachtung, der Liebe, des Todes" zurückkehre 2 . Die Ähnlichkeit der Terminologie ist unverkennbar und läßt auf eine gesteuerte Kampagne schließen. Selbstverständlich sind die genannten Themen der Sowjetliteratur nicht fremd, und den Menschen in seinen Beziehungen zu Natur, Heimat und Tradition darzustellen, gehört seit jeher zu den Aufgaben der sowjetischen Schriftsteller. Auch Probleme wie Liebe und Tod hat die Sowjetliteratur nie gemieden, ganz im Gegenteil. Von einer „Rückkehr" zu dieser Thematik kann folglich keine Rede sein. Das, was die Literatur des sozialistischen Realismus jedoch von der bürgerlichen Literatur unterscheidet, ist die Art, wie diese Themen behandelt, in welchen Zusammenhang sie gestellt werden. Der sozialistische Schriftsteller löst sie nicht aus den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen heraus, er nimmt sie nicht als Themen „an sich", zudem betrachtet er sie von der Position des Marxismus-Leninismus, vom Standpunkt der Arbeiterklasse. Die Sowjetliteratur gibt sowohl in ihrer Vergangenheit als auch in der unmittelbaren Gegenwart davon Zeugnis. Nimmt nicht die Liebe einen breiten Raum im Leben Grigorij Melechovs oder Dmitrij Bachirevs ein, fühlt sich nicht Vichrov eins mit der Natur, für deren Schätze er kämpft, bestimmt nicht die Liebe zur Heimat das Handeln aller Helden? Natürlich ändert sich die Darstellung mit der fortschreitenden Entwicklung zum Kommunismus. Den bewußten westdeutschen Interpreten ist es aber nicht um diese Veränderungen zu tun, wie sie überhaupt weniger von dem vorhandenen Material als vielmehr von vorgefaßten Meinungen und Absichten ausgehen. Die offensichtliche Tendenz, die Sowjetliteratur und ihre Helden zu entpolitisieren, ihr abstrakte „allgemein-menschliche" Motive zu unterstellen, muß — wie die Konstruktion von Widersprüchen zwischen Kollektiv und Persönlichkeit — als Reaktion auf den stärkeren Einfluß der Literatur des Sozialismus angesehen werden. Damit will man die für viele westdeutsche Leser heilsame marxistischleninistische Deutung und Darstellung des Lebens negieren, abschwächen oder verfälschen. Außerdem sollen innere Widersprüche der Sowjetunion, die Abwendung mancher Schriftsteller vom sozialistischen Realismus vorgetäuscht werden. „Dieses ,Allgemein-Menschliche' steht in schärfstem Gegensatz zur kommunistischen Ideologie, denn wenn es ohne Rücksicht auf Klassenzugehörigkeit, Abkunft und Ideologie etwas allen Menschen Gemeinsames gibt, dann kann es keine Erzfeinde geben", läßt B. Bode durchblicken 3 . Grotesk ist, daß das Allgemeinmenschliche in die Sowjetliteratur ausgerechnet von einer Kritik hineingelegt wird, die an alle literarischen Äußerungen nur politische, so offenkundig klassengebundene Maßstäbe anlegt. 1 2 3

vgl. B. B o d e , Sowjetliteratur 1959, in: Osteuropa, 9. Jg., 1959, Nr. 12, S. 822. vgl. F. F e j t ö , a. a. O., S. 396. B. B o d e , Sowjetliteratur im Sommerhalbjahr 1960, in: Osteuropa, 11. Jg., 1961, Nr. 1, S. 31.

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Die Bemerkungen im vorliegenden Aufsatz haben gezeigt, daß ein großer Teil der westdeutschen Literaturkritik den Helden des russischen sowjetischen Gegenwartsromans nicht objektiv, sondern vorurteilsvoll oder absichtlich falsch darstellt und bewertet. Darüber hinaus konnte angedeutet werden, daß die Fälschungen im Dienste einer Politik geschehen, deren oberstes Prinzip der Antikommunismus ist. Die Fälschungen entlarven heißt demnach, diese Politik zu bekämpfen. Auch in diesem Sinne kann und muß der Slawist — der westdeutsche nicht ausgenommen — für den Frieden wirken.

Prof. Dr. J .

DOLANSKY

Korrespondierendes Mitglied der Tschechischen Akademie der Wissenschaften

Gegen eine grobe Verfälschung der tschechischen und slowakischen Literatur in der westdeutschen Zeitschrift „Osteuropa" Die westdeutsche Ostforschung führt ihre ständigen Angriffe nicht nur gegen die klassische russische und zeitgenössische sowjetische Literatur, sondern auch gegen die Kultur und Literatur der übrigen sozialistischen Länder. Das zeigt sich auch an ihrem Verhältnis zur tschechischen und slowakischen Literatur. Während es unter den westdeutschen Slawisten eine Reihe gewissenhafter und verantwortungsvoller Forscher gibt, die sich speziell mit den Problemen der älteren tschechischen Kultur beschäftigen, hat sich die westdeutsche Ostforschung in erster Linie auf die zeitgenössische Literatur der ÖSSR konzentriert. Die tschechische und slowakische Literatur wird unter dem Deckmantel der Ignoranz oder einer scheinbaren Objektivität entstellt und verleumdet. Die meisten dieser Erzeugnisse aus der Feder westdeutscher Revanchisten, in denen der Haß gegen die sozialistischen Länder deutlich zum Ausdruck kommt, sind nicht der Mühe wert, eingehend behandelt zu werden. Wenn wir uns dennoch an dieser Stelle mit ihnen auseinandersetzen, so geschieht das mit dem Ziel, auf einige ihrer typischen Fälschungsmethoden hinzuweisen. Als Beispiel soll der Artikel „Die literarische Entwicklung in der Tschechoslowakei seit 1945" dienen, der 1959 in der Zeitschrift „Osteuropa" erschienen ist 1 . Diese Zeitschrift wird von der „Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde" in Stuttgart herausgegeben. Der Autor des Artikels, Dr. Rudolf Urban, ist heute führender Mitarbeiter des Marburger Johann-Gottfried-Herder-Instituts 2 ; während der Hitlerzeit war er hauptamtlicher Mitarbeiter der Publikationsstelle der „Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft", einer berüchtigten Institution der faschistischen Ostforschung. Wenn man die politische Vergangenheit des Autors in Betracht zieht, nimmt es nicht wunder, daß er durch eine ausgesprochen einseitige und willkürliche Zitierung, die sich in entscheidenden Punkten auf Exilliteratur wie den in New York herausgegebenen „Öeskoslovensky prehled" und M. Souckoväs „A Literature in Crisis" (New York 1954) stützt, ein Zerrbild der tschechischen und slowakischen 1

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R. U r b a n , Die literarische Entwicklung in der Tschechoslowakei seit 1945, in: Osteuropa, 9. Jg., 1959, Nr. 11, S. 7 0 1 - 7 1 2 . Die Tätigkeit dieses revanchistischen Instituts wird ausführlich analysiert in dem Artikel: Die Marburger Ostforschung — ein Zentrum der psychologischen Kriegsführung, in: Informationen der Abteilung für Geschichte der imperialistischen Ostforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin, 3. Jg., 1963, Nr. 1, S. 3—30.

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Literatur entwirft. Diese Darstellungsweise verfolgt den Zweck, dem westdeutschen Leser auf jeden Fall die wahrheitsgetreue und objektive Schilderung der Literaturentwicklung in der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik vorzuenthalten, sie im Geiste des Antikommunismus zu verfälschen und die kulturelle Entwicklung in der ÖSSR als Machtkampf zwischen Partei und Literatur zu interpretieren. Alles, was Urban als echte literarische Leistung gelten läßt, verbannt er in die Illegalität. Hierdurch vor die Notwendigkeit gestellt, die Beliebtheit der — seiner Auffassung nach — „parteioffiziellen" Literatur in breiten Bevölkerungskreisen zu erklären, greift er zu völlig absurden Verleumdungen. So erklärt er die Popularität der antifaschistischen Literatur der Nachkriegszeit damit, daß sie der Stimmung großer Teile des tschechischen Volkes entsprochen hätte, die sich „1945 einer Art Rausch von Haß und Rache hingaben"1. Daher könne sie in der Regel auch kaum vom künstlerischen Standpunkt aus betrachtet werden. Das „daher" bezieht sich eindeutig auf den antifaschistischen Inhalt. Diesen Standpunkt vertritt Urban gleichfalls gegenüber der übrigen Literatur. Auch diejenigen Werke, die das neue Leben in der Tschechoslowakei zum Ausdruck bringen, kann man seiner Meinung nach überhaupt nicht zur schönen Literatur rechnen. Wenn Urban abschließend seine Befriedigung darüber zum Ausdruck bringt, daß sich die junge Generation angeblich der französischen Dekadenz zuwende und damit den wahren künstlerischen Maßstab gefunden habe, so wird deutlich, daß er infolge seines bürgerlichen Klassenstandpunkts kein Verständnis für die Literatur der sozialistischen Tschechoslowakei aufbringen kann und aus diesem Grunde auch nicht zu ihrer objektiven Beurteilung fähig ist. Wie begründet der Autor nun seine Thesen über die literarische Entwicklung in der ÖSSR im einzelnen? Zunächst muß er unfreiwillig den Jubel über die Befreiung vom Faschismus, „der im allgemeinen von rückhaltloser Begeisterung über die sowjetischen Befreier begleitet war", eingestehen und zugeben, daß er „seinen Niederschlag in den Werken fast aller Dichter von Namen und Rang" gefunden habe 2 . Als geübter „Ostforscher" bemüht er sich selbstverständlich, den Beweis zu erbringen, daß dieser Jubel im Grunde unbegründet gewesen sei und niedrige Rachegefühle zum Ausdruck gebracht habe, keineswegs jedoch das Gefühl der erlösenden Freude nach der Befreiung vom Sadismus eines grausamen Feindes. An raffiniert gewählten Ausschnitten aus Gedichten von F. Halas, F. Hrubin und M. Püjmanovä, zitiert nach dem bereits erwähnten Werk von Souckovä, sowie an dem wie beiläufig hingeworfenen Hinweis, daß der „Existentialist" Vladimir Holan in seinem Rriegsgedicht „Panychida" von Menschenzungen spricht, die „an Klosettdeckel genagelt" wurden3, wird dem ahnungslosen westdeutschen Bundesbürger durch die inhaltliche Entstellung der Anklage gegen den Faschismus der „Beweis" einer blutrünstigen tschechischen Poesie suggeriert. Es versteht sich von selbst, daß Urban wiederum behauptet, diese Gedichte könne man „kaum vom künstlerischen Standpunkt" aus betrachten. 1 1

Osteuropa, 9. Jg., 1959, Nr. 11, S. 702. 3 ebd., S. 701. ebd., S. 702.

Verfälschung der tschechischen und slowakischen Literatur

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Am niederträchtigsten verfährt Urban mit Hrubins „Jobova noc" („Die Hiobsnacht"), dieser großen Schöpfung, in welcher der symbolisch Hiob genannte Dichter vom Sänger des Todes im „alten Lande" zum Verkünder des Lebens und der Freude wird. Der Autor zitiert die quälende Vision der Grausamkeit des Krieges und des Mordens : Oöi vypichané, udy pf elàmané, zvifäta lidi, srdce vypàòenà, pohlavi rozdrcenä., jazyky vyfezané, téla bezhlavä, téla beznohà, téla bezrukä.

Ausgestochene Augen, zerschmetterte Glieder, Tiere von Menschen, herausgerissene Herzen, zermalmte Geschlechtsteile, herausgeschnittene Zungen, Körper ohne Kopf, Körper ohne Beine, Körper ohne Hände. 1

Durch die anschließende Bemerkung, die tschechische Nachkriegsliteratur sei ein Ausdruck des Berauschens am Gefühl des Hasses und der Rache, versucht Urban den Eindruck zu erwecken, als handele es sich hier um einen literarisch sanktionierten Aufruf zu entmenschter Vergeltung2. So „objektiv" ist also Urbans Darstellung über die tschechische Poesie von 1945 bis 1948. Er erwähnt mit keinem Wort, warum das tschechoslowakische Volk die Niederlage des Hitlerfaschismus freudig begrüßte, und ignoriert absichtlich die Grausamkeiten der Faschisten, die viele tschechische und slowakische Patrioten, darunter Schriftsteller wie V. Vancura und Fucik, bestialisch ermordeten. Mit keiner Silbe werden die Verse genannt, die zum heldenhaften Widerstandskampf aufrufen, wie etwa die von S. K. Neumann aus seiner 1945 erschienenen Sammlung „Bezedny rok": Jen o tebe mi, lide, béil, lide mùj, jen o tebe nàm bèzi, nezrazuj, na domoviné sero lezi, zradis-li svétla véén^ privod, zradil jsi sebe, dèti, iivot, nezrazuj! 1

s 8

Nur um dich, Volk, geht es mir, mein Volk nur um dich geht es uns, übe nicht Verrat, auf der Heimat liegt Grau, verrätst du des Lichtes ewigen Zufluß, dann hast du dich, die Kinder, das Leben verraten, übe nicht Verrat! 8

ebd., S. 701f.; R. Urban zitiert nach: M. S o u i k o v ä , , A Literature in Crisis, New York 1954, S. 63ff. — Soußkovä entnahm ihrerseits die Verse aus: H r u b i n , Jobova noc, Praha 1945, S. 75. — Die deutsche Übersetzung findet sich ebenfalls bei U r b a n , a. a. O. ebd., S. 702. zitiert nach: S. K . N e u m a n n , Bezedn^ rok, B&sne 1938, aus dem Gedicht „Nezrazuj", in: Spisy X X (Gesammelte Werke, Bd. 20), Praha 1951, S. 68. — Die vorliegende Übersetzung stammt von M. Jähnichen.

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J. Dolansky

Die bisherigen Ausführungen zeigen, daß Urban die Tatsachen bewußt verfälscht und eine in höchstem Maße verlogene Einschätzung der tschechischen Nachkriegspoesie gibt. Den gleichen Maßstab legt er auch an die Entwicklung der tschechischen Prosa von 1945 bis 1948. Das beweist seine folgende Äußerung: „Künstlerisch ebenso schwach war das unmittelbar nach Kriegsende entstandene Prosaschaifen"; es sei größtenteils überstürzt herausgegeben worden, um den Verfassern die „Gloriole von Widerstandskämpfern zu verleihen und dem augenblicklichen Geschmack des Leserpublikums entgegenzukommen"1. Urban schreibt: „... unmittelbar nach Kriegsende", das heißt, er bezieht den gesamten Zeitraum bis zur „Wende im Februar 1948"2 stillschweigend in seine Analyse ein, obwohl er sich überhaupt nicht näher mit dem Prosaschaffen dieser Jahre beschäftigt. Er ignoriert den psychologischen Partisanenroman J. Mareks „Muzi jdou v tme" („Männer gehen in der Finsternis"), der 1946 erschien, genauso wie M. Jari§' KZ-Erzählungen „Oni pfijdou" („Sie werden kommen"), die bewußt an Fuciks unvergeßliche „Reportaz psana na oprätce"3 anknüpfen, oder J. Drdas bedeutsamen Erzählband „Nemä barikäda"4, der ebenfalls 1946 veröffentlicht wurde. Urban dürfte auch darüber informiert sein, daß eine dieser Erzählungen — „Vyssi princip"5 vor einigen Jahren verfilmt wurde und daß dieser Film nicht nur in der ÖSSR, sondern auch im Ausland großen Erfolg hatte. Andernfalls würde er nicht umhinkönnen, den hohen Ideengehalt dieses Werkes über den Kampf gegen den Faschismus anzuerkennen und seine starke künstlerische Aussagekraft hervorzuheben. Urbans Entstellungen, die bereits im Eingangskapitel offenbar werden, steigern sich merklich bei der Behandlung des Zeitabschnitts nach 1948. Ist dem eingefleischten Faschisten bereits der nationale antifaschistische Kampf ein Dorn im Auge, so muß sich die Kluft vertiefen, sobald die revolutionären Umwälzungen nach 1948 zu erklären sind, durch die das tschechoslowakische Volk den Putschversuch der ausländischen und einheimischen Reaktion zunichte machte. Getreu der nazistischen Terminologie bezeichnet er die Februarereignisse als „Machtergreifung der Kommunisten"6, wobei er absichtlich verschweigt, daß die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei die Mehrheit des gesamten tschechoslowakischen Volkes hinter sich hatte, das nun unter ihrer Führung den Aufbau des Sozialismus vollendet. Dieses historische Ereignis bedeutete für die Literatur wie für die ganze Kulturentwicklung eine bewußte Orientierung auf die sozialistische Gegenwart. 1 2 3

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Osteuropa, a. a. O., S. 702. ebd. F u ö i k , Reportage unter dem Strang geschrieben; in deutscher Übersetzung erschienen u. a. bei: Dietz Verlag, Berlin 1947; Reclam, Leipzig 1961. J. D r d a , Die stumme Barrikade; in deutscher Übersetzung erschienen im Verlag Volk und Welt, Berlin 1951. ders., Das höhere Prinzip; in deutscher Übersetzung erschienen bei Reclam, Leipzig 1960. Osteuropa, a. a. O., S. 702.

Verfälschung der tschechischen und slowakischen Literatur

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Bereits auf der Kulturkonferenz im April 1948 erklärte Klement Gottwald: „Unser Volk... braucht eine Kultur, Wissenschaft, Literatur..., die von unserem Glauben an die glückliche Zukunft des Landes durchdrungen ist, die uns bei unserer Arbeit und unserem Kampf stärkt und den Weg vorwärts weist"1. Die folgenden Jahre führten zur weitgehenden Verwirklichung dieser Aufgabe. In ihrem Verlauf kam es zu harten ideologischen Auseinandersetzungen, die Buriánek und Petrmichl in ihren Werken über die tschechische Literaturentwicklung der letzten 15 Jahre zusammenfassend dargestellt haben 2 . Aber gerade in diesen Auseinandersetzungen, die zur Überwindung überholter Anschauungen und zeitweiliger Irrtümer (Schematismus, Schönfärberei, Personenkult u. a.) führten, hat sich die tschechische und slowakische Literatur den Weg nach vorn gebahnt und große Erfolge bei der sozialistischen Erziehung ihrer Völker errungen. Diesen international anerkannten Aufschwung, von dem nicht zuletzt die zahlreichen Übersetzungen in andere Sprachen zeugen, erwähnt Urban jedoch mit keinem Wort. Poetische Werke wie Závadas „Polni kvítí" („Feldblumen"), Nezvals „Chrpy a mésta" („Kornblumen und Städte"), beide erschienen 1955, Prosawerke wie Rezácz' künstlerische Gestaltung der Besiedlung der Grenzgebiete, „Nástup" (1951)3, Püjmanovás „2ivot proti smrti" (1952)4, oder Otcenáseks Roman über die Februarereignisse „Obcan Brych" (1955)6, Werke der Dramatik wie V. Káñas „Parta brusice Karhana" („Brigade Karhan", 1949) oder M. Stehlíks „Nositelé fadu" („Ordensträger", 1953), um nur einige der Werke zu erwähnen, in denen je nach der individuellen Eigenart des Künstlers die spezifisch neue Problematik des sozialistischen Aufbaus gestaltet wird, bleiben in den Abhandlungen Urbans unberücksichtigt. Er hat anscheinend auch keinerlei Kenntnisse über J. Drda, Ptácník, Pluhaf, Mikulásek, Kainar, Ivan Skála und viele andere Dichter und Schriftsteller, die heute das Fundament der tschechischen Literatur bilden. Deshalb ist der Anspruch Urbans auf die Darstellung der literarischen Entwicklung in der Tschechoslowakei seit 1945 geradezu anmaßend. Zudem verfälscht dieser westdeutsche Schreiberling unsere Literatur mit Hilfe zusammenhanglos herausgegriffener Zitate aus den für ihre Höherentwicklung unerläßlichen literarischen Polemiken und kritischen Beiträgen. Dabei bemüht er sich in keiner Weise 1

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K. G o t t w a l d , O kultuíe a úkolech inteligence v budování socialisma (Über die Kultur und die Aufgaben der Intelligenz beim Aufbau des Sozialismus), Praha 1954, S. 20. F. B u r i á n e k , Soufiasná ¡Seská literatura (Die zeitgenössische tschechische Literatur), Praha 1960; J. P e t r m i c h l , Patnáct let öeske literatury (Fünfzehn Jahre tschechische Literatur), Praha 1961. ftezáóz, Der Aufbruch; deutsch unter dem Titel: Die ersten Schritte, erschienen im Dietz Verlag, Berlin 1955. P ú j m a n o v á , Das Leben wider den Tod; deutsch erschienen im Verlag Volk und Welt, Berlin 1954. O t ö e n d s e k , Bürger Brych; deutsch unter dem Titel: Zeit der Entscheidung, erschienen im Verlag Tribüne, Berlin 1959.

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J. Dolansk^

um die allseitige Charakterisierung eines unserer Schriftsteller oder um die wahrheitsgetreue Interpretation seines literarischen Schaffens. So ist Julius Fucik für ihn „ein kommunistischer Journalist und Parteifunktionär, dessen Rolle in seiner langen Gestapo-Haft mindestens als zwielichtig anzusprechen ist" 1 . Wer unseren Nationalhelden, der in der gesamten fortschrittlichen Welt als vorbildlicher Kämpfer gegen den Hitlerfaschismus geehrt wird und dessen „Reportage unter dem Strang geschrieben" zu Recht als eines der größten künstlerischen Dokumente menschlicher Standhaftigkeit internationale Anerkennung gefunden hat, von einem solchen Standpunkt einschätzt, stellt sich offen und unzweideutig auf die Seite der faschistischen Gestapo. Mit der gleichen empörenden Arroganz spricht Urban von anderen großen Schriftstellerpersönlichkeiten unserer Literatur. So charakterisiert er Peter Jilemnicky, einen der Begründer des slowakischen sozialistischen Realismus, als einen „tschechischen Lehrer, der wegen kommunistischer Betätigung nach der Slowakei strafversetzt wurde und dort schließlich in slowakischer Sprache zu schreiben begann"2. Urban ignoriert nicht nur den bedeutsamen Roman „Kronika" („Der Wind dreht sich", 1947), der den heldenhaften Aufstand des slowakischen Volkes von 1944 zum Inhalt hat und in dem Jilemnicky den Höhepunkt seines künstlerischen Schaffens erreicht, sondern auch dessen Vorkriegsromane, die er übrigens völlig aus der Literaturgeschichte streicht, indem er den Schriftsteller willkürlich in den Kriegsjahren debütieren läßt. Marie Püjmanoväs Gedichtsammlungen „Vyznäni läsky" („Liebesbekenntnis") und „Miliony holubicek" („Eine Million Tauben"), in denen sich die Schöpferin der bedeutenden Romantrilogie „Lide na krizovatce" (1937), „Hra s ohnem" (1948) und „2ivot proti smrti" (1952)3 leidenschaftlich für den Friedenskampf einsetzt, bezeichnet der „Literaturkritiker" Urban im Nazijargon als „Ergüsse einer hysterischen Person"4. Vitezslav Nezval, der über den Surrealismus den Weg zum sozialistischen Realismus fand und der durch sein Poem „Zpev miru" (1950)5 weit über die Grenzen seines Landes hinaus berühmt wurde, ist für Urban ein Beispiel der „Korrumpierung begabter Dichter" 6. Die große Wegbereiterin des sozialistischen Realismus in der tschechischen Literatur, Marie Majerova (geb. 1882), führt Urban als Beispiel dafür an, daß es namhafte Schriftsteller gäbe, die sich „mit Neuauflagen älterer Werke begnügen"7. Unverhohlene Sympathie bringt der Autor denjenigen Schriftstellern und Dichtern entgegen, von denen er sagen zu können glaubt, daß sie vom „Regime" 1 2 3

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Osteuropa, a. a. O., S. 703. ebd. Die Trilogie erschien in deutscher Übersetzung im Verlag Volk und Welt, Berlin: Menschen am Kreuzwege, 1949; Spiel mit dem Feuer, 1953; Das Leben wider den Tod, 1954. Osteuropa, a. a. O., S. 704. N e z v a l , Ich singe den Frieden; deutsch erschienen u. a. im Verlag Volk und Welt, Berlin 1951 und 1958. Osteuropa, a. a. O., S. 704. ebd.

Verfälschung der tschechischen und slowakischen Literatur

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verfolgt worden seien. So zitiert er ausführlich das in der Emigrantenpresse veröffentlichte fingierte „politische Testament" von Frantisek Halas1. Ebenso bedauert Urban den Schriftsteller Konstantin Biebl als Opfer, wobei er dessen Selbstmord erwähnt, jedoch nichts davon schreibt, daß Biebl im gleichen Jahr (1951) sein poetisches Credo „Bez obav" („Ohne Furcht") veröffentlichte, in dem er seinen Schriftstellerkollegen zuruft : Rozvinte nMty prapor poezie Bud'te jak partyzâni z hör!

Entfaltet das rote Banner der Poesie, seid wie die Partisanen der Berge! 2

Biebls Bekenntnis lautet : Upostred vsech moïn^ch ismù Zvedl se jenom jedin^ Nesporn^ vavrin leninismu Ten kter^ vyhrâl dëjiny.

Inmitten aller möglichen Ismen erhob sich nur ein einziger, der unumstrittene Lorbeer des Leninismus, Der, der die Geschichte gewonnen hat.*

Den Schriftsteller Jaroslav Seifert, dessen „Romance o svatem Väclavu" („Romanze vom heiligen Wenzel") Urban als „hintergründig" charakterisiert4, glaubt er als weiteren Zeugen seiner Behauptungen anführen zu können; ebenso nutzt er die Diskussionen um A. Bednars Sammlung von Erzählungen über den slowakischen Aufstand „Hodiny a mintity" („Stunden und Minuten") für seine schmutzigen Zwecke aus5. Die größten Hoffnungen aber setzt Urban auf die junge Dichtergeneration, von der er behauptet, daß sie vor allem die französische Dekadenz als Kunstrichtung von Rang gelten lasse6, was jedoqh in keiner Weise den wirklichen Tatsachen entspricht. Gerade das Schaffen der jungen Dichter, wie beispielsweise Jiri Sotola (geb. 1924), Miroslav Holub (geb. 1923), Karel Siktanc (geb. 1928) und Miroslav Florian (geb. 1931), zeugt von dem Bemühen, an die dichterischen Leistungen der Generation J . Wolkers anzuknüpfen. Diese Erkenntnis liegt Urban aber völlig fern. Zusammenfassend sei darauf hingewiesen, daß Urbans Artikel als offen konterrevolutionäres Pamphlet gegen alle progressiven und revolutionären Errungenschaften der tschechischen und slowakischen Literatur gewertet werden muß.

vgl. a. a. 0 . , S. 704. zitiert nach: K. B i e b l , Dilo IV (Werke, Bd. IV), Bez obav ( 1 9 4 0 - 1 9 5 0 ) , Praha 1953, S. 5 (Motto). 3 ebd., Manifesty; aus dem Gedicht „Pfed ütokem", („Vor dem Angriff"), S. 147. — Die vorliegende Übersetzung stammt von M. Jähnichen. * Osteuropa, a. a. O., S. 708. 5 ebd., S. 708f. « ebd., S. 712. 1

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J. Dolansk^

Die Hauptabsicht des Verfassers besteht darin, die tschechoslowakischen Kämpfer gegen den Faschismus in nazistischer Manier durch infame Lügen zu diskreditieren. Mit besonderer Heftigkeit greift er den sozialistischen Realismus in der tschechischen und slowakischen Literatur an, dessen hervorragendste Werke heute bereits Weltbedeutung gewonnen haben und die vom Aufbau der neuen Gesellschaft in der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik künden. Hieran zeigt sich eindeutig Urbans unverhohlene Parteinahme für die reaktionären Ziele der in Westdeutschland wiedererstandenen imperialistischen und revanchistischen Kräfte. Deutsche Redaktion: Dr. M. JähnichenjM. Baade

D r . M . WEGNEB

Formalistische Literaturbetrachtung in Aktion Prof. V. Setschkareff und die russische

Literatur

Der vom VI. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands beschlossene umfassende Aufbau des Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik wird die ökonomischen Grundlagen und die moralisch-politische Einheit der sozialistischen Gesellschaft weiter festigen. Die völlige Verwirklichung des Sozialismus auf dem Boden der Deutschen Demokratischen Republik wird wesentlich günstigere Voraussetzungen schaffen, die nationale Frage des deutschen Volkes zu lösen. I n dem Maße, wie der moderne, industriell und kulturell hochentwickelte sozialistische Staat erstarkt und gegenüber der ganzen Welt das neue Deutschland verkörpert, werden die Fundamente des deutschen Imperialismus in Westdeutschland weiter erschüttert, finden die friedliebenden gesellschaftlichen Kräfte in Westdeutschland in unserem Staat einen immer größeren Rückhalt in ihrem Kampf gegen die Herrschaft der Imperialisten und Militaristen. Deshalb ist der Abschluß der Periode des Überganges vom Kapitalismus zum Sozialismus mit dem umfassenden Aufbau der sozialistischen Gesellschaft in der Deutschen Demokratischen Republik die konsequente Fortsetzung des einzig richtigen und möglichen Weges zur Wiederherstellung der nationalen Einheit Deutschlands. Die Interessen der Nation erfordern die Ausschaltung der deutschen Imperialisten und Militaristen von der Macht in Westdeutschland. Sie fordern auch die ständige Enthüllung des menschenfeindlichen Charakters der reaktionären bürgerlichen Ideologie. Die neue höhere Etappe in der gesamten gesellschaftlichen Entwicklung der Deutschen Demokratischen Republik verlangt einen verstärkten Kampf gegen imperialistische Konzeptionen im Bereich der Gesellschaftswissenschaften. Wissenschaftsfremde Auffassungen mit antikommunistischer polemischer Spitze sind gegenwärtig ein fester Bestandteil der bürgerlichen Literaturwissenschaft. Zu den auffallenden Grundzügen der modernistischen bürgerlichen Literaturwissenschaft gehört die zunehmende Verbreitung von Theorien, in denen der Zusammenhang von Literatur und Gesellschaft geleugnet wird und die Literatur als ein irrationales Phänomen erscheint, das in seiner ideellen Substanz im Prinzip nicht erkennbar ist und deshalb unendlich verschieden erschlossen werden kann. Daraus wird meistens die Schlußfolgerung gezogen, daß die Literaturwissenschaft sich darauf beschränken müsse, das „Wie" der künstlerischen Gestaltung zu analysieren und die spezifischen Strukturelemente der Dichtung herauszustellen.

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M. Wegner

Dieser Zug zum Subjektivismus und Agnostizismus bildet ein Wesensmerkmal der bürgerliehen Literaturwissenschaft in der gegenwärtigen Phase ihrer Entwicklung und wird in dieser oder jener Form in den literaturtheoretischen Konzeptionen der führenden bürgerlichen Literaturwissenschaftler unserer Zeit deutlich 1 . Zuweilen wird der formalistische und ästhetizistische Standpunkt, in dem Subjektivismus und Agnostizismus aufgehen, so zugespitzt vorgetragen, daß selbst bürgerliche Literaturwissenschaftler — wenn auch in einer sehr zurückhaltenden Weise — sich veranlaßt sehen, gegen die wissenschaftliche Unhaltbarkeit solcher extrem formalistischer und ästhetizistischer Auffassungen anzugehen. So formuliert der Schweizer Max Wehrli in seinem instruktiven Buch „Allgemeine Literaturwissenschaft", in dem er einen Überblick über die Situation in der bürgerlichen Literaturwissenschaft gibt, polemisch: „ . . . auch innerhalb der Kunst selbst steht das Werk nie allein. So ursprünglich es sein mag, so ist es, wie das menschliche Lebewesen, nur als geselliges Wesen möglich" 2 . Wehrli grenzt sich damit deutlich von den konsequenten l'art pour l'art-Theoretikern ab 3 . Und unverkennbar ist das Unbehagen dieses Gelehrten gegen ästhetizistische Irrwege in der Literaturwissenschaft, wenn er scharfen Einspruch dagegen erhebt, daß der sonst von ihm sehr geschätzte Wolfgang Kayser die Literaturgeschichte aus der Literaturwissenschaft entfernt haben möchte. Freilich geht dabei Wehrli nicht auf die grundsätzlichen Fragen der Literaturbetrachtung ein, und er will seine Meinungsverschiedenheiten mit Kayser auf terminologische Unklarheiten reduziert wissen 4 . Doch macht auch diese Arbeit eines bürgerlichen Literaturwissenschaftlers sichtbar, daß die westliche Literaturtheorie der Gegenwart mit ihrer formalistisch-ästhetizistischen Grundtendenz zu willkürlichen Konstruktionen Zuflucht nehmen muß, die eine eindeutige Absage an die Ergebnisse des ästhetischen und literaturtheoretischen Denkens der bürgerlichen Klassik darstellen. Diese Entwicklung wird aber selbst im Lager der bürgerlichen Literaturwissenschaft nicht widerspruchslos hingenommen. 1

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Der bekannte sowjetische Literaturtheoretiker Ja. El'sberg hat vor einiger Zeit in einer seiner größeren Arbeiten die subjektivistische und agnostizistische Grundtendenz der theoretischen Auffassungen von Wolfgang Kayser, Martin Heidegger, Emil Staiger, Albert Camus u . a . gründlich herausgearbeitet; vgl. H. 9 n b c 6 e p r , O ßeccnopHOM h cnopHOM (Ja. El'sberg, Über Unbestreitbares und Umstrittenes), Moskau 1959, S. 210f.; vgl. auch die Aufsätze Ja. E l ' s b e r g s und V. K o i i n o v s in dem Sammelband: IIpoTHB 6 y p > K y a 3 H H X KOHijeimiift h p e B H 3 H O H H 3 M a b 3apy6e>KHOM j m T e p a T y p o B e p ; e H H H (Wider die bürgerlichen Konzeptionen und den Revisionismus in der ausländischen Literaturwissenschaft), Moskau 1959, S. 48ff., S. 188ff. M. W e h r l i , Allgemeine Literaturwissenschaft, Bern 1951, S. 135. Von da her ist es auch zu verstehen, daß Wehrli von V. Setschkareff der Vorwurf gemacht wird, er habe gleich anderen Gelehrten in seiner „Allgemeinen Literaturwissenschaft" leider die Entwicklung „vom Kunstwerk fort" mitgemacht; vgl. V. S e t s c h k a r e f f , Einige neuere Werke zur allgemeinen Literaturwissenschaft, in: Zeitschrift für elavische Philologie, Bd. X X I I I , 1955, S. 355. vgl. M. W e h r l i , Allgemeine Literaturwissenschaft, Bern 1951, S. 55f. und S. 136.

Formalistische Literaturbetrachtung in Aktion

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I m weltweiten Ringen der Kräfte der Demokratie und des Sozialismus um den gesellschaftlichen und geistigen Fortschritt, bei dem sich immer deutlicher der unausbleibliche Sieg des Sozialismus im Weltmaßstab abzeichnet, beantwortet sich auch die Frage nach dem Hauptweg der weltliterarischen Entwicklung, erfüllt sich der Sinn jedes echten humanistischen literarischen Schaffens. Der künstlerische Realismus mit dem ganzen Reichtum und der unendlichen Vielfalt seiner gestalterischen Ausdrucksmöglichkeiten repräsentiert sinnfällig die Generallinie in der weltliterarischen Bewegung unserer Epoche und verkörpert in der Literatur des sozialistischen Realismus die wahrhaft moderne Dichtung unserer Zeit. Von da her ist es zu verstehen, daß besonders der Realismus von den bürgerlichen Ideologen bekämpft wird. Dabei geht es den Kritikern des Realismus, die sich ganz in den Dienst des Imperialismus gestellt haben, weniger um den Realismus selbst als vielmehr um das gesellschafliche System, dessen literarische Repräsentanz sie im Realismus erblicken. Sie nennen in ihrer Polemik den Realismus, meinen jedoch den Sozialismus und seine Verbündeten in der ganzen Welt. Diese zukunftsträchtigen Kräfte sind ihre eigentlichen Gegner. Die Gegenforderung nach formalistischer Kunst und ihrer extremsten Form, dem Abstraktionismus, ist — mag dies manchen bürgerlichen Theoretikern subjektiv auch fernliegen — ein Postulat im Interesse der Imperialisten, wird doch damit auf eine „Kunst" orientiert, die bewußt auf ihr humanistisches, wirklichkeitsveränderndes Anliegen verzichtet 1 . Der Angriff der bürgerlichen Literaturwissenschaft auf die realistische Dichtung der Gegenwart und Vergangenheit findet seine militanten Vertreter auch in den Reihen der westdeutschen Slawistik. Formalistisch-ästhetizistisch drapiert, mit eindeutig antikommunistischem Vorzeichen versehen, ist die Literaturbetrachtung Vsevolod Setschkareffs ein gewichtiger Beitrag zum antikommunistischen Feldzug der internationalen Reaktion. Die modernistische bürgerliche Literaturwissenschaft kann den westdeutschen, zur Zeit an amerikanischen Universitäten wirkenden Slawisten Vsevolod Setschkareff zu ihren profiliertesten Vertretern zählen. Er weist sich als ein ausgesprochen formalistischer Literaturwissenschaftler aus, der den formalistisch-ästhetizistischen Standpunkt in seiner literaturtheoretischen Konzeption so eindeutig und zugespitzt formuliert, wie das nur bei ganz wenigen bürgerlichen Gelehrten geschieht, die sich mit slawischen Literaturen beschäftigen. Setschkareff gehört zu den führenden westdeutschen Slawisten, und das offizielle Bild von der russischen und sowjetischen Literatur ist in Westdeutschland maßgeblich von ihm mitbestimmt worden. Mit mehreren größeren Abhandlungen 2 , mit zahlreichen Aufsätzen und vielen Rezensionen hat er neben dem Heidelberger Slawisten Dmitrij Tschizewskij, 1

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N. S. C h r u s c h t s c h o w / L . F. I l j i t s c h o w , Die Kunst gehört dem Volke. Reden zur Kulturpolitik, Berlin 1963, S. 43 ff. vgl. V. S e t s c h k a r e f f , Schellmgs Einfluß in der russischen Literatur der 20er und 30er Jahre des XIX. Jahrhunderts, Leipzig 1939; Geschichte der russischen Literatur, Bonn 1949; 2. Aufl., Reclam-Verlag, Stuttgart 1962; N. V. Gogol. Leben und Schaffen, Berlin 1953; N. S. Leskow. Sein Leben und sein Werk, Wiesbaden 1959; Alexander Puschkin. Wissenschaft

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den er übrigens an der Harvard-Universität in den USA abgelöst hat, den größten Anteil an der intellektuellen und populärwissenschaftlichen Meinungsbildung über die russische und sowjetische Literatur. Die entscheidenden Gedanken für seine literaturwissenschaftliche Grundkonzeption entleiht sich Setschkareff — wie viele bürgerliche Theoretiker modernistischer Literaturbetrachtung — aus der Philosophie Kants. Die Kantsche Ästhetik mit ihrer methodologischen Begründung des Formalismus und mit ihrem Irrationalismus bildet die philosophische Basis der literaturwissenschaftlichen Anschauungen SetschkarefFs. Der extreme Formalismus seiner Literaturtheorie wurzelt tief in den Hauptthesen der Ästhetik Kants und der Neukantianer. Zunächst begreift Setschkareff die Kunst als ein Spiel der künstlerischen Phantasie. So erklärt er in seiner Gogol'-Monographie, jene berühmte sozialkritische,vom Humanismus geprägte Partie in Gogol's „Mantel" sei nur als „stilistisches Spannungsmoment" zu verstehen — gemeint ist die herzlose Abweisung des hilfesuchenden kleinen Beamten durch die „hochgestellte Persönlichkeit", ein tragendes Element im kämpferisch-humanistischen Aussagegehalt der Novelle. Setschkareff solidarisiert sich mit einem führenden Vertreter der russischen formalistischen Schule in der Literaturwissenschaft, der sich übrigens dann völlig von seinen theoretischen Positionen der zwanziger Jahre abgewandt hat und zum sehr angesehenen sowjetischen Literaturwissenschaftler wurde, indem er schreibt: „B. Eichenbaum hat recht, wenn er sagt, daß die Behauptung, hier spreche die Seele des Autors, ohne daß ihre Aussage für das Kunstwerk zwingend notwendig sei, für die ästhetische Wissenschaft nur Zeichen vonHilflosigkeitseinkönne. Kein Satz eines Kunstwerkes darf nur Spiegelung persönlicher Gefühle des Autors sein: alles ist Bau, Spiel nach bestimmten Gesetzen." 1 Faßt man nun die Kunst als absichtsloses, reines Spiel auf, akzeptiert man diesen Spielcharakter der Kunst als ein ihr eigenes Wesensmerkmal, so kann man nicht umhin, das künstlerische Schaffen nur als einen formalen Akt anzusehen, bei dem es darum geht, mit gewissen Kunstgriffen literarisches Rohmaterial zum Kunstwerk zu formen und damit dieses Material ästhetisch bedeutsam zu machen. Gerade das hat der Formalismus in der Literaturwissenschaft zur Theorie erhoben, und dies entspricht auch SetschkarefFs Ansichten, denn er identifiziert sich mit den Auffassungen der früheren russischen Formalisten 2 , was im übrigen für seine Position charakteristisch ist. Setschkareff

1

2

Sein Leben und sein Werk, Wiesbaden 1963; Studies in the Life and Work of Innokentij Annenskij, 's-Gravenhage 1963. — Weitere Publikationen SetschkarefFs sind verzeichnet in: Materialien zu einer slawistischen Bibliographie. Arbeiten der in Österreich, der Schweiz und der Bundesrepublik Deutschland tätigen Slawisten (1945 — 1963), München 1963. vgl. V. S e t s c h k a r e f f , N. V. Gogol, Berlin 1953, S. 167 (Hervorhebung von mir — M. W.). vgl. ders., Werkimmanente Betrachtung des sprachlichen Kunstwerks nach Viktor Schklovskij, in: Lexis. Studien zur Sprachphilosophie, Sprachgeschichte und Begriffsforschung, Bd. 4, Lehr 1954/55; Zwei Tendenzen in der neuen russischen Literaturtheorie, in: Jahrbuch für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Bd. III, Stuttgart 1958.

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formuliert nämlich seine literaturtheoretische Konzeption stets indirekt, durch die Aussagen anderer formalistischer Theoretiker. Daraus leitet er den methodologischen Grundsatz ab, der in dieser oder jener Form das Anliegen jeder formalistischen Literaturtheorie zum Ausdruck bringt: „Die Literaturwissenschaft, die sich mit Wortkunstwerken befaßt, t u t am besten, sich auf die Analyse zu beschränken, das ,Wie' der Gestaltung herauszustellen, um so — vielleicht — in der Durchleuchtung des Kunstwerkes, die Durchleuchtung des Lebens, dessen Symbol es ist, zu finden." 1 Das Begreifen des Kunstwerkes als Spiel, als Synthese von angewandten künstlerischen Mitteln, als Selbstzweck, ist ein entscheidender Gesichtspunkt für die Literaturtheorie Setschkareffs. Er schaltet die ideell-thematische Komponente als das Primäre im Kunstwerk völlig aus, erklärt diese für gänzlich bedeutungslos und kommt zu einem ausgesprochenen Kult der künstlerischen Form, der in der Feststellung gipfelt, in der Kunst komme es überhaupt nicht auf das „Was" (die Aussage), sondern nur auf das „Wie" (die Gestaltung) an 2 . Damit ist die Analyse eines literarischen Kunstwerkes für Setschkareff auf das Sichtbarmachen der Formelemente des Werkes beschränkt, und der literartheoretische Prozeß stellt sich für ihn vornehmlich als eine Aufeinanderfolge von formalen Neuerungen dar. Das heißt für ihn, daß die Position eines Dichters im Entwicklungsprozeß der Literatur und seine Bedeutung ausschließlich vom ästhetizistischen Standpunkt beurteilt werden kann. So kommt Setschkareff beispielsweise zu einer solchen absurden Behauptung, daß N.A.Nekrasov, der anerkannt bedeutendste Lyriker des russischen Realismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in erster Linie als geschickter Herausgeber literarischer Zeitschriften und erst dann als Dichter für die Literaturgeschichte von Interesse sei, während er dem Haupt der russischen ,,1'art pour l'art"-Lyrik, A. A. Fet, den Rang einer überragenden Dichterpersönlichkeit zuerkennt 3 . Hatte Setschkareff bereits in seinen literaturtheoretischen Ausgangspositionen die Trennung von Literatur und gesellschaftlichem Leben vollzogen, so sprengt er auch willkürlich die dialektische Einheit von Inhalt und Form im literarischen Kunstwerk, indem er die inhaltliche Seite des konkreten literarischen Werkes zur Bedeutungslosigkeit degradiert und die künstlerische Form zum Absolutum erhebt. Mit dieser Verabsolutierung der Form auf Kosten einer völligen Mißachtung des Inhalts gibt sich Setschkareff eindeutig als formalistischer Literaturtheoretiker zu erkennen, der das Inhaltliche der Dichtung aus der literaturwissenschaftlichen Analyse ausklammert und damit das große gesellschaftliche Anliegen 1

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vgl. ders., Dostoevskij in Deutschland, in: Zeitschrift für slavische Philologie, Bd. XXII, 1954, S. 12. vgl. ders., Zwei Tendenzen in der neuen russischen Literaturtheorie, in: Jahrbuch für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Bd. III, Stuttgart 1958, S. 95. vgl. ders., Geschichte der russischen Literatur, Bonn 1949, S. 101 ff.; vgl. demgegenüber die aufschlußreiche und feinfühlige Würdigung Nekrasovs bei A. S t e n d e r - P e t e r s e n , Geschichte der russischen Literatur, Bd. II, München 1958, S. 330ff.

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der Literatur unterschlägt. Diese Position nun entspricht in jeder Hinsicht dem Weltanschauungsbedürfnis der Bourgeoisie in der gegenwärtigen Phase der welthistorischen Entwicklung. Die Theoretiker der Bourgeoisie wenden sich mit allen Mitteln gegen die Widerspiegelung der Lebenswahrheit in Kunst und Literatur und erkennen deshalb mit Freude alle literaturtheoretischen Konzeptionen an, die ihrem ideologischen Gehalt nach die bürgerliche Gesellschaftsordnung stützen. Und diese Funktion erfüllt ganz vortrefflich Setschkareff, denn wenn er der Kunst ihr ideelles Anliegen streitig machen will, wenn er den Ideengehalt der Literatur aus dem Blickfeld der Hteraturwissenschaftlichen Untersuchungen verbannt haben möchte und dies damit begründet, daß es angeblich nicht Aufgabe der Literaturwissenschaft sein könne, „außerästhetischen" Momenten nachzuspüren, so würdigt er objektiv die Literatur zu einer außerhalb der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen stehenden Erscheinung herab und leugnet ihre gesellschaftsverändernde Rolle. Dieser literaturtheoretische Standpunkt SetschkarefFs steht im konträren Gegensatz zum Wesen jedes echten literarischen Kunstwerkes, das als Resultat der künstlerischen Widerspiegelung menschlicher Lebenswirklichkeit in der Totalität seiner ideellen und ästhetischen Werte begriffen werden will und deshalb eben substantiell verfälscht erscheint, wenn es einseitig interpretiert wird. Hatten wir eingangs vermerkt, Subjektivismus sei ein kennzeichnender Zug der modernen bürgerlichen Literaturwissenschaft, so kommt dies bei Setschkareff dadurch sehr prägnant zum Ausdruck, daß er ein ahistorisches Herangehen an literarische Erscheinungen zum Prinzip seiner Literaturbetrachtung macht. Wie alle modernen bürgerlichen Literaturtheoretiker und insbesondere diejenigen, die dem Einfluß der existentialistischen Philosophie erlegen sind, wiederholt Setschkareff die Auffassung, Kunst könne aus ihr selbst und nur aus ihr selbst verstanden werden. Die Literaturwissenschaft, heißt es bei ihm, will die Interpretation der Werke aus sich selbst unter bewußter Ausschaltung aller Querverbindungen vorgenommen wissen; das Kunstwerk ist ein Universum für sich selbst mit eigenen Gesetzen, eigenen inneren Zusammenhängen und mit einer eigenen Wahrheit Für Setschkareff ist der Gegenstand der literaturwissenschaf tlichen Analyse das Werk in seiner totalen Isolierung von der literarischen und gesellschaftlichen Umwelt und nicht in seinem notwendigen Zusammenhang mit dem Gesamtprozeß der literarischen Entwicklung. Deshalb orientiert sich Setschkareff auf das aus dem Entwicklungsprozeß der Literatur gewaltsam herausgelöste, von allen seinen Bindungen isolierte, einzelne literarische Werk, und von da her ist seine offene Antipathie gegen methodologische Bestrebungen zu verstehen, die Gesetzmäßigkeit der literarischen Prozesse in literarischen Strömungen deutlich zu machen. I m Vorwort zur „Geschichte der russischen Literatur" lesen wir: „Was die Zusammenfassung literarischer Erscheinungen in einzelne Strömungen betrifft, so hat sie in der russischen Literatur keine wirkliche Klärung, sondern nur eine Verwirrung der Begriffe hervorgebracht, weil die Vereinheitlichimg einer Vielfalt sich nur gewaltsam erzwingen läßt. Man läuft in Rußland 1

vgl. V. S e t s c h k a r e f f , Zwei Tendenzen in der neuen russischen Literaturtheorie, in Jahrbuch für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Bd. III, Stuttgart 1958, S. 95.

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überhaupt Gefahr, auf der Suche nach dem ,Wesen' literarischer Richtungen ihre Wirklichkeit vollkommen aus dem Auge zu verlieren."1 Setschkareff scheut die wissenschaftliche Untersuchung der Literatur als Prozeß, weil dies den gesetzmäßigen Charakter der literarischen Entwicklung aufdecken würde, was für die moderne bürgerliche Literaturtheorie von ihren weltanschaulichen Prämissen her unannehmbar ist. Sie kann als wissenschaftlich-ideologischer Reflex der Agonie der bürgerlichen Gesellschaft nicht an der Anerkennung der Gesetzmäßigkeiten von literarischen Prozessen interessiert sein, würde dies doch zwangsläufig die Frage nach den Gesetzmäßigkeiten im gesellschaftlichen Leben aufwerfen und letztlich zur Anerkennung des historischen Charakters der bürgerlichen Gesellschaft und damit ihrer Vergänglichkeit führen. Aus diesem Grunde durchzieht die bürgerliche Literaturtheorie und die theoretischen Auffassungen Setschkareffs eine klare antihistorische Tendenz, erfolgt ein militantes Auftreten gegen den historischen Entwicklungsgedanken in der Literatur, der sich doch in der widerspruchsvollen dialektischen Entwicklung der Literatur im Sinne eines Kontinuums durchsetzt. Die ahistorische Betrachtungsweise der Literatur zwingt den Wissenschaftler, sich von der Erforschung der Gesetzmäßigkeiten literarischer Entwicklungsprozesse loszusagen und die Literatur sowohl aus ihrem geschichtlichen Zusammenhang als auch aus den gegenwärtigen gesellschaftlichen Kämpfen gewaltsam herauszureißen. Die Folge davon ist eine krasse Abstraktheit in den literarhistorischen Aussagen, die sich bei Setschkareff in der Weise kundtut, daß er beispielsweise in seiner Gogol'-Monographie zu folgendem Fehlurteil gelangt: „Von einer Entwicklung in Gogol's Schaffen kann man nicht sprechen. Es konzentriert sich auf ein Jahrzehnt, und nur der Akzent verlagert sich etwas von der offenen Phantastik am Anfang auf die detaillierte Schilderung scheinbarer Realität am Ende. Aber alle Elemente sind von vornherein da .. ." 2 Zu welchen Verzerrungen der Literaturgeschichte man gelangen muß, wenn man wie Setschkareff auf das Prinzip des historischen Herangehens an die Untersuchung literarischer Erscheinungen und Prozesse verzichtet, zeigt seine „Geschichte der russischen Literatur". In völlig ahistorischer Weise wird von Setschkareff die russische Literaturentwicklung im 19. und auch im 20. Jahrhundert am Schaffen A. S. Puskins gemessen, denn Puskin ist für ihn der l'art pour l'artDichter par exellence, wie ja überhaupt nach seinen Worten in der russischen Literatur „eigentlich nur die zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts von jeder außerkünstlerischen Tendenz frei sind" 3 und als wahre, „reine" Dichtung bestehen können. Ganz abgesehen von der völlig abwegigen literarhistorischen Einschätzung Puskins, ist der methodologische Gesichtspunkt bezeichnend, mit dem Setschkareff die Maßstäbe für die Darstellung der russischen Literaturentwicklung 1 2

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vgl. ders., Geschichte der russischen Literatur, Bonn 1949, S. 6. vgl. ders., Gogol, Berlin 1953, S. 88 — D. Gerhardt hat in seiner Rezension zu dieser Monographie auf die Gefahren aufmerksam gemacht, die die formalistische Methode mit ihrem unhistorischen Charakter mit sich bringt; vgl. Zeitschrift für slavische Philologie, Bd. X X I I I , 1954, S. 400. vgl. V. S e t s c h k a r e f f , Geschichte der russischen Literatur, S. 5.

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gewinnen will. Puskins Schaffen als das non plus ultra an dichterischer Gestaltungskunst, als der unübertreffliche Gipfel der Dichtkunst, als ewige Norm und Muster — dieser abstrakte Standpunkt, von Setschkareff auch zur Grundlage seiner äußerst zweifelhaften Periodisierung der russischen Literatur im vorigen Jahrhundert gemacht, führt zwangsläufig dazu, daß die Leistungen in der russischen Literaturgeschichte nach Puskin abgewertet erscheinen müssen, was Setschkareff wie folgt zu begründen sucht: „Immer stärker entwickelt sich in den dreißiger und vierziger Jahren die Tendenz, Literatur als Sprachrohr für die Propagierung sozialer und politischer Ideen zu benutzen. Der Schaden, den das russische Schrifttum auch in seinen größten Vertretern dadurch erlitten hat, ist ungeheuer." 1 Die ganze Absurdität der Fragestellung Setschkareffs wird offensichtlich, wenn man sich die Frage vorlegt, wie es denn geschehen konnte, daß die russische Literatur gerade in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in einem Stadium ihrer Entwicklung also, in dem sie nach Setschkareff doch immer mehr von „außerkünstlerischen Tendenzen" durchdrungen wurde und zusehends an dichterischer Substanz verlor, zu ihrer nationalen Größe emporstieg und weltliterarische Bedeutsamkeit errang. Die Antwort muß uns die „Geschichte der russischen Literatur" von Setschkareff schuldig bleiben, weil ihr Verfasser gar nicht den Versuch unternimmt, nach den wahren Triebkräften der literarhistorischen Entwicklung zu forschen, die Dichtung in ihrem gesellschaftlichen und literarischen Kontext zu erschließen, sondern statt dessen bemüht ist, die russische Literaturgeschichte aus unhistorischer, formal-ästhetischer Sicht darzustellen. Unausbleiblich sind dann auch wissenschaftlich nicht vertretbare Urteile. Ist die antihistorische Tendenz ein hervorstechendes Charakteristikum der literaturwissenschaftlichen Anschauungen Setschkareffs, so paart sich diese mit weiteren Zügen der modernen bürgerlichen Literaturtheorie. Wenngleich Setschkareff es auch unterläßt, in zusammenhängender systematischer Form seine literaturtheoretischen Ansichten darzulegen, so finden sich bei ihm mitunter Formulierungen, die davon Zeugnis ablegen, daß Irrationalismus und Agnostizismus zur philosophischen Basis seines literaturwissenschaftlichen Systems gehören. Auch hierin teilt Setschkareff konsequent die philosophische Grundhaltung der zeitgenössischen bürgerlichen Ästhetik und offenbart sich als ein Verfechter der reaktionären bürgerlichen Konzeptionen in der Literaturwissenschaft. „Dichtung ist nur Objektivierung eines Inhalts durch Bilder und Symbole...", schreibt Setschkareff. Im nächsten Satz lesen wir: „Durch die organische Verschmelzung von Form und Gehalt, wobei die Form weitgehend den Gehalt bestimmt, gelangt ein irrationales Moment in die Kunst, wodurch sie gleichsam zum Symbol des Lebens wird..." 8 Der Irrationalismus kommt noch stärker im folgenden Satz zum Ausdruck: „ . . . im symbolhaften Aufhellen des Daseins, ohne klare Formulierungen liegt ja das Wesen des Dichterischen, sein großer Reiz und seine große 1 2

ebd., S. 93. vgl. V. S e t s c h k a r e f f , Dostoevskij in Deutsehland, in: Zeitschrift für slavische Philologie, Bd. XXII, 1954, S. 25 (Hervorhebung von mir - M. W.).

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Gefahr. Ein Kunstwerk kann tausendfach interpretiert werden und wer vermag zu sagen, welche Auslegung die richtige ist! Um sie zu treffen, müßte man das Rätsel des Lebens gelöst haben." 1 Doppeltes ist hiermit ausgesagt. Dichtung ist, da sie irrationale Elemente enthält, vom menschlichen Verstand nicht ganz faßbar und demzufolge auch nicht erklärbar. Deshalb ist es sinnlos, sich darin zu versuchen, dem Anliegen der dichterischen Werke nachzuspüren und diese als etwas Mitteilsames aufzufassen. Das dichterische Werk ist deshalb „eine undefinierbare, irrationale Durchdringung der äußeren Hülle mit dem Inneren, die das Gefühl einer Harmonie vermittelt, aus dem Kunstwerk ein Universum mit eigener innerer Ordnung macht" 2 . Setschkareff befindet sich mit diesen irrationalistischen Auffassungen im Dienst der existentialistischen Philosophie, dieser gegenwärtig stark verbreiteten Spielart des subjektiven Idealismus in den intellektuellen Kreisen der bürgerlichen Gesellschaft. Es ist ganz augenfällig, daß Setschkareffs Thesen von der „Selbstgenügsamkeit" der Kunst, ihrem angeblichen Irrationalismus sowie ihrer Unerkennbarkeit mit den existentialistischen kunstphilosophischen Ideen Heideggers korrespondieren und direkt von ihm entlehnt sein könnten 3 . Nun geht die irrationalistische Konzeption Setschkareffs Hand in Hand mit der theoretisch formulierten und bei der Untersuchung literarischer Werke praktizierten Behauptung, der ideell-thematische Gehalt einer Dichtung, ihr objektiver Aussagehalt seien prinzipiell unerkennbar. Und Setschkareff geht so weit, für die Kunst, die er ja immer subjektiv-idealistisch faßt, einen eigenen Wahrheitsbegriff zu konstruieren. „Man kann mit der Aussage eines Kunstwerkes nicht einverstanden sein und es trotzdem für wahr halten. Ein Gedicht z. B. ist wahr, wenn es in sich zusammenhängend ist. Es weist nur auf sich selbst, es ist absolut. Dies zugegeben, fallen viele religiöse, philosophische, soziologische und biographische Schlüsse, die aus der Literatur gezogen werden, von selbst fort." 4 Wir haben es hier mit einer völlig subjektivistischen Auffassung des Wahrheitsbegriffes zu tun, die nichts mit dem objektiven Wahrheitsbegriff gemein hat. Wahrheit wird im vorliegenden Falle nicht als die richtige Widerspiegelung der objektiven Realität verstanden, sie bedeutet für Setschkareff nicht die Übereinstimmung des künstlerischen Abbildes mit der objektiven Wirklichkeit. Er begreift sie vielmehr unter völliger Ausklammerung des Inhalts der künstlerischen Widerspiegelung als irgendein formales Strukturprinzip, das nur zur „Wahrheit" eines literarischen Werkes deklariert wird. Setschkareff muß den objektiven Wahrheitsgehalt der Kunst leugnen, er muß die Kunst ihres Erkenntniswertes berauben, weil für ihn die menschliche Lebenswirklichkeit, nach seiner Terminologie die 1 s

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ebd., S. 12. vgl. V. S e t s c h k a r e f f , Zwei Tendenzen in der neuen russischen Literaturtheorie, in: Jahrbuch für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Bd. III, Stuttgart 1958, S. 106. vgl. M. H e i d e g g e r , Der Ursprung des Kunstwerks, in: Holzwege, Frankfurt a. M. 1950. V. S e t s c h k a r e f f , Zwei Tendenzen in der neuen russischen Literaturtheorie, in: Jahrbuch für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Bd. III, Stuttgart, 1958, S. 95.

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„Rätsel des Lebens", im Prinzip nicht erkennbar ist und er den Widerspiegelungscharakter von Kunst und Literatur ersetzt durch das von der Künstlerpersönlichkeit vollzogene „Aufhellen des Daseins" als Ausdruck ihres — immer bis zum gewissen Grade irrationalen — Form-Willens. Irrationalismus und Agnostizismus sind eng miteinander verknüpft, und wie bestimmend sie in der literaturwissenschaftlichen Konzeption Setschkareffs wirksam werden, geht aus dem freimütigen Eingeständnis hervor, niemand könne sagen, worin denn eigentlich der Aussagegehalt des Uterarischen Kunstwerkes bestünde, und deshalb im Grunde genommen eine tausendfach verschiedene Interpretation einer Dichtung möglich sei1. In diesem Zusammenhang wird auch klar, weshalb Setschkareff so scharfe Worte gegen diejenigen findet, die den Realismus in der russischen Literatur als die bedeutsamste Strömung der russischen Literaturentwicklung des 19. Jahrhunderts hervorheben. Die realistische Literatur, die mit überzeugender Gestaltungskraft das russische Leben in seiner ganzen Widersprüchlichkeit und Kompliziertheit darzustellen vermocht hat und soviel Lebenswahrheit in sich barg, daß Gor'kij von ihr als dem Besten sprach, was die russische Nation während der Klassenherrschaft des Adels und der Bourgeoisie geschaffen hatte 2 , läßt sich nicht in das formalistische Schema der literaturwissenschaftlichen Theorie Setschkareffs pressen. Eben deshalb meidet Setschkareff in seiner „Geschichte der russischen Literatur" den Begriff „Realismus", will er ihn in der russischen Literatur als nicht existent betrachtet wissen und deutet im Gogol'-Buch das Schaffen des kritischen Realisten Gogol' als Phantastik, als die Wirklichkeit der Phantasie des Dichters. Der offene Agnostizismus macht Setschkareff zu einem willkommenen Bundesgenossen der an der Macht befindlichen Kräfte in Westdeutschland, die von ihren Klasseninteressen her fürchten müssen, die Lebenswahrheit in der russischen und sowjetischen Literatur in ihrer ganzen Tiefe und Konsequenz aufgedeckt vorzufinden. Es gehört zum wesentlichen Anliegen der westdeutschen Monopolbourgeoisie, den an den Fundamenten der bürgerlichen Klassenordnung rüttelnden Aussagegehalt des russischen Realismus verschwiegen oder verfälscht zu sehen. Und Setschkareff kommt den herrschenden Kreisen im -Bonner Staat sehr entgegen, wenn er durch den Verzicht auf die Analyse des Inhalts der literarischen Werke die Aufgaben der Literaturwissenschaft auf beschreibende, registrierende Funktionen reduziert. Somit kann die westdeutsche Bourgeoisie sein ganzes System der Literaturbetrachtung in den Dienst ihrer Ideologie stellen, und es kann keine Rede davon sein, daß das Verharren Setschkareffs auf „rein" literarwissenschaftlichen Positionen, seine „apolitische" Haltung, seine gelegentlichen Polemiken gegen das „Philosophieren" und „Theologisieren" über literarische Werke, ihn etwa als einen Gelehrten kennzeichnen würden, der tatsächlich bemüht ist, sich aus der Einbeziehung in die Kulturpolitik der imperialistischen und 1

a

vgl. ders., Dostoevskij in Deutschland, in: Zeitschrift für slavische Philologie, Bd. XXII, 1954, S. 12. vgl. M. ropbKHii, O J i H T e p a T y p e (M. Gor'kij, Über die Literatur), Moskau 1955, S. 79.

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militaristischen Kreise herauszuhalten. Vorgegebene weltanschauliche „Standpunktlosigkeit" erweist sich schließlich als eindeutige Parteinahme im Interesse der Imperialisten. Setschkareffs literaturwissenschaftliche Prinzipien sind nicht allein ein bloßer begrifflich-theoretischer Reflex der spätbürgerlichen Entwicklung im Bereich der Gesellschaftswissenschaften. Es ist nicht so, daß sein formalistisch-ästhetizistisches System mit seiner antihistorischen Tendenz, dem Irrationalismus und Agnostizismus, nur die Grundzüge der spätbürgerlichen Ästhetik widerspiegelt. Vielmehr geht es darum, daß solche literaturwissenschaftlichen Ansichten, wie sie Setschkareff vertritt, vom westdeutschen Imperialismus und Militarismus für seine revanchistischen Ziele ausgenützt werden. Methode und Ergebnisse der Literaturbetrachtung Setschkareffs werden in dem breitangelegten antikommunistischen Feldzug der restaurativen Kräfte Westdeutschlands gegen die Potenzen und Leistungen der slawischen Völker eingesetzt. Wenn heute in Westdeutschland revanchistische Kreise zur Boykotthetze gegen die Sowjetliteratur aufrufen, wie es unlängst im Falle II'ja Erenburgs geschah, so liefern die Urteile Setschkareffs über die Sowjetliteratur dieser Hetze die theoretische Grundlage. Schon 1939, im ersten Jahr des faschistischen Überfalls auf die Völker Europas, lieferte Setschkareff mit dem Buch „Schellings Einfluß in der russischen Literatur der 20er und 30er Jahre des X I X . Jahrhunderts" eine Arbeit, die auf dem Grundgedanken basiert, daß die russische Kultur- und Geistesentwicklung im vorigen Jahrhundert nichts Eigenständiges sei. Die russische Philosophie beispielsweise wurde von Setschkareff zum Ableger der westeuropäischen und insbesondere der deutschen Philosophie erklärt. Er behauptete, die Russen hätten das philosophische Gedankengut Deutschlands einfach übernommen, ohne auch nur das Geringste zur Weiterentwicklung philosophischer Ideen beigetragen zu haben 1 . Die ideologische Offensive des westdeutschen Imperialismus unter der Losung des Antikommunismus wird durch die zahlreichen Veröffentlichungen Setschkareffs nach dem II. Weltkrieg mit ihrer ausgesprochen antisowjetischen Zielsetzung wirksam unterstützt. Diese Einstellung, die sich bei Setschkareff in den verschiedensten Formen äußert, widerlegt den Anschein, daß es sich bei ihm um einen „apolitischen" Literaturwissenschaftler handele, der sich sorgsam davor hütet, außerästhetische Urteile abzugeben. Das will er sicher glauben machen, wenn er programmatisch verkündet: „Die schöne Literatur gehört in den Bereich der Kunst 1

In einer Vielzahl von Veröffentlichungen haben sowjetische Gelehrte die wissenschaftliche Unhaltbarkeit und den politisch reaktionären Charakter derartiger Auffassungen nachgewiesen; Vgl. U. a. C. A. Ü O K p O B C K H i i , i>ajIBCH(j)HKai(HH HCTOpHH pyCCKOÜ nOJIHTHl e c K o i t MHCJIH B c 0 B p e M e H H 0 i i p e a m m o H H O i i 6ypHtya3Holi n i i T e p a T y p e (S. A. Pokrovskij, Die Fälschung der Geschichte des russischen politischen Denkens in der modernen reaktionären bürgerlichen Literatur), Moskau 1957; den Sammelband PyccKan nporpecCHBHan MBicnb XIX Beita (30—60-e ro^ti) [Das russische fortschrittliche philosophische Denken des 19. Jahrhunderts (30er—60er Jahre)] Moskau 1959; I I p o T H B c O B p e M e H H b i x (j>anBCH(f>HKaTopoB HCTOpHH pyccuoii (f)Hjioco(|)HH (Gegen moderne Verfälscher der Geschichte der russischen Philosophie), Moskau 1960.

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und kann deshalb allein mit ästhetischen Kriterien beurteilt und gewertet werden. Bei der Betrachtung der russischen Literatur sind es fast ausschließlich .soziale' Gesichtspunkte gewesen, die das Urteil der Historiker beeinflußt haben. Eine solche Betrachtungsweise gehört jedenfalls nicht in das Gebiet der Literaturgeschichte" Doch ist es Setschkareff selbst, der sich am allerwenigsten an diese Worte hält. So kommt er in seiner „Geschichte der russischen Literatur" zu einer tendenziösböswilligen Betrachtung der sowjetischen Literaturentwicklung, nachdem er sich in groben Ausfällen gegen die russischen revolutionären Demokraten erging, von denen er zu berichten weiß, daß sie es beinahe fertiggebracht hätten, die „erblühte russische Literatur gänzlich auszurotten" 2. Jeder Kenner der russischen Literaturkritik weiß jedoch, daß gerade von den revolutionären Demokraten die gründlichsten, feinsinnigsten Analysen geschaffen wurden und die stärksten Impulse zur weiteren Entfaltung des russischen Realismus ausgingen. Die Geschichte der Literatur nach der Oktoberrevolution wird als eine einzige Niedergangsphase der Dichtung in allen ihren Gattungen charakterisiert. Eine Kostprobe von dieser „objektiven" Würdigung der literarischen Leistungen der Sowjetepoche erhält man, wenn man beispielsweise über die Menschengestaltung in den Werken der sowjetischen Prosa liest: „Die Gestalten aller Romane des neuen Rußland sind, je nach ihrer sozialen Herkunft, klar in gute und böse geteilt. Versuche einer objektiven Sicht sind in dieser Richtung außerordentlich selten. Rein menschliche, individuelle Konflikte fehlen ganz." 3 Bei einer solchen Position nimmt es nicht mehr wunder, wenn Solochovs „Stiller Don" für Setschkareff eine „trockene Aufzählung der Ereignisse" ist und A. Tolstojs „Leidensweg" „trotz einiger guter Einzelszenen im ganzen nicht zu überzeugen" vermag4. Die sowjetische Lyrik habe, meint Setschkareff, mit Majakovskij ihren Gipfelpunkt und ihr Ende erreicht5.. Setschkareffs literarhistorische Urteile über die Sowjetliteratur atmen den Geist der Feindseligkeit gegen die Sowjetunion und sind so weit von der historischen Wahrheit entfernt, daß sie politisch nicht anders qualifiziert werden können als offene Angriffe gegen die Sowjetgesellschaft und ihre Literatur. Deshalb werden alle antikommunistischen Kreise in Westdeutschland die erneute Auflage von Setschkareffs „Geschichte der russischen Literatur" mit heller Freude begrüßt haben, hat doch Setschkareff die ursprüngliche Fassung seiner Literaturgeschichte für diese Neuauflage (Stuttgart 1962) ausschließlich in dem Sinne überarbeitet, daß er seinen militanten antisowjetischen Standpunkt im Abschnitt über die sowjetische Literatur mit noch größerer Prägnanz vorträgt. 1 2 3 4 5

V. S e t s c h k a r e f f , Geschichte der russischen Literatur, Bonn 1949, S. 5. ebd., S. lOOf. ebd., S. 132f. ebd., S. 133. V. S e t s c h k a r e f f , Georgette Donchin. The influence of French symbolism on Russian poetry, The Hague 1958, in: Zeitschrift für slavisehe Philologie, Bd. XXVIII, 1960, S. 432.

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„Die hervorstechendsten Merkmale der Sowjetliteratur, so wie wir sie von ihrem Beginn (ca. 1930) bis heute vor uns sehen, sind die Langeweile und die Unaufrichtigkeit" (S. 153), so urteilt Setschkareff über die sowjetische Literatur zu einem Zeitpunkt, an dem ihre zunehmende Bedeutung in der ganzen Welt augenfälliger denn je ist. Allzu offensichtlich wird bei Aussagen dieser „Qualität", wie antisowjetische Haltung zur wissenschaftlichen Unaufrichtigkeit führt, die den Forscher aus den Reihen derjenigen Literaturwissenschaftler ausschließt, die um eine objektive Literaturgeschichtsschreibung bemüht sind. Besonders deutlich kommt der Antisowjetismus Setschkareffs in dem 1958 veröffentlichten und bereits mehrfach zitierten Aufsatz „Zwei Tendenzen in der neuen russischen Literaturtheorie" zum Ausdruck. Im Bestreben, den russischen Formalismus der zwanziger Jahre als die Wiege der modernen Literaturwissenschaft auszugeben und seine Theorie als schlechthin entscheidend für die Literaturbetrachtung darzustellen, entwickelt Setschkareff Vorstellungen über die marxistische Literaturtheorie, die ein einziges Zerrbild dieser Lehre vermitteln. Dabei greift Setschkareff zu einer Methode, die schon jeher bei den unzähligen „Marxtötern" und Verfälschern des Marxismus sehr beliebt war. Er gibt den Marxismus als etwas aus, was er überhaupt nicht ist, und hat es dann nicht allzu schwer, die Unhaltbarkeit dieses „Marxismus" zu demonstrieren. So entwirft er eine literaturwissenschaftliche Konzeption ganz im Sinne der sogenannten „soziologischen" Schule, die in den zwanziger Jahren in der Sowjetunion hauptsächlich von P. N. Sakulin vertreten wurde, und bezeichnet diesen mechanischen, vulgären Materialismus im Bereich der Literaturwissenschaft als „marxistische" Literaturtheorie. Auf diese Weise glaubt Setschkareff, die marxistische Lehre von Kunst und Literatur diskreditieren zu können und den uneingeweihten Leser irrezuführen, um dann schließlich zu sagen, daß nur der Formalismus in der Literaturwissenschaft ein gangbarer Weg zur Interpretation literarischer Werke sein könne 1 . Wieweit bewußte Verfälschung gehen kann, wird aus dem klar, was Setschkareff zum Begriff des „sozialistischen Realismus" zu sagen hat. In der „Geschichte der russischen Literatur" verstand er unter „sozialistischen Realismus" noch „realistische Darstellungsweise mit sozialkritischer Tendenz"2, später bedeutet bei ihm dieser Terminus „realistische Darstellungsweise mit sozialistischer Tendenz"3, und so stellt sich für ihn die literarische Praxis des sozialistischen Realismus bestenfalls als eine Illustration zu politischen Prinzipien dar, die in der Sowjetunion vertreten werden. „Die Literatur steht hier im Dienste der Idee und hat darzutun und in Bildern zu gestalten, wie sich die Idee im Leben positiv auswirkt. Sie hat diese Idee zu propagieren, ein Mittel des Klassenkampfes, des Kamp1

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vgl. ders., Zwei Tendenzen in der neuen russischen Literaturtheorie, in: Jahrbuch für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Bd. III, Stuttgart 1958, S. 106. ders., Geschichte der russischen Literatur, S. 131 (Hervorhebung von mir — M. W.). ders., Zwei Tendenzen in der neuen russischen Literaturtheorie, in: Jahrbuch für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Bd. III, Stuttgart 1958, S. 96 (Hervorhebung von mir — M. W.).

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fes der ,Werbtätigen' gegen die Kapitalisten zu sein" 1 . Auf diese Weise wird die Methode des sozialistischen Realismus Ms zu ihrer völligen Unkenntlichkeit simplifiziert und entstellt, womit Setschkareff offenbar glaubhaft machen will, die Literatur des sozialistischen Realismus sei eine nichtkünstlerische Erscheinung. Deshalb könne sie für die formalistische literaturtheoretische Konzeption als die angeblich einzige „wissenschaftliche" Methode der Literaturbetrachtung keinen Untersuchungsgegenstand bilden. Das ist die „theoretische" Argumentation mit der politischen Absicht, die westdeutsche Öffentlichkeit von der Begegnung mit der Literatur des sozialistischen Realismus auszuschließen und die westdeutsche Bevölkerung um jeden Preis vom ideellen und ästhetischen Erlebnis mit literarischen Werken der neuen sozialistischen Gesellschaft fernzuhalten. Auf welche Literatur dagegen orientiert Setschkareff den westeuropäischen Leser? „Große", bleibende Dichtung ist für ihn beispielsweise die symbolistische Lyrik der weißgardistischen Emigration, die — wie er ungehalten bemerkt — „seltsamerweise von der Slavistik konsequent ignoriert" werde 2 , hohen literarischen Wert habe das Prosaschaffen des Emigranten Evgenij Zamjatin usw. Kurz, es ist die bürgerliche Dekadenzliteratur, der die ganze Sympathie Setschkareffs gehört. Es bedarf wohl keiner weiteren Belege, daß die literaturtheoretischen und literarhistorischen Ansichten Setschkareffs ihrem ideologisch-politischen Gehalt nach gegen das wissenschaftliche Fundament der sozialistischen Gesellschaft gerichtet sind. Die offene sowjetfeindliche Tendenz stellt Setschkareff an die Seite derjenigen Ideologen in Westdeutschland, die aus der bitteren Vergangenheit des deutschen Volkes nichts gelernt haben und die abermals der Vorbereitung eines neuen Völkermordens durch die westdeutschen Militaristen Vorschub leisten. Setschkareffs Tätigkeit bestätigt den tiefen verallgemeinernden Sinn der Feststellung aus dem Programm der Kommunistischen Partei der Sowjetunion: „Die imperialistische Reaktion mobilisiert alle Mittel zur ideologischen Beeinflussung der Massen in dem Versuch, den Kommunismus und seine erhabenen Ideen zu verunglimpfen und den Kapitalismus zu verteidigen. Die wichtigste ideologisch-politische Waffe des Imperialismus ist der Antilcommunismus, dessen Hauptinhalt die Verleumdung der sozialistischen Gesellschaftsordnung sowie die verfälschte Darstellung der Politik und der Ziele der kommunistischen Parteien und der marxistisch-leninistischen Lehre ist." 3 Wer wie Setschkareff den Weg des Antikommunismus beschreitet, gerät unweigerlich in Gegensatz zu allen verantwortungsbewußten Wissenschaftlern, die den tieferen Sinn ihres Forschens in der Förderung des Humanitätsgedankens und der Idee der Völkerverständigung erblicken. Militante Antikommunisten 1 2

3

ebd. V. S e t s c h k a r e f f , Georgette Donchin, The influence of French symbolism on Russian poetry, The Hague 1958, in: Zeitschrift für slavische Philologie, Bd. XXVIII, 1960, S. 432. Programm und Statut der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Berlin 1961, S. 49.

Formalistische Literaturbetrachtung in Aktion

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vom Schlage Setschkareffs schließen sich aus den Reihen der Gelehrten in der ganzen Welt aus, die ihre Tätigkeit in den Dienst humanistischer Wissenschaft stellen, weil es ihnen bewußt ist, daß unsere Gegenwart eine besondere Verantwortung für die Erhaltung des Friedens hat. Sie verpflichtet jeden Geistesschaffenden, sich öffentlich zur humanistischen Mission der Wissenschaft zu bekennen und mahnend seine Stimme gegen alle antihumanistischen Tendenzen zu erheben. Auch die deutsche Slawistik wird zu diesem weltweiten Ringen um die Reinhaltung der Wissenschaft von wissenschaftsfeindlichen Ideen ihren Beitrag leisten.

E. WEISS

Gegen Äußerungen der antikommunistischen Ideologie in Prof. Lettenbauers „Russischer Literaturgeschichte" Die 1955 in erster und 1958 in zweiter verbesserter Auflage erschienene „Russische Literaturgeschichte" von Prof. Dr. W. Lettenbauer 1 stellt den ersten und bisher einzigen größeren Versuch einer Gesamtdarstellung der Geschichte der russischen Literatur von Seiten eines westdeutschen Wissenschaftlers dar. Sieht man von der ins Deutsche übersetzten „Geschichte der Sowjetliteratur" des in den USA lebenden russischen Weißemigranten Gleb Struve sowie von Prof. Holthusens Schrift über „Russische Gegenwartsliteratur" ab 2 , enthält Prof. Lettenbauers Buch zugleich die umfangreichste systematische Darstellung der Sowjetliteratur, die bislang in Westdeutschland erschienen ist. Damit gehört W. Lettenbauer, der längere Zeit dem Seminar für Slawische Philologie der Universität Erlangen als ordentlicher Professor vorstand und unlängst zum Direktor des Slawischen Instituts der Universität Freiburg/Br. berufen wurde, zu den wenigen slawistischen Hochschullehrern in Westdeutschland, welche die Sowjetliteratur in ihre Untersuchungen einbezogen haben, darüber publizieren und sie auch unmittelbar lehren. Diese Haltung wäre besonders zu begrüßen, ginge man von der berechtigten Annahme aus, daß hier getreu dem humanistischen Anliegen echter Wissenschaft die Wahrheit über die Sowjetliteratur zu ihrem Recht kommt. Denn in Anbetracht der äußerst mangelhaften Information bzw. der Desinformation der westdeutschen Bevölkerung über die Literatur der Völker der Sowjetunion 3 müßte es die vornehmste Pflicht slawistischer Wissenschaftler in Westdeutschland sein, für die Verbreitung eines objektiven Bildes von der Sowjetliteratur Sorge zu tragen, alle verfälschenden Darstellungen zurückzuweisen und so dem Mißbrauch des literaturwissenschaftlichen Zweiges der westdeutschen Slawistik zu dunklen Zwecken entgegenzuwirken. Hierbei käme es vor allem darauf an, die bedeutendsten künstlerischen Errungenschaften der Sowjetliteratur breitesten Kreisen in Westdeutschland richtig zu interpretieren und zugänglich zu machen, dem westdeutschen Leser vor Augen 1

2

3

W. L e t t e n b a u e r , Russische Literaturgeschichte, Frankfurt/M.—Wien 1955; ders., Russische Literaturgeschichte, 2., verm. u. verb. Aufl., Wiesbaden 1958. G. S t r u v e , Geschichte der Sowjetliteratur, München 1957; J . H o l t h u s e n , Russische Gegenwartsliteratur. I. 1890—1940. Die literarische Avantgarde, Bern—München 1963. vgl. z. B. A. H i e r s c h e , Antisowjetismus in der westdeutschen Literaturkritik, in: „Ostforschung" und Slawistik, Berlin 1960, S. 76 — 84.

Zu Prof. Lettenbauers „Russischer Literaturgeschichte"

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zu führen, daß sich in der Sowjetliteratur die gesetzmäßige Entwicklung der Kunst unserer Zeit zum sozialistischen Realismus zuerst und am ausgeprägtesten vollzogen hat, daß die sowjetische Literatur eine weltweite Verbreitung erfahren und auf die progressive Literatur der ganzen Welt und nicht zuletzt auf die deutsche Literatur stark eingewirkt hat. Besonders notwendig wäre es weiterhin, der westdeutschen Bevölkerung das humanistische Anliegen der Sowjetliteratur nahezubringen und deren positive bewußtseinsbildende Werte auch in Westdeutschland zur Wirkung kommen zu lassen. Nicht zuletzt müßte gezeigt werden, daß die sowjetische Literatur eben aus diesem Grunde dem Boykott bzw. den wütenden Angriffen seitens der Reaktion ausgesetzt ist; dies ist eine außerordentlich wichtige Aufgabe, da die Ausfälle gegen die Sowjetliteratur im klerikal-militaristischen Bonner Staat eine besondere Schärfe annehmen und da im Zuge der ideologischen Kriegsvorbereitung die Flut der verleumderischen antibolschewistischen Publikationen über die Sowjetunion und die Sowjetliteratur ins Unermeßliche angestiegen ist. Damit soll keineswegs die Forderung erhoben werden, Lettenbauer müsse die Sowjetliteratur vom marxistischen Standpunkt interpretieren. Bei echtem Streben nach wissenschaftlicher Objektivität und bei wahrer humanistischer Gesinnung wird man sich den eben skizzierten wesentlichen Erkenntnissen einfach nicht verschließen können. Lettenbauer wird jedoch diesen berechtigten wissenschaftlichen Erwartungen nicht gerecht. Es zeigt sich vielmehr, daß auch bei ihm die Darstellung und Wertung der sowjetischen Literatur unter dem unheilvollen Einfluß der in Westdeutschland vorherrschenden antikommunistischen Ideologie erfolgt, von dem er sich leider nicht freizuhalten vermochte. Das ist um so bedauerlicher, als Lettenbauer, wie wir noch darlegen werden, früher tiefere humanistische Einsichten offenbarte und auch heute noch zu der Annahme Grund gibt, daß er nicht in eine Reihe mit den Exponenten der revanchistischen Ostforschung gestellt werden möchte. Dadurch, daß sich Lettenbauers Literaturgeschichte im seriösen Gewand der Wissenschaft präsentiert, auf gedrängtem Raum eine Gesamtübersicht der russischen Literatur zu geben verspricht und dabei die Sowjetliteratur, für die das Interesse auch unter der westdeutschen Bevölkerung groß sein dürfte, weitgehend zu berücksichtigen vorgibt, fällt ihr eine besonders große informierende Rolle in Westdeutschland sowohl im akademischen als auch im außerakademischen Bereich zu. Dies erklärt auch mit die Verbreitung des bereits in zweiter Auflage erschienenen Buches. Damit ist aber auch die objektive schädliche Wirkung groß, die Lettenbauers Werk durch die Konzessionen an die antikommunistische Ideologie anrichtet, indem es die auf diesem Fachgebiet und in der Politik wenig erfahrenen und unbewanderten Menschen desorientiert und den unverbesserlichen Antibolschewisten und besonders auch den zahlreichen niedriger chargierten antikommunistischen Schreiberlingen bei der Verfälschung der Sowjetliteratur ein willkommenes wissenschaftliches Alibi bietet. Diese schädliche ideologische Wirkung wird durch einen gewissen informatorischen Wert, der sich aus einer Reihe annehmbarer Teilresultate und aus der Behandlung des Stoffes selbst ergibt, nicht

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E. Weiß

aufgewogen. Somit dürfte Lettenbauers Werk den offiziellen Kreisen Westdeutschlands durchaus genehm sein, und man geht wohl nicht fehl in der Annahme, daß hier der Hauptgrund für die positive Resonanz und die verhältnismäßig weite Verbreitung des Buches in Westdeutschland zu suchen ist. Es ist in der Tat bezeichnend für die fast völlige ideologische Gleichschaltung der westdeutschen Presse, daß in den zahlreichen Rezensionen, die diesem Buch gewidmet sind, sich kaum eine Stimme gegen die antikommunistische Tendenz bei der Interpretation der Sowjetliteratur und die häufig zutage tretenden, den gesellschaftlichen Fortschritt ignorierenden Auffassungen bei der Auslegung der früheren Perioden der russischen Literatur sowie gegen die damit verbundene wissenschaftliche Unzulänglichkeit des Werkes erhebt. I m Gegenteil, fast übereinstimmend wird der Abschnitt „Sowjetrussische Literatur" als besonders wertvoll und höchst aktuell bezeichnet und das Gesamtwerk als „Leitfaden für Studierende" 1 , als „Lese- und Nachschlagewerk" 2 , als „brauchbarer Nachschlagebehelf" 3 und „vorbildlicher" Leitfaden 4 , als eine „im Tatsächlichen zuverlässige" Literaturgeschichte und ein „verdienstvolles schönes Werk" 5 oder „eine anschaulich geschriebene, den Stoff souverän überschauende ... Geschichte der russischen Literatur" 6 , als ein Buch, dessen „soziologischer Quellenwert... einzigartig" 7 ist, gewürdigt. Leider werden in den beiden von Slawisten der DDR stammenden Besprechungen dieser Literaturgeschichte die negativen Seiten des Buches nur zu einem Teil bzw. nur am Rande aufgedeckt 8 . Es ist das Verdienst der 1959 in Leipzig durchgeführten literaturwissenschaftlichen Konferenz, die antikommunistischen Ideen in Lettenbauers Werk entschieden zurückgewiesen zu haben 9 , doch steht eine eingehende Auseinandersetzung mit ihnen noch aus.

1

2

3

4

3

0 7 8

9

E. K r o i s , Russische Dichtung als politisches Spiegelbild. Ein literarischer Überblick, in: Hochland, 52. Jg., 1959/60, Nr. 1, S. 73. vgl. A. v o n M o r z e , Wilhelm Lettenbauer: Russische Literaturgeschichte, 2. Aufl., Wiesbaden 1958, u. a., in: Bücherei und Bildung, 11. Jg., 1959, Nr. 4, S. 316. vgl. R. J a g o d i t s c h , Wilhelm Lettenbauer: Russische Literaturgeschichte, Frankfurt/M. —Wien 1955, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 1957, Nr. 3, S. 365. vgl. E. A l b r e c h t , Drei neue Rußlandbücher, in: Neue Deutsche Hefte, 1959, Nr. 65, S. 875. vgl. J. S c h r ö p f e r , Wilhelm Lettenbauer: Russische Literaturgeschichte, Frankfurt/M. —Wien 1955, in: Osteuropa, 6. Jg., 1956, Nr. 5, S. 440; M. A., Wilhelm Lettenbauer: Russische Literaturgeschichte. 2., verm. u. verb. Aufl., Wiesbaden 1958, in: Osteuropa, 10. Jg., 1960, Nr. 2/3, S. 203. E. A l b r e c h t , a. a. O., S. 876. vgl. R. J a g o d i t s c h , a. a. O., S. 364 (Hervorhebung von mir — E. W.). vgl. M. Girod, Wilhelm Lettenbauer: Russische Literaturgeschichte. Frankfurt/M.— Wien 1955, in: ZfSl II (1957), S. 6 3 0 - 6 3 5 , und E. R e i ß n e r , WUhelm Lettenbauer: Russische Literaturgeschichte, 2., verm. u. verb. Aufl., Wiesbaden 1958, in: DLZ, Jg. 80, 1959, Nr. 1, Sp. 3 3 - 3 6 . vgl. H. J ü n g e r , Slawistik und Literaturwissenschaft. Zur Interpretation der russischen und sowjetischen Literatur, in: ZfSl IV (1959), S. 475—496.

Zu Prof. Lettenbauers „Russischer Literaturgeschichte"

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Die vorliegende Abhandlung soll ein Beitrag dazu sein. Es ist nicht ihr Ziel, das Werk als Ganzes erschöpfend zu analysieren. Sie beschränkt sich darauf, den Erscheinungen der antikommunistischen Ideologie in Lettenbauers „Russischer Literaturgeschichte", wie sie vornehmlich bei der Interpretation der Sowjetliteratur zutage treten, nachzugehen, dabei die antikommunistischen Vorurteile Lettenbauers, von denen aus die Wertung erfolgt, aufzuzeigen und den Nachweis zu erbringen, daß sie in entscheidendem Maße die oft angewandten pseudowissenschaftlichen Darstellungsmethoden und die wissenschaftlich vielfach nicht aufrechtzuerhaltenden Ergebnisse bestimmen und mit dem humanistischen Anliegen der Wissenschaft nicht zu vereinbaren sind. Die Konzentration auf die Untersuchimg gerade dieser Seiten erfolgt deshalb, weil vor allem sie in der gegenwärtigen Situation zu politisch gefährlichen Schlußfolgerungen im Sinne der herrschenden revanchistischen Kreise Westdeutschlands führen.

Die im Vorwort abgegebene Erklärung Lettenbauers, daß es ihm bei der literarischen Wertung in erster Linie darum ging, „die ästhetischen Werte, das PoetischKünstlerische hervorzuheben, Dichtung als Wortkunst sichtbar zu machen" 1 , erweist sich insbesondere bei der Darstellung der Sowjetliteratur als Fiktion. Denn hier tritt die angekündigte formal-ästhetische Analyse weitgehend hinter einer inhaltlichen, überwiegend reaktionär-soziologischen Wertung zurück. Lettenbauer schließt sich dabei vorbehaltlos der bekannten These reaktionärer Literaturwissenschaftler an, nach der der progressive und namentlich der kommunistische Ideengehalt und die entsprechende Thematik mit der wahren Kunst angeblich nicht zu vereinbaren sind. Indem er sie entschieden bekämpft, gelangt er faktisch zur Verteidigung und Bevorzugung reaktionärer und antikommunistischer Ideen und Kräfte, die sich bei ihm — was zu zeigen sein wird — als durchaus vereinbar mit der Kunst erweisen. Ausgehend von dieser Grundkonzeption, übernimmt Lettenbauer viele einzelne Untersuchungsmethoden und -ergebnisse ausgesprochen sowjetfeindlicher Literaturwissenschaftler, insbesondere von Gleb Struve 2 und Marc Slonim 3 . Zugleich mißachtet Lettenbauer die Forschungsergebnisse und -methoden der marxistischen, namentlich der sowjetischen Literaturwissenschaft. Obwohl er in seiner Bibliographie eine Reihe sowjetischer Arbeiten anführt, verwertet er sie kaum. Während er sich des öfteren den Auffassungen seiner westlichen Vorbilder anschließt oder, was noch häufiger der Fall ist, sie ohne Kommentierung wohlwollend anführt, gibt er die Meinung der sowjetischen Literaturwissenschaft selten und recht unkonkret, in der Regel verzerrt und in einem skeptischen Ton, meist auch ohne Verweis, wieder. So enthält z. B. der erste Teil des Buches, „Die 1

2 3

8

W. L e t t e n b a u e r , Russische Literaturgeschichte, 2., verm. u. verb. Aufl., Wiesbaden 1958, S. V (Hervorhebungen von mir — B. W.). Im folgenden werden die diesem Buch entnommenen Zitate im laufenden Text durch Seitenangabe in Klammern belegt. G. S t r u v e , Geschichte der Sowjetliteratur, München 1957. M. S l o n i m , Modern Russian Literature. From Chekhov to the present, New York 1953. Wissenschaft

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E. Weiß

Kiever und altrussische Literatur", vierundzwanzig durch Fußnoten belegte Bezugnahmen auf bürgerliche und nur sechs Hinweise auf marxistische Arbeiten (vgl. S. 3—58), im Abschnitt „Die sowjetrussische Literatur" steht neun anderen nur ein Verweis auf sowjetische Quellen gegenüber (vgl. S. 261—315). Außerdem enthält die Bibliographie, soweit es sowjetische Arbeiten betrifft, viele Lücken. Bedeutende Forschungsergebnisse der sowjetischen Literaturwissenschaft über die Sowjetliteratur aus der neuesten Zeit, so z. B. die von der Akademie der Wissenschaften der UdSSR seit 1953 herausgegebene Reihe „Bonpocii coBeTCKOii jiHTepaTypu'' oder die in den letzten Jahren entstandenen fundierten Monographien über Gor'kij, Majakovskij, Fadeev, Solochov, Blok u. a. blieben unberücksichtigt (vgl. S. 325f.). Einer sachlichen Auseinandersetzung mit der marxistischen Literaturwissenschaft geht Lettenbauer ebenfalls aus dem Wege. Mit seiner wissenschaftlich völlig unhaltbaren, von M. Slonim entlehnten Bemerkung über den angeblich dominierenden Einfluß L. Tolstojs auf die Ausprägung der marxistischen Literaturtheorie bei völliger Übergehung von Marx, Engels, Lenin, Plechanov, Lunacarskij u. a. erreicht Lettenbauer den Gipfel der Ignoranz (vgl. S. 283). Um so länger hält sich Lettenbauer bei der formalen Schule der zwanziger Jahre auf, die er über alle Maßen preist, wobei er jedoch die Evolution einer Reihe ihrer prominentesten Vertreter zu hervorragenden marxistischen Literaturwissenschaftlern verschweigt (S. 267f.). Diese von antikommunistischen Ideen vielfach beherrschte, der Methode nach vornehmlich soziologische Wertung der Sowjetliteratur muß sich bei Lettenbauer natürlich mit einer entsprechenden Beurteilung der kommunistischen Weltanschauung, der revolutionären Arbeiterbewegung, der sozialistischen Gesellschaftsordnung und der geschichtlichen Entwicklung des ersten Arbeiter-und-BauernStaates der Welt, auf deren Grundlage sich die Sowjetliteratur herausgebildet hat, verbinden. Dem entspricht seine im Vorwort enthaltene B e h a u p t i m g : , , . . . doch scheint es mir mitunter geboten zu sein, Dichtung gerade vor dem Hintergrund der Erlebniswelt des Dichters zu sehen, und wo mir solches nötig zu sein schien, suchte ich den Gegenstand auf diese Weise darzustellen" (S. V). Dieses proklamierte Prinzip erweist sich besonders bei der Behandlung der Sowjetliteratur als eine subjektivistische, von antikommunistischen Vorurteilen bestimmte, dabei recht systemlose Heranziehung gesellschaftlicher und geschichtlicher Faktoren.

Zur Darstellung des literarischen

Entwicklungsprozesses

Lettenbauer teilt den 55 Seiten umfassenden Komplex „Die sowjetrussische Literatur" bald nach chronologischen, bald nach genremäßigen Prinzipien auf, die sich nicht selten überschneiden. I n den beiden ersten Abschnitten, „Erste und zweite Periode" (1918-1922; 1923—1927) und „Die weiteren Perioden" (1928—1932 ; 1933—1944; 1945—1953), sowie im letzten Abschnitt „Die Literatur nach Stalins Tod" (wir wollen uns hier mit dieser recht anfechtbaren Periodisierung nicht näher befassen) versucht Lettenbauer, die historische Entwicklung

Zu Prof. Lettenbauers „Russischer Literaturgeschichte"

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der Sowjetliteratur allgemein zu charakterisieren. Ihr wahres Wesen vermag er jedoch nicht zu erfassen. Bei der Behandlung der Literatur unmittelbar nach 1917 und in den zwanziger Jahren wird nicht die Haupttendenz des literarischen Entwicklungsprozesses jener Zeit, die Herausbildung und erfolgreiche Durchsetzung des sozialistischen Realismus, herausgearbeitet, sondern die ganze Aufmerksamkeit auf jene Erscheinungen konzentriert, die sich gegen diesen Hauptstrom tatsächlich oder angeblich stellten. Dabei werden vor allem den literarischen Gruppierungen, bei denen sich dekadente und zum Teil direkt antisowjetische Auffassungen zeigten, alle bedeutenden künstlerischen Errungenschaften der Literatur der zwanziger Jahre zugeschrieben. So heißt es u. a. in dem mit „Die Serapionsbrüder" betitelten Abschnitt: „...die .Serapionsbrüder' ... protestierten gegen die Forderung, daß Schriftsteller über aktuelle Tagesfragen zu schreiben hätten ... Die besten Autoren der Zeit gehörten der neuen, in formaler Hinsicht bemerkenswertesten Gruppe der sowjetrussischen Prosaschriftsteller an, Zamjatin, Lüne, N. Tichonov, Zoscenko, Slonimskij, Ysevolod Ivanov, Kaverin, K. Fedin, A. Tolstoj, L. Leonov, Ehrenburg (das trifft übrigens nicht für alle zu — E. W.). Sie schrieben in der Periode der NEP fast alle bedeutenderen Prosawerke" (S. 266f.). Lettenbauer unterschlägt, daß die in künstlerischer und ideell-thematischer Hinsicht bedeutendsten, für die Literatur des sozialistischen Realismus programmatischen Prosawerke jener Zeit in erster Linie doch wohl von Gor'kij, Fadeev („Die Neunzehn"), Serafimovic („Der eiserne Strom"), Furmanov („Öapaev"), Gladkov („Zement") u. a. geschaffen wurden, daß außerdem das literarische Schaffen der meisten der erstgenannten Schriftsteller schon zu jener Zeit sich von der theoretischen Plattform der „Serapionsbrüder" beträchtlich unterschied und daß Tichonov, Vs. Ivanov, Kaverin, Fedin, A. Tolstoj, Leonov und Erenburg ihre wahre künstlerische Größe als Dichter des sozialistischen Realismus erreichten. Ähnliche Entstellungen lassen sich auch in bezug auf die Gruppierungen der Akmeisten, Imaginisten u. a. nachweisen (vgl. S. 265). Die z. T. radikalistischen Auffassungen der proletarischen Gruppierungen werden von Lettenbauer im wesentlichen dazu benutzt, die Kommunistische Partei zu verunglimpfen. Lettenbauer ignoriert die entscheidende Rolle der Partei und Lenins bei der Zurückweisung der schädlichen Theorien und Praktiken des Proletkults 1 . Indem er das Hauptverdienst daran Gor'kij zuspricht, verbindet er dies mit einer gehässigen Spitze gegen die Partei: „So konnte Gor'kij den Schriftstellern ein verhältnismäßig hohes Maß an Freiheit sichern" (S. 266). Mit der Feststellung, daß die „Freiheit" der Literatur formal bestätigt worden sei (vgl. S. 266), geht Lettenbauer am wesentlichen Inhalt der Entschließung des ZK der KPdSU zu Fragen der Literatur vom Jahre 19252 (Lettenbauer gibt irrtümlich 1

2

vgl. O üpojieTKyjibTax. IIHCBMO L J K PKII (Über den Proletkult. Brief des ZK der RKP), in: O napTHftHoft H coBeTCKoii nenara. CÖopHHK ROKyMeHTOB, Moskau 1954, S. 220ff. vgl. O nojiHTHKe napTHH B oßjiacTH xy^OHTECTBEHHOIT JiHTepaTypH. Pe30Jii0i;HH L(K PKII (6) OT 18 HIOHH 1925 (Über die Politik der Partei auf dem Gebiet der künstlerischen Literatur. Resolution des ZK der R K P (B) vom 18. Juni 1925), in: ebd., S. 343—347.

8*

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E.Weiß

das Jahr 1924 an) vorbei, die bekanntlich auf das organische Wachstum und die Erringung der völligen Überlegenheit jener Literatur gerichtet war, die später als Literatur des sozialistischen Realismus definiert wurde. Die abwegige Behauptung Lettenbauers, daß die „Weggenossen der Revolution" nach 1925 die literarische Führung zu übernehmen begannen (vgl. S. 266), ist dazu angetan, die ideologische und schöpferische Annäherung zwischen den der Partei angehörenden und parteilosen sowjetischen Schriftstellern zu ignorieren und einen antagonistischen Gegensatz zwischen ihnen zu konstruieren, ganz abgesehen davon, daß sich diese Feststellung Lettenbauers mit seiner These von der angeblich immer schärfer werdenden Einmischung der Partei in die Angelegenheiten der Literatur nicht vereinbart. Lettenbauer verwickelt sich wiederum in Widersprüche und wird dem tatsächlichen Sachverhalt keineswegs gerecht, wenn er verabsolutierend von der Unzufriedenheit der kommunistischen Schriftsteller mit der erwähnten Resolution (vgl. S. 266) und einige Seiten weiter von den mit der Parteilinie völlig übereinstimmenden proletarischen Autoren (vgl. S. 270) spricht. Bei der Behandlung der RAPP mißbilligt Lettenbauer in übertriebener Weise einerseits die Theorien und Praktiken dieser Vereinigung, begrüßt andererseits aber deren Auflösung nicht, wobei er ihr postum, eine spekulative These Edward J. Browns anführend, plötzlich „Sinn für die eigentlichen Aufgaben der Literatur" (S. 270) indirekt zugesteht, der angeblich der Partei nicht genehm war. So sehr sich diese Urteile auch widersprechen mögen, ihre antikommunistische Tendenz ist stets die gleiche. Das ist übrigens auch ein anschauliches Beispiel für die eklektische Darstellungsweise Lettenbauers, der häufig die fragwürdigen Meinungen anderer westlicher Literaturwissenschaftler anführt und sich dabei einer klaren Stellungnahme enthält. Was die Entwicklung der sowjetischen Literatur in den zwanziger Jahren anbelangt, so täte Lettenbauer in Zukunft besser daran, die entsprechenden fundierten Arbeiten sowjetischer Forscher gründlicher zu studieren1. Auch in der Auslegung der literarischen Entwicklung nach 1932 folgt Lettenbauer Struve, Slonim u. a. Wie diese mißdeutet er die theoretische Verallgemeinerung einer bereits erfolgten gesetzmäßigen Entwicklung der Sowjetliteratur, den sozialistischen Realismus, und die auf dieser Grundlage erfolgte Konsolidierung der sowjetischen Schriftsteller, die in der Bildung eines einheitlichen Verbandes ihren Ausdruck fand, als Willkürakt der Partei, als etwas der Literatur von außen Aufgezwungenes, das sich angeblich verheerend auf sie ausgewirkt 1

Es sei hier nur auf folgende Arbeiten neueren Datums verwiesen: ÜCTopHH pyccKOÄ coneTCKofi jiHTepaTypu (Geschichte der russischen sowjetischen Literatur), Bd. 1 u. 2,

Moskau 1958 u. 1960; B. HuaHOB, OopMHpoBamie HfleiiHoro ejjHHCTBa ooBeTCKoft jiMTepaTypu 1917 —1932 (V. Ivanov, Die Formierung der ideellen Einheit der sowjetischen Literatur 1917—1932), Moskau 1960; JI. ü j i o t k h h , IlapTHH h jiHTepaTypa (L. Plotkin, Partei und Literatur), Leningrad 1960. Sehr aufschlußreich ist auch die Diskussion, die in der Zeitschrift „BonpocH JurrepaTypu", 1961, Nr. 4, 5, 7, 9, über die Entwicklung der sowjetischen Literatur in den zwanziger Jahren geführt wurde.

Zu Prof. Lettenbauers „Russischer Literaturgeschichte"

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hat. Lettenbauer versucht den Sowjetschriftstellern jegliche schöpferische Freiheit abzusprechen (vgl. S. 271). Dabei bedient er sich einer Ausdrucksweise (vgl. S. 272), die nur allzusehr an Struves Terminologie („2danov-Aera", „Das Anziehen der Schraube", „Der erste Schlag" und dergleichen) erinnert 1 . Demnach muß es ein unlösbares Rätsel bleiben, wie in dieser Zeit solche hervorragenden Werke, wie A. Tolstojs „Leidensweg" und „Peter I.", Solochovs „Der stille Don", Fedins „Frühe Freuden" und „Ein ungewöhnlicher Sommer", um nur einige wenige zu nennen, entstehen konnten 2 . Das Hervorheben dessen, was von den antikommunistischen Interpreten der Sowjetliteratur böswillig als „Tauwetter-Periode" bezeichnet wird, ist der wesentliche Inhalt des in die zweite Auflage neu eingefügten Abschnitts „Die Literatur nach Stalins Tod", wobei Lettenbauer insbesondere die die Sowjetwirklichkeit verzerrenden Seiten der in der Sowjetunion zu Recht kritisierten Romane und Erzählungen Erenburgs, Panovas, Dudincevs und Granins lobend hervorhebt. Ihnen widmet er fast zwei ganze Seiten, während so hervorragende Kunstwerke wie Fedins letzte Romane und Leonovs „Der russische Wald" auf einer halben Seite gestreift werden und andere bedeutende Werke der sowjetischen Nachkriegsliteratur von Gladkov, Tvardovskij, Pavlenko, Oveckin, Nikolaeva u. a. keine Erwähnung finden. Das ist ein weiteres markantes Beispiel dafür, daß es Lettenbauer gar nicht um ästhetische Werte geht. Damit wird das eigentliche Wesen der letzten Periode der Sowjetliteratur völlig entstellt, die trotz der bekannten negativen Erscheinungen der Zeit des Personenkults Großes zu vollbringen vermochte, die in den letzten Jahren dessen schädliche Folgen überwand, die Äußerungen einer das Leben verzerrenden Darstellungsweise von sich wies und jetzt allen sichtbar von neuen großen künstlerischen Errungenschaften Zeugnis ablegt. Es sei hier nur auf Solochovs „Ein Menschenschicksal" und den zweiten Teil von „Neuland unterm Pflug", G. Nikolaevas „Das Geständnis" und „Schlacht unterwegs", K. Simonovs „Die Lebenden und die Toten" und Tvardovskijs Poem „Fernen über Fernen" verwiesen. Zur Auslegung des sozialistischen

Realismus

In der zweiten Auflage seines Buches hat Lettenbauer der Charakterisierung des sozialistischen Realismus neue Partien gewidmet (S. 271 u. 312), die wiederum wenig Originalität zeigen, denn die meisten seiner Thesen sind auch hier eindeutig G. Struve und auch M. Slonim entlehnt 3 . Der Hauptangriff richtet sich erklärlicherweise gegen die Parteilichkeit der Literatur des sozialistischen Realismus, wobei Lettenbauer die Behauptung aufstellt, der sozialistische Realismus wende sich gegen eine wahrheitsgetreue objek1 2

a

G. S t r u v e , a. a. O., S. 390 u. 394. Den bisher besten Einblick in die Entwicklung der sowjetischen Literatur in dieser Zeit gewährt zweifellos: HcTopim pyccKoii coBeTCKOft JiiiTepaTypbi (Geschichte der russischen sowjetischen Literatur) Bd. 2 u. 3, Moskau 1960 u. 1961. vgl. G. S t r u v e , a. a. O., S. 290—298; M. S l o n i m , a. a. O., S. 407ff.

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E. Weiß

tive Darstellung des Lebens. Lettenbauer bleibt die Erkenntnis verschlossen, daß der marxistische Begriff der Parteilichkeit die höchste Form der Objektivität beinhaltet 1 . Als Beweis für seine These führt Lettenbauer eine Äußerung Zdanovs auf dem ersten sowjetischen Schriftstellerkongreß an, mit der dieser sich angeblich gegen die Darstellung der „objektiven Wirklichkeit" gewandt haben soll (vgl. S. 271). Lettenbauer begeht jedoch dabei eine wissenschaftliche Unkorrektheit, denn der Ausspruch 2danovs läßt eine solche Deutung nicht zu. Bekanntlich erklärte dieser, die Schriftsteller müßten „das Leben kennen, um es in den künstlerischen Werken wahrheitsgetreu darstellen zu können, nicht scholastisch, nicht tot, nicht einfach als ,objektive Wirklichkeit' (man beachte die Anführungsstriche! — E. W.), sondern als die Wirklichkeit in ihrer revolutionären Entwicklung" 2 . Aus dem unmittelbaren Zusammenhang und der bewußten Setzung der Anführungsstriche geht klar hervor, daß mit dieser Formulierung eine statische, die historische Entwicklung ignorierende objektivistische und deshalb nicht wahrheitsgetreue Darstellung des Lebens angeprangert wird. Als eine böswillige Irreführung muß die Behauptung Lettenbauers gewertet werden, daß der sozialistische Realismus „auf dem ersten Allunionskongreß des Sowjetischen Schriftstellerverbandes... offiziell als der allein zulässige Kunststil* bestätigt" worden sei (S. 271), obwohl die Sowjetliteratur selbst diese Feststellung eindeutig widerlegt und die sowjetische Literaturwissenschaft bekanntlich von jeher die These von der Vielfalt der Stile innerhalb des sozialistischen Realismus vertritt. Lettenbauer dürfte auch der Ausspruch 2danovs auf dem ersten Schriftstellerkongreß bekannt sein, daß den Sowjetschriftstellern die „verschiedenartigsten Mittel" zur Verfügung stehen und daß die Sowjetliteratur alle Möglichkeiten hat, „diese Mittel (Genres, Stile, Formen und Methoden des literarischen Schaffens) in ihrer Mannigfaltigkeit und Fülle anzuwenden" 4 . Wenn Lettenbauer erklärt, daß der „thematische Bereich, aus dem die vorrevolutionäre russische Literatur schöpfte, ...durch die offizielle Auslegung des Begriffs sozialistischer Realismus' in der Sowjetunion erheblich eingeschränkt" sei (vgl. S. 312), so ist das angesichts der Tatsache, daß die Sowjetliteratur gerade thematisch eine neue Welt erschloß, eine starke Zumutung. Auch Lettenbauers Behauptungen von der angeblich starken Einschränkung der dichterischen Phantasie und von der Ablehnung formaler Experimente (vgl. S. 312) läßt sich leicht widerlegen. Man braucht ihnen nur die Meisterwerke A. Tolstojs, Solochovs, Fadeevs, Serafimovics, Majakovskijs, Tvardovskijs u. a. entgegenzuhalten. Mit der Bemerkung, daß „religiöse und metaphysische Probleme... für den sowjetischen Schriftsteller als Gegenstand literarischer Bearbeitung nicht in Be1

2

3 4

Wir verweisen hier besonders auf die Arbeit von H. K o c h , W. I. Lenins Schrift „Parteiorganisation und Parteiliteratur" und ihre aktuelle Bedeutung, in: Weimarer Beiträge. Zeitschrift für deutsche Literaturgeschichte, 1960, Nr. 4, S. 669 —706. A. S h d a n o w , Über Kunst und Wissenschaft, Berlin 1951, S. 9 (Hervorhebungen von mir — E. W.). Hervorhebung von mir — E. W. A. S h d a n o w , a. a. Ö., S. 10 (Hervorhebung von mir — E. W.).

Zu Prof. Lettenbauers „Russischer Literaturgeschichte"

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tracht" kommen (vgl. S. 312), verwickelt sich Lettenbauer in Widersprüche, indem er hier weltanschaulichen Kategorien wie Religion und Metaphysik kunstfördernde Impulse zugesteht, während der humanistische und kommunistische Ideengehalt dem Kunstwerk abträglich sein soll. Diese Beispiele dürften ausreichen, um die antikommunistische und zugleich unwissenschaftliche Auslegung des Begriffs des sozialistischen Realismus durch Lettenbauer sichtbar zu machen. Zur Interpretation der literarischen Werke Die Behandlung der einzelnen Schriftsteller erfolgt bei Lettenbauer in drei großen Abschnitten („Poesie"; „Prosa", in acht Rubriken eingeteilt; „Drama" das neu hinzugekommen ist). Auf die sehr fragwürdige Klassifizierung der einzelnen Schriftsteller im Abschnitt „Prosa" sowie auf die irreführende gesonderte Behandlung Majakovskijs und Zamjatins im ersten der Sowjetliteratur gewidmeten Kapitel wollen wir hier nicht eingehen. Die Interpretation der literarischen Werke ist durch eine systematische Herabminderung, Entstellung oder gar Ignorierung der großen künstlerischen Errungenschaften der Sowjetliteratur und durch eine Überbetonung der mit den Prinzipien des sozialistischen Realismus nicht voll übereinstimmenden bzw. ihm direkt entgegengesetzten Werke gekennzeichnet. Wir können uns hier nur auf einige Beispiele beschränken. Der Begründer und größte Vertreter der Sowjetliteratur, Maksim Gor'kij, der höchsten Weltruhm erlangt und auf viele Dichter der Weltliteratur nachhaltig eingewirkt hat 1 , wird von Lettenbauer aus dem Kapitel über die Sowjetliteratur ausgeklammert. Damit wird die sowjetische Literatur ihres Herzstückes beraubt. Da aber die Verbindung Gor'kijs zur Sowjetliteratur f ü r viele doch zu eindeutig ist (Lettenbauer gibt das indirekt durch einen unkommentierten Ausspruch M. Slonims zu, S. 242), wird Gor'kij zu einem zweitrangigen Schriftsteller degradiert, dem auch nur zweieinhalb Seiten eingeräumt werden, während z. B. Bunin über drei Seiten und Öechov fünf Seiten gewidmet sind. Ohne jegliche wissenschaftliche Beweisführung reiht Lettenbauer ein negatives Werturteil an das andere. Über den Roman „Foma Gordeev" weiß er nichts weiter zu sagen, als daß sich Gor'kij der russischen Kaufmannschaft zuwende und daß in diesem Werk, „wie in den meisten seiner größeren Prosawerke, eine straffe, durchdachte Komposition" fehle (S. 240). Über die interessante gesellschaftliche Problematik des Romans und dessen künstlerische Vorzüge erfährt man kein Wort. Daß Gor'kijs „Versuch, den Gegensatz des Bürgertums zum lebensfrohen Arbeiter 1

vgl. z. B. üepeimcKa A. M. ToptKoro c 3apy6e>KHHMH jnrrepaTopaMH (Briefwechsel A. M. Gor'kijs mit ausländischen Literaturschaffenden), Moskau 1960; B. H. r p y 3 « e B , CoBpeMeHHHö aanafl o ToptKOM (V. I. Gruzdev, Der gegenwärtige Westen über Gor'kij), Leningrad 1930; JI. lOpteBa, M. roptmift h nepeROBtie HeineqKHe niicaTejm XX Bena (L. Jur'eva, M. Gor'kij und die progressiven deutschen Schriftsteller des XX. Jahrhunderts), Moskau 1960; HcTopan pyccuoü coBeTCKoß jiHTepaTypti, Bd. 1, Moskau 1958, S. 471—489 und Bd. 2, Moskau 1960, S. 451-469.

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im Drama Die Kleinbürger... herauszuarbeiten, mißlang" (S. 240), findet man angesichts des genauen Gegenteils (man denke nur an die Gestalt des Nil) und der beachtlichen Theatererfolge dieses Stücks 1 mehr als verwunderlich. Wenn Lettenbauer abschätzig vermerkt, das Drama „Nachtasyl" biete keine wirkliche Lösung (vgl. S. 240), so lenkt er damit nur von der wahren Schlußfolgerung ab, zu der das Schauspiel unmißverständlich führt, nämlich der notwendigen radikalen Beseitigung der dort dargestellten gesellschaftlichen Misere; außerdem wundert man sich darüber, daß Lettenbauer, dem es angeblich nur um sogenannte rein ästhetische Werte geht, hier plötzlich eine inhaltliche Lösung vermißt. Gor'kijs programmatisches Werk „Die Mutter", der erste Roman der Weltliteratur, in dem der unsere Epoche prägende revolutionäre Kampf des Proletariats unter Führung seiner Partei lebendige künstlerische Gestaltung fand, wird von Lettenbauer wie folgt abgetan: „Politische Tendenz beeinträchtigt stark den Roman Die Mutter..., die Revolutionäre sind darin bis zur Schablone idealisiert" (S. 241). In ähnlicher Weise werden auch die anderen Werke Gor'kijs, wie z. B. seine großen Romane „Das Werk der Artamonovs" und „Das Leben Klim Samgins" (vgl. 241), sein gesamtes Dramenschaffen (vgl. S. 241), die frühen Erzählungen (vgl. S. 240) entstellt und abgewertet. Lettenbauer erdreistet sich, den Weltruhm des jungen Gor'kij mit der literarischen Mode um Bestuzev-Marlinskij zu vergleichen (S. 240). Dem stehen nur einige kaum ins Gewicht fallende positive Äußerungen gegenüber (vgl. S. 241). Aber selbst die müssen für antisowjetische Ausfälle herhalten. Wenn beispielsweise in Verzerrung tatsächlicher Gegebenheiten wiederum von Gor'kijs Verdiensten „um die Rettung der kulturellen Werte vor der Zerstörung", um die Bewahrung vieler „Schriftsteller, Gelehrter und Künstler... vor Hinrichtung, Hungertod und Gefängnis", um die Erwirkung eines „gewissen Maßes an Freiheit" für die Literatur und die Literaten die Rede ist (vgl. S. 241), so ist offensichtlich, daß Lettenbauer dies weniger Gor'kij zu Ehren, als vielmehr zum Zwecke der Diskriminierung der Sowjetmacht sagt. Das ist auch ein markantes Beispiel dafür, wie Lettenbauer historische Fakten entstellt. Das Fazit, das Lettenbauer zieht, besteht darin, daß Gor'kij infolge politischer Tendenz und chronischer Kompositionsmängel wahre Kunstwerke — mit Ausnahme einiger weniger — versagt blieben. Die Interpretation Gor'kijs offenbart deutlich, was von der sogenannten vornehmlich ästhetischen Wertung Lettenbauers übrig bleibt: nämlich eine politisch tendenziöse inhaltliche Wertung, wobei die künstlerische Form nur am Rande Erwähnung findet. Dabei fordern die Werke Gor'kijs auch durch ihren Reichtum der künstlerischen Formen deren Behandlung geradezu heraus. Das Gor'kijbild Lettenbauers korrespondiert in vielem mit dem M. Slonims und G. Struves, bei denen Lettenbauer auch hier in überreichem Maße in die Schule gegangen ist 2 . Er wäre besser beraten gewesen, 1

2

Davon zeugt auch die sehr positive Aufnahme dieses Dramas seitens des westdeutschen Publikums während der Gastspiele des Deutschen Theaters Berlin 1959 und 1960 in Hamburg, Frankfurt/M., München u. a.; vgl. dazu I. I d z i k o w s k i s Beitrag im vorl. Band. M. S l o n i m , a. a. O., S. 1 2 5 - 1 5 2 ; G. S t r u v e , a. a. O., S. 7 5 - 8 0 .

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wenn er sich statt dessen mehr dem Studium der Werke Gor'kijs selbst und der zahlreichen fundierten Arbeiten sowjetischer Gor'kijforscher1 gewidmet hätte. Lettenbauer kann nicht umhin, zuzugeben, daß das literarische Schaffen Majakovskijs zum großen Teil der Revolution gewidmet ist. Er wertet diese Werke jedoch nicht als den tatsächlichen Gipfel der künstlerischen Laufbahn Majakovskijs; im Gegenteil, für ihn sind sie vor allem eine „Maske überlauter Reklame und Agitation" (S. 263), hinter der sich angeblich der echte, im tiefen Mißverhältnis zur revolutionären Umwelt stehende Dichter verbarg. Dabei beruft sich Lettenbauer auf die hinlänglich widerlegten2 Mutmaßungen R. Jakobsons, wobei die fundierten Werke so hervorragender sowjetischer Majakovskijforscher wie Percov und Metcenko3 völlig ignoriert werden. Wie sehr bei Lettenbauer das antikommunistische Vorurteil über wissenschaftlicher Akribie und objektiver Wahrheit steht, zeigt auch seine Behauptung, daß Majakovskij sich das Leben nahm, als seine Schauspiele „Die Wanze" und „Das Bad" nicht zur Aufführung zugelassen wurden (vgl. S. 263), was bekanntlich den Tatsachen nicht entspricht 4 . Wenn Lettenbauer A. Tolstoj auch den ersten Platz unter den sowjetischen Prosaikern zubilligt und ihm immerhin zweieinhalb Seiten widmet, so ist doch die Interpretation seines Schaffens, insbesondere seiner Hauptwerke voller Entstellungen ; vor allem aber wird sein überaus aufschlußreicher Werdegang als Künstler nicht herausgearbeitet und die große Rolle der marxistischen Weltanschauung, der Verbindung mit dem Volk und der sozialistischen Wirklichkeit für seine Entwicklung zum Schöpfer des „Leidensweges" und „Peter I." unterschlagen, mit denen er als einer der Großen in die Sowjetliteratur und die Weltliteratur eingegangen ist. Statt dessen findet sich bei Lettenbauer der gehässige und lächerlich wirkende Satz: „Tolstojs Wandlungen mögen in der Unreife begründet liegen, von der Blok spricht" (S. 285). Bei der Interpretation des „Stillen Don" und von „Neuland unterm Pflug" wird die wesentliche Aussage dieser Werke, die gesetzmäßige Hinwendung der 1

2

Es sei hier besonders auf die reiche bibliographische Angaben über die Gor'kij-Forschung in der Sowjetunion enthaltenden Bücher von C. E a j i y x a T b i ü , ropbKOBCKHö ceMHHapHit (S. Baluchatyj, Seminar über Gor'kij), Leningrad 1946, und von K. M y p a T O B a , CeMHHapHit no TopbKOMy (K. Muratova, Seminar über Gor'kij), Leningrad 1956, hingewiesen. s i e h e z. B . 1 0 . O K C M U H , r . H e p e M H H , HBIO-HOPKCKHÖ cßopHHK MaTepiiaJiOB n o HCTOPHH

(Ju. Oksman, G. Ceremin, New Yorker Sammelband mit Materialien zur Geschichte der russischen Literatur), in: Bonpocu JiHTepaTypu, 1957, Nr. 8, S. 248 bis 2 5 4 ; B. UIKJIOBCKHÄ, IIpoTHB (V. Sklovskij, Dagegen), i n : B o n p o c t i JiHTepaTypu, 1 9 6 0 ,

pyccKOii JiHTepaTypu

N r . 4, S. 9 8 - 1 0 1 . 3

4

B. üepiiOB, ManKOBCKHit. 5KH3HB H TBopnecTBO (V. Percov, Majakovskij, Leben und Schaffen), Bd. 1 u. 2, Moskau 1957 u. 1958; A. MeTHeHKO, TBopnecTBO ManKOBCKoro (A. Metöenko, Das Schaffen Majakovskijs), Bd. 1 (1917 — 1925), Moskau 1954; Bd. 2 (1925-1930), Moskau 1961. Es sei hier nur auf B. K a T a H H H , ManKOBCKHft. J l n r e p a T y p H a H xpoHHKa (V. Katanjan, Majakovskij. Literarische Chronik), Moskau 1956, S. 331, 3 6 7 - 3 7 3 , 375—376, 379, 3 8 2 - 3 8 3 , 3 8 6 - 3 9 2 , 3 9 4 - 3 9 5 , 399—403, 4 0 6 - 4 0 8 , verwiesen.

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werktätigen Kosakenschaft im Prozeß eines komplizierten, erbitterten Klassenkampfes zu der ihre wahren Interessen vertretenden Sowjetmacht und zum Sozialismus von Lettenbauer verschwiegen und mißdeutend in einen „Zusammenstoß zweier einander unversöhnlich gegenüberstehenden Welten, des Kommunismus und des traditionsbewußten Kosakentums" (S. 289) und in einen „scharfen Gegensatz" zwischen dem „Exponenten der Sowjets" Davydov und den Kosaken überhaupt verwandelt (vgl. S. 289). Wenn Lettenbauer neben anderen Entstellungen auch einige lobende Worte für Solochov findet, so wiegen sie angesichts solcher entwertenden Behauptungen, daß Solochov dem „Erbe seiner großen Vorgänger aus dem 19. Jahrhundert a b e r . . . kaum neue Errungenschaften hinzugefügt" h a t (vgl. S. 289) und daß der literarische Wert von „Neuland unterm Pflug" gering sei (vgl. S. 289), nicht viel. Über den größten lebenden sowjetischen Dichter, A. Tvardovskij, lesen wir folgendes: „Ungemein beliebt wurde namentlich in militärischen sowjetischen Kreisen die Verserzählung Vasilij Tjorkin... I n volkstümlicher Sprache, in scherzhaftem Ton sind hier die Abenteuer eines russischen Soldaten geschildert, der den Kriegsdienst als notwendiges Übel sieht und durch seine Gelassenheit und Mutterwitz Heiterkeit verbreitet" (S. 280). Kein Wort findet sich hier über die erschütternden ernsten Partien des Poems, über die zutiefst verallgemeinernde Bedeutung der Gestalt Terkins, über seinen ihm in Fleisch und Blut übergegangenen Sowjetpatriotismus, über die formale Brillanz des Werkes u. dgl. m. Lettenbauer geht am Wesen des Poems völlig vorbei. S t a t t dessen findet sich hier aber die Bemerkung, der Titel des Poems sei von einem Romantitel des Schriftstellers Boborykin entlehnt (vgl. S. 280), obwohl diese Namensgleichheit absolut belanglos ist und bekanntlich vom Autor selbst als rein zufällig bezeichnet worden ist 1 . Dieser Fall ist übrigens recht typisch f ü r das geradezu krankhafte Bestreben nach Konstruierung aller möglichen vornehmlich von westlichen oder weniger progressiven russischen Dichtern ausgehenden Einflüssen. Man könnte noch viele andere Beispiele anführen, z. B. über die angeblich große Einwirkung der Philosophie Nietzsches auf Gor'kijs Frühschafifen (vgl. S. 240) oder über den vermeintlichen Einfluß des Konterrevolutionärs Gumilev auf die heroische Thematik Simonovs (vgl. S. 280f.). Häufig spielt Lettenbauer das Frühschaffen der sowjetischen Schriftsteller als angeblichen künstlerischen Höhepunkt gegenüber den späteren, reiferen, auf den Prinzipien des sozialistischen Realismus beruhenden künstlerischen Hauptwerken aus, indem er sich der von reaktionären westlichen Literarhistorikern hochgespielten spekulativen These von dem „goldenen Zeitalter" der zwanziger J a h r e und dem darauffolgenden Verfall der Literatur anschließt. Ein markantes Beispiel hierfür ist die Behandlung Leonovs, dessen Frühschaffen zwei Seiten gewidmet werden, während die Hauptwerke „Sot'", „Skutarevskij", „Der Weg zum Ozean", „Der russische Wald" sowie die Dramen auf etwa einer Seite abge1

siehe A. T B a p a o B C K H Ä , Kau 6hji n a m i c a H „BacroiHfi TepKHH" (A. Tvardovskij, Wie „Vasilij Terkin" entstand), in: O nwcaTeJibCKOM Tpyjje, Moskau 1955, S. 241 f.

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handelt werden. Dabei wird in das Frühwerk eine geradezu revolutionsfeindliche Tendenz hineingedeutet (es sei hier auf die antikommunistische Auslegung der Legende vom rasenden Kalafat hingewiesen, S. 293) und ihnen ein höherer künstlerischer Wert zugesprochen. Dagegen werden die späteren Werke wie „Sot'" und „Skutarevskij" mit dem abwertenden Etikett „sozialer Auftrag" versehen und „Der Weg zum Ozean" als noch „schwächer" bezeichnet (vgl. S. 294). Der „Russische Wald" wird von Lettenbauer allerdings als bedeutendes Werk anerkannt, wobei er jedoch an seinem hohen Ideengehalt vorbeigeht und seiner Behandlung gerade so viel Platz einräumt wie Dudincevs „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein" (vgl. S. 314f.). Es sticht ins Auge, daß Lettenbauer auf den wenigen Leonov gewidmeten Seiten viermal den Einfluß Dostoevskijs, dreimal die Anlehnung an Zamjatin herausstellt, während Gor'kij ganz zu Unrecht in diesem Zusammenhang nur einmal kurz gestreift wird (vgl. S. 291—294 u. 314—315). Auch die Behandlung Erenburgs zeugt von einer bewußt übersteigerten Hervorhebung des Frühwerks („Die ungewöhnlichen Abenteuer des Julio Jurenito" werden als sein bestes Buch bezeichnet; vgl. S. 300) und von einer völlig ungerechtfertigten, böswilligen Entwertung der späteren Werke, als sich Erenburg „im sozialistischen Realismus versucht" (vgl. S. 301). Die gleiche Tendenz der Herabminderung der späteren Werke im Vergleich zu den frühen kennzeichnet auch die Interpretation Fedins, wobei den letzteren doppelt soviel Platz eingeräumt wird. Es lohnt sich, hier Lettenbauer zu zitieren, wie er die Abwertung der zweifellos besten Schöpfungen Fedins, der Romane „Frühe Freuden" und „Ein ungewöhnlicher Sommer" vornimmt: „Die Romane Erste Freuden ... und Ein ungewöhnlicher Sommer ... zählen zu den bedeutender sowjetrussischen Prosawerken der Periode nach dem zweiten Weltkrieg. I m Zeitpunkt der Handlung getrennt, sind sie durch dieselben Personen verbunden. Schauplatz des ersten Romans ist Saratov an der Wolga zu Beginn des 20. Jahrhunderts, der zweite ist ins J a h r 1919 verlegt (bisher ist über den Inhalt faktisch nichts ausgesagt! — E. W.). Gegen Ende des Ungewöhnlichen Sommers ist Stalin in seiner führenden Rolle im Feldzug gegen die Weiße Armee Denikins in Übereinstimmung mit den Richtlinien der Partei idealisiert (dasist alles, was über den Inhalt gesagt wird! — E. W.). Beide Werke schließen sich eng an die großen epischen Traditionen des 19. Jahrhunderts an, sind frei von den Formexperimenten der Städte und Jahre und ermangeln des Reizes, der von der Unmittelbarkeit und den kühnen formalen Versuchen dieses Romans ausgeht, tragen aber den Stempel einer Reife eigener Art" (S. 295). So redet Lettenbauer zugunsten belangloser Feststellungen und der darin enthaltenen antikommunistischen Spitzen am Wesen des Werkes vorbei. Das ist auch ein treffendes Beispiel für die nicht selten bei Lettenbauer auftretenden eklatanten Mängel in der Beherrschung und Handhabung des Materials, für seine oft oberflächlichen Inhaltsangaben und seine über allgemeine Feststellungen häufig kaum hinausgehenden Formanalysen. Wird ein Werk des sozialistischen Realismus ohne Einschränkung gelobt, dann wird dies meist mit einem Seitenhieb gegen die Sowjetliteratur als Ganzes verbunden. So heißt es z.B. über Kaverins „Zwei Kapitäne" (selbstverständlich ver-

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gißt Lettenbauer dabei nicht, dessen frühere Zugehörigkeit zu den „Serapionsbrüdern" nochmals zu betonen): „Das Werk hebt sich vorteilhaft von den vielen ;"primitiven1 Romanen der zeitgenössischen Sowjetliteratur ab" (S. 291). So werden die großen künstlerischen Errungenschaften der Literatur des sozialistischen Realismus diffamiert, bis schließlich ein nivelliertes Bild grau in grau entsteht. Was sich angeblich darüber erhebt, ist nach Lettenbauer als Opposition zum sozialistischen Realismus entstanden. Das wird aufs Schild gehoben und des breiteren behandelt; hier steht gleichfalls der Inhalt im Vordergrund, wobei allerdings auch den formalen Seiten größere Beachtung (hier findet sich dafür der Platz!) geschenkt wird. So wurde Pasternak zum „bedeutendsten der in der Sowjetunion lebenden Dichter" (vgl. S. 275) erhoben. Zamjatin erfreut sich einer besonders liebevollen Behandlung, bei der man sehr deutlich die Sympathie Lettenbauers für den antisowjetischen Gehalt der Werke dieses Gegners der Sowjetunion zu spüren bekommt: „...besonders eindrucksvoll das verzweifelte Ringen der Intelligen zum ihre Selbstbehauptung im eisigkalten Petersburg des Winters 1920 in der Höhle (Pescera)" (S. 269). Das Drama „Die Feuer vom St. Dominik" „richtet sich gegen die ,Puritaner der Revolution', die um ihrer zur Rettung der Menschheit ersonnenen Ideologie willen morden" (S. 269). „Im utopischen Roman Wir ... führt eine mit einem staunenswerten Reichtum an Phantasie geschaffene Satire von erheblichem literarischem Wert im Bild eines Stadtkollektivs, in dem Freiheit und Individualität ausgelöscht, die idealen menschlichen Regungen unterdrückt sind, die letzten Möglichkeiten der Entwicklung eines totalitären Staates vor Augen. In der Sowjetunion wurde die Veröffentlichung des Romans verboten" 2 (S. 269). Hier begibt sich Lettenbauer offensichtlich in die gefährliche Nähe der Kreuzritter gegen den Kommunismus. Auch bei der Behandlung Zoscenkos tritt Lettenbauers antikommunistisches Vorurteil zutage, wenn er u. a. sagt: „Der sowjetische Durchschnittsbürger, der die Revolution passiv über sich ergehen läßt und den vergangenen Zeiten nachtrauert, ist der Held ..." Zoscenkos (S. 306). Als Äquivalent dazu steht die Feststellung, daß so manches bei Zoscenko „nach Gehalt3 und formaler ... Vollendung ... von Rang" ist (vgl. S. 306). Die obige Tendenz tritt auch bei Vergleich der räumlichen Proportionen bei der Interpretation der einzelnen Schriftsteller klar zum Vorschein. So werden, um nur einige Beispiele herauszugreifen, Zamjatin auf 1 1 / 3 Seiten, Pil'njak auf l 1 / 2 , Babel' auf 1, Zoscenko auf l 1 / ^ Pasternak auf l 1 / 2 Seiten behandelt, während Fadeev auf 1 / 2 , Serafimovic auf 1 / 2 , Tvardovskij auf 1 / 3 Seite, Isakovskij, den übrigens Lettenbauer auch in der 2. Auflage seines Buches irrtümlich seit 1951 zu den Verstorbenen zählt (vgl. S. 279), auf nur 5 Zeilen abgehandelt werden. Es ist bezeichnend, daß Lettenbauer, der jeden ihm genehmen Schriftsteller ausgräbt und in seinem Sinne ausschöpft, solche markanten, zum Teil weltbekannten 1 s s

Hervorhebung von mir — E. W. Hervorhebungen von mir — E. W. Hervorhebungen von mir — E. W.

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sowjetischen Dichterpersönlichkeiten wie Makarenko, Malyskin 1 , Vs. Visnevskij, Libedinskij, Lavrenev, Aseev, Gajdar, V. Siskov, Saginjan, B. Polevoj, Pavlenko sowie den unsterblichen Roman Fadeevs „Die Junge Garde" keines einzigen Wortes würdigt. Die Sowjetliteratur und die früheren Perioden der russischen Literatur Das von Lettenbauer gezeichnete Bild von der Sowjetliteratur führt zu der Schlußfolgerung, daß diese eine Verfallsepoche der russischen Literatur darstelle. Daß eine solche Einschätzung der letzten Etappe der russischen Literatur ihre Schatten auf die Wertung der früheren Perioden vorauswerfen mußte und retrospektiv deren Beurteilung mit beeinflußt, dürfte außer Frage stehen. Die Interpretation der Sowjetliteratur und der ihr zugrunde liegenden gesellschaftlichen Faktoren fügt sich durchaus in die der vorhergehenden russischen Literatur und ihrer gesellschaftlichen Grundlage ein. Denn auch die Wertung der russischen Literatur vor 1917 erfolgt von einer weltanschaulich-ästhetischen Position, die von politisch konservativen und z. T. reaktionären Ideen geprägt ist. Sie zeichnet sich durch eine fortwährende Diffamierung, Ignorierung und Deformierung des ihr in so hohem Maße eigenen und von ihrer Größe nicht zu trennenden progressiven Ideengehalts und der entsprechenden Thematik aus sowie durch Mißachtung und Entstellung ihrer wahren gesellschaftlichen Grundlagen und damit vor allem der sozialen Befreiungsbewegimg des russischen Volkes. Diese Faktoren werden als der Kunst abträglich deklariert und damit den Auffassungen des l'art pour l'art das Wort geredet. Als unwissenschaftlich und in der Konsequenz politisch schädlich sind hier auch die von Lettenbauer faktisch vertretene Theorie des Kulturgefälles, die auf der sehr einseitigen und äußerst übertriebenen Zurückführung der großen Errungenschaften der russischen Literatur auf westeuropäische Einflüsse beruht 2 , sowie die Überbewertung der hier nunmehr oft als eigenständig angesehenen religiösen Faktoren 3 einzuschätzen. Beides dürfte unter den gegenwärtigen Verhältnissen in Westdeutschland den dort herrschenden klerikal-militaristischen Kräften genehm sein. Ob es die Bewertimg Lomonosovs, der überragenden Gestalt der russischen Literatur des 18. Jahrhunderts ist, oder die Beurteilung der großen realistischen Dichter der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts, wie z. B. Gogol', Turgenev, Goncarov, L. Tolstoj, Nekrasov, Saltykov-Scedrin u. a. — stets krankt sie mehr oder weniger stark an der aufgezeigten Fehlkonzeption Lettenbauers, die sich bisweilen in kaum zu überbietenden reaktionären Ausfällen Bahn bricht. Man könnte geneigt sein, die blutige Niederschlagung der Dekabristenerhebung als einen Segen zu betrachten, liest man die Sätze: „Die kulturelle Reaktion, die unter Nikolaus ihren 1

2

3

In W. Lettenbauers „Kleiner russischer Literaturgeschichte", München 1952, war Malyskin noch erwähnt worden (S. 111). siehe z. B. die von Verweisen auf westliche Einflüsse strotzende Interpretation Puskins (S. 8 8 - 9 7 ) . Siehe die Interpretation Dostoevskijs und L. Tolstojs (S. 175—205).

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Höhepunkt erreichte, und die Verhinderung der Teilnahme am öffentlichen Leben führte einen großen Teil der adligen Intelligenz in geistige Isolierung, die aber in den zwanziger und dreißiger Jahren viele als eine glückliche Fügung, als eine Flucht aus den Niederungen des Lebens in die höhere Sphäre des Geistes1 empfanden" (S. 86). Auch die grausame Abrechnung mit den revolutionären Demokraten erscheint im Grunde nicht ungerechtfertigt, wenn Lettenbauer mit Anspielung auf ihr Wirken in den sechziger Jahren erklärt: „Es sind die Jahre, da der Schriftsteller als freier Künstler nicht mehr existieren kann, die Literatur in Rußland, als Auftrag geschrieben, Presse wird"2 (S. 197). „Unter dem Eindruck und im Sinn der Gedankengänge Belinskijs verfolgten einige Literaturkritiker (gemeint sind hier vor allem öernysevskij, Dobroljubov und Pisarev — E. W.) einen Weg, auf dem ihnen zwar Macht über die Geister gegeben war, der aber der Literatur nur abträglich war" (S. 155). So werden die revolutionären Demokraten, die sich ein so großes Verdienst um die Entwicklung der Literatur und ihre theoretische Durchdringung erworben haben und mit ihnen zugleich die großen künstlerischen Errungenschaften der russischen Literatur des kritischen Realismus auf das Gröblichste verleumdet. Mit diesen wenigen, zum Vergleich angeführten Beispielen aus der Interpretation der russischen Literatur vor 1917 müssen wir uns hier begnügen. Die politischen Konsequenzen der Verfälschung der Sowjetliteratur Die obigen Ausführungen dürften erwiesen haben, daß die Interpretation der Sowjetliteratur durch Lettenbauer von antikommunistischen Vorurteilen bestimmt ist, die ihm den Blick für die wahren Errungenschaften der Sowjetliteratur versperren. Die Verfälschung der sowjetischen Literatur durch die Konstruierung eines angeblich unüberbrückbaren Gegensatzes zwischen Kommunismus und Kunst und die Abstempelung der Sowjetliteratur zu einem Verfallsphänomen richten sich unweigerlich gegen die ihr zugrunde liegende kommunistische Weltanschauung, die sozialistische Gesellschaftsordnung, in der heute ein Drittel der Menschheit lebt, sowie die kommunistische Bewegung in der ganzen Welt. Indem Lettenbauer auch den progressiven Ideengehalt der russischen Literatur vor 1917 angreift, wendet er sich faktisch gegen die Befreiungsbewegung des russischen Volkes überhaupt. Mit einer solchen Darstellung der russischen Literatur und vornehmlich der Sowjetliteratur steht Lettenbauers Buch objektiv in der Auseinandersetzung zwischen dem Kommunismus und Antikommunismus und damit zwischen dem gesellschaftlichen Fortschritt und der Reaktion auf Seiten der letzteren. Vor allem aber erweist es — wir möchten annehmen, daß sich Lettenbauer dessen nicht voll bewußt ist — den herrschenden revanchistischen Kräften Westdeutschlands bei ihrer der ideologischen Vorbereitung eines neuen Krieges gegen die Sowjetunion und gegen die Länder des sozialistischen Lagers dienenden antikommunistischen Propagandakampagne einen willkommenen Dienst. Das 1 2

Hervorhebungen von mir — E. W. Hervorhebungen von mir — E. W.

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namentlich berechtigt uns zu dem Schluß, daß Lettenbauers „Russische Literaturgeschichte" trotz gewisser, auf einer Reihe von mehr oder weniger akzeptablen Teilresultaten und der Stoffbehandlung selbst beruhender informatorischer Werte, ihrer wesentlichen Aussage nach leider eine desorientierende und letzten Endes schädliche Rolle in Westdeutschland zukommt. Die antikommunistische Ausrichtung ist auch der Hauptgrund für die wissenschaftlichen Mängel des Buches. Es beweist aufs neue, daß die antikommunistische Interpretation der Sowjetliteratur nur unter weitgehender Aufgabe der Wissenschaftlichkeit möglich ist und in Halbwahrheiten und Unwahrheiten, in eine pseudowissenschaftliche Methodologie und wissenschaftlich nicht aufrechtzuerhaltende Ergebnisse ausartet, die hier auch noch mit einer z. T. nicht ausreichenden Stoffbeherrschung und dem negativen Tatbestand korrespondieren, daß die Werturteile Lettenbauers vielfach nicht als Resultat eigener Überlegung, sondern als eine Kompilation verschiedenster, reaktionär-soziologischer, formalästhetischer, komparativistischer und anderer Untersuchungsmethoden und Ergebnisse gewisser bürgerlicher Fachkollegen anzusehen sind. Es ist besonders zu bedauern, daß sich an der weltanschaulichen Entwicklung Lettenbauers in den letzten Jahren offensichtlich eine negative Tendenz ablesen läßt. Wenn er z. B. 1952 im Vorwort seiner „Kleinen russischen Literaturgeschichte" noch erklärte: „Eines der mit dieser Darstellung angestrebten Ziele wäre erreicht, wenn sie dazu beitrüge, Achtung und Freundschaft für das russische Volk zu wecken, dessen Dichter Unvergängliches geschaffen haben" 1 und sich bei der Darstellung der Sowjetliteratur der antikommunistischen Ausfälle noch weitgehend enthielt 2 , so tritt in der 1955 erschienenen „Russischen Literaturgeschichte", deren Grundbestand in der zweiten Auflage erhalten geblieben ist, die antisowjetische Tendenz ziemlich klar zutage. In der zweiten Auflage seines Buches schließt sich Lettenbauer, namentlich mit den neuen Partien über den sozialistischen Realismus und über die Sowjetliteratur nach 1953, noch mehr den Ansichten der Gegner des Kommunismus, der Sowjetunion und damit auch des russischen Volkes an. Man gewinnt den Eindruck, daß Lettenbauer in zunehmendem Maße der herrschenden fortschrittsfeindlichen Weltanschauung in Westdeutschland und dem massiven Druck der reaktionären Kräfte zu erliegen droht 3 . Auch sein Beispiel zeigt, daß wahre humanistische Wissenschaft in Westdeutschland nur im Kampf gegen den klerikal-militaristischen Bonner Staat möglich ist. Indem wir dies konstatieren, möchten wir zugleich hervorheben, daß sich Lettenbauer durch die Wahrung einer gewissen Distanz gegenüber der berüchtigten Ostforschung, durch seine immerhin größere Mäßigung in bezug auf antisowjetische Ausfälle und durch eine Reihe annehmbarer Teilergebnisse seines Buches von solchen erklärten Antibolsehewisten und skrupellosen Verfälschern der Sowjetliteratur wie 1 2 8

W. L e t t e n b a u e r , Kleine russische Literaturgeschichte, München 1952, S. 3. vgl. ebd., S. 104f„ 108-113. Auch das 1961 erschienene Buch Lettenbauers „Moskau, das dritte Rom. Zur Geschichte einer politischen Theorie" bestärkt diese Befürchtung.

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E . Weiß

F. W. Neumann 1 oder K . Mehnert2 unterscheidet. Wir sind gewillt zu glauben, daß sieh hieraus die Möglichkeit für ein vielleicht fruchtbares Durchdenken der von uns aufgeworfenen Probleme durch Prof. Lettenbauer und vielleicht auch für ein nützliches Gespräch zwischen ihm und uns darüber ergeben könnte und daß bei ihm doch noch eine klare Entscheidung zugunsten des Humanismus, der Völkerfreundschaft und der wahren Wissenschaft erfolgen wird. Das letztere vermag jedoch nichts an der zusammenfassenden Feststellung zu ändern, daß die „Russische Literaturgeschichte" W. Lettenbauers als wissenschaftliches Lehrwerk und als allgemeine Informationsquelle aus den angeführten Gründen in ihrer jetzigen Form uns als ungeeignet erscheint und zurückgewiesen werden muß. Zu Recht haben auch sowjetische Literaturwissenschaftler das Buch Prof. Lettenbauers einer scharfen Kritik unterzogen3. Selbstverständlich wird die beste Erwiderung auf dieses Buch durch die Slawisten der DDR darin bestehen, daß sie ihm eine marxistische Geschichte der russischen Literatur, vor allem auch der sowjetischen, entgegenstellen. Daß eine solche wissenschaftlich fundierte und dabei allgemein verständliche Literaturgeschichte, die sowohl den speziellen Anforderungen der Literaturwissenschaft als auch den Bedürfnissen der breiten Öffentlichkeit Rechnung trägt und durch die Vermittlung der Wahrheit über die klassische russische und die sowjetische Literatur der Freundschaft zwischen unseren Völkern einen wertvollen Dienst erweist, zu einer gesellschaftlichen Notwendigkeit ersten Ranges geworden ist, dürfte die hier vorgenommene Untersuchung aufs neue bestätigt haben. Nachbemerkung In dem 1963 erschienenen Lexikon der Weltliteratur, das Gero von Wilpert herausgab 4 , hat sich Prof. Dr. W. Lettenbauer, aus dessen Feder sämtliche Artikel zur russischen, ukrainischen und belorussischen Literatur stammen, erneut zum Gesamtkomplex der russischen sowjetischen Literatur geäußert. Das veranlaßt uns, eingedenk des zuletzt Gesagten, zu einigen zusätzlichen Bemerkungen, die eine genaue Analyse der Behandlung der Sowjetliteratur in diesem Nachschlagewerk keinesfalls ersetzen können. 1

2 3

4

vgl. E . W e i ß , Literaturbetrachtung im Dienste des Antikommunismus. Kritische Bemerkungen zur Interpretation der Sowjetliteratur durch Prof. Dr. F . W. Neumann, in: „Ostforschung" und Slawistik, Berlin i960, S. 57—75. vgl. A. H i e r s c h e s Beitrag im vorl. Band. vgl. B. K y j i e m o B , C no3imnft aiuieKTHKH h cy6teKTHBH3Ma, in: IIpoTHB 6ypHtya3Htix h peBH3HOHHCTCKHx KOHiienquit HCTopHH pyccKoß jiHTepaTypu (V. Kulesov, Von der Position der Eklektik und des Subjektivismus, in: Gegen die bürgerlichen und revisionistischen Konzeptionen der Geschichte der russischen Literatur), Moskau 1963, S. 43 bis 5 3 ; y . T y p a J i b H H K , HacTynaTejibHtift nyx coBeTCKoro jiHTepaTypoBefleHHH (U. Gural'nik, Offensiver Geist der sowjetischen Literaturwissenschaft), in: BonpocH JiHTepaTypu, 1963, Nr. 5, S. 158f. Lexikon der Weltliteratur. Biographisch-bibliographisches Handwörterbuch nach Autoren und anonymen Werken. Unter Mitarbeit zahlreicher Fachgelehrter herausgegeben von Gero von W i l p e r t , Stuttgart 1963.

Zu Prof. Lettenbauers „Russisoher Literaturgeschichte"

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Durch dieses Lexikon, das der russischen sowjetischen Literatur im Vergleich zu anderen westlichen Nachschlagewerken ähnlichen Charakters einen ungewöhnlich großen Platz einräumt, bot sich Lettenbauer die günstige Gelegenheit, seine in der „Russischen Literaturgeschichte" enthaltenen Fehleinschätzungen hinsichtlich der Sowjetliteratur zu überprüfen und den zahlreichen Benutzern dieses Handwörterbuches ein objektiveres Bild von ihr zu vermitteln. Bedauerlicherweise hat Lettenbauer diese sich ihm bietende Möglichkeit kaum zu nutzen vermocht. Vielen seiner wissenschaftlich unhaltbaren, von antikommunistischen Vorbehalten beeinflußten Werturteilen begegnen wir hier in ähnlichen Formulierungen wieder. Wenn auch die Artikel z. T. mehr Faktenmaterial bringen, gehen sie in der Wertung gleich den analogen Partien der Literaturgeschichte vielfach am Wesen der ideellen und künstlerischen Aussage der Sowjetliteratur vorbei. Es sei hier nur auf die Interpretation der Romane „Die Mutter" von M. Gor'kij und „Der stille Don" von M. Solochov verwiesen. Nach wie vor erfreuen sich die Werke mit tatsächlicher oder angeblicher antisowjetischer Tendenz ungeachtet ihres oftmals geringen Kunstwertes besonderer Aufmerksamkeit und Sympathie, so z. B. die von E. Zamjatin, B. Pil'njak und M. Zoscenko. Vornehmlich solchen Erscheinungen wird auch in der Sowjetliteratur der letzteren Zeit nachgegangen (B. Pasternak, V. Dudincev u. a.), während ihre besten Schöpfungen, wie „Neuland unterm Pflug" (II. Teil) und „Ein Menschenschicksal" von M. Solochov, „Fernen über Fernen" von A. Tvardovskij, „Die Lebenden und die Toten" von K. Simonov u. a., lediglich in den Literaturangaben Erwähnung finden. Einer entschiedenen Zurückweisung bedürfen auch hier die wiederholten herablassenden Verweise auf die sowjetische Literaturpolitik und Literaturkritik („offizielle Parteilinie", „offizielle Kritik" u. dgl.) als der Kunst angeblich abträgliche Faktoren. Indem wir auf diese Mängel grundsätzlicher Art aufs neue und nachdrücklich hinweisen, verschließen wir nicht die Augen vor einer Reihe positiver Ansätze. Mit Genugtuung vermerkt man, daß im Lexikon eine Anzahl bedeutender Sowjetschriftsteller, nach denen man in der „Russischen Literaturgeschichte" vergeblich gesucht hat, wie N. Aseev, A. Gajdar, Vs. Visnevskij und J u . Libedinskij, berücksichtigt worden ist (allerdings vermißt man so bedeutende Namen wie A. Makarenko und M. Isakovskij). Auch sollte man nicht übersehen, wie bei der Behandlung einiger Schriftsteller durch neue Akzente sowie durch Verzicht auf antikommunistische Äußerungen und belanglose Feststellungen das Wesentliche mehr zu seinem Recht kommt, so z. B. im Falle V. Majakovskijs und A. Tolstojs, obwohl man hier nach wie vor ernste Einwände gegenüber der Gesamtinterpretation vorzubringen hätte. Es verdient ferner hervorgehoben zu werden, daß in den Literaturangaben mehr Arbeiten sowjetischer Literaturwissenschaftler angeführt werden, wenn das auch bei weitem noch nicht genügt. Insgesamt vermochte jedoch Lettenbauer mit diesem Beitrag im Vergleich zu seiner Literaturgeschichte über Ansätze einer objektiveren Wertung nicht hinauszukommen. Das ist um so bedauerlicher, als das „Lexikon der Weltliteratur" als Handbuch einen bedeutend größeren Benutzerkreis ansprechen wird. 9

Wissenschaft

D r . H . GRASSHOFF

Ein Verfechter des Idealismus und Mystizismus Zum Wirken Prof.

Tachiiewskijs

Eine wesentliche Seite der von den reaktionären Kreisen des Bonner Staates propagierten Ideologie stellt die klerikale Philosophie und Soziallehre dar, die die Aktivität der westdeutschen Bevölkerung auf irrationales und mystisches Gebiet lenken und auf diese Weise die Massen vom ökonomischen und politischen Tageskampf abhalten soll. Man macht in Westdeutschland verzweifelte Anstrengungen, durch eine von Kirche und Staat nach Kräften geförderte Massenpropaganda zur Verbreitung einer christlich-religiösen Weltanschauung einen künstlichen „Damm" gegen den ständig wachsenden Einfluß der Ideen des Sozialismus zu errichten und gleichzeitig die Menschen Westdeutschlands durch ständiges Einimpfen eines religiösen Fatalismus und Messianismus für die Ziele des aggressiven westdeutschen Militarismus reifzumachen1. Inwieweit auch Vertreter der westdeutschen Slawistik bewußt oder unbewußt in ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit diese Absichten des westdeutschen klerikalen Militarismus unterstützen, soll am Beispiel des Ordinarius für slawische Philologie an der Universität Heidelberg, Prof. Dr. Dmitrij Tschizewskij, gezeigt werden. Tschizewskij ist gebürtiger Ukrainer, der nach dem Studium der Philosophie und Philologie in Petersburg und Moskau sowie nach kurzer Dozententätigkeit in Kiew 1921 aus der Sowjetunion „auswanderte", um seine Studien in Heidelberg und Freiburg bei Edmund Husserl und Richard Kroner „zu ergänzen"2. Im Kreise anderer weißgardistischer Emigranten, darunter S. L. Frank, P. B. Struve, S. N. Bulgakov, hielt er von 1924 bis 1931 Vorlesungen an den von der bürgerlichen tschechoslowakischen Regierung finanzierten Hochschulinstituten der Exilukrainer in Prag3. Von 1932 bis 1945 unterrichtete er an der Universität in Halle a. d. Saale und ging kurz vor dem Einmarsch der Sowjetarmee nach Westdeutschland, wo er von 1945 bis 1949 eine Professur für Slawistik an der Universität Marburg bekleidete. Von 1949 bis 1955 war er Gastprofessor an der Harvard-University in den Vereinigten Staaten, und seit 1956 ist er Direktor des Slawischen Instituts an der Heidelberger Universität. 1

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3

vgl. Philosophie des Verbrechens. Gegen die Ideologie des deutschen Militarismus, Berlin 1959. D. T s c h i i e w s k i j , Das heilige Bußland. Bussische Geistesgeschichte I, Hamburg 1959, S. 158. N. O. L o s s k y , History of Russian Philosophy, London 1952, S. 193.

Ein Verfechter des Idealismus und Mystizismus

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Unbestreitbar gehört Tschizewskij zu den führenden westdeutschen, ja führenden westeuropäischen Slawisten. Die in Westdeutschland 1958 herausgegebene bürgerlich-westlich orientierte „Kleine slavische Biographie" betont ausdrücklich, daß er „sich um die Erforschung der slawischen Geistesgeschichte und um die deutsche Slawistik große Verdienste erworben" habe 1 . In seinem Geleitwort zu der 1954 vom Osteuropa-Institut der sogenannten Freien Universität herausgegebenen Festschrift zu Tschizewskij s 60. Geburtstag hebt auch der — inzwischen verstorbene — bekannte Slawist M. Vasmer hervor, daß „die reichen Forschungsergebnisse des Jubilars zum großen Teil in deutschen Publikationen niedergelegt und veröffentlicht wurden" und bezeichnet diese Tatsache als „einen großen Segen für die deutsche Slawistik" 2. Es zeugt von dem großen Ruf und Einfluß Tschizewskijs, daß unter seinen Schülern und Freunden, die in der Festschrift als Verfasser vertreten sind, Namen erscheinen wie D. Gerhardt, E. Koschmieder, Ludolf Müller, W. Lettenbauer, E. Dickenmann, E. Fraenkel, V. Kiparsky, V. Setschkareff u. a. Diese Würdigung, die Tschizewskij in westdeutschen Slawistenkreisen erfahren hat, erscheint zunächst nicht übertrieben angesichts der Tatsache, daß der Gelehrte mit mehr als 500 wissenschaftlichen Veröffentlichungen hervorgetreten ist und eine Reihe umfangreicher Monographien verfaßt hat, von denen hier nur genannt seien: „Hegel in Rußland", eine Geschichte der ukrainischen Philosophie, eine Geschichte der altrussischen Literatur, eine Geschichte der ukrainischen Literatur, Arbeiten über das ukrainische Barock sowie ein Abriß der vergleichenden slawischen Literaturen3. Gerade in den letzten Jahren erreicht das wissenschaftliche Wirken Tschizewskijs einen neuen Höhepunkt und zielt neuerdings auf die Beeinflussung breiter Leserkreise ab. Ein beredtes Zeugnis dafür sind die von ihm und J. Schröpfer seit 1957 für westdeutsche Studierende herausgegebenen „Heidelberger slavischen Texte" beim Verlag Harrassowitz, Wiesbaden, der u. a. auch Lettenbauers Literaturgeschichte4 verlegte, sowie die Taschenbuchausgabe von Tschizewskijs „Russischer Geistesgeschichte" in „rowohlts deutscher enzyklopädie"5. 1 2

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Kleine slavische Biographie, Wiesbaden 1958, S. 126. Festschrift für D. Cyievikyj zum 60. Geburtstag. Veröffentlichungen der Abt. für slavische Sprachen und Literaturen des Osteuropa-Instituts (Slavisches Seminar) an der FU Berlin, Bd. 6, Berlin 1954, Vorwort. — Im folgenden abgekürzt als „Festschrift". D. T s c h i i e w s k i j , Hegel in Rußland, in: Hegel bei den Slaven, Reichenberg 1934; 2., verb. Aufl., Bad Homburg v. d. H. 1961; russ. Übersetzung: Terejib B POCCHH, Paris 1939; ders., HapHCH 3 icTopil ijiocoii Ha YKpalHi, Prag 1931; ders., Geschichte der altrussischen Literatur im 11., 12. und 13. Jh., Frankfurt/M. 1948; ders., ICTOpie yKpaiHCBKOi JiiTepaTypH, New York 1956; ders., Outline of Comparative Slavic Literatures, Boston 1952. — Weitere Veröffentlichungen Tschiiewskijs sind verzeichnet in: Materialien zu einer slawistischen Bibliographie. Arbeiten der in Österreich, der Schweiz und der Bundesrepublik Deutschland tätigen Slawisten (1945 — 1963), München 1963. W. L e t t e n b a u e r , Russische Literaturgeschichte, 2., verm. u. verb. Aufl., Wiesbaden 1958. Teil I: Heiliges Rußland, Hamburg 1959; Teil II: Zwischen Ost und West, Reinbek bei Hamburg 1961.

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Die maßgebliche Bedeutung Tschizewskijs für die westliche Slawistik wird ebenfalls an dem starken Einfluß sichtbar, den er auf die Gestaltung des Publikationsprogramms des in der internationalen Slawistik bekannten holländischen Verlages Mouton & Co., 's-Gravenhage, ausübt. Hier erschienen von ihm in deutscher Sprache der Sammelband „Aus zwei Welten. Beiträge zur Geschichte der slawisch-westlichen literarischen Beziehungen" (1956) und in englischer Sprache eine Geschichte der älteren russischen Literatur (21962). Der holländische Verlag bringt außerdem eine von Tschizewskij herausgegebene fortlaufende Reihe von Beiträgen zur Geschichte der slawischen Literatur und Kultur heraus1. Auf den ersten Blick macht das Schaffen Tschizewskijs einen betont wissenschaftlichen, sachlich-objektiven Eindruck. In seinen Arbeiten lassen sich nur selten direkte Ausfälle gegen die Staaten des sozialistischen Lagers nachweisen. Häufiger finden sich dagegen sarkastische Spitzen, so z. B. gegen den „russischen Kommunismus", den er als eine „Vereinfachung und Primitivisierung" auf „eine niedrigere Stufe als den Marxismus" stellt 2 . An anderer Stelle äußert er sich seither ablassend und ironisch über die sowjetischen Forscher, die ja über den „Zauberstab des ,dialektischen Materialismus' verfügen, der angeblich alle Rätsel löst" 3 . Tschizewskij lehnt mit Entschiedenheit die Erforschung der gesellschaftlichen und im Klassenkampf begründeten Ursachen für die Entwicklung der Literatur ab 4 . Es scheint uns symptomatisch, daß solche vom Antikommunismus durchdrungenen Äußerungen in seinen Veröffentlichungen der letzten Jahre immer zahlreicher zu finden sind. Alles deutet darauf hin, daß dieser führende westliche Slawist auf dem Wege ist, immer stärker zu einem Propagandisten reaktionärer Ideen, wie z. B. der These von einer angeblich notwendigen Revision des Marxismus, zu werden. So läßt sich Tschizewskij in letzter Zeit in wachsendem Maße für die revanchistischen und chauvinistischen Ziele des imperialistischen Lagers einspannen. Im Jahre 1954 konnte in dem bereits zitierten Vorwort vom bürgerlich-wissenschaftlichen Standpunkt aus noch mit gewisser Berechtigung gesagt werden, Tschizewskij habe sowohl die ukrainische als auch die russische Kultur „vorurteilsfrei" studiert5. Inzwischen lassen sich jedoch bedauerlicherweise immer vernehmlicher Töne eines gegen das russische Volk gerichteten ukrainischen Nationalismus und Chauvinismus vernehmen, der eindeutig antisowjetischen Charakter trägt. Es ist erklärlich, daß Tschizewskij als gebürtiger Ukrainer ein großes Interesse für die kulturelle Vergangenheit seiner Heimat zeigt. So hat er während einer fast vierzigjährigen Tätigkeit zahlreiche Arbeiten der Geschichte der ukrainischen Philosophie und Literatur gewidmet. In seiner 1956 in New York in ukrainischer 1

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D. Ciievskij, History of Russian Literature from the Eleventh Century to the End of the Baroque, 's-Gravenhage 1960; 21962. — Musagetes. Contributions to the History of Slavic Literature and Culture. Ed. by D. C i i e v s k i j , vol. Iff., 's-Gravenhage 1957ff. D. T s c h i z e w s k i j , Aus zwei Welten, 's-Gravenhage 1956, S. 14. Das heilige Rußland, a. a. O., S. 70. ebd., S. 12; Aus zwei Welten, S. 32. Festschrift, Vorwort.

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Sprache erschienenen Geschichte der ukrainischen Literatur von den Anfängen bis zum Realismus zeichnet sich deutlich die Tendenz ab, einen offenen Gegensatz, wenn nicht gar Feindschaft zwischen dem ukrainischen und dem großrussischen Volk historisch zu konstruieren. Entgegen den Ergebnissen der Forschung ist er bemüht, eine kulturelle Überlegenheit und Priorität der ukrainischen Literatur gegenüber der russischen Literatur zu demonstrieren. Seine Vorliebe für die ukrainische Literatur drückte sich bereits in dem beachtlichen Raum aus, den seine Einzeluntersuchungen über Skovoroda, Sevcenko, Vysenskij, Kulis, Kvitka-Osnovj anenko u. a. in seinem Schaffen der dreißiger und vierziger Jahre einnahm, sowie im nachdrücklichen Eintreten für das ukrainische Barock als einer literarischen Strömung 1 . Noch 1948 hatte er seine Literaturgeschichte der Kiewer Epoche mit „Geschichte der altrussischen Literatur im 11., 12. und 13. J h . " überschrieben, wobei er „altrussisch" und „ukrainisch" miteinander gleichsetzte und dabei ausdrücklich hervorhob, daß die „Kiewer Literatur mehr als nur einen Anfang der späteren ukrainischen Literatur bedeutet" 2 . I n der letzten Zeit jedoch begnügt sich Tschizewskij nicht mehr mit einem Hinweis auf die bedeutende Rolle Kiews für die Entstehung einer gesamtrussischen Literatur und auf die Betonung der ukrainischen Einflüsse zur Zeit Simeon Polockijs und Feofan Prokopovics auf die Moskauer Kultur, sondern erklärt in seiner Geschichte der ukrainischen Literatur kurzerhand die gesamtrussische ältere Literatur bis einschließlich 13. Jh. zur ukrainischen Literatur. Er macht sich überhaupt die Sache sehr leicht, indem er seine 365 Seiten umfassende Geschichte der altrussischen Literatur auf 210 Druckseiten komprimiert und sie zum großen Teil wortwörtlich ins Ukrainische übersetzt, ohne auf seine eigene Vorlage hinzuweisen. Diese 500 Seiten starke Literaturgeschichte wurde 1956 von der reaktionären, antisowjetisch orientierten amerikanischen sogenannten „Ukrainischen Freien Akademie der Wissenschaften" herausgegeben, welcher der Verfasser als ordentliches Akademiemitglied angehört. Das Buch wendet sich besonders an die in den USA und Westeuropa lebenden mehreren Millionen Ukrainer und deren Nachkommen. Es trägt ganz bewußt dazu bei, den Mythos einer autonomen, von „Moskau" losgelösten Ukraine künstlich zu pflegen. Daß diese in New York erschienene Literaturgeschichte für die aus der Ukraine stammenden Durchschnittsleser bestimmt ist und daher einen überwiegend publizistischen Charakter trägt, geht auch daraus hervor, daß das Literaturverzeichnis sehr unvollständig ist — fast sämtliche sowjetischen Arbeiten fehlen — und daß keine einzige Fußnote verwendet wird. Der literarisch wenig bewanderte Leser zudem muß annehmen, daß alle angeführten altrussischen Literaturdenkmäler zur ukrainischen Literatur zu zählen sind, da die zitierten Stellen — wie z. B. die Zitate aus dem Igorlied, aus den Chroniken und Predigten — nicht im altrussischen Original, sondern 1 2

Festschrift, S. 28 ff. D. T s o h i i e w s k i j , Geschichte der altrussischen Literatur im 11., 12. und 13. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1948, S. 31 f.

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ohne besonderen Hinweis fast durchweg in ukrainischer Übersetzung angeführt werden. Tschizewskij hat sich weitgehend den tendenziösen politischen Absichten seiner amerikanischen Auftraggeber angepaßt, wenn er im Vorwort pathetisch über die im Laufe der Jahrhunderte durch Kriegswirren eingetretenen Verluste alter Handschriften sagt: „Auch im 20. Jh. wiederholt sich das gleiche, von Gottes Erdboden verschwinden nicht nur Bücher, sondern sogar deren Autoren." 1 Die sowjetische Hteraturwissenschaftliche Forschung wird bewußt diskreditiert: „Während die Volkstümler zu ihren Ergebnissen durch eine freie Forschung gelangten, stehen alle sowjetischen Forscher unter dem Druck verschiedener Direktiven', in denen bereits von vornherein festgelegt ist, zu welchen Ergebnissen sie kommen müssen."2 In seinem Buch „Das heilige Rußland" unterstreicht der Autor, daß „die Ukrainer und Weißrussen jahrhundertelang (13.—17. Jahrhundert) politisch und kulturell zum Polnisch-Litauischen Staat gehört und zum Teil Beziehungen zum europäischen Westen gepflegt" haben 3 . Er konstruiert also einen angeblich uralten Gegensatz zwischen dem „europäischen" (ukrainischen und weißrussischen) und dem „asiatischen" (großrussischen) Rußland und malt daher die Epoche des Moskauer Staates, besonders die Grausamkeit Ivan Groznyjs in den dunkelsten Farben 4 . Die Ursachen für alle politischen Krisen in der Geschichte Rußlands, „deren Auswirkungen bis in unsere Zeit hinein verfolgt werden können (!)", sieht Tschizewskij im Sieg des „kirchlichen Traditionalismus im Bund mit dem Moskauer Absolutismus" 5 , ohne die ökonomisch-gesellschaftlichen Ursachen und die Rolle der Volksmassen auch nur entfernt zu berücksichtigen. Als Vertreter sowohl der formalistischen als auch der komparativistischen Schule in der bürgerlichen Literaturwissenschaft hat sich Tschizewskij mit zahlreichen Detailuntersuchungen über die Form literarischer Werke sowie mit der Motiv- und Sujetgeschichte der slawischen Literaturen beschäftigt und sich dabei als ein vorzüglicher Kenner sowohl der antiken als auch der verschiedensten neueren Literaturen ausgewiesen. Als anschauliches Beispiel dafür mag seine Geschichte der altrussischen Literatur sowie seine Abhandlung über die Romantik in den slawischen Literaturen gelten, in der er u. a. das Motiv des Wasserfalls durch alle slawischen Literaturen verfolgt 8 . Zweifellos haben wir es bei Tschizewskij mit einem militanten Anhänger der idealistischen Literaturtheorie zu tun. Wie Ingarden, Ermatinger, Croce und Kayser 7 will Tschizewskij das literarische Werk vor allem als „Dichtung", als 1

D. C i i e v s k i j , IcTopi« yKpaiHCbKol niTepaTypH, New York 1956, S. 7. ebd., S. 12 (Hervorhebungen im Original — H. G.) 3 Das heilige Rußland, a. a. 0 . , S. 156. 4 ebd., S. 122ff. 5 ebd., S. 157. 6 D. C i i e v s k i j , On Romanticism in Slavic Literature, 's-Gravenhage 1957. ' R. I n g a r d e n , Das literarische Kunstwerk, Halle 1931; E. E r m a t i n g e r , Das dichterische Kunstwerk, Leipzig 1921; s 1939; B. C r o c e , La poesia, 4. Aufl., Bari 1946; W. K a y s e r , Das sprachliche Kunstwerk, Bern 1948; 4 1956. 2

Ein Verfechter des Idealismus und Mystizismus

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„Kunstwerk" betrachtet wissen 1 . Darin erweist er sich nicht nur als ein treuer Schüler seines Philosophie-Lehrers, des subjektiven Idealisten Edmund Husserl, nach dessen Phänomenologie alles „Geschaute", alles „Geistige" eine „Realität" darstellt 2 , sondern ebensosehr als ein Vertreter und Fortsetzer der Prager Formalistischen Schule, der er von 1926—1931 angehört hat 3 . Tschizewskij abstrahiert bei der Untersuchung eines literarischen Werkes gänzlich von den historisch-gesellschaftlichen Zusammenhängen und zwängt die Entwicklungsgeschichte der Literatur in ein idealistisch-abstraktes Schema ein. Bei seiner Vorliebe für die Antithese erfindet er in seinem Abriß einer vergleichenden Literaturgeschichte wie auch in seiner Geschichte der ukrainischen Literatur einen ständigen Wechsel zweier polarer literarischer Richtungen, indem er in der Art Wölfflins und Strichs formalistisch die „geschlossenen", „harmonischen" und „exakten" Schaffensformen den „offenen", „unausgeglichenen" und „schwerverständlichen" literarischen Methoden gegenüberstellt 4 . Zur ersten Gruppe rechnet er die Werke des frühen Mittelalters, der Renaissance, des Klassizismus und des Realismus, zur zweiten Kategorie die Literatur des späten christlichen Mittelalters, des Barocks, der Romantik und des Symbolismus. Ausschließlich den zweiten Typ erachtet Tschizewskij wegen seines irrationalen und metaphysischen Gehalts, wegen seiner sprachlichen Mannigfaltigkeit erforschenswürdig. Wenn er also ein leidenschaftlicher Verfechter der These von einer gesamtslawischen Barockliteratur ist, so handelt es sich bei ihm nicht um eine bloße Spielerei, vielmehr bildet diese These ein wichtiges Kettenglied in seiner idealistisch-mystischen Literaturkonzeption. Seine ganze Liebe gilt nicht einer gesunden, realistischen Literatur, die die uns umgebende Realität in künstlerischen Bildern widerspiegelt, die Kritik an der kapitalistischen Wirklichkeit übt, typische Charaktere unter typischen Umständen schildert, dem Menschen im Klassenkampf Hilfe und Unterstützung gibt, ihn mit Optimismus und Lebensfreude erfüllt. Ganz im Gegenteil! Für Tschizewskij zeichnet sich die Literatur des späten Mittelalters, des Barocks, der Romantik und des Symbolismus vor allem dadurch aus, daß sie „geheimnisvoll", „transzendent", nur für wenige verständlich, daß sie eine Flucht aus der „bösen", „materiellen Welt" ins „Religiös-Geistige" darstellt. Kennzeichnend für diese von Tschizewskij propagierte Auffassung sind u. a. die von ihm herausgegebenen „Heidelberger slavischen Texte". Das Vorwort dazu betont, daß diese Reihe dem Leser nicht nur philologisches Material geben, sondern ihn vor allem anleiten will, „über ein bestimmtes Thema nachzudenken", indem ihm die „wichtigsten Forschungsprobleme vor Augen geführt" werden 6 . Schon das erste Heft, „Russi1 2

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Geschichte der altrussischen Literatur, a. a. O., S. 12. vgl. Die deutsche bürgerliche Philosophie seit der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, Berlin 1958, S. 37. vgl. V. E r l i c h , Russian Formalism. History — Doctrine, 's-Gravenhage 1955, S. 128ff. D. C i i e v s k i j , Outline of Comparative Slavic Literatures, Boston 1952, S. 5ff. Heidelberger slavische Texte. Hrsg. von D. T s c h i z e w s k i j und J. S c h r ö p f e r . H. 1: Russische literarische Parodien. Hrsg. von D. T s c h i i e w s k i j , Wiesbaden 1957, S. 5.

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sehe literarische Parodien", zeigt die bei der Auswahl der Gedichte und deren Kommentierung vertretene politische Tendenz. So werden Dobroljubovs Verse auf die russischen Liberalen als „bissige Parodien" bezeichnet, die Angriffe von Schriftstellern des kritischen Realismus gegen Vertreter der reinen Kunst wie Tjutcev, Fet, A. K. Tolstoj beweisen angeblich „einen unglaublichen Verfall des künstlerischen Geschmacks unter den russischen Lesern" (S. 44). Es wird zugegeben, daß der idealistische Dichter Tjutcev als „,Ästhet' der Generation der 60er Jahre fremd" war. Gleichzeitig wird aber der fortschrittlichen russischen Kritik vorgeworfen, diese Form einer unrealistischen Kunst „für leeres Spiel und ihre philosophische Tiefe für Trivialität" gehalten zu haben (S. 47). Den Abschluß des kleinen Bandes bildet bezeichnenderweise eine Parodie auf den Dichter des sozialistischen Realismus Demjan Bednyj, die, wie Tschizewskij zugeben muß, „eine gehässige Verspottung der", wie verächtlich gesagt wird, „unbeholfenen Form wie der ideologischen Flachheit der Werke des kommunistischen Fabeldichters" bedeutet (S. 67). Noch stärker sichtbar wird der ästhetisierende Formalismus in dem Heft „Versdichtung der russischen Symbolisten" 1 . Dort wird gleich im ersten Satz der Einleitung gesagt: „Den russischen Symbolismus darf man ohne Zögern als die zweite Blütezeit der russischen Versdichtung (nach Puschkin — H. G.) bezeichnen" (S. 8). Hierin ist unmißverständlich die Ablehnung der Dichtung des sozialistischen Realismus eingeschlossen. Obwohl es eingestandenermaßen „von vornherein Dichtung für Wenige, für Kenner und Liebhaber" war, die nicht für den „durchschnittlichen Leser, etwa den Volksschullehrer, den Intellektuellen aus dem Volke" bestimmt war (S. 8), ist diese Chrestomathie sogar als Doppelband gestaltet worden. I n der Einleitung wird dann lobend auf Merezkovskijs programmatische Broschüre über den Symbolismus hingewiesen und als dessen epochemachende Leistimg hervorgehoben, daß er „im Schaffen der großen Klassiker neben den Realistischen' Elementen auch tiefere religiöse und mystische Elemente aufspürte" und „den Kanon des herrschenden literarischen Geschmacks, d. h. die feststehende Anschauung vom sozial-politisch fortschrittlichen' Charakter der russischen Literatur" für ungültig erklärt habe (S. 9). Der dekadenten Strömung des Symbolismus werden neben den Versen Sologubs, Vjaceslav Ivanovs, Andrej Belyjs u. a. bewußt diffamierend drei kleine Gedichte Gor'kijs zugezählt, der den Symbolisten angeblich „stimmungsgemäß verwandt" sein soll, vor allem durch „seinen egozentrischen Protest gegen alles .Normale' und Durchschnittliche" (S. 68ff.). Den Inhalt dieses 135 Seiten starken Bandes charakterisiert ein angefügtes alphabetisches Inhaltsverzeichnis der behandelten Thematik, die von „Abgrund und Chaos", „Ästhetik", „Amoralismus", „Andere Welten", „Chaos", „Dekadenz", „Egozentrismus" bis zu „Ungeheuer", „Wahnsinn" und „Zufall" reicht (S. 133f). Es überrascht nicht weiter, wenn als Titel der nächsten Hefte angekündigt wurde: 1

ebd., H. 5/6: Versdichtung der russischen Symbolisten. Ein Lesebuch. Hrsg. von J. H o l t h u s e n und D. T s c h i i e w s k i j , Wiesbaden 1959.

Ein Verfechter des Idealismus und Mystizismus

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„Berufung und Bestimmung des Dichters in der slawischen Dichtung", „Formalistische Dichtung bei den Slaven", „Slawische mystische Texte" usw. 1 Tschizewskij aber ist nicht nur erklärter formalistischer Literaturwissenschaftler, sondern auch idealistischer Philosoph. (Sein erstes größeres Buch war bezeichnenderweise ein Lehrbuch der Logik.) 2 Daraus erklärt sich die Verschmelzung ästhetisierender Literaturbetrachtung mit der Propagierung religiös-mystischer Ideen. Als Schüler des idealistischen Philosophen Vladimir Solov'ev, als Verehrer der russischen Emigranten Frank und Berdjaev, hat Tschizewskij vor allem den mystischen Schriftstellern Jakob Böhme, Svedenborg, Eckartshausen, Baader sowie dem deutschen Pietismus zahlreiche Arbeiten gewidmet. Er folgt Solov'ev, der behauptet, daß „eine Kunst, die nichts anderes erkennen will als nur die gewissenhafte Wiedergabe eben dieses Lebens, keine ewigen Ideale dem Leben geben" könne 3 . Ähnlich wie dieser reaktionäre russische Religionsphilosoph, der als Vorläufer Oswald Sprenglers gelten kann 4 , stellt Tschizewskij Westen und Osten gegenüber und wählt bezeichnenderweise für seinen o. a. Sammelband den Titel „Aus zwei Welten". Ähnlich wie auch Solov'ev sieht er in der Verbindung eines angeblich religiösmystischen Denkens der Slawen mit der „westlichen Kultur" einen Ausweg aus dem kapitalistischen Inferno und einen geistigen Schutzschild gegen den Materialismus des „kommunistischen Ostens". Diese Philosophie paßt genau in die offizielle Ideologie des westlichen klerikal-militaristischen Imperialismus: Kampf des „Geistes" gegen die „Materie", der „Zivilisation" gegen die „Barbarei", eines „Christus" gegen den „Antichrist". Daher ist es nicht verwunderlich, daß 1959 in einer Taschenbuchreihe, die Bücher wie etwa „Das Heilige und das Profane", „Der unbesiegbare Gott — Heidentum und Christentum", „Geist und Leben der Ostkirche" von Benz, „Philosophie und Naturwissenschaft in der Sowjetunion" von dem berüchtigten „Marxtöter", dem Jesuiten Wetter, enthält, auch von Tschizewskij ein Band unter dem Titel „Das heilige Rußland. Russische Geistesgeschichte. I. 10. —17. Jahrhundert" erschienen ist. In diesem für breite Leserkreise geschriebenen Werk befaßt sich Tschizewskij mit der „Entwicklung des Bewußtseins" in Rußland (S. 154). Stark religiöse Färbung verraten Überschriften wie „Die Reste der christlichen Utopie" (S. 39), „Der fromme Fürst" (S. 42), „Die ohnmächtige, aber stolze Welt" (S. 49), „Das Ideal des christlichen Ritters" (S. 53), „Die byzantinische Mystik" (S. 73), „Lichtvisionen" (S. 80), „Das unchristliche Reich" (S. 137) und andere. Tschizewskij spielt sich als Anwalt der religiösen Sektenbewegung auf und wendet sich gegen das russische Zarentum und die offizielle russische Staatskirche. Beide macht er dafür verantwortlieh, daß das „wahnsinnige Schweigen" in Rußland zu 1 2 a

4

Russische literarische Parodien, a. a. O., S. 6. D. C i i e v s k i j , Logica, Prag 1924. V. S o l o v j e f f , Die geistigen Grundlagen des Lebens, Bd. I, Teil 2, Sonntags- und Osterbriefe, Stuttgart 1922, S. 306. vgl. G. S a c k e , V. Solowjews Geschichtsphilosophie, Phil. Diss., Leipzig 1929.

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H. Graßhoff

„einem Gesetz geworden" (S. 131), daß „Geduld . . . bis in unsere Zeit hinein die meist gepriesene Tugend des russischen Volkes" geblieben sei (S. 112). Seine Sympathien gehören den Altgläubigen, den russischen Sekten und Gegnern des Cäsaropapismus, gelten der Pflege des „inneren Gebetes". So verklärt er mit einem Heiligenschein das Schaffen Nil Sorskijs, der sich gegen den „Machtkomplex" (S. 83) gewandt habe, und stellt ihm den angeblich verderbenbringenden Josif Volockij gegenüber (S. 92), der die „ideologische Grundlage für die Theorie des ,Dienststaates'" geschaffen habe, „die bis heute unter verschiedenen Namen (bis zum ,Kommunismus') die spezifisch russische Staatsform" geblieben sei, „die dem Individuum kaum eine, wenn auch noch so beschränkte Freiheitssphäre einräumt" (S. 92). In einer mystischen inneren Religiosität erblickt Tschizewskij ähnlich wie Solov'ev die Rettung der sogenannten „freien Welt". „Die griechisch-orthodoxe Religiosität und die deutsche Philosophie", so behauptete er schon in seiner Abhandlung „Hegel in Rußland", seien die „zwei geistigen Kräfte", die „an der Wiege des russischen nationalen Selbstbewußtseins" gestanden haben 1 , „auf der einen Seite — das unmittelbare religiöse Empfinden, das lebendige religiöse Erlebnis — und auf der anderen — die großzügigsten Systeme der neuzeitlichen Philosophie" 2 . Für Tschizewskij ist der — völlig einseitig interpretierte — deutsche Idealismus mit seiner entschiedenen Ablehnung aller materialistischen Tendenzen und seiner Abkehr von jeglicher realistischen Weltbetrachtung „die revolutionierende Errungenschaft". Für ihn „klafft ein Abgrund der Aufklärung" auf mit dem Erscheinen der revolutionären Demokraten in der zweiten Etappe der russischen Befreiungsbewegung, denen er „blinden Glauben an den Fortschritt" sowie „Ablehnung einer jeglichen Hierarchie in der Welt und im Leben" vorwirft 3 . Von den großen slawischen Schriftstellern interessieren Tschizewskij nur diejenigen, in deren Werken religiöse und transzendente Züge vorhanden sind bzw. hineininterpretiert werden können. So konzentriert er sich bei der Erforschung der russischen Literatur völlig einseitig auf einzelne schwache Seiten im Schaffen Zukovskijs, Gogol's, Dostoevskijs, Lermontovs, Lev Tolstojs, Bloks, vor allem aber auf Vladimir Solov'ev u. a. Vergeblich wird man bei ihm umfassende und fundierte Arbeiten über die revolutionären Demokraten, über die Meister des russischen kritischen Realismus wie Nekrasov, Herzen, Goncarov, Turgenev oder Saltykov-Scedrin suchen, ganz zu schweigen von einer Beschäftigung mit den Schriftstellern des sozialistischen Realismus. Dagegen ist Tschizewskij eifrig bemüht, mystisch-religiöse Züge selbst im Schaffen großer kritischer Realisten zu finden. So wird u. a. bei Herzen und Turgenev auf deren angeblich genaue Kenntnis mystischer Denker wie Böhme, Svedenborg und Eckartshausen hingewiesen 4 , ohne dies im Zusammenhang mit ihrem Gesamtschaffen zu sehen. 1 2 3 1

Hegel in Rußland, a. a. 0., S. 163. ebd. ebd., S. 299. ebd., S. 240, 265.

Ein Verfechter des Idealismus u. Mystizismus

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Für Tschizewskij sind Mystik und Idealismus nicht voneinander zu trennen. Die christlichen Mystiker, so behauptet er, seien unbestreitbar „Urahnen und Wegbereiter des deutschen Idealismus" gewesen1. Für ihn ist es eine „geistige Wahlverwandtschaft, die den ostslawischen Geist immer von neuem zu den großen Vertretern des deutschen Idealismus zurückkehren läßt" 2 . Welche gewaltige Bedeutung gerade der Materialismus eines Feuerbach — ganz zu schweigen vom dialektischen Materialismus eines Marx und Engels — für die Geschichte der Slawen gehabt hat, wird dabei geflissentlich übersehen. Mit seiner mystisch-religiösen Ideologie, seiner einseitig-verfälschenden Verherrlichung des „deutschen Idealismus" und seinem Eintreten für eine gemeinsame christliche Front gegen Materialismus und Kommunismus kommt Tschizewskij den klerikal-militaristischen Kreisen in Westdeutschland sehr gelegen3. Durch seine einseitige Interpretation der russischen Literatur, durch die Propagierung und durch das Schüren der Angst vor der Wirklichkeit ganz im Sinne der Jaspersschen Philosophie der Furcht und des Grauens, durch seine Flucht vor der Wirklichkeit in das Reich der abstrakt-formalistischen Kunst, des Symbolismus und des Mystizismus trägt Tschizewskij dazu bei, den Menschen zu einem hilflosen Werkzeug in den Händen der westlichen Revanchisten und Militaristen zu machen. Tschizewskijs Konzeption der „zwei Welten", des angeblich jahrhundertealten Gegensatzes zwischen „Ost" und „West", unterstützt die politischen Absichten des westdeutschen Imperialismus, der ständig bestrebt ist, die Spannungen zwischen dem kapitalistischen und dem sozialistischen Lager zu verstärken und unsere entschlossene Politik einer friedlichen Koexistenz zu untergraben. Tschizewskij s Spekulation auf angeblich tiefe religiös-mystische Züge im Charakter der Slawen und auf eine starke — auch angeblich den Deutschen eigene — idealistische Tradition in den Werken slawischer Schriftsteller soll den Boden für eine „geistige Einheit" der deutschen und slawischen Völker vorbereiten, die sich gemeinsam — wie schon einmal vom Faschismus proklamiert — gegen den „artfremden", den Völkern „aufgezwungenen, asiatischen" Kommunismus und „gottlosen" Materialismus „verteidigen" müssen. Auch der von Tschizewskij konstruierte Gegensatz zwischen dem großrussischen Volk als dem „Usurpator" und dem ukrainischen Volk als dem „wahrhaften Erben" der gesamtrussischen Kulturentwicklung ist Teil eines von den Gegnern der Sowjetunion immer wieder gemachten vergeblichen Versuches, die großen slawischen Brudervölker gegeneinander auszuspielen. Somit dient Tschizewskijs in den Mantel wissenschaftlicher Objektivität gehüllte slawistische Forschung auf Grund ihrer mystisch-idealistischen und antisowjetischen Grundkonzeptionen durchaus nicht einer deutsch-slawischen Verständigung, sondern den gefährlichen Zielen des klerikal-militaristischen westdeutschen Imperialismus. 1 8

ebd., S. 146. * ebd., S. 147. vgl. Philosophie des Verbrechens, a. a. 0., S. 270ff.

A. HIERSCHE

Prof. Dr. Klaus Mehnert — ein Ultra der westdeutschen „Sowj etologie" „Geburt und eine nicht blinde, aber aufopfernde Liebe zum Russentum haben Klaus Mehnert befähigt, das realistische Porträt zu entwerfen, nach dem der Leser gierig greifen wird ... Der Verfasser hat darin ... fraglos den wertvollsten Beitrag zum Verständnis der sowjetischen Bevölkerung überhaupt geliefert... Den Russen ins Herz zu schauen, könnte kaum jemand berufener sein als Mehnert, der völlig frei ist von jedwedem Ressentiment." 1 Dieses überschwengliche Lob, das hier dem langjährigen Generalsekretär der „Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde" und jetzigen Professor für politische Wissenschaften an der Technischen Hochschule in Aachen gespendet wird, ist nur eines von vielen. Die westdeutsche bürgerliche und sozialdemokratische Presse kann ebenso wie eine große Zahl von seriösen literarischen Zeitschriften offensichtlich nicht genug daran tun, den Publikationen Klaus Mehnerts höchste Anerkennung auszusprechen und sie dem Leser wärmstens zu empfehlen. Hierbei drängt sich nachgerade der Wunsch auf, zu ergründen, welcher Gestalt die Verdienste dieses Mannes sind und was er leistete, ehe er mit solchen Ehren überhäuft wurde. Über den Lebensweg Mehnerts ist in der Broschüre „,Ostforscher' — Ostforschung' " und im Aufsatz von Dr. Ch. Mückenberger bereits Wesentliches gesagt w o r d e n s o daß wir hier manches voraussetzen dürfen. Der 1906 in Moskau geborene Sohn eines Fabrikanten studierte in Tübingen, München und Berlin und bekleidete bereits von 1931 — 1933 das Amt des Generalsekretärs der damaligen „Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas". Auch die Zeitschrift „Osteuropa", das Zentralorgan der Gesellschaft, wurde damals von ihm geleitet3. Die Tätigkeit dieser Organisation ist dank der Arbeit der Historiker der DDR hinlänglich bekannt geworden. Nachdem Mehnert 1933—1936 als Korrespondent der faschistischen deutschen Presse in der Sowjetunion gelebt hatte, ging er über Kalifornien nach Hawaii, um dort offiziell als Universitätsprofessor zu wirken, inoffiziell aber für den japanischen Geheimdienst zu arbeiten. So war er an der 1

2

3

H. P ö r z g e n , Den Russen ins Herz zu schauen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5. XII. 1959. vgl. F.-H. G e n t z e n , E. W o l f g r a m m , „Ostforscher" — „Ostforschung", Berlin 1960, S. 58ff., und den Aufsatz von Ch. M ü c k e n b e r g e r im vorl. Band. vgl. die autobiographischen Ausführungen Mehnerts in seinem Buch: K . M e h n e r t , Der Sowjetmensch. Versuch eines Porträts nach 12 Reisen in die Sowjetunion 1929 — 1957, 1. Aufl., Stuttgart 1958, S. 1 2 - 1 5 .

Ein Ultra der westdeutschen „Sowjetologie"

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Vorbereitung des heimtückischen Überfalls beteiligt, den das faschistische Japan auf den Hafen von Pearl Harbour unternahm. Der ehemalige Leiter des Marineabwehrdienstes der USA, Zacharias, schreibt dazu: „Wenn wir zurückschauen auf die Pläne, die sie (die Japaner — A. H.) ausarbeiteten, dann können wir nicht umhin, Mehnerts Hand in den grundsätzlichen strategischen Plänen der Japaner zu erkennen . . . Er überzeugte die Japaner, daß wir verwundbar waren. Er überzeugte sie, daß sie in einem Krieg gegen die Vereinigten Staaten eine Chance für einen strategischen Erfolg hatten." 1 Die amerikanischen Imperialisten zogen Mehnert nach 1945 für diese Verbrechen nicht zur Verantwortung, sondern gaben ihm bezeichnenderweise alle Möglichkeiten, sich als Spezialist im ideologischen Kampf gegen die Sowjetunion zu betätigen. Mehnert wurde dann auch bald zum Generalsekretär der 1949 gegründeten „Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde" gewählt und mit der Leitung ihres Zentralorgans, der Zeitschrift „Osteuropa", betraut 2 . Allein aus diesen Tatsachen geht hervor, daß Mehnert einer der exponierten Vertreter der imperialistischen deutschen Ostforschung ist. Zieht man noch in Betracht, daß er sogar für würdig befurden wurde, zum Begleitpersonal des damaligen Bundeskanzlers Adenauer auf dessen Reise nach Moskau im Jahre 1955 zu gehören3, so wird offenkundig, daß die klerikal-militaristische Regierung Westdeutschlands Mehnert größtes Vertrauen entgegenbringt und seine Mithilfe im ideologischen Kampf gegen die Sowjetunion wohl zu schätzen weiß. Das bestätigt auch seine weitere Karriere. Im Jahre 1960 wurde er zum Professor für politische Wissenschaften an die Technische Hochschule in Aachen berufen, und ein Jahr darauf wählte ihn die Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz zu ihrem ordentlichen Mitglied 4 . Das Amt des Generalsekretärs der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde hatte er inzwischen — in Anbetracht der neuen, größeren Aufgaben — niedergelegt. Zu diesen neuen Pflichten Mehnerts gehört es, daß er die jungen Nationalstaaten Afrikas besucht, um dort die Möglichkeiten zu erkunden, wie am besten die „kommunistische Unterwanderung" dieser Länder zu verhindern sei. Man sieht auch hier, daß es dem „Ostspezialisten" weniger um Osteuropa als um die Ideen geht, die von dort ausstrahlen und in der Welt immer mehr Widerhall finden.

1

2 3 1

vgl. hierzu den ausführlichen und aufschlußreichen Artikel von J. M a d e r, Die Karriere des Agenten Mehnert, in: Mitteilungsblatt der Arbeitsgemeinschaft ehemaliger Offiziere, Jg. 1961, Nr. 10, S. 11 ff. Mader veröffentlicht S. 12 Faksimiles der Mehnert schwer belastenden Seiten 192—195 des Buches von Ellis M. Z a c h a r i a s , Secret Missions. The Story of an Intelligence Officer (Geheime Missionen. Die Geschichte eines Geheimdienstoffiziers), New York 1946, auf denen das von mir angeführte Zitat in englischer Sprache zu finden ist. vgl. E.-H. G e n t z e n , E. W o l f g r a m m , a. a. O., S. 61. vgl. K. M e h n e r t , a. a. O., S. 15. vgl. Personalia, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 9. Jg., 1961, Nr. 1, S. 159, u. Nr. 4, S. 635.

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Den Anforderungen, die die herrschenden Ultras der Bundesrepublik an einen Ostforscher stellen, wird Mehnert in vollem Maße gerecht. Seine Publikationen erfreuen sich großer Popularität, nicht zuletzt auch dank einer Unzahl von überschwenglichen Reklamerezensionen, deren Charakter durch die eingangs zitierten Sätze aus der „Frankfurter Allgemeinen Zeitimg" gekennzeichnet ist. Bereits über sein Buch „Asien, Moskau und wir"1 war der größte Teil der westdeutschen Presse und der Zeitschriften begeistert. Die Rezensenten überboten sich jedoch noch, als 1958 „Der Sowjetmensch" auf dem westdeutschen Büchermarkt erschien, innerhalb von drei Jahren sieben Auflagen mit insgesamt 66000 Exemplaren erlebte und in die Taschenbuchreihe des Fischer-Verlages aufgenommen wurde2. Unter der Maske eines Freundes der sowjetischen Menschen überhäuft Mehnert in diesem Buch die Sowjetunion mit Verleumdungen, wobei er den Nimbus des Kenners, der ihn umgibt, geschickt zu stützen weiß. Viele Erlebnisberichte sollen seinen Äußerungen Glaubwürdigkeit verleihen. Er behauptet in diesem Buch u. a., daß es in der Sowjetunion unmöglich sei, etwas über den Westen zu erfahren, daß es keine „Gruppen oder gar Organisationen" gibt, „in denen man sich über Dinge unterhalten könnte, die nicht in der ,Prawda' standen"3. Jeder, der auch nur einmal Gelegenheit hatte, in der Sowjetunion mit einfachen Menschen zu sprechen, wird Mehnert hier als Lügner entlarven können, denn die vielseitige Informiertheit und Interessiertheit der Bürger dieses Landes ist nachgerade vorbildlich. Allein diese Feststellung Mehnerts ist so unglaubhaft, daß sie der Autor einem wirklich informierten Leserpublikum nicht anbieten dürfte, ohne seinen Ruf zu gefährden. Aber wo eine tendenziöse Presse durch tägliche Verdummungspropaganda so gute Vorarbeit geleistet hat, erscheinen die Publikationen Mehnerts und seiner Kollegen gleichsam als Offenbarungen, die nun ihrerseits dem antisowjetischen Lügengebäude einen „wissenschaftlichen" Anstrich verleihen. Unseres Wissens ist in Westdeutschland noch niemand darangegangen — vielleicht wagt man es auch nicht, oder es mangelt an Möglichkeiten —, sich ernsthaft mit den Berichten, Thesen und Behauptungen Mehnerts auseinanderzusetzen. Die Verwirrung, die Mehnert in den Köpfen anrichtet, ist zu groß, als daß man sie ignorieren dürfte. So will denn vorliegender Aufsatz versuchen, einige Äußerungen des führenden Ostforschers, die speziell der Sowjetliteratur gewidmet sind, auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen und damit das Bild dieser zwielichtigen Ge1 2

3

K. M e h n e r t , Asien, Moskau und wir. Bilanz nach 4 Weltreisen, Stuttgart 1957. K. M e h n e r t , Der Sowjetmensch. Versuch eines Porträts nach 12 Reisen in die Sowjetunion 1929—1957, 1. Aufl., Stuttgart 1958, 497 S. Die Seitenangaben aller folgenden Zitate aus diesem Buch beziehen sich stets auf die 1. Auflage, deren Titel wie folgt abgekürzt wird: K. M e h n e r t , Der Sowjetmensch. — Die neueste Auflage hat den Titel: Der Sowjetmensch. Versuch eines Porträts nach 13 Reisen in die Sowjetunion 1929 — 1959. Mit einem Zusatzkapitel „Ein Jahr später", 8. Aufl., 67.—71. Tausend, Stuttgart 1961, 525 S. — In der Taschenbuchreihe des S. Fischer-Verlages, Frankfurt/M., Hamburg, erschien das Buch unter der Nr. 388 im Jahre 1961, 382 S. K. M e h n e r t , Der Sowjetmensch, S. 436.

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stalt vervollständigen zu helfen. Als Material dienen vor allem seine nach 1945 in „Osteuropa" und anderen Zeitschriften erschienenen Aufsätze, die von ihm zum Teil in den „Sowjetmenschen" aufgenommen wurden, und das Buch „Der Sowjetmensch" selbst.

Nicht zufällig nimmt die Sowjetliteratur in Mehnerts Publikationen einen großen Raum ein. Obwohl er mehrfach zu verstehen gibt, daß ihn die Literatur persönlich interessiere und er in ihr nach den ewigen, rein menschlichen Werten suche, sind seine tatsächlichen Absichten ganz und gar nicht edel. Schon zu Anfang seiner Artikelserie in „Osteuropa" sagt er etwas deutlicher, worauf es ihm wirklich ankommt: „Der zähe und vor aller Augen ausgetragene Kampf zwischen Dichtung und Kritik bietet eine der wenigen — eine der letzten — Möglichkeiten, Einblick zu gewinnen in den psychologischen Zustand der Bewohner der Sowjetwelt, ihrer geistigen Köpfe und ihrer politischen Führer."1 Alle seine Publikationen zeigen jedoch, daß Mehnert auch bei der Verkündung dieses Programms nicht ehrlich war, daß es ihm weniger um irgendwelche psychologischen Zustände geht als vielmehr um die Illustrierung einer verzerrten Wiedergabe des sowjetischen Lebens unter Mißbrauch der Sowjetliteratur. Mit Vorbedacht wählt Mehnert zu diesem Zweck meist solche literarischen Werke aus, deren Schöpfer die sowjetische Wirklichkeit in diesem Fall nicht objektiv darstellten und noch vorhandene Mängel zu sehr in den Vordergrund rückten, wie V. Dudincevs Roman „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein", V. Panovas „Jahreszeiten", L. Zorins Drama „Die Gäste" u. a. Nicht selten verwendet er aber zur Belegung von unwahren Behauptungen gute, künstlerisch wertvolle Werke wie die Dramen „Die kleine Studentin" von N. Pogodin, „Zwei Farben" von Zak und Kuznecov und „Flügel" von A. Kornejcuk, wobei er deren Aussage verfälscht 2 . Die der Sowjetliteratur unkundigen Leser in Westdeutschland — und das ist die erdrückende Mehrzahl —, denen es nahezu unmöglich gemacht wird, Wert von Unwert' zu unterscheiden, sehen Beispiele aus literarischen Werken der Sowjetunion natürlich als Zeugnisse aus erster Hand an. Deshalb werden diese von Mehnert so sehr bevorzugt. So benutzt er u. a. Pogodins Drama „Die kleine Studentin", um glaubhaft zu machen, daß es in der Sowjetunion eine „Einmischung des Kollektivs in das Privatleben" gebe 3 . Mehnert verbreitet mit diesem Hinweis auf das Bühnenstück zwei Unwahrheiten. Erstens schildert Pogodin keine Einmischung in die private Sphäre eines Menschen, sondern die Verantwortlichkeit einer Studentengruppe für die Erziehung und Charakterbildung jedes ihrer Mitglieder. Zweitens gibt es in der Sowjetunion eine solche Erscheinung gar nicht. Das, was Mehnert mit „Einmischung" meint, ist sicher die dem Sozialismus wesenseigene humanistische Sorge aller um 1 2 8

ders., Der Sowjetautor und sein Held, in: Osteuropa, 1. Jg., 1951, Nr. 1, S. 26. ders., Moskauer Theatersaison 1959, in: Osteuropa, 9. Jg., 1959, Nr. 7/8. vgl. ebd., II, in: Osteuropa, 9. Jg., 1959, Nr. 9, S. 545f.

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einen. Sie wird fälschlich einer Einschränkung der persönlichen Freiheit gleichgesetzt, womit Mehnert die Furcht vor der sozialistischen Gesellschaftsordnung nährt. Dabei wird doch gerade im Imperialismus in brutalster Form in das Privatleben eingegriffen: soziale Unsicherheit, Arbeitslosigkeit und Arbeitshetze, die Jagd nach dem Lebensunterhalt und der Krieg schränken die persönliche Freiheit ganz erheblich ein oder lassen sie zu einem leeren Schlagwort werden. Wie es um die Integrität des Privatlebens in den kolonialen und abhängigen Ländern bestellt ist, soll hier schon gar nicht erwähnt werden. An Literatur, die Mehnert nicht unmittelbar zur Belegung seiner Auffassungen über die Sowjetunion verwenden kann, ist er nicht sonderlich interessiert. Beispielsweise gibt er zu, daß er sehr enttäuscht war, als er in der Bühnenfassung des „Goldenen Kalbs" von I. Il'f und E. Petrov keinen „aktuellen Bezug" entdecken konnte 1 . Seiner Meinung nach hätte diese Satire auf Mißstände in der Sowjetunion der zwanziger Jahre unbedingt auf die heutige Zeit zugeschnitten werden müssen.

I n der Auswahl von Beispielen aus der Literatur werden bei Mehnert zwei Haupttendenzen seiner antisowjetischen Propaganda sichtbar. Um von den Übeln im eigenen Lande abzulenken, wo eine verschwindend kleine Minderheit die gesamte wirtschaftliche und politische Macht in den Händen hält, propagiert Mehnert erstens das Märchen vom sowjetischen „Klassenstaat". In der Sowjetunion existiere eine Oberschicht, die besondere Vergünstigungen genieße und die übrigen Volksmassen beherrsche. Den „Klassencharakter" der sowjetischen Gesellschaft „zeigt" er u. a. bei der Erörterung der Romane „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein" von V. Dudincev, „Jahreszeiten" von V. Panova und des Dramas „Die Gäste" von L. Zorin. Es ist bekannt, daß der Roman Dudincevs bei der Darstellung von Unzulänglichkeiten in der Sowjetunion stark übertreibt. Der Blick auf das sowjetische Leben von der Position des Haupthelden Lopatkin, der sich von der Gesellschaft isoliert, vermittelt ein zu einseitiges Bild. Deshalb stieß der Roman auch bei der Kritik und bei den Lesermassen zu Recht auf Ablehnung. Obwohl die künstlerischen und ideologischen Mängel des Werkes offensichtlich sind, entspricht doch Mehnerts Feststellung, daß „ . . . das Bild, das Dudinzew entwirft ... das einer reinen Klassengesellschaft" sei 2 , nicht den Tatsachen. Auch daß der Roman „Jahreszeiten" 3 von V. Panova ein „ungünstiges Licht" auf die „Oberschicht" werfe 4 , ist nicht zutreffend. Die Dichterin, die in der Er1 2

3

4

vgl. ebd., S. 548. K. M e h n e r t , Der Individualist und das Sowjetsystem, in: Osteuropa, 7. Jg., 1957, Nr. 6, S. 410. Deutsch: W. P a n o w a , Verhängnisvolle Wege, Verlag Kultur und Fortschritt, Berlin 1958. vgl. K. M e h n e r t , Streit um Wera Panowa, in: Osteuropa, 4. Jg., 1954, Nr. 4, S. 303.

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Zählung „Sereza" 1 und im „Sentimentalen Roman" 2 ihre große künstlerische Meisterschaft bewies, hat dagegen mit den „Jahreszeiten" keine sehr tiefgründige Analyse des Lebens gegeben. Man kann — um nur ein Beispiel zu nennen — über die Gestalt des korrupten Bürokraten Bortasevic geteilter Meinung sein, aber von ihm auf die Existenz einer ähnlich gearteten gesellschaftlichen Schicht, die dazu noch die alles beherrschende sein soll, zu schließen, ist sicher nur dem Verstand eines Ostforschers gegeben. Eine ähnliche Brüskierung der Tatsachen liegt vor, wenn Mehnert behauptet, das Zentralthema des Dramas „Die Gäste" von L. Zorin sei „ . . . die Verderbtheit der allmächtigen Oberschicht, die Gefahr der Macht.. ," 3 . Um den Begriff „Oberschicht" für seine Leser faßlicher zu machen, vergleicht Mehnert die Vertreter dieser fiktiven „neuen Klasse" mit kapitalistischen Managern, deren westlicher Prototyp allerdings — so setzt er hinzu, um die Vertreter des Monopolkapitals nicht zu kompromittieren — längst der Vergangenheit angehöre 4 . Bei der Charakterisierung der angeblichen Klassenordnung im Sozialismus muß Mehnert eine erschreckende Unkenntnis der Tatsachen voraussetzen, wenn er es wagen kann, allen Ernstes zu behaupten: „Die Unterschiede im Einkommen wie in der Lebenshaltung der einzelnen Schichten sind heute in der Sowjetunion größer als in Amerika" 6 . Hoffentlich wissen die amerikanischen Multimillionäre diesen Hinweis auf ihre „bescheidenen" Einkünfte zu schätzen. Sehr interessant wäre es auch, hierzu die Meinung eines der Millionen Arbeitslosen aus den USA zu hören. Das Ziel, das Mehnert mit der ständigen Propagierung der Theorie von der „Oberschicht" verfolgt, ist nicht schwer zu erraten. Dieses Märchen soll sicherlich die Aufmerksamkeit von dem Vorzug der sozialistischen Gesellschaftsordnung ablenken, daß in der Sowjetunion jeder allein nach seinen Fähigkeiten — unabhängig von seiner sozialen Herkunft — ausgebildet und jeder nach seiner Leistimg bezahlt wird. Zustände — wie etwa in Westdeutschland und den übrigen imperialistischen Ländern —, die es einer durch Herkunft und Besitz bevorzugten Minderheit erlauben, sich ohne gesellschaftlich nützliche Tätigkeit von der Mehrheit geschaffene Reichtümer anzueignen, sind in der Sowjetunion undenkbar, ja sie sind sogar gesetzwidrig. Bekanntlich heißt es in der Verfassung der UdSSR: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen". Daß eben diese für die Menschen in der Bundesrepublik so bestechenden Tatsachen nicht zu bekannt werden — das ist ein Grund, warum Mehnert auf dieser These beharrt. Der zweite Grund ist, die Nutzlosigkeit einer sozialistischen Revolution zu „beweisen", weil auch sie die Klassengegensätze nicht beseitige. Der dritte und für Mehnert im Moment wichtigste Zweck ist wohl der, daß mit dieser verlogenen Behauptung innerhalb der 1

2 3

4 s

Deutsch: W. P a n o w a , Kleiner Mann in großer Welt, Verlag Kultur und Fortschritt, Berlin 1956. Deutsch: W. P a n o w a , Mit 17 ist man jung, Verlag Kultur und Fortschritt, Berlin 1960. K. M e h n e r t , An Moskaus literarischer Front. II. Gäste aus der Residenz, in: Osteuropa, 4. Jg., 1954, Nr. 6, S. 432. vgl. ders., Sowjetbühne und Oberschicht, in: Osteuropa, 6. Jg., 1956, Nr. 1, S. 18. ders., Der Sowjetmensch, S. 51.

10

Wissenschaft

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Sowjetunion Klassenkämpfe vorgetäuscht werden, die UdSSR als ein von inneren Widersprüchen zerrissener Staat erscheint, den man also leicht durch einen Schlag von außen zum Zusammenbruch bringen könne. Kurz, Mehnert präsentiert Hitlers Propagandalosung vom „Koloß auf tönernen Füßen" im abendländischen Gewand. Aber auch ein Mehnert kann mitunter an der Wahrheit nicht vorbei. I n seinem „Sowjetmenschen" straft er sich selbst Lügen: „Sie (die Sowjetmenschen — A. H.) sind ... grundsätzlich bereit, das Leistungsprinzip als Grundlage des sozialen Aufstiegs anzuerkennen und empfinden vor dem tüchtigen Fachmann eine echte und aufrichtige Hochachtung. Wo immer ein Angehöriger der Oberschicht als Könner, gleichgültig auf welchem Gebiet, bekannt ist, gönnt man ihm den höheren Lebensstandard . . . " 1 Abgesehen von dem „Aber", das danach folgt und natürlich die Funktionäre aus der Anerkennung ausklammert, enthält diese für Mehnert ungewöhnliche Erkenntnis den richtigen Grundgedanken des Leistungsprinzips. Diese eine Feststellung wird aber durch Mehnerts gesamtes Werk und alle seine Publikationen überschattet, die in schwärzesten Farben die angebliche „Ungleichheit" und den „Haß" zwischen den Schichten schildern. Damit er das mit „Beweisen" aus der Sowjetunion stützen kann, scheut er sich nicht, Zitate zu fälschen und aus dem Zusammenhang zu reißen. Darüber soll noch gesprochen werden.

Die zweite Hauptthese der antisowjetischen Propaganda Mehnerts besagt, daß es in der Sowjetunion keine neuen Menschen gebe, die sich durch spezifisch sozialistische Wesenszüge auszeichnen. Als „Beweis" dienen ihm erstens seine eigenen „Erfahrungen" und zweitens Stimmen der sowjetischen Literaturkritik, die verständlicherweise für eine umfassende Darstellung des neuen Menschen in der Literatur eintreten. Mit Genugtuung zitiert Mehnert ausgiebig sowjetische Kritiken aus der Zeit von 1943—1944, die davon sprechen, daß der Mensch neuen Typs noch nicht in künstlerisch vollkommenen Gestalten Eingang in die Kriegsliteratur gefunden habe. Mehnert vermeint daraus schließen zu können: „Der bolschewistische Mensch läßt sich nicht darstellen, weil er gar nicht existiert." 2 Es ist bezeichnend für Mehnerts unwissenschaftliche Methoden, daß ihm bereits vereinzelte, aus dem Zusammenhang gerissene Beispiele genügen, voreilige Schlußfolgerungen zu ziehen, die durch nichts zu beweisen sind. Wenn dann ein Kritiker in Saronov, dem Helden aus F. Gladkovs Roman „Der Schwur", Züge des neuen Menschen hervorhebt, fühlt Mehnert sich bemüßigt, überlegen abzuwinken: Liebe zur Arbeit und geistige Interessen hätte es seit eh und je schon unter den Menschen gegeben, selbst im Mittelalter, was sei daran schon neu? 3 Überhaupt sind Mehnerts Ansichten zu dem Problem des neuen Menschen sehr uneinheitlich 1 2 s

ebd., S. 183. ders., Der Fall Tschakowskij, in: Osteuropa, 2. Jg., 1952, Nr. 1, S. 25. vgl. ders., Scharonow oder der neue Mensch, in: Osteuropa, 1. Jg., 1951, Nr. 2, S. 105.

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und konfus. Sie richten sich offensichtlich nach dem jeweiligen Effekt, den er erzielen will. Einmal stellt er z. B. fest, Lopatkin aus dem Roman von Dudincev „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein" sei der „Held unserer Zeit" dann wieder behauptet er, Lopatkin sei nur ein „fanatischer Erfinder und weiter nichts" 2 , ein Typ also, den es zu allen Zeiten gegeben hat. Kann man mit Mehnert ein wissenschaftliches Streitgespräch führen, wenn er in einem Aufsatz Lopatkin nur von einem „überwältigenden Erfinderwillen" getrieben sieht, der nicht dem Wohle des Volkes diene 3 , an anderer Stelle dagegen ebenso bestimmt meint, daß Lopatkin doch zum Wohle des Volkes arbeite4? Einen besonders schwerwiegenden Beweis für die Nichtexistenz des neuen Menschen glaubt Mehnert darin gefunden zu haben, daß es noch heute in der Sowjetunion Jugendkriminalität gibt. Mit innerer Genugtuung bauscht er diese Tatsache auf und erzählt von „Gangstern k la Chicago"5. Wo er aber von jungen Menschen neuen Typs spricht, die die Interessen aller arbeitenden Menschen über ihre persönlichen stellen und dabei sogar verwandtschaftliche Beziehungen hintansetzen, kann sich Mehnert nur noch mit Schmähungen helfen, wie es bei der Erwähnung des heldenhaften Pioniers Pavlik Morozov geschieht. Er verunglimpft, Empörung heuchelnd, das von allen Sowjetmenschen geliebte und geehrte Opfer der Konterrevolution: „Und diese Erzieher hielten die Kinder dazu an, die eigenen Eltern anzuzeigen, wenn sie am Familientisch ein kritisches Wort gegen den Staat wagten, und nannten der Jugend einen Pawlik Morosow als heldisches Beispiel, weil er seinen die Kollektivierung ablehnenden Vater verriet, dafür von bösen Kulaken umgebracht und so zu einem Märtyrer des Denunziantentums wurde."8 Was Mehnert mit der These von der Nichtexistenz des neuen Menschen bezweckt, liegt auf der Hand: Der Revolution sei es nicht gelungen, den Menschen zu ändern, also lohne es nicht, überhaupt erst die bestehenden Verhältnisse — den Kapitalismus — zu beseitigen. Man kann von Mehnert nicht verlangen, daß er begreift, warum dieselben russischen Soldaten, die 1917 die Gewehre wegwarfen, weil sie den Krieg hassen gelernt hatten, die Waffen wieder in die Hand nahmen und noch zwei bis drei Jahre unter unmenschlichen Entbehrungen und Opfern weiterkämpften, als es die Revolution zu schützen galt. Mehnert rühmt sich zwar indirekt als „Kenner" — was ihm auch von den ihm wohlgesinnten Kreisen bestätigt wird —, aber er wäre wohl überfordert, sollte er der Wahrheit die Ehre geben und den Lesern in Westdeutschland sagen, mit welchem Elan die Sowjetmenschen in den Subbotniks die Schäden des Bürgerkrieges überwanden, in den Fünfjahrplänen die 1 2 3 4

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ders., Der Sowjetmensch, S. 258. ders., Der Individualist und das Sowjetsystem, in: Osteuropa, 7. Jg., 1957, Nr. 6, S. 404. ebd. vgl. ders., Ein Anti-Dudinzew-Roman. Die literarische Gegenoffensive des Kreml, in: Christ und Welt, 12. Jg., 1959, Nr. 1, S. 18. ders., Moskauer Theatersaison 1959, in: Osteuropa, 9. Jg., 1959, Nr. 9, S. 546. ders., Der Sowjetmensch, S. 78—79.

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Sowjetunion zum zweitgrößten Industrieland der Welt machten, mit welchem Heroismus sie diese Errungenschaft gegen die faschistische Kriegsmaschine verteidigten — an der Front und im feindlichen Hinterland — und wie diese Menschen erst vor wenigen Jahren in die Weiten Sibiriens und Mittelasiens zogen, um unter zeitweiligem Verzicht auf einige Annehmlichkeiten der Zivilisation mehr Getreide für das Land zu erzeugen. Daß bei der Neulandgewinnung gerade die Jugend in der vordersten Reihe steht, widerspricht einmal mehr der von Mehnert und vielen anderen Ostforschern gern strapazierten Behauptung, daß die jungen Sowjetmenschen in Opposition zu ihrem Staate stünden. Wenn Mehnert wirklich ein objektiver Beobachter des sowjetischen Lebens wäre — „ohne Ressentiments", wie die „Frankfurter Allgemeine" hervorhebt1 —, dann könnte er nicht übersehen haben, daß eine Valentina Gaganova, ungeachtet der Lohneinbuße, in eine schwächere Brigade ging, und ihrem Beispiel Zehntausende folgten. Täglich berichten die Zeitungen von Heldentaten sowjetischer Arbeiter, und der stürmische Aufschwung der Wirtschaft ist ein untrüglicher Gradmesser des Elans der rastlos schaffenden Sowjetmenschen. Da Mehnert all das seinen Lesern nicht vermittelt, obwohl es ihm — der dreizehnmal längere Zeit das Land bereiste — bekannt sein sollte, liegt der Schluß nahe, daß er deshalb in allen Tonarten als „Kenner" gepriesen wird, weil er gerade diese Fakten mit Schweigen übergeht und obendrein noch versucht, zu täuschen und zu bagatellisieren. Die Helden in K. Paustovskijs Roman „Die Kolchis", Öapaev in D. Furmanovs gleichnamigem Buch, die Komsomolzen von Krasnodon in A. Fadeevs Roman „Die Junge Garde", den Flieger Mares'ev in B. Polevojs „Der wahre Mensch" — alle diese Gestalten bezeichnet Mehnert z. B. als „erfunden"2, obwohl sie tatsächlich existierten oder — wie bei Mares'ev — heute noch leben und ihre literarische Darstellung mit nahezu dokumentarischer Genauigkeit erfolgte. Es sei nur daran erinnert, daß Fadeev den Stoff seines Romans über die Junge Garde urkundlichen Unterlagen entnahm und Furmanov Kommissar bei Öapaev war, ihn also aus eigenem Erleben kannte. Wenn Mehnert angesichts dieser Tatsachen trotzdem behauptet, diese Gestalten hätten mit der Wirklichkeit nichts zu tun, so zeigt das einmal mehr, wie wenig er sich an Fakten hält und allen offenkundige Wahrheiten leugnet. Freilich kann er damit nur Publikumserfolg haben,

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H. P ö r z g e n , Den Russen ins Herz zu schauen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v o m 5. X I I . 1959. vgl. K. M e h n e r t , An Moskaus literarischer Front. I. Partei und Schriftsteller, in: Osteuropa, 4. Jg., 1954, Nr. 5, S. 351. Mehnert schreibt: „Wenn die Schriftsteller, dem politischen Gebot folgend, in ihren Werken Helden erfinden, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben, dann werden diese als romantische Helden legitimiert (z. B. Lit. gaseta 1 9 . 8 . 1 9 5 4 ) " (Hervorhebung von mir — A. H.). In dem Artikel von V. D r u i i n i n (Weg frei für die Romantik!) — auf den sich Mehnert nur beziehen kann — ist jedoch von Capaev, den Komsomolzen der Jungen Garde, dem Flieger Mares'ev u. a. die Rede — also von Helden mit lebenden Vorbildern; vgl. B. flpyjKHHHH, flopory poMaHTHKe!,in: JlHTepaTypHan ra3eTa v o m 19. VIII. 1954.

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weil dank der undemokratischen Verhältnisse in der Bundesrepublik und der antisowjetischen Politik der Bonner Regierung sich die wenigsten vom Gegenteil, nämlich der freien Entfaltung der Persönlichkeit im Sozialismus, überzeugen können.

Klaus Mehnert „beweist" seine Darstellungen und Thesen meist mit vielen Zitaten und Quellenangaben. Das erweckt den Anschein, als sei Mehnert sehr belesen und über alles orientiert, auch gaukelt es die Garantie echter Wissenschaftlichkeit vor. Der westdeutsche Leser wäre aber über einen Vergleich der Wiedergaben Mehnerts mit den Originalen vermutlich sehr erschüttert. Zu Mehnerts Glück ist im Gegensatz zur D D R die Kenntnis der russischen Sprache in Westdeutschland nicht weit verbreitet, auch sind die russischen Quellen der breiten Masse nicht zugänglich. Zu seinem Leidwesen aber haben wir in der D D R die Möglichkeit, seine Fälschungen aufzudecken und in aller Öffentlichkeit anzuprangern. Es wird damit einmal mehr bewiesen, wie nutzbringend es ist, daß es neben dem imperialistischen Teil Deutschlands den Arbeiter-und-Bauern-Staat gibt. Während in Westdeutschland noch immer Mehnert und seinesgleichen bestimmen, was jeder über die Sowjetunion wissen soll und darf, wird von der D D R aus in Deutschland die Wahrheit über das erste L a n d des Sozialismus verbreitet. I m folgenden geben wir eine kleine Auswahl von mehr oder weniger groben Fälschungen des vielgepriesenen Ostforschers. I n der Zeit von 1954 bis 1957 gab es in der Sowjetunion viele prinzipielle Auseinandersetzungen über Grundfragen des literarischen Schaffens. Das freimütige F ü r und Wider in der sowjetischen Presse und Zeitschriftenliteratur wertet Mehnert nicht etwa als Ausdruck allseitigen Bemühens u m Klärung strittiger Fragen, letzten Endes als Ausdruck geistiger Freiheit, im Gegenteil, i h m ist diese Zeit eine Fundgrube, um Beweise für die „Unterdrückung" der sowjetischen Schriftsteller durch die Kommunistische Partei und die Literaturkritik zu sammeln. Das gelingt ihm nur unter grober Verdrehung von Tatsachen. Mehnert schreibt über die Situation des Jahres 1954: „Das eigentliche Trommelfeuer gegen die Schriftsteller setzte Ende Mai ein. Am 25. Mai attackierte die ,Prawda' die ganze Redaktion des ,Nowyj mir'." 1 Die „Attacke" entpuppt sich als ein sehr sachlicher Artikel A. Surkovs, in dem der Redaktion des „ H O B E I Ü M H p " mit überzeugenden Argumenten die objektive Schädlichkeit der Veröffentlichung solcher Artikel wie V. Pomerancevs „Über die Aufrichtigkeit des Schriftstellers" vor Augen g e f ü h r t wird 2 . Ebenso verhält es sich mit der Behauptung Mehnerts, die „JIirrepaTypHaH ra3eTa" vom 15. VI. 1954 greife Erenburg an 3 . Die folgende Äußerung Surkovs aus dem betreffenden redaktionellen Artikel soll als Beispiel f ü r die sachlich-parteiliche Kritik 1 2

8

K. Mehnert, An Moskaus literarischer Front. I., a. a. O., S. 349. vgl. A. CypKOB, IIo« 3HaMeHeM comiajinen«ecKoro peajiH3Ma HaBCTpeny BTopoiuy B c e c 0 K > 3 H 0 M y cteany m i c a T e j i e f t (A. Surkov, Unter dem Banner des sozialistischen Realismus dem II. Schriftstellerkongreß entgegen), in: üpaBfla vom 25. V. 1954. vgl. K. Mehnert, An Moskaus literarischer Front. I., a. a. O., S. 349.

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dienen: „Il'ja Erenburg hat viel geleistet und leistet viel in unserer Literatur und in unserem nationalen Kampf um den Frieden. Obwohl wir ihn als einen großen Schriftsteller verehren, müssen wir doch ernst und prinzipiell an den Mängeln seiner Erzählung („Tauwetter" — A. H.) Kritik üben. Aber selbstverständlich können wir nicht ohne Beweise und so oberflächlich kritisieren, wie es dieser Tage die ,K0MC0M0JibCKaH npaBfla' tat, die — nachdem sie so nebenbei die Fehlerhaftigkeit ihrer Verteidigung V. Pomerancevs zugegeben hatte — ebenso nebenbei die Erzählung I. Erenburgs bedingungslos verurteilte. Dabei stellte sie diese Erzählung fälschlich in eine Reihe mit L. Zorins verleumderischem Drama ,Die Gäste'." 1 — Die ausführlich begründete Kritik K . Simonovs an Erenburgs Roman „Tauwetter" 2 charakterisiert Mehnert folgendermaßen: „Simonow... beeilte sich, in zwei längeren Aufsätzen Ehrenburg ein Bein zu stellen." 3 — Noch ein besonders treffendes Beispiel. Mehnert behauptet, Zorin habe für sein Drama „Die Gäste" vom Kulturministerium eine „hochoffizielle Rüge" erhalten 4 . Zweck dieser Behauptung ist, die „Einmischung" des Staates in Literaturangelegenheiten zu „beweisen". I n Wirklichkeit steht aber in der von Mehnert angegebenen Quelle auch nicht ein einziges Wort von Rüge, sondern es wird lediglich gesagt, daß eine Diskussion über das Drama stattfand, in der sachliche Kritik geübt wurde und alle Teilnehmer das Stück als negativ einschätzten. Zum Beweis ein Satz aus dem Artikel: „Im Verlauf der Beratung ... erhielt das Drama ,Die Gäste' eine einmütige, scharf ablehnende Einschätzung." 5 I m Original ist von „oijeHKa", also von „Wertung", „Einschätzung" die Rede, und nicht von „Rüge". Auch wenn Mehnert den westdeutschen Lesern weismachen will, die Sowjetschriftsteller müßten ihre Werke „in erster Linie unter ideologischen Gesichtspunkten" schaffen, und sich dabei auf die „üpaBfla" vom 6.1.1954 beruft 6 , können wir ihn Lügen strafen. Wie nicht anders zu erwarten war, wendet sich die „npaB^a" 1

Die Bemerkung A. S u r k o v s zu Erenburgs Roman „Tauwetter" steht im Leitartikel

„yjryqmHTb H^eMiio-BOcmiTaTejibiiyK) paßoTy cpe«H micaTeneit" (Die ideologische Erziehungsarbeit unter den Schriftstellern verbessern), in: JlHTepaTypHan ra3eTa vom 15. VI. 1954. — Surkovs Äußerung lautet russisch: „HJIBH 3pen6ypr MHoro CflenaJi H aenaeT B iiameil jinrepaType H B Harneii nceiiapoflHOü 6opb6e aa MHP. YBaataH ero Kau KpynHoro niicaTejiii, M H HOJBKHU cepbe3HO H npiiHL(nnnajit>iio KpHTHKOBaTb NE^ocTaTKH ero noßecTH. Ho, pa3yMeeTCH, KPHTHKOBATB He TaK 6e3«0Ka3aTejibH0 H noBepxHOCTHO, Kau 3T0 Ha AHJJX cnejiajra ,K0MC0M0JifcCKaH npaBaa', K0T0paH, noxoflH npn3HaB ouiHÖoqHOCTb CBoeit 3amHTH B. FloMepaHqeBa, TaK >Ke noxo^H 6e30r0B0p0HH0 ocyaraa noBecTb H. 3peH6ypra, HenpaBiwibHO nocTaBHB K TOMy Hte 9Ty NOBECTB B O^HH pnfl c KJieBeTHiwecKoä nbecoft Jl. 3opHHa ,rocTHl." 2 3 4 5

6

vgl. K. C H M O H O B , HOBAH NOBECTB H U B « 8peii6ypra (K. Simonov, Eine neue Erzählung Il'ja Erenburgs), in: JInTepaTypHa« ra3eTa vom 17. VII. und 20. VII. 1954. K. M e h n e r t , An Moskaus literarischer Front. I., a. a. O., S. 349. ebd. O nbece JI. 3opHHa „rocra" (Über das Drama L. Zorins „Die Gäste"), in: CoBeTcitafl KyjibTypa vom 5. VI. 1954. — Der Satz lautet in russischer Sprache: „B xofle o6cy>K«eHHH... m>eca ,FOCTH' noJiyHHna eflHHOÄyumyio, pe3Ko oTpimaTejibHyio oiieHuy." K. M e h n e r t , An Moskaus literarischer Front. I., a. a. O., S. 349.

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in diesem Artikel gegen die einseitige Wertung des Inhaltes oder der Form und kommt zu folgender Feststellung, die Mehnert offenkundig widerlegt: „Die ganze Erziehung (des Künstlers — A. H.) muß darauf hinauslaufen, daß jeder Kunstschaffende hohes Verantwortungsgefühl für seine Arbeit hegt, damit sich das ideologische und künstlerische Niveau seines Schaffens erhöht . . . " 1 Es wird also ausdrücklich vom ideellen und künstlerischen Niveau gesprochen. Das ist natürlich nicht das einzige Zitat, mit dem Mehnert in dieser Hinsicht widerlegt werden kann. In dem von ihm genannten Artikel A. Surkovs in der „flpaß^a" vom 25. V. 1954 kann man erneut lesen: „... wir müssen mit allem Nachdruck das Problem aufwerfen, daß die Verbindung einer umfassenden Kenntnis des Lebens, einer gehaltvollen und fortschrittlichen Idee mit einer vollendeten künstlerischen Form in den Werken der Künstler des Wortes unumgänglich ist." 2 Zu einer widersinnigen, das einfachste Gesetz der formalen Logik mißachtenden Gedankenkonstruktion gelangte Mehnert, als er, wie viele westliche Literaturkritiker, den sozialistischen Realismus als „Stil" bezeichnete. Sich auf die Zeit nach 1934 beziehend, schreibt er: „Nur ein einziger Kunststil blieb zugelassen; jeder Versuch, sich eines anderen zu bedienen, wurde diffamiert. (,Der sozialistische Realismus ist die einzige Methode unserer Kunst. Jede andere Methode ist ein Zurückweichen vor der bourgeoisen Ideologie')." 3 Mehnert schreibt „Kunststil" und zitiert „Methode", ein wirklich „schlagender Beweis". Daß in der sowjetischen Fachliteratur ständig von verschiedenen Stilen, von nationalen oder persönlichen Stilen gesprochen wird, verschweigt er natürlich. Das Prinzip der Parteilichkeit ist bei Mehnert ebenfalls Gegenstand erbitterter Angriffe. Die Parteilichkeit ist für ihn etwas Aufgezwungenes, von einigen wenigen Erdachtes, ja die Einseitigkeit schlechthin („ ,Partijnost'... Parteilichkeit, Parteinahme, also Einseitigkeit") 4 . Zur Diffamierung dieses Prinzips fälscht er mehr als ein Zitat. In der „JlHTepaTypHaH ra3eTa" vom 17. VIII. 1954 z. B. ergriff in einer Diskussion sowjetischer Literaturwissenschaftler V. Ermilov das Wort zum Problem der Aufrichtigkeit und sagt u. a. „Wenn wir die Frage auf die Ebene der subjektiven Aufrichtigkeit übertragen, so kann jede beliebige Verzerrung der Wirk1

CMenee pa3BepTtmaTb KpHTHKy B TBopqecKHX opraHH3anHHX (In den Künstlerverbänden noch kühner die Kritik entfalten), in: IIpaBAa vom 6. I. 1954. — In russischer Sprache lautet der Satz: „Bce «eno BOENHTAHHH HYJKHO NOCTABHTB TaKHM 0Öpa30M, HTO6H KaHmuit TBOpneCKHÖ paÖOTHHK c BBICOKHM HyBCTBOM OTB6TCTB6HHOCTH OTHOCHJICH K CBOeMy T p y f l y ,

ero T B o p ^ e c T B a ..." (Hervorhebung von mir — A. H.). A. CypKOB, Ilofl SHaMeHeM coijHajmcTHHecKoro peanHaiua HäBCTpeiy BTopoMy Bcecoio3HOMy CT>e3ny nncaTeJiefi (A. Surkov, Unter dem Banner des sozialistischen Realismus dem II. Schriftstellerkongreß entgegen), in: IIpaBAa vom 25. V. 1954. — Der Satz lautet im Original: „... cJie«yeTHaM BO Becb pocT noCTaBHTb Bonpoc o HeoßxoAHMoeraconeTaHHH B npOH3BeReHHHX XyAOJKHHKOB CJIOBa ÖOraTOrO 3HaHHH JKH3HH, TJiyßOKOit H nepeflOBOÜ iißeH c coBepmeHHOft xy^OHtecTBetmofi cfiopMofl" (Hervorhebung von mir — A. H.). K. M e h n e r t , An Moskaus literarischer Front. I., a. a. O., S. 344. ders., Der Sowjetmensch, S. 436.

HTO6H n o B H m a n c H H A e i i H O - x y R O H t e c T B e H H H ü y p o B e H b 2

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lichkeit aufrichtig sein. Wenn wir diesen Weg gehen werden, so wird das unvermeidlich ein Verstoß sowohl gegen die Parteilichkeit als auch gegen die Forderungen der wahrheitsgemäßen Darstellung der Wirklichkeit sein I n Mehnerts Übersetzimg stimmt der erste Satz im wesentlichen. Der zweite lautet: „Wenn wir diesen Weg gehen, so würde das unvermeidlich auch gegen die Einhaltung der Generallinie (partijnostj) in der Literatur führen." 2 Nichts von der wahrheitsgemäßen Darstellung der Wirklichkeit, kein „sowohl als auch", nur die „Einhaltung der Generallinie" ist Mehnert wichtig. Eine ähnliche Fälschung erlaubt sich Mehnert bei einem Zitat aus der „JlHTepaTypHaH ra3eTa" vom 1. VII. 19543. An anderer Stelle verwendet er allerdings auch den Terminus Parteilichkeit 4 . Mehnert scheut nicht davor zurück, anerkannten Schriftstellern antisowjetische Äußerungen zu unterstellen. So behauptet er, Erenburg bezeichne in seiner Abhandlung „Über die Arbeit des Schriftstellers" die Sowjetliteratur als „kontrollierte Literatur" 5 , während dieser weder wörtlich noch sinngemäß etwas Derartiges darin verlauten läßt. Ähnlich verfährt Mehnert mit V. Pomerancevs Artikel „Über die Aufrichtigkeit in der Literatur", indem er Pomerancev die sowjetischen Literaturkritiker mit Ausdrücken wie „berufsmäßige Verleumder und Detektive" verunglimpfen läßt. I n Wirklichkeit spricht Pomerancev weder von „KjieBeTHHKH" noch v o n „CHIUHKH" 6 .

Eine außerordentlich bezeichnende Fälschung erlaubt sich Mehnert beim Zitieren eines Absatzes aus der Einschätzung von V. Panovas Roman „Jahreszeiten" durch den sowjetischen Kritiker Gromov. Mehnert läßt ihm unangenehme Stellen einfach aus, ohne durch Punkte zu kennzeichnen, daß etwas fehlt, wie es dieser 1

3a BHCOKyro Hj;eltHOCTb Hanieit JiHTepaTypti! (Für einen hohen Ideengehalt unserer Literatur!), in: JlHTepaTypHaH ra3eTa vom 17. VIII. 1954. — Im Original lautet der Text: „ECJIH MBI nepeHeceM Bonpoc B IUIOCKOCTB cyöteKTHBHOü HCKpeHHOCTH, TO BEFFB H jnoßoe HCKAATEHHE fleiicTBHTejibHocTH MOIKCT 6HTB HCKPEHHHM. ECJIH MBI noftfleM no 9T0My nyra, TO 9 T 0 HeH3ÖejKH0 HBHTCH BHCTyllJIGHHCM H npOTHB n&pTHÜHOCTH H npOTHB TpeÖOBaHHÄ n p a B Ä H B O r O H 3 0 ß p a > K e H H H AeÜCTBHTejIbHOCTH . . . "

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K. M e h n e r t , An Moskaus literarischer Front. I., a. a. 0., S. 352. vgl. ebd., S. 349. Mehnert schreibt: „Der Aufruf zur Entfaltung einer freien vorbereitenden Diskussion bedeutet natürlich nicht, daß man denjenigen Sprechmöglichkeiten gibt, die die ideologischen Grundlagen der Sowjetliteratur bestreiten und die sich weigern, die Treue zur Generallinie (partijnostj) als Prüfstein der Literatur anzusehen..." Das Original lautet jedoch in deutscher Übersetzung: „Der Aufruf zur Entfaltung einer freien vorbereitenden Diskussion bedeutet natürlich nicht, daß man denen das Wort erteilen soll, die die ideologischen Grundlagen der Sowjetliteratur, das Kriterium der Parteilichkeit der Literatur anfechten ..." d e r s . , Der Sowjetmensch, S. 436. d e r s . , An Moskaus literarischer Front. I., a. a. O., S. 347. — Zum Vergleich mit dem Original: H. 9 p e H 6 y p r , O pa60T0 micaTejm (I. Erenburg, Über die Arbeit des Schriftstellers), in: 3 H a M H , 1 9 5 3 , Nr. 1 0 , S. 1 6 0 - 1 8 3 . vgl. K. M e h n e r t , An Moskaus literarischer Front. I., a. a. O., S. 348. — Zum Vergleich mit dem Original: B. IIoMepaHijeB, 0 6 HCKpeHHOCTH B jnrrepaType (V. Pomerancev, Über die Aufrichtigkeit in der Literatur), in: HOBHÜ MHp, 1953, Nr. 12, S. 218—245.

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„Wissenschaftler" ja oft handhabt. Gromov soll also geschrieben haben: „Die Menschen verlieben sich und heiraten; wenn sie nicht miteinander auskommen, trennen sie sich wieder; Kinder werden geboren, die man erziehen muß, — (hier läßt Mehnert aus: ,und aus dem Problem der Erziehung wachsen eine ganze Reihe Konflikte', und setzt fort:) — junge Burschen und Mädchen beenden die Mittelschule oder sie besitzen nicht die materiellen Mittel, dies zu tun; sie gehen auf die Hochschule oder zur Arbeit, sie verlassen die Hochschule, die Arbeit; die Leute feiern Geburtstag und Neujahr, — (nun unterschlägt Mehnert: ,sie fahren auf Dienstreise und in Erholungsheime' — das paßt ihm offensichtlich ganz und gar nicht ins Konzept, und er schreibt weiter:) — sie denken an eine Aufbesserung des Lohns und an eine Vergrößerung des Wohnraumes; — (an dieser Stelle erfindet Mehnert einen Satz, um ihm unangenehme Wahrheiten nicht aussprechen zu müssen:) — die Leute amüsieren sich, — (in Wirklichkeit steht da: ,die Menschen feiern den Einzug in die neue Wohnung und den Ersten Mai, übersiedeln in Wohnheime' — dann, nach dem erfundenen Satz, schließt Mehnert richtig ab:) — erwarten ein Kind und begleiten die ihnen Nahestehenden zum Friedhof." 1 Den bisherigen Höhepunkt bei der Fälschung von Zitaten erreichte Mehnert zweifellos bei der Wiedergabe einer Szene aus Simonovs Roman „Tage und Nächte". Im Verlauf eines Gesprächs zwischen Vanin und Saburov bemerkte Saburov bei Vanin eine gedrückte Stimmung, die in jenen schweren Tagen in Stalingrad wohl begreiflich war, aber angesichts der faschistischen Gefahr den Kampfgeist lähmen konnte. Saburov sagt also zu Vanin: „Du bist scheinbar in Pessimismus verfallen." (Vanin:) „Ein wenig. Wenn ich auf diese zerstörte Stadt sehe, blutet mir das Herz. Oder darf das nicht sein?" (Saburov:) „Nein, das darf nicht sein." 2 Mehnert hat das Gespräch folgendermaßen übersetzt: S: „Sie scheinen dem Pessimismus zu erliegen." V: „Ein wenig. Aber was soll man machen? Ist es etwa gegen die Vorschriften?" S: „Ja, es ist gegen die Vorschriften." 3 Sicher will Mehnert glauben machen, daß es in der Sowjetunion irgendwelche Vorschriften gebe, die den Pessimismus verbieten. Allein dieses Beispiel genügte, um die Methoden des vielgepriesenen Ostforschers hinlänglich zu charakterisieren. Wie wir sehen, versucht Mehnert, mit Übertreibungen und Zitatfälschungen das Schreckgespenst eines „totalitären" Staates zu beschwören. Wenn er in diesem Bemühen auf Literatur stößt, die sich absolut nicht mißdeuten und fälschen läßt, 1

K. M e h n e r t , Streit um Wera Panowa, in: Osteuropa, 4. Jg., 1954, Nr. 4, S. 302. — Mehnerts Zitat wurde berichtigt auf der Grundlage des Artikels von V. Koöetov, der Gromov wörtlich zitiert: B. KoneTOB, KaKHe 3TO BpeMeHa? (V. Koöetov, Was sind das für Zeiten?), in: IIpaBfl;a vom 27. V. 1954. — Die von Mehnert weggelassenen bzw. gefälschten Stellen lauten russisch: „... H H3 npoßjieMti BoenHTaHHH BtipacTaeT qejibiti pnjj KOJIJIH3H8..." und „...e3,HHT B KOMaHAHpOBKH H B ROMa OTfliJXa ..."; „JlHDAH n p a 3 Ä H y i 0 T HOBOcejn>e h j;eHh ü e p B o r o Man, BceronoTCH B oßmejKHTHH . . . "

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K. CHMOHOB, /JHH H HOHH (K. Simonov, Tage und Nächte), Moskau 1946, S. 156. — Im Original lautet das Gespräch: „TH no-MoeMy, B neccHMH3M yflapiiJicH." „ H e M H o r o . CMOTpiO H H a 3TOT ÖHBIIIHÄ TOpOfl, H Hyilia ßOJIHT. A HTO, HejIB3H?" ,,HejIb3H". K. M e h n e r t , Der Sowjetautor und sein Held, in: Osteuropa, 1. Jg., 1951, Nr. 1, S. 28.

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— und das will bei einem Mann wie Mehnert etwas heißen, wird er — wie weiland der Fuchs am Rebenstock — sarkastisch und beginnt diese Literatur zu schmähen. Hatte er eben noch A. Cakovskijs Roman „Es war in Leningrad" in den Himmel gehoben, so verdammt er dessen Buch „Bei uns ist schon morgen" mit der Bemerkung, das Werk sei „... ein Fischkonservenkurs in Romanform"1. N. Ostrovskijs „Wie der Stahl gehärtet wurde" ist natürlich nur „das Paradestück sowjetischer Literaturpropaganda" 2, denn wenn er sich damit beschäftigen wollte, müßte er ja eingestehen, daß es doch neue Menschen in der Sowjetunion gibt, und der Bundesbürger könnte womöglich noch auf den Gedanken kommen, den Roman lesen zu wollen. Das muß auf jeden Fall verhindert werden. Um ihm den Geschmack an der Sowjetliteratur — außer den immerhin drei bis vier Werken, die Mehnert empfiehlt — von vornherein zu verderben, stellt er dem westdeutschen Leser die Sowjetliteratur vor als „... trübe Scholastik der Literatur nach dem parteiamtlichen Kochbuch, die man uns fast ein Vierteljahrhundert lang als Erzeugnis sowjetischen Geisteslebens vorgeführt hatte" 3. Ein Vierteljahrhundert — das wäre — Mehnert rechnet ab 1953 zurück — die gesamte Sowjetliteratur seit 1928: Gor'kijs „Klim Samgin", Solochovs „Der stille Don" und „Neuland unterm Pflug", Fedins „Frühe Freuden" und „Ein ungewöhnlicher Sommer", Erenburgs „Der Fall von Paris" und „Sturm", Tvardovskijs „Vasilij Terkin", Fadeevs „Junge Garde" — alles „trübe Scholastik". Mehnert geht sogar noch weiter, wenn er behauptet: „Was der Kreml heute von seinen Schriftstellern fordert, ist im Grunde nichts anderes als eine neue Courths-Mahler-Literatur.. ."4 So etwas darf Mehnert in Westdeutschland in 66000 Exemplaren feilbieten und wird obendrein noch von der großbürgerlichen Presse gelobt, daß er damit „... fraglos den wertvollsten Beitrag zum Verständnis der sowjetischen Bevölkerung überhaupt geliefert..." habe, wie es in der „Frankfurter Allgemeinen"5 hieß. Der „Sowjetologe" Mehnert charakterisiert sich schon durch seine Terminologie, um die ihn sogar die Westberliner Boulevard-Presse beneiden könnte. Nach ihm gibt es in der Sowjetunion einen „Kultura-Kurs"6, „Parteitalmudisten"7, „Hauptinquisitoren"8, die die „Parteigeißel" schwingen9, „RAPP-Häuptlinge" 10 , die für die Darstellung von „amtlichen Idealtypen" 11 „parteiamtliche Lorbeeren" ver-

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ders., Der Fall Tschakowskij, in: Osteuropa, 2. Jg., 1952, Nr. 1, S. 28. ders., Moskauer Theatersaison 1959, in: Osteuropa, 9. Jg., 1959, Nr. 7/8, S. 453. ders., Der Sowjetmensch, S. 239. ebd., S. 253. H. P ö r z g e n , Den Russen ins Herz zu schauen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5. XII. 1959. K. M e h n e r t , Sowjetbühne und Oberschicht, in: Osteuropa, 6. Jg., 1956, Nr. 1, S. 12. ders., Der Sowjetmensch, S. 258. ders., An Moskaus literarischer Front. I., a. a. O., S. 349. ebd. ebd. K. M e h n e r t , Moskauer Theatersaison 1959. (II.), in: Osteuropa, 9. Jg., 1959, Nr. 9, S. 545.

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teilen 1 .1. Erenburg ist „der treue Knecht des Kreml" 2 und A. Fadeev ein „linientreuer Kremlinterpret"3. V. Panova „erfüllt ihr ideologisches Soll"4 und „deckt sich" damit „ideologisch ab"5, denn wenn die Partei die „ideologische Trommel rührt"6 und die „Zügel straff anzieht"7, kann man leicht durch ein „Strafgericht"8 „abgeurteilt" werden9. Wehe dann jenen Schriftstellern, deren Helden „unideologisch" sind 10 — sie bekommen kurzerhand „eins auf den Hut" 11 und müssen wieder „sowjetische Gebrauchsprosa" liefern12. — Das ist leider kein Scherz, sondern ein Konzentrat Mehnertscher Termini und Gedanken. Wie man sieht, sind die Anforderungen, die man an die Sprache eines ordentlichen Mitgliedes der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz stellt, nicht sonderlich hoch. Zusammenfassend können wir über Mehnerts Literaturbetrachtungen sagen, daß sie nur Mittel zum Zweck sind und niedrigsten antikommunistischen Zielen dienen. Seine politischen Absichten formuliert Mehnert in dem Buch „Der Sowjetmensch" noch deutlicher als in den genannten Zeitschriftenaufsätzen — allerdings nicht nur im Zusammenhang mit der Literatur. Um ihn ganz kennenzulernen, müssen deshalb noch einige Worte speziell zum „Sowjetmenschen" gesagt werden. Das, was Mehnert auf über 500 Seiten als Quintessenz aus zwölf bzw. dreizehn Reisen in die UdSSR präsentiert, ist zwar ein wohlgegliedertes, aber trotzdem nur ein Sammelsurium aller jener Argumente und Diffamierungen, die gegen die Sowjetunion seit ihrem Bestehen vorgebracht wurden. Daß er sich mit den „Sowjetmenschen" an sich beschäftigt, dient ihm nur als Vorwand. Das Buch ist in leichtem Plauderton verfaßt und einem breiten Leserpublikum zugedacht. Durch die vielen eingestreuten „Erlebnisberichte" und mitunter spannend erzählten Episoden vermeint Mehnert seinem Buch höchste Glaubwürdigkeit verleihen zu können. Wenn man aber weiß, wie willkürlich er selbst jederzeit kontrollierbare Zitate fälscht und sich nicht scheut, Quellen anzugeben, die etwas ganz anderes beinhalten als er behauptet hatte, dann kann man diese „Erlebnisse", deren Verlauf niemand zu überprüfen vermag, nicht als Tatsachen anerkennen. Da das aber in Westdeutschland kaum jemandem bekannt sein dürfte, wird die Massenwirksamkeit des Buches „Der Sowjetmensch", eines raffinierten Instrumentes der ideologischen Kriegs1

3 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12

ders., Ein Anti-Dudinzew-Roman. Die literarische Gegenoffensive des Kreml, in: Christ und Welt, 12. Jg., 1959, Nr. 1, S. 18. ders., An Moskaus literarischer Front. I., a. a. O., S. 347. ebd., S. 345. K. M e h n e r t , Streit um Wera Panowa, in: Osteuropa, 4. Jg., 1954, Nr. 4, S. 302. ebd. K. M e h n e r t , Scharonow oder der neue Mensch, in: Osteuropa, 1. Jg., 1951, Nr. 2, S. 106. ders., An Moskaus literarischer Front. I., a. a. 0., S. 345. ebd., S. 350. K. M e h n e r t , Streit um Wera Panowa, a. a. O., S. 302. ders., Der Individualist und das Sowjetsystem, in: Osteuropa, 7. Jg., 1957, Nr. 6, S. 405. ders., An Moskaus literarischer Front. I., a. a. 0., S. 349. ders., Der Fall Tschakowskij, in: Osteuropa, 2. Jg., 1952, Nr. 1, S. 27.

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Vorbereitung, durch nichts geschmälert. Zur Charakteristik des Inhalts seien aus der Unzahl von Schauermärchen einige Beispiele erwähnt. U m die „Unterdrückung" in der Sowjetunion möglichst wirkungsvoll zu illustrieren, schreibt Mehnert: „Man (d. h. die Partei und die Regierung — A. H.) rechnet damit, die Menschen abrichten zu können, wie es der große Physiologe Iwan Pawlow mit seinen Hunden tat, deren Speichel zu fließen begann, wenn eine bestimmte Glocke geläutet wurde, weil er sie daran gewöhnt hatte, daß dies nur zur Zeit der Fütterung geschah." 1 Da aber diese Darstellung offensichtlich die wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Erfolge der Sowjetunion, die nur von allseitig gebildeten, wirklich frei und schöpferisch denkenden Menschen erreicht werden konnten, nicht erklären hilft, ersinnt Mehnert eine ihm genehme Motivierung : das Aufbautempo hätte seine Ursachen in der „Peitsche des Plans und der Norm" 2 , nicht im Bewußtsein der Menschen. Auch erziehe die Sowjetmacht den Menschen den „Sinn f ü r Zeit" an 3 . „Schneller fahren, schneller fliegen, schneller schießen — überall geht es nur um den Begriff der Zeit." 4 „Schneller schießen" — wenn der Sowjetbürger schneller schießen lernt, bedeutet er eine Gefahr für das Abendland, also muß dieses noch schneller schießen. So sieht die Schlußfolgerung zu dieser augenscheinlich leicht hingeworfenen Floskel aus. Dem Ausländer fällt in der Sowjetunion u. a. die Vielzahl der Fernsehantennen auf, woraus er logischerweise schließen kann, daß der Wohlstand im Land des Sozialismus ganz beträchtlich wächst. Man müßte annehmen, daß Mehnert diese auch vielen Westeuropäern bekannte Tatsache nicht mehr leugnen oder diffamieren könnte. Aber weit gefehlt: in der Sowjetunion wurden die Fernsehgeräte „absichtlich billig" verkauft, damit — so erklärt Mehnert — der Staat über den Bildschirm mehr Propaganda machen kann 5 . Am deutlichsten äußert sich Mehnert am Schluß seines Buches „Der Sowjetmensch". W a r er bis dahin bemüht, zumindest noch den Anschein der Objektivität zu wahren, ja sich sogar als Freund der sowjetischen Menschen zu geben, so läßt er nun die Maske fallen. Der Schlußteil müßte auch einen politisch wenig gebildeten Leser nachdenklich stimmen, denn hier spricht nicht mehr der angebliche abendländische Biedermann, sondern der Handlanger der Ultras, der Faschist Mehnert. Auf die am Anfang des Buches gestellte Frage, ob der Sowjetmensch „mehr sowjetisch" oder „mehr Mensch" sei, antwortet Mehnert: „mehr Mensch" 6 . Aus diesem nicht gerade geistreichen Frage- und Antwortspiel kann man jedenfalls entnehmen, daß der sowjetische Mensch sich vom westeuropäischen nicht wesentlich unterscheide. Ginge es Mehnert tatsächlich nur darum, könnte er sein Buch hier höchst zufrieden abschließen. Der westdeutsche Leser müßte aus einem solchen Schluß notwendig folgern, daß in der Sowjetunion einfache Menschen wohnen wie 1 2 3 4 5 6

ders., Der Sowjetmensch, S. 388. ebd., S. 330. ebd., S. 58. ebd., S. 59. ebd., S. 170. ebd., S. 448.

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überall auf der Welt und es deshalb zweifelhaft sei, ob die Bundesregierung mit ihren ständigen Hinweisen auf die „kommunistische Gefahr" aus dem Osten, womit sie die Atomaufrüstung begründet, im Recht ist. Es liegt jedoch offensichtlich nicht im Interesse Mehnerts, daß der Leser mit solchen Gedanken die Lektüre des Buches beendet. Deshalb bricht Mehnert an dieser Stelle noch nicht ab, sondern bemüht sich sichtlich, den Eindruck von den friedfertigen Menschen zu verwischen. Er t u t das sehr vorsichtig. Schon mitten im Buch hatte er anklingen lassen, daß der Sowjetmensch ganz und gar nicht friedliebend sei: „Das schon in früheren Jahrhunderten im russischen Volk vorhandene imperiale Gefühl, sein Expansionsbedürfnis und Machtstreben kommt nun dem Bolschewismus zugute." 1 Die ganze Ausdehnung des sozialistischen Lagers resultiere aus diesem „Machtstreben" des russischen Volkes. Und nun, am Schluß des Buches nährt Mehnert weiter die Angst vor der „bolschewistischen Gefahr": „Der Gehorsam der Bevölkerung gegenüber der Führung, die Bereitschaft, sich mit deren Entschlüssen abzufinden, ist — bei aller offenkundigen Friedensliebe des Volkes — heute und bis auf weiteres weit stärker als die Abneigung gegen den Krieg." 2 „Der Messianismus steckt nun einmal den Russen im Blut." 3 Deshalb könne die Sowjetregierung dieses Volk für das „letzte Gefecht" gewinnen 4 . I m ganzen Buch hatte Mehnert versucht, sich als Freund der Russen aufzuspielen und das Volk ja nicht mit der Regierung zu identifizieren. Die zitierten Stellen beweisen aber das Gegenteil; die Sowjetmenschen sind also doch mit ihrem Staat verbunden. Mehnert warnt praktisch vor ihnen und bezeichnet sie verächtlich als „Untertanen des Kreml" 5 . Der Zweck dieser Warnung wie des ganzen Buches ist klar: sie soll die Kriegspsychose schüren. Als Ausweg empfiehlt er „das Gleichgewicht des Schreckens" 6 — also die hemmungslose Atomaufrüstung. Danach klingen die salbungsvollen Abschlußworte von den „Werten des Geistes und der Seele" 7 nur mehr wie eine lächerliche Farce. Dem düsteren Bild, das Mehnert von der Sowjetunion gezeichnet hat, fehlten noch die tiefsten Schatten, wenn wir seine vielen Parallelen zwischen Faschismus und Sowjetmacht unerwähnt ließen. Bekanntlich ist diese Gleichsetzung ein beliebtes Mittel der imperialistischen Propaganda, die Sowjetunion zu diffamieren, indem die antifaschistische Stimmung der Volksmassen mißbraucht wird. Es beginnt schon bei Mehnerts Terminologie. Die Bezeichnung „Parteisekretär eines Rayons" erläutert er z. B. dem bundesdeutschen Leser mit dem diskreditierten Nazibegriff „Gauleiter" 8 . Weil er in irgendeiner Form die Überlegenheit der sowje1

ebd., S. 332. ebd., S. 451. 3 ebd. 4 vgl. ebd. s ebd., S. 471. « ebd., S. 460. 7 ebd., S. 471. 8 K. M e h n e r t , Sowjetbühne und Oberschicht, in: Osteuropa, 6. Jg., 1956, Nr. 1, S. 20. 2

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tischen Raketentechnik zugeben muß, wählt er einen Vergleich mit dem Faschismus: „Unter Hitler und in der Sowjetunion hat die Technik keineswegs einen Niedergang erlebt; V-Waffen und Sputniks haben das Gegenteil bewiesen."1 Diese Parallelen werden ausgerechnet von einem Mehnert gezogen, der in seinem Buch in faschistischer Manier Revanchegedanken äußert, wobei er vergeblich versucht, sie mit Friedensliebe zu tarnen: „Hitler war es, der diesen Krieg begann. Das haben die Russen nicht vergessen; auch wir sollten das nicht — so wenig, wie das Entsetzliche, das dann beim Einbruch der Roten Armee auf deutschem Boden Millionen Unschuldiger erlitten . . . " 2 — und dann folgt ein ganzer Absatz über die „Greueltaten" der Sieger. Diese demagogische Gleichsetzung, dieses bewußte Verschweigen der ungeheuerlichen Verbrechen der deutschen faschistischen Truppen in der Sowjetunion muß notwendigerweise Haß erzeugen. In drohend-triumphierendem Ton erinnert Mehnert daran, daß die Deutschen zweimal in Rußland standen, einmal bis an der Wolga. Und indem er die Leistungen der Sowjetarmee schmälert, hilft er, den Nimbus der Unbesiegbarkeit des deutschen Militarismus wieder herzustellen: „Nur mit äußerster Anstrengung, mit einer . . . technischen Hilfe Amerikas von gigantischen Ausmaßen und dank der Entlastung durch angloamerikanische Offensiven gelang es, die Deutschen schließlich doch noch zu besiegen. Es ist unser Schicksal, überschätzt zu werden, auch von den Bewohnern der Sowjetunion. Sie sagen sich: So war es, als die Deutschen allein kämpften und die Amerikaner auf unserer Seite standen; jetzt aber sind die Deutschen und die Amerikaner Bundesgenossen geworden. Man fürchtet das amerikanische Kriegspotential, man hat noch den Schock vor den Deutschen in den Knochen ... Die Kombination der amerikanischen Technik und des deutschen Soldatentums ist für den Russen ein Alpdruck."3 Um den Eindruck dieser aggressiven und unverschämten Äußerungen etwas abzuschwächen, verfällt Mehnert gleich darauf in ein heuchlerisches Klagelied: „Wir wissen, wie schwach wir sind, wir wissen, daß unsere Mitgliedschaft in der NATO und unser Bündnis mit den Vereinigten Staaten im Schutzbündnis des Schwachen, des in zwei Weltkriegen Geschlagenen, ihren Ursprung hat, nicht in der Aggressivität des Übermütigen und Starken; aber die Russen wissen das nicht." 4 Ich habe Mehnert deshalb so ausführlich zitiert, weil er hier Argumente der westdeutschen Ultras in knapper Form darlegt und sich so eindeutig damit identifiziert. Es wird uns in diesem Zusammenhang nicht verwundern, daß der Name Mehnerts unter den Autoren des berüchtigten Handbuches für die Bundeswehr „Schicksalsfragen der Gegenwart" zu finden ist 5 . Wiederum sieht man Mehnert 1 2 3 4 s

ders., Der Sowjetmensch, S. 340f. ebd., S. 461. ebd., S. 4 6 1 - 4 6 2 . ebd., S. 462. vgl. Schicksalsfragen der Gegenwart. Handbuch politisch-historischer Bildung. Hrsg. vom Bundesministerium für Verteidigung. Innere Führung, Bd. I—V, Tübingen 1957 —1960; in Bd. II, S. 354—375: K. M e h n e r t , D;e Sowjetunion — Ideologie und Geschichtsbild.

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in einem von der Bonner Regierung bevorzugten Kreis von sogenannten Wissenschaftlern, die sich dafür einsetzen, die Angehörigen der westdeutschen NATOArmee erneut für die Kriegsziele des deutschen Imperialismus zu begeistern. Und kein geringerer als der ehemalige Kriegsminister Strauß hat ihnen im Vorwort zum Handbuch den Segen der Bundesregierung erteilt. Wenn man nun noch bedenkt, daß Mehnert zum Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz avanciert ist, wird einmal mehr klar, welche „wissenschaftlichen" Arbeiten in der Bundesrepublik besonders geschätzt werden.

Nach alledem wird verständlich, daß von antikommunistischer Seite ausgerechnet Prof. Mehnert den westdeutschen Slawisten als Vorbild empfohlen wird. In diesem Sinne sprach sich in einem Grundsatzartikel über Lage und Aufgaben der Slawistik in Westdeutschland der Weißemigrant D. Tschizewskij aus, dessen Worten ohne Zweifel einiges Gewicht beizumessen ist: „Klaus Mehnert vertrat schon lange den Standpunkt, auf dem wir jetzt alle stehen und stehen sollen"1, den Standpunkt also, auf Gegensätze in und zwischen den sozialistischen Ländern zu spekulieren und unter der Maske der Freundschaft und kulturellen Zusammenarbeit ideologische Diversion zu betreiben. Man kann nur hoffen, daß die Slawisten der Bundesrepublik der Forderung Prof. Tschizewskijs entgegentreten und dem Beispiel eines Mehnert nicht folgen. Denn wie im vorliegenden Aufsatz zur Genüge bewiesen wurde, ist Mehnerts Wirken Inbegriff des Antisowjetismus und Antihumanismus. Prof. Mehnert hat ohnehin schon in der westdeutschen „Sowjetologie" Schüler und Nachahmer gefunden. Da er sich in den letzten Jahren mehr und mehr von der Interpretation der Sowjetliteratur zurückzog und anderen Aufgaben in der Ostforschung zuwandte, übernahm es Barbara Bode, an seiner Stelle die Literaturberichte in der Zeitschrift „Osteuropa" zu verfassen. Seit 1959 desinformiert sie die Leser mit ihren periodischen "Übersichten über die sowjetische Gegenwartsliteratur. Geist und Inhalt ihrer Aufsätze zeugen davon, daß sie bemüht ist, in den Spuren ihres Meisters zu wandeln. Wenn man in ihren Artikeln liest, daß ein großer Teil der Sowjetliteratur „ideologisch durchtränkt" und voller „politischer Rechtgläubigkeit" sei 2 , fühlt man sich an die Terminologie Mehnerts erinnert. Ähnliche Reminiszensen erweckt der Begriff „Oberschicht"8, der ebenfalls zu B. Bodes Lieblingsworten gehört. In der Art, unbewiesene Behauptungen aufzustellen, kommt sie Mehnert durchaus gleich. So etwa schreibt sie aus unerfindlichen Gründen, K. Fedin verfälsche in seinem neuesten Roman „Die Flamme" 1

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D. T s c h i i e w s k i j , Die Lage und die Aufgaben der Slavistik in der Bundesrepublik Deutschland, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen, 1963, Nr. 1, S. 39 f. B. B o d e , Sowjetliteratur 1959, in: Osteuropa, 9. Jg., 1959, Nr. 12, S. 813. ebd., S. 816 und an vielen anderen Stellen.

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das historische Geschehen 1 . Wie Mehnert übertreibt B. Bode Mängel und Schwächen, die in den Werken der sozialistischen Gegenwartsliteratur angeprangert werden und verabsolutiert sie bedenkenlos. Bei der Besprechung von E. Mal'cevs Roman „Tritt ein in jedes Haus" 2 erklärt sie beispielsweise alle Parteifunktionäre des darin geschilderten Bezirks zu „feigen und unehrlichen Karrieristen und Bürokraten" 3 , obwohl in der T a t nur zwei von ihnen vom Autor in ähnlichem Sinne gezeichnet wurden. Auch der Versuch, den Schriftsteller V. Tendrjakov in Gegensatz zur sowjetischen Gesellschaft zu stellen 4 , läßt ohne weiteres Parallelen zu Mehnerts Hypothesen um V. Panova zu 5 . Ohne daß man hier auf die Fälschungsmethoden B. Bodes noch näher eingehen müßte 8 , wird eines offensichtlich: es ist eines deutschenSlawistenunwürdig, zum Epigonen des Sowjetologen" Prof. Mehnert herabzusinken. Einem solchen Verfall der Slawistik gilt es gerade von westdeutscher Seite selbst möglichst energisch den Kampf anzusagen. Mehnert h a t nie aufgehört, ergebener Diener des deutschen Militarismus und Imperialismus zu sein. E r verkörpert jenes „deutsche Wesen", an dem schon zweimal die Welt genesen sollte und von dem nach 1945 endlich ein Teil Deutschlands selbst genas. Durch die Existenz dieses, des sozialistischen Teils, wird der Aktionsradius Mehnerts und der anderen Ostforscher empfindlich eingeschränkt. Das Programm der K P d S U wie auch das Programm der SED lassen keinen Zweifel daran, daß die Aussichten der Verleumder immer schlechter werden, daß es ihnen immer mehr an Stoff mangeln wird, die Spalten ihrer Zeitschriften und Bücher m i t unwahren Darstellungen zu füllen. Schon heute gelingt es Mehnert und seinesgleichen nur noch mit Hilfe von Lügen, den Menschen in Westdeutschland den Blick auf eine Zukunft im Sozialismus zu verwehren. Die Zeit ist nicht mehr fern, da ihnen auch das nichts mehr nützen wird, denn der Sieg der Wahrheit läßt sich nicht aufhalten. 1

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B . B o d e , Sowjetliteratur 1961/62, in: Osteuropa, 12. Jg., 1962, Nr. 11/12, S. 792. — Vgl. K. F e d i n , Die Flamme, Berlin 1963. E. MajibijeB, Boörh b keukhmü «om (E. Mal'cev, Tritt ein in jedes Haus), Moskau 1961. B . B o d e , Sowjetliteratur im Winterhalbjahr 1960/61, in: Osteuropa, 11. Jg., 1961, Nr. 11/12, S. 849. B. Bode, Sowjetliteratur 1961/62 (II.), in: Osteuropa, 13. Jg., 1963, Nr. 1, S. 22—29. K. Mehnert, Streit um Wera Panowa, a. a. O. vgl. darüber E. OpajiKHHa, OajibCH$HKaTopu H3 „OcTeiipona", in: Bonpocti jiHTepa•rypu, 1960, Nr. 7, S. 167 ff.

I . G . NEUPOKOEVA Doktor der philologischen Wissenschaften

Moderne bürgerliche Literaturwissenschaft und reaktionäre Soziologie Das fortschrittsfeindliche Auftreten verschiedener westdeutscher Slawisten und Literaturwissenschaftler steht in engem Zusammenhang mit den gegen die demokratischen Nationalkulturen und gegen die nationale Souveränität der Völker gerichteten politisch-ideologischen Bestrebungen des Imperialismus. Es erscheint uns an dieser Stelle notwendig, näher auf die zwischen der modernen bürgerlichen Literaturwissenschaft und der reaktionären Soziologie bestehende Verbindung einzugehen, auf die bereits E. Weiß am Beispiel Prof. Lettenbauers hingewiesen hat 1 . Die tiefe Krise, die die bürgerliche Soziologie zur Zeit durchlebt, spiegelt sich in der Krise der bürgerlichen Literaturwissenschaft wider. Dort werden Konzeptionen entwickelt, die ideologisch eng mit reaktionären Strömungen in der westlichen Soziologie und Philosophie verbunden sind. Obwohl diese ästhetisch-literarischen Konzeptionen über alle äußeren Attribute wissenschaftlich-philologischer Theorien verfügen, halten sie den Prüfungen durch die Wirklichkeit nicht stand. Weder ihre Prämissen noch ihre Schlußfolgerungen entsprechen den wirklichen Gesetzmäßigkeiten der literarhistorischen Entwicklung; sie werden durch die Entwicklung der Literatur und Kunst unserer Tage in den verschiedensten Ländern der Welt eindeutig widerlegt. Deshalb charakterisiert das Wort „reaktionär" derartige Konzeptionen nicht nur im politischen, sondern auch im engeren wissenschaftlichen Sinne. Obwohl der Zusammenhang zwischen diesen literaturwissenschaftlichen Konzeptionen und der reaktionären Soziologie nicht immer offen zutage tritt, können ihn selbst die bürgerlichen Philologen und Kritiker nicht leugnen. In der literarischen Beilage der „Times" vom 16. August 1957 wurde gesagt, daß der Begriff „tendenziöse" Literatur, ohne den man sich ein Gespräch über die modernen Literaturen der Welt nicht vorstellen könne, unmittelbar mit der Entwicklung der „neuen Wissenschaft, der Soziologie" entstanden sei. Der deutsche bürgerliche Literarhistoriker E . R . Curtius behauptet, die moderne Literaturwissenschaft habe ihre Selbständigkeit eingebüßt und befinde sich im Schlepptau von Philosophie, Soziologie und Psychologie. Um sie als selbständige Wissenschaft wiedererstehen zu lassen, schlägt Curtius vor, zur „rein philologischen" Forschungsmethode zurückzukehren. I

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vgl. den Aufsatz von E. W e i ß im vorl. Band. Wissenschaft

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Der bekannte Literaturwissenschaftler und Kritiker D. Daiches bezeichnet in seinem Buch „Critical Approaches to Literature" 1 die „analytische" Richtung in der anglo-amerikanischen Literaturwissenschaft (T. S. Eliot, A. Richards u. a.) hinsichtlich ihrer Methodologie als die fruchtbringendste. Ihr Hauptverdienst sei es, daß sie die Kunst einzig und allein auf ihre formalen Elemente hin untersucht, ohne irgendwelche philosophischen, historischen oder sozialen Zusammenhänge zu berücksichtigen. Dennoch zeigen die weiteren Ausführungen bei Curtius wie bei Daiches, wie sehr auch sie unter dem Einfluß bestimmter soziologischer Konzeptionen stehen. Besonders eindeutig zeigt sich der Zusammenhang zwischen einigen Konzeptionen der modernen bürgerlichen Literaturwissenschaft und der reaktionären westlichen Philosophie und Soziologie in Arbeiten, die nicht Einzel- und Teilfragen der Literaturgeschichte gewidmet sind, sondern die Erforschung des geschichtlichen Prozesses der Literaturentwicklung zum Inhalt haben. Deutlich tritt dieser Zusammenhang auch in Arbeiten über die Wechselbeziehungen und die Wechselwirkung zwischen den Nationalliteraturen zutage. Am meisten machen heute wohl hauptsächlich drei Konzeptionen der bürgerlichen Literaturwissenschaft von sich reden, die sowohl in speziellen komparativistischen Untersuchungen als auch in Arbeiten über einzelne Nationalliteraturen oder einzelne Schriftsteller vertreten werden: Die europazentristische Interpretation der Geschichte der Weltliteratur; die Theorie von der Eigenentwicklung der Literatur innerhalb isoliert entstehender und vergehender Zivilisationen; die Negierung der sozialhistorischen und nationalen Grundlagen der Kunst und die Propagierung der kosmopolitischen Idee einer „übernationalen" Literatur. Trotz aller Unterschiede und Widersprüche in der Erklärung einzelner Prozesse oder Fakten der Literaturgeschichte haben diese Konzeptionen eine gemeinsame methodologische Grundlage — die idealistische Auffassung von dem sich in der Welt vollziehenden historischen Prozeß, die Negierung objektiver Gesetzmäßigkeiten in der Entwicklung der Gesellschaft und der Kunst. Sie alle leugnen die Möglichkeit aktiven Einwirkens auf den literarischen Prozeß und des bewußten, planmäßigen Aufbaus neuer Nationalkulturen. Wie sind nun diese Theorien von der literarhistorischen Entwicklung — und vor allem von der Geschichte der slawischen Literaturen'— mit der derzeitigen reaktionären Soziologie verknüpft?

Die europazentristische Konzeption einer Geschichte der Weltliteratur, die bereits über eine recht alte Tradition verfügt, tritt gegenwärtig in abgewandelten Formen auf. Früher interessierten sich die Literaturwissenschaftler recht wenig für das, was nicht Europa betraf. Heute, da man die Entwicklung der nichteuropäischen Literaturen und deren Rolle innerhalb der Weltliteratur nicht mehr ignorieren kann, werden die europäischen Literaturen als obligatorisches und nor1

D. D a i c h e s , Critical Approaches to Literature, New York 1956.

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matives Kriterium für alle anderen Literaturen angepriesen. Die enge Verbindung dieser literaturwissenschaftlichen Konzeption mit dem Europazentrismus der bürgerlichen Soziologie zeigt sich gerade in der Periode des wachsenden nationalen Befreiungskampfes, den die Ideologen des Kolonialismus nunmehr als das Ergebnis der „westlichen" Aufklärung hinzustellen suchen. E. Fischer z. B. schreibt in einem seiner Artikel, daß die Europäer selbst „die Ideen des modernen Nationalismus ihren Untertanen in den kolonialen Ländern gebracht" hätten1. Der amerikanische Professor H. Kohn, der noch im Jahre 1942 behauptete, die Mission der USA bestehe darin, die Herrschaft über die Welt zu erringen, erklärt nun, daß der Antikolonialismus „ . . . das Werk der kolonialen Verwaltungsbehörden und das Ergebnis der durch sie verbreiteten Freiheitsideen" sei2. So versucht man, den Zerfall und völligen Zusammenbruch desKolonialsystems als eine friedliche Evolution darzustellen, mit der die „zivilisatorische Mission" der imperialistischen Staaten in den kolonialen und abhängigen Ländern ihren Abschluß finde. Eine charakteristische Besonderheit des modernen Europazentrismus besteht darin, daß er den Begriff „europäische Kultur" auf die „westeuropäische Kultur" reduziert. So werden die slawischen Literaturen aus der „europäischen" Literatur ausgeschlossen; die Entwicklung der westslawischen Literaturen wird aus den jahrhundertealten engen Verbindungen mit der russischen Literatur herausgelöst. Die umfangreiche slawistische Literatur, die in den USA und in Westdeutschland in der letzten Zeit erschienen ist, weist eine gemeinsame, gegen die Länder des sozialistischen Lagers gerichtete Tendenz auf. Diesen Schriften liegt das reaktionäre Bestreben zugrunde, Rolle und Bedeutung der slawischen Literaturen in der Geschichte der Weltliteratur zu schmälern, sie als ein bloßes Randgebiet der europäischen Literatur zu deklarieren oder sie in völliger Abhängigkeit von der „westlichen Zivilisation" zu sehen. Ein typisches Beispiel dafür sind eine Reihe von Äußerungen W. Lednickis, der — wie seine zahlreichen slawistischen Arbeiten beweisen — den Ländern des sozialistischen Lagers in offener, haßerfüllter Feindschaft gegenübersteht. Ausgehend von seiner antikommunistischen Position, entstellt Lednicki das wirkliche Bild von der Entwicklung der russischen Literatur und den engen und vielfältigen polnisch-russischen Literaturbeziehungen. Drei seiner Arbeiten sind hierfür besonders typisch: „Russia, Poland and the West", „Bits of Table Talk on Pushkin, Mickiewicz, Goethe, Turgenev and Sienkiewicz" und der unter seiner Redaktion erschienene Sammelband „Adam Mickiewicz in World Literature"3.

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E. Fischer, Bebellion against the European Man in Nineteenth Century, in: Cahiers d'histoire mondiale, Paris — Neuchatel, vol. 2, 1957, Nr. 2, S. 366. H. K o h n , Some Reflections on Colonialism, in: The Review of Politics, vol. 18, 1956, Nr. 3, S. 260. W. L e d n i c k i , Russia, Poland and the West. Essays in Literatury and Cultural History, London and New York 1954; ders., Bits of Table Talk on Pushkin, Mickiewicz, Goethe, Turgenev and Sienkiewicz, The Hague 1956; Adam Mickiewicz in World Literature.

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Gemeinsames Thema dieser Bücher sind die Beziehungen zwischen der russischen und der polnischen Literatur. Nach Ansicht Lednickis stehen sich russische und polnische Kultur seit jeher einander feindlich gegenüber; sie repräsentieren zwei Typen der Zivilisation: die europäische (gemeint ist die „westeuropäische"), zu der Polen seinem ganzen Wesen nach tendiere, und die östliche, die durch Rußland verkörpert wird. Alles, was in der russischen Geistesgeschichte an wirklich Wertvollem und Bedeutendem vorhanden ist, sei vom Westen entlehnt worden 1 . Die polnische Literatur, insbesondere Mickiewicz, habe auf die russische Literatur zivilisierend eingewirkt. Lednicki verhehlt nicht die politische Tendenz seiner Bücher. Über sein Werk „Russia, Poland and the West" sagt er, daß „die ideologische Betrachtung der Dinge" darin dominiere und daß die Politik gewissermaßen die Grundlage der in diesem Buch untersuchten Probleme bilde 2 . Lednicki behauptet, daß es gegenwärtig kein größeres Problem in der Welt gebe als den Fragenkreis „Rußland und der Westen". Er untersucht dieses Problem vor allem an Hand von Material über die russisch-polnischen Beziehungen. Die geographische Lage, die politische Entwicklung und die kulturellen Traditionen hätten Polen — so meint Lednicki — zu einem Vorposten der „westlichen" Kultur gemacht und ihm die Mission auferlegt, die Ideen der „westlichen" Zivilisation zu bewahren und zu verbreiten. Die politische Tendenz des Sammelwerkes „Adam Mickiewicz in World Literature" äußert sich nicht nur in direkten Ausfällen gegen die sowjetische Wissenschaft, sondern auch in einem nicht weniger beredten Verschweigen. So endet in dem darin abgedruckten Artikel über Mickiewicz in der litauischen Literatur („Mickiewicz in Lithunian Literature") von V. Maciünas (einem ehemaligen Dozenten für litauische Literatur an der Universität Kaunas und jetzigem Bibliothekar der Universität Pennsylvania) die ausführliche Darbietung bibliographischen Materials über die ins Litauische übersetzten Werke Mickiewiczs da, wo man hätte berichten müssen, wie sehr diese Werke gerade in der Sowjetepoche verbreitet und studiert werden. Dabei nehmen die Übersetzungen von Mickiewiczs Werken, die literarhistorischen Arbeiten über ihn und die von litauischen Wissenschaftlern gefundenen neuen Archivmaterialien einen bedeutenden Platz in der sowjetischen Literatur über Mickiewicz ein. Diese Tatsachen passen jedoch nicht in die politische Konzeption des von Lednicki herausgegebenen Sammelbandes. Die sowjetische litauische Kultur gehört offensichtlich schon zum Bereich der „östlichen" Zivilisation und kann offenbar nicht mit dem „westlichen" Mickiewicz in Einklang gebracht werden.

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Ed. by W. L e d n i c k i , Berkeley and Los Angeles 1956. — Ein Gesamtverzeichnis von Lednickis Arbeiten findet sieh in: Studies in Russian and Polish Literature. In Honor of W. Lednicki, 's-Gravenhage 1962, S. l l f f . W. Lednicki wiederholt hier genau das, was bürgerliche Soziologen über die russische Geschichte sagen. Als Beispiel sei auf einen Artikel von B. H. Sumner verwiesen, in dem Bußland eine selbständige geistige Entwicklung abgesprochen wird (B. H. S u m n e r , Russia and Europe, in: Oxford Slavonic Papers, vol. II, 1951, S. lff.). vgl. W. L e d n i c k i , Russia, Poland and the West, a. a. O., S. 408.

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Lednicki, der sein Buch „Bits of Table Talk on Pushkin, Mickiewicz, Goethe, Turgenev and Sienkiewicz" als Skizzen zur vergleichenden Literaturwissensehaft empfiehlt, ignoriert wie die meisten Vertreter der bürgerlichen Komparativistik die national-historische Eigenart der Schriftsteller. Er leugnet auch jene kulturhistorischen und literarischen Beziehungen, die tatsächlich zwischen den Völkern bestanden und die einen mehr oder minder großen Einfluß auf ihre Entwicklung ausgeübt haben. So untersucht er in dem Kapitel über Mickiewicz im „College de France" dessen Vorlesungen über die slawischen Literaturen und bestreitet dabei, daß man von einer Verwandtschaft und Zusammengehörigkeit der slawischen Literaturen sprechen könne. W. Lednicki, W. Weintraub und andere amerikanische Fachgelehrte auf dem Gebiet der slawischen Literaturen ignorieren nicht nur die Arbeiten der Wissenschaftler aus den volksdemokratischen Ländern, sondern versuchen auch, deren wissenschaftlichen Wert zu diskreditieren. Die Bibliographie des Buches von W. Weintraub „The Poetry of Adam Mickiewicz" 1 etwa enthält nicht wenige Ausfälle gegen die neuesten Arbeiten polnischer Wissenschaftler. Es paßt Weintraub gar nicht, daß diese ihre Aufmerksamkeit auf die demokratische Tendenz im Schaffen von Mickiewicz, auf dessen Verbindung mit der fortschrittlichen russischen Literatur richten. Weintraub leugnet die 'engen Beziehungen Mickiewiczs zur russischen Literatur und erhebt dessen Äußerungen über die zaristische Selbstherrschaft zu nationalistischen Verallgemeinerungen, die dem Geist, der aus den Werken des Dichters spricht, zutiefst fremd sind. Auch Lednicki ist bestrebt, Mickiewicz mit der von den Europazentristen propagierten Idee der „kulturellen Einheit Europas" in Verbindung zu setzen. Damit wird das politische Ziel verfolgt, die osteuropäische und vor allem die russische Kultur aus der europäischen Tradition auszuschließen. Lednicki behauptet, gerade diese Idee habe der Zueignung Mickiewiczs „An Lelewel" zugrunde gelegen 2 . In vollem Einklang mit dieser politischen Tendenz stehen auch die in den „Harvard Slavic Studies" veröffentlichten Aufsätze von M. Souckovä über die tschechische Literatur. Die Autorin stellt die tschechische Literatur der slawischen Tradition gegenüber, verzichtet darauf, von ihren volkstümlichen Quellen und ihrem nationalen Charakter zu sprechen und sieht in ihr lediglich eine Nachahmung westlicher Vorbilder 3 . S. Pirkovä-Jakobson denkt sich eine Theorie von der Schwäche der realistischen Tradition in der tschechischen Literatur aus und reduziert die gesamte Entwicklung der tschechischen Kunst nach dem ersten Weltkrieg auf eine Nachahmung der modernistischen Kunst der USA 4 . Das Bestreben Lednickis, Weintraubs, Souckovas und ihrer Gesinnungsgenossen, die Entwicklung der westslawischen 1 2 3

4

W. W e i n t r a u b , The Poetry of Adam Mickiewicz, 's-Gravenhage 1954, S. 285ff. vgl. Comperative Literature, Eugene, Oregon, vol. VIII, 1956, Nr. 4, S. 339—343. M. S o u i k o v ä , Marxist Theory in Czech Literature, in: Harvard Slavic Studies, vol. I, 1953, S. 335ff.; The First Stirrings of Modern Czech Literature, in: ebd., vol. II, 1954, S. 225ff. S. P i r k o v ä - J a k o b s o n , Prague and the Purple Sage, in: ebd., vol. III, 1957, S. 227ff.

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Literaturen der russischen Kultur gegenüberzustellen, stimmt in bedenklicher Weise überein mit der antikommunistischen Tendenz solcher Publikationen wie etwa des in Stuttgart erschienenen erzrevanchistischen Buchs von H. Laeuen „Polnische Tragödie" 1 . Vor allem in Vorbereitimg auf den IV. Internationalen Slawistenkongreß in Moskau und den V. Internationalen Slawistenkongreß in Sofia und auf diesen Kongressen selbst wurden von den Wissenschaftlern der sozialistischen Länder und auch progressiven Slawisten anderer Staaten viele Probleme der historisch bedingten Verwandtschaft der slawischen Literaturen und ihrer viele Jahrhunderte währenden fruchtbaren Beziehungen sowohl untereinander als auch mit den anderen Literaturen der Welt gründlich erforscht. Somit haben wir neue gewichtige Materialien in der Hand, um Fälschungen, die für die europazentristische Konzeption in der westlichen Literaturwissenschaft charakteristisch sind, ad absurdum zu führen. Eine andere Konzeption ist die der sich isoliert voneinander entwickelnden Zivilisationen. Sie kommt am stärksten in der Arbeit des bekannten englischen Historikers und Soziologen A. Toynbee „A Study of History" 2 zum Ausdruck. Die historisch-philosophische Konzeption Toynbees gehört zu den bedeutsamsten Versuchen der modernen bürgerlichen Soziologie, die grundlegenden Prozesse der Weltgeschichte zu erfassen. Toynbee schrieb anläßlich der von der Zeitschrift „Diogenes" veranstalteten Diskussion über seine Konzeption, eines seiner wichtigsten Anliegen sei die Überwindung des in der westeuropäischen Geschichtswissenschaft herrschenden Europazentrismus gewesen 3 . Toynbee verwertet in seiner Untersuchung gewiß sehr umfangreiches historisches Material. Der idealistische Standpunkt bei der Betrachtung des historischen Prozesses führt ihn jedoch zum Verzicht auf die Erforschung der allgemeinen Gesetzmäßigkeiten, die der Entwicklung der Gesellschaft zugrunde liegen. Nach Toynbee — darin setzt er Spengler fort — stellt die Weltgeschichte den Wechsel einzelner, untereinander nicht organisch verbundener Zivilisationen dar. Toynbee leugnet die Einheit des welthistorischen Prozesses und das Vorhandensein allgemeiner Gesetzmäßigkeiten in der Entwicklung der Kultur 4 , die Aufwärtsentwicklung der Gesellschaft, den historischen Fortschritt. Er hebt gleichsam den für das moderne bürgerliche gesellschaftliche Denken unbequemen Begriff des historischen Fortschritts auf, und das eben macht seine Konzeption für bestimmte Kreise der westeuropäischen Intelligenz so anziehend 5 . 1 2

3 1

5

H. L a e u e n , Polnische Tragödie, Stuttgart 21956. A. T o y n b e e , A Study of History, London, vol. I—III, 1934; vol. I V - V I , 1939, vol. V I I - X , 1954. A. T o y n b e e , What I am trying to do, in: Diogenes, 1956, Nr. 13, S. 6—10. vgl. A. T o y n b e e , A Study of History, vol. I, London 1934, S. 149 — 171: „The Misconception of ,the Unity of Civilization'". Die Leugnung der fortschreitenden Entwicklung des künstlerischen Denkens zeigt sich bei Toynbee auch darin, wie er in seinen Arbeiten das künstlerische Erbe der Weltliteratur

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167

Die Theorie von den isoliert entstehenden und vergehenden Zivilisationen gestattet es, die einzelnen nationalen oder „regionalen" Literaturen außerhalb ihrer Beziehungen zum Entwicklungsprozeß der Weltliteratur zu betrachten. Sie verbarrikadiert der Forschung den Weg zur Untersuchung jener Berührungspunkte, die eine gegebene Literatur auf ihren verschiedenen Entwicklungsetappen mit anderen Nationalliteraturen aufweist, die aber untersucht werden müssen, um ein richtiges Bild vom Entwicklungsprozeß der Weltliteratur zu erhalten. Die Konzeption Toynbees, die jede Zivilisation fälschlich als ein einheitliches Ganzes betrachtet, führt dazu, auch die Nationalliteraturen als einen klassenunabhängigen, „einheitlichen Strom" zu untersuchen. Dabei bleibt aber verborgen, welcher komplizierte Prozeß des antagonistischen Kampfes sich in ihnen vollzieht, wie wesentlich für die Entwicklung der Weltliteratur die Beziehungen klassenmäßig verwandter Literaturen der verschiedenen Länder sind. Bezeichnend für diese Position in der modernen bürgerlichen Literaturwissenschaft sind vor allem die Arbeiten von Ernst Robert Curtius „Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter" und „Kritische Essays zur europäischen Literatur" 1 . Auf dem Umschlag des letzteren Werkes hielt man es für angebracht, Curtius als den größten Nachfolger Toynbees auf dem Gebiet der Literaturgeschichte zu preisen. Curtius sieht in Toynbees Konzeption den Beginn einer neuen Ära in der Geschichtsauffassung 2 , den Ausweg aus jener Krise, in der sich die Geisteswissenschaft nach dem ersten Weltkrieg befand. Er behauptet, daß es Toynbee gelungen sei, den Gegenstand der Untersuchung verständlich zu bestimmen, was vor ihm die Geisteswissenschaften nicht fertiggebracht hätten. Die Arbeit Toynbees gibt E. R. Curtius Veranlassung, davon zu sprechen, daß ein wirklicher „Geschichtskörper" die europäische Literatur als konkrete Einheit und nicht eine einzelne Literatur in ihrer nationalen Ausprägung sei, bemerkt der Schweizer Literaturwissenschaftler M. Wehrli 3 .

1

2

3

behandelt. Gleichberechtigt, ohne den historisch konkreten Inhalt der Dichtung verschiedener Epochen zu berücksichtigen, zitiert er Vergil und Shelley, Aischylos und Whitman, als wiederholten sie in neuen Formen immer die gleichen, ewig vor der Menschheit stehenden Fragen. Diese ahistorische Auffassung von der Poesie sucht Toynbee mit der Behauptung zu stützen, daß dichterisches Schöpfertum ebenso wie prophetische Gabe nicht rational erklärt werden können (vgl. A. T o y n b e e , What I am trying to do, in: Diogenes, 1956, Nr. 13, S. 10). E. R. Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 1 Bern 1948; 2 Bern 1954; 'Bern—München 1961. Ders., Kritische Essays zur europäischen Literatur, 1 Bern 1950; 2 Bern 1954. E. R. C u r t i u s , Kritische Essays zur europäischen Literatur, 2., erw. Aufl., Bern 1954, S. 357. — Man kann feststellen, daß die Sympathien von Curtius und von Toynbee beiderseitig sind. Letzterer zitiert in „A Study of History" die Erörterungen Curtius', die von unverhohlener Feindseligkeit gegen den Sowjetstaat und seine Kultur durchdrungen sind. vgl. M. W e h r l i , Allgemeine Literaturwissenschaft, Bern 1951, S. 156ff.

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I. G. Neupokoeva

In der europäischen Literatur — wobei der Begriff „europäisch" auch hier auf „westeuropäisch" beschränkt wird — sieht Curtius vor allem eine Einheit, die sich auf jene „primären" Elemente gründet, aus denen sie sich gebildet hat. Die Hauptrolle spielt nach Curtius' Ansicht hierbei die griechisch-lateinische Tradition, deren Wirkung er von der Antike bis zur Gegenwart untersucht. Der europäischen stellt Curtius die russische Kultur gegenüber, von der er behauptet, die byzantinische Tradition sei für sie in ihrer gesamten Entwicklung von grundlegender Bedeutung gewesen1. In dem Bestreben, die europäische Kultur als ein geschlossenes Ganzes hinzustellen, ignoriert Curtius die nationale Eigenart der europäischen Literaturen, ihre unterschiedlichen Entwicklungswege. Deshalb ist die Geschichte der europäischen Literaturen bei ihm nicht ein komplizierter und widerspruchsvoller Prozeß, in dem sich allmählich immer neue geistig-ästhetische Erscheinungen entwickelt haben, sondern eine Variation ein und derselben unveränderlichen formalen Elemente („Topoi"), sozusagen erstarrter Typen, Sujets, Themen, Gestalten, poetischer Formen usw. Curtius negiert zwar nicht die Möglichkeit einiger Neubildungen im literarischen Prozeß, doch spielen diese in seiner Konzeption keine wesentliche Rolle. Curtius lehnt es ab, in der europäischen Literatur eine geistige Widerspiegelung der Geschichte der europäischen Völker mit ihren nationalen Massenbewegungen zu sehen2. Er steht damit einer der reaktionärsten Thesen Toynbees nahe, die besagt, daß die Triebkräfte des Fortschritts auserwählte Persönlichkeiten seien. Gerade diesen auserwählten Persönlichkeiten — ausgerüstet mit der Kenntnis der griechisch-lateinischen Kultur — verdanke die westeuropäische Kultur ihre Existenz 3 . Curtius beruft sich weiter auf den Gedanken Toynbees, daß einer der Hauptfaktoren bei der Konsolidierung der jeweiligen „Zivilisation" die religiöse Gemeinsamkeit sei und betont, die Hauptkraft bei der Entwicklung der europäischen Kultur im Mittelalter wie in der Neuzeit sei das Christentum. 1

2

3

vgl. E. R. C u r t i u s , Kritische Essays, a. a. O., S. 371. — Es darf nicht unerwähnt bleiben, daß Curtius' These über die grundlegende Bedeutung der byzantinischen Tradition für die gesamte russische Kunst mit der Auffassung reaktionärer bürgerlicher Historiker übereinstimmt. So beruft sich z. B. D. Obolensky auf die von Toynbee formulierten allgemeinen methodologischen Prinzipien der Geschichtsforschung sowie auf dessen konkrete Äußerungen über die russische Geschichte und behauptet, man müsse die russische Geschichte vornehmlich unter dem Aspekt der byzantinischen Tradition untersuchen (vgl. D. O b o l e n s k y , Russia's Byzantine Heritage, in: Oxford Slavonic Papers, vol. I, 1950, S. 37ff.). Hierin kann sich Curtius nicht nur auf Toynbees allgemeine Geschichtsmethodologie, sondern auch auf dessen unmittelbare Äußerungen über die Kunst stützen. Toynbee formuliert z. B., daß in den schönen Künsten das Talent des Künstlers und der Geschmack des Kritikers unabhängig von den konkreten Bedingungen des Ortes und der Zeit seien und daß die künstlerische Gabe unvergleichliche Freiheit besitze, weil sie in den Tiefen des Unterbewußtseins wurzele (A. T o y n b e e , A Study of History, a. a. O., vol. X, S. 48). vgl. E. R. C u r t i u s , Kritische Essays, a. a. O., S. 365.

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Curtius schließt sich hier den reaktionären Theorien an, die im Kampf gegen die antiimperialistischen Bestrebungen der Völker Europas zur Verteidigung der nationalen Unabhängigkeit und Souveränität ihrer Staaten das Christentum als eine K r a f t zur geistigen und politischen „Konsolidierung" Europas hinstellen 1 . Es ist auch kein Zufall, daß sich Curtius in den „Kritischen Essays zur europäischen Literatur" hauptsächlich solchen keineswegs progressiven Vertretern der westeuropäischen Kunst wie Proust, Valéry, Joyce, T. S. Eliot, Ortega-y-Gasset zuwendet. I m „Intellektualismus" Eliots sieht Curtius gleichsam eine Wiederholung der Alexandrinischen Epoche der antiken Kultur, und Eliots Dichtung erscheint ihm als prophetische Vorwegnahme der künftigen Weltkultur. So wird bei Curtius die Vorstellung von der nationalen Selbständigkeit der europäischen Literaturen, deren Werden und Wachsen sich in enger Wechselwirkung vollzog, durch die Vorstellung von ihrer kulturell-religiösen Einheit im Schöße der „europäischen Zivilisation" ersetzt. Zwar kann man zwischen einem solchen Bild der Geschichte der europäischen Literaturen und den reaktionären Theorien von einer abendländischen oder „atlantischen" Kultur keine direkten Parallelen ziehen, dennoch besteht zwischen ihnen eine bestimmte Verbindung. Bei Curtius heißt es eindeutig: „Europäisierung des Geschichtsbildes ist heute politisches Erfordernis, und nicht nur für Deutschland." 2 Die Ausklammerung der russischen und der anderen ostslawischen Literaturen aus der „europäischen" Literatur ist für viele in Westdeutschland veröffentlichte Arbeiten charakteristisch. Als Beispiel sei auf eine Reihe von Aufsätzen über den modernen europäischen Pluralismus verwiesen, die 1957 in der Münchner Zeitschrift „Akzente" erschienen sind. G. Kalow, der Autor eines dieser Aufsätze, meint, daß die Prophezeiung Spenglers vom Untergang des Abendlandes eingetroffen sei, Europa liege im Sterben und nur „einige wenige" (eine Berufimg auf Andre Gide) könnten Europa retten. Und E. Brök erblickt die geistige Einheit Europas in der antiken und westchristlichen Tradition. Rußland schließt er dabei aus dieser Einheit aus 3 . Recht aufschlußreich ist in dieser Hinsicht auch das Vorwort von Prof. K. Wais zu seinem Buch „An den Grenzen der Nationalliteraturen", in dem sich der Tübinger Gelehrte, einer der bekanntesten Vertreter des Komparativismus in Westdeutschland, die Aufgabe stellt, die Stabilität und Einheit der europäischen 1

2

3

Aus den zahlreichen Äußerungen bürgerlicher Soziologen, Politiker und Philosophen über diese Frage wollen wir nur das Buch des amerikanischen Soziologen R. T. F l e W e l l i n g , Conflict and Conciliation of Cultures, Stockton, California 1951, nennen, in dem der Autor von der Religion als „dem allgemeinen Mittel gegenseitigen Verstehens" spricht, ohne das eine politische Vereinigung der „westlichen Welt" nicht zu erreichen sei. E. R. Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 3. Aufl., Bern—München 1961, S. 17. G. K a l o w , Der grenzenlose Kontinent, in: Akzente. Zeitschrift für Dichtung, München, 1957, S. 522ff.; E. B r ö k , Deutschland und Frankreich in Europa, in: ebd., S. 527ff.

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Kulturtradition zu untersuchen, wobei er die „ostslavische Kulturwelt" nicht als einen organischen Teil der europäischen Kultur betrachtet 1 . Die unmittelbare Verbindung von Konzeptionen der modernen bürgerlichen Literaturwissenschaft mit der reaktionären Soziologie ist auch deutlich in vielen Büchern und Aufsätzen zu erkennen, die direkt oder indirekt das Recht der Völker auf eine selbständige Nationalkultur leugnen. Dabei wird der Begriff der nationalen Eigenart der Literatur, die mit den historischen Bedingungen des Lebens eines Volkes zusammenhängt, in den Begriff einer übernationalen Literatur aufgelöst. Auf dem 2. Kongreß der Internationalen Vereinigung für vergleichende Literaturgeschichte, der im Herbst 1958 in den USA stattgefunden hat, wurde in einer Reihe von Referaten die Betrachtung der Literaturen in ihrer nationalen Eigenart und Selbständigkeit als „eng" und „veraltet" bezeichnet. So rief René Wellek in seinem Vortrag „Krise der vergleichenden Literaturwissenschaft" 2 zur Überwindung des „Nationalismus" in der literaturwissenschaftlichen Forschung auf und forderte, die Literatur als Ausdruck irgendwelcher „universellen" Interessen des Menschen anzusehen 3 . Bei näherer Betrachtung zeigt es sich, daß die grundlegenden Züge dieser künstlich konstruierten „übernationalen" Literatur der Kultur der „westlichen Welt" entlehnt sind und den Stempel der berüchtigten „westlichen Zivilisation" tragen. So hält es A. Guérard für möglich, bei der Klassifizierung der verschiedenen Richtungen der Weltliteratur ausschließlich von den traditionellen Kriterien der europäischen Literatur auszugehen, ohne die mannigfaltigen komplizierten Wege und Formen in der literarischen Entwicklung der verschiedenen Länder zu berücksichtigen 4 . Auch das Buch von René Wellek und Austin Warren „Theory of Literature" (New York 1949) ignoriert, daß jede Literatur in einer spezifischen nationalen Erscheinungsform ausgeprägt ist. Dieses Buch erhebt Anspruch auf eine streng einheitliche Methodologie und bildet die Grundlage für viele rückschrittliche Konstruktionen in der Literaturwissenschaft der USA und Westdeutschlands. Diese die nationale Eigenständigkeit der Literatur leugnenden literaturwissenschaftlichen Konzeptionen stimmen in ihrer ideologischen Zielrichtung mit den Äußerungen reaktionärer Soziologen gegen die nationale Unabhängigkeit der Völker überein. Die Idee von der „Einheit" der Kulturen verschiedener Völker unter der Hegemonie der „westlichen Zivilisation" und in der Einflußsphäre der „westlichen Demokratie" liegt der Tätigkeit einer ganzen Reihe internationaler Komparativistenvereinigungen zugrunde, die über viele periodisch erscheinende Publikationsorgane verfügen. Bemerkenswert ist in dieser Hinsicht ein Aufsatz von W. Friederich, einem der führenden Vertreter der westlichen Komparativistik 1

2 3 4

K. Wais, An den Grenzen der Nationalliteraturen. Vergleichende Aufsätze, Berlin 1958, Vorwort. in: Wirkendes Wort, Düsseldorf, 9. Jg., 1959, Nr. 3, S. 148 — 155. vgl. dazu den folgenden Beitrag von Prof. R. M. Samarin. A. Guérard, Preface to World Literature, New York 1940.

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in den USA, in dem es programmatisch heißt, unser Zeitalter mit seinen Sorgen und Hoffnungen erfordere die ständige Festigung der politischen und kulturellen Einheit der westlichen Welt. Es müsse das erklärte Anliegen der Komparativisten sein, einen Beitrag zur Realisierung des so teuren Ziels der westlichen Einheit zu leisten. Man brauche sich als Wissenschaftler dieser utilitaristischen, halb-politischen Aufgabenstellung keinesfalls zu schämen 1 . Von dem Bestreben, den dominierenden Einfluß der westlichen Zivilisation auch auf die Entwicklung der Literaturen Asiens zu betonen, waren die meisten Referate auf dem 29. Kongreß des Pen-Club durchdrungen, der im September 1957 in Tokio stattfand, obwohl in seinem offiziellen Programm davon die Rede war, gegenseitiges Verständnis zwischen den Literaturen des Ostens und des Westens herzustellen. Die Theorie, daß viele Völker allmählich ihre nationalen Wesenszüge verlieren, daß bestimmte „Zivilisationen" das Fundament des historischen Prozesses bilden, beruht ebenfalls auf Toynbees Historiosophie. Sie liefert auch den modernen reaktionären Plänen von übernationalen Vereinigungen in der Art des berüchtigten „Vereinigten Europas" die theoretische Basis. I n seinem nach dem Kriege erschienenen Buch „Civilization on Trial" fordert Toynbee, die Welt müsse in nächster Zukunft politisch vereint werden 2 . Als eine der wichtigsten Aufgaben der Gegenwart betrachtet er die Errichtung eines Weltstaates (Pax Oecumenia), der sich auf religiöse Ideen stützt und auf den Prinzipien der westlichen Zivilisation beruht. Die Verbreitung des Einflusses dieser Zivilisation über die ganze Welt („westernization") hält er für eine der charakteristischsten Tendenzen der heutigen internationalen Beziehungen 3 . Nach Ansicht Toynbees haben sich beispielsweise die Türkei, der Nahe und Mittlere Osten und Indien dem „Einfluß des Westens" so weit unterworfen, daß man diese Länder bereits zur „westlichen Zivilisation" rechnen könne 4 . Toynbee nimmt also den Völkern dieser Länder das Recht, ihre eigenen Kulturtraditionen zu entwickeln, indem er ihnen die Rolle gehorsamer Rezeptoren der modernen bürgerlichen Kultur des Westens zuweist. Als Toynbee in seinen Vorlesungen über das Thema „Die Welt und der Westen", die er 1952 für den BBC las 5 , über die gegenwärtige Lage Indiens sprach, beschäftigte ihn vor allem die Frage: Wird es der europäisch gebildeten Minderheit in Indien gelingen, sich gegen die nationalen Traditionen zu behaupten? 1

2 3

4 5

vgl. W. P. F r i e d e r i c h , Our Common Purpose, in: Yearbook of Comparative and General Literature, Chapel Hill, vol. IV, 1955, S. 58. A. T o y n b e e , Civilization on Trial, New York 1948, S. 127. Das unterstreicht besonders einer der Teilnehmer an der erwähnten Diskussion in der Zeitschrift „Diogenes", K. W. T h o m p s o n , in seinem Aufsatz „Toynbee and World Politics", in: Diogenes, 1956, Nr. 13, S. 55ff. A. T o y n b e e , A Study of History, vol. VII, London 1954, S. 768. A. T o y n b e e , The World and the West, Oxford Univ. Press, 1953. (BBC Reith Lectures, 1952).

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Es scheint, als habe Toynbee durch die Breite des erfaßten Materials den Europazentrismus überwunden; in Wirklichkeit aber tritt dieser in betont fortschrittsfeindlicher Weise in seiner Konzeption von der geschichtlichen Entwicklung unserer Epoche zutage. Der englische Publizist R. Hilton enthüllte den politischen Sinn der Geschichtskonzeption Toynbees. Er schrieb, daß eine der beliebtesten Thesen Toynbees die Gegenüberstellung des Westens (unter dem er Westeuropa und Amerika versteht) und Rußlands sei, die nach Toynbees Auffassung zwei einander entgegengesetzte und seit jeher feindliche Zivilisationen bilden 1 . I m Zusammenhang mit den Plänen zur Schaffung eines „Vereinigten Europas" sprechen Ideologen des amerikanischen Imperialismus immer offener davon, die europäische Kultur, die sich angeblich bereits überlebt habe, müsse sich der Kultur der USA unterordnen 2 . Noch zynischer zeigt sich die Ideologie der imperialistischen Expansion gegenüber den Kulturen der Länder Asiens und Afrikas. Sie kommt deutlich in dem Sammelband „Interrelations of Cultures. Their Contribution to International Understanding" zum Ausdruck, der 1953 auf Initiative der UNESCO erschien und 1955 neu aufgelegt wurde 3 . I m Vorwort wird als Aufgabe des Bandes deklariert, er solle zur Annäherung der verschiedenen Nationalkulturen beitragen. Wie aber aus seinem Inhalt hervorgeht, ist diese Annäherung nur auf der Grundlage der Anerkennung der dominierenden Rolle der Kultur der USA in der heutigen Welt gedacht.

In den letzten Jahren hat der Kampf der demokratischen Intelligenz in vielen kapitalistischen Ländern für Unabhängigkeit und freie Entwicklung ihrer Nationalkulturen ständig an Breite und Schärfe zugenommen. Die Völker der Welt wollen keine Bevormundung, weder von Seiten westeuropäischer noch amerikanischer „Kulturträger". Immer aktiver treten sie für internationale literarische und kulturelle Verbindungen ein, die auf gegenseitige Achtung gegenüber den demokratischen Traditionen aller Nationalkulturen gegründet sind. Ein anschauliches Beispiel dafür bieten die engen Wechselbeziehungen und die fruchtbare Wechselwirkung zwischen den nationalen Kulturen der Völker der Sowjetunion. „Der Austausch der geistigen Güter zwischen ihnen wird verstärkt. Die Errungenschaften der Kultur der einen Nationen werden zum Gut der anderen. Das führt zur gegenseitigen Bereicherung der Kulturen der Völker der UdSSR...", sagte darüber N.S.Chruschtschow auf dem X X I I . Parteitag der KPdSU 4 . 1

2 3

4

R. H i l t o n , A. Toynbee's Reith Lectures, in: The Modern Quarterly, London and Southampton, vol. VIII, 1953, Nr. 3, S. 183. vgl. beispielsweise R. S t r a y s h - H u p e , The Zone of Indifference, New York 1952. Interrelations of Cultures. Their Contribution to International Understanding, UNESCO, printed in Switzerland, 2-nd ed., 1955. N. S. C h r u s c h t s c h o w , Der Triumph des Kommunismus ist gewiß, Berlin 1961, S. 252.

Moderne bürgerliche Literaturwissenschaft und reaktionäre Soziologie

173

Die fortschrittlichen Literaturen der Welt folgen den besten Traditionen ihrer eigenen Nationalkulturen und bereichern sich zugleich gegenseitig, indem sie ihren Beitrag zur Entwicklung der modernen demokratischen und sozialistischen Weltliteratur leisten. Gerade diesen Prozeß der freien Zusammenarbeit, Annäherung und Verständigung der fortschrittlichen Literaturen in der Welt versuchen die reaktionären bürgerlichen Literaturwissenschaftler zu entstellen und zu hemmen. Das gleiche Ziel verfolgen auch jene westdeutschen Slawisten, die sich der Ideologie des Imperialismus und den reaktionären Konzeptionen von der Entwicklung der Weltkultur verschrieben haben. Vordringliche Aufgabe der marxistischen Literaturwissenschaftler in der Sowjetunion, der D D R und den anderen sozialistischen Ländern ist es heute, ein anschauliches Bild der fruchtbaren Wechselbeziehungen zwischen den Literaturen der verschiedenen Länder — vor allem natürlich des sozialistischen Lagers — zu geben, die großen Perspektiven dieses Prozesses und seine Bedeutung f ü r die Entwicklung der Weltkultur zu zeigen, eingedenk der Feststellung im Programm der Kommunistischen Partei der Sowjetunion: „Der Sozialismus bringt die Völker und Länder einander näher" Deutsche Redaktion: Dr. G. Ziegengeist 1

Programm und Statut der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Berlin 1961, S. 128.

Prof. Dr. R . M.

SAMARIN

Über die Krise des modernen westlichen Komparativismus Eine Anzahl westdeutscher Slawisten hat sich in den letzten Jahren immer stärker der koinparativistischen Methode zugewandt, die unter den Literaturwissenschaftlern der USA und anderer westlicher Länder zahlreiche Anhänger besitzt. Ohne mich mit der Geschichte des Komparativismus hier näher zu beschäftigen1, möchte ich jedoch einige moderne Vertreter dieser Methode herausgreifen und zeigen, was für eine negative Rolle sie in der zeitgenössischen westlichen Literaturwissenschaft spielen. Dabei soll nicht verschwiegen werden, daß die bürgerliche Komparativistik in den kapitalistischen Ländern während ihrer jahrzehntelangen Entwicklung auch eine Reihe von Arbeiten hervorgebracht hat, die wertvolles Faktenmaterial enthalten. Es handelt sich dabei in erster Linie um bibliographische Werke solcher Gelehrten wie Betz, Texte, Baldensperger, Van Tieghem sowie um Arbeiten, welche das Schaffen großer Schriftsteller in seiner jeweiligen internationalen Bedeutung, Wirkung und Verflechtung untersuchen. Dazu gehören die Monographien von Baldensperger über Goethe in Frankreich, von J.-M. Carré über Goethe in England oder von Dédéyan über das Faustthema in der europäischen Literatur2 u. a. Bei näherer Betrachtung der bürgerlichen vergleichenden Literaturwissenschaft wird der idealistische Charakter ihrer methodologischen Grundlagen sehr schnell offenbar. Die westlichen Komparativisten betrachten die Beziehungen, Einflüsse und Wirkungen zwischen Schriftstellern, literarischen Strömungen oder Nationalliteraturen losgelöst von den jeweiligen historischen und sozialen Verhältnissen, die diese Beziehungen oder Einflüsse in erster Linie verursachen und bestimmen. Literarische Beziehungen und Einflüsse zum Primärfaktor, zur eigentlichen Triebkraft des literarischen Entwicklungsprozesses zu erheben, heißt jedoch, sich den Weg zu einer tieferen Erkenntnis des wahren Charakters und der tatsächlichen Bedeutung von Literaturbeziehungen und Einflüssen im Gesamtgefüge einer gegebenen Nationalliteratur zu versperren.

1

Über die Geschichte des westlichen Komparativismus vgl. meine Abhandlung in dem S a m m e l b a n d : B3aHM0CBH3H h B3aHM0fleßcTBHe HaqHOHa.ra.HHX jiiiTepaTyp ( W e c h s e l b e z i e -

2

hungen und Wechselwirkung zwischen den Nationalliteraturen), Moskau 1961, S. 82 ff. F. Baldensperger, Goethe en France, 2Paris 1920; J.-M. Carré, Goethe en Angleterre, Paris 1920; Ch. Dédéyan, Le thème de Faust dans la littérature européenne, vol. lff., Paris 1954 ff.

Krise des modernen westlichen Komparativismus

175

Aus diesem Grunde bekämpfen die sowjetischen Wissenschaftler, die bereits einen großen Beitrag zur Erforschung der Wechselbeziehungen zwischen den verschiedenen Nationalliteraturen geleistet haben und die sich verstärkt mit dem Problem der objektiven Gesetzmäßigkeiten der geschichtlichen Entwicklung der Weltliteratur beschäftigen, entschieden die idealistische und ahistorische Methodologie des bürgerlichen Komparativismus. Der westlichen „vergleichenden Literaturwissenschaft" setzen die sowjetischen Forscher die Untersuchung der Gesetzmäßigkeiten des literarischen Prozesses entgegen. In den einzelnen Nationalliteraturen wirken diese Gesetzmäßigkeiten — auf Grund der jeweiligen besonderen historischen Bedingungen — in unterschiedlicher Weise, sind jedoch oft die Ursache für Erscheinungen, die mehreren Literaturen gemeinsam sind. Natürlich kann man Gemeinsamkeiten und Verschiedenheiten in den Nationalliteraturen nicht feststellen, ohne auf die vergleichende Literaturforschung zurückzugreifen und ohne den wechselseitigen „Einflüssen" nachzuspüren. Der Prozeß der „Beeinflussung" hat jedoch zwei Seiten, er umfaßt nicht nur den „Einfluß" an sich, sondern vor allem auch die Aufnahme dieser oder jener literarischen Erscheinung durch Schriftsteller einer anderen Literatur. Deshalb werfen die sowjetischen Wissenschaftler als zentrales wissenschaftliches Problem die Frage nach den Wechselbeziehungen und der Wechselwirkung auf, die für die Erforschung der Gesetzmäßigkeiten der Literaturentwicklung außerordentlich wichtig sind. Bei der Untersuchung der Wechselbeziehungen und der Wechselwirkung zwischen den Nationalliteraturen stützen sich die sowjetischen Forscher in steigendem Maße auch auf die wissenschaftlichen Ergebnisse ihrer Fachkollegen in den sozialistischen Bruderländern, und dabei nicht zuletzt auf die zahlreichen Arbeiten der jungen aufstrebenden Slawistik der DDR. Die ablehnende Haltung sowjetischer Wissenschaftler gegenüber Ideen und Tendenzen, die insbesondere während der letzten Jahrzehnte weite Verbreitung in den Arbeiten westlicher Komparativisten gefunden haben, erklärt sich vor allem daraus, daß bestimmte komparativistische Konzeptionen in erheblichem Maße den Zielen der imperialistischen Reaktion dienen. So stellten bürgerliche Komparativisten bereits in den zwanziger und dreißiger Jahren die berüchtigte These von der „Einheit der europäischen Literatur" auf, aus der die slawischen Literaturen bewußt ausgeklammert wurden. Gegenwärtig setzen die Anhänger der „abendländischen" oder „atlantischen" Einheit — die sich oft nur als ein Synonym für die sogenannte „freie Welt" erweist — diese reaktionäre Linie des Komparativismus fort. Prof. W. Friederich, der eine führende Rolle unter den Komparativisten der USA spielt, sowie einer seiner Mitstreiter in Westdeutschland, Prof. K . Wais, der das komparativistische Zentrum in Tübingen aufgebaut hat, propagieren heute die Ansicht, daß es ein Hauptanliegen der Komparativistik sein müsse, mit allen Kräften zur Festigung der Einheit der „freien westlichen Welt" beizutragen. W. Friederich forderte bereits 1955 in einem seiner Artikel dazu auf, zu einer übernationalen, „allumfassenden" Literaturbetrachtung überzugehen und die

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R. M. Samarin

„Enge" in der traditionellen Erforschung der nationalen Eigenart einer gegebenen Literatur zu überwinden 1 . W. Friederichs Leitidee ist nicht Gleichberechtigung, Verständigung und Zusammenarbeit zwischen den Völkern der Welt und ihren Kulturen, sondern die „Festigung der geistigen Einheit in unserer Hälfte der Welt" — also der „westlichen Welt" 2 . Ähnlich hat sich K. Wais im Zusammenhang mit dem 2. Kongreß der Internationalen Vereinigung für vergleichende Literaturgeschichte 1958 in Chapel Hill geäußert. I m Einleitungsartikel zum zweiten Band der „Forschungsprobleme der Vergleichenden Literaturgeschichte" erklärte K. Wais in einer Würdigung seines verstorbenen Kollegen und Mitherausgebers F. Ernst, daß dieser sich vom Kongreß in Chapel Hill eine „bestätigende Weitung ins Kosmopolitische" erhofft habe 3 . W. Friederichs Artikel „Zur Vergleichenden Literaturgeschichte in den Vereinigten Staaten", der diesen Sammelband abschließt, ist voller Lobeshymnen auf die gegenwärtige „Blütezeit" des Komparativismus in den USA und auf seine großen „zukünftigen Potentialitäten". Überschwenglich werden die Vereinigten Staaten als Wiege und Hort des bürgerlichen Kosmopolitismus, als Erbe der gesamten Weltkultur, vor allem der Kultur der europäischen Völker, schließlich als Idealfall kultureller Versöhnung gefeiert (ebd., S. 179-191). W. Friederich druckte seinerseits in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift „Yearbook of Comparative and General Literature" noch im selben J a h r einen Aufsatz von H. Oppel unter dem Titel „A Glance at Comparative Literature in Germany", in dem die Ausbreitung der komparativistischen Richtung in Westdeutschland nach 1945 unter französisch-amerikanischer Vorherrschaft beschrieben und begrüßt wird 4 . Besonders schädliche Auswirkungen hat diese fortschrittsfeindliche Konzeption aber in solchen komparativistischen Arbeiten, denen programmatische Bedeutung zukommt, wie zum Beispiel dem Buch von W. Friederich und D. Malone über die Geschichte der europäischen und amerikanischen Literatur von Dante bis O'Neill in vergleichender Sicht 5 . Ich möchte gerade bei diesem Buch etwas verweilen, weil es sich die Aufgabe stellt, den Entwicklungsprozeß der Literatur Europas und der USA im Verlauf von sieben Jahrhunderten in seinen Grundzügen darzustellen. Die Geschichte dieser Literaturen ist bei Friederich und Malone in mehrere Abschnitte gegliedert, die im wesentlichen der italienischen Literatur der Renais1

2 3

4

5

vgl. W. P. F r i e d e r i c h , Our Common Purpose, in: Yearbook of Comparative and General Literature, Chapel Hill, vol. IV, 1955, S. 56 ff. vgl. ebd., S. 58. Forschungsprobleme der Vergleichenden Literaturgeschichte. II. Folge. Hrsg. von F. E r n s t und K. W a i s , Tübingen 1958, S. V. H. Oppel, A Glance at Comparative Literature in Germany, in: Yearbook of Comparative and General Literature, Chapel Hill, vol. VII, 1958, S. 16—23. W. F r i e d e r i c h / D . M a l o n e , Outline of Comparative Literature from Dante Alighieri to Eugene O'Neill, Chapel Hül 1954.

Krise des modernen westliehen Komparativismus

177

sance, der spanischen Literatur des 17. Jahrhunderts, dem französischen Klassizismus sowie der englischen und deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts gewidmet sind. Die russische Literatur und die anderen slawischen Literaturen finden wenig oder überhaupt keine Beachtung. Nach Meinung der beiden westlichen Komparativisten traten die literarischen Strömungen der Renaissance, des Barock, des Klassizismus usw. in ihrer klassischen Ausprägung nur in jeweils einer Literatur auf. Alle anderen Literaturen seien nur eine Nachahmung einer solchen schon vorhandenen literarischen Strömung und trugen deshalb für ganze Jahrhunderte nur epigonenhaften Charakter. Eine solche entstellende Sicht muß notwendigerweise zu einem grenzenlosen Durcheinander in der Darstellung des literarischen Entwicklungsprozesses führen. So wird zum Beispiel Shakespeare in dem Abschnitt über die Literatur der englischen Renaissance nicht genannt und nur nebenbei im Kapitel „Vorromantik" in einer Reihe mit Richardson, Defoe und Smollet erwähnt, da in den vorangegangenen Kapiteln nach diesem Schema für Shakespeares Werk kein Platz war. Zu einem Dichter von Weltgeltung wurde der geniale Dramatiker angeblich erst durch die englischen Romantiker erhoben. Auch Goethe wird ebenso wie Schiller zu den Schriftstellern der „Romantik" gezählt. Der Entwicklungsprozeß der Literatur des 20. Jahrhunderts erscheint hier als ein regelrechtes Chaos. Im Schlußkapitel „1850—1950" stehen Tennysons Ballade über den Krimkrieg, die Romane amerikanischer Schriftsteller über den zweiten Weltkrieg1, L. Tolstoj und A. Dumas 2 deshalb nebeneinander, weil Friederich und Malone in „Kriegen, Revolutionen und Vertreibungen" (so ist dieser Abschnitt benannt) 3 einen Komplex besonderer Merkmale der Weltliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts sehen. Der historische Ablauf ist so völlig verschoben, die Wechselbeziehungen zwischen den literarischen Strömungen sind auseinandergerissen. Die vergleichende Literaturgeschichte von Friederich und Malone vermittelt also kein wahrheitsgetreues Bild des weltliterarischen Entwicklungsprozesses. Die beiden Verfasser bemühen sich nicht, synchrone Erscheinungen zu erklären und zu untersuchen, noch sind sie bestrebt zu zeigen, welchen Beitrag die einzelnen Nationalliteraturen für die kulturelle Schatzkammer der Menschheit geleistet haben. Dagegen enthält das Buch die Behauptung, die marxistischen Schriftsteller inner- und außerhalb der von den Kommunisten kontrollierten Länder seien zum größten Teil eher Propagandisten als Künstler 4 . In diesem gepriesenen Standardwerk der amerikanischen Komparativistik werden die in der ganzen Welt bekannten Namen Majakovskij und Solochov überhaupt nicht angeführt; dafür wird von den nazistischen Schriftstellern Blunck und Vesper5, ja fast von einer „Klassik" der völlig zweitrangigen und bedeutungslosen faschistischen Literatur der HitlerZeit gesprochen. Besondere Erwähnung findet etwa Grimms berüchtigtes Buch 1 2 3 4 5

vgl. vgl. vgl. vgl. vgl.

12

ebd., ebd., ebd., ebd., ebd.,

S. S. S. S. S.

362. 365. 362. 374. 388.

Wissenschaft

178

R. M. Samarin

„Volk ohne Raum", in dem bekanntlich ganz unverhüllt räuberische imperialistische Forderungen erhoben wurden 1 . Zur Begründung erklären Friederich und Malone heuchlerisch, es müßten „alle Stimmen" gehört werden 2 . Unverfroren bekunden sie ihre Hochachtung vor allen Literaturen der Welt — und das in einem Buch, in dem weder der ukrainische Nationaldichter Scvcenko noch der bulgarische Freiheitsdichter Vasov für erwähnenswert gehalten und die lateinamerikanischen Literaturen einfach ignoriert werden. Die Fehler und Unzulänglichkeiten dieser Monographie sind nicht allein für die beiden Verfasser charakteristisch. Sie sind ganz allgemein der Ausdruck für die Hilflosigkeit der modernen bürgerlichen Komparativistik. Wenn Friederich und Malone auch nicht imstande sind, dies selbst zu erkennen und zuzugeben, so finden sich doch in der letzten Zeit immer mehr Gelehrte — und zwar in den eigenen Reihen — die von einer „Krise" des modernen westlichen Komparativismus sprechen. Der Terminus „Krise der vergleichenden Literaturwissenschaft", der immer öfter in westlichen komparativistischen Publikationen auftaucht, ist symptomatisch. Wir wollen diesen Terminus als Ausdruck einer gewissen Selbstkritik nicht überschätzen, zumal dabei vorausgesetzt wird, daß die bürgerliche Komparativistik in der Nachkriegszeit eine deutlich sichtbare Blütezeit durchgemacht habe. Andererseits dürfen wir das Eingeständnis von einer „Krise" des modernen Komparativismus aber auch nicht unbeachtet lassen. Ungewöhnlich offen und scharf hat sich Prof. René Wellek im September 1958 auf dem 2. Kongreß der Internationalen Vereinigung für vergleichende Literaturgeschichte in Chapel Hill über diese Krise geäußert. Sein Referat war fast ausschließlich diesem Problem gewidmet 3 . Wellek, der seit Kriegsende als Professor für vergleichende Literaturwissenschaft in den USA wirkt, mußte einleitend zugeben: „Das ernsteste Symptom des prekären Zustandes unserer Wissenschaft ist dies : daß es ihr nicht gelungen ist, den ihr eigenen Stoff klar abzugrenzen und eine ihr eigene Methodik zu entwickeln. Meiner Überzeugung nach haben die programmatischen Äußerungen Baldenspergers, Van Tieghems, Carrés und Guyards in diesem wesentlichen Punkte versagt. Vielmehr haben sie der vergleichenden Literaturwissenschaft eine veraltete Methodik aufgebürdet, die erdrückende Last eines vom 19. Jahrhundert übernommenen Positivismus und historischen Relativismus. " 4 Das von Wellek vorgelegte eigene Programm fordert die Anerkennung der formalistischen „ganzheitlichen" Strukturanalyse als der seiner Meinung nach einzigen wissenschafthchen Methode zur Erforschung eines literarischen Kunstwerkes. I n der sogenannten Strukturanalyse, „die das Kunstwerk als ein vielseitiges Ganzes betrachtet, als eine Struktur von Zeichen, die Sinn und Wert in sich ber1

vgl. ebd., S. 350. vgl. ebd., S. 366. 3 vgl. die deutsche Übersetzung: R. W e l l e k , Die Krise der vergleichenden Literaturwissenschaft, in: Wirkendes Wort, Düsseldorf, 9. Jg., 1959, Nr. 3, S. 148 — 155. * ebd., S. 148. 2

Krise des modernen westlichen Komparativismus

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gen", sieht er den Ausweg aus der „Krise" 1 . Damit nimmt er einen Standpunkt ein, der noch rückschrittlicher ist als die Methodologie der Forscher, die er kritisiert. Sieht man jedoch von diesen Forderungen Welleks ab, die nicht weniger Gefahren in sich bergen als die von ihm angegriffene traditionelle Methode des modernen Komparativismus, so muß man feststellen, daß der kritische Teil seines Vortrages in vielen Punkten begründet ist und zu Recht besteht. Unsere Ansicht wird durch das gesamte, zwei umfangreiche Bände umfassende Kongreßmaterial von Chapel Hill bestätigt 2 . Abgesehen von einigen wenigen interessanten Beiträgen bestehen beide Bände aus Abhandlungen, die die Zahl der ohnehin schon unübersehbaren Studien über die verschiedensten „Einflüsse" sowie gleiche oder ähnliche Sujets und Motive nur noch vermehren. Der umfangreichste Abschnitt des Sammelwerks — „Die europäisch-amerikanischen Beziehungen" — weist die gleiche propagandistische Tendenz auf wie der oben erwähnte Artikel von W. Friederich. Die in diesem Abschnitt zusammengefaßten Vorträge versuchen zu beweisen, daß europäische Schriftsteller, welche sich vorübergehend in den USA aufgehalten haben, unvergeßliche und angenehme Eindrücke mitnahmen, durch die ihr ganzes weiteres Leben und Schaffen positiv beeinflußt wurde. — Man braucht wohl nicht besonders zu betonen, daß die Reiseeindrücke etwa eines Dickens oder Sienkiewicz von den USA einen ganz anderen Charakter hatten. Darüber aber wurde in Chapel Hill nicht gesprochen. Die Veranstalter des Kongresses neigen dazu, ihm eine übermäßig große Bedeutung beizumessen, zugleich aber verschweigen sie, daß das entschiedene kritische Auftreten Welleks das wichtigste Moment in der Arbeit des Kongresses war, da es die Diskussion in bestimmtem Maße belebte 3 . Charakteristische Krisenerscheinungen der modernen bürgerlichen Komparativistik werden auch sichtbar in den beiden westdeutschen Sammelbänden „For1

2

3

ebd., S. 154. — Nach Wellek muß man ein Dichtwerk begreifen „als eine vielschichtige Struktur von Zeichen und Bedeutungen, die vom Seelenzustand des Autors zur Zeit der Hervorbringung — und somit von den Einflüssen, die sein Denken geformt haben — völlig distinkt ist. Zwischen der Psychologie des Autors und dem Dichtwerk, zwischen Leben und Gesellschaft einerseits und dem ästhetischen Objekt andererseits besteht eine Kluft... Gerade der sorgfältig durchdachte Begriff einer geschichteten Struktur von Zeichen und Bedeutungen ist es, der es unternimmt, die alte Zweiheit von Inhalt und Form zu überwinden. Was man den .Inhalt' oder ,Gehalt' eines Kunstwerkes zu nennen pflegt, ist verkörpert in dessen Struktur als ein Teil seines Universums projizierter Bedeutungen" (ebd.). Comparative Literature. Proceedings of the Second Congress of the International Comparative Literature Association at the University of North Carolina, September 8—12, 1958, Ed. by W. P. F r i e d e r i c h , vol. I - I I , Chapel Hül 1959. In einem Bericht über den Kongreß schreibt O. Seidlin, in Welleks Vortrag sei „eine sensationell wirkende Abrechnung mit den in der vergleichenden Literaturwissenschaft gängigen Themenstellungen und Arbeitsresultaten" erfolgt. Weiter heißt es dort: „Die allgemeine Aufregung, die sich nach Welleks Ausführungen verbreitete, ließ darauf schließen, daß hier wirklich ein wunder Punkt berührt wurde" (Wirkendes Wort, 9. Jg., 1959, Nr. 2, S. 126).

12*

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schungsprobleme der Vergleichenden Literaturgeschichte" (Tübingen 1951 und 1958). Während in dem ersten Band von 1951 immerhin noch Artikel von ernstzunehmendem theoretischem Gehalt anzutreffen sind, die eine Auseinandersetzung lohnen — wie z. B. der Aufsatz des Amsterdamer Gelehrten H. P. H. Teesing über „Die Bedeutung der vergleichenden Literaturgeschichte für die literarhistorische Periodisierung" —, kennzeichnet den zweiten Band von 1958 ebenso wie die beiden Protokollbände des Kongresses in Chapel Hill eine wenig belangvolle Thematik, ein enger Empirismus. Dieser westdeutsche Sammelband ist eine anschauliche Illustration für die Krise des modernen bürgerliehen Komparativismus. Die ganze Unzulänglichkeit der komparativistischen Methodologie in ihrem gegenwärtigen Zustand zeigt sich auch darin, daß viele bürgerliche Gelehrte der westeuropäischen Länder nicht über die Grenzen einiger romanischer und germanischer Literaturen hinausblicken. Sie halten noch immer an der europazentristischen Konzeption fest, mißachten nahezu ausnahmslos die zentrale Bedeutung der literarischen Wechselbeziehungen zwischen Ost und West und begreifen nicht die Eigenart der aufstrebenden Literaturen Lateinamerikas und Afrikas 1 . Gerade hier gehen die verschiedensten nationalen Traditionen in eine neue Qualität über, die durch die geschichtliche Entwicklung dieser sich befreienden Völker bestimmt wird. Viele westliche Komparativisten übersehen die mannigfaltigen Wechselbeziehungen zwischen den slawischen und den romanisch-germanischen Literaturen oder wollen sie zumindest nicht bemerken. Sie ignorieren die hervorragende Rolle der slawischen Literaturen in der Entwicklung der Weltliteratur. Was vor zwanzig Jahren der sogenannte „Europazentrismus" war, ist in jüngster Zeit der „USA-Zentrismus". Alle Literaturen, die sich außerhalb dieses Zentrums befinden, werden als dessen Satelliten dargestellt oder existieren einfach nicht für die Verfechter dieser verzerrten Auffassimg von den internationalen literarischen Beziehungen unserer Zeit. Es ist charakteristisch, daß die beiden Bände des westdeutschen komparativistischen Zentrums in Tübingen keine einzige Arbeit auf slawistischem Gebiet enthalten. Auch auf dem Kongreß in Chapel Hill wurde die Slawistik ganz am Rande behandelt. Mit Problemen der russischen Literatur befaßte sich dort lediglich der in den USA wirkende Weißemigrant G. Struve. Einige Jahre zuvor war er mit einem Artikel über den Stand der vergleichenden Literaturwissenschaft in der UdSSR an die Öffentlichkeit getreten, der angefüllt ist mit groben antisowjetischen Ausfällen und Verdrehungen der Tatsachen 2 . In Chapel Hill wiederholte Struve einige Thesen seines üblen antikommunistischen Buches „Die russische Literatur in der Verbannung" 3 , in dem versucht wird, den großen 1 2

3

vgl. darüber den Aufsatz von I. G. N e u p o k o e v a im vorl. Band. G. S t r u v e , Comparative Literature in the Soviet Union, Today and Yesterday, in: Yearbook of Comparative and General Literature, vol. IV, 1955, S. 1—20. I\ CTpyBe, PyccKan JiHTepaTypa B HsrHaHHH (G. Struve, Russische Literatur in der Verbannung), New York 1956.

Krise des modernen westlichen Komparativismus

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Werken der Sowjetliteratur ein künstlerisches Gegenstück aus dem entwurzelten Schaffen der Weißemigranten gegenüberzustellen. Weiter oben wurde bereits erwähnt, wie dürftig und falsch die slawischen Literaturen in dem Buch von Friederich und Malone abgehandelt werden, obgleich die Verfasser vorgeben, sieben Jahrhunderte europäischer Literaturgeschichte darzubieten. Wenn man dazu noch den erschreckenden Mangel an slawistischem Material und dessen ganz und gar nicht objektive Wertung in dem von Friederich herausgegebenen Jahrbuch der amerikanischen Komparativistik in Betracht zieht 1 , so wird offenbar, daß ein einflußreicher Teil der Komparativisten in den USA, in Westdeutschland und in der Schweiz nicht nur auf eine Verfälschung, sondern auf eine direkte Eliminierung der slawischen Literaturen aus dem Gesamtgefüge der Weltliteratur hinarbeitet. Ebenso deutlich zeigt sich die Diskriminierung der slawischen Literaturen in dem bekannten Buch „Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter" von E. R. Curtius Bern 1948; 3 Bern—München 1961) — einem klassischen Beispiel bürgerlich-komparativistischer Forschung, welche die Untersuchung des konkreten literarischen Entwicklungsprozesses durch das Aufspüren von „Einflüssen" ersetzt. Wenn in diesem umfassenden Werk auch viele neue Fakten und interessante Einzelbeobachtungen enthalten sind, so vermittelt es insgesamt — wie bereits I. G. Neupokoeva nachgewiesen hat® — nur eine einseitige und begrenzte Vorstellung über die antike Tradition in der europäischen Literatur, vornehmlich des Mittelalters. Curtius ignoriert bewußt die Wirkung und Pflege des antiken Erbes in den slawischen Literaturen. Aber ohne Berücksichtigung der slawischen Literaturen entspricht der gewählte Titel nicht dem Inhalt des Buches, weil hier nicht der Gesamtkomplex der „europäischen Literatur", sondern nur die romano-germanischen Literaturen abgehandelt werden. Selbst in ernstzunehmenden komparativistischen Arbeiten, die den slawischen Literaturen mehr Aufmerksamkeit widmen, wie beispielsweise in der Geschichte der Literatur Europas und Amerikas von Van Tieghem 3 , oder in der materialreichen Arbeit von Ch. Dédéyan über das Faustthema in den europäischen Literaturen 4 , können die Partien über die slawischen Literaturen nicht befriedigen. So faßt Van Tieghem die Entwicklung der slawischen Literaturen fast durchweg als ein Ergebnis westeuropäischen literarischen Einflusses auf. Und selbst Dédéyan, der die slawischen Literaturen mit gebührender Aufmerksamkeit zu betrachten sucht, gelangt zu wissenschaftlich unhaltbaren Wertungen. So behauptet er, Puschkin habe Goethes geniales Werk nicht recht begriffen und stehe überhaupt beträchtlich unter dem deutschen Dichter. Die Eigenart der Interpretation des Faustthemas in der russischen Literatur reduziert sich in Dédéyans Sicht auf eine ausgeprägte passive Melancholie, die angeblich der „slawischen Seele" eigen sei. 1 2 3

4

Yearbook of Comparative and General Literature, Chapel Hill, vol. Iff., 1952 ff. vgl. ihren Aufsatz im vorl. Band. P. Van T i e g h e m , Histoire littéraire de l'Europe et de l'Amérique de la Renaissance à nos jours, Paris 1946. Ch. D é d é y a n , Le thème de Faust dans la littérature européenne, vol. lff., Paris 1954ÉF.

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Aus all dem wird deutlich, warum selbst westliche Komparativisten davon sprechen, daß ihre Methodologie sich als überholt erweist und eine tiefe Krise durchlebt — wie überhaupt die gesamte bürgerliche Philologie. I m Unterschied zur bürgerlichen Philologie befindet sich die marxistische Literaturwissenschaft in einer steilen Aufwärtsentwicklung. Das beweisen die neuen Forschungsergebnisse auf dem Gebiet der Wechselbeziehungen und Wechselwirkung zwischen den verschiedenen Nationalliteraturen der Welt in der Sowjetunion und anderen sozialistischen Ländern. Davon zeugt die fruchtbare Diskussion, die über diesen Problemkreis im Jahre 1960 in Moskau durchgeführt wurde1. Viele jener theoretischen Fragen, die ich hier berührt habe, standen im Mittelpunkt dieser Diskussion. Auf der Moskauer Konferenz wurde schließlich auch die einmütige kritische Einstellung der sowjetischen Wissenschaftler zur komparativistischen Methodologie sichtbar. Die fortschrittliche, humanistische Slawistik der Gegenwart untersucht die wechselseitige Beeinflussung und Wirkung zwischen den verschiedenen slawischen Literaturen in ihrer Gesamtheit. Sie berücksichtigt immer stärker die vielfältigen Beziehungen, die zwischen den Literaturen der slawischen Völker und den Literaturen der ganzen Welt bestehen. Sie bemüht sich, Rolle und Bedeutung der slawischen Literaturen im geschichtlichen Entwicklungsprozeß der Weltliteratur zu bestimmen und die Eigenart der slawischen Literaturen zu ergründen. Das ständig hinzukommende neue Material, das die Wissenschaftler der Sowjetunion und der anderen sozialistischen Länder sowie auch progressive Slawisten des Westens hierbei zutage fördern, beweist eindeutig die Unhaltbarkeit der bürgerlich-komparativistischen Methodologie und entlarvt darüber hinaus die falsche Einstellung eines Teils der Komparativisten in den USA und Westdeutschland zu den slawischen Literaturen. Wir sind überzeugt, daß die fortschrittliche Slawistik der ganzen Welt durch gemeinsame Anstrengungen eine richtige und wahrhaft wissenschaftliche Lösung für alle Probleme der geschichtlichen Entwicklung der slawischen Literaturen sowie ihrer Beziehungen zu den anderen Nationalliteraturen finden wird. Die Erfolge, die in dieser Richtung auf dem IV. Internationalen Slawistenkongreß in Moskau und neuerdings auf dem V. Internationalen Slawistenkongreß in Sofia erzielt wurden, bestärken uns in dieser Überzeugung. Die aufstrebende Slawistik der Deutschen Demokratischen Republik ist uns in diesem Ringen um Wahrheit und Fortschritt einer der wichtigsten und verläßlichsten Partner. Deutsche Redaktion: Dr. 0. Ziegengeist 1

Vgl.

BaaHMOCBHSH Ii BBaHMoaeiiCTBiie HanHOHanbHLix jiHTepaTyp. M a T e p H a j i H

fliicityccHH

11 — 15 HHBapn 1960 r. (Wechselbeziehungen und Wechselwirkung zwischen den Nationalliteraturen. Materialien der Diskussion vom 11. —15. Januar 1960), Moskau 1961, 439 S.

F . MIERAIT

Zur Edition und Interpretation sowjetischer Lyrik in Westdeutschland in den Jahren 1945—1960 Eine Untersuchung der neueren westdeutschen Editionen von Gedichten A. Bloks und S. Esenins zeigt, daß Verleger, Herausgeber und Übersetzer der russischen Lyrik des 20. Jahrhunderts — wahrscheinlich nicht immer bewußt, aber doch keinesfalls zufällig — einer Diskriminierung der sowjetischen literarischen Leistung, die unter der ideologischen Führung der westdeutschen Ostforschung systematisch betrieben wird, leider immer noch ganz wesentlich Vorschub leisten. Im Aufsatz „Zum Problem der deutschen Übersetzung sowjetischer Lyrik", in: ZfSl, IX (1963), Nr. 5, S. 755ff.) konnten wir den Anteil Johannes von Guenthers, Paul Celans und anderer an den Bemühungen um die Übersetzung russischer Lyrik des 20. Jahrhunderts im Detail würdigen. Die folgenden Bemerkungen sollen vor allem aufmerksam machen auf einige gefährliche Unbedachtsamkeiten und Konzessionen an die offiziöse antisowjetische Propaganda, die, wie sich zeigt, geeignet sein können, die verdienstvolle Arbeit der Übersetzer in wenig schmeichelhafte Nachbarschaft zu bringen. Im Jahre 1958 erschien bei S. Fischer in Frankfurt am Main in einer Einzelausgabe eine neue Übersetzung der „Zwölf" von A. Blok aus der Feder des bedeutenden westdeutschen Lyrikers Paul Celan. Celan hat außer Blok in jüngster Zeit aus der russischen Lyrik des 20. Jahrhunderts O. Mandel'stam1 und S. Esenin 2 übersetzt. Bloks großes Poem hatte bis dahin fünf deutsche Übersetzungen erfahren, die sämtlich auf dem Buchmarkt nicht mehr greifbar sind3. Celan legt nun eine Übersetzung vor, die unzweifelhaft in einigen Teilen bemerkenswerte deutsche Entsprechungen für die außerordentlich komplizierte Sprach- und Versstruktur des Gedichts gibt, jedoch in der übersetzerischen Interpretation bedenkliche Sinnverschiebungen aufweist. Kleinliche Philologenkritik steht dem Betrachter der großen nachschöpferischen Leistung, die jede Übersetzung darstellt, am wenigsten an. Der Betrachter weiß 1

2 3

O. M a n d e l ' s t a m , Gedichte (Ausgew. und aus dem Russ. übertragen von P. Celan), Frankfurt 1960. S. J e s s e n i n , Gedichte (Ausgew. und a. d. Russ. übertr. von P. Celan), Frankfurt 1961. vgl. M. B a a d e , Zur Aufnahme des Poems „Die Zwölf" von A. Blok in Deutschland (Teil 1: 1920-1933), in: ZfSl, IX (1964), Nr. 2, S. 200 ff. - Inzwischen liegt in der Anthologie „Sternenflug und Apfelblüte", Berlin 1963, die von A. E. Thoss besorgte siebente deutsche Übersetzung des Poems „Die Zwölf" vor.

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mit dem Übersetzer, daß es — zumal bei der Versübersetzung — nicht ohne schmerzlichen Verlust abgeht. Was Bloks „Zwölf" zu einem Höhepunkt seiner Dichtung, der Dichtung Rußlands und der Welt macht — die organisch-leichte Verbindung einer in zwei Jahrzehnten zu glänzender Vollendung gebrachten Wortund Verskunst mit dem Rhythmus und der Sprache des politischen Tages, der sozialistischen Revolution —, stellt dem Übersetzer ungewöhnlich schwere Aufgaben. Pa3tirpajiacL MTOÖ-TO Bbiora Ott, Bbiora, ott, Bbiora!

So beginnt das X. Kapitel. Symbol für die Entfesselung, für den Ausbruch aus der Erdenenge, für das Allverbindende war Blok dieser russische Schneesturm seit früher Zeit (spätestens seit dem Januar 1907, da in einem großen Aufflug die Gedichte des Zyklus „ C H e a i H a n MacKa" entstanden). Nun war er Synonym für die tosende Gewalt der Revolution, und Blok hat die neue Sprache, die neue Musik des russischen Schneesturms wohl wiedergeben können. Das umgangssprachliche „ H T O Ü - T O " und (in der zweiten Zeile) „Bbiora" mit umgangssprachlicher Betonung auf der zweiten Silbe lösen das Bild des Schneesturms aus dem ausschließlich mystisch-eschatologischen Assoziationskreis. Ganz abgesehen von Klangfarbe und Lautgestalt des russ. „Bbiöra" — „Bbiora", ist auch der vielschichtige Sinn des Bildes im Deutschen nicht wiederzugeben. So wird es sich oft als unumgänglich, ja der Übersetzung durchaus zuträglich erweisen, Zeilen auszutauschen, Wörter, Zeilen wegzulassen, Bilder des Originals durch andere, der Zweitsprache geläufigere zu ersetzen, Rhythmus und Reim des Originals zu verlassen usw. Wo dies Tugend und wo Sünde ist, das muß die Werkkenntnis des Übersetzers entscheiden helfen. Ausschlaggebend für die Qualität der Übersetzung wird bleiben, ob es gelungen ist, den spezifischen Gestaltungsimpuls in der Zweitsprache im wesentlichen neu wirksam werden zu lassen, ob es gelungen ist, Geist und Atmosphäre des Originals in die Zweitsprache hinüberzubringen. Das aber fordert vom Übersetzer, gut vertraut zu sein mit dem Gesamtwerk des Dichters und seiner Stellung in der Nationalliteratur. In neuester Zeit ist es besonders der Wiener Hugo Huppert, der durch ausgezeichnete Werkkenntnis, verwandten Formwillen und gleiches Welt- und Zeitverständnis in die Lage versetzt ist, kongeniale Übersetzungen aus dem dichterischen Werk Majakovskijs zu schaffen. P. Celan hat sich, wie eine Betrachtung seiner Übersetzung lehren muß, zu unserem Bedauern diese gute Werkkenntnis nicht aneignen können. Es sei hier auf einen charakteristischen Zug der Übersetzung der „Zwölf" von Celan hingewiesen, der, wie noch zu zeigen sein wird, nicht nur in seinen Übersetzungen aus der russischen Lyrik des 20. Jahrhunderts anzutreffen ist. Es ist der Zug zur abstrahierenden übersetzerischen Ausdeutung des Textes. Blok beginnt:

Celan übersetzt:

MepHHtt Beqep.

Schwärze: Abend Weiß: Schnee fällt.

Eejitiii

CHer.

Edition und Interpretation sowjetischer Lyrik in Westdeutschland

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Indem die vom Original vorgegebene Wortverbindung gelöst und das Ungewisse und Unheilschwangere des Abends durch substantivierende Übersetzung „Schwärze: Abend" für „ H e p H H ü B e n e p " ungerechtfertigt in den Vordergrund gebracht wird (unterstützt besonders durch die gewollte Ungewöhnlichkeit des über die Forderung des Originals hinaus assoziationsreichen Abstraktums „Schwärze"), ist eine erste Sinnverschiebung bewirkt, die, bald stärker, bald schwächer auftretend, für Celans Übersetzung bezeichnend ist 1 . „ H e y r 0 M 0 H H H Ü Bpar" erscheint abgeschwächt als „die drüben"; und wenn wir das vom Kontext her als mögliche Konzession des Übersetzers an die Notwendigkeiten der Zweitsprache gerade noch annehmen dürfen, so müssen wir jedenfalls der entstellenden Übersetzung des entscheidenden Passus im I I I . Kapitel energisch wehren: rope BceM SypjKyHM MHp0B0Ä nowap pa3«yeM, MHpoBoJi noJKap B KpoBH — M H Ha

rocnoffH, ÖJiarocJiOBH!

Allerorten, allerwegen wolln, Burschui, wir Brände legen! Das Blut soll kochen und sich regen. Herr im Himmel gib den Segen!

„MiipoBOii noHiap" — Bloks Bild für die Revolution — war vom politischen Sprachgebrauch der ersten Monate nach der sozialistischen Revolution wie wohl auch von Thomas Carlyles romantischem Revolutionsbegriff beeinflußt. Am 9. Januar 1918, einen Tag nachdem er die Arbeit an den „Zwölf" zum ersten Mal erwähnt, beendet Blok seinen Aufsatz „Die Intelligenz und die Revolution", in dem es heißt: „POCCHH — 6ypn. ^ C M O K p a T i i H n p u x o ß i i T , o n o a c a H H a H Öypefi', r o B o p H T Kapjieftjib." 2 In den ersten Tagen der sozialistischen Revolution geformt, von Lenin nachweislich in seinen Reden benutzt und in den täglichen politischen Ausein1

Es darf in diesem Zusammenhang an eine Stelle aus Paul Rillas Studie zur Rotheschen Shakespeare-Übersetzung erinnert werden, die geeignet ist, ein Licht auf diese Art der „Übersetzung" zu werfen, Rilla verglich die Übersetzungen Schlegels und Rothes für eine kleine Partie der Porzia. Der englische Text lautet: That light we see is burning in my hall: How far that little candle throws his beams! So shines a good deed in a naughty world. Schlegel hatte die dritte Zeile übersetzt: So scheint die gute Tat in arger Welt. Rothe hatte übersetzt: So glänzt das Gute durch die böse Welt.

2

Rilla bemerkt dazu: „Schlegel übersetzt zugleich wörtlich und poetisch ,So scheint die gute Tat in arger Welt'. Rothe ersetzt das Konkretum ,gute Tat' durch ein flaues Abstraktum ,das Gute'. Statt ,scheint' gibt er ,glänzt' — und ,in a naughty world' wird bei ihm zu einem fibel-banalen ,durch die böse Welt'" (vgl. P. R i l l a , Kampf um die ShakespeareÜbersetzung, in: Dramaturgische Blätter, 1. Jg., 1947, Nr. 5, S. 7). A. EJIOK, CoHHHeHHH B « B y x TOMax (A. Blok, Werke in zwei Bänden), Bd. 2, Moskau 1955, S. 218.

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andersetzungen an zentraler Stelle zur Kennzeichnung des Charakters der proletarischen Revolution gebraucht, hat das Bild „MHpoBoö iioatap" dann besonders in Majakovskijs Gedichten eine fruchtbare Entwicklung erfahren. In einem populären Lied jener ersten Jahre „Bejian apMHH, qepimii ßapoe" begegnen uns diese Zeilen: Mu pa3flyBaeM nomap MHPOBOÖ qepKBH h TKtpbMM cpaBHHeM c rseMJieft.1

Blok hat das Bild in diesem Sinn gebraucht. Die Übersetzung aber unterschlägt das trotz aller anarchistischen Greste konkrete revolutionäre Auftragsbewußtsein zugunsten einer verantwortungslos-sadistischen Stimmung der Räuberei und Brandschatzung. Ganz folgerichtig mußte die Entwicklung des Bildes im heftig-trotzigen „MHpoBOö nojKap B KpoBH" in einem unverbindlich-abstrakten „Das Blut soll kochen und sich regen" aufgehen, wodurch die Aussage vollends im Sinne einer kleinbürgerlichen Vorstellung von der Revolution verschoben wurde. Das X. und X I . Kapitel beschließt jener an die „Warschawjanka" gemahnende Vers: Blok: Celans Übersetzung: Bnepe«, Bnepe«, Bnepefl, PaßoiHfi HapoA!

Volk der Arbeit, bleib nicht stehn. Weiter mußt du, weiter gehn!

Die Strenge und disziplinfordernde Nachdrücklichkeit, Entschlossenheit des Aufrufs wurde in Celans Trochäen gänzlich verwischt, und es blieb, angefangen vom heute für „paöoiHü Hapofl" unannehmbaren abschwächenden, bagatellisierenden „Volk der Arbeit" bis zum idyllischen „bleib nicht stehn" und „weitergehn" ein wohlwollend-lässiger Ruf. Wolfgang E. Groeger, dessen Übersetzung der „Zwölf" 2 mit Einschränkungen auch heute noch für vorbildlich gehalten werden muß, hat hier originalgetreu: Vorwärts, vorwärts, zur Tat! Proletariat.

Groegers Lösung ist von einer genialen Wörtlichkeit. Sie bewahrt die Aussage, indem sie den ganz besonderen Rhythmus, ja sogar — soweit das überhaupt möglich ist — die Klangfarbe und Lautgestalt des Originals im Deutschen nachschafft. Die aus den unterschiedlichen Betonungsverhältnissen „Bnepea" — „vorwärts" resultierende Abweichung vom Text des Originals in „zur Tat" ist so gut vollzogen worden, daß eben nicht nur schlechthin die in diesem Falle für die Originaltreue ausschlaggebende Endsilbenbetonung im wichtigen letzten Versfuß wiederhergestellt wurde, sondern daß auch die Aussagekraft von Bloks Reim1

2

B. THMO^eeBa, FL3HK noBTa H BpeMH (V. Timofeeva, Die Sprache des Dichters und die Zeit, in: PyccKafl jiHTepaTypa, 1960, Nr. 2, S. 66. A. B l o k , Die Zwölf (Übertr. von W. E. Groeger), Berlin 1921.

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fügung „Bnepe,n'7„Hapofl" aufrechterhalten werden konnte in deutsch „zur Tat/ Proletariat". Bleibt hervorzuheben, daß Groeger die im Original wohlbedachte Silbenminderung in der zweiten Zeile einhielt. Im XI. Kapitel setzt Celan für: Hx DIIHTOBOHKH CTajibime Ha He3pHMoro Bpara... B nepeynoiKH rjiyxHe Tfle OflHa ntJJiHT nypra.

Blank und stählern die Gewehre: Feind — wo mag er sein? Gassen — alle führn ins Leere, Schnein und Schnein und Schnein.

Der Übersetzer zerreißt den konkreten Sinnzusammenhang und löst den aus dem Original außerordentlich gut empfindbar werdenden Spannungszustand immerwährender Bereitschaft auf in ein „Geworfensein", dessen Symbole die ins Leere führenden Gassen und die Welt im Schnee sind: eine abstrahierend-mystifizierende Ausdeutung des Textes durch den Übersetzer. Schon im X. Kapitel hat Celan mit seiner Übersetzung die Assoziation der Verlassenheit und der Existenzangst ganz wider den Sinn des Originals herausgefordert: Pasurpajiacb HTOÜ-TO Bbiora,

Woher schneit es, wenns so schneit? Alles weht es zu: He BHflaTB coBceM «pyr npyra Keiner keinem sichtbar! Weit 3a wrupe 3a rnara! noch das nächste Du. Ofl, Bbiora, oft, Bbiora!

Das ist dann aber nicht mehr Bloks geniales revolutionierendes Spätwerk. Celans Übersetzung legt vielmehr den Gedanken nahe, daß hier — dem Übersetzer kaum ganz bewußt, aber seinem ganz anderen Weltbild und Lebensgefühl und dem über lange Jahre für Westeuropa typischen Verhältnis zur sowjetischen geistigen Leistung nicht zufällig entsprungen — eine partielle Zurücknahme der Dichtung vor sich gegangen ist. Die der Übersetzung vorangestellte Notiz kann den gewonnenen Eindruck nur bestätigen. Celan schreibt: „,Im Einklang mit den Elementen' (so berichtet eine Tagebuch-Notiz Bloks) niedergeschrieben, wuchs das Gedicht von seiner Mitte her: das achte, mit den Worten , 0 du Gram und Kümmernis' anhebende, mit dem Wort ,ödigkeit' ausklingende Stück war das erste. Man darf es wohl als das Herzstück ansehen."1 Celan stützte sich bei der Charakterisierung des Entstehungsprozesses auf die Erinnerungen K. Öukovskijs, eines engen Freundes Bloks, der besonders in den letzten Jahren in Bloks nächster Nähe arbeitete. Öukovskij schreibt: „OH iianaji nwcaTb ee c cepejjHHH, co CJIOB : , y » H H O J K H I K O M nonocHy, nojiocHy! — n0T0My ^TO, K A K paccKa3HBaji O H , 3 T H JJBA >K B nepBoft CTpoine noKa3ajnici> eMy Becbiua Bupa3HTejibHLiMH. Ü O T O M nepemeji K Haiajiy H B O ^ H H peHb Hanncaji TTOITH Bce: BOceMb neceH, RO Toro MecTa, rjje CKa3aH0: YnoKoii, rocnoflH, «yuiy pa6u T B o e n . . . CKyiHo!'"2 1 2

A. B l o k , Die Zwölf (Aus d. Russ. übertr. von P. Celan), Frankfurt 1958, S. 5. K. H y K O B C K H Ä , ANEKCAHAP EJIOK KAK NENOBEK H no3T. (K. Cukovskij, Alexander Blok als Mensch und Dichter), Petrograd 1924, S. 25.

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Es ist sehr bedauerlich, daß Celan einer grob entstellenden Wiedergabe dieses aufschlußreichen Passus gefolgt ist. Zweifellos hat die intellektuelle Unredlichkeit des nicht ermittelten Urhebers dieser Entstellung dazu geführt, daß sich Celan in seiner extrem subjektiven Rezeption der „Zwölf" bestätigt fühlte, wenn nicht sogar mit Berufung auf diese entstellt wiedergegebene Äußerung des Dichters die zur Rede stehenden übersetzerischen Interpretationen vorgenommen worden sind 1 . Im 1959 veröffentlichten Band „Sprachgitter" finden wir das Gedicht „Heimkehr", das ein bezeichnendes Licht auf das komplizierte und notwendig von Mißverständnissen ungewöhnlich belastete Verhältnis des Dichters Celan zu Bloks Poem wirft 2 : Schneefall, dichter und dichter, taubenfarben, wie gestern, Schneefall, als schliefst du auch jetzt noch. Weithin gelagertes Weiß. Drüberhin, endlos, die Schlittenspur des Verlornen. Darunter, geborgen, stülpt sich empor, was den Augen so weh tut, Hügel um Hügel, unsichtbar. Auf jedem, heimgeholt — ein Heute, ein ins Stumme entglittenes Ich: hölzern, ein Pflock. Dort: ein Gefühl, vom Eiswind herübergeweht, das sein tauben-, sein schneefarbenes Fahnentuch festmacht.

Es ist außerordentlich schwierig, wenn nicht gar unmöglich, von einem Daseinsverständnis dieser Art her Bloks reifes Spätwerk adäquat zu übersetzen. So gab Celan in vielem sein Erlebnis des Werks, nicht aber das Werk selbst. Bedauerlicherweise macht die westdeutsche Slawistik nicht auf die bedenklichen Sinnverschiebungen in der neuen Übersetzung dieses bedeutenden Werkes der 1

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Der Rezensent der von O. Pollak u. a. geleiteten sozialdemokratischen Wiener Zeitschrift „Zukunft" gibt dazu einen aufschlußreichen Kommentar mit eindeutig antisowjetischer Zielsetzung, wenn er schreibt: „Der neue Übersetzer Paul Celan will die Betonung auf das Schlußwort des 8. Stücks gelegt wissen. Es lautet: ödigkeit." Ausgehend von dieser neuen Übersetzung, empfiehlt er die Gleichsetzung von Bloks „Zwölf" und Pasternaks „Doktor Schiwago", die beide, wie es heißt, „derselbe Geist" erfülle (vgl. H. H. H a h n l , Doktor Schiwago — Held von einem anderen Stern, in: Die Zukunft, 1959, Nr. 1, S. 25). P. C e l a n , Sprachgitter, Frankfurt 1959, S. 16.

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modernen russischen Dichtung aufmerksam. Johannes Holthusen, dessen letzte Veröffentlichungen eine genaue Kenntnis der Dichtung A. Bloks vorauszusetzen gestatten 1 , betont, das Poem behalte seinen „hohen Rang vor allem als sprachlich-klangliche und rhythmisch-dynamische Sinnfigur der Revolution" 2 . Paul Celan sei die „Anverwandlung dieser revolutionären, aufrüttelnden Klangfigur" gelungen. Die Reduzierung des literarischen Rangs der Dichtung „Die Zwölf" auf die lautliche und rhythmische Virtuosität ist leider bezeichnend für die meisten gelehrten slawistischen Darstellungen aus Westdeutschland und Amerika. Nach V. Setschkareff, der in seiner Literaturgeschichte formulierte, die „Zwölf" seien „inhaltlich und weltanschaulich ein höchst unklares, abstoßendes Produkt" und erhielten „dichterische Gewalt durch geschickten Wechsel in der Rhythmik ihrer Verse" 3, war es besonders Gleb Struve, der diesen Gedanken nachdrücklich vertrat. In der abschließenden Bemerkung zum Abschnitt über Bloks „Zwölf" betont Struve ausdrücklich: „Aber der Wert des Poems, ich wiederhole es noch einmal, beruht nicht auf seiner Aussage" 4 . Auch der Mainzer Slawist F. W. Neumann, dessen vom Antikommunismus geprägte, pseudowissenschaftliche Verfahrensweise E. Weiß ausführlich untersucht hat, bemüht sich, in der Arbeit „Die Entwicklung der russischen Literatur unter dem Sowjetregime" die revolutionäre Aussage Bloks zu eliminieren. Die religiöse Leidensphilosophie, wie sie bei Dostoevskij zu treffen sei, bestimme Bloks Rußland- und Revolutionserlebnis und es nehme „das Bild Rußlands wieder die Färbung an, die es in seiner früheren Sammlung ,Schneemaske' hatte" 5 . Neumann will die sozialistische Revolution ohne Wirkung auf Bloks großes Gedicht sehen und versteigt sich zu einer aus dem Werk nicht ableitbaren Gleichsetzung der revolutionären „Zwölf" mit dem zehn Jahre früher entstandenen Gedichtzyklus. Im Unterschied dazu haben Wilhelm Lettenbauer und der inzwischen verstorbene dänische Slawist Adolf Stender-Petersen, dessen zweibändige Literaturgeschichte 1957 in München deutsch erschien, Deutungen formuliert, die sich in einigen Punkten von der Überbetonung des bloß Artistischen, wie sie bei Setschkareff, Struve und Holthusen begegnet, und der mystifizierenden Interpretation 1

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J. H o l t h u s e n , Studien zur Ästhetik und Poetik des russischen Symbolismus, Göttingen 1956. — Versdichtung der russischen Symbolisten. Ein Lesebuch. Hrsg. von J. Holthusen und D. Tschiiewskij, Wiesbaden 1959. J. H o l t h u s e n , Lyrik aus Rußland und Polen, in: Merkur, 14. Jg., 1960, Nr. 2, S. 192. V. S e t s c h k a r e f f , Geschichte der russischen Literatur, Bonn 1949, S. 122. G. S t r u v e , Geschichte der Sowjetliteratur, München 1957, S. 22. — Zur Gesamteinschätzung Struves vgl. N. L u d w i g , Verfälschte Geschichte der Sowjetliteratur, in: „Ostforschung" und Slawistik, Berlin 1960, S. 4 6 - 5 6 . F. W. N e u m a n n , Die Entwicklung der russischen Literatur unter dem Sowjetregime, in: Das Sowjetsystem in der heutigen Welt. Schriften des Auslands- und Dolmetscherinstituts der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz in Germersheim, Bd. II, München 1956, S. 142f. — Zur Gesamteinschätzung Neumanns vgl. E . W e i ß , Literaturbetrachtung im Dienste des Antikommunismus, in: „Ostforschung" und Slawistik, Berlin 1960, S. 5 7 - 7 5 .

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N e u m a n n s abheben und Bloks widersprüchliches Verhältnis zur russischen R e v o lution etwas objektiver erörtern 1 . E s ist bezeichnend, daß zwei der erklärt antikommunistischen westdeutschen Publizisten, beide ehemals ansässig in sozialistischen Staaten, nach der v o n Struve und N e u m a n n verfochtenen zwielichtigen Blok-Legende greifen 2 . D e m e t z läßt sich v o n ihr die demagogische Einführung in sein oberflächliches, kenntnisarmes antimarxistisches Buch „Marx, Engels und die Dichter" 3 stützen. Rühle übernimmt fast lückenlos Struves Argumente und Zitate, u m das Bild eines russischen Dichters zu zeichnen, der sich schließlieh v o n der Revolution lossagt („Zwei Jahre später blickte Blok ernüchtert auf die Arbeiten der ersten Revolutionszeit zurück"). Er stützt sich auf die bekannte Notiz Bloks über die „Zwölf" v o m 1. April 1920, aus der er, der Übersetzung in Struves Buch folgend, u. a. folgendes zitiert: „Diejenigen, die in den ,Zwölf' politische Verse sehen, sind entweder sehr blind für Kunst oder sitzen bis an die Ohren im politischen Schmutz oder sind v o n einer großen Boshaftigkeit besessen, gleichviel, ob sie Feinde oder Freunde meines Poems sind." 4 Rühle spekuliert wie Struve darauf, daß der Leser schlußfolgere, Blok habe — ohne sich zu engagieren, rein phänomenal — die Atmosphäre der Zeit in R h y t h m u s und Reim gebannt 5 . U n d Holthusen sollte 1

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W. L e t t e n b a u e r , Russische Literaturgeschichte, 2., verm. und verb. Aufl., Wiesbaden 1958, S. 235. — Zur Gesamteinschätzung von Lettenbauers Literaturgeschichte vgl. im vorl. Band den Aufsatz von E. W e i ß ; A. S t e n d e r - P e t e r s e n , Geschichte der russischen Literatur, Bd. II, München 1957, S. 531. Zur Entstehungsgeschichte und zum Wesen der Blok-Legende vgl. M. B a a d e , Zur Aufnahme des Poems „Die Zwölf" von A. Blok in Deutschland (Teil I I : 1945—1963), in: ZfSl, I X (1964), Nr. 4. P. D e m e t z , Marx, Engels und die Dichter, Stuttgart 1959, S. 7. — Zur Gesamteinschätzung Demetz' vgl. V. M a c h & ö k o v ä , Viel literaturkritischer Lärm um Nichts, in: Kunst und Literatur, 1960, Nr. 10, S. 1030-1039. J . R ü h l e , Literatur und Revolution. Der Schriftsteller und der Kommunismus, Köln— Berlin 1960, S. 16. Rühle unternimmt bezeichnenderweise in seiner im genannten Buch abgedruckten Analyse von Gor'kijs Roman „Das Leben des Klim Samgin" den Versuch einer interpretatorischen Rückverwandlung Klim Samgins, der „leeren Seele" des schillernden Kleinbürgers, in den tragischen Menschen des 20. Jahrhunderts, der in der Massengesellschaft zerrieben wird. — Wie erwünscht Rühles „Interpretation" ist, zeigt die westdeutsche Presse. Das Äußerste leistet sich Demetz, der Rühles Essays eine „Universalgeschichte der modernen linken Weltliteratur" nennt und diesen Rang ausgerechnet durch die Gor'kij-Deutung erwiesen sehen will. Sein Resümee aus Rühles Untersuchung zeigt nur zu deutlich, zu welch ungeheuerlichen Fehlschlüssen eine ungenügende Kenntnis der Details und der Zusammenhänge führen muß. „Er sollte dieses große Werk (den Wilhelm Meister der Epoche Lenins) neuerlich übertragen und in einer kritischen Ausgabe vorlegen, die einen sicheren Trennungsstrich zwischen den verschiedenen Textschichten und den Eingriffen späterer sowjetischer Redakteure zöge; Klim Samgin, aus Geist und Stamm Dr. Shiwagos, harrt noch der Entdeckung durch den deutschen Leser" (vgl. P. D e m e t z , Die linke Weltliteratur: Chronik und Legende, in: Merkur, 15. Jg., 1961, Nr. 11, S. 1091).

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dann, anläßlich der Neuübersetzung von Celan, das einzig Bewegende des Gedichts in der „revolutionären, aufrüttelnden Klangfigur" finden. Leider konnten sich weder Struve noch Holthusen dazu verstehen, die interessierte Öffentlichkeit auch nur auf eine jener Äußerungen Bloks hinzuweisen, die seine Stellung zum Problem der politischen Position des Künstlers verdeutlichen helfen. Am 13. Mai 1918 antwortete Blok auf die Frage des „Verbandes der Literaturschaffenden", was in den Tagen nach der sozialistischen Revolution die Pflicht des Künstlers sei: Der Künstler müsse im Zorn brennen gegen alles, was den Leichnam der alten Welt zu konservieren strebe. Dieser Zorn dürfe nicht zur niederen Wut entarten. Um dies zu erreichen, solle der Künstler die soziale Ungleichheit nicht vergessen. Dieses Wissen um die soziale Ungleichheit sei ein hohes, kaltes, zorniges Wissen 1 . Am 28. März 1919 notiert der Dichter: „ , B H T B BHE N O J I H T H K W ' . . . ? . . . BTO SIIÜHHT . . . 3AMHKATBCH B 3CTETH3M H HHFLHBHFLYAJIH3M..." 2 Und am 1. April 1919: Die Kunst ginge schließlich verloren, wenn sie nur um ihrer selbst willen geschaffen werde s . Es steht außer jedem Zweifel — und hier ist Holthusen zuzustimmen — daß Celan mit einigen Lösungen wesentlich dazu beigetragen hat, die semantischen, lautlichen und rhythmischen Möglichkeiten der deutschen Sprache zur Übersetzung russischer Lyrik des 20. Jahrhunderts neu bewußt zu machen und auszunutzen. Doch Celan hat — angeregt oder zumindest unterstützt von der Vielzahl gleichgerichteter Interpretationen aus dem Munde prominenter Slawisten Westdeutschlands und den USA — den spezifischen Gestaltungsimpuls des Originals im Deutschen nicht konsequent wirksam werden lassen können 4 . Ein Zug zur abstrahierend-mystifizierenden Ausdeutung des Textes durch den Übersetzer ist auch bei den neuesten westdeutschen Übersetzungen aus dem Werk Esenins deutlich festzustellen 5 . Es sei hier auf eklatante Beispiele für diese bedenkliche Verfahrensweise aus Publikationen von Wolfgang Schwarz und Karl Dedecius hingewiesen. W. Schwarz, ein ehemals berüchtigter nationalsozialistischer Dichter, unterstützte nach der Rückkehr aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft bewußt das Entstehen eines verzerrten Bildes vom sowjetischen Menschen, vom sowjetischen Leben, von der sowjetischen Kultur. „Der Russe lebt, wann und wo immer, als Mensch im Kreuz", schreibt Schwarz in der Einleitung zu seinem

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A . EJIOK, a. a. O., B d . I I , S. 2 9 7 .

ebd., S. 506. » ebd., S. 508. 4 Inwieweit der Betrachter der „Deutschen Rundschau", der die Übersetzung für im Ganzen nicht gelungen hält, mit seiner Kritik an Celans Sprachmitteln Wesentliches formuliert (vgl. m. p., Lyrik — russisch und deutsch, in: Deutsche Rundschau, 86. Jg., 1960, Nr. 2, S. 183) wird in einer speziellen Untersuchung zu zeigen sein. 6 P. Celans bemerkenswerte, aber zwiespältige Esenin-Übersetzungen, veröffentlicht in den Sammlungen: Russische Lyrik des XX. Jahrhunderts, Wiesbaden 1959, und S. J e s s e n i n , Gedichte, Frankfurt 1961, werden von mir in einem in der „Zeitschrift für Slawistik" erscheinenden Aufsatz „Probleme der deutschen Esenin-Übersetzung" behandelt.

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Band „Dies Land ist weit" 1 , der Briefe russischer Menschen vorlegt. Diese Konzeption bestimmte nicht allein die ganz und gar entstellende Auswahl aus dem russischen Briefwerk der Jahrhunderte, sondern auch die Interpretation des von Schwarz zitierten Gedichts von Esenin „Brief an die Mutter", das in der entstellenden Übersetzung Heinrich Stammlers erscheint 2 : H MOJiHTbCH He yiH MeHH. He Haflo! Lehr mich kein Gebet — den Unerlösten K CTapoMy B03BpaTa Gojitnie HeT. Gibt es zum Vergangnen Rückkehr nicht. Tu oflHa M H e N O M O M B H OTpafla, Du nur kannst mir helfen und mich trösten. T H O f l H a MHe HecKa3aHHHit C B e T . Du nur bist mein unsagbares Licht.

Schwarz nennt sein Kapitel — deutlich darauf hinweisend, wieviel Wert er auf diesen Aspekt legt — „Der Unerlöste". Der Leser weiß nichts von der betonten Skepsis des Dichters und des originalen Gedichts gegenüber der naiven Gottesfürchtigkeit der Mutter und muß meinen, Schwarz habe recht, wenn er schreibt, eben dieser Dichter habe — Stellvertreter einer ganzen Generation — darunter gelitten, daß der Himmel für das heutige Rußland verstellt sei 3 . Diese Fälschung erscheint in einem besonderen Licht, wenn bedacht wird, daß in dem gleichen Jahr 1924, da dieser „Brief an die Mutter" geschrieben wurde, ein anderer Brief an die Mutter entstand, in dem es hieß: H o Ty BecHy,

H o 3Ta n a n o e r b —

K o T o p y i o JHO6JIK>,

XNAFLHAH N J I A H E T A !

fl peBOJiKii;Heit BejiHKOit

Be H CoJiimeM-JIeHHiibiM

Ha3HBaro! H jiHHib o HEß CTpa^aio H CKopöJiio, E e oflHy FL »FLY H npH3HBaio.

I I o K a He pacTorurrb! BOT NOTOMY G ÖOJIBHOÄ Ayrnoft no9Ta n o r n e j i CKaHAauHTbH OaopHnqaTh H nHTb. 4

Karl Dedecius, der als Majakovskij-Übersetzer hervortrat 5 , hat im Juni-Heft 1960 der westdeutschen Zeitschrift „Akzente" einen Aufsatz veröffentlicht, der den Kommentar zu einer von ihm im gleichen Heft vorgelegten Auswahl aus Majakovskij und anderen sowjetischen Lyrikern bildet und in dem er auch Esenins Dichtung berührt. Einige Zeilen aus dem Gedicht „3anejm T e c a H u e jjporn...", das Esenins Werk in diesem Heft vertritt und das Heft auch einleitet, dienen Dedecius in seinen abschließenden Bemerkungen zur Charakterisierung der Gesamtsituation russischer Lyrik im 20. Jahrhundert. Dedecius schreibt: Es „ . . .sind 1

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Dies Land ist weit. Briefe russischer Menschen. Hrsg. von W. Schwarz, Witten und Berlin 1959, S. 11. — Zur Übersetzung des Gedichts vgl. Lyrik des Abendlands. Gemeinsam mit H. Hennecke, C. HohofF und K. Vossler ausgewählt von G. Britting, München 1949, S. 615. Dies Land ist weit, a. a. O., S. 165. » ebd., S. 163. C. EceHHH, CoraHemiH B HByx TOMax (S. Esenin, Werke in zwei Bänden), Bd. II, Moskau 1955, S. 159. W. M a j a k o w s k i ] , Gedichte. Russ.-dt. (Übertr. von K. Dedecius), Ebenhausen 1959.

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aber auch an der Literatur ewig russische Spuren ablesbar, die trotz Wandlung der Systeme unwandelbar zu bleiben scheinen: Lust a m Leid, messianistisches Opfertum, eine alles verklärende Heimatliebe (,Mir mögen Ketten Lust bedeuten: Wenn mir nur meine Steppen läuten.') bestimmen nach wie vor die Gefühlswelt und die Haltung der russischen Literatur. In dieser Hinsicht ist es ein unverändert Volk von Gläubigen... geblieben." 1 Dedecius setzt also nicht nur Esenins Frühschaffen ohne weiteres gleich mit sowjetischer Lyrik, sondern verschiebt, um seine Thesen „beweisen" zu können, den Sinn der letzten Zeilen des Gedichts von 1916. I m Original nämlich finden wir: H He OTflaM h 3th i;enn M He p a c c T a H y c b c «oothm chom, K o r « a 3BeHHT pop;Htie cTeim

MOJIHTBOCJIOBHHM KOBHJieM. „ 8 t h i;enii" — „diese Ketten", das sind aber die K e t t e n der Liebe zur Heimat, des Glaubens an die Heimat, wie der Kontext zeigt; eben diese unsentimentale Heimatliebe zeichnet Esenin so vor der zynischen Gleichgültigkeit seiner meisten sogenannten Freunde aus. „ 9 t h " fällt bei Dedecius, und Heimatbande werden symbolische Ketten, mit denen der Interpret „Lust am Leid" und „messianistisches Opfertum" eindrucksvoll belegen k a n n 2 . Die Esenin-Interpretation in dieser Richtung zieht sich von dem die exotischen Skandale traktierenden Aufsatz in der Zeitschrift „Die K u l t u r " 3 über die angeführten Deutungen von Schwarz und Dedecius, bis hin zur tendenziösen Auswahl in der Anthologie „Russische Lyrik des X X . Jahrhunderts" 4 , die Gisela Drohla besorgte. Die russische Lyrik des 20. Jahrhunderts ist in dieser Anthologie repräsentiert durch Sologub (5), V. Ivanov (1), Gippius (2), Blok (6), Mandel'stam (4), Esenin (8), Majakovskij (5), Pasternak (7). I m Jahre 1930 endet für G. Drohla das 20. Jahrhundert. Tvardovskij, Tichonov, Lugovskoj, Zabolockij, Scipacev, u m nur diese zu nennen, fehlen, und das Übergewicht von Sologub, Ivanov, Gippius, Manderitam und Pasternak ist so recht dazu angetan, dem Gebildeten in der Bundesrepublik zu zeigen, daß doch das Wesentliche der modernen russischen Lyrik eigentlich aus den alten Quellen schöpfe, aus „Urrussischem", und d a ß die anderen, Blok, Esenin, Majakovskij am Neuen schließlich doch gescheitert seien 5 . 1 2

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K. D e d e c i u s , Wladimir Majakowski, in: Akzente, 1960, Nr. 3, S. 209. Eine frühere Übersetzung kam dem Original näher: Ich schüttle diese alte Kette Und diesen langen Traum nicht ab... vgl. S. J e s s e n i n , An Bußland (dt. von Johanna Dürck), in: Hochland, 29. Jg., Bd. II, 1932, S. 424. I. F a l u d i , Ein russischer Verlaine. Begegnungen mit S. Jessenin, in: Die Kultur, 1959, Nr. 144, S. 12. Russische Lyrik des XX. Jahrhunderts. Hrsg. von G. Drohla, Wiesbaden 1959. Selbst der Kritiker des „Europäischen Osten", der Mainzer Slawist W. Gesemann, muß feststellen, daß wesentliche Vertreter der modernen russischen Dichtung — er nennt

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Da ist sie also wieder, die Mär von der Beständigkeit der russischen Seele, die neuerdings, nach Klaus Mehnerts Äußerung, der sowjetische Mensch sei mehr Mensch als sowjetisch, wieder geflissentlich lanciert wird. Damit aber nicht genug. Auswahl und Anordnung der Gedichte Esenins in dieser Anthologie sind deutlich darauf gerichtet, eben den Gedanken — und zwar direkt aus dem Werk — zu suggerieren, Esenin sei erdrückt worden von der neuen Wirklichkeit. Die Gedichte werden nicht in ihrer chronologischen Reihenfolge gegeben. Dem Gedicht „ O T T O B O pHJia poma 30Ji0TaH" (1924), das in herber Wehmut und unsentimental-besinnlichem Bescheiden, fern aller weinerlichen Resignation den Herbst feiert, den Herbst der Jugend des Dichters, folgt „YcTaji H JKHTB B POAHOM Kpaio" (1915), dessen Melancholie und romantische Todessehnsucht („B aeJieHHH Beiep no« OKHOM Ha pyKaße CBOCM noBemycb") in dieser Umgebung nun nicht mehr als Folge nicht erwiderter Liebe, sondern als Folge der Verzweiflung an der sowjetischen Heimat erscheinen müssen. In diesem Gedicht von 1915 werden übrigens in der Umgebung von „OrroBopHJia poma sojiOTan" (1924) und „He pyrafiTeci." (1921) Assoziationen herausgefordert, die den Leser in die Irre führen, nämlich neben diesem Selbstmordanklang Gedanken über das ewige Russentum: Und Rußland lebt, wies immer schon gelebt. Am Zaun da tanzt es und die Tränen rollen. (1915)

Dieser Tod, so muß dem Leser, der von dieser Manipulation nichts weiß, scheinen, dieses Schicksal des Dichters, dieses Schicksal der Heimat wird hingenommen, so recht kümmert es keinen. Es bedarf nur der Erinnerung an die außerordentliche weltanschauliche und künstlerische Entwicklung des Dichters zwischen 1915 und 1924, um die Unhaltbarkeit dieser „Neuordnung" zu begreifen. Drohla ist, wie ihre zahlreichen Übersetzungen beweisen, des Russischen mächtig. Diese Auswahl ist daher wohl nicht als der bedauerliche Fehlgriff eines ehrlich bemühten, aber unzulänglich informierten Herausgebers zu werten, sondern als das Ergebnis einer bewußt vorgenommenen Fälschung des Bildes eines großen Dichters. Es ist auch hier wieder der nicht zufällige Versuch, diesmal durch eine vom Leser schwer zu fassende Willkür in der Auswahl und der Anordnung der einzelnen Gedichte, den Fortschritt im Werk des Dichters ungeschehen zu machen. Die einschlägigen literaturgeschichtlichen und publizistischen Darstellungen in Westdeutschland sind in ihrer Mehrzahl nicht dazu angetan, ein objektives Bild von der poetischen und politischen Position Esenins zu vermitteln. Abgesehen von gewissen positiven Ansätzen bei Lettenbauer 1 und Stender-Petersen 2 ist in den Interpretationen aus den westdeutschen slawistischen Fachkreisen nicht das

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Tichonov, Simonov, Kirsanov — fehlen (vgl. G e s e m a n n , Russische Lyrik des XX. Jahrhunderts, in: Der europäische Osten, 6. Jg., 1960, Nr. 68, S. 383). W. L e t t e n b a u e r , a . a . O . , S. 272 ff; vgl. auch W. L e t t e n b a u e r , Farben in Esenins Dichtung, in: Die Welt der Slawen, 1957, Nr. 1, S. 4 9 - 6 0 . A. S t e n d e r - P e t e r s e n , a. a. O., S. 539. Der Verf. weist in der Schlußbemerkung des 6. Kapitels Esenin einen wesentlichen Platz bei der Entwicklung der sowjetischen Literatur zu.

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Bemühen zu finden, den schweren Weg des russischen Dichters in der Zeit der beginnenden Umgestaltung seines Landes mit der erforderlichen Differenziertheit darzustellen. Neumann 1 , Struve 2 , Setschkareff 3 und Rühle 4 wollen in Esenins Bekenntnis zum Oktober die schnell zu enttäuschende exaltierte Begeisterung eines rußlandgläubigen Idealisten sehen, eines den Stimmungen des Augenblicks unterworfenen Russen, eines allzu Naiven, der — um alle Hoffnung betrogen — sich schließlich gegen die Sowjetmacht aufgelehnt habe. „Die letzten Lebensjahre Jessenins waren eine fortgesetzte Flucht vor der Sowjetwirklichkeit", schreibt Rühle 5 und übernimmt — ohne übrigens die Quelle anzugeben — eine Darstellung von Vera Alexandrowa in den Washingtoner „Problems of Communism", die in deutscher Übersetzung im Informationsblatt „Ost-Probleme" erschien 6 . Alexandrowa folgend, interpretiert Rühle das unvollendet gebliebene Versdrama „CTpaHa HeroflfieB", an dem der Dichter 1922 und 1923 arbeitete, als den Aufschrei eines Verzweifelnden. Zweifellos spricht eine der zentralen Gestalten, der Bauernführer Nomach (Esenin bestätigte selbst, daß er Machno meinte, den er freilich aus einem Bandenoberhaupt in einen philosophierenden Anarchisten verwandelte) des Dichters düstere Gedanken über die Ungewißheit seines und seines Landes künftigen Schicksals aus, aber Alexandrowa wie Rühle unterschlugen, daß der Widerpart Nomachs, der Komissar Rassvetov, das andere Ich des Dichters meint, das mit dem alten, anarchistischen in prinzipielle Auseinandersetzimg tritt. Und wie in Nomachs selbstanklägerischen Monologen die verwandte Lyrik jener Zeit anklingt, so kommt mit Rassvetovs Entschlossenheit, dies alte Rußland zu überwinden, die allmählich sich festigende Überzeugung des Dichters in das Versdrama, es werde allein die Tat der Kommunisten Rußland wirklich befreien. Alexandrowa und Rühle nutzten die Unkenntnis ihrer Leser und boten ihnen eine die Aussage des Werkes fälschende, das Bild des Dichters im Sinne einer revisionistischen Konzeption rundende Interpretation. II. Die sowjetische Lyrik, die in den vergangenen Jahrzehnten einen bedeutenden, dem der sowjetischen Epik gleichwertig zur Seite stehenden Beitrag zur Weltliteratur geleistet hat, ist der deutschen Öffentlichkeit bisher immer nur in sehr ungenügendem Maß zugänglich gemacht worden. Zweifellos haben Übersetzungsschwierigkeiten hier ihre bedauernswerte Wirkung gehabt, aber wir können nicht umhin zu betonen, daß oft genug der Weg des geringeren Widerstands gegangen

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F. W. N e u m a n n , Sergej Alexandrowitsch Jessenin, in: Hamburger Akademische Rundschau, 2. Jg., 1947/48, Nr. 4, S. 175. 2 G. S t r u v e , a. a. O., S. 3 6 - 4 0 . » V. S e t s c h k a r e f f , a. a. O., S. 127f. 4 J. R ü h l e , a. a. 0 . , S. 19ff. 5 J. R ü h l e , a. a. O., S. 32. 6 V. A l e x a n d r o w a , Soviet Literature: 35 Years of Purge, in: Problems of Communism, 1952, Nr. 1; vgl. die deutsche Übersetzung in: Ost-Probleme, 4. Jg., 1952, Nr. 47, S. 1598. 13*

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wurde. Ein Lob moderner deutscher Übersetzermühe und Übersetzungskunst muß immer noch durch den Hinweis auf fühlbare Lücken in der Aneignung der russischen Lyrik des 20. Jahrhunderts eingeschränkt werden. Zwischen 1918 und 1933 widmeten besonders die proletarischen und die progressiven bürgerlichen Verlage und Zeitschriften der neuen russischen Lyrik ihre Aufmerksamkeit. Dichttingen A. Bloks, V. Majakovskijs, Demjan Bednyjs, S. Esenins, A. Bezymenskijs, M. Svetlovs u. a. wurden übersetzt, vorgetragen, interpretiert 1 . Nach Ivan Gölls und Savelij Tartakovers frühen Anthologien hat Joseph Kalmer 2 noch einmal die moderne russische Lyrik in Deutschland im Zusammenhang zu zeigen versucht. Doch das deutsche Bild von der sowjetischen Lyrik blieb, im Gegensatz zum Bild vom neuen Roman, ganz und gar unvollständig. Erst in der Zeit des Exils gewann die deutsche Bemühung um die Lyrik Kontinuität. Maximilian Schick, Hugo Huppert, Alfred Kurella, Franz Leschnitzer, Hedda Zinner publizierten ihre Übersetzungen in der Moskauer „Internationalen Literatur. Deutsche Blätter". Huppert und Leschnitzer veröffentlichten schon 1941 einen umfangreichen Band Majakovskij-Übersetzungen 3 . Anläßlich der verdienstvollen Nachdichtungen Hedda Zinners 4 schrieb Alfred Kurella 1940 eine kritische Studie, in der zum ersten Mal spezifische Probleme der deutschen Übersetzung moderner russischer Lyrik aufgeworfen werden. Kurella betonte die doppelte Aufgabe des Übersetzers, „... dem Leser ein Bild von der mannigfaltigen Fülle der Lyrik in der Sowjetunion zu g e b e n . . . " und „...befruchtend auf die deutsche Dichtung einzuwirken.. ." 5 Nach 1945 konnte, besonders in der Deutschen Demokratischen Republik, an diese Tradition angeknüpft werden. Blok, Majakovskij, Esenin, Tichonov, Tvardovskij, Scipacev, Surkov, Simonov erschienen in Buchausgaben 6 . Zwei 1

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vgl. F. Mierau, Die Rezeption der sowjetischen Literatur in Deutschland in den Jahren 1920-1924, in: ZfSl III (1958), S. 621-630. Weltanthologie des XX. Jahrhunderts. Europäische Lyrik der Gegenwart 1900 — 1925 (Nachdichtung von J. Kalmer), Wien—Berlin 1927. W. M a j a k o w s k i j , Ausgewählte Gedichte (Nachdichtungen von H.Huppert u. F. Leschnitzer), Moskau 1941. H. Zinner, Freie Völker — freie Lieder, Kiew 1939, 2., erw. Aufl., Weimar 1951. A. K u r e l l a , Freie Völker — freie Lieder (Kiew 1939), in: Internationale Literatur, 1940, Nr. 3, S. 83. A. B l o k , Gesammelte Dichtungen (Dt. von J. v. Guenther), München 1947. W. M a j a k o w s k i , Ausgewählte Gedichte (Übers, a. d. Russ. von H. Huppert), Berlin 1946. Die Wirbelsäulenflöte. Wolke in Hosen. Krieg und Welt. Der Mensch. Mit e. Vorwort von S. Hermlin (Dt. von A. E. Thoß), Berlin 1949. Ich selbst. Wie macht man Verse? (Dt. von S. Behrsing), Berlin 1949, 2. Aufl. 1960. Aus vollem Halse (Dt. von J. v. Guenther), Berlin 1950. 150000000. Darüber. Mit e. Vorwort von S. Hermlin (Dt. von A. E. Thoß), Berlin 1950. Ausgewählte Gedichte und Poeme (Dt. Nachdichtgn. von Hugo Huppert), 2. Aufl., Berlin 1953. Ausgewählte Gedichte. Ausgew. u. mit e. Nachwort vers. von W. Creutziger (Aus d. Russ. übertr. von H. Huppert u. A. E. Thoß), Leipzig 1953.

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bekannte Übersetzer russischer Lyrik, J. Guenther und M. Schick, gaben eine Auswahl ihres Übersetzungswerkes heraus 1 . Der Reclam-Verlag veröffentlichte eine Auswahl russischer Lyrik von Puschkin bis zur Gegenwart 2 . Der Verlag Kultur und Fortschritt veröffentlichte 1963 eine Anthologie sowjetischer Lyrik, die zum ersten Mal in Deutschland ein repräsentatives Bild der russischen Lyrik nach der sozialistischen Revolution gibt 3 . In der Bundesrepublik wächst inzwischen, spätestens seit den deutlich antisowjetisch gemeinten Veröffentlichungen der Werke Dudincevs 4 und Pasternaks 5 ein neues Unbehagen an der „Gleichgültigkeit, mit der die westliche Welt den geistigen, insbesondere den literarischen Hervorbringungen Sowjetrußlands begegnet" 6 . „Muß es nicht verwundern, daß wir die Antike aus den Quellen für uns zurückgewinnen, das gegenwärtige Leben des Ostens aber nur in der militärischpolitischen Bedrohung sehen, allenfalls über Sekundärliteratur (z. B. Klaus Mehnert) aufnehmen und hier die Quellen, das zeitgenössische Schrifttum, unbeachtet lassen? ... Wir sehen die Sowjetwirklichkeit mit den Augen ihrer Verneiner Es ist höchst bezeichnend, wenn Egbert Hoehl im „Panorama" zur zehn Gedichte umfassenden Majakovskij-Auswahl von Karl Dedecius 8 im Sommer 1959 schreiben

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Wage den Streit! Ausgew. Gedichte (Nachgedichtet u. hrsg. von H. Huppert), Leipzig 1960. S. J e s s e n i n , Liebstes Land, das Herz träumt leise (Dt. von E. J . Bach u. a.), Berlin 1958, 2. Aufl., 1960. N. T i c h o n o w , Gedichte (Dt. von A. E. Thoß), Potsdam 1950. A. T w a r d o w s k i , Wunderland Murawija (Dt. von A. Kurella), Berlin 1954. Liebesgedichte (Dt. von A. Blötz u. a.), Berlin 1950. S. S t s c h i p a t s c h o w , Lyrische Gedichte (Dt. von A. Kurella), Moskau 1952. Es gibt ein Buch der Liebe. Auswahl und Nachwort von H. Krempien (Nachdichtgn. von E. J . Bach u. a.), Berlin 1960; 2. Aufl., 1961. A. S u r k o w , Freunde und Feinde (Aus d. Russ. übertr. von H. Huppert), Moskau 1950. Der Welt den Frieden (Dt. v. A. E. Thoß), Berlin 1951. K. S i m o n o v , Lyrik eines Jahrzehnts. Mit e. Vorw. von Friedrich Wolf (Dt. von A. E. Thoß), Berlin 1952. J . v. G u e n t h e r , Geliebtes Rußland, Berlin 1956; M. S c h i c k , Nachdichtungen, Berlin 1960. Solang es dich, mein Rußland, gibt, Leipzig 1960. Sternenflug und Apfelblüte. Russische Lyrik von 1917 bis 1962. Hrsg. von Edel MirowaFlorin (Ausw. u. Zusammenstellung der Gedichte) und Fritz Mierau (Ausw. d. Nachdichtgn.) mit e. Geleitwort von Edel Mirowa-Florin und Paul Wiens, Berlin 1963. W. D u d i n z e w , Der Mensch lebt nicht vom Brot allein (Aus dem Russ. übers, von J . M. Schüle), Hamburg 1957. B. P a s t e r n a k , Doktor Schiwago (Aus dem Russ. übers, von R. v. Walter), Frankfurt 1958. W. J . S i e d l e r , Begegnung mit früher Sowjetliteratur, in: Tagesspiegel vom 27. VII. 1958. H. E s c h e n b u r g , Das literarische Urteil der Öffentlichkeit, in: Kulturarbeit, 11. Jg., 1959, Nr. 5, S. 100 (Hervorhebung von H. E.). W . M a j a k o w s k i , Gedichte. Russ.-dt. (Übertr. von K. Dedecius), Ebenhausen 1959.

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muß: „Dies ist unseres Wissens die erste Majakovskij-Auswahl auf dem westdeutschen Büchermarkt seit Kriegsende." 1 Tatsächlich, seitdem Majakovskij 1949 von Lucius D. Clay, dem Chef der damaligen amerikanischen Militärregierung in Deutschland, verboten worden war, war nichts mehr greifbar. Und es ist aufschlußreich genug, daß Pasternaks zwiespältiges Majakovskij-Bild im gleich zweimal ü b e r s e t z t e n „OxpaHHan rpaMOTa" u n d i m „BcTymrrejibHHft o^epn" sowie e i n a n

Karl Dedecius gerichteter sanktionierender, aber gleichzeitig Majakovskijs Leistung und Verdienst einengender Brief Pasternaks die westdeutsche „Majakovskij Entdeckung" begleiteten 2 . Inzwischen ist der westdeutschen Öffentlichkeit weiteres aus dem Werk Majakovskijs zugänglich gemacht worden. Der Züricher Verlag „Die Arche" veröffentlichte 1959 eine Majakovskij-Auswahl. H. Huppert brachte 1960 bei Suhrkamp Majakovskijs Theaterstücke heraus 3 . Die Frankfurter Studentenbühne, die „Neue Bühne", führte (nach einer Übersetzung von zwei Mitgliedern des Slawischen Seminars der Universität Frankfurt 4 ) Ende 1959 das „Mysterium-Buffo" auf und gab der „heroischen, epischen und satirischen Dichtung" Züge des politischen Tages 5 . Der Pope agierte in der Maske Adenauers, der französische Offizier in der Maske de Gaulles. Am 1. Februar 1960 las die „Neue Bühne" Gedichte von Majakovskij in Nachdichtungen von H. Huppert. In den gelehrten Studien westdeutscher Slawisten zur sowjetischen Literatur vermißt der Leser freilich — außer in zwei Fällen — die Bemühung um eine sachgerechte Interpretation dieses Dichterwerks. Setschkareff bricht in unwissenschaftlicher Weise den Stab über Majakovskij e , doch Struve 7 , Neumann 8 und auch Tschizewskij 9 versuchen zu beweisen, Majakovskijs poetische Leistung sei durchgesetzt wider den „russischen Kommunismus". Hier war im Ansatz die später 1

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E. H o e h l , Buch des Monats: Zehn Gedichte von Wladimir Majakowski, in: Panorama, München, 1959, Nr. 6, S. 2. B. P a s t e r n a k , Geleitbrief (Aus d. Buss. von G. Drohla), Köln—Berlin 1958 (in Lizenzausgabe: Frankfurt 1958). — Sicheres Geleit (Dt. von J. v. Guenther), in: Gedichte, Erzählungen, Sicheres Geleit (Aus d. Russ. übers, von A. Kaempfe u. a.), Frankfurt 1959. — Über mich selbst. Versuch e. Autobiographie. (Aus d. Russ. von R. v. Walter. Anm. von V. Frank, Frankfurt 1959). — Vgl. auch Majakowski — der Freund Pasternaks, in: Fränkische Presse vom 16. VI. 1959; ferner W. S c h w a r z , Der Feuervogel — Wladimir Majakowski, in: Dies Land ist weit, Witten und Berlin 1959, S. 166f. W. M a j a k o w s k i , Vers und Hammer, Zürich 1959; W. M a j a k o w s k i , Mysterium Buffo und andere Stücke (Dt. von H. Huppert), Frankfurt 1960; Spectaculum II (6 Stücke von Beckett, Brecht, Dürrenmatt, Frisch, Jahnn, Majakowski), Frankfurt 1959. vgl. Theaterprogramm zur Aufführung von Majakowski „Mysterium Buffo", S. 8. J. P e t e r s e n , Das konkrete Paradies, in: Süddeutsche Zeitung vom 14. 1. 1960. V. S e t s c h k a r e f f , a . a . O . : „Majakowskis Dichtung ist grell, oratorisch, effektsüchtig und häufig von häßlichem Witz" (S. 129). G. S t r u v e , a. a. O., S. 33, S. 210, S. 217. F. W. N e u m a n n , a. a. O., S. 144ff. D. T s c h i i e w s k i j , Majakovskij und Calderon, in: Aus zwei Welten, 's-Gravenhage 1956, S. 312f.

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formulierte Konzeption Rühles gegeben, der in seinem Aufsatz „Gestirn am Oktoberhimmel" schrieb: „Man kann die großen, von mächtig ausladendem Pathos erfüllten Poeme der Spätzeit ,Wladimir Iljitsch Lenin' und ,Gut und schön' nur verstehen, wenn man bedenkt, daß der parteilose Kommunist Majakowski hier von einem ganz anderen Kommunismus redet als die Partei. Die beiden Poeme sind der strahlende Abgesang der revolutionären Illusionen1. Lettenbauer hat in seiner Arbeit über die russische Literatur zumindest versucht, ein den Tatsachen und Entwicklungen einigermaßen gerecht werdendes Bild der politischen und poetischen Position Vladimir Majakovskijs zu geben 2 . Er stützt sich dabei auf die bemerkenswerte Studie Alexander Adamczyks über „Russische Verskunst" und zitiert das Resümee des Verfassers aus der Analyse der Verskunst Majakovskijs: „Auch aus diesem Grunde könnte man Majakovskij den mächtigen Volkstribun der russischen Verskunst nennen." 3 Auch ernsthafte Kritiker in den fortschrittlichen Zeitschriften „Panorama" und „Alternative" würdigten des Dichters Bedeutung und hoben besonders die unbedingte Aktualität der Werke Majakovskijs hervor: „Lange bevor die zornigen jungen Männer ihren alles verneinenden Weltekel bekundeten, hatte sich in Rußland eine zornige Stimme erhoben, die Stimme eines Schriftstellers, dessen Menschenliebe jedoch seinen Zorn legitimierte."4 Während hier betroffen versucht wird, eine alte Schuld zu begleichen und längst Fälliges begreiflich zu machen, ist das Erscheinen der genannten Auswahlen aus Majakovskij und der modernen russischen Lyrik der Mehrzahl der westdeutschen Rezensenten jedoch gerade gut genug, um ihre alten Konstruktionen zu stützen. Das gilt für die absurde Gleichsetzung der Dichtung des in diesem Falle doch nicht erfolgreichen Semjon Kirsanov „CeMbflHeftHepejiM" mit den Poemen Puskins 6 wie für die Beteuerung, Dudincevs Roman „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein" sei in Majakovskijs kritisch-satirischen Versen und Stücken vorausgenommen6. Auf widerspruchsvolle Weise verschafft sich also die in Westdeutschland seit langem latente Unzufriedenheit mit der künstlichen Aussperrung allen sowjetischen Geistesguts Gehör. Die im Dezember 1960 von J. v. Guenther herausgegebene Anthologie „Neue russische Lyrik"7 verdankt ihr Erscheinen zweifellos dem wachsenden Interesse der westdeutschen Öffentlichkeit an der russischen lyrischen 1 2 3

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J. R ü h l e , a. a. O., S. 26. W. L e t t e n b a u e r , a. a. 0., S. 261—264. A. A d a m c z y k , Russische Verskunst, in: Münchener Beiträge zur Slawenkunde, München 1953, S. 192. E. H o e h l , a. a. O. Blick auf moderne Sowjetliteratur. Zu einem Vortrag von S. Krikorian in Frankfurt, in: Frankfurter Rundschau vom 6. III. 1959. W. J. S i e d l e r , a. a. O. Neue russische Lyrik (Hrsg. und übersetzt von J. v. Guenther, mit einer Einleitung von J. Semjonow). Fischer-Bücherei Nr. 328, Frankfurt 1960. — 1958 waren in Heidelberg in J. v. Guenthers Übertragung Verse russischer Frauen unter dem Titel „Dein Lächeln noch unbekannt gestern" herausgekommen.

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Leistung des 20. Jahrhunderts. Seit Guenther vor fünfzig Jahren in der ersten von ihm herausgegebenen Anthologie „Neuer russischer Parnaß" die deutschen Leser mit der russischen Lyrik des frühen 20. Jahrhunderts bekanntmachte1, hat sich dieser verdiente Übersetzer russischer Prosa und Lyrik auch immer wieder jenem arg vernachlässigten Bereich zuwenden und Wesentliches ins Deutsche herüberbringen können. Ein halbes Jahrhundert hat er sich als deutscher Anwalt der russischen Dichtung gefühlt. Im Nachwort zur 1947 erschienenen Auswahl „Russisches Saitenspiel" betont Guenther, daß er sich durch die Jahrzehnte bemüht habe, „dem Stiefkind russischer Dichtung in der europäischen Wertung, der russischen Lyrik nämlich, zu dem Platz zu verhelfen, der ihr gebührt.. ."2 Nun hat der Dichter eine beachtliche Auswahl herausgegeben, die reichlich zweihundert Gedichte von einem halben Hundert Dichter zwischen VI. Solov'ev und K. Simonov umfaßt. Es ist das bisher größte Unternehmen dieser Art in Westdeutschland und darf ungeachtet der erheblichen Mißgriffe begrüßt werden. Es ist zu bedauern, daß Guenthers neue Arbeit nicht freigeblieben ist von Konzessionen an antisowjetische Voreingenommenheiten. Es ist das umso mehr zu bedauern, als Guenther in der westdeutschen Öffentlichkeit den Ruf eines profunden Kenners der russischen Literatur und des russischen geistigen Lebens genießt und von J. Semjonow in der Einleitung zu diesem Lyrikband sogar dem großen russischen Dichter und Übersetzer des 19. Jahrhunderts V. A. Zukovskij gleichgestellt wird3. Es wird einer ausführlichen Studie bedürfen, Guenthers Platz innerhalb der neueren deutschen Übersetzungstradition exakt zu bestimmen. Mag die außerordentlich subjektive Auswahl zunächst einmal zu verteidigen sein durch den Hinweis auf das Recht des bedeutenden Übersetzers, seine Anthologie ganz nach eigenem Ermessen aufzubauen, so muß doch die Oberflächlichkeit und Zufälligkeit der im Anhang gegebenen Anmerkungen über Persönlichkeit und Werk der vorgestellten Dichter ernsten Widerspruch erregen4. Es muß besonders der auf Seite 193 geäußerten Behauptung widersprochen werden, daß der unbefriedigende Umfang der Auswahl aus der neuesten Lyrik im Abschnitt IV der Anthologie auf die schlechten Verhältnisse auf dem sowjetischen Büchermarkt zurückzuführen sei: Die Lyrik sei immer so schnell vergriffen. Das ist nun wirklich das Geringste. Die sowjetischen Dichter oder Verlage würden Guenther die gewünschten Veröffentlichungen jederzeit zur Verfügung stellen. In der Einleitung betont J. Semjonow, die Subjektivität dieser Auswahl werde reichlich aufgewogen durch die Feinfühligkeit des inneren Gehörs eines feinen Kenners und Freundes der russischen Dichtung. Die Qualität der Guentherschen 1

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Neuer russischer Parnaß (Ausgew., eingeleitet u. übertr. von J. v. Guenther), Berlin 1912; 2. Aufl. München 1921. Russisches Saitenspiel durch ein Jahrhundert (Dt. v. J. v. Guenther), Hannover 1947. vgl. Neue russische Lyrik, a. a. 0., S. 5. Schon die Anmerkungen Guenthers zu seiner Übersetzung von Pasternaks „Geleitbrief" hätten dem Verlag zeigen können, daß die Kommentierung nicht Guenthers stärkste Seite ist; vgl. B. P a s t e r n a k , a. a. O., S. 211—215.

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Übersetzungen aus dem Werk Annenskijs, Sologubs, Bloks und mancher ander r ist unbestritten. Doch es bleibt unverständlich, warum sich Guenther nicht dazu verstehen konnte, neben seine guten Übersetzungen auch anerkannt gute Arbeiten anderer Übersetzer zu stellen. Das gilt z. B. für V. Brjusov und K. Bal'mont, deren Gedichte in gültigen Übertragungen von W. E. Groeger vorliegen1. Das gilt für Mandel'stam, Esenin und Majakovskij, deren Gedichte in den oben erwähnten Ausgaben der Deutschen Demokratischen Republik und einigen westdeutschen Sammlungen in deutlich besserer Übersetzung zu finden sind. Das gilt schließlich für die jungen sowjetischen Lyriker, aus deren Werk die Zeitschrift „Sowjetliteratur" einiges Wesentliche vorstellen konnte. Die Berücksichtigung der hier nur unvollständig aufgeführten vorliegenden Arbeiten hätte Guenther auch helfen können, die von ihm selbst vermerkte Unvollständigkeit des letzten Abschnitts, der eine Auswahl aus der neuesten Lyrik gibt, zugunsten eines objektiven Bildes von den fünfzig Jahren russischer Lyrik zu vermeiden. Daß weit über die Hälfte des Bandes den Symbolisten und Akmeisten eingeräumt wurde, bestimmte auch die Proportionen der einleitenden Studie von J. Semjonow. Er begnügt sich mit der Deutung der wiedergegebenen Gedichte und gerät zwangsläufig in die Gefahr, die neuen originalen Werte der sowjetischen Dichtung nach 1925 zugunsten der Einflüsse Gumilevs, Chlebnikovs und Pasternaks zu unterschätzen. Diese Betrachtungsweise ist um so bedenklicher, als Semjonow nach seinen einleitenden Einschränkungen Guenthers Auswahl doch bestätigt, sie spiegele „... ein halbes Jahrhundert russischer Lyrik in ihren zentralen Themen, in ihrer Beziehung zur Welt und zum Wort wider .. ,"2 Das aber entspricht nicht den Tatsachen, wenn Tvardovskij, Scipacev, Leonid Martynov und Boris Sluckij ganz fehlen und Bagrickij, Marsak und Sel'vinskij unvollständig vertreten sind, wenn Sologub, Merezkovskij und Gippius (um nur diese zu nennen) unverhältnismäßig viel Raum gewährt wird. Trotz tiefer Widersprüche, großer Versäumnisse und bedenklicher Konzessionen ist die Anthologie „Neue russische Lyrik" freilich doch auch Ausdruck eines schon nicht mehr vereinzelten Bemühens um die Verdeutlichung des Bildes der russischen lyrischen Leistung des 20. Jahrhunderts in Westdeutschland. Zu gleicher Zeit aber versuchen sich in Westdeutschland immer wieder zweifelhafte Experten anzupreisen, die sich bemühen, in der sowjetischen Lyrik von Gestern und Heute alles herauszufinden, was ihre schwankenden, vom Geist des Antikommunismus notdürftig gehaltenen Konstruktionen zu stützen geeignet scheint. Das bezieht sich sowohl auf die bedenkliche Verfahrensweise einiger Übersetzer, Herausgeber und Literaturhistoriker als auch, wie an einigen Beispielen oben dargelegt, auf die verfälschende Darstellungsart verschiedener Publizisten. Wenn schon die Texte der modernen Klassiker — wir haben es an den Gedichten Bloks und Esenins gezeigt — entstellt zum westdeutschen Leser gelangen, so ist bei der übersetzerischen Interpretation der jüngsten sowjetischen Lyrik, die in den 1 2

vgl. W. B r j u s o w und K. B a l m o n t , Gedichte (Übertr. v. W. E. Groeger), Berlin 1921. vgl. Neue russische Lyrik, a. a. O., S. 6.

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Originaltexten in der Bundesrepublik natürlich nicht vorliegt, der Willkür keine Schranke gesetzt. Tatsächlich, Alexander Steininger scheut kein Zitat, um zu beweisen, daß erstens diese sowjetische Dichtergeneration sich auflehne gegen die sozialistische Gesellschaft und insbesondere gegen die Traditionen der sowjetischen Dichtung, und daß sie zweitens berufen gewesen sei, die große Leere zu füllen, die Steiningers Meinung nach die sowjetische Dichtung charakterisiere 1 . Aber — auch sie seien „besiegt" worden und am besten habe das Rozdestvenskij in seinem angeblich allegorisch aufzufassenden Gedicht „ T u jKHBeuib Ha flpeü