176 60 26MB
German Pages 546 [548] Year 2013
Marcus Castelberg Wissen und Weisheit
Scrinium Friburgense Veröffentlichungen des Mediävistischen Instituts der Universität Freiburg Schweiz
Herausgegeben von Michele Bacci · Hugo Oscar Bizzarri · Elisabeth Dutton Christoph Flüeler · Eckart Conrad Lutz · Hans-Joachim Schmidt Jean-Michel Spieser · Tiziana Suarez-Nani
Band 35
De Gruyter
Marcus Castelberg
Wissen und Weisheit Untersuchungen zur spätmittelalterlichen ›Süddeutschen Tafelsammlung‹ (Washington, D.C., Library of Congress, Lessing J. Rosenwald Collection, ms. no. 4)
De Gruyter
Veröffentlicht mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (NCCR Mediality), des Hochschulrates Freiburg/Schweiz und des Mediävistischen Instituts der Universität Freiburg/ Schweiz
ISBN 978–3–11–033247–6
e-ISBN 978–3–11–033264–3 ISSN 1422–4445
Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: swissedit, Zürich Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH und Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Das im ersten Drittel des 15. Jahrhunderts entstandene Konvolut von vier Pergamentdoppelblättern in Gross-Folio-Format (Washington, D.C., Library of Congress, Lessing J. Rosenwald Collection, ms. no. 4 [olim 3])1 repräsentiert einen vermutlich weit verbreiteten, aber nur noch in diesem Exemplar greifbaren Typus einer Darstellung von Bildungswissen, der möglicherweise für den privaten Gebrauch unter Laien konzipiert worden ist. Das Spektrum des Wissens ist hier trotz der abbreviaturhaften Verdichtung auf 16 Tafeln so angelegt, dass ein enzyklopädischer Anspruch sichtbar wird. Es umfasst eine Vielzahl an Themen, die eine ganzheitliche Anthropologie entfalten und mit den Stichwörtern ›Wissen‹ und ›Weisheit‹ gefasst werden können: Wissen um das Leibeswohl, Weisheit bezüglich des Seelenheils. Inhaltliche Schwerpunkte bilden dabei sowohl astrologische, medizinische Texte und Zeichnungen zum Leibeswohl als auch auf das Seelenheil ausgerichtete ›Moralia‹, die sich in den Bildmotiven des Tugend- und Lasterbaums sowie des Turms der Weisheit manifestieren. In Ergänzung dazu finden sich Darstellungen der sieben freien Künste und der Philosophie, Analogien zwischen Mikro- und Makrokosmos sowie verschiedene Topoi, die das Erreichen oder Verfehlen des Seelenheils thematisieren, zum Beispiel das Rad der Fortuna und die sogenannten Frauensklaven. Deutlich wird eine Anthropologie, die Gesundheit, Tugendhaftigkeit und Wissen in einem Zusammenhang darstellt, der Orientierung und Lebenshilfe ermöglichen soll und die Bewährung gegen die Schicksalskräfte zum Ziel hat – gegen das Fatum, die Beeinflussung durch die Gestirne, sowie gegen Fortuna, den Lauf der Welt. Dieses anthropologische Konzept weist den Weg, das Gute in sich selbst zu erkennen, zu entwickeln und zu behaupten, kurz, wissend-weise zu werden und zu bleiben. Immer geht es um die Wahl, nämlich zwischen Gesundheitserhaltung und Krankheit, Tugendstreben und Lasterleben, Standhaftigkeit und Verführbarkeit, Wissen und Unwissen. 1 Zur Handschrift vgl. Die ›Süddeutsche Tafelsammlung‹ (Ed. Castelberg/Fasching), Kapitel 1.
6
Vorwort
Die Arbeit gliedert sich in zwei Teile. Der erste Teil (A) besteht aus Erläuterungen und Interpretationen zu den einzelnen Themenfeldern. Zu den Erläuterungen gehört jeweils eine detaillierte Auseinandersetzung mit den in der Handschrift vorhandenen Bildtypen und Texttraditionen. Ausgehend von der Beschreibung des Layouts der einzelnen Tafeln werden Texte und Bilder hinsichtlich ihrer Entstehung befragt und in ihre je eigenen Traditionen eingebettet. Die Interpretationen versuchen Text- und Bildgehalt vor dem Hintergrund antiker und insbesondere spätantiker und frühmittelalterlicher Wissenstraditionen zu deuten, die einzelnen Themen miteinander zu verknüpfen und sie in der Handschrift zu verorten. Im zweiten Teil (B) schliessen sich Untersuchungen an, die in drei Kapiteln durchgeführt werden: Text und Bild – Überlieferungsverbünde und Wissensformationen – Gebrauchszusammenhänge. Dabei gehe ich von der edierten Handschrift2 aus und beziehe vergleichbare Handschriften und Drucke ein. Ausblicke auf Wandmalereien und Tapisserien ergänzen die Ausführungen. Eckart Conrad Lutz (Freiburg/Schweiz) danke ich für die stetige Unterstützung und wohlwollende Begleitung, die auch während der langwierigen Überarbeitung nicht abgebrochen ist. Seine Anregungen haben mir immer weitergeholfen. Nigel F. Palmer (Oxford) hat mir nicht nur wertvolles Wissen in Paläographie und Kodikologie vermittelt, sondern auch Frageperspektiven über die Themen der Handschrift hinaus eröffnet. Dafür bin ich ihm dankbar. Udo Kühne (Kiel) danke ich herzlich für die grosse Bereitschaft, Fragen zu den lateinischen Texten zu diskutieren. Mein Dank geht auch an die Mitarbeiter der Handschriftenabteilung der ›Bodleian Library‹ in Oxford und an den Kurator der ›Rosenwald-Sammlung‹ in Washington, D.C., Daniel de Simone. Ein Stipendium des Schweizerischen Nationalfonds erlaubte mir, die Arbeit mit Handschriftenmaterial anzureichern und zu vertiefen. Richard Fasching (Freiburg/Schweiz) und Wolfram Schneider-Lastin (Zürich) danke ich für die kompetente Einrichtung des anspruchsvollen Satzes des Editions- und des Untersuchungsbandes. Die letzte Überarbeitung der 2003 eingereichten Dissertation wurde 2008 vorgenommen. Neueste Literatur konnte daher nur punktuell berücksichtigt werden. Luzern, im Mai 2013
Marcus Castelberg
2 Vgl. die Edition der Handschrift: Die ›Süddeutsche Tafelsammlung‹ (Ed. Castelberg/Fasching).
Inhalt Vorwort
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5
A Erläuterungen und Interpretationen – Die Themenfelder und ihre Bearbeitungen in der Handschrift 1 Astrologie und Medizin
. . . . . . . . . . . . . . . . . .
15
1.1 Erläuterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Planeten und Planetenkinder . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1.1 Layout . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1.2 Texttraditionen, Bildtraditionen, Überlieferung . . . 1.1.2 Zodiakale Melothesie . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2.1 Tierkreiszeichenmann . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2.2 Texttradition des Dominium signorum . . . . . . 1.1.3 Reihe der Aderlassmänner . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.3.1 Layout . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.3.2 Aderlassmann und Lassstellentexte . . . . . . . . 1.1.3.3 Texttradition und Überlieferung . . . . . . . . . 1.1.3.4 ›Kritische Tage‹, ›Paragraphen-Text‹ und ›Verworfene Tage‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.3.5 Überlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.4 Jahreszeitenlehre und ›Monatsregeln‹ . . . . . . . . . . 1.1.4.1 Jahreszeitenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.4.2 ›Monatsregeln‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.4.3 Quellen und Parallelüberlieferung . . . . . . . . 1.2 Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Konzeption und Ausführung . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Inhaltliche Zusammenhänge und thematische Verortung . . 1.2.3 Labile Text- und Bildtraditionen . . . . . . . . . . . .
15 15 15 16 23 24 27 31 31 33 35
2 Turm der Weisheit 2.1
Erläuterungen
38 45 47 47 54 59 65 65 69 73
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
81
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
81
8
Inhalt
2.1.1 2.1.2 2.2 2.2.1 2.2.2
. . . . .
83 84 87 88 90
. . . . . . . . . . . . . . . . . . .
99
Beschreibung . . . . . . . . Bildtyp und Überlieferung . . . Interpretation . . . . . . . . Bildallegorie und Mnemotechnik Sapientia christiana . . . . . .
3 Wissen und Weisheit 3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3
. . . . .
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Erläuterungen . . . . . . . . . . . Der Mensch als Mikrokosmos . . . . Textquellen und Bildtraditionen . . . Makrokosmos, Divisio philosophiae und Nani-Gigantes-Vorstellung . . . . . . 3.1.4 Organisation der Seite . . . . . . . 3.1.5 Textquellen und Bildtraditionen . . . 3.2 Interpretation . . . . . . . . . . . 3.2.1 Die Mitte der Handschrift . . . . . . 3.2.1.1 Mikrokosmos . . . . . . . . 3.2.1.2 Vielförmige Weisheit . . . . .
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. . . . . . . . . 99 . . . . . . . . . 99 . . . . . . . . . 100 . . . . . . .
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106 106 107 114 114 114 117
4 Tugend- und Lasterbaum . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 4.1 Erläuterungen . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Layout . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Textquellen und Bildtraditionen . . . . 4.1.2.1 Tugendbaum und Cherub . . . . 4.1.2.2 Lasterbaum und Hure Babylon . 4.2 Interpretation . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Planung und Ausführung . . . . . . . 4.2.2 Zusammenhänge und Wissenshintergründe 4.2.3 Fructus spiritus in Christo . . . . . . . 4.2.4 Fructus poenitentiae . . . . . . . . . . 4.2.5 Fructus carnis in diabolo . . . . . . . . 5 Artes liberales 5.1 5.2
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129 129 130 130 144 149 149 150 150 160 166
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175
Erläuterungen Interpretation
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176
9
Inhalt
6 Frauensklaven
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
6.1 6.1.1 6.1.2 6.1.3
Erläuterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Layout . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Pseudo-Frauenlob-Strophe . . . . . . . . . . . Die einzelnen Beispiele . . . . . . . . . . . . . . 6.1.3.1 Adam und Eva (Tafel XIV .1) . . . . . . . . 6.1.3.2 Aristoteles und Phyllis (Tafel XIV .2) . . . . . 6.1.3.3 Alexanders Tauchfahrt (Tafel XIV .3) . . . . . 6.1.3.4 Vergil im Korb (Tafel XIV .4) . . . . . . . . 6.1.3.5 Samson und Dalila (Tafel XIV .5) . . . . . . 6.1.3.6 Salomons Götzendienst (Tafel XIV .6) . . . . 6.1.3.7 Azahel (Tafel XIV .7) . . . . . . . . . . . 6.1.3.8 Paris und Helena (Tafel XIV .8) . . . . . . . 6.1.3.9 Achill und Deidameia (Tafel XIV .9) . . . . . 6.1.3.10 Artus’ Hornprobe (Tafel XIV .10) . . . . . . 6.1.3.11 Absalon (Tafel XIV .11) . . . . . . . . . . 6.1.3.12 David und Bathseba (Tafel XIV .12) . . . . . 6.1.3.13 Parzival (Tafel XIV .13) . . . . . . . . . . . 6.1.3.14 Die Buhlschaft im Baum (Tafel XIV .14 und 15) 6.1.3.15 Judith und Holofernes (Tafel XV .1) . . . . . 6.1.3.16 Karl der Grosse (Tafel XV .3 und 4) . . . . . 6.1.3.17 Secundus (Tafel XV .4) . . . . . . . . . . . 6.1.3.18 Das Sänger-Ich der Pseudo-Frauenlob-Strophe (Tafel XV .2) . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.3.19 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Mögliche Genese der Doppelseite . . . . . . . . . . 6.2.2 Ordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.3 Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
185 186 188 190 190 192 195 199 202 205 207 209 211 215 217 220 223 225 229 231 235
. . . . . .
. . . . . .
237 237 242 242 244 249
7 Fortuna und ihr Rad . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 7.1 7.1.1 7.1.2 7.2 7.2.1 7.2.2 7.2.3
Erläuterungen . . . . . . . . . Rota Fortunae . . . . . . . . . Fortuna . . . . . . . . . . . . Interpretation . . . . . . . . . Konzeption und Ausführung . . . Inhaltliche Schwerpunkte . . . . Rota und Sentenz in der Rezeption
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253 253 257 259 259 262 266
10
Inhalt
7.2.4 Bildtypen und Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . 268 B Untersuchungen 1 Text und Bild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 1.1 1.2
1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.2.4 1.2.5
Text und Bild – Text im Bild – Text als Bild . . . . . . Text und Bild in gelehrten Text-Bild-Kompendien – die Handschriften Roma, Biblioteca Casanatense, Ms.1404 (C) und London, Wellcome Library, MS.49 (W) . . . . Daten und Forschungen . . . . . . . . . . . . . . . Text und Bild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Konzeption von C . . . . . . . . . . . . . . . Zur Konzeption von W . . . . . . . . . . . . . . . C und W im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . .
2 Überlieferungsverbünde und Wissensformationen 2.1 2.2 2.3 2.4
Theoretische Vorüberlegungen . . . . . . Leibeswohl . . . . . . . . . . . . . . Seelenheil . . . . . . . . . . . . . . . Mikrokosmos, Makrokosmos, Artes . . .
3 Gebrauchszusammenhänge 3.1 3.2 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.3.5
. 277
. . . . . .
288 288 290 297 308 309
. . . . . . . 317 . . . .
. . . .
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. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
317 318 329 349
. . . . . . . . . . . . . . . . . 373
Theoretische Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . Die Tafeln im Gebrauch . . . . . . . . . . . . . . Gebrauchskontexte . . . . . . . . . . . . . . . . Frauensklaven: Die Überlieferung der Pseudo-FrauenlobStrophe V,204 . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leibeswohl und Seelenheil: Einblattschriftlichkeit und verwandte Formen . . . . . . . . . . . . . . . . Medizinisches, Katechetisches, Brontologisches . . . . Aderlassmännlein und Mikrokosmosmann . . . . . . Fortuna und Sapientia . . . . . . . . . . . . . . .
. . 373 . . 375 . . 378 . . 379 . . . .
. . . .
386 387 391 394
4 Ausblick: Die Tugend-Laster-Thematik in der Wandmalerei . . . 397
Inhalt
11
Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 Bibliographie Antike und mittelalterliche Quellen . . . . . . . . . . . . . 405 Kataloge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416 Verzeichnis der Handschriften und Frühdrucke Schemata zur ›Süddeutschen Tafelsammlung‹
. . . . . . . . . 441 . . . . . . . . . . 445
Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 Abbildungen
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469
A Erläuterungen und Interpretationen – Die Themenfelder und ihre Bearbeitungen in der Handschrift
1 Astrologie und Medizin 1.1 Erläuterungen 1.1.1 Planeten und Planetenkinder Die erste Tafel (Abb. 1) der Handschrift Washington, D.C., Library of Congress, Lessing J. Rosenwald Collection, ms. no. 4 (olim 3),1 fortan mit der Sigle R zitiert, thematisiert den Einfluss der Gestirne auf den Menschen anhand eines mit Figuren und Versen bestückten Sphärenschemas. Dieses ergänzen vier mit Sentenzen umrahmte Portraits unbenannter Autoritäten.
1.1.1.1 Layout 2
Die Eingangsseite (Tafel I ) füllen ein zentral angebrachtes Kreisschema und vier kleine Rundbilder, die sich ersterem tangential anschliessen und je zu zweit nahe den oberen bzw. den unteren Seitenecken angeordnet sind.3 Die zentrale, nahezu die ganze Seitenbreite einnehmende Rota besteht aus einem Mitteltondo, um das zehn konzentrische Kreisbänder von unterschiedlicher Breite gelegt sind. Im Mitteltondo steht eine Figur, die von einer Inschrift im ersten Kreisband umrahmt wird. Das zweite, um ein Mehrfaches breitere Kreisband ist in sieben gleich grosse, durch speichenartige Streifen getrennte und mit Figuren besetzte Bildfelder unterteilt. Die folgenden drei Kreisbänder sind mit lateinischen und deutschen Versen textiert; die zwei äusseren Kreise bezeichnen zugleich die Bahnen des Mondes und des Merkurs, deren Sternsymbole mitten unter den Versen erscheinen; dies, weil die Verse aus Platznot in die Sphären eingeschrieben worden sind. An die beschrifteten Kreisbänder schliessen sich fünf weitere, die übrigen Planetenbahnen bezeichnende Kreise an, auf denen ebenfalls kleine Stern1 Zur Handschrift vgl. Die ›Süddeutsche Tafelsammlung‹ (Ed. Castelberg/Fasching), Kapitel 1. 2 Die Unterteilung der Texte der einzelnen Tafeln folgt derjenigen in der Edition Die ›Süddeutsche Tafelsammlung‹ (Ed. Castelberg/Fasching), Kapitel 2. 3 Zu dieser Seite vgl. Wirth, Lateinische und deutsche Texte, S. 271–275.
16
Astrologie und Medizin
symbole4 (mit Namensbeigabe) eingezeichnet sind. Die vier kleinen, die Hauptrota begleitenden Rundbilder zeigen Halb- bis Dreiviertelfiguren bärtiger Männer mit leeren Spruchbändern in den Händen und jeweils anderer Kopfbedeckung. Alle vier Rundbilder sind von Inschriften umschlossen. Zwischen den unteren Rundbildern steht ein kurzer vierzeiliger Text. Sämtliche Texte sind in Textura geschrieben; die Farben Schwarz und Rot werden ornamental abwechselnd eingesetzt.
1.1.1.2 Texttraditionen, Bildtraditionen, Überlieferung Im Folgenden wird die Tafel unter den Aspekten der Text- und Bildtraditionen5 kommentiert. Ich beginne mit dem Sphärenschema, das die Disposition der Inserate vorgibt. Es folgen das darin untergebrachte Text-BildMotiv der Planeten(kinder) und die darum herum angegliederten Autoritätenbildnisse.
Sphärenschema Die Rota in R ist eine Variante der allbekannten schematischen Darstellung des Kosmos mittels der aus der Antike stammenden Sphaira-Form.6 Das Sphärenschema besteht in seiner Vollform aus den vier sublunaren Elementen, den sieben Planetenkreisen, einem mit dem Tierkreiszeichen bestückten Kreis und den drei Zonen des Himmels.7 In diesem Lehrschema werden die 4 Sonne und Mond sind eigens hervorgehoben: die Sonne in ihrer Eigengestalt mit Strahlenkranz und fast unmerklich angebrachten Gesichtszügen, der Mond in gleicher Weise. 5 Unter ›Texttradition‹ bzw. ›Bildtradition‹ subsumiere ich die Behandlung der einzelnen Themen im Wechselverhältnis mit den Traditionen ihrer Schriftlichkeit bzw. Bildlichkeit. Um die einzelnen Bilder ikonographisch verorten zu können, orientiere ich mich jeweils an den konventionellen Bildtypen. Diese – zugegebenermassen etwas konservative – Methode setzt sich zum Ziel, die einzelnen Zeichnungen in ihrer Singularität bzw. Konventionalität zu erfassen. 6 Ebd. S. 271 f. Holländer, ›Himmel‹, in: LCI 2, Sp. 259 f. und ›Weltall‹, in: LCI 4, Sp. 500 f. Vgl. Konrad von Megenberg, Die Deutsche Sphaera (Ed. Bre´vart), I,23 ff. 7 Als Modell für das im Mittelalter weit verbreitete Sphärenschema können die Darstellung aus der Handschrift Salzburg, UB , M III 36, fol. 243v (Stolz, Artes-liberales-Zyklen, Bd. 2, Abb. 55) und jene aus dem ›Cosmographicus liber‹ (1524) des Peter Apianus (Abb. bei Rigg/Mantello, Medieval Latin, S. 366) gelten.
Erläuterungen
17
Elemente traditionsgemäss als drei Kreisbänder vorgestellt, die um einen die Erde darstellenden Mitteltondo gelegt sind. Von diesem Bildtyp weicht R durch folgende Merkmale ab: durch die unregelmässige Breite der Kreisbänder, durch die figuralen Inserate im Mitteltondo und im zweiten Kreisband8 und durch die Textierung, die über die üblichen Namensinschriften hinausgeht. Die Textierung der drei Kreisbahnen mit lateinischen und deutschen Versen überspielt die Grenze zwischen Elementen- und Planetenkreisen. Zudem fehlen der Zodiakus und die Himmelssphären. Im Mitteltondo, wo sonst das Element ›Erde‹ als Kreis mit der Inschrift terra und farblich unterschiedenen Zonen oder als Landschaftsbild repräsentiert wird,9 ist Euklid als Repräsentant der Geometrie dargestellt.10 Die Dreiviertelfigur ist als bartloser, huttragender Mann in einem langen Rock ausgeführt. Mit der rechten Hand rafft er seinen Mantel, der über der Brust mit einem Fürspan zusammengehalten wird; in der linken Hand hält er ein Spruchband mit einer Inschrift, die ihn als E‹u›cl‹i›des (Tafel I.3) zu erkennen gibt. Hut und Gewandung sind nur schwer näher zu bestimmen, passen aber gut zur antikisierenden Kleidung und orientalisierenden Kopfbedeckung Euklids als eines gelehrten Geometers, in der er im Mittelalter zumeist neben der Personifikation der Geometrie erscheint.11 Auf seine Funktion als Erdvermesser hebt auch die Inschrift auf dem Kreisband ab, das den Mitteltondo umschliesst und den Erdumfang zu knapp bemisst: A‹m›bitus ter‹r›e continet vigesies mille et quadraginta mil‹i›aria (Tafel I.3). Die Angabe ist wohl eine Verschreibung für die Zahl 20 400,12 wie sie nach arabischer Tradition in Meilen- statt griechischem Stadienmass kursierte.13 8 Anstelle der gewöhnlichen symbolischen Bildabbreviaturen. 9 Zu den vielfältigen Darstellungen der Erde vgl. Wirth, ›Erde‹, in: RDK 5, Sp. 997–1104, hier: 1029–1089. 10 Förster, ›Euklid‹, in: RDK 6, Sp. 256–266. 11 So in Salzburg, UB , M III 36, fol. 241v. Vgl. Stolz, Artes-liberales-Zyklen, Bd. 2, Abb. 51, und KdiH, Bd. 1, S. 333 ff. Vgl. Anm. 20. Zu den Attributen Euklids gehören Zirkel, Zeichenstab und Sphaera sowie Tafel und Buch. Sie sind Zeichen seiner Gelehrtheit und seiner Kenntnis des Erdumfangs. Euklids ›Elemente‹ in der massgebenden Übersetzung des Campanus von Novara gehörten im Mittelalter zu den Grundwerken der Geometrie. 12 Verwechslung von quadraginta und quadringenta. Vgl. Die ›Süddeutsche Tafelsammlung‹ (Ed. Castelberg/Fasching), Anm. zu Tafel I.3. 13 So berichtet Pierre d’Ailly in seiner 1410 vollendeten ›Ymago mundi‹ (Ed. Buron), X,7–10: Sed Alfraganus et aliqui alii mensurant per miliaria. Et dicunt quod quilibet gradus circuitus terre habet quinquagintasex miliaria et duas tercias vnius. Et sic habet totus circuitus XX . milia et CCCC . miliaria. Vgl. Grant, Planets, S. 620 ff.
18
Astrologie und Medizin
Planeten(kinder)verse und Planeten(kinder)bilder Das dritte, vierte und fünfte Kreisband sind mit lateinischen und deutschen Planeten(kinder)versen beschriftet. Die Planeten(kinder)verse sind rahmendes Beiwerk zu den sogenannten Planetentraktaten, die nach ptolemäischer Klassifizierung14 und in schwankender Ausführlichkeit über die Eigenschaften der sieben Planeten und deren Einfluss auf den Menschen berichten.15 Mit der Popularisierung der Planetenlehre in den Haus- und Planetenbüchern des Spätmittelalters verschmilzt die stereotype Angabe zur Natur des Planeten (gut, übel oder neutral)16 mit dem Bedeutungsgehalt der Planetenkindertexte, die selber in der hellenistischen Laienastrologie gründen und ebenso im ›Tetrabiblos‹ (lat.: ›Quadripartitum‹) erscheinen.17 Der Mensch wird nach Physiognomie, Charakter, Beruf und Stand an einen Planetengott gebunden. Seit dem 14. Jahrhundert lassen sich zahlreiche volkssprachige Vers- und Prosabearbeitungen nachweisen, die sich in verschiedene Fassungen auffächern.18 Die in R vorgebrachte lateinische Fassung in leoninischen Hexametern ist gemäss Wirth in drei weiteren Textzeugen zu finden, die ebenfalls durchweg fehlerhaft sind, darunter die Münchner Handschrift UB , 4o Cod. ms. 808,19 wo die Planeten(kinder) anhand von jeweils drei leoninischen Hexametern charakterisiert werden; der erste Hexameter ist jeweils identisch mit dem Vers in R. Für die deutschen Reimpaare hingegen lässt sich keine Parallelüberlieferung ausmachen. Nicht immer zu entscheiden ist, ob sich die Verse auf die Planetengottheit oder auf das Planetenkind beziehen. Die Beschreibung beschränkt sich im Wesentlichen auf charakterliche Eigenschaften und ist entweder aus kommentierender Autorperspektive (est saturnus [. . .]) fokussiert oder in direkter Rede des Planetenkindes (dilig‹o› iusti‹ti›am [. . .]) abgefasst: Saturngeborene sind gierig und wolfsartig (auidus, lupi‹n›us, Tafel I.1.1), Jupiterkinder gerechtigkeitsliebend (dilig‹o› iusti‹ti›am, Tafel I.1.2), Marsbeeinflusste streitsüchtig (rixa‹tor›, Tafel I.1.3), Sonnenkinder edel und von schöner Gestalt (corpore for‹m›osum [et generosum], Tafel I.1.4), Venuskinder spielverliebt und sinnlich-ausgelassen (ad ludos natus, lasciui‹ta›te paratus, Tafel I.1.5), Merkurgeborene musisch 14 15 16 17 18 19
Claudius Ptolemäus, Tetrabiblos (Ed. und Übers. Robbins), I,5. Bre´vart/Keil, ›Planetentraktate‹, in: 2VL 7, Sp. 715–723, hier: 716. Tetrabiblos, I,5. Ebd. III ,1–3. Vgl. Bre´vart, The German Volkskalender, S. 312–342, hier: 320 f. Übersicht bei Bre´vart/Keil, ›Planetentraktate‹, in: 2VL 7, Sp. 719–722. Wirth, Lateinische und deutsche Texte, S. 282 (Appendix I ).
Erläuterungen
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berufen (est ‹habilis› scriptor [. . .] pictor, Tafel I.1.6), Mondbeeinflusste schielend oder einäugig und natürlich mondsüchtig. Die deutschen Verse sind alle in der ›Ich‹-Form verfasst und stimmen sinngemäss, aber nicht wortwörtlich mit den lateinischen Pendants überein, ausgenommen die Texte zum Saturn und zum Mond. Im Fall des äussersten Planeten kommt ergänzend hinzu, dass unter ihm Geborene geizig und hartherzig veranlagt sind (Tafel I.2.1); im Fall des innersten zeigt sich die Mitgift des Erdtrabanten als arbait des Erd- und Landbebauers (haken vnd reuten, Tafel I.2.7) – eine Vorstellung, die traditionsgemäss die Kinder Saturns auszeichnet – und, im ständischen Sinn, in der Bestimmung des Bauern, der für die anderen arbeitet (mues [. . .] arbaiten den leuten, Tafel I.2.7). Die ikonographische Tradition der Planeten(kinder) beruht auf altorientalischen Planetenvorstellungen, die, zu einer Reihe tabellarisch angeordneter Bildtypen entwickelt, teils übernommen, teils von mittelalterlichen Vorstellungen überlagert wurden.20 Planetenbilder wie Planetenkinderbilder unterliegen in diesem Aneignungsprozess einer Vereinfachung zu wenigen festgefügten und vereinheitlichten Bildtypen.21 Obschon Planeten- und Planetenkinderbilder grundsätzlich zwei getrennte ikonographische Reihen darstellen und als solche entweder getrennt oder kombiniert überliefert sind – zum Beispiel als Typenreihe des Planetenbuchs22 oder als seitenfüllende, übereinander angeordnete Verbindung von Gottheit und ›Kind‹23 –, 20 Lenhardt, Die Illustrationen, S. 174 f. Klibansky/Panofsky/Saxl, Saturn und Melancholie, S. 298 f. und 303 f. (Taf. 24 und 31). Panofsky/Saxl, ›Dürers Melencolia I ‹, S. 121–136. Zu erwähnen sind auch die mythographischen Illustrationen des 14. Jahrhunderts, die unter moralisierenden Vorzeichen die antike Tradition wieder aufnehmen. Vgl. ebd. S. 307 ff. Die Darstellungen in R sind hinsichtlich ihrer zeitlichen Einordnung und Ausführung gut vergleichbar mit der Bilderreihe aus einer Salzburger Handschrift, die vor 1451 entstanden ist und ebenfalls Text und Bild sowie lateinische und deutsche Versbeischriften verbindet: Salzburg, UB , M III 36, fol. 236r–239r. Ausführlich dazu: Stolz, Artes-liberales-Zyklen, Bd. 1, S. 272–280 und Bd. 2, Abb. 39–42. 21 Klibansky, Panofsky und Saxl sprechen von einer »realistischen ›Modernisierung‹ zu lebendigen ›Genrebildern‹.« (Ebd. S. 304). 22 So im ›Kodex Schürstab‹: Zürich, ZB , Ms. C 54, fol. 25v–30v. Faksimiliert bei Keil (Ed.), Vom Einfluss. Die Planeten werden dargestellt als nackte stehende Figuren mit dem Gestirn auf der Scham und je zwei Attributen in den Händen. Vgl. Gross, Illustrationen, S. 172–348, hier: 189 ff. Beliebt war die Reihe vor allem auch in Blockbüchern. Vgl. dazu: Blockbücher des Mittelalters, S. 199– 202. 23 So im ›Tübinger Hausbuch‹: Tübingen, UB , Md. 2, fol. 266v–272r. Im Vordergrund der Planetenkinder-Ikonographie steht die Darstellung der verschie-
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lassen sich die Einzelbilder oft nur als Kontamination von Tradiertem und Hinzugedachtem erklären. Die Bildlichkeit von Planet und ›Kind‹ gleicht sich an, die Inhalte der lateinischen und deutschen Verse vermischen ebenfalls die einst geschiedenen Vorstellungen. In R ist nur im Falle der Venuskinder zu entscheiden, ob die beeinflussende Gottheit oder das beeinflusste ›Kind‹ visualisiert ist.24 Die Figuren sitzen als Mann und Frau in höfischer Kleidung beim Brettspiel unter einem Baum. Der Mann ergreift mit seiner Rechten die rechte Hand der Frau und streckt die Linke ihrem Gesicht entgegen, um sie liebevoll am Kinn zu fassen. Die Linke der Frau liegt in ihrem Schoss.25 In Übereinstimmung mit der Bildtradition der Planeten(kinder)bilder26 befinden sich die Zeichnung des Mars als behelmter Krieger mit Schild und Schwert und jene Merkurs als Gelehrter am Pult. Letztgenannter trägt einen dreistöckigen, turbanartigen Hut und schreibt in ein aufgeschlagenes Buch. Verflacht und wenig griffig ist die Zeichnung Jupiters als thronender Herrscher. Mit seiner linken Hand hebt er ein offenes (Gesetz)buch hoch, das ihn als Gesetzgeber und Richter auszeichnet. Prägnantere Attribute wie das Blitzebündel fehlen. Ebenfalls als Königsgestalt ist Sol ins Bild gesetzt. Zepter und Weltkugel kennzeichnen ihn als Herrscher unter den Gestirnen. Auf einer Verwechslung beruht die Darstellung des Mondkindes als Jüngling in kurzem Arbeitsrock. Die Dreiviertelfigur trägt einen gekrempelten Hut und schultert links eine Hacke.27 Das Requisit ist traditionsgemäss Attribut der Saturnkinder, die zu erdverbundener Feldarbeit angehalten sind.28 Mit Hacke oder Spaten wird auch der Planet selbst dargestellt.29 Hier ist die Hacke wohl eher als
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denen Berufe und Gesellschaftsgruppen. Beschrieben in: KdiH, Bd. 1, S. 451 (Abb. 220). Vgl. Hauber, Planetenkinderbilder, S. 3–33 und 93–103 (Abb. 17, 24, 29, 36, 41 und 47). Vgl. auch die Reihe im ›Wolfegger Hausbuch‹: Waldburg Wolfegg, Venus und Mars, Abb. 15–21. Eine weitere Reihe in: Wien, ÖNB , Cod. 3085, fol. 20r–26r. Wirth, Lateinische und deutsche Texte, S. 273. Vgl. Wirth, In einer deutschen Handschrift, S. 83–114, hier: 89 f. Ausführliche Beschreibung bei Hauber, Planetenkinderbilder, S. 123–142. Eine Übersicht über die verschiedenen Bildtypen in: Lenhardt, Die Illustrationen, S. 174–180, und in: Verzeichnis astrologischer und mythologischer illustrierter Handschriften (Ed. Saxl), Bd. 2, S. 164–173. Gleich dargestellt, aber deutlich als Frau erkennbar in: Roma (Citta` del Vaticano), BAV , Cod. Pal. lat. 1369, fol. 147v. Vgl. KdiH, Bd. 1, S. 441 f. (Abb. 209). So in: Wien, ÖNB , Cod. 3085, fol. 20r. Vgl. Lehnhardt, Die Illustrationen, S. 176. Klibansky, Saturn und Melancholie, S. 300 (Taf. 24 f.).
Erläuterungen
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Ausdruck mondbeeinflusster, ruheloser Betriebsamkeit aufzufassen.30 Dem Mondkind zugewandt steht das eigentliche Saturnkind, das mit seiner Rechten einen leicht gebogenen Gegenstand zum Mund führt, in seiner Linken einen langen schlauchartigen Beutel hält, der an einem Ende offen ist und als ein Stück Leder31 identifiziert werden könnte. Beide Attribute sind wohl bildliche Umsetzungen einer missverstandenen Vorlage: der Gegenstand in der Rechten könnte noch entfernt an die traditionellen Symbole der Sichel (seltener Sense) oder der Krücke erinnern.32 Näher ist er der Gestalt nach einem Horn,33 das als Attribut Lunas bekannt ist. Allen Figuren gemeinsam ist die unbeholfene Ausführung und verflachende Angleichung an konventionelle Bildtypen. Dafür spricht auch, dass die Figuren weder nach Alter noch nach Geschlecht unterschieden werden.34 Abschliessend lässt sich bezüglich der Überlieferung der Planeten(kinder)verse und Planeten(kinder)bilder in R Folgendes festhalten: Nicht aussergewöhnlich ist die Kombination von lateinischen Leoninern und deutschen Versen; die zweisprachige Ausführung scheint variantenreich und weit verbreitet gewesen zu sein. Vor dem Hintergrund der gesichteten Handschriften scheint schon die Verwendung von deutschsprachigen Zweizeilern aussergewöhnlich zu sein; die Regel sind eher Vierzeiler wie in der Salzburger Handschrift Ms. M III 36.35 Unikal sind, soweit ich sehe, die unikale Überlieferung der deutschen Verspaare und die Integration der Planeten(kinder)verse und Planeten(kinder)bilder in ein Sphärenschema.
30 So in: Roma (Citta` del Vaticano), BAV , Cod. Pal. lat. 1369, fol. 147v. Vgl. Kapitel 2.2 in Teil B. 31 Als Attribut des vertretenen Berufs des Ledergerbers. Vgl. Klibansky, Saturn und Melancholie, S. 303. 32 Vgl. Stolz, Artes-liberales-Zyklen, Bd. 1, S. 277 f. und Bd. 2, Abb. 39. 33 Zum Symbolgehalt des Horns als Attribut Lunas vgl. Lenhardt, Die Illustrationen, S. 180. 34 Charakteristisch wären: Saturn als grauhaariger Greis, Sol als älterer, graubärtiger Mann, Jupiter und Merkur als Männer mittleren Alters, Venus und Luna als junge Frauen mit langen Haaren. Vgl. ebd. S. 174–180. 35 Vgl. Anm. 20. Stolz, Artes-liberales-Zyklen, Bd. 1, S. 277 f. und Bd. 2, Abb. 39. Ebenfalls Vierzeiler findet man in Roma (Citta` del Vaticano), BAV , Cod. Pal. lat. 1369, fol. 144v–147v und im ›Kodex Schürstab‹, fol. 25r–31r (Vom Einfluss [Faksimile-Ed. Keil], S. 59–71).
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Astrologie und Medizin
Autoritätenbilder Die Rundbilder zeigen Dreiviertelfiguren bärtiger Männer, die wie Euklid wahrscheinlich in lange Tracht und übergezogenen Mantel gekleidet sind. Drei von ihnen halten in ganz unterschiedlicher Weise jeweils ein unbeschriftetes Spruchband in der einen Hand und deuten mit der anderen auf das Spruchband oder auf die sie umrahmenden Sentenzen. Allein die Figur oben links hält das ausgerollte Spruchband beidhändig. Die Sentenzen kreisen thematisch alle um den Einfluss der Gestirne auf die unter ihnen Geborenen. Der im Rundbild oben links vorgestellte Gewährsmann trägt einen runden Hut mit aufgeschlagener Krempe, der ihn vielleicht als Philosophen auszeichnen soll.36 Die oft zitierte Sentenz lautet gleich zweimal astra non necessitant, sed inclinant (Tafel I.4.1); sie wird sonst Aristoteles zugeschrieben.37 Die Figur oben rechts trägt einen dreifach ausgestülpten Hut, der möglicherweise auch sie als Philosophen identifiziert.38 Im Text wird die planetarische Ordnung auf den Willen Gottes zurückgeführt: Per septem planetas, que sub firmamento mouentur, ‹nutu dei› singula disponuntur (Tafel I.4.2).39 Der Lehrer unten links, der turbanartigen Kopfbedeckung nach ein Astronom, weist mit ausgestrecktem Zeigefinger auf das folgende, zumeist Aristoteles zugewiesene Diktum: Omnia inferiora re‹g›untur secundum m‹o›t‹u›m s‹u›periorum (Tafel I.4.3). Sein Gegenüber trägt eine Krone, die es als König auszeichnet. Wirth denkt hier an Ptolemäus, dem aufgrund einer Verwechslung mit dem gleichnamigen König aus der Dynastie der Lagiden als einzigem unter den Astronomen eine Krone zuerkannt wurde.40 Die Inschrift lautet hier: Ducato sider‹um› res, que in mundo sunt, subiacent et obediunt (Tafel I.4.4).41 Im Fazit zwischen den unteren Rundbildern wird der Einfluss der Planeten durch den Weisen 36 In gleicher Manier ist auch der Philosoph Secundus auf fol. 8r (Tafel XV .4) verbildlicht. 37 Thomas von Aquin, De iudiciis astrorum ad fratrem Reginaldum (Opera omnia [Ed. Rom 1882 ff.], XXVII ,449). 38 Dieselbe Kopfbedeckung trägt der Riese auf fol. 5r (Tafel IX ). 39 Der Textpassus nutu dei singula disponuntur ist aus der Parallelüberlieferung rekonstruiert. 40 Lateinische und deutsche Texte, S. 274. Zu Ptolemäus als Autorität im Mittelalter vgl. Stolz, Artes-liberales-Zyklen, Bd. 1, S. 68 f. In Salzburg, UB , M III 36, fol. 241v wird Ptolemäus ebenfalls als König bezeichnet. (Stolz, Artesliberales-Zyklen, Bd. 2, Abb. 53). Vgl. Anm. 20. 41 Der zwischen Textschluss und Textanfang verbleibende Leerraum ist, wie schon beim Text gegenüber, mehrheitlich mit Hasten ausgefüllt. Drei der vier abgebildeten Autoritäten weisen mit ihren Fingern explizit auf die Dikta, die
Erläuterungen
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entkräftet:42 Concludo ergo veraciter, quod vir sapiens dominatur astri‹s›, ut inquid expresse Tholomeus in Almagesti (Tafel I.5). Der Passus wird von verschiedener Seite dem ›Almagest‹ (lat.: ›Magna constructio‹) zugewiesen.43 Im Unterschied zu den anderen Sentenzen, die ihren Wahrheitsgehalt von den im Bild präsentierten Autoritäten verliehen bekommen, wird die Conclusio textlich untermauert mit Wörtern wie veraciter und expresse. Sie stehen für die Unumstösslichkeit der Aussage, die, im Gegensatz zu den Sentenzen der Autoritäten in den Medaillons, ohne ›sichtbaren‹ Gewährsmann dem Betrachter überantwortet scheint.44
1.1.2 Zodiakale Melothesie v
Die Tafel II (fol. 1 , Abb. 2) thematisiert die melothetische Zuordnung der Tierkreiszeichen in Text und Bild. Das in der Antike begründete Motiv läuft in mittelalterlichen Texten unter dem Titel Dominium signorum: der menschliche Körper bildet einen Mikrokosmos, in dem bestimmte Körperteile den einzelnen Zeichen des Tierkreises zugeordnet sind und durch diese beeinflusst werden. Die Mitte der Seite nimmt ein Tierkreiszeichenmann ein, dem die zwölf Zeichen von Kopf bis Fuss eingezeichnet sind. Die Figur ist von Kürzesttexten umgeben: über dem Kopf von einem dreieinhalbzeiligen, etwa Figurbreite einnehmenden Textblock in schwarzer Texturschrift; links von fünf, in kleine rote Kreise eingeschriebenen Texten, die ebenfalls in stark vereinfachter Textura erscheinen; rechts von insgesamt 24, auf gleiche Weise in noch etwas kleinere Kreise eingepassten Texten. Die Kreise sind hier, sie auf den Spruchbändern tragen: ein Signal autoritativer Gelehrsamkeit. Vgl. dazu: Peters, Digitus argumentalis, S. 31–65, hier: 37 f. 42 Klibansky, Saturn und Melancholie, S. 357. 43 So beispielsweise von Johannes Danck von Sachsen, einem Astronomen aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, in seinem Kommentar zum ›Liber isagogicus‹ des Alcabitius. Thomas von Aquin greift das Zitat auf und gibt die astrologi als Gewährsleute an (Summa theologiae, I, quest. 115, 4): Unde et ipsi astrologi dicunt quod sapiens homo dominatur astris, inquinatum scilicet dominatur suis passionibus. Zu denken ist auch an eine Herleitung aus Ptolemäus’ ›Tetrabiblos‹ (I,3) oder aus dem pseudo-ptolemäischen ›Centiloquium‹ (4–8). Weitere mögliche Quellen in: Wedel, The Mediaeval Attitude, S. 136 ff. Zur Sentenz und ihrer Zuschreibung vgl. auch: TPMA 13, S. 7 f. (70–75). In einem Fall (S. 8 [72]) wird die Sentenz fälschlicherweise Ptolemäus I . (4. Jh. v. Chr.) statt Claudius Ptolemäus (2. Jh. n. Chr.) zugeschrieben. 44 Vgl. Kapitel 1.1.2, 3.2.2 und 7.2.2.
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Astrologie und Medizin
einander berührend, so angeordnet, dass sie drei Spalten bilden. Die darin untergebrachten Texte, allesamt in Bastarda, füllen die Mehrzahl der Kreise beinahe ganz. Die fünf Kreise links sind alternierend in schwarzer und roter Textura beschriftet – die vier unteren von Text zu Text, der obere von Wort zu Wort – und teilen sich in einen zwischen Kopf und Arm eingezeichneten Kreis und eine Vierergruppe entlang des linken Seitenrandes. Die Textanordnungen in der Spalte links wie in den Spalten rechts werden durch die erhobenen Arme des Tierkreiszeichenmannes gestört, ihnen ausweichend angeordnet. Lateinische Texte füllen die Kreise der inneren beiden Spalten, wobei die Anordnung der Texte in der mittleren Spalte auf den ersten Blick wirr erscheint, bei näherem Hinsehen aber Aufschluss über die Entstehung der Seite gibt. Der Schreiber hat, nach der Fertigstellung der inneren Spalte, die mittlere Spalte unten mit dem Zeichen des Skorpions begonnen, sich dann aber entschieden, diese Spalte – wie die übrigen – von oben nach unten fortzusetzen. Die Reihe der mit deutschen Texten gefüllten Kreise beginnt zuoberst in der mittleren Spalte mit einem Text zum Zeichen des Widders, füllt folglich die äussere Spalte von oben nach unten.45
1.1.2.1 Tierkreiszeichenmann Der Tierkreiszeichenmann ist denkbar einfach gezeichnet. Die Figur steht in frontaler Position breitbeinig auf zwei Fischen und hebt die angewinkelten Arme nach oben. Die Figur wurde durch horizontale Linien in einzelne Zonen unterteilt. Darin sind die Tierkreiszeichen etwas unbeholfen eingezeichnet. Der Bildtyp des Tierkreiszeichenmannes (Homo signorum) ist genau genommen eine Verschmelzung der älteren, hellenistisch eingeteilten Tierkreiszeichenbilder mit dem jüngeren, aus der Vitruvianischen Proportionsfigur entwickelten Mikrokosmosmann.46 Der spätmittelalterliche Tierkreiszeichenmann stellt die letzte Stufe der Integration beider Bildmotive unter dem Einfluss der Aderlassfigur dar. Der Bildtyp ist, verglichen mit seinem Überlieferungsgefährten, dem Aderlassmann, theoretischer angelegt und besteht in seiner älteren Form aus einer in den Tierkreis eingezeichneten Figur, deren Körperteile durch Linien mit den einzelnen Zeichen verbun-
45 Zur Konzeption und Ausführung der Seite 1v vgl. Kapitel 1.2.1. 46 Vgl. Kapitel 2.2 in Teil B.
Erläuterungen
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den sind (Abb. 17).47 Zur Disposition steht in diesem Typ die Gesamteinbindung des Menschen in den Kosmos.48 Im 14. Jahrhundert löst sich der universelle Kreis unter dem Einfluss des Aderlassmanns auf, die einzelnen Zeichen wandern auf den Körper zu und werden den zugewiesenen Organen eingezeichnet. Die theoretisch-kosmologische Einbindung lockert sich unter dem Einfluss der praktisch ausgerichteten Aderlassfigur (Abb. 18).49 Zwei Bildtypen lassen sich unterscheiden. Die Figuren unterscheiden sich in der Haltung der Arme, die entweder hängend und gestreckt nach dem Vorbild des Mikrokosmosmannes oder erhoben und abgewinkelt im Gestus antik-frühchristlicher Oranten gezeichnet sind (Abb. 18 und 19).50 Die Tierkreiszeichen sind auf verschiedene Weise mit der Figur verknüpft:51 Häufig sind sie in Kleinformat der entsprechenden Körperstelle eingezeichnet.52 Eine andere, eher im Frühdruck anzutreffende Variante zeigt die Zodiakbilder in zwei Spalten links und rechts der Figur.53 Der Widder befindet sich direkt über dem Kopf, die Fische dienen als Basis. Weitere Kombinationsmöglichkeiten ergeben sich unter Einbezug von Text: dieser kann die Bilder ergänzen oder ersetzen. Als Ergänzung kann der Text in Form von Namensbeischriften54 (evtl. auf Spruchbändern)55 den Zodiakbildern 47 Zur Entwicklung des Bildtyps: Lenhardt, Die Illustrationen, S. 187 ff. Vgl. auch: Gross, Illustrationen, S. 172–348, hier: 192 f. 48 Die Grenze zum gänzlich theoretischen, der symbolischen Gesamtschau dienenden Mikrokosmosmann ist hier fliessend. 49 Beide Varianten finden sich in: W, fol. 41r (Abb. 17) und 43v (Abb. 18). Vgl. die weiteren Beispielsammlungen in: Gross, Illustrationen, S. 192 und 334; Saxl, Macrocosm and Microcosm, Bd. 1, Taf. 34–42; Bober, The Zodiacal Miniature, S. 1–34, hier: Taf. 1–11, bes. 3. 50 So in W, fol. 43v (Abb. 18), und Oxford, Bodl., MS . Canon. Misc. 248, fol. 42r (Abb. 19). Castelberg, Beschädigte Bilder, S. 307 f. (Abb. 40). Die Typen nach Lenhardt, Die Illustrationen, S. 187 ff. 51 Gross, Illustrationen, S. 193. 52 So in Tübingen, UB , Md. 2, fol. 12v. Vgl. KdiH, Bd. 1, S. 452 f. 53 Die einzelnen Zeichen sind nach dem Vorbild des Aderlassmanns durch eine Linie mit den Organen verbunden. Vgl. Holzschnitte aus dem letzten Drittel des 15. Jahrhunderts (Ed. Schreiber, Bd. 2,2, Taf. 160. Gross, Illustrationen, Abb. 6 und 7. 54 Oxford, Bodl., MS . Canon. Misc. 248, fol. 42r (Abb. 19). Vgl. Bober, The Zodiacal Miniature, Taf. 5. 55 Oxford, Bodl., MS . Ashmole 391 (V), fol. 9r und MS . Ashmole 789 (VIII ), fol. 363r. Vgl. Bober, The Zodiacal Miniature, Taf. 8 f., und Murdoch, Album of Science, S. 316 und 318.
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beigegeben sein, in Form längerer Texte die Figur umrahmen56 oder in anspruchsvolleren Varianten beide Formen kombinieren.57 Als Ersatz für die Symbole können die Namen auf die betroffenen Körperstellen geschrieben sein.58 Gehen die Texte über ihre direkt bilddienende Funktion als Bei- oder Inschriften hinaus, können sie entweder an die MikrokosmosMakrokosmos-Thematik angebunden werden59 oder explizit auf den Aderlass bezogen sein.60 Das Beispiel in R weicht vom Orantengestus insofern ab, als die Hände nicht in Kohärenz mit den ausgebreiteten Armen geöffnet sind. Stattdessen sind der Figur (zur Dekoration?) je drei Blumen ›in die Hand gegeben‹.61 Im eigentlichen Orantengestus begegnet jedoch hier die geflügelte ›Jungfrau‹, die in R über dem Bauch der Figur eingezeichnet ist. Die Ikonographie der zwölf Tierkreiszeichen geht zurück auf die Bildtradition der ›Aratos‹-Handschriften62 und die dadurch beeinflussten karolingischen Zodiakdarstellungen, wie sie als (melothetisch) textierte Kreisdarstellungen in astronomischen Handschriften in Erscheinung treten.63 Die Zodiakikonographie, die schon zur Zeit des Aratos labil war, führt zu Verwerfungen und Überblendungen, die bis ins Spätmittelalter greifbar sind.64 So stehen wenige qualitätsvolle, noch am Sternbild orien56 57 58 59
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London, BL , MS Additional 17358, fol. 2r. Oxford, CCC , MS . 123, fol. 29r. Vgl. Rawcliffe, Medicine, Taf. 9. Bober, The Zodiacal Miniature, Taf. 4. So die kunstvolle Miniatur aus den ›Tre`s Riches Heures‹ des Duc de Berry: Chantilly, muse´e Conde´, ms. 65, fol. 14v (Bober, The Zodiacal Miniature, Taf. 1), und die ebenfalls hochstehende Darstellung in MS Canon. Misc. 248 (Anm. 54). Vgl. auch: München, BSB , Clm 19414, fol. 188v. Dazu: Text und Bild (Ed. Harms), Abb. 43. Theoretische und praktische Aspekte vereinigen die Texte in W (Anm. 49). Vgl. Anm. 55. Die einzelnen Texte beginnen hier mit einer Warnung vor dem Aderlass: Cave ab incisione! Die Blumenstiele reichen nicht bis in die Handfläche hinein, sondern enden an den Umrisslinien der Hände. Die Zeigefinger sind ausgestreckt. Lenhardt, Die Illustrationen, S. 171 f. Vgl. auch: Ernst, Carmen figuratum, S. 583–601. Zum Typenschatz mittelalterlicher Tierkreiszeichen vgl. Verzeichnis astrologischer und mythologischer illustrierter Handschriften (Ed. Saxl), Bd. 2, S. 174–183. Beispiele, vornehmlich aus Handschriften, bei Obrist, La repre´sentation, S. 3–33, hier: Abb. 8–11. Vgl. auch allgemein Gundel, Zodiakos. Obrist, La repre´sentation, S. 29. Lenhardt, Die Illustrationen, S. 171. Hauber, Planetenkinderbilder, S. 155–208. Holl, ›Zodiakus‹, in: LCI 4, Sp. 574– 579.
Erläuterungen
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tierte Kreiszeichenbilder aus astronomischen Kompendien (Abb. 20)65 einer Masse an vielfach reproduzierten und dem freien Lauf der Phantasie überlassenen Umformungen in einfachen Gebrauchshandschriften gegenüber (Abb. 21).66 Einigermassen in Übereinstimmung mit der karolingischen Tradition der Zodiakdarstellungen stehen in R die Zeichnungen des Schützen als Centauren (ohne Vorderbeine) und des Wassermanns als Jüngling, der einen Wasserkrug leert. Unbeholfen gezeichnet wirken Löwe, Skorpion und Steinbock: Beim Kopf des Löwen vermischt der Zeichner Frontal- und Profilansicht, der Skorpion gleicht einem beschildeten und zugleich borstigen Huftier,67 der Steinbock entwächst nicht mehr einer schlangenartig gewundenen Schwanzflosse (cauda: Ziegenfisch), wie von der Tradition vorgegeben. Christlichen Einfluss könnte die mit Flügeln ausgestattete Jungfrau zeigen, die an einen Engel erinnert.68 Gängig sind die restlichen Darstellungen: Im Profil nach links gerichtet, erscheinen Widder und Stier; aus der Vogelperspektive ist der Krebs gezeichnet; auf beiden Armen, einander zugewandt, sind die Zwillinge dargestellt; frontal ins Bild gesetzt ist die Waage.
1.1.2.2 Texttradition des Dominium signorum Oben in der Mitte steht als Einleitung in die Seite eine Warnung vor medizinischen Eingriffen bei entsprechender Mondstellung: Cum luna fuerit in aquilo‹ne› illorum signo‹rum›, malum est mederi me‹m›bro, in quo dominatur signum illud (Tafel II.1).69 Die Leserichtung der umkreisten Texte 65 Oxford, Bodl., MS . Laud Misc. 644, fol. 8r–10v. Abbildung auf fol. 8v in: Whitfield, The Mapping, S. 44. 66 Oxford, Bodl., MS . Rawl. D. 939, section 5 verso. London, BL , MS Arundel 251, fol. 46r. Vgl. Jones, Medieval Medicine, S. 54 f. 67 Eine ähnlich unbeholfene Zeichnung findet sich im ›Kodex Schürstab‹. Vgl. Lenhardt, Die Illustrationen, S. 173. 68 Vgl. die spätmittelalterlichen Beispiele aus Wiener Handschriften in: Verzeichnis astrologischer und mythologischer illustrierter Handschriften (Ed. Saxl), Bd. 2, S. 177. Die Darstellung der Jungfrau gewährte der Phantasie des mittelalterlichen Zeichners den grössten Spielraum. Ihre vielseitigen Attribute umfassen Ähre, Früchtekorb, Fackel, Waage, Schwert, Zweig oder Flügel, alles mit dem entsprechenden mythologischen Hintergrund. Unverkennbar ist die zunehmende christliche Umformung zu ›Maria-mit-Kind‹-Darstellungen. Vgl. Lenhardt, Die Illustrationen, S. 173. Hauber, Planetenkinderbilder, S. 175. 69 Vgl. Weisser, Wie benutzt man einen mittelalterlichen Kalender?, S. 147–155, hier: 149 f.
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Astrologie und Medizin
ist durch Schriftgrad und Thematik vorgegeben: links befinden sich lateinische Texte mit den gruppierten Tierkreiszeichen in Textura, rechts Texte zu den einzelnen Zeichen in Latein und Deutsch in Bastarda. Den Anfang macht der Text links neben dem Kopf der Figur mit einer Aufzählung aller zwölf Tierkreiszeichen in wechselnder Tintenfarbe. Diesem folgen vier Texte mit den nach Elementen70 und Himmelsrichtungen71 geordneten Trigona:72 Feuer, Osten: Widder, Löwe, Schütze Wasser, Norden: Krebs, Skorpion, Fische Luft, Westen: Zwillinge, Waage, Wassermann Erde, Süden: Stier, Jungfrau, Steinbock Die Elemente, mit denen die einzelnen Trigona jeweils beginnen, sind nicht nach ihrer Schwere gereiht, sondern ›schreiten‹, von Osten aus gelesen, den orbis terrarum ›ab‹, repräsentieren so den nicht mehr ins Bild gesetzten Tierkreis. Die Texte rechts der Figur ordnen die einzelnen Zeichen wiederum nach dem Trigonalsystem.73 Die Eigenschaften werden fünffach gegliedert: (i) (ii) (iii) (iv) (v)
nach nach nach nach nach
Beständigkeit und Wechsel,74 dem Geschlecht,75 den Elementen,76 der Grundqualität,77 den Temperamenten,78
Die melothetische Zuordnung weist gegenüber der Tradition drei Abweichungen auf: Der Magen (stomachus) ist dem ›Krebs‹ statt dem ›Löwen‹ zugeordnet (Tafel II.3.4), die Blase (vesica) wird bei der ›Waage‹ und dem 70 Zur Einteilung der Tierkreiszeichen nach den Elementen: Hübner, Die Eigenschaften, S. 238 ff. Hier auch die verschiedenen antiken Quellen. 71 Ebd. S. 261 ff. 72 Gleiche Ordnung in München, BSB , Clm 19414, fol. 188v (Anm. 59). Ähnlich auch in den ›Tre`s Riches Heures‹. 73 Hübner, Die Eigenschaften, S. 439 f. 74 Ebd. S. 74 f. (Charakter der Zodia im Vergleich zum Charakter der entsprechenden Monate). 75 Ebd. S. 152 ff. Vgl. Claudius Ptolemäus, Tetrabiblos (Ed. und Übers. Robbins), I,12. 76 Ebd. S. 238 ff. 77 Ebd. S. 246 f. 78 Ebd. S. 252 ff.
Erläuterungen
29
›Skorpion‹ genannt (Tafel II.3.7 und 3.8) statt nur bei letzterem. Die Jungfrau steht als Zeichen der Körpermitte auch für den ganzen Körper, wie die Wiedergabe mit leip in der deutschen Version belegt (Tafel II.4.6). Aus der Reihe fällt der Text zum ›Widder‹. Dieses Zeichen übernimmt bei der Einrichtung der Welt die Herrschaft: in prima mundi constitucione Aries cepit verg‹i› (Tafel II.3.1). Daher kommt ihm das Haupt des Menschen zu. Die Übersetzung folgt dem lateinischen Text aufs Wort, scheint also spezifisch für R angefertigt worden zu sein, zumal melothetische Texttraditionen dieser Art vorwiegend lateinisch abgefasst sind.79 Die Wiedergabe von masculinum erfolgt durch mensch. Beim ›Löwen‹ und ›Schützen‹ wurden die Temperamente falsch zugewiesen: anstatt der cholerischen Komplexion wird die melancholische angegeben. Die Texte (Tafel II.3.1–12 und II.4.1–12) lassen sich tabellarisch wie auf S. 30 dargestellt zusammenfassen.80
79 Fast sämtliche Textzeugen mit melothetischem Inhalt, auf die ich in dieser Arbeit zurückgegriffen habe, sind lateinisch abgefasst. Im ›Kodex Schürstab‹ wurde der zweite Textteil des Dominium signorum, die Herrschaft der Tierkreiszeichen über die Körperteile, deutsch wiedergegeben. Die Eigenschaften der Tierkreiszeichen fehlen (Vom Einfluss [Faksimile-Ed. Keil], fol. 18r–24v [S. 45–58]). 80 Die deutsche Übersetzung steht im Kleindruck.
warm vnd feucht
kalt vnd trucken
collum guttur
hals kel
caput facies
haupt e anttluzz
meloncolicus
arm hent schulter
brachia manus scapulas
sangwineus
sanguinicus
calidus et humidus
von dem luft
von dem ertreich
frigidus et siccus
aereus
terreus
igneus von ertreich
terreus
freuisch
hercz magen rippe
kalt vnd trucken
rukche
leip ingewait
venter intestina
melonco- licus licus (!) melancolicus
stabilis
Scorpius
von wazzer
aquaticus
freuisch
testiculus anus vesica vulua chlos hinderen plater fud
nieren platteren
fleugma ticus
fleugmaticus
kalt vnd feucht
renes hencha vesica matrix
sangwineus
sanguinicus
haizz vnd feucht
Caprico.
von feur
igneus
mensch
mascul.
gemainez czaichen
diecher
texa femora
melancolicus(!)
colericus
haizz vnd trucken
vestes czaichen
fixus
Aquar.
−
aquaticus
freuisch
femininus
gemainez czaichen
communis
Pisces
tibia chnie scheiben
genua
sanguineus
sanguinicus
haiz vnd feuch
fue zz
pedes
flegmaticus
flegmaticus
chalt vnd feucht
calidus et frigidus et humidus humidus
von luft
aereus
mensch
chnie
melancolicus
melancolicus
kalt vnd trucken
frigidus et siccus
von erden
terreus
freuisch
femininus mascul.
weglich czaichen
communis mobilis
Sagittar.
calidus et frigidus et calidus humidus humidus et siccus
−
[aereus]
mensch
femininus
webeglich vestes czaichen czaichen
femininus mascul.
gemain czaichen
colericus melanco-
haiz vnd truchken
pectus latus stomachus dorsum costas seitten
fleugmaticus
fleugmaticus
chalt vnd feucht
Libra
communis mobilis
Virgo
frigidus et calidus frigidus humidus et siccus et siccus
von wazzer von feur
aquaticus
freuisch
−
femininus mascul.
menschen czaichen
freuisch
vestes czaichen
stabilis
Leo
femininus mascul.
[colericus] melancolicus
[calidus] [siccus]
[igneus]
[mascul.]
wegenlich czaichen
communis mobilis
gemain
stabilis
vestes tier
Cancer
[mobilis]
Gemini
Thaurus
Aries
30 Astrologie und Medizin
Erläuterungen
31
1.1.3 Reihe der Aderlassmänner Die Seiten 2r bis 3v (Tafeln III–VI , Abb. 3–6) zeigen eine Folge von vier Aderlassmännern. Allen ist ihre formale Anordnung gemeinsam: In der Seitenmitte steht die Aderlassfigur, und um diese rechteckig angeordnet sind die Lassstellentexte. Jeder einzelne Lassstellentext ist jeweils einem kleinen Kreis eingeschrieben. Die vier Seiten unterscheiden sich bezüglich ihrer Textierung: Die Lassstellentexte variieren in der Anzahl – die Zahl der sogenannten ›Paragraphen‹ schwankt von 28 (fol. 3r) bis 37 (fol. 2v/3v) – und werden je nach Seite mit unterschiedlich viel Text und mit verschiedenen Texten ergänzt. Auf der ersten Seite sind dies oben und unten zwei seitenbreite Textblöcke. Auf Seite 2v (Tafel IV , Abb. 4) werden Aderlassfigur und Lassstellentexte oben durch zwei neun- bzw. zehnzeilige Textspalten ergänzt und auf beiden Seiten durch kurzzeilige, rechts sechs, links sechs bzw. sieben acht- bis zwölfzeilige Textblöcke, die entlang der Seitenränder je eine Textspalte bilden und so die Figur flankieren. Die linke Spalte ist in der Mitte nach drei Textblöcken etwas abgesetzt. Fast gleich verhält es sich mit der Seite 3v (Tafel VI , Abb. 6), der deutschen Übersetzung von fol. 2v. Die Figur ist gänzlich von Texten umschlossen. Die Textstreifen oben und unten sind in zwei Spalten geteilt; unten teilen die linke und die rechte Textspalte die Seitenbreite ungleich, im Verhältnis eins zu zwei. Bleibt noch die Seite 3r (Tafel V , Abb. 5). Hier sind die beigegebenen Texte zwischen den Lassstellenmedaillons und dem Kopf der Figur in zwei kurzen Spalten untergebracht.
1.1.3.1 Layout Die Seite 2r (Tafel III , Abb. 3) ist symmetrisch aufgebaut: Die Zahl der Lassstellentexte über und unter bzw. links und rechts der Figur ist jeweils identisch. Die einzelnen Kreise berühren sich oder überschneiden sich geringfügig81 und sind zudem so aufeinander ausgerichtet, dass sie die Figur in Form eines Rechtecks umrahmen. Drei Lassstellentexte befinden sich innerhalb der Rahmung, aber auch hier sind sie nicht unüberlegt angebracht: Zwei Texte stehen als Paar links und rechts des Kopfes. Der dritte Text ist dem Freiraum zwischen den Beinen eingepasst und dadurch etwas grösser geraten. Alle Kreise sind durch je eine rote Linie mit der entsprechenden Körperstelle verbunden, die Linien enden auf dem Körper in punktartigen 81 Gilt für alle Aderlassseiten.
32
Astrologie und Medizin
Verdickungen. Die Texte füllen die Kreise zu verschiedenen Graden aus. Meistens bleibt etwas Raum übrig, selten sind die Kreise nur zur Hälfte gefüllt, ebenso selten geht der Text über die Kreislinie hinaus. Der obere und untere Textstreifen stehen linksbündig wie die linke Kreisspalte; grundsätzlich gilt das auch für den rechten Rand des Spiegels. Die in schwarzer Bastarda geschriebenen Texte werden jeweils mit einer roten Initiale eingeleitet und mit rubrizierten Majuskeln gegliedert, im Fall des unteren Textes zusätzlich durch Initialen. Die beiden letzten Zeilen des unteren Textstreifens sind verloren gegangen, weil der untere Blattrand später beschnitten wurde. Ebendieser Text ist aus Platzmangel etwas gedrängt, und einzelne Zeilen laufen deswegen über den von der rechten Kreisspalte vorgegebenen Rand hinaus. Der Text hatte aber ursprünglich genügend Platz auf der Seite. Die Seite 2v (Tafel IV , Abb. 4) ist stärker textiert und war ebenfalls symmetrisch geplant, wurde aber nur teilweise so ausgeführt. Die Lassstellentexte sind wieder rechteckig um die Figur angeordnet, die Anzahl der Kreise ist wie schon zuvor gleichmässig verteilt. Die im Rahmen nicht Platz findenden Kreise bilden eine Dreiergruppe unter der Figur und drei Zweiergruppen links und rechts des Kopfes bzw. der Rippen sowie zwischen den Waden der Figur. Einzig der Kreis unter der linken Hand steht unsymmetrisch da. Kreise und Körperstellen wurden mit einem schwarzen Punkt vormarkiert. Die roten Verbindungslinien gehen von den Punkten auf dem Körper aus, enden jedoch an den Kreislinien. Nicht konsequent durchgehalten ist das Layout der Textblöcke zu beiden Seiten der Figur: Die einzelnen Blöcke, die jeweils einem Monat zukommen, sind links von oben nach unten in zwei Dreiergruppen eingeteilt. Sämtliche Textanfänge beginnen mit einer Initiale. Doch steht an sechster Stelle nicht der Text zum Monat ›Juni‹, viel mehr ist dort versehentlich der Text zum ›Frühling‹ platziert – dieser sollte im gleichen Layout wie die beiden Textspalten zu ›Sommer‹ (oben links) und ›Herbst‹ (oben rechts) ausgeführt sein –, sodass die ersten fünf Monate des Jahres den übrigen sieben gegenüberstehen. Die rechte Spalte beginnt mit dem ›Juni‹, füllt dann aber die Spalte mit den restlichen Monaten von unten her auf. Die einzelnen Monatstexte sind bis zum ›Juni‹ in roter Textura betitelt – der ›Juni‹-Titel wurde im Nachhinein fälschlicherweise von Junius zu Himus (für hiems)82 korrigiert (Tafel IV .4) –, dann (aus Platzmangel?) in roter Bastarda.83
82 Der Text zum ›Winter‹ fehlt auf Tafel IV . 83 Zur möglichen Planung dieser Seite vgl. Kapitel 1.2.1.
Erläuterungen
33
Die Seite 3r (Tafel III , Abb. 3) enthält neben der vergrösserten Aderlassfigur lediglich zwei rot textierte Spalten84 innerhalb der Kreisrahmung. Die Symmetrie ist bei allen Texten eingehalten. Die letzte Seite (Tafel VI ) der Aderlassserie (fol. 3v, Abb. 6) ist nach dem Layout der lateinischen Vorlage Tafel IV (fol. 2v, Abb. 4) gestaltet. Die Textierung ist so gedrängt, dass die beiden äusseren Textspalten sich unmittelbar an die Kreise anschliessen. Die Rahmung der Figur durch die Lassstellentexte ist an den Ecken ›abgerundet‹. Die innerhalb der Rahmung angebrachten Texte sind mit einer Ausnahme wieder symmetrisch angelegt. Die Texte zu den Jahreszeiten sind vollständig. Die Unstimmigkeiten in bezug auf Seitengestaltung und Inhalt sind weniger gravierend als auf der lateinischen Seite: Das Layout des ›Frühlings‹ orientiert sich auch hier an der Gestaltung der Monatstexte, gerät aber etwas breiter, ›Sommer‹ und ›Herbst‹ nehmen korrekt je die Hälfte der oberen, der ›Winter‹ schliesslich zwei Drittel der unteren Textzone ein. Im Unterschied zum lateinischen Pendant ist die Abfolge der Monatstexte korrekt, links und rechts je sechs Monate, beidemal von oben nach unten. Anders ist auch die Abschnittsmarkierung durchgeführt: Die Namen der Monate sind jeweils als Teil der ersten, in Rot geschriebenen Zeile in den Text integriert und nicht als rot geschriebener Titel über dem Text angeordnet. Dies trifft mit wenigen Ausnahmen auch für die Lassstellentexte und für die Texte zum ›Frühling‹ und zum ›Winter‹85 zu, deren in Rot dargebotener Text an Umfang jenem der ›Monate‹ entspricht.
1.1.3.2 Aderlassmann und Lassstellentexte Die vier Aderlassmänner sind alle gleich gezeichnet: Die nackten Figuren sind stehend mit gespreizten Beinen und herabhängenden, vom Körper abstehenden und leicht angewinkelten Armen dargestellt. Die Ansicht ist streng frontal, der Kopf gelegentlich geringfügig gedreht. Die Zeichnungen beschränken sich grundsätzlich auf schematische Umrisslinien. Das Gesicht und der Rippenbereich sind stärker ausgearbeitet und zum Teil rötlich koloriert. Die Bilder stimmen so im Wesentlichen mit dem bekannten
84 Die beiden Initialen fehlen. 85 Der rote Text umfasst hier nicht die vollständige Zeile, sondern nur etwa ein Viertel der Zeilenlänge, inhaltlich gesehen die erste Aussage: Der winter ist kald (Tafel VI.4.1).
34
Astrologie und Medizin
Bildtyp des Aderlassmannes86 (Homo venarum) überein, der in Hand- und Armhaltung geringfügig variiert werden kann. So können Arme und Hände nach aussen gekehrt sein, um die Venen in der Armbeuge und auf den Handflächen besser sichtbar werden zu lassen. Zwei weitere Ausformungen weichen etwas stärker von diesem Typ ab: der Aderlassmann in Hockstellung87 und der Lassmann mit erhobenen, W-förmig abgewinkelten Armen nach dem Vorbild des Tierkreiszeichenmannes.88 Was die Beschriftung anbelangt, so sind die Lassstellen meistens durch eine Linie mit dem entsprechenden Text verbunden. Es finden sich in seltenen Fällen auch Lassmänner mit der Kennzeichnung von Lassstellen und den dazugehörenden Hinweislinien, aber ohne Beschriftung unmittelbar bei der Figur. Nähere Angaben befinden sich in diesen Fällen meist in einem Aderlasstraktat, in den die Figur integriert ist.89 Die Lassstellentexte selber werden in der Forschungsliteratur auch idealtypisch als ›24-Paragraphen-Texte‹ bezeichnet.90 Die Einzelbeispiele sind in der Regel kürzer oder länger. Die Darstellung auf fol. 3v (Tafel VI , Abb. 6) in R bringt in längerer Version 32 Texte, die um fünf Schröpfstellen erweitert wurden.91 Die Texte beinhalten die wichtige Verbindung von Lassstelle und Indikation92 und sind, wie schon durch den Aderlasstraktat vorgegeben, von Kopf bis Fuss um die 86 Zu den verschiedenen Ausformungen des Bildtyps vgl. Gross, Illustrationen, S. 178 f. 87 Ebd. S. 179. 88 Letzterer Typ geht auf den Gestus antik-frühchristlicher Oranten zurück. Vgl. Anm. 50. Repräsentanten sämtlicher Typen findet man abgebildet bei Sudhoff, Beiträge, Taf. XXXXII–LXV . Ebd. Teileditionen von lateinischen und volkssprachigen Lassstellentexten, S. 155–197. Zu den Bedeutungen des Orantengestus vgl. Schmitt, Die Logik, S. 274–279. 89 Ein Beispiel dafür bietet der Cgm 349 der BSB in München, fol. 86r. Die astronomische Sammelhandschrift ist beschrieben bei Gross, Illustrationen, S. 255–258. Diese Darstellung sowie weitere sind abgebildet bei Sudhoff, Beiträge, Taf. LI . 90 Die 24 Paragraphen beziehen sich wie folgt: acht auf den Kopf, zwei auf den Hals, drei auf den Ellbogen, weitere drei auf den Handrücken, je einer auf die Hypochondrien, zwei auf den Penis, je einer auf die Knie und je zwei auf die Füsse. Vgl. Sudhoff, Beiträge, S. 155. Vgl. auch die kurze Diskussion bei Riha, Der Aderlass, S. 93–118, hier: 96 f. 91 Die Beispiele Sudhoffs weisen 30 bis 32 Paragraphen auf. 92 Auch hier kann der Text wieder reduziert werden. So beschränken sich beispielsweise die Beischriften zu einem Aderlassmann aus der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. germ. 291 (fol. 52r) auf die Angabe der Adern. Die ausführlichere Information wurde bereits dort im beigegebenen Aderlasstraktat geliefert. Vgl. Anm. 97.
Erläuterungen
35
Figur herum angeordnet.93 Ihre Gestaltung erfolgt je nach Anspruch unterschiedlich. Das Spektrum reicht von wenig geordneten, asymmetrischen Ad-hoc-Beschriftungen94 bis zu angeordneten, in Kreisscheiben eingeschriebenen95 oder gar auf mehrzeiligen Schriftbändern visualisierten Texten.96 Der an der Textgestaltung abzulesende Anspruch manifestiert sich auch in der Qualität der Figur: Von der Illustration mit fein ausgearbeiteten Gesichtszügen und plastisch erscheinendem Körper97 reicht die Skala hinunter bis zur primitiven Schemazeichnung.98 Die ältesten Aderlassfiguren sind auf den Beginn des 14. Jahrhunderts anzusetzen und bezeichnenderweise ohne Beischriften. Die ersten Zeugnisse spiegeln noch die bildlose, gelehrte Traktattradition, wonach die Figur einem Aderlasstraktat angegliedert ist oder darin integriert ist, Text und Bild aber noch getrennt bleiben.99 Mit der zunehmenden Verselbständigung der Figur entwickeln sich Bild und Text je länger je mehr zu einer Einheit,100 die dem Aderlasstraktat als praxisbezogene Abbreviatur zur wahlweisen oder ergänzenden Benützung beigegeben ist (in Kodizes, z. B. Hausbüchern) oder diesen vollständig ersetzt (in der Einblattschriftlichkeit, z. B. Lasstafeln).
1.1.3.3 Texttradition und Überlieferung Die Thematik des Aderlasses (mlat. venaesectio, gr. phlebotomia) ist in der Fachliteratur des Mittelalters nahezu allgegenwärtig, in der lateinischen Literatur der Universitäten wie im landessprachlichen Bereich.101 Die Beliebt93 Zur Gliederung a capite ad calcem vgl. Keil, Der medizinische Kurztraktat, S. 41–114, hier: S. 47 f. 94 Vgl. Sudhoff, Beiträge, Taf. XXXXV . 95 Vgl. die Oxforder Handschriften: Bodl., MS . Ashmole 391 (V), fol. 8v und MS . Ashmole 789 (VIII ), fol. 365r (Abb. 61). 96 Reproduziert bei Sudhoff, Beiträge, Taf. LII . 97 So die oben erwähnte Illustration aus Heidelberg, UB , Cod. Pal. germ. 291, fol. 52r. Abb. bei Gross, Illustrationen, S. 331. Die Beischriften sind zum Teil lateinisch, zum Teil deutsch. Weitere Beispiele bei Murdoch, Album, S. 313. 98 Dazu kann man die Zeichnungen in R zählen. 99 So beim ältesten der bei Sudhoff angeführten Beispiele: Paris, Bibl. Mazarine, ms. 3599, fol. 116r (um 1300). Die Figur ist in zwei Textspalten eingebettet und bildet mit dem gegenüberstehenden Tierkreiszeichenmann ein Paar. Sudhoff, Beiträge, Taf. LXII . 100 Vgl. Lenhardt, Die Illustrationen, S. 186 ff. 101 Ein Überblick in Haage/Wegner, Deutsche Fachliteratur, S. 238–245. Eine Definition der Phlebotomie findet man in Guy de Chauliacs ›Chirurgia
36
Astrologie und Medizin
heit des Aderlasses erklärt sich aus seinen antiken Voraussetzungen: Die mittelalterliche Viersäftelehre, die ihrerseits im antiken Konzept der Humoralpathologie102 wurzelt, sieht im geregelten Blutentzug das wichtigste Mittel zur Heilung von Krankheiten. Wie das Schröpfen, Abführen und Auslösen von Erbrechen bietet das Zuraderlassen (mlat. sanguinem minuere, mhd. [bluot] laˆzen) die Möglichkeit, in das Verhältnis der vier Körpersäfte einzugreifen, diese ins Gleichgewicht zu bringen und schädliche Stoffe abzuleiten. Die Popularität des Aderlasses spiegelt sich auch in der Heterogenität der überlieferten Aderlasstexte. Eine Gliederung in bezug auf die Funktion der Texte tut hier Not. Mit Riha unterscheide ich die Aderlasstexte entsprechend ihrem Anspruchsniveau:103 die theoretisch fundierten Hochschultexte, die kompilierten oder exzerpierten lateinischen Aderlassmagna‹ (Ed. Lyon 1585), VII ,1,1: Phlebotomia est incisio venae euacuans sanguinem et humores cum sanguine in eis decurrentes. 102 Die antike Humoralpathologie bezeichnet zunächst kein einheitliches Konzept, sondern wurde in der Antike erst nach und nach zu einem geschlossenen System entwickelt. Den Anfang machte Zenon von Elea, der die vier Grundelemente des Empedokles (Erde, Wasser, Luft, Feuer) den sogenannten Grundqualitäten (trocken, kalt, feucht, heiss) zuordnete. Unter dem Eindruck des empedokleischen Viererschemas bringt die späthippokratische Schrift ›De natura hominis‹ die vier Leibessäfte (Blut, gelbe Galle, schwarze Galle, Schleim) mit je zwei Grundqualitäten zusammen. Ausgehend von dieser Ordnung setzt Galen (129–199) die vier Elemente mit den vier Leibessäften gleich und entwickelt die noch für das Mittelalter massgebende Pathologie. Danach beruhen Krankheiten auf Fehlmischungen der humores (Säfte). Die Tetraden wurden in der Folgezeit weiter ausgebaut: zu den genannten Vierheiten kamen die Lebensalter, die Jahreszeiten und die bereits von Galen begründeten Komplexionen (Temperamente). Das System der Humoralpathologie beruht nach Klibansky, Panofsky und Saxl auf drei Prinzipien: »Erstens die Suche nach einheitlichen Ur-Elementen oder UrQualitäten, auf die die komplexe und scheinbar irrationale Struktur des Makrokosmos wie des Mikrokosmos eindeutig zurückgeführt werden könnte, zweitens das Bedürfnis für eben diese komplexe Struktur des körperlichen und seelischen Daseins einen zahlenmässigen Ausdruck zu finden und drittens die Lehre von der Harmonie, Symmetrie und Isonomie, oder wie immer man jene Wohlabgestimmtheit der Teile, Stoffe oder Kräfte ausgedrückt hat, in der das griechische Denken bis zu Plotin die Vorbedingung jedes ethischen, ästhetischen und hygienischen Wertes sah.« (Klibansky, Saturn und Melancholie, S. 40). Vgl. weiter: Storey, ›Humoralpathologie‹, in: LexMA 5, Sp. 211 ff. Vgl. auch: Goehl, Guido d’Arezzo, Bd. 1, S. 99–103, und Mosimann, Die »Mainauer Naturlehre«, S. 194–209. Mayer, Beobachtungen, S. 99–111, hier: 102 ff. Rawcliffe, Medicine, S. 30–33. 103 Riha, Der Aderlass, S. 99.
Erläuterungen
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traktate und die Masse volkssprachiger, praxisbezogener Aderlasstexte. Diese Kategorisierung erscheint in dreierlei Hinsicht plausibel: erstens in bezug auf die verwendete Sprache, so Latein für die erste Gruppe, vorwiegend Latein für die zweite und Deutsch für die dritte; zweitens in bezug auf die Authentizität der Texte – der Schwerpunkt verschiebt sich vom Autortext über spuriose Schriften zum anonymen Traktat – und endlich in bezug auf die Funktion, die sich von der Universitätsmedizin hin zur Laienmedizin verlagert. Dem Aderlasstraktat begegnet man dabei besonders in der dritten Gruppe. Er kommt als isolierter Kurztext vor, kann aber auch Teil eines umfassenden Gesundheitsregimen sein, in das zusätzlich prognostische und diätetische Kurztexte eingebunden sind. Die erste Textgruppe umfasst anspruchsvolle Texte wie den ›Liber regius ad Almansorem‹ des Rhazes (um 900) oder Avicennas ›Canon de medicina‹ (um 1000). Zur zweiten Gruppe gehören einfache gebrauchsorientierte lateinische Texte, die einerseits als Quelle für qualitätsvollere Traktate benützt wurden und andrerseits als Vorlage für Übersetzungen in die Volkssprache dienten. Dazu zähle ich die pseudo-hippokratische ›Epistola de phlebotomia‹ und den (fälschlicherweise) Beda zugeschriebenen Traktat ›Omni tempore, si necessitas urget‹. Beide Texte entstammen dem 9. Jahrhundert und waren schon früh weit verbreitet.104 Die dritte Gruppe umfasst katalogartige, in die Volkssprache übersetzte Gebrauchstexte, die zumeist im Lateinischen in Form von »Kurz- und Einfachversionen«105 bereits vorgebildet waren und deren Inhalt aufgrund fehlender theoretischer Verankerung ausgesprochen instabil ist. Ein Grossteil dieser Texte zerfällt in Kurz- und Kürzesttexte, die in fast beliebiger Kombination für sich stehen oder thematisch in längere Abhandlungen eingebunden sein können. In der Forschung haben sich für solche Texte Begriffe eingebürgert wie ›24-Paragraphen-Text‹, ›Kritische Tage‹ und ›Verworfene Tage‹ für unmittelbar aderlassbezogene Texte, ›(Zwölf)monatsregeln‹, ›Nativitätsprognostik‹ und ›Donnerprognose‹ für diätetische und mantische Texte, die sich daran anbinden lassen. All diese Textsorten sind in der Aderlassserie von R vertreten. Die Texte werden der Reihe nach erläutert und in der Parallelüberlieferung verortet.
104 Textabdruck in: Sudhoff, Beiträge, S. 168 f. Vgl. dazu: Voigts/McVaugh, A Latin Technical Phlebotomy, S. 1 ff. Gleichen Zuschnitts ist auch der Blutschautraktat ›Epistola de sanguine cognoscendo‹ (9. Jh.). 105 Riha, Der Aderlass, S. 99.
38
Astrologie und Medizin
1.1.3.4 ›Kritische Tage‹, ›Paragraphen-Text‹ und ›Verworfene Tage‹ Aderlassregeln und ›Kritische Tage‹ Die erste Aderlassseite 2r (Tafel III , Abb. 3) bringt drei Texte, die sich unter das Thema ›Aderlass‹ subsumieren lassen. Den Beginn machen Aderlassregeln106 über den richtigen Zeitpunkt des Aderlasses im Kopfteil der Seite. Der erste Abschnitt bestimmt den Zeitpunkt und die Regionen für den Aderlass in Bezug auf die Mahlzeiten und betont zunächst die Unabdingbarkeit dieses Wissens (Tafel III.1.1.1). Diese Übersetzung einer lateinischen Nota lautet: Dv solt wizzen (sciendum est) und findet sich in fast wörtlicher Übereinstimmung in anderen Aderlassregeln.107 Die gleiche Regel findet sich auch wieder beim dritten Aderlassmann auf fol. 3r (Tafel V .1.1).108 Der zweite Abschnitt (Tafel III.1.2) vereinigt drei Informationen: Der Aderlass ist zunächst entweder aus gewanhait (Gewohnheitsaderlass zur Vorbeugung einer Krankheit) oder aus chranchait (kurativer Aderlass zur Heilung einer bereits eingetretenen Krankheit) angezeigt.109 Weiter ist die Mondstellung ausschlaggebend für die Festlegung des Zeitpunktes: Du [. . .] 106 So bezeichnet nach Karin Schneiders Beschreibungen der Cgm. 107 So im ›Kodex Schürstab‹: Zürich, ZB , Ms. C 54, fol. 42v, und in der ›enzyklopädischen‹ Handschrift W, fol. 41r. Weitere Belege bei Sudhoff, Beiträge, S. 175 und 181. Der lateinische Text lautet: Nota, quod omnes vene capitis sunt post comestionem minuende, excepta vena sub mento. Sed omnes vene brachiorum sunt ante comestionem minuende. Omnes autem vene manuum crurium et pedum sunt post comestionem minuende. Eine deutsche Version ist abgedruckt in: Sudhoff, Beiträge, S. 186 ff. 108 Hier folgt eine zweite Regel (Tafel V .1.2), wonach der Aderlass an der rechten Körperhälfte in Frühling und Sommer angezeigt ist, der Aderlass an der linken Körperhälfte in Herbst und Winter. Die Regel erklärt sich aus der Dominanz der warmen Säfte, die in den wärmeren Jahreszeiten durch die vermehrte Blutbildung in der Leber angeregt werden. Im Gegenzug bewirken die kälteren Zeiten einen Überfluss an kaltem Schleim in der Milz, der linksseitig abgeführt werden muss. Vgl. Gil-Sotres, Derivation and Revulsion, S. 110–155, hier: 129. 109 Guy de Chauliac, Chirurgia magna (Ed. Lyon 1585), VII ,1,1: Et est, secundum Rhasim in iiij Alman. multum conferens ad sanitatem conseruandam, et ad aegritudines curandas, si fiat vt oportet. Max Künzel schreibt dazu: »Gewohnheitsaderlass und kurativer Aderlass sind von der Zielsetzung her unvereinbar. Für den kurativen Aderlass sind die dies critici errechnete Interventionstermine. Beim Gewohnheitsaderlass ist dagegen die Anzahl der Lasstage zu festgelegten Zeitpunkten innerhalb des Jahreskreises vordergründig. Selbstverständlich werden auch beim Gewohnheitsaderlass astrologische Indikationen berücksichtigt. Aber seine Verbindung mit der Therapiefunk-
Erläuterungen
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macht haissen slahen czw ainer ygleichen czeit, wenn der man nach der niew wechst vnd entwechst. Diesen beiden Hinweisen angehängt ist die Auflistung der dies critici. Die sogenannten ›Kritischen Tage‹ sind astronomisch errechnete Interventionstermine für den kurativen Aderlass110 und wurden im Gegensatz zu den ›Verworfenen Tagen‹ nicht ausschliesslich für den Aderlass berücksichtigt, sondern auch für alle anderen medizinischen Behandlungen.111 Im Fall einer Ausnahme von den vorgeschriebenen ›Kritischen Tagen‹, beispielsweise aufgrund von Schock oder Ohnmacht, ist mit einem vngelukch von geschrikch, von grossem vallen oder von anderen sachen zu rechnen.
›Paragraphen-Text‹ Der ›Paragraphen-Text‹ (Tafel III.2)112 zeigt nun sehr gut die praktische Umgewichtung eines volkssprachigen Gebrauchstextes im Vergleich zu einem theoretisch angelegten Text aus dem Hochschulbetrieb. Orientiert sich die Struktur in Avicennas ›Canon‹, dem der Lasstraktat ursprünglich entnommen ist,113 an der Anatomie des Menschen – die einzelnen Gefässe werden der Reihe nach mit einer Indikation verbunden –, verfährt der volkssprachige ›Paragraphen-Text‹ nach der umgekehrten Zuordnung: der Benutzer ist mit einer bestimmten Krankheit oder Vorbeugungsmassnahme konfrontiert und will wissen, welche Ader diese nahelegt oder jene heilt.114 Eine Krankheit liegt nach humoralpathologischem Verständnis dann vor, wenn das Säftegleichgewicht gestört ist. Das kann durch einen in Überschuss vorhandenen Saft verursacht sein oder durch seine Verdorbenheit und zeigt sich lokal als Entzündung oder allgemein als Fieber. Die Regulierung einer fehlerhaften Säftemischung und die Ansammlung schädlicher humores an einer Körperstelle kann durch Derivation beseitigt oder durch Revulsion unterbunden werden.115 Die Derivation entfernt die
110 111 112 113 114 115
tion der kritischen Tage bahnt eine pseudowissenschaftliche Verallgemeinerung an« (Beilngrieser Aderlassmännlein, S. 162). Beim Gewohnheitsaderlass steht die Anzahl der Lasstage zu festgelegten Zeitpunkten im Vordergrund. Dazu: Künzel, Beilngrieser Aderlassmännlein, S. 161 ff., und Keil, Die verworfenen Tage, S. 27–58, hier: 27 und 29–33. Ich kommentiere im Folgenden alle ›Paragraphen-Texte‹ der Aderlassreihe zusammen. Ed. van Riet, I,IV ,20. Dazu: Riha, Der Aderlass, S. 96 f. Guy de Chauliac. Chirurgia magna (Ed. Lyon 1585), VII ,1,1. Vgl. Künzel,
40
Astrologie und Medizin
materia peccans am Krankheitsherd oder in seiner unmittelbaren Nähe. Blut und Säfte werden auf diese Weise zum Krankheitsherd gezogen (attrahere, griech. metacentesis) und dort abgeführt:116 Die ader in ietwe‹de›rm winchel der augen ist gut cze slahen fur vbrig rote vnd tunchel der augen (fol. 2r, Tafel III.2.3). Die Revulsion geht dagegen kontralateral vor: Die Venaesektion erfolgt an einer vom Krankheitsherd entfernten Stelle und soll nach dem Prinzip der Sogwirkung den Blutstrom umleiten (distrahere, griech. antispasis), so dass verdorbene und überschüssige Säfte nicht dorthin gelangen und die Krankheit folglich zumindest gedämpft wird: Czwo ader auff der maisten czehen solt du slahen fur mail vnder dem antlucz vnd rot vnd fluzze der augen vnd dy fistelen vnd verstellet den frauen irn fluezz (fol. 3r, Tafel V .2.26). Oft sind beide Methoden angebracht, wenn derivative und revulsive Indikationen gemeinsam angegeben werden:117 e
Die ader auf ietwederem fuzz auss‹er›halb vnder den enchkelen sint gut cze lazzen fur all gepresten vnd ween, smerczen, siechtum, sucht, troppffen, gicht aller gelider, aller geslöz vnd v‹o›n oben [vncz cze niderst dez leibes vber all]. (fol. 2r, Tafel III.2.27).
Die vier Aderlassseiten geben einen guten Überblick über die Krankheiten im Mittelalter.118 Ich bündle sie hier der Übersicht halber in Kopf-, Oberleib-, Unterleib- und Extremitäten-Krankheiten. Dazu kommen die Frauenleiden und die verschiedenen Fieber. Eine derartige Zusammenstellung zeigt eindrücklich, wie viel praktisches Wissen über Krankheiten und deren Abhilfe die vier Aderlassseiten versammeln:119
116 117
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Beilngrieser Aderlassmännlein, S. 158–160, und Gil-Sotres, Derivation and Revulsion, S. 122–128. Hier findet man auch zahlreiche Quellenbelege zu den zwei Verfahrensweisen des Aderlasses. Die Methode bewirkt eine Verminderung der Durchlaufgeschwindigkeit des Blutstroms und ein Abschwellen der Entzündungen. Vgl. Künzel, Beilngrieser Aderlassmännlein, S. 159. Dazu: ebd. Künzel zählt für fol. 2r noch die Lassstellen in der mitt der stiren (Tafel III.2.1), cze niderst a{u} f paiden armen (Tafel III.2.16), in der mitten auf ietweder hant (Tafel III.2.18), die ober ader auff dem czagel (Tafel III.2.23) und auf der minsten czehen paider fuzze (Tafel III.2.26) auf, an denen bei jedem Aderlass Derivation und Revulsion gleichzeitig erfolgt seien. Eine Übersicht mit Belegen aus Hildegards von Bingen ›Causae et curae‹ bei Schipperges, Die Kranken, S. 78–98. Zu den einzelnen Krankheiten vgl. die breite Materialsammlung (16.–19. Jh.) von Max Höfler, Deutsches Krankheitsnamen-Buch. Die Übersicht berücksichtigt alle vier Aderlassseiten. Ich führe für diese Auflistung keine Quellen- und Literaturnachweise – sie sind in der Edition (Die ›Süddeutsche Tafelsammlung‹ [Ed. Castelberg/Fasching]) greifbar.
Erläuterungen
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Kopf allgemein: – fluzz der haubtez, hauptgicht (Schlagfluss, Apoplexie, Kopfrheuma, Nasenkatarrh) – slakch, paraleys (Schlagfluss, Paralyse) – snopffen des hirns (Nasenkatarrh) – zittern, swinden, weben, butten des haubtez (Kopfzittern) – schricken (Alpdruck), nacht foricht (nächtliche Ängste) – vnsin (Manie), ainreden (irre reden), tobichait (Wahnsinn) – verschamtter sin (stupor mentis) – swindel (Schwindelanfälle) – swerhait des hauptez (Schweregefühl) – dolor emicraneus (Migräne) – geswer (Geschwüre) – rewden, kraczen (Räude, Krätze: pruitum) – vliemen (Schleim) – wem sein slaf wetunt (Schmerzen an den Schläfen) Augen: – fluzz der augen (Bindehautkatarrh: fluxus oculorum) – geswer und apostemata (Abszesse, Aposteme), vistel (Fisteln) – tunchel, finster, nebel, trub, ire, pelen (Sehstörungen: suffusio, ymaginacio) – blater vnd mail (Ausschläge) – rote (Röte) Ohren: – wem sein oren tunent (Tinnitus) Nase und Hals: – naszlocher reuden (Nasenkrätze) – geswer der naslocher – straukchen (Schnupfen) – husten – geswer in den slunt – druz dez hals (Halstumor) – squinancia (Kehlengeschwulst) Mund: – czant sweren, piler (Zahnschmerzen) e – vber flussikait der piler (Zahnfleischschmerzen) Haut: – mail vnd spreckel (Gesichtsflecken) – engring vnd roselin (Hautausschlag) – gelsucht (Gelbsucht) – wem sein antluzz verplaichet (Blässe, Bleichsucht)
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Astrologie und Medizin Oberleib
allgemein, unspezifisch: – egritudo, dolor – ween, siechtagen, geprechen, gesuecht, arbait, smerczen an: lung, leber, hercz, prust, seitten, ruck, schulter, rippe Herz: – die hercz slachtig sint (Asthma) Brust: – prust sucht (andauerndes Brustleiden) – wer vill hart atmet (Atembeschwerden) Unterleib allgemein, unspezifisch: – ween, siechtagen, geprechen, gesuecht, arbait, smerczen an: magen, gedarm, gal, nieren, milcz, plater, rukchpain, huffe, lenden Leber: – leber faul (Leberfäulnis) – vber fluzzichait der leber (überschüssiger Humor in der Leber) – leber sucht (Leberentzündung) Darm: – blater dez darms (?) – darm gicht, kramppffen (Kolik) Nieren: – reisent sant (Schmerz durch Gesteinsablagerungen, durch nicht ausgeschwemmter Sand/Gries)120 – apostemata der nieren (Nierenabszess) Milz: – vber fluzzichait dez milczes (überschüssiger Humor in der Milz) Blase: – harm steinen (Harnsteine) – harem winten (schmerzhafte Entleerung der Blase) Genitalien: – geswulst der gemacht (Abszess an den Genitalien, Hodenschwellung) Extremitäten allgemein: – gicht aller gelider, geprechen der painen, swerhait der gelider
120 Auch unter dem Organ ›Blase‹ als Gesteinsablagerungen in der Blase.
Erläuterungen
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Beine: – fluzz der pain (Beinrheuma) – troppfen (Gicht, Rheuma) – reiden (Räude) – apostemata der diecher (Aposteme an den Oberschenkeln) Füsse: – troppfen (Gicht, Rheuma) – reiden (Räude) – podagra (Fussgicht) Frauenleiden – die des rechten vnd ir blumen nicht haben (Ausbleiben der Menstruation) – die kindez genesen sind vnd den ir nachgepurt nicht recht geschehen ist (Plazentaretention) – dy sich nit furben (Ausbleiben der Menstruation) – die vnperhaft sind von gepresten der permuter (Unfruchtbarkeit infolge Erkrankung der Gebärmutter) – dy nicht fruchtpar sind (Unfruchtbarkeit) Fieber – allerlay riten (Fieberarten) – rit des vierden tages (Viertagefieber) Nicht spezifizierte Krankheiten – troppffen, gicht (Rheuma, Gicht: reuma) – (poser) fluzz (Flussschmerzen: humores reumatisantes) – (ge)sucht (chronische Krankheiten) Andere Krankheiten – – – – – –
geswinde sucht, wazzer sucht (Schwindsucht, Wassersucht) daz ein mensch icht ausseczig werde von posen fluzzen (Aussatz, Pest) czitteren der starkchen aderen (›Sehnenhüpfen‹) wem sein aderen erstarren (?) massichait dez leibez (Leibesfülle) trachait (Trägheit)
Auffallend häufig sind Flussschmerzen und verschiedene sucht-Krankheiten. Diese zwei Beschwerden lassen sich von der Humoralpathologie her erklären. Flussschmerzen wie Hauptfluss, Schlagfluss und Augenfluss sind durch körperinnere Flüssigkeiten verursachte Schmerzen.121 Die Symptome 121 Vgl. Höfler, Krankheitsnamen-Buch, S. 159 f.
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Astrologie und Medizin
zeigen sich dann, wenn der Fluss in die unteren Organe ›fällt‹: Beim Hauptfluss ›fällt‹ er in Form von Schleim aus der Nase, beim Augenfluss fliesst der Schleim aus der Augenbindehaut, beim Schlagfluss schliesslich befällt ein Blut-, Schleim- oder Serumfluss schlagartig einzelne Körperteile und lähmt diese ganz oder teilweise. Die gleiche humoralpathologische Vorstellung erklärt auch den sogenannten ›Tropfen‹ (gutta: Gicht),122 der in die verschiedenen Glieder ›fällt‹ und Lähmungen, Krämpfe und Gliederreissen hervorruft, oder aber wie ein ›Fluss‹, bald hierhin, bald dorthin zieht und rheumatische Beschwerden auslöst. Die sucht-Krankheiten sind chronische, lang andauernde oder seuchenartig auftretende Krankheiten wie Gelbsucht, Schwindsucht oder Wassersucht. Konstant vertreten sind auch vielfältige Hautkrankheiten,123 die sich als Krätze und Räude bemerkbar machen, sowie verschiedene Geschwürarten wie Aposteme, Pusteln und Fisteln. Bei den drei wichtigsten Aderlassgefässen sind die Lassstellentexte mit zusätzlicher Information versehen: Es empfiehlt sich, die Hauptader (cephalica) nüchtern am 5. April gegen Kopfschmerzen zu öffnen (fol. 2r, Tafel III.2.14), die Herzader (mediana) am 5. September gegen Herzbeschwerden (fol. 2r, Tafel III.2.15) und die Leberader (epatica oder basilica) am 7. Mai gegen Leberkrankheiten (fol. 2r, Tafel III.2.16).
›Verworfene Tage‹ Der untere Textstreifen auf fol. 2r (Tafel III.3) listet die nach Monaten geordneten ›Verworfenen Tage‹ auf und reichert diese mit diätetischen und prognostischen Zusätzen an. ›Verworfene Tage‹ sind für den Aderlass gefährliche Tage, die, im Gegensatz zu den dies critici, kalendarisch festgelegt, gleichmässig auf alle Monatshälften verteilt sind.124 Die Texttradition reicht bis ins zweite vorchristliche Jahrtausend zurück und findet sich seit dem 4. Jahrhundert in römischen Kalendern. In Anlehnung an den vermeintlichen Ursprung dieses Traditionsstranges wurden die betreffenden 24 oder 25 Tage auch dies aegyptiaci genannt. Einen zweiten Traditionsstrang bilden 122 Als Kopfgicht (cephalagra), Fussgicht (podagra), Handgicht (chiragra) oder allgemein als gicht aller gelider. Vgl. Höfler, Krankheitsnamen-Buch, S. 160 und 752 ff., und Schipperges, Die Kranken, S. 88. 123 mail (Male), spreckel (Sommer)flecken, roselin (Dermatosen), engerling (Mitesser). 124 Weisser, ›Verworfene Tage‹, in: 2VL 10, Sp. 318 ff. Keil, Die verworfenen Tage, S. 27. Riha, Wissensorganisation, S. 128–133.
Erläuterungen
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die sogenannten ›Pariser Tage‹, die zumeist 32 abweichende Interventionsdaten ohne feste Monatsbindung nennen und sich auf Pariser Meister und Sternseher berufen.125 Die dreizehn verworfenen Tage auf fol. 2r weichen völlig ab von den ›Pariser Tagen‹ und stimmen nur zum Teil mit der Auswahl in Texten ›ägyptischer‹ Tradition überein.126 Gemäss Max Künzel hat man es hier mit einer gesonderten Überlieferungsreihe oberdeutscher Provenienz zu tun.127 Die Gefahr des Aderlassens an den erwähnten Tagen besteht einerseits in den oben angeführten Krankheiten, andrerseits im sofortigen oder im genau voraussagbaren Tod:128 In februario, so sich die acht kalenden129 an hebt, so slach der ader nicht, oder du stirbest, oder du wirst hercz slachtig aller ding (Tafel III.3.2). Zwei Besonderheiten sind noch zu erwähnen:130 am ersten August wird vom Trinken abgeraten – wer dez tages ainen trankchen nympt, der stirb‹t› in xx tagen (Tafel III.3.8); bei Aderlass am dreissigsten September droht Umnachtung oder Erblindung – du verlausest dein sinne oder daz liecht deiner augen (Tafel III.3.9).
1.1.3.5 Überlieferung Für die Texte auf fol. 2r lässt sich eine oberdeutsche Überlieferungstradition ausmachen,131 die insgesamt durch fünf Textzeugen vertreten ist. Allen fünf Textzeugen gemeinsam ist eine häufige Übereinstimmung bei den Lassstellentexten und eine hohe Übereinstimmung bei den ›Verworfenen Tagen‹, die sich ohnehin schon von anderen Datenreihen abheben und eine eigene Tradition begründen. Zudem stammen sämtliche Textzeugen aus dem 125 Keil, Die verworfenen Tage, S. 39–45. 126 Als Vergleichsmaterial dient hier die Tabelle bei Keil (Die verworfenen Tage, S. 46). Verglichen mit ›Pariser‹-Texten fehlt praktisch jede Übereinstimmung, verglichen mit Texten ›ägyptischer‹ Tradition fehlen der 28./29. Februar, der 11. April, der 6. Mai, der 27. Juni und der 27. November. Zudem weicht R ab in bezug auf die Gesamtzahl der Daten und deren Verteilung auf die einzelnen Monate. 127 Beilngrieser Aderlassmännlein, S. 165. 128 Voraussage auf den Tag genau oder innerhalb des laufenden Jahres. 129 25. Januar. Zu den Umrechnungen der Kalenden vgl. Die ›Süddeutsche Tafelsammlung‹ (Ed. Castelberg/Fasching), Anm. zu Tafel III.3.2. 130 Keil, Die verworfenen Tage, S. 53 und 56. 131 Künzel, Beilngrieser Aderlassmännlein, S. 157 f., 165 und 172 f. (Abbildung des ›Beilngrieser Aderlassmännlein‹. Vgl. dazu auch Kapitel 3.3.4 in Teil B sowie die Abb. 76 und 77).
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Astrologie und Medizin
(ost)mittelbairisch-ostmitteldeutschen132 Sprachraum.133 Nahezu identisch sind die Textpassagen in R mit den drei folgenden Textzeugen: ›Beilngrieser Aderlassmännlein‹134 Lasstafel, Raum Regensburg (mittelbairisch), ausgehendes 14. Jh. Inh.: Aderlassregeln, ›Kritische Tage‹, Lassstellentext, ›Verworfene Tage‹135 Wrocław (Breslau), UB , Cod. III Q 1, fol. 93v–94v Arzneibuch (?), ostmitteldeutsch, ausgehendes 14. Jh. Inh.: Lassstellentext, Aderlassregeln, ›Kritische Tage‹, ›Verworfene Tage‹ München, BSB , Cgm 725, fol. 19r–22v Arzneibuch, ostmittelbairisch, 4. Viertel 15. Jh. Inh.: Aderlassregeln, ›Kritische Tage‹, Lassstellentext Die Texte zweier weiterer Handschriften weichen im Text und in der Liste der ›Verworfenen Tage‹ geringfügig ab. In beiden Texten wurde die Reihenfolge der Lassstellentexte auf die gleiche Art abgeändert:136 München, BSB , Clm 2777, fol. 17r–17v Sammelhandschrift vorwiegend medizinischen Inhalts (Kompendium) Zisterzienserkloster Aldersbach (mittel-/ostmittelbairisch), 1458 und 1469 Inh.: Lassstellentext, Aderlassregeln, ›Kritische Tage‹, ›Verworfene Tage‹ 132 Die beiden ostmitteldeutschen (schlesischen) Handschriften wurden nicht in die Edition einbezogen. Es sind dies die beiden Handschriften: Wrocław (Breslau), UB , Cod. III Q 1, fol. 93v–94v; schlesisch (ostmitteldeutsch), letztes Viertel 14. Jh. oder Beginn 15. Jh.: Lassstellentext, Aderlassregeln, ›Kritische Tage‹, ›Verworfene Tage‹; und Wrocław (Breslau), UB , Cod. Rhed. 291, fol. 1r (›Breslauer Arzneibuch‹); schlesisch (ostmitteldeutsch), Mitte 15. Jh.: Lassstellentext. Textabdruck der ersten acht Paragraphen in: Sudhoff, Beiträge, S. 190 f. 133 Nach Keil die sogenannte ostmitteldeutsche Gruppe (›VierundzwanzigParagraphen-Text‹, in: 2VL 10, Sp. 335). 134 Textedition in: Künzel, Beilngrieser Aderlassmännlein, S. 165–171. 135 Die Aderlassfigur ist zusätzlich mit den Inschriften des Tierkreiszeichenmannes versehen. 136 Künzel nummeriert die Lassstellen-Paragraphen beim ›Beilngrieser Aderlassmännlein‹ (identisch mit Tafel III , fol. 2r) von 1 bis 28 durch, beginnend mit der Textreihe am rechten Arm der Lassstellenfigur (vom Betrachter aus links). Die Fortsetzung erfolgt mit Nr. 14 am linken Arm (vom Betrachter aus rechts oben). Clm 2777 und Cgm 430 zeigen, gemeinsam vom ›Beilngrieser Aderlassmännlein‹ abweichend, die gleiche Reihenfolge (Beilngrieser Aderlassmännlein, S. 157).
Erläuterungen
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München, BSB , Cgm 430, fol. 138r–142r Arzneibuch mit Kalender, mittelbairisch, 1. Viertel 15. Jh. Inh.: Aderlassregeln, ›Kritische Tage‹, Lassstellentext, ›Verworfene Tage‹ Als Urfassung aller Texte kommt eventuell die Münchner Handschrift Clm 7999 aus dem Zisterzienserkloster Kaisheim (Bistum Augsburg) in Frage.137 Die Grossfolio-Handschrift ist um 1200 zu datieren und bietet einen mit deutschen Glossen versehenen lateinischen Lassstellentext.138 Die einzelnen Textsorten erscheinen in den hier einbezogenen Textzeugen in relativ konstanter Überlieferungssymbiose, bevorzugt im Handschriftentyp des ›Arzneibuchs‹.139 Dieses bringt Textblöcke unterschiedlichster Gattungen zusammen, die einander bei gemeinsamer medizinischer Ausrichtung thematisch ergänzen. Die Konstanz in der Kombination der Textsorten ermöglicht ihre gemeinsame, bruchlose Eingliederung in Einzeltafeln und Tafelsammlungen, wie sie in R vorliegen.
1.1.4 Jahreszeitenlehre und ›Monatsregeln‹ Die Lassstellentexte auf den Tafeln IV und VI (Übersetzung) (fol. 2v und 3v) werden von vier Texten zu den Jahreszeiten und zwölf ›Monatsregeln‹ umrahmt.140 Ich beginne den Kommentar mit der theoretisch angelegten Jahreszeitenlehre und fahre mit den praktisch ausgerichteten ›Monatsregeln‹ fort.
1.1.4.1 Jahreszeitenlehre Die einzelnen Texte zu den vier Jahreszeiten teilen sich in sechs inhaltliche Abschnitte. Die Reihenfolge dieser Abschnitte ist bereits in den älteren Fassungen erstaunlich konstant.141 Ich gliedere die Abschnitte nach den Texten zum ›Herbst‹ und ›Winter‹, die vom Theoretisch-Kosmologischen 137 Vgl. Künzel, Beilngrieser Aderlassmännlein, S. 165. Zur Handschrift: Die romanischen Handschriften (Ed. Klemm), S. 196 (Nr. 297). Unkrit. Teiledition in: Sudhoff, Beiträge, S. 169 f. 138 Die ›Verworfenen Tage‹ decken sich hier nur zum Teil mit den jüngeren Texten. Eine Synopse mit den ›Verworfenen Tagen‹ von Clm 7999, Clm 2777, Cgm 430 und dem ›Beilngrieser Aderlassmännlein‹ in: Künzel, Beilngrieser Aderlassmännlein, S. 163 f. 139 Eine Begriffsdiskussion in: Riha, Wissensorganisation, S. 8–18. 140 In der lateinischen Fassung fehlt der Text zum ›Winter‹. 141 Siehe Kapitel 1.1.4.3.
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Astrologie und Medizin
zum Praktisch-Medizinischen verlaufen. Entsprechend gereiht gebe ich die vier Texte, beginnend mit dem Frühling, wie folgt wieder:142 Frühling (Tafeln IV .1 und VI.1) Makrokosmos (1) [1] Qualität: calor et humor (2) [2] Sonnenlauf: aries – cancrum (sic!) – gemini (3) [1] Zyklus: Wachstum: omnia innouantur et crescunt; apperiantur pori terre et diuersi colores herbarum et arborum generantur Mikrokosmos (4) [3] Humor und Organ, Qualität und Komplexion:143 sanguis; epar; calidus et humidus (5) [4] Einfluss auf Komplexion, Lebensalter und Krankheiten: (a) [Einfluss auf die Komplexionen fehlt] (b) [4] so haben ez dy alten poser wan dy iungen (c) [4] mala est infirmitas ex meloncolia ut quartana febris; pessima autem que fit ex sangwine ut sinocha (6) [5] Diät: feucht (sic!) vnd trukchen [. . .] niezzen Sommer (Tafeln IV .2 und VI.2) Makrokosmos (1) [1] Qualität: sicca et arida144 (2) [6] Sonnenlauf: cancer – leo – virgo (3) [2] Zyklus: Reifung: segetes et fructus herbarum et arborum maturescunt Mikrokosmos (4) [3] Humor und Organ, Qualität und Komplexion: colera rubea; asta et fel; calidus et siccus; homines fiunt iracundi, acuti, ingeniosi et leues; purgacio per aures (5) [4] Einfluss auf Komplexion, Lebensalter und Krankheiten: (a) [4] melius habent flegmatici, peius colerici 142 In eckigen Klammern steht die ›unbereinigte‹ Reihenfolge nach R. In der Übersicht werden lateinische und deutsche Version übereinandergelegt, d. h. wo sich die Texte inhaltlich decken, steht der lateinische Text; wo dieser fehlt, steht die deutsche Variante. Alle vier Abschnitte werden im Text durch die Zeitangabe in hoc tempore eingeleitet. 143 Komplexion fehlt. Dafür Zusatz in der lateinischen Version: Similatur ve‹r› aeri (Tafel IV .1.4). 144 truchken vnd haizz (vgl. Tafel VI.2.1 mit Anm.).
Erläuterungen
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(b) [4] melius senes, peius iuuenes (c) [4] pessima infirmitas facit ex colera, minus mala ex flegmate (6) [5] Diät:145 vtendum est frigidis et humidis Herbst (Tafeln IV .3 und VI.3) Makrokosmos (1) [1] Qualität: frigidus et siccus (2) [2] Sonnenlauf: libra – scorpio – sagittarium (3) [3] Zyklus: Ernte/Tag-Nacht-Gleiche: fructus maturi colliguntur et equi noctium esse contingit Mikrokosmos (4) [4] Humor und Organ, Qualität und Komplexion: colera nigra et melancolia; splen; frigidus et siccus; facit homines esse tristes, iracundos, timidos et sompniolentos et aliquando vigiles (sic!); purgacio per oculos (5) [5] Einfluss auf Komplexion, Lebensalter und Krankheiten: (a) [5] melius habent sangwinei, peius melancolicy¨ (b) [5] melius pueri, peius senes (c) [5] pessima infirmitas est, que nascitur ex melancolia, nimis mala ex sangwine (6) [6] Diät: vtendum est humidis et calidis146 Winter (Tafel VI.4)147 Makrokosmos (1) [1] Qualität: kald vnd feucht (2) [3] Sonnenlauf: capricornus – aquarius – pisces (3) [2] Zyklus: Sonnenferne:148 vbrige[. . .] verr der sunnen Mikrokosmos (4) [5] Humor und Organ, Qualität und Komplexion: fluzz, lung; chalt vnd feucht; da von werden die leut trag vnd vngedachtig vnd slaffrig (5) [4] Einfluss auf Komplexion, Lebensalter und Krankheiten: (a) [4] habent es pesser dy hiczing wan dy´ fluzznig 145 Fragmentarischer Zusatz in der lateinischen Version: Colera similis est virgini estate et calidi iuuentuti (Tafel IV .2.6). 146 In Abschnitt Tafel IV .3.6 eingeschoben. 147 Fehlt in der lateinischen Version. 148 Inseriert in den Abschnitt ›Qualität‹ (vgl. Tafel VI.4.1 und 4.2).
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Astrologie und Medizin
(b) [4] dy iungen pesser dann dy alten (c) [7] der pozsten tag ist, der wirt von dem rocz sam der tagleich rit; der minner poz ist, der wirt von der colera als der vierd taglich ritt (6) [6] Diät: essen haisse speiz vnd trucken Die Texte zu den Jahreszeiten in R stehen den entsprechenden Paralleltexten aus dem ›Liber de sex rerum principiis‹149 (nach 1147) sehr nahe. Ein Vergleich mit dem Text zum ›Herbst‹ zeigt die Verwandtschaft in Gliederung und Inhalt: (2) Quando autem Sol quartam circuli partem frigidam et siccam, ab initio Librae usque in finem Sagittarii, id est a medio Septembris ad medium Decembris, ingreditur, tunc humore desiccato et calore extincto ex gemina siccitate aestatis (3) et autumni fructus marcescunt. (4) Huic tempori terra, melancholia, senectus, in frigiditate et siccitate consimilantur. (5a) Tunc melius se habent sanguinei, peius melancholici, (5b) adolescentes melius, senes peius. (5c) Tunc pessima est quartana ueniens ex melancholia. (6) Tunc propter inaequalitatem temporis ex affinitate aestatis et hiemis bonum est uti curationibus et calidis et humidis.
Die Parallelen im Wortlaut sind erstaunlich, die inhaltlichen Abweichungen beschränken sich auf die Angaben im ersten und vierten Abschnitt. Im ersten Abschnitt (Tafel IV .3.1) fehlen in R die astronomischen Angaben; der Text begnügt sich mit der Charakterisierung der Jahreszeit. Im vierten Abschnitt (Tafel IV .3.4) scheint R aus einer Vorlage zu schöpfen, die der ›Liber de sex rerum principiis‹ nicht kennt. Die Verortung des Körpersafts im entsprechenden Organ und dessen Einfluss auf die Psyche des entsprechenden Temperaments fehlen im ›Liber‹, dafür findet man Ähnlichkeiten in der Wortwahl zu zwei stark verstümmelten Sätzen in den Texten zum ›Frühling‹ und zum ›Sommer‹: Similatur ve‹r› aeri, Tafel IV .1.4; colera similis est virgini estate et calidi iuuentuti, Tafel IV .2.6. Inhaltlich bedeutet dies wie schon bei Abschnitt 1 eine Verschiebung von kosmologischen und zeitbedingten Zusammenhängen, d. i. von der Analogie zwischen der Jahreszeit, dem Element, der Komplexion und dem Alter, hin zum Interesse an physischen und psychischen Dispositionen. Die lateinische Version in R weist gegenüber der volkssprachigen Übersetzung zwei Plusstellen in Form von frei flottierendem Versgut auf: Dic‹it› enim philosophus: Tale additum tali, mag‹is› fit tale. (Tafel IV .2.5) Cor sapit, pulmo loquitur, ‹f›el conmouet iram. Splen ridere facit, cogit am‹a›re iec‹u›r. (Tafel IV .3.6) 149 Ed. Lucentini/Delp, VI ,22,55–67. Vgl. Kapitel 1.1.4.3.
Erläuterungen
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Umgekehrt ist die deutsche Version vollständiger: Der Text zum ›Winter‹ findet sich nur hier (Tafel VI.4), ebenfalls der fünfte Abschnitt zum ›Frühling‹ (Tafel VI.1.5). Daraus wird ersichtlich, dass der deutsche Text nicht eine Übersetzung der lateinischen Tafel darstellt, sondern direkt aus der Vorlage übersetzt wurde. Diese lateinische Vorlage wiederum könnte natürlich auch die unmittelbare Vorlage für den unvollständig und teilweise falsch abgeschriebenen, lateinischen Text auf fol. 2v gewesen sein. Die Texte zu den vier Jahreszeiten thematisieren den Einfluss des Kosmos auf den Menschen. Jeder Text lässt sich nach inhaltlichen Kriterien in sechs Abschnitte gliedern. Die ersten drei Abschnitte betreffen die kosmologische Dimension der Jahreszeiten. Die theoretische Voraussetzung für die Charakteristik der Jahreszeiten bilden die aus den vier Elementen abgeleiteten Grundqualitäten (1). Sie leiten die Texte ein. Ihnen folgt der Stand der Sonne in den Tierkreiszeichen und ihre daraus resultierende Erdnähe respektive Erdferne (2). Die Sonne wirkt entsprechend auf die Natur und beeinflusst die Vegetation (3). Der vierte Textabschnitt ist den Auswirkungen des jahreszeitlichen Rhythmus auf das Säftegleichgewicht des Menschen gewidmet, informiert weiter über Sitz und Qualität des dominierenden Humors und schliesst mit dem Einfluss auf die menschliche Psyche. Abschnitt 5 umfasst in seiner vollständigen Version150 drei Teile: die Auswirkungen der jeweiligen Jahreszeit fallen nach dem humoralpathologischen Grundsatz Contraria contrariis curantur besser oder schlechter aus, je nachdem, welche Komplexion (a) und welches Lebensalter (b) die Krankheit151 trifft und welchem Humor sie entspringt (c).152 Der sechste und letzte Abschnitt beschliesst die Thematik mit einem diätetischen Hinweis, wonach Speisen empfohlen werden, die den Eigenschaften der betreffenden Jahreszeit entgegenstehen.
150 So nur im Text zum ›Sommer‹. 151 Die Krankheit erscheint zumeist in Form einer Fieberart. Zur mittelalterlichen Fieberlehre vgl. Goehl, Guido d’Arezzo, S. 112 ff., und Anschütz, Zwei Fieberschriften, S. 17–31. 152 Zu den Abschnitten 4 und 5 vgl. die im Umfeld Wilhelms von Conches entstandene Schrift ›De mundi celestis terrestrisque constitutione‹ (Ed. Burnett, S. 18): Sunt etiam quatuor humores in homine qui imitantur diversa elementa, crescunt in diversis temporibus, regnant in diversis etatibus. Sanguis imitatur aerem, crescit in vere, regnat in pueritia. Colera imitatur ignem, crescit in estate, regnat in adolescentia. Melancolia imitatur terram, crescit in autumpno, regnat in maturitate. Flegma imitatur aquam, crescit in hieme, regnat in senectute.
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Astrologie und Medizin
Allgemein weichen die Texte in zwei Punkten vom traditionellen galenischen System ab.153 Die Lokalisierung der Körpersäfte erfolgt anders und spiegelt die uneinheitliche Durchsetzung des Viererschemas bei den Kardinalorganen:154 Das Blut hat in R seinen Sitz in der Leber155 statt im Herzen,156 die rote Galle im männlichen Glied und in der Gallenblase157 statt in der Leber,158 der Schleim in der Lunge159 statt im Gehirn und die schwarze Galle in Übereinstimmung mit der Tradition in der Milz. Der zweite Punkt ist die vereinfachende Einteilung der Lebensalter in senes (alte, Tafel VI.1.4 und 2.4) und iuuenes (iunge, Tafel VI.1.4 und 2.4). Etwas mehr von der üblichen Vierteilung in Kindes-, Jugend-, Mannes- und Greisenalter ist nur noch im lateinischen ›Herbst‹-Text sichtbar, wo das Gegensatzpaar senes – pueri (Tafel IV .3.5) vorkommt.160 Wahrscheinlich wurden die Begriffe iuuenes und pueri als gleichbedeutend aufgefasst; ihre Austauschbarkeit würde damit erklärt. Es folgen ein paar Bemerkungen zu einzelnen Abschnitten und Zusätzen. Die Abschnitte 4 und 5 sind in der lateinischen Version zum ›Frühling‹ (Tafel IV .1) nur unvollständig wiedergegeben – die Beschreibung der Komplexion und der Einfluss auf die Lebensalter fehlen; die diätetischen Angaben des sechsten Abschnitts fehlen ebenfalls.161 Im Anschluss an den 153 Vgl. Finckh, Minor Mundus Homo, S. 44–49. 154 Vgl. Goehl, Guido d’Arezzo, Bd. 1, S. 101. 155 Ursprungsort des ›dunklen‹, venösen Blutes. Zum Blutkreislauf nach Galen vgl. Höfler, Deutsches Krankheitsnamen-Buch, Taf. S. 57. 156 Ursprungsort des ›hellen‹, arteriellen Blutes. Ebd. 157 Die Übersetzung weicht hier etwas ab von der lateinischen Variante: Der Sitz des Humors liegt hier czwischen der lung vnd der gallen (Tafel VI.2.3). 158 Die Galle fiel nach der zweiten Verdauung in der Leber als Rückstand an. 159 Nach mittelalterlicher Vorstellung zog die Lunge den Schaum aus dem Blut und verwandelte diesen in Schleim, welchen sie einerseits für sich als Gleitmittel benützte, andrerseits an die Glieder von der Brust aufwärts weiterleitete. Vgl. Goehl, Guido d’Arezzo, Bd. 1, S. 108 f. 160 Die Übersetzung vereinfacht jedoch wieder in Jung und Alt. 161 Ausserdem sind die Angaben zum Sonnenstand im zweiten Abschnitt fehlerhaft. Statt taurum steht cancrum (Tafel IV .1.2), was wohl auf die Flüchtigkeit des Schreibers zurückzuführen ist. Die Übersetzung ist vollständiger, aber ihrerseits fehlerhaft. Eine Verwechslung tritt beispielsweise bei der Diätempfehlung auf. Im Frühling empfehlen sich kalte und trockene Speisen. Stattdessen heisst es im Text: Cze der czeit sol man niezzen feucht vnd trukchen (Tafel VI.1.5). Im deutschen Text werden allfällige Krankheiten im Gegensatz zur lateinischen Version mit dem unstetigen Frühlingswetter begründet (Tafel VI.1.4).
Erläuterungen
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dritten Abschnitt, der von dem Blut und seinem Sitz in der Leber handelt, macht der lateinische Text einen kurzen Exkurs zu den drei Verdauungen162 und zur Körperwärme: Jn stomacho est prius digestio, in epate secunda, terci‹a› in membrosi‹s›. Mouentur ii contin‹u›e vene sanguinis, ut singulis me‹m›bris conseruetur calor naturalis. (Tafel IV .1.4)
Der Exkurs lässt sich an das Vorangegangene insofern anbinden, als Blut eben bei der zweiten Verdauung in der Leber entsteht und Blutproduktion und Blutkreislauf163 für die Bewahrung der natürlichen Körperwärme entscheidend sind. Mit zunehmender Wärme im Frühling entweicht die Körperwärme über die geöffneten Hautporen, sodass besser und schneller verdauliche Flüssigkeit den festen Speisen vorgezogen werden muss, um die Körperwärme konstant zu halten. Einen weiteren Exkurs findet man im fünften Abschnitt des lateinischen und deutschen ›Sommer‹-Textes: Si enim in contrario tempore eos contingit infirmari, facilius curabuntur, quia contra‹riis› con‹t›raria conveniunt. Vnum enim expellit reliquum, unde iuuenes et cole‹rici› in consimili tempore peius habent (Tafel IV .2.4).
Entsprechend dem Prinzip des Contraria contrariis curantur sind die Aussichten dann besser, wenn die Heilung in der Jahreszeit erfolgt, die jeweils dem dominierenden Humor entgegensteht.164 Kritisch sind dementsprechend Koinzidenzen, so zum Beispiel, wenn im Sommer eine Krankheit wegen colera-Überschusses ausbricht: Pessima est infirmitas, que fit ex colera, quia augment‹atur› mat‹ur›a infirmitas ex consimili natura temporum (Tafel IV .2.5). Darauf bezieht sich wohl auch das eingefügte Diktum: Dic‹it› enim philosophus: Tale additum tali, mag‹is› fit tale (Tafel IV .2.5): Kommt Gleiches mit Gleichem zusammen, intensiviert sich die Krankheit ohne die Möglichkeit einer natürlichen Balance durch die Summe gleichgelagerter 162 Die erste Verdauung im Magen dient der ›Kochung‹ von Speise und Trank, die zweite in der Leber der Bildung von Blut. Zurück bleiben nach der ersten Verdauung die egestiones (Ausscheidungen über den Dickdarm), nach der zweiten Verdauung Galle und Harn. Bei der dritten Verdauung wird das Blut von den einzelnen Organen und Körperteilen aufgebraucht. Die Rückstände gelangen als Schweiss durch die Poren nach aussen. Die Textstelle ist fast wortwörtlich in Wilhelms von Conches ›Philosophia mundi‹ (Ed. Maurach, IV ,16,24) wiederzufinden. Vgl. Goehl, Guido d’Arezzo, Bd. 1, 108 ff. 163 Der Blutkreislauf verläuft über Leber- und Herzader, die im Text als ii contin‹u›e vene sanguinis wiedergegeben werden. 164 Vgl. Hirth, Zu den deutschen Bearbeitungen, S. 40–70, hier: 42.
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Astrologie und Medizin
Faktoren. Zu erwähnen ist noch ein letzter Zusatz, der in Form von medizinischen Versen dem Diätabschnitt des ›Herbst‹-Textes angehängt ist: Cor sapit, pulmo loquitur, ‹f›el conmouet iram. Splen ridere facit, cogit am‹a›re iec‹u›r (Tafel IV .3.6).
1.1.4.2 ›Monatsregeln‹ Die ›Monatsregeln‹ (Regimen duodecim mensium) sind aufgrund ihrer Zwölfteiligkeit eine recht gut abgrenzbare Textsorte in der mittelalterlichen Sachliteratur und wohl die am häufigsten in medizinischen Sammelhandschriften vertretene.165 Der inhaltliche Schwerpunkt solcher Gesundheitslehren liegt auf der Diätetik. Neben Speise und Trank166 sind häufig Aderlass- und Badeempfehlungen167 wie Abführmassnahmen Gegenstand des Regiments, dazu kommen besondere monatsbedingte Anweisungen und Warnungen zu Schlaf, Kälte und anderem. ›Monatsregeln‹ treten in der Regel im Verbund mit anderen Texten auf, ihrer Gliederung wegen bevorzugterweise mit den ebenfalls zwölfteiligen ›Verworfenen Tagen‹, mit Brontologien (Donnerprognosen) und Nativitätsprognostiken. Die Liste der gefährlichen Aderlasstage ist mit der Prognose eines baldigen Todes verbunden und in den Monaten März, April, August und Dezember um weitere Tage ergänzt, an denen Aderlass Erblindung verursacht und eine Verwundung den sofortigen oder baldigen Tod. Diese Textkombination ist in ebendieser Abfolge in R überliefert, wobei die Nativitätssprognostik sich lediglich auf die Monate August und Dezember beschränkt. Ich gebe hier wieder eine inhaltliche Übersicht der einzelnen Inhalte:168 Aderlass: Speise: Trank: Bad:
Januar verboten morgens mässig essen nüchtern guter Wein, kein Trank fürs Purgieren Dampf- bzw. Schweissbäder oft empfohlen
165 Haage/Wegner, Deutsche Fachliteratur, S. 219. 166 Darunter hauptsächlich Gewürze und Kräuter (›Monatstränke‹), daneben aber auch Met, Wein und Bier. 167 Neben dem, was man tun soll, tritt gleichberechtigt das, was unbedingt zu vermeiden ist, so dass eine ›Monatsregel‹ aus Ratschlägen und Mahnungen besteht. 168 Ich orientiere mich an der vollständigeren lateinischen Version. Abweichungen zwischen beiden Versionen werden in den Fussnoten angemerkt. Ausgewählte Begriffe werden in den Anmerkungen innerhalb der Edition (Die ›Süddeutsche Tafelsammlung‹ [Ed. Castelberg/Fasching]) erläutert.
Erläuterungen
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Verworfene Tage: 1., 2., 5., 7., 8.169 und 15. (bedingt Tod im gleichen Jahr) Donnerprognose: starke Winde, übermässige Ernte, Krieg allgemein: Aderlass: Speise: Trank: Bad: Verworfene Tage: Nativitätsprognostik: Donnerprognose:
Februar Schutz vor Kälte verboten alles ausser Saurem und Bitterem Wein und gutes Bier empfohlen 6. und 7. (bedingt Tod im gleichen Jahr) am 3., 7. und 13. (geborenes Kind verwest nicht bis zum Jüngsten Tag) Tod vieler Menschen und vieler mächtiger Personen
März oft reinigen und baden, Zähne mit Salz waschen empfohlen Raute, Salbei, Fenchel, Petersilie; Erbrechen empfohlen 15., 17. und 18.171 (bedeutet Tod im gleichen Jahr); 7. (bed. Verlust des Augenlichts) Donnerprognose: starke Winde, Überfluss an Früchten, Streit
Bad, Hygiene: Aderlass: Speise, Kräuter:170 Verworfene Tage:
April empfohlen für die Lunge frisches, nicht geräuchertes Fleisch (verursacht Ohnmachtsanfälle); keine rohen Wurzeln wegen Krätze und Räude Verworfene Tage: 6., 7., und 15. (bedeutet Tod innerhalb von vierzig Tagen); 8. (bedeutet Verlust des Augenlichts)172 speziell: Verwundung173 oder Trank174 am 1. bringt sofortigen oder schnellen Tod Donnerprognose: erfreuliches, fruchtbares Jahr und Tod ungerechter Menschen Aderlass: Speise:
169 Nur fol. 3v (Tafel VI.5.1). 170 Unter ›Trank‹ aufgeführt, d. h. in gelöster Form zu trinken, auch ›Monatstränke‹ genannt. Vgl. auch den September-, Oktober- und Novembertrank. 171 Fol. 3v (Tafel VI.5.3): 15., 16. und 18. 172 Fol. 3v (Tafel VI.5.4): Aderlass am 6. verursacht Erblindung, Aderlass am 8. bringt den Tod in vierzehn Tagen. 173 Zu diesem Nachtrag vgl. Keil, Die verworfenen Tage, S. 54: »Andererseits ist die Verwundung als zwangsläufiger Blutverlust dem Aderlass durchaus verwandt und könnte als eine Abart des Lassmotivs angesehen werden.« 174 Fol. 3v (Tafel VI.5.4): Verwundung oder Krankheit. Die lateinische Version bringt das Trankverbot für den ersten Apriltag und für den letzten Dezembertag, die deutsche Version nur für den letzteren. Ich kann den Sinn dieser Bestimmung nicht entschlüsseln. Ist sie als Aufruf zum Fasten gemeint? Zur Tradition vgl. Keil, Die verworfenen Tage, S. 53 f.
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Astrologie und Medizin
allgemein: Kräuter: Trank: Verworfene Tage: Donnerprognose:
Mai bekommt manchen wohl, manchen nicht Hauswurz, Salbei und Raute in Wein gesottener Wermut (besser als in reinem Wasser gesotten) 7., 15. und 17.175 Mangel und Hunger
Trank: Kräuter: Verworfener Tag: Donnerprognose:
Juni nüchtern Brunnenwasser für die Lunge Zitwer, Heilbatunge, Odermennig 6.176 (bedeutet Tod im gleichen Jahr) Überfluss an Früchten, verschiedene Krankheiten
Juli Schlaf einschränken keine warmen Speisen, kein Kohl, keine Fische aus Sümpfen, Gamander, Salbei, Raute, Dill, Sellerie Bad: keine Schweissbäder Verworfene Tage: 16.177 und 17. (bedeutet Tod im gleichen Jahr) Donnerprognose: guter Getreideertrag, Verlust von Jungvieh178 Schlaf: Speise, Kräuter:
August gefährlicher Monat, Schutz vor Kälte keine kalten Speisen, Odermennig, Poleiminze, Wegerich häufig empfohlen 12. und 20.179 (bedeutet Tod im gleichen Jahr); 1. (bedeutet Tod am 3.) Nativitätsproam 1. geborenes Kind gedeiht,180 aber stirbt eines schweren gnostik: Todes181 Donnerprognose: Erkrankung vieler Menschen
allgemein: Speise, Kräuter: Bad: Verworfene Tage:
Speise, Kräuter: Aderlass:
September nüchtern in Milch gebrocktes Brot, reife Früchte, Odermennig, Mastixharz empfohlen
Fol. 3v (Tafel VI.5.5): 6., 15. und 18. Fehlt auf fol. 2v (Tafel IV .5.6). Fol. 3v (Tafel VI.5.7): 15. Fol. 3v (Tafel VI.5.7): Donnerprognose wird nach der stereotypen Einleitung chumbt ein doner abgebrochen. 179 Fol. 3v (Tafel VI.5.8): 19. und 22. 180 Genaues Datum nur auf fol. 2v (Tafel VI.5.8). Die deutsche Übersetzung bietet die Variante gewint ein herr‹te›n sin (wird schwer von Begriff werden). 181 Zur Gefahr des Geborenwerdens oder Erkrankens vgl. Keil, Die verworfenen Tage, S. 54. 175 176 177 178
Erläuterungen
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Verworfene Tage: 16.182 und 18. (bedeutet Tod im gleichen Jahr) Donnerprognose: Überfluss an Früchten, Todschlag mächtiger Leute Oktober Geflügel und Wildbret, kein Krebs, gebratene Gans, Ente,183 Zitwer, Galgant Trank: Most Aderlass: empfohlen184 Verworfener Tag: 6. (bedeutet Tod im gleichen Jahr) Donnerprognose: starke Winde, Mangel an Obst
Speise, Kräuter:
Aderlass: Speise: Bad: Verworfene Tage: Donnerprognose:
November wenn Not ist, mit Mass unter der Haut (subkutan) Ingwer, Zimt, Kubebenpfeffer keine warmen Bäder (als Schutz vor Verführung zu Beischlaf) 13. und 18.185 (bedeutet Tod im gleichen Jahr) Überfluss an Früchten,186 erfreuliches Jahr
Dezember Hirn vor Kälte schützen Hauptader empfohlen Bertram, Ingwer so oft man will 6., 7. und 15. (bedeutet Tod im gleichen Jahr); 1. (bedeutet Tod innerhalb der nächsten vierzig Tage) speziell: Verwundung oder Trank am 31. bringt sofortigen oder baldigen Tod NativitätsproAm 31. geborenes Kind gedeiht nicht und stirbt eines harten gnostik: Todes Donnerprognose: Friede und viel Getreide187 allgemein: Aderlass: Speise: Bad: Verworfene Tage:
Die lateinischen ›Monatsregeln‹ weisen gegenüber der volkssprachigen Fassung einige Plusstellen auf. Meistens sind es Präzisierungen in Form von kurzen Begründungen: Januar: Mane commede modicum, quia superflua commestio febr‹e›s nimias generat (Tafel IV .5.1). März: Pro‹v›o‹c›a v‹o›mitum propter cottidianas [febres], propter pa‹ra›lis‹i›m (Tafel IV .5.3). 182 183 184 185 186 187
Fol. 3v (Tafel VI.5.9): 15. Nur fol. 3v (Tafel VI.5.10). Nur fol. 3v (Tafel VI.5.10). Fol. 3v (Tafel VI.5.11): 17. Fehlt auf fol. 3v (Tafel VI.5.11). Nur fol. 3v (Tafel VI.5.12).
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Astrologie und Medizin
April: [Cru]das radices non commede propter scabiem et prurig‹i›nem (Tafel IV .5.4); recentes carne‹s› comede non fum‹i›gat‹a›s, quia sincobum morbum generan‹t› (Tafel IV .5.4). Oktober: Quadrupedia bona sunt excepto cancro, quia tunc leditur a marino s‹er›pente (Tafel IV .5.10). November: Non balneare calide, quia balnium est veneris officium (Tafel IV .5.11).
Eher selten bietet der lateinische Text (Tafel IV .5) wirklich zusätzliche Information in Form von kurzen oder Ein-Wort-Plusstellen, die offenbar nicht in die Übersetzung übernommen wurde.188 Ein paar Abweichungen zeigen die ›Verworfenen Tage‹ der Übersetzung, die teils Varianten im Sinne der ›Pariser Tradition‹ sind, der beide Reihen angehören, teils aber Ergänzungen, die sich keiner Tradition zuweisen lassen und wohl als Verschreibungen189 oder überlieferungsbedingt kolportierte Fehler zu veranschlagen sind. Besondere Erwähnung verdient die Nativitätsprognostik des Februars, die dem Körper eines am 3., 7. oder 13. Geborenen unter Berufung auf Beda Unversehrtheit bis zum Jüngsten Tag verbürgt.190 Die Donnerprognose für den Monat Dezember ist nur volkssprachig überliefert. Zusammen mit der Empfehlung von Zimt im November (Tafel IV .5.11) bildet sie die zwei einzigen Plusstellen im deutschen Text. Daraus ist zu schliessen, dass die Übersetzung auf fol. 3v (Tafel VI ) nicht von fol. 2v (Tafel IV ) aus erfolgte. Für ihre Entstehung bieten sich zwei Erklärungsmöglichkeiten an: Die Texte auf fol. 3v sind (a) direkt von der Vorlage der lateinischen Fassung übersetzt worden oder stellen (b) die Abschrift einer bereits vorhandenen Übersetzung dar. Dieser Befund deckt sich mit den an der Jahreszeitenlehre gemachten Beobachtungen. Inhaltlich umfassen die Regeln grösstenteils konventionelle therapeutische Hinweise in kurzer und prägnanter Form.191 Unter den Plusstellen der 188 Im Mai wird in Wein gesottener Wermut empfohlen, der in reinem Wasser gekocht aber mehr Wirkung zeigt: sed plus valet in ‹linpha› mund‹a› (Tafel IV .5.5). Im Juli werden zusätzlich Kohl, Dill und Sellerie vorgeschlagen (Tafel IV .5.7), im November Kubebenpfeffer (Tafel IV .5.11), im Dezember Bertram (Tafel IV .5.12). Im November soll das Ablassen von sanguinem subcu‹t›aneum mit Bedacht vorgenommen werden (Tafel IV .5.11). 189 Hier wird die fehleranfällige römische Schreibweise verwendet. Die Zahlen sind auffällig häufig um einen Tag verschoben. 190 Ob damit das Auserwähltsein entsprechend dem Los des Johannes Evangelista gemeint ist, bleibe dahingestellt. Weitere Belege für diese Tradition in: Keil, Die verworfenen Tage, S. 57, und Eis, Zu den medizinischen Aufzeichnungen, S. 205 (ohne plausible Erklärung). 191 Vgl. Riha, Die ›Utrechter Monatsregeln‹, S. 61–76, hier: 61 f.
Erläuterungen
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lateinischen Fassung auf fol. 2v befinden sich – analog zu den ›Utrechter Monatsregeln‹192 – originelle Bestimmungen wie das Verbot von Krebsen im Oktober, weil diese zu der Zeit von Seeschlangen gebissen würden (Tafel IV .5.10), die November-Warnung vor warmen Bädern, die zu Unkeuschheit verleiten sollen (Tafel IV .5.11) und die auch in der Übersetzung vorhandene Zahnputzregel im ›März‹-Kapitel (dentes tu‹o›s purga et fricas cum sal‹e›, Tafel IV .5.3).
1.1.4.3 Quellen und Parallelüberlieferung Die beiden Textsorten Jahreszeitenlehre und ›Monatsregeln‹ stehen in der Tradition antiker Diätetiken. Massgebend war das weit verbreitete und in die Volkssprachen übersetzte193 ›Secretum secretorum‹, ein eklektischer Zusammenschnitt medizinisch-diätetischen Wissens in Form eines hermetisch eingekleideten Fürstenspiegels.194 Schon in der ältesten lateinischen Übertragung (Fassung A),195 der ›Epistula [Aristotelis] ad Alexandrum de diaeta conservanda‹, finden sich nach Jahreszeiten eingeteilte, diätetische Texte. Die vollständige lateinische Fassung des ›Secretum‹ entstand zwischen 1220 und 1235 als Übersetzung der arabischen Langfassung B.196 Die Fassung in R deckt sich weder mit der Fassung A noch mit B. Die detaillierten Diät-, Bade- und Aderlassempfehlungen, die beiden Fassungen eigen sind, fehlen in R gänzlich. Neben diesen wirkungsmächtigen ›Secretum‹-Texten, die den theoretischen Ausführungen zu den Jahreszeiten gleichberechtigt praktisch ausgerichtete Diätempfehlungen anhängen, sind zwei naturphilosophische Werke Wilhelms von Conches zu nennen, die mehr theoretisch angelegte, in den Kontext einer umfassenden Kosmologie gestellte Jahreszeitenlehren 192 Vgl. Riha, Die ›Utrechter Monatsregeln‹, S. 61. 193 So die Prosaübersetzung der Hiltgart von Hürnheim (Ed. Möller, S. 74–79). Vgl. Hirth, Zu den deutschen Bearbeitungen, S. 44 ff. 194 Haage/Wegner, Deutsche Fachliteratur, S. 60 f. und 217 f. Mosimann, Die »Mainauer Naturlehre«, S. 239–258. Hirth, Studien, S. 16–25. Eine Übersicht über arabische Redaktionen, lateinische Fassungen und volkssprachige Übersetzungen bei Keil, ›Secretum secretorum‹, in: 2VL 8, Sp. 993–1013. 195 Der Traktat ist ursprünglich arabischer Provenienz und wurde erstmals auszugsweise zwischen 1135 und 1142 von Johannes Hispanus ins Lateinische übertragen (Ed. Suchier, S. 473–480, hier: 478 f.). Fassung A und B sind vergleichend gegenübergestellt in: Das Utrechter Arzneibuch (Ed. Lindgren), S. 130 f. 196 Keil, ›Secretum secretorum‹, Sp. 999. Ausgabe nach der Redaktion Roger Bacons: Ed. Steele, S. 25–75, hier: 78.
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Astrologie und Medizin
beinhalten und stellenweise nahezu wörtlich mit R übereinstimmen. Es sind dies Abschnitte der ›Philosophia mundi‹ (II ,14,33–67: ›De sole et de varietatibus temporum‹, zwischen 1125 und 1130),197 und des ›Dragmaticon‹ (IV ,8–11, zwischen 1144 und 1149).198 Die Passus aus der ›Philosophia mundi‹ und dem aus ihr schöpfenden ›Dragmaticon‹ sowie dem pseudohermetischen ›Liber de sex rerum principiis‹ stehen R in Anlage und Gliederung bemerkenswert nahe.199 Die jeweiligen Texte zum ›Sommer‹ aus den drei Texten verdeutlichen die gegenseitigen Abhängigkeiten:200 ›Philosophia mundi‹: (2) Cum autem sol usque ad Cancrum ascendit, ex propinquitate sua terram incendit et desiccat. (1) Unde est aestas calida et sicca, (2) quae incipiens medio Iunii, quando sol intrat Cancrum, extenditur donec sol est in Leone, quem intrat in medio Iulii, et donec est in Virgine, quam intrat medio Augusti. (3) Huius temporis est herbarum et arborum radices desiccare; (4) consimile est igni, colerae, iuventuti, haec etenim calida et sicca sunt. (5a) In eo melius se habent flegmatici, peius colerici, (5b) melius decrepiti, peius iuvenes. (5c) Pessima est infirmitas, quae venit ex colera, minus mala, quae venit ex flegmate. (6a) In eodem utile est uti frigidis et humidis, (6b) augmentandus est potus et minuendus cibus: cum enim ex calore aperti sunt pori corporis, evaporat calor naturalis, ex quo non ita bene digeritur cibus, sed, quia potus cito transit in sanguinem, augmentandus est.201 ›Liber de sex rerum principiis‹: (2) Cum autem Sol quartam circuli partem calidam et siccam, ab initio Cancri usque in finem Virginis, id est a medio Iunii ad medium Septembris, intrauerit, (3) tunc herbarum et arborum radices siccitate consumit. (4) Hoc tempus aestiuum consimile est igni, cholerae, iuuentuti, quia sunt calida et sicca. (5a) Tunc melius se habent flegmatici, peius cholerici, (5b) senes melius, iuuenes peius. (5c) Infirmitas tunc ueniens ex colera pessima est, ut tertiana. (5d) Tunc si quis a pectore ad renes patitur, efficacius curatur, quia per naturam Lunae Solis exustio in eadem circuli parte temperatur et subditorum qualitates praecipue contemperantur. (6a) Tunc utile est uti frigidis et humidis, (6b) et propter indigestionem augmentandus est potus, cibus minuendus.202 197 Ed. Maurach. 198 Ed. Ronca. 199 Zur ›Philosophia‹ als Quelle des ›Liber‹ vgl. die Einleitung zur Edition von Paolo Lucentini und Mark Delp, S. 101 ff. Vgl. auch Kapitel 3.1.1 und 3.1.2. 200 Die Nummerierung erfolgt nach der Einteilung des Textes in R (Kapitel 1.1.4.1). 201 Ed. Maurach, II ,14,52 f. 202 Ed. Lucentini/Delp, IV ,22,42–54. Zum hermetischen Schrifttum im Mittelalter vgl. Schulthess/Imbach, Die Philosophie, S. 59 f., und Ebeling, Das Geheimnis, S. 78 ff. Die Texte im ›Liber‹ werden in einem eigenen Kapitel
Erläuterungen
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›Dragmaticon‹: (2) Cum autem sol usque ad Cancrum ascenderit, quem intrat quintodecimo Kalendas Iulii, ex propinquitate sui terram incendit et desiccat, (1) estque aestas, quae est calida et sicca. (2) Cuius initium secundum Graecos et Romanos est septimo Idus Maii, sed secundum Isidorum nono Kalendas Iunii. (3) Huius temporis est herbarum et arborum radices desiccare. (4) Consimile est igni, colerae, iuuentuti: haec enim calida sunt et sicca. (5a) In eo melius se habent flegmatici, peius colerici, (5b) melius decrepiti, peius iuueni. (5c) Pessima est infirmitas quae uenit ex colera, ut causon, tertiana; minus mala, quae ex flegmate, ut cotidiana. (6a) In eodem est utile uti frigidis et humidis. (6b) Augmentandus est potus, cibus est minuendus. Cum enim pori corporis ex calore sunt aperti, euaporat calor naturalis, unde non ita cibus digeritur; sed quia potus cito transit in sanguinem, augmentandus est.203
Da Wilhelm im ›Dragmaticon‹ auf die ›Philosophia‹ zurückgreift und sein später verfasstes ›Dragmaticon‹ etwa zeitgleich mit dem ›Liber‹ entstanden ist, sehe ich die ›Philosophia‹ als gemeinsame Quelle beider Werke. Fast wortwörtlich erscheinen in R die Abschnitte 1, 5abc und 6a. Abschnitt 2 (Bewegung der Sonne durch die Tierkreiszeichen) steht in anderem Wortlaut an letzter Stelle, in den drei Vergleichstexten konsequenter- und logischerweise an erster Stelle. Die Abschnitte 3 und 4 setzen in R inhaltlich andere Akzente. Abschnitt 3 spricht von der Reifung der Saat und der Früchte anstatt von der Austrocknung der Erde durch die Sonne; Abschnitt 4 fokussiert konkret den Humor und die Komplexion statt bei allgemeinen Entsprechungen zu bleiben. Die Abschnitte 5d und 6b entfallen, wobei 5d nur im ›Liber‹ erscheint.204 Mir scheinen die Entsprechungen zwischen R und der ›Philosophia‹ einerseits sowie dem ›Liber‹ andrerseits eindeutiger zu sein als jene zum ›Dragmaticon‹, insbesondere wegen dessen Abweichungen im zweiten Abschnitt. Einer anderen Texttradition gehört Bedas Traktat ›De temporum ratione‹205 an. Mit R teilt er aber thematisch die Verbindung der Körpersäfte mit psychischen und physischen Charakterdispositionen. Item sanguis eos in quibus maxime pollet facit hilares, laetos, misericordes, multum ridentes et loquentes; cholera vero rubea faciunt macilentos, multum tamen comedentes, veloces, audaces, iracundos, agiles; nigra bilis stabilis, graves, mittels der Analogie zwischen den Weltbereichen und den Körperzonen eingeleitet (IV ,22,4–10). Vgl. Pseudo-Isidor, Differentiae, I,17,49 (PL 83,78). Vgl. Kapitel 3.1.2. 203 Ed. Ronca, IV ,10,1 f. 204 Im Hintergrund steht hier die Analogie zwischen den Weltzonen und den Körperbereichen, die bereits eingangs des Kapitels thematisiert wird. Vgl. Kapitel 3.1.2. 205 Ed. Jones, S. 246 f., XXXV : De quattuor temporibus, elementis, humoribus.
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Astrologie und Medizin compositos moribus, dolososque facit; phlegmata tardos, somnolentos, obliviosos generant.206
Die hier propagierte Temperamentenlehre orientiert sich am Lehrbrief des Vindician.207 Die sanguinische Konstitution erscheint hier als fröhlich und liebenswert, die cholerische Konstitution als gewandt und eifrig, aber auch wild und zornig.208 Die Melancholiker werden als traurig, aber beständig, die Phlegmatiker schliesslich als schläfrig und vergesslich charakterisiert.209 Der Vergleich mit Beda zeigt auf, wie R die Charaktereigenschaften ausschliesslich unter den Jahreszeiten ›Sommer‹ und ›Herbst‹ aufzählt, dort aber auch Eigenschaften auflistet, die eigentlich unter dem ›Frühling‹ und ›Sommer‹ zu subsumieren sind. So fallen unter dem ›Sommer‹ bzw. unter der ›roten Galle‹ die Eigenschaften iracundus (czornig), acutus (scharff), ingeniosus (sinreich) und leuis (ringuertig) (Tafel VI.2.3) auf, wobei leuis in der Bedeutung der deutschen Übersetzung (›leicht‹ [Lexer, II , 444]) auch dem ›Frühling‹ bzw. dem ›Blut‹ zugerechnet werden kann. Ebenso fallen unter dem ›Herbst‹ bzw. unter der ›schwarzen Galle‹ die Eigenschaften tristis (trawrig), iracundus (czornig), timidus (forchtsam), sompniolentus (slaffrig) (Tafel VI.3.4) und aliquando vigil210 (ohne Entsprechung) auf. Von diesen Eigenschaften kommt die Schläfrigkeit und die fehlende Wachsamkeit dem Phlegmatiker zu, der Zorn dem Choleriker, nur die Traurigkeit und die Furchtsamkeit dem Melancholiker. Der Befund, dass sowohl die deutsche als auch die lateinische Textversion von R die gleichen Fehler in der Zuordnung der Jahreszeiten zu den Komplexionen aufweisen, stützt die oben ausgesprochene Vermutung, dass die Seiten 2v und 3v beide von einer fehlerhaften lateinischen Vorlage abgeschrieben worden sein könnten.211 206 Ebd. S. 247. Zu den zumeist patristischen Quellen Bedas vgl. Jones’ Kommentar (S. 368–371). Am Ende des 35. Kapitels nennt Beda die Besonderheiten der vier Jahreszeiten, so wie sie auch im dritten Abschnitt der Texte in R vorkommen. De temporum ratione, S. 248 (Kommentar, S. 369): Vocatur autem ver quod in eo cuncta vernent, hoc est virescant; aestas ab aestu, qui in ea maturandis fructibus datur; autumnus, de autumatione fructuum, qui in eo colliguntur; porro hiems a doctoribus frigus interpretatur et sterilitas. 207 Epistula ad Pentadium (Ed. Rose), S. 485–492. 208 Zum System der vier Temperamente und ihrer Wiederbelebung in der Naturphilosophie des 12. Jahrhunderts vgl. Klibansky/Panofsky/Saxl, Saturn und Melancholie, S. 165–199. 209 Mosimann, Die »Mainauer Naturlehre«, S. 225 f. 210 Ich lese aliquando vigil als Synonym zu sompniolentus in der Bedeutung ›irgendeinmal wachend‹, also ›selten wachend‹. 211 Vgl. Kapitel 1.1.4.1 und 1.1.4.2.
Erläuterungen
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Wesentlich häufiger als die Jahreszeitenlehren sind die ›Monatsregeln‹ überliefert. Sie sind schon im ›Secretum secretorum‹ gemeinsam mit der jahreszeitlichen Diätetik tradiert. Spätestens in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts setzt die gemeinsame Überlieferung ein.212 Die R-Fassung gehört zur Überlieferungsgruppe der ›Utrechter Monatsregeln‹.213 Diese sind kein eigenständiger originaler Text, sondern bereits eine Kompilation spätantik-frühmittelalterlicher Quellen.214 Formal gliedert sich der lateinische Prototyp215 in einen Prosa- und einen Reimteil. Die Texte sind mehrheitlich in deutschen und niederländischen Fassungen überliefert.216 Die überwiegende Mehrheit der Textzeugen der überlieferungsstärksten, volkssprachigen Fassung 1217 – dazu gehört auch R – lässt sich im bairischen Raum lokalisieren. In der Ausgabe218 beziehe ich die Texte ein, die im Wortlaut R am nächsten stehen (›Regimen‹ und Wolfenbütteler Handschrift für die ›Monatsregeln‹) oder den gleichen Textverbund aufweisen (Mainzer und Breslauer Handschrift zusätzlich für die Jahreszeitenlehre, Donnerprognose, Nativitätsprognostik und Lassstellentexte). Es sind dies vier lateinische Textzeugen (zum Vergleich mit Tafel IV , fol. 2v) und ein volkssprachiges Textzeugnis nach der ersten Fassung (zum Vergleich mit Tafel VI , fol. 3v):219 Mainz, StB , Hs I 166, fol. 106v–109r (Ma) Theologische Sammelhandschrift, Mainzer Kartause, 2. Hälfte 14. Jh. Inh.: Jahreszeitenlehre, ›Monatsregeln‹, Donnerprognose, Nativitätsprognostik, Lassstellentexte 212 Hirth, Regimina, S. 239–255, hier: 240. Riha, Wissensorganisation, S. 141. 213 Riha, ›Utrechter Monatsregeln‹, in: 2VL 10, Sp. 148–151. 214 Riha, Die ›Utrechter Monatsregeln‹, S. 62, 65 und 70. Hier auch die verschiedenen Quellen der Kompilation (63 f.). 215 Das Utrechter Arzneibuch (Ed. Lindgren), S. 76 ff. (Kommentar, S. 129– 133). 216 Eine Übersicht über die verschiedenen Fassungen bei Riha, ›Utrechter Monatsregeln‹, in: 2VL 10, Sp. 150, und dies., Die ›Utrechter Monatsregeln‹, S. 66 f. 217 Ebd. 218 Vgl. Die ›Süddeutsche Tafelsammlung‹ (Ed. Castelberg/Fasching), Tafeln IV und VI . 219 Ausgabe der lateinischen Fassung nach der Utrechter Handschrift, UB , Hs. 1355, fol. 87v–91r, sowie nach Wo und RsC , zuzüglich der volkssprachigen Handschrift Mü (Fassung 1) in: Riha, Editionsprobleme, S. 105–142, hier: 110–139.
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Astrologie und Medizin
Wrocław (Breslau), UB , Cod. I F 334, fol. 272r–274v (Br) Theologisch-medizinische Sammelhandschrift, Ende 14. oder Anfang 15. Jh. Inh.: Jahreszeitenlehre, ›Monatsregeln‹, Donnerprognose, Nativitätsprognostik,220 Lassstellentexte221 222
Wolfenbüttel, HAB , Cod. Guelf. 23.3 Aug. 4°, fol. 137v–140r (Wo) ›Wolfenbütteler Arzneibuch‹, nach 1450 Inh.: ›Monatsregeln‹, Donnerprognose, Nativitätsprognostik ›Regimen sanitatis Coppernici‹223 (RsC ) Medizinische Texte, Ende 15. Jh. (?) Inh.: ›Monatsregeln‹, Donnerprognose, Nativitätsprognostik 224
München, BSB , Cgm 398, fol. 20v–27v (Mü) Kalender, Arzneibuch, Konrad von Megenberg, mittelbairisch, 2. Viertel 15. Jh. Inh.: ›Monatsregeln‹ Einzig die Mainzer und Breslauer Handschrift überliefern, zusätzlich zu den ›Monatsregeln‹ und dem brontologisch-kindsprognostischen Anhang (nur in Br vollständig), die Jahreszeitenlehre und den Lassstellentext. In dieser Form könnte man sich die Vorlage von R denken. Die Texte aller vier lateinischen Vergleichshandschriften sind nahezu deckungsgleich, Donnerprognosen und Nativitätsprognostik inbegriffen.
220 Die Nativitätsprognostik ist hier vollständig überliefert. 221 Lassmann und Lassstellentexte befinden sich auf einem Pergamentblatt (fol. 273r) und wurden in den Kodex inseriert. Das Blatt stammt wohl noch aus dem 14. Jahrhundert. 222 In den Anmerkungen zur Edition der Tafel IV (vgl. Die ›Süddeutsche Tafelsammlung‹ [Ed. Castelberg/Fasching]) werden nur die ›Monatsregeln‹ berücksichtigt. 223 Ediert bei Eis, Zu den medizinischen Aufzeichnungen, S. 186–209, hier: 195– 199. 224 Überliefert eine lateinische und eine deutsche Fassung. Auszugsweise ediert bei Keil, Eine lateinische Fassung, S. 228–259, hier: 229 und 244.
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1.2 Interpretation Im Folgenden interpretiere ich den astrologisch-medizinischen Teil der Handschrift (Tafeln I–VI , fol. 1r–3v)225 unter zwei Aspekten: In einem ersten Schritt frage ich nach der Planung und Entstehung der einzelnen Seiten, in einem zweiten nach den inhaltlichen Zusammenhängen und nach ihrer thematischen Verortung in der Handschrift. Ein paar Ausführungen zur Labilität der Text- und Bildtraditionen beschliessen die Interpretation. Ich fokussiere die Texte und Zeichnungen in diesem letzten Teil in ihrer singulären Differenz von fest definierten Texttraditionen und Bildtypen; dabei begreife ich Texte und Bilder als labile ›Grössen‹, die Texte in ihren Fassungen und Textverbünden, die Bilder in ihren Brüchen und Überlagerungen. Entscheidend für ein solches Verständnis des in R dargebotenen Text-Bild-Materials bleibt die Erfassung der Texte und Bilder von ihren Entstehungsvoraussetzungen her.
1.2.1 Konzeption und Ausführung Allen Seiten gemeinsam ist das Auseinanderklaffen von Konzeption und Ausführung. Die Frage nach der Kompilations- und Konzeptionsleistung des R-Schreibers stelle ich für jede Seite neu, da die überlieferungsgeschichtlichen Voraussetzungen je anders zu definieren sind.226 Auf der ersten Seite (Tafel I , Abb. 1) zeigt sich das am deutlichsten in der Anordnung der Planeten(kinder)verse. Dem Schreiber gelang es nur mit erkennbar grosser Mühe, die Verse in dem vorgegebenen Schriftfeld unterzubringen. Der erste Eintrag, die Saturnverse (Tafel I.1.1), setzt exakt im Scheitelpunkt des inneren Kreises ein; genau darüber steht das Sternsymbol. Die Anordnung der Verse bleibt bei diesem Beispiel noch gewahrt: Im inneren Kreisband befindet sich, rot textiert, der lateinische Vers; in den beiden äusseren Bändern, von aussen nach innen, schwarz textiert und zeilengerecht abgesetzt, das deutsche Reimpaar (Tafel I.2.1). Bei den Jupiterversen gerät diese Ordnung bereits ein Stück weit durcheinander: Das Ende des lateinischen Verses (Tafel I.1.2) kommt aus Platzgründen unter dem Kreisband zu stehen, die deutschen Verse (Tafel I.2.2) sind nun von 225 Die Seite 3r (Tafel V ) wird nur am Rande zur Sprache kommen, ist aber durch die Behandlung der Aderlasstexte auf fol. 2r, 2v und 3v (Tafeln III , IV und VI ) weitgehend in die Interpretation eingeschlossen. 226 Vgl. dazu ausführlich Die ›Süddeutsche Tafelsammlung‹ (Ed. Castelberg/ Fasching), Kapitel 1.8.
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innen nach aussen zu lesen. Beim ›Mars‹ tauschen die deutschen und die lateinischen Verse die Position. Das lateinische Schlusswort muss diesmal über der Zeile hinzugefügt werden (Tafel I.1.3). Bei den Merkurversen ist zusätzlich zur Position auch die Farbe vertauscht: die deutschen Verse erscheinen in Rot (Tafel I.2.6), der lateinische in Schwarz, unterbrochen durch das rot ausgemalte Sternsymbol (Tafel I.1.6). Die misslungene Textorganisation findet ihre Fortsetzung in den dilettantischen Zeichnungen. Trotz der Mängel in der Ausführung lassen sich planerische Anliegen des Concepteurs an der Seite ablesen. Dazu zählen die präzise Anordnung der Rotae, der kontrastiv eingesetzte Farbwechsel,227 die dekorative Gewichtung der Seite durch die Textura als Auszeichnungsschrift,228 die absichtsvollen Details der typisierten Gestalten229 und, gesamthaft gesehen, die Kombination von Schema, Figuren und Texten zu einer neuen Text-BildEinheit. Einige dieser Punkte lassen sich auch für fol. 1v (Tafel II , Abb. 2) festhalten. Auch hier wurden Schrift und Farbe wieder auf Inhalt und Leserichtung abgestimmt, sodass sich daraus eine Lesung von oben nach unten und von links nach rechts ergibt. Um eine mögliche Entstehung der Seite zu skizzieren, greife ich zu einem Vergleichsbeispiel aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, in dem ein Dominium signorum-Text und ein Tierkreiszeichenmann in zwei Spalten organisiert sind (Abb. 19).230 Der Text ist nahezu identisch mit den Texten aus R und ist wie diese in vier Abschnitte eingeteilt: Die Aufzählung der zwölf Zeichen in der Jahreszeitenfolge, ihre Entsprechung zu den einzelnen Organen, die Warnung vor dem medizinischen Eingriff bei entsprechender Mondstellung und die trigonale Gruppierung der Zeichen nach Primärqualität und Himmelsrichtung. Der Vergleich macht deutlich, wie der Concepteur die Tafel II gestaltet haben könnte: die einzelnen Textabschnitte wurden aus dem Textganzen gelöst, nach Schriftgrad abgestuft und auf der Seite optisch wirksam angeordnet: oben der Titelsatz (Tafel II.1), links die übergeordneten Texte (Tafel II.2), rechts die untergeordneten Texte mit den Einzelheiten zu jedem Zeichen (Tafel II.3 und 4), die in ihrer 2x12-Anordnung so wenig überzeugen wie
227 Bei den Rundbildern und bei den Versen. 228 Hierzu gehört auch die Auffüllung von Leerraum mit Hasten. 229 Bei den Kopfbedeckungen der Figuren. Vgl. Wirth, Lateinische und deutsche Texte, S. 275. 230 Oxford, Bodl., MS . Canon. Misc. 248, fol. 42r. Vgl. Gothic Manuscripts 1285– 1385 (Beschr. Sandler), Bd. 1–2, Nr. 76 (Abb. 189). Vgl. Anm. 50.
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die Planetenkinder-Inschriften auf fol. 1r (Tafel I ).231 Bemerkenswert ist die Präsentation der Texte in Kreisen statt als fortlaufend geschriebener Text. Das Bestreben des Schreibers, die Texte optisch aufzubereiten, sie ›bildhaft‹ zu formen, verrät trotz der zweitklassigen Ausführung eine Planung, die mehr auf den visuellen Eindruck abzielt als auf eine Auseinandersetzung mit dem Text.232 Als Vorlage für die Tafel IV (fol. 2v) – ich behandle sie hier stellvertretend für alle Aderlasstafeln – diente wohl ein ad hoc zusammengestelltes Kompilat aus Jahreszeitenlehre, ›Monatsregeln‹, Aderlassfigur und dazugehörenden Lassstellentexten. In dieser Reihenfolge sind Texte und Figur in einer anspruchsarmen, gebrauchsorientierten Handschrift aus der Mainzer Kartause überliefert,233 die ich hier als Vergleichsbeispiel aufgreife (Abb. 22). Man kann sich gut denken, dass dem Concepteur von R für diese Tafel ein fortlaufend geschriebener Text in Form des Mainzer Beispiels vorlag, ohne eine nähere Abhängigkeit der beiden Handschriften einfordern zu wollen. Die Leistung des Concepteurs bestand dann wiederum in der Neudisposition der Texteinheiten für die Einblattschriftlichkeit: die Aderlassfigur ist zentral positioniert, die 35 Legenden (Tafel IV .6.1–35) ordnen sich um diese in rechteckiger Form, die ›Monatsregeln‹ (Tafel IV .5.1–12) flankieren beidseits die Figur, die Jahreszeitenlehre (Tafel IV .1–3) sollte in vier gleich grossen Textblöcken die Ecken füllen – so war es zumindest geplant. Dem Concepteur sind grobe Patzer im Layout unterlaufen: Der Text zum ›Frühling‹ (Tafel IV .1) befindet sich unter den ›Monatsregeln‹ und ist diesen formal angeglichen. Die ›Juni‹-Regel (Tafel IV .5.6) wird dadurch in 231 Die lateinischen Texte bezeichnen, unmittelbar rechts unter dem Dominium signorum-Text einsetzend, die Figur entlang von oben nach unten eine Spalte und bilden dann von oben nach unten, beim Ellbogen der Figur beginnend, eine zweite Spalte. Der Concepteur wollte ursprünglich die zweite Spalte von unten nach oben auffüllen. Dies erklärt, warum der Text zum ›Skorpion‹ zuunterst in der Spalte erscheint. Die deutschen Texte füllen entlang dem Seitenrand eine dritte Spalte von oben nach unten; allein der Text zum ›Widder‹ erscheint in der zweiten Spalte, rechts neben dem Dominium signorumText. 232 In der Gestaltung von fol. 2r (Tafel III ) werden – im Sinne einer Rezeptionssteuerung? – Assoziationen zu den Aderlassmännern und Aderlasstexten (fol. 2v–3v, Tafeln IV–VI ) geweckt, die formal und inhaltlich vorbereitet werden. 233 Mainz, StB, Hs I 166, fol. 106v–109r. Die Handschrift ist in die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts zu datieren und besteht aus einer Sammlung mehrheitlich theologischer Traktate. Vgl. Die Handschriften der Stadtbibliothek Mainz (Beschr. List), Bd. 2, S. 86–92, hier: 90 f. Vgl. Kapitel 1.1.4.3.
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die gegenüberliegende Spalte verdrängt, sodass die ersten fünf Monate den übrigen sieben gegenüberstehen; der Text zum ›Winter‹ wird nur mit dem (im Nachhinein) fälschlicherweise zu Himus (für hiems) korrigierten Wort Junius (Tafel IV .4) angedeutet und steht, entsprechend fehl am Platz, über dem Monat ›Juni‹; die drei Wintermonate (Tafel IV .5.10–12) stehen in der ›Sommer‹-Ecke, die drei ›Sommer‹-Monate (Tafel IV .5.7–9) unten rechts in der für den ›Winter‹ bestimmten Ecke. Zwei Gründe scheinen mir die Unordnung der Seite ein Stück weit zu erklären. Erstens liess der Schreiber während der Niederschrift seine gestalterischen Vorsätze nach und nach fallen. Er hat nach Fertigstellung der Figur mit der Beschriftung der kleinen Kreise oben links begonnen und diese abwechselnd rot und schwarz textiert, dies jedoch nur etwa bis zur Hälfte ausgeführt. Gleich nachlässig verfährt er bei den ›Monatsregeln‹. Diese wurden zunächst ansprechend gestaltet, in roter Textura betitelt und deutlich als Einheit vom ersten Frühlingsmonat abgesetzt, bevor dann beide Layoutvorgaben unter der Hand fallengelassen wurden. Der Textblock zum ›Frühling‹ wurde im Layout der ›Monatsregeln‹ ausgeführt (Tafel IV .1); ›Sommer‹ und ›Herbst‹ erscheinen, wie ursprünglich konzipiert, als gleich breite Textblöcke (Tafel IV .2 und 3). Zweitens kann man sich die Niederschrift der beiden ›Rahmentexte‹ als zwei gegenläufige Kreisbewegungen denken. Die Monatsreihe wurde, angefangen beim ›Januar‹, gegen den Uhrzeigersinn angebracht.234 Die Jahreszeitenfolge hat der Schreiber dann mit dem Text zum ›Frühling‹ begonnen – mit diesem setzt auch die Mainzer Handschrift ein – und, ohne auf die inhaltliche Stimmigkeit mit den ›Monatsregeln‹ zu achten, im Uhrzeigersinn, den Jahreslauf um die Figur herum kreisartig andeutend, abgeschrieben. Den Text zum ›Winter‹ (Tafel IV .4) liess er zunächst aus Platzmangel weg, ersetzte aber nachträglich immerhin das Titelwort mithilfe der Besserung des Titelwortes Junius. Die noch erkennbare Konzeption zeigt sich in gleicher Weise bei den übrigen Tafeln: die gestalterische Planung der einzelnen Tafeln wäre an sich durchaus überlegt, die Thematik der einzelnen Texte aufeinander abgestimmt, die Tafeln als Ganzes wären als Text-Bild-Ensembles für eine die einzelnen Inhalte vernetzende ›Lektüre‹ geeignet.
234 Die deutsche Version auf fol. 3v gibt die Monate einfach in zwei Spalten von oben nach unten wieder (Tafel VI.5.1–12).
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1.2.2 Inhaltliche Zusammenhänge und thematische Verortung Im Mittelpunkt des ersten Teils von R steht die Gesundheit. Der Reihenfolge der Bildmotive ›Sphärenschema – Zodiakusmann – Aderlassmann‹ entspricht thematisch das Fortschreiten von der theoretischen Begründung menschlichen Handelns im schicksalhaft Festgelegten kosmologischer Bedingungen hin zur Lebenshilfe im von Menschenhand Veränderlichen medizinischer Praxis. Die Bildmotive sind auf den Mikrokosmosmann (Tafel VIII , fol. 4v) hin zentriert, weichen ab voneinander nur in der Armhaltung und variieren ausschnitthaft Aspekte derselben Thematik. Die Vierzahl der Aderlassfiguren lässt sich damit begründen, dass es sich bei der Seite 3v (Tafel VI ) um eine ›nachgelieferte‹ Übersetzung handelt, die mehr Füllfunktion hat, aber insofern nicht willkürlich platziert ist, als sie gegenüber der ebenso ›nachgelieferten‹ Übersetzung des lateinischen Weisheitsturms steht. Die übrigen Aderlassseiten sind mit unterschiedlich viel Text und unterschiedlichen Texten versehen, die im Fall von fol. 2v (Tafel IV ) kosmologisch ausgreifen und die um fünf Schröpfstellen erweiterte Lassthematik diätetisch-mantisch anreichern, im Fall von fol. 2r und 3r (Tafeln III und V ) lediglich unmittelbar aderlassbezogene Texte sind. Die Wiederholung beschränkt sich auf die Aderlassfiguren, die Ausdruck für die Popularität der Aderlassthematik im Besonderen und medizinischer Themen im Allgemeinen sind und in gebrauchsorientierten Sammelhandschriften des Spätmittelalters einen breiten Raum einnehmen.235 Den Beginn der Handschrift macht das in der Antike begründete und im Mittelalter allbekannte Konzept des Einflusses des Ewig-Himmlischen auf das Irdisch-Veränderliche. Das bei Aristoteles236 formulierte Konzept wurde später von Ptolemäus im ›Tetrabiblos‹ astrologisch fundiert237 und war in dieser Form dann massgebend für die mittelalterlichen Vorstellungen, für die ich hier stellvertretend Bonaventura zitiere: 235 Text und Bild. Bild und Text. DFG -Symposion 1988, hg. von Wolfgang Harms, S. 218 (Bericht über die Diskussion der zweiten Sektion). 236 Besonders in den Schriften ›De celo‹, ›De generatione et corruptione‹ und ›Meteorologica‹. Vgl. dazu Grant, Medieval and Renaissance scholastic conceptions, S. 1–23, hier: 1 f., und North, Celestial influence, S. 45–100, hier: 45 f. 237 Ed. und Übers. Robbins, I,2: A very few considerations would make it apparent to all that a certain power emanating from the eternal substance is dispersed through and permeates the whole region about the earth, which throughout is subject to change, since, of the primary sublunar elements, fire and air are encompassed and changed by the motions in the ether, and in turn
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Astrologie und Medizin Ratio autem, quare superiora in haec inferiora agunt et imprimunt et rerum qualitates intendunt, est, quia sunt corpora nobiliora et praecellentia in virtute, sicut praecellunt in situ; et ideo, cum ordo universitatis sit, ut potentiora et superiora influant in inferiora et minus potentia, ordini universitatis competit, ut luminaria caelestia influant in elementa et corpora elementaria.238
In R wird der Einfluss der Gestirne gleich zweimal thematisiert: auf fol. 1r (Tafel I ) in der schicksalhaft vorherbestimmten Prägung durch die Regentschaft der Planeten – wie die innerweltliche Willkür Fortunas eine basale Bedingung menschlichen Daseins;239 auf fol. 1v (Tafel II ) in der zeitlich berechenbaren Herrschaft der Tierkreiszeichen über die einzelnen Organe. Die Anfangsseite schliesst mit der zuversichtlichen Losung vir sapiens dominatur astri‹s› (Tafel I.5), einer ›letzten‹ Weisheit, die auf fol. 1v in die praktische Warnung mündet, medizinische Eingriffe zeitlich auf den Mondlauf abzustimmen. Der zeitliche Faktor ist es fortan, der für die Erhaltung der Gesundheit beziehungsweise Vermeidung von Krankheit ausschlaggebend ist und Aufbau und Inhalt der einzelnen Aderlassseiten vorgibt, vom sonnenbestimmten Zyklus der Jahreszeiten über die durch den Mondlauf vorgegebene Monatsgliederung hin zu den gefährlichen Aderlasstagen und den Regeln, die Aderlass- und Essenszeiten aufeinander abstimmen.240 Hinzu kommen die nicht beeinflussbaren, aber im Wissen um ihr zukünftiges Eintreten Sicherheit bietenden Donner- und Nativitätsprognostiken.241 Die Binnengliederung der Seiten 2v/3v (Tafeln IV und VI ) soll hier die dahinter stehenden Konzepte verdeutlichen. Die Struktur geben die Kategorien der res naturales, (sex) res non naturales und res contra naturales vor,242 der Inhalt richtet sich nach dem Konzept der Humoralpathologie und der darauf beruhenden Temperamentenlehre. Die res naturales sind in
238 239 240 241 242
encompass and change all else, earth and water and the plants and animals therein. Unmittelbar ersichtlich wird der Einfluss durch Sonne und Mond. Vgl. ebd. und Grant, Medieval and Renaissance scholastic conceptions, S. 6 ff. Commentaria in quatuor libros sententiarum Magistri Petri Lombardi, dist. 14, quaest. 2 (Opera omnia [Quaracci 1885] Bd. 2, 360). Bezeichnenderweise auf der Schlussseite der Handschrift. Weitere Ausführungen hierzu Kapitel 7.2.2. Vgl. W, fol. 41r: Non si luna fuerit in signo membri patientis, illo membro tunc nullum adhibens medicamen secundum Almagestum in Centiloquio Ptolomei. Telle, Beiträge, S. 180–206, hier: 182. Die drei Kategorien werden in der ›Isagoge‹ des Johannitius, einem medizinischen Schulbuch, beschrieben. Vgl. Siraisi, Medieval and Early Renaissance Medicine, S. 101.
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der Jahreszeitenlehre vertreten mit den unter kosmologischem Einfluss stehenden Säften, Komplexionen und Körperorganen (Abschnitte 1–4), die, einmal aus dem Gleichgewicht, zu widernatürlichen Pathologien führen können (Abschnitt 5).243 Um diesen vorzubeugen, ist eine Einflussnahme über die res non naturales erforderlich. Dazu gehören gemäss Galen sechs physiologisch-psychologische Bedingungen, die für eine gesunde Lebensführung ausschlaggebend sind: Luft und Licht, Bewegung und Ruhe, Schlafen und Wachen, Speise und Trank, Entleerung und Füllung und die sogenannten accidentia animae, d. h. alles, was dem Gemüt widerfährt.244 An erster Stelle stehen im vorliegenden Fall die diätetischen Vorschriften, die jeweils in Kurzform die Jahreszeitenlehre abschliessen (Abschnitt 6) und konträr zur vorgegebenen Qualität der jeweiligen Jahreszeit (Abschnitte 1–4) sein müssen. Mehr Raum nimmt die Diät in den ›Monatsregeln‹ (Abschnitte 5.1–5.12) ein, in Form von Speise- und Trankempfehlungen, wozu auch die Kräuter, Gewürze und Gemüse umfassenden ›Monatstränke‹245 zählten. Die Zuteilung der einzelnen Nahrungsmittel erfolgt hier grundsätzlich nach der antik-mittelalterlichen ›Graduslehre‹,246 die, von den vier Grundqualitäten ausgehend, Speise und Trank nach vier Intensitäten abstuft und so eine ausgleichende Diät ermöglicht. Folgerichtig umfasst die Empfehlung für den eher kalten März warm-trockene Kräuter wie Raute, Salbei und Fenchel (5.3), das Abraten von warmen Speisen im Juli (5.7) und die Empfehlung von hochgradig warm-trockenem Ingwer, Zimt und Kubebenpfeffer im November (5.11). Gleich oft, wenn nicht gar öfter, trifft man aber auch auf eine beliebige Verteilung des Empfohlenen und Abgeratenen. So findet sich unter dem ›Juli‹ die Warnung vor kalt-feuchtem Kohl und die Empfehlung von warm-trockenem Salbei (5.7). 243 Im Frühling beispielsweise führt dieses Ungleichgewicht im schlimmeren (da mit der Jahreszeit konvergierenden) Fall zum Dauerfieber synocha, das durch verdorbenes Blut innerhalb der Gefässe verursacht wird, im weniger schlimmen (weil mit der Jahreszeit divergierenden) Fall zum Wechselfieber quartana, das auf verdorbene schwarze Galle ausserhalb der Gefässe zurückgeführt wurde (Tafel IV .1.4). 244 Siraisi, Medieval and Renaissance Medicine, S. 101. Schipperges, Der Garten der Gesundheit, S. 244 f. Wachinger, Erzählen, S. 6. 245 In Wasser gelöste Kräuter und Gewürze. 246 Vgl. Goehl, Guido d’Arezzo, Bd. 1, S. 103–106. Eis, Meister Alexanders Monatsregeln, S. 104–136, hier: 115 ff. Eine nach den einzelnen Speisen und Tränken geordnete ›Graduslehre‹ findet sich im zweiten Kapitel des ›Breslauer Arzneibuchs‹ (Wrocław [Breslau], UB , Cod. Rhed. 291).
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Die Badeempfehlungen stimmen meistens mit den humoralpathologischen Vorgaben überein, wie die Empfehlung von Dampf- und Schweissbädern im Januar (5.1). Davon abgeraten wird im Juli (5.7). Häufiges Baden ist im August und im Dezember (5.8 und 5.12) angezeigt, im August wohl zur Förderung der hitzebedingt verlangsamten Verdauung und gegen die Austrocknung des Körpers, im Dezember zur Stärkung der natürlichen Körperwärme. Die Hinweise zum Aderlass gehen nur im Fall der beiden letzten Monate im Jahr über die allgemeine Form von Empfehlung und Warnung hinaus: Im November soll im Notfall subkutan gestautes Blut abgelassen werden (5.11), im Dezember an der Hauptader (5.12). Ebenfalls in die Kategorie ›Säftehaushalt‹ gehört die Empfehlung, im März zu erbrechen (5.3). Nur vereinzelt sind die restlichen Kategorien der res naturales angesprochen, so der Schutz vor Kälte im Februar, im August und im Dezember247 sowie die Einschränkung von Schlaf im Juli. Hinzu kommen monatsbedingte Besonderheiten: der August ist der Hitze wegen ein besonders gefährlicher Monat (5.8),248 im September sollen, saisonal bedingt, reife Früchte verzehrt werden249 (5.9), im Oktober zur Jagdsaison Geflügel und Wildbret gegessen und Most getrunken werden (5.10).250 Der November empfiehlt sich nicht für den Beischlaf (5.11).251 Krankheitsvermeidung und Krankheitsbehandlung folgen hier dem Ideal der temperantia.252 Die angehängte Donnerprognose beschränkt sich auf vage stereotype Weissagungen zu Wetterphänomenen, Ernteerträgen, Krieg und Frieden sowie Krankheit und Tod bedeutender Personen.253 Die Nativitätsprognos247 Kategorie ›Luft‹ und ›Licht‹. 248 Der Grund wird in R nicht genannt. Vgl. Eis, Meister Alexanders Monatsregeln, S. 130: Avgustus, der augstman, ist auch ein vngesunter man allen lewten, gesunten vnd vngesunten, durch seiner vnmässigen hycz willen. 249 Vgl. Pseudo-Beda, De mensibus (Ed. Riha, Editionsprobleme, S. 110–138, hier: 130): Et omnes quaevis comede quia omnis esca et fructus in hoc tempore confecti sunt. 250 Fol. 3v. 251 Vgl. dazu die Begründung in den ›Utrechter Monatsregeln‹ (Ed. Lindgren, S. 78): Quia balnea et veneris officium faciunt uirum debilitari et mulierem fieri ydropicam. 252 Riha, Medizin, S. 9–33, hier: 29 ff. 253 Vgl. Eis, Zu den medizinischen Aufzeichnungen, S. 206 f. Weisser, ›Donnerbücher‹, in: LexMA 3, Sp. 1251. Stegemann, ›Donner‹, in: HdA 2, Sp. 311– 322. Zu den Quellen spätmittelalterlicher Brontologien vgl. Silverstein, On the Source, S. 134–140.
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tik ist nur fragmentarisch und uneinheitlich für besondere Tage des Februars, Augusts und Dezembers überliefert. Hier hat man es mehr mit besonders gefährlichen Tagen zu tun, die aus den Datenreihen der ›Verworfenen Tage‹ hervorgegangen sind und sich mit diesen teilweise terminlich decken,254 als mit selbständigen Nativitätsprognostiken, die in der Regel länger sind und denen ursprünglich eine Gliederung nach den Tierkreiszeichen zugrunde liegt.255 Gleich verhält es sich mit den zwei Zusätzen,256 wonach eine Verwundung, eine Speise oder ein Trank am Ersten oder am Letzten des Monats unweigerlich zum Tod führen.
1.2.3 Labile Text- und Bildtraditionen Die Texte des astrologisch-medizinischen Teils zeigen die typischen Merkmale sachliterarischer Kleinformen: Der Inhalt ist labil und inkonsistent, die Form und Formulierung weitgehend beliebig, die Kombination des Kompilierten durchaus unbekümmert.257 Mit den Bildmotiven verhält es sich gleich, ihre ›Fehlerhaftigkeit‹ ist in nicht geringerem Mass Ausdruck konkurrierender, flüchtig durchscheinender Bildtypen und überlieferungs- oder entstehungsbedingter Kontaminationen und Überlagerungen, die zu Verwerfungen und Brüchen führen. Im Folgenden zeige ich die Labilität und Volatilität beider Medien auf anhand der Texte auf fol. 2v (Tafel IV ) und der Planeten(kinder)bilder auf fol. 1r (Tafel I ). Für die Texte auf fol. 2v sind die Ursachen für die Labilität hauptsächlich in der gegenseitigen Konkurrenz unterschiedlicher astrologischer Systeme und in den dadurch kolportierten Widersprüchlichkeiten zu suchen, die oft schon auf Quellenstufe bestehen,258 weiter in den überlieferungsbedingten Verwerfungen in Form von punktuellen semantischen und syntaktischen Varianten und in der häufig zu 254 Solche Zusätze sind aufgelistet bei Keil, Die Verworfenen Tage, S. 50–58. 255 Vgl. Bedas Brontologie ›De tonitruis‹ (PL 90,609–612), die nach den zwölf Monaten gegliedert ist, und die nach den Tierkreiszeichen gegliederte Brontologie aus dem ›Liber Hermetis‹ (Ed. Silverstein, S. 135 f.). 256 Zum April und zum Dezember. 257 Riha, Editionsprobleme, S. 107 f. 258 So zum Beispiel die beiden Ordnungen der Jahreszeiten-Zeichen und Elementen-Zeichen und die daraus resultierende Varianz in der Zuordnung der Qualitäten oder die widersprüchlichen Angaben zur Qualität der einzelnen Kräuter und Gewürze. Die oben festgestellten, theoriewidrigen Empfehlungen von Speise und Trank könnten ein Stück weit darauf zurückzuführen sein. Vgl. dazu: Keil, ›Qualitäten- und Gradelehre‹, in: LexMA 7, Sp. 353 f. Riha, Die diätetischen Vorschriften, S. 339–364, hier: 355 ff.
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beobachtenden Sorglosigkeit beim Abschreiben von Gebrauchstexten (Fehlerhaftigkeit im engeren Sinn). Überlieferungs- und abschriftsbedingte ›Fehlerhaftigkeit‹ lassen sich zuhauf in den Texten festmachen; ihre gegenseitige Abgrenzung ist von Fall zu Fall vorzunehmen, sofern überhaupt möglich. Ein paar Textvarianten, mehrheitlich lexikalisch-semantische, seien hier angeführt:259 [1] excepto cancro, quia tunc leditur a marino s‹er›pente (R [Tafel IV .5.10]) excepto solo cancro, qui leditur a marino (mario Br) serpente (Ma, Br, U [S. 133], E [S. 133]) excepto cancro, quia (qui RsC) leditur a maximo serpente (Wo, RsC) [2] an der chrebs, der wirt gelazt von der wasser slangen (R [Tafel VI.5.10]) an ochsen sol man meyden, wan sj wirt dan geseret von der mer nateren260 an achsel sein ausgenomen, wan er wird dann gesert von den mer natern (Mü) [3] multum bibe cum ansere coctum (R [Tafel IV .5.10]) multum bibe ansere cocto (Ma) mustum bibe cum asso (asse Br) ansere (Br, U [S. 133]) mustum bibe (RsC) mustum bibere cum ansere cocto (Wo) [4] laz auff der haupt ader (R [Tafel VI.5.12]) lass das pluet von der haupt ader (Mü) du solt auch das plut nicht anders von dir lassen dann mit den kopffen261 [5] lactum summe in cena (R [Tafel IV .5.6])262 lac coctum sume in cena (Ma) lac coctum in cena sume (Br) lactucam sume et in cena comede (U [S. 123]) lactucas comede in cena (E [S. 123]) 259 Ich gebe die Abschnitte nur bei R an. Die Textstellen der Parallelüberlieferung findet man in den Anmerkungen innerhalb der Edition der einzelnen Tafeln (Die ›Süddeutsche Tafelsammlung‹ [Ed. Castelberg/Fasching]) oder bei Riha (Editionsprobleme). Um das Spektrum zu erweitern, beziehe ich zusätzlich U (Utrecht, UB , Hs. 1355) und E (Handschrift 54 der Privatsammlung Eis in Heidelberg) ein. Bei diesen Textzeugen verweise ich auf die Seitenzahl der synoptischen Edition Rihas. 260 Bamberg, SB , Msc. med. 22 (Ed. Riha, Editionsprobleme, S. 133). 261 München, BSB , Cgm 28 (Ed. Riha, Editionsprobleme, S. 137). 262 Die Übersetzung lautet: iz von milich (Tafel VI.5.6).
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lac sume coctum (RsC) hec coctam in cena sume [bezogen auf aquam fontaniam]263 (Wo) [6] que uis commede nisi (preter Ma) acida (acetosa Br) et amara (amorosa Br) (R [Tafel IV .5.2], Ma) omnia que uis comede preter aueam et betam (U [S. 113]) et omnia que vis comede (E [S. 113]) omnia que uis commede, tam acida et (quam RsC) amara (Wo, RsC) Js allerlay an anten vnd an gens (Mü) [7] In februario so solt du lazzen (R [Tafel VI.5.2]) In februario sanguinem minue (minas Wo) (U [S. 113], E [S. 113], Wo) de pollice sanguinem minuas (Br) sanguinem non minuas (RsC) [8] pro‹v›o‹c›a v‹o›mitum propter cottidianas [febres], propter pa‹ra›lis‹i›m (R [Tafel IV .5.3]) sed prouoca uomitum (te ad fomitum E) propter cottidianas febres, fac cocturas (cocturam E) propter paralisim (Ma, Br, U [S. 116], E [S. 116], Wo) sed prouoca vomitum propter cottidianas febres (RsC) [9] custodi te a frigidis cibis (R [Tafel IV .5.8], Ma, Br, Wo) frigidis cibis vtere (U [S. 128], E [S. 128]) calidis cibis uti (RsC)
Die Entstehung der hier vorgestellten Varianten lässt sich teilweise rekonstruieren, bei Verlesungen wie marino/maximo [1], mustum/multum [3] oder der Assoziation zwischen der Hauptader und dem Schröpfkopf im vierten Beispiel. Undurchsichtiger sind die Verwechslungen von chrebs und ochse [2], das Nebeneinander von ausschliessendem nisi/preter/an und einschliessendem tam. . .et (quam) [6]. Viele Aderlass- und Baderegeln sind wegen des sorglosen Umgangs mit der Negation auch in ihrem Gegenteil belegt [7 und 9]. Beispiel [8] zeigt, wie eine Textlücke in R als solche gar nicht mehr erkennbar ist und sich durch Kontraktion der Inhalt ändert: Erbrechen im März soll auch gut sein für Lähmungen; ursprünglich sollte Gekochtes (oder ein Kuchen) davor schützen. Die Verschiebung vom kaltfeuchtem Lattich264 (lactucam) zu gekochter Milch (lac coctum) und weiter zu gekochtem Brunnenwasser (hec coctam), das saisongerecht kalt getrun263 Aquam fontaniam schomato (sic!) bibe propter pulmonem, hec coctam in cena sume (Wo). 264 Dazu die Angabe im ›Breslauer Arzneibuch‹, fol. 9v (Anm. 246): Latich ist
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Astrologie und Medizin
ken werden sollte, unterstreicht nochmals die Textlabilität aus überlieferungsgeschichtlicher Perspektive [5]. Von konzeptioneller Neuformung kann man im Fall von R jedenfalls nicht sprechen. Die punktuellen Kürzungen passen zur Kürze und Prägnanz der gesamten Handschriftenfamilie der ›Utrechter Monatsregeln‹. Vergleichsweise wenig Varianz weisen die Jahreszeitenlehre und die Donnerprognose auf. Die Jahreszeitenlehre ›De quatuor temporibus anni‹ – der Text wird in den handschriftlichen Fassungen durch dieses Incipit eingeleitet – ist verhältnismässig kohärent. Die einzelnen Textabschnitte finden sich, wenngleich in variierender Reihenfolge, in der Mainzer und Breslauer Handschrift, aber auch schon – mit Ausnahme der medizinischen Verse – im Abschnitt ›De sole et de varietatibus temporum‹ der ›Philosophia mundi‹ des Wilhelm von Conches. Dieser Text stellt die wahrscheinlichste Quelle für die in R wie im ›Liber de sex rerum principiis‹ überlieferte Jahreszeitenlehre dar, ist aber selber wiederum ein Kompilat aus Quellen spätantiker und frühmittelalterlicher Provenienz. Es bleibt abschliessend festzuhalten, dass die Texte der ›Philosophia‹ und des ›Liber‹ bezüglich Inhalt und Wortlaut R signifikant näher stehen als andere mögliche Zwischenquellen wie die weit verbreiteten Naturenzyklopädien des Bartholomäus Anglicus und Vinzenz von Beauvais, die ihrerseits die Naturlehre des Wilhelm von Conches rezipiert haben. Was eher für die ›Philosophia‹ und gegen den ›Liber‹ spricht, sind die Übernahme des Incipits ›De quatuor temporibus anni‹ und der fast wortwörtlich übereinstimmende Exkurs zu den drei Verdauungen im Text zum ›Frühling‹ – beide findet man nur bei Wilhelm.265 Die Donnerprognose ist trotz ihrer grossen Überlieferungsstreuung inhaltlich stabil,266 wiederum labiler ist der Text der ›Verworfenen Tage‹, der sich der Pariser Tradition zuweisen lässt, aber zuhauf Verschreibungen aufweist. Zur Labilität innerhalb der einzelnen Textsorten kommt die Labilität der Texte auf der Ebene der Textverbünde. Einen solchen – soweit ich sehe – recht breit überlieferten Verbund bilden die ›Monatsregeln‹ (MR ) mit den angehängten ›Verworfenen Tagen‹ (VT ), der Donnerprognose (DP ) und der fragmentarischen Nativitätsprognostik (np). Dieser Verbund wurde in R, Ma und Br um die Jahreszeitenlehre (JL ) erweitert. Diese Handschriftenkalt vnd vuchte an dem andirn gradu, vnd gibit gut blut, vnd senftic den durst, vnd machet den slaf, vnd leschet di hurgelust. 265 Ed. Maurach, II ,14,46 und IV ,16,24. Vgl. Die ›Süddeutsche Tafelsammlung‹ (Ed. Castelberg/Fasching), Anm. zu Tafel IV .1.4. 266 Identischer Text in Ma, Br, R, RsC sowie in Oxford, Bodl., MS . Rawl. D. 939. Die Oxforder Handschrift wird in Teil B (Kapitel 3.3.3) näher untersucht.
Interpretation
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gruppe schliesst darüber hinaus als Anhang einen Aderlassmann mit Lassund Schröpfstellentexten (LT ) ein. Allen Texten gemeinsam ist, dass sie auch einzeln überliefert sind und als solche bereits Kompilate darstellen. Auf der Stufe von R, Ma oder Br ist der genetische Zusammenhang mit den Quellentexten nur noch schwach ausgeprägt und oft nicht mehr nachzuweisen. Für den Textverbund auf fol. 2v (Tafel IV ) ergibt sich dabei ein Zusammenhang zwischen Quellen, Fassungen, der Fassung R und den weiteren Textverbünden auf der Stufe von R wie auf S. 80 dargestellt. Was den Textverbund in R von allen anderen unterscheidet, ist die formale Einrichtung der einzelnen Texteinheiten für die Einblattschriftlichkeit. Alle anderen Textzeugen sind in Kodexform überliefert und bieten einen fortlaufend geschriebenen Text. Es muss offen bleiben, ob der Schreiber bereits von einer Folge von Tafeln abschrieb oder ob er als Concepteur, ausgehend von einer Kodexfassung, die Anordnung selber erdachte. Von einer Vorlage in Form einer Tafel könnten die Texte auf fol. 2r (Tafel III ) stammen; diese sind im Fall des ›Beilngrieser Aderlassmännleins‹ als Tafel überliefert. Fol. 2v (Tafel IV ) wäre dann in Analogie zu fol. 2r in die Form einer Tafel umgesetzt worden. Aus dem gesichteten Handschriftenmaterial lassen sich für die deutsche Übersetzung auf fol. 3v (Tafel VI ) folgende Schlussfolgerungen ziehen: Eine Überlieferung des kompletten Textverbundes in lateinischer und deutscher Sprache ist m. E. singulär. Die deutsche Übersetzung ist im Fall von R eigens für die vorliegende Tafel angefertigt worden. Was die Singularität zusätzlich unterstreicht, ist die deutschsprachige Wiedergabe der Jahreszeitenlehre. Soweit ich sehe, fehlen vergleichbare Übersetzungen. Mit der Labilität der Texte einher geht die Labilität der Bilder, wie sich an dem Planeten(kinder)bild des Saturn zeigen lässt, der dem Typ und den Attributen nach nur schwer zu deuten ist. Nach antik-mittelalterlichen Vorstellungen verkörpert der langsamste Planet Saturn vieles gleichzeitig. Überlagerungen und Brüche treten so trotz der mittelalterlichen Verfestigung zum Bildtyp immer wieder zu Tage. Antike wie mittelalterliche Saturnvorstellungen verschränken astronomische, astrologische und mythologische Ideen, die noch reflexartig in spätmittelalterlichen Bildern aufscheinen können. Vielleicht wirkt in der Zeichnung Saturns in R noch der Bildtyp des spätantiken Chronos nach, der als Symbol der Zeit seine eigenen Kinder verschlingt.267 Vielleicht klingt in dem zum Mund geführten 267 Gemäss dieser Vorstellung wird Saturn als Kinderfresser dargestellt. Vgl. Klibansky, Saturn und Melancholie, Taf. 47–50.
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Astrologie und Medizin
Gegenstand darüber hinaus noch das antike Attribut der Sichel an, das, unter dem Einfluss der spätantiken Mythographie zwischenzeitlich zum Drachen geworden,268 wieder in nahezu allen spätmittelalterlichen Bildern eine Konstante darstellt und auf die verbrecherische Entmannung seines Vaters Uranos verweist, zugleich aber auch Werkzeug der Ernte ist und auf Saturns Funktion als Schutzgott der Landwirtschaft Bezug nimmt. Dazu stellen sich astronomische Vorstellungen, die Saturn dem Element ›Erde‹ zurechnen und als kalt und trocken einstufen, sowie die daraus ›primitiv‹ assoziierte Vorstellung der Saturnkinder und weiterer, auf Assoziation beruhender Beziehungsreihen.269 Saturngeborene sind grundsätzlich böse und sind vertreten in gemeinen Berufen wie Gerber, Bauer, Bäcker und Randgruppen wie Sklaven, Verbrecher, Gefangene, Einbeinige, Totengräber und Henker.270 Als Bauern werden Saturnkinder oft beim Pflügen gezeigt, eine Schaufel in den Boden stossend oder mit einer Hacke den Acker bearbeitend, wobei die Bedeutung des Totengräbers im Attribut der Schaufel mitschwingt271 – Tätigkeiten, wie sie in R auf das Bild des Lunakindes passen. Als Attribut des Bauern oder Ledergerbers könnte der unerklärliche Gegenstand in der linken Hand der Figur vielleicht einen Sack oder ein Stück Leder darstellen, dessen rechter Abschluss sowohl das aufgerollte Ende eines Spruchbandes als auch die perspektivisch missratene Öffnung des Sackendes darstellen könnte; vielleicht ist es ein Geld(sack) und steht gemäss lateinischem und deutschem Text für den Geiz, der Saturnkindern nachgesagt wird. Auch wenn Text und Bild zusammen überliefert sind, 268 Der Drache, der in seinen eigenen Schwanz beisst, symbolisiert die allesverschlingende Zeit. Vgl. dazu Lenhardt, Die Illustrationen, S. 176. Dazu die Beschreibungen Saturns in der mythographischen Literatur: Saturnus pingebatur et supponebatur homo senex: curvus, tristis et pallidus. In vna manu falcem tenebat et in eadem draconis portabat imaginem, quae dentibus caudam propriam commordebat, altera vero filium parvulum ad os applicabat et cum dentibus deuorabat (Bersuire Waleys, Metamorphosis Ovidiana moraliter explanata [Unver. Nachdr. d. Ausg. 1509], Ed. Orgel, fol. II ). Im Mittelalter steht wiederum die Sichel im Vordergrund. 269 So der Schluss, Saturn sei seiner Kälte wegen als Greis vorzustellen. Sich auf eine Krücke stützend, wurde er in zahlreichen Bildern typisiert. Zu solchen ›primitiv‹ assoziierten Beziehungsreihen vgl. Gombrich, Aby Warburg, S. 200 f., und Sears, The Ages, S. 107 f. 270 Text- und Bildquellen in: Klibansky, Saturn und Melancholie, S. 208 ff. und Taf. 39 ff. 271 Tübingen, UB , Md. 2, fol. 267r. Das Saturnkind ist hier als barfüssiger Bauer in knielangem Hemd dargestellt. Die Attribute sind Schaufel, Hacke, Sichel und Zange (?). Vgl. Klibansky, Saturn und Melancholie, Taf. 41.
Interpretation
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erklärt sich das Bild des Saturnkindes jedenfalls nicht als inhaltstreue Umsetzung des mitüberlieferten Textes. Plausibler ist eine Einstufung des Bildes als hybrides Produkt teils noch konkurrierender, teils schon kontaminierter Bildtypen, zustande gekommen als Ergebnis eines Zeichners, dem nicht immer klar war, was er abzeichnete.
Quellen und Fassungen des Textverbunds auf fol. 2v (Tafel IV) Antike und spätantike Quellen
Vindician: ›Epistula ad Pentadium‹
Ps.-Beda: ›De mensibus‹ a
(?)
Beda: ›De tonitruis‹
Avicenna: ›Canon‹
›Liber Hermetis‹
›24–§–Text‹
Beda: ›De ratione temporum‹ Ma. Quellen, Fassungen (datiert)
Wilhelm v. Conches: ›Utrechter MR ‹ ›Pariser VT ‹ ›Philosophia mundi‹ (um 1400) (›Pariser Meister und Sternseher‹, 14. Jh.) Lat. und dt. Fass. des ›Secretum secretorum‹ (ab ca. 1140)
›Oxforder DP ‹: MS . Rawl. D. 939 (1389)
›Liber de sex rerum principiis‹ (?) ›De quattuor temporibus anni‹ Kompilation Fassung R
Kompilation mit Versgut
Textverbund R
(R)
Textverbünde (Überlief.)
(Ma) (Br) (Wo) (RsC ) (U)
JL : MR : VT : DP :
np:
Kompilation mit Versgut
Kompilation mit weiterer Reihe(?)
DP
np
Kompilation mit Schröpfstellentext
JL
MR
VT
DP
np
LT
JL JL
MR MR b MR MR MR
VT VT VT VT
DP DP DP DP
np NP
LT LT c
−
−
np np −
− − −
− − (JL ) d
Jahreszeitenlehre Monatsregeln Verworfene Tage Donnerprognose Nativitätsprognostik (fragmentarisch)
NP : Nativitätsprognostik (vollständig) LT : Lassstellentexte
Gestrichelte Linie: vage Abhängigkeit Durchgehende Linie: direkte Abhängigkeit
a Vielleicht die wichtigste Quelle neben anderen. Vgl. dazu: Riha, Die ›Utrechter Monatsregeln‹, S. 63 f. b Br ist wie Wo mit einem Zusatz versehen, in dem jeder Monat für sich selbst spricht. Diese Fassung entspricht der lateinischen Vorlage des Cgm 398 der Bayerischen Staatsbibliothek. Dazu: Keil, Eine lateinische Fassung, S. 233f. c Das Doppelblatt wurde wenig später(?), wahrscheinlich aus dem Breslauer Matthiasstift stammend, in die Handschrift eingefügt und zeigt einen Aderlassmann mit z.T. in deutscher Sprache geschriebenen Lassstellentexten. Auf dem Körper des Aderlassmanns sind die Tierkreiszeichen dargestellt. d Die Jahreszeitenlehren gehen hier auf die Fassung A oder B des ›Secretum secretorum‹ zurück (Das Utrechter Arzneibuch [Ed. Lindgren], S. 76f.), sind daher praktischer ausgerichtet und weichen in der Folge von den Texten in R, Ma und Br ab.
2 Turm der Weisheit 2.1 Erläuterungen Auf den Seiten 4r (Tafel VII ) und 6v (Tafel XII ) findet man die Zeichnungen zweier Türme (Abb. 7 und 12), die in der kurzen Beischrift als turris sapiencie – turen der weisha‹i›t (Tafel VII.1 und Tafel XII.1) bezeichnet werden und einmal deutsche (fol. 4r, Tafel VII ), einmal lateinische Inschriften (fol. 6v, Tafel XII ) aufweisen, die vermutlich von derselben Vorlage stammen. Einerseits fehlen auf dem lateinischen Turm Inschriften, die auf dem deutschen Turm vorhanden sind, und umgekehrt; andrerseits findet man in der deutschen Übersetzung die gleichen Fehler wie in der lateinischen Version.1 Die Moralallegorie des Weisheitsturms2 ist seit dem Ende des 13. Jahrhunderts reichlich belegt, zumeist als Teil einer mehr oder weniger umfangreichen, bildlich ausgestalteten Tafelsammlung, die ihrer katechetischen Ausrichtung wegen auch schon als ›Speculum theologiae‹ bezeichnet wurde.3 Als Autor des Weisheitsturms wie auch der Tafelsammlung insgesamt hat Lucy Freeman Sandler den Pariser Franziskaner Johannes Metensis (von Metz) in Erwägung gezogen, der im nächsten Umfeld Bonaventuras gestanden haben muss und 1273 bezeugt ist.4 Laut Nigel Palmer erscheint die Nennung Johannes’ in fünf Handschriften, so auch in den
1 So die verkehrte Reihenfolge der Busstugenden auf den Treppenstufen. Vgl. Anm. 32. 2 Das Text-Bild-Motiv ist nicht zu verwechseln mit dem Motiv des ›Hauses der Weisheit‹ (domus sapientiae), das auf Prv 9,1 zurückgeht: Sapientia aedificavit sibi domum excidit columnas septem. Die Bibelstelle wird in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Ikonographie meistens als Haus (Weisheit) auf sieben Säulen (sieben Gaben des Heiligen Geistes, sieben freie Künste) dargestellt. Vgl. dazu: Wirth, ›SAPIENTIA ‹, S. 213–266, bes. 222–227. 3 Sandler, The Psalter, S. 23 (Pl. 25, Anm. 52). In dieser Tafelsammlung findet man auch wieder den Tugend- und Lasterbaum wie die textierte Cherubsfigur. 4 Ebd. S. 23 f., und Sandler, John of Metz, S. 215. Saxl bezeichnet den Autor als »younger contemporary of St. Bonaventura« (A Spiritual Enzyclopedia, S. 82– 134, hier: 110).
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Turm der Weisheit
ältesten;5 vier spätere Handschriften nennen den italienischen Dominikaner Bonacursus de Gloria, Erzbischof von Tyrus (1272–1291).6 Die Bezeichnung turris sapientiae steht darin neben der Bezeichnug turris virtutum,7 setzt sich aber später offenbar durch. Neben der überaus reichen handschriftlichen Überlieferung des Motivs verweist Palmer auf eine xylographische Version in drei verschiedenen Ausgaben.8 Dem Turm der Weisheit ist manchmal ein erläuternder Begleittext beigegeben.9 Die in diesem Kapitel berücksichtigten Handschriften (Anm. 5, 21, 36, Abb. 23–26), das sind insgesamt acht, bieten den Turm der Weisheit fast ausschliesslich als lateinische Version; in der Lilienfelder Handschrift sind die Texte in den Quaderreihen der Mauer lateinisch und deutsch wiedergegeben (Abb. 25). Bemerkenswert ist, dass man eine deutsche Übersetzung gerade in einer Handschrift vorfindet, die, anspruchsvoll und mit Tugendpersonifikationen plastisch gestaltet, als eine Art ›Bilderkatechismus‹10 in repräsentativem Handbuchformat gilt. Die Funktion des Turms der Weisheit innerhalb des ›Speculum theologiae‹ sieht Sandler im Gebrauch als »pastoral handbook for the clergy« oder als »volume used for personal reading, devotion, and meditation.«11
5 So im ›Howard Psalter‹: London, BL , MS Arundel 83 I, fol. 5r, um 1300 (Sandler, The Psalter, Abb. 51), und im ›Psalter de Lisle‹: London, BL , MS Arundel 83 II , fol. 135r, vor 1339 (Abb. 24). 6 So W, fol. 65r, um 1440. Palmers Befund stellt die etwas voreilige Fokussierung Sandlers auf Johannes Metensis als wahrscheinlichen Autor in Frage: »The two attributions, both to little-known but positively attested figures in the right period, seem of equal merit and must both be taken seriously« (Biblical Blockbooks, S. 42). 7 So wird der Turm im Anhang der ›Concordantiae caritatis‹ (um 1351) des Zisterzienserabtes Ulrich von Lilienfeld bezeichnet: Lilienfeld, StiB, Cod. 151, fol. 258v/259r (Abb. 25 und 26). Vgl. dazu: Munscheck, Die Concordantiae caritatis, S. 104 f. (Abb. 20 und 21). Das älteste bekannte Zeugnis freilich betitelt die Miniatur nicht: Paris, BN , ms. fr. 9220, fol. 12r (frühes 14. Jh.). Die Sammlung ist als Vrigiet de solas (»Obstgarten der Tröstung«) überschrieben (fol. 1r). 8 Palmer, Biblical Blockbooks, S. 42. 9 Vgl. Anm. 36. 10 So Munscheck, Die Concordantiae caritatis, S. 111 f. 11 John of Metz, S. 221.
Erläuterungen
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2.1.1 Beschreibung Ich halte mich bei der Beschreibung an das lateinisch textierte Exemplar in R (Tafel XII , Abb. 12), das strukturierter und schematischer ist,12 ziehe zudem bei Abweichungen das deutsche Gegenstück bei (Tafel VII , Abb. 7), das wiederum dekorativer und realistischer gezeichnet ist.13 Dargestellt ist ein Turm, der aus vier Geschossen besteht: einem Erdgeschoss, zwei mittleren Geschossen und einem Dachgeschoss. Das Erdgeschoss bilden vier durch Rund- und Vielpassbogen verbundene Säulen,14 die auf einer etwa Turmbreite einnehmenden Textleiste gründen, und eine links angebrachte, sieben Stufen zählende Treppe. Über diese gelangt eine männliche Figur in das erste mittlere Geschoss, dessen Eingang zwei einander zugewandte Figuren besetzen. Diesem schliessen sich, von links nach rechts gereiht, vier Rundbogenfenster an. Darin zeigen sich Dreiviertelfiguren, die, wie schon die beiden vorderen, Schriftbänder in ihren Händen halten. Das Geschoss ruht wieder auf einer Textleiste. Über dem Tür- und Fensterteil türmen sich zwölf zweizeilige Textreihen zu einem zweiten mittleren Geschoss auf, dessen Mauerwerk aus je zehn kurzen, voneinander abgesetzten Inschriften besteht. Diese Inschriften sind jeweils zu den nächsthöheren versetzt angeordnet, so dass das Bild einer aus Quadern aufgeschichteten Wand gleicht. Rechts entlang dieser Mauer ist von unten nach oben eine Inschrift angebracht. Den Turm beschliessen ein Dach sowie sechs runde Wehr- und sieben viereckige Schutztürme, die es umgeben. Die Wehrtürme sind mit Zinnenkranz ausgestattet, die Schutztürme, mit Ausnahme des mittleren, mit spitzem Dach und Fialen.15 12 Hinsichtlich der Inschriften sind beide Ausführungen unvollständig. Beim lateinischen Turm fehlen die Inschriften auf den Säulen, beim deutschen fehlt die Angabe der Höhe. 13 Als wichtigste Unterschiede verzeichnet Suckale die »typisch trecentesken Stützbalken unter dem Maueransatz mit ihrer perspektivischen Zeichnung, die ausgestalteten Basen der seitlichen Wehrtürme sowie der Krabbenbesatz des Dachfirstes« (Untersuchungen, Bd. 2, S. 41). Im Hinblick auf den Benützer ist es bezeichnend, dass die deutsch beschriftete Turmzeichnung viel reicher als die lateinische Version ausgemalt ist, im textlichen, für das Studium bestimmten Bereich – besonders bei der Reihe der Buchstaben zur Bezeichnung des Lesewegs – dagegen den Leser schlechter bedient. 14 Die Säulen stehen auf vier Basen und tragen selber vier Kapitelle. Fol. 4r (Tafel VII ): Die Säulen sind hier nur ansatzweise gezeichnet und fallen mit den sie stützenden Sockeln zusammen. 15 Hier wird der Unterschied zum Turm auf fol. 4r (Tafel VII ) besonders deutlich. Dort sind alle Türme dekorativer gezeichnet und zum Teil rötlich koloriert.
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Turm der Weisheit
Die Turminschriften erfolgten ausnahmslos in roter Tinte. In Textura ausgeführt sind sämtliche Inschriften des Erdgeschosses und des ersten mittleren Geschosses, dazu die Textierung der Türme und die beiden Inschriften links und rechts des mittleren Geschosses. Ebenfalls in Textura geschrieben sind die Buchstaben des Alphabets, die auf die einzelnen Turmteile verteilt sind und die Lesefolge – an den Treppenstufen beginnend, unter den Rundbogen des Erdgeschosses sich fortsetzend, die Quaderreihen links emporbegleitend, immer höher steigend, d. i. moralisch vollkommener – vorgeben sollten. In Bastarda textiert sind sämtliche Quader.16
2.1.2 Bildtyp und Überlieferung Der Bildtyp des Weisheitsturms ist, durch die Bildlogik und den engen Text-Bild-Bezug vorgegeben, konstant im Aufbau, schwankt aber im Grad der Figurierung. Der Turm setzt sich – idealtypisch – wie folgt zusammen: Sein Fundament bildet die humilitas. Darauf stehen die vier Säulen prudentia, fortitudo, iustitia und temperantia, die ihrerseits getragen werden von den Sockeln diligentia, requies, veritas und modus und selber die Kapitelle consilium, stabilitas, rectitudo und moralitas tragen. Über die Treppe der sieben Busstugenden17 erreicht der Gläubige das mittlere, von der caritas getragene Geschoss und durchschreitet die zwei Pforten der oboedientia und patientia. Die Turmwand besteht aus einer Mauer aus zwölf Steinreihen in die vier Fenster eingelassen sind (discretio, religio, devotio, contemplatio). Die einzelnen Reihen gehen jeweils von den Ecksteinen aus, die zwölf Tugenden18 bezeichnen, die zugleich den Überbegriff abgeben für je neun weitere, mit moralischen Imperativen beschriftete Steine. Die Höhe des Turms steht für das Verharren im Guten (perseverantia in bono), die Breite für die Liebe (caritas). Beschlossen wird das Bauwerk von sechs weiteren monastischen Tugenden als Wehrtürmen oder Verteidigern19 (propugnacula) im Vordergrund und fünf Straf- und Schutzhandlungen als Schutztürmen oder Wäch16 Fol. 4r (Tafel VII ): Hier überwiegt die Bastarda, die überall verwendet wurde, ausser bei den Türmen. Die als Fundament des Turms und als Boden des mittleren Geschosses fungierenden Textleisten sind schwarz beschriftet und nehmen nur etwa die Hälfte der Turmbreite ein. 17 Oratio, compunctio, confessio, poenitentia, satisfactio, elemosina, ieiunium. 18 Caritas, gratia, honor, reverentia, compassio, misericordia (clementia), sanctitudo, munditia, constantia, spes, fides. 19 Innocentia, puritas, timor Dei, castitas, continentia, virginitas.
Erläuterungen
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tern20 (custodes), die, versetzt zu den vorderen sechs, im Hintergrund emporragen. Der Leser wird über das Alphabet, das die verschiedenen Architekturteile bezeichnet, schrittweise nach oben geleitet. Der Aufbau des Turms kann hinsichtlich folgender drei Punkte variieren: Die siebenstufige Treppe kann zentral oder linksseitig angebracht sein, die Steinreihen können entweder bündig oder versetzt übereinander angeordnet sein, die Fenster schliesslich können in das Mauerwerk integriert sein, so dass die Teilung des mittleren Geschosses in Tür- und Fenstersektor einerseits, Gemäuer andererseits, aufgehoben ist. Die Figurierung reicht von einfachen schematischen Ausführungen21 bis zu anspruchsvollen, architektonisch ausgearbeiteten und mit Personifikationen bestückten Beispielen.22 Die vier Kardinaltugenden (Säulen) können als Personifikationen verbildlicht sein, ebenso die Tugenden des mittleren Geschosses (Pforten, Fenster und Ecksteine23) sowie die Verteidiger oder Wächter. Die Personifikationen sind als Frauenfiguren (Abb. 25 und 26)24 und spezifischer als Stände der Kirche (Mönche, Bischöfe)25 und Männerfiguren mit aus dem Text abgeleiteten Attributen26 dargestellt (Abb. 24).27 Im Vergleich mit dem hier skizzierten Bildtyp sind die beiden Türme in R darstellerisch dilettantisch,28 textlich jedoch, abgesehen von ein paar sinnlosen lateinischen Lesungen29 und ebenso sinnlosen Übersetzungen,30 20 Increpatio ad dissolutos, disciplina ad rebelles, iudicium ad reprobos, vindicta ad malos, tutela ad bonos. 21 So London, Gray’s Inn Library, MS 9, fol. 151r (15. Jh., Abb. 23) und London, BL , MS Arundel 507, fol. 20v (14. Jh.). 22 Dazu gehören die erwähnten frühen Beispiele aus Paris, London und Lilienfeld. Vgl. Anm. 5 und 7. 23 Diese findet man personifiziert nur im Lilienfelder Kodex (Anm. 7). 24 So naheliegenderweise die Kardinaltugenden, die Tugenden des mittleren Geschosses und die aus weiteren monastischen Tugenden bestehenden Wehrtürme. 25 So die Tugenden des mittleren Geschosses und die Schutztürme. 26 So nur die Wehrtürme. 27 Suckale, Untersuchungen, Bd. 1, S. 80 f. Suckale, Klosterreform, S. 111 f. 28 Vor allem die Zeichnung der Treppen und Pforten. 29 Die wichtigsten sind: sacrificacio für satisfactio (Tafel XII.3.3); invitare bonos für imitare bonos (Tafel XII.10.3); tene iudicium für metue iudicium (Tafel XII.10.7); inquire patrem für inquire pacem (Tafel XII.10.8); reserua tactum für refrena tactum (Tafel XII.10.9); ego longanimus für esto longanimus (Tafel XII.10.11); desere inmundiciam für desere invidiam (Tafel XII.10.11). 30 diemudichait für deuocio (Tafel VII.9.3); mit leiden für contemplacio (Tafel VII.9.4); red von den pucheren für loquere de licitis (Tafel VII.10.2); halt die
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Turm der Weisheit
durchaus korrekt. Der deutsche Wortschatz stösst dort an Grenzen, wo die differenzierte lateinische Begrifflichkeit wiedergegeben werden sollte. Das Ergebnis sind Doppelungen, Verallgemeinerungen und Bedeutungsverschiebungen wie gerechtichait (Tafel VII.5.3 und 6.3) für iusticia und rectitudo, diemudichait (Tafel VII.9.3) für deuocio und mit leiden (Tafel VII.9.4) für contemplacio (gelesen als compassio). Was Textfolge und Bildaufbau in ihrem Verhältnis angeht, sind beide nur ungenügend aufeinander abgestimmt. So fehlt es an Genauigkeit in der Zuordnung der Inschriften zum entsprechenden Bildteil: Die ursprünglich den Kapitellen eingeschriebenen Begriffe geraten in die Bogenzwickel; Säulen und Sockelinschriften auf fol. 4r (Tafel VII ) stehen, bedingt durch die halbfertige Zeichnung, nebeneinander; auf fol. 6v (Tafel XII ) fehlen die Säuleninschriften ganz. Zudem werden nicht die einzelnen Architekturteile mit je einem Buchstaben versehen, sondern jede Treppenstufe und jede Arkade. Pforten und Fenster sowie Wehr- und Schutztürme stehen ohne alphabetische Zuordnung da, ebenso das Fundament sowie Breite und Höhe des Turms. Der Mauerteil auf fol. 4r ist zwar mit zwölf Buchstaben von i bis v angeschrieben, diese stehen aber nicht wie gefordert einzeln neben jeder Steinreihe. In umgekehrter Reihenfolge textiert sind die Stufen der Treppe, die mit dem ›Fasten‹ beginnen und mit dem ›Gebet‹ enden.31 Der Oberbegriff gradus steht auf der ersten Stufe, wird also wie eine der untergeordneten Busstugenden behandelt. Auch die Abfolge der Beschriftungen in den Schutztürmen ist durcheinandergeraten.32 Wehr- und Schutztürme sind abwechselnd gereiht, mit Ausnahme der beiden äussersten Turmpaare, die hintereinander angeordnet sind. Die angeführten Unstimmigkeiten bei der alphabetischen Gliederung, bei der Textierung der Stufen und der beiden Turmarten findet man auch in der Darstellung der Mettener Handschrift München, BSB , Clm 8201 (1414/ 1415).33 Weitere Entsprechungen bestehen in der Anordnung der Schutztürme; sie reichen zudem beim Text bis in den Wortlaut. Dort, wo der siecherhait für reserua tactum (Tafel VII.10.9); nym nicht die freundin für non capias munera (Tafel VII.10.10); versinkch dein wort für fuge iram (Tafel VII.10.11); vernicht die vnmaz für sperne accidiam (Tafel VII.10.11); verlaz die vnrainkait für vilipende gulam (Tafel VII.10.11); gelaub an den cresem für crede in ewkaristiam (Tafel VII.10.12); beleibung für continencia (Tafel VII.11.5). 31 Gilt für fol. 4r und 6v. 32 Fol. 6v: Abfolge 1–5–3–2–4. Fol. 4r: Abfolge 1–5–3–4–2. Vgl. Anm. 19. 33 Fol. 95v.
Interpretation
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R-Text von den einbezogenen Handschriften abweicht, geschieht das auffällig oft in Übereinstimmung mit dem Mettener-Text: Beide weisen die Inschriften tene iudicium statt metue iudicium (Tafel XII.10.7), manswetudo für clementia (Tafel XII.10.8), reserua tactum statt refrena tactum (Tafel XII.10.9), inmundicia statt invidia (Tafel XII.10.11) auf.34 Hinzu kommen, besonders beim lateinischen Exemplar, Gemeinsamkeiten in den zeichnerischen Details wie in der Darstellung der Sockel und Kapitelle, der Vielpassbogen, des Daches und der Türme,35 dann in den versetzt gereihten Steinen sowie in der Zeichnung der Figuren mit Kopftuch und Nimbus. Die augenfälligste Abweichung ist die zentrale Platzierung der Treppe.
2.2 Interpretation Die komplexe Moralallegorie des Weisheitsturms wird in einer beträchtlichen Anzahl Handschriften von einem Text begleitet, der kurze Erläuterungen zum Bildmotiv gibt und den ich hier nach dem MS 9 der Gray’s Inn Library in London zur Interpretation beiziehe (Abb. 27).36 Breiter ausgelegt wird der Weisheitsturm im ›Colloquio spirituale‹ des Dominikaners Simon de Cascina (um 1390).37 Auch von den im Erläuterungsteil vorgestellten 34 München, BSB , Clm 8201 (M) weicht wiederum häufig mit W von der übrigen Überlieferung ab. Vgl. Die ›Süddeutsche Tafelsammlung‹ (Ed. Castelberg/ Fasching), Anm. zu Tafel XII . 35 Abgesehen von den dekorativ eingesetzten Fialen in R. 36 Der lateinische Text wurde nach London, BL , MS Arundel 83 I, fol. 4v unvollständig, fehlerhaft und ohne Angabe von Bibelquellen von Sandler (The Psalter, S. 102, Anm. 62) abgedruckt. Eine englische Übersetzung des Textes bei Sandler, John of Metz, S. 223 ff. Die Handschrift aus der Gray’s Inn Library überliefert einen ›Speculum humanae salvationis‹, dann historiographische und chronikale Literatur und im Anschluss daran das sogenannte ›Speculum theologiae‹ (fol. 150v–154v). Vgl. A Catalogue of the Ancient Manuscripts, No. 9. Ob der Text auch in der Urfassung vorhanden war, ist nicht mehr zu entscheiden. Die ältesten Handschriften überliefern den Text nicht, wurden jedoch als textloser, künstlerisch anspruchsvoller Bilderkatechismus für Adelskreise konzipiert (›Psalter de Lisle‹, ›Vrigiet de solas‹) und somit bereits dem ursprünglich monastischen Kontext entzogen. 37 Simon de Cascina, Colloquio spirituale (Ed. dalla Riva), S. 48,10–52,37. Zum Werk vgl. ebd. S. 1–13. Das ›Colloquio‹ ist eine Auslegung der in der Liturgie verborgenen Semantik unter moralischen und theologischen Gesichtspunkten. Im sechsten Kapitel wird der ›Turm der Weisheit‹ gedeutet. Vgl. dazu: Bolzoni, Gedächtniskunst, S. 147–176, hier: 148 ff.
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Beispielen lassen sich Aufschlüsse für die Interpretation erwarten. Vorangestellt sind ein paar Überlegungen zum Verfahren der Allegorie (als Mittel der Meditation) und zur Mnemotechnik (als Mittel der Memorisierung). Beide kommen beim Weisheitsturm beispielhaft zur Anwendung.
2.2.1 Bildallegorie und Mnemotechnik Der Turm der Weisheit stellt eine Gebäudeallegorie dar, ist also Teil der im Mittelalter breit belegten Architekturallegorese. Die Deutung von Architektur ist hauptsächlich dem Verfahren allegorischer Bibelexegese unterworfen und orientiert sich in ihrem Vorgehen an den allgemeinen Regeln christlicher Allegorese.38 Das Verfahren der Allegorese besteht in der Ineinssetzung von Bedeutendem (res) und Bedeutetem über ein tertium commune, »das zugleich proprietas des Sinnträgers im eigentlichen Sinn und Eigenschaft oder Merkmal des Bedeuteten im übertragenen Sinn ist«.39 Zur sinnvollen Beziehung von Bedeutendem und Bedeutetem bei den einzelnen Architekturteilen (zum Beispiel ›Fundament‹ und humilitas) kommt die Auslegung des Gebäudes als Ganzes40 (Turm als sapientia). Die Deutung der Einzelteile wird in hohem Mass von der Bedeutung des übergeordneten Ganzen eingeschränkt und auf eine Eigenschaft hin stabilisiert: so treffen sich die ›Breite des Turms‹ und die ›Liebe‹ in der gemeinsamen Eigenschaft des Allumfassenden. So eng der Bedeutungsrahmen auch ist, die Bildallegorie bleibt durchaus offen für Konnotate, die über die enge Funktionsgebundenheit der Architekturteile hinausgehen. Zu denken ist vornehmlich an die Vorstellungen des Bauens wie des Steins, des Felsens, des Hauses, der Festung, der Stadt, dann auch des Weges, des Aufstiegs, des Eintritts, weiter des Schöpfens und
38 Vgl. dazu: Meier, Gemma spiritalis, Kap. I ,1b. Reudenbach, Säule und Apostel, S. 310–351, hier: 310 f. und 313: »Architektur erlangte ihre Signifikanz fast ausschliesslich über Eigenschaften, die dem Kontext der Bibel oder der unmittelbaren Erfahrungswelt des Exegeten entnommen waren. Spezialkenntnisse, die, wie etwa bei den Edelsteinen, das Spektrum der bedeutungsstiftenden Eigenschaften und damit das Potential an möglichen Bedeutungen hätten erweitern können, standen allem Anschein nach aus antiker Überlieferung nicht oder nur in sehr beschränktem Unfang zur Verfügung.« 39 Ebd. S. 311. 40 Umfassend behandelt unter dem Begriff des ›Hauses‹ bei Ohly, ›Haus III (Metapher)‹, in: RAC 13 (1986), Sp. 905–1063, bes. 1018 ff. (Gedächtnis), 1023– 1028 (Tugenden) und 1047 ff. (Tempel der Weisheit).
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des Wachsens.41 Zwei spezifischere Bedeutungen scheinen mir, gerade auch aufgrund der Erläuterungen im Begleittext nahegelegt, bei unserem Beispiel im Vordergrund zu stehen: der moralische und der anagogische Sinn, d. h. der dargestellte Turm ist ein Lehrbild zur moralischen Besserung des Menschen einerseits42 – wobei hier, ähnlich wie beim Tugendbaum, aber kohärenter in der Ordnung, spiritualiter ein Aufstieg des Geistes als ein ›SichErbauen‹ an den Tugenden43 gemeint ist –,44 andrerseits ist der Turm ein geistiges Gebäude,45 das, vor allem in der paulinischen Briefliteratur belegt,46 die Vorstellung der Ecclesia evoziert, wie sie – wieder analog zu Tugendbaum und Cherub – als Entsprechung zum corpus Christi in der anthropomorphen Auslegung der Architektur fassbar wird.47 Seit den Schriften Ciceros und der pseudo-ciceronischen Rhetorica ad Herennium dient das Haus oder das Gebäude auch als bevorzugtes Ordnungssystem der memoria artificiosa,48 das die Erfordernisse der Anordnung (ordo), der Merkorte (loci) und der wirkenden Bilder (imagines agentes) vorzüglich vereint.49 Im Fall des Weisheitsturms ist die Anordnung der Merkorte zusätzlich dadurch optimiert, dass die Inschriften präzise Orte im Turm kennzeichnen. Die einzelnen Bildteile sind nicht nur meditationsanleitende Allegorien, sondern auch erinnerungsstützende imagines agentes.50 Allegorisierung und Memorisierung gehen hier Hand in Hand: dient erstere primär der schriftgebundenen Reflexion und Meditation der Inhalte, stand letztere schon immer im Dienste der Mündlichkeit und Redekunst.
41 Reudenbach, Säule und Apostel, S. 314 ff. Zu berücksichtigen ist auch die Symbolik der Zahl. 42 Verstärkt wird diese Deutung auch durch die Darstellung der (Mönchs-)Figur (?) auf der Treppe. Die Figur ist mit einem langen weiten Gewand bekleidet und auf fol. 6v etwas voreilig, da noch vor dem Eintritt, mit einem Nimbus versehen. 43 Schneider, ›Bauen‹, in: RAC 1, Sp. 1265–1278, hier: 1274 f. 44 Gregor der Grosse nennt es eine fabrica virtutum (Moralia in Iob [Ed. Adriaen], XXXI ,38,77). 45 Dazu: Meier, Gemma spiritalis, S. 71–83. 46 I Cor 3,9 f. und I Th 5,11. 47 Vgl. Reudenbach, Säule und Apostel, S. 317. Cornelius, The Figurative Castle, S. 14–19. 48 Vgl. Handbuch der literarischen Rhetorik, § 1086. 49 Vgl. Carruthers, The Craft, S. 7–16. 50 Vgl. Bolzoni, Gedächtniskunst, S. 155. Bolzoni spricht treffend von »Entwicklung von Wissen und Gedächtnis durch gegenseitige Eskalation«.
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2.2.2 Sapientia christiana Der Turm der Weisheit gliedert sich in 131 Tugenden und moralische Imperative, die alle unter dem Begriff der Weisheit zusammengefasst werden, einer Weisheit freilich, die vorwiegend aus christlich-monastischen Tugenden besteht. Ich interpretiere den Turm zuerst moraliter, wie in der Leseanweisung des Begleittextes gefordert,51 und komme dann auf die ekklesiologischen Zusammenhänge zu sprechen. Das Fundament des Turms bildet die humilitas, auf der alles gründet. Ihre basale Funktion wird auf fol. 6v mit einer turmbreiten Textleiste hervorgehoben (Tafel XII.2).52 In der besonders aufwendigen Darstellung des Lilienfelder Codex wird die stützende Funktion der humilitas zusätzlich unterstrichen (Abb. 25): ein kurzer Text,53 der mit der ›Humilitas‹ als mater omnium virtutum beginnt und den Bau kurz erläutert, stützt den Turm. Der Text ist als Wechsel von je zwei turmbreiten Zeilen zweifarbig geschrieben, so dass die Illusion aufeinandergeschichteter Steinlagen entsteht. Zentral, teils in den Text, teils in das darüber sich auftürmende Gebäude eingelassen, ist eine Öffnung. Darin zeigt sich humilitas als Person mit ausgebreiteten Armen. Die Hände tragen links und rechts den Turm. Den Zusammenhang zwischen den zu erbauenden Tugenden und der humilitas präzisiert, nun wieder im Begleittext der Londoner Handschrift, ein Zitat aus Gregors ›Homilien‹ zur Unabdingbarkeit der humilitas: Qui ceteras uirtutes sine humilitate congregat, quasi puluerem in uentum portat.54 Auf dem Boden der humilitas stehen vier Säulen, die sich in Basen, Schäfte und Kapitelle unterteilen lassen. Am bedeutungsträchtigsten sind die Säulen (Kardinaltugenden), die, wie die humilitas, einerseits die Kapitelle stützen, d. h. diese bedingen, andrerseits von den Basen gestützt werden, d. h. diese voraussetzen.55 Das Ergebnis ist eine Dreierfolge, die bei
51 London, Gray’s Inn Library, MS 9, fol. 150v: Et sicut turris materialis fieri incipitur a fundamento, ita et ista moralis a pede incipitur legi ascendendo per seriam alphabeti locis congruentibus assignati. Die zitierten Textpassagen stammen, falls nicht anders vermerkt, alle aus dieser Handschrift. 52 Auf fol. 4r ist in R die ›Verkörperung‹ des Textes als Fundament nur mangelhaft ausgeführt (Tafel VII.2). 53 Grösstenteils abgedruckt bei Munscheck, Die Concordantiae caritatis, S. 105. 54 Homiliae in euangelia (Ed. E´taix), 7,4: »Wer ohne Demut die übrigen Tugenden sammelt, wirft Staub in den Wind.« 55 Neben der Stützfunktion kommen noch weitere Eigenschaften, die sich darunter subsumieren lassen: Festigkeit, Stärke, Geradheit. Vgl. Reudenbach,
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Simon de Cascina am Beispiel der ersten Triade ›Fleiss – Klugheit – Rat‹ folgendermassen beschrieben wird: La prima basa sia diligensa, che sostegna prudensia, che e` la prima colonna, non lassando dormire l’anima o essere negrigente in del bene, ma diligente e solicita; donde nascera` la prudensia, la quale quine col capitello di consiglio l’adorna, non vollendo al tuo parere o sapere sempre credere, m’al buon consiglio.56
Es reihen sich in der Folge ›Ruhe – Stärke – Beständigkeit‹, ›Wahrheit – Gerechtigkeit – Rechtlichkeit‹ und ›Mass – Masshalten – Sittlichkeit‹. Die Einbindung der antik geprägten Kardinaltugenden in das christliche Tugendsystem zeigt sich nicht nur in der Tatsache, dass diese auf der humilitas gründen, sondern auch in der Bestimmung der einzelnen Kardinaltugenden: Expecta deum per prudenciam, viriliter age per fortitudinem, confortetur cor tuum per iusticiam et sustine deum per temperanciam.57 Zwingender in der Folge ist die Treppe mit den sieben Busstugenden,58 die zu den beiden Pforten hinaufführen. Die seria beginnt mit dem Gebet, durchläuft den Prozess der Beichte und Busse und endet bei der Wiedergutmachung in Form von Almosengeben und Fasten. Der Aufstieg wird als Bekehrung zu Gott verstanden: Sequntur gradus, qui sunt oracio et cetera seria, peccator uolens conuerti ad deum. Prius orat et per oracionem datur ei cordis compunccio, per compunccionem oris confessio, per confessionem penitencie accio, per penitenciam operis satisfaccio, que fit per elemosinam et ieiunium.
Am Ende der Treppe durchschreitet der Glaubende die Pforten des ›Gehorsams‹ und der ›Geduld‹, die in Anlehnung an Bernhard von Clairvaux als »heilige Tugenden« bezeichnet werden und die Einkehr in das Reich Gottes ermöglichen.59 Sie sind als Personifikationen dargestellt wie auch die
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Säule und Apostel, S. 324–328. Hier auch eine Aufstellung der Textstellen aus Altem und Neuem Testament (S. 324 f.). Ed. dalla Riva, S. 48,12. London, Gray’s Inn Library, MS 9, fol. 150v. Als uirtutes penitenciales, die zum ingressum perfeccionis uirtualis führen, werden die Tugenden in der Darstellung der ›Concordantiae caritatis‹ bezeichnet. Vgl. Munscheck, Die Concordantiae caritatis, S. 105. Sequntur porte, de quibus Bernardus: sancte sunt uirtutes obediencia et paciencia, quod sine hiis duabus filius dei non potest regredi in regnum suum. Eine genaue Lokalisierung des angeblichen Zitats bei Bernhard konnte ich nicht ausfindig machen, obgleich die genannten Tugenden eine eminente Rolle im Werk des Kirchenlehrers spielen. Genannt seien hier nur die Predigt zu Ostern, wo der Gehorsam und die Geduld als »Perlen der Tugenden«
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nächsten vier Tugenden in den Fenstern. Das erste Paar bilden das ›Unterscheidungsvermögen‹ (discrecio) und die Gottesbindung (religio), das zweite Paar die ›Andacht‹ (devocio) und die ›Versenkung‹ (comtemplacio).60 Sie werden bezeichnet als Lenkerin und Lehrerin (auriga et magistra), sowie als Dienerin und Amme der Tugenden (ministra et nutrix uirtutum). R bietet hier in der lateinischen und deutschen Variante Dreiviertelfiguren, die zumeist mit Nimbus versehen sind, sonst aber ohne Attribute bleiben und sich zur obediencia und paciencia hinwenden. Überlegt scheint die Kopfbedeckung eingesetzt zu sein: lateinische und deutsche Ausführung zeigen nur die religio und die deuocio mit Kopftuch. Mehr Aufschluss geben die Darstellungen aus dem ›Psalter de Lisle‹ (Abb. 24) und aus Simon de Cascinas Ausführungen. Im Psalter ist die discrecio als Disputation zweier Philosophen (?) dargestellt,61 die religio als unwissender Benediktiner mit Buch, die devocio als Dominikaner mit bedecktem Kopf, der, im Gespräch mit dem Benediktiner, fragend auf den Franziskaner rechts von ihm weist, die contemplacio als Franziskaner, der, in Bereitschaft zu unterweisen, die Hand wie der rechte der beiden Philosophen hebt. Mit dieser Interpretation decken sich die Erläuterungen aus dem ›Colloquio‹, die an die Funktion der Fenster als Lichtspender anknüpfen. Das erste Tugendpaar richtet sich auf Erkenntnisvermögen und Regelhaftigkeit, das zweite auf Meditation und Kontemplation:
bezeichnet werden und die beiden Kreuzesarme schmücken (In resurrectione [Ed. Winkler, Bd. 8], Sermo 1,3), dann die zweite Predigt, wo Gehorsam, Geduld und Weisheit programmatisch nebeneinander gestellt werden (De diversis [Ed. Winkler, Bd. 9], Sermo 2,4) und die 15. Predigt, wo diese programmatische Trias wieder aufgegriffen wird (De diversis [Ed. Winkler, Bd. 9], Sermo 15,5). Simon de Cascina (Ed. dalla Riva, S. 49,16) stellt den Zusammenhang zwischen den Tugenden und den Eigenschaften der Pforten her: La prima sia ubidiensa, per la quale entri et eschi come piace a’maggiori; la siconda perfetta pasiensa, onde vegnano e vadano sensa l’animo rompere cose prospere ne´ averse. Vgl. dazu die Darstellung aus dem ›Psalter de Lisle‹. Hier steht links neben den Pforten ein Bischof mit erhobenem Zeigefinger. R zeigt beide Tugenden als Personifikationen im Disput. Die oboedientia trägt ein Kopftuch. In der Version auf Tafel VII (fol. 4r) tragen beide einen Nimbus. 60 Die vier Tugenden sind im Gegensatz zur Darstellung in R zumeist paarweise angeordnet. 61 Suckale (Untersuchungen, Bd. 1, S. 80; Klosterreform, S. 112) sieht darin zwei Pfarrgeistliche.
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Facciamo quatro finestre, che possa la mente nel vedere essere libera: imprima sia discressione, discretamente pigliando ogna aspressa; la siconda religione, la quale ti fa spesso comprendere i suoi ordini; la tersa divossione, con che li pensieri e l’opre condisce; la quarta contemplassione, dunde guardino li spiriti su al cielo.62
Den Boden des ersten, mit monastischen Tugenden belegten Geschosses bildet die Liebe, die ›breit‹ ist, weil sie alles umschliesst. Der Text verweist auf I Io 4,7f.:63 Die Erkenntnis Gottes kann nur auf der Grundlage der Gottesliebe wachsen. Die Universalität der Liebe bezieht sich daher im Besonderen auf die vier ›Lichttugenden‹ in den Fenstern, die ja alle Formen der Erkenntnis verkörpern, wie sie auch allgemein für den Turm als ganzen gilt.64 Die Höhe des Turms, die vornehmlich auf das Mauerwerk bezogen wird, bedeutet die ›Beharrlichkeit im Guten‹. Diese besteht in der Erbauung von zwölf Steinreihen, die, ausgehend von den Festigkeit verleihenden Ecksteinen (lapides angulares),65 von links nach rechts aneinandergereiht werden. Der unterste Eckstein und die obersten beiden bezeichnen die drei theologischen Tugenden, wobei die (Gottes-)Liebe66 (amor) die unterste Reihe bildet,67 der Glaube die oberste. Dazwischen befindet sich eine breit gefächerte Gruppe von Tugenden, die, einmal mehr nach innen gerichtet, zur Selbstvervollkommnung anleiten sollen (so die mundicia), ein andermal mehr nach aussen gewandt, im Verrichten guter Werke bestehen (so die misericordia). Die Steine sind in Form moralischer Imperative (Gebote und Verbote) beschriftet und lassen unter anderem weitere Unterordnungen erkennen: So bilden die fünf Sinne eine Unterordnung innerhalb der Kategorie der mundicia, die sieben Werke der Barmherzigkeit erscheinen in der Kategorie der misericordia, die zu verachtenden sieben Laster in der Kategorie der spes, vier von sieben Sakramenten in der Kategorie fides. Die Mauer-Stein-Metapher ist sichtbarer Ausdruck der Errichtung des eigenen 62 Ed. dalla Riva, S. 49,19. 63 Et omnis qui diligit ex Deo natus est et cognoscit Deum, qui non diligit non novit Deum quoniam Deus caritas est. Als Quellenangabe steht nur in euangelio. Der entsprechende Passus steht freilich nur im ersten Johannesbrief, der mit dem Evangelium des Johannes nahe verwandt ist. 64 Simon de Cascina (Ed. dalla Riva, S. 49,17) vergleicht die Liebe mit dem Mörtel, der die Steine des Turms miteinander verbindet. 65 Zur Symbolik des Ecksteins vgl. Ladner, The Symbolism, S. 43–60, bes. 44–47 (zu Ps 117,22 und Eph 2,20). 66 So präzisiert Simon de Cascina, Ed. dalla Riva, S. 50,22. 67 Die Liebe (amor) hat hier wie die humilitas ›fundamentale‹ Funktion. So wie amor die Mauer trägt, so trägt humilitas den ganzen Turm.
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Seelenheils:68 Die Tugenden werden wie ein Gebäude errichtet; jeder Stein ist ein Meilenstein auf dem Weg zu Gott.69 Die Wehrtürme oder Verteidiger, die anderweitig auch als Personifikationen dargestellt sind,70 bezeichnen die sex pure uirtutes alias inducentes und überragen insofern das Mauerwerk, als sie das Erbaute gegen Angriffe von aussen verteidigen. Moralisch gewandt wird damit das Motiv des Tugend- und Lasterkampfes aufgegriffen: die fest erbaute Tugendburg wappnet sich, angeführt von der castitas und ähnlich gelagerten monastischen Tugenden, gegen die Angriffe der Laster. Als Folge davon lesbar sind die Schutztürme oder Wächter. Die Fünferreihe steigert sich von der ›Schelte über Nachlässige‹ über die ›Zucht gegenüber Aufständischen‹ zum ›Gericht über die Schlechten‹. Diesem folgen die ›Bestrafung der Bösen‹ und der ›Schutz der Guten‹: Primus increpacio ad dissolutos, quia si quis in obseruancia uirtutum fiat dissolutus, increpari debet uerbis. Secundus est disciplina ad rebelles, [quia] si increpatus fiat rebellis, disciplinari debet. Tercius iudicium ad reprobos, quia si rebellis fiat reprobus iudicari, id est excommunicari debet. Quartus uindicta ad malos, quia si reprobus timore domino preposito fiat malus, capiatur uindicta de malo intra consilium Pauli, qui ait: consulo malum hominem tradendum sathane in interitum carnis, ut saluetur spem in die domini71 [I Cor 5,5]. Ultimus tutela ad bonos, quia facta uindicta de malis, boni sunt in pace.
Die Darstellung im ›Psalter de Lisle‹ verbildlicht die einzelnen Stufen als Personifikationen, deren sinnfällige Attribute die Textaussage verdeutlichen (Abb. 24). Die Anordnung ist symmetrisch: Aussen stehen sich ein Mann im Gestus des Tadelnden und ein weiterer in der Pose des Beschützenden gegenüber, sie sind jeweils ihren ›Gruppen‹ zugewandt; innen flankieren zwei weitere Männerfiguren mit Stock als disciplina und Schwert als uindicta links und rechts eine Königsgestalt mit Zepter als iudicium. Die Reihe der Schutztürme öffnet die bis anhin nach dem sensus moralis ausgelegten Turmteile für eine moralisch-eschatologische Deutung. Zentral und vor allen anderen Türmen ausgezeichnet steht das ›Gericht‹, das, an die Themen 68 Die Erlangung des eigenen Seelenheils wird auch bei der Höhenangabe thematisiert: Sequitur altitudo, que est perseuerancia, de qua euangelista: Qui perseuerauit usque in finem, saluus erit (Mt 10,22). 69 Vgl. Ohly, ›Haus III ‹, in: RAC 13 (1986), Sp. 1024. 70 So im Beispiel aus Lilienfeld, wo die Personifikationen als junge, mit Schwertern und anderem Kriegsgerät bewaffnete Frauen dargestellt sind. 71 Hier etwas abweichend vom ›Vulgata‹-Text, der folgendermassen schliesst: ut spiritus salvus sit in die Domini Iesu.
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der benachbarten Türme anknüpfend, in der Strafe über die Bösen und im Schutz der Guten besteht. Die Bestrafung der Bösen soll das Zitat aus dem ersten Korintherbrief veranschaulichen, das die Opposition von Fleisch und Geist unter endzeitlicher Perspektive zuspitzt: »Der schlechte Mensch soll zum Verderben des Fleisches an Satan übergeben werden, damit der Geist am Tag des Herrn gerettet wird« (I Cor 5,5). Die Guten schliesslich werden in Frieden ruhen. Mit der eschatologischen Ausrichtung der Texte einher geht die Darstellung der Türme, die an die architektonische Vorstellung der civitas Dei anklingt.72 Eingeleitet wird der Begleittext zum Turm der Weisheit mit einer im erbaulichen Schrifttum des Spätmittelalters sehr bekannten katechetischen Einteilung der Glaubenden in drei Stufen moralischen Fortschritts:73 die incipientes (Anfänger: in ingressu uirtutum), die proficientes (Voranschreitenden: in progressu uirtutum) und die perficientes (Vollkommenen: in egressu uirtutum).74 Dieses Drei-Stufen-Schema bezeichnet unterschiedliche Stadien des Glaubenden wie der Glaubenden auf dem Weg von der Ecclesia militans zur Ecclesia triumphans: Tria genera fidelium in ecclesia militante ad triumphantem pro incrementa uirtutum sperantium feliciter peruenire, scilicet incipientes, proficientes et perficientes, vt ergo incipientes in uirtutum ingressu animentur iugum domini nuper susceptum uiriliter sustinere, proficientes in progressu uirtutum roborentur insultus mundi carnis ac demonis sagaciter expugnare. Perficientes uero in egressu uirtutum glorientur se felicitatis eterne brauium adipisci.75 72 Reudenbach, Säule und Apostel, S. 319 ff. 73 Petrus Lombardus, Commentarium in Psalmos, PL 191,57: rudimenta incipientium, progressus proficientium, perfectio pervenientium. Vgl. dazu: Kühne, Engelhus-Studien, S. 64–67, hier: 65 (Anm. 217) und S. 66: »Die Wurzeln des Gedankens reichen in die Zeit des entstehenden Christentums zurück (Philon von Alexandria). Er findet Nachhall noch in manchen spätmittelalterlichen Schulordnungen, wenn dort drei Kategorien von Schülern unterschiedlichen Ausbildungsniveaus im entsprechenden Sinn differenziert und benannt werden [. . .]. In der hoch- und spätmittelalterlichen Ordensspiritualität bestimmt das Drei-Stufen-Modell nicht selten die Disposition geistlicher Werke [. . .].« Schmidtke, Studien, S. 121. 74 Isaac de Stella (Ed. Hoste, Sermones, Bd. 3, fr. I ,3) nennt die drei ›Glaubensstände‹ auch conversi, temptati und probati: Est autem in conversis initium, in temptatis profectus, in probatis perfectio. Conversi igitur incipientes, temptati proficientes, probati perficientes sive perfecti. Hi nimirum ad civitatem veniunt, quia in omni congregatione quicumque sunt, aut conversi sunt ut novitii, aut temptati ut aliquantulum profecti, aut probati ut antiqui et maturi. 75 London, Gray’s Inn Library, MS 9, fol. 150v.
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Diesen drei ›Glaubensständen‹, d. i. der Ecclesia als Gemeinschaft der Glaubenden, ist der Turm der Weisheit zur geistigen Erbauung in die Hand gegeben: Magister Johannes Metensis edificat eis turrim sapiencie, in quam ingressi tela diaboli ignea ualeant extinguere (Eph 6,16) et ad deum deorum conscendere inoffensi (Ps 83,8). Der Turm als Bild des Geistes oder der Seele ist zugleich ein Bild für die zu erbauende Ecclesia: die Erbauung des individuellen Seelenheils ist auf dem Weg schon aufgehoben in der Gemeinschaft aller Glaubenden als Ecclesia militans, wie sie auch am Ziel es sein wird als individuelle Erlösung in der gemeinschaftlichen Ecclesia triumphans.76 Die Ecclesia militans kann demnach mit dem Turm der Weisheit gleichgesetzt werden; verkörpert wird sie durch die fünf moralisch vollendeten Wächter. Weise ist, wer seinen eigenen und zugleich gemeinschaftlichen Turm fest baut77 und dadurch aufsteigt zum gemeinsamen Haus Gottes:78 In diesem Sinn schliesst sich der Turm der Weisheit an das Bild des Tugendbaums und das des Cherubs an. Beide Lehrbilder werden über ihren moralischen Gehalt hinaus ekklesiologisch fundiert79 und eschatologisch überformt, freilich steht beim Tugendbaum das Leben als Tugend-Laster76 Zur Wechselseitigkeit von indiviuellem und ekklesiologischem Heilsverständnis und ihrer Grundlegung in der paulinischen Briefliteratur vgl. Cowling, Building the Text, S. 59 ff. 77 Vgl. I Cor 3,9–16 (Mensch als Tempel Gottes mit innewohnendem Geist Gottes), I Tim 3,15 (domum Dei als ecclesia Dei vivi), und I Th 5,11: Propter quod consolamini invicem et aedificate alterutrum sicut et facitis. Zur paulinischen aedificatio-Metaphorik vgl. Cowling, Building the Text, S. 60. 78 Damit ist man wieder bei der paulinischen Baumetaphorik, die schon bei den Ecksteinen der Mauer (Eph 2,20) evoziert wurde und hier neu in ekklesiologisch-eschatologischer Perspektive vorkommt: ad deum deorum conscendere inoffensi. Gemeint ist hier in Anlehnung an Ps 83,8 der ungehinderte Aufstieg zum Gott aller Götter auf Zion. Vgl. auch Ps 22,6. Individuelle Seelenerbauung und gemeinschaftlicher ›Kirchenbau‹ werden im Traktat zur Kirchweihe von St. Denis des Abtes Suger programmatisch zusammengeführt: Iam non estis, inquit [Paulus, Eph 2,20], hospites et advenae; sed estis cives sanctorum et domestici Dei, superaedificati super fundamentum Apostolorum et Prophetarum, ipso summo angulari lapide Christo Jesu, qui utrumque conjugit parietem, in quo omnis aedificatio, sive spiritualis, sive materialis, crescit in templum sanctum in Domino. In quo et nos quanto altius, quanto aptius materialiter aedificare instamus, tanto per nos ipsos spiritualiter coaedificari in habitaculum Dei in Spiritu sancto edocemur (De consecratione ecclesiae Sancti Dionysii [Ed. Panofsky], V,13–21). Vgl. dazu: McGinn, From Admirable Tabernacle, S. 41–56, hier: 48 f. 79 Zum Turm der Weisheit als corpus Christi vgl. Reudenbach, Säule und Apostel, S. 327 f.
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Kampf im Mittelpunkt, was dem Status der proficientes entspricht, beim Turm der Weisheit aber mehr die moralische Vollendung der perficientes im Zeichen christlicher Weisheit. Der Aufstieg im Weisheitsturm beginnt mit der Treppe der Busstugenden, dort, wo der mit den gleichen Tugenden textierte Cherub den Tugendbaum beschlossen hatte (Tafel X , fol. 5v). Viele der im Turm geordneten Tugenden sind monastische Tugenden; das im Begleittext mit eis skizzierte Zielpublikum könnte sich gleichwohl in erster Linie auf die Gruppe der perficientes beziehen. Man hätte dabei an Kleriker und Mönche zu denken, zu deren Erbauung das Lehrbild ursprünglich entworfen wurde.
3 Wissen und Weisheit Die Doppelseite 4v/5r (Tafeln VIII und IX ) besteht aus zwei sorgfältig gestalteten, figürlichen Darstellungen sowie mehreren, blockweise organisierten Textfeldern. Zwei Texte sind den Figuren auf die Röcke geschrieben, bilden gleichsam das Gewebe, in das die Figuren gekleidet sind. Präziser: Auf fol. 4v (Abb. 8) bildet der Text erst die Rockform; auf fol. 5r (Abb. 9) ist er in den bereits konturierten Rock der Figur inseriert. Thematisch lässt sich die Doppelseite wie folgt gliedern: Die Tafel VIII (fol. 4r) zeigt eine Illustration des Menschen als Mikrokosmos, die auf der Tafel IX (fol. 5r) oben durch ein Makrokosmos-Schema aus fünf konzentrischen, beschrifteten Kreisen1 ergänzt wird. Fol. 5r umfasst weiter eine zeichnerisch aufwendig gestaltete Verbildlichung des im Mittelalter sonst nur textlich tradierten Zwerg-Riesen-Gleichnisses. In engem Zusammenhang mit diesem Gleichnis stehen zwei Texte zur Einteilung und theoretischen Begründung der Philosophie. Im Folgenden werden beide Seiten kommentiert, wobei Figuren und Texte im Kontext ihrer Traditionen erläutert werden. In einem zweiten Schritt sollen mögliche Bedeutungszusammenhänge zwischen den Text-Bild-Ensembles offengelegt werden. Den Abschluss des Kapitels bilden einige Überlegungen zur Thematik und Funktion der Doppelseite im Handschriftganzen.
3.1 Erläuterungen 3.1.1 Der Mensch als Mikrokosmos Die Seite 4v (Tafel VIII ) zeigt einen zentriert platzierten, breitbeinig dastehenden, nackten Bärtigen, der auf beiden Oberarmen in roter Textura als Microco-smus beschriftet wird und über dem Kopf in schwarzer Textura betitelt ist. Die drei allesamt in schwarzer Bastarda geschriebenen Textfelder 1 Eine Ausnahme bildet der innerste Kreis, der nicht konzentrisch beschrieben, aber beschrieben ist.
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gliedern sich in einen als Rock geformten Text, der über der Taille der Figur seinen Anfang nimmt und mit einem vierzeiligen, etwas abgesetzten ›Saum‹ über den Füssen endet. Sechs nahezu seitenbreit angelegte Textzeilen dienen als Standfläche. Die Figur wird rechts von einer Beischrift flankiert.
3.1.2 Textquellen und Bildtraditionen Der Titelsatz über dem Kopf der Mikrokosmosfigur nennt das Thema: Ein yedleich sel vnd ein fleisch ist ein mensche gar (Tafel VIII.1). Der Mensch besteht demzufolge aus einem leiblichen und einem geistig-seelischen Teil.2 Die Leib-Seele-Thematik wird im Textblock rechts (Tafel VIII.2) aufgegriffen und eingebunden in den Zusammenhang der Erschaffung des Menschen.3 Die mikrokosmische Ordnung wird auf ihren Ordner zurückgeführt. Der Text lässt sich als erklärende Beischrift zur Mikrokosmosfigur lesen: Got der hat gemacht den menschen, als †ich† spricht, kürleich czw sam gelesen, ein ander werlt, ein sel vnd fleisch, mit der redleichait westatiget mit einer vnbegreiffentleicher schikung, vnd hat gemischet den geist vnd einen laymen der tugent. (Tafel VIII.2)
Gott hat den Menschen erschaffen aufgrund einer sorgfältigen Auswahl aus dem Weltganzen (kürleich czw sam gelesen), sodass dieser alles in sich ›verkörpert‹. Der Mensch, die ander werlt, ist in seiner Substanz und Struktur der erstgeschaffenen ›nachgemacht‹:4 in wunderbarer Fügung (mit einer 2 Belege zum Leib-Seele-Dualismus in: Lexikon der mittelalterlichen Zahlenbedeutungen, Ed. Meyer/Suntrup, Sp. 104. Gloy, ›Leib und Seele‹, in: TRE 20 (1990), S. 643–649, und Schrey, ›Leib/Leiblichkeit‹, in: ebd., S. 638–643. Vgl. Isidor, Etymologiae [Ed. Lindsay], XI ,4,10: Abusive autem pronuntiatur ex utraque substantia totus homo, id est ex societate animae et corporis. Zur LeibSeele-Vorstellung vgl. Mayer, Unversehrtheit des Leibes, S. 75–83, bes. 75–79. 3 Die Quelle wird angeführt – als †ich† spricht – ist aber nicht mehr genau auszumachen. Dieser Umstand ist charakteristisch für die Schwierigkeit, die Texte auf fol. 4v eindeutig Quellen zuzuordnen. Ich begnüge mich daher mit der Angabe von Texten aus dem Umfeld der Quellentexte. 4 Zur Bezeichnung des Menschen als alter mundus vgl. Isidor, Sententiae, I,8,1: Homo autem ex rerum universitate compositus, alter in brevi quodam modo creatus est mundus (PL 83,549). Bernardus Silvestris, Cosmographia (Ed. Dronke), II ,12,13 f.: Alter mundus – homo – sensus curaeque prioris et melioris eget. Dazu: d’Alverny, L’homme comme symbole, S. 123–183, hier: 172. Kranz, Kosmos, S. 169. Die Idee einer harmonischen Analogie zwischen Mensch (Mikrokosmos) und Welt (Makrokosmos) beruht auf Platons Annahme
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vnbegreiffentleicher schikung) mit Vernunft ausgestattet (mit der redleicheit westatiget);5 beseelt mit dem Hauch des Lebens (geist),6 der mit dem ›Lehm‹ der Tugenden (laymen der tugent)7 gemischt ist und so dem Geschöpf einen Körper gibt. Der als Rock gestaltete, in drei Abschnitte sich gliedernde8 Text (Tafel VIII.3.1) setzt beim Bauch als Mittelpunkt des Körperbaus an mit dem Vermögen des Menschen zur Selbstreinigung, einer Eigenschaft, die er mit dem Meer teilt, das ebenso nichcz vaygez vnd stinkchen‹d›s yn ym he‹l›t.9 Daran schliessen sich eine Analogie zwischen den vier Elementen und fünf Sinnen und, vom Resttext abgesetzt, die Entsprechung der Füsse mit der Erde an, beide von kalter Natur und Sinnbilder des bevorstehenden Todes. Die Korrespondenzen werden zweimal mit recht als eingeleitet. Verglichen werden in einem ersten Schritt das wazzer in dem mer und die gerechtichait dez menschen in dem leibe. Tertium comparationis ist die wegung dez meres bzw. das geprule und die wegung [. . .] von dem vnderisten auz gankcht des Menschen. In einem zweiten Schritt wird die sowohl dem Meer als auch dem Menschen eigene Kraft zur Selbstreinigung thematisiert: so wie das Meer weder »Faules« noch »Stinkiges in sich behält«, so reinigt sich auch der Körper täglich von Speise und Trank. Es folgt die Darlegung der haim-
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der Welt als beseeltes Lebewesen und der daraus resultierenden Zusammensetzung des Körpers aus den vier Elementen (Timaeus a Calcidio translatus [Ed. Waszink], 29e–47e, bes. 42e–43a). Zu Platons Mikrokosmos-Idee, ihrer Vermittlung und späteren Verbreitung in der lateinischen und volkssprachigen Literatur des Mittelalters vgl. Finckh, Minor Mundus Homo, bes. S. 27–37. Vgl. ebenfalls: Kurdzialek, Der Mensch als Abbild des Kosmos, S. 37–75, hier: 37–43. Belege zum Menschen als Mikrokosmos aus der Patristik und volkssprachigen Literatur sind zusammengestellt bei Freytag, Kommentar zur frühmittelhochdeutschen Summa theologiae, S. 79–83. Zum Menschen als vernunftbegabtem Leib-Seele-Wesen vgl. Augustinus, De civitate Dei (Ed. Dombart/Kalb), V,5: Fecit hominem rationale animal ex anima et corpore. Pseudo-Isidor, Differentiae, I,16,46: Homo est animal ex corpore animaque vivente compositum, atque spirituali compactione formatum, subsistens ratione [. . .] (PL 83,77). Atem, Hauch, Geist: spiraculum, spiritus. Das in der Genesis (2,7) erwähnte spiraculum vitae wird nach gängiger Lehrmeinung mit der substantia animae identifiziert. So bei Petrus Lombardus, Sententiae, II ,17,1 (PL 192,685). Der Begriff laymen der tugent interpretiere ich als ›Lehm der Tugenden‹, d. h. die Tugenden sind eine Art Lehm, der Körper und Geist ›zusammenhält‹. Die Abschnitte sind jeweils durch eine rubrizierte Majuskel gekennzeichnet. Es handelt sich hier um einen Vergleich zwischen der menschlichen Verdauung und den Bewegungen des Meeres.
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lichkeit zwischen dem Leib des Menschen und den voderisten tailen der werlt. Beide entsprechen einander aufgrund der sie teilenden und ordnenden vornu*tleichen gewalt: Die erde, die ‹ant›wort dem greiffen, daz wasser dem smakch, daz feur dem raukch, der luft dem horn. Daz funft wesen vnd daz funft tayl, daz do verstenst die gancz nature der werlt vnd yrem lauffe, oben von de‹m› elementen dez feurs vncz an den himel, daz do antwort dem sehen et cetera. (Tafel VIII.3.1)
Die Sinne-Elemente-Analogie10 ist hauptsächlich durch Augustinus an das Mittelalter weitergegeben worden.11 Diese dem Mittelalter gut bekannte Analogie variiert oft in der Zuteilung: Gehör- und Geruchsinn werden aus der oberen Luftschicht (Äther) und der unteren (Luft) abgeleitet,12 der Tastsinn aus der Erde, der Geschmacksinn aus dem Wasser und das Sehvermögen aus dem Feuer: Ex caelesti igne visum, ex superiore aere auditum, ex inferiore olfactum, ex aqua gustum, ex terra habet homo tactum.13 Den Augen kommt zugleich die ganze Himmelswelt zu, deren untere Grenze vom Feuergürtel begrenzt wird und aus zehn Sphären aufgebaut ist: Do verstenst die gancz nature der werlt vnd yrem lauffe, oben von de‹m› elementen dez feurs vncz an den himel (Tafel VIII.3.1). Die Differenzierung der beiden Luftschichten fehlt in der Analogie hier; der Geruchsinn wird gegen die Tradition dem Feuer statt der Luft zugeordnet. Dem Sehvermögen entspricht über dem Feuer die äusserste, sublunare Elementensphäre. Die Analogie reicht hier über den irdischen Bereich der vier Elemente hinaus: Die Augen sind Teil des Kopfes, der seiner Form nach den Himmelssphären ähnelt. Sie ermöglichen die Erkenntnis der gottgeordneten Welt.14 Der vierzeilige, vom Resttext abgesetzte Rocksaum (Tafel VIII.3.2) bietet eine Analogie zwischen den Füssen des Menschen und der Erde. 10 Terminologie der verschiedenen Analogien nach der Systematisierung von Finckh, Minor Mundus Homo, S. 469 ff. 11 De Genesi ad litteram, III ,4: Ideoque sunt etiam qui subtilissima consideratione quinque istos manifestissimos corporis sensus secundum quatuor usitata elementa ita distinguant, ut oculos ad ignem, aures ad aerem dicant pertinere. Olfaciendi autem gustandique sensum naturae humidae attribuunt: et olfactum quidem istis exhalationibus humidis, quibus crassatur hoc spatium, in quo aves volitant; gustatum vero istis fluxibilibus et corpulentis humoribus. (PL 34,281). 12 Die Unterscheidung geht auf Aristoteles’ Erweiterung der Elementenreihe um den Äther als fünften Grundstoff zurück. Vgl. Maurmann, Die Himmelsrichtungen, S. 35 f. 13 Vgl. Honorius von Autun, Elucidarium (Ed. Lefe`vre), I,59. Dazu: Finckh, Minor Mundus Homo, S. 54 f. 14 Mit der Fähigkeit zur Welterkenntnis verbunden ist die Selbsterkenntnis des
Erläuterungen
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Diese gleichen insofern der Erde, als sie trukchen vnd chalt sind yn irer nature und den tod dez siechen menschen [. . .] chunden. Die Erde ›holt‹ den Menschen wieder, die ›Sympathie‹ ihrer Eigenschaften kündigt bereits davon. Die Seite endet unten mit zwei weiteren Analogiereihen (Tafel VIII.4) zwischen der mynner werlt und der grossen werlt.15 Beide Analogiereihen sind hauptsächlich platonischer Provenienz und in den pseudo-isidorischen ›Differentiae‹ überliefert. Die erste (Tafel VIII.4.1) gliedert den Körper des Menschen nach den Weltbereichen: Ez ist weczaichent mit der prust daz fewr, mit dem pauch der lüft, mit den lenden vncz auff die chnie [daz wazzer, mit den chnien] czw end de‹r› fuezz das ertreich: Pectus aeri conjungitur, quia sic inde emittitur spiraminis flatus, sicut ex aere ventorum spiritus. Venter autem mari assimilatur, propter collectionem omnium humorum, quasi congregationem aquarum. Vestigia postremo terrae comparantur, eo quod sunt ultima membrorum arida, sive sicca, sicut et terra.16
Die Reihenfolge in R ist unter unreflektiertem Einbezug des Feuers (für die Brust statt für den Kopf) durcheinander geraten: die Brust entspricht dem Feuer statt der Luft, der Bauch der Luft statt dem Wasser. Der Bereich der Beine ist durch die Knie geteilt und entspricht dem Wasser und der Erde, anstatt dass allein die Füsse wegen ihrer Tragfunktion der Erde zukommen. Die zweite Analogiereihe (Tafel VIII.4.2) erhellt die Zusammenhänge zwischen Himmel und Mensch.17 Im Kopf des Menschen ortet sich das Menschen. Vgl. dazu: Harms, Der Mensch als Mikrokosmos, S. 553–584, hier: 557. 15 mynner werlt/grosse werlt ist das volkssprachige Äquivalent zu den lateinischen Begriffen minor (brevis, parvus) mundus/maior mundus. Die Textstelle geht auf Aristoteles zurück: Homo dicitur minor mundus (Physica, VIII ,2,252 b 26 f. Vgl. dazu: Les Auctoritates (Ed. Hamesse), S. 156 (205 und 233). Vgl. auch: Beda, De temporum ratione (Ed. Jones), XXXV ; Isidor, De natura rerum (PL 83), IX ,2, und Honorius von Autun, Elucidarium (Ed. Lefe`vre), I,59. Vgl. Lemoine, L’homme comme microcosme, S. 341–346, hier: 341. d’Alverny, L’homme comme symbole, S. 175. 16 I,17,49 (PL 83,78). Vgl. auch: Honorius von Autun, Elucidarium (Ed. Lefe`vre), I,59: Pectus in quo flatus et tussis versatur, simulat aerem, in quo venti et tonitrua concitantur. Venter omnes liquores, ut mare omnia flumina, recipit. Pedes totum corporis pondus, ut terra cuncta, sustinet. Vgl. dazu: Finckh, Minor Mundus Homo, S. 62 f. und S. 471, wie auch: d’Alverny, L’homme comme symbole, S. 172 f. 17 Die Analogie gliedert sich in drei Teile: Gott im Himmel und Geist im Haupt; drei Personen im Himmel und drei Seelenkräfte des Menschen; Himmel und Sonne/Mond und Haupt/Augen. Vgl. Schipperges, Die Kranken, S. 92 ff.
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Erkenntnisvermögen wie Gott im Himmel wohnt: Recht als yn dem himel got w‹o›nent ist, alzo der sin dez menschen chumet dem haupt.18 Weiter steht der Ternar der menschlichen Seelenkräfte g‹ehuht› (memoria), vernu*t (ratio) und wille (voluntas) in Analogie zur himmlischen Trinität.19 Der Text endet wiederum mit der herausragenden Rolle der Augen. Diese erleuchten Antlitz und Körper wie Sonne und Mond das Firmament (?):20 In dem hymel sind czwai liecht, [die] sun vnd der man; in dez menschen haupt sein czway¨ augen, dy doch erleuchten daz firmament21 dez antlucz vnd dez ganczen leibez. Die Illustration des Mikrokosmos-Menschen ist insofern sehr ungewöhnlich, als es sich hier nicht – wie man von der thematischen Vorgabe her erwartete – um die getreue Reproduktion des üblichen Mikrokosmos-Bildtyps, des homo ad circulum oder homo ad quadratum handelt.22 Dieser Bildtyp zeigt einen nackten Menschen mit ausgestreckten Armen und gespreizten Beinen, eingebunden in die geometrische Struktur des Kreises oder des Quadrats, die ihrerseits auf die engen Verflechtungen zum Kosmos als circulus oder orbis quadratus verweisen.23 Kreisdiagramm und Quadrat sind zwei Möglichkeiten, den Menschen über verschiedene Tetraden24 in Beziehung zum Weltgefüge von Raum und Zeit zu setzen.25 Kosmos und Mensch werden dabei von Kräften durchwirkt, die mit vielfachen Verbin18 Pseudo-Isidor, Differentiae, I,17,49: Jam vero in capitis arce mens collocata, tamquam in caelo Deus, ut ab alto speculetur omnia, et regat. (PL 83,78). 19 Entspricht der augustinischen Dreiteilung. Vgl. Anm. 85 u. 100. 20 Pseudo-Isidor, Differentiae, I,17,48: Caput namque ad coelum refertur, in quo sunt duo oculi, quasi duo luminaria solis et lunae. (PL 83,78). Honorius von Autun, Elucidarium (Ed. Lefe`vre), I,59: Caput ejus est rotundum in caelestis sphaerae modum; in quo duo oculi, ut duo luminaria in caelo micant; quod etiam septem formina, ut septem caeli harmoniae, ornant. 21 Vgl. dazu Die ›Süddeutsche Tafelsammlung‹ (Ed. Castelberg/Fasching), Anm. zu Tafel VIII.4.2. 22 Abb. in der unter Anm. 23 und 24 angeführten Literatur. 23 Vgl. Finckh, Minor Mundus Homo, S. 88–115, hier: 88. Reudenbach, In mensuram humani corporis, S. 651–688, hier: 656 f. 24 Esmeijer, Divina Quaternitas, S. 100–104. Sears, The Ages, S. 16–20. 25 Zwei bekannte Beispiele sind das ›Prüfeninger Mikrokosmosblatt‹: München, BSB , Clm 13002, fol. 7v (Abb. 67), und die Illustration zum ›Liber divinorum operum‹ der Hildegard von Bingen: Lucca, Biblioteca Statale, Ms. 1942, fol. 9r. Das Beispiel im Kodex aus Lucca ist zugleich die früheste vollständige Darstellung der Mikrokosmos-Figur. Abb. und weitere Beispiele bei Reudenbach, In mensuram humani corporis, S. 681–688. Auch: Holl, ›Mensch‹, in: LCI 3, Sp. 246–250.
Erläuterungen
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dungslinien verdeutlicht werden. Das ikonographische Ergebnis ist eine maximale Dichte an Entsprechungen und Einflüssen, die oft dadurch untermauert wird, dass sich Kreis und Quadrat überlagern und so die Bemühung um eine möglichst universale Analogie zusätzlich akzentuieren.26 Dem Bildtyp lassen sich zwei ikonographische Muster zugrunde legen, die antike vitruvianische Proportionsfigur und der daraus entwickelte homo signorum aus der Melothesie.27 Beide waren im Mittelalter bekannt, ersteres bis in die Zeit der Renaissance nur als Text,28 letzteres bereits seit dem frühen Mittelalter als Illustration.29 Der Bedeutungshorizont des Mikrokosmosmann-Bildtyps schwingt im ersten Teil der Handschrift mit – so im Tierkreiszeichenmann (Tafel II , fol. 1v) und in der Folge der Aderlassmänner (Tafeln III–VI , fol. 2r–3v) –, die Ausführung beschränkt sich aber auf die Darstellung allein des Menschen. Die Kreis- oder Quadratumgrenzung fehlt, wie auch die ausgestreckten Arme fehlen, so dass die Hauptaussage des Bildtyps, die Erhellung der Analogien zwischen kleiner und grosser Welt, gerade nicht geleistet wird. Im Gegensatz zum Beinbereich der Figur evozieren die lange Haar- und Barttracht, die Neigung des Kopfes, die gekreuzt gehaltenen Hände vor der Brust und die nur durch einen Rock bzw. Schurz bedeckte Nacktheit die Vorstellung Christi als Schmerzensmann.30 Damit werden aber Deutungshorizonte eröffnet, die – in Verbindung mit dem Text – weit über rein kosmologische Zusammenhänge hinausgehen im Sinne einer christlich überformten, antiken Anthropologie. Ich verfolge im Weiteren diese Deutungsrichtung, bin mir aber bewusst, dass 26 Vgl. Liebeschütz, Das allegorische Weltbild, S. 59 ff. 27 Vgl. Kapitel 1.1.2.1. Zur Systematisierung der Mikrokosmos-MakrokosmosSchemen vgl. Holländer, ›Weltall, Weltbild‹, in: LCI 4, Sp. 502 f. 28 Vitruv, De architectura (Ed. Fensterbusch), III ,1,4: Item corporis centrum naturaliter est umbilicus. Namque si homo conlocatus fuerit supinus manibus et pedibus pansis circinique conlocatum centrum in umbilico eius, circumagendo rotundationem utrarumque manuum et pedum digiti linea tangentur. Non minus quemadmodum schema rotundationis in corpore efficitur, item quadrata designatio in eo invenietur. Nam si a pedibus imis ad summum caput mensum erit eaque mensura relata fuerit ad manus pansas, invenietur eadem latitudo uti altitudo, quemadmodum areae, quae ad normam sunt quadratae. Vgl. Finckh, Minor Mundus Homo, S. 89–92. Reudenbach, In mensuram humani corporis, S. 655. von Einem, Der Mainzer Kopf, S. 15. 29 Saxl, Macrocosm and Microcosm, S. 61 und 67. 30 Zum Bildtyp vgl. Schiller, Ikonographie, Bd. 2, S. 210–243, bes. 210 ff. (Abb. 681–686). Belting, Das Bild und sein Publikum, S. 53–68. Panofsky, Imago Pietatis, S. 261–308, hier: 261 f. Bildbelege auch bei von der Osten, Der Schmerzensmann, Abb. 47–57.
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die Washingtoner Mikrokosmosfigur in ihrer Originalität nur bedingt mit Bildtypen-Traditionen in Verbindung zu bringen und in diesem festlegenden Sinn deutbar ist.
3.1.3 Makrokosmos, Divisio philosophiae und Nani-Gigantes-Vorstellung Die Seite 5r (Tafel IX ) enthält eine Anzahl dreispaltig organisierter Texte und Inschriften, ein Kreisschema und eine figürliche Darstellung.31 Es handelt sich dabei um eine Wiedergabe des Makrokosmos in einem Kreisschema, die Fortsetzung der vorangehenden Mikrokosmos-Darstellung, dann zwei Texte zur Divisio philosophiae und schliesslich eine bildliche Umsetzung des Nani-Gigantes-Topos. Dieser bestimmt massgeblich die optische Wahrnehmung der Seite.
3.1.4 Organisation der Seite Texte und Figuren sind geordnet: Alles Figurale ist in der mittleren Spalte untergebracht, oben das mit Macrocosmus bezeichnete Kreisschema, in der Seitenmitte der Riese mit dem geschulterten Zwerg. Der Riese ist auf dem Überrock textiert. Die linke Spalte enthält zwei Texte, einen Hinweis auf Isidors ›Etymologien‹ oben in schwarzer Textura, einen längeren Text zur Einteilung der Wissenschaften darunter auf Augenhöhe des Riesen in schwarzer Bastarda. Die rechte Spalte beinhaltet zwei Texte mit Beischriftcharakter, der eine steht oben im Rücken des Zwerges in Bastarda, der andere unten gegenüber dem Surcot in Textura. Den Schriftgrad der Textura verwendet der Schreiber für Texte und Wörter mit Überschriftcharakter und zusätzlich für den lateinischen Text auf dem Surcot des Riesen. Die rote Farbe wird einerseits für die Initialen und für die Rubrizierung der Majuskeln eingesetzt, andrerseits zur kontrastierenden Hervorhebung von Texteinheiten in Schemata und auf Figuren.32
31 Die Seite wird eingehend behandelt in: Wirth, Von mittelalterlichen Bildern, S. 256–370, hier: 275–278. Vgl. ders., Lateinische und deutsche Texte, S. 263– 266. 32 So bei den Hexametern zu den einzelnen Künsten auf dem Rock des Riesen oder bei den Inschriften der Makrokosmos-Rota. Gleich verfuhr der Schreiber bei der Gestaltung der Anfangsseite.
Erläuterungen
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3.1.5 Textquellen und Bildtraditionen Die Kommentierung der Texte und Bilder erfolgt nach den formalen33 und inhaltlichen Vorgaben der Seite: erstens die Makrokosmos-Thematik im linken oberen Seitenviertel, dann die Beischrift zum Riesen und die Hexameter auf seinem Surcot, gefolgt von der Beischrift zum Zwerg rechts und beschlossen durch den Text zur Einteilung der Wissenschaften links. Die Seite 5r (Tafel IX ) führt zunächst die Thematik von fol. 4v (Tafel VIII ) weiter mit einem präzisen Hinweis auf die bei Isidor im zweiten Buch der ›Etymologien‹ tradierte Elementenlehre: Caro autem ex quattuor elementis compacta est. Nam terra in carne est, aer in halitu, humor in sanguine, ignis in calore vitali.34 Dieser Verweis steht in engem Bezug zum MakrokosmosSchema in der mittleren Spalte, bestehend aus vier textierten Kreisbändern, die einen in Texturschrift mit Macrocosmus notierten Tondo umschliessen. Die Kreisbänder enthalten die Elemente Wasser, Luft und Feuer mit den vier Grundqualitäten in den Zweierkombinationen kalt – trocken (fehlt), kalt–feucht, heiss–feucht und heiss–trocken. Der fehlerhafte Spruch im äussersten Kreisband bezeichnet den Menschen als Abbild der machina mayores mundi (Tafel IX.2.4); sein Äusseres ist Sinnbild des Vergänglichen. So könnte der gereimte Hexameter interpretiert werden: Corporis humani †‹velamen›† est formula vani (Tafel IX.2.5).35 Ikonographisch gesehen ist das Qualitätenrad die angemessene Schematisierung, um die Verschränkung der Elemente zu veranschaulichen.36 Unser 33 Das ist: die Hierarchie der Schriften. 34 Ed. Lindsay, XI ,1,16. Vgl. Finckh, Minor Mundus Homo, S. 469. 35 Die Übersetzung könnte mit Vorbehalt lauten: ›Der Lauf der grösseren Welt ist gemacht als Abbild der kleineren, die Hülle des menschlichen Körpers ist Sinnbild des Nichtigen.‹ Die Handschrift bietet uel de hoc, das in keiner Weise einen Sinn ergibt. Anstelle des uel de hoc setze ich das fehlende Subjekt velamen (Hülle, Äusseres), das dann das Genitivobjekt corporis humani wie den Gleichsetzungsnominativ formula vani sinnvoll ergänzt und syntaktisch dem vorausgehenden Vers gleicht. Den Begriff machina mundi übersetzt man am besten mit ›Weltmechanik‹ oder ›Weltlauf‹. Der Begriff ist erstmals belegt in Lukrez’ ›De natura rerum‹ (Ed. Gigon), V,96. Vgl. dazu: Mosimann, Die »Mainauer Naturlehre«, S. 191, und Speer, Die entdeckte Natur, S. 191. Vgl. Wilhelm von Conches, Dragmaticon (Ed. Ronca/Badia/Pujol), II ,6. Vgl. auch: Hermes Trismegistus, Liber de sex rerum principiis (Ed. Lucentini/ Delp), III ,9,3–6. Walther, Carmina, Nr. 14179: Machina mundana nec habet nec dat nisi vana,/ Sola dat arcana mens sano corpore sana. 36 Die simpelste Form dieses Schematyps findet sich in Isidors ›De natura rerum‹ (PL 83,981). Hinter dem Schema steht die Vorstellung, die Elementenquali-
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Beispiel hingegen erinnert eher an gängige Sphärenmodelle.37 Die Kreisbänder sind im Uhrzeigersinn mit Einzelsätzen zu den Elementen beschrieben und nach Gravität von innen nach aussen angeordnet. Die kleinste Ordnungseinheit ist der Kreis. Dieser wird nicht weiter radial segmentiert, sodass Ordnungen und Abhängigkeiten der Qualitäten sichtbar würden. Im Mitteltondo müsste statt der Betitelung das ausbleibende Element ›Erde‹ vorkommen. Die zwei Schematypen ›Qualitätenrad‹ und ›Sphärenmodell‹ sind hier offenbar durcheinandergeraten. Isidor-Zitat und Rota bilden thematisch eine Einheit, die – von links nach rechts gelesen –, über die gemeinsame Vierheit an den gegenüberliegenden Inhalt anknüpft und vom Kleinen zum Grossen schreitet. Zu denken ist hier an den Mikrokosmos-Mann aus dem ›Hortus deliciarum‹ der Herrad von Landsberg.38 Auch hier besteht der Leib des Menschen idealtypisch aus den vier Elementen, die nach ihrem Gewicht die oberen und unteren Ecken des Bildes einnehmen. Die Analogie findet hier ihre Fortsetzung in der Entsprechung des runden Kopfs mit den sieben Planetensphären und der beiden Augen mit Sonne und Mond.39 Die beiden Strahlen zur Sonne und zum Mond befinden sich entsprechend ihrer Zuordnung über dem rechten bzw. linken Auge. Diese sind als Strahlen um den Kopf angeordnet. Auch hier folgt auf die substancia corporis die Begründung der Seele in der göttlichen Trinität.40 In der mittleren Spalte steht der Riese mit dem Zwerg. Die Zeichnung wird rechts des Rockes in fehlerhaften, gereimten Hexametern erläutert, wobei der Reim in Überkreuzstellung wechselt:
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täten würden sich wie Arme verschränken: Quasi quibusdam brachiis se invicem tenent et discordem sui naturam concordi foedere vicissim commiscent (Honorius von Autun, Imago mundi, PL 172,121). Belege zur Tradition des Qualitätenrades bei d’Alverny, Le cosmos, S. 31–81, hier: 75 f. Maurmann, Die Himmelsrichtungen, S. 19. Sears, The Ages, S. 17. Holländer, ›Weltall, Weltbild‹, in: LCI 4, Sp. 500 f. Die inneren vier Kreise des Modells, die Elementensphären, sind dabei konzentrisch angeordnet und definieren den sublunaren Bereich des Kosmos. Vgl. Kapitel 1.1.1.2 (Sphärenschema). Ed. Green u. a., Abb. 9 (Bd. »Reconstruction«) und S. 96 (Bd. »Commentary«). Die Auffassung von einer Analogie zwischen den Elementen-/Himmelssphären und dem Menschen darf als allgemein bekannt angenommen werden und findet sich entsprechend in den ›Sentenzen‹ des Petrus Lombardus: Illi qui his auctoritatibus et aliis hujusmodi inhaerentes dicunt quatuor elementa atque coeli luminaria ita formata simul esse [. . .]. (Sententiae, II ,15,5 [PL 192,682]). Hortus deliciarum (Ed. Green u. a.), Bd. 2, S. 96.
Erläuterungen
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Nostri maiores vita studioque priores Corpore min‹a›nt‹i›s formam ten‹u›ere gigantis. Per ignem vero nos ipsos equi peramur, Si perscrutamur sensu su‹a› dogmata vero.41 (Tafel IX.5) Unsere Vorfahren, die uns nach Leben und Studium vorausgingen, haben die Gestalt eines mit seinem Körper aufragenden Riesen besessen. Durch Eifer [Weitsicht?] aber werden wir ihnen gleichgestellt [d. h. erreichen wir sie], wenn wir mit gehörigem, wahrem Verständnis [ihre] Lehren erforschen.
Der Text greift einen Topos auf, der im ›Metalogicon‹ des Johannes von Salisbury (um 1159) als Zitat Bernhards von Chartres ausgegeben wird.42 Thematisiert wird das Lernen der Neuen (moderni) am Vorbild der Alten (antiqui). Die Nachfahren sehen aufgrund ihres Emporragens mehr und weiter als die sie tragenden Ahnen. Das hier vorliegende Beispiel setzt die Akzentuierung etwas anders und reiht sich in die alternative Interpretation des Topos ein, die mit Wilhelm von Conches ihren Anfang nimmt. Danach sind die moderni zwar scharfsichtiger als die antiqui, aber nicht weiser.43 Den moderni gebührt allein der Vorteil der späteren Geburt.44 41 Zum Topos vgl. Speer, Die entdeckte Natur, S. 76–85, bes. 76 ff. Jeauneau, »Nani gigantum humeris insidentes«, S. 79–99. Haug, Die Zwerge, S. 167–194, bes. 169 ff. 42 Ed. Hall/Keats-Rohan, S. 116,47 f., III ,4: Dicebat Bernardus Carnotensis nos esse quasi nanos gigantum umeris insidentes, ut possimus plura eis et remotiora videre, non utique proprii visus acumine aut eminentia corporis, sed quia in altum subvehimur et extollimur magnitudine gigantea. 43 Wilhelm von Conches, Priscian-Kommentar (vor 1123) (Ed. Jeauneau, S. 358): Auctores cujus, grammaticae, quanto juniores, posteriores, tanto perspicaciores. Bene dicit quia moderni perspicaciores sunt quam antiqui, sed non sapientiores. Antiqui non habuerunt scripta nisi ea quae ipsi composuerunt. Nos autem habemus omnia eorum scripta et omnia insuper quae ab initio usque ad nostrum tempus fuerunt composita. Et ita plura perspicimus illis sed non plura scimus. Multo major enim sapientia est nova invenire [. . .]. Unde sumus quasi nanus aliquis humeris gigantis superpositus. Zur Frage, ob die antiqui oder die moderni weiser sind, vgl. Gössmann, »Antiqui« und »Moderni«, S. 40–57, hier: 54–57, und Leuker, Zwerge, S. 71–76, hier: 72 ff. 44 Vgl. ebd. Tobias Leuker sieht im Vergleich zu Pythagoras bei Bernhard und Wilhelm eine »neue Proportionalität« zwischen antiqui und moderni: »Der fundamentale Unterschied zwischen dem Bild des Griechen und dem daraus abgeleiteten Gleichnis Bernhards besteht darin, dass der mittelalterliche Gelehrte seine Vorläufer (und damit allgemein die Vorläufer der moderni) nicht abwertet, sondern im Gegenteil mit dem Riesen identifiziert. Tertium comparations war dabei validitas, in den ›Metamorphosen‹ [des Pythagoras] ›Stärke‹, jetzt zusätzlich ›Gültigkeit‹. Aus der neuen Proportionalität spricht Bern-
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Der Riese ist als Bärtiger mit grüssend erhobener Rechter gezeichnet. Die Kopfbedeckung mutet antik an und sollte vielleicht ›Altertum‹ signalisieren.45 Darunter quillt gelocktes Haar hervor. Der Surcot ist an Hals- und Armöffnungen wie auch am Saum mit rautenverzierten Borten besetzt. Auf der linken Schulter sitzt rittlings ein Knabe in weitem Gewand, der mit dem Zeigefinger seiner vorgestreckten Rechten in die Ferne – und zugleich auf den deutschen Text über die Einteilung der Philosophie in der linken Spalte hinweist. Der Riese erhebt Aufmerksamkeit heischend seine Rechte – die ungeschickt gezeichnete Linke zeigt ebenfalls auf den Text. Beide Figuren sind geringfügig rötlich koloriert. Der Topos des Zwerges auf den Schultern des Riesen ist allseits bekannt, eine ikonographische Realisierung liegt jedoch in den bisher bekannten mittelalterlichen Bildquellen nur hier vor. Verwandte Bildtypen sind am prominentesten vertreten im Bild des riesenhaften Christusträgers Christophorus, ebenfalls bekannt in der Darstellung der von den Propheten getragenen Apostel oder Evangelisten46 oder schon im Bild des Herakles als Träger des kleinen Eros.47 Dem Surcot ist ein Dutzend lateinischer Hexameter eingeschrieben (Tafel IX.6). Der Text ist optisch gegliedert48 in einen ersten Teil (Tafel IX.6.1), bestehend aus vier Versen, die erklären, worüber die Philosophie unterrichtet, und in die restlichen acht, abwechselnd schwarz-rot geschriebenen Verse, welche die sieben Artes liberales charakterisieren (Tafel IX.6.2). Der letzte Vers schliesslich stellt der Philosophie die Frömmigkeit gegenüber, deren Vorrangstellung ausdrücklich betont wird: Vi‹t›e gutta pie p‹re›it omni philosophie (›Ein Tropfen frommen Lebens geht aller Philosophie voraus‹).49
45 46 47 48 49
hards Verehrung für die antiqui, die ihn von denjenigen seiner Zeitgenossen abhob, die wie Pythagoras glaubten, verächtlich auf die Leistungen früherer Generationen blicken zu können.« Vgl. Wirth, Lateinische und deutsche Texte, S. 263. Vgl. Aurenhammer, ›Apostel‹, in: LCI 1: Alpha und Omega, S. 218 f. Haug, Die Zwerge, S. 185. Re´au, Iconographie, Bd. 3,1, S. 308. Vgl. auch den Essay von Merton, Auf den Schultern von Riesen, S. 156–164 (Abb. 1–7). Die zwei Textabschnitte sind zu Beginn jeweils mit einer rubrizierten Majuskel gekennzeichnet. Der Vers erscheint neben einer Darstellung der Philosophie in: München, BSB , Clm 2599, fol. 101v. Die Philosophie wird im Bildtyp der ›Philosophia-Sapientia‹ als regina pia beim Überwinden des heidnischen Hochmuts dargestellt. Vgl. Wirth, Von mittelalterlichen Bildern, S. 323 (Abb. 44a). Stolz, Artesliberales-Zyklen, Bd. 1, S. 154 f. und Bd. 2, S. 770 (Abb. 6). Vgl. Kapitel 5.2.1.
Erläuterungen
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Die Philosophie lehrt, sozial angemessen zu entscheiden – docet inquirere, quid sit honestum;50 die Verdienste ihrer einzelnen Disziplinen kannten bereits die Alten – quarum virtutes sciere parentes (Tafel IX.6.1). Die freien Künste werden der Reihe nach vorgestellt (Tafel IX.6.2): die Grammatik befähigt zur richtigen Sprache (recte loqu‹i›), die Rhetorik bemüht sich um die schöne Rede (verba polire), die Dialektik sucht nach der Wahrheit (sc‹r›utatrix rerum per‹h›ib‹e›t [. . .] verum), die Arithmetik hütet die Zahlen (invigil‹a› numer‹i›s), die Geometrie vermisst die Erde (metitur spacia terrarum), die Musik erzeugt Melodien (dat modulos) und die Astronomie gibt die Bewegungen der Gestirne weiter (motus astrorum tradit). Die Beischrift des Zwerges (Tafel IX.4) beginnt mit einem Zitat aus dem zehnten Buch von Gregors ›Moralia in Iob‹, das wortwörtlich übersetzt worden ist: Cuncta tamen ad solum referri hominem possunt, ut ipse sit caelum cum iam per desiderium summis inhaereat; ipse infernus cum, temptationum suarum caligine perturbatus, in infimis iacet; ipse terra quia in bono opere fixae spei ubertate fructificat; ipse mare quia in quibusdam trepidus quatitur, et aura suae mutabilitatis agitatur.51
›Der Mensch verkörpert zugleich Himmel und Hölle, Erde und Meer: den Himmel, weil er in seinem Verlangen nach dem Höchsten strebt (mit wegerung anhenget de‹n› obristen dingen); die Hölle, weil er in der Blindheit seiner Versuchungen sich verwirrt (mit seyner chorung sic‹h› selben betrubt mit den vndristen vinsternussen); die Erde, weil er in gutem Handeln und steter Hoffnung überreiche Frucht trägt (mit gutten werkch, mit guter hoffnung frucht pringet); das Meer schliesslich, weil dieses durch bestimmte Unruhen erschüttert wird und das Wetter durch seine Unstetigkeit in Bewegung versetzt (in ettlicher sachen pidmet vnd daz wetter mit seiner vnstet iagende ist).‹ Der Textabschnitt Tafel IX.4 schliesst mit einem naturkundlichen Plinius-Zitat,52 das bei Augustinus überliefert ist:53 Ie mer der mensch der werlt lauff vnd leibez natur volgent ist, ye mer daz flei‹s›che des menschen genayget ist czw der werlt. Das Zitat wird moralisiered umgeschrieben. Wäh50 Walther, Proverbia, Nr. 14073. 51 Ed. Adriaen, X,IX ,15. 52 Plinius der Ältere, Naturalis historia (Ed. Rackham), VII ,XVI ,73: In plenum autem cuncto mortalium generi minorem in dies fieri propemodum observatur rarosque patribus proceriores, consumente ubertatem seminum exustione, in cuius vices nunc vergat aevum. 53 De civitate Dei (Ed. Dombart/Kalb), 48,XV ,9.
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rend bei Plinius und Augustinus lediglich davon die Rede ist, dass die Natur, je weiter der Weltlauf fortschreitet, um so kleinere Menschenkörper erzeugt54 – quanto magis magisque praeterit saeculi excursus, minora corpora naturam ferre testatur55 –, steht hier die Weltverfallenheit des Menschen im Mittelpunkt. Das Fortschreiten des Weltlaufs wird zur Hingabe des Menschen an den werlt lauff und an die leibez natur – Ie mer der mensch der werlt lauff vnd leibez natur volgent ist; die schrumpfende Körpergrösse zum Ausdruck der Weltneigung des Fleisches – ye mer daz flei‹s›che des menschen genayget ist czw der werlt. Gegenüber in der linken Spalte (Tafel IX.3) wird die Dreiteilung der Philosophie mit weiterführender Differenzierung behandelt.56 Die erste Teilung in naturleich, redleich und ‹sittleich›57 entspricht der klassisch platonischen in philosophia naturalis (physica), philosophia rationalis (logica) und 54 Plinius (Naturalis historia [Ed. Rackham], VII ,XVI ,73) begründet im Gegensatz zu Augustinus das Schrumpfen der Menschheit: Der Weltenbrand mindert die Fruchtbarkeit des Samens (consumente ubertatem seminum exustione). 55 Ebd. 56 Im Mittelalter umfasst die Philosophie alle weltlichen Wissenschaften, fungiert in der Regel als Dachbegriff für die einzelnen scientiae. Vgl. Kapitel 2.4 in Teil B. In der Praxis des mittelalterlichen Wissenschaftsbetriebs wird die Philosophie in die seit der Spätantike kanonisierten septem artes liberales unterteilt. Definitorisch fusst der Terminus auf spätantiken Vorbildern wie Boethius, Cassiodor und Isidor. So wird die philosophia bei Boethius nach der Etymologie philosophia – amor sapientiae emanatorisch auf das Göttliche bezogen (In Porphyrium dialogi, PL 64,10 ff.). Isidor definiert sie von ihrem Gegenstand her, auf Augustinus fussend (De trinitate [Ed. Mountain/Glorie], XIV ,1), als probabilis scientia divinarum humanarumque rerum (Etymologiae [Ed. Lindsay], II ,24,9), Cassiodor von ihrer Vorrangstellung her als ars artium et disciplina disciplinarum (Institutiones, PL 70,1167 f.). Die Philosophie wird hauptsächlich nach der aristotelischen (Boethius) oder platonischen (Augustinus) Systematik klassifiziert. Diese Einteilungen verzweigen sich unter anderem in das Trivium und Quadrivium. Zu den PhilosophieKonzepten im Mittelalter grundlegend: Christoph Huber, PhilosophiaKonzepte, S. 1–22, hier: 3–6. Wirth, Von mittelalterlichen Bildern, S. 273 f. Köpf, Die Anfänge, S. 39 f. 57 Der Text bietet hier todleich, also die Übersetzung von mortalis statt moralis. Philosophie wird in platonischer Tradition als meditatio mortis definiert (Phaedo [Ed. Minio-Palvello], 64A; 67D). Vgl. Isidor, Etymologiae (Ed. Lindsay), II ,24,9: Philosophia est meditatio mortis, quod magis convenit Christianis qui, saeculi ambitione calcata, conversatione disciplinabili similitudine futurae patriae vivunt. Vgl. ebenfalls: Cassiodor, Institutiones, II ,3,5 (PL 70) und Hugo von St. Viktor, Didascalicon (Ed. Offergeld), II ,1.
Erläuterungen
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philosophia moralis (ethica).58 Zwei der drei weiterführenden subdivisiones entsprechen dann aber der aristotelischen Klassifikation, welche die metaphysica (theologia), mathematica und physica der theoretischen Philosophie zuweist (Tafel IX.3.1.1), die ethica (monastica), oeconomica und politica der praktischen Philosophie (Tafel IX.3.3.1).59 Die Logik deckt sich mit der lateinischen Einteilung des Triviums. Die zwei griechischen divisiones und das lateinische Artes-System ergänzen sich zu einer vollständigen Schau der Philosophie, die mit der Trinität und dem aus ihr entwickelten Ternar macht dez vaters (Tafel IX.3.1), weishait dez suns (Tafel IX.3.2) und gute dez heiligen geist (Tafel IX.3.3) zur Deckung gebracht wird.60 Die subdivisiones werden konsequent auf die drei göttlichen Personen bezogen:61 naturleich handelt [von der natur] dez wesens: Daz selb weist er in die sach [der] macht dez vaters (Tafel IX.3.1) − methaphisica spricht von den dingen des [himels] [. . .] wegynn dez vaters (Tafel IX.3.1.1) − mathematica spricht von der czal vnd der figur [. . .] pild dez suns (Tafel IX.3.1.1) − phisica spricht von der natur vnd von der tugent vnd von der eyngiessenten machu‹ng› [. . .] gab dez heligen geist (Tafel IX.3.1.1) redleich betrifft das vernemmen der redleichait, daz sich weist in die weishait dez suns (Tafel IX.3.2) − gramatica macht geweltig auffleger (Tafel IX.3.2.1) − loyca − rethorica die do stent yn yrm wesen als dye heilig driualtichait (Tafel IX.3.2.1) ‹sittleich› handelt von der or‹d›nung dez lebens, daz vns weiset yn die gute dez heiligen geist (Tafel IX.3.3) − m‹o›n‹a›stica dez vaters stettichait (Tafel IX.3.3.1) − yco‹n›o‹m›ica dez suns dinstlichait (Tafel IX.3.3.1) − politica dez heiligen geist frey¨lichait (Tafel IX.3.3.1)62 58 Vgl. Isidor, Etymologiae (Ed. Lindsay), II ,24,3 f.: Die physica hat die causa quaerendi zum Gegenstand, die logica die ratio intellegendi, die ethica den ordo vivendi. Zur Einteilung der Philosophie vgl. Weijers, Le maniement du savoir, S. 187–198, hier: 187. Vgl. auch: Klinkenberg, Divisio philosophiae, S. 3–19, hier: 3 f. 59 Vgl. Wirth, Lateinische und deutsche Texte, S. 277. 60 Vgl. Weijers, Le maniement du savoir, S. 193. Das lateinische Pendant dazu lautet potentia, sapientia und benignitas/bonitas. Vgl. die Quellenangaben in: Lexikon der mittelalterlichen Zahlenbedeutungen, Sp. 221. 61 Übersicht nach Wirth, Von mittelalterlichen Bildern, Abb. 5b. 62 Die lateinischen Äquivalente lauten constantia, reverentia und liberalitas.
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Alle Disziplinen haben regel gewislich vnd vntrugenlich (Tafel IX.3.4). Der Textabschnitt endet mit einer Analogie zwischen den Regeln der Künste und dem ewigen Gesetz, nach dem die Gestirne kreisen.63
3.2 Interpretation 3.2.1 Die Mitte der Handschrift Die Doppelseite 4v/5r (Tafeln VIII und IX ) stellt nicht nur strukturell die Mitte der Tafelsammlung dar. Eine Art Mitte inhaltlicher Art bildet der thematische Schwerpunkt ›Mikrokosmos – Makrokosmos – Divisio philosophiae‹. Das Wissen um die wesentlichen Entsprechungen zwischen Mensch und Welt werden in idealer Weise ergänzt durch die Weisheit hinsichtlich der philosophischen Disziplinen und deren Analogisierung mit der göttlichen Trinität.
3.2.1.1 Mikrokosmos Die mittelalterliche Auffassung vom Menschen als Mikrokosmos ist eine kosmologische wie theologische Realität. Die Verschmelzung von antiker Mikrokosmos-Theorie und christlichem Gedankengut bildet eine entscheidende Voraussetzung für ein adäquates Verständnis mittelalterlicher Mikrokosmos-Darstellungen. Eine Konstante solcher Bildlichkeit zeigt sich im Bestreben, die zwei Vorstellungen vom Menschen als Ebenbild des Kosmos und als Ebenbild Gottes in Übereinstimmung zu bringen.64 Beide Vorstellungen wurden überbrückt mit dem Verweis auf die Erschaffung des Menschen als Summe des Sechstagewerks. In dieser Sichtweise fallen Kosmos- und Gottesanalogie des Menschen zusammen und werden über ihre substantiellen Entsprechungen hinaus durchlässig für typologisch-heilsgeschichtliche Bedeutungen.65 Ich setze hier vorteilhaft mit der Interpretation der Washingtoner Illustration ein, zumal bereits Textanordnung und Bildsignale deutlich in die Richtung eines Syntheseversuchs antiker und christlicher Auffassungen weisen.66 Die Überschrift (Tafel VIII.1) gibt die Grundstruktur des Men63 64 65 66
Vgl. Kapitel 3.2.2. Ohly, Zur Signaturenlehre, S. 98 f. Vgl. Reudenbach, In mensuram humani corporis, S. 659 f. und 665. Eine Interpretation, wie ich sie im Folgenden vorschlage, vermittelt einen
Interpretation
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schen vor. Auf der Dualität von Leib und Seele gründen alle daraus entwickelten Ternare und Tetraden. Leib und Seele verweisen auf die irdische und himmlische Beschaffenheit des Menschen:67 Die leiblich-irdische zeigt sich in der Sinne-Elemente-Analogie oder im Vergleich der Körperzonen mit den Weltbereichen, die seelisch-himmlische in den Analogien zwischen dem Himmel und dem Haupt des Menschen als Sitz erkenntnisfördernder Anlagen wie Sehen, Denkvermögen und Seelenkräften. Hinter der Verwobenheit triadisch-tetradisch organisierter, teils sich ergänzender, teils miteinander konkurrierender Analogiereihen steht ein Deus fecit. Diese Aussage – got der hat gemacht den menschen – befindet sich als kurzer Kommentar rechts vom Rock des Mikrokosmos (Tafel VIII.2) und führt die Analogien auf Gottes kürleiche Mischung zurück. Der Mensch ist als imago Dei erschaffen worden68 – seine Ausstattung mit redleichait lässt ihn seelisch zum Abbild der Trinität des Schöpfers und zugleich leiblich zum Abbild des von ihm geprägten Kosmos werden.69 Beide, Welt und Mensch, sind das Händewerk Gottes, das nach Mass, Zahl und Gewicht im Grossen wie im Kleinen gleich proportioniert ist.70 Mit der Angleichung der Mikrokosmosfigur an den Bildtyp des Schmerzensmannes weitet sich ihr Bedeutungsspektrum in typologische Zusammenhänge aus. Der Bildlichkeit des Schmerzensmannes ist die göttliche Erlösungstat am Kreuz immanent. Die Darstellung Christi überlagert dabei den kosmologischen Inhalt des Mikrokosmos-Menschen, erlaubt den typologischen Bezug zum ersten, der Erde entnommenen vetus Adam und weist zugleich voraus auf den zweiten, himmlischen novus Adam. Adam
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durch die oben diskutierten Texttraditionen und Bildtypen motivierten Zugang zu den Inhalten, einen Zugang unter vielen. Die Komposition des Kosmos (Gn 1,1: In principio creavit Deus caelum et terram) charakterisiert die Struktur des Menschen. Dieser Gedanke ist geläufig und omnipräsent in der patristischen Literatur. Vgl. Lactanz, De origine erroris, II ,13: Constat enim ex anima et corpore, id est, quasi e coelo et terra, quandoquidem anima, qua vivimus, velut e coelo eritur a Deo, corpus e terra, cujus e limo diximus esse formatum (PL 6,319 f.). Dazu: Schade, Homo caelestis, S. 198–214, hier: 202. Gn 1,27. So bei Hildegard von Bingen, Liber divinorum operum (Ed. Derolez/Dronke, S. 49), I,2: Eternitas itaque Pater, uerbum Filius, spiramen he˛c duo connectens Spiritus Sanctus dicitur, sicut etiam Deus in homine, in quo corpus, anima et racionalitas sunt, signauit. Vgl. dazu: Bronder, Das Bild der Schöpfung, S. 188–210, hier: 196 ff. Sap 11,21: Omnia in mensura, et numero, et pondere disposuisti.
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verkörpert in der typologischen Bibelexegese71 und Adamsspekulation72 Mensch und Schöpfung schlechthin, Christus antitypisch dazu den neuen Menschen und die Erlösung im Zeichen des Kreuzes. Damit schliesst sich der Kreis: Der Tod Christi am vierarmigen Kreuz steht in enger Verbindung mit der Vierheit des erretteten Kosmos.73 Die ›Washingtoner Figur‹ steht in der Tradition mittelalterlicher Mikrokosmos-Darstellungen. Durch die Kontamination mit der Ikonographie des Schmerzensmannes hat sich die Aussage von der ursprünglichen Ausrichtung auf kosmologische Zusammenhänge zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos zu einer interpretatio christiana hin verlagert. Damit konzentriert sich die Darstellung auf eine Lesart des Kosmosmenschen als Christus, eine Aussage freilich, die in den meisten Mikrokosmos-Darstellungen durch die Haar- und Barttracht der Figur vorbereitet ist.74 Bezeichnend für diese Akzentverschiebung – darin geht das Washingtoner Beispiel über vergleichbare Darstellungen wie das ›Prüfeninger Mikrokosmosblatt‹ hinaus – ist die bereits erwähnte Handhaltung der Figur: die gekreuzten Hände verweisen auf den Menschen selber beziehungsweise auf Christus als menschgewordenen Erlöser.75 Die gängige Bildtradition des Mikrokosmosmenschen dagegen fordert die zur Umfassungsfigur hin ausgebreiteten 71 Die Typologie ›Adam-Christus‹ ist angelegt in I Cor 15,22 (Et sicut in Adam omnes moriuntur, ita et in Christo omnes vivificabuntur), I Cor 15,47 (Primus homo de terra terrenus, secundus homo de caelo caelestis) und Rm 5,14 (In similitudinem praevaricationis Adae qui est forma futuri). 72 Die Adamsspekulation geht auf das apokryphe Henoch-Buch zurück (30,8 f; 30,13 f.). Danach bezeichnen die vier Anfangsbuchstaben die vier Himmelsrichtungen in griechischer Sprache. Diese Vorstellung Adams verschmilzt so mit der antiken Vorstellung des Kosmosmenschen. Vgl. Augustinus, In Iohannis evangelium tractatus (Ed. Willems, S. 108), X,12. Dazu: Reudenbach, In mensuram humani corporis, S. 658 ff., und von Einem, Der Mainzer Kopf, S. 21 f. 73 Vgl. Honorius von Autun, Elucidarium (Ed. Lefe`vre), I,149: Auf die Frage nach dem Grund des Kreuzestodes antwortet der Lehrer: Ut quadrifidum mundum salvaret. Vgl. dazu: Bronder, Das Bild der Schöpfung, S. 201 ff. Zu denken ist hier auch an die Ikonographie des Schöpfers mit Kreuznimbus. 74 Vgl. dazu die christusähnlichen Mikrokosmos-Menschen des ›Prüfeninger Mikrokosmosblattes‹ (vgl. Anm. 25 [Abb. 67]) oder der Illustration zu Thomas von Cantimpre´s ›De naturis rerum‹: München, BSB , Clm 2655, fol. 104v. Zu den Überlieferungskontexten vgl. Kapitel 2.4 in Teil B. Abb. bei Finckh, Minor Mundus Homo, S. 96 und 101. 75 Zur Bedeutung der gekreuzten Handhaltung vgl. Garnier, Le langage de l’image, Bd. 1, 184 f. und 216. Garnier umschreibt sie als »acceptation d’une condition/situation«, also als eine Art Demutsgestus.
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Arme und geöffneten Hände, die Offenheit für kosmologische Entsprechungen signalisieren. Man hat wohl auch mit Überlagerungen aus der Christophorus-Ikonographie76 oder Riesen-Ikonographie – zu rechnen, die für die gegenüberliegende Illustration des Zwerg-Riesen-Gleichnisses Pate gestanden haben könnte. Augenfällig ist die Ähnlichkeit beider Figuren, was den Gesichtsausdruck und die riesenähnliche Haar- und Barttracht angeht. Im Weiteren passt die ausführliche Beschriftung und ›Umschriftung‹ der Figur zu dieser auch andernorts festgestellten Tendenz des Schreibers.77 Die Gliederung des Körpers wird textlich en bloc vermittelt und nicht als kurze Beischrift neben dem entsprechenden Körperteil, wie bei MikrokosmosDarstellungen üblich.78 Eine enge Text-Bild-Integration, die systematisch Aussage um Aussage mit einem Bildausschnitt verknüpft, muss hier – abgesehen vom ›rockbildenden‹ Text – vom Rezipienten erst geleistet werden. Im ›Rocktext‹ beginnt die Analogie zwischen Wasser (Meer) und Bauch bezeichnenderweise beim Bauch. Die Analogie zwischen Erde und Füssen endet in Fussnähe. Durch die Absetzung der vier Zeilen wird die Rockillusion aber durchbrochen. Im Endergebnis bleibt die Darstellung in der Schwebe zwischen einer stimmigen Kontamination von Versatzstücken konventioneller Bildtypen und einem ad hoc-Konglomerat richtig empfundener, aber unbewusst entstandener Bildvorstellungen. In jedem Fall durchdacht ist die Kompilation der Texte und Bilder sowie ihre gegenseitigen thematischen Bezüge. Dies gilt für R, unabhängig davon, ob wir es mit der eiligen Kopie einer (viel) früher entstandenen Vorlage oder mit dem TextBild-Arrangement als singuläre Leistung eines Concepteurs zu tun haben. Dieses bildet in Ergänzung mit den Inhalten der gegenüberliegenden Seite das inhaltliche Zentrum der Handschrift.
3.2.1.2 Vielförmige Weisheit Die Doppelseite 4v/5r scheine beim ersten Hinsehen disparat, besonders in der Vielfalt der Themen, und sie bleibe es auch bei näherer Auseinandersetzung, hat Karl-August Wirth festgestellt.79 Ich möchte im Folgenden 76 77 78 79
Exner, Wandlungen, S. 11 ff. (mit Abb.). Vgl. die Textierung des Fortunarades auf fol. 8v (Tafel XVI ). So bei den geläufigen Mikrokosmos-Darstellungen. Vgl. Anm. 23 und 24. »Die figura [Riese und Zwerg] hat mit der Erörterung über die Relation von Macrocosmus und Microcosmus nicht das mindeste zu tun, sondern ist m. W. die einzige bisher feststellbare bildliche Demonstration eines literarischen To-
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die für meine Begriffe etwas voreilig formulierte Behauptung von der Disparität der Texte und Bilder in Frage stellen und sie durch eine konträre Behauptung ersetzen: Die Inhalte der Texte und Bilder fügen sich zu einer Gesamtaussage, die sich überdies als ›Programm‹ der gesamten Handschrift lesen lässt. Der Isidor-Verweis auf fol. 5r (Tafel IX.1) gibt, anknüpfend an den Titelsatz von fol. 4v (Tafel VIII.1), detailliertere Auskunft über den Körper des Menschen und leitet über zu einem ›moralisierten‹ Makrokosmos-Schema, das den Menschenleib unter das Memento der vanitas stellt. Gerade dieser lateinische Spruch im äussersten Kreisband (Tafel IX.2) macht das Schema zu mehr als nur einem aus Platzgründen auf fol. 5r geratenen Nachtrag. Er weist auf die Beischrift neben dem Zwerg hin (Gregorius-Plinius-Zitat, Tafel IX.4), eine Welt-Mensch-Analogie zur Erklärung moralischen Verhaltens, ergänzt um eine antike Naturbeobachtung, die im Sinne der vorausgegangenen ›Moralia‹-Passage moralisch verstanden werden muss.80 Der Text beschliesst einerseits die auf fol. 4v eingehend behandelte Körperlichkeit des Menschen unter moralischen Vorzeichen und schlägt andrerseits die Brücke zur Zwerg-Riesen-Illustration. Folgerichtig ist der Text rechts neben dem Zwerg positioniert. Damit gelangt man zum inhaltlichen Zentrum der Seite, zur Darlegung der Artes. In beiden Texten, im lateinischen Text auf dem Rock (Tafel IX.6) und im deutschen Text links von der Figur (Tafel VIII.2) geht es um die vielfältigen Erscheinungsformen der Weisheit: [In septem] partes [sapientia] diuidit artes81 (Tafel IX.6.2); ein yegleicher phi‹l›o‹s›ophus ist naturleich vnd ist redleich vnd ist ‹sittleich› (Tafel IX.3). Beiden Texten geht es auch um das Ziel der Selbst- und Welterkenntnis,82 die Voraussetzungen dieser Erkenntnis freilich sind unterschiedliche. Der lateinische Text entfaltet das konventionelle Programm antiker sapientia. Die Einsicht in die Artes dient der moralischen Veredelung (virtutes sciere, Tafel IX.6.2);83 das eifrige Studium der dogmata ermöglicht den ebenbürtigen Stand der moderni an Wissen und Tugenden. Das Bild geht über den
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pos, der auf Bernhard von Chartres zurückgeführt werden kann« (Lateinische und deutsche Texte, S. 264). Eine literale Lesung im Sinne einer naturkundlichen Begründung für die Zwergenstatur der entwicklungsgeschichtlich schon weit fortgeschrittenen Menschen des Mittelalters ist in diesem Kontext kaum mehr möglich. Walther, Proverbia, Nr. 9196. qu‹i›d mare, qu‹i›d celum, qu‹i›d homo, quid terra, quid aer. (Tafel IX.6.1). Die Philosophie ist nach antikem Vorbild zweiseitig ausgerichtet, auf die theoretisch-intellektuelle Seite und auf die praktisch-ethische.
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Text hinaus. Relativiert der Text die Stellung des Zwerges und spricht vom Gleichstand des Wissens – equi peramur (Tafel IX.5) –, betont das Bild die höhere Position mittelalterlicher Bildung. Die bessere Weitsicht gründet auf der christlichen Durchdringung antiker Weisheit, auf einer sapientia christiana eben, wie sie ausgehend von der göttlichen Trinität sich spiegelt in der driualtig vnd eyn [. . .] sel (Tafel IX.3) und in den drei Teilen der Philosophie.84 Ich versuche im Folgenden, den defekten Text so zu strukturieren, dass daraus ein Sinn ersichtlich wird. Die Divisio philosophiae wird umklammert von zwei Analogien. Die erste Analogie betrifft die Seele und die Philosophie, die analog sind in ihrer dreieinigen Struktur. Jeder Philosoph (ein yegleicher phi‹l›o‹s›ophus, Tafel IX.3), d. i. die gesamte Philosophie, erweist sich als Dreiheit (yn ainer gestalt [. . .], die sich dreyerlay beweist): als Physik (naturleich), als Logik (redleich) und als Ethik (‹sittleich›). Die sel ist dem gotez pilde dreifach czw geaynet, hinsichtlich ihrer Bedingungen, hinsichtlich ihres Wesens und hinsichtlich ihrer Erscheinung: Als die sel, in irem spiegel vnd in irem begy¨n driualtig vnd eyn, yn irer tugent vnd yn irer macht dem gotez pilde czw geaynet ist yn ainem liecht der chunst vnd yn ainer gestalt der heligen driualtichait, die sich dreyerlay beweist, [so] ein yegleicher phi‹l›o‹s›ophus ist naturleich vnd ist redleich vnd ist ‹sittleich›. (Tafel IX.3)
Die Seele ist drei in ihrer tugent (Kräfte) und eins in ihrer macht (Vermögen). Ich interpretiere hier tugent im augustinischen Sinn85 als die dreifache 84 Zum Verhältnis von scientia und sapientia vgl. Augustinus’ ›De trinitate‹ (Ed. Mountain/Glorie), XIII ,19,24. Der Kirchenvater scheidet nach I Cor 12,7 f. sapientia und scientia, reserviert den ersten Begriff für die Erkenntnis des Göttlichen, den zweiten für die Einsicht in das Menschliche: Alii autem datur per spiritum sermo sapientiae, alii sermo scientiae secundum eumdem Spiritum, si ita inter se distant haec duo, ut sapientia divinis, scientia humanis attributa sit rebus, utrumque agnosco in Christo. Vgl. dazu: Köpf, Die Anfänge, S. 151 und 221. Die späteren Autoren unterscheiden in augustinischer Tradition zwei Arten der sapientia: die Weisheit als solche, die Gegenstand der Theologie ist (sapientia ut sapientia) und die Weisheit in Form der Wissenschaften, die sich auf die Philosophie der Antike beruft (sapientia ut scientia). Diese neue Idee der sapientia christiana (Ed. Mountain/Glorie, XIII ,19,24) macht die Philosophie zur ancilla theologiae, die propädeutisch zur eigentlichen Weisheit hinführen soll – tendimus per scientiam ad sapientiam –, isoliert betrieben aber nur von relativem Erkenntniswert ist, findet sich in der antik-heidnischen Philosophie ja nichts, was in der Theologie nicht schon bekannt wäre. Vgl. dazu: Wieland, Theologie, S. 517–527, hier: 518 f. 85 De civitate Dei (Ed. Domart/Kalb), VIII ,4.
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Seelenkraft (memoria, ratio, voluntas), macht als das ihr zugrunde liegende Vermögen.86 Den beiden Kriterien der tugent und macht vorgelagert sind die Bedingungen, die Einsicht ermöglichen in die Ähnlichkeit zwischen Gottesbild und Seele: Nur über die Reflexion der Seele über sich selbst kann diese Einsicht erfolgen: die Seele ist in ihrem spiegel, d. h. in ihrer Selbsterkenntnis (und zugleich als Selbsterkanntes, als Abbild) wiederum drei, in ihrem begy¨n (Urbild, Ursprung) aber eins. Die Seele offenbart sich schliesslich als yn ainem liecht der chunst (als ein Licht87 der Wissenschaften) und als yn ainer gestalt der heligen driualtichait (als ein Abbild der heiligen Dreifaltigkeit). Dieses Paar erweist sich als Dreiheit in der Einheit: Die drei Wissenschaften manifestieren sich als ein Licht, das durch den Philosophen verkörpert wird, die Dreifaltigkeit als eine Gestalt, die den drei Teilen der Philosophie entspricht und sich weiter dreifach ausformt in neun Disziplinen.88 Als vorläufiges Ergebnis kann man die Reihungen spiegel – tugent – liecht der chunst sowie begy¨n – macht – gestalt der heligen driualtichait festhalten. Die zweite Analogie lautet folgendermassen: Alle die chunst habent ir regel gewislich vnd vntrugenlich, ‹r›echt als der man e e vnd daz gestiren gien von de‹r› ewigen ee yn vnser gemut. Darvmb vnser gemut vnd vnser sin sulches l‹ie›chtes wirt erfult vnd ein gegossen. ‹Wär› ez gar blint, ez mag pey im selben begreiffen daz ewig liecht et cetera. (Tafel IX.3.4)
Wie die Wissenschaften in unverrückbaren Regeln begründet sind, so wirken der Mond (als das erdnächste und darum einflussreichste Gestirn) und die übrigen Gestirne nach ewiggültigem Gesetz (ewig[. . .] ee) auf das Wesen des Menschen ein (gien [. . .] yn vnser gemuet89). Es entsprechen einander chunst und man/gestiren sowie deren Eigenschaften gewislich, vntrugenlich und von de‹r› ewigen ee. Der Begriff l‹ie›cht[.. .] im folgenden Satz bezieht sich einerseits auf die Wissenschaften als liecht der chunst, andrerseits auf 86 Das Vermögen bezieht sich also primär auf die geistigen Kräfte des Menschen, nicht auf die drei das ganze Menschsein umfassenden Seelenvermögen nach Aristoteles (anima vegetativa, anima sensibilis, anima intelligibilis). 87 Licht als Metapher für Erkenntnis. Hier: die drei Wissenschaften zielen durch ihre Erkenntnisse auf eine Wahrheit. 88 1. methaphisica, mathematica, phisica (vgl. Tafel IX.3.1.1), 2. gramatica, loyca, rhetorica (vgl. Tafel IX.3.2.1), 3. monastica, yconomica, politica (vgl. Tafel IX.3.3.1). 89 Hier nicht im engeren Sinn zu verstehen als Erkenntnis(fähigkeit)/Verstand (sin), sondern im weiteren Sinn als Geist(esvermögen) oder als Gesamtheit aller menschlichen Vermögen (Lexer I , 847 f.).
Interpretation
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die Gestirne als siderisches Licht. Im ersten Fall lautet der Satz: »Darum erfüllt das Licht der Wissenschaften unseren Geist und unsere Erkenntnis (vnser gemuet vnd vnser sin [. . .] wirt erfult vnd ein gegossen).90 liecht ist aber auch das Licht der Gestirne – gemäss der mittelalterlichen Vorstellung, dass der Ursprung des Lichts in den supralunaren Regionen angesiedelt wurde und die astralen Verhältnisse von Sonne, Mond und Gestirnen sich im menschlichen Geist wieder finden,91 also gesamthaft eine Metapher für die menschliche Erkenntnis, wie es auch das »Licht der Wissenschaften« oder das Licht überhaupt ist. Durch die implizite Gleichsetzung von menschlicher (wissenschaftlicher) und göttlicher (kosmischer) Erkenntnis werden die Wissenschaften auf ihre Begründung in der Trinität zurückgeführt; wissenschaftlich gewonnene Erkenntnis verweist diesbezüglich in noch unvollendeter und partieller Form auf das oberste Erkenntnislicht, auf die volle und ungeteilte Erkenntnis durch das ewige Licht. Der letzte Satz greift das beiden gemeinsame erkenntnistheoretische Analogon ›Licht‹ ex negativo wieder auf und bezieht es nun auf das ewig liecht: »Wäre er [der Geist als Erkenntnisvermögen] sogar blind, er könnte (trotzdem) aus sich selbst heraus das ewige Licht begreifen.«92 Die zweite Analogie endet mit der Rückführung der Erkenntnis auf Gott unter endzeitlicher Perspektive und verweist damit wieder auf die erste Analogie, die alle Erkenntnis aus der dreieinig angelegten Seele ableitet. Quintessenz des Textes ist die Rückführung der drei antiken scientiae auf die eine christliche sapientia:
90 Ich übersetze erfulen und eingiessen gleichbedeutend mit ›erfüllen‹ und beziee he jeweils eines der beiden Verben auf beide Nomen gemut und sin. Mögliche e wäre auch eine inhaltliche Differenzierung durch zwei Paarungen: vnser gemut wirt erfult – vnser sin wird ein gegossen. erfulen im Sinn von ›vollenden‹ bezöge sich in diesem Fall allgemein auf die Vollendung des Geistes (perfectio) durch das Licht (als Erkenntnis, Wahrheitsfindung). eingiessen bezöge sich konkret auf die Eingiessung des Lichts in die Erkenntnis des Menschen (influentia). 91 In R wird die Sonne nicht ausdrücklich erwähnt, wie im Kontext der Lichtmetaphorik zu erwarten wäre. Möglich ist eine Textlücke. Vgl. beispielsweise Johannes Scotus Eriugena, De divisione naturae, IV ,10 (PL 122,784). Vgl. Hedwig, Sphaera lucis, S. 12 ff. 92 Der scheinbare Widerspruch aus sich selbst heraus begreifen erübrigt sich, wenn man den menschlichen Geist als einen von Gottes Licht erfüllten begreift. Der inhaltliche Zusammenhang legt es nahe, dass die Erkenntnis des ewigen Lichts nur durch Gott möglich ist. Andernfalls und weniger sinnvoll liesse sich im durch den Zusammenfall von Reflexiv- und Personalpronomen e auch auf gemut beziehen.
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Wissen und Weisheit
Analogie 1 ain liecht der chunst
sel czw geaynet
spiegel tugent
yegleicher philosophus
begyn macht
gotez pilde
naturleich
redleich
sittleich
metaphisica, mathematica, phisica
gramatica, loyca, rethorica
monastica, yconomica, politica
macht dez vaters
weishait dez suns
gute dez heiligen geist
ein gestalt der driualtichait die sich dreyerlay beweist
Analogie 2
alle die chunst
man, gestiren
habent ir regel gewislich vnd vntrugenlich
gien von der ewigen ee e yn unser gemut e
vnser gemut vnd vnser sin sulches liechtes wirt erfult vnd ein gegossen
e
[daz blint gemut] mag pey im selben begreiffen daz ewig liecht
Interpretation
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Die hier entfaltete Ordnung der Wissenschaften und ihre Rückführung auf die Trinität mittels einer Lichtmetaphorik lässt an eine stark simplifizierte Aneignung der Wissenschaftslehre Bonaventuras denken, wie er sie vornehmlich in ›De reductione artium ad theologiam‹, in den ›Collationes in Hexaemeron‹ und im ›Itinerarium mentis in Deum‹ entwickelt hat. Ich referiere kurz Bonaventuras Systematisierung der Wissenschaften, um die Divisio in R auf diesen Wissenshintergrund beziehen zu können.93 Bonaventuras Wissenschaftsverständnis gründet auf der grundlegenden Entsprechung von Wissenschaftsordnung und Erkenntnisordnung. Die Binnengliederung beider Ordnungen wird im Rahmen einer sie verbindenden Lichtmetaphorik behandelt. Licht94 wird zu einer umfassenden Metapher für Erkenntnis und Wahrheit und in diesem Sinn übertragen auf die drei Ausdrucksweisen der Wahrheit, auf die causa essendi (Seinsursache), auf die ratio intelligendi (Erkenntnisgrund) und auf den ordo vivendi (Lebensordnung).95 Licht wird über diese allgemeine Bestimmung hinaus aufgefasst als geistiges Licht (lux spiritualis), das, in neuplatonisch-augustinischer Tradition als Transzendenz die Präsenz Gottes als oberstes Prinzip im Geschaffenen verkörpert, als Immanenz sich zeigt in der illuminatio des menschlichen Geistes, die in ihrer Erkenntnis und Wahrheitsfindung a priori an das Licht der göttlichen Wahrheit gebunden ist.96 93 Zu den Divisiones philosophiae im Kontext der philosophischen Einleitungsschriften des 13. Jahrhunderts vgl. Kapitel 2.4 in Teil B. 94 Hier ist der Unterscheidung zwischen lux (Wirkkraft) und lumen (Erscheinung) Rechnung zu tragen. Vgl. dazu: Beierwaltes, ›Licht‹, in: HWP 5, Sp. 282–289. 95 Collationes in Hexaemeron (Ed. Nyssen), 5,1. Vgl. Speer, Triplex veritas, S. 108: »Die Bedeutung des Wahrheitslichtes für die Erkenntnis wird von Bonaventura noch erhöht durch seinen unmittelbaren Bezug auf die Innerlichkeit der erkennenden Seele. Das Licht ist nicht nur ein aller Erkenntnis vorausgehender und sie ermöglichender Besitz, sondern es ›geht über und wird eins mit dem Identitätsgrund des Subjekts selbst‹. So ist Gott als dieses Wahrheitslicht und als Wahrheitsfähigkeit der erkennenden Seele selbst ›intimior animae quam ipsa sibi‹.« Zu den drei Ausdrucksweisen der Wahrheit vgl. ebd. S. 49 f. 96 Vgl. Collationes in Hexaemeron (Ed. Nyssen), 6,1: Ausgehend von Gn 1,4 (vidit Deus lucem) und an Augustinus anknüpfend (De civitate Dei [Ed. Domart/Kalb], XI ,25) wird das Erkenntnislicht als Transzendenz und Immanenz bestimmt: Et fuerunt distinctae novem partes doctrinae, quarum tres principales sunt radii, et sunt ex dictamine lucis aeternae, secundum Augustinum. Item, quod vidit, id est, videre fecit per contemplationem sapientialem, illuminando animam in se tanquam in speculo, in Intelligentia tanquam in medio
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Wissen und Weisheit
Ausgehend von Iac 1,17 gliedert Bonaventura in ›De reductione‹ die Wissenschaften gemäss ihrer Teilhabe an dem obersten Erkenntnislicht (fontali luce liberalis emanatio), das sich gliedert in vier einzelne Lichter (multiplicia lumina) und offenbar wird als vier Erleuchtungen des menschlichen Geistes (illuminationes).97 Das dritte Licht, das lumen cognitionis philosophicae erleuchtet zur Erkenntnis geistiger Wahrheiten und bleibt zunächst auf den Horizont philosophischer Erkenntnis begrenzt. Wie das Licht der wissenschaftlichen Erkenntnis sich nochmals unterteilt in die drei lumina philosophiae naturalis, rationalis und moralis und die obige Vierteilung zu einem Siebenerschema erweitert,98 so verdreifacht sich auch die Philosophie in die Natur-, Vernunft- und Sittenlehre: triplicatur in rationalem, naturalem et moralem.99 Wie die Wahrheit zugleich Seinsursache (causa subsistendi), Erkenntnisgrund (ratio intelligendi) und Lebensordnung (ordo vivendi) umfasst, so erleuchten die Teile der Philosophie zur Erkenntnis der Seinsursachen (ad cognoscendas causas essendi: physica), zur Einsicht in die Erkenntnisgründe (ad cognoscendas rationes intelligendi: logica) und zum Verständnis der Lebensordnung (ad cognoscendas ordinem vivendi: moralis sive practica). Diese drei Hauptdisziplinen werden in der Folge wie in R weiter triadisch unterteilt in die Metaphysik, Mathematik und Physik, in das Trivium, bestehend aus Grammatik, Logik und Rhetorik, und in die Individualethik, Familienethik und in die politische Ethik.100 Zum Begreifen der Heilswahrheit bedarf es aber zusätzlich des vierten Lichts, des lumen gratiae, das sich in die drei Schriftsinne der
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98 99 100
delativo, in luce increata tanquam in obiecto fontano, secundum illas sex conditiones, quas imprimit menti; et secundum has consurgit anima in illam lucem ratiocinando, experiendo, intelligendo, ut dictum est. Vgl. auch 4,1 f. und 5,1. Vgl. Speer, Triplex veritas, S. 107. Allgemein zu den Lichtdeutungen des Scholastik vgl. Hedwig, Sphaera lucis, S. 10–22 und 103–106. De reductione artium ad theologiam (Ed. Kaup, S. 235), 1: Omne datum optimum et omne donum perfectum desursum est, descendens a Patre luminum Iacobus in Epistolae suae primo capitulo. In hoc verbo tangitur origo omnis illuminationis, et simul cum hoc insinuatur multiplicis luminis ab illa fontali luce liberalis emanatio. Licet autem omnis illuminatio cognitionis interna sit, possumus tamen rationabiliter distinguere, ut dicamus, quod est lumen exterius, scilicet lumen artes mechanicae; lumen inferius, scilicet cognitionis sensitivae; lumen interius, scilicet lumen cognitionis philosophicae; lumen superius, scilicet lumen gratiae et sacrae Scripturae. Ebd. 6, S. 248. Ebd. 4, S. 240. Ebd. 4, S. 240 ff., und Collationes in Hexaemeron (Ed. Nyssen), 5,22.
Interpretation
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Heiligen Schrift auffächert und auch ein »höheres Licht« genannt wird, weil es nicht durch menschliches Forschen, sondern durch göttliche Eingebung erlangt wird: Non per inventionem, sed per inspirationem a Patre luminum descendit.101 Von den wissenschaftlichen Erkenntnissen unterscheidet sich diese weisheitliche Erkenntnisweise durch ihre Ausrichtung auf Gott als oberstes Erkenntnisziel und durch ihren Vollzug als gnadenhaften, jegliche philosophische Erkenntnis umgreifenden Überstieg, der in der Vereinigung von Gott und Seele sein Ziel findet.102 Allein diesem ›Erkennen‹ kommt die sapientia zu.103 Weiter ausdifferenziert werden die beiden Erkenntnisstufen der inneren (wissenschaftlichen) und höheren (weisheitlichen) Erleuchtung im ›Itinerarium mentis in Deum‹. Die dritte Stufe des siebenstufigen Weges der Seele zu Gott beschreibt die Betrachtung Gottes durch sein Bild, das dem natürlichen Vermögen der Seele dreifach eingeprägt ist: Per suam imaginem naturalibus potentiis insignitam.104 Die Gottesbetrachtung geht hier von den drei (natürlichen) Seelenkräften aus; das Bild Gottes zeichnet sich vorerst nur gleichnishaft ab, widerscheint (relucet), ist nur ›gebrochen‹ wie durch einen Spiegel von unten zu sehen und ist zudem mehr Rätsel als Erkenntnis: Videre poteris Deum per te tanquam per imaginem, quod est videre per speculum in aenigmate.105 Soweit das Erkenntnisvermögen der Seele aus ihrer natürlichen Potenz herausreicht, soweit reichen auch die Erkenntnisse der Wissenschaften. Diesen Stand der Erkenntnis reflektiert die erste Analogie der Washingtoner Divisio. Der Schluss geht darüber hinaus, insofern als von begreiffen dez ewigen l‹ie›chtes pey im selben (vgl. Tafel IX.3.4) die Rede ist. Damit ist eine neue Stufe der Erkenntnis erreicht. Diese Einkehr der Seele zum Bild Gottes hat die Qualität des Ebenbildlichen durch ihre gnadenhafte Erneuerung von oben: In sua imagine donis 101 Ebd. 5, S. 246. 102 Ebd. 103 Collationes in Hexaemeron (Ed. Nyssen), 5,22: Has noves scientias dederunt philosophi et illustrati sunt. Deus enim illis revelavit. [Rm 1,19] Postmodum voluerunt ad sapientiam pervenire, et veritas trahebat eos; et promiserunt dare sapientiam, hoc est beatitudinem, hoc est intellectum adeptum; promiserunt, inquam, discipulis suis. Vgl. Speer, Triplex veritas, S. 114–120. 104 Itinerarium mentis in Deum (Ed. Kaup, S. 92), 1. Vgl. ebd.: Ad nos reintraremus, in mentem scilicet nostram, in qua divina relucet imago; [. . .] conari debemus per speculum videre Deum: ubi ad modum candelabri relucet lux veritatis in facie nostrae mentis [Ps 4,7], in qua scilicet resplendet imago beatissimae Trinitatis. 105 Ebd. 1, S. 94.
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Wissen und Weisheit
gratuitis reformata.106 Dieser Bedeutungshorizont schwingt in R mit, wenn Begriffe wie erfulen, eingiessen und begreiffen verwendet werden, die nur im Kontext einer Lichtmetaphorik sinnvoll verstanden werden können. Die Stufenfolge von den scientiae zur sapientia – exercendos per scientiam, perficiendos per sapientiam107 – ist mehr als Einheit, denn als Gegensatz zu verstehen. In diesem Sinn führt Bonaventura die Dreiheit der Philosophie auf die Einheit der Theologie zurück:108 Die Philosophie ist auf die Theologie hingeordnet, ihre Erkenntnisweisen sind, da noch abbildhaft und unvollkommen, der Erkenntnis der urbildlichen Dreieinigkeit nachgeordnet.109 Das trinitarische Bildungsverständnis,110 wie es im deutschen Text noch so laienhaft verkürzt zum Ausdruck kommt, ist vor dem gezeigten Wissenshintergrund eine originelle Verflechtung von Philosophie und Theologie, aufgeladen mit einer Metaphorik, die unter dem Mantel christlicher Über106 107 108 109
Ebd. 1, S. 108. Ebd. 6, S. 60. Bonaventura nennt diese Rückführung reductio. Ebd. 7, S. 248. Ebd. 26, S. 270. Zum Verhältnis von scientia und sapientia bzw. von Philosophie und Theologie bei Bonaventura vgl. Speer, Triplex veritas, S. 120–134 und Hedwig, Sphaera lucis, S. 161–165, bes. 163. 110 Die Vernetzung von platonischer Philosophieeinteilung und Trinitätslehre ist im wesentlichen die Leistung Augustinus’: In illo [Deo] inueniatur et causa subsistendi et ratio intellegendi et ordo uiuendi; quorum trium unum ad naturalem, alterum ad rationalem, tertium ad moralem partem intellegitur pertinere. Für den Theologen wie für den Philosophen ergibt sich daraus eine dreifache Aufgabe: Si enim homo ita creatus est, ut per id, quod in eo praecellit, adtingat illud, quod cuncta praecellit, id est unum uerum optimum Deum, sine quo nulla natura subsistit, nulla doctrina instruit, nullus usus expedit: ipse quaeratur, ubi nobis serta sunt omnia; ipse cernatur, ubi nobis certa sunt omnia; ipse diligatur, ubi nobis recta sunt omnia. (De civitate Dei [Ed. Domart/Kalb], VIII ,4). Vgl. McKeon, The Organisation of Sciences, S. 151–192, hier: 166. – Eine bemerkenswerte, mit R durchaus vergleichbare Verquickung von Natur-, Trinitäts- und neuplatonischer Erkenntnis-Auffase sung findet man in Jakob Böhmes ›Morgen-Rote im Aufgangk‹ (1612). Im zweiten Kapitel bringt der Autor, der sich andernorts einen »einfältigen Laien« nennt (Ed. van Ingen, Einf., S. 805), eine Anleitung (Ed. van Ingen, e S. 54,19 f. und 57,3–9), wie man das Gottliche und Naturliche wesen betrachten solle. [. . .] Gleich wie der geist eines Menschen in dem gantzen leibe in e allen adern herrschet und erfullet den gantzen Menschen/ also auch der e H. Geist erfullet die gantze Natur/ und ist das hertze der Natur/ und herre schet in den guten qualitaten in allen dingen. So du nun denselben in dir hast/ e das derselbe deinen geist erleuchtet und erfullet/ so wirstu verstehen/ waß hie nachfolgend geschrieben ist [. . .].
Interpretation
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formung Versatzstücke neuplatonischer Emanationslehre111 zu Tage treten lässt. Für die hier statuierte Symbiose von Antike und Christentum steht symbolisch der Zwerg, der einerseits im Zeigegestus auf ebendiesen Text hinweist und zugleich über die antiken scientiae hinaus, andrerseits aber noch am geistigen Nabel des ihn tragenden Riesen hängt.112 Der Zeigegestus verweist weiter auf den Mikrokosmos-Menschen der gegenüberliegenden Seite, genauer auf seine gekreuzt über der Brust gehaltenen Hände, vielleicht ein Hinweis auf das Herz des Menschen als Sitz der Seele113 und Anfang aller Erkenntnis, vielleicht allgemeiner eine Anspielung auf die Leib-Seele-Thematik der Seite. Formal sind beide Seiten ähnlich organisiert: beide zentrieren die Figur, beide nützen den Rock der Figur für die Beschriftung, beide erläutern die Figur in einem Text rechts davon und beide enden schliesslich mit dem sel-Teil des Menschen, auf fol. 4v am traditionellen Platz einer Conclusio am Seitenende (Tafel VIII.4), auf fol. 5r in der linken Kolumne, nachdem der Leser durch den Zwerg auf sie verwiesen wurde (Tafel IX.3). Die Doppelseite 4v/5r verweist schliesslich auf die Handschrift als Ganzes, indem sie die theoretisch-intellektuelle Reflexion dessen bietet, was in den um sie gruppierten Seiten praktisch aufgefächert wird. Die Mitte der Handschrift ist der Ort für die Reflexion über Definition und Klassifikation der Philosophie und die daraus resultierende Vielförmigkeit der sapientia im Spannungsfeld von heidnischer Antike und christlichem Mittelalter, wobei die Latinität wiederum der Antike vorbehalten bleibt. Im ersten Teil der Handschrift geht es um das Leibeswohl, das nach altbewährter Tradition vom astronomisch-astrologisch Festgelegten hergeleitet (Tafeln I und II , fol. 1r–1v) und mit einer Serie von Aderlassmännern medizinisch-diätetisch untermauert wird (Tafeln III–VI , fol. 2r–3v). Im zweiten Teil steht das Seelenheil im Mittelpunkt. Zu den klassischen Seelenheil-Motiven gehören in erster Linie die Motive des Tugend- und Lasterbaums und das Motiv des Weisheitsturms. Zur Seelenheil-Thematik wird man nach dem Verständnis der zentralen Doppelseite auch die Artes-Tafel (Tafel XIII , fol. 7r) zu rechnen haben, die, gleichsam in Selbstbespiegelung, Wissen über das Wissen vermittelt: Die Philosophie ist das Nachdenken über die Weisheit – die contemplacio sapiencie (Tafel XIII.1.1). Mit dem Bedeutungshorizont 111 So programmatisch vereint bei Johannes Scotus Eriugena, De divisione naturae, III ,17 (PL 122,672–679). 112 Zum Motiv des Tragens als Ausdruck geistiger Beziehung vgl. Aurenhammer, ›Christophorus‹, in: LCI 1, S. 444. 113 Dazu ausführlich: Bauer, Claustrum animae, S. 42–61, bes. 50–54.
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Wissen und Weisheit
praktischer Weisheit spielt auch die Reihe der Frauensklaven auf fol. 7v/8r (Tafeln XIV und XV ), die exempelreich vor den Verführungskünsten der ›Frau‹ warnen soll. Auf der Eingangs- und Schlussseite (Tafeln I und XVI ) endlich hat sich die sapientia in der Figur des vir sapiens gegen die Mächte der Gestirne und der Fortuna zu bewähren. Die Doppelseite 4v/5r kann daher mit Recht eine Schlüsselstellung für das Verständnis von Inhalt und Struktur der Handschrift beanspruchen. In ihr spiegelt sich die Ordnung der Handschrift; diese bildet die Ordnung der Welt ab.
4 Tugend- und Lasterbaum Die Doppelseite 5v/6r (Tafeln X und XI , Abb. 10 und 11) zeigt zwei mit den Tugenden und Lastern textierte Baumdarstellungen. Diese sogenannten Tugend- und Lasterbäume ergänzen verschiedene Figuren und Texte. Ausgehend vom Layout der beiden Tafeln kommentiere ich in einem ersten Schritt die hier vereinigten Text- und Bildtraditionen und interpretiere in einem zweiten Schritt die Text-Bild-Ensembles hinsichtlich der Motive und Wissenshintergründe sowie hinsichtlich ihrer strukturellen und thematischen Verortung in der Handschrift.
4.1 Erläuterungen 4.1.1 Layout Die mittlere der drei horizontalen Zonen der Tafel X (fol. 5v) nimmt ein Rebbaum ein, der auf dem Stamm und auf den sechs Ästen mit den sieben Haupttugenden in roter Textura beschriftet ist (Tafel X.1.1–1.7). Auf den einzelnen Blättern befinden sich die Inschriften der Subtugenden in roter Bastarda. Der Stamm endet in der Baumkrone, die, zu kurz gezeichnet, über die Höhe der oberen Äste nicht hinauskommt und in einem Missverhältnis zum Astwerk und zur Baumgrösse steht. Auf der Baumkrone steht ein nach links gewandter Vogel mit Nimbus. Blätter, Reben und Zweige sind allen Platz nutzend auf die Äste verteilt. Der Baum wurzelt in einer Dreiviertelfigur Christi. Diese steht frontal, trägt einen Nimbus, hat die rechte Hand zum Segensgestus geformt und trägt in der linken Hand ein offenes Buch. Stirn, Wangen und Hände sind rötlich koloriert. Unmittelbar über der Baumkrone befindet sich eine Cherubsgestalt. Die drei Flügelpaare (Tafel X.2.1–6) sind in je fünf Federn unterteilt und in roter Bastarda textiert. Der um Christus und den Cherub erweiterte Tugendbaum füllt die Seite in der Form eines Kreuzes. Die vier freistehenden Seitenecken sind mit vier Textblöcken versehen (Tafel X.3–6), die alle mit einer roten Initiale eingeleitet werden und in schwarzer Bastarda geschrieben sind.
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Tugend- und Lasterbaum
Der Lasterbaum auf der gegenüberliegenden Seite (Tafel XI ) nimmt im Gegensatz zum Tugendbaum die ganze Höhe der Seite ein. Er verfügt wiederum über sechs Äste und einen im Umfang zu klein geratenen Wipfel. Die Textierung ist wie beim gegenüberliegenden Pendant angebracht. Am Baum wachsen diesmal Eicheln und Eichenblätter. Der Stamm endet unten in dem gekrönten Haupt eines Ungeheuers, dem sieben weitere Köpfe und zehn Hörner entwachsen und dessen Hals aus dem Meer ragt. In ihm schwimmen ein Seepferd, ein Fisch und ein Krebs (?). Auf dem Wipfel des Baumes erscheint ein Vogel, der Züge einer Eule trägt. Unter dem Baum kniet links eine nimbierte Figur. Diese ist in ein lang herabfallendes, faltenreiches Gewand gekleidet, hält in der linken Hand ein Spruchband und deutet mit der rechten auf dessen Text (Tafel XI.2).1 Rechts des Ungeheuers ist ein Textblock positioniert (Tafel XI.3), der die Form eines Quadrats einnimmt und durch rote Initialen und rubrizierte Majuskeln untergliedert ist.2 Alle Texte auf der Doppelseite sind deutsch.
4.1.2 Textquellen und Bildtraditionen Ich beginne die Erläuterungen zur Seite 5v (Tafel X ) mit den vier Textblöcken und lasse diesen die Tugendbaumdarstellung und die Cherubsfigur folgen. Von diesen beiden Bildmotiven gehe ich über zum Baum der Laster und zur Johannes-Figur (Tafel XI , fol. 6r) und schliesse mit den ihnen beigegebenen Texten. Die Besprechung der vier Textblöcke auf fol. 5r erfolgt in gewohnter Leserichtung von links nach rechts und, bild- und textthematisch vorgegeben, von unten nach oben.
4.1.2.1 Tugendbaum und Cherub Die beiden unteren Textblöcke (Tafel X.3 und 4) und der obere Block links (Tafel X.5) gehören der Tradition des Tugend- und Lastertraktates an und handeln in diesem Sinn die einzelnen Tugenden definitorisch ab. Der obere Textblock rechts (Tafel X.6) ergänzt in ähnlichem Katalogstil die eingeschriebenen Bedeutungen der sechs Cherubsflügel. Die Textsorte des Tugend- und Lastertraktats zeichnet sich im Idealfall durch drei Merkmale aus:3 durch die thematische Beschränkung auf das 1 In schwarzer Bastarda geschrieben. 2 Ebenfalls in schwarzer Bastarda geschrieben. 3 Die folgenden Ausführungen nach Newhauser, alle sund hant vnterschidunge, S. 288.
Erläuterungen
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System von Tugenden und Lastern, durch die diskursive Art der Vorstellung und durch die hierarchische Beziehung der Tugenden und Laster untereinander, d. i. von Haupttugenden (antike Kardinaltugenden4 und theologische Tugenden5) und Subtugenden. Entscheidend für mittelalterliche Konzeptionen der Tugend- und Lasterlehre ist die durch Hugo von St. Viktor vorbereitete und mit Petrus Lombardus6 sich durchsetzende Siebenzahl der Tugenden7 sowie Gregors Neuordnung der durch Evagrian und Cassian tradierten Lasteroktade8 mönchisch-asketischer Ausrichtung zu dem in superbia wurzelnden Septenar der principalia vicia:9 inanis gloria, invidia, ira, tristicia, avaricia, ventris ingluvies und luxuria.10 Die Systematisierung im Sinne einer antithetischen, auch bildlich aufbereiteten Gegenüberstellung von Part und Widerpart fasst man zum ersten Mal bald nach 1140 im ›Speculum virginum‹11 und in dem Traktat ›Liber de fructibus carnis et spiritus‹.12 Beide Werke zählen zu den Quellen der Texte auf fol.5v. Ich beginne mit den Definitionen der Demut und der sieben Haupttugenden, die im unteren linken Textblock (Tafel X.3) wiedergegeben sind. Die vorgeschlagenen Lesarten erfolgen auf der Grundlage der Quellen (›Speculum virginum‹, ›Liber de fructibus carnis et spiritus‹) und der Parallelüberlieferung (München, BSB , Clm 8201, fol. 96v). Die Frage nach dem Autor des ›Speculum virginum‹ wird in der Forschung kontrovers diskutiert. Gehen Felix Heinzer und Constant J. Mews von der Autorschaft Konrads von Hirsau, eines Vertreters der cluniazensischen Reformbewegung aus,13 plädiert Jutta Seyfarth, was die Kölner Handschrift K angeht, 4 Zumeist in platonischer Ausformung: Gerechtigkeit, Stärke, Klugheit, Mass. Zu den Quellen vgl. Evans, ›Tugenden‹, in: LCI 4, Sp 364–380, hier: 364. 5 Glaube, Hoffnung und Liebe. Nach I Cor 13,13. 6 Sententiae, II , dist. 42,8–10 (PL 192,753 f.). 7 Vgl. dazu: Schweitzer, Tugend und Laster, S. 7. 8 Zu den antiken und spätantiken Quellen vgl. Newhauser, The Treatise, S. 181–185. 9 Ich verwende hier die Begriffe ›Hauptlaster‹, ›Hauptsünde‹ und ›Todsünde‹ entsprechend hoch- und spätmittelalterlicher Praxis synonym. Genau genommen sind Hauptsünden bzw. Hauptlaster lässliche Sünden, Todsünden dagegen sind mit dem totalen Gnadenverlust verbunden. 10 Moralia in Iob (Ed. Adriaen), XXXI ,45,87 ff. Vgl. Newhauser, The Treatise, S. 187 ff. 11 Zur Datierung vgl. Jutta Seyfarths Einleitung zur Corpus ChristianorumAusgabe, S. 32*–37*. 12 PL 176,997–1010. 13 Buchkultur, S. 270 f. Virginity, S. 15–40, hier: 20: »The literary and thematic concerns of the Speculum virginum so closely reflect those encouraged by
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Tugend- und Lasterbaum
aufgrund inhaltlicher Argumente für eine Entstehung in den Kreisen der Kanoniker und Kanonissen der Springiersbacher Reform im Mittelrheingebiet.14 Nigel Palmer stellt fest, dass die Zisterzienser »den grössten Anteil an der älteren Überlieferung mit Handschriften aus Eberbach, Himmerod, Clairvaux, Igny, Mores, Zwettl und Eberbach haben«.15 Für Palmer ist es gut vorstellbar, dass die ältesten Handschriften L, K und V im Umfeld der Springiersbacher Kanonikerbewegung entstanden sind, wobei die Handschriften K und V später nach Eberbach gekommen sind.16 Auf der Doppelseite 5v/6r erscheinen die Definitionen der Tugenden und Laster zusammen mit weiteren Texten. Die so kompilierten Texte findet man – auf Latein – in der 1414/1415 entstandenen Mettener Handschrift München, BSB , Clm 820117 innerhalb einer Schemasammlung katechetischer Ausrichtung, die einer Art Kompendium, bestehend aus Bibel, Benediktregel und Texten benediktinischer Autoritäten, angehängt ist.18 Wie schon das ›Speculum virginum‹ entspringt auch dieses Mettener Kompendium einer monastischen Reformbewegung, der Kastler Reform.19 M ist nicht nur hinsichtlich der Texte nahe an R zu rücken, auch die Darstellung der Bäume (Abb. 28 und 29) macht eine gemeinsame Vorlage wahrscheinlich. Die Darstellungen in M und R entstammen einer monastischen Tradition, die durch Text-Bild-Traktate geprägt ist und einen ganz bestimmten Ausschnitt aus dem Themenkreis der Tugenden und Laster aufgreift. Der Text ist wie alle anderen über weite Strecken beschädigt und wird eingeleitet mit einer allbekannten Bestimmung der diemuetichait (Tafel X.3). Diese wird bestimmt als Neigung des willigen Geistes20 (czunay¨gung dez
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William of Hirsau [Abt von Hirsau von 1069 bis 1091] that it seems difficult to doubt the testimony of both the Hirsau library catalogue and of Trithemius that its author was a monk of Hirsau. It is quite possible that he could once have been a student of William of Hirsau and that he lived from about 1080 to 1150.« Einleitung, S. 37*–42* und 45*. The Speculum virginum, S. 41–57, hier: 45 f. Zisterzienser, S. 79 f. Ebd. Fortan mit der Sigle M zitiert. Vgl. Suckale, Untersuchungen, Bd. 1, S. 82–87. Suckale, Klosterreform, S. 99–123, und Taf. 149–155. Zu Aufbau, Inhalt und Entstehungszusammenhang der Handschrift vgl. Kapitel 2.3 in Teil B. e Der Begriff mens/animus (mut) schwankt je nach Kontext zwischen ›Geist‹, ›Denkvermögen‹ (vernunftsbezogen), ›Gemüt‹, ›Herz‹ (sinnenbezogen) und ›Seele‹, ›Wesen‹ (gesamthaft für das menschliche Sein). Zum Begriffskomplex mens/animus als principale animae vgl. Bauer, Claustrum animae, S. 56 ff.
Erläuterungen
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willen muecz),21 die aus der Betrachtung der eigenen Geschöpflichkeit oder aus jener des Schöpfers hervorgeht: ist von der innerchait dez aigens gewissen oder dez scheppfers.22 Es folgen drei eschatologisch ausgerichtete Distinktionen zu den theologischen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe (Tafel X.3.1–3). Die Glaubensdefinition in R (Tafel X.3.1) ergibt keinen Sinn, der Glaube wird jedoch in M als »das Wesentliche aller, auf einen noch nicht geoffenbarten Beweisgrund gerichteten Hoffnungen« festgemacht: Fides est substancia rerum sperandarum argumentum nondum apparentium. Vollständiger ist die Ausführung zur Hoffnung (Tafel X.3.2), die mit den Worten des Petrus Lombardus23 unter begerung definiert wird: Diese liegt in der Gnade Gottes (chomment ist von der genad) und in den Verdiensten des Menschen (fehlt!) begründet und manifestiert sich als willensfestes Harren der zukünftigen Seligkeit (gewill harren der czw chunftigen salichait).24 Die gotez lieb schliesslich (Tafel X.3.3) wird als bant umschrieben, das Gott allein zu knüpfen vermag. Schon ein einziger Tropfen dieser Liebe wiegt die grozz piterchait in der hell auf. Den theologischen Tugenden angegliedert sind die Kardinaltugenden in der Reihenfolge Stärke, Klugheit, Mass und Gerechtigkeit. Stärke ist eine Kraft wider Bosheit und Widerwärtigkeit (Tafel X.3.4), Klugheit (weishait) der bedachte Einsatz der Sprache (Tafel X.3.5) und der voraussehende Scharfsinn;25 Mass bedeutet die Liebe zu Gott, insofern als es die moralische Integrität des Menschen gegen vernunftwidrige Begierden bewahren hilft (Tafel X.3.6), Gerechtigkeit endlich eine den gemeinen Nutzen sichernde und Würde verleihende Ordnung (Tafel X.3.7). Der Text schliesst wiederum mit der Demut, die ein anvankch aller tugent ist (Tafel X.3.8) und als notwendige Voraussetzung aller anderen zu gelten hat. Ihre basale Bedeutung wird mit dem Wort des Evangeliums 21 Meine Übertragung ins Neuhochdeutsche mag hier allgemein die Schwierigkeiten einer adäquaten Wiedergabe veranschaulichen. Die lateinische Vorlage bietet: voluntaria inclinacio mentis, der mittelhochdeutsche Text hingegen bezieht voluntaria bzw. willen nicht mehr auf die inclinacio/czunay¨gung, sone dern auf mens/mut. 22 Ich lehne mich bei der Übersetzung an Jutta Seyfarths zweisprachige Ausgabe des ›Speculum virginum‹ in den Fontes Christiani, Bd. 30/2, an. M: Humilitas est ex intuitu proprie condicionis vel conditoris voluntaria mentis inclinatio. 23 Sententiae in IV libris distinctae (Ed. Grottaferrata 1981), III , dist. 26,1. 24 M: Est autem spes, ut in libro sentenciarum, diffinitur, certa expectacio future beatitudinis veniens ex dei gracia et ex precedentibus meritis. 25 Text bricht ab. Lateinische Variante: Prudencia est per quam subtili sagacitate futurorum euentus colligitur (München, BSB , Clm 8201, fol. 96v).
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untermauert: Wer sich hocht, der wirt genidert, vnd wer sich diemutigt, der wirt gehocht.26 Im Textblock unten rechts des Baumes (Tafel X.4) folgen die Auslegungen der sieben Tugenden.27 Vergleicht man den einführenden Satz in R mit der Überlieferung im Clm 8201 aus Metten (Abb. 29) und im ›Speculum virginum‹ beziehungsweise im nahezu identischen ›Liber de fructibus‹, zeigt sich auch hier die andernorts thematisierte Textvariabilität als Vereinfachung und gleichzeitige Verallgemeinerung der Aussage. Ich setze die vier Textvarianten, die auch in chronologischer Stufung stehen, hintereinander: Qualiter autem istae tres virtutes distinguendae tenendaeque sint, prudentia docet et informat [. . .]. (›Speculum virginum‹, IV ,87) Qualiter autem istae tres virtutes, id est spes, fides, charitas distinguendae, tenendaeque sint prudentia docet et informat [. . .]. (›Liber de fructibus‹, PL 176,998) Taliter iste virtutes distingwende sunt: prudencia docet et format [. . .]. (M) Hie scholt merkchen, wie die tugent sind aus czulegen: Weishait lernt vn‹d› weist [. . .]. (R, Tafel X.4.1)
Die R-Variante bezieht die Auslegung der Kardinaltugenden nicht wie ursprünglich auf die drei theologischen Tugenden, sondern koppelt diese verallgemeinernd von jenen ab: »Die Weisheit lehrt und verdeutlicht«, heisst es in R, während der Text im ›Liber de fructibus‹ lautet: »Die Weisheit lehrt und verdeutlicht, wie die drei Tugenden Hoffnung, Glaube und Liebe zu unterscheiden und zu behalten sind«. Der Text lässt sich in zwei Abschnitte gliedern (Tafel X.4.1 und 4.2). Im ersten Abschnitt wird jede Tugend einzeln durch ihre Tätigkeit definiert. Ich gebe den gebesserten R-Text, den Text der lateinischen Parallelhandschrift M (fol. 96v) und deren Übersetzung: [1] Weishait lernt vn‹d› weist (Tafel X.4.1) prudencia docet et format (M) Weisheit lehrt und verdeutlicht.
26 Lc 14,11. 27 Der vollständige Text ist wiederum lateinisch überliefert in: München, BSB , Clm 8201, fol. 96v, teilweise (bis Z. 118), im ›Speculum virginum‹ ([Ed. Seyfarth, CCCM 5], IV ,85–93) und im ›Liber de fructibus et carnis spiritus‹ (PL 176,998).
Erläuterungen
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[2] gerechtichait cziert vnd vercz‹e›rt (Tafel X.4.1) iusticia ornat et consumat (M) Gerechtigkeit würdigt und vollendet. [3] sterkch helt vnd sterkcht, daz man icht czweifel vnd daz man sich v¨b an guten werkchen (Tafel X.4.1) fortitudo retinet et roborat (M) Stärke hält zurück und kräftigt. [4] Massichait mast vnd vnder s‹chait› (Tafel X.4.1) temperancia moderatur et discernit [et ne errent inhibet, scilicet ut incompetenter inter suos terminos coherceantur] (M) Mass zügelt, unterscheidet, und hindert [die Tugenden] daran, sich zu verirren und sich innerhalb ihres Bereichs unpassend zu bedrängen.
Die nur fragmentarische Fortsetzung des Textes (Tafel X.4.1) lässt sich erneut durch den lateinischen Text aus M vervollständigen: Sic ergo has quatuor virtutes, addas precedentibus trinis et fiet numerus septenis. Septenarius iste numerus plenitudinem septiformis gracie suis executoribus adducit, per quam viciorum propago dissoluitur et corpus dyaboli superatur, per semitam iusticie graditur et virtutum omnium additur origo.28
›Die Siebenzahl der Tugenden führt denen, die sie ausüben, den Reichtum der siebenfachen Gnade zu; durch diese Gnadenfülle wird die Nachkommenschaft der Laster zunichte gemacht und der Leib des Teufels überwunden; so schreitet [der Mensch]29 auf dem Pfad der Gerechtigkeit,30 so fliesst ihm der Ursprung aller Tugenden zu, [d. i. die in Christus verkörperte Demut].‹ Ihre zentrale Bedeutung wird mit einem Passus aus Gregors ›Moralia‹ belegt: Wer groz wirt gehabt, der ist chlain vncz an dy´ marter (Tafel X.4.1). Was hier allgemeinen Sentenzcharakter hat (wer . .., der ...), steht bei Gregor in eindeutig christologischem Zusammenhang: Ad hoc namque unigenitus Dei filius formam infirmitatis nostrae suscepit, ad hoc invisibilis, non solum visibilis, sed etiam despectus apparuit, ad hoc contumeliarum ludibria, irrisionum opprobia, passionum tormenta toleravit, ut superbum non esse hominem doceret humilis Deus. Quanta ergo humilitas 28 Ebd. Der letzte Satz weicht geringfügig ab von der ›Speculum‹- und ›Liber‹Fassung (Ed. Seyfarth, CCCM 5, IV ,92 f.): [. . .] corpus diaboli superatur, et per semitam iustitiae fons et origo virtutum omnium aditur. 29 Ich löse hier das unpersönliche Passiv auf und setze ›Mensch‹ als Subjekt. 30 Ps 22,3: Deduxit me super semitas iustitiae propter nomen suum.
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uirtus est, propter quam solam ueraciter edocendam is qui sine aestimatione magnus est, usque ad passionem factus est paruus?31
Gregor fragt rhetorisch, wie sehr die Demut doch eine Tugend sei, denn um sie allein wahrhaft zu lehren, machte sich der unvergleichlich Grosse bis zu seiner Passion klein.32 Der Passus eröffnet eine Aussicht auf die Endzeit, in der irdisches Tugendstreben zur Ruhe gelangt: Get czw mir all, dy mein begeren,33 wan, wer mich vindt, der vindt daz leben vnd enpfach daz hail von got (Tafel X.4.1).34 Der zweite Abschnitt (Tafel X.4.2) leitet über zur Lasterthematik, indem die Sünde nach Ursachen (vorgankch) und Wirkungen (nachgankch) eingeteilt wird: dem Sündigen voraus gehen versmachen, verlazzenhait, vngenaem und vngehorsam.35 Ebenfalls zu den Ursachen, nicht zu den Wirkungen, wie der Text glauben macht, gehören gedankch, senftichait, wegern, lieb, widerwartichait und mithelen (Tafel X.4.2).36 Der Anfang des Textes oben links (Tafel X.5) ist stark fragmentiert und lautet gebessert und übertragen: †Ein beczaichen der natur [ist] der mensch: [Er gesellt] sich mit seinem geleichen.† Si sullen sich auf geleich lieb haben, wan si sind aines leichnams gelider christi, wann si werdent geistleich erquicket mit einem geist vnd verainigt, wann si habent ain ent vnd nemment ain tauf vnd habent ainen vater, daz ist got. (Tafel X.5) Der Mensch ist ein Sinnbild der Natur: Er gesellt sich zu seinesgleichen. Mensch und Mitmensch sollen einander lieben, da sie (unterschiedliche) Glieder 31 Ed. Adriaen, XXXIV ,23,54. 32 Auch in M ist der Passus leichtfügig abgeändert: Is qui estimacione est magnus factus, est usque ad passionem parvus. 33 Sir 24,26: Transite ad me omnes qui concupiscitis me. 34 Prv 8,35: Qui me invenerit inveniet vitam et hauriet salutem a Domino. 35 M: Antecedencia sunt contemptus, obmissio, ingratitudo, inobedencia, prevaricacio. 36 Ebd.: Sunt et alia antecedencia peccatorum: cogitacio, libido, concupisciencia, delectacio, peruersa monicio et consensus. Der consensus (mithelen, Zustimmung, Einwilligung) findet sich als letzter Schritt in der Dreierfolge der Sünde suggestio (Reiz), delectatio (Ergötzen an der Lust) und consensus. Vgl. dazu: Schnell, Causa amoris, S. 247. Der Text fährt fort mit den Auswirkungen der Sünde wie mit mildernden und erschwerenden Umständen: Sunt et alia, que secuntur peccatum sicut est macula, id est deformitas ymaginis die, et reatus, id est obligacio ad penam eternam. Sunt et alia, que peccatum comitantur, ut peccatorum circumstancie, que peccatum aggrauant vel diminuunt, que nominantur in hoc versu: Quis, quid, vbi, per quos, quociens, cur, quo modo, quando.
Erläuterungen
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desselben Körpers ›Christus‹ sind; denn die Menschen werden durch den(selben) Geist geistlich erquickt und in und mit ihm vereinigt, weil sie ein Ende haben und einen Anfang nehmen in der Taufe. Und alle haben sie einen Vater, der ist Gott.
Diskutabel ist die Bedeutung des ersten Satzes. Ich habe einen Sinn erschlossen, der im Kontext zu passen scheint, und habe entsprechend vorsichtig rekonstruiert. Die Passage scheint auf eine im Mittelalter sehr beliebte Doxa des Aristoteles zu rekurrieren. Aristoteles erörtert darin das Wesen der Freundschaft als eine »Art von Gleichheit«.37 Der fragmentarisch erhaltene Vergleich legt eine Ähnlichkeit zwischen Mensch und Natur nahe, macht aber nicht deutlich, worin diese besteht. Relativ sicher scheint mir, dass die Entsprechung auf die Beziehung zwischen dem Menschen und seinem Mitmenschen zielt. Dem Naturvergleich folgt ein Vergleich, der Christus als Körper mit den Menschen als Glieder ineins setzt, die Menschen auf seinen einheitsstiftenden und in der Taufe begründeten Geist zurückführt und darüber hinaus auf ihre gemeinsame Kindschaft in Gott. Der Passus hat seine sinngemässe Entsprechung im ersten Korintherbrief.38 Der zweite Teil dieses ersten Textblocks (Tafel X.5) umfasst acht Begriffsbestimmungen zu den Nebentugenden der Liebe, die sinngemässe Übertragungen aus dem ›Liber de fructibus carnis et spiritus‹ darstellen (Tafel X.5.1–8):39
37 Aristoteles Latinus. Ethica Nicomachea (Ed. Gauthier), XXVI ,1–3, fasc. quart.: Hii quidem enim similitudinem quandam ponunt ipsam et similes amicos; unde similem aiunt ut similem et koloium ad coloium et quaecumque talia. (VIII ,2,9 ff.). Vgl. auch die bei Jacqueline Hamesse (Les Auctoritates, S. 242,138) vermerkte Sentenz zur Nikomachischen Ethik, VIII ,1,1155a22: Omnis homo omnium hominum naturaliter est amicus. 38 12,12 f.: Sicut enim corpus sumus in Christo unum est et membra habet multa, omnia autem membra corporis, cum sint multa, unum corpus sunt, ita et Christus. Etenim in uno Spiritu omnes nos in unum corpus baptizate sumus. Vgl. auch Rm 12,4 f.: Ita multi unum corpus sumus in Christo, singuli autem alter alterius membra. Der Corpus-Christi-Gedanke lässt sich wie folgt zusammenfassen: Die Menschen, die ein Leib sind, sind Christus als ein Leib. Die vielen Glieder des einen Leibes sind zur gegenseitigen Fürsorge zusammengefügt, sie stehen in der Verbundenheit der Sympatheia. Dazu: Schlier, ›Corpus Christi‹, in: RAC 3, Sp. 437–453, hier 437 f. 39 PL 176,1004 f. Der Text steht dem ›Liber de fructibus‹ näher als dem ›Speculum virginum‹, obwohl die Abweichungen minim sind. Wo der Text fragmentarisch ist, bessere ich unter Einbezug der lateinischen Variante. An dritter Stelle gebe ich den lateinischen Text in der Übersetzung wieder.
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[1] Die grozzichait40 ist ain erber‹iu› charkeit gut. (Tafel X.5.1) ›Die Grosszügigkeit ist eine ehrbare, gute Sparsamkeit.‹ [keine Entsprechung im ›Liber de fructibus carnis et spiritus‹] [2] e Die mittelung ist ein recht czimleickeit des mutz vnd ein vnczerbrechenew zenay¨gung. (Tafel X.5.2) Concordia est convenientium in recto animorum indirupta quaedam et unita complexio. ›Eintracht ist die ungebrochene und geeinigte Verbindung der Seelen, die im Rechten übereinstimmen.‹ [3] Mitleiden ist ein sach, damit der s‹m›ercz dez mitleidens wirt aus gelegt vnd pringt etleich laid in der sel. (Tafel X.5.3) Compassio est, per quam ex proximi dolore condolenti animo quaedam afflictio generatur. ›Mitleiden ist das, wodurch in der mittrauernden Seele aufgrund von Leid beim Nächsten Betrübnis entsteht.‹ [4] e e Pleiben ist ein sach, da mit die [statichait dez] mazzigen [mucz] in chainer vnstatickait die hol irz bloden vbertrift. (Tafel X.5.4) Mansuetudo est, per quam mansueti vel modesti tranquillitas animi, nullius improbitate limitem suae quietis excedit. ›Sanftmut ist die Tugend, bei der die Ruhe des milden oder bescheidenen Gemüts durch keinerlei Schlechtigkeit den Raum ihrer Zurückhaltung verlässt.‹ [5] e e Der frid ist ein sach der mitheler, geschikt in die gut ‹dez mucz›. (Tafel X.5.5) Pax est concordantium in bono animorum ordinata tranquillitas. ›Friede ist die geordnete Ruhe der im Guten einträchtigen Seelen.‹ [6] e Freykait ist ein sach, da mit der frey mut in der miltichait der wesiczung mit chainerlay [karghait] ‹getwungen wirt›. (Tafel X.5.6) Liberalitas est, per quam liber animus in largitione possessorum nulla tenacitate coarctatur. ›Die Freigebigkeit ist eine Tugend, durch die sich ein freier Geist beim Verschenken seiner Besitzungen von keinem Geiz beengen lässt.‹
40 Enspricht etwa der magnificentia, hier im Sinn von ›Grosszügigkeit, Grosstat, Wohltat‹ (Dief. 343).
Erläuterungen
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[7] Miltichait ist ein suzzichait dez milten mucz vnd ist allen wegerenden ein genewe helfferin. (Tafel X.5.7) Pietas est ex benignae mentis dulcedine gratia omnibus auxiliatrix affectio. ›Mildtätige Frömmigkeit ist die liebevolle Hilfe allen gegenüber aus der Süsse eines gütigen Geistes.‹ [8] Der ablaz ist ein ablaczung der fre‹m›den schuld, die chumbt von seiner gewissen. (Tafel X.5.8) Indulgentia est remissio reatus alieni ex sui consideratione descendens. ›Nachsicht ist der Nachlass fremder Schuld, der aus der Betrachtung eigener Schuldhaftigkeit folgt.‹
Bleibt noch der obere rechte Text, der nach den sechs Fittichen der moralisierten Cherubsfigur im busstheologischen Traktat ›De sex alis Cherubim‹ gegliedert ist (Tafel X.6).41 Den Anfang macht die erste Feder des ersten Flügels, die für die Wahrheit in der Beichte steht (Tafel X.6.1). Es folgen die sechs paarweise gruppierten, monastisch gefärbten Stufen der inneren Vervollkommnung. Diese reichen von der vorbildlichen Beichte (peicht, confessio) und nachfolgenden Busse (puezz, satisfactio) über die Reinheit des Fleisches (rainichait dez leibez, carnis munditia) und des Gewissens (lautterchait dez mucz, puritas mentis) hin zur Nächstenliebe (lieb dez nachsten, dilectio proximi) und zur Gottesliebe (gocz lieb, dilectio Dei).42 Die Definitionen sind wie schon im Traktat knapp gehalten. Etwas ausführlicher und vom Traktat abweichend sind die Angaben zur Beichte (Tafel X.6.1), wo zusätzlich fragmentarische Definitionen unbekannter Provenienz geliefert werden, zur Busse (Tafel X.6.2), wo der Text sich auf Gregor bezieht,43 und zur Gottesliebe (Tafel X.6.5), die nach den drei biblischen Seelenkräften44 erstrebt werden soll – mit ainem ganczem herczen, daz ist mit der vernuft an czweifel; mit ganczer sel, daz ist mit willen an widerwartichait; mit ganczem muet, daz ist mit gedachnücz. Abschliessend wird die Nächstenliebe umschrieben als (notwendige) Einsicht in Wirken (chraft) und Gesetzlichkeit (recht) der Natur (Tafel X.6.6). 41 PL 210, 265–280. 42 Die letzten beiden Fittiche sind vertauscht. 43 Für den Passus findet sich, soweit ich sehe, keine Entsprechung in Gregors Werken. Zu denken ist allenfalls an die Ausführungen zur Sünde in den ›Moralia‹ (Ed. Adriaen), XXV ,9,22. 44 Mt 22,37: Diliges Dominum Deum tuum ex toto corde tuo et in tota anima tua et in tota mente tua. Vgl. auch Dt 6,5.
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Das Baumdiagramm ist das am häufigsten anzutreffende Bildmotiv für die Visualisierung von Tugenden und Lastern.45 Massgeblich, aber nicht ausschliesslich traditionsbegründend war der ›Liber de fructibus carnis et spiritus‹, dem schon in den frühesten Handschriften zwei Baumdarstellungen beigegeben wurden.46 Nahezu zeitgleich sind die Baumdarstellungen des ›Liber floridus‹ des Lambert von St. Omer47 (um 1120) und jene aus dem ›Speculum virginum‹ (bald nach 1140),48 das im gleichen Umfeld entstanden sein dürfte und möglicherweise aus dem ›Liber de fructibus‹ schöpft.49 Anhand dieser drei frühen Beispiele lassen sich ein paar Konstanten in den Darstellungen festmachen, die zumeist in anspruchsvolleren, über das Schematische hinausgehenden Varianten vorkommen: a) die symbolische Aufladung des Baumes mittels dingsymbolischer Ausstaffierung (fructus spiritus und fructus carnis als Lilien und Feigen, Blätterfülle und Kahlheit) und/oder mittels kontrastierender Effekte (aufwärts stehende und abwärts hängende Blätter) b) die Integration von Figuren an der Wurzel (Humilitas/Ecclesia/Maria/ Jerusalem und Superbia/Synagoga/Filia Babylonis/Babylon), in den sieben Ästen (Personifikationen der Tugenden und Laster) und in der Baumkrone (Caritas/Novus Adam [Christus] und Luxuria/Vetus Adam)50 c) die Verteilung der Tugenden und Laster auf die Äste (in Dreiecksform oben die theologischen Tugenden, in Quadratform unten die Kardinaltugenden) und die herausragende Stellung des Paares caritas/castitas und luxuria/inanis gloria durch ›Wipfelstellung‹ und durch Auszeichnung vor 45 Zum Bildmotiv allgemein vgl. O’Reilly, Studies, S. 325–338. Suckale, Untersuchungen, Bd. 1, S. 82–87. Katzenellenbogen, Allegories, S. 57–74 (Taf. XXXVIII–XLI ). Rehm, Bebilderte Vaterunser, S. 121–125 und 145 ff. Sandler, The Psalter, S. 50–53 (Abb. 40 ff.). Hier auch das vollständigste Handschriftenverzeichnis, S. 108–115. Ernst, Carmen figuratum., S. 653 f. Newhauser, The Treatise, S. 160 f. Suckale, Klosterreform, S. 113–118. 46 So in: Salzburg, UB , M I 32, fol. 75v/76r (2. Viertel 12. Jh.). Dazu: Lutz, Spiritualis fornicatio, S. 260 f. (Abb. 20 und 21). 47 Lambertus s. Audomari canonicus, Liber floridus (Ed. Derolez), fol. 231v/ 232r, S. 462 f und S. [102 f.]. Vgl. dazu Schiller, Ikonographie, Bd. 4,1, S. 67 f. 48 Ed. Seyfarth, CCCM 5, S. 133*–137* (Abb. 5: Köln, Hist. Archiv der Stadt Köln, W 276a, fol. 11v/12r). 49 Zum Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem ›Speculum virginum‹ und dem ›Liber de fructibus carnis et spiritus‹ vgl. Bauer, Claustrum animae, S. 233– 245, hier: 242. 50 Diese Figuren können auch an der Wurzel vorkommen.
Erläuterungen
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allen anderen zehn Untertugenden und zwölf Unterlastern (versus sieben Untertugenden und Unterlastern)51 Vor dem Hintergrund dieser Merkmale und unter Einbezug der identischen Darstellung in der Mettener Handschrift München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 8201 (Abb. 28 und 29) ist nun der Tugendbaum aus R zu kommentieren. Der Baum ist realistisch wiedergegeben als Rebbaum und dadurch biblisch verankert in Christi Rede vom Weinstock (Io 15,5: ego sum vitis vos palmites).52 An Christus scheiden sich die guten Bäume, die Früchte tragen, und die schlechten, die verdorren, umgehauen und ins Feuer geworfen werden (Mt 7,15–20: arbor bona – arbor mala; fructus boni – fructus mali, und Io 15,5 f.). Hinzu kommen die paulinischen Tugend- und Lasterkataloge (Gal 5,19–23: opera carnis – fructus spiritus) und die Gleichsetzung der cupiditas mit der Wurzel alles Bösen (I Tim 6,10: radix omnium malorum). Der Baum wurzelt in Christus, dessen aufgeschlagenes Buch man nach Apc 3,5 hier unter eschatologischen Vorzeichen als Buch des Lebens verstehen kann. Der Vogel mit Nimbus in der Baumkrone könnte allgemein die auf den Baum sich absenkenden Früchte des Geistes symbolisieren,53 wäre demnach eine Taube und eröffnete spezifische Assoziationen zu den sieben Gaben des Heiligen Geistes (Is 11,2). Die Verteilung der Tugenden weicht ab von den oben genannten Vorläufern, indem die theologischen Tugenden nicht auf den Kardinaltugenden fussen, sondern diese durch ihre Platzierung auf den unteren Ästen und in der Baumkrone dreieckig ›umspannen‹. Was nun R auszeichnet, ist die Übergewichtung bildlicher Komponenten wie Blattwerk und Reben54 zulasten einer geordneten Disposition, die gerade bis zur Siebenteilung reicht, bei den weiterführenden Verzweigungen sich aber in unübersichtlichen Wucherungen verliert. Ausdruck dieses Ungleichgewichts zwischen Text und Bild ist das auffällige Kleinformat der Textinserate auf dem Blattwerk (Tafel X.1.1–1.7). Die beiden Tugenden der diemuetichait und lieb sind beide wenig präzis am Stamm angebracht, gerechtichait und sterkch wurden vertauscht, was an den Untertugenden auf 51 Die Baumdarstellungen des ›Liber floridus‹ wurzeln in der caritas beziehungsweise cupiditas. Die weitere Verzweigung weicht ab vom ›Liber de fructibus‹ und vom ›Speculum virginum‹, die hier eine eigene Tradition bilden. 52 Zur Verortung der Bäume in der Bibel vgl. Lutz, Spiritualis fornicatio, S. 257 f., und Ernst, Carmen figuratum, S. 653. 53 Nach Lc 3,21. 54 Diese fehlen in der Mettener Darstellung.
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den Blättern erkennbar ist. Die Subtugenden sind zu siebten zusammengefasst, die lieb umfasst deren acht. Doppelungen, Verwechslungen und Missverständnisse kommen häufig vor: unter ›Liebe‹ steht die freihait, die eine Übersetzung aus der missverstandenen liberalitas sein könnte; unter ›Hoffnung‹ steht gleich zwei Mal die Wiedergabe für gaudium als mitfreuen und freud; unter ›Stärke‹ befindet sich die zur ›Hoffnung‹ gehörende rew und die zum ›Mass‹ passende ve‹r›sagung; unter ›Gerechtigkeit‹ findet man die vnschuld, die in unmittelbarer Nähe zu den Liebestugenden steht, zu denen sie eigentlich zählt; in der gleichen Kategorie ist die worhait doppelt aufgeführt; schliesslich nimmt die straff den Platz der timor Domini unter der ›Weisheit‹ ein. Den Verwechslungen Vorschub leistet zusätzlich die sich überschneidende oder gar austauschbare Begrifflichkeit, die am besten greifbar ist in Begriffen wie peleibung (mansuetudo) (Tafel X.1.3) – pleibung (perseverancia) (Tafel X.1.7) – beleiben (longanimitas) (Tafel X.1.2), massichait (temperancia) (Tafel X.1.2) – massichait (modestia) (Tafel X.1.6) oder haldung (constancia [?]) (Tafel X.1.7) und haltung (continencia) (Tafel X.1.1) und sich nur im Kontext der lateinischen Vorlagen präzis zuordnen lässt. Den Vorwurf für die Figur des Cherubs bildete der zweite Teil des Traktats ›De sex alis Cherubim‹. Für das dort ausgebreitete, busstheologische Programm war freilich von Anfang an eine Illustration vorgesehen, die, auf Jesajas Bild des Seraphs in der Thronsaalvision (Is 6,1–10) und auf Ezechiels Bild des Cherubs in der Vision des Tempels (Ez 10,1–22 und 41,18) fussend, die Figur Christi darstellen sollte.55 Es ist nun genau diese Textstelle des Traktats (PL 210,272 f.), die die Auslegung der beiden Seraphen als Altes und Neues Testament, ihrer drei Flügelpaare als drei (bzw. vier) Schriftsinne und ihrer Körper als Leib Christi und Ecclesia beschliesst und zur Ausdeutung des in Fittiche und Federn unterteilten Cherubs im zweiten Teil des Traktats überleitet, der wesentlich häufiger allein überliefert ist als in Kombination mit dem ersten Teil, und schon in einer Gruppe englischer Handschriften des ausgehenden 12. Jahrhunderts den Augusti55 PL 210,272 f.: Ut autem exemplar hoc evidentius tibi fiat, totam personam Christi, id est caput cum membris, in forma visibili depinxi, ut cum totum videris, quae de invisibili parte dicuntur, facilius intelligere possis; talem vero personam hic tibi exprimere cupio, qualem se Isaias vidisse testabatur ut persona prae oculis supposita, cum expositione auctoritatis concordet. Et ne tantae materiae metam excedamus, haec de pedibus sedentis super solium excelsum, quos seraphim duabus velabant alis, scriptori, et si non auditori, commemorasse sufficit; qui a facie exorsus sedentis, per medium usque ad pedes, via duce, secundum Isaiae et Ezechielis visionem perveni.
Erläuterungen
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nerprior der Diözese Gloucester, Clemens von Llanthony, als Verfasser nennt.56 Der erste Teil des Traktats, der Kommentar zur Vision Jesajas, ist bis auf wenige kleine Änderungen der Meditation ›De arca Noe morali‹ des Hugo von St. Viktor entnommen. Trotz unterschiedlicher Provenienz beider Teile lässt sich auch ihre gemeinsame Überlieferung inhaltlich gut begründen: Die theologisch versierte und biblisch durchdrungene Auslegung des Seraphs ergänzt den busspraktischen Katalog der Cherubsflügel in idealer Weise, das meditative Seraph›Bild‹ findet im mnemonischen Cherub-›Bild‹ eine adäquate Fortsetzung. Dass der Cherub in der Ikonographie manchmal auch als Seraph betitelt wird,57 gibt die Angleichung beider Figuren bei [Alanus] wieder, der, obwohl von der Auslegung des Seraphs ausgehend, am Schluss seiner Expositio sich auch auf die Prophetie Ezechiels bezieht, die nur die Cherubsgestalt kennt.58 Entsprechend dem zweiten Teil des Traktats kommt es beim Bild des Cherubs59 in erster Linie auf seine sechs Flügel an, die, zu Paaren vor dem Körper, neben den Schultern und über dem Kopf angeordnet, von unten nach oben und von links nach rechts zu lesen sind. Der Bildtyp des Cherubs zeigt immer wieder eine Beeinflussung durch die Seraphvorstellung und trägt so der Tatsache Rechnung, dass beide Engelsarten durch die im Neuen Testament vorbereitete Angleichung beider Figuren (Apc 4,6–11) nicht von56 Für Alanus als Verfasser des ersten Traktatteils spricht die busspraktische Ausrichtung der Schrift, die sich thematisch deckt mit der Verteidigung des Busssakramentes im ›Liber poenitentialis‹ und in der ›Ars praedicandi‹. Vgl. Alain de Lille. Textes ine´dits (Ed. d’Alverny), S. 154 f. [Alan of Lille], On the Six Wings (Übers. Balint), S. 83 f. Ernst, Carmen figuratum, S. 656 f. 57 So in M, fol. 97r. Vgl. Suckale, Untersuchungen, Bd. 1, S. 91 f. Suckale, Klosterreform, S. 118 f., und Taf. 154. So auch in der Handschrift Wien, ÖNB , Cod. 1548, fol. 17v. 58 Das gleiche Schwanken verrät schon Clemens’ Traktat, der nach der Handschrift Oxford, Bodl., MS . e Mus. 62 (um 1200) im Titel von den sechs Flügeln des Seraphs spricht, im Explicit jedoch von denen des Cherubs. Vgl. d’Alverny, Alain de Lille, S. 155. Zur Angleichung beider Figuren vgl. [Alan of Lille], On the Six Wings (Übers. Balint), S. 84 f. 59 Literatur zum Bildmotiv ist nur sehr dürftig vorhanden: Evans, ›Tugenden‹, in: LCI 4, Sp. 364–380, hier: 372. Schönberger, ›Cherub‹, in: RDK 3, Sp. 428– 433. O’Reilly, Studies in Iconography, S. 325–338. Suckale, Untersuchungen, Bd. 1, S. 91 f. Katzenellenbogen, Allegories, S. 57–74, Sandler, The Psalter, S. 82 f., hier Handschriftenliste. Ernst, Carmen figuratum, S. 656–660. Stammler, Deutsche Philologie, Bd. 2, Sp. 858–862. Suckale, Klosterreform, S. 118 f.
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einander unterschieden werden und beide in der Folge sechs Flügel tragen.60 Dazu kommen Einflüsse aus dem Umfeld Bonaventuras, d. i. seines Traktats ›De sex alis Seraphim‹61 und vor allem seiner ›Legenda maior‹,62 die von Franziskus’ Vision des Gekreuzigten mit Seraphsflügeln berichtet und in der Franziskus-Ikonographie ihren Niederschlag findet. Die Ablösung des Bildes vom Traktat erfordert eine Reduktion des schon summarischen Textes auf je fünf moralische Imperative, die den einzelnen Federn der Fittiche inseriert werden. Die Reihenfolge der Fittiche und Federn entspricht derjenigen des Textes. Ungewöhnlich ist die volkssprachige Textierung in R, des ansonsten, soweit ich sehe, sonst nur lateinisch tradierten Textes. Weniger ungewöhnlich ist die trotz der einfachen Konzeption der Inhalte hohe Fehlerhaftigkeit.63 In unserem Fall lässt sich diese an mehreren Inseraten ablesen, die versehentlich dem Weisheitsturm entnommen worden sein könnten, an der Vertauschung der Reihenfolge der Federn im vierten Flügel (Tafel X.2.4), an unpräzisen Übersetzungen wie diemutichait (Tafel X.2.2.5) für orationis devotio, gerechtichait (Tafel X.2.4.5) für affectus sinceri rectitudo und an inhaltlichen Missverständnissen wie chains dings schallen (Tafel X.2.5.1) für nulli nocere (schaden), gericht d‹ur›ch got wehalt (Tafel X.2.6.2) für propter Deum sua distribuere oder die Wiedergabe der gleichlautenden fünften Feder des fünften und sechsten Fittichs (in hiis perseverare) durch den frid lieb haben (Tafel X.2.5.5) und an der stat czw beleiben staet64 (Tafel X.2.6.5).
4.1.2.2 Lasterbaum und Hure Babylon Der Lasterbaum65 füllt im Gegensatz zum Tugendbaum die ganze Höhe der Seite (fol. 6r, Tafel XI.1). An ihm hängen Eicheln und Eichenblätter. Das zumeist negativ besetzte Bildmotiv der Eiche ist biblisch nicht belegt und 60 Vgl. Schönberger, ›Cherub‹, in: RDK 3, Sp. 431 f. Eindeutiger als Cherub, aber auch mit sechs Flügeln ausgestattet, ist der Bildtyp des Tetramorphs. Vgl. ebd. S. 429 ff. 61 Ed. Quaracchi 1898, Bd. 8, S. 131–151. Auf die sechs Flügel verteilen sich die Tugenden des geistlichen Lebens: zelus iustitiae, pietas, patientia, exemplaritas vitae, circumspecta discretio, devotio ad deum. 62 Ed. Quaracchi 1895, Bd. 7, S. 542 f. 63 Vgl. Wien, ÖNB , Cod. 1548, fol. 3v. Hier hat der Schreiber die Inschriften der ersten vier Flügel durcheinandergebracht. 64 Mit dieser Umschreibung könnte stabilitas loci gemeint sein. 65 In identischer Ausführung, aber lateinisch textiert in M, fol. 96r (Abb. 28).
Erläuterungen
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nur allgemein mit den Lastern in Verbindung zu bringen. Ebenfalls im Allgemeinen bleibt die Bedeutung der Eule, die auf der Baumkrone abgebildet ist. Man hat von der Symbolik her an Finsternis und Tod zu denken und weitergehend an die Eule als Sinnbild des Teufels.66 Die sieben Nachkommen der dem Baumstamm eingeschriebenen Hochfarat (superbia) sind auf Parallelität hin angeordnet: die unteren vier Äste teilen sich der ›Zorn‹ (czoren, ira) und der ›Neid‹ (hazz, invidia), gefolgt vom Lasterpaar ›Faulheit‹ (Trachait, acedia: Überdruss) und ›Geiz‹ (geitichait, avaritia). Im obersten Ästepaar befinden sich die fleischlichen Sünden der Unkeuschheit (Vnkewsch, luxuria) und Völlerei (frassichait, gula).67 Die Baumkrone als Verlängerung des Stammes ist der inanis gloria vorbehalten, die als unmittelbarer Ausdruck der superbia dieser folgerichtig ›aufgepflanzt‹ ist.68 Sechs der sieben Laster weisen sieben bis neun Untertugenden auf, die richtig zugeordnet sind und trotz der weniger differenzierten Begrifflichkeit der Volkssprache mehr oder minder69 präzise Wiedergaben der lateinischen Termini darstellen. Aus der Reihe fällt anzahlmässig die ›Faulheit‹ (Tafel XI.1.4.3), die insgesamt 18 Unterkategorien umfasst. Diese hängen, wenig übersichtlich und einzeln oder gruppenweise gebündelt, am entsprechenden Ast. Das in den Baumstamm eingezeichnete Unge66 Der Lasterbaum in der Hs. Wien, ÖNB , Cod. 12538 bringt sieben Eulen (fol. 13r, Abb. 34) und ihnen gegenüber auf der Krone des Tugendbaums (fol. 12v, Abb. 33) sieben Tauben. Vgl. Suckale, Untersuchungen, Bd. 1, S. 84 f. Suckale, Klosterreform, S. 114–116. 67 Zur Unterscheidung zwischen geistigen und fleischlichen Sünden vgl. Gregor, Moralia in Iob (Ed. Adriaen), XXXI ,45,88. 68 Hier fehlt die Inschrift auf dem Ast. Sie müsste vppigew er heissen. 69 Der Begriff czoren erscheint beispielsweise als Haupt- und Unterlaster zugleich, einmal in der Bedeutung von ira, ein andermal in der spezifischeren Bedeutung von furor (Tafel XI.1.4.1); ebenfalls zwei Mal findet man die e trachait, die sich zudem mit der faulchait und der versaw‹m›uzz überlappt (Tafel XI.1.4.3). Die lateinische Version in M bietet hier die Präzisierungen tarditas (Trägheit), tepiditas (Ermattung), sompnolencia (Schläfrigkeit) und torpor (Stumpfsinn). Die sowohl unter ›Trägheit‹ wie auch unter ›Völlerei‹ aufgee führte vnstatichait (Tafel XI.1.4.3 und 1.4.6) gehört nur unter erstere. Eine weitere Doppelung ist der raupp, der unter ›Geiz‹ (Tafel XI.1.4.4) und versehentlich unter ›Zorn‹ (Tafel XI.1.4.1) aufgelistet ist. Ferner könnte der unter ›Unkeuschheit‹ eingeteilte Laster new fund (Tafel XI.1.4.5) eine Übersetzung der praesumtio novitatum sein und die reichtung (Tafel XI.1.4.6) eine Übertragung aus divitiae statt deliciae. Verwechselt wurden hazz und neid (Tafel XI.1.4.2) (in Text wie in Bild). Hass (odium) gehört als Untereinheit zum Neid (invidia).
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heuer70 stellt die Hure Babilonia (Tafel XI.1.1) dar, die aus dem Meer aufsteigt und gemäss Apc 13,171 an ihren sieben Häuptern und zehn Hörnern zu erkennen ist. Dieser Textpassus steht in deutscher Sprache auf dem Spruchband des links neben Babilonia knienden Johannes (Tafel XI.2), der als bartloser Jüngling in langem, faltenreichem Gewand dargestellt ist.72 Den sieben Köpfen der Hure entsprechen die Hauptlaster; deren vier sind den Köpfen beigeordnet (Tafel XI.1.2), die vppigew er und die Frassichait sind versehentlich zwei Hörnern eingeschrieben (Tafel XI.1.3), die Hochfarat (Tafel XI.1.4.7) befindet sich als Inschrift in der Mitte des Stammes, nicht etwa wie zu erwarten unmittelbar über dem entsprechenden Haupt, das als Auszeichnung vor allen anderen, der Babilonia ebenbürtig, eine Krone trägt. Die Inschriften auf den restlichen acht Hörnern (Tafel XI.1.3) wiederholen teils die oben disponierten Unterlaster des ›Geizes‹, ergänzen teils die Lasterliste um den Ämterkauf (symoney), den Kirchenraub (kirchpruchel) und die üble Nachrede (posz czung). Die Beschriftungen der zwei Hörner ganz rechts beruhen wiederum auf Missverständnissen seitens des Schreibers: an der Stelle der Frassichait sollte ein deutsches Pendant für ypocrisis stehen; anstelle der Verlegenheitsbeschriftung daz laster ein Pendant für fictum secutorium.73 Im Text rechts unter dem Baum schliesslich (Tafel XI.3) wird der Leser dazu angehalten, anhand der angeführten Definitionen die einzelnen Todsünden auseinanderzuhalten. Die Reihenfolge entspricht dem bekannten ›lateinischen‹ Merkwort ›SALIGIA ‹.74 Die Überlieferungssituation der Lasterdefinitionen gleicht derjenigen der Tugenddefinitionen. Als Quellen kommen wieder das ›Speculum virginum‹ und der ›Liber de fructibus‹ in Betracht, als mögliche Vorlage ein Text, wie 70 Vgl. Gerhardt, Reinmars von Zweter ›Idealer Mann‹, S. 222–251, hier: 228– 232. 71 Vgl. auch Apc 12,3, 14,8 und 17,3. Zur siebenköpfigen Bestie als Gliederungsvorgabe für Lastertraktate vgl. Hamburger, St. John, S. 163 ff. 72 Zum jugendlichen Johannes-Typus Lechner, ›Johannes der Evangelist‹, in: LCI 7, Sp. 108–130, hier: 111 f. Zahlreiche Abb. bei Newhauser, The Treatise, Abb. 1–33. 73 So nach M, fol. 96r. 74 Für: Superbia – avaritia – luxuria – ira – gula – invidia – acedia. Neben dieser Reihung besteht die nicht minder verbreitete SIIAAGL -Reihe, also superbia – invidia – ira – acedia – avaritia – gula – luxuria. Vgl. Gregor, Moralia in Iob (Ed. Adriaen), XXXI ,45,88. In R tauschen ira und invidia die Plätze, die inanis gloria fällt mit der superbia zusammen. Vgl. dazu: Newhauser, The Treatise, S. 68, Schweitzer, Tugend und Laster, S. 9. Bloomfield, The Seven Deadly Sins, S. 86.
Erläuterungen
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er in M greifbar ist.75 Ich gebe hier zum Vergleich den lateinischen Text von M (Abb. 28) und davon die Übersetzung: [1] e Hochfart ist ein boser vbermut, der den armen versmacht vnd seinen oberen vnd seinen geleichen gert cze herschen et cetera. (Tafel XI.3.1) Superbia est elacio uiciosa que inferiorem despiciens superio[ri]bus et paribus satagit dominari. ›Hochmut ist der lasterhafte Übermut, der den Niedriggestellten verachtet und sich eifrig bemüht, den Höher- und Gleichgestellten zu beherrschen.‹
Geiz, Unkeuschheit und Gefrässigkeit lassen sich alle drei auf eine je unterschiedlich gerichtete wegerung (Tafel XI.3.2, 3.3 und 3.5) zurückführen:76 [2] Geitichait ist ein vnderfullung einez yeglichen dingez vnd ein vn‹e›rsamew begerung. (Tafel XI.3.2) Avaricia est glorie sue uel qu‹a›rumlibet rerum insa‹ti›abilis et inhonesta cupido. ›Habsucht ist die unersättliche und unehrenhafte Begierde nach Ruhm und nach jeder Art von Besitz.‹ [3] Vnkeusch chumbt von der wegerung vnd von der nachuolgung dez posen mutez.77 (Tafel XI.3.3) Luxuria est ex inmundis descendens desiderijs lubrica mentis et effrenata prostitucio. ›Ausschweifung ist das schlüpfrige und zügellose Zurschaustellen des Geistes aufgrund unreiner Begierden.‹78 [4] e ‹H›az ist ein ‹sund›, die den m‹u›t encziklichen pringt yn den smerczen von der vnwi‹r›digen er. (Tafel XI.3.4) Invidia est, que animum frequenter reddit in dolorem ex indigno honore, quem tu appetebas. ›Neid ist das Laster, das das Herz häufig in Schmerz versetzt über eine unwürdige Ehre, die du selber erstrebtest.‹ 75 Fol. 96r. Mit dem Mettener Text über weite Strecken identisch sind die Lasterdefinitionen im ›Tractatus de viciis principalibus‹ (Oxford, Bodl., MS . Laud Misc. 544, fol. 8r–16r). 76 Die M-Fassung findet sich leicht geändert im ›Speculum virginum‹ (Ed. Seyfarth, CCCM 5, IV ,110–183) wieder. 77 R unterscheidet im Gegensatz zur lateinischen Definition nicht nach Ursache und Wirkung. 78 Die ›Speculum virginum‹-Fassung (Ed. Seyfarth, CCCM 5, IV ,112 f.) bezieht zusätzlich die ›Zurschaustellung des Fleisches‹ ein: Luxuria est ex inmundis descendens desideriis lubrica et effrenata mentis et carnis prostitutio.
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[5] Frassichait ist ein sach, ‹dy er begert dez vnmassigen lebens› vnd [ist die] ‹scharffe› wegerung dez ezzens.79 (Tafel XI.3.5) Gula est totius corporis causa illecebros‹us› 80 et auidus ciborum appetitus. ›Völlerei ist das verführerische und gierige Verlangen nach Speisen um des ganzen Körpers willen.‹
Neid und Zorn sind Formen psychischen Schmerzes: Neid resultiert aus Ehrstreben, definiert sich als Ungenügen im Vergleich mit anderen; Zorn ist das Unvermögen, den inneren Schmerz zu ertragen, und pervertiert sich nach aussen in Form von Rachsucht: [6] e Czorn ist ein vnseglich betrupnuz dez mutez vnd ist von dem smerczen dez inneren mucz. (Tafel XI.3.6) Ira est iracionabilis perturbacio mentis et ulciscendi libido ex interni doloris inpaciencia. ›Zorn ist die unvernünftige Verwirrung des Geistes und die Begierde nach Rache, die aus dem Unvermögen, inneren Schmerz zu ertragen, entsteht.‹
Der Trägheit schliesslich ist wie schon beim Lasterbaum mehr Gewicht gegeben. Sie entsteht aus der Verwirrung des Geistes und zeigt sich in grenzenloser Faulheit oder in massloser Bitterkeit, die die geistliche Freude auslöscht und den Geist zur Selbstzerstörung zwingt: [7] Trachait [ist ein traurichait, die] chumbt von der irrsalung dez mutez vnd [ist] faulchait an hindernuzz [oder] vnmassigew pitterchait, ‹von der die geistliche› freud verlischt vnd der mut sich selb an yn verchert. (Tafel XI.3.7) Accidia est ex confusione mentis nata tristicia siue tedium uel amaritudo immoderata, qua spiritualis iocunditas extinguitur precipicio desperacionis mens in seipso subue‹r›titur. ›Trägheit ist die aus einer Verwirrung des Geistes hervorgehende Traurigkeit oder Überdruss oder unmässige Bitterkeit, durch die die geistige Freude ausgelöscht wird. Der Geist zerstört sich im Abgrund der Verzweiflung selbst.‹
79 Vermutlich hat der Übersetzer totius corporis causa sinnverstellend als Relativ aufgelöst: ein sach (causa), dy er (totum corpus) begert dez vnmassigen lebens (illecebros‹us› appetitus?). Die Anbindung des zweiten Satzteils (der scharffen wegerung) ist so tautologisch: begert der wegerung. 80 Gebessert nach der ›Speculum virginum‹-Fassung (Ed. Seyfarth, CCCM 5, IV ,125 f.).
Interpretation
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4.2 Interpretation Die Interpretation gliedert sich in zwei ungleiche Teile. Vorab folgen ein paar Überlegungen zur Entstehung der Doppelseite 5v/6r. Daran schliesst sich eine Interpretation des Text-Bild-Ensembles an unter Einbezug der durch die Quellen und Parallelüberlieferung vorgegebenen Wissenshintergründe.
4.2.1 Planung und Ausführung Was an den übrigen Tafeln immer wieder abzulesen ist, trifft hier im besonderen Mass zu: Planerischer Anspruch und konkrete Ausführung driften auseinander. Ich beginne bei der Planung der Seite 5v (Tafel X ). Die vier Textblöcke (Tafel X.3–6) sind auf die Bildgehalte abgestimmt und kohärent zur Leserichtung, die für die Bäume gilt, angebracht: Die Definitionen der Tugenden und ihre Auslegungen stehen unten links und rechts der als Wurzel fungierenden Christusfigur; oben links steht ein zweiteiliger Text, der das Verhältnis von Mensch und Mitmensch in der Natur begründet sieht und dieses paulinisch unterlegt sowie daran Definitionen der Liebe anschliesst, die gleich darunter in der Baumkrone zur Disposition gestellt sind; oben rechts steht ein Text mit den Definitionen der monastisch gefärbten Cherubstugenden. Die vier Texte hat man wohl als Exzerpte zu sehen, die sinnvoll mit biblischen und patristischen Textstellen angereichert wurden. Die zwei unteren Texte (Tafel X.3 und 4) liegen in identischer Fassung in der genannten Mettener Handschrift vor, zudem im ›Liber de fructibus carnis et spiritus‹ und im ›Speculum virginum‹, wo zusätzlich auch die Definitionen der Liebestugenden vorkommen. Sie sind blockweise unter dem Tugendbaum angeordnet, links und rechts der in der Christusfigur personifizierten Demut. Die Abstimmung der einzelnen Texte mit den Bildteilen ist durchdacht, wie auch die Abstimmung zwischen Traktatexzerpten einerseits und Bibel- und Gregor-Auszügen andrerseits. Gut erkennen lässt sich das am Text oben links (Tafel X.5), der im engeren Sinn von der paulinisch fundierten (Nächsten-)Liebe und ihren comitatus handelt, im weiteren Sinn insofern als programmatisch für die christologische Ausrichtung der Seite gelten darf, als Naturvergleich und Leib-Christi-Vergleich darunter so ins Bild gesetzt sind, dass ein Rebbaum in einer Christusfigur wurzelt. Hält man nun dieser überlegten Planung die fehlerhafte Abschrift entgegen, relativiert sich zwar die Einschätzung hinsichtlich ihrer Rezeption, nicht aber ihr ursprünglich intendierter Bedeutungsgehalt, der
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aus der wechselseitigen Bezugnahme von Text und Bild einer vielleicht qualitätsvollen Vorlage besser erschlossen werden konnte als im vorliegenden Beispiel.
4.2.2 Zusammenhänge und Wissenshintergründe Der Figur des Baumes ist eigen, dass sie über die schematische Disposition ihrer Inhalte hinaus gleichzeitig selber Teil der zur Diskussion gestellten Inhalte ist. Der Text-Bild-Bezug dient hier nicht nur der formalen und inhaltlichen Anordnung, sondern fordert auch zu allegorischer Interpretation heraus.81 Ich beginne deshalb mit den Bedeutungskomponenten des Baumes und seiner Textierung im Allgemeinen und denen des Tugendbaumes im Besonderen und komme dann auf die beigegebenen Texte zu sprechen. Gleich verfahre ich mit der Cherubsgestalt und dem Lasterbaum.
4.2.3 Fructus spiritus in Christo Der Bildlichkeit des Baumes inhärent ist neben der systematisierenden Stemmatik die Symbolik des Weges. Dieser Weg beginnt bei der Entscheidung für den Tugend- oder Lasterweg und wird im Aufstieg (bzw. im Wachstum) durchschritten. Vorbildlich zugespitzt ist die Entscheidung für den einen oder anderen Weg in der Titelminiatur der Handschrift London, British Library, MS Additional 30024 von Brunetto Latinis ›Livres dou Tresor‹ (um 1300, Abb. 30). Unmittelbar über der Scheidung der beiden Stämme des Baumes, gleichsam vor der Entscheidung zwischen Gut und Böse, steht ein nackter Mensch als Sinnbild für die Seele. Ihn flankieren links und rechts eine ihm zuredende Personifikation der Humilite und ein auf ihn zureitender Orgeiell (Superbia). Weiter oben redet ihm von der einen Seite ein Engel zu, von der andern Seite eine geflügelte Teufelsgestalt. Im noch ungetrennten Stamm steht eingeschrieben: Ce est l’arme (sic!), womit der Aufstieg der Seele entlang der Stämme auf die zwei möglichen Lebenswege des Menschen bezogen wird. Zentrales Thema ist in diesem Beispiel wie auch in unserem die Wahl des richtigen Weges.
81 Karl-August Wirth macht auf die Gefahr einer solchen Reduktion aufmerksam (Von mittelalterlichen Bildern, S. 295). Eine reduzierte Interpretation des Bildes lediglich als »Indikator morphologischer Anschauungen« vereinfache die mehrschichtig angelegten Text-Bild-Bezüge.
Interpretation
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Diese Gewichtung setzt schon der Prolog des ›Liber de fructibus carnis et spiritus‹: Perspectis igitur radicibus ramis et fructibus nostris arbitrii tui sit eligere quod volueris.82 Der allgemeinen Lebensweg-Symbolik wird hier die immer wieder neu einzufordernde Wahl zwischen Tugenden und Lastern zur Seite gestellt. Der Prolog entwickelt dazu ein Programm, nach dem die unterschiedliche Beschaffenheit der Tugenden und Laster (diversa qualitas) durch die Verbindung von Ungleichem (coniunctio imparium) veranschaulicht werden soll. Die Unterschiedlichkeit der einzelnen Nebentugenden (differentia partium singularum) tritt dadurch noch stärker hervor: Si adiunxeris similia similibus, partium aequalitas utriusque partis excellentiam perhibet. Si vero dissimilia contuleris, magis patet diversitas alterius. Sicque coniunctio ‹im›parium83 differentiam arcet partium singularum, et diversa qualitas utriusque crescere videtur ex utroque.84
Der Prolog endet mit der Aufforderung an den Leser, in der Betrachtung der comitatus nicht nachzulassen: Utriusque igitur comitatus, natura vel effectu distantes non pigeat considerare, ut, reprobatis per rationem vitiis, per virtutem possit [humilitas] triumphare.85 Worauf es hier ankommt, ist der grundsätzlich ›propädeutische‹ Zuschnitt des Tugend- und LasterbaumMotivs. Damit meine ich seine Ausrichtung auf die moralische Besserung des Menschen im Diesseits. Genau diese Bedeutung stützt nun ein weiterer Prolog, der sich zu Beginn des ›Dialogus de mundi contemptu vel amore‹ befindet und sich in seinem zweiten Teil auf den anschliessend überlieferten
82 PL 176,997. 83 Gebessert nach der Variante in: Kremsmünster, StiB, CC 243, fol. 1v. 84 PL 176,998: »Wenn du Ähnliches neben Ähnliches stellst, verhindert die Entsprechung der Teile die herausragende Stellung eines der beiden. Wenn du aber Unähnliches untereinander vergleichst, zeigt sich mehr die Verschiedenheit der einen Sache vor der anderen. So schliesst die Verbindung ungleicher Dinge den Unterschied der einzelnen Teile mit ein, und die unterschiedliche Beschaffenheit beider scheint sich aus beiden zu vergrössern.« Diese Textstelle wird in spätmittelalterlichen Beispielen oft dem Tugend- und Lasterbaum als Prolog vorangestellt, so in der Handschrift 243 des Benediktinerstiftes Kremsmünster, fol. 1v (›Speculum humanae salvationis‹, Faksimile-Ed. Neumüller). Der Text hat hier nicht nur Prologfunktion hinsichtlich der ihm folgenden Bäume (fol. 3r und 4r), sondern fungiert zusammen mit dem Bildprolog der Baumdarstellungen als Teil eines Text-Bild-Prologes zum nachfolgenden ›Speculum humanae salvationis‹. 85 PL 176,999.
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›Liber de fructibus‹86 als eine Art ›Vorhof des mönchischen Paradieses‹ bezieht:87 Unde sequens opusculum quasi uestibulum quoddam monastici paradisi proponitur, ubi moralium disciplinarum sentencie quasi flores colliguntur, et introitus ad alciora temperatur.88
Der in diesem Sinn zunächst ›moralisch‹ verstandene Weg für besserungswillige Anfänger im Diesseits gliedert sich in die Entscheidung an der Wegscheide und in die geistige Vervollkommnung (bzw. den fleischlichen Verfall) auf dem Weg nach oben (bzw. nach unten). Zumeist wird das Bildmotiv an der Wurzel und über der Baumkrone um symbolisch aufgeladene Figurendarstellungen erweitert, die den nach oben offenen Weg christologisch-eschatologisch ausweiten. Der rechte Weg führt über die Früchte des Geistes zum ewigen Leben in Christus, der falsche Weg über die Früchte des Fleisches zum ewigen Tod in die Verdammnis. Freilich kann eine symbolische Aufladung in dieser Richtung bildlich unterschiedlich realisiert werden. Naheliegend ist die Darstellung der Verkündigung an Maria in zwei hochstehenden Illustrationen aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts,89 die, wie vom Prolog des ›Liber de fructibus‹ gefordert,90 aber über die ältesten Darstellungen des aus Maria-Ecclesia entwachsenen Tugendbaums im ›Speculum virginum‹ hinausgehend, die Geburt des Novus Adam und damit den Beginn der Heilsgeschichte anzeigt (Abb. 31). Dieser Szene gegenüber stehen im ›De-Lisle-Psalter‹ eine Darstellung des Sündenfalls als Sinnbild des Vetus Adam, im ›Vrigiet de solas‹ die über den herauflodernden Feuerzungen des aufgesperrten Höllenschlundes auf dem Rücken eines eingebrochenen Pferdes bäuchlings liegende Filia Babilonis (Abb. 32). Noch stärker christologisch-eschatologisch fundiert ist die Darstellung in R und dem identischen Beispiel in M. Hier wie dort wurzelt der Baum in Christus mit dem aufgeschlagenem Buch des Lebens. Darin sind nach Apc 3,5 diejenigen verzeichnet, die als Erwählte ins Himmelreich gelangen. Die durch den Rebbaum evozierten Bedeutungen fügen sich kohärent in die christologisch-eschatologische Gesamtaussage des Text-Bild-Ensembles. 86 Zur gemeinsamen Überlieferung vgl. Ed. Seyfarth (CCCM 5), S. 35*. 87 Überliefert in: Oxford, Bodl., MS . Laud Misc. 377, fol. 3r (Ed. Bultot, S. 41). Vgl. Kapitel 2.3 in Teil B. 88 Ebd. S. 41. Vgl. dazu: Bultot, S. 148–154, hier: 151 ff. 89 London, BL , MS Arundel 83 II , fol. 128v/129r (Psalter of Robert de Lisle), und Paris, BN , ms. fr. 9220, fol. 5v/6r. (›Vrigiet de solas‹). 90 Denique vetus Adam se collocat in arce vitiosae arboris. Novus Adam principatum obtinet proventus spiritualis. (PL 176,997).
Interpretation
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Mit dem Bild des Weinstocks (ego sum vitis) und der Reben (vos palmites) wird der Mensch daran gemahnt, gute Frucht zu tragen (Io 15,5). Der Baum, der nicht gute Frucht bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen (Io 15,6; Mt 7,19). Die Matthäusstelle hat ihren liturgischen Sitz in der Perikope des siebten Sonntags nach Pfingsten. Deren Leitgedanke wird wie folgt beschrieben: »Wir können nicht die Frucht der Erlösung – das ewige Leben – ernten, wenn wir nicht selbst Früchte bringen. Gottes Gnade hat uns in der Taufe den edlen Ölbaum Christus eingepflanzt (Rm 11,17–24) und uns so selbst zu guten Bäumen gemacht; nun sollen auch die Früchte, d. h. die Werke, die wir aus der Gnade heraus nach Gottes Willen tun, gut werden«.91 Den gleichen christologisch-eschatologischen Grundzug enthalten in R auch die Definitionen der Tugenden (links) und ihre Auslegung anhand der Zitate aus den ›Moralia‹ und aus den biblischen Weisheitsbüchern (rechts). Ich beschränke mich hier im wesentlichen auf den rechten Textblock (Tafel X.4) und versuche dessen Inhalt anhand des theologisch-philosophischen Wissenshintergrundes zu interpretieren. Die theologischen Tugenden sind paulinisch gereiht als fides, spes und caritas.92 Die Liebe steht vor allen anderen Tugenden – maior autem his est caritas –,93 weil sie, so interpretiere ich Thomas von Aquin,94 Gott wesensgleich (in ipso sistat), durch sich selber ist (est per se) und durch sich selber wirkt, und nicht, wie Glaube und Hoffnung, aus Gott hervorgehend, dem Menschen erst entgegenkommen muss (ex ipso nobis provenit), also durch ein anderes ist (est per aliud). So richtet sich der Glaube auf eine noch nicht erfüllte Offenbarung, die Hoffnung auf die zukünftige Seligkeit, die Liebe, die breiter ausgeführt wird, ist die geistige Süsse des ewigen Lebens. Sie allein ist der Bitterkeit der Hölle gleichgewichtig, ja vermag diese sogar zu überwiegen. Die drei theologischen Tugenden zeichnen sich vor den vier Kardinaltugenden dadurch aus, dass sie sich auf Gott richten, während die 91 92 93 94
Boom, Lateinisch-deutsches Volksmessbuch, S. 619. I Cor 13,13: Nunc autem manet fides, spes, caritas. Ebd. Summa theologiae, II ,II , quest. 23,6: Fides autem et spes attingunt quidem Deum secundum quod ex ipso provenit nobis vel cognitio veri vel adeptio boni; sed caritas attingit ipsum Deum ut in ipso sistat, non ut ex eo aliquid nobis proveniat. Et ideo caritas est excellentior fide et spe; et per consequens omnibus aliis virtutibus. Thomas’ ›Summa‹ ist eine der weitläufigsten und systematischsten Auseinandersetzungen mit den Tugenden und Lastern überhaupt, gerade auch hinsichtlich ihrer Wesensbestimmungen und ihrer gegenseitigen definitorischen Abgrenzungen.
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Kardinaltugenden die menschliche Vernunft zum Gegenstand haben. Unter den Kardinaltugenden nimmt die Weisheit oder Klugheit (prudentia) eine Vorrangstellung ein, weil sie – analog zur Liebe – die Vernunft ›an sich‹ verkörpert und demzufolge für alle moralischen Aspekte Leitfunktion hat, während die übrigen drei eher exekutiven Charakter besitzen.95 So erfolgt die Reihung der Tugenden im Text unten rechts (Tafel X.4): die ›Weisheit‹ macht den Auftakt – sie betrifft die dem Menschen mögliche Erkenntnisfähigkeit (lernt vn‹d› weist, Tafel X.4.1) –, ihr folgen die ›Gerechtigkeit‹ und die ›Stärke‹, beschlossen wird die Vierheit durch das ›Mass‹. Das ist eine Abstufung nach dem Gesichtspunkt des Gemeinwohls: die ›Gerechtigkeit‹ hilft, die Gemeinschaft zu begründen und das zu ordnen, was sich in der Würde und in der Vollendung zeigt (cziert vnd vercz‹e›rt, Tafel X.4.1); die ›Stärke‹ hilft, die Gemeinschaft zu beschützen und das zu erhalten, was sich physisch zeigt (helt vnd sterkcht, Tafel X.4.1), das ›Mass‹ aber regelt das körperlich-geistige Gleichgewicht des einzelnen Menschen, was sich wiederum als physisch-psychischer Ausgleich zeigt (mast vnd vnder s‹chait›, Tafel X.4.1) und sich willentlich auswirkt (daz man icht czweifel vnd sich v¨b an guten werkchen, Tafel X.4.1).96 Die Siebenzahl der Tugenden (septenarius numerus) widerspiegelt die Fülle der siebenfachen Gnade (plenitudo septiformis gracie), die offenbar wird an den sieben Gaben des Heiligen Geistes.97 Diese ergänzen in R die sieben Tugenden, symbolisch verkürzt als Taube mit Heiligenschein in der Baumkrone. Im identisch textierten Clm 8201 erscheinen die sieben Gaben über den beiden oberen Ästen des Tugendbaums (Abb. 29), wie vom Prophetenwort vorgegeben.98 Die siebenfältige Ordnung ist nicht eine oberflächliche, sondern 95 Thomas von Aquin, Summa theologiae, II ,II , quest. 23,6: Sicut etiam prudentia, quae attingit rationem secundum se, est excellentior quam aliae virtutes morales, quae attingunt rationem secundum quod ex ea medium constituitur in operationibus vel passionibus humanis. 96 Thomas von Aquin, Summa theologiae, II ,II , quest. 141,8. Das ›Mass‹ kann unter Umständen an die erste Stelle treten, dann nämlich, wenn es in Verbindung mit der ›monastischen‹ religio und castitas steht. Vgl. Summa theologiae, II ,II , quest. 81,1 und 81,6. 97 Dieser Textteil ist in R nur fragmentarisch vorhanden. Ich rekurriere hier auf die vollständige Variante in M. Eine bildliche Umsetzung der Geistesgaben als Tauben im Vrigiet de solas (fol. 1v). Zum Zusammenfliessen der Tugenden mit den Gaben des Heiligen Geistes vgl. Schiller, Ikonographie, Bd. 4,1, S. 36 ff. (Abb. 90). 98 Is 11,1–3: Et egredietur virga de radice Iesse et flos de radice eius ascendet et requiescet super eum spiritus Domini, spiritus sapientiae et intellectus, spiritus
Interpretation
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resultiert aus der Ausrichtung der Tugenden auf eine doppelte regula, um wieder Thomas von Aquin aufzugreifen: Est autem duplex regula humanorum actuum, est prima regula [i. e. Deus], a qua etiam humana ratio regulanda est. 99 Regula heisst hier, dass die Tugenden, d. i. das Prinzip der guten Handlungen (principium bonorum actuum), durch ihre Ausrichtung auf das Gute schlechthin rückwirkend geordnet werden. Das Gute hat regelnde Funktion – Wert strukturiert Leben. Die Tugenden unterteilen sich, mit Ausnahme der ›Liebe‹, nahezu regelmässig in je sieben Nebentugenden, die kohärent verschiedene Aspekte je einer Haupttugend definieren. An den Haupttugenden wiederum scheint die höhere Ordnung der siebenfachen Gnade auf, die einst die endgültige Errettung des Menschen, d. h. die Zuführung des Reichtums dieser Gnade an ihre Vollstrecker ermöglicht: suis executoribus adducit plenitudinem septiformis gracie. Gregor bringt die soteriologische Aussicht mit dem Tugendseptenar wie folgt in Zusammenhang. Nam quia his septem superbiae uitiis nos captos doluit, idcirco Redemptor noster ad spiritale liberationis proelium spiritu septiformis gratiae plenus uenit.100 Das Lasterseptenar hingegen verliert sich über die Ordnung der siebenteiligen Analogie hinaus in eine chaotische Unzahl: Bene autem duces exhortari dicti sunt, exercitus ululare, quia prima uitia deceptae menti quasi sub quadam ratione se inserunt, sed innumera quae sequuntur; dum hanc ad omnem insaniam pertrahunt, quasi bestiali clamore confundunt.101
Die Unzahl ist Ausdruck der Unordnung. Das Böse wuchert, wie im Fall der trachait, und verdeckt die sinngebende, lebensbejahende Struktur – Unwert strukturiert das Leben nicht, pervertiert es vielmehr und bereitet den Tod vor. Die Fortsetzung des Textes in M schildert die Auswirkungen der siebenfältigen Gnadenfülle für Lebensweg und Lebensziel. Dabei wird wieder die Bildlichkeit des Baumes ex negativo aufgegriffen.102 Die Überwindung der Laster bedeutet in letzter Konsequenz den Sieg über den Leib des Teufels: per quam [i. e. plenitudinem septiformis gracie] viciorum pro-
99 100 101 102
consilii et fortitudinis, spiritus scientiae et pietatis et replebit eum spiritus timoris Domini. Vgl. auch die Diskussion der Stelle im ›Speculum virginum‹ (Ed. Seyfarth [CCCM 5]), XI ,115 f. Vgl. Suckale, Untersuchungen, Bd. 1, S. 86 f. Suckale, Klosterreform, S. 113–116. Thomas von Aquin, Summa theologiae, II ,II ,23,6. Moralia in Iob (Ed. Adriaen), XXXI ,45,87. Ebd. XXXI ,45,89. In R befindet sich der Text im unteren rechten Textblock (Tafel X.4), wo er zum Lasterbaum überleitet.
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pago 103 dissoluitur et corpus dyaboli 104 superatur (fol. 96v). Dort wuchert der Sprössling der Laster, nicht der ordnende Baum der Tugenden: dem todbringenden Leib des Teufels (corpus dyaboli – posest gaist, Tafel X.4.1) entgegen wirkt der lebensspendende Leichnam Christi, dem Lastersprössling (propago viciorum – furgab boshait, Tafel X.4.1) die virga Christi. Das Bild der virga Christi wird im folgenden Satzteil weitergesponnen, der Ps 22,3 aufnimmt: per semitam iusticie graditur (mag auff dem weg der gerechtichait [gen], Tafel X.4.1). Psalm 22 handelt von Gott als gutem Hirten, der um seines Namens willen den Menschen in Todesfinsternis auf den Weg der Gerechtigkeit führt und die Menschenherde mit seiner virga tröstet: Deduxit me ad semitas iustitiae propter nomen suum, nam et si ambulavero in medio umbrae mortis [. . .] virga tua et baculus tuus ipsa me consolata sunt (Ps 22,3f.). Die virga Christi, die allegorice als Stecken für die Schafherde verstanden wird, lässt – nun wieder literal gemäss Augustinus – die Menschen durch die disciplina Christi zum geistigen Leben heranwachsen, womit bildlich wieder die Symbolik des Wachsens und des Baumes mit ihren Implikationen ins Bibelzitat hineingeholt wird: Disciplina tua tamquam virga ad gregem ouium, et tamquam baculus iam ad grandiores filios et ab animali vita ad spiritualem crescentes, ipsa me non afflixerunt, magis consolata sunt.105 Die virga Christi führt zum ewigen Verbleib im Haus Gottes: ut inhabitem in domo Domini (Ps 22,6), ist insofern in Anlehnung an die virga de radice Iesse (Is 11,2) eine virga gratiae, in der die göttliche Fülle wohnt, respektive eine virga requiei Domini, auf deren Blüten die sieben Geistesgaben ruhen.106 Der (sinnentstellend wiedergegebene)107 ›Moralia‹-Passus bringt die Thematik schliesslich auf den ›soteriologischen‹ Punkt. Ausgehend von der Selbsterniedrigung Christi in seinem Leben und Leiden – formam infirmitatis nostrae suscepit – stellt Gregor die vorbildliche Demut Christi als Werkzeug der menschlichen Erlösung dar: Originem perditionis nostrae se 103 Ich übersetze hier propago als ›Sprössling, Setzling‹ (nicht ›Nachkommenschaft, Gesellschaft‹), um in der Bildlichkeit des Baumes zu bleiben. Der Begriff hat hier Pluralbedeutung: ›Ableger, Schar‹. 104 In R als furgab boshait (= furgegebene boshait: ›das vorgegebene Böse, das ursprünglich Böse, das Urböse‹) wiedergegeben (Tafel X.4.1). 105 Enarrationes in Psalmos (Ed. Dekkers/Fraipont), 134 f. 106 Rupert von Deutz, In Isaiam prophetam: Ecce autem virga gratiae, virga requiei Domini, et in illa flos in qua habitet, super quem requiescat omnis plenitudo divinitatis. (PL 167,1319). Hier sei auf den Bildtyp der Wurzel Jesse verwiesen. Vgl. Kapitel 2.3 in Teil B. 107 Vgl. Kapitel 4.1.2.1. Ich gehe hier vom korrekten ›Moralia‹-Kontext aus.
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praebuit superbia diaboli, instrumentum redemptionis nostrae inventa est humilitas Dei.108 Diese Soteriologie stützen abschliessend zwei Auszüge aus ›Sirach‹ und aus den ›Sprüchen‹, beide zentrale alttestamentliche Weisheitshymnen.109 In beiden spricht die personifizierte Weisheit,110 d. i. Christus,111 ihre Nachfolger an; in beiden steht die Aussicht auf ewiges Heil im Mittelpunkt, schrittweise gestuft in transire ad Deum und invenire vitam et haurire salutem a Domino. Im ›Sirach‹-Passus wird die Baum-FruchtSymbolik wieder aufgenommen112 und in der Exegese auf den Stammbaum der Weisheit beziehungsweise auf den Stammbaum Christi bezogen. Dazu gehört – die Baumsymbolik abstrahierend – die Vergegenwärtigung der moralischen Vorbildlichkeit der einzelnen generationes im Stammbaum Christi, durch welche die sapientia in uns erst erzeugt wird: generationes quibus ipsa generatur in nobis.113 Sich an der Frucht des Baumes zu sättigen, heisst in diesem fundamentaleren Sinn, die ›Väter‹ Christi im Geiste zu tragen:114 Et a generationibus meis implemini [Sir 24,26], id est ut habeamus in nobis spiritualiter Abraham, Isaac, Iacob, Iudam et caeteros sanctos patres, secundum quos narrantur generationes Sapientiae, id est Christi, quia sine dubio de istis nascitur Sapientia. Si ergo uolueris ut Christus nascatur in te, imple te generationibus Sapientiae, id est Christi. [. . .]. Abraham fuit primus et probatus fuit in fide perfecta. Isaac fuit filius promissionis. Iacob facie ad faciem Dominum uidit. Habete ergo in vobis perfectam fidem, et habebitis spiritualiter Abraham. Sperate promissiones futurorum, contemnite delectationes praesentium, et 108 XXXIV ,23,54 (Ed. Adriaen). 109 Sir (= Ecclesiasticus) 24,23–32 ist die Lesung für das Geburtsfest Mariens (8. Sept.), Prv 8,22–35 diejenige für ihr Namensfest (12. Sept.). Vgl. dazu Missale Romanum anno 1962 promulgatum, S. 650 und 653. 110 Vgl. dazu jeweils den Beginn der Kapitel: Sir 24,1: Sapientia laudabit animam suam et in Deo honorabitur, und Prv 8,1: Numquid non sapientia clamitat et prudentia dat vocem suam. 111 Die Bibelstelle wird durch Aelred von Rievaulx ausführlich kommentiert. Ich ziehe hier diese Ausführungen für die Interpretation bei. Vgl. Sermo 22 (Ed. Raciti): Ista verba quae modo diximus sunt scripta in quodam libro ex persona Sapientiae. Vocat enim nos Sapientia, et dicit: Transite ad me. Scitis autem, fratres, quia Dominus noster Jesus Christus est Dei Virtus, et Dei Sapientia. Ergo ista verba sunt Christi, qui vocat nos ad se et dicit: Transite ad me. 112 Sir 24,23: Ego quasi vitis fructificavi suavitatem odoris et flores mei fructus honoris et honestatis. 113 Aelred von Rievaulx (Ed. Raciti), Sermo 22,16. 114 Vgl. auch Sir 1,20 f.: Plenitudo sapientiae timere Deum et plenitudo a fructibus illius. Omnem domum illius implebit a generationibus.
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Tugend- und Lasterbaum
habebitis Isaac. Festinate, quantum potestis, ad Dei visionem, et habebitis Iacob.115
Der Vergegenwärtigung der generationes Christi im Geist gehen gleichsam propädeutisch die generationes der Sapientia voraus, d. h. die generationes, die Sapientia als virtutes principales in uns hervorbringt: generationes quas ipsa generat in nobis.116 Zur mater et doctrix omnium virtutum,117 wie Sapientia bei Aelred genannt wird, gehören nach Sap 8,7 die sobrietas (d. i. temperantia), prudentia, iustitia und die virtus (d. i. fortitudo).118 In Prv 8,35 schliesst die Sapientia ihre Rede mit der Aussicht auf das ewige Leben. Die Vorläufigkeit des transitus, das durch die imitatio ins Diesseits vorverlegte und im Jenseits sich vollziehende ›Hinübergehen‹ zu Christus, endet in der Endgültigkeit des invenire Christum. Per ipsum ad ipsum heisst es bei Aelred,119 Christus ist Weg und Leben, via et vita (Io 14,6) oder, bildlich gesprochen, Baum und Frucht. Der Mensch befindet sich, der Bildlichkeit entsprechend, auf dem Weg, er wächst und bringt gute Werke (Früchte) hervor. Tugendbaum (und Lasterbaum) stehen in diesem Sinn programmatisch im Verständnishorizont der sapientia christiana. Spezifisch dreht sich die Thematik um die Lebensweise des Christen zwischen moralischem ›Dienst‹ und eschatologischem ›Lohn‹. Angelpunkt ist die Tugend der Demut, die, durch Christus vorgelebt, nach Lc 14,11 zur wahren exaltatio führen wird. Der Aufstieg im Geist vollendet sich in der Liebe, die sich in den beiden oberen Textblöcken (Tafel X.5 und 6) in R in die Nächstenliebe und in die durch die ›Cherubstugenden‹ verkörperte Gottesliebe aufteilen lässt. Der linke Text (Tafel X.5) wird eingeleitet mit dem paulinischen Christusbild als einem Leib mit vielen Gliedern. Das Bild begründet nicht nur die Liebe unter Mensch und Mitmensch (Glied und Glied) aus der Wesenseinheit jedes Menschen mit Christus (Glied und Leib), sondern lässt sich auch als 115 116 117 118
Aelred von Rievaulx (Ed. Raciti), Sermo 22,17 f. Ebd. 22,20. Ebd. Ebd.: Hae sunt primae generationes Sapientiae, quattuor scilicet principales uirtutes, quas etiam gentiles philosophi potuerunt ratione docente cognoscere, scilicet temperantia, quae hic appellatur sobrietas, prudentia, iustitia et fortitudo, quae hic uirtus nominatur. Das ›Mass‹ nimmt hier, getreu dem Bibeltext, eine Spitzenstellung ein: Per temperantiam casti sumus, per prudentiam bona eligimus et mala respuimus, per iustitiam Deum et proximum diligimus, per fortitudinem in omnibus his bonis perseveramus. (Ebd. 22,21). 119 Ebd. Sermo 7,5.
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Motto über das Motiv des Tugendbaums stellen: Die sieben Tugenden sind alle Glieder des einen Stammes, will heissen, sind alle in dem einen und selben Geist vereint und wirken alle durch den selben Geist: alii datur operatio virtutum [. . .]. Haec autem omnia operatur unus atque idem spiritus (I Cor 12,10 f.). Auf die Nächstenliebe bezogen heisst das, dass jeder Mensch seinen Mitmenschen auf geleich lieb haben soll (Tafel X.5), denn jeder ist in Anlehnung an I Cor 12,12 gelid des leichnams christi (vgl. Tafel X.5) und damit Christus selbst: sicut enim corpus unum est et membra habet multa, omnia autem membra corporis cum sint multa unum corpus sunt, ita et Christus.120 Dieser Begründung wird eine zweite nachgereicht, die das im Körperlichen verhaftete Leib-Glieder-Bild auf die Einheit in einem einzigen Geist zurückführt: Die Menschen werden geistleich erquicket mit einem geist und darin verainigt, denn sie habent ain ent, nemment ain tauf vnd habent ainen vater (Tafel X.5). Die Erquickung und Einheit im Geist begründet sich aus einer dreifachen Einheit: aus der Einheit der gemeinsamen Sterblichkeit, der gemeinsamen Taufe und der gemeinsamen Gotteskindschaft. Für den einzelnen ist der Geist erstens das, wodurch er die Körperlichkeit oder den Tod hinter sich lässt; zweitens das, wodurch er zum Glaubenden wird und darin wächst, und drittens das, wodurch er zum (erlösten) Kind Gottes wird. Der Geist ist Medium und Ziel: durch ihn wird der Mensch, was er schliesslich in ihm ist. Angelpunkt ist die Taufe, das Abwaschen des alten Körpers und zugleich das Werden des neuen Leibes durch den einen Geist: In uno Spiritu omnes nos in unum corpus baptizati sumus (I Cor 12,13).121 Das Menschsein in der Einheit des Geistes hat seine liturgische Entsprechung im eucharistischen Hochgebet, genauer in der Anwesenheit Gottes in der Glaubensgemeinschaft, wie sie zum ersten Mal im Pfingstereignis (Act 2) geschah und in der dreifachen Bitte der Schlussdoxologie »Per ipsum, in ipso, et in ipso sumus in unitate Spiritus Sancti«122 erneuert wird. Weil der Mensch nun im Geist Christus wesensgleich ist, verkörpert er in erster Linie die Tugend der ›Liebe‹, die, zunächst auf die einzelnen Aspekte der Nächstenliebe ausgelegt, dem ersten Textabschnitt folgt, wie schon der 120 Petrus Lombardus, Commentaria in epistolas D. Pauli: Ita et omnes fideles sunt Christus, ut non dicam corpus Christi, quia ipse Christus sunt, tam minores quam maiores (PL 191,1654). 121 Vgl. die Auseinandersetzung mit der sapientia christiana anhand von I Cor 12 im elften Buch des ›Speculum virginum‹ (Ed. Seyfarth [CCCM 5], XI , 455 ff.). 122 Missale Romanum anno 1962 promulgatum, S. 311.
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1. Korintherbrief den Geistesgaben (I Cor 12), darunter auch den Tugenden, die Liebe als höchste Geistesgabe folgen lässt (I Cor 13). Durch die Tugend der ›Liebe‹ erhält das Leib-Glieder-Bild erst einen buchstäblich verbindlichen Sinn. Die verbindende Kraft der Liebe ist jeder Haupttugend notwendig eigen, weil den Tugenden als Prinzip guter Handlungen die Ausrichtung auf das Gute schlechthin inhärent sein muss123 – sie ist ein ‹bant›, da mit allain got mag gebuntten werden (Tafel X.3.3) – und jeder Haupttugend ihren je eigenen Wert und ihre je eigene Ordnung verleiht, bildlich gesprochen, die je eigene Notwendigkeit des Gliedes in bezug zum ganzen Leib. Den acht Nebentugenden der Nächstenliebe gegenüber stehen weitere fünf, die nun aber auf die innere Vervollkommnung gerichtet sind und aufsteigend zur Gottesliebe hinführen. Voraussetzung für den Aufstieg bildet hier, analog zur Wurzeltugend der ›Demut‹, die ›Wahrheit‹, die im Text ausdrücklich herausgestrichen wird (Tafel X.1.5).124 Angereichert wird die Textbedeutung mit dem Bedeutungsgehalt des Cherubs (Tafel X.2). Um diese soll es zunächst gehen, im Allgemeinen um die Bedeutung der Engel überhaupt, im Besonderen um die Bedeutung des Seraphs oder Cherubs bei Alanus ab Insulis.
4.2.4 Fructus poenitentiae Engel sind zunächst einmal Geistwesen, die durch ihre unmittelbare Gottesnähe als »Siegel der Ebenbildlichkeit« (signaculum similitudinis Dei) gelten dürfen.125 Ein ›engelhaftes‹ Leben heisst dementsprechend, im Gegensatz zur Triebhaftigkeit und Tierähnlichkeit des Fleisches, ein Leben in der Vollkommenheit des Geistes, wobei diese Vollkommenheit stärker oder schwächer ausgeprägt sein kann, eben siegelhaft ist und nicht von vornherein schon ebenbildlich (ad similitudinem Dei) angelegt sein muss. Gott am 123 Col 3,14: Super omnia autem haec caritatem quod est vinculum perfectionis. Alanus ab Insulis, Summa de arte praedicatoria, XX : Caritas omnium virtutum obtinet principatum. Unde et vinculum perfectionis ab Apostolo dicitur; quia universae virtutes eius vinculo religantur (PL 210,152). 124 Vgl dazu wieder den Tugendbaum aus dem ›Livre dou Tresor‹, wo der Engel zur Rechten des Menschen am Scheideweg aus dem mit verite beschrifteten Blatt wächst (Abb. 30). 125 Gregor, Homiliae in Evangelia (Ed. Fiedrowicz [Fontes Christiani]), 34,7: Ubi notandum, quod non ad similitudinem Dei factus, sed signaculum similitudinis dicitur, ut quo in eo subtilior est natura, eo in illo imago Dei similius insinuetur expressa.
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nächsten – will heissen, ihm nahezu ebenbildlich, weil ihm gegenüberstehend – sind gemäss Dionysius’ ›Hierarchia coelestis‹ die Cheruben als »Fülle der Erkenntnis« und die Seraphen als »Entflammer und Erhitzer«.126 Unter diesen Formeln wurden sie im Mittelalter weitergereicht, als plenitudo scientiae und als ardentes vel incendentes,127 wobei der Unterschied durch ihre grösstmögliche Nähe zu Gott und durch die ineinandergreifenden Bedeutungen der verkörperten ›Erkenntnis Gottes‹ beziehungsweise ›Liebe zu Gott‹ derart minim ist, dass sie in ihren Bedeutungen zusammenfallen. So auch in [Alanus’ ab Insulis] Traktat ›De sex alis Cherubim‹, der die Vorlage für die textierte Cherubfigur lieferte.128 Der zweiteilige Traktat gliedert sich in eine Auslegung der für die Seraph- beziehungsweise Cherubvorstellung massgeblichen Bibelstelle Is 6,1ff.129 und eine definitorisch abgehandelte und busspraktisch ausgerichtete Analyse der sechs Federn. Der erste Abschnitt (PL 210,269–273) lässt sich in drei Teile gliedern, die durch den Aufbau des Bibelzitats vorgegeben sind: der erste kreist um Gott auf dem hohen und erhabenen Thron (sedentem super solium excelsum et elevatum), der zweite um die über ihm stehenden Seraphim (stabant super illud), der dritte um deren drei Flügelpaare (sex alae uni et sex alae alteri), genauer um das, was diese verdecken und wie das Verdeckte durch Wort und Bild verstanden werden kann. Ich setze mit dem zweiten Teil ein. Die Seraphim geben ein Bild ab für den menschlichen Geist (mens humana), der, durch das Alte Testament erleuchtet und durch das Neue entflammt, im Dreischritt sich erhebt (surgit, cum nos erigit), vorwärtsschreitet (ambulat, cum nos proficere facit) und schliesslich Gott gegenüber steht (stat, cum nos 126 Dionysius Areopagita, De coelesti hierarchia (Ed. Heil/de Gandillac), VII ,1,205C. 127 Gregor, Homiliae in Evangelia (Ed. Fiedrowicz [Fontes Christiani]), 34,10. 128 [Alanus] beruft sich am Schluss seiner Expositio auf die Prophetie Ezechiels (41,18), die nur die Cherubsfigur kennt, vermengt jedoch bereits davor beide Bedeutungen. Cherub und Seraph fallen auch anderweitig bei Alanus zusammen. Vgl. Liber sententiarum: Hi duo cherubim versis vultibus in propitiatorium se respiciunt, quia plenitudo scientiae et caritatis perfectio ad divinae maiestatis propitiationem tendunt et in se vultus proprios reflectunt, quia nec scientia sine caritate perficitur, nec caritas sine scientia consummatur. Unde dicitur: Quantum diligis, tantum scis (PL 210,230). 129 Vidi Dominum sedentem super solium excelsum et elevatum, et ea quae sub eo erant, implebant templum. Seraphin stabant super illud, sex alae uni et sex alae alteri: duabus velabant faciem eius et duabus velabant pedes eius et duabus volabant.
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in beato proposito figit).130 Beschrieben wird die Erhebung des Menschen (nos) als Geistwesen – solium Deum spirituales creaturas accipimus – hin zur Anschauung Gottes – ad coelestia contemplanda sublevatur [mens humana].131 Die Anschaung Gottes erfolgt »stehend«, d. h. sie ist im Gegensatz zum ›sitzenden‹ Gott noch unvollendet insofern, als dem ›Stehen‹ noch die Mühsal des Voranschreitens inne wohnt im Gegensatz zum ›Ruhen‹ Gottes: quia [mens humana] illuc proficiendo per laborem venit, ubi per naturam manere non habuit.132 Der dritte Teil knüpft nun an beim Gegenübersein von stehendem Engel und sitzendem Gott und thematisiert die dreifach aufzudeckende Erkenntnis Gottes anhand der drei Flügelpaare, deren zwei die Engel im Angesicht Gottes zum Verdecken des Kopfes und der Füsse Gottes sowie ihres eigenen Körpers brauchen.133 Das erste Flügelpaar deckt ihren eigenen Körper ab und bezeichnet die Erkenntnis durch den historischen oder literalen Sinn; das zweite Paar reicht vom Kopf bis zu den Füssen und bezeichnet darum die Erkenntnis durch die Allegorie, weil der menschliche Geist durch seine Erleuchtung einerseits nach der Erkenntnis der ewigen Gottheit selber trachtet (Kopf), diese aber andrerseits durch die Beschränkung in der Zeit dennoch unbegreiflich bleibt (Füsse); das dritte Paar schliesslich dient dem Fliegen und bezeichnet den tropologischen Sinn, d. h. den flugähnlichen Aufstieg des Menschen zu Höherem durch die Verrichtung guter Werke. Die Aufdeckung der Cherubsfigur, d. i. des Körpers Christi selber, erfolgt nun durch die Parallelisierung von Kopf, Körper und Füssen mit der Dreiteilung der Zeit in ante mundi constitutionem, medium temporis und post constitutionem huius saeculi.134 Der Körper bezeichnet die Ecclesia, die sich zeitlich von der Schöpfung bis zur Erlösung erstreckt (a primordio mundi usque ad finem saeculi) und den vollkommenen Körper des Herrn hervorbringt: ut corpus Dominicum perfectum generet.135 Die Betrachtung des Leibes Christi endet in seiner Identifikation mit der Gemeinschaft der Glaubenden und mit der daraus abzuleitenden Erkenntnis, dass die 130 131 132 133
PL 210,270. Ebd. Ebd. Hieronymus lässt hier offen, ob die Cherubsflügel den Kopf und die Füsse des Herrn bedecken oder jene des Cherubs selbst. Beide Varianten sind möglich (eius und suum/suos). Die Bedeutung bleibt gleich; beide Varianten bezwecken das Verdecken des Allerhöchsten (PL 29,93). 134 Ebd. 210,272. 135 Ebd.
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Hinführung zu Christus durch die Ecclesia die Errettung des Menschen bewirkt: Hic est Christus [. . .] regens Ecclesiam, quae est corpus suum, medium per se ducit ad se.136 Vor diesem Wissenshintergrund fügt sich nun die Cherubsfigur des [Alanus] gut in das Text-Bild-Ensemble von R, genauer in die dualistische Anthropologie ein, der man in den Konrad von Hirsau zugeschriebenen Werken begegnet.137 Die Figur stellt gleichsam die Fortsetzung des Weges des zwischen Tugenden und Lastern hin- und hergerissenen Menschen dar, der nun seine Fleischlichkeit überwunden hat, im Geist fortschreitet und einem Engel gleich sich durch seine Annäherung an Gott vervollkommnet. Der Mensch schreitet vom Fleisch zum Geist, vom Tier zum Engel, vom Sichtbaren zum Unsichtbaren. Dieser Weg wird im ›Speculum virginum‹ als Selbstanleitung propagiert, die das Naturhafte im Menschen als Wegweiser zu dessen Überwindung hin zum Geistig-Unsichtbaren begreift.138 Die Überlegenheit des Geistes ist im Menschen als Geschöpf Gottes von Geburt an angelegt.139 Dieser Weg beginnt programmatisch mit der Busse, die ebenso programmatisch nur auf der Grundlage der Wahrheit gelingen kann, und endet mit der Liebe zu Gott, die den Menschen mit den Engeln verbindet und ihn ein Stück weit Gott ebenbildlich macht.140 Die sapientia christiana umfasst hier nicht nur das Wissen um den diesseitigen Dualismus in Form des Tugend- und Lasterkampfes, sondern auch seine Überwindung in Form einer platonisch-paulinischen Transzendierung.141 Die Figur des Cherubs erklärt sich wie schon beim Tugendbaum als Leichnam Christi (vgl. Tafel 136 Ebd. 137 Ausgeführt in Kapitel 4.2.3 und so gut fassbar im vierten Buch des ›Speculum virginum‹ anhand von Gal 5,19–23 als fructus spiritus und fructus carnis (Ed. Seyfarth [CCCM 5], IV ,12 ff.), so, wie schon gezeigt, im ›Liber de fructibus carnis et spiritus‹, so auch in ›De veritatis inquisitione‹, wo Tier und Engel programmatisch die zwei Lebenswege des Menschen symbolisieren: Quid nobis commune cum beluis? Corpus. Quid commune cum angelis? Gaudium in amore creatoris. Itaque si placet angelorum communio rationi sapientieque consentanea, fragendus est appetitus escarum nobis communis cum belua (Ed. Bultot, X, S. 84). Vgl. dazu: Bernards, Speculum virginum, S. 98 f. 138 Mews, Virginity, S. 15–40, hier: 21 f. 139 De veritatis inquisitione (Ed. Bultot), XX : Quicquid creatum est, ad exemplum et auxilium hominis creatum est, quorum alterum animo, alterum corpori militat. 140 Vgl. Anm. 125. 141 Dialogus de mundi contemptu vel amore (Ed. Bultot), V. 137–141: Utitur quidem sapiens utendis et fruitur fruendis, sed hac ratione «ut inuisibilia dei per ea que facta sunt intellecta conspiciantur» [Rm 1,20], ut videlicet per
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X.5) anhand einer der Bildlichkeit konsequent unterlegten Christologie, die schliesslich hier wie dort auf eine am ›mystischen‹ Leib Christi142 ›dingfest‹ gemachte Soteriologie hinausläuft. An Tugendbaum und Cherub werden zwei Grundgedanken fassbar, die noch an die gelehrte Tradition des Hirsauer Umfeldes erinnern. Auf formaler Ebene sind dies der ordnende Zugriff mittels präziser Begriffsbestimmungen sowie das der Natur entlehnte Bild pflanzlichen Wachstums. Auf thematischer Ebene entsprechen diesen das Wesen und Wachsen der Tugenden, im moralischen Sinn Leben als Ordnung und Leben als Weg, Weg verstanden als Fortschritt, Aufstieg und Rückkehr zu dem, worin der Mensch wesentlich gründet, im anagogischen Sinn Leben aus der Heilswirkung Christi. Der Tugendbaum beginnt in Christus (als Gnadenspender [Segen] und Erlöser [Buch des Lebens]) und endet im Cherub, dessen Leib von [Alanus] als corpus Dominicum perfectum gesehen wird, als vielgliedrige Kirche und als ein Leib ›Christus‹. Wieweit hier benediktinisch-zisterziensische Christologie, paulinische Liebesidee und neuplatonisches reditus-Prinzip Ausdruck der monastisch geprägten Spiritualität etwa eines Konrad von Hirsau, eines Alanus von Lille, eines Aelred von Rievaulx oder eines Isaak de Stella sind, mag offen bleiben. Tatsache ist, dass gelehrtmonastisches Wissen des 12. Jahrhunderts in R noch in einer Form fassbar ist, die zwar verflacht und popularisiert ist, aber doch Rückschlüsse auf das ursprüngliche Bildungsmilieu zulässt. Der zweite Abschnitt des Traktats (PL 210,273–280) ist insofern an die Auslegung der Jesaja-Stelle angebunden, als die dort skizzierte Sündentilgung durch die Kohle des Seraphs (Is 6,6 f.) hier busstheologisch aufgefächert wird. Der textierte Cherub holt praktisch ein, was in der JesajaAuslegung theoretisch begründet wurde.143 [Alanus] skizziert am Ende der Auslegung sein Vorhaben, die Person Christi zu zeichnen, um besonders jene Textpartien verständlicher zu machen, die das Unsichtbare (durch die Flügel Verdeckte) thematisieren:
temporalia querantur eterna et gratia mediatrice de his ueniatur ad illa. Utendum igitur est hoc mundo, fruendum deo. 142 Vgl. dazu: Isaac de L’E´toile. Sermons (Ed. Hoste), Introduction, Bd. 1, S. 49 f. 143 Diesen Bedeutungshorizont holt die Darstellung aus Wien, ÖNB , Cod. 1548, fol. 3v ein. Der Cherub ist mit den folgenden Beischriften versehen: Figura de confessione sub similitudine sex alarum cherubim. Tempore iudicii Christi nos protegat ala. Et leuet in celos aurate penna columbe.
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Ut autem exemplar hoc evidentius tibi fiat, totam personam Christi, id est caput cum membris, in forma visibili depinxi, ut cum totum videris, quae de invisibili parte dicuntur, facilius intelligere possis.144
Die fehlende Kohärenz zwischen dem skizzierten Vorhaben und der uns überlieferten Lehrfigur des Cherubs kann hier aufgrund der späteren Umarbeitungen des Textes und wegen der Verselbständigung des Bildmotivs nicht zur Diskussion stehen.145 Wichtig ist, dass die aus Jesaja entwickelte Busstheologie des [Alanus] beide Textabschnitte verbindet und den Wissenshintergrund für den textierten Cherub abgibt. Schliesslich findet man die in den Flügeln zur Disposition gestellten Kategorien auch anderweitig bei [Alanus] definiert und diskutiert.146 Die je zu einem Paar geordneten und anderweitig auch als actus morum bezeichneten147 Flügel148 gehören eng zusammen, der eine bedingt den andern, so die Beichte (Tafel X.2.1) die Busse (Tafel X.2.2), die Reinheit des Fleisches (Tafel X.2.3) jene des Geistes (Tafel X.2.4), die Nächstenliebe (Tafel X.2.5) die Gottesliebe (Tafel X.2.6). Die Beichte schliesst sich an die Busse insofern an, als sie den inneren fünf Erfordernissen echter Beichte (peicht: confessio, Tafel X.2.1) fünf sich nach aussen zeigende Wirkungen der Busse (puezz: satisfactio, Tafel X.2.2) folgen lässt.149 Den Beginn der Busse macht das Sich-Lossagen von der Sünde (bidersag der sund: peccati abrenuntiatio, Tafel X.2.2.1). Das zweite Paar fällt zusammen mit dem Dualimus von Fleisch und Geist. Der dritte Flügel ist nach den fünf Sinnen geordnet, der vierte vereinigt Imperative bezüglich des Geisteshaushalts mit dem Schwerpunkt auf der Reinheit des Gewissens. Das letzte Paar schliesslich versammelt Aspekte der Nächstenliebe und der Gottesliebe. Die Nächstenliebe steht im Dienst des Gemeinwohls, hat mehr aktiven Charakter und 144 PL 210, 272. 145 Weniges zum Bildtyp in: Suckale, Untersuchungen, Bd. 1, S. 91 f. Suckale, Klosterreform, S. 118. 146 So im ›Liber sententiarum‹ und in der ›Summa de arte praedicatoria‹ (beide in PL 210). 147 Firenze, BML , Cod. Pluteo 20,24c, fol. 3r. Vgl. dazu: Bolzoni, Gedächtniskunst, S. 158 ff. (Abb. 4). 148 Die sechs Flügel lassen auch an die Sechszahl als numerus perfectus denken. Vgl. Lexikon der mittelalterlichen Zahlenbedeutungen, Sp. 444–448. 149 Satisfactio est iniunctae poenitentiae expletiva exsecutio. (PL 210,275). Alanus braucht hier wieder das Bild des Baumes, um das Verhältnis von Beichte und Busse zu bestimmen: Aliud est enim poenitentia, aliud fructus poenitentiae; sicut aliud est arbor, et aliud fructus eius. (ebd.). Vgl. Alain de Lille, Liber poenitentialis (Ed. Longe`re), Bd. 1, S. 202 f.
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ist die notwendige Voraussetzung für die innere Vervollkommnung in der Gottesliebe, die wiederum durch ihre Würde höher steht.150 [Alanus] bezeichnet die Gottesliebe andernorts auch als »Ursprung aller Tugenden«; ihr gehört der Vorrang, weil sie durch ihre Vollkommenheit die übrigen Tugenden gegen die Laster schützt.151 Die Gottestugend endet in ihrer vollkommensten Form bei der Selbstverleugnung (Tafel X.2.6.4). [Alanus] präzisiert diese Form der Gottesliebe dahingehend, dass sich hier das Glühende oder Brennende zeige: hoc est fervidum huius amoris.152 Es ist die grösstmögliche Steigerung dieser Liebesform, für die der Seraph steht und die Ausdruck der Gottesebenbildlichkeit ist. Zusammenfassend kann man die drei Flügelpaare mit der Stufung ›Anfang, Weg und Ziel‹ umschreiben; Anfang, weil Beichte und Busse analog zur Demut als Wurzel des Tugendbaumes den Grundstein für die anzugehende Vervollkommnung legen; Weg, weil die Reinheit des Fleisches und des Geistes den Kampf der Tugenden und Laster auf höherer Ebene wieder aufnehmen; Ziel schliesslich, weil Nächstenliebe und Gottesliebe die höchste Form menschlicher Vollkommenheit darstellen.153
4.2.5 Fructus carnis in diabolo Der Tugendbaum kann natürlich nicht ohne seinen Gegenpart gedacht werden. In diesem Sinn endet der untere rechte Textblock mit einem sündentheoretischen Abschnitt (Tafel X.4.2), der zur Lasterthematik überleitet. Der Text teilt die Sünden ein in vorgankch und nachgankch, d. h. in die Sünden, die das Sündigen verursachen, und in jene Sünden, die dem Sündigen nachfolgen. Der Text ist fehlerhaft und unvollständig. Die Fehlerhaftigkeit zeigt sich in der Verwechslung der beiden Kategorien vorgankch und nachgankch,154 die Unvollständigkeit im Fehlen der dritten Kategorie (comitatus), die den mildernden oder erschwerenden Umständen des
150 Alanus ab Insulis, Summa de arte praedicatoria, XXI : Quamvis enim dilectio Dei maior sit in dignitate caritatis, tamen dilectio proximi maior est in operatione, quia per dilectionem proximi pervenitur ad dilectionem Dei. (PL 210,153 f.). 151 Ebd. XXII : Caritas virtute caeteras minimine suae perfectionis solidat. (PL 210,152). 152 De sex alis Cherubim, PL 210,280. 153 Zur Idee des homo perfectus bei Alanus vgl. Evans, Alan of Lille, S. 153–165. 154 Vgl. Anm. 35 und 36.
Interpretation
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Sündigens gewidmet ist.155 Der vollständige Text, wie er in M überliefert ist,156 widmet sich dem Thema Circa processum peccati und folgt dem Abschnitt mit dem Thema De progressu peccati. Auch dieser Teil fehlt in R. Hier wurde offenbar bewusst nur der Passus über den vorgankch und nachgankch ausgewählt, Platznot bestand jedenfalls bei diesem Text gerade nicht. Das Bild des Lasterbaums als Eichbaum ist biblisch nicht belegt. Eine Verbindung mit den Lastern ergibt sich nur über die negative Bedeutung seiner Früchte. Worauf es dem Zeichner ankam, war die konsequente Gegenüberstellung von eindeutig positiv und eindeutig negativ besetzten Bildelementen. Eindeutig negativ aufgeladen ist neben den Eicheln auch die Eule, die wiederum mit der Taube kontrastiert. Mehr Aufschluss über die Bedeutung von Taube und Eule gibt die Handschrift Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 12538.157 Darin stehen die sieben Tauben des Heiligen Geistes (septiformis gratia) (Abb. 33) den sieben Eulen des Teufels (septem demonia) (Abb. 34) gegenüber. Die Tauben symbolisieren die sieben Gaben des Heiligen Geistes,158 die sieben Eulen stehen für die sieben Dämonen des Teufels. Cod. 12538, M und R treffen sich hier in ihrem Gehalt, nur ist dieser unterschiedlich explizit realisiert. In R stehen Taube und Eule als pars pro toto (Tafeln X und XI , Abb. 10 und 11), in M sind die Geistesgaben schriftlich über dem Tugendbaum festgehalten (Abb. 29). Einen gemeinsamen Wissenshintergrund verrät auch das ›Fundament‹ der Lasterbäume, das in R als Meer mit entsprechendem Getier verbildlicht, in der Mettener Handschrift lediglich durch ein paar Meereswellen wiedergegeben ist. Ausführlicher ist die Wiener Handschrift, worin die in einem dreistöckigen Turm159 eingefassten Bäume einerseits auf dem Berg Sion mit der personifizierten Sapientia im Mittelpunkt gründen (Abb. 33), andrerseits auf dem turbidum mare mit der personifizierten Impietas (Abb. 34). 155 Der vollständige Text ist in M, fol. 96v überliefert. Die lateinische Terminologie lautet hier: que antecedunt peccatum [antecedencia] – que secuntur peccatum – que comitantur peccatum [aggrauant vel diminuunt]. 156 Der Text schliesst mit einem beichtpraktischen Merkvers. Als Ganzes vereint der Text gängiges sündentheoretisches und beichtpraktisches Wissen in ein paar Sätzen. In ausladender Ausführung finden sich die gleichen Inhalte im ›Liber poenitentialis‹ des Alanus von Lille (Ed. Longe`re), Bd. 2, Prolog und I ,7. 157 Fol. 12v/13r. 158 Schiller, Ikonographie, Bd. 4,1, S. 36 ff. 159 Als Jerusalem und Babylon bezeichnet.
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Die aus zwei Fischschlünden herauswallenden Meereswogen erfassen vier Männer, von denen zwei gekrönt sind. Die unentrinnbare Gefahr unterstreichen zwei Fische, die eine Hand und einen Fuss verschlingen. Damit ist man bei der aus dem Meer emporsteigenden Bestie Babylon angelangt und bei der damit verbundenen Einbindung der Lasterthematik in einen eschatologischen Rahmen. Ich ziehe zur Interpretation einen Lastertraktat aus der Oxforder Handschrift Bodleian Library, MS . Laud Misc. 544 (fol. 4v–8r) bei, dem die Bestie mit sieben Hörnern aus Apc 13,1 als Gliederungsvorbild gedient hat.160 Hier wird das Meer als lasterdurchwirkte Welt ausgelegt, die apokalyptische Bestie als deren Fürst: Hec bestia surgit de mari, id est de mundo cuius est princeps. Mundus enim comparatur mari quia tumet per superbia, spumat per luxuriam, feruet per iram et inuidiam, nebulosum est per tristiciam, omnia in se recipit per rapinam. Maior piscis minorem deuorat per rapinam.161
Genauer ist Beda in der Auslegung von Apc 13,1. Das Meer, das sich über dem Abyssus befindet, wird mit dem populus impiorum gleichgesetzt,162 die Bestie mit dem corpus diaboli. An diese Auslegung lassen sich wieder gut das Bild im Wiener Cod. 12538 und der Text in R anbinden: Das Volk der Ungläubigen wird verkörpert durch vier hochmütige Häupter reicher Männer, das Volk der Glaubenden durch die nimbierten Köpfe von vier Aposteln; das corpus diaboli schliesslich gilt es laut R zu überwinden (vgl. Tafel X.4.1). Die sieben Häupter der Bestie bedeuten die sieben Hauptlaster, und sie bedeuten im gleichen Zug die sieben Dämonengeister (Apc 9,20; 16,14; 18,2), die dem apokalyptischen Weib entweichen: Hec sunt septem demonia, que dominus eiecit de muliere peccatrice, hii sunt septem nequillum spiritus, quos spiritus inmundus quando exierit ab homine, allumit ad inpugnandum hominem.163
Die zehn Hörner tragen die Namen der Gotteslästerung (nomina blasphemiae, Apc 13,1) und gelten als ›Töchter‹ der Superbia.164 Sie wurden in der Ausführung von R mit anderen Unterlastern vertauscht (Tafel XI.1.3). Zudem ist lediglich ein Horn mit Krone versehen. Das heilende Gegengewicht zu den sieben Lastern bilden sieben Tugenden, beides Haupt- und 160 161 162 163 164
Zum Traktat vgl. Newhauser, The Treatise, S. 45 und 164. Fol. 4v. Explanatio Apocalypsis, PL 93,169. Oxford, Bodl., MS . Laud Misc. 544, fol. 4v. Die Unterlaster lauten nach M, fol. 96r: spolium, symonia, sacrilegium, dolus, vana gloria, rapina, mala lingua, vsura, ypocrisis, fictum secutorium.
Interpretation
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Nebentugenden,165 sowie weitere katechetische Septenare.166 Den zehn lästerlichen Namen stellen sich die zehn Gebote entgegen.167 Ich komme auf den Lasterbaum zurück (Tafel XI.1), genauer auf die besondere Gewichtung der Trachait (Tafel XI.1.4.3) und die Verkettung der Laster untereinander. Die trachait (acedia) wird im Bild wie im Text hervorgehoben. Im Bild weist der Ast ›Trägheit‹ 18 Lasterblätter168 auf, im untenstehenden Textblock (Tafel XI.3) ist die Besonderheit dieses Lasters durch seine Endstellung (Tafel XI.3.7) und durch seine Klammerstellung mit der Hochfart (Tafel XI.3.1) betont. Die trachait ist damit in den Rang der hochfart gehoben, die, zählt man ihre zehn ›Töchter‹ mit den Nebenlastern der aus ihr unmittelbar entwachsenen inanis gloria zusammen, dieser anzahlmässig gleichkommt. Die Gründe für diese ausserordentliche Akzentuierung der trachait liegen zunächst in der Konkurrenz der cassianischen Lasteroktade mit der gregorianischen Septade.169 Das frühere System Cassians unterschied zwischen den zwei Lastern tristitia und acedia, während Gregor nur die tristitia in sein System aufnahm, damit aber auch Aspekte der acedia abdeckte.170 Die inhaltliche Abgrenzung ist fliessend. Acedia und tristitia bedeuten ›Verbitterung‹ und ›Trauer‹. Bei der acedia steht allerdings die monastische Prägung im Vordergrund, konkret die Ermattung in den geistigen Übungen der Mönche, die sich auch körperlich zeigt, beispielsweise in den cassianischen Kategorien der otiositas und somnolentia.171 Die tristitia hingegen hat fundamentaleren Charakter, gehört zusammen mit 165 Oxford, Bodl., MS . Laud Misc. 544, fol. 4v: Per solam enim uoluntatem incurrimus omnia mortalia peccata, sed vij viis fugiunt a nobis quia vij oppositis uirtutibus curantur: Superbia per humilitatem, inuidia per caritatem, ira per pacienciam, accidia per timorem et sollicitudinem, cupiditas per paupertatem spiritualem, castrimargia per sobrietatem, luxuria per castitatem. 166 Das sind sieben Sakramente, die sieben Gaben des Heiligen Geistes und die sieben Bitten des Vaterunsers. 167 Oxford, Bodl., MS . Laud Misc. 544, fol. 4v: Ex hiis capitibus oriuntur x cornua et alia uicia quibus inpugnantur homines, ne obseruent decalogum. 168 Einschliesslich der vier unter dem Astansatz spriessenden Blätter. Diese gehören aber zweifelsohne zum Laster der ›Trägheit‹. So sind diese vier Nebenlaster denn auch in der Darstellung in M rund um den Ast angeordnet. 169 Newhauser, The Treatise, S. 187 f. 170 Eine Gegenüberstellung der Nebenlaster beider Kategorien in: Wenzel, The Sin, S. 23 f. 171 Ebd. S. 31–33 (Ausführungen zum monastischen Kontext) und 54 (Ausführungen zur Etymologie). Vgl. dazu die Behandlung der acedia in Alanus’ ›Summa de arte praedicatoria (PL 210,125 f.) und in Isaacs de Stella ›Sermones‹ (PL 194,1735 ff.).
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dem gaudium zu den Grundleidenschaften der Seele, beginnt mit der Lähmung, zeigt sich in der Trauer und Verbitterung und endet bei der Aufhebung des Geisteslebens.172 In Anschluss an Cassian und Gregor bestehen beide Begriffe weiterhin nebeneinander,173 bis die acedia später dann unter die tristitia eingegliedert wird.174 Die Nähe beider Begriffe spiegelt sich in der undifferenzierten Durchmischung und Kumulierung ihrer Nebenlaster beim Lasterbaum in R. Geordneter ist die Definition des Lasters im Text. Sie legt die Ursachen und die Wirkungen der Trägheit dar: Trachait, die gleichzusetzen ist mit vnmassigew pitterchait, entsteht aus Trauer und hebt ‹geistliche› freud auf, mehr noch, zerstört sich in letzter Konsequenz selbst (Tafel XI.3.7).175 Die Trauer wiederum lässt sich auf eine »Verwirrung des Geistes« (irrsalung dez mutez, Tafel XI.3.7) zurückführen, womit sich Ursache und Wirkung, nämlich Verwirrung und Selbstverkehrung, schliesslich in der sie verbindenden Unordnung des Geistes treffen. Seine Verwirrung potenziert sich gleichsam in einem Teufelskreis, in dem er sich letzten Endes selbst zerstört. Dadurch dass sich die trachait als »Erlöschen der geistigen Freude« auswirkt, ist sie im Besonderen die Gegenkraft zur Liebe, die sich eben als Freude in Gott (gaudium) auswirkt, ist sie im Allgemeinen die Gegenkraft zum geistigen Leben überhaupt, das in der Liebe gründet.176 Die Besonderheit der trachait zeigt sich auch in ihrer Stellung innerhalb der kausalen Verkettung der sieben Laster. Diese beginnt mit der superbia und endet mit der luxuria. Die Abfolge war im Anschluss an Gregor177 wiederholt Gegenstand von Lastertraktaten und von der Traktatliteratur überhaupt. Die meines Wissens ausführlichste Auseinandersetzung mit der Verkettung der Laster ist in Hugos von St. Viktor Traktat ›De quinque 172 Wenzel, The Sin, S. 55. 173 So bei Isidor von Sevilla, Quaestiones in Deuteronomium, PL 83,366. 174 So bei Thomas von Aquin, Summa theologiae, II ,II , quaest. 35,1 als tristitia aggravans (Johannes von Damaskos [PG 94,932]). 175 Die Parallelüberlieferung präzisiert hier zusätzlich, indem die Verkehrung des Geistes in sich selber näher bestimmt wird durch den Aspekt der abgrundtiefen Verzweiflung (precipicio desperacionis). Vgl. Oxford, Bodl., MS . Laud Misc. 544, fol. 4v: Ex ira autem nascitur accidia et tristicia, quando non possit sumere ulcionem de eo cui irascitur. Et quando est talis, amisit iam consolacioni interius gaudium in spiritu sancto. 176 Thomas von Aquin, Summa theologiae, II ,II , quaest. 35,3: Peccatum mortale dicitur quod tollit spiritualem vitam, quae est per caritatem, secundum quam Deus nos inhabitat. Vgl. Wenzel, The Sin, S. 55. 177 Moralia in Iob (Ed. Adriaen), XXXI ,45,89. Vgl. auch Oxford, Bodl., MS . Laud Misc. 544, fol. 4v.
Interpretation
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septenis‹ zu finden,178 den ich hier für die Interpretation beiziehe. Darin zeichnet er anhand der Verkettung der Laster die sukzessiv fortschreitende Korruption der Seele nach. Die Reihenfolge superbia (inanis gloria als deren Auswuchs) – invidia – ira – tristitia (acedia) – avaritia – gula – luxuria entspricht dem Aufstieg im Lasterbaum, wobei die Astinschriften oben und unten von rechts nach links, diejenigen in der Mitte von links nach rechts zu lesen sind, also unten rechts mit hazz beginnen und oben links mit Vnkeusch enden. Die Reihe beginnt mit der Trias Hochmut, Neid und Zorn, die den Menschen Gott, seinem Nächsten179 und sich selber entzieht. Die folgenden vier Laster werden von der Trauer/Trägheit, die den dreifach beraubten Menschen auspeitscht, eingeleitet und beschlossen durch die zweite Trias Geiz, Fresssucht sowie Unkeuschheit. Der Geiz verstösst den Ausgepeitschten, die Gefrässigkeit verführt den Verstossenen, die Unkeuschheit schliesslich macht den Verführten gewaltsam zum Sklaven: Superbia enim aufert homini Deum; invidia aufert ei proximum; ira aufert ei seipsum; tristitia spoliatum flagellat; avaritia flagellatum eicit; gula eiectum seducit; luxuria seductum servituti subicit.180
Was Hugo mit der Auspeitschung des Menschen durch die Trauer meint, präzisiert er in einem zweiten Schritt: Die tristitia als Folge eines dreifachen Verlustes kann wegen ihres Unvermögens, aus dem Guten anderer Freude zu ziehen, nichts anderes, als an ihrem eigenen Bösen zugrunde zu gehen. Sie bewirkt, dass der Mensch in sich zusammenfällt, sich gleichsam durch seine Schlechtigkeit selber peinigt: Quia igitur omnibus amissis nihil superest unde gaudeat infelix conscientia, per tristitiam in semetipsa colliditur, et quae de alieno bono pie laetari noluit, de suo malo iuste cruciatur.181 Damit ist der Nährboden geschaffen für die avaritia, die nun die verlorene innere Freude durch äusseren Trost ausgleicht, dadurch aber den Menschen in Wahrheit verstösst, d. h. diesen endgültig nach aussen kehrt und für die beiden Sünden des Fleisches empfänglich macht. Die Mittelstellung der tristitia innerhalb der sieben Laster unterstreicht nochmals ihre Besonder178 Ed. Baron, S. 100–119. 179 Die Zweitposition des Neides erklärt sich auch aus heilsgeschichtlicher Dimension. Nach dem Fall Adams und Evas aus Hochmut folgt die Erschlagung Abels durch Kain aus Neid. 180 Ebd. S. 104,53–56. Eine ähnliche Lasterkette ist als Beischrift zur Lasterbaum-Darstellung in der Handschrift London, BL , MS Royal 1 B X , fol. 6v zu finden (Abb. 40). Vgl. Kapitel 1.1 in Teil B. 181 Ebd. S. 106,105–108.
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heit.182 Sie steht zwischen der Korruption des Geistes und der Verfallenheit des Fleisches, zwischen innerem Unvermögen und äusserer Selbstversklavung, zwischen scheinbarer Ordnung und augenfälligem Chaos. Diesen Bedeutungshorizont holen ein Stück weit die Definitionen in R183 ein, wenn dort Neid und Hass als Formen des inneren Schmerzes geschildert werden, Geiz, Gefrässigkeit und Unkeuschheit jedoch als nach aussen gerichtete wegerung: Geiz verlangt in übermässiger Weise nach Besitz (ist ein vnderfullung einez yeglichen dingez, Tafel XI.3.2); Gefrässigkeit verlangt gierig nach Speisen (‹scharffe› wegerung des ezzens, Tafel XI.3.5); Unkeuschheit entsteht aus unreinem Verlangen und aus der nachuolgung dez posen mutez (Tafel XI.3.3).184 Hochmut, Neid und Zorn unterscheiden sich wie bei Hugo in ihrer Ausrichtung: Hochmut richtet sich gegen den Ärmsten und gegen den Höchsten, versmacht den armen vnd gert seinen oberen cze herschen (vgl. Tafel XI.3.1). Neid entsteht aus dem Vergleich mit dem Nächsten und zeigt sich als Schmerz über das Streben nach einer unwürdigen Ehre, pringt den muet yn den smerczen von der vnwi‹r›digen er (vgl. Tafel XI.3.4). Zorn richtet sich gegen den Zornigen selbst, gründet im Unvermögen gegenüber dem eigenen Schmerz (ist von dem smerczen dez inneren mucz) und zeigt sich als Verwirrung (betrupnuz dez muetez, Tafel XI.3.6) des Geistes und als Rachgier. Hugo fährt in seinem Text fort, indem er der ›Krankheit‹ der sieben Laster die ›Heilmittel‹ der sieben Gaben des Heiligen Geistes gegenüberstellt. Der absteigenden Reihung der Laster entspricht die aufsteigende Folge der Geistesgaben vom timor zur sapientia: Pro morbo sanando postulasti; medicinam accipies. Vitia tua, morbus tuus; spiritus Dei, sanitas tua. Contra morbum superbiae dabitur tibi medicina spiritus timoris, ut sanet corruptionem elationem, et restauret sanitatem humulitatem. Singula vitia singulas medicinas habent; septem vitia, septem spiritus, quot morbi, tot medicinae.185 182 Vgl. Wenzel, The Sin, S. 60. 183 Ich beziehe die vollständigen Definitionen der Parallelüberlieferung mit ein, insbesondere dort, wo R nicht stimmig ist. Vgl. die Auflistung der Varianten im Kommentar. 184 Die Parallelüberlieferung präzisiert hier, indem nach Ursache der Unkeuschheit (ex inmundis desideriis) und nach ihren Auswirkungen (lubrica mentis et effrenata prostitucio) unterschieden wird. Vgl. Die ›Süddeutsche Tafelsammlung‹ (Ed. Castelberg/Fasching), Varianten zur Tafel XI.3. 185 Ed. Baron, S. 122,35–41. Die Vorstellung der Geistesgaben als Heilmittel (antidota) gegen die Laster ist auch im Kontext der spätmittelalterlichen geistlichen Kleinepik zu finden, beispielsweise in Heinrich Kaufringers ›Sie-
Interpretation
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Die Stelle führt uns wieder zurück zum Tugendbaum in M, wo die sieben Geistesgaben den sieben Tugendkräften beigegeben sind und schliesslich führt sie auch zurück zum Text-Bild-Ensemble in R, wo der siebenarmige Wuchs des Baumes anhand des Mottos aus dem 1. Korintherbrief seine heilende Kraft aus dem einen Geist bezieht.186 Die von Hugo eingebrachte Bildlichkeit aus dem Medizinischen gleicht die hier propagierte sapientia tendenziell dem praktischen Ausgleichsprinzip des Contraria contrariis curantur an,187 das schon im ersten Teil der Handschrift für das physische und psychische Wohlergehen ausschlaggebend war. Ging es dort um die Stellung der menschlichen Physis gegenüber den zeitbedingten kosmologischen Einflüssen, steht hier das Gleichgewicht des menschlichen Seelenhaushalts unter überzeitlichen eschatologischen Vorzeichen im Mittelpunkt: die Tugenden (oder Geistesgaben) heben die Laster auf.188 Seelenheil und Leibeswohl ergänzen sich in diesem Sinn unter dem Dach einer umfassenden sapientia.
ben Todsünden‹ (Ed. Sappler), Nr. 16. Vgl. dazu: Schumacher, Heinrich Kaufringers Gedicht, S. 309–322, hier: 319 ff. Vgl. Kapitel 2.3 in Teil B. 186 In Hugos Worten: Quid sunt septem spiritus? Septem sunt dona spiritus: et dona sunt spiritus, et spiritus sunt dona; donum spiritus, spiritus est; seipsum dat spiritus; unus spiritus septiformiter se tribuit. Propterea unus spiritus, septem spiritus, quia septiformiter datus, et septiformiter aspiratus. Septem aspirationes, et spiritus unus; una medicina septem morbos curat. Propterea una, septem: una natura, opera septem; substantia una; septiformis effectus. (Ed. Baron, S. 122,41–124,49). 187 Gregor der Grosse, Regula pastoralis, III ,36 (PL 77,121). 188 Vgl. Oxford, Bodl., MS . Laud Misc. 544, fol. 4v. Vgl. auch Alanus an Insulis, Liber poenitentialis (Ed. Longe`re), II ,7: Nam ut testatur Gregorius contrariis contraria curantur. Septem ergo principalibus vitiis principales septem virtutes sunt opponendae: contra superbiam, humilitas; contra invidiam, caritas; contra iram, patientiae longanimitas; contra acediam, mentis hilaritas; contra avaritiam, largitas; contra crapulam, sobrietas; contra luxuriam, castitas. Die entgegengesetzten Tugenden umfassen hier die Grundtugend der Demut, die theologische Tugend der Liebe und weitere ›christliche‹ Tugenden. Alanus bezeichnet im Prolog seines beichttheoretischen Werkes den Priester als medicus spiritualis. In der ›Ars praedicatoria‹ stellt er diesen dem medicus materialis gegenüber (PL 210,184).
5 Artes liberales Auf fol. 7r (Tafel XIII , Abb. 13) befinden sich sieben Personifikationen der freien Künste in Einzelbildern. Sie umgeben die Philosophie und werden durch drei Disputationsszenen ergänzt. Ich werde im Folgenden auf die Gestaltung der Seite eingehen und dann etwas ausgreifender die Zeichnungen beschreiben und sie hinsichtlich ihres Bildtyps und ihrer Aussage kommentieren und interpretieren.1
5.1 Erläuterungen Auf der Seite sind elf gerahmte Bildfelder in einen gemeinsamen weiteren Rahmen gestellt.2 Die Bildfelder sind in drei Spalten organisiert, von denen die beiden äusseren je vier annähernd quadratische Felder aufweisen, die etwas breitere mittlere Spalte lediglich drei. Das mittlere Bildfeld dieser Spalte nimmt im Gegensatz zu allen anderen Bildfeldern die Fläche von zwei Feldern ein und steht im Bildganzen genau in der Mitte. Die oberen drei Bildzeilen sind mit sitzenden oder stehenden Frauen als Personifikationen der Artes und der Philosophie (im zentralen Feld) bestückt; die unterste Zeile zeigt drei disputierende Philosophenpaare. Die Personifikationen der Künste sind nur mit einer lateinischen Namensbeischrift versehen, die als Titelwort in roter Textura in der Mitte des Rahmens über den Figuren steht. Bei Philosophia stehen zusätzlich zwei Stichwörter, die innerhalb des Bildfeldes oberhalb ihrer Attribute angebracht sind. Fast alle Figuren sind mit einem Spruchband ausgestattet, doch sämtliche Spruchbänder sind leer, wie auch die nur gestisch argumentierenden Gelehrten in der untersten Bildzeile unbenannt bleiben. 1 Die Einzelbilder werden in den Kapiteln ›Erläuterungen‹ und ›Interpretation‹ gemeinsam behandelt. 2 Allein an der Aussenseite der rechten Bilderspalte fehlt der Rahmen. Die Bildfelder werden stattdessen mit einer durchgehenden, sie verbindenden einfachen Linie begrenzt.
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Artes liberales
Dilettantischen Zeichnungen begegnet man hier wie sonst in der Handschrift reichlich. Am besten zeigt sich das an drei Beispielen. Die Attribute sind entweder sehr unbeholfen ›in die Hand‹ gesetzt – zum Beispiel das Lilienzepter der Philosophia – oder ›schweben‹ losgelöst darüber oder dahinter, wie der Quadrant der Astronomia und das Buch der Philosophia.3 Die zwei weiteren Beispiele beziehen sich auf die Zeichnung der Kastenthrone, die an ihren Enden perspektivisch durcheinandergeraten sind,4 und auf die Zeichnung der Hände, die manchmal überproportional gross erscheinen.5
5.2 Interpretation Ich beginne mit der Zeichnung der Philosophia im zentralen Bildfeld (Tafel XIII.1). Die Figur ist stehend und leicht abgewandt dargestellt. Sie trägt eine Laubkrone, hält ein mit Buckeln und Schliessen ausgestattetes Buch in ihrer rechten und ein Blütenzepter in ihrer linken Hand. Das bis zu den Füssen fallende Gewand wird überdeckt von einem Mantel, der durch einen Fürspan zusammengehalten wird. Die Zeichnung entspricht der geläufigen Darstellung der Philosophie als Königin der sieben freien Künste6 in Anlehnung an Boethius’ ›Consolatio philosophiae‹.7 Als Schlagwörter stehen über dem Buch Contemplacio sapiencie (Tafel XIII.1.1) und über dem
3 Vgl. dazu die ausführliche Besprechung der Seite bei Wirth, Lateinische und deutsche Texte, S. 266 f. Vgl. auch die Darstellung der Blumenbüschel ›hinter‹ den Händen des Zodiakusmannes auf fol. 1v (Tafel II , Abb. 2). 4 So bei der Gramatica (Tafel XIII.2.1), bei der Geometria (Tafel XIII.2.5) und bei der Musica (Tafel XIII.2.6). 5 So bei der Musica (Tafel XIII.2.6) und bei der Astronomia (Tafel XIII.2.7). Bei der Gramatica (Tafel XIII.2.1) sind sie allerdings zu klein geraten. 6 Zur Ikonographie der Philosophie als Königin, die zumeist als vorrangige Personifikation im Zyklus der sieben freien Künsten zu finden ist, vgl. KdiH, Bd. 1, S. 329 ff. und 335 f. (Abb. 171). Wirth, Von mittelalterlichen Bildern, S. 321–332. Arnold, Bildung, S. 361–375, hier: 366–369 (Abb. 1 und 3–5). d’Alverny, La Sagesse, S. 245–278, hier: 248 und 273 (Pl. 2 und 3). Verdier, L’iconographie, S. 305–354, hier: 306 (Abb. 2 und 6). Bildersammlungen: Courcelle, La Consolation, S. 17–29 und 77–81 (Abb. 22–47), Braun, Iconographie, S. 199–214 (Abb. 1–22). 7 Ed. Gigon, I, pr. 1. Hier könnte man, gerade auch hinsichtlich der Beischriften, vom Bildtyp der Philosophia-Sapientia sprechen. Vgl. dazu: Klemm, Artes liberales, S. 1–15, hier: 4 und 7 (Abb. 1). d’Alverny, La Sagesse, S. 248.
Interpretation
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Zepter regi‹men› publice (Tafel XIII.1.2).8 Die Bestimmung der Philosophie als ›Betrachtung der Weisheit‹ ist wohl eine antike Formel und bezieht sich auf das Buch als Symbol der Weisheit.9 Die zweite Inschrift bezieht sich auf das Zepter als Symbol öffentlicher Herrschaft. Die Artes liberales unterteilen sich in das Trivium, das traditionsgemäss mit der Grammatik beginnt, und in das Quadrivium, das mit der Arithmetik eingeleitet und mit der Astronomie beschlossen wird. Die Reihenfolge der übrigen Künste variiert je nach zugrunde gelegter Autorität. Im Trivium können die Rhetorik und die Logik/Dialektik die Plätze tauschen,10 im Quadrivium befindet sich die Musik zumeist an zweiter Stelle,11 kann aber auch gelegentlich das Quadrivium eröffnen12 oder beschliessen.13 Bezeichnenderweise bietet unsere Handschrift beide Reihenfolgen. Die Artes-Verse auf fol. 5r (Tafel IX.6.2) zeigen die Reihenfolge Grammatik – Rhetorik – Dialektik – Arithmetik – Geometrie – Musik – Astronomie. Hier, auf fol. 7r (Tafel XIII )14 geht die Reihe wie folgt: Grammatik – Logik – Rhetorik – Arithmetik – Geometrie – Musik – Astronomie. Ungewöhnlich ist an diesen beiden Ordnungen nur die Stellung der ›Musik‹ (Tafel XIII.2.6) 8 Hier ist vielleicht mit einer Verschreibung von regina pia zu rechnen. So wird die personifizierte Philosophie in der Aldersbacher Sammelhandschrift München, BSB , Clm 2599, fol. 101v (um 1225–1230) bezeichnet. Dazu: Stolz, Artes-liberales-Zyklen, Bd. 1, S. 152–159, hier: 154 (Bd. 2, Abb. 6). 9 Ein wortwörtlicher Nachweis der Definition ist mir nirgends gelungen. Sie geht zurück auf die Begründung der Philosophie durch Pythagoras. In diesem Sinn wird die Philosophie in der ›lateinischen‹ Antike (Cicero, Tusculanae disputationes [Ed. Gigon], I,1) und im Mittelalter als studium sapientiae bestimmt. Vgl. Boethius, De institutione musica (PL 63), II ,2: Primus omnium Pythagoras studium sapientiae philosophiam nuncupavit. Ausführlicher Isidor, Etymologiae (Ed. Lindsay), VIII ,6,1–3. Vgl. dazu: Schulthess/Imbach, Die Philosophie, S. 34 f. Hier sind sechs geläufige Definitionen der Philosophie aus dem ›Isagoge‹-Kommentar des Ammonius (440–517) aufgelistet. 10 So beschliesst die Dialektik das Trivium bei Cassiodor (Institutiones [PL 70], II , prefatio 4) und im Anschluss daran bei Isidor (Etymologiae [Ed. Lindsay], I,2,1 ff.). Die Rhetorik an die letzte Stelle stellt Martianus Capella (De nuptiis Mercurii et Philologiae [Ed. Dick/Pre´aux], V,426), und Alanus ab Insulis (Anticlaudianus [Ed. Bossuat], III ,2 ). Zur Illustration des Anticlaudianus vgl. Meier, Die Rezeption, S. 408–548, hier: 501 (Abb. 54–57). 11 So bei Cassiodor (ebd.) und Isidor (ebd.). 12 Vgl. dazu: Wirth, Die kolorierten Federzeichnungen, S. 67–110, hier: 81 f. 13 Martianus, De nuptiis Mercurii et Philologiae [Ed. Dick/Pre´aux], IX ,905 ff. Vgl. Klemm, Artes liberales, S. 2. 14 Die Artes umgeben die Philosophie im Halbkreis von unten links nach unten rechts.
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zwischen der ›Geometrie‹ (Tafel XIII.2.5) und der ›Astronomie‹ (Tafel XIII.2.7). Die Artes sind personifiziert als Frauen dargestellt, so wie sie fast immer seit Martianus’ ›De nuptiis Mercurii et Philologiae‹ in der mittelalterlichen Ikonographie anzutreffen sind.15 Die Grammatik (Tafel XIII.2.1) ist auf einem Kastenthron sitzend dargestellt und trägt als einzige unter den Artes ein Kopftuch. Sie hält ein Kind auf ihrem Schoss und reicht diesem die Brust. Ihren Kopf neigt sie zum Kind hin; ihre linke Hand hat sie an die entblösste rechte Brust gelegt, aus der ein dick eingezeichneter Milchstrahl fliesst. Die Zeichnung ist dem Bildtyp der Grammatica lactans angeglichen.16 Die Grammatik gilt als Grundlage nicht nur des Triviums, sondern aller sieben Künste (origo et fundamentum liberalium litterarium)17 und spendet als Mutter (Lehrerin)
15 Zur Ikonographie der Artes liberales sind, zusätzlich zu der unter Anm. 10 angeführten Literatur, folgende Arbeiten zu nennen: Stolz, Artes-liberalesZyklen, bes. Bd. 1, S. 58–69, S. 132–159 (Bd. 2, Abb. 6–11) und S. 202–266 (Bd. 2, Abb. 16–38). Hier sind die Artes liberales hinsichtlich ihrer Darstellung in Text und Bild umfassend abgehandelt. Ders., Text und Bild, S. 344–372. Tezmen-Siegel, Die Darstellung, bes. S. 79–83 und 136 f. (zahlreiche Abb.). Wirth, Neue Schriftquellen, S. 319–408, und die hilfreiche Dissertation von Evans, Personifications. Vgl. auch: Seibert, ›Künste, Sieben Freie‹, in: LCI 2. Sp. 703–713. Braun, Iconographie, S. 223–238 (Abb. 1–22). 16 Auch Grammatica mater oder nutrix. Zu denken ist hier an den Einfluss der Sapientia lactans bzw. der Maria lactans. Dazu: Schiller, Ikonographie, Bd. 4,2, S. 191 f. Beschrieben ist die »nährende Grammatik« in Alanus’ ›Anticlaudianus‹ (Ed. Bossuat), II ,7,392–408, im ›Compendium Anticlaudiani‹ (Ed. Ochsenbein), 13,1 f. und in ›Der meide kranz‹ des Heinrich von Mügeln, V. 169–174 (Vgl. Volfing, Heinrich von Mügeln, S. 59 ff. [Pl. 4]). Tezmen-Siegel, Die Darstellung, S. 80 und 137 (Abb. 18). Evans, Personifications, S. 104. Wirth, Lateinische und deutsche Texte, S. 270 f., sieht hier die Hypothese gestärkt, wonach das Grammatikbild in R aus literarischen Voraussetzungen zu erklären sei, und verweist auf die volkssprachige Rezeption des ›Anticlaudianus‹. Ders., Die kolorierten Federzeichnungen, S. 71 f. Arnold, Bildung, S. 366 (Abb. 1). In Konkurrenz zu diesem Bildtyp steht die ältere Darstellung der Grammatik mit Rute und Buch, wie sie im ›Hortus deliciarum‹ ins Bild gesetzt ist (Ed. Green, fol. 32r), oder mit Messer und Feile, wie sie im Anschluss an Martianus (De nuptiis Mercurii et Philologiae [Ed. Dick/Pre´aux], III ,223–226) vorkommt. Beide Darstellungen vergegenwärtigen die Grammatik als strafende und Fehler ausmerzende Lehrerin. Vgl. Wirth, Die kolorierten Federzeichnungen, S. 69 ff. (Abb. 1). 17 So bei Cassiodor (Institutiones [PL 70], II , prefatio 4) und Isidor (Etymologiae [Ed. Lindsay], I,5,1).
Interpretation
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dem Säugling (Schüler) ihre nährende Milch (Fertigkeiten des recte loquendi et scribendi).18 Im Bildfeld darüber befindet sich die Logik (Tafel XIII.2.2). Sie steht und hält in der durch einen Falknerhandschuh geschützten rechten Hand einen Vogel, in der linken eine hundsköpfige Schlange mit aufgesperrtem Maul. Zu letzterer wendet sie den Kopf hin. Der Hundekopf als Attribut der Logik ist selten, aber prominent repräsentiert durch das Beispiel im ›Hortus deliciarum‹ der Herrad von Landsberg.19 Die Kombination von Hundekopf und Schlangenschwanz ist noch seltener und wohl als ikonographische Verballhornung einzuschätzen.20 Der Hund kann für Scharfsinn und Schlauheit stehen.21 Weitere Verbindungen dieser zwei Attribute zur Dialektik finden sich im Beissen der Schlange,22 im Bellen23 und Beissen24 des Hundes. Konkret auf den syllogistischen Schluss als wesentliche Operation der Dialektik kann die Schlange bezogen werden;25 für den syllogistischen Dreischritt insgesamt steht der mos caninus.26 Was den Vogel angeht, hat man an einen 18 So u. a. bei Hrabanus Maurus, De institutione clericorum (PL 107), III ,18. 19 Ed. Green, fol. 32r. Heydenreich, ›Dialektik‹, in: RDK 3, Sp. 1387–1400, hier: 1392. Die negativen wie positiven Bedeutungen des Hundekopfes sind in diesem Zusammenhang von Karl-August Wirth ausgiebig diskutiert worden (Die kolorierten Federzeichnungen, S. 72–80). d’Alverny, La Sagesse, S. 265. 20 Eine vergleichbare Darstellung in der viel diskutierten Aldersbacher Handschrift, München, BSB , Clm 2599, fol. 104r (Hörmann, Probleme, Taf. 99), in Paris, BN , ms. lat. 3110, fol. 60r (d’Alverny, La Sagesse, Pl. 3) und in Chicago, The Newberry Library, Case MS f9, fol. 65r (Evans, Personifications, S. 128– 133 und 238). Vgl. Wirth, Die kolorierten Federzeichnungen, S. 98, Anm. 55. Den Anstoss für die eigenartige Wiedergabe vermutet Karl-August Wirth im Text des Martianus Capella: Sed quoniam eius [Dialecticae] laeua sub pallio occulebat insidias uiperinas, cunctis dextera praebebatur; denique ex illis formulis siquis aliquam percepisset, mox apprehensus hamo ad latentis anguis uirosos circulos trahebatur, qui tamen mox emergens primo spinosorum dentium acumine uenenato assiduis hominem morsibus affligebat, dehinc ambitu multiplici circumactum ad condiciones propositas coartabat (De nuptiis Mercurii et Philologiae [Ed. Dick/Pre´aux], IV ,328). 21 Isidor von Sevilla, Etymologiae (Ed. Lindsay), XII ,2,25 f. 22 Vgl. auch das Diktum Dialectica mordet. Vgl. d’Alverny, La Sagesse, S. 265. Verdier, L’iconographie, S. 316. 23 Vgl. Wirth, Die kolorierten Federzeichnungen, S. 74 f. 24 Vgl. Anm. 19. 25 Wirth, Die kolorierten Federzeichnungen, S. 98, Anm. 55. 26 So die Beischrift zur Darstellung im ›Hortus deliciarum‹. Vgl. dazu: Volfing, Heinrich von Mügeln, S. 75.
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Habicht27 oder an eine Taube zu denken. Da Habicht und Schlange meines Wissens nicht gemeinsam als Attribute der Logik belegt sind, ist bei R zunächst an eine Taube zu denken.28 Die Logik mit Taube und Schlange ist eine späte und selten belegte Bildvariante, die im ›Compendium Anticlaudiani‹,29 in Heinrichs von Neustadt ›Gottes Zukunft‹30 und in Heinrichs von Mügeln ›Der meide kranz‹31 erscheint.32 Damit steht das Logikbild, wie schon die Grammatik, in der Bildtradition des ›Anticlaudianus‹. Volfing führt diese Attribute auf Mt 10,16 zurück. Danach steht die Schlange für die Klugheit, die Taube für die Einfalt.33 Die Gegenüberstellung von Taube und hundeköpfiger Schlange in R deutet in diesem Sinn wohl auf eine im Allgemeinen bleibende Symbolik für dialektische Oppositionen, wie sie auch die konventionellen Attribute des Skorpions und des Blumenzepters oder der Schlange und der Wachstafel verkörpern. Offen bleibt die Darstellung jedoch auch für eine moralisierende Aneignung. Die Schlange würde dann das Böse verkörpern, die Taube das Gute. Die Rhetorik im obersten linken Bildfeld (Tafel XIII.2.3) holt mit ihrem rechten Arm zum Schlag mit dem Schwert aus. Mit ihrer linken Hand rafft sie ihr langes Gewand. Die linke Hälfte ihres Oberkörpers wird von einem Schild bedeckt, in den ein Kreuz eingezeichnet ist. Die Darstellung konkretisiert die Vorgabe des Martianus:34 Rhetorica trägt Waffen zur Selbstverteidigung wie zum Angriff. Die Zeichnung entspricht damit einem konventionellen Bildtyp der Rhetorik.35 Mit ihr schliesst das Trivium. Die Attribute und Tätigkeiten des Triviums beziehen sich immer symbolischuneigentlich auf die Fachinhalte, während die Beigaben der ›zählenden‹ Wissenschaften unmittelbar auf deren ›typische‹ Tätigkeit Bezug nehmen.
27 Vgl. Wirth, Neue Schriftquellen, S. 331 und 354. Der Beuteflug des Habichts steht wie der mos caninus für den syllogistischen Dreischritt. Vgl. Wirth, Die kolorierten Federzeichnungen, S. 98 (Anm. 55), und ders., Neue Schriftquellen, S. 339. 28 Vgl. die Darstellung des Tugendbaums auf fol. 5v (Tafel X.1). So gedacht, würde die Taube mit dem Falknerhandschuh im Widerspruch stehen. 29 Ed. Ochsenbein, 13,4 f. 30 Ed. Singer, V. 817–830. 31 V. 219–224 (Vgl. Volfing, Heinrich von Mügeln, S. 73 f. [Pl. 5]). 32 Volfing, Heinrich von Mügeln, S. 74 ff. 33 Estote ergo prudentes sicut serpentes, et simplices sicut columbae. 34 De nuptiis Mercurii et Philologiae [Ed. Dick/Pre´aux], V,426: arma in manibus, quibus se uel communire solita uel aduersarios uulnerare [. . .]. 35 Seibert, ›Künste, Sieben Freie‹, in: LCI 2, Sp. 707.
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Die Arithmetik als Wissenschaft der Zahl (Tafel XIII.2.4) hebt mit ihrer Linken ein Spruchband mit den Zahlen 1–8 hoch – die letzte Grundzahl fehlt – und weist mit dem Zeigefinger ihrer rechten Hand darauf hin. Die Geometrie als Erdvermesserin (Tafel XIII.2.5) sitzt zur Arithmetik hin gewandt auf einem Kastenthron und hat mit einem Zirkel einen Kreis gezeichnet, genauer gesagt der Kreis steht als Scheibe hinter dem Zirkel. Beide Personifikationen erscheinen mit ihren usuellen Attributen. Das Musikbild (Tafel XIII.2.6) zeigt eine sitzende Frau mit der Cithara im Schoss; mit der linken Hand spielt sie darauf.36 Wie die Arithmetik und die Geometrie trägt sie einen Stirnreif.37 ‹T›ub‹a›lcain, als Aubel Cain betitelt, vielleicht erst nachträglich am linken Bildrand ins Bild gebracht, ist neben seinem Stiefbruder Jubal der vermeintliche Erfinder der Musik.38 Der als unbärtiger Jugendlicher (?) Dargestellte streckt die rechte Hand in die Höhe und schlägt mit einem Hammer eines von vier am oberen Bildrand ›hängenden‹ Glöckchen an.39 Diese schemenhaft eingebrachte Szene weist auf eine der Versionen hin, die im Mittelalter über die Erfindung der Musik im Umlauf waren. Danach sollen Tubalkain und Jubal als inventores der Musik gelten. Dass hier wie auch in anderen Musikdarstellungen dem Schmied Tubalkain40 Vorrang vor Jubal41 eingeräumt wird,42 ist auch damit zu erklären, dass Tubalkains Beruf mit der Herstellung von Musikglocken in Verbindung gebracht wurde. Diese biblisch begründete Vorstellung über36 Dieses Bild wird von Wirth, Lateinische und deutsche Texte, S. 266–271, hinsichtlich des Wissenshintergrundes und der Bildtradition ausgiebig diskutiert. 37 Hier als einfacher Linienstrich über der Stirn gezeichnet. Vgl. das Musikbild in: Meier, Die Rezeption, S. 501 (Abb. 57). 38 Der Schreiber von R scheint einer Verwechslung Tubalkains mit Abel und Kain aufgesessen zu sein. Nach Gn 4,21 f. ist Jubal der Stammvater der Musiker, sein Halbbruder Tubalkain der Stammvater der Schmiede. In mittelalterlichen Handschriften werden die Namen Jubal und Tubal aufgrund von Verschreibungen häufig verwechselt. 39 Die Glöckchen sind alle von gleicher Grösse. 40 Gn 4,22: Thubalcain qui fuit malleator et faber in cuncta opera aeris et ferri. 41 Gn 4,21: Pater canentium cithara et organo. Isidor, Etymologiae (Ed. Lindsay), III ,16,1. Im Anschluss daran Hugo von St. Viktor, Didascalicon (Ed. Offergeld), III ,2. Hugo bezeichnet Tubal als Begründer der Musik: Musicae repertorem Moyses dicit fuisse Tubal, qui fuit de stirpe Cain, Graeci Pythagoram, alii Mercurium, qui primus tetrachordum instituit, alii Linum, vel Zetum, vel Amphionem. 42 Verdier, L’iconographie, S. 328 ff. (Pl. 12 und 15). Seibert, ›Jubal, Jabal und Tubalkain‹, in: LCI 2, Sp. 359 f.
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schneidet sich in unserem Bild mit der ebenfalls oft in Szene gesetzten, experimentell-praktischen Vorführung der Lehre von den Intervallen anhand des Glocken anschlagenden Pythagoras.43 Als letzte der Künste wird die Astronomie angeführt (Tafel XIII.2.7).44 Das Bild zeigt eine auf einem Kastenthron sitzende Frau mit einem über ihrer ausgestreckten rechten Hand ›schwebenden‹ Quadranten. Dessen Spitze trifft auf den äussersten von vier ineinandergelegten Kreisen, die ein Himmelsrad45 darstellen sollen. Astronomia visiert aber nicht entsprechend dem bekannten Bildtyp das Himmelsrad mit dem Quadranten,46 in R sind das Gerät und das Rad gemeinsam Objekt der Betrachtung. Die Zweckentfremdung des Gegenstands dokumentiert einmal mehr das mangelnde Sachverständnis des Zeichners. Die unterste Bildzeile besteht aus drei Bildfeldern mit je einem disputierenden Gelehrtenpaar, zumeist Dreiviertelfiguren.47 Die antikisierend in langes Gewand und Mantel Gekleideten sind als bärtige Männer dargestellt, drei davon mit Kopfbedeckung. Die expressive Hand- und Fingergestik der drei Paare untermauert die Disputationes. Die Figuren interpretiert man wohl am besten als wichtigste Repräsentanten oder Erfinder der Artes liberales, ohne dass eine genaue Zuordnung möglich wäre. Offen bleibt auch, ob der Zeichner eine solche überhaupt beabsichtigt hat.48 Die drei disputierenden Paare weisen aber auch in einem bestimmenden Sinn über den Handschriftenrand hinaus: Die Vermittlung der Artes, die 43 Karl-August Wirth sieht die Verwirrung im Bild «[. . .] im Zusammenhang mit dem angestrengten Versuch, der überlieferten antik-heidnischen Version der Ursprungslegende, die Pythagoras durch Überprüfung der Ursachen für die bei der Arbeit von Schmieden vernehmbaren Tondifferenzen zur Auffindung der Intervallenlehre kommen lässt, eine christliche Version entgegenzusetzen, die sich auf das Zeugnis der Bibel stützen zu können glaubte.» (Lateinische und deutsche Texte, S. 267 f.). Courcelle, La Consolation, S. 71 (Abb. 6). Vgl. Wirth, Die kolorierten Federzeichnungen, S. 82 (Abb. 17 und 20). Verdier, L’iconographie, S. 328 ff. (Pl. 12 und 15). Seibert, ›Jubal, Jabal und Tubalkain‹, in: LCI 2, Sp. 359 f. 44 Zum Fachinhalt und zur Überschneidung ihrer Inhalte mit denen der Astrologie vgl. Stolz, Artes-liberales-Zyklen, Bd. 1, S. 58–69. 45 Das Himmelsrad ist gleichsam ein Symbol für den Welt- und Zeitenlauf, für die machina mundi. Vgl. Wirth, Neue Schriftquellen, S. 350 f. 46 Als Vergleichsbeispiele ebd. Abb. 13 und 21. 47 Zum Bildtyp der Disputatio vgl. Lenhardt, Die Illustrationen, S. 181. 48 Der fast versteckt wiedergegebene Aubel Cain wäre dann laut Karl-August Wirth quasi aus Platzmangel als siebter Repräsentant im Bildfeld der Musik untergebracht worden. Vgl. Wirth, Lateinische und deutsche Texte, S. 268.
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Pflege und Bestätigung ihrer Regeln und Inhalte lässt sich als disputorientierte Tradierung der hier personifiziert dargestellten wissenschaftlichen Gegenstände im Lehrbetrieb oder überall da, wo man sich mit ihnen in einem colloquialen Rahmen auseinandersetzt, denken. Eine solche ›Entwicklung‹ im Gespräch kann auch auf die Rezeption von R selbst bezogen werden.
6 Frauensklaven 6.1 Erläuterungen Die Seiten 7v und 8r (Tafeln XIV und XV , Abb. 14 und 15) umfassen einfache Federzeichnungen von Frauensklaven. Der beliebte und breit überlieferte Topos der Frauensklaven ist als variabel besetzte Reihe bis ins späte Mittelalter in Text und Bild verbreitet. Ausgehend von der augustinischen Genesisexegese ist der Topos lateinisch fixiert in Exemplum-Literatur wie Predigt und Fabel, in Lehrsprüchen, Gedichten, volkssprachig in konventioneller Kleindichtung wie Lied und Spruch, Märe und Schwank, dann wieder auch in der Predigt wie in der Exemplum-Literatur, überlieferungsgeschichtlich gesehen also in ›offenen‹, auf Mündlichkeit hin konzipierten Textsorten, zumeist Kleinformen, die es dem Topos leicht machen, den Sprung in die Bildlichkeit zu schaffen. Darstellungen einzelner Frauensklaven finden sich schon früh im sakralen Umfeld wie Psalterillustration, sakraler Skulptur, Chorgestühlschnitzerei, später dann erscheinen sie als Reihe in profaner Umgebung in Wandmalerei, auf Textilien und höfischen Gebrauchsgegenständen.1 Soweit ich sehe, fehlen Frauensklaven-Reihen als Buchillustration in der handschriftlichen Überlieferung des Mittelalters vollständig. Auch die ›Washingtoner Reihe‹ bildet hier nur scheinbar eine Ausnahme: Als Teil einer ungebundenen Tafelsammlung ist sie keine Buchillustration im traditionellen Sinn, sondern ein auf Öffentlichkeit angelegtes, die Auseinandersetzung im Gespräch voraussetzendes ›Konversationsstück‹.2 So verstanden nähert sich die ›Washingtoner Reihe‹ in ihrer Funktion und Rezeption den profanen Wandmalereien.
1 Ott, Minne oder amor carnalis?, S. 107–125, hier: 108. Vizkelety, ›Minnesklaven‹, in: LCI 3, Sp. 269 f. Darstellungen von Frauensklaven-Reihen in Handschriften bilden die Ausnahme. Die ›Süddeutsche Tafelsammlung‹ ist das einzige, mir bekannte Bildzeugnis. 2 Vgl. Kapitel 3.3.1 in Teil B.
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Frauensklaven
Für die Kommentierung der Doppelseite verwende ich je nach Perspektive das Begriffspaar ›Frauensklave‹3/›Weiberlist‹.4
6.1.1 Layout Die Seite 7v (Tafel XIV ) ist ziemlich gleichmässig eingeteilt in fünfzehn quadratische Einzelbilder,5 organisiert in drei Spalten zu je fünf Kästchen (Tafel XIV .1–15). Die einzelnen Kästchen sind immer mit einem doppellinigen Rahmen versehen, der Beischriften zu den Miniaturen enthalten kann. Beide Rahmenstriche sind in den Ecken manchmal mit dem Strich des 3 Vgl. dazu die von Rüdiger Schnell vorgenommene Unterscheidung zwischen ›Frauensklaven‹ und ›Minnesklaven‹. Wo es um Abstrahierung/Idealisierung (Minne) geht, spricht Schnell von Minnesklaven, wo es um Konkretisierung (Frau/List) geht, von Frauensklaven (Causa amoris, S. 475 f. und 497). R präsentiert die ›Sklaven‹ im Text-Bild-Zusammenhang als Untergebene einer Frau, daher verwende ich im Zusammenhang mit R und allgemein als Oberbegriff für Sklaventum im beiderlei Sinn den Begriff ›Frauensklave‹. Dort, wo die ›Sklaven‹ als Hörige der Frau Minne charakterisiert werden, wird ihre Hörigkeit durch die beigegebenen Bilder deutlich auf die Frau bezogen. In der 17. Miniatur (Tafel XV .2) beispielsweise wird in der Spruchband-Inschrift die Minne für die Hörigkeit des Sänger-Ichs verantwortlich gemacht (der minne‹n› stral hat mich gar ser verbunt), betrachtet man aber die vis-a`-vis abgebildete Verführerin, geht es weniger um Idealisierung im Sinne des höfischen Minnedienstes als um die Unterwerfung unter eine listige Frau in anzüglicher Pose. Andere Miniaturen wie die Parzival-Miniatur (Tafel XIV .13) insistieren auf der Minne als übergeordnetem Prinzip, desgleichen der Text der Pseudo-Frauenlob-Strophe (Tafel XV .5), aber betrachtet man die Doppelseite übergreifend als Text-Bild-Ensemble, das einem burlesk literarischen Liebesdiskurs zuzurechnen ist, löst sich die Verschränkung von Frauensklaven- und Minnesklaventopos zugunsten des ersten. Vgl. Haug, Die höfische Liebe, S. 37 ff. 4 Henrike Lähnemann unterscheidet den Sklavenbegriff, der der didaktischen Reihenbildungen entstamme, vom Begriff der ›Weiberlist‹, der einem erzählerischen Impetus entspringe. Obwohl beide Begriffe häufig als austauschbare Begriffe gebraucht würden, behielten sie ab einem bestimmten Punkt teilweise verschiedene Akzentsetzungen bei (Lähnemann, Hystoria Judith, S. 425. Der Sklavenbegriff fokussiert die selbstverschuldete Opferrolle des Mannes, der Listbegriff dagegen gibt die Perspektive der Frau wieder – je nach Perspektive verwende ich beide Begriffe abwechselnd. Weiberlist wird im Kontext der Reihen mit »einer ungerechten Überlistung« gleichgesetzt (ebd.). Zum theologischen Hintergrund der List vgl. Schockenhoff, List und Lüge, S. 156 f. 5 Ich nummeriere die Bildkästchen von 1 bis 19 (fol. 7v: Nr. 1–15, Tafel XIV .1–15; fol. 8r: Nr. 16–19, Tafel XV .1–4). Siehe die schematische Übersicht in Kapitel 6.1.3.19.
Erläuterungen
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Nachbarrahmens horizontal und vertikal verbunden, sodass sich zwischen den Rahmenecken vier quadratische Felder bilden, manchmal fehlen die horizontale oder die vertikale Verbindung. Fol. 8v (Tafel XV ) setzt auf der oberen Halbseite die Reihe um vier Bildkästchen fort (Tafel XV .1–4), lässt sich also seitenorganisatorisch wie auch thematisch nicht von der gegenüberliegenden Seite trennen. Die vier Torenminiaturen werden rechts flankiert von einer Pseudo-Frauenlob-Strophe (Tafel XV .5).6 Deren fortlaufend geschriebene Verse füllen untereinander den Platz von anderthalb Kästchen und laufen über den rechten Randstrich hinaus. Die untere Halbseite zeigt eine Auswahl von Frauensklaven (Tafel XV .6), die reihenweise vor einem nackten Weib anstehen (Tafel XV .7). Die Rahmenleisten sind hier wie auch schon beim Textfeld der Pseudo-Frauenlob-Strophe nur noch in Fortsetzung der Rahmung der vier Bildkästchen voll ausgeführt. Der rechte Rand ist durch einen einfachen Strich markiert, der in die Mantelzeichnung des nackten Weibes eingeht. Der Rahmen am linken Rand bricht in der unteren Halbseite auf Fusshöhe der Frauensklaven ab. Die Rahmenkonstruktion ist so nach unten hin offen. Fünfzehn der neunzehn Miniaturen sind die bildliche Umsetzung der Pseudo-Frauenlob-Strophe, beginnend mit Adam, schliessend mit dem Sänger-Ich als Frauenopfer. Die Verse sind abwechselnd rot und schwarz in Bastarda geschrieben. Die Bildkästchen sind mit Titulus (Name des Frauensklaven), Rahmentext (Andeutung der Situation) und/oder Spruchbändern (Figurenrede) versehen. Sämtliche Verse auf fol. 7v sind im niedrigsten Schriftgrad der Handschrift, in schwarzer Bastarda, geschrieben. Die Beschriftungen der vier Bildkästchen auf fol. 8r (Tafel XV .1–4) hingegen sind teils in Textura (Bilder 16 und 17), teils in Bastarda (Bilder 18 und 19) textiert. Die ersten vier Kästchen sind nicht tituliert, auch Bild 15 und 17 nicht. Die Tituli sind in roter Farbe angebracht, in der Regel im Kästchen unmittelbar über oder neben den Figuren, ausnahmsweise in der oberen Rahmenleiste (Bilder 6, 16 und 19) oder über ihr (Bild 16). Die Tituli geben Figurennamen und in zwei Fällen Ortsnamen (Bilder 8 und 16). Bild 18 (Tafel XV .3) ist zweimal identisch betitelt, einmal in schwarzer, ein andermal in roter Farbe. Die Rahmentexte beginnen jeweils links in der oberen Leiste und verlaufen im Uhrzeigersinn. Der Schreiber füllt damit zwei oder drei Leisten. 6 Sangsprüche in Tönen Frauenlobs (Ed. Haustein/Stackmann), V,204 (Teil 1) und S. 353 ff. (Teil 2). Zur Überlieferung der Strophe vgl. Kapitel 3.3.1 in Teil B. Vgl. auch: RSM III ,339 f.
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Frauensklaven
Die linke Rahmenleiste wird nie beansprucht, ausser bei Bild 4 (Tafel XIV .4), wo das Spruchband in die Leiste eingeht. Bild 14 (Tafel XIV .14) beansprucht zusätzlich die untere Leiste des benachbarten Bildkästchens darüber (Bild 11). Die Anfänge der Rahmentexte werden durchgehend durch rubrizierte Majuskeln markiert. Die Schriftbänder sind den Figuren mechanisch angesetzt, entweder am Kopf (Bilder 4, 5, 15 und 17) oder an der zum Redegestus geformten Hand (Bilder 2, 6, 9, 12, 14, 15, 17 und 19). Sie stehen neben oder über der Figur (Bilder 3, 5, 7, 12 und 15). Teils schmiegen sie sich den Figuren an oder überwölben sie. Die Spruchbänder sind in schwarzer Bastarda geschrieben mit Ausnahme des siebzehnten Kästchens, wo der Schreiber rote Textura verwendet. Im zweiten Kästchen bleibt ein Spruchband leer; im letzten gleich alle. Manchmal gehen die Spruchbänder ein in die Rahmenleiste, so bei den Bildern 4, 14, 15 und 17 (Tafel XIV .4, 14, 15 und Tafel XV .2). Zweimal ist die Majuskel bzw. Minuskel der Versanfänge rubriziert (Bilder 5 und 14). Die untere Halbseite von fol. 8r (Tafel XV .6–7) resümiert das in neunzehn Bildkästchen exemplifizierte Thema des Frauensklaventums. Textlich ist das Thema im Schriftband des nackten Weibes zusammengefasst. Das doppelt breite, an seinem Ende abgewinkelte Band schlängelt sich in S-Form zwischen dem Weib und dem jungen Frauensklaven, der, etwas abgesetzt, die Reihe der Toren anführt. Die Beschriftung erfolgt zweizeilig, links in schwarzer und rechts in roter Textura, und zählt sechs Frauensklaven und ein ›Ich‹ auf. Die ersten sechs Toren sind über dem Kopf in schwarzer Textura angeschrieben. In ihren Händen halten sie – ausser einem, aber den vorangehenden Jüngling eingeschlossen – Spruchbänder, die allesamt leer sind. Die Spruchbänder des Jünglings und des ersten Toren der Gruppe richten sich schräg nach oben gegen das nackte Weib.
6.1.2 Die Pseudo-Frauenlob-Strophe Fünfzehn der neunzehn Frauensklaven-Miniaturen ›entsprechen‹ der auf fol. 8r beigegebenen Pseudo-Frauenlob-Strophe yn der langen weis (Tafel XV .5).7 Der Zeichner illustriert die Exempla in eigener Reihenfolge, abgesehen von ›Adam und Eva‹ und dem Sänger-Ich, die beiderorts an Anfang 7 Sangsprüche in Tönen Frauenlobs (Ed. Haustein/Stackmann), V,204. Hier findet man auch die Überlieferungsvarianten (Teil 2, S. 355 ff.). Schnell, Causa amoris, S. 483.
Erläuterungen
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und Schluss stehen.8 Die Strophe ist inhaltlich und formal stark zerstört, letzteres kam offenbar durch den Versuch zustande, die ursprünglich höchst variablen Verslängen in gleich lange, durch regelmässigen Wechsel zwischen roter und schwarzer Tinte gekennzeichnete ›Verse‹ einzuteilen, um eine Art Verzeichnis der Frauensklaven anzulegen.9 Der Text der Strophe mit seinem geringen interpretativen Wert reicht allemal aus, ein Wiedererkennen der Miniaturen zu gewährleisten.10 Der Text läuft fast regelmässig über den Randstrich hinaus und füllt das rechteckige Textfeld nicht ganz aus. Die 14 Frauensklaven in der Pseudo-Frauenlob-Strophe entstammen der Bibel und der Literatur. Im ersten Stollen sind in relativ fest tradierter Reihenfolge fünf alttestamentliche Helden aneinandergereiht (Tafel XV .5.1), im zweiten Stollen folgen antike Helden, denen sich Holofernes beigesellt (Tafel XV .5.2), der dritte Stollen bringt mit Achill wieder eine antike Figur, lässt dann aber wieder eine biblische folgen (Azahel) und schliesst mit den zwei arturischen Helden Artus und Parzival (Tafel XV .5.3). Das letzte in der Strophe erwähnte Fallbeispiel handelt vom Sänger-Ich, das sich selbst einreiht unter die Opfer des raine[n] weib[es] (Tafel XV .5.3), aber nicht ohne ironisches Augenzwinkern. Seine hinterlistige Frage lässt zumindest an der Reinheit des Weibes zweifeln, das ihn hiczet vnde fröret, und legt ein Lesen als Parodie auf die Formel ›reinez wıˆp‹ aus der Tradition des Frauenpreises nahe.11 Die Bildbeispiele vermeintlich ›reiner wıˆp‹ auf fol. 8r stützen eine ironisierende und parodierende Lesart der Strophe.
8 9 10 11
Siehe die schematische Übersicht in Kapitel 6.1.3.19. Vgl. dazu: Lutz, Spiritualis fornicatio, S. 331 f. Vgl. Smith, The Power (1995), S. 138 f. Vgl. Schnell, Causa amoris, S. 487. Wunderlich, Der wilde Asahel, S. 2. Robert Schöller sieht die Schlusszeilen der Pseudo-Frauenlob-Strophe V , 204 weder als Ironie noch als Parodie, sondern betont die »traditionsaufgreifende und traditionsbegründende Argumentationsebene« des Minnespruchs, dessen Schlusszeilen »eine bewährte und konventionelle Conclusio« sein sollen. Auch das Epitheton rain sei »formelhaft und konventionell«. Damit werde man die Frage nach der Echtheit erneut stellen müssen, zumal die älteste Handschrift den Minnespruch dezidiert Frauenlob zuschreibe (Ismahel oder Asahel, S. 422 f.). Betrachtet man die Schlusszeilen der Strophe im Kontext der Frauenlob-Überlieferung, ist Schöller durchaus zuzustimmen. Im Verbund mit den schillernden Frauenfiguren der ›Süddeutschen Tafelsammlung‹ dagegen liegt eine ironische Lesart des raine[n] weib[es] (Tafel XV .5.3) auf der Hand.
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Frauensklaven
6.1.3 Die einzelnen Beispiele Im folgenden Kapitel werden die Darstellungen der Minnetoren einzeln detailliert kommentiert.12 Nach einer kurzen allgemeinen Einführung des einzelnen Themas folgt jeweils die Beschreibung des Bildes, die Kommentierung der Texte und die Einbettung der Szenen in ihre textlichen und ikonographischen Traditionen,13 vor deren Hintergrund die Besonderheiten der Darstellung in R abschliessend fokussiert werden.
6.1.3.1 Adam und Eva (Tafel XIV .1) Der Sündenfall ist die bedeutendste Szene des Adam-und-Eva-Zyklus. Das Motiv ist das am weitesten verbreitete Bildmotiv aus dem Alten Testament und gehört zu den ältesten Bildthemen christlicher Bildkunst.14 Das Spektrum der Medien reicht von der Buchillustration bis hin zur Monumentalkunst. Bildbeschreibung Die Phasen des Sündenfalls sind synoptisch und symmetrisch dargestellt: Die Mitte der Bildkomposition bildet der Baum der Erkenntnis, vor dessen Stamm die Schlange sich hoch aufrichtet und Eva die verbotene Frucht aus ihrem aufgesperrten Rachen in die rechte Hand legt. Eva reicht die Frucht mit ihrer Linken an Adam weiter. Dieser streckt die rechte Hand nach ihr aus, während seine Linke die Frucht bereits zum Mund geführt hat.
12 Die Sonderstellung dieser Frauensklaven-Reihe in der handschriftlichen Überlieferung des Mittelalters erfordert eine genaue Beschreibung der einzelnen Bilder und Texte. Von altgermanistischer Seite ist R oft ausschliesslich wegen der singulär überlieferten und in ihrer Vollständigkeit seinesgleichen suchenden Frauensklaven-Doppelseite diskutiert worden. 13 Für die Einbettung in die textlichen und ikonographischen Traditionen ist neben den einschlägigen Nachschlagewerken besonders die Arbeit von Werner Wunderlich sehr hilfreich, der die Kontexte für die vergleichbare Frauensklaven-Reihe im Konstanzer ›Haus zur Kunkel‹ (1306–1316) bestimmt (Abb. 35). Beide Reihen sind bildliche Umsetzungen der Pseudo-FrauenlobStrophe: Wunderlich, Weibsbilder, S. 113–156. Der fragmentarisch erhaltene Text ist ediert und kommentiert in: Sangsprüche in Tönen Frauenlobs (Ed. Haustein/Stackmann), Bd. 1, S. 38 f. Die Darstellungen im ›Haus zur Kunkel‹ werden im vorliegenden Kapitel wiederholt als Vergleichsbeispiel herangezogen. 14 Schade, ›Adam und Eva‹, in: LCI 1, Sp. 41–70, hier: 54–62. Von Erffa, Ikonologie, Bd. 1, S. 178–187, hier: 178 f. Esche, Adam und Eva, S. 10–18.
Erläuterungen
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Texte In den Rahmenleisten oben, rechts und unten sind zwei Verspaare eingeschrieben: Fraw eua adam des vber cham,/ Daz er den appffel von dem pawm nam,/ Den yn got verpoten het./ eua [cze] willen ‹e›r das tedt (Tafel XIV .1). Eva wird bibelgetreu als diejenige eingeführt, die zu überreden weiss: Fraw eua adam des vber cham. Adam nimmt, durch Eva verführt, den appffel vom verbotenen Baum. Der letzte Vers teilt zusammenfassend den beiden Protagonisten ihren Handlungspart zu: Nach Evas Willen isst Adam die verbotene Frucht. Texttradition und Bildtyp Ausgangspunkt für die Text- und Bildtradition des Sündenfalls sind die biblische Schilderung nach Gn 3,1–7 und ihre – besonders augustinische – Exegese.15 Die Szene des Sündenfalls umfasst die Versuchung Evas (Gn 3,1–5), den eigentlichen Sündenfall (Gn 3,6: et tulit de fructu illius, et comedit, deditque viro suo, qui comedit) sowie die Empfindung von Scham und die Flucht vor Gott (Gn 3,7). Die Ansicht, dass Eva gegenüber Adam die Rolle der Versucherin spielt, wie zuvor die Schlange ihr gegenüber, ist im Bibeltext nicht begründet, häufig aber in der Exegese.16 Die Verführung des Mannes durch die Frau ist in zahlreichen Werken exegetischer, moraltheologischer und didaktischer Provenienz zum Gemeinplatz geworden.17 Im Anschluss daran bilden in der volkssprachigen Literatur18 Adam als erster Frauensklave und Eva als Urverführerin den Ausgangspunkt für die mittelalterliche Erweiterung der Exempelreihe. Die moralische Warnung vor der weiblichen List steht in der misogynen Tradition der patristischen Abwertung der Frau und des amor carnalis. Ikonographisch bilden sich fast gleichzeitig zwei Bildtypen aus:19 die symmetrische Darstellung mit dem Baum der Erkenntnis in der Mitte und die asymmetrische Darstellung mit den Stammeltern auf einer Seite des Baumes.20 Der Sündenfall ist dabei fast immer nach dem gleichen Muster inszeniert: Eva nimmt sich die Frucht aus dem aufgesperrten Rachen der Schlange oder direkt vom Baum und reicht sie an Adam weiter. Adam nimmt die Frucht aus Evas Hand und isst mit der anderen Hand gleichzeitig davon. Die Schlange ringelt sich gewöhnlich auf der Schwanzspitze stehend um den Stamm des Baumes.21 Abweichend von der 15 Eine Zusammenstellung der Belege aus der Patristik bei Dassmann, Sündenvergebung, S. 232–258 und 397–404. 16 Augustinus, De civitate Dei (Ed. Dombart/Kalb), XIV ,11. Von Erffa, Ikonologie, S. 180. 17 Reich belegt bei Schnell, Causa amoris, S. 476–482. 18 Ebd. S. 483–490. Ebenfalls Ott, Minne oder amor carnalis?, S. 111. 19 Das folgende nach von Erffa, Ikonologie, S. 119–124 (›Baum der Erkenntnis‹); S. 171–176 (›Die Schlange‹) und S. 178–187 (›Sündenfall‹). Abbildungen in LCI 1, Sp. 41–70, RDK 1, Sp. 126–155 und bes. bei Zahlten, Creatio mundi, Tafeln 1–401. 20 Schade, ›Adam und Eva‹, in: LCI 1, Sp. 56 f. 21 Kemp, ›Schlange‹, in: LCI 4, Sp. 75–81. Die Vorstellung der aufrecht stehenden
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Frauensklaven
natürlichen Schlangengestalt kann der Kopf der Schlange anthropomorphisiert werden oder gänzlich zum Menschenkopf werden. Der Baum der Erkenntnis, ursprünglich als Feigenbaum, Weinstock oder Apfelbaum typisiert, ist in mittelalterlicher Kunst oft in abstrahierter Form wiedergegeben worden und auch hier im Bild nicht mehr genau zu bestimmen.22 Darstellung in R Die Sündenfall-Darstellung in R weicht insofern von der ikonographischen Tradition ab, als die Schlange vor dem Baumstamm steht, statt sich darum zu winden. Ihr Kopf weist kaum menschliche Züge auf, trotz menschenähnlicher Augen und Augenbrauen sowie der Ansätze zu Ohren. Adam und Eva sind einander zugewandt. Evas überlange Arme und Hände, besonders die weiterreichende Hand, stehen in keinem Verhältnis zur Körpergrösse.
6.1.3.2 Aristoteles und Phyllis (Tafel XIV .2) Das Aristoteles-und-Phyllis-Motiv ist mit weit über hundert Bildzeugnissen das prominenteste und am weitesten verbreitete Frauensklaven-Exempel. Die Überlieferung setzt im frühen 13. Jahrhundert ein, zunächst – im 13. und 14. Jahrhundert – in Texten, seit dem Anfang des 14. Jahrhunderts erscheint sie als fester Bildtyp auf allen nur denkbaren Bildträgern. Das Motiv ist zuerst anzutreffen im klerikalen Kontext, textlich in einem lateinischen Predigtexempel Jacques’ de Vitry, bildlich auf einer Wange des Chorgestühls in der Lausanner Kathedrale. Die Bandbreite der Bildmedien23 reicht dann von der Skulptur (Kirchenportale, -fassaden und Kapitelle),24 den Bas-de-page-Illustrationen liturgischer Handschriften,25 über
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Schlange beruht auf der Ansicht, dass sich die Schlange vor ihrer Verfluchung in Gn 3,14 nicht auf dem Bauch kriechend fortbewegt, sondern aufrecht gestanden habe. Dazu: Petrus Comestor, Historia scholastica (PL 198,1072). Vgl. Kelly, The Metamorphoses, S. 301–327, hier: 308 f. Flemming, ›Baum‹, in: LCI 1, Sp. 258–268, bes. 264 ff. Zur Verbreitung des Motivs in Text und Bild vgl. Erfen, Phyllis. S. 753–756 und 768–776. Lyon, Nordportal der Kathedrale St. Jean, 14. Jh. Ein mehrfach zitiertes Beispiel ist ein Psalter aus der franko-flämischen Buchmalerei des frühen 14. Jh. (Arras, BM , ms. 47, fol. 74r). Hier erscheint der gerittene Aristoteles in der Bas-de-page-Zone unter dem 68. Psalm und steht in dieser Kombination dem Gebrauchszusammenhang eines Exemplums des Jacques de Vitry sehr nahe. Dazu: Smith, The Power (1995), S. 122 (Abb. 3, 4 und 6). Randall, Images, S. 28 (Abb. 554). Ein weiteres eindrückliches Beispiel für diesen Motivtransfer ist ein bronzenes Aquamanile aus Nordostfrankreich oder Flandern (New York, Metropolitan Museum of Art, Robert Lehman Coll. 1975.1.1416, um 1400), das sowohl in liturgischer wie in
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höfische Gebrauchsgegenstände (Kämme, Minnekästchen und bezeichnenderweise Sättel),26 Textilien (Wandteppiche)27 und Wandmalereien (Fresken)28 bis zur Graphik (Holzschnitte und Kupferstiche).29 Im Verlauf des 14. Jahrhunderts gerät das Bildmotiv zusehends in den privaten Bereich höfischer Repräsentationsgegenstände30 oder dorthin, wo sich höfischer Anspruch manifestiert.31 Bildbeschreibung Die Miniatur zeigt zentral im Vordergrund Aristoteles, der von Phyllis im Damensitz geritten wird. Er ist bärtig, mit Philosophenhut und in langem Gewand dargestellt. Auf allen Vieren kriecht er nach rechts. Phyllis trägt ein langes Kleid, dazu eine in Falten bis zu den Schultern herabfallende Haube. Die Ärmel sind an beiden Armen beinahe bis zum Ellbogen zurückgeschlagen. Auf Bauchhöhe halten die Hände das Spruchband fest. Rechts im Hintergrund erhebt sich ein Turm. Von dort aus beobachtet die Königin aus erhöhter Position die Reitende und den Berittenen. Texte Phyllis und der Königin ist je ein Spruchband zugeordnet. Diese Bänder wachsen aus ihren Händen, das erste kreis-, das zweite wellenförmig. Das Spruchband des Aristoteles ist unbeschriftet und, einer Pforte ähnlich, vor das Mauerwerk des Turmes gezeichnet. Auch der Rahmen der Miniatur wird nicht für Text genutzt; Tituli fehlen. Die beschrifteten Spruchbänder enthalten je ein Verspaar: Phyllis: auff dem ich sicz yn hohen preiz,/ daz ist aristo‹te›les der weiz. Königin: Ich siech, daz dem weisen man/ ein weib hat gesiget an (Tafel XIV .2). Beide Aussagen sind Kommentare der Figuren zur eigenen Tätigkeit: Phyllis sitzt stolz auf dem Weisen (ich sicz); die Königin beobachtet den Sieg der Frau über ihn (ich siech).
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laikaler Sphäre verwendet werden konnte. Dazu: Müller, Minnebilder, S. 25 (Abb. 21), und Alexander, Iconography, S. 9 ff. Verschiedene Beispiele bei Herrmann, Der »Gerittene Aristoteles«, S.151–184. Dominikanerinnenkloster Adelhausen, Malterer-Teppich, 1320–1330. Abb. von Wilckens, Die textilen Künste, S. 216 f. Literatur: Smith, The Power (1995), S. 201–228. Maurer, Der Topos, S. 182–206. So innerhalb des Minnesklaven-Zyklus im Konstanzer ›Haus zur Kunkel‹ und zusammen mit Samson und Dalida sowie Vergil im Korb (fragmentarisch [Abb. 35]) in einer um 1520–1530 entstandenen Wandmalerei in Estavayer-leLac. Im gleichen Raum befindet sich eine fragmentarisch erhaltene, von gleicher Malerhand ausgeführte Darstellung mit der Verkündigung an Maria und einem Stifterporträt. Dazu: Jordan, De´couverte, S. 9–13 (Abb. 3). Herrmann, Der »Gerittene Aristoteles«, S. 218–223. Vgl. Vom Leben im späten Mittelalter, S. 132 f. (Abb. 54). Dazu: Smith, The Power (1995), S. 103–136 (zahlreiche Abb.). Müller, Minnebilder, S. 24 f. Curschmann, Wort – Schrift – Bild, S. 407 f.
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Frauensklaven Texttradition und Bildtyp
Das Motiv vom blossgestellten Weisen, der sich von Liebe verblendet einer Frau als Reittier unterwirft, ist literarisch weit verbreitet und zuerst im orientalischen Raum fassbar.32 Die Erzählfabel gliedert sich wie folgt:33 Der Ratgeber des verliebten Herrschers warnt diesen vor der verderblichen Macht der Frauen. Dafür rächt sich die Geliebte des Herrschers am Ratgeber: Sie gibt ihn als berittenen Narren der Lächerlichkeit preis. Die Handlung mündet in die Pointe, dass sich die Warnung am Warner selbst bestätigt. Die Besetzung der Figuren ist im Fall des Weisen mit dem alten Aristoteles fest, im Fall der Frau dagegen variabel. In der frühesten europäischen Realisierung des Motivs, im oben erwähnten Predigtexempel des Augustinerpredigers Jacques de Vitry (zwischen 1210 und 1240) wird die Frau mit der Gemahlin Alexanders identifiziert.34 In der ersten volkssprachigen Realisierung, namentlich im Lai d’Aristote des französischen Klerikers Henri d’Andeli (zwischen 1230 und 1240) richtet sich die Warnung an eine schöne Inderin, die Alexander zu Untätigkeit verführt.35 Die Gleichsetzung der Frau mit der antiken Phyllis geschieht erst um 1300 in einem deutschen Märe.36 Die Benützung des Motivs lässt sich auf zwei Bereiche beschränken: Gelehrtensatire und Moraldidaxe. Eingang in die Bildtradition fand besonders letztere.37 Bei der Aristoteles-und-Phyllis-Gruppe kristallisiert sich ein fester Bildtyp heraus: Phyllis reitet im Damensitz auf dem langbärtigen, gezäumten Aristoteles.38 In 32 Novellistik des Mittelalters (Ed. Grubmüller), S. 1187–1191, hier: 1188. Sowinski, Aristoteles als Liebhaber, S. 315 f. 33 Novellistik des Mittelalters (Ed. Grubmüller), S. 1188. 34 Ed. Frenken, Nr. 15. 35 Ed. Delbouille, S. 65–90. Hier wurde das rigide Negativ-Exemplum klerikaler Provenienz durch eine höfische Lesart zu einem Minnesklaventopos umgewandelt. 36 Zur Herkunft der Phyllis und zur Überlieferung des Märe siehe Novellistik des Mittelalters (Ed. Grubmüller), S. 1189 und Sowinski, Aristoteles als Liebhaber, S. 317. Der Text nach der Strassburger Handschrift S ist abgedruckt in: Novellistik des Mittelalters (Ed. Grubmüller), S. 493–523 (Stellenkommentar S. 1191–1196). Auch Rosenfeld, ›Aristoteles und Phyllis‹, in: 2VL 1, Sp. 434 ff. 37 Zur literarischen Tradition vgl. Smith, The Power (1995), S. 66–102. Zu den orientalischen Quellen, westlichen Versionen und zur Bedeutung des Reitens im klerikalen und laikalen Kontext: Storost, Zur Aristoteles-Sage, S. 298–348. 38 Dazu die Beschreibung des Motivs in der Handschrift Augsburg, SuSB , 4° Cod. H. 27, fol. 159v, in: KdiH, Bd. 1, S. 263–270, hier: 269. Die Seite ist abgebildet bei Stammler, Wort und Bild, Taf. 3. Ein weiteres Beispiel für das Motiv als Handschriftenillustration befindet sich in einer Handschrift der ›Weltchronik‹ Heinrichs von München (München, BSB , Cgm 7377, fol. 213vbc), worin Passagen aus der ›Alexandreis‹ Ulrichs von Etzenbach inseriert sind. Darunter ist eine Illustration mit der indischen Königin Candace und Aristoteles zu finden (Bild bei Herrmann, Der »Gerittene Aristoteles«, S. 214).
Erläuterungen
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der linken Hand führt sie den Zügel; mit der Geissel in der Rechten treibt sie ihn an.39 Fast nie fehlt die Königin als Zuschauerin. Aristoteles kann mit oder ohne Philosophenhut, Phyllis allenfalls im richtigen Reitersitz dargestellt sein. Darstellung in R Vom gängigen Bildtyp weicht R nur in der Darstellung der Phyllis ab. Diese reitet ohne die Attribute Geissel und Zügel.
6.1.3.3 Alexanders Tauchfahrt (Tafel XIV .3) Von Alexander dem Grossen ist im Mittelalter eine Faszination ausgegangen, die sich in zahlreichen Textfassungen und bildkünstlerischen Umsetzungen niederschlägt.40 Die Rezeption und Verbreitung der Taten rund um den grossen Weltherrscher geht auf zwei lateinische Übersetzungen zurück: eine Epitome des römischen Schriftstellers Julius Valerius (4. Jh.) und eine Übersetzung des neapolitanischen Archipresbyters Leo (10. Jh.), die in erweiterter Fassung als ›Historia de preliis‹ (11. und 12. Jh.) bekannt wurde.41 Die verschlungene Textüberlieferung verdeutlicht eindrücklich die Attraktivität des Alexanderstoffes im Mittelalter. In der Alexandersage prominent vertreten ist die Tauchfahrt Alexanders, die in der deutschen Alexanderdichtung vielfach rezipiert wurde. Sie tritt in der Regel zusammen mit der Luftfahrt auf, ist aber seltener anzutreffen als ihr Gegenstück.42 In der Reihe der Frauensklaven ist Alexander eher ein seltenes Beispiel. Bildbeschreibung Die Miniatur zeigt Alexander im Beisein einer Frau. Beide sitzen in einem Schiff mit aufgerolltem (?) Segel: die Frau links, Alexander rechts vom Schiffsmast. Die Frau hat eine Hand im Redegestus erhoben; Alexander deutet mit seiner Linken 39 Zum Bildtyp: Strnad, ›Aristoteles‹, in: LCI 1, S. 182 f. Stammler, ›Aristoteles‹, in: RDK 1, Sp. 1027–1040. van Marle, Iconographie, Bd. 2: Alle´gories et symboles, S. 491–495 (Taf. 509–520). Storost, Femme chevalchat, S. 186–201 (Taf. 1–6). Frühmorgen-Voss, Mittelhochdeutsche weltliche Literatur, S. 69 f. Stammler, Wort und Bild, Taf. 1–4. 40 Vgl. dazu: Pfister, Kleine Schriften zum Alexanderroman. 41 Zur Überlieferungsgeschichte vgl. Ross, Alexander Historiatus, S. 5–65, bes. 9, 47 f. und 50–54. Ebenbauer, Antike Stoffe, S. 268–281. Ehlert, Deutschsprachige Alexanderdichtung, S. 12–18. 42 Die Tauchfahrt fehlt in den Bearbeitungen, die auf Julius Valerius zurückgehen, so in der ›Historia Scholastica‹ des Petrus Comestor oder im ›Speculum historiale‹ des Vinzenz von Beauvais. Dazu: Huismann, Alexanders Rettung, S. 121–148, hier: 122 f.
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Frauensklaven
auf die Ankerkette, die durch eine Öffnung in der Schiffswand ins Wasser verschwindet. Oben am Segelmast ist ein mit Zinnen versehener Mastkorb angebracht. Das Segel ist in regelmässigen Abständen an der Rahe festgemacht, so dass zwischen den Fixierstellen halbkreisartige, schwarz ausgefüllte Zwischenräume sichtbar werden. An den Enden der Rahe sind zwei Halteketten angebracht, die ihrerseits wieder an beiden Schiffsenden festgemacht sind. Im Wasser rechts neben dem Schiff ist nochmals Alexander mit Krone als Viertelfigur dargestellt: Er liegt auf dem Rücken im Wasser. Neben ihm sind drei Fische zu sehen. Davon ist einer teilweise durch das Spruchband verdeckt. Texte Das Spruchband beginnt neben dem Kopf Alexanders und macht einen Bogen um das Schiff nach oben. Die Verse sind dem klagenden Alexander in den Mund gelegt: Liebe fraw, du hast mir schon/ geben der werlt lön (Tafel XIV .3). Er spricht die gekrönte Frau als liebe fraw an, die ihm den werlt lön ausgeteilt hat. Die Wendung der werlt lon ist eine stehende Redensart und in der mittelalterlichen Literatur vielfach belegt.43 Sie ist thematisch in den Kontext der als Frau personifizierten Welt (Frau Welt-Allegorie) hineinzustellen. Die Frau als üble Entlöhnerin des Minnedienstes wird hier der allegorischen Gestalt der Frau Welt44 angenähert. Dieser Bildlichkeit zugrunde liegen Frauen- und Weltverachtung, die, miteinander kontaminiert, ein zentrales Element christlicher Anthropologie darstellen und aus der lateinischen Exempeltradition bekannt sind.45 Der Gedanke wird von Walter von der Vogelweide im Lied L100,24 aufgegriffen,46 durch Konrad von Würzburg zum Märe Der Welt Lohn47 erweitert, und schliesslich wird er gattungsbestimmend für die spätmittelalterlichen Contemptus mundi-Texte und Bilder.48
43 Belege gesammelt in Konrad von Würzburg, Heinrich von Kempten, Der Welt Lohn, Das Herzmaere (Ed. Rölleke), S. 129 ff. und 157–161. Siehe auch Geiss, ›Weltlohn‹, in: 2VL 10, Sp. 838 ff. und: Weltlohn, Teufelsbeichte, Waldbruder (Ed. Closs), S. 1–21. 44 Zur Allegorie der ›Frau Welt‹ immer noch lesenswert ist Stammler, Frau Welt, bes. S. 46 ff. Ebenfalls behandelt wird der Komplex im Zusammenhang allegorischer Bildlichkeit spätmittelalterlicher Sammelhandschriften von Lutz, Spiritualis fornicatio, S. 274–287. 45 Rudolf, ›De contemptu mundi‹, in: 2VL 2, Sp. 5–8. 46 Walter von der Vogelweide. Leich, Lieder, Sangsprüche (Ed. Cormeau), Nr. 70 (I): Vroˆ Welt, ir sult dem wirte sagen, daz ich gar vergolden habe, min groeste gülte ist abe geslagen, daz er mich von dem briefe schabe (V. 1–4). 47 Konrad von Würzburg, Heinrich von Kempten, Der Welt Lohn, Das Herzmaere (Ed. Rölleke), V. 1–5: Ir werlte minnaere, vernemet disiu maere, wie einem ritter gelanc, der naˆch werlte loˆne ranc beidiu spaˆte unde fruo. 48 Kiening, Contemptus mundi, S. 409–457.
Erläuterungen
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Texttradition und Bildtyp Die mittelalterliche Alexanderrezeption ist ohne Alexanders Präsenz in der Bibel nicht zu denken. Nach alttestamentlicher Auffassung ist Alexander der Begründer und Beherrscher des dritten Weltreiches (I Mcc 1,1–10 und Dan 7,6; 8,3 ff. und 11,3 f.). Ebenfalls auf der Bibel gründet die Vorstellung vom Hochmut des Makedonierkönigs: et siluit terra in conspectu eius [. . .] et exaltatum est et elevatum cor eius (I Mcc 1,3 f.).49 In dieser Tradition wird die Tauchfahrt Alexanders zum Sinnbild der superbia. Es lassen sich grob zwei Motivtraditionen unterscheiden, die sich auch in der Ikonographie weiterverfolgen lassen.50 Die erste, aus dem ›Annolied‹ und der ›Kaiserchronik‹ bekannte Tradition lässt sich auf den folgenden Plot reduzieren:51 (1) Die curiositas Alexanders löst die Handlung aus. (2) Seine Gefolgsmänner begehen Verrat und lassen Alexander auf dem Meeresboden zurück. (3) Alexander reizt das Meer mit dem eigenen Blut. (4) Alexander wird vom Meer an Land geworfen, wobei das Prinzip, wonach das Meer Blut bzw. Totes nicht verträgt, unerwähnt bleibt. Die zweite Motivtradition ist im Frankreich des 13. Jahrhunderts bekannt52 und lässt sich im altfranzösischen ›Roman d’Alexandre‹53 gut fassen: (1) Die curiositas Alexanders löst die Tauchfahrt aus. (2) Alexander nimmt einen Hahn mit. (3) Ein plötzlicher Sturm zerstört das Schiff, infolgedessen Alexander verloren auf dem Meeresboden zurückbleibt. Ein Verrat wird nicht erwähnt. (4) Unter ausdrücklicher Erwähnung des Prinzips tötet Alexander den Hahn und reizt das Meer mit dessen Blut. (5) Alexander wird an Land gespült. Ab der 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts vermischen sich die beiden Traditionen. Eine gewichtige Neuerung ist die Ergänzung des Hundes und der Katze als Begleiter und die Verteilung ihrer Funktionen: der Hund ermöglicht die Flucht, die Katze reinigt die Luft und der Hahn dient der Bestimmung der Zeit. Eine weitere entscheidende Neuerung führt Jans Enikel in seiner ›Weltchronik‹ ein: der Verrat wird Roxane, der Geliebten Alexanders, angelastet. Die Treueprobe wird nachdrücklich thematisiert54 und bringt Alexanders Abenteuer somit in die Nähe jener Exempeltradition klerikaler Provenienz, die nicht müde wird, weibliche Treulosigkeit vor Augen zu führen. Der Kern der Handlung ist einfach und kann als Typ für die meisten Verbildlichungen in Handschriften gelten: Mittels einer schweren Kette wird Alexander von seiner Frau (bei Enikel die Geliebte Roxane) in einer gläsernen Tauchkugel ins Meer gelassen. Dabei entgleitet ihr die Kette 49 Vgl. Mackert, Die Alexandergeschichte, S. 277–281. 50 Grundlegend dazu: Ross, Alexander, S. 8–12, bes. 11 f. 51 Ed. Nellmann, Str. 14,1–15,12. Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen (Ed. Schröder), V. 536–564. Vgl. dazu: Ross, Alexander Historiatus, S. 38 f. Ders., Illustrated Medieval Alexander-Books, S. 4–10. Cary, The Medieval Alexander, S. 340 f. und 346 f. 52 Ross, Alexander, S. 9 f. 53 Foulet, The Medieval French Roman d’Alexandre, Bd. 3, S. 114–127. 54 Ed. Strauch, V. 19235–19434. Alexander vergewissert sich in einem Gespräch der treuen Gesinnung Roxanes (V. 19333 ff.). Diese gibt aber trotzdem dem Werben eines Heiden nach und lässt die Kette absichtlich los (V. 19401–19404).
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Frauensklaven
absichtlich (Liebesverrat Roxanes oder der Frau Alexanders). Alexander rettet sich, indem er eines der mitgenommenen Tiere tötet. In der Folge wird die Tauchkugel aus dem Meer geworfen, das nach mittelalterlicher Vorstellung keine Kadaver erträgt.55 Enikels Version wird in Deutschland massgebend für die Auseinandersetzung mit Alexanders Tauchfahrt. In der Folge bleibt es beim Frauenverrat56 oder dieser wird wenig überzeugend entkräftet.57 Die Alexander-Ikonographie in volkssprachigen Handschriften58 tritt im 14.Jahrhundert in den Weltchroniken auf, so in der ›Sächsischen Weltchronik‹ oder in Jans Enikel-Handschriften. 59 Die Bebilderung reiner Alexander-Handschriften (Alexanderromane) setzt am Anfang des 15. Jahrhunderts ein, nachdem die Voraussetzungen durch die »Anspruchsaura der Weltchronik-Ikonographie« 60 geschaffen worden waren. Eine ausserhandschriftliche Alexander-Ikonographie existiert bereits seit dem 12. Jahrhundert.61 Bildkünstlerische Umsetzungen der Tauchepisode sind in der Regel Teil längerer Illustrationszyklen zur Alexandergeschichte. Die Episode ist dort in eine, zwei oder drei Szenen gegliedert. Für den Liebesverrat Roxanes durch das absichtliche Loslassen der Kette lässt sich folgender Bildtyp erkennen: Im Schiff sitzt oder steht die gekrönte Roxane. Sie wird von ihrem Liebhaber umarmt und lässt die Kette entgleiten. In der Glaskugel befindet sich Alexander mit seinen bekannten drei Begleitern Hund, Hahn und Katze. Rund um die Glaskugel schwimmen Fische, Riesenfische und Seeungeheuer.62 Dieser Bildtyp kann leicht variiert werden: Roxane kann in Begleitung mehrerer Gefolgsleute dargestellt werden; das Tauchgerät kann auch Glocken- oder Kastenform aufweisen, und die Tiere in Begleitung Alexanders können teilweise oder gänzlich fehlen. 55 Zu den Gefahren- und Rettungsarten siehe Huismann, Alexanders Rettung, S. 124–131. 56 Die Basler Bearbeitung von Lambrechts Alexander (Ed. Werner), V. 4247– 4280. Die deutschen Historienbibeln des Mittelalters (Ed. Merzdorf), S. 547 f. 57 Etwa mit dem Hinweis auf die Schwere der Kette (Ulrich von Etzenbach, Alexander [Ed. Toischer], V. 24207–24273, hier V .24260 f.). Dazu: Ehlert, Alexander, S. 97 ff. 58 Eine Übersicht über die illustrierten Alexander-Handschriften in: KdiH, Stoffgruppe ›Alexander der Grosse‹, Bd. 1, S. 100–125. Weitere Darstellungen der Tauchfahrt unter der Stoffgruppe ›Bilderbibeln‹, Bd. 2, S. 235 und 245. 59 Nicht-deutsche Fassungen des Stoffes sind weit früher bebildert. 60 Ott, Ulrichs von Etzenbach ›Alexander‹, S. 167. 61 Beispiele bei Ott, Ulrichs von Etzenbach ›Alexander‹, S. 171. 62 Zur Bestimmung des Bildtyps wurden sämtliche illustrierte Handschriften wie bebilderte Drucke der Tauchfahrt bei Ross, Illustrated Medieval AlexanderBooks, berücksichtigt. Es sind dies Illustrationen zu Ulrichs von Etzenbach ›Alexander‹ (S. 66–68, Taf. 64, 74 und 83 f.), zu Jansen Enikels ›Weltchronik‹ (S. 85 ff., Taf. 93 ff.; S. 88, Taf. 99; S. 90, Taf. 101; S. 90 f., Taf. 108; S. 92 f., Taf. 114; S. 93 ff., Taf. 119 ff.; S. 96 f., Taf. 128 ff.; S. 98 f., Taf. 139 f.), in Historienbibeln (S. 107 ff., Taf. 149; S. 113, Taf. 159; S. 114 ff., Taf. 162; S. 116 f., Taf. 166; S. 120 ff., Taf. 174 ff.), in Bilderbibeln (S. 123 f., Taf. 425 ff.) und in Johann Hartliebs ›Alexanderroman‹ (S. 140, Taf. 209; S. 146 f., Taf. 236; S. 150, Taf. 265).
Erläuterungen
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Darstellung in R Die Alexanderminiatur weicht aufgrund offensichtlicher Missverständnisse seitens des Zeichners beträchtlich ab vom beschriebenen Bildtyp. Statt der Tauchkugel ist das Schiff selbst an zwei Ketten aufgehängt; die Kette der Tauchkugel scheint als Ankerkette umgedeutet; Alexander schwimmt ohne Kugel (als Toter?) unterhalb des Schiffes.
6.1.3.4 Vergil im Korb (Tafel XIV .4) Die Erzählung von Vergil im Korb gehört zum Komplex der Vergilsagen,63 der durch zahlreiche Anekdoten und Mirabilien vertreten ist. In der Sage belegt ist Vergils Wandlung zum Magier, die ihre Voraussetzung hat in der Tradition seiner Verehrung als allwissender Dichter. Als Weiser oder Zauberer tritt er in der deutschen Rezeption häufig als Beispielfigur in Katalogen auf,64 so auch in der Reihe der Frauensklaven.65 Die Einreihung Vergils unter die Frauensklaven ist meist an die Erzählung von Vergil im Korb gebunden und vielfach mit der Erzählung von Vergils Rache an der Frau kombiniert. Bildbeschreibung Mitten am Turm links hängt Vergil in einem Gefäss. Oben blickt die Frau aus dem bogenförmigen Fenster des Turmes. Der Turm selber ist mit einer Wehrmauer, diese wiederum von einem Graben umgeben. Rechts verfolgen zwei Ritter auf ihren Pferden die Szene von einem erhöhten Vorsprung aus. Beide tragen Waffenröcke mit Beckenhaube und Halsbrünne, der vordere trägt zusätzlich einen Schild. Texte Die drei Spruchbänder sind auf Vergil, die Frau und die zwei Ritter verteilt. Die Spruchbänder Vergils und der Frau beanspruchen zusätzlich den Platz des linken bzw. unteren Rahmens. Die Beschriftung von Vergils Spruchband ist links vom Kopf der Frau angesetzt und beginnt nicht, wie vom Zeichner vorgegeben, unten 63 Worstbrock, ›Vergil‹, in: 2VL 10, Sp. 274–279, bes. 278. Verzeichnis der Vergil-Sagen bei Spargo, Virgil the Necromancer, S. 136–197 (Ikonographie, S. 255–267). Ebenfalls Petzoldt, Virgilius Magus, S. 560–564. Erfen, Phyllis, S. 764–768. 64 Oft zusammen mit Repräsentanten von Wissenschaften und Künsten. Siehe HMS II ,382,22 und III ,55,12. 65 Vgl. dazu ein in Stolles Alment verfasstes Lied, das Vergil zusammen mit Samson und Absalon nennt (Meisterlieder der Kolmarer Handschrift [Ed. Bartsch], Nr. 201,50–53). Ebenfalls als Opfer weiblicher Täuschung ist Vergil in einem in Regenbogens Briefweise verfassten Lied zitiert (Gedichte 1500– 1600 [Ed. Düwel], S. 14,41–55).
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Frauensklaven
am Turm. Folglich bleibt das Spruchband auf der ganzen Turmlänge unbeschriftet, der Text beansprucht dafür aber die volle Länge des Rahmens. Die Lesereihenfolge ist durch die rubrizierte Majuskel des Vergiltextes vorgegeben, beginnt also mit dem Dialog zwischen Vergil und seiner Angebetenen und endet mit dem Kommentar der beiden Ritter. Deren Spruchband ist oben zweizeilig beschrieben und wird nicht von den Köpfen weg, wo es angesetzt ist, nach unten gelesen, sondern umgekehrt, von unten nach oben. Die Texte (Tafel XIV .4) erweitern das Bildthema, indem die Minnetorheit Vergils mit seiner Zauberkunst verknüpft wird. Die Frau sieht im Hängen Vergils die gerechte Bestrafung für seine Zauberei: Nu hang da vnd rast,/ darvm daz du manigen wetrogen hast. Vergil seinerseits klagt über die betrügerische List der Frau: Hab ich ymant wetrogen,/ dez hat mich ein weipp erczogen. Der spöttische Kommentar der zwei Ritter bestätigt das Vorgehen der Frau: Du hangst yn solichen eren,/ daz kan dich dein czawbrey also leren. Daraus resultiert eine zweifache Pointe: einerseits die Vorführung des liebestollen Weisen, andrerseits die Blossstellung des betrogenen Betrügers. Texttradition und Bildtyp Das Vergil-Exemplum ist in seiner ältesten lateinischen Fassung nach Mitte des 13. Jahrhunderts literarisch fixiert. Bereits hier erscheint die Korbgeschichte mit der Rache Vergils verbunden.66 Der stoffliche Kern der Geschichte von Vergil im Korb ist:67 Der weise Meister Vergil verfällt den Reizen einer schönen Frau, die oft identisch ist mit der Tochter Kaiser Neros. Unter dem Vorwand, ein nächtliches Stelldichein zu gewähren, verleitet diese Vergil, sich bei Nacht in einem Korb an ihrem Turm hinaufziehen zu lassen, lässt ihn aber bis zum folgenden Tag auf halber Höhe hängen und setzt ihn so dem öffentlichen Spott aus. Die Figur Vergils rückt hauptsächlich durch dieses in den volkssprachigen Literaturen verbreitete Schwank-Exemplum in die Reihe der Frauensklaven. Der Korbgeschichte angegliedert ist meist die Rache Vergils an der Schönen: Er lässt mittels seiner Zauberkräfte alle Feuer der Stadt Rom verlöschen. Einzig die Scham der Frau, die ihn betrog, kann Feuer spenden. Dort muss jeder es holen, weil das dort entzündete Feuer bei der Weitergabe an andere wieder erlischt. Anders als die Korbgeschichte entstammt die Geschichte von Vergils Rache dem Stoffkreis des Virgilius Magus.68 66 Text bei Spargo, Virgil the Necromancer, S. 372 f. 67 Nach Worstbrock, ›Virgil im Korb‹, in: 2VL 10, Sp. 379. Koch, Virgil im Korbe, S. 105 f. Kasper, Von miesen Rittern, S. 323–330. 68 Vergil als Zauberer ist erstmals belegt um 1159 im ›Policraticus‹ des Johannes von Salisbury (Ed. Keats-Rohan), S. 34,134 f. Die ersten literarischen Zeugnisse sind an die ›Mirabilia Virgiliana‹ in Neapel geknüpft und werden weitervermittelt durch Konrads von Querfurt Bericht seiner italienischen Reise von 1196 und Gervasius’ von Tilbury ›Otia imperialia‹, eine Sammlung von historischen Ereignissen, Exempla, Dicta und Mirabilia (1213). Vgl. Comparetti, Virgilio, Bd. 2, S. 23–32 und S. 185–191. Prominentes volkssprachiges Zeugnis ist Wolframs ›Parzival‹ (Ed. Schirok), 656,14–18. Kontaminationen des Dichters Vergil mit dem Zauberer Vergil sind später vielfach greifbar.
Erläuterungen
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Besondere Beachtung muss auch hier Jansen Enikels ›Weltchronik‹69 finden, die neben dem lateinischen Exemplum zu den ältesten Überlieferungen der Sage zählt und bereits beide Episoden miteinander verbindet.70 Das Motiv des Vergil im Korb gehört zu den am häufigsten dargestellten Szenen der Vergil-Ikonographie. Die Bandbreite umfasst sowohl die Sakralkunst (Säulenkapitelle, Miserikordien) als auch die Profanikonographie (Buch- und Wandmalerei, Textilkunst, Gebrauchsgegenstände). 71 Die Korbgeschichte erscheint dabei allein oder in Verbindung mit der feuerspendenden Frau, die dann rechts in Symmetrie zum Turm dargestellt ist. Wesentliche Bildmotive der Korbepisode lassen sich gut zu einem Typ verdichten, gerade weil der von der Sage geforderte Turm mit der Dame im Fenster in Turnier-, Kampf- und Belagerungsszenen ähnlich vorgeprägt ist. Der Bildtyp besteht aus dem Turm mit Zinnenkranz oder Dach, der Dame, die vom Söller oder vom Fenster aus den Korb an einem Seil hochzieht, und Vergil, der zumeist als junger Mann abgebildet ist. Häufig ist die Szene inmitten einer staunenden Öffentlichkeit am Fuss des Turms situiert.72 Der Bildtyp wird auch ausserhalb der Frauensklaven-Ikonographie modifizierend weiterverwendet, so in der bekannten Darstellung des Minnesängers Christian von Hamle in der ›Manessischen Liederhandschrift‹.73 In Zusammenhang mit den Frauensklaven ist der Bildtyp im Konstanzer ›Haus zur Kunkel‹ (Abb. 35)74 wie auf dem ›Malterer-Teppich‹75 (Augustinermuseum Freiburg) realisiert. Darstellung in R R stimmt in den Grundzügen mit dem beschriebenen Bildtyp überein, zeigt aber ein paar interessante, davon abweichende Details. Augenfällig ist, dass der Illustrator anstelle des geforderten Korbes eine Tauchglocke gezeichnet hat, ein Bildelement, das offenbar zur unmittelbar davor illustrierten Alexandergeschichte ge-
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Repräsentativ dafür kann das von Vinzenz von Beauvais im ›Speculum historiale‹ vermittelte Vergilbild stehen (VI ,61). Zum Zauberer Vergil vgl. Petzoldt, Virgilius Magus, S. 550–553. Neudeck, Möglichkeiten, S. 348–352. Weitere volkssprachige Belege finden sich in der Sangspruchdichtung und in der Troubadourlyrik (Roncaglia, Les troubadours, S. 273). Ed. Strauch, V. 23779–24138. Petzoldt, Virgilius Magus, S. 552 f. Comparetti, Virgilio, Bd. 2, S. 101. Als geschlossenes Doppelexempel und selbständiges Sujet zuerst in Frauenlobs ›Langem Ton‹ (Schanze, Meisterliche Liedkunst, Bd. 2, Nr. 104: Heidelberg, UB , Cod. Pal. germ. 392, fol. 96r–97r). Eine Zusammenstellung von Darstellungen aus Sakral- und Profanbereich bei Koch, Virgil im Korbe, S. 116–119. Vgl. ebenfalls van Marle, Iconographie, Bd. 2, S. 495 f. (Taf. 521–524). Kasper, Von miesen Rittern, S. 330–340. Zum ikonographischen Typ vgl. Koch, Virgil im Korbe, S. 108. Dazu: Frühmorgen-Voss, Text und Illustration, S. 72 f. Wunderlich, Weibsbilder, S. 143 f. Maurer, Der Topos, S. 184. Petzoldt, Virgilius Magus, S. 556–559. Ein um 1522 anzusetzender Zürcher Bildteppich mit dem Motiv bei Schneider, Weiberlisten, S. 148 f.
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Frauensklaven
hört und versehentlich in die Vergilminiatur ›hinübergerutscht‹ ist. Die Seile dazu fehlen. Eine weitere Unstimmigkeit betrifft die Bildlogik: Die Szene spielt sich auf der von den Rittern abgewandten Seite des Turmes ab, anstatt dass der Turm nach innen, zur Bildmitte hin ausgerichtet wäre.76
6.1.3.5 Samson und Dalila (Tafel XIV .5) Das alttestamentliche Figurenpaar Samson und Dalila fehlt in literarischen Frauensklaven-Katalogen nur selten und ist dementsprechend auch in ikonographischen Zeugnissen unterschiedlichster Provenienz stark verbreitet. Zusammen mit David und Salomon wird Samson oft als Dreierformel zitiert77 und kann um weitere Beispiele ergänzt werden. Bildbeschreibung Samson liegt schlafend im Schoss der sitzenden Dalila; sein Kopf ruht auf seinen Händen, sein Oberkörper in ihrem Schoss, während der Unterkörper und die übereinandergeschlagenen Beine ohne Stütze an Dalila gelehnt sind. Samson trägt ein Gewand, das die Beine bis über die Knie freilässt. Dalila ist mit Kopftuch und langem, weitem Gewand bekleidet; sie schneidet seine langen Haare mit einer Schere, die sie in der linken Hand hält. Rechts im Bild ist eine Eiche abgebildet. Texte Die beiden Figuren sind rot tituliert und mit je einem Spruchband versehen. Die Tituli sind über dem Kopf Dalilas bzw. auf Kopfhöhe Samsons parallel zu seinem Spruchband platziert. Das erste Spruchband flankiert Dalila links, beginnt bei ihrem Kopf und verläuft bogenartig bis zur unteren Ecke des Miniaturfeldes. Das zweite Spruchband flankiert Samson rechts, setzt unten beim Knie der Figur an und entwickelt sich in Hufeisenform nach oben. Der Versanfang ist hier mit einer rubrizierten Majuskel gekennzeichnet und liest sich von unten nach oben. Die beiden Spruchbänder sind jeweils mit einem Verspaar textiert. Das Verspaar Dalidas thematisiert den Dienst-Lohn-Gedanken des höfischen Minnedienstes: Hastu ye gedinet mir,/ dez gib ich der frawen lön dir. Samson erhält für seinen Liebesdienst den todbringenden frawen lön und beklagt die Untreue: Vntrew hat mich erslagen,/ daz muez ich ymer klagen (Tafel XIV .5).
76 Vgl. dazu das Motiv in einer Miniatur in der Regensburger ›Weltchronik‹Handschrift Jansen Enikels, die den Turm korrekt wiedergibt (Regensburg, Fürst Thurn und Taxis Hofbibl., Ms. Perg. III , fol. 146r). Abb. bei Koch, Virgil im Korbe, S. 109. 77 Zahlreiche Belege bei Smith, The Power (1990), S. 210. Ebenfalls: Smith, The Power (1995), S. 29: »The saintly David, strong Samson, and wise Salomon persist as a core of exemplary figures [. . .].«
Erläuterungen
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Texttradition und Bildtyp Die Episode von der Scherung Samsons ist biblischer Herkunft (Idc 16,4–22): Samson, ein alttestamentlicher Richter von unermesslicher Kraft, verliebt sich in Dalila. Diese entlockt ihm nach mehrmaligen erfolglosen Versuchen das Geheimnis seiner Kraft, die auf seinen langen Locken beruht. Nachdem Samson auf ihren Knien eingeschlafen ist, schneidet sie die Locken ab und liefert ihn kraftlos den Philistern aus: Ut illa dormire eum fecit super genua sua et in sinu suo reclinare caput vocavitque tonsorem et rasit septem crines eius (Idc 16,19). Es folgt die Gefangennahme und Blendung Samsons (Idc 16,20 ff). Als Verkörperung der Kraft unterliegt Samson der weiblichen List. Seine Einreihung unter andere idealtypische Frauensklaven wie Salomon oder David liegt daher nahe. Das Beispiel Samsons fehlt darum auch selten in frauenkritischen Textzeugnissen aus dem klerikalen Bildungsbetrieb,78 die zumeist auf der patristischen Exegese fussen79 und im Medium der Volkssprache weiterwirken, so in Spruchdichtung, Exemplaund Erbauungsliteratur, in Lehrdichtung und Predigt,80 in Weltchroniken und Historienbibeln.81 Davon zu unterscheiden sind Samsons Nennungen als Exempelund Vergleichsfigur im höfischen Kontext.82 Hier werden die Samsonfigur und die übrigen miterwähnten Bibelfiguren durch die Auseinandersetzung mit dem
78 Schnell unterscheidet die Textsorten ›Gelegenheitsgedichte und -schriften, Auslegungen biblischer Texte, Exempelsammlungen‹ u. a. (Frauendiskurs, S. 172 f.). Petrus Pictor, De muliere mala, V. 18–21 und 46–86 (Petrus Pictor, Carmina [Ed. Van Acker], S. 105–108). Marbod von Rennes, De meretrice, Nr. 3, V. 30 f. (Liber decem capitulorum [Ed. Bulst]). Bernard von Morlas, De contemptu mundi (Ed. Pepin), I,55. Hier zielt die Warnung vor der Frau auf die allgemeine Warnung vor der Welt. Vgl. auch verschiedene Anonyma des 14. und 15. Jahrhunderts (Lateinische Reime [Ed. Wattenbach]), S. 306 und S. 339. Verse gegen die Weiber (Ed. Wattenbach), S. 257 f. 79 Beda Venerabilis, Super parabolas Salomonis allegorica expositio (PL 91,964): Ut ipse Salomon sapientissimus virorum, et Samson fortissimus, et David mansuetissimus a mulierum decipula. Ebenfalls: Hrabanus Maurus, Expositio in proverbia Salomonis (PL 111,707). Dazu: Smith, The Power (1995), S. 28–34, und dies., The Power (1990), S. 208 f. 80 Belege wieder allesamt bei Schnell, Causa amoris, S. 483–490. Beispiele: Reinmar von Zweter, Gedichte (Ed. Roethe), Nr. 103,4 f. Freidank (Fridankes Bescheidenheit [Ed. Bezzenberger], Nr. 104,22). Lutwin, Adam und Eva (Ed. Hofmann/Meyer), V. 1230 f. Von den sieben Meistern (Ed. Keller [Altdeutsche Gedichte]), S. 19,23. Hugo von Trimberg, Der Renner (Ed. Ehrismann), V. 12949. Berthold von Regensburg, Predigten (Ed. Pfeiffer), S. 246,10–14. Weitere Belege bei Ott, Minne oder amor carnalis?, S. 111. 81 Rudolf von Ems, Weltchronik (Ed. Ehrismann), V. 20936–21225. Die deutschen Historienbibeln (Ed. Merzdorf), S. 295 f. 82 Hartmann von Aue, Erec (Ed. Leitzmann/Cormeau/Gärtner), V. 2816– 2821. Herbort von Fritzlar, Liet von Troye (Ed. Frommann), V. 11227. Weitere Beispiele bei Smith, The Power (1995), S. 43–52.
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Frauensklaven
Konzept der höfischen minne bzw. fin’amors in der volkssprachigen Lyrik und Epik von Frauensklaven zu ›Sklaven‹ im verdienstreichen Minnedienst umgewertet. Die Samson-Dalila-Ikonographie verläuft parallel zum Transfer des literarischen Motivs vom klerikalen zum laikalen Kontext. Erste Verbildlichungen finden sich wie schon beim gerittenen Aristoteles in der sakralen Bauplastik83 und in den Bas-de-page-Zonen liturgischer Handschriften, wobei das sitzende bzw. liegende Paar für solche flachen Zonen besonders geeignet war.84 Das biblische Paar mag als Bildtyp so stark gewirkt haben, dass die Figurendisposition zur Darstellung nicht namentlich genannter, also typischer Minnepaare übernommen wurde.85 Als Frauen-/Minnesklave – oft ist die Akzentuierung schwer auszumachen – ist die Darstellung Samsons im profanen Bereich weit verbreitet: in Handschriften,86 an Wänden von Profanbauten,87 auf Textilien88 und besonders in der Druckgraphik (Holzschnitt89 und Kupferstich90). Das Samson-Dalila-Thema ist ikonographisch weitgehend festgelegt: Die sitzende Dalila schert den in ihrem Schoss schlafenden 83 So eine Skulptur am Chorgestühl des Kölner Doms. Dazu: Van Marle, Iconographie, Bd. 2, Taf. 504. Ott, Minne oder amor carnalis?, S. 120. 84 Ein Beispiel bei Müller, Minnebilder, S. 21 (Abb. 18): Paris, BN , ms. lat. 10483/10484, fol. 37r (›Belleville Brevier‹, um 1320). Samson und Dalila gegenüber ist die personifizierte fortitudo auf einem Löwen stehend dargestellt. 85 Ein Bas-de-Page-Beispiel wieder bei Müller, Minnebilder, S. 21 (Abb. 19): Oxford, Bodl., MS . Bodl. 264, fol. 168v (Roman d’Alexandre, zwischen 1338 und 1344). Die Stellungen von Mann und Frau sind vertauscht: Der Kopf der Frau liegt im Schoss des Mannes. Auch ebd. Abb. 17: Bas-de-page-Darstellung aus einem franko-flämischen Psalter, 1. Viertel des 14. Jahrhunderts. (Oxford, Bodl., MS . Douce 5/6, fol. 88r). 86 So die Illustrationen in den Münchner ›Weltchronik‹-Handschriften Rudolfs von Ems: BSB , Cgm 5 und Cgm 6406 (Abb. in: Frühmorgen-Voss, Text und Illustration, Abb. 34 und 36). Ebenfalls als Illustration ist die Szene in Bibeln anzutreffen: München, BSB , Cgm 8010 a (KdiH, Bd. 2, S. 149), New York, Public Library, Spencer Collection, Ms. 104 (ebd. S. 154) und New York, Pierpont Morgan Library, MS M.268 (ebd. S. 235). 87 So ein Medaillon in der Reihe des Konstanzer ›Haus zur Kunkel‹ (Abb. 35). Dazu: Wunderlich, Weibsbilder, S. 129 und 133 ff. 88 So auf dem ›Malterer-Teppich‹ (1320–1330) zusammen mit Samsons Löwenkampf. Dazu: Von Wilckens, Die textilen Künste, S. 216 f. Ebenfalls auf einem Teppich aus der Nürnberger Sebalduskirche (1420–1430) zusammen mit David und Bathseba. Ebd. S. 304. 89 So auf einem Holzschnitt von Ambrosius Holbein (1517) zusammen mit Aristoteles und Phyllis, Vergil im Korb und Salomons Götzendienst. Dazu: Schneider, Weiberlisten, S. 147 (Taf. 65). 90 Vgl. die Stiche von Meister E. S., Meister P. W. von Köln und Mair von Landshut. Geschichte und kritischer Katalog (Beschr. Lehrs), Tafelbd., Nr. 194, 498 und 583. Vgl. Ott, Minne oder amor carnalis?, S. 120 f. Vgl. auch einen Stich des Hausbuchmeisters (Vom Leben im späten Mittelalter, S. 80 [Abb. 5]).
Erläuterungen
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Samson. Samson ist dabei oft jugendlich, unbewaffnet und in Ärmelrock dargestellt, Dalila in weitem, faltenreichem Kleid.91 Darstellung in R Die Samsonminiatur in R entspricht dem gängigen, oben beschriebenen Typus.
6.1.3.6 Salomons Götzendienst (Tafel XIV .6) Salomon ist im Mittelalter als Verkörperung der Weisheit bekannt. In dieser Funktion ist er als Exempelfigur neben Samson als Verkörperung unbezwingbarer Kraft und Absalon als Verkörperung unerreichter Schönheit in Katalogen idealtypischer biblischer Vergleichsfiguren präsent.92 Mit Adam und Samson gehört er zu den am regelmässigsten zitierten Figuren in Katalogen von Frauensklaven, in der Dreierreihe Adam – Samson – Salomon oder in der Viererreihe Adam – Samson – Salomon – David.93 Salomons Weisheit unterliegt dabei der Verführung zur Idolatrie, wozu ihn eine Heidin angestiftet hat. Bildbeschreibung Die Salomonminiatur zeigt in der Mitte eine Säule, worauf ein dem Kopf eines Kalbes ähnliches Götzenbild postiert ist. Die Hörner des Götzen reichen in den Bildrahmen hinein. Rechts von der Säule steht eine Frau, in langem Kleid und mit Kopftuch, und deutet mit dem Zeigefinger ihrer Rechten auf den Götzen. Mit der Linken zeigt sie nach unten und bedeutet so Salomon niederzuknien und den Götzen anzubeten. Der Götze ist Salomon zugewandt. Dieser, gekleidet in ein langes, faltenreiches Gewand und ausgestattet mit der Krone als königlichem Attribut, ist gerade im Begriff, auf die Knie zu sinken. Seine Hände sind in Anbetungsgestus nach oben erhoben. Texte Die Miniatur ist im oberen Rahmen über dem Kopf der Hauptfigur mit Salomam rot tituliert. Jeder Figur ist ein Spruchband mit einem Verspaar zugeordnet. Das Spruchband Salomons entrollt sich aus seinen erhobenen Händen, umkreist den Kopf und verläuft parallel zum Rücken nach unten. Das zweite Spruchband ist an 91 Bulst, ›Samson‹, in: LCI 4, Sp. 31 und 35. Van Marle, Ikonographie, Bd. 2, S. 490 f. (Taf. 504–508). 92 Hartmann von Aue, Erec (Ed. Leitzmann/Cormeau/Gärtner), V. 2816. Wolfram von Eschenbach, Willehalm (Ed. Heinzle), 448,11 ff. Heinrich von dem Türlin, Diu Croˆne (Ed. Scholl), V. 8451 ff. Herbort von Fritzlar, Liet von Troye (Ed. Frommann), V. 11229. 93 Dazu: Smith, The Power (1990), S. 210 f. Zu Salomon als Frauensklave vgl. auch Schnell, Causa amoris, S. 476–490.
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Frauensklaven
der linken Hand der Frau angesetzt und schlägt einen Halbkreis um deren Kopf und Oberkörper. Dieses Band teilt sich etwa in seiner Mitte in zwei Streifen, wobei der Text nicht versgerecht auf die zwei Streifen verteilt ist: Der erste Streifen ist mit dem ersten Vers und dem Anfangswort des zweiten Verses textiert. Beide Majuskeln der Versanfänge sind rubriziert. Salomon gelobt, der Frau zu Willen zu sein: Genad liebe frawe mein,/ waz du wild, daz schol sein. Die Frau verlangt die Verehrung ihrer Abgötter, wofür sie Salomon ihre Gefügigkeit in Aussicht stellt: Nu pet an dy anptgot mein,/ so wil ich tun den willen dein (Tafel XIV .6). Texttradition und Bildtyp Die Episode von Salomons Götzendienst geht auf III Rg 11,1–8 zurück. Darin verführen ihn seine heidnischen Frauen zur Idolatrie: Cumque iam esset senex depravatum est per mulieres cor eius ut sequeretur deos alienos (III Rg 11,4). Ihnen zuliebe lässt Salomon heidnische Kultstätten errichten. Die Episode fand Eingang in Enzyklopädien,94 Weltchroniken95 und Historienbibeln.96 Die mittelalterliche Ikonographie setzt die biblische Episode vereinfachend um.97 Dargestellt ist Salomon in Begleitung einer seiner Konkubinen. Der Bildaufbau kann symmetrisch oder asymmetrisch angelegt sein. Bei Asymmetrie sind beide Figuren im Zentrum des Bildes, die Säule mit dem Götzen ist rechts dargestellt. Die Heidin steht unmittelbar hinter dem knienden Salomon. Die eine Hand legt sie dabei auf Salomons Schulter, mit der anderen weist sie auf den Götzen.98 Bei Symmetrie steht oder kniet Salomon links von der Säule. Rechts davon steht die Heidin und zeigt mit einer Hand auf den Götzen.99 Salomon trägt die Königskrone, die Heidin ab und zu einen Turban als Zeichen des Heidentums. Der Götze kann als Tierkopf oder Menschenfigur dargestellt sein. Diese zwei Bildtypen treten auch unabhängig von der Salomon-Episode in anderen IdolatrieEpisoden auf.100 94 Vinzenz von Beauvais, Speculum historiale, II ,84: Per mulieres alienigenas depravatus, usque ad idolatrae culturam desipuit. 95 Rudolf von Ems, Weltchronik (Ed. Ehrismann), V. 33347–33390. 96 Die deutschen Historienbibeln (Ed. Merzdorf), S. 418. 97 Kerber, ›Salomo‹, in: LCI 4, Sp. 22. Re´au, Iconographie, Bd. 2,1, S. 296 f. 98 Vgl. zum asymmetrischen Bildtyp eine Darstellung Salomons auf einem Zürcher Bildteppich von 1522 (Schweizerisches Landesmuseum, Zürich). Hier ist Salomon zusammen mit Samson und Dalila, David und Bathseba sowie Judith und Holofernes dargestellt. Dazu: Van Marle, Iconographie, Bd. 2, Abb. 495, und Schneider, Weiberlisten, S. 148 f. Vgl. ebenfalls einen Kupferstich des Monogrammisten MZ und einen weiteren des Hausbuchmeisters (Geschichte und kritischer Katalog [Beschr. Lehrs], Tafelbd., Nr. 585. Vom Leben im späten Mittelalter, S. 81 [Abb. 7]). 99 Zum symmetrischen Typ vgl. das Salomon-Medaillon im Konstanzer ›Haus zur Kunkel‹ (Abb. 35; Wunderlich, Weibsbilder, S. 138 f.). Dazu ebenfalls einen Kupferstich des Meisters des Hausbuches (Geschichte und kritischer Katalog [Beschr. Lehrs], Tafelbd., Nr. 519). 100 So eine Darstellung der Königin von Saba beim Götzendienst auf einem
Erläuterungen
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Darstellung in R Unsere Miniatur folgt dem symmetrischen Typ. Die Kleidung der Heidin besteht stereotyp aus Kopftuch und langem Gewand wie bei den meisten ungekrönten Frauenfiguren in der Handschrift.
6.1.3.7 Azahel (Tafel XIV .7) Azahel ist neben der idealtypischen Trias Samson, Salomon und Absalon101 eine dem Mittelalter weniger bekannte Exempelfigur aus dem Alten Testament, wo von seiner aussergewöhnlichen Schnelligkeit berichtet wird (II Sm 2,18) – ein Zusammenhang mit der Frauensklaven-Thematik lässt sich in dem Bibeltext nicht erkennen. Bildbeschreibung Die Wiedergabe Azahels füllt das siebte Bildfeld der Frauensklaven-Reihe, wo er, ganz im Vordergrund des Bildes, sitzend mit lang ausgestreckten Beinen dargestellt ist. Er trägt langes Haar, ist bärtig und am ganzen Körper behaart und daher völlig unbekleidet. Ihm gegenüber steht eine Frau und fesselt seine ihr entgegengestreckten Hände mit einem Strick. Das Figurenpaar wird rechts von einem nicht näher bestimmten Baum flankiert. Texte Die Miniatur ist mit dem roten Titulus Asrahel, einem zu drei Vierteln textierten Rahmen und einem Spruchband ausgestattet. Der Titulus ist in der oberen linken Ecke des Bildfeldes angebracht und so deutlich auf Azahel bezogen. Der Text im Rahmen beginnt oben links mit einer rubrizierten Majuskel und verläuft im Uhrzeigersinn um das Bild. Die linke Rahmenleiste bleibt unbeschriftet. Das Spruchband ist Azahel zugeordnet. Es reicht von der unteren linken Ecke des Bildfeldes in Wellenform über die Köpfe des Figurenpaars zur oberen rechten Ecke. Azahel wird als wilder Mann eingeführt. Allein eine Frau vermag ihn, den man zu den bösesten rechnet, zu fesseln: Asrahel dem wilden man/ hat ein fraw gesiget an./ wann den man fur den wirsten het vnd czalt,/ hat ein fraw gepunten. Azahel bittet darauf um die Gunst der Geliebten: Nym yn dein genade mich/ liebe fraw, dez pitt ich dich (Tafel XIV .7). Wirkteppich mit sechs Weiberlisten im Historischen Museum der Pfalz (1540). Dazu: Cantzler, Bildteppiche, S. 150 ff. (Abb. 57). Ebenfalls eine Götzendienst-Szene in einer Margarethenlegende eines Antependiums im Helmstedter Stift Marienberg. Dazu: Kroos, Niedersächsische Bildstickereien, S. 77 f. (Nr. 57, Abb. 240). 101 Eine Übersicht über häufig zitierte Dreier- und Viererreihen in: Smith, The Power (1990), S. 210 f. Die unter ›Salomon‹ aufgezählten Reihen zählen wie die idealtypische Dreierreihe ›Samson – Salomon – Absalon‹ zu den am häufigsten zitierten. Vgl. Anm. 156.
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Frauensklaven Texttradition und Bildtyp
Der Bibeltext berichtet über Azahels Schnelligkeit, die einer Gazelle ebenbürtig sei: Porro Asrahel cursor velocissimus fuit quasi unus ex capreis quae morantur in silvis (II Sm 2,18). Von Azahel als Opfer verderblicher Weiberlist ist an keiner Stelle die Rede. Rudolf von Ems kommt in seiner Weltchronik auf Azahels bewundernswerte Schnelligkeit zu sprechen.102 Die Darstellung in R ist vom Bildtyp her auf die ›Wildleute‹-Ikonographie zurückzuführen. Hier sind zwei vergleichbare Bildzeugnisse zu nennen, die einen von einer Dame gefesselten Wildmann zeigen: Auf einem um 1390 in Bayern gestickten Teppich aus dem Regensburger Rathaus erscheint unter 50 Liebespaaren und Weiberlisten ein Wildmann, der von einer Dame an einer Kette weggeführt wird.103 Auf einem Basler Wandbehang (um 1470/80) findet sich eine nahezu identische Darstellung.104 Beide Darstellungen schwanken in ihrer Bedeutung zwischen der charakterveredelnden Macht der Minne nach klassischer Minnesangmanier und der in klerikal-misogyner Tradition stehenden Überlistung des Frauensklaven. Darstellung in R Die Zeichnung nimmt, wie vom Text vorgegeben, die ikonographische Tradition des ›Wilden Mannes‹ auf. Der Strick als den Minnenden fesselnder Liebesstrick gehört zum Inventar höfischer Minnemetaphorik (hier als Gefangenschafts-Metapher).105 Der Zeichner der ›Washingtoner Handschrift‹ liess sich von dem im Mittelalter äusserst beliebten, bildkünstlerischen Faszinosum des ›Wilden Mannes‹106 inspirieren, um die in der Pseudo-Frauenlob-Strophe Azahel zugeschriebene Wildheit adäquat darzustellen.
102 Ed. Ehrismann, V. 27163–27186, hier: 27184–27192: An der schripht han ich virnomen/ das er was der snellste man/ der mannis namen ie gewan:/ es wart nie ros so snel noh tier/ das dem helde muotis fier/ mit loufinne mohte entrinnin,/ die vluht im an gewinnin. 103 Ott, Travestien, S. 499 ff. (Abb. 4). 104 Rapp Buri/Stucky-Schürer, zahm und wild, Kat.-Nr. 31 (Abb. 31). 105 Vgl. Wessel, Probleme der Metaphorik, S. 289–294. Das Bild von den Fesseln der Liebe stammt aus Ovids ›Ars Amatoria‹ (Ed. Holzberg), III ,591. 106 Zur Verbreitung des Bildmotivs vgl. Ott, Travestien, S. 489–511. Von Wilckens, Das Mittelalter, bes. S. 75–78. Curschmann, Wort – Schrift – Bild, S. 418 f. (Abb. 8). Curschmann zeigt hier den Einfluss des Bildtyps des ›Wilden Mannes‹ anhand eines um 1475 entstandenen, im Besitz des Berner Schultheissen Petermann von Wabern sich befindenden Wandbehangs (Besanc¸on, Muse´e des Beaux-Arts et d’Arche´ologie, D.909.1.2). Ferner: Müller, Studien, S. 51–66.
Erläuterungen
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6.1.3.8 Paris und Helena (Tafel XIV .8) Die wichtigsten Vermittler des Trojastoffes und damit auch der prominenten Episode um die von Paris entführte Helena107 im Mittelalter sind die ›Ilias latina‹,108 die pseudo-historiographischen Werke des Dares (›Excidium Troiae‹) und Dictys (›Ephemeri belli Troiani‹) und die vermittelnden Schulautoren Ovid (›Metamorphoses‹, ›Heroides‹) und Statius (›Achilleis‹).109 Zu erwähnen ist noch das ›Excidium Troiae‹, ein anonymer lateinischer Prosatext aus dem 5. Jahrhundert. Die um die Mitte des 12. Jahrhunderts einsetzenden Antikenromane rezipieren und episieren den Stoff.110 Die Rezeption des antiken Trojastoffes im Epos geht einher mit einer Ausweitung der Thematik auf den neuen Gegenstand ›Liebe‹. Der vorwiegend positiv gezeichneten Liebesbeziehung zwischen Paris und Helena in den Trojaromanen steht das misogyne Helenabild der lateinischen, klerikal geprägten Literatur entgegen, an die die Vorstellung des Paris als Minnesklave anknüpft.111 In dieser Tradition steht die Darstellung in R. Bildbeschreibung Links im Bild ist die zerstörte Stadt Troja zu sehen. Innerhalb der mit Zinnen versehenen Schutzmauer stürzen zwei Stadttürme in die Tiefe. Die Turmfenster und Maueröffnungen sind schwarz ausgemalt. Unmittelbar hinter der Schutzmauer befindet sich ein Mann zu Pferd mit einem – soweit ich sehe – überdimensionierten Lilienzepter. Rechts im Bild stehen dicht nebeneinander Helena und hinter ihr ein Mann, den ich mit Paris identifiziere. Helena trägt ein langes, über der Brust mit einer Schliesse zusammengefasstes Gewand. Ihr Haar ist mit einem Kopftuch bedeckt. Mit der rechten Hand zeigt sie auf die einstürzende Stadt, mit der linken Hand deutet sie auf ihre versteckte Scham. Paris ist in eine Ritterrüstung gekleidet: in Waffenrock, Beckenhaube und Halsbrünne. In seiner linken Hand hält er ein Schwert, das auf dem Boden aufsteht. Texte Die Miniatur ist zweimal rot betitelt und im Rahmen oben und links mit einem Reimpaar textiert.112 Helena wird fälschlicherweise als fraw pareis tituliert. Sie hat den Untergang der altehrwürdigen Stadt Troja zu verantworten: Troyin, dy güt 107 Homer, Ilias (Übertr. Rupe´), 3. Gesang. 108 In der Regel fälschlicherweise Homer zugeschrieben. 109 Zur Tradierung des Trojastoffs an das Mittelalter vgl. Knapp, Hector und Achill, S. 13–18. Worstbrock, Zur Tradition des Trojastoffes, S. 251. 110 Den Anfang macht Benoıˆt de Saint-Maure mit dem ›Roman de Troie‹ (Ed. Constans). 111 Ebenbauer, Antike Stoffe, S. 258 f. 112 Der linke Rahmen ist nach Versende mit zwei Füllzeichen versehen.
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wirdig stat,/ durch pareiz, die frawen, czerstöret wartt (Tafel XIV .8). Die Figur des Paris ist nicht betitelt. Texttradition und Bildtyp Das Wissen um Troja ist in der mittelalterlichen Literatur omnipräsent, durch Trojaromane, als Teil von Weltchroniken oder als allgemein verfügbares Bildungsgut, auf das in nahezu allen Textsorten Bezug genommen wird. In mehr oder weniger höfisierter Form erzählen die Trojaromane von der Paris-Helena-Minne, die zu den zentralen Episoden des Stoffes gehört. Helena als Minnedame und Paris als ihr Minnediener sind darin positiv gezeichnet.113 Troja-Zitate und Anspielungen ziehen sich als Literatur- und Bildungszitat durch sämtliche Dichtungen fernab des Trojastoffs.114 Die Zitate beziehen sich immer wieder auf die zentralen Ereignisse wie Parisurteil, Raub der Helena, Belagerung und Zerstörung Trojas und die Figuren Helena, Paris, Hector und Achill. Im höfischen Kontext figurieren Paris und Helena in der Regel als nachahmenswerte Vorbilder, isoliert oder innerhalb eines Frauensklaven-Katalogs. 115 In der Lehr-,116 Lied- und Spruchdichtung117 wie auch wieder in der geistlichen Dichtung volkssprachiger118 und latei113 Herbort von Fritzlar, Liet von Troye (Ed. Frommann), V. 2931–2946 (Helena). Konrad von Würzburg, Der Trojanische Krieg (Ed. von Keller), V. 2162–2187 (Minnesklaven, von Venus beim Urteil des Paris aufgezählt), V. 19346–22401 (Paris-Helena-Minne). Der Göttweiger Trojanerkrieg (Ed. Koppitz), V. 3539–3580 (Helena), V. 9749–9811 (Minne- und Waffendienst des Paris), V. 13712–13750 (Helena). 114 Sämtliche Belege bei Lienert, Ritterschaft und Minne, S. 199–243. 115 Nebensächlich bei Heinrich von Veldeke, Eneasroman (Ed. Fromm), V. 1–32, 167 f., und 920 f. Von weitreichender Ausstrahlung hingegen ist die ausführliche Troja-Dichtung des Benoıˆt de Saint-Maure (›Roman de Troie‹), die ein durchwegs positives Bild der Helena zeichnet. Das rigide klerikale Urteil ist vollends der Höfisierung gewichen. Die Treulosigkeit wird nur folgenlos gestreift (Ed. Constans, V. 25319). Helena ist ein Vorbild mit allen höfischen Vorzügen, unter denen die bewundernswerte Schönheit der augenfälligste ist (V. 5119 f.). Paris ist ihr ergebener Minnediener. Konrad Fleck, Flore und Blanscheflur (Ed. Sommer), V. 1587–1643. Heinrich von dem Türlin, Diu Croˆne (Ed. Scholl), V. 11549–11559. Mittelhochdeutsche Minnereden I . (Ed. Matthei), Nr. 3, V. 312–353, bes. 345. Liederbuch der Clara Hätzlerin (Ed. Haltaus), Nr. 119, V. 200–231, bes. 223. Weitere volkssprachige Zeugnisse bei Homeyer, Die spartanische Helena, S. 95–113. 116 Hugo von Trimberg, Der Renner (Ed. Ehrismann), V. 15863–15878. Thomasin von Zerklaere, Der Welsche Gast (Ed. Rückert/Neumann), V. 821–828. 117 Hugo von Montfort, Lied Nr. 24,21–24: Helen die schön von Kriechen/ umb sy ward Troy zerbrochen/ auss gesunden ward vil der siechen/ erschlagen und erstochen (Die Texte und Melodien der Heidelberger Handschrift (Ed. Thurnher u. a.). 118 Reinbot von Durne, Der heilige Georg (Ed. von Kraus), V. 4318–4331 und 4596–4601.
Erläuterungen
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nischer119 Provenienz überwiegt deutlich die Funktionalisierung des Paris als Frauensklave Helenas. Das Spektrum reicht von der Warnung vor Frauenlist bis zur Anklage der Dirne Helena wegen des Untergangs Trojas.120 Die Darstellung der Stadt Troja geht auf den Typ der Belagerungsszene zurück.121 Troja ist von einer Schutzmauer umgeben, wohinter Türme emporragen und Reiter in Kampfpositur die Stadt verteidigen. Unter oder vor der Stadtmauer ist in der Regel die griechische Gegenseite bei Kampfhandlungen dargestellt.122 Die Szene ist stoffbedingt oft in unmittelbarer Nähe zur Darstellung des Raubs der Helena zu finden.123 Darstellung in R Der Zeichner stellt der Stadt Troja das Liebespaar Paris und Helena gegenüber, um die verheerenden Folgen der Frauenlist vor Augen zu führen. Die Kampfszenen vor der Stadtmauer fehlen. Wichtiger sind dem Zeichner die sichtbaren Auswirkungen der Paris-Helena-Beziehung: die Zerstörung der Stadt, die bildlich und textlich stark akzentuiert wird. Den Reiter innerhalb der Mauer könnte man mit König Priamos (mit Zepter) oder einem Stadtwächter (mit Lanze) identifizieren.
6.1.3.9 Achill und Deidameia (Tafel XIV .9) Die neunte Miniatur zeigt die Überlistung des verkleideten Achill durch Ulixes. Diese Episode aus Homers ›Odyssee‹124 ist im Mittelalter trotz der Unkenntnis der homerischen Epen bekannt gewesen. Vermittelnd gewirkt haben die beiden Schulautoren Statius125 und Ovid126: Achill wird von seiner 119 Hugo von Orle´ans, Urbs erat illustris (Ed. Langosch), S. 208–211: Sorduit in venere, sed dis ea displicuere. Quod Paridi fede nubebat filia Lede. 120 Vgl. das lateinische Gedicht ›Pergama flere volo‹ (Ed. Hammer [Some Leonine summaries]), S. 122, V. 87 f.: Causa rei talis meretrix fuit exicialis,/ Femina fatalis, femina feta malis! Ebenfalls als Dirne bezeichnet im ›Troilus‹ Alberts von Stade (Ed. Merzdorf), IV ,618 und VI ,857, im ›Liber decem capitulorum‹ Marbods von Rennes (Ed. Bulst), Nr. 3, V. 43 f., und bei Joseph von Exeter in der ›Frigii Daretis Ylias‹, III ,323. Dazu: Homeyer, Die spartanische Helena, S. 89–95, bes. 91 ff. 121 Allgemein zur Ikonographie des Trojastoffes vgl. Buchthal, Historia Troiana. Saxl, The Troy Romance in French and Italian Art. 122 Buchthal, Historia Troiana, Abb. 11 und 16. 123 Ein Beispiel für beide Szenen nebeneinander in: Verzeichnis astrologischer und mythologischer illustrierter Handschriften (Ed. Saxl), Bd. 3, Abb. 54. 124 Homer, Odyssee (Übertr. Weiher), XII ,165–200. 125 P. Papini Stati Thebais et Achilleis (Ed. Garrod), I,855 ff. 126 Ovid, Metamorphosen (Ed. Rösch), 13,162–180, bes. 165–169: Arma ego femineis animum motura virilem/ mercibus inserui, neque adhuc proiecerat heros/ virgineos habitus, cum parmam hastamque tenenti/ »nate dea«, dixi
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Mutter Thetis zu Lykomedes, dem König von Skyros gebracht, um dadurch dem geweissagten Tod vor Troja zu entkommen. Auf der Insel Skyros wird Achill als Mädchen verkleidet und unter den Königstöchtern versteckt. In Deidameia verliebt er sich.127 Inzwischen spürt ihn eine griechische Gesandtschaft auf, darunter Ulixes, dem es gelingt, den Verkleideten durch eine List zu entdecken: Ulixes lässt den Mädchen Gastgeschenke – Kleider und Schmuck, aber auch Rüstung und Waffen – vorlegen und plötzlich die Kriegstrompete blasen, worauf Achill instinktiv nach den Waffen greift und sich als Held verrät. Die Episode charakterisiert die Figuren so, wie sie in mittelalterlichen Dichtungen allgemein typisiert werden: Ulixes als listig, intelligent und sprachgewandt,128 Achill als unbesonnen, zornig und von unvergleichlicher kämpferischer Tüchtigkeit.129 Bildbeschreibung Die ›Washingtoner Miniatur‹ ist symmetrisch aufgebaut; der Mast des längsseitig dargestellten Schiffes bildet die Achse. Links davon sind drei Figuren dargestellt: vorne der als Frau verkleidete Achill, dahinter zwei jugendliche Figuren, von denen die hintere einen Hut trägt und mit der Rechten auf ein Meeresungeheuer unter dem Schiff zeigt. Achill greift mit einer Hand nach der Rüstung, die gleichsam an den Mast angelehnt ist. Rechts vom Mast befindet sich Ulixes in Begleitung einer weiteren Figur. Beide tragen Rüstung mit Beckenhaube; bei der vorderen Figur ist ausserdem die Halsbrünne sichtbar. Die hintere Figur reicht Achill die Rüstung. Auf halber Masthöhe ist die Rahe angebracht, über der drei gerissene Stricke hängen. Der Zeichner hat die halbkreisförmigen Öffnungen zwischen den Fixierstellen des Segels an der Rahe mit schwarzer Tinte ausgefüllt. Sie korrespondieren nicht mit den Längslinien des aufgespannten Segels und verdecken den Mast. Texte Das Bild ist mit drei roten Titeln versehen: Oben links, untereinander geschrieben, stehen die Namen der Überlisteten, Deidameia und Achill, oben rechts der Name »tibi se peritura reservant/ Pergama! quid dubitas ingentem evertere Troiam?« Ausführlich wird die Episode im ›Excidium Troiae‹ geschildert (Ed. Atwood, S. 9,15–10,20, hier: 10,8–11): Achilles vero dum tubam canere audivit, furia armorum invasus, scutum et astam in manu cepit, calce repercutiens tunicam muliebrem qua vestiebatur concidit, et caligam de pede eius exuit. 127 Ovid, Ars amatoria, I,689–706. Zur Achill-Deidameia-Episode vgl. King, Achilles, S. 171–184. 128 Zum Bild Ulixes’ im Mittelalter vgl. Imbach, Odysseus im Mittelalter, S. 413. 129 Zum Bild Achills im Mittelalter vgl. Knapp, Hector und Achill, S. 32–43 und 81–87, und King, Achilles, S. 214–217.
Erläuterungen
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des listigen Ulixes. Die zwei Spruchbänder sind Ulixes und Achill zugeordnet und je mit einem Verspaar textiert. Ulixes’ Spruchband ist unten an der Rüstung angesetzt und verläuft dem Schiff entlang über den rechten Bildrahmen hinaus. Der Schreiber setzt den Text noch zweimal unter dem Band neu an, wobei der Text wieder über den Rahmen hinausreicht. Achills Spruchband beginnt bei dessen rechtem Arm und entwickelt sich dann parallel zum anderen nach rechts. Die zwei Verse sind zweizeilig angebracht. Im Gegensatz zum anderen Spruchband korrespondieren hier Zeilenende und Versende. Nach erfolgreicher Suche freut sich Ulixes über die Entdeckung Achills. Nach der Prophezeiung ist Trojas Fall nun gewiss:130 Cher dan, wir haben yn funden,/ da mit dy stat vberwunden. Achill beklagt seine Entlarvung durch Ulixes’ List: Ich want, ich wär gefristet./ So pin ich gar vberlistet (Tafel XIV .9). Texttradition und Bildtyp Die Achill-Deidameia-Minne und die anschliessende Entlarvung und Einholung Achills sind bekannt als Episoden aus mittelalterlichen Trojaromanen131 und Weltchroniken132, die Liebesepisode aus unterschiedlichsten Textsorten.133 Im höfischen Kontext steht die Vorbildlichkeit der Achill-Deidameia-Minne im Zentrum,134 im didaktisch-geistlichen die Warnung vor Frauenlist, exemplifiziert am Frauensklaven Achill.135 Dessen Bild formt neben der im Mittelalter weniger bedeutenden ›Skyros‹-Episode seine verhängnisvolle Liebe zur Trojanerin Polyxena, die mit Paris’ hinterhältigem Pfeil auf Achills Sehne endet. Beide Episoden sind moralisch als Attacken der libido auf den vorbildlichen Krieger gedeutet worden.136 Die 130 Nach der Weissagung des Proteus kann Troja nur mit Achills Hilfe eingenommen werden. 131 Konrad von Würzburg, Der Trojanische Krieg (Ed. von Keller), V. 14059– 17321 (Achill-Deidameia-Minne), V. 27108–29481 (Einholung Achills). Dazu: Knapp, Hector und Achill, S. 57 f. Göttweiger Trojanerkrieg (Ed. Koppitz), V. 14919–16282 (Einholung Achills). 132 Jansen Enikel, Weltchronik (Ed. Strauch), V. 14863 ff. 133 Belege dazu bei Lienert, Ritterschaft und Minne, S. 214–243. 134 Vgl. dazu den Minnemonolog Achills im ›Roman de Troie‹ des Benoıˆt de Saint-Maure (Ed. Constans), V. 18044–18050. Hier stellt sich Achill in die Reihe der Minnesklaven: Qui est contre amor est sage?/ C ¸ o ne fu pas Fortis Sanson,/ Li reis Daviz ne Salemon,/ Cil qui de sen fu soverains/ Sor toz autres homes humains/ Qu’en puis jo mais, se jo desvei,/ Se jo refail, se jo folei? Ausgangspunkt der Klage ist die Minne zu Polyxena. Dazu: Schnell, Causa amoris, S. 499 f. Vgl. auch die Beschreibung des minnesiechen Achills bei Konrad von Würzburg, Der Trojanische Krieg (Ed. von Keller), V. 16804– 16811. 135 In den Frauensklaven-Katalogen gehört Achill zu den weniger bekannten Figuren. 136 Fulgentius, Opera (Ed. Helm), S. 72 (Mitologiarum III ,VII ): Denique et amorae Polixenae perit et pro libidine per talum occiditur. Polixene enim Grece multorum peregrina dicitur, seu quod amor peregrinari faciat mentes
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Entlarvung des verkleideten Achills steht, abgesehen von der stoffbedingten Nähe beider Episoden zueinander, in keinem Zusammenhang zu seinem Minne- bzw. Frauensklaventum. Ikonographische Realisierungen beider Episoden sind im Mittelalter selten. Daher erübrigt es sich, nach Konstanten zu suchen und einen Bildtyp herauszuarbeiten. Darstellung in R Bemerkenswert an der Darstellung ist, dass die Entdeckung Achills offenbar mit einer weiteren Episode aus den Abenteuern des Ulixes kontaminiert wird. Die Situierung der Szene auf einem Schiff, die zerrissenen Stricke, die ›aufrechtstehende‹ Rüstung am Mastbaum mit dem ihr zugeordneten Spruchband und das Meeresungeheuer, auf das eine Figur deutlich hinweist – diese Bildelemente gehören zu Ulixes’ Sirenenabenteuer, das seit der Antike im Typ des am Mast festgebundenen Helden verbildlicht wurde.137 Ulixes’ Irrfahrt führt ihn an der Insel der Sirenen vorbei. Nach dem Rat der Kirke verstopft er seinen Gefährten die Ohren mit Wachs und lässt sich am Schiffsmast festbinden, sodass er den tödlichen Lockungen der Sirenen nicht folgen und das Schiff gefahrlos die Insel passieren kann.138 Die Kontamination beider Szenen erklärt, warum das zweite Spruchband fälschlicherweise der an den gefesselten Ulixes erinnernden Rüstung zugeordnet ist und nicht einer der beiden Figuren rechts des Mastes. Der Text ebendieses Spruchbandes bezieht sich richtigerweise auf den Achill-Entdecker Ulixes. Beide Spruchbänder integrieren sich insofern gut in das Bild, als sie ihrer dynamischen Form nach die Vorwärtsbewegung des Schiffes unterstreichen. Die genaue Identifizierung der Figuren ist schwierig. Die zwei Figuren neben dem verkleideten Achill sind, der Kopfbedeckung und der Haartracht nach zu urteilen, als junge Gefährten des Ulixes zu identifizieren. Ikonographisch realisiert ist der Minnesklave Achill im Konstanzer ›Haus zur Kunkel‹ (Abb. 35).139 Ein Medaillon zeigt Achill im Kreis der drei Lykomedestöchter. Hier, wie schon bei der ›Washingtoner Miniatur‹ lässt sich die Szene nur schlecht mit Achills Frauensklaventum in Verbindung bringen, da ja die Entlarvung Achills nicht auf Deidameias Schuld zurückzuführen ist, noch sonst irgendwie eine Frauenlist Achill zum Nachteil gereicht. Die Szene versinnbildlicht gerade den – durch die List erzwungenen – Sieg des Kriegsnaturells über die Versklavung im Dienst der libido. Der Idee des Frauensklaventums entscheidend näher stünde die Achill-Polyxena-Episode, wie sie etwa in Benoıˆts ›Roman de Troie‹ geschildert ist.
ab ingenio suo, sive quod aput multos libido ut peregrinabunda vagetur. Zur volkssprachigen Bearbeitung der Achill-Polixena-Episode vgl. Schnell, Causa amoris, S. 259–265. Vgl. auch King, Achilles, S. 171–217, hier: 201 ff. Belege bei Joseph von Exeter, Albert von Stade und Guido delle Colonne ebenfalls bei King, Achilles, S. 208–214. 137 Vgl. Scherer, The Legends, S. 167. 138 Homer, Odyssee (Übertr. Weiher), XII ,165–200. 139 Wunderlich, Weibsbilder, S. 150 ff.
Erläuterungen
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6.1.3.10 Artus’ Hornprobe (Tafel XIV .10) Die ›Hornprobe‹140 gehört zu den in der Artusliteratur besonders beliebten Tugendproben. Sie zeigen die Treue bzw. Keuschheit der Erprobten an. Das älteste Beispiel für eine Hornprobe steht im ›Lai du Cor‹,141 der knapp vor 1200 datiert wird.142 Darin scheitert Arzurs beim Versuch, aus einem Horn zu trinken, ohne sich dabei zu benetzen. Das Scheitern Arzurs zeigt, dass seine Gattin ihn betrogen oder zumindest einen bessern Mann begehrt hat.143 Bildbeschreibung Die Miniatur in R steht in dieser Motivtradition. König Artus, links im Bild in langem Gewand stehend, ist mit Krone dargestellt. Er führt das Trinkhorn mit seinen beiden überdimensionierten Händen zum Mund. Rechts im Bild steht ein Figurenpaar: vorne eine Frau mit erhobenem Finger auf das Horn zeigend, und unmittelbar dahinter, sie am linken Oberarm zurückhaltend, ein Mann in Ritterrüstung. Zwischen Artus und dem Figurenpaar steht – vermittelnd – ein Mann in weitärmligem Kleid, der mit seiner linken Hand sein Schwert vor sich mit der Spitze auf den Boden aufsetzt und mit dem Zeigefinger seiner Rechten auf das Trinkhorn zeigt. Seinen Kopf wendet er dabei dem Figurenpaar zu. Texte Das Bild ist in der Bildecke oben links neben Artus’ Krone mit dessen Namen rot tituliert. Der Rahmentext umrahmt das Bild zu drei Vierteln, beginnt links oben und endet links unten. Darin eingeschrieben sind zwei Verspaare. Die Majuskel zu Beginn des ersten Verspaares ist rubriziert: Dieses Verspaar bezeichnet Artus als Opfer seiner Frau: ihretwegen erleide er grosse Schmach: Chunikch artus michel scham/ von seiner frawen wegen nam. Das zweite Verspaar konkretisiert, wie die Schmach öffentlich wird: Artus begiesst sich vor aller Augen beim Versuch, aus dem Horn zu trinken: daz er sich wegöz mit einem horen./ daz sahen all dy¨ do pey¨ ym woren (Tafel XIV .10). Texttradition und Bildtyp Für das Motiv der Hornprobe gibt es mehrere literarische Zeugen. Ihnen gemeinsam ist die folgende Fabel: Während eines Festes am Artushof legt ein Bote der Hofgesellschaft ein Horn vor, das zu einer Treueprobe dienen soll. Wer daraus zu 140 141 142 143
Dazu grundlegend Kasper, Von miesen Rittern, S. 134–164. Mantel et Cor (Ed. Bennett). Ebd. Einleitung, S. XXII . Le corn destina/ que ja houm(e) n’i bev(e)ra,/ tant soit sages ne fous,/ s’il est cous ne gelous;/ ne ki nule femme (h)eit/ qui (h)eit fol pense´ feit/ vers autre k’a lui./ Ja li corns a celui/ Beivre ne soffira,/ mes sour lui espaundra/ ceo k’oun i av(e)ra mis (ebd. V. 231–241).
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trinken vermag, ohne den Inhalt zu verschütten, hat selbst nie betrogen (wenn eine Frau geprüft wird) oder ist nie von seiner Frau betrogen worden (wenn ein Mann sich der Probe stellen muss). Die älteste Darstellung der Hornprobe findet sich im oben erwähnten ›Lai du Cor‹. Hier erprobt Artus als erster das Horn und scheitert.144 In der Folge scheitern alle Ritter, wobei die Königin gestehen muss, einmal einem jungen Ritter einen Ring geschenkt zu haben – eine Aussage, die an Ginovers ehebrecherische Rolle im ›Prosa-Lancelot‹ erinnert.145 Die erste ›Perceval‹-Fortsetzung146 weicht vom ›Hornlai‹ insofern ab, als das kostbar verzierte Elfenbeinhorn, Bonec genannt, Wasser in Wein verwandelt. Auch hier zeigt sich die Untreue Ginovers im Scheitern des Königs.147 Die ›Croˆne‹ des Heinrich von dem Türlin148 und der ›ProsaTristan‹ ändern das Motiv stark ab und kehren seine schwankhaften Tendenzen deutlich hervor. Heinrich macht aus dem Horn einen goldenen Becher, aus dem Boten einen fischartigen Abgesandten des Meereskönigs Priure. In der ›Croˆne‹ müssen Frauen und Ritter zur Probe antreten. Von allen besteht nur Artus die Probe.149 Alle anderen verschütten in gradueller Abstufung mehr oder weniger von dem Gewürzwein.150 Im französischen ›Prosa-Tristan‹151 müssen nur die Frauen zur Probe antreten. Die Handlung ist auf Isolde zentriert, die auf Veranlassung Markes als Erste an der Reihe ist und am Trinkversuch scheitert. Zu erwähnen bleibt ein Meisterlied, das Ähnlichkeiten mit dem ›Hornlai‹ aufweist und wiederum Artus scheitern lässt.152 Artus als Frauensklave ist ikonographisch selten fassbar. Die zwei bekannten Zeugnisse, das Konstanzer ›Haus zur Kunkel‹ (Abb. 35) und R – beide sind 144 Li rois Arzurs le prist/ a sa bouche le mist/ kar beivre le quida,/ me sour lui le versa/ cuntreval desk’as pez:/ en fu li rois irrez (V. 291–296). 145 Prosalancelot (Ed. Steinhoff), S. 418,36–420,8. 146 Premie`re Continuation de Perceval (Ed. Roach), V. 3106–3271. 147 A cest mot vaut boivre li rois,/ Mais li vins desor lui espant (V. 3196 f.). Einzig Caradoc besteht die Probe, nachdem seine Frau Guimer ihn zum Trinken aufgefordert hat (V. 3219–3231). Guimers Treue zieht den Hass Guinovers auf sich (V. 3262 ff.). Ebd. 148 Ed. Scholl, V. 918–2631. Vgl. dazu: Gutwald, Schwank und Artushof, S. 127–133. Stein, Integration – Variation – Destruktion, S. 225 ff. 149 Ebd. V. 1631–1925. 150 Keies Freundin kann das Gefäss nicht einmal halten. Ginover dagegen verschüttet nur wenig. Nach Kasper ist die Abstufung wohl auf die Mantelproben zurückzuführen, wo die unterschiedliche Passform ebenfalls eine Abstufung zulässt (Von miesen Rittern, S. 144). 151 Le roman de Tristan en prose (Ed. Curtis), Bd. 2, S. 128–133. 152 Dazu: Kasper, Von miesen Rittern, S. 154 ff. Überliefert ist das Lied in vier Handschriften, worunter eine Papierhandschrift von 1451 das Lied zusammen mit einem weiteren über die Mantelprobe tradiert: Konig Artus tranck wol mit gefug/ Er wist nit vmb den Zorn/ Da leyt er vor den fursten scham/ Da er wart alles nass (abgedruckt in der historisch-kritischen BrentanoAusgabe, Bd. 9,1: Des Knaben Wunderhorn, S. 649).
Erläuterungen
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bildliche Umsetzungen der Pseudo-Frauenlob-Strophe –, zählen möglichst viele Frauensklaven auf, darunter auch König Artus: Artusus scham von weiben chom (Tafel XV .5.3). In den beiden Zeugnissen ist der Vers bildlich unterschiedlich realisiert. In Konstanz ist die Szene recht neutral gehalten: Ginover sitzt mit vorgestrecktem Bein auf einer Art Bank, während Artus links davor steht.153 Darstellung in R In R wird Artus’ Schande direkt auf die Situation der Hornprobe bezogen. Die Darstellung steht in der Tradition jener Texte, die Artus’ Scheitern in den Mittelpunkt rücken. Artus’ Opferrolle wird zusätzlich dadurch unterstrichen, dass, obwohl seine Frau den Treuebruch zu verantworten hat, dieser sich ungerechterweise im öffentlichen Scheitern des Königs bestätigt – der Erprobte sich also gleichsam schuldlos beschämen lassen muss. Was die Identifikation der Figuren in der Miniatur betrifft, ist die mittlere wahrscheinlich mit dem Boten gleichzusetzen. Das Figurenpaar rechts könnte, in Anspielung auf den Ehebruch Ginovers mit Lancelot, mit diesen beiden zu identifizieren sein.154 Die Figuren markieren jedenfalls Öffentlichkeit.155 Das Fehlen der Spruchbänder und das daraus resultierende fehlende ›Sprechen‹ des Bildes wird aufgefangen durch eindeutige Handzeichen. Die überdimensionalen Hände Artus’ fokussieren den Blick auf das heikle Halten des Trinkhorns.
6.1.3.11 Absalon (Tafel XIV .11) Absalon, der dritte Sohn Davids, ist im Mittelalter als Prototyp männlicher Schönheit bekannt. Sie verbindet ihn mit idealtypischen Eigenschaften anderer Figuren aus der Bibel.156 Die verkörperte Eigenschaft wird im höfischen Kontext in der Regel positiv gewertet, im klerikalen und didaktisch orientierten eindeutig negativ: Unter Einbezug seines Aufbegehrens gegen den Vater David wird hier sein früher Tod als verdiente Strafe interpretiert. Seine Schönheit wird in diesem Zusammenhang dadurch abgewertet, dass sie nichts gegen den Tod auszurichten vermag. 153 So Wunderlich, Weibsbilder, S. 153. Vgl. auch Loomis, Arthurian Legends, S. 36 f. Für Loomis jedoch ist die sitzende Figur mit Artus zu identifizieren und die stehende mit Ginover. 154 Für eine Identifizierung der Frau mit Ginover spricht auch der Rahmentext, der sie erwähnt. 155 Diese Funktion der Figuren wird durch den Text gestützt: daz sahen all dy¨ do pey¨ ym woren (Tafel XIV .10). 156 Fechter spricht von einer alttestamentlichen Trias, die vielleicht Grundform längerer idealtypischer Reihen gewesen sein mag. (Absalom als Vergleichsund Beispielfigur, S. 307). Alle drei Figuren verkörpern eine idealtypische Eigenschaft: Salomon die Weisheit, Samson die Stärke und Absalon die Schönheit. Diese Gruppe war neben der Trias ›Samson – Salomon – David‹ im Mittelalter sehr populär. Dazu: Smith, The Power (1990), S. 210 f.
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Frauensklaven Bildbeschreibung
Rechts im Bild hängt Absalon mit seinen langen Haaren an einem Baum. Von links reiten zwei als Ritter gerüstete Männer heran und durchstossen mit ihren Lanzen Absalons Hals und Brust. Er greift mit der rechten Hand nach seinem Schwert, mit der linken fasst er die seine Brust durchbohrende Lanze. Rechts neben ihm ist noch das Hinterteil seines Pferdes zu sehen. Beim vorderen Ritter ist die Rüstung vollständig sichtbar: Beckenhaube, Halsbrünne, gezackter Waffenrock, Beinschiene und der Schnabelschuh im Steigbügel. Texte Die Miniatur ist mit Rahmentext und einem Titulus versehen, der über dem Kopf der Hauptfigur angebracht ist. Das Verspaar im Rahmen beansprucht nicht ganz zwei Leisten. Die Majuskel ist rubriziert. Absalon klagt Gott sein smachez end, für das er die von ihm verehrte Frau beschuldigt: Ach got, von meiner frawen wegen/ ist mir ein smachez end gegeben (Tafel XIV .11). Texttradition und Bildtyp Die Tötung des im Baum hängenden Absalon durch Joabs Kriegsknechte ist biblisch: Cumque ingressus fuisset mulus subter condensam quercum et magnam, adhesit caput eius quercui, et illo suspenso inter caelum et terram mulus cui sederat, pertransivit. [. . .] Tulit ergo tres lanceas in manu sua et infixit eas in corde Absalom (II Sm 18,9 und 18,14). Absalons Tod resultiert aus zwei Ereignissen, die zur mittelalterlichen Absalon-Charakterisierung wesentlich beigetragen haben. Da ist einmal der Mord an seinem Halbbruder Amnon als Rache für dessen Inzest mit der gemeinsamen Schwester Thamar (II Sm 13). Und da sind Absalons Aufstand gegen seinen Vater David und die nachfolgende kriegerische Auseinandersetzung zwischen beiden, die mit Absalons Tod in der Eiche endet (II Sm 15–18).157 Absalons Schönheit zeigt sich in seiner langen Haartracht – Porro sicut Absalom vir non erat pulcher in omni Israel [. . .]. Et quando tondebatur capillum, semel autem in anno tondebatur, quia gravabat eum caesaries [. . .] (II Sm 14,25 f.) – und ist ein Gemeinplatz der mittelalterlichen Literatur, kann aber unterschiedlich akzentuiert und motiviert werden. Im höfischen und hofnahen Kontext wird die Figur in der Regel stereotyp als Vergleichsbeispiel idealer Schönheit herangezogen.158 Die kle157 Den Inzest an Thamar als Folge der Fleischeslust behandelt Alanus ab Insulis in seiner Modellpredigt (Summa de arte praedicatoria [PL 210,122 f.]): Contra luxuriam: O homo! lege in exemplis, quid conferat luxuriae vitium, ut aliorum actio tua sit lectio, David per luxuriam decidit in homicidium; Ammon per incestum sensit Absalonis gladium. Dazu: Smith, The Power (1995), S. 40 f. 158 Hartmann von Aue, Erec (Ed. Leitzmann/Cormeau/Gärtner), V. 2817. Wolfram von Eschenbach, Parzival (Ed. Schirok), 796,8. Herbort von Fritzlar, Liet von Troye (Ed. Frommann), V. 11228. Rudolf von Ems, Weltchronik (Ed. Ehrismann), V. 27000 ff. und V .29283–29308. Rudolf behandelt ausführlich die Geschehnisse um Absalon (V. 29139–30158), darunter Absalons Hängenbleiben in der Eiche (V. 30056–30109). Der Absalon-Episode
Erläuterungen
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rikal-lateinische Literatur wertet die Figur kritisch. Die Schönheit untermauert dabei das Bild Absalons als eines weltzugewandten Menschen und unterstreicht die Vergänglichkeit des Irdischen.159 Mit dieser Wertung einher geht die sittliche Anprangerung Absalons als Vertreter des jüdischen Volkes, versinnbildlicht in den drei ihn durchbohrenden Lanzen.160 Ein besonders kritisches Augenmerk findet sein amor carnalis, die an der Haarfülle sichtbar wird.161 Das Laster der Lust steht auch im Vordergrund bei der Verwendung der Figur als Minne- bzw. Frauensklave.162 Der Zusammenhang zwischen der Fleischeslust und dem Tod Absalons lässt sich allenfalls aus zwei Lebensereignissen des Helden ableiten: direkt von dem Aufstand gegen seinen Vater (superbia) und der öffentlichen Inbesitznahme seines Harems (concupiscentia carnis) (II Sm 16,21 f.); indirekt von seiner Rache an Amnon. Beide Male steht die Verführung durch eine Frau am Anfang einer Kausalkette, die mit Absalons Tod endet, damit aber nicht in unmittelbarem Zusammenhang steht. Die Aufnahme Absalons in die Reihe der Frauensklaven ist zusätzlich motiviert durch seine idealtypische Eigenschaft, die nur allzu gut zu den idealtypischen Eigenschaften anderer passt.
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folgt ein Kommentar über die Hochfahrt, die an Absalons Aufstand gegen seinen Vater exemplifiziert wird (V. 30121–30143). Weitere Belege bei Fechter, Absalom, S. 303 ff. Die Schönheit ist Teil des amor mundi und kehrt sich in der Herrlichkeit des Jenseits ins Gegenteil. Vgl. Honorius von Autun, Elucidarium (Ed. Lefe`vre), III ,106: Absalon namque formositas ibi esset deformitas. Bernhard von Morlas, De contemptu mundi (Ed. Pepin), I,57: Esset ibi decor Absalon indecor et coma. Vgl. Hrabanus Maurus, Commentaria in libros IV Regum (PL 109,110): Joab ergo in cor Absalom tres lanceas infigit, cum antiquus hostis superbiam, avaritiam et invidiam seu perfidiam in cor Judaici populi immisit, quae illis maxime causa perditionis erant. Adam Scotus interpretiert das Haar als superfluitas temporum, die Lanzen als concupiscentia carnis, concupiscentia oculorum und superbia vitae (De triplice genere contemplationis [PL 198,816]). Hugo von St. Viktor, Miscellanea (PL 177,714): Appetitus carnis caesariem nutrit et producit, quia cogitationum superflua nutrit: quae caesaries gravat mentem dum deprimit terrena inhabitatio sensum multa cogitantem. Bernhard von Clairvaux (Meditatio in passionem et resurrectionem Domini [PL 184,753]) sieht im Haar ein Zeichen der avaritia, im Maultier, das gleichsam eine Mischung aus Pferd und Esel darstellt, ein duplex animus, qui foris ostendat quod intus non servat. Talis erat Judas, talis erat Absalon. Mittelhochdeutsche Minnereden I (Ed. Matthei), Nr. 3: Absolon, der schoenst, flohe und behieng/ an einem böm durch liebes lust/ und ward gestochen durch sin brust (V. 328 ff.). Liederbuch der Clara Hätzlerin (Ed. Haltaus), Nr. 119: Absolon schön floch vnd hieng/ An ainem pavm durch liebes lust/ Vnd ward gerennet durch sein prust (V. 206 ff.). Hugo von Montfort (Ed. Thurnher), Lied Nr. 24: Absolon der schönst auff erden/ umb frawen kam er in not/ darumb so must er sterben/ und nam ainn herten tot (V. 45–48).
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Der Bildtyp des in der Eiche hängenden und durchbohrten Absalon ist hauptsächlich aus der Bibelillustration bekannt und fungiert dort als alttestamentlicher Typus zum Tod Christi am Kreuz (›Speculum humanae salvationis‹)163 oder zum Selbstmord des Judas durch Erhängung (›Biblia pauperum‹).164 Die Darstellung Absalons ist Teil einer auf den Antitypus vorausweisenden sinnstiftenden Bildgruppe. Folgende Bildelemente tauchen in der Regel auf: Absalon, der als gerüsteter Ritter mit seinen Haaren im Baum hängen geblieben ist sowie die Knechte Joabs, zu Pferd oder zu Fuss,165 die Absalon mit ihren Lanzen von vorne oder von hinten auf Brusthöhe durchbohren. Der Baum ist oft unspezifisch dargestellt, d. h. nicht als Eiche erkennbar. Immer gegenwärtig ist der auch in R am Bildrand noch sichtbare Hinterteil von Absalons Pferd, der darauf anspielt, wie Absalons Wehrlosigkeit überhaupt zustande kam. Als Minnesklave ist Absalon zusammen mit Salomon, Samson und David auf einem Schweizer Bildteppich des 16. Jahrhunderts abgebildet.166 Darstellung in R Die ›Washingtoner Miniatur‹ entspricht ziemlich genau dem Bildtyp aus den typologisch orientierten Werken mit dem Unterschied, dass Absalon nicht wirklich im Baum hängt, sondern – man beachte die Fussstellung – stehend dargestellt ist. Die Figurenrede ist in den Rahmen platziert statt in ein Spruchband. Der Text spricht zudem – entdifferenzierend – von meiner frawen, anstelle von einer Frau wie in der Pseudo-Frauenlob-Strophe.
6.1.3.12 David und Bathseba (Tafel XIV .12) Der hohe Bekanntheitsgrad der biblischen Episode vom Ehebruch Davids mit Bathseba im Mittelalter ist hauptsächlich auf die Omnipräsenz und Multifunktionalität der David-Figur an sich zurückzuführen. Bedeutsamkeit erhält die Geschichte durch die typologische Exegese besonders im Früh- und Hochmittelalter einerseits167 und anderseits durch eine auf die Lebenspraxis ausgerichtete Interpretation im Spätmittelalter,168 die ohne die misogynen Tendenzen der Exegese nicht denkbar wäre. Die Episode ist durchgehend vom 9. Jahrhundert bis in die frühe Neuzeit verbildlicht wor163 Vgl. den Spiegel menschlicher behaltnis (Bernhart Richel), München, BSB , Rar. 955, fol. 101vb. Ebenfalls Spiegel menschlicher behaltnusz (Anton Sorg), München, BSB , 2 Inc.c.a 531, fol. 56v, und Speculum humanae salvationis, Karlsruhe, BLB , Karlsruhe 3378, S. 81. 164 Vgl. KdiH, Stoffgruppe ›Biblia pauperum‹, Bd. 2, S. 258–274, 282–292 und 308–323. Vgl. auch Abb. 165 f. 165 Anzahlmässig zu zweit, zu dritt oder auch nur ein Einzelner. 166 Smith, The Power (1995), S. 194 f. (Abb. 43). 167 Kunoth-Leifels, Über die Darstellungen, S. 4–7. 168 Ebd. S. 15 f.
Erläuterungen
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den, wobei immer wiederkehrende Bildelemente sich zu einem mehr oder weniger festen Bildtyp verdichten. Bildbeschreibung Die ›Washingtoner Miniatur‹ zeigt David und Bathseba in freiem Gelände: Im Hintergrund ragt ein Turm empor, daneben steht ein Baum, im Vordergrund fliesst Wasser aus einem Brunnen. Davor sitzt Bathseba in weitem, nur bis zu den Knien reichendem Gewand, hält die eine Hand in den Wasserstrahl, umfasst mit der anderen das angezogene linke Knie. Ihr Gesicht wendet sie dem Brunnen zu, während David, der eine Krone trägt, sich von links nähert, ihr seine rechte Hand entgegenstreckt und sie anspricht. Texte Die Miniatur ist rot tituliert und mit zwei Spruchbändern versehen. Davids Spruchband wächst aus seiner Bathseba entgegengestreckten Hand, entwickelt sich in einem Bogen und endet bei seinen Füssen. Das Spruchband Bathsebas ist an ihren Füssen angesetzt, verläuft parallel zu jenem Davids in hohem Bogen nach oben und überwölbt dessen Kopf. David erbittet Bathsebas Gunst, die er verdienen will: Ker dein genad her czw mir,/ darvm wil ich dienen dir. Bathseba will um ihrer Ehre willen darauf verzichten: Her, ewr dinst wil ich enperen,/ daz ich beleib mit ern (Tafel XIV .12). Texttradition und Bildtyp Relevant für die ikonographische Umsetzung ist der biblische Bericht nach II Sm 11,2: Et deambularet in solario domus regiae, viditque mulierem se lavantem ex adverso super solarium suum, erat autem mulier pulchra valde. Im Kontext der Frauensklaven ist auch der fatale Ausgang dieser Verführung mitzudenken: Bathseba, die Frau Urias, wird gegen ihren Willen geschwängert, worauf David Uria absichtlich in die erste Heerreihe stellt und ihn dadurch dem sicheren Tod ausliefert (II Sm 11,15 ff.). David als Frauensklave und Bathseba als Verkörperung der Weiberlist figurieren neben anderen aus der Bibel bekannten Paaren, entweder in der beliebten Triade mit Samson und Salomon oder zu viert mit ebendiesen und Adam.169 Die patristische Exegese und ihre Nachfolger kennen dabei nicht nur die Verurteilung Davids, sondern auch die Aufwertung der beiden Figuren in der typologischen Auslegung: David wird zum Typus Christi, Bathseba zum Typus der Ecclesia.170 Den Übergang vom Frauensklaven zum Minnesklaven markiert 169 Smith, The Power (1990), S. 210 f. 170 Augustinus, Contra Faustum Manichaeum (PL 42,458 f.): David interpretatur Manu fortis, sive Desiderabilis: et quid fortius Leone illo de tribu Juda, qui vicit mundum [. . .]. Bersabee interpretatur Puteus satietatis, sive Puteus septimus [. . .]. Nam in Canticis canticorum sponsa illa Ecclesia est, quae vocatur puteus aquae vivae [. . .]. Verumtamen ille desiderabilis omnibus gentibus, adamavit Ecclesiam super tectum se lavantem, id est, mundantem se a sordibus saeculi [. . .] eamque sibi perpetuo connubio copulavit. Isidor von Sevilla,
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Frauensklaven
sinnbildlich die ›Dissuasio Valerii ad Ruffinum‹ des Walter Map, ein Werk, das, im Zentrum frühhöfischer Literaturproduktion entstanden,171 von der dort propagierten Minnekonzeption nicht unberührt geblieben ist. Zwar wird die krude Frauenfeindlichkeit noch einmal in allen Registern beschworen, nicht aber ohne ironische Relativierung. Nicht zufällig erfolgt diese stillschweigende Aufwertung am Beispiel der Bathseba, die gegen ihren Willen zur Verführerin werde.172 Der Wechsel vom unwürdigen Frauensklaven zum freiwilligen Sklaven im Kontext einer abstrakten Minnekonzeption ist vollzogen im höfischen Wertesystem und dort, wo man sich verbindlich an ihm orientiert.173 Als Frauensklave ist David jedoch weiter präsent im moraldidaktischen, auf die Lebenspraxis ausgerichteten Schrifttum, das die Frauenlist in den Vordergrund stellt.174 Die ikonographische Tradition setzt im 9. Jahrhundert ein mit einer Randillustration in der ›Sacra parallela‹ des Johannes von Damaskus und legt wesentliche Elemente des Bildtyps fest:175 Im Vordergrund sitzt Bathseba, taucht ihre Hand in ein Waschbecken und wäscht sich mit Hilfe einer Dienerin; im Hintergrund schaut David in Halbfigur von der Terrasse seines Palastes aus zu. Abgesehen von der Assistenzfigur, die oft um eine zweite ergänzt werden kann, ist die Szene getreu dem Bibeltext gestaltet und entwickelt sich zum gängigen Typus. Der traditionelle Ort für die Verbildlichung bleiben das ganze Mittelalter sakrale Handschriften, allen voran Psalterhandschriften und ›Bibles moralise´es‹.176 Von hier rührt auch die ikonographische Nähe zum Typ mittelalterlicher Taufdarstellungen her. Ihren Ursprung hat sie in der Analogie zwischen dem Bad der Bathseba und der Taufe der Ecclesia.177 Man kann hier von einem zweiten Typus sprechen, der sich darin
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Quaestiones in librum Regum (PL 83,430). Bruno, Expositio in psalmos (PL 152,860). Vgl. Kunoth-Leifels, Über die Darstellungen, S. 5 f. Am anglonormannischen Hof Heinrichs II . und Königin Eleonores von Aquitanien. Dazu: Walter Map, De nugis curialium (Ed. James), Einleitung, S. XXIII . Numquid innocens erit que contendet eloquencia, ut Dalila Sampsonis, et, forma, ut Bersabee, cum huius sola pulcritudo sic triumphaverit et nolens? (Walter Map, De nugis curialium [Ed. James], S. 293) Dazu: Smith, The Power (1995), S. 35 f. Beispiele bei Schnell, Causa amoris, S. 495 f und 499 f. Weitere Beispiele: Rudolf von Ems, Weltchronik (Ed. Ehrismann), V. 28631 ff. Ulrich von Etzenbach, Alexander (Ed. Toischer), V. 11563 ff. Beispiele bei Schnell, Causa amoris, S. 501 f. Ein weiteres Beispiel: Hugo von Montfort (Ed. Thurnher), Lied Nr. 24,29 ff. Kunoth-Leifels, Über die Darstellungen, S. 9 f. Dies., ›Bathseba‹, in: LCI 1, Sp. 253 f. Re´au, Iconographie, Bd. 2,1, S. 273 f. Dazu zahlreiche Verbildlichungen des Motivs in bebilderten Bibeln. Dazu: KdiH, Bd. 2, Stoffgruppe 14. Vgl. dazu ebenfalls eine historisierte Initiale zum Beatus vir-Psalm im ›Psalter des heiligen Ludwig‹ (Paris, BN , ms. lat. 10525). Abb. bei Kunoth-Leifels, Über die Darstellungen, Abb. 6. Vgl. dazu eine Illustration zum 50. Psalm in einer griechischen PsalterHandschrift: Roma (Citta` del Vaticano), BAV , Vat. gr. 752, fol. 162v. Der
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vom oben beschriebenen unterscheidet, dass Bathseba als Badende in einer Wanne dargestellt ist, die wie ein Taufbecken auf einem Fuss ruht.178 Ihr assistieren links und rechts zwei Dienerinnen, die wiederum an die strenge Symmetrie der Taufdarstellungen erinnern.179 Die Handhaltung der Dienerinnen kann dabei einfach Waschbewegungen andeuten, manchmal aber auch die feierliche Wasserbegiessung (infusio)180 oder den Segensgestus vollziehen. Die Szene spielt nicht mehr im freien Raum, sondern im Badegemach und die Davidfigur schaut dementsprechend aus nächster Nähe in das Gemach hinein.181 Der in den Texten fassbaren Emanzipation des Motivs entspricht die ikonographische Verbreitung in verschiedenen Medien und fast immer in der Reihe der Frauensklaven. Besonders verbreitet war die Darstellung auf Wandteppichen182 und in der Graphik.183 Darstellung in R Die Miniatur in R zeigt das Motiv als Szene im Freien. David steht unmittelbar vor Bathseba, die sich am Brunnen wäscht. Das Motiv ist gemäss dem erstbeschriebenen Typ realisiert und weicht davon nur in der Positionierung der Davidfigur ab. Bemerkenswert ist das Spruchband Bathsebas, das den Kopf Davids in einem weitläufigen Bogen umfasst und seine ihn verführende ›Gefangennahme‹ durch Bathseba sinnbildlich zum Ausdruck bringt.
6.1.3.13 Parzival (Tafel XIV .13) Der Dienst an ›Frau Minne‹ ist ein zentraler Punkt der höfischen Minnekonzeption, er ist vielleicht am konsequentesten problematisiert in Wolframs ›Parzival‹.184 Der Protagonist Parzival erscheint in Frauensklaven-
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typologische Bezug ist explizit in einer ›Bible moralise´e‹ in einem Medaillonpaar illustriert: Oxford, Bodl., MS . Bodl. 270b, fol 152r. Vgl. eine Illustration in einer weiteren ›Bible moralise´e‹: Paris, BN , ms. fr. 167, fol. 76v. Taufe und Bad sind in der Figurendisposition ähnlich angelegt. Aus dem Palast Davids im Hintergrund wird in der Taufszene eine Kirche. Dazu: Kunoth-Leifels, Über die Darstellungen, S. 10 f. (Abb. 5 ff. und 9). Die mittelalterlichen Taufdarstellungen erfolgen in einem Taufbrunnen, aus dem der Täufling wie ein Badender herausragt. Mielke, ›Taufe, Taufszenen‹, in: LCI 4, Sp. 246. Bis im frühen 14. Jh. erfolgt die Taufe in der Form der immersio (Schiller, Ikonographie, Bd. 1, S. 142). Mielke, ›Taufe Jesu‹, in: LCI 4, Sp. 249. Schiller, Ikonographie, Bd. 1, S. 150. Ebenfalls zu diesem Typus gehört die Plastik am Südportal der Westseite der Kathedrale von Auxerre. Kunoth-Leifels, Über die Darstellungen, Abb. 8. So schon auf dem erwähnten Teppich von 1522 des Schweizerischen Landesmuseums in Zürich. Dazu: Smith, The Power (1995), S. 194 f. (Abb. 43). Kunoth-Leifels, Über die Darstellungen, S. 23–27. Ebd. S. 26 f., und Haeberlein, ›Bathseba‹, in: RDK 1, Sp. 1519. Zu denken ist an das Minnepaar Parzival und Condwiramurs wie auch an
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Katalogen nicht nur zusammen mit weiteren Figuren aus dem höfischen Roman, sondern auch mit Figuren aus biblischen und antiken Stoffbereichen.185 Bildbeschreibung R stellt Parzival im buhurt dar. Parzival und ein zweiter Ritter (links) reiten gegen zwei unbezeichnete Gegner (rechts) an. Parzivals Gegenüber trifft ihn mit der Lanze, während er selbst sein Schwert schwingt. Die Kampfhandlung seines Begleiters und dessen Gegners wird vom vorderen Paar zum Teil verdeckt. Die Ritter sind alle mit geschlossenen Helmen ausgerüstet. Parzival ist in voller Ritterrüstung dargestellt: in Hundsgugel, Waffenrock und Kettenhemd, das an seinen Armen sichtbar ist, mit Handschuhen sowie Schnabelschuhen mit Spornrädchen. Texte Der Titulus ist in roter Tinte rechts neben dem Kopf Parzivals angeschrieben. Der Rahmen der Miniatur ist mit zwei Verspaaren zu drei Vierteln gefüllt. Der Text hat die dilemmatische Situation des leidgeprüften Minneritters zwischen dienst und lon bzw. leit und lieb zum Gegenstand. Das erste Verspaar thematisiert allgemein den ehrenhaften Tod als Lohn für den Minnedienst – Wer frawen lön mit diensten erwirbt,/ czwar mit eren er wol stirbt –, das zweite fokussiert das Minneleid Parzivals: durch frawen willen leid ich dy¨ not,/ wenn si mir cze dien gepot (Tafel XIV .13). Texttradition und Bildtyp Die Figur ist seit Wolframs Bearbeitung von Chrestiens ›Conte du Graal‹ als Vergleichs- und Exempelfigur vielfach rezipiert und diskutiert worden. Seine Funktionalisierung als Minnesklave ist Ausdruck einer selektiven Rezeption des Werkes als Minneroman.186 Die Parzival-Ikonographie zeigt die Figur entweder als Teil eines ganzen oder ausschnitthaften Zyklus187 oder als Einzelbeispiel, sozusagen »›emblematisch‹ sich Gawans Aventiuren im Dienst der venushaften Orgeluse. Der Dienst-LohnGedanke spiegelt sich auch in Wolframs vielfachen Gebrauch von DienstLohn-Metaphern. Dazu: Wessel, Probleme der Metaphorik, S. 439 f. Ganz entschieden von der Vorstellung eines Verdienens der Liebe weicht die Tristanliebe ab, wo die Dienst-Lohn-Mechanik zugunsten einer Liebe aus unabwendbarem Schicksal irrelevant wird. Ein exemplarischer Minneleidender ist Tristan aber in jedem Fall, unabhängig von den Voraussetzungen, auf denen sein Minneleid basiert, und so reiht er sich gut in die Reihe der Minnesklaven ein. 185 So im Roman ›Amadas et Ydoine‹ (Ed. Reinhard), V. 5833–64. Vgl. Smith, The Power (1995), S. 44 f. 186 Den ›Parzival‹ als Minneroman behandelt Karg, sıˆn süeze suˆrez ungemach, bes. S. 66–68. 187 Hier ist zu unterscheiden zwischen handschriftlichen und ausserhandschrift-
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verselbständigend«. 188 In der ›Washingtoner Reihe‹ figuriert Parzival als herauslösbares Einzelbeispiel, in der Konstanzer Reihe im ›Haus zur Kunkel‹ ebenfalls (Abb. 35). An beiden Zeugnissen lässt sich auch die Breite der Darstellungsmöglichkeiten aufzeigen: Der Zeichner benützt den Typus des ritterlichen Zweikampfes; die Konstanzer Darstellung greift auf den Typus der Umarmungsszene zurück, die ihre Vorbilder in der sakralen Bildtradition hat.189 Beide Male werden zwei Aspekte derselben Sache akzentuiert: einmal mehr ritters orden, das andere Mal mehr wibes orden.190 Gerade im Konstanzer ›Haus zur Kunkel‹ zeigt sich die Breite der Deutungsmöglichkeiten. Einmal dient Parzival als Minnesklave wibes orden – er küsst Condwiramurs eng umschlungen (Medaillonreihe),191 ein andermal auf der gegenüberliegenden Wand ist er dargestellt als vorbildlicher Minneritter innerhalb eines ausschnitthaften Zyklus, der unmittelbar vor der Krise des Helden abbricht.192 Darstellung in R Die Zeichnung wirft Fragen auf: Weshalb kämpft Parzival mit dem Schwert gegen einen mit einer Turnierlanze bewaffneten Gegner? Wie ist die Scharte im Helm von Parzivals Begleiter zu erklären? Was die Texte betrifft, ist das zweite Verspaar, das ursprünglich als Figurenrede Parzival zugeordnet war, in den Rahmen verlegt.
6.1.3.14 Die Buhlschaft im Baum (Tafel XIV .14 und 15) Die beiden letzten Miniaturfelder zeigen eine Illustration der sogenannten Buhlschaft im Baum, eines schwankhaften Märes, das mit dessen Kernmotiv ›Der verzauberte Birnbaum‹193 indexiert wird. Die Bezeichnung verdunkelt mehr, als dass sie thematische Zusammenhänge erhellt. Das Verbindende aller darunter subsumierten Erzählungen ist der doppelte Betrug einer Frau (Typ der listigen Frau) an ihrem Mann (Typ des senex amans). Der Betrug wird notwendig durch den aufgedeckten Ehebruch. Die Erzählung spezialisiert das Motiv der angeblichen Sinnestäuschung insofern, als der Mann statt der vorgeblichen Fehlsichtigkeit wirklich blind ist und die Frau ihm mit einem zweiten Betrug glaubhaft machen kann, den Ehebruch widerwillig als Mittel zur Rückgewinnung seiner Sehkraft, also als Opfer aus Fürsorge und Mitleid begangen zu haben. Der Ehebruch wird folglich nicht
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lichen Zeugnissen, vor allem Wandgemälden oder Wandteppichen. Dazu: Schirok, Parzivalrezeption, S. 134–151. Ders., Die Parzivaldarstellungen, S. 172–190. Ott, Zur Ikonographie, S. 119. Müller, Minnebilder, S. 28 ff. (Abb. 10–15 und 22–25). Wolf, Ein maere wil ich niuwen, S. 24–42. Wunderlich, Weibsbilder, S. 154 ff. Ott, Zur Ikonographie, S. 117 ff. Schirok, Die Parzivaldarstellungen, S. 184ff. Bratcher, in: EM 2, Sp. 417–421 (AhTh 1423).
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verurteilt, sondern durch den zweiten Betrug nachträglich legitimiert.194 Die deutschen Erzählungen hängen – geistlich-lehrhaft akzentuierend – einen Schwank vom Typ ›Christus und Petrus auf Wanderschaft‹195 an. Christus und Petrus können nach dem Eingreifen Christi auf Verlangen Petri die Szene nur ohnmächtig kommentieren. Was bleibt, ist der gescheiterte Versuch, die Pervertierung der göttlichen Ordnung am Beispiel einer wortfindigen Sünderin rückgängig zu machen, und die zynisch ausgekostete Selbstwiderlegung Christi und seines Apostels. Bildbeschreibung Der Langfassung entsprechend ist die Erzählung in R illustriert. Die erste Miniatur ordnet die Figuren symmetrisch um den Baum. Links steht Christus und weist mit seiner linken Hand auf den sitzenden und mit beiden Armen und Beinen den Baumstamm umklammernden Blinden. Rechts steht Petrus und schaut zum Liebespaar im Baum hinauf. Seine rechte Hand folgt der Blickrichtung. In der linken Hand hält er sein Attribut, den Schlüssel. Christus und Petrus tragen beide Nimben und sind in lange Gewänder gekleidet. Der Nimbus Christi ist rot als Kreuznimbus hervorgehoben. Petrus ist wie üblich glatzköpfig dargestellt. Der Blinde trägt einen Hut mit aufgeschlagener Krempe. Im nicht näher spezifizierten Baum liegt die Frau des Blinden mit ihrem Geliebten in enger Umarmung. In der zweiten Miniatur wiederholt sich die Symmetrie der ersten. In der Mitte schlägt der Blinde mit seiner Krücke auf seine Frau ein. Er stützt sich dabei auf eine Art Schemel, ein von Krüppeln benutztes ›Laufgerät‹. Die Frau steht links und trägt jetzt eine Krone, während der Geliebte zur Rechten des Blinden ihnen zuschaut. Er hält beidhändig ein Schwert, das er vor seinen Füssen abgesetzt hat. Rechts neben der Miniatur ist auf dem Rand eine blattlose, aber blütenreiche Pflanze angebracht. Die zwei Spruchbänder stützen den symmetrischen Aufbau: sie sind links und rechts des Kopfes des Blinden angesetzt und umfassen jeweils in einem Bogen die seitlichen Figuren. Texte Die Miniatur ist mit Titulus und Spruchbändern ausgestattet. Der Titulus bezeichnet Christus und ist rechts seines Kopfes angebracht. Die Spruchbänder gehen alle mit einer Ausnahme in den Rahmen ein: das aus den Händen Christi laufende Band in den unteren, dasjenige Petri in den rechten und das Spruchband der Frau in den oberen. Dazu wird auch der Rahmen der darüber stehenden Miniatur mit 194 Zu Motivik, Quellen und Thematik vgl. Novellistik des Mittelalters (Ed. Grubmüller), S. 1115 ff. Beyerle, Der doppelte Betrug, S. 75. 195 Moser, ›Christus‹, in: EM 2, Sp. 1421 f. Lixfeld, ›Christus und Petrus im Nachtquartier‹, in: EM (2), Sp. 1437–1440 und ders., ›Erdenwanderung‹, in: EM 4, Sp. 160 f. Die Verbindung beider Erzählungen findet man schon in einem italienischen Novellino vom späten 13. Jh. Dazu: Novellistik des Mittelalters (Ed. Grubmüller), S. 1117.
Erläuterungen
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Text gefüllt. Das Spruchband selbst, das am Kopf der Frau angesetzt ist, bleibt bis zum Einlaufen in den Rahmen leer. Das Spruchband des Blinden entwickelt sich in S-Form aus seiner Hand. Petrus klagt Christus den Betrug an dem Blinden – Siech an,/ her maister, wie betrogen wirt der man –, worauf Christus diesen sehend macht: Dar vm schol er gesehen,/ waz sein fraw well iehen. Der Blinde wirft der Frau Liebesbetrug vor: Fraw, ich daz siech,/ daz man mynt dich. Diese fordert ihren Mann im Gegenzug zum Dank für ihre ›Mithilfe‹ bei der Wiedererlangung der Sehkraft auf: Da mit han ich geholffen dir./ Deins ges‹e›hencz soltu danckchen mir (Tafel XIV .14). In der zweiten Miniatur ist das linke Spruchband der Frau zugeordnet – vil liebez, lieb daz mein,/ la czweren gein mir sein –, das rechte gehört zur Figur des Blinden und läuft wiederum in den Rahmen ein. Der Blinde schlägt seine Frau trotz ihrer Umstimmungsversuche: Ich hie dein lang gewart,/ darvm will ich hart slahen (Tafel XIV .15). Texttradition und Bildtyp Das Grundmotiv der Sinnestäuschung als Ausflucht bei entdecktem Ehebruch ist orientalischen Ursprungs196 und in zwei Redaktionen überliefert: in der wahrscheinlich früheren Redaktion A (optische Täuschung aufgrund von Fehlsichtigkeit des Betrogenen)197 und in der Redaktion B (Blindheit des Betrogenen).198 Die Ausgestaltung des Motivs erfolgt durch die Kombination des Grundmotivs mit drei weiteren Motiven:199 erstens einer Präzisierung des Ortes durch das Motiv des verzauberten Birnbaums, zweitens einem Plus an Motivierung des Betrugs durch das Motiv der angeblichen Heilung durch das Rezept des Ehebruchs und drittens einer Aufstockung der Figurenzahl durch das Motiv der Wanderschaft Christi und Petri auf Erden. Alle drei Nebenmotive sind mit feinen Umakzentuierungen kombiniert im deutschen Märe der ›Buhlschaft im Baum‹,200 hier nicht zum ersten Mal, aber besonders raffiniert: Anstelle des Birnbaums steht eine Linde,201 von der zur 196 Vgl. Die Erzählungen aus 1001 Nächten (Ed. Greve), S. 382 ff. Zu den orientalischen Erzählungen vgl. Beyerle, Der doppelte Betrug, S. 66–69. 197 Zum Beispiel in der Fabelüberlieferung bei Marie de France, De muliere et proco eius (Ed. Gumbrecht), S. 150 ff., in der Exempelliteratur (Jacques de Vitry [Ed. Frenken], Nr. 251), im Fabliau ›Du prestre ki abevete‹ des Garin (Ed. de Montaiglon/Raynaud) und als deutschsprachiges Märe in ›Kerbelkraut‹ und in der ›Frauenlist‹ (Märendichtung [Ed. Fischer], Nr. 37 und 68). 198 So in einem Novellino des späten 13. Jhs. (Novelle antiche [Ed. Papanti], S. xliijf.), im ›Decameron‹ Boccaccios, Nr. VII ,9 und in Chaucers ›Merchant’s Tale‹ (Ed. Benson), S. 153–168. 199 Novellistik des Mittelalters (Ed. Grubmüller), S. 1115. 200 Das Märe ist in einer mhd. Fassung A (256 V.) und in einer mnd. Fassung B (74 V., fragmentarisch) überliefert. Fassung A ist ediert und kommentiert in: Novellistik des Mittelalters (Ed. Grubmüller), S. 244–259. ›Die Buhlschaft im Baum‹ kann man mit Fischer als schwankhaftes Märe bezeichnen (Märendichtung [Ed. Fischer], S. 101–109). 201 Die Linde ist vielerorts der Baum der Liebesbegegnung.
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Frauensklaven
Täuschung Äpfel fallen gelassen werden. Dadurch werden die Konnotationen der Minne und des Sündenfalls hervorgerufen. Der heilige Petrus wird als lächerliche Figur nicht nur durch Frauenlist vorgeführt, sondern sieht sich ausserdem mit einer Parodie Christi konfrontiert, der sich lediglich zu einem »ungerührten Kommentar seiner verderbten Schöpfung«202 hinreissen lässt. Das Märe erzählt die folgende Handlung: Eine Frau betrügt ihren blinden Ehemann unter dem Vorwand, Äpfel zu schütteln. Während sie sich mit einem Scholaren im Baum vergnügt, der beim Liebesakt Äpfel aus einem Umhang schüttelt,203 umfasst der eifersüchtige Blinde auf Anraten seiner Frau den Baumstamm, um sie vor Liebhabern zu bewahren. Christus und Petrus, die auf Erden wandeln, werden Zeugen dieser Szene. Petrus interveniert zweimal, um den Betrug aufzudecken, indem er Christus veranlasst, den Blinden sehend zu machen, und indem er selbst Anklage erhebt. Beide Male gelingt es der Frau, ihr Vergehen durch List und Täuschung zu rechtfertigen. Petrus wird anschliessend von Christus darüber belehrt, dass man dem Sünder vieles verzeihen soll.204 Die Märenrezeption im Bild ist generell nur in wenigen Zeugnissen fassbar.205 Die Darstellung der ›Buhlschaft im Baum‹ steht der Ikonographie des Sündenfalls nahe und spielt mit diesem Deutungshorizont, wie übrigens schon die deutschen Texte, die dem Betrug das gemeinsame Essen des Apfels vorschalten.206 Die ikonographische Abhängigkeit vom Bildtyp des Sündenfalls ist von Fall zu Fall neu zu klären. Gewiss ist die bildliche Realisierung des Stoffes primär eine Umsetzung des literarischen Vorläufers, versteckte Bezüge zum Bildmuster der Sündenfall-Ikonographie sollten aber immer mitberücksichtigt werden, bedenkt man die fundamentale Bedeutung sakraler Bildmuster für die profane Ikonographie.207 Darstellung in R Die bildliche Umsetzung des Märe als ›visuelles‹ Exemplum erfolgt in R anhand von zwei Bildern, die Betrug und Bestrafung gleichgewichtig nebeneinander anordnen. Die Verbildlichung der Bestrafung drängt sich insofern auf, als der zweite Teil des Märe davon handelt, bedeutet aber auch eine Umakzentuierung von dem 202 203 204 205
Novellistik des Mittelalters (Ed. Grubmüller), S. 1117. Ebd. V. 130 ff. Ebd. V. 244. Märendichtung (Ed. Fischer), S. 243 f. Lutz, Das Diessenhofener Liederblatt, S. 58–63. Eine Darstellung der ›Buhlschaft im Baum‹ findet sich als Wandmalerei im Zürcher ›Haus zur Mageren Magd‹ (um 1370). Nach der ›Baumgartenszene‹ des ›Tristan‹, zwei Spielszenen (Quintana- und Pfänderspiel) und einer nicht mehr zu identifizierenden Szene bildet die ›Buhlschaft‹ den Abschluss dieses in fünf Szenen durch Bäume und Baumgruppen unterteilten Minnegartens. Dazu: Lutz, Der Minnegarten, S. 380 ff. (Abb. 10). Von Clapare`de-Crola, Profane Wandmalerei, S. 52–55. 206 Novellistik des Mittelalters (Ed. Grubmüller), V. 86–94. 207 Für die ›Baumgartenszene‹ des ›Tristan‹ hat dies Curschmann gezeigt (Images of Tristan, S. 1–17). Allgemein zum Umgang mit sakralen Bildmustern in der profanen Minneikonographie vgl. Müller, Minnebilder.
Erläuterungen
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im Text misslungenen Bestrafungsversuch hin zu einer gelungenen Bestrafung, die den Betrogenen vollständig rehabilitiert. Die Darstellung tendiert also zur klassischen moralischen Scheidung zwischen Belohnung des Betrogenen und Bestrafung der Betrügerin. Die Texte der Spruchbänder beanspruchen, bedingt durch die Anzahl der Figuren und die daraus resultierende Platznot, fast alle den Bildrahmen. Wichtige Details wie die Darstellung der herabfallenden Äpfel oder die Spezifizierung des Baumes zur Linde fehlen. Die Leserichtung des ersten Bildes erfolgt von den Bildflanken zur Bildmitte und von dort hinauf zum Liebespaar im Baum, d. h. der Betrug ist gerahmt durch die Intervention Petri und die Ausrede der Frau. Dazwischen steht das Wunder Christi und die Beobachtung des nun Sehenden. Das zweite Bild knüpft unmittelbar an mit der ausfallenden Reaktion des Betrogenen und der vergeblichen Bitte der Frau um Schonung. Die Frau trägt eine Krone, die keinen Bezug zur Erzählung hat und wohl versehentlich eingezeichnet wurde. Die Figur rechts ist wohl mit dem Liebhaber zu identifizieren.
6.1.3.15 Judith und Holofernes (Tafel XV .1) Die zweite Frauensklaven-Seite setzt die Reihe fort mit dem alttestamentlichen Figurenpaar Judith und Holofernes. Wie schon Bathseba ist Judith im Mittelalter, auf konkreten Bibelstellen fussend, durchwegs eine positive Figur, sei es in allegorischer Auslegung als Verkörperung der humilitas und continentia im Gegensatz zur superbia und luxuria des Holofernes, sei es in typologischer Deutung als Präfiguration der ecclesia.208 In der Reihe der Frauensklaven rückt diese Vorstellung jedoch ganz in den Hintergrund; Opfer- und Täterrolle werden vertauscht und Judith als warnendes Beispiel den übrigen Frauengestalten gleichgeschaltet. Bildbeschreibung Die Enthauptung des Holofernes ist in R wie folgt verbildlicht:209 Judith steht in weitärmligem, langem Gewand in der Bildmitte zwischen dem geköpften Holofernes links und einer befestigten Stadt rechts. Mit ihrer linken Hand hebt sie den gekrönten Kopf des Holofernes zur Stadt hin hoch, mit der rechten weist sie zu Boden. Unter ihren Gürtel hat sie ihr Schwert geschoben, das, mit der Spitze nach oben, weit über ihre Schulter aufragt. Der enthauptete Holofernes liegt auf seinem Schlaflager unter einem Baldachin und greift mit seiner rechten Hand nach Judith. Die Stadt zur Rechten besteht aus zwei Türmen, die von einer Mauer umgeben sind. Hinter dieser ist der Kopf eines behelmten Wächters sichtbar, der zum Haupt des Holofernes emporschaut.
208 Seibert, ›Judith‹, in: LCI 2, Sp. 454–458. Re´au, Iconographie, Bd. 2,1, S. 330. Lerchner, Lectulus floridus, S. 38 (Abb. 5). 209 Zu dieser Darstellung vgl. auch Lähnemann, Hystoria Judith, S. 427–429 und Lähnemann, The Cunning, S. 243–245.
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Frauensklaven Texte
Der Text zur Miniatur ist in roter Textura geschrieben. Die Namen der Figuren sind im oberen Rahmen zentriert angebracht. Der Name der Stadt steht nahezu rechtsbündig über dem Rahmen: Beide Textteile, pecula, die Stat und Judich, Oliuerius (Tafel XV .1), sind als Tituli gedacht. pecula bezeichnet die biblische Stadt Bethulia.210 Texttradition und Bildtyp Die alttestamentliche Geschichte aus dem apokryphen Buch Judith berichtet von der Überwindung des assyrischen Feldherren Holofernes durch die israelitische Witwe Judith. Holofernes belagert die Stadt Bethulia (Jdt 7). Kurz vor der Kapitulation entschliesst sich Judith, ihre Heimatstadt zu retten. Sie begibt sich in das Lager der Feinde und bewegt durch ihre Schönheit und Klugheit Holofernes dazu, ein Gastmahl zu geben. Nach dem Gelage bleibt sie mit dem eingeschlafenen Holofernes im Zelt zurück und schlägt ihm mit seinem eigenen Schwert den Kopf ab: adprehendit comam capitis eius et [. . .] percussit bis in cervicem eius et abscidit caput eius (Jdt 13,9). Sie verlässt unbemerkt das Lager und bringt das Haupt des Feindes nach Bethulia, wo es zur Abschreckung und Vertreibung der Gegner an der Stadtmauer aufgehängt wird (Jdt 14 f.). Judith ist für das ganze Mittelalter ein Vorbild an Glaubenseifer211 und wird in der Bibelexegese entsprechend ausgelegt.212 Das Bild der unerschütterlichen Glaubensstärke wird volkssprachig weitervermittelt in der ›Älteren‹ und ›Jüngeren Judith‹, und besonders die jüngere Fassung würdigt sie als Heilige. Diese Tradition findet ihren Fortgang im volkssprachigen Bibelschrifttum.213 Zitate des biblischen Paares im FrauensklavenKontext sind eher selten.214 Ikonographisch ist die Enthauptung des Holofernes hauptsächlich in Handschriften (Bibelillustration), in der Monumentalkunst und in der Textilkunst gegenwärtig, isoliert oder als Teil eines Zyklus.215 Für die Enthauptung im zyklischen 210 Jdt 7,1. 211 Honorius von Autun, Speculum ecclesiae (PL 172,896): omnium ore usque hodie laude digna triumphat. 212 Hrabanus Maurus bezeichnet sie als exemplar castitatis und Präfiguration der ecclesia universa perpetua victoria triumphans (Expositio in librum Iudith [PL 109,540 ff.]). Zur allegorischen Auslegung der Enthauptungsszene siehe ebd. Sp. 572 f. Vgl. auch die Darstellung Judiths als Assistenzfigur beim Sieg der humilitas über die superbia im ›Speculum virginum‹ (London, BL , MS Arundel 44, fol. 34v). Dazu: Greenhill, Die geistigen Voraussetzungen, Abb. 5. 213 Beispielsweise in den deutschen Historienbibeln (Ed. Merzdorf), S. 509 ff. 214 So in der französischen Prosabearbeitung von Benoıˆts ›Roman de Troie‹ (Ed. Constans/Faral) Bd. 1, S. 162: Le duc Oliferne, por la covoitise de Judith, recuit mort par sa main, ja soit il chose que ce fu par la volente´ Nostre Saignour, qui le vost por delivrer son pueple, mais li dus n’i avoit nulle entension se mauvaise non. Dazu: Schnell, Causa amoris, S. 500. 215 Re´au, Iconographie, Bd. 2,1, S. 329–335. Van Marle, Iconographie, Bd. 2, S. 479–490 (Taf. 493–503). Stammler, Deutsche Philologie, Bd. 3, Sp. 681.
Erläuterungen
231
Kontext216 hat sich der folgende Bildtyp durchgesetzt: Judith steht am Schlaflager des Holofernes, fasst mit der einen Hand dessen Haar und schwingt mit der anderen das Schwert bzw. den Dolch.217 Dargestellt ist in der Regel Holofernes’ grosses Zelt als Ort der Mordtat. Die Szene ist oft nicht genau von der folgenden zu trennen, die zeigt, wie Judith den Kopf in einen Sack gleiten lässt, der von einer Dienerin gehalten wird. Das Paar ist auf einem Teppich mit Frauenlisten von 1522 (Schweizerisches Landesmuseum in Zürich)218 und auf einem andern von 1540 (Historisches Museum der Pfalz in Speyer) eingewirkt.219 Darstellung in R Die Darstellung komprimiert zwei Szenen in einem Bild: die Enthauptung Holofernes’ und die Rückkehr Judiths nach Bethulia. Das Bild liest sich von links nach rechts, setzt ein nach der Enthauptung, von der der kopflose Leichnam des Holofernes’ in seinem Zelt zeugt, und endet mit dem Vorzeigen des Hauptes: Triumphierend zeigt Judith dem Stadtwächter hinter dem schwer beschlagenen Stadttor den Kopf ihres entmachteten Widersachers.
6.1.3.16 Karl der Grosse (Tafel XV .3 und 4) Ikonographische Rarissima sind die beiden letzten Miniaturen der Frauensklaven-Reihe: die Darstellung der ›Sünde Karls des Grossen‹ und das inzestuöse Vergehen des Philosophen Secundus an seiner Mutter.220 Bemerkenswert ist nicht nur die Einmaligkeit beider Szenen in der mittelalterlichen Ikonographie, sondern auch ihre Inserierung in eine Frauensklaven-Reihe. Karl der Grosse wurde im Mittelalter mannigfach idealisiert und mythisiert und hatte gerade für das volkssprachige Laienpublikum einen ausserordentlichen Identifikationswert. Seine Heroisierung basiert auf drei Hauptmeriten: Das sind einmal seine Eigenschaft als gerechter Herrscher (rex iustus), dann sein Einsatz als Streiter für das Christentum (verus apos216 Ist die Szene aus dem szenischen Zusammenhang gelöst, wird oft im Anklang an die Tugend- und Lasterillustrationen der ›Psychomachie‹ ein Bildtyp realisiert, bei dem Judith als Siegerin auf dem besiegten Holofernes steht. So etwa im ›Speculum virginum‹. 217 Jdt 13,8: et pugionem eius qui in ea [columna ad caput lectuli] ligatus pendebat exsolvit. 218 Van Marle, Iconographie, Bd. 2, Taf. 495. 219 Zu weiteren Darstellungen ausserhalb des Topos der Frauensklaven vgl. KdiH, Bd. 2, Stoffgruppe ›Bibeln‹ (Abb. 58). Zahlreiche Illustrationen sind auch in den Frühdrucken des ›Speculum humanae salvationis‹ zu finden (Vgl. Anm. 163). Vgl. ebenfalls die Darstellung im ›Hortus deliciarum‹ des Honorius Augustodunensis (Ed. Green, Bd. 2, S. 99). 220 Vgl. Wirth, Lateinische und deutsche Texte, S. 261 f.
232
Frauensklaven
tolus und fortis athleta) und drittens seine Verdienste als Schutzherr der Kirche (defensor ecclesiae).221 Gleichsam ein Nebenstrang, aber nicht weniger bedeutsam für die Legendenbildung, ist die Charakterisierung Karls als Sünder. Karls historiographisch nicht verbürgte Sünde soll einerseits in seinem inzestuösen Vergehen an seiner Schwester, andererseits in seiner sündhaften Liebe zu seiner toten Gemahlin bestehen. Bildbeschreibung R visualisiert Karls Sünde als Bettszene (Tafel XV .3). Karl liegt mit einer Frau im Bett und umgreift mit beiden Händen die Brüste der obenauf liegenden Partnerin. Das Bett nimmt längsseits die ganze Bildbreite in Anspruch. Im Hintergrund ist die Front eines sakralen Bauwerks sichtbar, bestehend aus drei schmalen Türmen und zwei Dachgiebeln mit Vielpassbogen. Texte Die Miniatur ist zweimal mit Rex karolus (Tafel XV .3) tituliert, einmal in schwarzer, einmal in roter Tinte. Texttradition und Bildtyp Die Historiographie über Karl den Grossen setzt mit der ›Vita Karoli Magni‹ ein, einer panegyrisch gefärbten Biographie aus der Feder des Zeitgenossen Einhard, die es bei einer Aufzählung der Ehefrauen Karls belässt.222 Schon bald danach ist aber in der monastischen Visionsliteratur von den Sünden Karls die Rede. Karl wird entweder im Fegefeuer erblickt, oder seine Verfehlungen werden angeprangert.223 Den Ausschlag für die grosse Verbreitung des Motivs gab die Verbindung des Themas von Karls Sünde mit der Legende des heiligen Ägidius, wie sie zum ersten Mal und am wirkungsmächtigsten in der ›Vita sancti Aegidii‹ auftritt.224 Dieser hagiographische Bericht erzählt, wie Ägidius während der Messfeier ein Engel mit einem Pergamentzettel erscheint, auf dem Karls Sünde detailliert beschrieben ist, wie diese ihm aber auf Interzession des Heiligen hin erlassen 221 Repräsentativ für das Karlsbild ist das ›Aachener Privileg‹ Friedrichs I . vom 8. Januar 1166, ein politisches Dokument, das im Kontext der Karlskanonisation die Verdienste des Kaisers aufzählt (Aachener Privileg [Bearb. Appelt], Nr. 502, S. 432). Zum Karlsbild vgl. Saurma-Jeltsch, Karl der Grosse, S. 10– 13. 222 Einhardi Vita Karoli Magni (Ed. Waitz/Holder-Egger), Kap. 18. 223 Vgl. die Visio Wettini des Walahfrid Strabo: In his cruciatibus/ restat ob hoc, quoniam bona facta libidine turpi/ Fedavit, ratus inlecebras sub mole bonorum/ Absumi, et vitam voluit finire suetis/ Sordibus. Ipse tamen vitam captabit optimam,/ Dispositum a domino gaudens invadet honorem (Ed. Knittel, V. 460–465). Dazu: Folz, Le Souvenir, S. 10 ff. 224 Vgl. Geith, Carolus Magnus, S. 77 f. Grundlegend zur Sünde Karls des Grossen: Lejeune, Le pe´che´, S. 339–371. Ebenfalls: Martinet, Le pe´che´, S. 9–16.
Erläuterungen
233
wird.225 Die ›Vita‹ wurde in zahlreichen Redaktionen tradiert und in die Volkssprachen übersetzt. Sie diente als Ausgangspunkt für weitere Werke, die sich mit Karls Sünde befassen. Sie lassen sich in zwei Gruppen einteilen. Zur ersten gehören jene Werke, die in Anlehnung an die ›Vita‹ auf Karls Sünde nur diskretverschwiegen anspielen und damit auch offen lassen, um welches Vergehen es sich handelt. Zur zweiten Gruppe gehören jene Zeugnisse, welche Karls Vergehen als Inzest an seiner Schwester Gisila spezifizieren und die inzestuöse Geburt Rolands explizit herausstreichen226 oder aber die Beschlafung seiner toten Gemahlin konkretisieren. Auf die Sünde wird diskret angespielt in der ›Chanson de Roland‹,227 in der ›Kaiserchronik‹,228 im ›Rolandslied‹,229 wie auch im ›Karl‹ des Stricker.230 Zu den beredsameren Zeugnissen gehören die ›Karlamagnus Saga‹,231 der Tristanroman des Jean d’Outremeuse232 wie das provenzalische Fragment ›Ronsavals‹.233 Die Versündigung Karls an seiner toten Gemahlin wird in der ›Welt225 Vgl. La vie de saint Gilles par Guillaume de Berneville (Ed. Paris/Bos), S. LXIV–LXVIII . Folz, Le Souvenir, S. 167 f. Lejeune, Le pe´che´, S. 341 f. 226 Diese Gruppierung nach Lejeune, Le pe´che´, S. 342 f. Siehe auch: Lejeune/ Stiennon, La Le´gende, Bd. 1, S. 145 f. 227 Auf die inzestuöse Geburt Rolands wird angespielt in der Auseinandersetzung zwischen ihm und Ganelon, die sich im Gegensatz parastre – filliastre kristallisiert. (La Chanson de Roland, [Übers. Klein], V. 274–318). Dazu: Lejeune, Le pe´che´, S. 354–368. 228 Kaiserchronik (Ed. Schröder), V. 15015–15068. Vgl. Geith, Carolus Magnus, S. 78 f. 229 Daz urchunde wir uon sant Egidien haben,/ daz er unseren herren umbe in bat,/ daz er im aine sculde uirgab (Das Rolandslied des Pfaffen Konrad [Ed. Wesle], V. 3005 ff.). 230 Stricker (Ed. Bartsch), V. 3544–3556. Vgl. Geith, Carolus Magnus, S. 177 ff. Weitere Beispiele bei Lejeune, Le pe´che´, S. 342 f. 231 Karlamagnu´s saga [Ed. Hieatt], Bd. 1, Kap. 36: King Karlamagnus went to Eiss, and ther he found Gilem, his sister. He led her into his sleeping hall, and slept next to her, so that he felt love for her, and then lay together. Afterwards he went to church, and confessed to Egidius all his sins except this one; Egidius blessed him and went to Mass. And as he sang low Mass, Gabriel, God’s angel, came, and laid a letter on the paten. On it was written that King Karlamagnus had not confessed all his sins: ›He has lain with his sister, and she shall give birth to a son who shall be named Rollant‹. Vgl. Krappe, Über die Sagen, S. 161 f. 232 Jean d’Outremeuse, Tristan de Nanteuil (14. Jh.) (Ed. Paris [Guillaume de Berneville, La vie de saint Gilles]), S. XCVIII–CX : Le peche´ fut orribles, on ne le sot neant;/ Mais ly aucun espoirent, et tous ly plus sachant,/ Que se fut le peche´ quant engendra Roland/ En sa sereur germaine; si va on esperant/ Car il n’est nul qu’au vray nous en soit recordant;/ Mais ensement le vont pluseurs signiffiant. 233 Ed. Roques, S. 458: Bel neps, yeu vos ac per lo mieu peccat gran/ De ma seror e per mon falhimant,/ Qu’ieu soy tos payres, tos oncks eyssamant,/ E vos, car senher, mon neps e mon enfant.
234
Frauensklaven
chronik‹ des Jans Enikel breit ausgeführt.234 Als Minnesklave ist Karl der Grosse literarisch nicht belegt.235 Karls Sünde oder besser ihr Erlass wird ikonographisch als Beichte vor Ägidius visualisiert.236 Karl gesteht dem Heiligen, vor ihm kniend oder ihm zu Füssen liegend, seine Sünde.237 Die Szene ist fast ausschliesslich in geistlichem Kontext verbildlicht.238 Auch dort, wo der Karl-Roland-Stoff in profanem Kontext aufgegriffen und illustriert wird, zeugt die materielle Ausstattung von einer mit der gelehrt-sakralen Ikonographie durchaus vergleichbaren Anspruchsaura.239 Darstellung in R Die Bettszene bleibt vage: Auf beide Legenden, jene von der Beschlafung seiner Schwester wie jene von der perversen Liebe zu seiner toten Gemahlin, könnte angespielt sein. Beide sind in Verbindung mit der Ägidius-Legende überliefert. In krassem Gegensatz zu der hochstehenden Karl-Ikonographie steht die ›Washingtoner Miniatur‹. Die Erzählung von der Sünde Karls, seiner Busse und der Vergebung ist auf eine Bettszene zugespitzt und damit in der Akzentuierung weit entfernt von der sonst hochstilisierten Beichte des Kaisers. Der Bildhintergrund – die Front des Langhauses eines Sakralbaus – lässt den sakralen Kontext der Szene noch erahnen, mutet aber in Kombination mit der Darstellung des inzestuösen Vergehens gewagt an.240 Die Federzeichnung wirkt wieder unbeholfen. So ist die 234 Ed. Strauch, V. 26269–26382: Unter der Zunge der verstorbenen Frau Karls wurde ein teuflischer Zauber versteckt. Infolgedessen kann Karl nicht von ihr lassen und beschläft sie: er muost al naht mit ir umbe gan,/ als ein man mit einem wib tuot (26280 f.). Die schwerwiegende Sünde wird als Himmelbrief von einer Taube an den messefeiernden Ägidius überbracht. Dieser entfernt den Zauber aus dem Mund, worauf der bis anhin wohlriechende Leichnam den Geruch seiner Verwesung freisetzt: si stinket sam ein vuler hunt (26373). 235 Bekannt ist mir lediglich ein Zeugnis, das Roland als Minnesklaven anführt (Amadas et Ydoine [Ed. Reinhard], V. 5845 f.): Autresi fu Rollans d’Audain,/ Car envers lui ot le cuer vain. 236 Zur Ikonographie siehe Lejeune/Stiennon, La Le´gende, Bd. 1, S. 145–152; Bd. 2, Abb. 127 und 152. Lejeune, Le pe´che´, S. 347 f. 237 Der Sündenerlass kann auch als Messe des heiligen Ägidius dargestellt werden. In beiden Fällen kann die Szene durch einen Engel ergänzt werden, der Ägidius ein beschriftetes Pergamentband herunterreicht. Assistierend figuriert häufig Karls Schwester. 238 So in der Goldschmiedekunst (Reliquiar Karls des Grossen im Dom von Aix-la-Chapelle), in der Wandmalerei (Kapelle St. Laurent in Le LorouxBottereau), in der Glasmalerei (Kathedrale von Chartres), in der Kapitellplastik (Kirche San Gil in Luna) und als historisierte Initiale zu Psalm 95 im Psalter des Lambert le Be`gue, Lie`ge, Bibl. de l’Univ., 431, fol. 96v. 239 Vgl. dazu: Ott, Reich und Stadt, S. 89 und 111. 240 Der Bildhintergrund ist identisch mit dem Hintergrund der Darstellung aus dem Psalter des Lambert le Be`gue und allgemein aus Psalterhandschriften
Erläuterungen
235
rechte Hand der Frau als linke wiedergegeben. Die Zeichnung ›läuft‹ oben (kugelförmige Turmspitzen) und links (Kopfkissen) über den Bildrand hinaus.
6.1.3.17 Secundus (Tafel XV .4) An die Karlsminiatur schliesst sich die pseudo-historische Figur des antiken Philosophen Secundus an. Die ursprünglich orientalische ›Secundus-Vita‹ exemplifiziert vorbildhaftes Schweigen als Ergebnis einer inzestuösen Liebesprobe. Sie fand im Mittelalter durch die Chronik-241 und Exempelliteratur242 schnelle Verbreitung. Bildbeschreibung R zeigt die beiden Hauptfiguren des Exemplums: Secundus und seine Mutter stehen Schulter an Schulter nebeneinander. Secundus, in langem Gewand, trägt einen Pilgerhut und einen Bart; seine Mutter ein weites und faltenreich herabfallendes Kleid sowie einen Kruseler.243 Sie fasst Secundus mit ihrer linken Hand bei seiner Rechten und zieht ihn an sich. Texte Beide halten leere, das Figurenpaar links und rechts flankierende Spruchbänder in den Händen.244 Die Miniatur ist im oberen Bildrahmen mit roter Tinte betitelt: Secundus philosophus, mater eius (Tafel XV .4).
241 242 243
244
bekannt (Branner, Manuscript Painting, Abb. 395–400). Die historisierte Initiale zeigt Karl und Gisila bei der Messfeier des Ägidius und leitet Ps 95 ein: Cantate Domino canticum novum, cantate Domino omnis terra. Die Bibelexegeten kontrastieren das canticum novum mit dem canticum vetus, das noch von der cupiditas carnis zeugt. (Augustinus, Enarratio in psalmum [PL 37,1227]). Vgl. Lejeune/Stiennon, La Le´gende, Bd. 1, S. 149 ff. Vinzenz von Beauvais, Speculum historiale, X,70 f. Vgl. dazu: AaTh Nr. 823A*. Hilka, Weitere Beiträge, S. 1 ff. Zu Ursprung und Überlieferungsgeschichte siehe Perry, The Origin, S. 83–89. Roloff, Reden und Schweigen, S. 73 f. Von mhd. krus: gedreht, kraus, gekrümmt (BMZ 1,890). Der Kruseler ist eine halbkreisförmige Kopfbedeckung und umrahmt das Gesicht mit mehreren Reihen von Rüschen, die ihrerseits wieder an den Kanten gekräuselt werden. Die Rüschen können weit hinunterreichen und ebenfalls die Schultern schmücken. Das scheint hier der Fall zu sein. Der Kruseler taucht zum ersten Mal 1342 auf und wird etwa bis um 1430 benützt. Vgl. dazu: Thiel, Geschichte des Kostüms, S. 133 ff. Vergleichsbeispiele bei Ross, Illustrated Medieval Alexander-Books, S. 88 (Abb. 99) und S. 121 (Abb. 175 und 176), und: Die Sammlung Dr. Albert Figdor, Taf. 123. Secundus hält ein breiteres zweizeiliges Spruchband.
236
Frauensklaven Texttradition und Bildtyp
Die mittelalterliche Rezeption der Erzählung beruht auf der Fassung des Wilhelm Medicus, Arzt und später Abt von St. Denis, der um 1167 eine lateinische Übersetzung der griechischen Vorlage angefertigt hat.245 Auf ihr beruhen sämtliche volkssprachige Überarbeitungen.246 Der Verlauf der Erzählung lässt sich in zwei Teile gliedern. Der erste Teil berichtet, dass der Philosoph Secundus247 seine misogyne Schulweisheit, wonach alle Frauen der Hurerei verfallen seien,248 an seiner verwitweten Mutter erproben will. Er erscheint darauf im Habitus eines wandernden Philosophen bei seiner Mutter und überlistet diese durch ein vorgetäuschtes Liebesgeständnis und ein Geldversprechen zu einer gemeinsamen Liebesnacht. In der Nacht hält sich Secundus aber zurück. Am Morgen gibt er sich seiner Mutter zu erkennen und verwirrt diese zu Tode. Secundus erlegt sich zur Sühnung seiner fatalen Verführungsrede ein lebenslanges Schweigegebot auf. Der zweite Teil erzählt vom Versuch Kaiser Hadrians, das Schweigegebot des Philosophen zu brechen. Dieser bleibt bis zur Todesandrohung seinem Gebot treu, worauf Hadrian den Philosophen bittet, mit der schriftlichen Beantwortung ein paar grundlegender Fragen seine Weisheit kundzutun.249 Die Vita ist antithetisch aufgebaut: dem Scheitern der fragwürdigen Liebesprobe steht das Gelingen der zweiten Probe gegenüber, die im schweigenden Kundtun der Weisheit kulminiert.250 Darstellung in R Die Darstellung hat meines Wissens kein Gegenstück, weder als isoliertes Bildzeugnis, noch als Teil einer Frauensklaven-Reihe. 251 Die Miniatur ist wie die KarlDarstellung lateinisch textiert.
245 Der Text ist synoptisch mit der ältesten altfranzösischen Fassung ediert bei Hilka, Weitere Beiträge, S. 8–23. 246 Zur lateinischen Überlieferung und deutschen Rezeption vgl. Wachinger, ›Secundus‹, in: 2VL 11 (Nachträge und Korrekturen), Sp. 1402–1408, hier: 1403. 247 Hic est omni tempore silentium conservans et Pythagoricam ducens vitam. 248 Itaque aliquando audivit in scolis verbum huiusmodi, quia omnis mulier fornicatrix est et, si latere possit, impudica. 249 Im Fragenkatalog figuriert auch die Frage nach dem Wesen der Frau, die Secundus in misogyner Tradition mehr als unmissverständlich als hominis confusio, insaturabilis bestia, cotidianum damnum, domus tempestas, viri incontinentis naufragium, adulterii vas, animal pessimum und pondus gravissimum bezeichnet. 250 Vgl. Roloff, Reden und Schweigen, S. 76. 251 Dazu: Wirth, Lateinische und deutsche Texte, S. 261 f.
Erläuterungen
237
6.1.3.18 Das Sänger-Ich der Pseudo-Frauenlob-Strophe (Tafel XV .2) Dem Text entsprechend illustriert der Zeichner dieses ›Ich‹ als zeitgenössisch gekleideten Jüngling in Gesellschaft seiner Geliebten. Das Bild steht nach der Judith-Miniatur.252 Der Jüngling trägt einen bis unter die Knie reichenden Rock, der in der Taille umgurtet ist; tiefer am Rock hängt ein zweiter Gürtel, an dem eine Gürteltasche mit einem Dolch befestigt ist.253 Er zeigt mit seiner linken Hand auf seine Augen, die rechte Hand ergreift vielsagend den Dolch. Seine Geliebte ist ihm zugewandt und greift mit einer Hand in eindeutiger Gebärde unter den Rock. Ihre Linke hält das Spruchband und zeigt gleichzeitig auf die noch verdeckte Scham. Die beiden Spruchbänder flankieren die Figuren jeweils links und überwölben die beiden Köpfe. Die Bänder sind in roter Textura beschriftet und zeichnen ihre Inhalte so vor allen anderen aus. Der Jüngling wurde vom Liebespfeil an den Augen getroffen und ordnet sich so gut ein in die Reihe der vorangegangenen Beispiele: der minne‹n› stral hat mich gar ser verbunt. Die Frau klagt, durch die Minne [ir] entzündet worden zu sein: So hat ir fewr mich enczunt (Tafel XV .2). Der Text stützt die Aussage des Bildes und relativiert die Erwartungen an die Reinheit des Weibes. Das ›entzündende‹ Feuer der Frau, das an den Zauber Vergils erinnert (s. o.), hat eine Entsprechung in der Pseudo-Frauenlob-Strophe: dort hiczet sie ihn, dann wieder fröret sie ihn.
6.1.3.19 Resümee Der Jüngling erscheint in identischer Tracht im ›Resümee‹ in der unteren Bildhälfte von fol. 8r (Tafel XV .7).254 Hier trägt er zusätzlich eine Kappe, die hinten mit einem Zierband versehen ist und führt sechs aufmarschierende Frauensklaven an (Tafel XV .6). Er ist dem nackten Weib zugewandt, zeigt aber gleichzeitig auf die sechs Frauensklaven links von ihm. Diese sind in Zweiergruppen unterschieden durch Haartracht, Kopfbedeckung und Länge des Kleides als Zeichen des Standes und des Altersunterschiedes: vorne 252 Ich ziehe die Bezeichnung ›Judith-Miniatur‹ der Bezeichnung ›HolofernesMiniatur‹ vor. Der Grund liegt in der textlich und ikonographisch vorrangigen Stellung Judiths. 253 Die Gürteltaschen wurden aus Leder verfertigt und an einem metallenen Bügel festgemacht. Dazu: Bildwörterbuch der Kleidung und Rüstung, S. 95 f. Röber/Trepkas, Archäologische und historische Quellen, S. 41. 254 Dazu: Frühmorgen-Voss, Text und Illustration, S. 125. Ott, Minne oder amor carnalis?, S. 112 f. Lutz, Spiritualis fornicatio, S. 331 f.
238
Frauensklaven
die beiden (alten) Könige Salomon und Alexander in langer Tracht, mit Krone und Bart, in der Mitte in wadenlangem Kleid und mit Hut der Philosoph Aristoteles und der Dichter Vergil in bestem Mannesalter und hinten in knielangem Rock ohne Kopfbedeckung, aber mit auffälliger Haarfülle die Jünglinge Samson und Absalon. Salomon deutet mit seiner Linken in die Richtung des nackten Weibes. Zwischen ihnen und dem jungen Mann steht ein Bäumchen, das wohl nur dekorative Funktion hat. Die Schriftbänder der Frauensklaven sind leer. Rechts steht das halbnackte Weib, das die Männer um Haupteslänge überragt (Tafel XV .7). Ihr mit gestreiftem Stoff gefütterter, weit zurückgeschlagener Mantel ist mit einem Pelzkragen besetzt; er wird lediglich oben von einer Schliesse zusammengehalten. Darunter wird ihr nackter Leib sichtbar. Die Linke hebt sie hoch, die Rechte hält sie auf der Höhe des Nabels, darunter ist die Scham überdeutlich eingezeichnet. Als Kopfbedeckung dient wieder der auffällige Kruseler. Der Text im Schriftband wird den abgebildeten Frauensklaven ›in den Mund‹ gelegt. Die erste Hälfte des Textes im Band gibt die Sprecher an – Allexander vnd Salomon,/ Sampson vnd Absolo‹n›,/ Aristo‹te›les vnd Virgilius/ sprechent all sampt alsus – die trotz aller Weisheit in das Verhalten der Frauentoren hineingeschlittert sind: Das chain maister nie so weis ward,/ dicz weiz an der toren vart. Wie in der Pseudo-Frauenlob-Strophe endet auch hier die Aussage mit der Fokussierung auf das ›Ich‹. Dieses spricht die vage Hoffnung aus, bei der Liebsten erfolgreich zu sein: Ich hoffe, mir geling von der liebsten (Tafel XV .7). Zwei vergleichbare Darstellungen der Weibermacht finden sich auf einem oberitalienischen Wöchnerinnentablett255 (um 1400) und auf einem bemalten Tablett des Florentiners Apollonio di Giovanni256 (Mitte 15. Jh.). Beide Zeugnisse visualisieren die Minnetorheit klassischer Figuren. Das erste Tablett zeigt sechs kniende Minnetoren, die eine nackte, in einer Mandorla schwebende Venus anbeten.257 Ihre Scham ist von einer Strahlenaura umgeben, deren Strahlen auf die Augen der Minnetoren trifft. Venus wird von zwei krallenfüssigen Amor-Figuren assistiert. Das zweite Beispiel ist eine 255 Paris, Muse´e du Louvre, RF 2089. Katalog der Tristan-Bildzeugnisse, Nr. 57 (Abb. 43). Lutz, Spiritualis fornicatio, S. 332 f. (Abb. 50). 256 London, Victoria and Albert Museum. Smith, The Power (1995), S. 195 (Abb. 44). 257 Achill, Tristan, Lancelot, Samson, Paris und Troilus. Die Figuren sind von höfischer Provenienz oder höfisiert dargestellt, das Bild ist dementsprechend als in bono-Variante des Topos, also als Minnesklaven-Topos, zu verstehen.
Erläuterungen
239
Illustration zu Petrarcas ›Trionfi‹258 und zeigt einen hoch aufgerichteten Amor mit Pfeil und Bogen auf einem von zwei Pferden gezogenen und von einer Menschenmenge umgebenen Triumphwagen. Aristoteles, Samson, Vergil und Herkules sind in das Bild integriert. Beide Zeugnisse wie auch das Schlussbild von R bringen eine charakteristische Auswahl von Minnebzw. Frauensklaven, die, je nach Ausrichtung, in der Anbetung der Venus oder Hure endet – in R werden sie am Gängelband eines sklavischen Hurendienstes gehalten. Genau die gleiche Konstellation von Minnesklaven, Minnestrahl und Ausrufer-›Ich‹ beschreibt Hans Folz in einem Fastnachtspiel. Die revueartige Gruppierung der Liebesnarren um Frau Fenus beschliesst ein Urteil derselben: Ich urtail: seit meins feures stral/ Durch das weyp Adam pracht zu fal,/ Die pracht mein list mit weibern umb: Sampson und Virgilium,/ Davit und Aristotilem,/ Den Salomon und Socratem. Darauf folgt ein handgreifliches, aber über das Ziel hinausschiessendes Racheversprechen des Ausschreiers, der ebenfalls von Frau Fenus mit dem stroem loch einen schuss enpfunden hat.259
258 Zu den Illustrationen der ›Trionfi‹ vgl. d’Essling/Müntz, Pe´trarque, S. 116, 159, 170 und 182. 259 Fastnachtspiele des 15. und 16. Jahrhunderts (Ed. Wuttke), X,141–166.
240
Frauensklaven
Reihung Tafel XIV 1.
2.
3.
ADAM UND EVA
ARISTOTELES UND PHYLLIS
ALEXANDER UND ROXANE
Sündenfall, Adam als erster Frauensklave
Weisheit vs. Minnetorheit
Macht vs. Minnetorheit
4.
5.
6.
VERGIL IM KORB
SAMSON UND DALILA
SALOMONS GÖTZENDIENST
Weisheit vs. Minnetorheit
Kraft vs. Minnetorheit
Weisheit/Macht vs. Minnetorheit
7.
8.
9.
AZAHEL
PARIS UND HELENA
ACHILLES UND DEIDAMEIA
Schnelligkeit vs. Minnetorheit
Zerstörung Trojas durch Minnetorheit
Kraft [kein Zusammenhang]
[kein direkter Zusammenhang]
10.
11.
12.
ARTUS ’ TREUEPROBE
ABSALON
DAVID UND BATHSEBA
Betrug Artus’ durch seine Frau
Schönheit
Macht vs. Minnetorheit
13.
[kein direkter Zusammenhang]
14.
15.
PARZIVAL
BUHLSCHAFT AUF DEM BAUM I
BUHLSCHAFT AUF DEM BAUM II
Rittertum vs. Minnetorheit
Der betrogene Blinde
Die Bestrafung durch den Sehenden
241
Erläuterungen
Reihung Tafel XV 16.
17. JUDITH UND HOLOFERNES
SÄNGER-ICH UND DAS REINE WEIB
Macht vs. Minnetorheit 18.
PSEUDOFRAUENLOBSTROPHE
19. KARL DER GROSSE UND GISILA/TOTE GEMAHLIN
SECUNDUS UND SEINE MUTTER
Inzest (?) durch Minnetorheit
Inzest durch Minnetorheit
[1–5–12–6–11–3–4–16– 2–8–9–7–10–13–17]
Absalon Samson Vergil Aristoteles Alexander Salomon [11
5
4
2
3
6]
Sänger-Ich Meretrix [17]
242
Frauensklaven
6.2 Interpretation In der Interpretation der Doppelseite 7v/8r (Tafeln XIV und XV ) widme ich mich drei Aspekten. Zuerst rücke ich die Frage der Genese in den Mittelpunkt. Die Frage reicht von der Konzeption der Seite, die sich hier in groben Zügen rekonstruieren lässt, über den Umgang des Zeichners mit den Bildtraditionen bis zur oft dilettantischen Ausführung der Miniaturen. Der zweite Aspekt geht der Frage nach, wie die einzelnen Zeichnungen unter einander thematisch zusammenhängen und wie sich das Thema der Frauensklaventums mit Kohärenzen und Brüchen im seriellen Zusammenhang einer Reihe manifestiert. Der dritte Aspekt ist einer möglichen Rezeption der Doppelseite als Bildungswissen und Handlungswissen gewidmet.
6.2.1 Mögliche Genese der Doppelseite Die ›Washingtoner Frauensklavenreihe‹ beeindruckt weniger durch ihre zeichnerische Ausstattung als durch ihren bemerkenswerten Umfang, der unter den bildlichen Umsetzungen des Topos unerreicht bleibt. Die vergleichbare ›Konstanzer Reihe‹ (Abb. 35), die ebenfalls Vers für Vers die Pseudo-Frauenlob-Strophe umsetzt,260 kommt mit ihren zwölf Medaillons der ›Washingtoner Reihe‹ noch am nächsten. Als Grundstock gelten gegebenermassen die fünfzehn Beispiele des Pseudo-Frauenlob-Spruchs, die in anderer Reihenfolge erscheinen261 und um zwei Miniaturenpaare erweitert wurden: das zweiteilig angelegte Buhlschaft-Märe und die beiden InzestBeispiele. Das 15er-Programm der Pseudo-Frauenlob-Strophe, das sich seiner Popularität wegen zur seriellen Illustrierung eignet,262 wird gesprengt durch die Inserierung der beiden Buhlschaft-Miniaturen, die eine sinnvolle, ikonographisch verwandte Entsprechung zur Sündenfall-Miniatur darstellen; der Ohnmacht des ersten Frauensklaven wird die Bestrafung der Ehebrecherin gegenübergestellt, womit das christliche Grundschema von Sündenfall und Erlösung gespiegelt wird. Die abschliessenden Beispiele aus der Pseudo-Frauenlob-Strophe figurieren gleich oben auf fol. 8r (Tafel XV ) und bilden einen vorläufigen Abschluss, sodass bei der Teilung der Seite in zwei Halbseiten, Leerraum für die von Beginn an eingeplanten (?) Inzest260 Ohne Absalon. 261 Vgl. Kapitel 6.1. 262 Vgl. Lähnemann, Hystoria Judith, S. 424–431.
Interpretation
243
Beispiele übrigblieb. Umrissartig zeichnet sich so ab, wie der Zeichner die Doppelseite im Voraus geplant hat bzw. wieweit die ursprüngliche Konzeption sich unter der Hand verändert hat. Mir scheint, dass für die Frauensklaven von vornherein eine Doppelseite eingeplant wurde, was dem zweiteiligen Programm von Exempelkatalog und ›Resümee‹ am besten gerecht wird. Die Pseudo-Frauenlob-Strophe ist formal in gleich lange, abwechselnd rote und schwarze Texteinheiten gegliedert, die nicht selten auf Kosten der inhaltlichen Kohärenz gehen, dafür aber optisch wirksam gestaltet sind. Dem Schreiber kam es offensichtlich mehr auf Präsentation und Vollständigkeit an als auf detailgetreue Wissensvermittlung. Die Federzeichnungen wirken gelegentlich unbeholfen. Dies zeigt sich besonders in den Details,263 in nicht stimmigen Proportionen,264 im Fehlen wichtiger Bildbestandteile,265 in der fehlenden Bildlogik266 oder in den Diskrepanzen zwischen Bild und Text.267 Bemerkenswert sind die Darstellungen des Vergil im Korb und der Entdeckung des Achill. Der Zeichner visualisiert den Dichter in einer Tauchkugel anstatt im gewohnten Korb, er übernimmt wohl versehentlich einen Bildbestandteil der zuvor gezeichneten Alexanderminiatur.268 Die Ähnlichkeit der Handlung – Hinaufziehen bzw. Herunterlassen des Frauensklaven – verursacht offenbar die Verwechslung. Die Szene des entlarvten Achill wird überblendet von Versatzstücken des noch bekannteren Bildtyps des zum Schutz vor den Sirenen an den Schiffsmast gebundenen Ulixes. Entsprechend diesem Bildtyp ist das Ulixes-Spruchband der in Übergabe befindlichen Rüstung angesetzt; diese 263 Vgl. die halbkreisförmigen, schwarzfarbig ausgefüllten Öffnungen zwischen Segeltuch und Rahe, die mechanisch gezeichnet scheinen (Bilder 3 und 9); die Darstellung der Schlange, die vor dem Baum steht, anstatt sich darum zu ringeln (Bild 1); das zerstörte Troja (Bild 8) oder die Torbefestigungen Bethulias (Bild 16); verkehrt aufgesetzt ist die Hand der Konkubine in Bild 18; das Spruchband ist der Mutter Secundus’ nicht in die Hand gegeben, sondern befindet sich dahinter (Bild 19). 264 Bes. die Zeichnung von Händen, wie bei Eva (Bild 1), Artus (Bild 10) und Judith (Bild 16). Die Überbetonung der Hände dient hier aber auch der Intensivierung der Handlung. 265 So zum Beispiel im Fehlen der Tauchkugel Alexanders (Bild 3). 266 Vgl. der von den beobachtenden Reitern abgewandte Vergil im Korb (Bild 4). 267 Am auffälligsten ist hier die Krone der gezüchtigten Ehebrecherin, die wohl versehentlich auf ihr Haupt gelangt ist (Bild 15) oder auch der ›buchstäblich‹ als wilder Mann gezeichnete Azahel (Bild 7). 268 Die gleiche Art von Verwechslung erscheint im Konstanzer ›Haus zur Kunkel‹. Hier geschieht die Verwechslung im Alexandermedaillon. Der König wird an einem Turm hochgezogen anstatt von einem Schiff aus (Abb. 35).
244
Frauensklaven
erinnert noch an den angebundenen Helden. Die durch Kontamination verursachte fehlende Bildkohärenz schlägt sich in der falschen Zuordnung des Spruchbands nieder. Die übrigen Miniaturen sind in der Regel Reproduktionen gängiger Bildtypen und weichen nur unwesentlich von diesen ab. Die Spruchbänder sind meistens beim Kopf der Figur angesetzt oder entwachsen ihren Händen. Oft verstärken sie durch ihre dynamische Ausrichtung die Dialogsituation269 oder unterstützen die dargestellte Handlung.270 Die Mehrzahl der Miniaturen ist rot tituliert, wobei die Titel mit wenigen Ausnahmen richtig zugeordnet sind. Die textliche Maximalausstattung – d. h. Titulus, Rahmentext und Spruchband – ist lediglich in zwei Bildern vorhanden.271 Das Spruchband ist die am häufigsten verwendete Textform;272 der Rahmen wird ebenfalls oft benutzt,273 die Kombination Spruchband und Rahmen jedoch selten.274 In der Absalon-Miniatur erscheint die Figurenrede im Rahmen statt in einem Spruchband; in der Judithminiatur figuriert der Titulus im oberen Rahmen statt wie gewohnt im Bildfeld. Der Miniaturenkatalog ist mit zwei Ausnahmen275 im Schrifttyp der Bastarda textiert. Für die resümierende Darstellung auf fol. 8r (Tafel XV ) verwendet der Schreiber die höhergradige Textura. Die zweifarbige Textierung des grossen Schriftbandes unterstreicht unterschiedliche Funktionen des Textes: Die einführende Aufzählung der Frauensklaven erfolgt in roter Textura, der abschliessende Kommentar in schwarzer Textura.
6.2.2 Ordnungen Die Frage nach der Ordnung stellt sich zunächst auf thematischer Ebene. Die Reihe lässt keine durchgehende Strukturierung erkennen; die einzelnen Miniaturen sind lose aneinandergereiht und lassen sich nur punktuell miteinander verknüpfen. Eine erste Kohärenz lässt sich als Rahmung beschreiben: Anfang und Schluss der Reihe sind aufeinander bezogen, zeich269 Bilder 3 und 12. 270 Bild 9. Hier unterstützen die Spruchbänder die Vorwärtsbewegung des Schiffes. 271 Bilder 7 und 14. 272 Bilder 2–7, 9, 12, 14, 15 und 17. 273 Bilder 1, 7, 8, 10, 11, 13 und 14. 274 Bilder 7 und 14. 275 Bilder 16 und 17. In Bild 17 ist die Textura insofern angebracht, als das Bild in eindeutigem Bezug zum ebenfalls in Textura geschriebenen ›Resümee‹ steht.
Interpretation
245
nen sich aus durch ihre programmatische Aussage. Die Zeichnungen auf fol. 7v (Tafel XIV ) werden gerahmt durch die heilsgeschichtlich ausgerichtete Darstellung des Sündenfalls und die ›Buhlschaft im Baum‹, die beide sich des ikonographischen Typus der Baumszene bedienen. Diese erste Rahmung erfährt eine zweifache Erweiterung, zuerst um die auf fol. 8r (Tafel XV ) versprengten Miniaturen der Sangspruchstrophe, die Darstellungen der Judith und des Sänger-Ichs, dann um die beiden pseudo-historiographischen Inzest-Beispiele. Die Judith-Miniatur ausgenommen, dokumentieren beide Erweiterungen das Fortwirken der statuierten Beispiele hinein in die jüngere Geschichte und Gegenwart des Concepteurs der Handschrift und somit auch ihre lebensweltliche Relevanz für die Rezipienten. Zudem variieren die drei Schlussminiaturen die Thematik und spitzen sie zu: Minnetorheit zeitigt noch mehr Ungemach unter verwandtschaftlichen Vorzeichen, so geschehen im historisch kaum verbürgten Vergehen Karls des Grossen, so auch im legendarischen Experiment des Philosophen Secundus mit seiner Mutter. Für sich bleibt auf fol. 8r die Judith-Miniatur. Der Concepteur hat diese im zweiten Stollen der Strophe platzierte Miniatur an den Schluss der Bilderreihe unmittelbar vor dem Sänger-Ich gesetzt. Die Miniatur darf als vorläufiges Fazit der Bilderreihe gelten. Die Aussage des Bildes rollt das Thema des Frauensklaventums vom Ende, d. h. von der desaströsen Verstümmelung des Holofernes her, auf. Die namentlich bezeichnete Judith steht hier, im Gegensatz zu allen anderen Frauenfiguren, im Mittelpunkt. Die verheerende Strafe in der Entstellung des versniten[en] (Tafel XV .5.2) Holofernes ist so grausam und unmittelbar körperlich wie sonst in keinem anderen Fall. Zugleich weist die Judith-Miniatur auf die folgenden Zeichnungen voraus: das entblösste, nach oben gerichtete Schwert deutet auf eine Fortsetzung ihres blutigen Handwerks,276 das verführerische Hand-Werk ist bei der Angebeteten in der Miniatur gegenüber (17) bereits sublimer Programm geworden, überhaupt gewinnen die folgenden Zeichnungen durch den gesteigerten Ausdruck der deutenden (17), greifenden (18) und ziehenden (19) Hände zusätzlich an Brisanz. Das katastrophale Szenario der Judith-Miniatur (16) ist – anders akzentuiert – bereits vorweggenommen in der Troja-Miniatur (8), die bezeichnenderweise die Mitte der 15er-Reihe einnimmt. Das Geschehen fokussiert die Zerstörung der güt wirdig stat [. . .] Troyin (Tafel XIV .8), Figurenkonstellation und Gestik sind grundsätzlich gleich gestaltet wie in der Judith-Miniatur: Der fatale Zusammenhang zwischen Helenas Verfüh276 Vgl. Lähnemann, Hystoria Judith, S. 427–429.
246
Frauensklaven
rungsmacht und der Zerstörung Trojas ist sinnbildlich erfasst im Zeigegestus, der zugleich Hinweisen (Paris) und Vorzeigen (Priamos) ist. Die Reihe zeichnet sich durch drei ›Schlüsse‹ aus: einen ersten, der mit der Bestrafung der Weiberlist die Frauensklaven vorläufig rehabilitiert, einen zweiten, der mit der plakativen Enthauptung des Holofernes die Folgen der Weiberlist drastisch vor Augen führt und diese zum Leidwesen der Frauensklaven triumphieren lässt, einen dritten, der mittels der Beispiele aus Geschichte (Karl der Grosse) und Gegenwart (Sänger-Ich) den Mann von neuem zum Sklaven der Weiberlist macht. Weitere Zusammenhänge lassen sich vielfach als thematische Verzahnungen beschreiben. Die Aristotelesminiatur, die hinsichtlich der Bekanntheit der Sündenfallminiatur in nichts nachsteht, zeigt Frauensklaventum biblisch-exegetischer Nuancierung als ›Vertierung‹ des Menschen, als seine Degenerierung zum Tier:277 Aristoteles lässt sich zum Status eines Reittiers herab, wie Adam durch den verhängnisvollen morsus zum Tier wird.278 Das Aristoteles-Beispiel figuriert – motiviert durch die thematische Verwandtschaft mit dem Sündenfall? – an zweiter Stelle im Bildreigen; in der PseudoFrauenlob-Strophe stand es noch an neunter Position. Weitere Miniaturen lassen sich aufgrund ihrer Ikonographie und ihrer thematischen Nähe untereinander verbinden. Die Aristotelesminiatur lässt sich mit der Samsonminiatur in Zusammenhang bringen, die beide in augenfälliger Weise die Herrschaft der Frau über den Mann visualisieren.279 Eine ikonographische Verwandtschaft besteht auch zwischen der Alexander- und der Vergilminiatur,280 wo die Ähnlichkeit der Handlung für Interferenzen gesorgt 277 Vgl. Alanus ab Insulis (Summa de arte praedicatoria [PL 210,123]): O homo, haec est luxuria per quam imaginatio torpet, sensus hebetatur, intellectus tenebratur: imo, ut plus loquar, hominem in pecudem mutat; imo, homo per eam infra pecudem degenerat, cum pecus servet concupiscendi tempora, tu concupiscis omni hora; pecus servat naturam, tu debaccharis in eam; pecus servat unitatem paris, tu ad plures discurris. 278 Vgl. Holl, ›Luxuria‹, in: LCI 3, Sp. 123 f. Vgl. die Darstellung der als nackte Frau auf einem Ziegenbock personifizierten Luxuria an einer Konsole der Kathedrale von Auxerre. Smith, The Power (1995), S. 123 (Abb. 8). 279 Die Scherung Samsons ist oft als Bildpaar mit Samsons Löwenkampf tradiert. Die ikonographische Disposition der Figuren ist in beiden Motiven die gleiche: oben der Sieger, unten der Besiegte. Vgl. Smith, The Power (1990), S. 212. 280 Beide Miniaturen wurden als Paar aus der Pseudo-Frauenlob-Strophe übernommen und an die dritte und vierte Stelle gesetzt. Ähnlich vorgegangen ist der Concepteur mit dem Beispielpaar Troja/Achill, das an achter und neunter Stelle in der Bildserie figuriert. Vgl. Kapitel 6.1.
Interpretation
247
hat.281 Die Bildmotive geraten hier regelrecht durcheinander: Vergil erscheint in einer Tauchglocke, diese fehlt dann dort, wo sie gefordert gewesen wäre, nämlich in der Darstellung der Tauchfahrt Alexanders. Interferenzen zeigen sich auch dann, wenn sich die Bildmotive mit konkurrierenden Bildtypen überkreuzen, wie bei den Beispielen Azahels und Achills. Thematisch verzahnt sind Aristoteles- und Alexanderminiatur. Der junge König gehört als Schüler des alten Philosophen zum AristotelesPhyllis-Märe. Zahlreiche thematische Verbindungslinien lassen sich über die Tugenden und Laster herstellen, die die Sklaven verkörpern. Die Weisheit verbindet Aristoteles, Salomon und Vergil, die Stärke Samson und Achill,282 Macht und Reichtum Alexander, Salomon und David. Dazu gesellen sich andere Qualitäten wie die Schönheit (Absalon) oder die Schnelligkeit (Azahel). Die Brüche in der Bildserie relativieren sich, entpuppen sich bei näherem Hinsehen als Kohärenzen. Zwei Beispiele können das verdeutlichen. Aus der Reihe fällt Azahel, der traditionellerweise nicht dem FrauensklavenKanon angehört. Was der Zeichner aus dem Strophentext macht, ist eine neue Variante von Frauensklaventum. Die Wildheit Azahels, Ausdruck ungebändigter Männlichkeit, wird domestiziert durch die Fessel der Frau. Die fesselnden und gefesselten Hände lassen sich den scherenden Händen Dalilas an die Seite stellen; die von Frauenhand vollzogene Entmachtung des Mannes steht in beiden Miniaturen im Mittelpunkt. Auch löst der Concepteur beide Darstellungen vollends aus dem biblischen Kontext und öffnet sie für einen höfischen Deutungshorizont. In der Azahel-Miniatur geschieht dies nicht nur mittels des Textes, sondern auch mittels des Bildes: Die Fesselung beschränkt sich nicht auf die körperliche Dimension, sondern lässt sich metaphorisch als Liebesfessel verstehen.283 Die von der Frau initiierte, körperliche Entmachtung des Mannes geht einher mit dessen selbstgewählter, geistig sublimierter Unterwerfung. Auf den ersten Blick passen auch Judith und Holofernes nur unzureichend in die Reihe. Judith wird als einzige Frau namentlich und ikonographisch vor allen anderen Frauen ausgezeichnet. Die heroisch ins Bild gesetzte Figur284 bricht abrupt mit den bis hierhin eher in Statistenrolle 281 Vgl. Kapitel 6.1.3.3 und 6.1.3.4. 282 Wie bei Samson beruht auch Achills Kraft auf ein zu entlockendes Geheimnis. Vgl. King, Achilles, S. 203. 283 Vgl. Kapitel 6.1.3.7. 284 Vgl. Kapitel 6.1.3.15. Für vergleichbare Judith-Darstellungen vgl. Held, Die »Weibermacht«, S. 48. Stammler, Deutsche Philologie, Bd. 3, Sp. 681.
248
Frauensklaven
gegenwärtigen, weibliche Überlistung bezeichnenden Frauengestalten, ihre List scheint angesichts der Verführungsmacht des Holofernes gerechtfertigt. Die in der Bibel positiv, d. h. durch Enthaltsamkeit sich auszeichnende Judith scheint hier immer noch auf; ihre Einbindung in den Kontext der Frauensklavenreihe lässt sie allenfalls zweideutig zwischen kluger List und verwerflicher Überlistung erscheinen, ihre schreckliche, ikonographisch deutlich akzentuierte Tat kann man – im Sinne einer Kohärenz – als Alternative zur vorangehenden ›Buhlschaft im Baum‹ lesen: War dort die Bestrafung der Frau im Sinne einer ausgleichenden Gerechtigkeit angebracht, scheint hier der Prototyp eines Lüstlings durch ein raines weib rechtens bestraft. Als Kohärenz lässt sich auch die resümierende Darstellung der sechs profiliertesten Frauensklaven in der unteren Bildhälfte von fol. 8r beschreiben. Wie Henrike Lähnemann zutreffend festgestellt hat, sind hier »nur Männer ins Bild gesetzt, die ein von ihren Minneeskapaden unabhängiges Profil besitzen«.285 Ihre Spruchbänder sprechen, obwohl leer, eine eigene Sprache. Sie entwachsen den männlichen Händen auf Lendenhöhe, nehmen mit zunehmender Nähe zum nackten Weib selbstredend an Grösse und Dynamik zu, richten sich, bei Salomon und dem Sänger-Ich wie erigierte Penisse auf das Weib. Moralisch lassen sich der Jüngling und das nackte Weib als Fortsetzung der Sündenfall- und Aristoteles-Miniatur lesen, sie versinnbildlichen in diesem Sinn die Todsünde der luxuria. Das Werben der Hure um den jugendlichen Toren geht zurück auf Prv 7: Et video parvulos, considero vecordem iuvenem [. . .]. Et ecce, mulier occurrit illi ornatu meretricio, praeparata ad capiendas animas (Prv 7,7–10).286 R verbildlicht diese vertierende Hingabe an die vita carnalis ein erstes Mal in der etwas dezenteren, aber schon 285 Lähnemann, Hystoria Judith, S. 428. Vgl. auch die Beschreibung der Halbseite in Kapitel 6.1.3.19. 286 Die Luxuria wird im Mittelalter oft als Jüngling und Hure in enger Umarmung dargestellt. Zahlreiche Beispiele aus mittelalterlichen Handschriften bei Lutz, Spiritualis fornicatio, S. 275 (Abb. 10 f.) und 301 ff. (Abb. 36–39). Ebenfalls: Katzenellenbogen, Allegories, S. 76–83, hier: 76 (Abb. 76). Ich erwähne hier nur die allegorische Sammelhandschrift Ms.1404 aus der Biblioteca Casanatense in Rom (Süddeutschland, Anfang 15. Jh.), wo in Kombination mit ›Proverbia‹-Zitaten eine ganze Reihe von Luxuria-Darstellungen vorkommen (fol. 3v und 4r). Vgl. dazu Kapitel 1.2 in Teil B. Zur Gleichsetzung von meretrix und luxuria vgl. die tiersymbolische ›Etymachia‹ (Ed. Harris), S. 114: ›Fouea enim profunda est meretrix‹, id est luxuria.. Vgl. auch: Lutz, Wahrnehmen, S. 68 f.
Interpretation
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eindeutigen Miniatur des Sänger-Ichs. Hier fehlt nur noch die Zeichnung des angesprochenen minne‹n› stral (Tafel XV .2), der die gierigen Augen des Sänger-Ichs mit der verdeckten Scham verbinden würde. In pointierterer Form, nackt und überdeutlich, wird die liebste unten als meretrix entlarvt. Der Inhalt des Schriftbandes zwischen dem Jüngling und dem nackten Weib bereichert die Bildaussage mit einer Reflexion über Weisheit und Torheit, die sich wie ein Leitmotiv durch die Handschrift zieht.287 Die Frauensklaven sind nicht nur der Hure aus Prv 7,10 verfallen, sondern auch der mulier stulta et clamosa aus Prv 9,13, die mit der meretrix gleichgesetzt werden kann288 und der in Gott gründenden, personifizierten Sapientia (Prv 9,1 ff.) gegenübersteht. Die Frauensklaven stehen analog zum System der Tugenden und Laster am Scheideweg zwischen stultitia und luxuria bzw. sapientia und castitas. Die Sünde der fornicatio ist Teil einer allgemeinen Weltliebe, die aus dem Grundlaster der superbia erwächst und die Hurerei der Weltkinder, d. h. die Sündhaftigkeit des Menschen schlechthin bedeuten kann.289
6.2.3 Rezeption Ich möchte im Folgenden ein paar grundsätzliche Überlegungen zu einer möglichen Rezeption der Frauensklaven-Reihe anstellen. Dazu knüpfe ich nochmals an die Arbeitsweise des Zeichners an, wie ich sie oben an ein paar Miniaturen aufgezeigt habe.290 Der Rückgriff auf traditionelle Bildformeln und das freie Verfügen über sie führt zur Füllung alter Modelle mit neuen Inhalten. Das Ergebnis sind Kontaminationen, die bewusst das Alte hinter dem Neuen sichtbar bleiben lassen291 oder Produkt unbewusster Verwechs287 Die Handschrift stellt die sapientia verschiedenen Mächten gegenüber, auf fol. 1r der Macht der Gestirne, auf fol. 8v der Macht der fortuna. Auf fol. 4v/5r wird sie theoretisch begründet, im Tugendbaum auf fol. 5v spiegelbildlich zum Lasterbaum (fol. 6r) systematisiert und auf die Grundtugend der humilitas zurückgeführt, in den Weisheitstürmen auf fol. 4r und 6v schliesslich in moraldidaktische, handlungsanleitende Bausteine zerlegt. Vgl. Kapitel 3.2.2. 288 Zur Kontamination von Prv 7 und 9 vgl. Lutz, Spiritualis fornicatio, S. 333 f. 289 Vgl. dazu die Ikonographie der Figura mundi/Frau Welt. Zusätzlich zu Lutz: Curschmann, Facies peccatorum, S. 157–189, hier: 176 ff. Rumpf, Luxuria, Frau Welt, S. 97–120, hier: 113–117. Stammler, Frau Welt, bes. S. 61–68. 290 Kapitel 6.2.1. 291 So zum Beispiel in der Aristoteles-Miniatur. Der gerittene Aristoteles erinnert an Darstellungen der Luxuria auf einem Geissbock. Den Übergang von
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Frauensklaven
lung sind.292 In beiden Fällen hat man einen Zeichner vorauszusetzen, der über einen reichen Bestand an Bildtypen verfügt, die er planvoll reproduzieren oder kontaminieren, aber auch unbewusst verwechseln kann. Der Spagat zwischen Tradition und Innovation beim Anfertigen der Miniaturen kann auch Aufschluss geben über deren Rezeption. Ich verwende für die Perspektive der Rezipienten die Begriffe ›Bildungswissen‹ (anstelle von ›Tradition‹) und ›Handlungswissen‹ (anstelle von ›Innovation‹).293 Beide Begriffe sollen für zwei sich ergänzende Verstehenshorizonte stehen. Die Aneignung von Wissen als Bildungswissen erfolgt über Bildtypen und Texttraditionen, im Mittelpunkt steht allgemein Bekanntes, Vorgewusstes, Konventionelles, Wissen also, das sich bereits als ›Bildung‹ ausgestaltet hat. Handlungswissen setzt dagegen bei der Lebenswelt des Rezipienten an, bei seiner Identifikation mit den vermittelten Inhalten über das allgemein Vorgewusste hinaus, Wissen also, das sich der einzelne Rezipient subjektiv handelnd oder es intersubjektiv im Gespräch verhandelnd erst erschliesst und als Denkanstoss oder Handlungsanleitung aneignet. Beide Rezeptionsformen können ineinander übergehen, die ›handelnde‹ Aneignung von Wissen ergänzt dort die passivere Rezeptionsform, die Aneignung von Wissen als Bildungswissen, wo die Auseinandersetzung mit Inhalten die Tradition sprengt und von der Norm abweicht, konkret bei den FrauensklavenMiniaturen, die, gemessen an Bildtyp und Texttradition, als ›fehlerhaft‹ gelten. Die Aktivierung der beiden skizzierten Verstehenshorizonte illustriere ich mit ein paar Miniaturen aus der Frauensklavenreihe. Die Sündenfallder personifizierten Luxuria hin zur Konkretisierung als gerittenen Aristoteles verdeutlicht eine Kapitellskulptur des Bamberger Karmelitenklosters. Vgl. dazu: Smith, The Power (1995), S. 123 (Abb. 7). 292 So zum Beispiel die Achill-Miniatur. Vgl. dazu 6.1.3.9 und 6.2.1. 293 Das Begriffspaar wurde von Ortrun Riha in Zusammenhang mit der Frage nach den Rezipienten von medizinischer Wissensliteratur im Mittelalter zur Diskussion gestellt. Riha (Handlungswissen, S. 1 f.) erklärt die Unterscheidung zwischen dem Bildungswissen (»den gelehrten lateinischen Werke[n] des universitären Schriftenkanons«) und dem Handlungswissen (»den überwiegend anonymen volkssprachlichen Texten [. . .] [des] 14. und 15. Jahrhundert[s]«) für weitgehend obsolet: »Das Wort ›Handlungswissen‹ bekommt damit [d. h. mit der sprachlichen Vermittlung, weniger mittels Techniken und Fertigkeiten] eine theoretische Dimension, die das ›Bildungswissen‹ sowieso besitzt, und dies erklärt sich aus dem spezifisch mittelalterlichen System der Medizin, die naturphilosophisch und sehr wenig ›zupackend‹ orientiert ist« (S. 12). Vgl. Anm. 13, Teil B, Kapitel 3.2.
Interpretation
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Miniatur (Tafel XIV .1) kann der Rezipient im Rahmen seines Bildungswissens als misogyne Warnung vor Weiberlist mit den gängigen moralischen und heilsgeschichtlichen Implikationen ›lesen‹. Durch den SpruchbandText der Samson-Miniatur (Tafel XIV .5) wird der Rezipient gemäss dem höfischen Bildungskanon an die Minneauffassung von Dienst und Lohn erinnert. Ein zweiter Verstehenshorizont wird sich auftun, wenn es darum geht, bei konzentrierter Betrachtung der Miniaturen sich mit einer Figur auseinanderzusetzen, die Vorbild für das eigene Handeln sein könnte, und dadurch männliche und weibliche Rollen zu hinterfragen. In der SündenfallMiniatur (Tafel XIV .1) relativiert die sehr männlich gezeichnete Eva, ihre zeichnerische Angleichung an Adam, die Schönheit als Katalysator weiblicher Verführung und Überlistung zugunsten der Macht des Wortes: Evas Überlegenheit zeigt sich in ihrer Überredungskunst – eua adam [. . .] vber cham (Tafel XIV .1) – eine Eigenschaft, die im Falle Evas als Täuschung und Lüge ausgelegt wird, in einem anderen Kontext auch als Markenzeichen männlicher Intellektualität gelten kann. In der Samson-Miniatur (Tafel XIV .5) wird das verkehrte Machtverhältnis von Mann und Frau auffallen, das sich in Körpergrösse und Körperhaltung widerspiegelt. Sitzt Dalila breit und mächtig da und führt mit kraftvollem Arm die Schere, verbleibt Samsons schmächtiger Frauenunterkörper in labil hilfloser Position. Der körperlich inszenierte Rollentausch wird dem Rezipienten eine fraglose Identifikation mit der einen oder anderen Figur erschweren und vielleicht zu einer problematisierenden Betrachtung gängiger Geschlechterbilder führen. Ich nehme als letztes Beispiel die Achill-Miniatur (Tafel XIV .9). Auch hier ergänzen sich die zwei Rezeptionsweisen als Bildungswissen und Handlungswissen. Bezogen auf die Figur des Achill kommt ein Rezipient vielleicht zur Schlussfolgerung, die ebenfalls zum allgemeinen Bildungswissen anderer Rezipienten gehört: Den Mann, der sich weibisch verkleidet, verrät seine Natur. Darüber hinaus begönne eine handlungsleitende Rezeption vielleicht mit der Frage, wiefern der Mann noch Mann ist, wenn ihm die Rüstung abhanden kommt. Das angespielte Sirenenabenteuer des Ulixes könnte der Rezipient als Vorbild für eine Handlungsanleitung nehmen, die lautet: Kanalisiere die Sinneseindrücke, um nicht von einer Frau überlistet zu werden! Mit dem Begriffspaar ›Bildungswissen‹ und ›Handlungswissen‹ lassen sich mögliche Rezeptionsweisen der Frauensklaven-Miniaturen nachvollziehen. Zu berücksichtigen ist ausserdem, dass die Exempla von Frauen-
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Frauensklaven
sklaventum und Weiberlist im Kontext der erotischen Diskurse des Mittelalters, wie sie Walter Haug beschrieben hat,294 rezipiert wurden. Die Frauensklaven-Darstellungen der ›Washingtoner Handschrift‹ sind im Kontext des burlesk literarischen und des theoretisch-didaktischen Diskurses zu situieren,295 ihre Rezeption wird sich daher zwischen zwei Extremen bewegt haben: Auf der einen Seite ist an eine Rezeption zu denken, die durch die blosse Darstellung des Körperlichen auf das Vergnügen an der Obszönität des Triebhaft-Sexuellen abzielte, auf der anderen Seite an eine Rezeption, die durch die blosse Sublimierung des Geschlechtlichen einer trivialen Moralisierung, die vom ›Festschreiben‹ männlichen und weiblichen Rollenverhaltens bis zur misogynen Invektive reicht, das Wort redete. Gerade eine Rezeption der Frauensklaven als Handlungswissen wird die Mitte zwischen platter Darstellung und platter Moral zu halten gewusst haben.
294 Die höfische Liebe. 295 Ebd. S. 37–43.
7 Fortuna und ihr Rad Die Schlussseite fol. 8v (Tafel XVI ) zeigt das Rad der Fortuna.1 Die Seite wurde dreiteilig konzipiert, was an der Linierung noch gut sichtbar ist: oben und unten wurde je ein Streifen für ein Textfeld abgetrennt, in der Mitte entstand so ein quadratisches Feld für das elfspeichige Rad der Fortuna. Rechts des Rades steht die gekrönte, langhaarige Fortuna in langem Kleid und dreht mit beiden Händen die Kurbel. Die deutschen und lateinischen Texte der Tafel sind in den Schriftgraden Bastarda und Textura geschrieben und zusätzlich durch rote und schwarze Farbe abgestuft.
7.1 Erläuterungen Im Folgenden werden die einzelnen Bildelemente detailliert beschrieben, die einzelnen Texte ausführlich erläutert. Insbesondere die massive Verderbnis und die breit gestreute Provenienz der Texte legen eine eingehende Auseinandersetzung mit ihnen nahe. Die deutschen Übertragungen sollen als Verständnishilfen – nicht mehr – einen Zugang zu den Textfragmenten ermöglichen.
7.1.1 Rota Fortunae Das Rad der Fortuna dreht sich um eine Achse, die links und rechts auf zwei Gabeln aufliegt, durch eine in die Fläche projizierte Nabe führt und rechts in einer Kurbel ausläuft. Die Radfelge ist – gewissermassen um 90° gedreht – im Profil wiedergegeben und so vor die Achse gestellt, dass sie diese beidseitig verdeckt. Auf der Felge sind in roter Textura drei Verse eingetragen; sie beginnen etwa in der 45o-Position, verlaufen im Uhrzeigersinn und enden in der 315o-Position: Est rota fortune mutabilis ut rota lune, 1 Wirth, Lateinische und deutsche Texte, S. 275–281 und 284.
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Fortuna und ihr Rad
ut rota versatur nec in ‹vna› sede moratur: ‹C›rescit, decrescit, in eodem sistere nescit.2 (Tafel XVI.2)
Die Glücksrad-Umschrift zitiert den bekannten Vergleich zwischen dem Glücksrad und dem Mond, wobei die Veränderlichkeit (mutabilitas) tertium comparationis ist. Der dritte Vers konkretisiert den Vergleich und betont das Zunehmen bzw. Abnehmen des Mondes und dessen Unvermögen, am selben Ort zu verbleiben. Dazwischen ist ein Vers geschaltet, der Vers 1 näher erläutert und nochmals die Vorstellung des ruhelosen Rades vergegenwärtigt.3 Um das Rad herum sind in gleichmässigen Abständen sechs männliche Gestalten angeordnet, die sechs Glücks- bzw. Unglückszustände verkörpern. Sie bilden der Länge und Fülle ihrer Kleidung nach Paare, so der oben Thronende (Tafel XVI.2.1) und der unten Liegende mit Mantelumhang in boden- bzw. wadenlangem Kleid (Tafel XVI.2.4), der Sinkende (Tafel XVI.2.2) und der zweite Steigende (Tafel XVI.2.6) in knielangem, der unten Liegende (Tafel XVI.2.4) und der erste Steigende (Tafel XVI.2.5) in wadenlangem Ärmelrock. Darüber hinaus teilt der Thronende (Tafel XVI.2.1) das bodenlange Gewand mit dem Stürzenden (Tafel XVI.2.3). Ihnen ist jeweils ein Spruchband und ein Text zwischen den Radspeichen4 zugeordnet, der ursprünglich wohl gereimt war.5 Die Spruchbänder sind zumeist geschwungen gezeichnet und unterstützen die Bewegung des Rades. Sie 2 TPMA 5, ›Glück‹, Nr. 96–106. Walther, Proverbia, Nr. 7874. Walther, Carmina, Nr. 5838 f. Wander 1, ›Glück‹, Nr. 384. Walther, Rota Fortunae, S. 48– 58, hier: 51 f. Wirth, Lateinische und deutsche Texte, S. 276. Das Sprichwort kommt am geläufigsten als Leoninerpaar vor, wobei mobilis durch die Varianten variabilis oder mutabilis ersetzt werden kann: Est rota Fortune rota variabilis ut rota lune: Crescit, decrescit, in eodem sistere nescit, so im Lied Nr. 17 der ›Carmina Burana‹: München, BSB , Clm 4660, fol. 1r, als Einzelvers in einer Fortunarad-Darstellung in einer Tristan-Handschrift (Berlin, SBB-PK , Ms. germ. quart. 284, fol. 197v [nachgetragen, 1470–1480]): Est rota fortune variabilis vt rota lune. (Hier ist der Mond über Fortuna und ihrem Rad ins Bild gesetzt [Vgl. Anm. 72]) oder in Konrad Bolstatters Losbuch: München, BSB , Cgm 312, fol. 143r. 3 Das Sprichwort ist in der Regel als Verspaar überliefert. Dieser Vers wurde daher wohl nachträglich eingefügt. 4 Diese Texte sind teilweise so stark deformiert, dass ein Sinn nur mit grösster Mühe rekonstruiert werden kann. Im Fall starker Textverstümmelung kristallisiere ich die Hauptaussage heraus; ansonsten wird der Text sinngemäss paraphrasiert. 5 Vgl. Tafel XVI.2.1.1, 2.2.1, 2.3.1 und 2.4.1, wo der ursprüngliche Kreuzreim noch sichtbar ist.
Erläuterungen
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sind durchgehend mit einem deutschen Verspaar textiert. Die Versanfänge beginnen ausnahmslos mit einer rubrizierten Majuskel. Die Inschriften zwischen den Radfelgen haben ebenfalls Teil an der Drehung: ›Dreht‹ man das Rad im Uhrzeigersinn, hängen alle Texte gleichsam an der jeweils oberen Speiche. Drei Texte füllen den Raum zwischen den Speichen nur etwa zu zwei Dritteln. Die Texte zwischen den Speichen sind derart verderbt, dass häufig kein Sinn mehr ermittelt werden kann. Der Grund für die im Vergleich zu anderen Texten ausserordentliche Textverderbnis könnte darin liegen, dass die Texte hier primär dekorative Funktion haben. Oben auf dem Rad thront frontal ein König mit Krone, Weltkugel und Blütenzepter in langem, faltenreichem Gewand und Mantelumhang, der über der Brust von einem Fürspan zusammengehalten wird.6 Sein Spruchband (Tafel XVI.2.1.1) beginnt beim Reichsapfel, hängt dann von der Insignie herab und haftet auf der Felge des sinkenden Rades. Der Text ist kopfüber geschrieben: In allen landen verr vnd weit/ ist erchant mein wirdichait. Das hohe Ansehen des zuoberst Thronenden strahlt weit über das ganze Land. Die Aussage des dazugehörenden Textes zwischen den Speichen lässt nur vage einen Sinn erkennen. Angesprochen wird das irdi‹s›ch[. . .] gelukch, das wohl in chunst, sterch, weishait vnd [. . .] mu´t (Tafel XVI.2.1.2) besteht. Links vom Thronenden gleitet eine zweite Figur auf der Felge sitzend abwärts. Ihre rechte Hand ist an die Wange gelegt und deutet ›Nachdenken‹ an. Das Spruchband (Tafel XVI.2.2.1) ist ebendieser Hand angesetzt und – gegenläufig zum ersten – S-förmig aufsteigend gestaltet: Ich s‹i›nch, gelukch, schir,/ ez w‹i›ll tün gewalt an mir. Die sinkende Figur beklagt die Gewalttätigkeit des schnell wechselnden Glücks. Im Speichentext (Tafel XVI.2.2.1) lässt der Sinkende die Zeit seines Glücks Revue passieren. Er erinnert sich der sich im Glück Wähnenden und sieht ihre Fehler voraus: si gelukch erkennent nicht (Tafel XVI.2.2.2): »Mich haben jene verspottet, mit denen ich mich [zuvor] wohl messen konnte. Mag auch einer [Fortuna] entkommen; sehr leicht entweicht ihm das Glück im Verlauf des Jahres. Ich verwünsche sie nicht, ich wünsche ihnen viel Glück. Ich denke, sie erkennen das Glück nicht.« (vgl. Tafel XVI.2.2.2). Unmittelbar über dem Spruchband des Sinkenden steht linksbündig zum oberen Textfeld ein Leoniner: ‹D›urus et ingratus fer‹i›s/ eris inde grauatus (Tafel XVI.2.2.3) (»Hart und ungnädig schlägst du, deshalb wirst du abgeworfen [?].«). Der Vers ist grammatikalisch fehlerhaft7 und daher nicht schlüssig wiederzugeben. Sicher ist sowohl die zweifache Anrede in der 2. Pers. Sing. (fer‹i›s, eris) des Sinkenden durch Fortuna als auch die künftige Bestrafung (inde grauatus) als Folge ungerechter Herrschaft (durus et ingratus).8 6 Der Zeichner hat die Figur nachträglich nach unten verlängert. Das ursprüngliche untere Ende des Kleides ist gleich unterhalb der Radfelge noch gut sichtbar. 7 Das Verb feras ergibt keinen Sinn und ist am ehesten als Verschreibung von feris (du schlägst; von ferire) zu erklären. Möglich wäre auch ferus (wild). 8 Vgl. Wirth, Lateinische und deutsche Texte, S. 276.
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Fortuna und ihr Rad
Die dritte Gestalt stürzt kopfüber in die Tiefe. Ihre beiden Hände sind nach unten hin ausgestreckt: Die eine Hand hält das Spruchband fest, die andere zeigt auf dessen von unten nach oben zu lesende Inschrift. Das Spruchband (Tafel XVI.2.3.1) beginnt am unteren Randstrich des Bildes, macht einen Bogen um die auf es weisende Hand und endet an der Radfelge. Die Schrift ist versgerecht abgesetzt, d. h. zweizeilig angebracht, das Band bleibt daher zur Hälfte leer: Vnhai‹l› hat mich ser wesessen,/ Gelukch hat mein gar vergessen. Das Verspaar berichtet vom vorausgegangenen Unheil und der jetzigen glückfernen Lage. Die Inschrift zwischen den Speichen (Tafel XVI.2.3.2) thematisiert die Unberechenbarkeit des Glücks:9 »Wer in vollkommener Weise auf dem Glücksrad herrscht, kommt schon im nächsten Augenblick zu Fall (?).« Die unterste Figur liegt unter dem Rad, stützt ihren Kopf auf den rechten Arm ab und schaut nach oben. Der Mann trägt einen Mantelumhang über dem fusslangen Kleid sowie eine turbanähnliche Kopfbedeckung. Das ihm zugeordnete Spruchband (Tafel XVI.2.4.1) beginnt am tiefsten Punkt der Radperipherie und verläuft vom wieder ansteigenden Rad weg nach unten. Das Band ist zweizeilig, aber nicht versgerecht textiert: Groz vngelukch hat mich wegeben,/ darvm müz ich mit trauren leben. Der Text thematisiert die Trauer des vom Unglück Heimgesuchten. Der dazugehörende Text im Rad (Tafel XVI.2.4.2) schildert eine der Willkür des Glücks ausgelieferte Welt, die niemanden schont. Sinngemäss könnte der Text etwa lauten: »Die ganze Welt beruht nur auf Glück allein. Grosse macht es klein; Fürsten, Ritter und Knechte kann es zu Fall bringen. Lange Zeit begünstigt es niemanden, eine Weile wohl kann ein Mensch mit ihm angeben (?).« Der erste Aufsteigende klammert sich mit beiden Händen an der Radfelge fest und kontrastiert mit dem mit hilf- und haltlosen Händen Stürzenden auf der gegenüberliegenden Seite. Das Spruchband (Tafel XVI.2.5.1) ist über ihm an der Felge festgemacht und verläuft senkrecht der rechten Gabel entlang: Gelukchez rad nü lauf dröt,/ seit du nü wel‹ze›s an maniger stat. Die Figur des Aufsteigenden fordert das Glücksrad auf, sich bald zu drehen, wie es das nun vielerorts tue. Im Text zwischen den Speichen (Tafel XVI.2.5.2) nimmt der Aufsteigende die kommende Machtstellung hypothetisch vorweg und gelobt diemutichait und mazze. Ich übersetze den Satz wiederum sinngemäss: »Seht, wäre ich sehr mächtig und ein Fürst über alle Reiche, so würde ich auf mannigfaltige und erstaunliche Weise leben. Ich wünschte, zum Lob Gottes mit den Herrschenden in Demut zu regieren (?).« Der zweite Aufsteigende kniet auf der Felge und hält sich mit der linken Hand daran fest. In der anderen, hochgereckten Hand hält er ein wellenförmig vorwärtsflatterndes Spruchband (Tafel XVI.2.6.1), das sich an seinem aufgerollten Ende mit dem Spruchband Fortunas trifft und einzeilig textiert ist: Ich hoff, gelück erhör mich,/ das ich werd an freiden reich. Die Figur hofft, dass sie vom Glück erhört werde, damit der Freude nichts mehr im Wege stehe. Der Text zwischen den Speichen (Tafel XVI.2.6.2) zeigt den Menschen zwischen überwundener Nachreue und bevorstehender Freude: »Wäre ich ohne Nachreue so frei, dass mir täglich neu 9 Die verschiedenen Satzfragmente in Tafel XVI.2.3.2 lassen sich nicht schlüssig aufeinander beziehen.
Erläuterungen
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von Freude erzählt wird, so bin ich froh darüber. Über alle anderen hinaus [. . .] will ich bekannt werden (?).« Über dem Spruchband steht, als Pendant zum gegenüberliegenden, ein unvollständiger Leoniner. Wiederum in der 2. Pers. Sing. spricht Fortuna den kurz vor der Herrschaft Stehenden an: si regere vis hic et illic (Tafel XVI.2.6.3).10
7.1.2 Fortuna Links des Rades steht Fortuna mit markanter Krone und in weitem Gewand, unter dem die Schuhspitzen hervorschauen. Fortuna sind zwei Spruchbänder zugeordnet, beide zweizeilig angelegt und in leichter Biegung fast senkrecht nach oben ausgerichtet. Das eine (Tafel XVI.3.1) ist sinnbildlicherweise dem Wellenende angesetzt, von unten nach oben lateinisch textiert11 und behandelt in ›Ich‹-Form Fortunas Hauptmerkmal, das Prinzip des ständigen Wechsels. Ihre einzige Konstante ist ihre Wandelbarkeit:12 En ego fortuna, si starem ‹s›orte sub vna? Numquam mutarer, si non fortuna vocarer!13 (Tafel XVI.3.1)
Das zweite Spruchband (Tafel XVI.3.2) beginnt auf Fortunas rechter Schulter, ist oben mehrfach keilförmig gerollt und mit zwei von unten nach oben zu lesenden deutschen Verspaaren beschriftet.14 Fortuna charakterisiert sich als frawe rain und verheisst dem von ihr Begünstigten allez, wez sein hercz wegert. Rechts von der Fortuna-Figur, parallel zur rechten Begrenzung des Bildfeldes, verläuft nahezu über dessen ganze Höhe ein zweizeiliges, nur mehr schwer zu entzifferndes Spruchband (Tafel XVI.4). Der deutsche Text ist so stark verdorben, dass eine Rekonstruktion der Aussage unmöglich ist. Der 10 Die erste Vershälfte, die mit Candeus anstelle von Scandens einsetzt, ist nicht mehr rekonstruierbar. 11 Die zwei Verse sind nicht versgerecht auf die zwei dafür vorgesehenen Zeilen verteilt. Das Anfangswort des zweiten Verses erscheint in der ersten Zeile, ist aber durch Grossschreibung gekennzeichnet. 12 Vgl. Boethius, Consolatio philosophiae (Ed. Gigon), II , pr. 1,10: Philosophia belehrt Boethius über das Wesen Fortunas: Seruauit circa te propriam potius in ipsa sui mutabilitate constantiam. 13 TPMA 5, ›Glück‹, Nr. 94. Walther, Proverbia, Nr. 7087. Wander, ›Glück‹, Nr. 124. Walther, Rota Fortunae, S. 56. Das Sprichwort ist auch als dreizeiliger Dialog sehr verbreitet: O bona fortuna, cur non es omnibus una? En ego fortuna si starem sorte sub una! Et non mutarer, tunc non fortuna vocarer. Der erste Vers leitet in R die untere Sentenzensammlung (Tafel XVI.5) ein. 14 Der Beginn des zweiten Verspaares ist mit einer rubrizierten Majuskel gekennzeichnet, steht aber noch in der ersten Zeile.
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Fortuna und ihr Rad
erste Satz, dem am ehesten noch ein Sinn abzugewinnen ist, thematisiert wohl die beschränkte Einsicht des Menschen in das Funktionieren des Glücks: Gelukchez wassen vil maniger nicht erkene‹t›. Die Darstellung des Rades der Fortuna wird in den Textblöcken oberund unterhalb des Bildfeldes (Tafel XVI.1 und 5) durch zahlreiche lateinische Sentenzen ergänzt. Die durch rubrizierte Majuskeln gegliederten oberen elf Sentenzen (Tafel XVI.1.1–11) sind in vier Fällen mit der Angabe ihrer Quelle verbunden oder lassen sich sinngemäss auf einen Autor zurückführen.15 Sie geben den Inhalt fehlerhaft, aber noch verständlich wieder. Die unten angeführten anonymen Sentenzen (Tafel XVI.5.1–6),16 sechs an der 15 ‹M›ale gerit‹ur›, quidquid fortune geritur fide: Walther, Proverbia, Nr. 14308 (Seneca). Fortuna vitrea est, cum splendet, frangitur: Walther, Proverbia, Nr. 9878 (Publilius Syrus, Sententiae [Ed. Friedrich], M 12). Vgl. dazu: Janota, Fortuna vitrea, S. 344–362, hier: 351. Cum totum fecisse put‹e›s, latet a‹n›gwis in herba: Vergil, Bucolica [Ed. Fairclough], Ekloge III ,92 f: Qui legitis flores et humi nascentia fraga, frigidus, o pueri fugite hinc, latet anguis in herba (auch kontextgelöst im sprichwörtlichen Gebrauch für eine drohende Gefahr: Frigidus, latet anguis in herba). Homines, cum se ‹fortune› committunt, naturam dediscunt: Die Sentenz ist nicht bei Seneca zu finden, wie von Wirth (Lateinische und deutsche Texte, S. 277) angegeben. Den hier angesprochenen Gedanken, dass, wer sich mit Fortuna einlässt, den Charakter verliert, exemplifiziert Plutarch am Beispiel Sullas (Sulla, XXX ). Dazu: Champeaux, Fortuna, Bd. 2, S. 221. Die Sentenz findet sich als einzige im oberen und im unteren Text. Fortuna non adiuvat, sed occupat sibi adherentem. Sehr geläufig ist die positive Variante der Sentenz: Fortuna fortes adiuvat (Cicero, Tusculanae disputationes [Ed. Gigon], 2,11; Livius, Ab urbe condita [Ed. Weissenborn], VIII ,29,5; Vergil, Aeneis [Ed. Götte], X,284; Wander, ›Glück‹, Nr. 79). Non ergo fortune adherere debemus nec aliquando modo nullam confidere non enim est stabilis uel perpetua: Die Mahnung kann man als sinngemässe Quintessenz aus der ›Consolatio philosophiae‹ des Boethius lesen (Ed. Gigon, II , pr. 1). Zur Fortuna instabilis, Cicero, Ad Herennium [Ed Caplan], II ,23,26; IV ,32,44; Plinius, Naturalis historia [Ed. Rackham], II ,22; ThLL , ›Fortuna‹, Sp. 1186. Dazu: Champeaux, Fortuna, S. 191. Cum sis incautus nec rem racione gubernes, non si fortunam, que non est, dicere cecam. Disticha Catonis, IV ,3 (Ed. Boas): Noli si fortunam [. . .]. Hier auch weitere Belege für die Fortuna caeca. Vgl. dazu: Weinhold, Glücksrad, S. 16. 16 Fortunam vincit sapiens virtute: Seneca, Epistulae morales (Ed. Reynolds), 71,30. Vgl. Meyer-Landrut, Fortuna, S. 19. Die Überlegenheit des Weisen über die Willkür der Fortuna ist ein stoischer Gemeinplatz in Senecas Werken. Vgl. auch das Zitat Raro sapienti fortuna intervenit (De constantia sapientis, 15,4). [. . .] fortu‹nam› aliquid nobis trib‹u›is‹se› sive boni sive mali: Seneca, Epistulae morales (Ed. Reynolds), 98,2: Errant enim Lucili, qui aut boni aliquid aut mali iudicant tribuere fortunam: materiam dat bonorum ac
Interpretation
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Zahl, sind im Mittelalter geläufig. Sie lassen sich nur in wenigen Fällen einem Autor zuweisen. Der in roter Textura geschriebene Vers O bona fortuna, cur non es omnibus v‹na›? (Tafel XVI.5)17 hat, formal gesehen, mehrere Funktionen: er ist, als Frage des unter dem Rad Liegenden, Teil des Dialogs zwischen diesem und Fortuna; er kann weiter als zentrierter Titel der unteren Sentenzensammlung gelten; er ist zugleich in Schrift, Farbe und Positionierung – ausserhalb der Zeichnung, aber auf sie bezogen – vor allen anderen Texten ausgezeichnet und somit der eigentliche Titel der Seite.
7.2 Interpretation Die Darstellung der Rota Fortunae soll hier unter vier Gesichtspunkten näher befragt werden. In Kapitel 7.2.1 steht die mögliche Genese der Seite zur Diskussion. Kapitel 7.2.2 gilt den inhaltlichen Schwerpunkten, in Kapitel 7.2.3 umreisse ich eine mögliche Rezeption der Seite. Kapitel 7.2.4 versucht schliesslich eine repräsentative Auswahl von Rotae Fortunae nach Typen zu unterscheiden und deren Gebrauchskontexte zu skizzieren.
7.2.1 Konzeption und Ausführung Die Darstellung des textierten Fortunarades ist in der Ausführung mangelhaft: Texte wie Bild zeigen gescheiterte Versuche, Misslungenes nachträglich zu korrigieren.18 Die Radfelge ist im Profil wiedergegeben, sodass malorum et initia rerum apud nos in malum bonumve exiturarum. Die dritte Sentenz (Nec vita nec fortuna perpetua est hominibus gleicht stark der Publilius-Sentenz Nec vita nec fortuna propria est hominibus (Sententiae [Ed. Friedrich], N 35). Walther, Proverbia, Nr. 16284. Vgl. ebenfalls das TerenzZitat: O Fortuna! Vt numquam perpetuo es data! (Hecyra, V. 406). TPMA , ›Glück‹, Nr. 81. Fortuna qu‹em› ‹n›imium fouet, stultum facit: Publilius Syrus, Sententiae (Ed. Friedrich), F 8. Walther, Proverbia, Nr. 9859, 9866a und 37034. Fortuna lubrica est nec detineri potest: Walther, Carmina, Nr. 10399. ThLL , ›Fortuna‹, Sp. 1187; ›Lubricus‹, Sp. 1689. Zur Fortuna lubrica vgl. Boethius, Consolatio philosophiae (Ed. Gigon), I, car. 5,28. Quintus Curtius, Historia Alexandri Magni (Ed. Rolfe), VII ,8,24: Proinde fortunam tuam pressis manibus tene; lubrica est nec invita teneri potest. Asclepiadus, De fortuna (Ed. Baehrens), 1–3. Dazu: Frakes, The Fate, S. 19. 17 Walther, Proverbia, Nr. 12518 und 13013. TPMA 5, ›Glück‹, Nr. 100 und 417. 18 Im Bild ist das am korrigierend verlängerten Gewand der thronenden Figur zu sehen. Die Textqualität reicht von punktueller Fehlerhaftigkeit bis zur Aneinanderreihung sinnloser Satzteile.
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Höhe und Breite der Felge als zwei konzentrische Kreise erscheinen. Die Kreislinien sind zudem über die Figuren hinweg – oder umgekehrt – durchgezeichnet. Am deutlichsten tritt die mangelhafte Kompetenz des Zeichners in der Darstellung der Radspeichen und der Nabe zutage: Die Speichen enden etwas unbeholfen auf der im Profil wiedergegebenen Nabe. Die Leserichtung des Felgenentextes entspricht der Drehung des Rades im Gegenuhrzeigersinn; die dynamische Gestaltung der Bänder unterstützt die Drehrichtung bzw. den momentanen Stand der um das Rad angeordneten Figuren sinnbildlich.19 Hinter der unbeholfenen Ausführung der Zeichnungen und dem unzureichenden Verständnis der Vorlage ist dennoch eine wohlüberlegte Konzeption der Seite zu erkennen. Besonders deutlich wird diese in der hierarchischen Stufung der Texte in drei Graden. Für den zentrierten Titulus der Subscriptio sowie für die Rota-Inschrift gebraucht der Schreiber rote Textura, für den Haupttext schwarze Textura, für die Spruchbänder, das Radinnere und die obere Spruchsammlung schwarze Bastarda. Die Rota wird zweiseitig von Text eingerahmt und bleibt wohl nicht zufällig nur auf der Seite, gegen die hin die vom Glück Verlassenen in die Tiefe stürzen, offen. Alle sechs Figuren sind wohl mit dem ›Ich‹ in den Texten auf den Spruchbändern und zwischen den Speichen, zu identifizieren, das im günstigsten Fall als thronender König auf dem Rad sitzt, im nachteiligsten als entmachteter, über den Machtverlust sinnierender Herrscher darunter liegt. Die Leoniner – Fortuna redet darin den Thronenden mit ›Du‹ an – sowie die deutschen Texte im und rund ums Rad, in denen die Figur in der ›Ich‹-Form spricht, unterstützen die Bildaussage mit ihren vorausweisenden bzw. zurückschauenden Inhalten. Die enge Abstimmung von Text und Bild wird besonders deutlich an der Figur des zweiten Steigenden (Tafel XVI.2.6), dessen Spruchband unaufhaltsam hinaufflattert und bedeutungs19 Vgl. die gegenteilige Meinung von Wirth, wonach der Text zwischen den Speichen »in der Drehung des Rades entgegengesetzter Richtung« verläuft (Lateinische und deutsche Texte, S. 276). Wirth postuliert eine seitenverkehrte Wiedergabe der Seite mit der weiteren Begründung, Fortunaräder liefen in der Regel im Uhrzeigersinn. Das ist bei der Mehrheit der Fall, beileibe aber nicht bei allen. Vgl. die gesammelten Darstellungen aus Boethius-Handschriften bei Courcelle, La Consolation, Abb. 65–86. Vgl. auch die FortunaradDarstellung der unter Anm. 2 vermerkten ›Tristan‹-Handschrift. Für eine seitenverkehrte Wiedergabe sprechen allenfalls die vertauschten Insignien des thronenden Königs, aber hier kommt entkräftend hinzu, dass sämtliche Zepter tragenden Figuren der Handschrift dieses in der linken Hand halten.
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voll Fortunas Spruchband berührt, die selbstwerbend die Erfüllung aller Wünsche verspricht. Der Textgliederung und Markierung von Textanfängen dient eine rubrizierte Majuskel. Auffällig sind die Füll- und et cetera-Zeichen (besonders in den Spruchbändern), die wahrscheinlich präsentationswirksamer Vollständigkeit halber so häufig vorkommen. Die Diskrepanz zwischen wohlüberlegter Gesamtkomposition und mangelhafter Detailarbeit ist auch den Texten abzulesen. Alle Verspaare sind einer Figur zugeordnet und die Spruchanfänge mit wenigen Ausnahmen richtig gekennzeichnet. Die Textinhalte dagegen lassen auf eine mechanisch-unüberlegte Abschrift schliessen.20 Besonders fehlerhaft sind die kleingeschriebenen Texte zwischen den Speichen, der Text im rechten, bildbegrenzenden Spruchband und die lateinischen Sentenzen. Die Skala reicht von leicht erklärbaren Verschreibungen21 bis zu nicht mehr nachvollziehbaren Fehlern, die den Sinn des Satzes entstellen. Die meisten Fehler sind paläographisch nicht zu begründen und lassen vermuten, dass der Schreiber nicht verstand, was er abschrieb.22 Der lateinische Text beschränkt sich auf die Sentenzensammlung und auf die zwei Sprüche der Radfelge und der personifizierten Fortuna, manifestiert sich also genau dort, wo alttradierte Spruchweisheit an den Rezipienten gebracht werden soll. Das Latein sanktioniert sozusagen die Richtigkeit und Verbindlichkeit der hier propagierten Lebensweisheit, auch wenn sie in sprachlich defekter Form weitervermittelt wird. Die bildnahen Inschriften werden in deutscher Sprache mitgeteilt.23 Offen bleibt, ob die Sentenzen aus einer Florilegiensammlung exzerpiert wurden oder ob sie bereits in einer identischen Vorlage greifbar waren. Das rechte langgezogene Spruchband (Tafel XVI.4) ist keiner Figur zugeordnet und als appellatives ›Resümee‹ des Concepteurs an die Betrachter der Rota gedacht. Soweit lesbar, beklagt dieser in seinem Fazit die beschränkte Einsicht des Menschen in das Wesen des Glücks, was sich gut an 20 Möglicherweise war schon die Vorlage in schlechtem Zustand, sodass Fehler bei der Abschrift weitergegeben wurden. 21 Grescit statt Crescit (Tafel XVI.2), dein statt dem (Tafel XVI.2.3.2), forte statt sorte (Tafel XVI.3.1). 22 Quale statt Male (Tafel XVI.1.1), nature statt fortune (Tafel XVI.1.6), Vnhait statt Vnhail (Tafel XVI.2.3.1), Sexta statt Seneca (Tafel XVI.5.1), tribis statt tribuisse (Tafel XVI.5.2) Vom Vorrang der Darstellung gegenüber dem Inhalt zeugt auch die Zeilenabsetzung, so z. B. bei den Leoninern, die nicht nach Reim abgesetzt sind, sondern – besonders derjenige des Steigenden – mit dem Ziel, gleich lange Zeilen zu erreichen. 23 Vgl. Wirth, Lateinische und deutsche Texte, S. 281.
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die Sentenz Catos (Tafel XVI.1.11) anbinden lässt, die in ähnlicher Weise den Mangel an Vernunft anprangert.
7.2.2 Inhaltliche Schwerpunkte Der Titulus der Subscriptio (Tafel XVI.5) stellt den optischen Bezug zur gleichgradigen, aber durch die Krümmung schlechter lesbaren und somit hinter die Subscriptio zurückgesetzten Rota-Inschrift (Tafel XVI.2) her und initiiert so den Einstieg in die Rezeption der Seite. Gleichzeitig kristallisiert dieser Titulus den Inhalt der Seite in einer rhetorischen Frage, auf die einerseits Fortuna im lateinischen Text des ersten Spruchbandpaares an der Kurbel (Tafel XVI.3.1) antwortet, die andererseits dem Rezipienten zur Reflexion überantwortet wird.24 Die Subscriptio bleibt in ihrer Offenheit gleichzeitig nach ›innen‹ auf die Figur Fortunas, nach ›aussen‹ auf den Kreis der Rezipienten bezogen. Sie thematisiert die Wirkung des Glücks auf den Menschen. Nur der Weise vermag sich kraft seiner Tugend diesem Einfluss zu entziehen und Fortuna zu besiegen: Fortunam vincit sapiens virtute (Tafel XVI.5.1). Dieses Relikt stoischer Philosophie wird nach Seneca (Sexta, Tafel XVI.5.1) zitiert, um Fortuna eine mindestens ebenbürtige Kraft entgegenzusetzen.25 Die folgenden Sentenzen (Tafel XVI.5.2–6) dokumen24 Die rhetorische Frage O bona fortuna, cur non es omnibus v‹na›? (Tafel XVI.5) leitet auch die Rota ein, die Konrad Bolstatters Losbuch abschliesst. Vgl. den Kommentar von Karin Schneider (Ein mittelalterliches Wahrsagespiel, S. 119). Meiners, Rota Fortunae, S. 399–414, hier: 399 f. In der FortunaradDarstellung der Berliner Tristan-Handschrift N ist die gleiche Frage einem höfisch gekleideten Jüngling in den Mund gelegt, der Fortuna gegenübersteht. Vgl. Anm. 2. 25 Der Gedanke der überlegenen Kraft der virtus bzw. sapientia über fortuna war im Mittelalter weit verbreitet, so durch den anonymen Traktat ›De remediis fortuitorum‹ und durch Vinzenz von Beauvais (Speculum doctrinale, V,120). Vgl. dazu Kapitel 3.3.5 in Teil B. Vgl. dazu: Steer, Das Fortuna-Bild, S. 183– 207, hier: 187. Bildkünstlerische Umsetzungen des Motivs sind eher selten und vorwiegend in Boethius-Handschriften (Courcelle, La Consolation, Abb. 72–86) und Chronik-Handschriften anzutreffen. Im letzten Fall streiten sapientia und fortuna um die Vorherrschaft über die Lenkung der Geschichte. Vgl. die Darstellung in der Handschrift MS 66 der Parker Library des Corpus Christi College in Cambridge, fol. 66r (11. Jh.). Dazu: Schilling, Rota Fortunae, S. 293–313, hier: 307 f. (Abb. 4). Meyer-Landrut, Fortuna, S. 58–66, bes. 60 f. Zur weiteren Entwicklung des Gegensatzpaares in der BarockEmblematik vgl. Kirchner, Fortuna, S. 84–93. Eine beliebte Emblem-Darstellung zeigt den Sapiens supra fortunam (Abb. 22 f.).
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tieren diese fundamentale Einsicht. Der zweite Spruch (Tafel XVI.5.2) relativiert die Macht Fortunas, den Menschen Gutes oder Schlechtes zu schenken.26 Der Glaube an Fortuna macht dumm (Tafel XVI.5.5) und führt zum Verlust des Wesens (Tafel XVI.5.4). Der Mensch tut gut daran, sich ihre Kurzlebigkeit und Flüchtigkeit vor Augen zu halten (Tafel XVI.5.7). Die Sentenzensammlung in Bastarda oben auf der Seite umfasst elf Mahnungen (Tafel XVI.1.1–11), die zuweilen drastisch die Folgen der Fortuna-Verfallenheit exemplifizieren. Eingeleitet wird die Sammlung wieder mit einem Seneca-Zitat: Schlecht glückt, was im Glauben an Fortuna gründet (Tafel XVI.1.1). Die Skala der Warnungen reicht von allgemeinen Charakteristiken Fortunas als gläsern und labil bis zu ihren tödlichen Auswirkungen: Sie richtet viele Unerfahrene zugrunde und tötet sie (Tafel XVI.1.3).27 Der resignierende Ton findet seinen Abschluss im negativen Fazit des Concepteurs im grossen Schriftband rechts (Tafel XVI.4). Die Darstellung Fortunas auf der letzten Seite der Handschrift korrespondiert ikonographisch und inhaltlich mit der Anfangsseite (Tafel I ). Beide Male greift der Zeichner zu einem Kreismodell, beschliesst er die Seite unten in der Mitte mit einer Subscriptio, und beide Male geht es um die Stellung des Menschen unter dem Einfluss äusserer Kräfte, genauer, um die Frage, wieweit er seine Handlungsautonomie gegen die Kräfte des Zufalls respektive gegen astrale Einflüsse durchsetzen kann. Die Conclusio aus den Worten der vier Weisen in den vier Medaillons von fol. 1r (Tafel I.4.1–4) lautet analog zum Fazit der Schlussseite: Der Weise beherrscht die Sterne.28 Die Korrespondenzen sind aber bedeutend enger, berücksichtigt man die ikonographische Nähe der Rota Fortunae zur schematischen Darstellung des Mundus. In der Rota-Form schwingt immer auch eine kosmologische Komponente mit, d. h. Darstellungen der Rota Fortuna implizieren – besonders in frühen Darstellungen – Konnotationen zum ewig beweglichen Mundus (Universum) oder zu dessen innerstem Kreis, dem immobilen Orbis terrae (Erde).29 Die Drehung des Fortunarades wird ineins gesetzt mit 26 Seneca, Epistulae morales (Ed. Reynolds), 98,2: Valentior enim omni fortuna animus est et in utramque partem ipse res suas ducit beataeque ac miserae vitae sibi causa est. 27 Zur unterschiedlichen inhaltlichen Akzentuierung in der oberen und unteren Sentenzensammlung vgl. Wirth, Lateinische und deutsche Texte, S. 279. 28 Concludo ergo veraciter, quod vir sapiens dominatur astri‹s›, ut inquid expresse Tholomeus in Almagesti (Tafel I.5). 29 Die Vermischung der beiden Vorstellungen hat erstmals Ernst Kitzinger am Beispiel des Bodenmosaiks von San Salvatore in Turin aufgezeigt: World Map, S. 344–373, hier: 365 ff.
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dem Lauf der Welt; im Einzelschicksal spiegelt sich der Weltlauf. Die Gleichsetzung von Erdkreis und Rad im Bild hat ihre Voraussetzung in Isidors ›Etymologiae‹30 und zahlreichen späteren Texten,31 die Erdkreis und Rad, bei Isidor ursprünglich im Vergleich verbunden, schliesslich als austauschbare Begriffe verwenden,32 gleichsam parallel zur Entwicklung des Bildtyps ›Fortunarad‹ aus der Weltkugel, die der Göttin in der Antike als Attribut beigegeben wurde. Dieser kurze Exkurs zum gemeinsamen symbolischen Hintergrund von Erdkreis und Rad sollte aufzeigen, dass Anfangs- und Schlussseite von R durch die Genese des Radsymbols und seiner thematisch verwandten Verweiszusammenhänge33 eng miteinander verknüpft sind: Die Rota Fortunae als Sinnbild des Weltlaufs entspricht dem A‹m›bitus ter‹r›e (Tafel I.3) auf fol. 1r; ihr Lauf wird ausdrücklich, d. h. in roter Textura, mit dem Lauf des Mondes verglichen – rota fortune mutabilis ut rota lune (Tafel XVI.2); wie beim Mond gründet ihre Beständigkeit im Wechsel von Zunahme und Abnahme – ‹C›rescit, decrescit (Tafel XVI.2). Hier wie dort behauptet sich der Weise gegenüber dem Einfluss lebensrelevanter Kräfte, seien es eher allgemein kosmologische, seien es unmittelbar auf das persönliche Glück bezogene. Als ›Umschlagsbilder‹ der Handschrift stellen sie deren Inhalt in einen auf den Makrokosmos ausgreifenden Sinnzusammenhang und manifestieren so den intendierten ›enzyklopädischen‹ Anspruch. Zur Enzyklopädie im engeren Sinn des Wortes macht sie der Weise; von seinem Wissen und seiner Einsicht hängt es ab, wie weit die Handschrift die Welt zu erschliessen vermag. 30 Isidor von Sevilla, Etymologiae (Ed. Lindsay), XIV ,2,1: Orbis [i. e. terra] a rotunditate circuli dictus, quia sicut rota est [. . .]. 31 Bernhard von Morlas, De contemptu mundi (Ed. Pepin), I,980 ff: Orbis honos ruit et fugit et fluit orbe dierum. Ut rota volvitur indeque pingitur ut rota mundus, Quippe volubilis et variabilis ac ruibundus. Die Drehung des Rades bezieht sich nicht auf eine physische Drehung der Erde, sondern symbolisch auf den Lauf der Welt. Mundus wird hier als Synonym für Orbis verwendet. Zu dieser Begriffsüberlagerung Kitzinger, World Map, S. 366. Vgl. auch Meyer-Landrut, Fortuna, S. 47. 32 So in der 1193 entstandenen ›Elegia de diversitate fortunae‹ des Heinrich von Settimello (Ed. Cremaschi, II ,105–108), einer erbitterten Wechselrede zwischen dem Autor-Ich und Fortuna nach dem Vorbild des Boethius: Fortuna droht der Welt (orbis), ihre legitime Kunst des Drehens unerbittlich anzuwenden: Ast ego, que dea sum, qua nulla potentior orbe, quem ligat Occeani circulus orbe suo, nonne meam licite, stultissime, prosequar artem? Sic opus est ut te precipitando rotem. 33 Zur vielschichtigen Vermengung von Glück und Welt im Radsymbol vgl. Skowronek, Fortuna, S. 91 f.
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Der Erfolg des Weisen bleibt in Hinblick auf die Allmacht Fortunas auf prekäre Weise in der Schwebe. Der Glaube an die Weisheit wird hier auf ähnliche Weise wie schon bei der Reihe der Frauensklaven ironisch unterwandert. Die Eingangsfrage nach der ungleichen Zuteilung des Glücks beantwortet sich mit der lapidaren Feststellung Fortunas im Spruchband an der Kurbel, ihre Tätigkeit zu ändern, hiesse ihr Wesen ändern – ein Ding der Unmöglichkeit. Die rhetorische Eingangsfrage bleibt angesichts ihrer intendierten Reflexion obsolet, ihre scheinbare Beantwortung nicht mehr als ein ironischer Zirkelschluss. Die frawe rain (Tafel XVI.3.2), wie sich Fortuna selbst bezeichnet, ihre selbstgepriesene trew (vgl. Tafel XVI.3.2) sind trügerisch. Dem Schlussbild der Frauensklaven-Doppelseite entsprechend34 verweist die ironische Selbstcharakterisierung Fortunas auf die im ›Publilius‹-Zitat als Folge übermässiger Glückssegnung drohende stultitia (vgl. Tafel XVI.5.5). Das raine weib (vgl. Tafel XV .5.3) des Pseudo-FrauenlobTextes, das sich im Bild als Frau Minne oder Frau Venus entpuppte, die Pfeile und Feuer zum Einsatz bringt, und die frawe rain Fortuna gehen ineinander auf. Damit gelangt man in den Gedankenkreis klerikaler Contemptus-mundi-Literatur. Die stultitia ist eine Hauptvoraussetzung für die verderbliche Weltliebe, die in der Frau-Welt-Allegorie einen textlichen und bildlichen Ausdruck findet. Analog zur Begegnung mit der Frau Welt verläuft auch das Spiel der Fortuna über drei Grundsituationen, derweil sich ihr reizvoller Schein als trügerisch entpuppt: Der Mensch gibt den Lockungen Fortunas nach und lässt sich ein auf ihr Spiel mit dem Rad, bis er schliesslich ins Unglück stürzt.35 Damit sind auch die massiven Warnungen der Sentenzensammlung zu erklären, die Fortuna in die Nähe der Anklageschrift Heinrichs von Settimello rücken. Dieser bezeichnet, auf Boethius stützend, Fortuna in einer erbitterten Wechselrede als Hure: Que peiora potes, meretrix fortuna, noverca pessima, Medea dirior, Ydra ferox?36 Der Angleichung von Frau Welt und Fortuna im Text entspricht die Analogie im Bild: beide können als Zeichen ihres Wankelmutes einbeinig auf einer Kugel stehen.37 Die Schlussseite (Tafel XVI ) bleibt offen für eine Deutung in malo, die rückkoppelnd an fol. 8r (Tafel XV ) vor dem amor mundi warnt, wie auch für eine Lesart in bono, die zur Contemplacio sapiencie (Tafel XIII , fol. 7r) 34 Das chain maister nie so weis ward,/ dicz weiz an der toren vart (Tafel XV .7). 35 Zur Analogie von Welt und Fortuna vgl. Skowronek, Fortuna, S. 45–48. 36 Elegia de diversitate fortunae (Ed. Cremaschi), II ,77 f. Zum Motiv Fortunas als Hure vgl. Young, Fortune, S. 57–67, hier: 61 ff. 37 Stammler, Frau Welt, S. 65. Skowronek, Fortuna, S. 81 f. Weinhold, Glücksrad, S. 16 f. Herkommer, Frau Welt, S. 177–228, bes. 184–197.
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anleiten soll und in der die Handschrift programmatisch einfassenden Erkenntnis des vir sapiens kulminiert, dass auf der Grundlage der Einsicht in die gegenseitige Abhängigkeit von Mikrokosmos und Makrokosmos eine umfassende Weltkenntnis und so die Selbstbehauptung gegenüber der Welt zu erlangen ist. Die Analogie zwischen Frau, Welt und Glück hinsichtlich Willkür und Unfassbarkeit, ihre (moralisierende) Reduktion auf Verführung und Wankelmut lässt sich auch als Reaktion auf ein Unvermögen lesen, die hier rational Unerschliessbares, nicht Beherrschbares personifizierend festlegt und bewältigt.
7.2.3 Rota und Sentenz in der Rezeption Die Schlussseite vereinigt mit der Rota und der Sentenz zwei besonders publikumswirksame Formen der Vermittlung. Die Rota als Universalmotiv, flankiert von der Personifikation der Fortuna, birgt in ihrer spezifischen Narrativik eine hohe kommunikative Effizienz.38 Dazu trägt wesentlich die Dialogstruktur des Textes bei, der, auf der boethischen Konzeption Fortunas als allegorischer Figur fussend, den Rezipienten einlädt, seine individuellen Glückserfahrungen in Gedanken durchzuspielen und so das Rad zur Drehung zu bringen. Die Bildlektüre kann bei einer beliebigen Figur auf der Rota beginnen, sie in Bezug zur vorausgehenden, nachfolgenden oder gegenüberliegenden setzen und eine reiche Diskussion initiieren, die anhand assoziativ gewählter Diskussionspunkte wie Macht und Ohnmacht oder Reichtum und Armut Lebens- und Weltlauf in ihren gegenseitigen Bedingungen zu erkennen und zu verstehen versucht. Die textierte Rota liefert dazu das Modell und legt das Prinzip des geschlossenen Kreislaufs fest.39 Das Spektrum der diskutierten Themen bleibt grundsätzlich offen und unbegrenzt wie die Vielfalt der persönlichen Erfahrungen, die unter der Struktur des rotierenden Auf und Ab subsumiert werden können; der Charakter der Diskussion wird ebenfalls je nach Intention und Publikum auf moralische Verbindlichkeit pochen oder es mit souveräner Distanz sein lassen. Gerade in der Eignung der Rota, den Wandel des Lebens zu fassen und der Offenheit des Modells, diesen Wandel in immer neu zu definierende Bildrelation zur Macht der Fortuna 38 Zur Narrativik der Rota Fortunae vgl. Thürlemann, Die narrative Sequenz, S. 141–156, hier: 150. Vgl. auch Kirchner, Fortuna, S. 22 ff. 39 Kirchner, Fortuna, S. 22 ff.
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zu setzen, liegt der Erfolg einer der populärsten Erfindungen des Mittelalters. Die Rota richtet sich mahnend an den Benutzer der Handschrift, für sich mittels der in der Handschrift vermittelten Weisheit den Radmechanismus zu durchbrechen. Vermittelt wird hier ein Weisheitsbegriff, der – wie die beigefügten Sentenzen zeigen – wohl auf antikem, versatzstückartigem Wissen gründet, aber stark christlich gewichtet wird. Die lateinischen Texte der Seite repräsentieren die gelehrte, letztlich antike Bildungstradition. Was die Handschrift an Inhalten vermittelt, ist aber integriert in ein christliches Tugendsystem. In dieser Sichtweise ist die Rota als Appell an eine demütige Lebenshaltung zu verstehen, wie sie im Tugendbaum (Tafel X , fol. 5v) in systematischer Form auf Christus als humilitasVorbild zurückgeführt wird. Die Rota Fortunae kommt in dieser Hinsicht der Funktion der ersten Fortunaräder – meist ohne Personifikation der Fortuna selbst – an Kirchenfassaden und in Fussbodenmosaiken sakraler Räume sehr nahe. Diese mahnen, das zufallsbeherrschte Diesseits im Vertrauen auf die Allmacht Gottes hinter sich zu lassen.40 Dem lehrhaft-mahnenden Charakter der Rota wird zusätzlich Gewicht verliehen durch die Sentenzen antiker Provenienz. Die Autorität dieser literarischen Kleinstform beruht mehr auf ihrer tradierten Latinität und ihrem unstrittigen Erfahrungsgehalt als auf der Autorschaft. Das vermittelte Wissen ist offenbar dem sprichwörtlichen Gebrauch bereits so nahe, dass der Autor in vielen Fällen anonym bleiben kann. Die Vermittlung von autorabgelöstem Kanonwissen als Folge kopialer Überlieferung zeigt sich gerade auch im Fall von R: Die Mehrheit der Sentenzen ist keinem Autor zugewiesen, was ihre Funktion als Ausgangspunkt aktueller Diskussion und weitergehender Reflexion keineswegs beeinträchtigt. Das Latein als wirksamer Ausweis antiker Gelehrsamkeit, gefasst in leicht übertragbare, wiederverwend- und verwertbare Setenzen, verrät zugleich, wieweit die Handschrift hinter der im Riesen-Zwerg-Gleichnis (Tafel IX , fol. 5v) beschworenen Vollendung antiken Wissens durch mittelalterliche Gelehrsamkeit zurückbleibt. Über die Intensität der Rezeption kann man nur spekulieren. Die Sentenzen vermögen bei entsprechender Textqualität weit mehr als nur den passiven Nachvollzug antiken Formelwissens auszulösen. Wie weit die Sentenzen hier über dekorative Funktionen hinausgehen, hängt von der Erschliessungsleistung der Rezipienten ab. Was immer bleibt, ist der blosse Anspruch auf Wissen und Bildung und seine möglichst reiche Dokumentation. In der ausgiebigen Textierung des Fortunarades mag auch 40 Meyer-Landrut, Fortuna, S. 41–47. Schilling, Rota Fortunae, S. 312.
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– wie schon in der übervollen Reihe der Frauensklaven – der moraldidaktische Anspruch der Handschrift – und mehr noch ihrer Vorlage – zum Ausdruck kommen. Wie man dort lieber ein Exempel zu viel als zu wenig statuiert, stattet man hier die Rota lieber mit zu viel als zu wenig Text aus und rahmt sie mit der Aura lateinischen Bildungsguts. Hinter der reichen Textierung mag auch noch das Misstrauen einer gelehrten Moralvermittlung gegenüber dem Aussagevermögen nur bildlicher Darstellungen stehen und das Bemühen, die Insuffizienz des Bildes durch Textquantität auszugleichen.41
7.2.4 Bildtypen und Kontexte Die Rota Fortunae ist im Hoch- und Spätmittelalter ein beliebtes Bild- und Textmotiv. Ihr Kontextspektrum reicht von der Kathedralfassade bis zur Spielkarte, und dementsprechend vielfältig sind die Bildtypen und Varianten. Drei Grundtypen lassen sich ikonographisch und chronologisch unterscheiden:42 (1) Das Rad ohne die Fortuna-Gestalt ist mit vier Königsfiguren besetzt und mit der auch später immer wieder anzutreffenden Viererformel regnabo – regno – regnavi – sum sine regno textiert. Das früheste Beispiel für diesen Typ stammt noch aus dem 11. Jahrhundert und ist erhalten in einer Handschrift aus Montecassino.43 Diesem Typ ist auch eine Reihe von Kathedralrosen zuzurechnen.44 (2) Die Fortuna extra rotam: Hier dreht Fortuna mit einer Kurbel das Rad oder steht bzw. sitzt dahinter und greift in die Speichen.45 Das früheste bekannte Beispiel ist die Darstellung aus dem ›Hortus deliciarum‹ der Herrad von Landsberg (12. Jh.).46 (3) Die Fortuna in rota tritt zum ersten Mal auf einem Fussbodenmosaik der Kathedrale San Salvatore in Turin auf (Ende 12. Jh.). Fortuna steht oder sitzt im Rad selbst, evoziert so, dass sie darin mitgedreht wird und bietet vielfältige Deutungsmöglichkeiten symbolischer Art.47 In der Kathedrale San 41 Vgl. Wirth, Lateinische und deutsche Texte, S. 281. 42 Vgl. Kitzinger, World Map, S. 363 f. Steer, Das Fortuna-Bild, S. 184 f. HahnWoernle, Die Ebstorfer Weltkarte, S. 185–199, hier: 186–189. Pickering, Literatur, S. 132–145. 43 Cassino, BMN , ms. 189, fol. 73r und 73v. Courcelle, La Consolation, S. 141 ff. Thürlemann, Die narrative Sequenz, S. 154 ff. 44 Steer, Das Fortuna-Bild, S. 185. Doren, Fortuna, S. 71–144, hier: 71. 45 Am gebräuchlichsten ist hier wieder die Viererformel. Seltener ist die Besetzung des Rades mit sechs oder mehr Figuren. 46 Ed. Green, fol. 215r. Meyer-Landrut, Fortuna, S. 52 f. 47 Steer nennt sie in Hinblick auf seine Interpretation der Rota in der ›Carmina-
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Salvatore erscheint Fortuna in ihrem Rad als Mittelpunkt der Erde, umkreist vom Ozean, gleichsam inmitten einer mappa mundi.48 Die Verbindung mit dem mundus oder orbis terrae ist bei diesem Beispiel offensichtlich, drängt sich aber nicht zwangsläufig in allen Fortuna in rota-Darstellungen auf. Etwas weniger explizit lässt sich die Verbindung mundus/orbis – rota an Darstellungen des ersten und zweiten Bildtyps festmachen – am besten vor dem Hintergrund der antiken Fortuna-Gestalt auf dem labilen Globus49 und der literarischen Gleichsetzung von Rad und Erdkreis.50 Bereits das Beispiel aus Montecassino illustriert, wie der Künstler noch das antike Bildmuster im Kopf hatte: Die Figur auf dem Rad ist im Verhältnis zu diesem übermässig gross und erinnert an die Fortuna auf dem Globus.51 In anderer Weise ausgeprägt ist die mundus-Vorstellung im oben erwähnten Beispiel aus dem ›Hortus deliciarum‹. Die Inschrift der Radwelle setzt Welt und Rad ineins: Sicut rota voluatur sic mundus instabili cursu variatur. 52 Fortuna sitzt zudem auf drei Felsen,53 die mit terra bezeichnet sind. Die erläuternden Beischriften geben Hinweise genug, dass der Aufstieg und Fall des Königs als Sinnbild für den Lauf der Welt zu gelten hat. Auch die mundus-entfremdende Darstellung des Rades mit Kurbel vermag diese Bedeutungskomponente nicht zu unterdrücken. Eine transzendentale, von der Glückssituation des einzelnen Menschen zu abstrahierende Bedeutung vermitteln schliesslich die Rota-Darstellungen an und in sakralen Räumen. Mit dem Eintritt in die Kirche bzw. mit dem Überschreiten eines Fussbodenmosaiks vollzieht der Glaubende die
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Burana‹-Handschrift (München, BSB , Clm 4660, fol. 1r) auch fortuna symbolica (S. 185). Kitzinger, World Map, S. 350. Nicklies, Cosmology, S. 108–125, hier: 118. Vgl. auch Kupfer, The Lost Wheel Map, S. 286–310, hier: 305–308. Wackernagel, Das Glücksrad, S. 134–149, hier: 142 f. Doren, Fortuna, S. 74. In Anlehnung an die Antike wird Fortuna auf der Kugel besonders durch die Allegorien der Renaissance und des Barocks zum ikonographischen Allgemeingut. Vgl. Jean Cousin, Livre de Fortune (Ed. Lalanne), Abb. 1, 15, 81, 105, 151, 173, 193 und 199. Ebenfalls Meyer-Landrut, Fortuna, S. 157–164. Honorius von Autun, Speculum ecclesiae (PL 172,1057): Scribunt itaque philosophi quod mulier rotae innexa jugiter circumferatur; cujus caput nunc in alta erigatur, nunc in ima demergatur. Rota haec quae volvitur est gloria hujus mundi quae jugiter circumfertur. Mulier rotae innexa est fortuna gloriae intexta. Die Gleichsetzung von Rad und Erdkreis mag auch die auf Ps 76,19 basierende Vorstellung Gottes im Rad unterstützt haben. Dazu: Dow, The Rose-Window, S. 248–297, hier: 272 f. Kitzinger, World Map, S. 363. Courcelle, La Consolation, S. 142 und Abb. 66. Zit. nach Courcelle, La Consolation, S. 145. Es ist an die drei im Mittelalter bekannten Kontinente zu denken.
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Absage an das an der Wand oder auf dem Boden durch die Rota symbolisierte Diesseits.54 Ausser im Sinngehalt des Fortunarades und der mit ihm konnotierten Bedeutungen lebt Fortuna im Mittelalter in drei Bedeutungszusammenhängen weiter: in augustinisch-boethischer Tradition als Handlangerin der göttlichen Providentia,55 in stoisch-christlicher Weisheitskonzeption als Konkurrentin der Sapientia bzw. Virtus56 und im Fortleben der römischen Fortuna Imperatoris, die besonders in bezug auf das immerwährende Glück Cäsars als Fortuna Caesarea57 bezeichnet wird und symbolisch die stabilitas mittelalterlichen Herrscherheils zum Ausdruck bringt. Der mittelalterliche Umgang mit den umrissenen Bildtypen ist variantenreich und reicht von der einfachen Erweiterung bis hin zur Kontamination mit verwandten Bildvorstellungen. Ein paar Zeugnisse seien hier erwähnt, die zeigen, dass der Variation des Motivs fast keine Grenzen gesetzt sind. Diese beginnt bei der Anzahl der um das Rad angeordneten Figuren, die am häufigsten einen König typisieren, aber auch mit historischen Personen identifiziert werden können. Die Figuren müssen nicht zwingend als ein und dieselbe Figur in verschiedenen Glückssituationen aufgefasst werden.58 Möglich, aber seltener, ist die Besetzung des Rades mit verschiedenen Figuren. Eine weitere Variationsmöglichkeit besteht in der Kombination Fortunas mit einer Assistenzfigur. Hier können weitere Personifikationen auftreten wie Sapientia oder Philosophia,59 aber auch neutrale Figuren.60 In der Regel wird das Rad bei dieser Anordnung zentral dargestellt und von den im Dialog befindlichen Figuren flankiert. In die Dialogsituation werden die Rezipienten einbezogen, wo ihnen wie in R eine Frage in den Mund gelegt wird. 54 55 56 57
Vgl. Dow, The Rose-Window, S. 281 f. Vgl. dazu: Haug, O Fortuna, S. 1–22, hier: 4 ff. Vgl. Meyer-Landrut, Fortuna, S. 115–122. Vgl. Champeaux, Fortuna, Bd. 2, S. 267–271. In dieser Weise wurde die Fortuna-Darstellung in der ›Carmina Burana‹-Handschrift München, BSB , Clm 4660 von Steer (Das Fortuna-Bild, S. 187 f.) ausgelegt. Gegenteiliger Meinung ist, mit Verweis auf fehlende Indizien in den entsprechenden Fortuna-Gedichten und auf die Festigkeit des Bildtyps, Benedikt Konrad Vollmann (Carmina Burana [Ed. Vollmann], S. 1290 f.). 58 So auf dem Titelbild einer Boethius-Handschrift, wo Boethius selber und der in der ›Consolatio philosophiae‹ erwähnte Lydierkönig Crösus (II , pr. 2) dargestellt sind: Heiligenkreuz, StiB, Cod. 130, fol. 1v. Dazu: Meyer-Landrut, Fortuna, S. 49 ff. Vgl. Karlsruhe, BLB , Donaueschingen 37 (fol. 96v). Hier ist nach dem ›Anticlaudianus‹ des Alanus ab Insulis (Schilderung des Glücksrades) eine Rota abgebildet, ohne Figuren freilich, aber beschriftet mit den Namen römischer Könige: Jülius regno – Marius regnabo – Sy¨lla sum sine regno – Pompeius regnaui. 59 Cambridge, CCCC , MS 66, fol. 66r. Vgl. Anm. 68. 60 So in der Darstellung der ›Tristan‹-Handschrift Berlin, SBB-PK , Ms. germ. quart. 284, fol. 197v (Anm. 2) und im Wandgemälde auf Schloss Lichtenberg in Tirol (von Schlosser, Die Wandgemälde, Taf. 10).
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Komplexer sind Variationen mit zwei konzentrisch ineinandergelegten Rädern. Die Doppelung des Rota-Motivs verrät die angestrebte Vermittlung zweier eng aufeinander bezogener oder miteinander vermengter Inhalte. In dieser Form wurde die Rota Fortunae mit dem Ablauf des menschlichen Lebens verknüpft61 oder, eschatologisch ausgerichtet, mit dem Rad des Jüngsten Gerichts.62 Ein weiterer Schritt bewussten oder unbewussten Spielens mit dem Bildtyp des Fortunarades stellt die Kontamination mit dem Lebensrad dar.63 Dabei werden die personifizierten Lebensalter um das Rad verteilt. Die Drehung des Rades wird gewahrt; die Radpositionen korrelieren mit den Lebensaltern, sodass in der Regel iuventus oben rangiert und unten – um der Symmetrie und des geschlossenen Kreislaufs willen – creatio und corruptio miteinander kontrastieren. Fortuna dreht das Rad, so dass die Vergänglichkeit des Lebens als Teil der Vergänglichkeit alles Irdischen sichtbar wird.64
Die Funktionen von Fortunarädern sind so vielfältig wie die Kontexte, in denen sie auftauchen. So universal sie auftreten, so allgemein bleibt in der 61 So als Titelbild-Darstellung zum ›Bellum Judaicum‹ des Flavius Josephus in einer Handschrift aus dem bayerischen Kloster Scheyern, die zwischen 1226 und 1241 datiert wird (München, BSB , Clm 17404, fol. 203v). Hier ist die Rota Fortunae von einem zweiten Kreis umgeben, worin sich der Lebensfaden über die drei Parzen von links nach rechts hinzieht. In den Ecken des Bildfeldes erscheinen die vier personifizierten Jahreszeiten. Dazu: Meyer-Landrut, Fortuna, S. 66 ff. (Abb. 14). Hahn-Woernle, Die Ebstorfer Weltkarte, S. 197 f. 62 Vgl. die Titelminiatur zur moraldidaktischen Sammelhandschrift Berlin, SBBPK , Ms. Ham. 390, fol. 2v (13. Jh.). Das Fortunarad ist hier umgeben von einer Gerichtsdarstellung in Kreisform: oben thront in der Maiestas Domini-Position Christus als Richter mit dem Schwert im Mund, umgeben von Posaunen blasenden Engeln. Unten sind noch undeutlich die Höllenflammen und zwei Teufel sichtbar, links werden die Erlösten emporgetragen, rechts die Verdammten herabgestossen. Das Prinzip des geschlossenen Kreislaufs wird hier durchbrochen zugunsten des einmaligen Gerichts, das einen endgültigen Aufstieg oder Fall bedeutet. Zusätzlich läuft hier die Vorstellung des auf der Erde thronenden Gottes (Is 66,1: Caelum sedes mea, terra autem scabellum pedum meorum) der Idee des sich drehenden Rades zuwider. Ergänzt werden die beiden konzentrischen Räder durch eine zweite, vertikale Leserichtung, die von einer Darstellung Christi am Kreuz in einem unteren Kreis (Begründung des Glaubens) über eine Agnus Dei-Anbetung in der Kreisfläche des Fortunarades (ekklesiologische Manifestation des Glaubens) hin zur alles überragenden Darstellung des Himmlischen Jerusalems (Erlösung der Glaubenden) verläuft. Der willkürliche Weltlauf, symbolisiert durch die innere Rota wird relativiert und aufgehoben im vertikal angelegten Weg des Glaubens. Vgl. Hahn-Woernle, Die Ebstorfer Weltkarte, S. 197 (Abb. 10). Schilling, Rota Fortunae, S. 309. Beretz, Fortune Denied, S. 105 f. und 111 f. 63 Sears, The Ages, S. 144–151. Meyer-Landrut, Fortuna, S. 66–71. 64 So in W, fol. 30v (Vgl. Sears, The Ages, Abb. 91), und im Augsburger Losbuch von 1461, München, BSB , Cgm 312, fol. 98r (ebd. Abb. 92).
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Fortuna und ihr Rad
Regel zunächst auch ihre Aussage, die dann von Fall zu Fall näher definiert werden muss. An Kirchenfassaden ist ihnen eine ähnliche Funktion zuzuschreiben wie den ebenfalls über dem Eingang in das Gotteshaus positionierten Weltgerichtsdarstellungen.65 Mit der irdischen Welt lässt sie der Christ beim Eintritt in den göttlichen Wirkungsbereich hinter sich.66 In historiographischen Kontexten wird das Motiv der Fortuna und ihres Rades als Sinnbild für die Lenkungsmacht geschichtlicher Abläufe verwendet, in der Regel als Eingangsdarstellung zu historiographischen Werken, die gleichsam als Leseanleitung das Zufallsprinzip des geschichtlichen Auf und Ab festlegt.67 Seltener wird das Wirken Fortunas in der Geschichte bestritten, indem ihr die überlegene Sapientia68 oder die Virtutes69 gegenübergestellt werden. Als pointierte, visualisierte Accessus fungieren die zahl-
65 Vgl. die Beispiele San Zeno in Verona, die Kathedrale von Amiens oder von St. Etienne in Beauvais. Vgl. Beretz, Fortune Denied, S. 111 f. 66 Vgl. Meyer-Landrut, Fortuna, S. 47. Schilling, Rota Fortunae, S. 312. 67 So in der Eingangsdarstellung zum ›Bellum Judaicum‹ in der Handschrift München, BSB , Clm 17404, fol. 203v (Vgl. Anm. 61). Die geschichtlichen Ereignisse werden im inneren Kreis abstrahierend zusammengefasst und erhalten durch die Parzen des äusseren Kreises einen nützlichen Bezug zur Lebenspraxis des Rezipienten. Vgl. Schilling, Rota Fortunae, S. 305 f. 68 So in der Eingangsminiatur zur ›Historia de origine Anglorum et de regnis eorum‹ in der erwähnten Cambridger Handschrift (CCCC , MS 66, fol. 66r), wo Sapientia die gegenüberliegende, das Rad drehende Fortuna belehrt. Beide tragen Spruchbänder mit Inschriften augustinischer Provenienz: Mundana casu aguntur omnia (Fortuna) bzw. Nichil in mundo fit casu (Sapientia): Augustinus, De diversis quaestionibus (Ed. Mutzenbecher), I,24. Die Aussage der Sapientia lautet: Ego sapientia habito in consilio et eruditis intersum cogitationibus, per me reges regnant et domini dominantur, per me principes imperant et potentes (Prv 8,12–17). Vgl. A Descriptive Catalogue of the Manuscripts in the Library of Corpus Christi College, S. 140. 69 In den zwei Schlussillustrationen des ›Liber ad honorem Augusti‹ des Petrus de Ebulo (1197) in der Handschrift Bern, BB , Cod. 120 wird Fortuna dem thronenden Herrscher Heinrich VI . gegenübergestellt. In der ersten Illustration bittet Fortuna Heinrich VI . um Aufnahme in den Kreis der sieben Tugenden. Diese wird ihr verwehrt: Fortuna rogat virtutes esse in consorcio earum, set repulsam passa est (fol. 146r). Die zweite Illustration zeigt, wie die ungekrönte Fortuna von der überlegenen Sapientia, die sich oberhalb von Heinrich VI . in vollem Herrscherornat befindet, geschmäht wird: sapientia convicians fortune (fol. 147r). Petrus de Ebulo, Liber ad honorem Augusti (Ed. Kölzer/Stähli), S. 238–243 (mit Abb.). Vgl. Meyer-Landrut, Fortuna, S. 60 (Abb. 13). vgl. auch Saurma-Jeltsch, Profan oder sakral?, S. 283–327, hier: 290 f.
Interpretation
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reichen Illustrationen in den Boethius-Handschriften.70 Als dekorative Marginalillustration sind Fortunaräder in Handschriften anzutreffen, die nur einen vagen Bezug zur Fortuna-Thematik aufweisen.71 Selten sind Zeugnisse aus Handschriften höfischen Inhalts72 oder aus Umfeldern, wo sich höfischer Kulturanspruch manifestiert.73 Wiederum prominenter sind Fortunaräder in allegorischen Sammelhandschriften moraldidaktischer Ausrichtung vertreten. Sie sind Teil vielschichtiger Text-Bild-Kompilationen und eingebettet in das Bemühen um ein umfassendes Weltverständnis.74 In einem ähnlichen Verwendungszusammenhang steht die Illustration in der Handschrift 390 aus der Sammlung Hamilton (Staatsbibliothek zu Berlin), die als »symbolische Darstellung der christlichen Lehre«75 eine Sammlung moraldidaktischer Schriften eröffnet. Eher Mahncharakter haben die zahlreichen Fortunaräder in Los- und Punktierbüchern.76 Sie relativieren den Wert wahrgesagter Vorhersagen, wohlwissend um die fliessenden Grenzen zwischen Spiel und Ernst, aber auch als Warnung, Gottes Willen nicht zu 70 Vgl. das Titelbild der Boethius-Handschrift aus dem Kloster Heiligenkreuz (StiB, Cod. 130, fol. 1v). Vgl. Anm. 58. 71 Vgl. Schilling, Rota Fortunae, S. 301 (Abb. 1). 72 Vgl. die erwähnte Darstellung in der Tristan-Handschrift N (vgl. Anm. 2). Die Darstellung wurde nachträglich in die Handschrift eingefügt (zwischen 1470 und 1520), aber nicht unüberlegt. Ein höfisch gekleideter Jüngling befindet sich im Gespräch mit Fortuna. Die Dialogsituation lässt sich gut mit dem ›Zufallsroman‹ ›Tristan‹ in Einklang bringen. Der Handlungsverlauf des Romans verläuft analog zum Bewegungsgesetz der Rota fortunae: Aufstieg (Annäherung) – Höhe (Vereinigung) – Abstieg (Trennung) – Ende (Tod). Vgl. Schiewer, Berlins schöne Handschriften, S. 16 ff. (Abb. 1). Worstbrock, Der Zufall, S. 34–51, hier: 38 f. Zur Handschrift: Ulrich von Türheim, Tristan (Ed. Kerth), Einleitung, S. XI . 73 Vgl. die Darstellung auf Schloss Lichtenberg. Hier drehen Fortuna und ein zeitgenössisch gekleideter Jüngling links und rechts an der Radkurbel. Das Rad ist mit der Viererformel textiert. Die Darstellung steht in engem Bezug zur personifizierten, vor zwei Laute spielenden Damen thronenden Minne in der rechten Bildhälfte. Offenbar wird hier das in höfischer Epik und Minnelyrik reflektierte, problematische Verhältnis von Liebe und Zufall zur Diskussion gestellt. Vgl. von Schlosser, Die Wandgemälde, S. 21 f. Haug, Eros, S. 52–75, hier: 66 f. Thali, Schrift als Bild, S. 269–300, hier 297 f. 74 So die Darstellung in C, fol. 4v. 75 Die lateinischen Handschriften der Sammlung Hamilton zu Berlin, S. 184. 76 Vgl. die gesammelten Losbücher des Cgm 312 der BSB in München, die alle mit einer Rota fortunae eingeleitet werden und mit Sentenzen textierten, ironisch unterlegten Rotae beschlossen werden (fol. 143r). Vgl. Schneider, Ein mittelalterliches Wahrsagespiel, S. 69. Meiners, Rota Fortunae, S. 413 f.
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Fortuna und ihr Rad
versuchen, sollte sich der affirmative Charakter der Wahrsagerei einmal nicht bestätigen. Abschliessend ist auf einen Kupferstich von 1464 zu verweisen, der schon in ›barocker‹ Manier ein gottgelenktes Fortuna- bzw. Lebensrad in den Dienst der memento mori- und vanitas mundi-Thematik stellt.77
77 Geschichte und kritischer Katalog [Beschr. Lehrs], Bd. 4, S. 125–129. Doren, Fortuna, Abb. 13.
B Untersuchungen
Vorbemerkung Der Untersuchungsteil ist drei übergeordneten Fragestellungen gewidmet, die sich aus den Erläuterungen und aus der Interpretation der Handschrift ergeben und nun unter Einbezug von umfangreichem Vergleichsmaterial erörtert werden. Er umfasst die Kapitel ›Text und Bild‹, ›Überlieferungsverbünde und Wissensformationen‹ sowie ›Gebrauchszusammenhänge‹. Methodische Überlegungen werden jeweils eingeflochten. Das in den Erläuterungen verwendete Instrumentarium an Begriffen und Kategorien wird methodisch reflektiert und, soweit erforderlich, ergänzt. Die Untersuchungen sollen anhand vergleichbarer Zeugnisse dazu beitragen, R in ihren Eigenheiten und Zusammenhängen von der Genese bis zum Gebrauch zu verstehen. Das herangezogene Material umfasst neben (illustrierten) Handschriften auch Druckerzeugnisse, Wandmalereien und Tapisserien. Besonderes Gewicht erhalten unedierte Handschriften, namentlich die gelehrten Text-Bild-Kompendien aus der ›Biblioteca Casanatense‹ (C) und aus der ›Wellcome Library‹ (W).
1 Text und Bild Im Folgenden steht das Text-Bild-Verhältnis im Mittelpunkt des Interesses. Die drei Leitfragen des ersten Unterkapitels lauten: Wie werden Texte und Bilder aufeinander bezogen? Wie konstituiert ihre gegenseitige Vernetzung die Thematik? Wie steuern spezifische Text-Bild-Bezüge die Vermittlung von Wissen? Der zweite Teil des Kapitels befasst sich mit dem Text-BildVerhältnis in C und W. Die ausführliche Auseinandersetzung mit dem TextBild-Verhältnis und der Thematik ausgewählter Seiten dient neben dem Vergleich mit R insbesondere der Darlegung der Text-Bild-Organisation spätmittelalterlicher gelehrter Text-Bild-Kompendien. In diesem Zusammenhang frage ich weiterführend nach der Entstehung und Rezeption von C und W.
1.1 Text und Bild – Text im Bild – Text als Bild Die Anordnung von Text und Bild in R folgt keinem durchgehenden Gestaltungsprinzip, sondern variiert von Seite zu Seite. Unterscheiden lassen sich die Kategorien ›Text-Bild-Ensemble‹ (Text als Begleittext), ›Text-BildEinheit‹ (Text als Inschrift) und ›Bildtext‹ (Titulus, Rahmentext, Spruchband, Schriftband),1 ohne dass die Text-Bild-Bezüge jeweils allein durch eine Kategorie erschöpfend auszuloten sind. Vielmehr sind die drei Kategorien untereinander durchlässig. Eine Text-Bild-Einheit kann in diesem Sinn Teil eines Ensembles sein, ein Bildtext wiederum Teil einer Text-BildEinheit respektive eines Ensembles. Ein Text-Bild-Ensemble ist die Doppelseite in der Mitte der Handschrift (Tafeln VIII und IX , Abb. 8 und 9). Texte und Bilder stehen in einem gegenseitigen Verweiszusammenhang, der sich an inhaltlichen Bezügen festmachen lässt.2 Der als Rock des Mikrokosmosmannes figurierte Text (Tafel 1 Vgl. Die ›Süddeutsche Tafelsammlung‹ (Ed. Castelberg/Fasching), Kapitel 1.4. 2 Vgl. Teil A, Kapitel 3.2.2.
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Text im Bild
VIII.3.1–2) und die im Surcot des Riesen eingepassten Hexameter (Tafel IX.6.1–2) sind als besondere Form einer Text-Bild-Einheit innerhalb des Ensembles zu sehen. Man kann für den ersten Fall den von Ulrich Ernst propagierten Begriff der ›figuralen Schriftfläche‹ in Anspruch nehmen.3 Ernst sieht die figurale Schriftfläche als eine Randform des Figurengedichts, der »ein Textsubstrat aus Prosa zugrunde liegt und eine synästhetische Verklammerung von verbaler und graphischer Zeichenebene fehlt.«4 Schon unterhalb der für Figurengedichte geforderten synästhetischen Verklammerung von Text und Bild nutzen mittelalterliche Autoren jedoch die ›malende‹ Funktion der Schrift aus. Das ist beim Mikrokosmosmann der Fall: Obwohl die piktoralen Konturen nicht als durchgreifendes Prinzip eingesetzt wurden – die Rockillusion wird sogar einmal durch das Absetzen des Textes durchbrochen –, ist die Schriftfigurierung über ihre dekorative Funktion hinaus ein Stück weit bedeutungsvoll eingesetzt. Die Analogien zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos, die allesamt die ›Körperlichkeit‹ des Menschen betreffen, sind als Rock figuriert5 und so in einer Weise textiert, die dem Text ›Körperlichkeit‹ attestiert. Die Figur steht auf einem Textblock (Tafel VIII.4), der bildhaft eine Art ›Fundament‹ darstellt und aus weiteren Entsprechungen zwischen grosser und kleiner Welt besteht.6 Der Inhalt der Seite ist indes vielfach reproduziertes Laienbildungswissen, wie es in geomantischer Akzentuierung in einer Mikrokosmos-Darstellung des sogenannten ›Tübinger Hausbuchs‹ vorkommt, einer volkssprachigen Handschrift aus dem Raum Ulm/Urach (Abb. 36).7 Die Werkstattarbeit dürfte um die Mitte des 15. Jahrhunderts entstanden sein. Die Illustrationen bezeugen einen souveränen Umgang mit den geläufigen Bildtypen astronomisch-astrologischer Provenienz. Die ganzseitige Illustration ist eingebettet in einen Text, der verschiedene Analogien zwischen den Kosmen thematisiert. Die männliche Figur steht auf der Weltkugel vor den 3 Carmen figuratum, S. 7. 4 Ebd. 5 Vgl. Konrad von Megenberg, Das ›Buch der Natur‹ (Ed. Luff/Steer), Bd. 2, S. 28,3 f.: Nv han ich churtz begriffen, wie der mensch der gantzen werlt sei e geleich. [. . .] Vnd darvmb sprechent hubsch levt: ich sach alliu werlt in ainem rocke. 6 Zur ›Körperlichkeit‹ von Schrift im Mittelalter vgl. Bumke, Höfischer Körper, S. 67–102, hier: 95–98. Erwähnenswert ist die Studie von Michael Stolz (Körper und Schrift) zu Körperlichkeit und Schriftlichkeit im ›Psalterium glossatum‹ des Wilhelm Müncher (Eichstätt, UB , Cod. st 213, 1418 entstanden). 7 Tübingen, UB , Md. 2, fol. 35r. Vgl. Castelberg, Beschädigte Bilder, S. 315 (Abb. 44). KdiH, Bd. 1, S. 448–460.
Text und Bild – Text im Bild – Text als Bild
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vier Elementensphären, die in Kreisbahnen Kopf, Brust, Unterleib und Beinen zugeordnet sind und oben durch den Bogen der Fixsterne beschlossen werden. Neben dem rechten Auge ist die Sonne abgebildet, neben dem linken der Mond; links und rechts des Halses befinden sich die übrigen fünf Planeten.8 Das Bild ist eine unter zahlreichen, kolorierten Federzeichnungen der über dreihundert Seiten starken Text-Bild-Kompilation und ein Gegenstück zur ›Washingtoner Abbreviatur‹, die nicht die Bilder einzeln oder seriell in den Textablauf inseriert, sondern die einzelnen Teile aus dem linearen Zusammenhang der (virtuellen) Vorlage löst, diese ins Bild integriert, ›bildhaft‹ gestaltet oder zumindest blockweise zu einem Ensemble ordnet. Gut zeigt sich der Gegensatz zu R in der Text-Bild-Organisation an der Darstellung eines weiteren Mikrokosmosmannes (Abb. 37), der wiederum dem ›Tübinger Hausbuch‹ entnommen ist.9 Die Thematik deckt sich erneut mit dem Beispiel aus R, der Text ist hier aber in seiner Spaltigkeit oder auch Textlichkeit belassen, bleibt bildlich ungeformt, evoziert gerade nicht die Illusion eines Kleidungsstücks. Im Gegensatz zum Mikrokosmosmann ist die Textierung des Surcots des Riesen (Tafel IX.6) hauptsächlich als visuelles Dekorum zu werten. Bemerkenswert ist der von Michael Stolz an diesem Beispiel postulierte Zusammenhang zwischen Mündlichkeit und Bildlichkeit: »Auffällig ist, dass der solchermassen oral fundierten Schrift ausserdem bildliche Qualitäten eignen [. . .]. Die mündlich durchsetzte Schrift tendiert auf diese Weise zum Bild.«10 Je anders geartete Kombinationen von Text-Bild-Ensembles, Text-BildEinheiten und Bildtexten stellen die Anfangs- und Schlussseite sowie die Frauensklaven- und die Tugend-Laster-Doppelseite dar. Auf fol. 1r (Tafel I , Abb. 1) werden Planetenverse, Planetenkinderverse, Planetensymbole und Planetenkinderbilder in ein Sphärenschema untergebracht und so zu einer Einheit formiert. Eine derartige Integration von Text und Bild ist in der Parallelüberlieferung singulär. Was man vorfindet, sind zumeist Text-BildEnsembles, wie die kolorierten Federzeichnungen aus dem Salzburger Adligat, Universitätsbibliothek, M III 36 zeigen (Abb. 38).11 Das angeführte Beispiel zeigt insgesamt vier Rundbilder, oben ein grösseres mit dem 8 9 10 11
Dazu auch fol. 37v. Fol. 38v. Vgl. Castelberg, Beschädigte Bilder, S. 315 (Abb. 45). Artes-liberales-Zyklen, Bd. 1, S. 523. Fol. 237r. Vgl. KdiH, Bd. 1, S. 445 f. Wirth, Neue Schriftquellen, S. 381 (Abb. 39).
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Text im Bild
Planetengott Mars, seitlich darunter zwei kleinere mit den Planetenhäusern Widder und Skorpion, horizontal darunter ein weiteres mittelgrosses Rundbild mit der Darstellung der Planetenkinder, die zugleich als Lebensalter der Virilitas vorgestellt werden. Die Planetenkinder des Kriegsgottes sind als Mann und Frau visualisiert. Der Mann schlägt mit einem Knüppel auf die Frau ein. Die Texte sind als lateinische Hexameter und als deutsche Reimpaarverse über dem Planetenbild sowie als Spruchband mit lateinischen Planetenversen im grossen Kreisbild angebracht. Trotz aller Unterschiedlichkeit in der Text-Bild-Organisation zwischen R und dem Salzburger Beispiel gilt auch bei R die von Norbert H. Ott gemachte Beobachtung, dass die Bilder nicht den Text illustrieren, sondern die Texte das Bild kommentieren oder beschreiben.12 Die Illustrationen sind oft vom Wortlaut des zugehörigen Textes abgekoppelt und gewinnen Eigenleben. Darum bleibt die angestrebte Einheit von Text und Bild mancherorts brüchig.13 Die Schlussseite (Tafel XVI , Abb. 16) ist nochmals komplexer angelegt, was das Text-Bild-Verhältnis angeht. Als Ensemble definiert sich die Seite, wenn man den ›Rahmentext‹ mit den proverbiellen Weisheiten über das Glück und die ›Binnenzeichnung‹ mit Fortuna, ihrem Rad und ihren Glücks- und Unglückskindern in den Blick nimmt. In die ›Binnenzeichnung‹ sind die Texte folgendermassen eingefügt: zur Angabe des Themas dient der lateinische Vers auf der Radfelge (Tafel XVI.2), der Situationsschilderung dienen die Texte zwischen den Speichen (Tafel XVI.2.1.2–2.6.2), der Figurenrede die Spruchbänder. Rechts begrenzt wird die Zeichnung durch ein langes Spruchband (Tafel XVI.4): Die – figürlich nicht dargestellte – ›Stimme‹ des Concepteurs beschliesst die Szene mit einer Quintessenz. Die ›Binnenzeichnung‹ erhält durch die verschiedenen Formen von Bildtexten eine narrative Dynamik, die mit den statischen Spruchweisheiten kontrastiert. Die Spruchbänder sind hier im engeren Sinne Bildtexte, weil sie nicht nur als Informationsträger Teil der bildlichen Fiktion, sondern darüber hinaus im Bild gezeigte Schriftlichkeit sind und damit wesentlicher Teil des Bildgehaltes.14 Nikolaus Henkel spricht in einem ähnlichen Zusammenhang von der »gestalterischen und erzählpsychologischen Bedeu-
12 KdiH, Bd. 1, S. 342 f. 13 Vgl. Teil A, Kapitel 1.1.1.2. (Planeten[kinder]verse und Planeten[kinder]bilder). 14 Als erster wies Michael Camille auf den Bildcharakter von Texten hin: Seeing and Reading, S. 26–49. Vgl. auch: Curschmann, Pictura, S. 211–229, hier: 212 f. und 227. Wenzel, Hören, S. 292–326, hier: 298 f.
Text und Bild – Text im Bild – Text als Bild
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tung« von Spruchbändern.15 Die bewegt flatternden Spruchbänder sind optimal auf die Drehung des Rades und die jeweilige Stellung der Glücks- und Unglückskinder abgestimmt. Das Text-Bild-Verhältnis auf der Frauensklaven-Doppelseite (Tafeln XIV und XV , Abb. 14 und 15) definiert sich ähnlich wie jenes der Schlussseite. Den mit Titulus, Rahmentext und Spruchbändern versehenen Miniaturen eignet als Bild im Bild eine räumlich-szenische Dimension. Meistens szenenkonform fügen sich die Spruchbänder symmetrisch, parallel oder ineinandergreifend in die Bildkomposition ein. Auf der Frauensklaven-Doppelseite wie im Fall der Fortuna und ihres Rades wird Wissen in narrativer Form vermittelt, ergänzen Texte in Spalten- (Pseudo-Frauenlob-Strophe) oder Streifenform (Sentenzen) die Szenen als deren Bildvarianten, beschliesst ein zusammenfassendes Resümee des Sänger-›Ichs‹ in einem Spruchband (fol. 8r: innerhalb der Szene aus der Perspektive des Frauensklaven vor der meretrix; Tafel XV .7) oder des Concepteurs in einem Schriftband (fol. 8v: eher ausserhalb der Szene aus auktorialer Perspektive; Tafel XVI.4) die Reihe der Einzelbeispiele. Die Doppelseite mit dem Tugend- und Lasterbaum (Tafeln X und XI ) verbindet die ursprünglich gesondert überlieferten Text-Bild-Einheiten des Tugendbaums und Cherubs mit vier beigefügten Textblöcken in den Seitenecken zu einem eng abgestimmten Ensemble (Abb. 10, Tafel X.3–6).16 Jeder Textblock vertieft einzelne Aspekte der Bilder anhand von Tugenddefinitionen, Gregor- und Bibelzitaten. Der Textblock oben links (Tafel X.5) widmet sich nach einem kurzen ›liebestheoretischen‹ Einstieg den Liebestugenden (Baumkrone), der Textblock oben rechts (Tafel X.6) den sechs Tugenden, die zur Gottesliebe hinführen (Cherub), der Textblock unten links (Tafel X.3) der Demut und ihren sieben Abkömmlingen (Baum), der Textblock unten rechts (Tafel X.4) der Frage, wie sich die einzelnen Tugenden voneinander unterscheiden (Baum). Ein zweiter Abschnitt dieses Textblocks (Tafel X.4.2) bezieht sich auf die Christusfigur nebenan und thematisiert die Aussicht der Tugendhaften auf die endzeitliche Erlösung durch Christus. Der erste Teil des Textblocks oben links (Tafel X.5) hat über seinen unmittelbaren Bildbezug hinaus eine zusätzliche Funktion. Als eine Art ›Motto‹ fasst er die Bildlichkeit des Baumes in der paulinischen Metaphorik von Christus als Körper und Menschen als Glieder. Der letzte 15 Bildtexte, S. 1–43, hier: 19. Vgl. auch: Diemer, Die Bilder, S. 911–997, hier: 922. 16 Vgl. Teil A, Kapitel 4.1.1.
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Text im Bild
Abschnitt des unteren rechten Textblocks (Tafel X.4.2) leitet mit einem sündentheoretischen Passus über zur Lasterseite, die ebenfalls als Text-BildEnsemble konzipiert ist. Hier stehen unten rechts (Tafel XI.3) wiederum die unterschidunge der sieben Hauptlaster, unten links (Tafel XI.2) diesmal ein mehrzeiliges Schriftband in der Hand des Johannes, das auf die Autorität des (geschriebenen) Bibelwortes verweisen soll und sich dadurch von den ein- und zweizeiligen Spruchbändern als Träger direkter Rede im szenischen Kontext unterscheidet.17 Ein Vergleich mit der um 1414/15 für den Mettener Benediktinerabt Peter entstandenen Handschrift München, BSB , Clm 820118 zeigt, wie sich die zunächst statische Gegenüberstellung der Bäume durch die Bild- und Texterweiterungen seitenweise und seitenübergreifend als Ensemble ›lesen‹ lassen. Der Mettener Kompilator hatte die gleichen Texte und die gleichen Tugend- und Lasterbaumtypen als Vorlagen zur Hand. Die Seiten sind ebenfalls als Einzeltafeln konzipiert und Teil einer hier an eine Armenbibel angehängten Tafelsammlung. Der Tugendbaum (Abb. 29) und der mit den Inschriften des Cherubs textierte Seraph erscheinen auf zwei gegenüberliegenden Seiten. Die Definitionen zu den Nebentugenden der Nächstenliebe fehlen. Die ›Cherubstugenden‹ kommen auf die gegenüberliegende Seite zu stehen. Sind Bäume und Texte in R als Doppelseite (Tafeln X und XI ) konzipiert, werden in M je paarweise die Bildmotive des Lasterbaums und des Lebensbaums (fol. 96r, Abb. 28) sowie des Tugendbaums (fol. 96v, Abb. 29) und des Seraphs (fol. 97r) aneinandergereiht.19 Der Lasterbaum eröffnet die Reihe. Seine Aussage erschöpft sich nicht in einer auf platten Kontrast abzielenden, moralischen Selbstverortung des Betrachters, sondern bezeichnet im heilsgeschichtlichen Sinn den Vorgang menschlicher Selbsterkenntnis überhaupt. Die Erlösung des Menschen beginnt mit dem Wissen um sein Unvermögen, diesem folgt die Vertreibung aus dem Paradies als erster notwendiger Schritt im göttlichen Heilsplan. M verdeutlicht dies durch die Verbindung des Lasterbaums mit dem aus Bonaventuras gleichnamiger Schrift entstandenen ›Lebensbaum‹.20 Der Baum, der immer auch als Kreuz Christi verstanden worden ist, ›erzählt‹ die drei Mysterien 17 Zum Unterschied von Spruchband und Schriftband vgl. Wittekind, Vom Schriftband, S. 343–367, bes. 343 ff. 18 Suckale, Das geistliche Kompendium, S. 7–22, hier: 12 (Abb. 13). Lutz, Spiritualis fornicatio, S. 262 (Abb. 19). Suckale, Klosterreform, S. 20–23. 19 Vgl. Suckale, Klosterreform, Taf. 152–154. 20 Lignum vitae (Ed. Quaracchi 1898, Bd. 8), S. 68–87. Vgl. Suckale, Untersuchungen, Bd. 1, S. 87–90, und Suckale, Klosterreform, S. 113–118.
Text und Bild – Text im Bild – Text als Bild
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Christi: den vier Episoden seines Menschseins (origo) folgen die je vier Stationen seines Leidens (passio) und seiner Verherrlichung (glorificatio). Das dem Baum beigegebene, in M aber fehlende Motto21 greift Apc 22,2 auf, worin es heisst: per menses singula reddentia fructum suum et folia ligni ad sanitatem gentium. Der Weg zum Tugendbaum führt über die Früchte Christi, die programmatisch die Mitte zwischen Lasterbaum und Tugendbaum einnehmen. Was in M der Lebensbaum bedeutet, wird in R durch zusätzliche Texte deutlich gemacht. Der ›bonaventurischen‹ Christologie entsprechen die Bibelzitate Eccl 24,19 und Prv 8,35 im Auslegungsteil von R, dem herzförmigen Blattwerk des Lebensbaumes hier entspricht die zentrale Bedeutung der Nächsten- und Gottesliebe dort. Der siebenfache ›Aufstieg‹ zur Demut wird belohnt durch den Eintrag in das Buch des Lebens und vollendet durch den die Sündentilgung und Gottesliebe symbolisierenden Cherub oder Seraph. Noch ausladender ist der Erlösungsweg in der Londoner Handschrift, British Library, MS Royal 1 B X ›nachgezeichnet‹.22 Tugend- und Lasterbaum besetzen jeweils die linke Seite zweier Doppelseiten (fol. 5v/6v, Abb. 39 und 40). Die rechten Seiten beinhalten eine Cherubsgestalt mit Krone und erhobenem Schwert (fol. 6r) und die zwölf abusiones seculi (fol. 7r). Ein Augustinus-Zitat23 leitet den Tugendbaum am unteren Bildrand der Darstellung ein: Al[i]a mors putanda non est, quam vita bona p[ro]cesserit. Der Tod muss von einem guten Leben her betrachtet werden; er ist in diesem Sinne nichts anderes als der Übergang zum ewigen Leben. Der Tugendbaum (fol. 5v, Abb. 39) wird so auf die endzeitliche Erlösung bezogen und trägt dementsprechend Züge des Paradieses: er ist von einem Zaun umgeben, der von drei Engeln mit Kronen (des ewigen Lebens) hochgehalten wird, so dass er zu ›schweben‹ scheint. Die Äste sind mit Laub bedeckt; die Früchte wachsen nach oben. Der beigegebene Text lautet: [H]umilitas exaltat virtutibus virum iustum, prudencia exornatum decorat, fortitudo deoratum roborat, iusticia roboratum letificat, temperancia letificatum conducit, fides ductum erigit, spes erectum dirigit, caritas erectum coronat.
21 Es fehlen, vermutlich aus Platzmangel, auch die Prophetensprüche und sämtliche kommentierende Verse. 22 Einige Angaben zur Handschrift bei Suckale, Untersuchungen, Bd. 1, S. 72, und Suckale, Klosterreform, S. 106. 23 Als Quelle gibt der Schreiber Augustinus’ ›In floribus‹ an, womit wohl die Exzerptsammlung gemeint ist, die als ›Liber florigerus‹ bezeichnet wird.
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Text im Bild
Wie in M ist der Cherub als Verkörperung des erlösten Menschen dem Tugendbaum beigegeben. Der Cherub ist hier mit dem Herrschaftszeichen des Kreuzdiadems dargestellt;24 ein Kreuz ziert auch die von ihm gehaltene Krone, die als Zeichen der Liebe dem im Glauben Aufgerichteten und von der Hoffnung Geführten bestimmt ist. Krone und Schwert sind wie der Zaun vielleicht über ihre allgemeine Symbolik hinaus auf die Regentschaft der Gerechten und auf das Gericht über die Verdammten zu beziehen. Kontrastiv zum Tugendbaum ist sein Pendant angelegt: der Lasterbaum wird regelrecht ›verschlungen‹ von einem aufgesperrten Höllenrachen, in dem ein Teufel inmitten lodernder Flammen mit einem Doppelhaken lauert. Die Äste sind kahl, teilweise abgesägt und hängen nach unten. Ein Text auf einem Schriftband schildert die verhängnisvolle Verkettung der Laster, die mit der superbia (spoliat virum iustum) beginnt und durch die luxuria (deiectum interficit) beschlossen wird.25 Die als coniunctio imparium26 angelegten Bäume mit ihren Pendants, dem Cherub und den Abusiones seculi, integrieren sich in der Mettener und Londoner Handschrift derart, dass sie mit dem ›Leitfaden‹ der Heilsgeschichte als Kontinuum ›lesbar‹ werden.27 Die synoptische Verdichtung der Inhalte in R tut einer solchen Lesart keinen Abbruch. Die Textgraphiken des Cherubs, des Baumes (arbor) und des Gebäudes (turris) sind motivisch definierte Text-Bild-Einheiten, im Gegensatz zu der ad hoc kompilierten Text-Bild-Einheit der Anfangsseite.28 Die teils linearen, teils figurierten Textformationen der dürren Schemata können wie im Fall von R, M und der Londoner Handschrift durch zusätzliche Ausmalung in unterschiedlichem Mass symbolisch aufgeladen werden und verdichten sich so zu komplexen Text-Bild-Gefügen. Die Text-Bild-Beziehung dient, um das Beispiel des Baumes zu nehmen, nicht nur der inhaltlichen und for24 Zum Typus des angelus diadematus vgl. Bruderer Eichberg, Les neuf choeurs, S. 65 ff. Einige Hinweise bei Wirth, Die kolorierten Federzeichnungen, S. 88 f., Anm. 166–177. 25 Vgl. Teil A, Kapitel 4.2.3. 26 Vgl. Teil A, Kapitel 4.2.5. 27 Wie eine derartige Rezeption als audio-visuelle Vermittlung komplexer Lehrstoffe vorzustellen ist, hat Morgan Powell am Beispiel der Darstellungen aus dem ›Speculum virginum‹ gezeigt: The Mirror, S. 162–167. Im ›Speculum virginum‹ ([Ed. Seyfarth, CCCM 5], IV , 383 f.) wird die programmatische Nähe von Lasterbaum und Lebensbaum eigens betont. Vom linken Baum zum rechten fortschreitend, sagt Peregrinus: ligno uite transgressionis stipitem mutemus, paradisum intremus. 28 Ernst, Carmen figuratum, S. 646–683, hier: 653–660.
Text und Bild – Text im Bild – Text als Bild
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malen Anordnung wie beim Stemma. Die Figur des Baumes ist »auch eine res, die zu allegorischer Interpretation herausfordert«.29 Sie erschliesst zusätzlich, neben die Systematik gestellt, das, was die einzelnen Tugenden und Laster bedeuten. Der geistlichen Gebäudeallegorie des Weisheitsturms liegt ein ähnliches Text-Bild-Konzept zugrunde. Im Vordergrund steht hier die Stringenz in der Zuordnung von Texteinheit und Architekturteil, weniger die Offenheit der Bildsymbolik. Text und Bild treffen sich genau in der Bedeutung, die beide miteinander verbindet, und erhellen sich über das Gemeinsame gegenseitig. Die inhaltlichen Entsprechungen definieren ein Text-Bild-Verhältnis, das beide Medien mancherorts austauschbar erscheinen lässt: Die humilitas bildet das ›Fundament‹ des Turmes, die caritas bezeichnet dessen Breite, die alles trägt, die moralischen Imperative ›mauern‹ den Turm auf.30 Allerdings bleibt R in der bildliche Realisierung, aber nicht im zugrunde liegenden Konzept, weit hinter dem Anspruch des Bildtyps zurück: das Mehr an Ausschmückung geht auf Kosten einer übersichtlichen Schematik. Offener gestalteten sich die Möglichkeiten der Kompilation bei den Melothesie- und Aderlassseiten (Tafeln II–VI ), die ebenfalls Text-BildEnsembles bilden. Die Texte umgeben die Figur sinnvoll als ›Rahmen‹, wobei die in Kreise eingeschriebenen Lassstellentexte (Tafeln III–VI ) ›medizinisch exakt‹ von Kopf bis Fuss mittels Verbindungslinien der jeweiligen Körperstelle entsprechen. Die monatlich gegliederten Texte flankieren die Figur links und rechts; die jahreszeitlich unterteilten Texte besetzen die vier Seitenecken. Bei den ebenfalls in Kreise eingeschriebenen Texten der Melothesieseite (Tafel II ) ist die Text-Bild-Zuordnung dem Rezipienten überlassen, ergibt sich jedoch ein Stück weit aus den korrespondierenden Leserichtungen von Text und Bild oder ist im Text angeführt. Trotz der ›zweitklassigen‹ Ausführung ist hier erneut die Tendenz zur ›bildhaften‹ Formung der Texte, die einem linearen Lesen entgegenläuft, bemerkenswert. Die ›Bildhaftigkeit‹ der Texte ist, obschon eher schwach ausgeprägt, so doch fassbar in den Formen von quadratischen und rechteckigen Textblöcken (fol. 1r–8v, Tafeln I–XVI ), von Kreisen (fol. 1v–3v, Tafeln II–VI ) und von trapezförmigen Röcken (fol. 4v/5r, Tafeln VIII und XI ), zudem als Schriftband (fol. 6r, Tafel XI ) und Spruchband (fol. 7v–8v, Tafeln XIV–XVI ). 29 Wirth, Von mittelalterlichen Bildern, S. 295. Wirth warnt vor einer reduzierten Interpretation solcher Bilder lediglich als »Indikatoren morphologischer Anschauungen« (S. 281). Zur Symbolik des Baumes vgl. zusätzlich zur Interpretation in Teil A, Kapitel 4.2: Ernst, Carmen figuratum, S. 653. 30 Vgl. den ähnlich gelagerten Fall bei Stolz, Körper, S. 101 ff. (Abb. 1).
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Text im Bild
Die Methode, »›Text‹ generell zu charakterisieren«31 und diesen zum integrativen Teil der Bilder zu machen, lässt an die typologisch festgelegten Text-Bild-Ensembles der Armenbibeln und an die in Bildfolge und Bildaufbau festen, zu einem komplexen Ensemble gefügten Text-Bild-Teile der Apokalypseillustrationen denken, die handschriftlich32 wie auch, fast bruchlos übernommen, in der gedruckten Form des Blockbuchs vorliegen.33 Das variantenreiche Arsenal an Formen der Textfigurierung wie umrandete Textblöcke, Tafeln, Bücher, Schriftrollen, Schriftbänder und Spruchbänder ist später in der Einblattschriftlichkeit (Holzschnitt und Druckgraphik) in mannigfachen Kombinationen erprobt worden.34 Die visuelle Prägung der Texte in R kommt solchen Text-Bild-Ensembles sehr nahe. Bleibt noch die eingangs angeführte Frage nach dem Zusammenhang von Text-Bild-Organisation und Wissensvermittlung. Letztere erfolgt in R auf dreifache Weise: referentiell, systematisch und narrativ. Die beiden ersten Arten der Vermittlung unterscheiden sich von der letztgenannten durch ihren nicht-narrativen Charakter und untereinander durch den Vorrang des Verweisens bzw. des Ordnens. Alle drei Begriffe scheinen mir trotz partieller Überschneidungen griffig genug: ›narrativ‹35 heisst, dass Wissen erzäh31 Diemer, Die Bilder, S. 922 f. 32 Das Zusammenwirken von Text und Bild als Teil einer oralen Kultur ist von Suzanne Lewis (Reading Images) anhand englischer Apokalypsehandschriften des 13. Jahrhunderts untersucht worden. Lewis spricht in diesem Zusammenhang von »figurative texts«, die im Verbund mit dem Bild auf eine primär akustisch-visuelle Vermittlung der Inhalte hin konzipiert worden sind: »Protagonists speeches, as well as the frequent inscriptions, captions, and legends that occur elsewhere throughout the Trinity Apocalypse evoke an earlier pattern of text-image equivalency in which both picture and script serve as conventional signs for the spoken word in a lingering oral tradition. [. . .] The miniatures render the spoken word visible as well as audible [. . .] Reading ist still conceived in terms of hearing and speaking. [. . .] Such insistently literal representations of words on a speech scroll provide the hind of carefully fabricated aural-visual synaesthesia.« (S. 244). 33 Henry, The Iconography, S. 263–288, hier: 274 f. (zahlreiche Abb.). Palmer, Biblical Blockbooks, S. 23–30, hier: 24 (Abb. 8 und 10). Ders., Latein und Deutsch, S. 310–336, hier: 315 f. 34 Als ein Beispiel unter unzähligen vgl. den bei Schreiber aufgenommenen Holzschnitt eines Glücksrades mit den Lebensaltern (Holz- und Metallschnitte [Ed. Schreiber], Taf. 67). Zahlreiche Abbildungen im Sammelband: Blockbücher des Mittelalters (Ed. Gutenberg-Gesellschaft und GutenbergMuseum). 35 Der Begriff ›narrativ‹ bezieht sich hier primär auf die ›Bildnarrativik‹. Deren zentrale Frage, nämlich, wie Bilder ›erzählen‹, wird bis heute kontrovers dis-
Text und Bild – Text im Bild – Text als Bild
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lerisch vermittelt wird; ›referentiell‹36 heisst, dass Wissen durch gegenseitiges Verweisen von Texten und Bildern aufeinander erschlossen wird; ›systematisch‹ heisst, dass Wissen über die Auslegeordnung rezipiert wird.37 Ich lege jeweils für die Einzelseite die mir prioritär scheinende Kategorie fest und vereinfache so die sich oftmals überlagernden Arten der Wissensvermittlung. R zeigt erwartungsgemäss dort referentiellen Charakter, wo die Analogien zwischen Welt und Mensch theoretisch reflektiert werden, wo es um den ›Sitz‹ des Menschen im Weltganzen geht, nämlich am Anfang, in der Mitte und am Schluss der Handschrift. Die Rezeption verläuft über das Bild, das auf den Text verweist. Dieser wiederum vertieft im Rückverweis die Bedeutung des Bildes. Das Ergebnis ist ein schlüssiger Text-BildVerbund, in dem jedes einzelne Text- oder Bildelement einen wesentlichen Teil seiner Bedeutung erst durch den Bezug zum Gesamtensemble erhält. ›Referentiell‹ sind auch die Bild-Bild- und Text-Text-Verweise, die die Handschrift über die Einheiten der Einzel- und Doppelseiten hinaus konzeptionell zusammenhalten. Anfang, Mitte und Schluss von R weisen die Kreisform auf, die über kosmologische Implikationen hinaus immer auch theologisch-ästhetisches Prinzip der Weltschöpfung ist und die Analogien zwischen Mensch und Welt in der Unendlichkeit der immer gleichen Proportionen des Kreises harmonisch ›auflöst‹.38 Anfang, Mitte und Schluss verbindet das ›Leitmotiv‹ der sapientia, die antik begründet und christlich überformt, vor der Wirkung von kosmologischen und innerweltlichen Mechanismen feit. kutiert. In unserem Zusammenhang von Bedeutung ist die immer wieder herausgestellte Differenzierung, dass Bilder nicht an sich narrativ sind, sondern bloss auf eine Erzählung referieren. Verschiedene Definitionen von ›Bildnarrativik‹ in: Kessler/Simpson, Pictorial Narrative, S. 7 ff. Vgl. das Resümee von Frank Büttner, in: Text und Bild, S. 9–13, hier: 11. Belting, Bild, S. 20. 36 Ein gutes Beispiel für eine referentielle Wissensvermittlung ist das ›Emblem‹. Es impliziert das Verfahren, die Welt als von Verweisungs- und Entsprechungszusammenhängen durchwirkt zu verstehen, diese durch das Verfahren der Analogie aufeinander zu beziehen und aufzuschliessen und so die Welt als sinnvoll zusammengesetzt zu begreifen. Vgl. Emblemata (Ed. Schöne/Henkel), S. XV f. 37 Den drei Arten der Wissensvermittlung entsprechen in etwa die drei Stufen der Text-Bild-Integration: der referentiellen das Ensemble, der systematischen die Einheit, der narrativen der Bildtext. 38 Vgl. Teil A, Kapitel 3.2.1.1 und 7.2.2.
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Text im Bild
Dort, wo R praktisches Wissen organisiert – also nicht der Mensch an sich und seine Einbindung im Weltganzen zur Diskussion steht, sondern moralische und medizinische Regulative für das Verhalten des Einzelnen –, werden systematische und narrative Strategien der Wissensvermittlung aufgegriffen. Zu den systematischen Strategien zählen die von unten nach oben zu lesenden Baum- und Architekturformen wie die von oben nach unten zu lesenden Körperregionen und Lassstellen; zu den narrativen zählen die Einzelschicksale der Frauensklaven, die als ›literarisches‹ Thema auch entsprechend vermittelt werden, und die sieben Artes, die nicht etwa als Stemma dargestellt sind, sondern als Personifikationen ›inszeniert‹ werden.
1.2 Text und Bild in gelehrten Text-Bild-Kompendien – die Handschriften Roma, Biblioteca Casanatense, Ms.1404 (C) und London, Wellcome Library, MS.49 (W) Im anstehenden Kapitel gehe ich dem Text-Bild-Verhältnis der beiden gelehrten Text-Bild-Kompendien aus der Biblioteca Casanatense (C) und der Wellcome Library (W) nach. Nach ein paar einführenden Bemerkungen zu den wichtigsten Daten und Forschungen gehe ich näher auf die Anfangsseite und die ersten drei Doppelseiten von C ein. Im Anschluss daran greife ich dann auf weitere Seiten aus. Vergleichend beziehe ich W und R ein. Zur Diskussion stehen am Rande auch Fragen der Rezeption.
1.2.1 Daten und Forschungen Die beiden Sammelhandschriften gehören zu einer Gruppe von sechs Bilderhandschriften, die Nigel Palmer aufgrund von Ähnlichkeiten in Schrift und Stil der kolorierten Federzeichnungen als zusammengehörig betrachtet.39 Palmer kann entgegen der früheren Forschung40 nachweisen, dass alle sechs Handschriften einem einzigen Schreiber zuzuweisen sind. Die Schriftunterschiede – nicht die Bildunterschiede – in C und W würden sich nicht nur innerhalb einer gemeinsamen Werkstatt bewegen, sondern auch »im Rahmen dessen, was einem einzigen Schreiber im Laufe eines gewissen 39 Palmer/Speckenbach, Träume, S. 11 f. 40 Seebohm-De´sautels, Texts, S. 102. Seebohm-De´sautels spricht von zwei Schreibern.
Text und Bild in gelehrten Text-Bild-Kompendien
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Zeitraumes zuzumessen ist«.41 C und W überliefern zum Teil die gleichen Inhalte auf gleichem Format:42 Die beiden letzten Lagen von W (fol.46r–69v) beinhalten den gleichen allegorischen Stoff wie die Handschrift C insgesamt, die II + 40 Blätter (vier Lagen) zählt.43 Fritz Saxl bezeichnete die thematisch weiter ausgreifende Handschrift W als ›Enzyklopädie‹ und stellte sie damit in den Traditionszusammenhang mit dem ›Liber Floridus‹ Lamberts von St. Omer und dem ›Hortus deliciarum‹ Herrads von Landsberg.44 Der Inhalt von W teilt sich in zwei Teile a` drei Lagen. Die ersten drei Lagen beinhalten die Apokalypse des Johannes mit eingeschobener Vita des Antichrist (fol. 2v–27r), die Vita des Johannes (fol. 27r–28v) und eine ›Ars moriendi‹ (fol. 29r–30v). Daran schliessen sich Memento-moriThemen (Lebensrad als Fortunarad, Vado mori-Verse, Totentanz, Der Tod und der Pilger), die ebenfalls auf den ersten Seiten von C zu finden sind (fol. 30v/31r). Den ersten Teil beschliessen politische Prophezeiungen anhand des sogenannten ›Dictum Sibille‹ (fol. 31v/32r).45 Der zweite Teil beginnt mit medizinischen Themen in der vierten Lage (fol. 34r–45v) und fährt fort mit der erwähnten Sammlung von allegorischen Bildern und Texten, die sich bereits in anderer Ordnung in C befindet.46 Den beiden Handschriften gemeinsamen Stoff gliedere ich in Anlehnung an Lutz47 und Saxl48 in drei 41 Ebd. S. 22 f. 42 C: 300 × 410 mm, W: 300 × 400 mm. Weitere kodikologische Daten bei Seebohm-De´sautels, Texts, S. 4 f. und 122. Stolz, Artes-liberales-Zyklen, Bd. 1, S. 237–244. 43 Vgl. Lutz Spiritualis fornicatio, S. 389. Stolz, Artes-liberales-Zyklen, Bd. 1, S. 239 f. 44 A Spiritual Encyclopedia, S. 117–120. 45 Ebd. S. 84–95. Stolz, Artes-liberales-Zyklen, Bd. 1, S. 241. 46 Die Inhalte wurden ausführlich von Almuth Seebohm-De´sautels beschrieben, vereinzelt interpretiert und durch Incipitverzeichnis, Themenindex und Quellennachweise erschlossen. Vgl. auch Catalogue of Western Manuscripts, Bd. 1, S. 32–37. Einzelne Seiten wurden mehr oder weniger summarisch von Christel Meier (Die Rezeption, S. 491–499: C, fol. 29r), Karl-August Wirth (Von mittelalterlichen Bildern, S. 318–321 [Abb. 28 f.]: C, fol. 36v/37r bzw. W, fol. 47v/48r), Eckart Conrad Lutz (Spiritualis fornicatio, S. 129, 236, 247, 274 ff., 302, 331 ff., 372, 381 f., 387 und 389–394 [Abb. 10 f., 14, 28 f., 46 f., 51–62]: C, fol. 1r–4r, 6r, 8v, 17v, 26v, 31v [auch W], 32r, 38r, 40r und 46r [nur W]) und Michael Stolz (Artes-liberales-Zyklen, Bd. 1, S. 240–266: C, fol. 1r–40r bzw. W, fol. 1r–69v und Bd. 2, S. 676–682 [Abb. 35–38]: C, fol. 19v, 29r bzw. W, fol. 47v, 68r, 69v) diskutiert. 47 Spiritualis fornicatio, S. 389 ff. 48 »Aller Tugenden und Laster Abbildung«, S. 104 und 106 f. Hier auch eine seitenweise Auflistung der Inhalte von C (S. 116–121).
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Text im Bild
Teile, die in C den drei Lagen entsprechen, unter den Stichworten: (1) Conditio humana (2) Tugenden und Laster (3) Imitatio Christi. Was die Datierung von C anbelangt, erwägt Palmer aufgrund der Wasserzeichen eine Entstehung um 1440–50.49 Ob die Entstehung von W zeitlich früher oder später anzusetzen ist, bleibt offen. Wichtig ist der Nachweis von Almuth Seebohm-De´sautels, dass sowohl die römische als auch die Londoner Handschrift auf eine gemeinsame Vorlage zurückgehen, ohne aber voneinander abgeschrieben worden zu sein.50 Die Schreibsprache der wenigen deutschen Texte in den Handschriften wurden von Palmer als ›ostmitteldeutsch‹ bestimmt und in Thüringen lokalisiert.51
1.2.2 Text und Bild Das Layout der Handschriften C und W folgt keinem durchgehenden Gestaltungsprinzip, sondern variiert die Anordnung der Texte und Bilder fortlaufend.52 Ähnliche Themen weisen ein ähnliches Layout auf. Die TextBild-Ensembles umfassen Doppelseiten, Einzelseiten, Halbseiten oder Viertelseiten, wobei die Texte als Beischriften fast durchgehend in Spalten dargeboten werden, die Bilder sich in diese Spalten einpassen oder sie übergreifen. Dem Gestaltungsverfahren der Spaltigkeit unterliegen also Texte wie Bilder. Die Breite der Spalten variiert ebenfalls, nicht nur seitenweise, sondern auch binnen einer Seite oder gar binnen einer Spalte. Wo die Seiten in einzelne Ensembles geteilt, geviertelt oder sonstwie gegliedert sind, bleiben diese deutlich voneinander abgegrenzt. Die inhaltliche Verknüpfung der einzelnen Ensembles ergibt sich dann über die Gesamtaussage der Seite. Die erste Seite von C ist horizontal in drei annähernd gleich grosse Register unterteilt (Abb. 41). Die oberen zwei Register teilen sich in zwei Spalten, deren Breiten im Verhältnis 2:1 stehen. Das untere Register füllen zwei gleich breite Textspalten. Die erste Zeichnung oben links kann als Text-Bild-Prolog zur Handschrift gelten und zeigt ein mit Figuren besetztes 49 Palmer/Speckenbach, Träume, S. 27 f. Der Datierungsversuch ist bis anhin nicht in Frage gestellt worden oder gar nicht zur Kenntnis genommen worden, wie in der von Almuth Seebohm-De´sautels verfassten Einführung zur 1995 erschienenen Farbmikrofiche-Edition, wo sie ihre Datierung (»around 1420– 30«) wiederholt: Apokalypse, Ars moriendi, Medizinische Traktate, Tugendund Lasterlehren, S. 7). 50 Texts, S. 131–134. 51 Palmer/Speckenbach, Träume, S. 35. 52 Zum Layout von W vgl. Seebohm-De´sautels, Texts, S. 108–113.
Text und Bild in gelehrten Text-Bild-Kompendien
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Monogramm Christi: Die Buchstaben sind mit Darstellungen der Kreuzigung, der Höllenfahrt und der Auferstehung belegt. Unter dem Kreuz, zwischen Maria und Johannes kniet anbetend ein Mönch. Über dem Monogramm steht der folgende Auszug aus Bernhards 15. Hohelied-Predigt: Nomen Iesu lucet predicatum, pas‹cit› recogitatum, invocatum lenit et ungit.53 Aridus est omnis anime cibus si non oleo nominis Iesu invngit. Si scrib‹as›, non sapit, nisi legam ibi Iesum. Si disputes aut conferas, non sapit, nisi ibi sonuerit Iesus. Iesus mel in ore, in aure melos, in corde iubilus.54
Bernhard kommentiert ausgehend vom Vergleich des Namens ›Jesus‹ mit dem ausgegossenen Salböl in Ct 1,2 – Oleum effusum nomen tuum – die heilsame Wirkung seines Namens. Nach der Erörterung der verschiedenen Namen Christi, die sich alle in den zwei Namen der Macht (maiestas ac potentia) und Liebe (pietas et gratia) zusammenfassen lassen, der Umgiessung des ersten Namens in den zweiten und der Ausgiessung der Gnade über Christus55 begründet Bernhard im dritten Teil der Predigt die dreifache Ähnlichkeit zwischen dem Öl und dem Namen des Bräutigams.56 Die drei Zustände des Leuchtens (lucere – lux – fovet ignum), des Nährens (pascere – cibus – nutrit carnem) und des Salbens und Linderns (unguere, lenire – medicina – lenit dolorem) werden auf die Verkündigung (lucet praedicatum), Vergegenwärtigung (pascit recogitatum) und Anrufung Christi bezogen (lenit et ungit invocatum). Der Prologtext von C fokussiert nun die zweite Eigenschaft: Der Name nährt, wenn er überdacht wird. Bernhard legt die Stelle tropologisch aus: Der Name ›Jesus‹ kräftigt die Tugenden: exercitatos reparat sensus, roborat virtutes, vegetat mores bonos atque honestos, castas fovet affectiones.57 Solche Seelennahrung (anime cibus) bleibt ohne das nährende Öl des Namens Jesu trocken, dieser ›schmeckt‹ nur dann, wenn er im Geschriebenen gelesen und im Gesprochenen gehört werden kann. Das Lob auf den Namen gipfelt im klassischen Epiphonem: Iesus mel in ore, in aure melos, in corde iubilus.58 Der Text führt wieder zum Bild zurück: Christus ist als Gekreuzigter und als Auferstandener dargestellt, als Inbegriff der Liebe und der Macht. Der unter dem Kreuz kniende Mönch ist die bildliche Realisierung einer invocatio Christi, wie sie religiöse Prologe eröffnet. Der mystische Grundton widerspiegelt sich in vielen weiteren Tafeln und ist von 53 54 55 56 57 58
Bernhard von Clairvaux, Sermones (Ed. Winkler, Bd. 5), XV ,5. Ebd. XV ,6 f. Ebd. XV ,1–4. De triplici proportione similitudinis olei et nominis sponsi. Bernhard von Clairvaux, Sermones (Ed. Winkler, Bd. 5), XV ,6. Ebd.
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Text im Bild
bernhardinischer Leidensmystik geprägt, wie noch zu zeigen sein wird. Das im ›Prolog‹ formulierte Programm beginnt mit der Busse, der Rückbesinnung des Menschen auf seine Sündhaftigkeit59 und zugleich dem ersten notwendigen Schritt auf dem Weg der reparatio. Entsprechend dieser Losung liefert die Anfangsseite alle theoretischen und praktischen Aspekte der Busse.60 Rechts neben dem Bildprolog steht die sogenannte arbor penitencie, darunter sind zwei Bussallegorien in Text und Bild angeordnet, die den ›Moralitates‹61 des Dominikaners Robert Holkot entstammen.62 Diese pseudoantike Exempelreihe besteht aus Bildbeschreibungen römischer Götter, die als Tugenden und Laster ausgelegt und moralisiert werden. In C werden die Texte entgegen der Überlieferungstradition63 zusätzlich illustriert und unterstreichen so die durchgehend vorhandene Neigung des Concepteurs, möglichst jedem Text ein Bild beizugeben, um so für jede Seite zu einem ausgeglichenen Text-Bild-Verhältnis zu gelangen. Die beiden Texte zur Busse beginnen mit der stereotypen depingitur-Formel.64 Die Bilder werden im Tempel Vestas, der Göttin der Reinheit, situiert und auf eine fiktive Quelle zurückgeführt.65 Die römische Göttin dient lediglich als Ausgangspunkt für die Beschreibung der Busse. Im Vordergrund steht die allegorische Signifikanz der Bildteile, die leicht memorierbare Struktur und die konsequente Moralisierung.66 ›Antik‹ ist nur noch die antikisierende Rahmung der Exempla, die Beryl Smalley treffend als »sham-antique« bezeichnet.67 Auf die Einleitung (Gott/Göttin, Quelle) folgen ein Beschreibungsteil (Depingebatur . . .) und ein Auslegungsteil (Ad propositum . . .), der mit Väterzitaten und weiteren patristischen Texten untermauert wird. 59 Augustinus, Sermo 351 (PL 39,1535): Quam sit utilis et necessaria poenitentia medicina, facillime homines intelligunt, qui se homines esse meminerunt. 60 Analog dazu fährt Bernhard in der 16. Predigt mit den Themen der Beichte und Busse fort. Busse und Passionsbetrachtung bilden die zwei Hauptbereiche mittelalterlicher Meditationspraxis. 61 Die Moralitates sind nicht kritisch ediert. Als relativ zuverlässiger Text erweist sich der den ›In librum Sapientiae regis Salomonis Praelectiones CCXIII ‹ Holkots als Anhang beigegebene in einem Basler Druck von 1586. (S. 709–748, hier: 728 f. [Nr. 22 f.]). 62 Die Texte erscheinen in der Handschrift ohne Angabe der Quelle. Vgl. Palmer, ›Antiquitus depingebatur‹, S. 171–239, hier: 171–184. Ders., Das ›Exempelwerk‹, S. 137–172, hier: 142–146. 63 Palmer, ›Antiquitus depingebatur‹, S. 177. 64 Ebd. S. 182 f. 65 Zur Quellenfrage vgl. Smalley, English Friars, S. 165 f. 66 Vgl. Palmer, ›Antiquitus depingebatur‹, S. 184. 67 Zit. nach ebd. S. 175.
Text und Bild in gelehrten Text-Bild-Kompendien
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Der Text aus den ›Moralitates‹ in der linken Spalte beschreibt einen nackten Büsser mit einer gegen sich gerichteten Geissel (flagellum) in der Hand. Diese ist – so präzisiert das mit imago penitencie überschriebene Bild – an dem einen Ende mit Nägeln ausgestattet, an dem andern besteht sie aus fünf Palmzweigen, die mit Inschriften über die verschiedenen Stadien der Busse versehen sind.68 Die Selbstgeisselung erfolgt nicht zum Verderben des Bussfertigen, sondern führt ihn zurück zum Erbarmen Gottes, wie die Inschrift des dritten Zweiges glaubhaft macht: pro misericordia lacrimabiliter postulo Deum.69 Das Bild des Büssers begleiten zahlreiche Beischriften mit praktischem Wissen für den Busswilligen. Das Hauptgewicht liegt neben den verschiedenen Formen der Selbstüberwindung und Selbstkasteiung auf dem Fasten. Die Vorschriften betreffen das Essen und Trinken im Fastenjahr (annus penitencialis) und in der Fastenzeit (karena). Der ›Moralitates‹-Text in der rechten Spalte zeigt die Busse in Form eines Ritters und soll den lebenslangen Kampf des Menschen gegen die Versuchungen der Welt darstellen: dum vivimus, numquam quiescamus a temptationibus. Dem Bild ist diesmal, über die wörtlich übernommenen Texte zu Helm, Panzer und Schild hinaus, ein vermeintliches Zitat des Johannes Chrysostomos beigegeben, das auf die ins obere Register hineinreichende Lanzenspitze ›aufgepflanzt‹ ist.70 Dass gerade der Verfasser zahlreicher Schriften zur Mönchsaskese zitiert wird, passt nur allzu gut in die Bussthematik des Ensembles.71 Der Auslegungsteil besteht aus einem Bernhard-Passus über die Seelenburg im Feindesland, die von allen Seiten angegriffen wird und folglich befestigt werden muss.72 Im zweiten Teil des Textes ist die Rede von vier 68 Die Bilder in C übernehmen die Textstellen verbatim, als Inschriften oder Beischriften. 69 Die flagellatio lässt sich auf zahlreiche Bibelstellen zurückführen, so auf I Cor 9,27: castigo corpus meum. Weitere biblische und liturgische Belege bei Wirth, Neue Schriftquellen, S. 368 ff. 70 Crisostomus: Si tempestas nautis, vulnera militibus, frigora agricolis propter temporale lucrum levia sunt, quanto magis debent esse levia propter lucrum eternale. Ein Nachweis des Quellentextes ist mir nicht gelungen. 71 Johannes Chrysostomos’ Werk kreist programmatisch um das Thema der imitatio Christi. Vgl. dazu: Ledeur, ›Imitation du Christ‹, in: DS VII ,2, Sp. 1536–1601, hier: 1567–1570. Populär war die Darstellung des vor dem Gekreuzigten knienden und mit einem Stein auf die entblösste Brust schlagenden Eremiten. 72 Bernhard von Clairvaux, Sermones (Ed. Winkler, Bd. 9), LXXXII ,2 (›De custodia cordis‹).
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Text im Bild
Rädern, die den Verlauf einer vita humana bene custodita symbolisieren sollen.73 Die Rotae mit den entsprechenden Inschriften sind ebenfalls verbildlicht. Sie stehen paarweise übereinander zwischen dem homo nudatus und dem miles armatus, zwei über der linken, zwei über der rechten Textspalte. Zu den vier Rotae gehören zwei Beischriften. Die erste besteht aus einem Carpe diem-Spruch, die zweite nennt eine Reihe biblischer Büsser als Vorbilder für die verschiedenen Sünder: Dem Wortbrüchigen wird Petrus anempfohlen, dem Grausamen Paulus, dem von Sorgen Geplagten Matthäus, dem Geldgierigen der Zöllner Zachäus, dem im Fleisch Sündhaften Maria Magdalena und dem im Glauben Irrenden Thomas. Beide Bussbilder sind auf der vorliegenden Seite eingebunden in die Gesamtaussage der Seite: das intensive Nachleben der Leiden Christi in der persönlichen Busse. Im Unterschied zu W, wo die einzelnen Text-BildEnsembles in mehr oder weniger beliebigem Kontext auf mehrere Seiten verteilt sind74 (Abb. 42 und 43) oder gar fehlen,75 wurde der Stoff in C konzeptionell neu bewältigt.76 Formal zeigt sich die Neuformung im clusterähnlichen Arrangement der einzelnen Text-Bild-Ensembles, inhaltlich in ihrer sinnvollen Ergänzung zu einer in sich kohärenten Thematik. Damit stellt sich die Frage nach der Programmatik der Eingangsseite hinsichtlich der Rezeption von C. Ich kehre wiederum zum Prolog zurück. Der Prologtext stellt die recogitatio in den Vordergrund, das Bild die invocatio. Die von Bernhard erwähnte praedicatio spielt eine untergeordnete Rolle. Mit der recogitatio oder auch recordatio77 rückt die Art und Weise der Rezeption in den Mittelpunkt, als Prologprogramm eben nicht nur hinsichtlich des Namens Jesu, sondern auch hinsichtlich des dargelegten 73 Daran schliessen sich vier stultitias, die der Mensch immer wieder begeht. 74 So die beiden Bussallegorien, die zusammen mit der Allegorie der Gnade auf fol. 60r erscheinen. Eine gegenseitige Ausrichtung der Bilder ist nicht zu erkennen, im Gegenteil: Beide Bilder befinden sich auf unterschiedlicher Höhe, der Ritter wendet sich vom nackten Büsser ab, der zum Büsser gehörende Text läuft in die andere Seite über. Zudem fehlen etliche Beischriften zum Büsser wie auch das Chrysostomos-Zitat beim Ritter. Den Bussbaum findet man auf fol. 63r wieder, zusammen mit einer Scala celi und einer Cherubsdarstellung. Vgl. dazu unten. 75 So der Text-Bild-Prolog und die vier Rotae mit Beischriften. 76 Zur konzeptionellen Neuformung vgl. den Vergleich von fol. 2v (C) und 46r (W), sowie fol. 31v (C) und 31v (W) in: Lutz, Spiritualis fornicatio, S. 387 f. (Abb. 28 und 56 ff.). 77 Bernhard von Clairvaux, Sermones (Ed. Winkler, Bd. 5), XV ,6: An non toties confortaris, quoties recordaris [nomen Iesu]?
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Stoffes überhaupt: Diese »trockene Seelennahrung« muss in seinem Namen wiederholt durchdacht werden, dient seiner Wiedererinnerung. Damit ist eine meditative Aneignung des Stoffes in dezidiert christologischer Lesart umrissen. Das nährende Öl des Namens ist die Essenz aller Seelenspeise. Dem Bild des Nährens entspricht das aus der Meditationstheorie bekannte Bild des Wiederkäuens: Auf die nutritio folgt die ruminatio.78 Die Meditation steht hier in der Tradition der Namen-Jesu-Meditation, die Bernhard entscheidend mitgeprägt hat.79 Ausgangspunkt bildet der Name Jesu, der, ausgehend von Mt 1,21, die Menschheit von den Sünden erlöst: Quare enim vocamus nomen eius Iesum, nisi quia ipse salvum faciet populum suum a peccatis eorum?80 Der Name soll, im Sinne des Bibelwortes, zur Leidensbetrachtung Christi hinführen: Die mystische Verzückung durch den Namen – iubilus in corde – geht einher mit einem sinnenhaft verstandenen, bildhaften Mitleiden, das im Verständnis Bernhards ein Leben lang Bestimmung sein soll.81 Leiden und Liebe, Heilung und Heil, oder bezogen auf die sich anschliessende Bussmeditation, miseria und misericordia sind die beiden Pole der Christusnachfolge. Habe ich nun den Prologinhalt vom Text aus erschlossen, wird der mittelalterliche Rezipient genau umgekehrt vorgegangen sein. Was C und W betrifft, war am Anfang das Bild. Die Planung der Handschrift ist vom Bild aus konzipiert worden.82 Bildandacht und Wortmeditation ergänzen sich. 78 Leclercq, L’amour, S. 72–75. 79 Wesentlich geprägt wurde Bernhard durch Anselms ›Meditationes‹, die auch eine Meditation über den Namen Jesu enthalten (PL 158,724 f.). Bernhard seinerseits übte einen entscheidenden Einfluss auf die spätere dominikanische (Heinrich Seuse) und vor allem franziskanische Spiritualität (Bonaventura) aus. Vgl. dazu: Köpf, Die Passion, S. 21–41, hier: 25–30. Noye, ›Je´sus (Nom de)‹, in: DS 8, Sp. 1109–1126, hier: 1114 ff. Zum Gedanken der ›leiblichen‹ Nachahmung Christi vgl. Constable, Three Studies, S. 194–217 (201: Petrus Damianus, 204: Bernhard von Clairvaux, 205: William von St. Thierry, 207: Aelred von Rievaulx, 208: Rupert von Deutz) und S. 218–248 (218: Stigmata, 228: arma Christi, 232: Kindheit Christi), und Hamburger, The Visual, S. 257–262 (Heinrich Seuse). 80 Bernhard von Clairvaux, Sermones (Ed. Winkler, Bd. 7), I,2 (›Sermo in vigilia nativitatis Domini‹). 81 Programmatisch für Bernhards Leidensmystik ist seine Auslegung des Myrrhenbüschleins aus Ct 1,12, die in den folgenden Worten gipfelt: Nolo iam scire nisi Iesum, et hunc crucifixum (Bernhard von Clairvaux, Sermones [Ed. Winkler, Bd. 5], XLIII ,4). 82 Seebohm-De´sautels, Texts, S. 120 ff. Für die Vorrangstellung des Bildes spricht auch, dass sämtliche Texte illustriert sind.
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Der Zugang zum Thema erfolgt zunächst über das Bild, führt von diesem zum Text und von dort wieder zurück zum Bild. Das Bild schafft also einen unmittelbaren Zugang zu einer lectio difficilior, ja ist auf den zweiten ›Blick‹ selber Teil dieser lectio, indem es die Thematik um wesentliche Aspekte bereichert. Auch in dieser Hinsicht ist der Prolog wieder programmatisch: Zur Namensmeditation im Wort stellt sich die Passionsbetrachtung im Bild. Die Einheit von Name und Passion kommt durch das Monogramm zum Ausdruck. Die darin inserierten Bilder sind sprichwörtlich Teil des Textes, führen zum Inhalt des Namens zurück und über seine Deutung im Text hinaus. Der Name verpflichtet nicht nur zur Nachfolge, sondern verheisst auch Erlösung. In diesem Sinn sind die Bilder der Auferstehung und Höllenfahrt Christi im letzten Buchstaben zu verstehen: Christologie und Eschatologie werden programmatisch vereint, sie bestimmen die inhaltliche Ausrichtung der meisten Tafeln, auch solcher Tafeln mit Stoffen fernab geistlicher Thematik.83 Die Rezeption der Tafeln kann je nach Publikum, statt im meditativen Dreischritt ›Bild – Text – Bild‹ zu erfolgen, auch bei einer einmaligen, oberflächlichen Bildbetrachtung verbleiben. An die Stelle der lectio difficilior würde das Bild als litteratura laicorum treten, das Monogramm wäre dann nicht mehr als das veräusserlichte Symbol einer naiv verstandenen Frömmigkeit.84 Lectio difficilior und litteratura laicorum bilden die beiden Pole, zwischen denen man sich die Rezeption der Handschrift vorzustellen hat. Bevor ich erneut die Frage nach der Rezeption aufrolle, folgen nun noch ein paar Ausführungen zur Konzeption von C als Ganzes.
83 Vgl. dazu die Analyse von Karl-August Wirth zur Divisio philosophiae (C: fol. 36v/37r; W: fol. 47v/48r): Von mittelalterlichen Bildern, S. 318–321 (Abb. 28 und 29). 84 Vgl. die zahlreichen Einsatzmöglichkeiten des Christus-Monogramms im 15. Jahrhundert. Noye, ›Je´sus (Nom de)‹, in: DS 8, Sp. 1109–1126, hier: 1121 f. Der Namenszug Christi war auch ein beliebtes Motiv des Frühdrucks. Vgl. Holzschnitte aus dem letzten Drittel des 15. Jahrhunderts (Ed. Schreiber), Bd. 2,1, Taf. 134. Kassetten-Holzschnitte (Ed. Schreiber), Taf. 29 ff. Zu den Beziehungen zum Frühdruck vgl. Saxl, A Spiritual Encyclopedia, S. 123–129. Ders., »Aller Tugenden und Laster Abbildung«, S. 113–116, bes. 115.
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1.2.3 Zur Konzeption von C Die vier Rotae der guten Lebensführung auf fol. 1r leiten über zur VersoSeite, die zwei weitere Raddarstellungen beinhaltet. Die obere Rota besteht aus sieben Rundbildern mit den Lebensaltern des Menschen. Das letzte Lebensalter, das als bettlägriger Moribundus gezeigt wird, befindet sich in der Mitte des Rades, das unter dem dreifachen Motto steht: Ve michi nascenti, ve nato, ve morienti. Ve michi, quod sine ve non viuit filius eue.85 Das zweite Rad steht im engen inhaltlichen Bezug zum ersten. Ungewöhnlich an dieser Darstellung, dem sogenannten Rad der sieben Septenare,86 ist die Ausmalung des innersten Kreises mit der Maria lactans im Strahlenkranz. Statt der miseria humana rückt nun die im Jesuskind personifizierte misericordia in den Mittelpunkt. Der Septenar ist nicht mehr Sinnbild eines Lebens im Zeichen von Leiden, Tod und Vergänglichkeit, sondern symbolisiert anhand der Geburt des Erlösers den als sapiens bezeichneten, neuen Menschen: Septem septenas hic pretendit rota plenas. Per sex (imitantur?) sapiens suprema minatur. Solche Weisheit besteht im Befolgen der Lehre der heilsbringenden Septenare und kontrastiert deutlich mit der letztlich nutzlosen Weisheit des beim Todkranken weilenden Mediziners im oberen Bild. In einer gesonderten Spalte gegenüber den beiden Rotae eröffnen zwei Allegorien der Ursünde der superbia die Reihe der Laster. Der erste Text stammt wiederum aus den ›Moralitates‹87 und zeigt den Hochmut in Gestalt einer stehenden Frau mit drei übereinander getürmten Kronen auf dem Haupt. Die Kronen tragen Beischriften, die hochmütiges Unwesen beschreiben.88 Die Auslegung erfolgt im Text.89 Das zweite Bild der Superbia ist einer Bearbeitung des ›Fulgentius metaphoralis‹ entnommen, eines mythographischen Werkes des englischen Franziskaners und Zeitgenossen 85 Walther, Carmina, Nr. 32825. 86 Der Septenar umfasst von aussen nach innen die sieben Bitten des Vaterunsers (petitiones orationis dominicae), die sieben Sakramente (sacramenta ecclesiastica), die sieben Gaben des Heiligen Geistes (dona spiritus sancti), die sieben geistigen Waffen (arma spiritualia), die sieben Werke der Barmherzigkeit (opera misericordiae), die sieben Haupttugenden (virtutes principales) und die sieben Todsünden (vitia criminalia). 87 Holkot, Moralitates 33 (In librum Sapientiae [Ed. (Basel) 1586]), S. 737 f. 88 Effluo, transcendo, quo quis privatur habendo. Transmigrat, excedit genus hominum, nec cuiquam obedit. Turbo, perturbor, affligo et undique ledor. 89 Die Kronen sollen die drei Voraussetzungen des Urlasters symbolisieren: Prima [condicio], quod reputat se esse preferendum omnibus pre alijs. Secunda condicio, ut omni homini vult preferri et nulli obedire. Tercia condicio, quod manus eius contra omnes et manus omnium contra eum.
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Holkots John Ridevall, das unter dem Namen ›Imagines Fulgentii‹ im Umlauf war.90 Superbia reitet auf einem Löwen,91 trägt eine Krone mit vier Türmchen aus Edelsteinen auf dem Kopf,92 schlägt mit der einen Hand auf ein Tamburin,93 hält in der anderen ein Zepter.94 Die Beischrift überwölbt die Reitende und lautet: Dolet de amore. Torquet de livore. Cito, quod diligit, abicit. Diu, quod odit, amplectitur. Die beiden Allegorien begleitet ein Bernhard zugeschriebenes Zitat zur superbia monachi, die jene Luzifers noch übertreffen soll. Gleich drei Text-Bild-Ensembles verwendet der Concepteur für die Darstellung der Fortuna (fol. 1v/2r, Abb. 44 und 45), die Urprinzip des Weltlaufs ist, wie ihre ›Schwester‹, die Superbia, Urprinzip aller Laster ist. Die Seite 2r (Abb. 45) ist in zwei Spalten organisiert, eine engere links, eine breitere rechts. Beide Spalten sind in eine obere und untere Hälfte geteilt. Zwei Fortuna-Ensembles besetzen die linke Spalte (Text 1 und 3), ein weiteres die obere Hälfte der rechten Spalte (Text 2). Die Texte stehen immer über den Bildern. Die Bilder ihrerseits verbinden identische Bildteile: einmal das obligate Rad, ein andermal das doppelte Gesicht Fortunas. Im Zentrum des ersten Textes steht Fortuna als Sinnbild der miseria corporis;95 im zweiten Text zeigt sie sich als Weltliebe (amor mundi).96 Ihr wird – mit Berufung auf Bernhard, Johannes Chrysostomos und die Kirchenväter – die Abkehr von der Welt am Vorbild der Armut Christi empfohlen.97 Ein Zitat aus einer 90 Diese mythographischen Bildbeschreibungen (Mitte 14. Jh.) gehen in ihrer Konzeption zurück auf die ›Mitologiae‹ des Fabius Planciades Fulgentius (6. Jh.) und sind nach dem gleichen Muster aufgebaut wie die ›Moralitates‹. Übernommen wurden nur die namentlich genannten Götter. Die Texte liegen nur handschriftlich vor. Eine Beschreibung des Inhalts nach der Römer Handschrift, BAV , Pal. lat. 1066 in Liebeschütz, Fulgentius metaforalis, S. 53 f, hier: 54. Hier auch Abbildungen der Tugendbilder aus der Römer Handschrift (Abb. 5–23, hier: 20). Zur Quellenlage und Kapitelfolge vgl. Palmer, Das ›Exempelwerk‹, S. 147–150. Ich übernehme diese Kapitelfolge. Vgl. auch: Smalley, English Friars, S. 110–121. 91 Sedet super leonem sua ferocitate transcendens omnia. 92 Primo sibi asscribit illud, quod non habet. Secundo, quod alijs dolet. Tercio, quod de se verum vult credere et multa presumit. Quarto, quod se erigit contra superiorem. 93 Tenet in manibus, id est in operibus, tympanum lascivie gaudens vicio. 94 Sceptrum fert, ‹ideo› quod vult omnibus dominari. 95 Holkot, Moralitates 45 (In librum Sapientiae [Ed. (Basel) 1586]), S. 745 f. 96 Ebd. Moralitates 44, S. 744 f. Der Text ist teilweise ediert in: Gesta Romanorum (Ed. Oesterley [Nachdr. d. Ausg. 1872]), S. 619. 97 Vgl. beispielsweise die Auslegung des amor mundi durch ein Bernhard zuge-
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Epistel des Hieronymus beschliesst die moralisatio mit der Unvereinbarkeit irdischer Freuden und himmlischen Heils:98 Difficile, ymmo impossibile est, ut [et] presentibus bonis et futuris fruamur, ut hic ventrem, illuc mentem impleamus, ut in utroque [seculo] primus sit, ut in celo et in terra appareat gloriosus. Der dritte Text thematisiert Fortunas blinde Zuteilung von Glück und Unglück;99 das dazugehörende Bild leitet sich nicht aus dem Text ab, sondern ist eine geläufige Darstellung des Fortunarades, textiert mit bekanntem Versgut. Daneben, im unteren linken Seitenviertel steht die ›Schmeichelei‹ (Adulacio):100 Die erste und augenfälligste Ausgeburt der Weltliebe ist die Selbstliebe, die, symbolisiert in der Ergötzung der Adulacio am spiegelbildlichen Selbst, im Bild des richtigen und falschen Beters darunter anschaulich vor Augen geführt wird. Während der richtige Beter sich im Gebet auf den Gekreuzigten konzentriert, wendet der falsche Beter seine Gedanken an Hab und Gut. Die Personifikation der Schmeichelei leitet über zur zweiten Doppelseite (fol. 2v/3r, Abb. 46 und 47), die eingeleitet wird mit der ihr verwandten ›Nichtigkeit‹ (Vanitas) im oberen linken Seitenviertel (Abb. 46):101 Wie sich hinter dem Spiegel der Schmeichelei nichts verbirgt (sed speculum verte et nichil esse videbitur), so täuscht auch die ›Nichtigkeit‹. Diese ist als Mädchen veranschaulicht, das mit einem Netz gekleidet ist, welches vordergründig als ganz erscheint, bei näherem Hinsehen sich aber als löchrig erweist. Die moralische Auslegung folgt sogleich im Text: De vanitate consulti, enim sapientes huius mundi, non cognoscunt vite sue voragines, foramina et terrores, donec extendantur in morte, quando scilicet: eorum corpus traditur vermibus et anima demonibus. Die Vanitas wendet sich der Mundana decepcio102 zu, die ihre drei Söhne Cupiditas, Nummus und Fraus
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schriebenes Zitat: Paupertas Christi fuit via Christi de celo ad terram et via discipulorum suorum de terra ad celum, quia pauperibus est enim regnum celorum. Sed divites sunt ceci, sedentes extra viam istam et si velint intrare viam ducentem ad celum, teneant viam paupertatis. Hieronymus, Epistolae, PL 22,965. Imagines Fulgentii A 14. Dieser Text ist ediert in: Palmer, ›Antiquitus depingebatur‹, S. 228 f. Liebeschütz, Fulgentius metaforalis, S. 53 (Abb. 18). Im Anschluss daran stehen ein paar Sprüche zum Thema ›Wahrheit‹, die hier gut zur Adulatio als Schein und Lüge passen. Liebeschütz, Fulgentius metaforalis, S. 54 (Abb. 19). Liebeschütz, Fulgentius metaforalis, S. 53 (Abb. 15). Beischrift: In mundo iniura iam faciunt nummus et ira. Mollificant dura, pervertunt omnia iura.
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belehrt.103 Die unteren zwei Seitenviertel teilen sich zwei einander zugewandte Allegorien der Weltliebe104, sogenannte figurae mundi,105 links als ›Siebenlasterweib‹ veranschaulicht, rechts als ihr Liebhaber. Beide Darstellungen lassen sich nicht nur jeweils auf ihr Gegenüber beziehen,106 sondern auch auf die beiden Personifikationen in der oberen Seitenhälfte: Mit der Vanitas kontrastiert das üppig gekleidete Weib mit ihren angehäuften Lastern. Die an die Kinder gerichteten Ratschläge der Mundana decepcio fallen auch beim Jüngling auf fruchtbaren Boden. Dieser buhlt mit einer deutlichen Handgeste um das Lasterweib: Est mel michi mundus, ideo sum veste iocundus, steht im Spruchband gleich neben der Hand des Jünglings, der hinterrücks bestärkt wird durch die eingeflüsterten Worte einer – wie das Lasterweib – geflügelten Teufelsgestalt: Mortis ne timeas quas adiciat tibi minas. Den beiden Spruchbändern sind jeweils Beischriften an die Seite gestellt, die um Lebensvergänglichkeit und Todesgedenken,107 um Welteitelkeit und Höllenvorschau108 kreisen und die Figurenrede moralisierend entlarven. Eckart Conrad Lutz hat den Inhalt der Seite treffend auf den prekären Status des weltverliebten Menschen »zwischen Tod und Teufel« bezogen.109 Entsprechend dieser Grundthematik wankt der Jüngling auch ›bildlich‹ zwischen diesen beiden: Von vorne wird die Weltkugel, auf der er steht, vom ›Tod‹ in den Höllenrachen gerollt,110 von hinten verführt ihn der Teufel. Ebenso schwankend erscheint das Lasterweib, das durch den Biss ihres drachenköpfigen Schwanzes (mors) in das eigene Bein (vita hominis) 103 Liebeschütz, Fulgentius metaforalis, S. 54 (Abb. 20). 104 Der Begriff ›Weltliebe‹ (amor mundi) stammt aus den Beischriften. 105 Zum Bildmotiv und seiner Ausgestaltung in C vgl. Lutz, Spiritualis fornicatio, S. 276–281 (Abb. 30 ff.). Hier liegen auch Teile der Inschriften und Beischriften vor. Vgl. auch: Kiening, Contemptus mundi, S. 445–450 (Abb. 9), und Saxl, A Spiritual Encyclopedia, S. 126 f. (Abb. 31). 106 Auffallend ist die Parallelität der beiden Darstellungen. Hier wie dort stehen die Figuren auf einer Weltkugel, verfügen nur über ein Standbein mit Kralle und halten eine Fackel in der linken Hand. 107 Beischrift zum Jüngling: Vita brevi[s], velud umbra levis sic annichilatur. Sic vadit subitoque cadit dum stare putatur (Bernard von Clairvaux [attr.], Carmen paraeneticum ad Rainaldum, PL 184,1308). 108 Beischrift zur Teufelsgestalt über dem Höllenschlund: Convertentur peccatores in infernum, omnes gentes, id est Christiani gentiliter viventes, qui obliviscuntur Deum, scilicet vivendo in vanitate, carni, mundo et diabolo (Ps 9,18). 109 Spiritualis fornicatio, S. 390. 110 Spruchband: Movebo globum, tunc cadas mox in infernum. Beischrift: Mors stet ante fores, tibi dico, corrige mores (Walther, Proverbia, Nr. 15023).
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zu Fall gebracht wird. Ausschliesslich der Todesthematik gewidmet ist die gegenüberliegende Seite, die zahlreiche Memento-mori- und TotentanzVerse mit der Darstellung eines um seine Seele feilschenden Sterbenden kombiniert. Die Verse sind ›litaneiartig‹ aneinandergereiht, zeichnen sich durch Figuren der Wiederholung aus: als Eingangsformeln (Vile cadaver eris, Quid nide?, Vado mori) oder als Reihungen im Satz (Excreo, tussio, rauceo, nauseo, sordeo, fremo!). Die Darstellung zeigt einen reichen Mann beim Versuch, seine Seele loszukaufen. Der ihm gegenüberstehende ›Tod‹ unterrichtet ihn darüber, dass allein die Sünden ins Jenseits mitgenommen werden dürften.111 Dort werde über das Los der Seele entschieden. In der rechten oberen Bildhälfte streiten sich ein Engel und ein Teufel um die in Gestalt eines Kindes gezeichnete Seele, derweil der Körper im Grab von Würmern zerfressen wird und die Erben sich über das Geld des Verstorbenen hermachen. Die Seite führt die Thematik von fol. 2v bruchlos weiter: Die Lage des Menschen zwischen Tod und Teufel ist nun erweitert um den Engel: Sunt tria, que hominem imitantur ubique: Angelus et demon mors sociatur equidem.112 Konkreter fasst nun die dritte Doppelseite (fol. 3v/4r, Abb. 48 und 49) das Grundthema des amor mundi am Beispiel des amor carnalis. Die Thematik leiten Auszüge aus den ›Sprüchen‹ ein, die, in zwei Szenen unterteilt und um je ein Bild ergänzt, die linke Spalte zu zwei Dritteln füllen (Abb. 48). Die erste Szene zeigt das Werben der Hure um den dummen Jüngling in der Abenddämmerung (Prv 7,6–12): Occurrit illi ornatu meretricio preparata ad animas capiendas. Beide trennt ein Gewächs, dessen Stiel der Jüngling festhält. So wie dieses in der Nähe des Wassers spriesst, so wächst auch die Begierde beim Aufsuchen der Frau: Virens herba iuxta aquas nascitur et libidinis vicium in visitacione mulieris.113 Die zweite Szene zeigt dann einen Nachthimmel und darunter Hure und Jüngling in enger Umarmung (Prv 7,14–22): Veni, inebriemur uberibus et fruamur cupitis amplexibus donec illucescat dies. Die Szene begleiten ein Spruchband (Prv 7,13)114 und zwei Beischriften: Eine Frau bei ständigem Beisammensein nicht anzurühren, sei schwerer als Tote zu erwecken, besagt die erste Beischrift.115 Deshalb sei 111 Spruchband des ›Todes‹: Mundus execrabilem constituit ianitorem, qui non sinit aliquid exportare nisi peccata. 112 Spruchband zur Todesgestalt. 113 Der Text gibt Augustinus als Quelle an. 114 Adprehensum iuvenem osculatur et procaci vultu blanditur dicens. 115 Bernardus: Cum femina semper esse et feminam non cognoscere, nonne plus est quam mortuos suscitare? (Ed. Winkler, Bd. 3, Epistola 538).
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einzig die Weltflucht das probate Mittel, das fleischliche Verlangen zu bezwingen, steht in der zweiten.116 Den Rest der Seite füllen Illustrationen der als Luxuria gedeuteten Venus auf der Muschel117 und der Luxuria im Bett.118 Ridevalls einseitige, achtfach ausgefaltete Charakterisierung der Venus als Hure (Venus impudica) passt hier nur allzu gut zur Thematik der ›Sprüche‹: Venus raubt Hunger, Kraft, Würde und Verstand (Pkte. 1 und 5), täuscht durch vordergründige Schönheit (Pkt. 4), verführt zur Lüsternheit (Pkte. 3 und 6) und lässt nur Bitterkeit zurück (Pkte. 2 und 7). Dem Zweck der Moralisierung fügt sich alles, so auch die holprige etymologische Verwandtschaft zwischen mare und amaritudo: depingitur portare supra mare, quod significat amaritudinem. Die bei Bernardus Silvestris und Alanus ab Insulis belegte Auffassung der doppelten Venus-Figur, die sowohl gut als auch schlecht sein kann, ist hier vollends ausgeblendet, wie Nigel Palmer festhält.119 Venus und Luxuria werden auf der gegenüberliegenden Seite um allegorische Darstellungen ergänzt (Abb. 49), um jene der Fluctuacio amoris (Unbeständigkeit der Liebe),120 des Amor fatuus (einfältige Liebe)121 und der Cupiditas (Begierde),122 die auch als deus amoris inordinati oder deus fornicationis bezeichnet wird und als Inbegriff fleischlicher Freude, als delectacio amoris carnalis gilt. Sämtliche Allegorien werden nach gewohntem 116 Ieronimus: Contra impetum libidinis fugam arripe, si vis palmam castitatis habere, cum aliter de luxuria non valeat triumphare (Vgl. Epistola 39,5 [PL 22,472]). 117 Venus sub qua depingitur luxuria. Imagines Fulgentii A 31. Neuedition auf der Grundlage der Handschrift Worcester, Cathedral Library, MS F. 154, fol. 144va/b bei Palmer, Bacchus und Venus, S. 230 f. Zur Quellenlage vgl. ebd. Vgl. auch: Lutz, Spiritualis fornicatio, S. 236. Bei der dritten Eigenschaft der Venus (super mare portatur) wird explizit auf die Hurerei Bezug genommen: Auf das Angebot der Hure Lais verweigert Demosthenes die geforderten fünfzig Silberpfund mit der Begründung, so viel wolle er für die Reue nicht bezahlen. 118 Holkot, Moralitates 38 (In librum Sapientiae [Ed. (Basel) 1586]). Textabdruck in: Gesta Romanorum (Ed. Oesterley), S. 616. 119 Bacchus und Venus, S. 208. 120 Als Chimaera dargestellt. Imagines Fulgentii A 17. Quelle: Fulgentius, Mitologiae, 3,1 (Ed. Helm, Fulgentii Opera), S. 60,19 ff. 121 Als nackter Knabe mit Schwert und Fackel dargestellt. Imagines Fulgentii B 9. Liebeschütz, Fulgentius metaforalis, S. 54 (Textabdr., Abb. 15). 122 Imagines Fulgentii A 12. Quelle: Remigius Autissiodorensis, Commentum in Martianum Capellam (Ed. Lutz), 8,22, Bd. 1, S. 81. Vgl. auch Isidor, Etymologiae (Ed. Lindsay), VIII ,11,76–80.
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Muster einer moralisatio unterzogen. Im Fall der Luxuria, die alle Liebeslaster übergreift, wird die Auslegung mit biblischen Vorbildern verdeutlicht.123 Ihr inhaltliches Zentrum findet die Doppelseite schliesslich in der Darstellung der Vertierung des hurenden Menschen. Beidseitig nähern sich Kleriker und Laien jeden Alters einer geflügelten mala mulier124 und verwandeln sich im Augenblick der Huldigung in Tiere: zur Rechten in Basilisken, zur Linken in Affen. Die Symbolik beider Tiere ist eindeutig. Die stinkende Ausdünstung des Basilisken lässt alles Leben absterben;125 die Veräffung des Menschen ist ein konventionelles Symbol für den Sündenfall.126 Wie so oft unterrichtet ein angebliches Zitat Bernhards über die Kämpfe der Keuschheit, die zu den härtesten zählen und selten siegreich enden: Inter omnia Christianorum certamina sola duriora sunt prelia castitatis, ubi cottidiana est pugna et raro victoria. Die Allegorien ergänzen auf beiden Seiten Spruchweisheiten misogyner Ausrichtung. Die zweite Lage der Handschrift behandelt Tugenden und Laster anhand einer reichhaltigen Sammlung von Baumschemen und setzt mit der Darstellung des lignum vitae nach Bonaventura (fol. 16r, Abb. 50) ein.127 Die Symbiose von Kreuzesmystik und Namensmystik ist in dieser Darstellung programmatisch vorgeführt und bindet sie in ihrer Ausrichtung an die Prologseite. Unter dem Baum befinden sich, entgegen der Bildtradition, ein schreibender Mönch – derselbe wie der betende Mönch im Monogramm? – und eine den Stamm kniend umarmende Frau. Die Beischrift erklärt, wie unter einem gewissen Baum ein Kleriker Adam schrieb, wie dieser zum Ort der Verdammung geworden sei, aber auch zum Ort der Erlösung: Arbore sub quadam scribebat clericus Adam. Quomodo prius Adam peccavit in arbore quadam. Et postremus Adam natus de virgine quadam. Dampna prioris Adam reparavit in arbore quadam.128 Bei einer 123 Vgl. unten. 124 Die Frau wird im Text auch als Hure (meretrix) bezeichnet. 125 Nota, quod foveam basilisci nichil remanet viride. Sed fetida eius ex[h]alacio procedens ex ore et a toto corpore totum aerem inficit et omnia virida circumquaque arescere facit et omnia circa se sibi competencia consumit. 126 Zur Symbolik von Basilisk und Affe vgl. Janson, Apes, S. 115 f. 127 Lutz, Spiritualis fornicatio, S. 390 f. Die deutschen Texte sind ediert bei Palmer/Speckenbach, Träume, S. 16 f. Vgl. auch: Saxl, A Spiritual Encyclopedia, S. 112 f. (Abb. 27b). 128 »Adam schrieb unter einem gewissen Baum, wie zuvor Adam an einem gewissen Baum gesündigt habe, schliesslich Adam aus einer gewissen Jungfrau geboren worden sei und dem Verlust des dortigen Adam an einem gewissen Baum wieder hergestellt habe.«
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solchen Adam-›Konstruktion‹ kommt eine Rezeptionshaltung zum Ausdruck wird, die individuelle Lebensgeschichte und Heilsgeschichte aufeinander projiziert unter den Vorzeichen einer sensualistisch nachgelebten Christozentrik und den zu vermittelnden Stoff so aufbereitet, dass er als eschatologisch durchdrungen erscheint. Dieser Zusammenhang wird nicht nur durch den schreibenden Mönch deutlich, der, wie jeder Mensch – eben A-d-a-m –, zwischen dem prius Adam und dem postremus Adam steht und auf die reparatio durch den Menschensohn hofft, sondern noch treffender durch die, ihrer langen Haartracht wegen, als Maria Magdalena zu identifizierende Frau, die bussfertig das Kreuzesholz küsst129 und das im Prolog eingeführte Bild Christi als nährendes Öl (pascit recogitatum) insofern steigert, als sie seinen Namen – nachdem ihn der Mönch geschrieben hat – ›schmeckt‹. Magdalena ist hier vor allem als Beispiel vorbildlicher Busse zu sehen, als exemplum perfectae poenitentiae. Im franziskanischen Milieu war sie vor allem als beata peccatrix bekannt, die mit Maria unter dem Kreuz mitleidet. Damit ist das Leitmotiv des Menschen zwischen Sündhaftigkeit und Busse gegeben, wie schon zuvor auf der Anfangsseite der Handschrift. Ein weiterer Bezug zum Prologwort Bernhards (lucet praedicatum) ergibt sich über die Charakterisierung Magdalenas als apostola apostolorum, genauer als Verkünderin der Auferstehung (nuntia oder praedicatrix).130 Die imitatio131 und praedicatio Magdalenae holt die im Prolog propagierte Symbiose von Christologie und Eschatologie unter anderen Vorzeichen wieder ein. Was auf den nächsten Seiten folgt, ist eine breite Palette an Tugenden und Lastern, die, numerisch geordnet, auf Stamm, Ästen, Blättern und Blüten ausgebreitet und gelegentlich um Figuren ergänzt werden. Die Darstellung des Palmbaums als Allegorie der anima fidelis schliesst die Reihe ab, insofern sinnvoll, als es hier um sieben Seelentugenden geht, die zur Vereinigung der Seele mit Christus führen, insofern auch, als wir es hier mit einer Allegorie zu tun haben, die möglicherweise von der Hohelied-Exegese
129 Lc 7,38. Zur Busse der Maria Magdalena vgl. Gregor, Homiliae in Evangelia (Ed E´taix), 25,1: Quae enim frigida peccando remanserat, postmodum amando fortiter ardebat. Vgl. auch ebd. 33,1–3. 130 Zu den mittelalterlichen Magdalena-Vorstellungen als Büsserin und Verkünderin in Text und Bild vgl. Jansen, The Making of Magdalen, S. 62–82 und 203–206. 131 Verdichtet im Bildtyp der Magdalena, die die Füsse des Gekreuzigten küsst. Jansen, The Making of Magdalen, S. 90–96 (Abb. 14 und 16).
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bernhardinischer Prägung beeinflusst worden ist (Abb. 51).132 Der Phönix als Symbol Christi und Maria Magdalena als Exempelfigur sind, wie schon in der Illustration des lignum vitae, auch hier von zentraler Bedeutung. Maria Magdalena steht für die glühende Liebe des Herzens und entspricht der Sonnenblume auf dem sechsten Ast, die sich nach der Sonne richtet, wie jene den Auferstandenen sucht;133 der Phönix besetzt den siebten Ast und bezeichnet die durch Selbstaufgabe sich vollziehende Vereinigung der anima fidelis mit Christus.134 Die zweite Lage schliessen Darstellungen des Kampfes zwischen Tugenden und Lastern, die das systematisch Ausgelegte abschliessend szenisch ausbreiten und zur ebenfalls dualistisch angelegten, die dritte Lage eröffnenden underscheit der welt überleiten (fol. 38r).135 Vom Schoss einer thronenden Frau wenden sich zwei Kinder ab: eines nach rechts zum Schmerzensmann inmitten seiner Marterwerkzeuge, eines nach links zu den sieben Lasterpersonifikationen (fol. 38r, Abb. 53). Die programmatische Scheidung nimmt das Thema der letzten Lage vorweg, indem hier die imitatio Christi des homo interior vom soteriologischen Ziel her gedacht wird, nämlich von Christus, dem Auferstandenen. Ihm wird das Lasterleben des homo exterior gegenübergestellt. Während das erste Kind auf Geheiss des Engels guten gedenken folgt, hält sich das zweite an den Rat, den der tufel geratten hat. Die Darstellung Christi als Gekreuzigter oder Schmerzensmann ist in der dritten Lage durchwegs gegenwärtig, augenscheinlich in der Gruppe der Kreuzesdarstellungen,136 in der Illustration Christi in der Weinkelter (fol. 28r) und im Bild Christi als Schmerzensmann 132 Vgl. Fleischer, Untersuchungen, S. 117–136, bes. 119–122. Hier auch die Edition des Textes in der lateinischen EP -Überlieferung der oculos deiGruppe (S. 232–235). 133 Ebd. S. 235: Tanto flagrabat cor eius dilectionis feruore quod ullum ab aliquo solatium uellet suscipere. Vgl. Io 20,11–18. 134 Ebd.: Per phenicem etiam anima fidelis designatur que uirtutis sibi species congregat et eas in furore crucis deficiens in altum se collocat et in altari cordis omnipotenti domino se in odorem suauitatis liberat. 135 Lutz, Spiritualis fornicatio, S. 381 und 391. Texte ediert bei Palmer/Speckenbach, Träume, S. 20. Überschrift: Das sint die vnderscheit der welt, der vil geruft sind vnnd wening erwelt. 136 Die Gruppe besteht aus vier Motiven: der Kreuzigung Christi durch die Tugenden (fol. 28v), dem gekreuzigten Mönch (fol. 35v), einem Tugendbaum in Kreuzform (fol. 36r) und einer Kreuzigung mit Sündenwaage (fol. 37v). Am besten verdeutlicht die Kontamination von Baum und Kreuz die Kontinuität zu den Baumdarstellungen der zweiten Lage. Das Kreuz schlägt Wurzeln und bringt Blätter, Blüten und Äpfel hervor.
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auf der Schlussseite (fol. 40r)137. Auch solche Darstellungen sind christologisch-eschatologisch akzentuiert, die thematisch fernab davon zu liegen scheinen, bei näherem Hinsehen aber entsprechend moralisiert werden, so beispielsweise die Einteilung der Wissenschaften, die bezeichnenderweise in Christus ihren Anfang nimmt.138 Am prägnantesten zum Ausdruck kommt die Verquickung von Christologie und Eschatologie im Kreuzigungsbild mit der Sündenwaage (fol. 37v, Abb. 52).139 Das Thema ist das Leben im Zeichen des Gekreuzigten und das Sterben im Zeichen des Auferstandenen. Ein überlanges Kreuz, an das Christus genagelt ist, teilt die Seite in zwei Hälften. Etwa auf halber Höhe des Längsbalkens befinden sich links davon auf einer ersten Ebene drei Männer, die sich dem Gekreuzigten zuwenden und offenbar drei Stadien der Passionsbetrachtung darstellen sollen; rechts davon liegt ein Sterbender im Bett, der mit erhobenen Händen zum Schmerzensmann spricht, während die über ihm am Kreuzbalken hängende Waage durch die Schwere der arma Christi nach unten gezogen wird. Auf der unteren Ebene wiederholt sich die Sterbeszene: Diesmal schwebt die Seele über dem Moribundus. Diese kann, obschon bereits in den ›verlängerten‹ Fängen des Teufels, auf die Interzession der Gottesmutter und des Lieblingsjüngers hoffen, die rechts und links aussen abgebildet sind. Im Rang eines Titels steht die Beischrift rechts oben, die einzelne Momente der 137 Hier mit Texten zur Heiligung des Sonntags: Veneranda est nobis hec dia, que dicitur dominica. Et ideo dicitur, quia hec dies sola deo est dies (Incipit der linken Spalte). Der Auferstandene bittet den Menschen, auf seine Seele zu achten, denn seine Erlösungstat bleibe einmalig: Christiane, serva animam tuam! Ego pro illa mortuus sum. Si illam amiseris, iterum mori non possum. Sed nolo, ut mihi iniuriam facias, quia si salutem tuam morte mea restitutam voluntarie peccando amiseris, quantum in te est, me iterum crucifigis (Beischrift; Quelle: Hugo von St. Viktor, De sacramentis [Ut iterari possit poenitentia], PL 176,558 f.). Eine zweite Beischrift lautet: In Paradiso Christus dicit: Cum esses inimicus Patri meo, reconciliavi te. Cum esses longe, ego veni, ut redimerem te. Cum inter montes et planas errares, que finite inter lapides et ligua, inveni te, et ne luporum et ferarum rabido ore ‹. . .› collige te [. . .]. (Augustinus, Adversus quinque haereses, PL 42,1107). 138 Vgl. Anm. 83. Das Stemma geht von einer thronenden Christusfigur mit Kreuznimbus und Buch aus. Auf dem Rahmen des Tondos steht: Virtutes procedentes a Ihesu Christo. W fügt ein Bibelzitat an: Qui sequitur me, non ambulabit in tenebris, sed habebit lumen vite (Io 8,12). 139 Die Darstellung ist erschöpfend interpretiert worden von Wolfgang Augustyn, Passio Christi, S. 211–240 (Abb. 1 [C] und 2 [W]). Ich behandle die Darstellungen daher lediglich hinsichtlich der Gesamtkonzeption der Handschrift.
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Leidensnachfolge hervorhebt: Passio Christi est meditanda tibi ad imitandum, ad compaciendum, ad quiescendum, ad mirandum, ad exultandum.140 Die hier beschriebenen Stufen beziehen sich auf die drei Männer,141 wobei die Zustände des In-Sich-Ruhens (quies),142 der Versenkung (miratio) und der Verzückung (exaltatio) wohl alle drei Formen der Gottesliebe (dilectio) darstellen. Von den drei Meditierenden trägt der erste ein Kreuz als Zeichen der imitatio, zeigt der zweite seine Stigmata als Zeichen der compassio oder conformatio, küsst der dritte die Füsse Christi als Ausdruck der dilectio. Der Kuss auf die Fusswunde als Form brennender Gottesliebe lässt wieder an das Beispiel der Maria Magdalena denken, die ihre Liebe bezeugte, indem sie ihre Sünden in Tränen auflöste.143 Auf die Begründungen und Wirkungen des Weinens beziehen sich dann auch die Beischriften oberhalb und unterhalb der drei Männer,144 auf die Last des Kreuztragens ein Gregor-Zitat,145 auf die Verehrung der fünf Wunden ein Augustinus-Zitat.146 Die drei Formen der Christusnachfolge kommen dem bernhardinischen imitatio-Verständnis als unablässig zur Gleichförmigkeit strebenden memoria passionis sehr nahe.147 Nicht zufällig wird schliesslich Bernhard von Clairvaux bemüht, um an die bedingungslos verpflichtende Wohltat der Menschwerdung und Leidensannahme Jesu zu gemahnen:148 Weil dieser sterben musste, muss der Mensch ihn lieben. Die rechte Seite des 140 Der Text fährt fort mit der Hochschätzung der simplex cogitatio passionis, die laut einem Albert dem Grossen zugeschriebenen Zitat sogar strenges Fasten (ieiunium unius anni in yppa [?]), Psalterlesung (psalterium legisse ad annum) und Aderlassen (cottidie per annum se cecidisse ad effusionem sanguinis) übertrifft. Fraglich bleibt die Forderung der Psalterlektüre, die eigentlich wöchentlich zu erfolgen hat. 141 In W steht die Beischrift dann auch unmittelbar über den drei Meditierenden. 142 Der Zustand des Ruhens würde man eher am Schluss der Reihe vermuten. Vgl. Augustyn, Passio Christi, S. 224. 143 Vgl. die Deutung der Grabszene (Io 20,11–18) durch Gregor: Qua in re pensandum est huius mulieris mentem quanta vis amoris accenderat, quae a monumento Domini, etiam discipulis recedentibus, non recedebat. Exquirebat quem non invenerat, flebat inquirendo, et amoris sic igne succensa, eius quem ablatum credidit ardebat desiderio (Homiliae in Evangelia [Ed. E´taix], 25,1). 144 Texte in: Augustyn, Passio Christi, S. 224 f. 145 Text nur in W. Autorschaft nicht nachgewiesen. Vgl. Augustyn, Passio Christi, S. 226. 146 Text nur in W. Quelle und Text in: Augustyn, Passio Christi, S. 227. 147 Ebd. S. 225 und 228. 148 Text nur in W: Bernardus: Cetera beneficia invitant nos ad diligendum deum, solum beneficium incarnacionis et passionis cogit nos amare deum.
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Bildes macht nun die soteriologische Bedeutung des Mitleidens deutlich, indem Christologie und Eschatologie über den Zusammenhang von Kreuz und Waage verbunden werden, eine Motivkombination, die auf Iob 6,2f. gründet und zunächst von Gregor als Ungleichgewicht von Passion und Sünde ausgelegt wurde.149 Später wurde das äusserst selten verbildlichte Motiv im Umkreis Bernhards aufgegriffen.150 Christus erscheint auf der rechten Seite des Bildes als fürbittender Schmerzensmann, wie Wolfgang Augustyn überzeugend darlegen konnte.151 Der eschatologische Einschlag der Darstellung wird so zusätzlich gestärkt und schliesslich überboten durch die ausschliessliche Präsenz des gleichen Motivs auf der Schlussseite.
1.2.4 Zur Konzeption von W Ich schliesse hier ein paar Beobachtungen zur Parallelseite in W an, um dann R einzubeziehen und einen Ausblick auf eine mögliche Rezeption solcher Text-Bild-Handschriften zu geben. W bildet das Kreuz mit der Sündenwage auf der unteren Seitenhälfte von fol. 62v ab (Abb. 54). Das untere Bildregister wurde hier weggelassen, das obere dagegen um ein paar Beischriften angereichert, wie oben ausgeführt wurde. In der oberen Seitenhälfte ist ein stigmatisierter Seraph abgebildet. Er formt die rechte Hand zum Segensgestus; in der linken Hand hält er eine Weltkugel mit aufgepflanztem Kreuz. Man hat hier an den literalen Sinn des Seraphim als ardor zu denken, aber auch an seine anagogische Bedeutung als figura des auferstandenen Richters und Weltherrschers.152 Damit sind die beiden Inhalte der Kreuzigungsdarstellung wieder eingeholt: Der Tod Christi als Verkörperung der caritas schlechthin und die Errettung der Welt durch seine Auferstehung. Mit der caritas stehen und fallen sämtliche Geistesgaben, so will es die Beischrift glaubhaft machen: Attende quanta est caritas, que, si desit, frustra habentur cetera dona, si autem assit, habentur omnia. Die Flügel sind jeweils paarweise mit sechs Tugenden besetzt, die Bestandteile einer solchen Liebe darstellen, mit innocencia und reverentia, paciencia und obediencia sowie timor Domini und timor spei.153 Die Texte zu beiden Seiten des Seraphs 149 Moralia in Iob (Ed. Adriaen), VII ,2, S. 335. Vgl. Wormald, The Crucifix, S. 276–280, hier: 279. 150 Pseudo-Bernhard, Sermo in feria II paschatis, PL 184,972. 151 Passio Christi, S. 231 f. 152 Vgl. Hieronymus, Epistolae, PL 22,364 ff. Vgl. Kapitel 1.1. 153 Dieser Flügel enthält bezeichnenderweise die zwei Imperative: mundum non diligere und Deum diligere.
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beinhalten ein Lob auf die Liebe,154 das mit der Auslegung eines Pauluswortes155 schliesst: Caritas est excellentiorem viam, quae ducit per se ambulantes ad patriam [. . .], quia sine caritate, quae dicta est via, non ambulare possunt homines. Dem Seraph zugewandt, steht auf fol. 63r (Abb. 55) der Cherub als figura confessionis. Wie sein Gegenüber formt er eine Hand zum Segensgestus. Die Figur ist beidseitig von Versen zur Busse flankiert. Die untere Hälfte ist zweigeteilt: Links ragt eine Leiter mit zwölf Sprossen schräg in die Höhe;156 rechts steht der arbor penitencie, darunter ein Katalog mit Qualitäten der Busse und des Beichtvaters, mit den drei Handlungen des Büssers und mit den acht Umständen der Sünde.157 War es dort die Liebesthematik, ist es hier die Bussthematik, die obere und untere Seitenhälfte verbindet. Bussfertigkeit setzt Selbsterkenntis voraus, womit der Zusammenhang zwischen dem Cherub als Bussfigur und seiner ursprünglichen Bedeutung als plenitudo scientiae hergestellt ist. Rechte und linke Seite verbinden nicht nur die Engelsfiguren, sondern auch das Kreuz und die Leiter, die in der Patristik typologisch aufeinander bezogen werden.158
1.2.5 C und W im Vergleich Es geht hier nicht darum, die Bezüge der einzelnen Text-Bild-Ensembles zu strapazieren, sondern lediglich darum zu zeigen, dass die Ensembles durchaus eine Konzeption erkennen lassen. Nur reicht diese im Gegensatz zu C nicht über die Doppelseite hinaus. Oft bleiben auch die Einzelseiten konzeptionell wenig durchformt, obwohl inhaltlich nicht disparat, wie an den Seiten 46r und 60r ersichtlich wurde. Die Neuformung des Stoffes in C tritt noch deutlicher hervor, wenn man bedenkt, dass die beiden, die erste bzw. die vierte Lage ursprünglich einleitenden Seiten in W fehlen: das Labarum Christi (fol. 1r)159 und die underscheit der welt (fol. 38r). Zudem fehlen wesentliche Teile von fol. 1v (Rad der sieben Septenare; die Lebensalter erscheinen in der Baumdarstellung auf fol. 69v), das lignum vitae (fol. 16r), die 154 Julius Pomerus, De vita contemplativa, III ,13 [De laude caritatis], PL 59,493. 155 I Cor 12,31. 156 Die Leiter wird als scala celi betitelt. Die einzelnen Sprossen bezeichnen zwölf Desiderate mönchischen Lebenswandels, so beispielsweise die siebte Sprosse (Ut in cella tua libenter maneas et ad homines exire non appetas) oder die letzte Sprosse (Ut semper desiderium habeas proficiendi et graciam interiorem acquirendi). 157 Nach Petrus Pictaviensis, Summa de confessione, S. 2, 3 und 49. 158 Ausgehend von der Jakobsleiter (Gn 28,11). 159 Hier fehlen auch die vier Lebensräder.
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Bestürmung der Burg der Tugenden durch die Laster (fol. 26v/27r), Christus in der Weinpresse (fol. 28r), die Kreuzigung Christi durch die Tugenden (fol. 28v), ebenso die ursprüngliche Schlussseite (fol. 40r).160 C verfügt ausserdem über zwanzig Baumdarstellungen in der zweiten Lage (fol. 16r–26r), während W nur sechs in der letzten Lage aufweist (fol. 65v–67v und 69v). Aufschlussreich ist auch eine Gegenüberstellung der Exempla-Abfolge161 beider Handschriften, die ich an dieser Stelle folgen lasse: C
W
1. Teil 1r 1r 1v 1v 2r 2r 2r 2r 2v 2v 3v 3v 4r 4r 4r
Poenitencia (nackter Büsser) Poenitencia (Ritter) Superbia (drei Kronen) Superbia (auf einem Löwen sitzend, vier Türme, Zepter) Fortuna (drei Blumen) Fortuna (Rad) Fortuna (zwei Gesichter, im Wagen sitzend) Adulacio (Spiegel und Becher) Vanitas (mit Netz bekleidetes Mädchen) Decepcio mundana (Frau mit drei Kindern und drei Sirenen) Venus-Luxuria (auf der Muschel) Luxuria (vier Füchse) Cupiditas (Cupido mit Pfeil und Fackel) Amoris fluctuacio (Chimaera) Amor fatuus (nackter Knabe)
60r/v 60r 56r 57r 57r (–) 57r 46v 52r 46r 47r 47r (–) 47r 46r
Janus (imago Christi) Amor verus (nackter Knabe mit vier Flügeln, [Im. Fulg.]) Amor (Göttin mit vier Rädern) Amor (nackter Knabe mit vier Flügeln, [Moral.]) Amor verus et amititia vera Caritas (schönes Mädchen, halb weiss, halb rot) Sapiencia (stillende Königin) Prudencia (Gelehrter mit drei Büchern und weissem Pferd) Diogenes und Alexander (imago paupertatis/sapientiae) Patiencia (Frau mit Schild) Jovis (imago Christi/imago bonitatis Dei) Pietas (Mann mit gebrochenem Herzen) Humilitas (zum Boden geneigter Mann mit fünf Flügeln)
58r 58r/59v 58r (–) 58v 58r 58v/59r 59r 56r 59v 57v 59r/v 59v/60r
2. Teil 8r 9r 9r 9r 9v 9v 9v 10r 10r 11r 11r 11v 11v
160 Weitere fehlende Motive bei Seebohm-De´sautels, Texts, S. 123 f. 161 Hinweise auf Editionen finden sich leicht in: Tubach, Index exemplorum.
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Text und Bild in gelehrten Text-Bild-Kompendien 11v/12r 12r 12v 12v 12v 13r 13r 13r
Clemencia (höchster Gott) Gracia (drei Schwestern) Ulixes (Sirenen, imago Christi) Ulixes (Circe, imago Christi) Hl. Bernhard und der Narr Divitiae (als Juno) Anima racionalis (Vier Briefe von Königen) Avarus, Gulosus, Vanae gloriae Ambitiosus
59v 60r 56v 56v (–) (–) (–) (–)
Iusticia (blinde, armlose Königin) Cambises, der gerechte Richter Avaricia (Melancholiker) Prudencia (als Pluto) Peccatum (Göttin mit drei Bildern) Mann mit vier Tafeln (Heilszustände des Menschen) Prudencia (als Saturn) Oracio (Betender mit vier Engeln) Pudicicia (Königstocher in einer Burg) Prudencia (Philosoph mit drei Büchern und weissem Pferd) Homo (Schlange Jaculus) Alexander (drei schlechte Eigenschaften) Alexander (vier Frauen/filius Dei) Homo (siamesische Zwillinge)
(–) 56v (–) (–) (–) (–) (–) 60v/61r (–) 59r (–) (–) (–) (–)
3. Teil 33r 33r 33r 33v 33v 34r 34r 34r 34v 34v 34v 35r 35r 35r
Die Exempla des ersten Teils von C füllen in W die Seiten 46r bis 57r, d. h. die ganze fünfte Lage. Um das ›Siebenlasterweib‹ (oder die Figura mundi) kreisen die bekannten Formen verderblicher Liebe sowie die Decepcio mundana und die Adulacio (fol. 46r und 47r), dann folgt, nach weiteren Filiationen und Definitionen der Tugenden, Laster und Künste, die Vanitas (fol. 52r), die die Kämpfe der Tugenden und Laster aus dem EtymachieTraktat einleitet. Daran schliessen sich je zwei Bilder der Superbia und Fortuna (fol. 56r–57r) an. Zwischen den zwei Superbia-Bildern sind vier Exempla mit antiken Gestalten eingeschoben: Diogenes im Fass, zwei Ulixes-Episoden und die Geschichte des Cambises. Im Vergleich zu C ist die Reihung im einzelnen nur sporadisch geordnet. Der zweite Teil von C (fol. 8r–13r: Schluss der ersten Lage) entspricht im wesentlichen dem Beginn der sechsten Lage in W (fol. 57v–61r).162 Die Reihung variiert etwas, die Abfolge der Exempla lässt sich dennoch in beiden Fällen gut motivieren. In 162 In dieser Lage befinden sich auch die sechs Baumdarstellungen, vornehmlich Tugend-, Laster- und Artes-Filiationen.
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W machen Jovis und Janus als figurae Christi den Anfang, dann folgen, kontrastiv zum Beginn des ersten Teils, Allegorien zu den positiven Ausgestaltungen der Liebe und eine Reihe von Tugenden und Haltungen, die von der ›Weisheit‹ eingeleitet und durch das ›Gebet‹ beschlossen werden (fol. 58v–61r). Hier gliedern sich auch die beiden Bussbilder ein. Von einer Gliederung nach Doppelseiten wird selten Gebrauch gemacht; die einzelnen Texte laufen meistens auf die nächste Seite über. Den Schluss bildet der Fons gratiae,163 der die Reihe sinnvoll zum Abschluss bringt (fol. 61r). Die Eigenheiten von C zeigen nun ein Mehr an konzeptioneller Durchformung: Janus eröffnet hier die Reihe, gefolgt von vier Amor-Personifikationen und Caritas. Die Seiten 9v bis 12r bringen nun mit Exempla und Lehrdiagrammen angereicherte Tugendpersonifikationen in lockerer Fügung, so Sapientia und Prudentia – sie werden ergänzt um Diogenes im Fass, hier als Inbegriff der Weisheit164 (fol. 9v/10r), und um den Turm der Weisheit (fol. 10v) –, so Patiencia – sie wird ergänzt durch Jovis mit drei Flügeln165 (fol. 11r) –, so Pietas und Humilitas mit dem Seraph (fol. 11v) sowie Clemencia und Gracia mit dem Cherub (fol. 12r). Die folgende Doppelseite schliesst vorläufig die Tugendreihe, indem Ulixes zweimal als figura Christi dargeboten wird, öffnet andrerseits die Thematik für die Tugend- und Lasterschemata der zweiten Lage, indem verschiedene Ausgeburten der Weltliebe vorgestellt werden: so der Geiz (Funken verschlingender Narr),166 der Reichtum (Juno), wiederum der Geiz (avarus), dann Völlerei (gulosus), zuletzt die Ruhmessucht (vanae gloriae ambitiosus). Für die prekäre Entscheidung zwischen Gut und Böse steht Ulixes; er widersteht den Sirenen und der Kirke und hebt sich so moralisch ab von seinen Gesellen, den amatores mundi.167 Den Entscheid zwischen Gut und Böse zeigt auch die Anima racionalis, die, als Herrin personifiziert, drei verlockende Königsschreiben168 zurückweist, bevor sie in das Schreiben Christi einwilligt und Prinzessin wird.169 Die dritte Serie von Exempla führt den Gegensatz 163 164 165 166
Fehlt in C. Vgl. Saxl, »Aller Tugenden und Laster Abbildung«, S. 106. Der erste Flügel steht für die patiencia Christi. Nach einer Legende des Hl. Bernhard. Vgl. Gesta Romanorum (Ed. Oesterley), Nr. 164. Vgl. Saxl, A Spiritual Encyclopedia, S. 101. 167 Holkot, Moralitates 16 (In librum Sapientiae [Ed. (Basel) 1586]), S. 723 f. 168 Holkot, Moralitates 17 (In librum Sapientiae [Ed. (Basel) 1586]), S. 724. Schreiben des Fleisches (voluptas et delectacio), Schreiben der Welt (divitiae et gaudium), Schreiben des Teufels (superbia et excellencia). 169 Schreiben Christi: Littera quarti regis, videlicet Christi, sic erat: ›Si mihi
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zwischen Gut und Böse weiter: die ›Gerechtigkeit‹170 kontrastiert mit dem ›Geiz‹ (fol. 33r). Leitmotivisch erscheinen nun Allegorien der Klugheit: zusammen mit der ›Sünde‹171 auf fol. 33v, mit dem ›Gebet‹ auf fol. 34r,172 mit der ›Keuschheit‹173 auf fol. 34v. Den Schluss des dritten Teils bilden zwei Episoden aus dem Leben Alexanders, einmal steht er da mit drei schlechten Eigenschaften, ein andermal wird er als filium Dei oder als quemlibet bonum hominem bezeichnet. Die Exempelreihe schliesst mit dem Bild des siamesischen Zwillings, der gleichzeitig isst und schläft. Dieser ist Sinnbild der conditio humana zwischen Körper und Geist: Der Geist wird überleben, der Körper jedoch sterben. Die Frage nach den mehr und minder ausgeprägten Konzeptionen von C und W führt wieder zurück zum Verhältnis von Text und Bild. Wie in der ›Washingtoner Handschrift‹ wird hier Wissen vermittelt, indem es erzählt wird, indem es systematisiert wird und indem es durch Verweise erschlossen wird. Nehmen wir das Beispiel der Venus, liefert der Text folgendes: Venus wird erstens systematisch beschrieben. Acht Beschreibungselemente bilden das Gerüst, von corpore nudata bis concha locata. Die Beschreibungen erfahren zweitens eine Auslegung, die assoziativ auf Bedeutungen verweist, die sich erst mit dem nötigen Vorwissen zu einem kohärenten Gesamtbild fügen. Beim Attribut der Muschel muss die Härte der Schale mitbedacht werden, die, je länger sie im Wasser bleibt, umso härter wird. Dazu kommt die Bitterkeit des Meeres.174 Ebenfalls Teil der Auslegung sind mit Vorliebe allseits bekannte Exempla antiker und biblischer Gestalten. Systematische Beschreibung und assoziative Verweise werden ergänzt durch narrative Momente: Venus wird beschrieben als eine vom Meer Getragene, ausgelegt als ›bitter‹, mit dem Verweis auf die etymologische Nähe von mare und
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consenseris, regina eris in felici vita‹. [. . .] Responsio domine ad quartum regem: ›Corde toto te affecto, nolo alium predilecto, pro omnibus transgressionibus ueniam expecto‹. Dem Bild gegenüber ist Cambises abgebildet. Dem Text ist kein Bild angefügt. Stattdessen ist ein Mensch abgebildet, zwischen Christus einerseits, Tod und Teufel andrerseits. Hier befindet sich auch das Exemplum vom Mann mit den vier Tafeln. Ein Engel legt ihm diese aus: (1) aus wenigen Menschen werden viele gezeugt (2) von vielen werden wenige errettet (3) von allen wird keiner vor der Ankunft Christi das ewige Heil erlangen (4) alle werden durch einen erlöst. Hier befindet sich auch das Bild des Menschen als Baum, der einerseits gute Früchte hervorbringt, andrerseits von der Schlange vergiftet wird. Palmer, Bacchus und Venus, S. 213.
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amarus.175 Schliesslich erscheint sie narrativ entfaltet in der Erzählung von Demosthenes und Lais:176 Secundo depingitur portare supra mare, quod significat amaritudinem et remorsum consciencie. Vnde secuntur hoc vicium. Vnde Demostenes respondit vni meretrici, que petebat pro mercede ab eo potentem concubitum quinque libras argenti. Absit ait ille, ut emam tanto precio. Vnde oporteat me penitere. (fol. 3v)
Was hier in C steht, ist eine fehlerhafte Kurzfassung ohne Pointe und rahmende Deutung.177 Die pointierte Antwort des Demosthenes auf Lais’ Bekanntgabe der Summe für den Liebesdienst lautet bei Johannes von Salisbury: »Ich bin nicht bereit, so viel Geld für Reue zu bezahlen«, die Lehre soll zeigen, dass die Anfänge fleischlicher Begierden süss sind, der Schluss aber bitter.178 Die Allegorie der Venus liesse sich nun mit den weiteren Text-Bild-Ensembles der Seite vernetzen, einerseits mit der ebenso systematisch beschriebenen Luxuria, die den Menschen auf vierfache Weise schädigt – destruit naturalia (Samson und Dalila), monialia (Salomon und die Konkubinen), spiritualia (Holofernes und Judith) et moralia (Sohn Lots?)179 –, andrerseits mit der werbenden Hure aus den Sprüchen (Prv 7). Ein Rat, für den Hieronymus als Gewährsmann in Anspruch genommen wird, ergänzt passend das Bild der Luxuria. Welt und Frauen seien zu fliehen: Mundus et mulieres non melius vincitur nisi fugiendo, quia cum retires, poteris resistere hijs. 180 Luxurias Hurenwesen bringt Tod und Verderben – das Bild legt die Muschel in den aufgesperrten Höllenschlund, fängt damit die Bedeutung des Textes ein, der analog endet: Venus-Ergebene erwarten bittere Qualen: Quantum glorificiunt se in delicijs, tantum date ei tormenta (Apc 18,7). Das Bild reduziert die Inhalte freilich noch stärker als der Text: Das dritte Attribut, das besänftigende Eisenkraut, fehlt. Die Verkürzung und Fehlerhaftigkeit der Inhalte in Text und Bild lässt an eine Funktion der Handschrift zwischen Meditation und Gespräch denken. Gerade für die Exempelsammlung kann man sich eine Ausfüllung der 175 Ebd. S. 211. 176 Ebd. S. 209. 177 Der ›Fulgentius metaphoralis‹ wie auch die ›Moralitates‹ sind in kontinentalen Handschriften zumeist als Kurzfassungen überliefert, so die Kurzfassung ›Imagines Fulgentii‹, die aber noch weitere Texte enthält, die nicht auf den ›Fulgentius metaphoralis‹ zurückgehen. Zu den Langfassungen vgl. ebd. 178 Johannes von Salisbury, Policraticus (Ed. Keats-Rohan), VI ,23. 179 Gesta Romanorum (Ed. Oesterley), Nr. 204. 180 Vgl. Hieronymus, Epistolae, PL 22,384 und 406.
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Leerstellen durch entsprechendes Vorwissen denken, sei dies nun als meditierendes Erschliessen der Zusammenhänge im Privaten, als universitäre oder universitätsnahe Unterweisung im institutionalisierten Lehrer-Schüler-Gespräch oder als kolloquial und spontan sich ergebende Rezeption im Gespräch unter gebildeten Laien. In der Kombination von Bildern, Bildbeschreibungen, Florilegien, ›gesprächsorientierten‹ literarischen Kleinformen wie Exempla, Dikta, Versen und Sprüchen zeichnet sich ein Weg ab von einem meditativen Gebrauch hin zu einem kolloquialen. Text und Bild treffen sich inhaltlich in der Konventionalität ihrer Inhalte, im Vorgewussten und Abrufbaren. Venus auf der Muschel ist auch ausserhalb der Exempeltradition englischer Mendikanten ein beliebtes Motiv, dass man beispielsweise wenige Jahrzehnte später in anspruchsloser Ausführung auf Einblattdrucken vorfindet.181 Das Bild kann einerseits vom Text wegführen, indem es diesen ersetzt, kann andrerseits auch zum Text hinführen, indem es diesen ergänzt. Mag sein, dass das Mehr an konzeptioneller Formung, an ›mystischer‹ Färbung, an ordnenden Darstellungen mit memorativen Charakter182 in C für einen meditativen Gebrauch spricht,183 während W, über frömmigkeitsbildende Themen hinaus, sich ins Enzyklopädische öffnet. Konkret kann man sich C vielleicht als Handbuch für Prediger und Mönche,184 W vielleicht eher als Hausbuch für gebildete Laien denken. Die medizinischen Inhalte von W sprechen nicht gegen eine Verwendung der Handschrift in einem klerikalen Umfeld, die ausgesprochen monastischen Inhalte wie die scala celi, die buss- und beichttheoretischen Ausführungen oder das Motiv des gekreuzigten Mönchs in C nicht gegen einen Gebrauch in Laienkreisen.185 Schon eher für einen solchen Gebrauch sprechen fehlerhafte Wiedergaben monastischen Wissens wie die Angabe, die Psalterlesung erfolge jährlich statt wöchentlich.186 Textzeugen, die monastische Spiritualität ad181 Vgl. Kapitel 3.3.1. 182 Bäume, Gebäude, Treppen, Rotae, aber auch die mythographischen Bilder. 183 Almuth Seebohm-De´sautels spricht in diesem Zusammenhang von einer »meditational remembrance«, die wesentlich auf dem Bild als möglichem Textersatz beruht (The Crucified Monk, S. 61–101, hier: 82). 184 Vgl. dazu die spezifischen Predigtthemen, die Seebohm-De´sautels auflistet (Texts, S. 140). 185 Nigel Palmer denkt im Zusammenhang mit dem Gebrauch von W an ein »gebildetes Laienpublikum am Rande der Universitäten oder im Umkreis von Universitätsabsolventen, namentlich Ärzte, Rechtsanwälte, Stadtschreiber und Schulleiter.« (Palmer/Speckenbach, Träume, S. 36). 186 W und C: Simplex cogitatio passionis Christi plus valet et utilior est, [. . .] quam
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aptieren, müssen nicht unbedingt im gleichen Umfeld rezipiert worden sein.187 Klerikales und laikales Wissen sind in der Mitte des 15. Jahrhunderts längst aufeinander hin durchlässig geworden; zisterziensisch-franziskanische Spiritualität,188 wie sie sich in der Fülle der Bernhard-Zitate, in den Exzerpten des Franziskaners John Ridevall, in der programmatischen Bedeutung von Busse, Askese und Kasteiung (poenitentia, disciplina, flagellatio)189 und in der schon fast durchgehend vorhandenen christologischeschatologischen Prägung der Inhalte190 zeigt, ist zu dieser Zeit schon seit langem Gegenstand laikaler Frömmigkeitsbildung, macht aber die Einflusslinien eines bestimmten klerikalen Milieus sichtbar.
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psalterium legisse ad annum. Text abgedruckt in: Augustyn, Passio Christi, S. 224, Anm. 38. Vgl. dazu die Ausführungen Nigel Palmers und Christoph Gerhardts zur geistesgeschichtlichen Einordnung des ›Münchner Gedichts von den fünfzehn Zeichen vor dem Jüngsten Gericht‹, das ähnliche Probleme aufgibt: »Die Frage nach der Person des Schreibers muss letztenendes offengelassen werden. In der Alternative ›Priester oder Laie?‹ ist sie für eine Handschrift dieses Typs wahrscheinlich sogar falsch gestellt. Aber es ist zu betonen, dass die Gebetsfrömmigkeit, die die Handschrift aufweist, zwar durch die Bettelorden, insbesondere durch die franziskanische Literatur inspiriert sein mag, aber in keiner Weise gegen die bisher geltende These eines Laien als Kompilator spricht.« (Das Münchner Gedicht [Ed. Palmer/Gerhardt], S. 30 f.). Vgl. auch: Schreiner, Laienfrömmigkeit, S. 1–78, hier: 30 f. Schreiner spricht hinsichtlich der religiösen Lesestoffe des späten Mittelalters in Anlehnung an Adolf von Harnack von der »Monachisierung der Laienwelt«, die die Gegenüberstellung von Elite- und Volksfrömmigkeit aufweiche, und nennt das Stundengebet der Laien als Beispiel, ebenso das Tischgebet und die Lesung des Psalters in der Todesstunde. Nigel Palmer vermutet franziskanischen Einfluss, unter Berufung auf Saxls Beobachtung eines »politisch-apokalyptischen Akzents«, der im lignum vitae (C) aufscheine, und mit dem Hinweis auf die Verwendung von Ridevalls pseudo-mythographischen Beschreibungen (Palmer/Speckenbach, Träume, S. 39 f.). Seebohm-De´sautels, The Crucified Monk, S. 73 ff. Die Darstellung von Höllenschlünden und Teufelsgestalten erscheint fast leitmotivisch, ebenso die Gestalt Chrisi als Gekreuzigten, Schmerzensmann, Auferstandenen und Weltherrscher.
2 Überlieferungsverbünde und Wissensformationen 2.1 Theoretische Vorüberlegungen Ausgehend von den drei Themen ›Leibeswohl‹, ›Seelenheil‹ und ›Welt, Mensch und Weisheit‹ (Mikrokosmos, Makrokosmos, Artes liberales) frage ich in diesem Kapitel nach den jeweiligen Überlieferungsverbünden,1 die solches Wissen aktualisieren und etablieren. Die darin manifest werdenden Wissensformationen sollen Verständnishorizonte offenlegen, die an die Interpretationen anknüpfen und diese anhand von umfänglicherem Handschriftenmaterial weiterführen. Wissensformationen stehen im Spannungsfeld zwischen der Transmission gelehrten Wissens im Umfeld klerikallateinischer Bildung(sinstitutionen) und seiner Adaptation mittels eines Kleriker wie Laien einschliessenden, zunehmend volkssprachigen und bildfixierten Wissensaustauschs, seiner Ausformung schliesslich als das, was gemeinhin als (spätmittelalterliche) ›Laienbildung‹ bezeichnet wird. Die rekonstruierende Erschliessung von Verständnishorizonten bewegt sich also immer zwischen der ›Jeweiligkeit‹ von altem und neuem Überlieferungszusammenhang, zwischen Tradition und Innovation, wenn man so will. Besondere Bedeutung kommt dabei jenen Text- und Bildphänomenen zu, in denen der Prozess der Aneignung und Neuformung von Bildungswissen noch aufscheint: Umwertungen und Verflachungen, Verschiebungen und Verzerrungen, Inkohärenzen und Brüche, Kombinationen und Kontaminationen. Ich arbeite in der Folge mit den Begriffen ›Transmission‹, ›Adaptation‹ und ›Formation‹. Transmission bezeichnet den Prozess der Vermittlung von Wissen, Adaptation die Aneignung und Behauptung dieses Wissens in spezifischen Kontexten, Formation seine konkrete Ausgestaltung in Text und Bild. Unter ›Wissen‹ verstehe ich ›Bildungswissen‹. Dieser Begriff soll zwischen dem Begriff des ›kulturellen Wissens‹ (kommunikationsbezogen) und dem des ›Stoffes‹ (inhaltsgebunden) vermitteln. 1 Ich verwende den Begriff in Anlehnung an Ingeborg Glier, Kleine Reimpaargedichte, S. 19–33.
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Die Frage nach den Überlieferungsverbünden erfolgt anhand punktuell vertiefter Handschriftenvergleiche.
2.2 Leibeswohl Der erste Teil der ›Süddeutschen Tafelsammlung‹ handelt vom Leibeswohl des Menschen. Der Überlieferungsverbund lässt sich bildtypisch als Reihung ›Sphärenmodell – Zodiakusmann – Aderlassmann‹ fassen, um die sich die entsprechenden Texte gruppieren (Tafeln I–VI ). Verallgemeinert findet sich in dieser Reihung die Formel Mundus – Annus – Homo wieder, wie sie dem Mittelalter zunächst in den rudimentären Viererschemata der IsidorHandschriften bekannt wurde.2 Die Inhalte der Eingangsseite (Tafel I ) lassen sich auf einen Hauptgedanken zurückführen: die Auslotung menschlicher Autonomie gegenüber der Vorprägung durch astrale Einflüsse. Der Gedanke des Planeteneinflusses lautet zweifach perspektiviert und spruchweisheitlich abbreviiert: Astra non necessitant, sed inclinant und Homo sapiens dominatur astri‹s› und reicht über die scholastische Naturphilosophie bis in die frühchristliche Apologetik3 eines Tertullian, Laktanz oder Augustinus zurück. Als Gewährsmänner eines Mittelwegs, wie er in beiden Sprüchen zum Ausdruck kommt, lassen sich Wilhelm von Conches und Thomas von Aquin beiziehen. Beide vertreten den Standpunkt, die Gestirne hätten Einfluss auf den Körper, nicht aber auf die Seele.4 Thomas präzisiert dahingehend, dass die Gestirne die Seelenkräfte insofern beeinflussen, als diese an den Körper gebunden seien,5 und meint damit vornehmlich die sinnlichen Begierden, denen zu widerstehen nur wenige Weise fähig seien. So weit könnten auch Astrologen allgemein Wahres voraussagen, nicht aber Besonderes, denn, seinen Leidenschaften zu widerstehen, sei jedem Menschen durch seinen freien Willen möglich: 2 Klibansky/Panofsky/Saxl, Saturn, S. 417 (Abb. 155). Seznec, The Survival, S. 49. 3 Zusammenfassend dazu: Klibansky/Panofsky/Saxl, Saturn, S. 246–253. 4 Wilhelm von Conches, Philosophia mundi, IV ,32 (PL 172,98). 5 Dicendum quod corpora caelestia in corpora quidam imprimunt directe et per se, sicut iam dictum est, in vires autem animae quae sunt actus organorum corporeorum directe quidem, sed per accidens; quia necesse est huiusmodi actus harum potentiarum impediri secundum impedimenta organorum, sicut oculus turbatus non bene videt (Summa theologiae, I, quest. 115,4). Vgl. auch: Summa contra gentiles, III ,84: Dispositio autem corporis humani subiacet caelestibus motibus.
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Dicendum quod plures hominum sequuntur passiones quae sunt motus sensitivi appetitus, ad quas cooperari possunt corpora caelestia; pauci autem sunt sapientes, qui huiusmodi passionibus resistunt. Et ideo astrologi ut in pluribus vera possunt praedicere, et maxime in communi, non autem in speciali, quia nihil prohibet aliquem hominem per liberum arbitrium passionibus resistere.6
Thomas’ Ausführungen münden in die Feststellung, der weise Mensch beherrsche die Sterne, sofern er seine Leidenschaften beherrsche: Sapiens homo dominatur astris, inquantum dominatur suis passionibus.7 Losgelöst von der scholastischen Debatte wird die Idee des Planeteneinflusses – weniger die Debatte über sein Ausmass – immer mehr zu einem Thema der Laienastrologie, freilich inhaltlich verflacht in Form von Planeten(kinder)versen und stereotyp visualisiert mittels Planeten(kinder)bildern.8 Als Beispiel, das im Anspruchsniveau durchaus mit R vergleichbar ist, können die Federzeichnungen aus einer astronomisch-astrologischen Sammelhandschrift (schwäbisch, Mitte 15. Jh.) gelten.9 Die Seiten sind als Ensemble von zwei untereinander geordneten grossen Rundbildern gestaltet, im Grossen und Ganzen »dilettantisch und ohne Modellierung«.10 Eingeleitet werden die Seiten mit astronomisch-astrologischen Angaben über den betreffenden Planeten. Dazu zählen Stellung, Qualität, Häuser, Erhöhung und Erniedrigung. Im oberen Rundbild ist der Planet dargestellt, im unteren befinden sich lediglich die die Planetenkinder bezeichnenden Umschriften – die Plantetenkinder sind nicht ausgeführt. Der Planet wird ergänzt durch seine Quadranten, die in vier kleineren Rundbildern dargestellt sind. Zwischen den beiden grossen Rundbildern befinden sich die Planeten(kinder)verse. Ich beschränke mich auf das Beispiel des Saturns (Abb. 56),11 um die Transmission und Adaptation gelehrten 6 Summa theologiae, I, quest. 115,4. 7 Ebd. Die Formel sapiens homo dominatur astris geht wahrscheinlich auf eine Pseudo-Ptolemäus-Stelle zurück: Anima sapiens adiuvat opus stellarum (Centiloquium 8). Boll/Bezold/Gundel, Sternglaube, S. 169. Vgl. Seznec, The Survival, S. 48. 8 Vgl. Apokalypse (Farbmikrofiche-Ed. Palmer), S. 18 f. Blume, Regenten, S. 158–161. 9 Roma, BAV , Cod. Pal. lat. 1369, fol. 144v–147v. 10 KdiH, Bd. 1, S. 441 f. 11 Fol. 144v. Die Darstellungen der Tierkreiszeichen verraten die unzureichende Typenkenntnis des Zeichners. Der Wassermann ist als Mann mit grosser Schöpfkelle dargestellt, anstatt dass er zwei Wasserkrüge leert. Der Steinbock ist nicht als Ziegenfisch visualisiert.
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Sternenwissens durch Laienkreise deutlich werden zu lassen. Saturn wird als hässig und neidig, wüst und kalt, mager und gifftig sowie grob und alt charakterisiert, alles Eigenschaften, die bar jeder Wissenschaftlichkeit aufgrund »primitiven Assoziierens« von Gleichem mit Gleichem entstanden sein dürften.12 Diese inhaltliche Verflachung lässt sich zwar in R zweifellos feststellen, vollzieht sich aber sicher nicht erst auf der Überlieferungsstufe von R. Astronomisch gesehen ist Saturn der entfernteste Planet, darum fällt ihm das Lebensalter des Greises zu;13 ihm kommt das Attribut der Kälte zu, weil er, in einer bestimmten Konstellation mit der Sonne, dieser Wärme entzieht;14 daraus erklärt sich wiederum seine Schädlichkeit, die ihn zum Planeten todbringender Kälteeinbrüche, Dürren und Unwetter macht: so tuon ich schaden in der welt mit wasser vnd mit groser kelt.15 Die Summe seiner Eigenschaften motiviert sich ebenso brüchig aus seiner melancholischen Komplexion wie aus seiner mythologischen Vorgeschichte:16 Seine Schwermut kann jederzeit in Bosheit (hässig, neidig, gifftig) umschlagen. Was innen wirkt, zeigt sich nach aussen: Saturnkinder sind von magerer, hässlicher und grober Gestalt; ihre Lasterhaftigkeit kommt in erdverbundenen und moralisch verwerflichen Tätigkeiten 12 Gombrich, Aby Warburg, S. 201: »For in the primitive world picture, the rule of ›participation‹, of ›sympathy‹, prevails. Like affects like. [. . .] Once this principle is extended to embrace the whole of the world we obtain a system of correspondences and harmonies which constitutes the structure of the universe. [. . .] The links along which these correspondences are constructed are those of the primitive association. [. . .] The slowest among the planets, Saturn, must affect everything that is slow, sluggish, old, or cold; his metal will be lead, his animal the dog.« 13 So Wilhelm von Conches mit Verweis auf die fabulae über Saturn: Sumus itaque planetarum Saturnus dicitur, in peragratione zodiaci, triginta annos consumens. Unde in fabulis senex dicitur (Philosophia mundi, PL 172,62). 14 Hieraus erklärt sich auch das Attribut der Sichel als Todessymbol. Wilhelm von Conches, Dragmaticon (Ed. Ronca/Badia/Pujol), IV ,2,48–51: Haec eadem stella dicitur maliuola uel quia facit, uel quia significat aliquid mali hominibus, et maxime quando est retrograda. Vnde in fabulis falcem deferre dicitur. Qui enim falcem gestat, si recedit, laedit; si antecedit, non ita. 15 Als Unwetterplanet ist Saturn häufig auf Einblattdrucken abgebildet. Vgl. Einzel-Formschnitte (Ed. Schmidbauer), Taf. 10. 16 Saturn wird dem Mythos nach von seinem eigenen Sohn entmannt. Aus seinen ins Meer geworfenen Genitalien geht Venus hervor. Eine gute Zusammenfassung der Eigenschaften Saturns beim Enzyklopädiker Bartholomäus Anglicus (De proprietatibus rerum, VIII ,23). Vgl. Schönfeldt, Die Temperamentenlehre, S. 80 ff.
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zum Ausdruck.17 Sie sind mit Vorliebe Spieler, Kirchenräuber und Totengräber.18 Der Übergang vom planetarischen zum zodiakalen System (Tafel II ) kennzeichnet den Wechsel vom Psychisch-Variablen zum Physisch-Exakten.19 Das Abrollen des Tierkreisgürtels über die Anatomie des Menschen bedeutet implizit auch den Sprung von der an den einzelnen Tag gebundenen Variabilität astraler Konstellationen in die mondbestimmte Zeitstruktur der zwölf Monate.20 Die Zuordnung der Planeten zum menschlichen Körper verläuft grundsätzlich anders als jene der Zodiaka. Wird dort den Planetengöttern anthropomorphisierend Bedeutung verliehen, erschöpfen sich hier die Korrespondenzen in einsträngigen physischen Banalitäten: Dem Stier gehören Hals und Kehle, weil der starke Nacken gerade dieses Tier auszeichnet: Guttur et collum vis tibi thaure detur.21 Die Zwillinge entsprechen den Armen und Schultern, da zwei und zwei gut harmoniert: Brachia cum manibus geminis sunt apta decenter.22 Was an anatomischer Genauigkeit gewonnen wird, geht an gelehrter Fundierung verloren. Einerseits verkörpern beispielsweise die Füsse wegen ihrer Kälte den trübsinnigen Saturn,23 andrerseits sind sie aus numerischen Gründen den Fischen zugeordnet.24 Der Wechsel vom planetarischen zum zodiakalen System bedingt auch eine Verschiebung vom Theoretisch-Kosmologischen zum Praktisch-Medizinischen. Am besten wird diese Verschiebung an der Rolle des Mondes sichtbar, dessen Kinder einerseits schwer lenkbar und regierbar sind,25 der 17 Zur Verbindung der Planeten(kinder) mit den Hauptlastern vgl. Kimminich, Des Teufels Werber, S. 186–191. 18 Klibansky/Panofsky/Saxl, Saturn, S. 286 ff. 19 Vgl. Barkan, Nature’s Work, S. 14–27, hier: 23 ff. 20 Vgl. Gundel, Zodiakos, S. 26 f. 21 W, fol. 43v. 22 Ebd. 23 Die Zuordnung der Planeten zu den verschiedenen Körperbereichen kann variieren, weist aber im Gegensatz zur zodiakalen Melothesie über eine oberflächliche Verwandtschaft hinaus und eröffnet gleichzeitig mehrere Assoziationsmöglichkeiten. Vgl. Barkan, Nature’s work, S. 23 f. Vgl. auch die bei Seznec (The Survival, Abb. 17 [falsche Signaturangabe]) erwähnte Miniatur aus einer Handschrift der Königlichen Bibliothek in Kopenhagen (GKS 79 2°, fol. 8r). 24 Piscibus est demum congrva planta pedis (W, fol. 43v). 25 Vgl. Roma, BAV , Cod. Pal. lat. 1369, fol. 147v: Meinü kind man kaum gezämen kan, niemant si gern sind vnder tan.
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andrerseits – analog zu den Gezeiten – Anstieg und Rückgang der Körpersäfte verursacht, also unmittelbar Relevanz für das zu regelnde Säftegleichgewicht besitzt.26 Bildtypisch zeigt sich diese zweifache Ausrichtung an den Subtypen des Zodiakusmannes, die sich durch die Platzierung der Zodia unterscheiden: Der kosmologisch ausgerichtete Subtyp ordnet diese auf einem ovalen kreisförmigen Band um die Menschenfigur herum an; der medizinische Subtyp schreibt sie den Körperstellen ein. Ich nehme hier zwei Darstellungen zur Veranschaulichung, die erste aus der ›enzyklopädischen‹ Sammelhandschrift W (Abb. 18),27 die zweite aus der Londoner Handschrift, British Library, MS Sloane 282 (Abb. 57).28 Der Zodiakusmann in der letzteren Handschrift ist eingebunden in ein Netz von Einflusslinien, die von der Tierkreisbahn ausgehen und bei den einzelnen Gliedern enden. Die Figur befindet sich in der Erdsphäre, die von den drei Elementensphären und den sieben Planetenbahnen umgeben ist. Die äussersten zwei Bahnen bilden den kristallinen Himmel und das Empyreum ab. Hier befindet sich wieder die obligate Warnung, Eingriffe und Verletzungen zu vermeiden, wenn Mond und Sonne das betroffene Zeichen durchlaufen. Der Zodiakusmann in W ist bildlich aus der sphärischen Einbindung herausgelöst, die kosmologischen Implikationen werden jedoch durch die Beischriften wieder vergegenwärtigt: Die Zodia werden gruppiert nach Himmelsrichtungen (meridionalia, septentrionalia),29 Elementen (ethera, ignea, terrea, aquea),30 Qualitäten (calida, sicca – calida, humida – frigida, sicca – frigida, humida),31 Wirkungen (bona – mediocra – mala)32 und Körperkräften (fortia, variabilia, debilia).33 Wirft man nun einen Blick auf die Zodiakusfigur in R, kehren die Grundkonstanten der Mensch-KosmosBeziehung wieder. Die Kriterien der Wirkung und Körperkraft fehlen zwar, stattdessen werden die Zeichen mit dem Charakter der entsprechenden Monate verglichen (mobile, fixum, commune) und in ihrer biologischen Eigenschaft und Komplexion bestimmt.34 26 Bartholomäus Anglicus, De proprietatibus rerum, VIII ,29. Vgl. Seznec, The Survival, S. 50. Bober, The Zodiacal Miniature, S. 8 f. 27 Fol. 43v. 28 Fol. 18r. 29 Vgl. Hübner, Die Eigenschaften, 7,17. 30 Ebd. 7,11. 31 Ebd. 7,13. 32 Ebd. 6,2. 33 Ebd. 3,123. 34 Ebd. 1,311; 3,3; 7,141. Vgl. Teil A, Kapitel 1.1.2.2.
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Darstellungen des Tierkreises sind im Spätmittelalter oft christlichen Adaptationen unterworfen, die bestehende Bildtypen abwandelten und Inhalte umwerteten. Bildtypisch zeigen sich solche Verschiebungen beispielsweise in der Gestaltung der Zodiakusfigur, die in einer Römer Handschrift des 15. Jahrhunderts gleichsam schwebend dargestellt ist (Abb. 58). Oberkörper und Schenkel ragen senkrecht nach oben, sodass die Figur einen nach oben offenen Halbkreis bildet und ein Stück weit den um sie angelegten Tierkreis nachbildet. Die Hände hält sie über Kreuz vor der Brust in pietätsvoller Ecce-Homo-Haltung.35 Der Eindruck des Schwebens wird untermauert durch zwei Engel, die die Scheibe hochhalten. Noch weiter geht eine Darstellung aus einer Oxforder Handschrift des 14. Jahrhunderts (Abb. 59).36 Hier ist die Figur kreisförmig ausgeführt: Die Füsse berühren den Kopf. Gesicht und Haare sind der Christus-Ikonographie angeglichen. Christlich durchdrungene Umwertungen des Tierkreises sind schon im 12. Jahrhundert fassbar. Die Handschrift des ›Chronicon Zwifaltense‹ enthält beispielsweise eine Sammlung verschiedenster Angaben zu den einzelnen Monaten und Tierkreiszeichen. Die Abschnitte über die zwölf Tierkreiszeichen bestehen jeweils aus vier Teilen, die mit den Stichwörtern fabula – veritas und ratio – figura antithetisch gekennzeichnet sind. Das Begriffspaar fabula – ratio behandelt Sage und Wesen der Tierkreiszeichen nach der antiken, heidnischen Tradition, die veritas deutet die Zeichen auf biblische Gestalten um und die figura reicht eine moralische Auslegung nach.37 Die Parallelisierung von alter und neuer Lehre im Nebeneinander von Tierkreiszeichen einerseits, biblischen Gestalten und Ereignissen andrerseits hat schon fast typologischen Rang und war im Mittelalter durch Texte wie durch Bilder bekannt.38 Ein Textbeispiel aus einem astrologischmedizinischen Vademecum des 15. Jahrhunderts kann dabei für viele andere Zeugnisse stehen.39 Das Zeichen des Löwen wird darin mit Daniel in der 35 Roma, BAV , Urb. lat. 1398, fol. 10v. Vgl. Gundel, Zodiakos, S. 134 und 326. Vgl. Teil A, Kapitel 3.1.2. 36 Oxford, Bodl., MS . Canon. Misc. 559, fol. 2r. Vgl. Bober, The Zodiacal Miniature, S. 15. 37 Vgl. Hübner, Zodiakus, S. 197–203 (hier auch Edition). Neben Begriffen wie fabula erscheinen auch solche wie deliramenta. Vgl. Seznec, The Survival, S. 45 (Abb. 13). 38 Ebd. S. 43–50 (Abb. 2) und 69–85. Vgl. auch: Sniezynska-Stolot, Christian Interpretations, S. 97–110, hier: 100 f. 39 Präzise die gleiche Zuordnung auch in einer nach den Tierkreiszeichen geordneten Nativitätsprognostik im sogenannten ›Codex Meusebach‹ (Berlin, SBBPK , Ms. germ. fol. 642, fol. 37r–62v). Edition bei Palmer, Die lateinisch-deut-
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Löwengrube verglichen, der Wassermann mit der Taufe Christi durch Johannes, die Jungfrau natürlich mit Maria. Die weiteren Zuordnungen fallen meistens auf alttestamentliche Personen. Ich komme auf den Überlieferungsverbund ›Sphärenmodell – Zodiakusmann – Aderlassmann‹ zurück und ziehe eine Gruppe astromedizinischer Kalendarien aus der Oxforder Ashmole-Sammlung für die Erläuterung dieses relativ stabilen Verbundes bei. Es handelt sich um die Ende des 14. Jahrhunderts entstandenen Handschriften mit den Katalognummern 210, 391 und 789. Ashmole 789 (VIII ) ist eine voluminöse Sammelhandschrift, eher zufällig zusammengebunden aus acht mehr oder weniger umfangreichen Teilen, die sich zusammen auf 377 Blätter belaufen und Folio-Grösse aufweisen.40 Der achte Teil ist ein medizinisch-astrologisches Pergamentheft, bestehend aus zwei Quaternionen von zwei Händen.41 Das letzte Blatt des ersten Quaternios ist auf der Verso-Seite leer und stark abgenützt, so dass man davon ausgehen kann, dass beide Lagen vor der Bindung als selbständige Hefte existiert haben und wahrscheinlich auch separat im Gebrauch waren.42 Der hohe Anspruch des ersten Heftes zeigt sich in der Schriftwahl und Ausstattung. Der Schrifttyp ist eine Textura semi-quadrata mit illuminierten und verzierten Initialen. Die breite Farbpalette schliesst Blau und kostbares Blattgold ein. Das Heft ist eine Kopie des reich überlieferten Kalenders des Franziskaners und Astrologen John Somer, der in den frühen 30er und 40er Jahren des 14. Jahrhunderts im Franziskaner-Konvent Bridgewater (Somerset) und seit den 80er Jahren in Oxford belegt ist.43 Hier verfasste er auf Geheiss des Provinzials Thomas Kingsbury und im Auftrag von Joan, Prinzessin von Wales und Mutter Richards II ., den Kalender.44 Als Entstehungszeit kommt das letzte Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts in Betracht – dafür sprechen die
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sche ›Berliner Nativitätsprognostik‹, S. 253–290. Vgl. auch: An Index of Images (Ed. Nichols), Bd. 1, Nr. 5. A Descriptive Analytical and Critical Catalogue (Ed. Black), Nr. 789. Illuminated Manuscripts in the Bodleian Library Oxford (Ed. Pächt/Alexander), Bd. 3, Nr. 681. Ebenfalls: Mooney, The Kalendarium, S. 74 f. (hier auch ein Verzeichnis der Handschriften). 1. Quaternio: fol. 360r–367v, 2. Quaternio: fol. 368r–375v. Hier befindet sich auch der Besitzereintrag des 15. oder 16. Jahrhunderts: Edwardus Threlkede legum doctor jure me pos[s]idet. Teste Roberto Commaundre. Vgl. Mooney, The Kalendarium, S. 75. Zu Autor und Werk vgl. Sharpe, A Handlist, Nr. 901. Vgl. Mooney, The Kalendarium, S. 3 ff.
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Tafeln mit den Mondeklipsen, die mit dem Jahr 1397 beginnen. John Somers Kalendarium kann hier als repräsentativ für die Produktion astrologischer Schriften franziskanischer Provenienz stehen. Ein paar Jahre später beendet Nicholas of Lynn unter Benützung des Somerschen Kalenders eine ähnliche Arbeit für John of Gaunt, Herzog von Lancaster.45 Die Auftraggeber sind nicht zufällig beide an einem königlichen Hof zu situieren. Die Beschäftigung mit Astrologie war Ende des 14. Jahrhunderts neben der Universitätsastrologie immer noch aufs engste mit dem adligen Hof verbunden, insbesondere mit seinen weiblichen Mitgliedern, bevor sich astrologisches Schrifttum in Verbindung mit medizinisch ausgerichteter Literatur im Verlauf des 15. Jahrhunderts popularisierte und in Form von Aderlassbüchlein und Faltbüchern in die Hände von Laienärzten fiel.46 Das Oxforder Heft ist ein Zeugnis anspruchsvoller, wenn auch summarisch gehaltener Hofastrologie, wie sie durch den intensiven Austausch zwischen Klerikern und Laien möglich wurde. Es lässt sich am besten neben die oben erwähnten, komputistischen Tafeln des Oxforder MS . Canon. Misc. 24847 stellen (um 1330) oder auch neben das astronomische Kompendium MS . Laud. Misc. 644 (1. Hälfte 14. Jh.).48 In der Ashmole-Handschrift 391 (V) befindet sich eine weitere Kopie des Somerschen Kalenders (fol. 1r–10r), die mehrheitlich die gleichen Motive in anderer Reihenfolge überliefert.49 Interessanter ist das dritte Beispiel in der Reihe, Ashmole 210 (I).50 Dieser Kalender bildet den ersten Teil der Handschrift (fol. 1r–11v) und gründet auf Somers Kalender, ist aber von bescheidenerem Anspruch und enthält zudem Texte in Yorkshire-Dialekt. Der Autor nennt sich Richard Thorpe51 und war Augustiner im Yorker Kon45 Vgl. North, Chaucer’s Universe, S. 91–95. Carey, Courting Disaster, S. 49 f. Sharpe, A Handlist, Nr. 1101. 46 Ebd. S. 154. Hirth, Popularisierungstendenzen, S. 70–89. Voigts, Scientific and Medical Books, S. 345–402, hier: 356. 47 Fol. 42r–45v. Vgl. Teil A, Kapitel 1.1.2.1, Anm. 50. Ein paar Angaben dazu in: Gothic Manuscripts 1285–1385 (Ed. Sandler), Nr. 76. 48 Fol. 8r–10v. Laudian Manuscripts (Ed . Coxe), Nr. 644. 49 Vgl. Illuminated Manuscripts in the Bodleian Library Oxford (Ed. Pächt/ Alexander), Nr. 678 (Pl. LXX ). Mooney, The Kalendarium, S. 74. 50 A Descriptive Analytical and Critical Catalogue (Ed. Black), Nr. 210. Vgl. Later Gothic Manuscripts 1390–1490, Bd. 1–2 (Ed. Scott), Nr. 24 (Abb. 104 und 105). 51 Fol. 2r: Inchoante scire desiderantibus, Frater Ric’us Thorpp’ Augustinensis presens opusculum inter alias scolasticas solicitudines votorum faciliter delatatum.
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vent.52 Die Inhalte sind weitgehend die gleichen wie diejenigen in Ashmole 789. Thorpes Almanach findet sich in einer zweiten Kopie in einem Stundenbuch, das ebenfalls aus Yorker Buchproduktion stammte.53 Die drei Kalender teilen einen Grundstock an Gemeinsamem, so die Monatstafeln und weitere Tafeln zur Berechnung spezifischer Daten wie Schaltjahr, bewegliche Feste, Sonntagszahl, Sonnen- und Mondeklipsen. Neben diesen tabellarisch organisierten Seiten kommen Schemata und Zeichnungen hinzu. Dazu gehören eine Darstellung der Planeten in ihren Sphären, eine sogenannte Volvella zur Berechnung von Sonnen- und Mondstand sowie ein Zodiakus- (Abb. 60) und ein Aderlassmann. Der Aufbau, um beispielshalber MS . Ashmole 789 (VIII ) zu nehmen, präsentiert sich wie folgt:54 Fol. 360r–362v: Tafeln: Calendarium ecclesiasticum et astronomicum (julianisch) Fol. 363r: Instrument: Volvella solis et lunae Figur: De dominio signorum cum pictura Text: Cave ab incisione in capite vel in facie Text: Tabula docens quis sit annus bisextilis Text: Sciuntur figure eclipsium Fol. 363v: Tafel: Tabula docens quis sit annus bisextilis, que littera dominicalis Bildtafel: Eclipses solis Fol. 364r: Bildtafel: Eclipses lune Fol. 364v: Bildtafel: Tabula de indicijs urinarum per colores Fol. 365r: Figur: Homo venarum 52 Vgl. Mooney, The Kalendarium, S. 14 f. Dies., A Middle English Verse Compendium, S. 406–419, hier: 406 ff. North, Chaucer’s Universe, S. 94. Sharpe, A Handlist, Nr. 1398. 53 Horae, Irwin J. Pincus Collection, Beverly Hills. Das Stundenbuch wird etwa auf das Jahr 1380 datiert. Vgl. Friedman, Richard Thorpe’s Astronomical Kalendar, S. 137–160, bes. 156 ff. Ders., Abstracts, S. 173. 54 In Kursivdruck stehen die Incipits, in Normaldruck die Katalogangaben, in Fettdruck die Figuren und Diagramme.
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Fol. 365v: Tafel: Tabula ad sciendum quis planeta regnet omni hora Text: Calendarium ostendens diem, horam et minutum coniunccionis uerissime solis et lune Diagramm: Schema orbium elementorum et planetarum Fol. 366r: Text: Regulae de coloribus urinarum: Urina rufa significat salutem et bonam conditionem corporis humani Text: Canon de sanguinis minutione: Minucio alia fit per metathesim, alia per antipasim Fol. 366v: Text: Canon de dispositione hominis secundum cursu nature: Sciendum est quod aliquis nascitur in aliqua hora diei, in qua dominatur aliquis septem planetarum Text: De septem planetis: Sol est mundi occulus pulcritudo unius aliorum planetarum illuminator Fol. 367r: Diagramm: Spera Pictagore
Sonne und Mond nehmen eine herausragende Stelle unter den Planeten ein. Mit Hilfe der Volvella lässt sich ihre Stellung ermitteln (fol. 363r),55 mit den Eklipsen lassen sich die Zeitpunkte ihrer Finsternisse bestimmen (fol. 363v/ 364r), Sonne und Mond schliesslich leiten die Siebenerreihe der Planeten im letzten Text ein (fol. 366v). Das Heft endet mit der Spera Pictagore, einem Kreisdiagramm, das unter Einberechnung des jeweiligen Mondalters über Verlauf und Dauer von Krankheiten Auskunft gibt (fol. 367r).56 Programmatisch scheinen Kreisdarstellungen strukturbildend eingesetzt worden zu sein: Anfang, Schluss und zentrale Doppelseite sind damit bestückt. Prognostische Verfahren (Volvella) stehen neben diagnostischen (Spera Picta55 Volvella ist der lateinische Begriff für zwei aufeinandergelegte Rädchen mit gemeinsamem Drehpunkt und je einem Zeiger. Um diese Rädchen sind die Tierkreiszeichen angebracht. Ihre wichtigste Funktion ist die Bemessung des Mondstandes. Die Anweisung heisst: Pone uoluellam solis super gradum, in quo sol fuerit illo die, et uoluellam lune super etatem lune et ipsa uoluella ostendet tibi signum et gradum lune, et foramen, quomodo luna secundum eius etatem nobis apparebit, et figura iuxta centrum, quomodo luna in se apparebit, quia continue una medietas lune illuminabitur a sole nisi in eclipsi lune tantum. Die Volvella zeigt gut die praktische Ausrichtung der Handschrift: Sie ist halb Zeichnung, halb Instrument. Vgl. dazu: Voigts, Scientific and Medical Books, S. 365 ff. 56 Ebd. S. 360.
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gore), als diffus hinzunehmende Einflüsse neben exakt bestimmbaren. Gut möglich, dass die symmetrische Struktur des Heftes ein Stück weit das Zirkuläre komputistischen, medizinischen und kosmologischen Wissens zum Ausdruck bringen sollte.57 Ich denke hier auch an die Aderlassseiten von R, insbesondere an die Texte auf fol. 2v, die beim vagen Einfluss der Jahreszeiten ansetzen, über diätetische Vorgaben der Monate und genau festgelegte Lasstage und Lasszeiten berichten, bevor Nativitätsprognostik und Brontologie wieder an die prognostische Ausrichtung der Jahreszeitenlehre anknüpfen. Die Einreihung des Zodiakus- und Aderlassmannes unter die Tafeln erfolgt nun an signifikanter Stelle: Der Zodiakusmann befindet sich unter der Volvella, so dass die Gültigkeit der Warnung Cave ab incisione auf der gleichen Seite nachgeprüft werden kann (Abb. 60). Der Aderlassmann (Abb. 61) ist einer Tafel zur Bestimmung des regierenden Planeten und einem Sphärenschema vorgeschaltet; ihm voran geht eine für die Urinschau bestimmte Darstellung kreisförmig angeordneter Harngläser. Die Ausgestaltung beider Figuren mit Tierkreiszeichen und Texten (in kleinen Kreisen) widerspiegelt einmal mehr den hohen Anspruch des Heftes, nicht die Figuren selber. Der Aderlassmann ist von 4 x 6 Lassstellentexten umrahmt, die genauestens aufeinander ausgerichtet sind. Die Texte sind doppelt gerahmten, ineinandergreifenden und inwendig vorliniierten Kreisen eingeschrieben. Jeder Text beginnt mit einer Ziermajuskel. Der Zodiakusmann (Abb. 60) ist wiederum der Christus-Ikonographie angeglichen worden: Die Figur mit einem Christus ähnlichen Antlitz erscheint vor dem Hintergrund eines schematisierten Baumes, der an ein Kreuz denken lässt. Das Virgo-Zeichen ist als Gottesmutter mit Jesuskind abgebildet. In der Oxforder Handschrift Ashmole 391 (V) sind Aderlassmann und Zodiakusmann einander gegenübergestellt (fol. 8v/9r) und wiederum zwischen den Berechnungstafeln für Mond- und Planetenstand positioniert. In Ashmole 210 (I) folgen dem Zodiakusmann (fol. 9r) zwei Tafeln zur Berechnung des Mondstandes (fol. 9v–10v) und abschliessend ein Aderlasstraktat mit Aderlassmann (fol. 10v–11r).58 Häufig sind Zodiakusmann und Aderlassmann einander auf Recto- und Verso-Seite gegenübergestellt.59 Der Reihung ›Sphärenschema – Zodiakusmann – Aderlassmann‹ begegnet man auch in der Kopie von Thorpes Kalender, der sich im oben erwähnten, etwa 57 Vgl. Wallis, Medicine, S. 105–143, bes. 122–127. 58 Vgl. Bober, The Zodiacal Miniature, S. 24 f. 59 Hinweise auf Handschriften mit Motivpaaren bei Voigts, Scientific and Medical Books, S. 373.
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gleichzeitig entstandenen Yorker Stundenbuch befindet.60 Damit gelangt man in eine Domäne, wo der Überlieferungsverbund bevorzugterweise zwischen liturgischem Kalender und (para)liturgischen Texten seinen Platz findet. Im Yorker Stundenbuch stehen die Motive zwischen verschiedenen Kalendern einerseits und Horae-Texten, Litanei und Todesoffizium andrerseits. Nicht anders verhält es sich mit den ›Tre`s Riches Heures‹ des Herzogs von Berry (vor 1416). Das Stundenbuch bildet darin den zweiten Teil; ein Kalender mit astrologisch-medizinischem Anhang bildete den Vorspann, von dem lediglich der Kalender und der Zodiakusmann erhalten geblieben sind. Die ehemalige Struktur dürfte annähernd derjenigen der Ashmole-Handschriften entsprochen haben.61 Wechselt man nun vom englischen und französischen Luxusbuch-Handel des ausgehenden 14. Jahrhunderts zur Buchproduktion des späteren 15. Jahrhunderts in Deutschland, tritt der Überlieferungsverbund in neue Zusammenhänge ein. Ein wichtiges Überlieferungsmedium ist nach wie vor das Hausbuch62 und die Tafelsammlung.63 Die Motive werden nun neu akzentuiert und popularisiert. Anzeichen dieser Popularisierung sind der zunehmende Gebrauch der Volkssprache, die Reduktion der Inhalte auf konventionelles Text- und Bildwissen, der Siegeszug der Planeten(kinder)bilder-Serien, die Herauslösung des Zodiakusmannes aus dem kosmologischen Zusammenhang, die Anreicherung der Motive mit medizinischen und astrologischen Genreszenen.
2.3 Seelenheil Der zweite Teil der ›Süddeutschen Tafelsammlung‹ ist wesentlich bestimmt durch die Motive des sogenannten ›Speculum theologiae‹. Dieser Überlieferungsverbund umfasst unter anderem die in R vorhandenen Motive des 60 Die Motive stehen auf den Seiten 30v, 31r und 31v. Abbildungen in: Friedman, Richard Thorpe’s Astronomical Kalendar, S. 145 f. und 148 (Abb. 4 ff.). 61 Rekonstruktion bei Bober, The Zodiacal Miniature, S. 33 f. 62 Ich gebrauche den Begriff funktional. Ein Hausbuch ist also ein Buch, das im privaten Haus gebraucht wird. Ich denke hier etwa an die Wiener Handschrift ÖNB , Cod. 3085, fol. 19v–34r oder die Zürcher Handschrift ZB , Ms. C 54, fol. 18r–30v, 41v und 51v. Ausführliche Beschreibung der Handschriften bei Gross, Illustrationen, S. 288–294 und 302 ff. 63 Beispielsweise das Adligat Salzburg, UB , M III 36, fol. 236r–239r und 243v. Vgl. Stolz, Artes-liberales-Zyklen, Bd. 1, S. 267–330 (Bd. 2, Abb. 39–42).
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Tugend- und Lasterbaums, des Cherubs und des Weisheitsturms.64 Die Kompilation moraltheologischer Lehrtafeln franziskanischer Provenienz65 erscheint in unterschiedlicher Vollständigkeit in Sammelhandschriften: zumeist als Vorspann oder als Anhang beigefügt, nicht selten von zweiter Hand und zu späterer Zeit. Der bevorzugte Überlieferungskontext ist der katechetische, genauer der Kontext von Predigt und Unterweisung (etwa als Predigthandbuch), von Sündenbetrachtung und Bussübung (etwa als Bussspiegel), von Meditation und Kontemplation (etwa als Leidensbetrachtung).66 Der Verbund erscheint zunächst in Psalterhandschriften,67 dann in 64 Zum ›Speculum theologiae‹ oder ›Geistlichen Obstgarten‹, wie die Motivreihe auch schon genannt wurde, vgl. Suckale, Untersuchungen, Bd. 1, S. 59–62, und Suckale, Klosterreform, S. 105–109. Hier auch ein Katalog der Handschriften (S. 68–75 bzw. 105–109) und die Beschreibung des ›Urexemplars‹ (S. 76 ff. bzw. 109). Eine Liste mit den ›Speculum theologiae‹-Handschriften in: Sandler, The Psalter, S. 108–115. Vgl. Kapitel 3.2.1. 65 Die Sammlung beinhaltet zuzüglich der Baum- und Turmdiagramme die Motive des lignum vitae sowie des Cherubs und seltener des Seraphs (häufig mit gleicher Textierung). Hinzu kommt eine Anzahl katechetischer, durch die Zahl strukturierter Schemata in Kreis- und Baumform. 66 In diesem Gebrauchskontext stehen beispielsweise die Oxforder Handschrift Bodl., MS . Laud Misc. 156 aus dem Johannes Baptist-Hospital in Exeter (um 1403), wo sie ihres grossen Formats wegen (435 × 300 mm) an geeigneter Stelle aufgelegen haben könnte. Die Tafelsammlung erscheint hier als Anhang zu einem Doktrinalwörterbuch des Nikolaus von Lyra und beginnt mit dem lignum vitae. Der Schreiber dieses Teils bezeichnet sich als Fratrem Willelmum Norton de sacro ordine Fratrum Minorum in conventu Couentrey (fol. 60r). Tugend- und Lasterbaum sind einfach und schmucklos gehalten und mit den üblichen Inschriften versehen (fol. 62v/63r). Die Darstellung des Cherubs weist die folgende Subscriptio auf: Cherub iste in humana depictus effigie sex alas habet, que sex actus morum representant, quibus fidelis anima redimiri, si ad Deum voluerit peruenire (fol. 61v). Hierher gehört auch die Wiener Handschrift ÖNB , Cod. 1548, die Stücke verschiedenen Alters und verschiedener Herkunft enthält. Die zu Beginn des 15. Jahrhunderts entstandene Sammlung leitet hier die Handschrift ein und ist der ›Genealogia Christi‹ des Petrus von Poitiers, einer sehr weit verbreiteten ›Chronik‹ von der Weltschöpfung bis zur Passion Christi in Form eines Stammbaums, vorgelagert. Den Beginn macht hier ein Sphärenschema (fol. 1v), das vom Turm der Weisheit gefolgt wird. Der Cherub ist zwischen Tugend- und Lasterbaum inseriert (fol. 3v). Den Abschluss bildet ein Schema des regnum celorum mit den Engelscharen und Heiligenchören (fol. 11r). Von anderer Hand ist eine dilettantische Darstellung eines textierten Seraphs auf fol. 17v eingefügt. 67 London, BL , MS Arundel 83 II . Der im Auftrag des englischen Adligen Robert von Lille entstandene und 1341 bei dessen Eintritt ins Londoner Franziskanerkonvent seinen Töchtern vermachte Psalter besteht heute nur noch
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Armenbibeln68 und ›Specula humanae salvationis‹69, aber auch, über den monastischen Gebrauchskontext hinausweisend, in ausladenden (Sammel-) Handschriften kompendienhafter Ausrichtung wie der ›Wellcome Handschrift‹ und in anspruchsarmen, summarisch gehaltenen Almanachen vom Format eines Faltbuchs oder Vademecums.70 Nicht in einen grösseren Verbund eingegliedert ist meines Wissens nur der ›Vrigiet de solas‹, eine Tafelsammlung grossen Formats.71 Als Einzelmotiv findet man den Tugend- und Lasterbaum als integralen Bestandteil in Handschriften des ›Speculum virginum‹, dann naheliegenderweise im ›Imago mundi‹-Schrifttum72 und im
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aus einem Kalender und einer 24-seitigen Tafelsammlung (vgl. Sandler, The Psalter, S. 12 f.). Diese teilt sich in die Schemasammlung des ›Speculum theologiae‹ und einen narrativen Zyklus (Szenen aus dem Leben Jesu, ›Maiestas Domini‹, Maria und Kind, Kreuzigungsdarstellung). Beide Zyklen greifen ineinander. (Zum Aufbau vgl. Sandler, The Psalter, S. 28 ff.). Als Eingangstafel findet man ein Sphärenschema nach dem Vorbild des Franziskaners John Peckam (fol. 123v). Im Zentrum befindet sich die Hölle (Höllenschlünde, Feuerzungen), im äussersten Kreis Gott auf dem Thron. Der Begleittext verbindet Schöpfung (Teilung der machina mundi in vier Elemente) und Erlösung (Aufstieg von der Mitte der Welt zum wahren Thron Salomons: Ita quod a centro mundi ad ueri regis Salomonis tronum decibus gradibus ascendatur). Diese Darstellung kann als typisch für alle weiteren des ›Speculum theologiae‹ gelten, erstens weil sie die Inhalte systematisch gliedert, zweitens, weil sie numerisch bestimmte Strukturen aufweist und drittens, weil sie Vertikalität (Arbor-Form) und Zirkularität (Rota-Form) verbindet. Dem Sphärenmodell folgen auf fol. 128v/129r Tugend- und Lasterbaum, auf fol. 130v der Cherub, auf fol. 135r der Weisheitsturm. München, BSB , Clm 8201. Die Sammlung befindet sich zwischen kreisförmigen Messschemen, die mit einer allegorischen Darstellung des Messopfers abgeschlossen werden, und der ›Genealogia Christi‹ des Petrus von Poitiers. Die ersten beiden Teile der Handschrift bestehen aus Hrabanus’ ›De laudibus sanctae crucis‹ und aus einer Armenbibel. Eine Inhaltsskizze bei Suckale, Das geistliche Kompendium, S. 10–13, und Suckale, Klosterreform, S. 68–82. London, LGI , MS 9. Das ›Speculum‹ entstand in der Zisterzienserabtei Dieulacres, Staffordshire. Vgl. Medieval Manuscripts in British Libraries (Ed. Ker), Bd. 1, S. 58 f. Beispielsweise den faltbaren Almanach London, BL , MS Additional 17358 (um 1400). Vgl. Kapitel 3.3.3. Paris, BN , ms. fr. 9220, bestehend aus 16 Pergamentseiten (440 × 300 mm). Die Handschrift dürfte um 1300 in der Picardie entstanden sein. Beispielsweise als eine Art nachträglich eingefügtes ›Frontispiz‹ zusammen mit den personifizierten Artes in der Londoner Handschrift des ›Livre dou tresor‹ des Brunetto Latini (BL , MS Additional 30024, fol. 2r). Vgl. Teil A, Kapitel 4.2.3. Vgl. Stolz, Artes-liberales-Zyklen, Bd. 1, S. 173 f. (Bd. 2, Abb. 15).
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›Speculum humanae salvationis‹.73 Eher selten sind Darstellungen des Cherubs und des Weisheitsturms als Einzelmotive überliefert.74 Ich beschränke mich im Folgenden auf die Tugend-Laster-Thematik. Drei Beispiele sollen genügen, um R an das lateinisch-klerikale Bildungsumfeld anzubinden und in den Prozess von Neuformungen und Umwertungen mittelalterlichen Tugend- und Lasterwissens zu verorten. Allen drei Beispielen ist gemeinsam, dass sie sich in den Kontext monastischer Unterweisung einreihen lassen: das ›Speculum virginum‹ (um 1140), die Mettener Handschrift München, BSB , Clm 8201 (um 1414) und die Handschrift Oxford, Bodleian Library, MS . Douce 373, die aus dem Augustiner-Priorat Zeven Bronnen bei Brüssel stammt (um 1530). Ich greife ergänzend auf ein paar Handschriften aus, die hinsichtlich der Texttraditionen und Bildtypen besonders aufschlussreich sind. Die Entstehung des ›Jungfrauenspiegels‹ wird heute mit der dramatischen Zunahme der Frauenklöster im 12. Jahrhundert in Zusammenhang gebracht, genauer mit den Reformklöstern Springiersbach und Hirsau, die beide eine Vorreiterrolle bei der Gründung von Frauenklöstern innehatten.75 Der Form nach ist das Werk ein Lehrer-Schüler-Gespräch, das ein 73 Kremsmünster, StiB, CC 243, fol. 3r und 4r (um 1330). Die Handschrift ist als Faksimile greifbar: Speculum humanae salvationis (Ed. Neumüller). Eine Beschreibung der mit Figuren ausgestatteten und mit Beischriften versehenen Bäume bei Lutz, Spiritualis fornicatio, S. 252. Den Bildmotiven gehen jeweils die entsprechenden Definitionen der Laster (fol. 1v) und Tugenden (fol. 3v) aus dem ›Speculum virginum‹ voraus. Das zweite Blatt ist von kleinerem Format und bringt auf der Recto-Seite die Fortsetzung der Texte zum Lasterbaum, auf der Verso-Seite ein Autorbild des Augustinus. Das Blatt ist von der gleichen Hand geschrieben und wurde zwischen Blatt 1 und 3 inseriert, weil die Texte zum Lasterbaum nicht alle auf fol. 1v unterzubringen waren. Als Verlegenheitslösung bot sich der Einschub eines kleineren Zwischenblattes an, so dass die ursprüngliche Planung von Verso-Textseite und Recto-Bildseite noch sichtbar bleibt. Tugend- und Lasterbaum übernehmen hier offenbar die Funktion eines Prologs, der auf den typologischen Aufbau des ›Speculum‹ Bezug nimmt: Die Verbindung von Ungleichem soll den Unterschied der Einzelteile und die Verschiedenheit der Beschaffenheit beider vergrössern: Sicque coniunctio imparium differentiam arcet partium singularium et diuersa qualitas utriusque crescere uidetur ex utroque. Vgl. Teil A, Kapitel 4.2.3. 74 So im Anhang zur ›Lambeth-Apokalypse‹, der aus allegorisch-didaktischen Miniaturen besteht: London, LPL , MS 209, fol. 48v (um 1250). Vgl. dazu den Kommentarband zum Faksimile: The Lambeth Apokalypse (Faksimile-Ed. Morgan), S. 59–65. 75 Dazu: Powell, The mirror, S. 100 ff. Vgl. ebenfalls die Einleitung von Jutta Seyfarth zur zweisprachigen Ausgabe des ›Speculum virginum‹ in den Fontes
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komplexes Text-Bild-Programm entwirft. Die Rezeption ist als audio-visuelle Unterweisung zu denken,76 wie Morgan Powell anhand eingehender Text-Bild-Analysen überzeugend nachweisen konnte. Die Bilder sind Teil der Konzeption und erweisen sich als unentbehrlich, wenn es darum geht, die »intimate conversation«77 zwischen dem magister Peregrinus und der discipula Theodora zu initiieren und zu strukturieren.78 Die Tugend-LasterChristiani, Bd. 30/1, S. 13–25. Der Ursprung des ›Speculum virginum‹ wird kontrovers diskutiert und muss als ungeklärt gelten. 76 Die Verbindung von Hören und Sehen kommt programmatisch in der wiederholten Anrede des Peregrinus zum Ausdruck – Audi filia et vide! – und in der ursprünglichen Einbettung des Werkes in Lieder mit Neumennotation. Powell kann glaubwürdig belegen, dass das ›Speculum virginum‹ ursprünglich nur acht Bücher umfasste, mit dem dritten Buch begann und mit dem zehnten endete. Der an den Beginn der Benediktregel anklingende Psalmeingang Audi filia (Ps 44,11 f) zu Beginn des dritten Buches erhält so einen programmatischen Charakter für die Rezipientinnen (The Speculum virginum, S. 111–135, hier: 116 ff.). Vgl. auch die Einleitung von Seyfarth in der Corpus Christianorum-Ausgabe (S. 62* [Abb. 16]). 77 Powell, The Mirror, S. 134. 78 Ebd. S. 115: »The Images in this work are designed for discursive elaboration. Their meaning is best described as open-ended: in use, they are starting points and structuring patterns of discussion.« Für den Überlieferungszusammenhang des ›Speculum virginum‹ sind zwei Handschriften aus dem ehemaligen Besitz des Zisterzienserklosters Eberbach (Rheingau) interessant. Die Handschrift Oxford, Bodl., MS . Laud Misc. 377 (um 1200) überliefert mehrere Werke vom Verfasser des ›Speculum virginum‹, namentlich den ›Dialogus de contemptu mundi vel amore‹, den ›Liber de fructibus carnis et spiritus‹ sowie weitere Schriften desselben Autors. Bezeichnenderweise findet man hier am Anfang der Handschrift das Exlibris Peregrinus minor, das noch auf die aus dem ›Speculum‹ abgeleitete Dialogsituation verweist. Den Anfang der Textsammlung macht der ›Dialogus de contemptu mundi vel amore‹, der zwischen einem matricularius und einem monachus stattfindet. In Eberbach, so Nigel F. Palmer, war man offenbar über den Zusammenhang zwischen den Hirsauer Texten informiert. (Zisterzienser, S. 80 [Abb. 181]). Eine weitere Oxforder Handschrift aus vormaligem Eberbacher Besitz ist MS . Laud Misc. 202 aus dem 15. Jahrhundert, die im Anschluss an die ›Diadema monachorum‹ (Handbuch über das monastische Leben), Pseudo-Augustinus’ ›De miseria hominis‹ und einem Antichrist-Traktat ganzseitige Darstellungen der Tugend- und Lasterbäume bringt (fol. 209v/210r). Die Bäume sind hier mit leoninischen Hexametern eines Tugend-und-Laster-Traktats beschriftet. (Arbores virtutum et viciorum, Ed. Langosch, S. 121–127). Die bildliche Ausstattung ist eher spärlich: Der Baumstamm besteht aus sieben gekrönten Figuren für die Tugenden und aus sieben Teufeln für die Laster. Vgl. Palmer, Zisterzienser, S. 80 ff. (Abb. 61).
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Thematik wird im vierten Buch abgehandelt und reiht sich bruchlos ein in die Blumen-Garten-Metaphorik, die leitmotivisch das Werk durchzieht und im Kontext der Hohelied-Exegese des 12. Jahrhunderts zu situieren ist. Buch 4 beginnt mit der Aufforderung Peregrinus’, das unterschiedliche Aussehen der Bäume und ihrer Früchte zu betrachten. Beide Bäume seien wie ein Spiegel, der es erlaube zu erkennen, in welchem Mass man in den Tugenden fortschreite oder darin nachlasse – quantum profeceris vel defeceris.79 Die Spiegelmetapher dient hier der Selbsterkenntnis und Selbsteinschätzung im Spannungsfeld zwischen Realität und Ideal. Nicht um das realitätstreue Spiegelbild geht es also, sondern um das, was dieses an Introspektion auszulösen vermag.80 Dem einleitenden Textpassus folgt ein ausführlicher Katalog mit Tugenden und Lastern, die begrifflich bestimmt werden. Bei der superbia angelangt, wechselt Peregrinus vom Stamm der Übertretung (stipes transgressionis) zum Baum des Lebens (lignum vitae), ein Übertritt, der zugleich den Eintritt in das Paradies kennzeichnet: Sed leva relicta dexteram repetamus, ligno vitae transgressionis stipitem mutemus, paradisum intremus amoenitate sua ultra omnem gratiam saecularis exuberantiae deliciosum, ubi vitis fructu gravidae palmites alternis flexibus arundines fulcientes oberrant [. . .].81
Was folgt, ist die Beschreibung des hortus deliciarum, der sämtliche Sinne in unsagbare Wonne versetzt. Die auf die diesseitige Tugendprogression bezogene Baummetaphorik vermengt sich zusehends mit der für das Jenseits reservierten Blumen-Garten-Metaphorik des Hoheliedes.82 Deutlich wird dies an der nächsten Frage Theodoras, die sich auf die höchste Frucht des Tugendbaums bezieht: Puto flores vel fructus horti istius ad arborem referas, cuius radix humilitate fundatur, summitas vero flore aeterno, id est novo Adam praesidente consummatur.83 Peregrinus bejaht die Frage – Ita est. Der hier angesprochene flos aeternus oder novus Adam – so erscheint Christus über dem Tugendbaum – wird an anderer Stelle mit dem flos campi (Ct 2,1) gleichgesetzt.84 Die höchste Frucht des Tugendbaums, die caritas, ist iden79 80 81 82
Speculum virginum (Ed. Seyfarth, CCCM 5), IV ,18 f. Vgl. dazu: Powell, The Mirror, S. 136 ff. und 162 f. Speculum virginum (Ed. Seyfarth, CCCM 5), IV ,383–386. Die Ausführungen Peregrinus’ enden mit dem Hohelied-Passus Trahe me post te, curremus in odore unguentorum tuorum (Speculum virginum [Ed. Seyfarth, CCCM 5], IV ,395; Ct 1,3). 83 Ebd. IV ,398–400. 84 Ebd. III ,95 f.: [. . .] rogo te per florem aeternum, qui dixit: ›Ego flos campi et lilium convallium‹ [. . .].
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tisch mit der Blüte aus der Wurzel Jesse.85 Die menschliche Tugendfrucht (Buch 4) und die Blüte ›Christus‹ aus der Wurzel Jesse, wie sie aus Ct 1,2 entwickelt wird (Buch 1), fallen zusammen; individuelles Tugendstreben und universale Heilsgeschichte sind eins, oder, mit den Worten Eleanor Greenhills: »Die Heilsgeschichte wird ins Innere des Menschen verpflanzt.«86 Der Aufbau des Werkes verläuft über die Leitwörter flos (Buch 1: Christus)87 – fructus (Buch 4: Tugenden und Laster) – spiritus (Buch 11: Gaben des Heiligen Geistes).88 Das Ineinander von Blume und Baum findet auch einen Niederschlag in den Illustrationen der ›Speculum‹-Handschriften. Die Tugendbaum-Darstellung in der Kölner Handschrift, die neben der Londoner Handschrift zu den ältesten Zeugnissen zählt,89 verbindet Bildelemente der Blume mit solchen des Baumes: Stamm wie Äste entspringen immer wieder neu blütenförmigen Kelchen. Das elfte Buch handelt, Is 11,2 aufgreifend, vom Geist der siebenfältigen Gnade (spiritus septiformis gratiae), der sich auf jene Blume niederlässt: super eundem florem requievit.90 Es folgt eine eingehende Auseinandersetzung mit den sieben Gaben des Heiligen Geistes, beginnend mit der Gabe der Weisheit, endend mit der Gabe der Gottesfurcht. Bei beiden verweilt Peregrinus länger: Bei der Weisheit gilt es, stellvertretend für die Geistesgaben überhaupt, zu erklären, warum diese eins und viele zugleich sein können, was mit der paulinischen Leib-Glieder-Metapher bewerkstelligt wird (I Cor 12,7–13); bei der Gottesfurcht schliesst sich der Kreis: Den Abstieg der Gnade ergänzt notwendigerweise der Aufstieg zur Weisheit, so die Auslegung von Is 11,2: Nonne propheta Esaias gradus istos caelestis gratiae descendendo de summis ad ima, id est de sapientia ad timorem nobis insinuavit et a timore, qui est initium 85 Ebd. I ,1 ff. 86 Die geistigen Voraussetzungen, S. 30 f., Anm. 29, und 85 f. Vgl. auch: Bernards, Speculum virginum, S. 81 f. 87 Bild: Wurzel Jesse. Speculum virginum (Ed. Seyfarth, Fontes Christiani 30/1), Abb. 1 (London, BL , MS Arundel 44, fol. 2v). 88 Bild: Haus der Weisheit. Ebd. Abb. 14 (London, BL , MS Arundel 44, fol. 114v). Buch 12 beschliesst das Werk mit einer Erörterung des Herrengebets. 89 Köln, Hist. Archiv der Stadt, Best. 7010 (Handschriften [Wallraf]), 276A (Mitte 12. Jh.), fol. 12r. Speculum virginum (Ed. Seyfarth, Fontes Christiani 30/1), Abb. 4. Die Provenienz der Handschrift aus dem 1128 von Springiersbach aus gegründeten Kanonissenstift Anderbach (Augustinerinnen) gilt als sehr wahrscheinlich. Vgl. Speculum virginum (Ed. Seyfarth, CCCM 5), Einleitung, S. 61 ff. 90 Speculum virginum (Ed. Seyfarth, CCCM 5), XI ,108 f.
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sapientiae [Ps 110,10] nobis incipientibus ascensum ad ipsam sapientiam praeparavit? Descensum ostendit in capite, quia Deus humiliatus est, ascensum ostendit in corpore, quia homo Deus factus est.91
Hier klingt das paulinisch geprägte Bild von Christus als Haupt und der Kirche als Leib an (Eph 4,15 f.),92 das an die Leib-Glieder-Metapher anknüpft. Beide Bilder leiten über zur wiederholt aufgeworfenen Vorstellung von den Jungfrauen als membra Christi. Das Bild wird gleich zu Beginn des ersten Buches eingeführt, konstituiert bereits hic et nunc den besonderen Gnadenstand der Gemeinschaft heiliger Jungfrauen (in Christi membris) zwischen himmlischem (flores paradisi) und irdischem Konvent (fructus germinis ecclesiastici): Collaturo tecum, o Theodora, de floribus paradisi, de fructu germinis ecclesiastici, id est de sanctitate virginalis vitae et consummatione in Christi membris pudicitiae materia vel exordium collationis nostrae flos ille ponendus est, qui dixit: ›Ego flos campi et lilium convallium‹.93
Einer eingehenderen Behandlung wird das Bild im Anschluss an die Tugend-Laster-Exegese des vierten Buches unterzogen. Hier wird nun der Paradiesgarten mit der Gemeinschaft der Jungfrauen ineins gesetzt, in einem ersten Schritt der ›Hortus deliciarum‹ mit den cultores studiosi virtutum, also nicht bloss mit den Tugenden, wie Peregrinus eigens betont; in einem zweiten Schritt der paradisus mit der concors in Christo commanentia sanctarum virginum, unter denen der Weinstock (vitis) ›Christus‹ blühe.94 91 Ebd. XI ,834–839. 92 Veritatem autem facientes in caritate crescamus in illo per omnia, qui est caput Christus, ex quo totum corpus conpactum et conexum per omnem iuncturam subministrationis secundum operationem in mensuram uniuscuiusque membri augmentum corporis facit in aedificationem sui in caritate. Christus wird hier als Haupt der zur Einheit gelangten Kirche verstanden. Augustinus behandelt bezeichnenderweise diese Stelle bei der Auslegung des zehnten Psalms (Dominus in templo sancto suo, Ps 10,7; Enarrationes in Psalmos [Ed. Dekkers/ Fraipont], X,7). Vgl. auch Augustinus, Contra Iulianum, III ,114 (PL 45, 1296 f.). 93 Speculum virginum (Ed. Seyfarth, CCCM 5), I,1–6. 94 Ebd. IV ,401–413. Die Nutzung der Baummetaphorik zur Untermauerung eines ›konventual‹-ekklesiologischen Heilsverständnisses ist auch ein Thema der spätmittelalterlichen Nonnenliteratur. Ein eindrückliches Beispiel dafür bietet die im ›Engelthaler Schwesternbuch‹ festgehaltene ›Sternenbaum‹-Vision der Kunigunde von Eichstätt. Die Sterne am Baum bezeichnen die verstorbenen und lebenden Nonnen des Engelthaler Konvents und oszillieren so vieldeutig zwischen irdischem und himmlischem Konvent. Vgl. dazu die Studie von Sandra Linden, Vom irdischen zum himmlischen Konvent, S. 31–76,
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Irdischer Konvent und himmlischer Konvent werden aufeinander hin durchlässig: Dixerim igitur vitam communem Christi virginum hortum deliciarum, ubi floribundis deliciis sanctae mentes imbibunt, quod postea perfectius possidebunt, et in corporali requie iam interno sapore praelibant, quod eis fructus aeternitatis plenitude virtutum accumulat.95
Ich will nun hier einen ersten Vergleich mit R anstellen und mich dabei hauptsächlich auf die Gegenüberstellung der Begriffsbestimmungen beschränken. Der Vergleich soll zeigen, wie Tugend-Laster-Wissen, nun losgelöst vom gelehrten Kontext der Nonnenunterweisung, im spätmittelalterlichen Umfeld der Laienbildung vermittelt wird. Trotz der sich zeigenden Verflachung der Inhalte lassen sich die Texte noch an das ursprüngliche Bildungsmilieu des Hirsauer Umfeldes anbinden. Die Definition der Demut in R lautet in diplomatischer Wiedergabe: Diemuetichait ist von der innerchait dez aigens gewissen oder dez scheppfers vnd ist ein czunay¨gung dez willen muecz (Tafel X.3), was eine Wort-für-Wort-Übersetzung des ›Speculum‹-Textes ist, der heisst: Humilitas est ex intuitu propriae conditionis vel conditoris voluntaria mentis inclinatio.96 Der Zusammenhang zwischen Definiens, der inclinatio mentis, und den Voraussetzungen, aus denen diese hervorgeht, ex intuitu conditionis, wird in R aufgelöst zugunsten einer additiven Satzstruktur: Die Demut geht aus der Betrachtung der eigenen Gechöpflichkeit oder aus jener des Schöpfers hervor und ist die Neigung des willigen Geistes; das Definiens heisst nun ›die Neigung des willigen Geistes‹ statt die ›freiwillige Neigung des Geistes‹ wie im ›Speculum‹. Der Begriff conditio wird auf gewissen eingeengt. Der Übersetzer hat hier die lateinische Definition vereinfacht. Die präzise Begrifflichkeit der Vorlage ist abhanden gekommen, die präzise Satzstruktur ebenso. Ich füge zwei weitere Beispiele an, die zeigen sollen, wie die komplexe Begrifflichkeit des ›Speculum‹ durch die Übertragung in die Volkssprache manchmal verflacht und umgewertet wird, manchmal aber die Vorlage durchaus adäquat überträgt. Die Bestimmung des Hochmuts beispielsweise gibt den lateinischen Text wortgetreu wieder (Tafel X.3.8). Nehmen wir hier: 37 f., 50 und 56 f. Hier auch Beispiele von Baumdarstellungen, die mit Frauengestalten bestückt sind und bildlich das einholen, was der Engelthaler Text nahelegt (bes. Abb. 2 und 3). 95 Speculum virginum (Ed. Seyfarth, CCCM 5), IV ,421–425. 96 Zu den zitierten ›Speculum‹-Stellen vgl. Die ›Süddeutsche Tafelsammlung‹ (Ed. Castelberg/Fasching).
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aber die Definition der ›Trägheit‹, die auf die Version im Clm 8201 der BSB in München zurückgeht,97 fehlt im Vergleich zur lateinischen Vorlage die Bestimmung der Trägheit als Form der Trauer (Tafel XI.3.7). Weitere Beispiele liessen sich ohne weiteres anbringen.98 Stellenweise kann nicht mehr von Vereinfachungen und Verzerrungen gesprochen werden, sondern nur noch von einem verstümmelten Rumpftext. Ich meine hier besonders das an I Cor 12,12 erinnernde, die Thematik einleitende Bild der Menschen als gelider dez leichnams christi (vgl. Tafel X.5) und die dem ›Speculum virginum‹ entlehnte, die Tugendthematik abschliessende Textstelle zur Auslegung der Tugenden, die vom Baum der sieben Tugenden zum Baum der siebenfältigen Gnade führt (Tafel X.4). Beide Stellen verweisen noch auf den Verständnishorizont des ›Speculum virginum‹. Die Gemeinschaft von Jungfrauen ersetzen gleichsam die Menschen, die sich geleich lieb haben (Tafel X.5), die Siebenzahl der Tugenden verheisst ihren cultores hier wie dort die Heilsfülle der siebenfältigen Gnade: Septenarius iste uirtutum numerus plenitudinem septiformis gratiae suis executoribus adducit, per quam uiciorum compago cum septenis nequiciis suis dissoluitur, corpus diaboli superatur [. . .].99
Auch hier ist die bildlich aufgeladene, in sich kohärente Begrifflichkeit des ›Speculum‹ in den verbliebenen Textfragmenten nur noch verzerrt ablesbar: compago vitiorum100 wird verallgemeinernd als furgab boshait wiedergegeben, corpus diaboli als posz gaist übersetzt; der Gegenbegriff zur siebenfältigen Gnade, die sieben Nichtigkeiten (septenae nequitiae),101 fehlt (Tafel X.4.1). Auf den Zusammenhang zwischen der Zahl der Tugenden und jener der heiligen Geistesgaben weist noch die Taube in der Baumkrone hin. Dies führt mich weiter zu den bildlichen und textlichen Erweiterungen, die das Motiv des Tugend- und Lasterbaumes nach seinem Erscheinen im ›Speculum virginum‹ erfahren hat. Wie das ›Speculum virginum‹ ist auch die Mettener Handschrift München, BSB , Clm 8210 in den Kontext einer Klosterreform zu situieren. Das im Auftrag des initiativen Mettener Abtes Peter (1389–1429) entstandene Kompendium vereinigt das, was der langjährige Vorsteher des Benedikti97 Vgl. Die ›Süddeutsche Tafelsammlung‹ (Ed. Castelberg/Fasching), Anmerkungen und Varianten zu Tafel XI.3. 98 Vgl. Teil A, Kapitel 4.1.2. 99 Speculum virginum (Ed. Seyfarth, CCCM 5), IV ,88–93. 100 Gesellschaft der Laster. M bringt hier den Begriff propago, also Sprössling, Setzling. Vgl. Teil A, Kapitel 4.2.3. 101 Fehlt ebenfalls in M.
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nerkonvents im Einflussbereich der Kastler Reformbewegung für überlieferungswürdig hielt. Kastl brachte es im 14. Jahrhundert durch eine Reihe herausragender Äbte zu beträchtlicher wirtschaftlicher und geistiger Ausstrahlung.102 Die Erneuerung umfasste die innere und äussere Reorganisation des Klosters unter »stark retrospektiver Gesinnung«.103 Die Neuregelung monastischen Lebens sollte durch Rückbesinnung auf alte benediktinische Ordensprinzipien bewältigt werden; eine zentrale Stellung nahm die Erneuerung der Messfeier ein.104 Als geistiger Vater der Reform galt Franz von Böhmen, der 1399 das Amt des Subpriors innehatte. Seine Schrift ›De monacho ad exemplum Christi crucifixo‹ ist eine mystische Überhöhung monastischen Lebens: Das Ordensleben ist das Kreuz, an das die Ordensleute genagelt sind. Die in dieser Programmschrift verarbeiteten Texte untermauern die Ausrichtung der Reform:105 Bibel, Benediktregel und benediktinische Autoritäten wie etwa Wilhelm von Auvergne (›De passione Domini‹) und Bernhard von Clairvaux überwiegen. Dazu kommen die Kirchenväter und die 1336 von Papst Benedikt XII . für den Benediktinerorden erlassene Konstitution ›Summi magistri dignatio‹. Kreuzesverehrung, Hinwendung zur Bibel und Erneuerung der Liturgie sind Reforminhalte, die auch im Mettener Kompendium ungebrochen zum Ausdruck kommen, wenn das Kreuzeslob des Hrabanus, eine Bilderbibel und eine Darstellung des Messopfers (fol. 94v) darin vorkommen. Auch die Schematasammlung, bestehend aus Messschemata (fol. 90r–94v)106 und katechetischen Lehrbildern (fol. 95r–100r),107 nützt die Symbolik des Kreuzes. Die Baumdarstellungen sind auf vielfältige Weise mit Darstellungen des Gekreuzigten verbunden: Zwischen Lasterbaum und Tugendbaum steht das lignum vitae (fol. 96r, Abb. 28); eine Reihe von Baumschemata katechetischen Inhalts (fol. 98r–99v)108 befindet sich zwischen einer weiteren Kreuzigungsdarstel102 Zur Kastler Reformbewegung vgl. Maier, Ursprung, S. 75–201, bes. 79–102. 103 Suckale, Das geistliche Kompendium, S. 13 f. 104 Zu den Brauchtexten der Kastler Observanz vgl. Maier, Ursprung, S. 102– 122. 105 Ebd. S. 103–109, hier: 109. 106 Vgl. Suckale, Klosterreform, Taf. 140–149. Die Rota-Darstellungen gehen auf das Messtraktat von Papst Innozenz III . zurück. Vgl. Suckale, Das geistliche Kompendium, S. 11 f. 107 Vgl. Suckale, Klosterreform, Taf. 150–160. Die Lehrbilder stammen von einer zweiten Hand. Robert Suckale spricht von der Arbeit eines Gehilfen, der aber eng mit dem Hauptmeister zusammengearbeitet haben muss. (Das geistliche Kompendium, S. 14. Suckale, Klosterreform, S. 22). 108 Vgl. Suckale, Klosterreform, Taf. 156–159. Darunter befinden sich die fünf
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lung (fol. 97v) und einem Baum, der sämtliche Bücher der Bibel zur Disposition stellt (fol. 100r).109 Der Gekreuzigte hängt hier zwischen den vier ›Evangelien‹ im oberen, ›neutestamentlichen‹ Baumteil. Als Scharnier zwischen den Messschemen und den Lehrtafeln dient die Doppelseite 94v/95r. Auf fol. 94v beschliesst die Darstellung des Messopfers die breit abgehandelte Messthematik; auf der gegenüberliegenden Seite leiten Personifikationen der Christi sponsa beata und der Filia Babilonis misera die nunmehr auf die Einzelseele ausgerichteten Schemata ein (fol. 95r, Abb. 62).110 Konkreter rollt die untere Seitenhälfte die Seelenheil-Thematik auf: Der Heilige Benedikt erhebt einen Kreuzstab gegen das ›Siebenlasterweib‹. Darauf steht die Aufschrift: Crux sacra sit michi lux, non draco sit michi dux. An dieser Doppelseite lassen sich die beiden Hauptgedanken der Schemasammlung nochmals ablesen: das durch die Erneuerung der Liturgie sich neu etablierende Gemeinschaftsverständnis im ersten Teil111 und das durch Kreuzverehrung und Leidensbetrachtung sich neu formierende Selbstverständnis im zweiten Teil. Gleichsam programmatisch vereint erscheinen beide Gedanken in der Darstellung des Gekreuzigten als Priester (langes Gewand und Stola) und König (Krone) (fol. 97v, Abb. 63).112 Der Gekreuzigte als königlicher Erretter des Menschen ist ineins gesetzt mit seiner Installation als
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Sinne und ein weiteres Mal die sieben Laster (fol. 98r), die zehn Gebote und die sieben Bitten des Vaterunsers (fol. 98v), die sieben Sakramente, die sieben Glaubensartikel, die sieben Gaben des Heiligen Geistes und die sieben Werke der Barmherzigkeit (fol. 99r) sowie die neun fremden Sünden und die himmelschreienden Sünden (fol. 99v). Die Blätter sind herzförmig gestaltet. Aus der Reihe schlägt hier nur die Darstellung der Heiligen Anna (fol. 97r). Vgl. dazu: Weidenhiller, Untersuchungen, S. 16–24. Anna breitet, untersützt von ihren drei Männern (›Trinubium Annae‹), ihren Mantel über ihre Nachkommenschaft. Möglich, dass Anna hier als Mutter Mariens – diese erscheint mit dem Jesuskind in Gemeinschaft der ›Heiligen Sippe‹ vor Anna – besondere Verehrung erfährt. In der ›Genealogia‹ des Petrus von Poitiers ist ihre genealogische Verbindung zum Gekreuzigten eigens hervorgehoben (fol. 107r). Maria selber erscheint an zwei zentralen Stellen im Kodex: im Einband als Verkündigungsmaria und in der Messdarstellung inmitten der Heiligenchöre als Fürbitterin neben Gottvater. Vgl. Suckale, Klosterreform, Taf. 155 und 160. Unter dem Baum steht die personifizierte ›Theologie‹, die sacra theologya gloriosa imperatrix. Vgl. Suckale, Klosterreform, Taf. 149 und 150. Zu dieser Seite: Suckale, Das geistliche Kompendium, S. 12, Lutz, Spiritualis fornicatio, S. 281 f., und Suckale, Klosterreform, S. 99–105. Bemerkenswert sind die wiederholt eingebrachten Personifikationen der Ecclesia und Babilonia (fol. 94v, 97v und 100r). Fol. 97v.
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»Priester des neuen und ewigen Bundes« (Hbr 7,24 f.). Die soteriologische und ekklesiologische Ausrichtung der Seite untermauern vier Gestalten unter dem Kreuz: rechts die Personifikation des Lebens (crux est reparacio vite), links die Personifikation des Todes (crux est destruccio mortis); wiederum rechts Ecclesia (pia gracia surgit in ortum), links Synagoga (lex tenet occasum). Die an den Seitenrändern auf halber Seitenhöhe angebrachten Personifikationen der Ecclesia und Synagoga sind jeweils vertikal mit zwei weiteren Miniaturen verbunden, die in den Seitenecken platziert sind. Unten rechts ist die Auferstehung der Toten dargestellt – die gentilitas conuersa per fidem; ihr Pendant bilden die heruntergerissenen Tempelvorhänge – die obscuritas legis ablata. Oben stehen sich Sonne (sol iusticie patitur virtute) und Mondeklipse (de morte Christi dolet ecclesia) gegenüber. Darstellungen und Überlieferungsverbünde wie die eben beschriebenen heben das Mettener Kompendium durchaus in den Rang einer programmatischen Schrift, die eine auf Erneuerung von Liturgie und Klosterleben abzielende Reformvorstellung manifest werden lässt.113 Der Kodex ist in diesem Sinn mehr als Programmschrift mit höherer Funktion zu sehen, denn als didaktisch zu nutzende Lehrschrift – dafür sprechen auch die in den Buchdeckel eingelassenen Reliquien und der makellose Zustand der einzelnen Seiten. Robert Suckale spricht in diesem Zusammenhang von einem geistlichen Handbuch, das in nahezu enzyklopädischer Vollständigkeit persönlich ausgewähltes Glaubenswissen darbietet und Kastler Gedankengut aufscheinen lässt.114 Im Kontext dieser Programmatik kann man nun auch die Darstellung des Laster- und Tugendbaums sehen (Abb. 28 und 29). Was diese auszeichnet, ist gerade nicht die gebrauchsorientierte Memorierfunktion anhand einer klaren Ast- und Blattauslegung,115 sondern die Gestaltung der nahezu ein Drittel der Baumhöhe einnehmenden Wurzel als Babylon und Christus. Neben diese eschatologische und soteriologische Sichtweise auf die Tugend-Laster-Thematik stellt sich die zahlenmässige Hervorhebung der accidia als wichtigstes ›Mönchslaster‹116 sowie die genaue Kenntnis zeitgenössischer Sündentheologie.117 113 Suckale, Das geistliche Kompendium, S. 13. 114 Ebd. S. 7. 115 Zur Memorierfunktion von Bäumen im Kontext der Predigtvorbereitung (praedicare est arborisare) vgl. van der Poel, Memorabele bomen, S. 239– 257, hier: 250 ff. 116 Vgl. Teil A, Kapitel 4.1.2.1. 117 Vgl. die Kategorien progressus peccati, circa processum peccati, quod antecedit peccatum, quod sequitur peccatum, peccata que comitantur peccatum, peccata
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Ich will nun, ausgehend von der Kontamination der sieben Tugenden mit den sieben Gaben des Heiligen Geistes, – im Mettener Beispiel befinden sich diese als Inschriften über dem oberen Ästepaar118 – Formationen von Lasterwissen anhand eines weiteren Beispiels nachgehen, das ich hier nur kurz streife. Die erste Darstellung befindet sich in der Handschrift W und zeigt einen Tugendbaum, unter dem Christus thront (Abb. 64).119 Auf den Ästen befinden sich sieben Tauben mit Nimben, die traditionell die Gaben des Heiligen Geistes symbolisieren.120 Anstelle der Haupttugenden wurden je drei sich ergänzende Begriffe – eine Gabe des Heiligen Geistes, eine von dieser Gabe geprägte Gruppe von Gläubigen und eine durch die Glaubenshaltung ausgelöste Wirkung der Gabe – gewählt, im Fall des ›Glaubens‹ spiritus timoris domini – humiles – pro recordacione peccati.121 Die vier Beischriften, die in den Ecken der Seite angebracht sind, ergänzen sich paarweise. Die unteren Texte bieten Unterteilungen der Demut: Links wird die Demut nach drei Abstufungen unterschieden,122 rechts in sieben Ausprägungen unterteilt.123 Der linke Textblock gibt einleitend eine ›Leseanweisung‹ für die ganze Seite: Arboris ingentem naturam si speculeris, edificat mentem, sic quoque liber eris. Die oberen Texte sind der Bibel entnommen. Links wird die Baumvision Nebukadnezars aufgegriffen (Dn 4,7–10), rechts
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que aggrauant peccatum, peccata que diminuunt peccatum, peccata in mala lingua, peccata occasioni bilingwe. Hinzu kommt der Merkvers zur Klärung der Umstände der Sünde. Vgl. dazu: Petrus Pictaviensis, Summa de confessione (Ed. Longe`re), XL , S. 49. Is 11,2: Requiescet super eum [flos de radice Iesse] spiritus Domini. Fol. 65v. Zur Taube als Symbol des Heiligen Geistes vgl. Hugo von Folieto, De avibus (Ed. Clark), I,1. Die Zuweisung der einzelnen Tugenden lässt sich aus den Untertugenden erschliessen. Die weiteren Inschriften lauten: Spes: spiritus pietatis – misericordes – pro compassione proximi. Caritas: spiritus sapiencie – maturi – pro desiderio regni. Prudencia: spiritus sciencie – discreti – pro miserijs huius seculi. Iusticia: spiritus intelligencie – providi – pro passione Christi. Fortitudo: spiritus fortitudinis – pacientes – pro consideracione periculi. Temperancia: spiritus consilij – cauti – pro dispensacione diurni misterij (?). Virtus humilitatis: Alia bona, alia melior, tercia optima. Bona, qua se homo subdit maiori et non prefert se equali. Melior, qua homo subdit se equali et non prefert se minori. Optima, qua homo subdit se minori et nulli se prefert. In vij modis diuersificatur humilitas: primi in deposicione temporalium possessionum; due in voce, quia humilitas contra verbum impaciencie et contra iactancie humiliter respondit; due in corpore, quia vilitas in habitu et mortificacio in carne; due in corde, quia commune consilium preponit proprio et propria voluntate postposita alterius se subdit imperio.
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steht derjenige Passus aus Jesus Sirach (Sir 24,25 f.), der schon in R erscheint.124 Das Wort des Propheten bildet ein Stück weit die Vorlage für die Darstellung, gerade dann, wenn man die einander zugewandten Tauben betrachtet, die das Bibelwort in ramis eius conversabantur volucres caeli (Dn 4,9) veranschaulichen. Der Sirach-Passus schliesslich verleiht der Darstellung eine soteriologische Prägung, die auch in der Christusfigur zum Tragen kommt.125 Wenden wir uns dem Lasterbaum zu, umfasst die Darstellung nun zusätzlich Teufelsgestalten und Tierfiguren (Abb. 65).126 Die Teufel führen die sieben lästerlichen Handlungen aus und sind mit entsprechenden Attributen ausgestattet. Der Baum entwächst der babylonischen Bestie, die im linken Text auf die ›Offenbarung‹ des Johannes (Apc 13,1) zurückgeführt wird.127 Die Tierfiguren sind bildliche Umsetzungen der ihnen beigegebenen Verse, geben aber nur je eines der darin genannten zwei Tiere wieder, also entweder einen Vogel oder ein anderes Tier. Bereits die Kirchenväter brachten die Tiere in Zusammenhang mit den Lastern. Wirkungsmächtig waren dann aber vor allem der spätantike ›Physiologus‹, später dann Bestiarien, Aviarien128 sowie Tugend- und Lastertierserien129 (darunter Tugend- und Lastervögelserien)130. Als Symbol für die superbia stehen in 124 Vgl. Teil A, Kapitel 4.1.2.1. 125 Christus formt die rechte Hand zum Segensgestus und hält in der linken ein Buch. So schon in R und M. Zur soteriologischen Bedeutung vgl. Teil A, Kapitel 4.2.3. 126 Fol. 66r. Die Laster werden in Anlehnung an die sieben Geistesgaben ebenfalls als spiritus bezeichnet. 127 Text rechts des Stammes: Huius arboris plantacio fructificat maliciam. Hijs datur affliccio, qui non deserunt illam. Defluit in ramos vicium radicis amare. Defluit in membra capitis iactura dolentis. 128 Hierzu zählt das oben erwähnte ›Aviarium‹ des Hugo von Folieto, das ursprünglich für Laienbrüder (conversi) konzipiert worden ist. Zu den Tieren als Sinnbild der Laster vgl. Kimminich, Des Teufels Werber, S. 191–197 (hier auch Bildzeugnisse). Neben der Gleichsetzung der Laster mit Tieren wurden auch verschiedene Bäume und weitere Reihungen mit ihnen parallelisiert. Ein eindrückliches Beispiel dafür bietet die Lilienfelder Handschrift StiB, Cod. 151 (fol. 255v/256r). Hier folgen auf Tier und Baum ein Körperteil des Menschen, eine Dämonenart und schliesslich ein Repräsentant eines alttestamentlichen Stammes. Vgl. Munscheck, Die Concordantiae caritatis, S. 101 ff. (Abb. 17). 129 Vgl. dazu: Gerhardt, Reinmars von Zweter ›Idealer Mann‹, S. 222–251. 130 Busch, Die Vogelparlamente, S. 264: »Auch hier [bei den Lastervögelserien] ist dasselbe Phänomen zu beobachten, welches für die Begriffsgeschichte und die Zusammenstellung von Tieren zu beobachten war: Die Serien sind weder im Hinblick auf die Anzahl der Vögel noch auf ihre Zuordnung zu einem
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unserem Fall der selbstherrliche Pfau131 und der aufgeblähte Frosch,132 für die Trägheit die in Höhlen ruhende Eule und der faule Esel,133 für die Fressucht der futterliebende Rabe134 und der gefrässige Bär.135 Die Tierexegese ist nur eine Möglichkeit von vielen, um die Sünder- und Lasterthematik bildlich auszugestalten. Daneben besteht die Personifizierung der Laster als Dämonen, ihre Verdinglichung als Bäume oder ihre Darstellung im Kontext der Kampfmetaphorik der ›Psychomachie‹.136 Das letzte Beispiel, das ich etwas ausführlicher behandeln will, reiht sich gut an das ›Speculum virginum‹ und an die Mettener Darstellung. Wie diese hat man es im Fall der Oxforder Handschrift MS . Douce 373 mit einer im
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Laster normiert.« Petra Busch stellt weiter fest, dass das Aufkommen von Vogelserien der Tradition von Vierfüsserserien keineswegs ein Ende setze. Vielmehr würden sie kombiniert (S. 268). Dies ist auch in W der Fall. Extollit plana quasi pavo gloria vana. Est tumide rane similata superbia plane. Der Pfau bezeichnet allgemein den Hochmut. Schmidtke, Geistliche Tierinterpretation, S. 370–373. Busch, Die Vogelparlamente, S. 271. Vgl. Physiologus (Ed. Seel), S. 49. Vgl. dazu den Oxforder Lastertraktat MS . Laud Misc. 544, fol. 8r: Pauo superbiam significat, cuius hec est natura, quod gaudet, quando laudatur et gloriatur ostendens pennas suas. Ita superbi gloriantur ostendendo diuitias suas. Tantum, quando pauo respicit pedes suos, qui turpes sunt, recolligit pennas suas et desinit gloriari. Ita superbus, si frequenter respiceret finem suum quandoque humiliaretur. Schmidtke, Geistliche Tierinterpretation, S. 293 f. Sic piger in strato quasi bubo cubit in antro. Est ut asellus iners omnique boni piger et expers. Die Eule bezeichnet auch allgemein die Sünde. Vgl. Hugo von Folieto, De avibus (Ed. Clark), XLIX . Zur Symbolik von Eule und Esel Schmidtke, Geistliche Tierinterpretation, S. 278–285. Busch, Die Vogelparlamente, S. 266–272. Zu Symbolik und Sprache des Raben, der in der Regel nicht von der Krähe unterschieden wird, vgl. Gerhardt, Die Sprachen, S. 155–189, hier: 164 f., und Ruberg, Signifikative Vogelrufe, S, 183–204. In nimiis escis quasi corwus gluto quiescis. Cui venter deus est velud ursus gluto vorax. Gleichsam von der Wurzel Babylon bis zu den Lastervögeln auf den Ästen ›reicht‹ auch der im Interpretationsteil einbezogene Oxforder Lastertraktat MS . Laud Misc. 544, fol. 8r. Hier beschliesst die Vogelreihe den Abschluss des Traktats und zugleich das zuletzt behandelte Laster der Unkeuschheit, für das Spatz, Rabe, Schwein und Wolf stehen. Spatz und Schwein symbolisieren auch in W die Unkeuschkeit: Passer ut alatur libidine non saciatur. Gaudet luxuriosus coitu quasi porco lutosus. Zur Symbolik von Rabe und Bär vgl. Schmidtke, Geistliche Tierinterpretation, S. 247 ff. und 382 ff. Hier ist auch an die Gleichsetzung der Laster mit verschiedenen Krankheiten zu denken. So erscheinen sie in Heinrich Kaufringers ›Sieben Todsünden‹. Vgl. dazu: Schumacher, Heinrich Kaufringers Gedicht, S. 310–313.
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Kloster entstandenen und im Kloster benutzten Tafelsammlung zu tun, genauer mit einer Sammlung von 32 textierten Bildtafeln.137 Gemäss dem lateinisch verfassten und niederländisch paraphrasierten Widmungsgedicht war Giles van den Hecke (1491–1538), oeconomus oder custos des bei Brüssel gelegenen Augustinerpriorats Seven Bronnen (Septifontana), für die Ausführung der Zeichnungen verantwortlich; sein Neffe Joos van den Hecke wird als Verfasser der Texte genannt. Als Entstehungsdatum wird das Jahr 1530 angegeben. Als Grundstruktur der darin enthaltenen Bilder ist die Rota-Form138 bevorzugt. Dazu stellen sich die Baumform und eher selten die Flügelform. Die reiche Textierung in Schwarz, Rot und Blau erfolgt auf Spruch- und Schriftbändern, auf Büchern, Tafeln, Radfelgen und Rahmungen. Dieses Formenrepertoire und die Tendenz, Texte als im Bild gezeigte Schriftlichkeit zu visualisieren, erinnern stark an Darstellungen aus Blockbüchern. Jede Tafel ist einem Thema gewidmet und mit Titelwörtern überschrieben – beispielsweise Caritas Dei (fol. 3r), Speculum misericordie (fol. 9r), Ecce homo (fol. 13r), Ecclesia (fol. 31r); alle zusammen ergeben sie eine Summa an moralisiertem Bibelwissen, das hier in ›visueller Exegese‹ didaktisch aufbereitet wurde. Nahezu alle Texte stammen daher auch aus der Bibel. Das bebilderte Werk wird in einer anderen Arbeit desselben Autors als Labyrinthus bezeichnet,139 was im Hinblick auf die hier angehäuften Exzerpte und auf die dargebotene Fülle an Einzelbildern innerhalb 137 Das Format beträgt 410 × 280 mm. Die Bilder befinden sich jeweils auf der Recto-Seite. Auf der Verso-Seite leiten sechs lateinische Hexameter und zwölf kreuzgereimte Verse in niederländischer Sprache das Thema ein. Den Tafeln vorgebunden sind drei Pergamentblätter, die ein Widmungsgedicht enthalten. Vgl. A Summary Catalogue of Western Manuscripts (Ed. Madan), Bd. 4, Nr. 21948. Vgl. auch: The Douce Legacy (Ed. Gillam), S. 166 f. Die Katalogangabe lässt offen, ob es sich hier um einen Druck oder eine exakte Nachzeichnung eines Druckes handelt. In jedem Fall ist hier der Zusammenhang zwischen Handschrift und Druck so eng, dass unklar bleibt, ob der Druck eine Handschrift als Vorlage benützte oder die Handschrift eine Abschrift des Druckes darstellt. 138 Die weitere Unterteilung erfolgt vielfach mittels Segmentierung oder durch die Insertion kleinerer Quadrate oder Kreise. 139 Es handelt sich um eine Chronik der Abtei. Die Textstelle lautet: Item opus figuratum insigne, titulo Labyrinthi, qu‹ae› e sacris paginis meditatus est, a calamo scitissimo deliniavit depinxitque (Zit. nach Evans, The Labyrinths, S. 41 [Anm. 140], mit Emendation von mir). Den Nutzen der Tafeln formuliert Giles im Widmungsgedicht: Corpore si periit uobis tamen optima vitae/ exempla et pictas ipse reliquit opes./ Scilicet hoc praesens ac prestans arte volumen/ mystica de sacris dans simulachra locis.
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der Gesamtkompositionen der Tafeln zutreffend erscheint, besonders aus der Perspektive der zu unterweisenden Novizen. Den Gebrauch kann man sich gut als Lehrmittel für Novizen vorstellen, wie es Michael W. Evans vermutet hat.140 Einen prominenten Platz nehmen die Darstellungen der Tugenden und Laster ein, die meistens mit ›Speculum‹ betitelt werden. Ich greife die als ›Der zweimal tote Baum‹ (arbor bis mortua) betitelte Darstellung heraus (Abb. 66).141 Der lateinische Text auf der Verso-Seite bereitet den frater amicus auf die Drastik des gegenüberliegenden Bildes vor und rät ihm dazu, den Thron des Teufels mit gebührender Angst wahrzunehmen: Arbor cum fuerit bis mortua, frater amice, Cerne timens solium principis igniferi. Nil sanctum, nihil hic iustum, nil corde pudicum, Non humile aut sanum est, pessima cuncta vides. Terribilem metuas, dum tintinnabula pulsat, Belzebub ex sexu condita femineo.142
Der Text nimmt Bezug auf Beelzebub, der die im weiblichen Geschlecht begründeten Laster verkörpert. Die Rückführung der Laster auf den Sündenfall ist ein zentraler Inhalt in der gegenüberliegenden Darstellung des nach oben wie nach unten wachsenden Baumes. Am himmelwärts gerichteten Baum hängt, das Bild des Gekreuzigten pervertierend, eine nackte Frauengestalt, die von der Taille abwärts in Gestalt einer Schlange den Baumstamm umwindet. In ihren Händen hält sie einen Apfel und einen Totenschädel.143 Inschrift und Beischrift machen den symbolischen Gehalt der Figur deutlich: Die Frau steht für die verschiedenen Ausgeburten des Teufels144 und bezeichnet das Urlaster des Neides: invidia diaboli mors introivit in orbem terrarum (Sap 2,24).145 An der Wurzel hält eine dieser 140 Evans, The Labyrinths, S. 34–41 (Abb. 11–16). Evans gibt einen kurzen Abriss der Tafelinhalte. Es ist meines Wissens die einzige Arbeit, die sich mit der Tafelsammlung befasst. 141 Fol. 5r. 142 Ebd. 143 Beischrift zum Apfel: Peccatum prime preuaricacionis. Beischrift zum Totenkopf: Contipendium (sic!) peccati mors. 144 Inschrift: Leuiathan, Serpens antiquus, Diabolus et Sathanas. 145 Hieraus erklären sich auch Darstellungen des Neides als Schlange. Vgl. die bereits erwähnte Lilienfelder Lasterdarstellung (Anm. 128). Vgl. Augustinus, Sermones, 14a,6 (PL 38,115) und 314,2: Nam quod qui superbus est, daemone plenus est. Quod autem qui invidus est, sine daemone esse non possit. Nam quod et ille qui fornicatur, a diabolo possidetur (PL 39,2348).
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Ausgeburten ein aufgeschlagenes Buch vor sich. Es handelt sich um Asmodeus, den Dämon des Verderbens (Tb 3,17), der von der hurenden Pseudo-Prophetin Jezabel (Apc 2,20) und einer Personifikation der meretrix magna sekundiert wird. Beide greifen sie nach dem babylonischen Kelch, der Greuel (abominatio) und Hurerei (fornicatio) zugleich bedeutet. Im Buch stehen die beiden Sünden des Fleisches geschrieben: Edere et fornicari. Man kann diese auf die Lastergesellschaft zumeist alttestamentlicher Gestalten im wirr verzweigten Astwerk beziehen. Luxuria und gula stehen hier für den Tod des Körpers, für den ersten Tod des Sünders im Diesseits.146 Beide bilden gleichsam die Spitze des Lasterlebens.147 Von der Wurzel des Baumes ausgehend verlaufen zwei Äste nach unten. An ihnen sind sieben mit je einem Hauptlaster und einer Sünderin beschriftete Glocken148 festgemacht, denen Frauengesichter eingezeichnet sind. Am höchsten und unmittelbar an der Wurzel hängt die Glocke der superbia. Die Klöppel, Zungen imitierend, sind über Linien mit Beelzebub verbunden: Superbia (Athalia) mit dessen Hörnern, auaritia und inuidia (Dalila und uxor Job) mit den Schultern, luxuria und iracundia (Herodias und Jezabel) mit den Händen, gula und acedia (filia Herodi und domina Joseph) schliesslich mit den Füssen. Beelzebub, der den Titel princeps demoniorum führt und über den infernus inferior herrscht, präsentiert sich in pervers-lächerlicher Pose und hält verschiedene Sünder gefangen; dazu zählen auch die in den untersten Astwindungen erscheinenden Gog und Magog sowie Ola und Oliba. Sie gehören alle zur Gemeinschaft der Sünder, die in den Texten auf den beidseits unter dem Baum angebrachten Tafeln mit einem doppelten Ve beklagt werden.149 Der erste Tod im Leben führt unweigerlich zum zweiten Tod der Seele. Die dritte Teufelgestalt befindet sich in der Baumkrone und stellt Lucifer dar, der sich über Gott erheben möchte: super astra dei exaltabo solium meum (Is 14,13). Seine Nachahmer sind ebenfalls ins Bild 146 Insgesamt 47 Personen. Am treffendsten verkörpert vielleicht Holofernes (am linken Seitenrand vis-a`-vis der Baumwurzel) die beiden fleischlichen Sünden. In der Lastergesellschaft befindet sich auch Martin Luther (unten links unmittelbar über dem eingerahmten Textfeld). 147 Die beiden fleischlichen Sünden bilden in der Verkettung der Laster den Schluss. Vgl. dazu den Oxforder Lastertraktat MS . Laud Misc. 544, fol. 4v: Et ita oritur castrimargia, quia uenter mero estuans, facile despumat in libidinem, quia uenter et genitalia uicina sunt, et sic de castrimargia oritur luxuria [. . .]. Vgl. Teil A, Kapitel 4.2.5. 148 Beischrift: Campanile inferni. 149 Is 1,4 und Ecl 41,11.
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gesetzt: links befindet sich Simon Magus,150 rechts der Antichrist.151 Unmittelbar über dieser teuflischen Trias tut sich ein feuerspeiender Himmel auf. Gott lasse Feuer und Unwetter über die Sünder herabfallen; dies sei der Anteil ihres Kelches, bezeugt ein Wort des Psalmisten: Pluit Dominus super peccatores laqueos. 152 Ignis et sulphur et spiritus procellarum pars calicis eorum (Ps 10,7).153 Die Titelleiste schliesslich stellt die als conventus malignantium (Ps 63,3) und synagoga sathanae (Apc 2,9)154 bezeichnete Lastergesellschaft unter das Motto der Dummheit, das antithetische Pendant also der im Widmungsgedicht der Handschrift propagierten und an vielen Tugenden ausgebreiteten sapientia christiana.155 Die hier vorliegende Lasterdarstellung erinnert in vieler Hinsicht an den Oxforder Traktat, der anhand unzähliger alttestamentlicher Vorbilder die Hauptlaster vor eschatologischer Drohkulisse abhandelt. Der Gipfel der Perversion wird hier wie dort im Laster der luxuria erreicht.156 Es geht nicht – wie noch bei der Darstellung im ›Speculum virginum‹ – um eine begrifflich differenzierende und abstrahierende Auseinandersetzung mit den Lastern, sondern um ihre Anreicherung mit konkreten Beispielen. Das Wesen der Laster soll ›ablesbar‹ sein an den sie ausführenden Missetätern: Die Äste tragen nicht mehr Begriffe, sondern ›Geschichten‹.157 Die durch den Baum vorgegebene Ordnung beschränkt sich auf die in drei Dämonenreiche eingeteilte Vertikale und auf eine Wurzel im Zentrum, aus der ein 150 Ascendam super altitudinem nubium (Is 14,14). 151 Similis ero altissimo (Is 14,14). 152 Vgl. Augustinus, Enarrationes in Psalmos (Ed. Dekkers/Fraipont), X,10. Augustinus unterscheidet hier zwischen den Wolken (Propheten allgemein) und dem Regen (Peudo-Propheten) und bemerkt zu letzterem: Sic ordinantur pseudoprophetae a Domino Deo, ut de his laqueos super peccatores pluat. 153 Ebd. X ,11: Haec poena eorum est atque exitus, per quos blasphematur nomen Dei, ut primo cupiditatum suarum igne uastentur, deinde malorum operum putore a coetu beatorum abiciantur, postremo abrepti atque submersi, ineffabiles poenas luant. Haec enim pars est calicis eorum; sicut iustorum calix tuus inebrians quam praeclarus! 154 Die Zitate befinden sich auf zwei Schriftbändern, die seitlich herabhängen. 155 Inschriften: Gens absque consilio et sine prudentia (Dt 32,28). Populus stultus et insipiens (Ier 4,22 und Ecl 50,28). 156 Oxford, Bodl., MS . Laud Misc. 544, fol. 7r. 157 Zuerst wird der Name der Person angeführt, danach das Laster. Die Einteilung der Laster erfolgt nicht aufgrund einer gleichmässig verteilten Anzahl von Unterlastern, sondern ist durch die Person vorgegeben. Es erscheinen daher auch Hauptlaster im Astwerk und dazu Laster, die von den traditionellen abweichen.
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Baum nach oben und unten (bis mortua) wächst. Die Memorisierung erfolgt weniger über die Baumstruktur als über memorisierbare Erzählungen, die auf die loci sacri verweisen. Lasterwissen prägt sich dem Novizen dreifach ein: durch das Verweisen auf Bibelstellen, durch das Erzählen von Geschichten und mittels der Bild für Bild zu erschliessenden Ordnung des Labyrinths.
2.4 Mikrokosmos, Makrokosmos, Artes Die mittelalterliche Vorstellung von der Entsprechung beider Kosmen baut auf Einzelanalogien auf, die im Makrokosmos begründet sind: auf seiner materiellen Beschaffenheit (vier Elemente), auf seiner numerischen Struktur, auf seinen astralen Konstellationen und auf seiner Prägung als Schöpfung Gottes. Leonard Barkan unterscheidet zwei Grundauffassungen in der spätantiken und mittelalterlichen Behandlung der Kosmosanalogien: einen antiken Traditionsstrang, der sich an körperzentrierten Entsprechungsdogmen festmachen lässt (literal microcosm), und eine christlich überformte Kosmosidee, der ein christliches Weltverständnis zugrunde liegt und die mehr auf geistige Dispositionen abzielt (figurative microcosm).158 Beide Kategorien erweisen sich als nützlich, auch dann, wenn es darum geht, Mikrokosmos-Makrokosmos-Darstellungen zu deuten, die sich schon bald nach der Entstehung der naturphilosophischen Grundwerke des 12. Jahrhunderts etwa eines Honorius von Autun oder Wilhelm von Conches in Handschriften finden lassen. Es sind dies anspruchsvolle, sorgfältig ausgeführte Darstellungen, die, symbolisch verdichtet, als eine Art ›Denkbild‹ funktionieren. Ein solches Beispiel ist die Mikrokosmos-Darstellung in der Prüfeninger Handschrift München, BSB , Clm 13002 von 1158 bzw. 1165.159 Die Textzusammenstellung wurde 1158 unter Abt Erbo von Prüfening von dem 158 Nature’s Work, S. 27 f.: »But Platonic and Pauline Christianity, which viewed the body as a mere shell, coupled with a certain degree of anatomical empiricism in the Middle Ages and the Renaissance, tended to diversify the microcosmic idea into two strangs: the figurative microcosm, which views man – rather than his body – as a pre´cis of all creation and seeks in that perception a spiritual or intellectual truth, and the literal microcosm, which assumes an equivalence of man’s body and the cosmos and uses this equivalences as some sort of scientific key to the nature of the world and man.« 159 Klemm, Die Regensburger Buchmalerei, S. 39–58, hier: 50 (Nr. 34, Taf. 24 ff.).
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Bibliothekar Wolfger in Zusammenarbeit mit dem Schreiber Swicher durchgeführt. 1165, also bereits in der Amtszeit des Abtes Eberhard, wurde dem Buch eine Lage (fol. 1–7) vorgebunden. Diese besteht aus einer Reihe von Text-Bild-Seiten zu Themen des Leibeswohls und Seelenheils, einem Schatzverzeichnis und einem Bibliothekskatalog des Prüfeninger Klosters. Im Hauptteil überliefert die Handschrift das alphabetisch angelegte ›Glossarium Salomonis‹, eine »in Lexikonform gebrachte, komprimierte Ausgabe des mittelalterlichen Wissens«160, und ein griechisch-lateinisches Wörterbuch namens ›Hermeneumata Pseudodositheana‹. Die Handschrift dokumentiert eindrücklich das ambitiöse Interesse zweier hervorragender Äbte an möglichst enzyklopädischem und wissenschaftlich fundiertem Wissen. Die Handschrift beginnt mit Miniaturen, die in Registern angeordnet sind und verschiedene Einsätze des Brenneisens illustrieren (fol. 1v–2v). Jede Miniatur – es sind insgesamt 22 – zeigt eine Autorität aus der Medizin bei der Behandlung eines spezifischen Körperteils. Daran schliessen sich fünf anatomische Schaubilder an, die den Aufbau des menschlichen Körpers unter fünf Aspekten beleuchten (fol. 2v–3r).161 Den medizinischen Themen folgen Darstellungen der Laster (fol. 3v)162 und Tugenden (fol. 4r).163 Als Autoritäten erscheinen hier Johannes Evangelista und David. In gleicher Funktion stehen die Tugend- und Lasterpersonifikationen, die jeweils einer alttestamentlichen Szene zugewiesen sind. Der Evangelist164 weist mit seiner Hand auf die erste Lasterszene, die die Filia Babilonis bei der Übergabe eines Kelchs an Cupiditas zeigt; David165 auf der Gegenseite deutet auf die Filia Syon, die den Kelch bereits an Caritas übergeben hat.166 Beide Seiten enden wiederum mit kontrastiv angelegten Szenen. Das letzte Laster, die Voluptas, exemplifizieren die getöteten Lasterpersonifikationen Achab und Jezabel;167 die zuletzt angeführte Tugend, die Humilitas, setzt David eine 160 Ebd. S. 50. 161 Jedem Bild ist ein Text beigegeben. Die einzelnen Teile sind folgendermassen überschrieben: hystoria arteriarum non pulsantivarum (Venen), hystoria arteriarum que procedunt ex corde (Arterien), hystoria diuisorum (Knochen), hystoria nervorum (Nerven), hystoria lacertorum (Muskeln). 162 Titelsatz: Quot repleta malis, sit vite sors animalis. Ex his nosse datur, quo cognita precaveatur. 163 Titelsatz: Quam fecunda bonis, sit vita comes rationis. Ex his perpendat, et ad hanc mens sobria tendat. 164 Spruchband: De ira fornicationis eius bibent omnes gentes (Apc 18,3). 165 Spruchband: Inebriabuntvr ab vberitate domus tue (Ps 35,9). 166 Dazu: Lutz, Spiritualis fornicatio, S. 262 f. (Abb. 24 f.). 167 Titelsatz: Perdidisti domine omnem, qui fornicatur absce.
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Krone auf.168 Die Himmelsstadt Jerusalem, die bereits als Stadtvignette hinter Caritas erscheint, füllt die nächste Seite. Dann folgen das Schatzverzeichnis des Klosters169 (fol. 5v) und der Bibliothekskatalog (fol. 6r6v).170 Eine Mikrokosmosfigur auf fol. 7v beschliesst die illustrierten Seiten (Abb. 67),171 bevor dann das Glossar beginnt. Die Vorlage für die Figur bildete hier Honorius’ ›Elucidarium‹, das im Bibliothekskatalog verzeichnet ist.172 Die Entsprechungen zwischen Mikrokomos und Makrokosmos gründen auf den vier Elementen (Analogie zwischen den vier Elementen und den fünf Sinnen, Analogie zwischen den vier Elementen und den vier Körperzonen) und auf den sieben Planeten (Analogie zwischen den sieben Kopföffnungen und den sieben Planeten). Impliziert ist auch die numerische Festlegung der Analogien auf die Zahlen 4 (Quadrat: Erde und Körper) und 7 (Kreis: Himmel und Kopf). Dazu kommen zeichnerische Akzente wie die Gestaltung des Kopfes als Haupt Christi.173 Die Mikrokosmosfigur ver168 Titelsatz: Humilibus nunc dat gloriam. 169 Die Liste ist auf 1165 datiert. Um sie herum sind drei einander zugewandte Personenpaare sowie eine Christus- und zwei Engelfiguren angeordnet. Oben befinden sich der Klostergründer, Bischof Otto I . von Bamberg, und der Klosterpatron Georg. Innerhalb des die Liste umfassenden Schriftbandes sind der damals unlängst verstorbene Abt Erbo (1121–1162) und sein Nachfolger Eberhard (1163–1166) dargestellt. Unter der Liste befinden sich Erzbischof Eberhard I . von Salzburg, der 1125 in das Benediktinerkloster eingetreten ist. Ihm gegenüber ist der Apostel Paulus dargestellt. Die hier vorgestellte Personengruppe von Heiligen, Verstorbenen und Lebenden zeugt von der Blüte des unter Abt Erbo weithin ausstrahlenden Benediktinerklosters, das 1109 als Hirsauer Reformkloster gegründet wurde. 170 Fol. 5r und 7r sind leer. 171 Das heute am Schluss stehende Blatt mit der Mikrokosmosfigur bildete ursprünglich den Anfang. 172 Fol. 6v. Vgl. Elucidarium (Ed. Lefe`vre), I,59. 173 Eine ähnlich gelagerte Darstellung einer Mikrokosmosfigur befindet sich in der Aldersbacher Handschrift München, BSB , Cgm 2655, fol. 104v (13. Jh.). Der Darstellung ist auf der gegenüberliegenden Seite eine Abbildung des Makrokosmos beigegeben. Die Doppelseite befindet sich zwischen Thomas’ von Cantimpre´ ›De naturis rerum‹ und Wilhelms von Conches ›Philosophia mundi‹. Vgl. Zahlten, »In principio«, S. 47–58, hier: 55 f. (Abb. 11 f.). Vgl. ebenfalls die chronologische und astronomische Sammelhandschrift aus Prüfening: Wien, ÖNB , Cod. 12600 (um 1200). Die Handschrift überliefert im zweiten Teil mathematische und astrologische Traktate, die in lockerer Abfolge bebildert sind. Darunter befindet sich eine Mikrokosmos-Darstellung (fol. 29r). Im dritten Teil folgt Bedas ›De temporum ratione‹. Vgl. Klemm,
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dichtet gleichsam die Grundbedingungen menschlicher Existenz, die auf den vorausgehenden Seiten aus der Perspektive von Leib und Seele ausgelegt wurden. Die Struktur ist durchaus mit jener von R vergleichbar, wo die Inhalte ebenfalls auf die Mikrokosmos-Makrokosmos-Thematik hin angelegt sind. Die vielfache Analogiebildung strukturiert und hierarchisiert beide Kosmen, besonders in der Bildtradition. Wie der Mensch nach Seinsstufen geordnet werden kann, so verhält es sich auch mit der Welt, die aus unterschiedlichen Stufen der Schöpfung aufgebaut ist. So liest man bei Gregor: Omnis enim creaturae aliquid habet homo. Homini namque commune esse cum lapidibus, vivere cum arboribus, sentire cum animalibus, intelligere cum angelis.174 Die Mikrokosmos-Makrokosmos-Idee kann über elementare Gleichsetzungen hinaus jederzeit mit der christlichen Schöpfungsdoktrin verschmolzen werden, wonach der Mensch ad imaginem et similitudinem Dei geschaffen wurde.175 Ich will im Folgenden die (christlich geprägte) Rezeption antiker Kosmostheorien anhand einiger Beispiele thematisieren. Ich versuche, wie schon bei der Tugend-Laster-Thematik, zeitlich weit auseinanderliegende Zeugnisse in einen thematischen Zusammenhang zu bringen. Dabei soll wiederum vom gelehrten Umfeld des 12. Jahrhunderts ausgegangen werden, diesmal von der Kosmosdiskussion im Umfeld der Viktoriner. Es wird dann zu fragen sein, wie sich solches Wissen im Spätmittelalter ausformte, weiter, wie die Inhalte gewichtet und gewertet wurden, wie sie allenfalls umgewertet oder neu gewertet wurden. Entsprechend werde ich mit der Artes-Thematik verfahren. Gottfried von St. Viktor verfasste um 1185 eine bemerkenswerte Schrift mit dem Titel ›Microcosmus‹, bemerkenswert darum, weil hier die Mikrokosmos-Makrokosmos-Analogie konsequent aufgeht in der Kommentierung des Hexaemerons – conferamus nostrum microcosmum magacosmo iuxta narrationem moysi in exameron,176 bemerkenswert auch, weil GottDie Regensburger Buchmalerei, S. 39–58, hier: 56 f. (Nr. 46). Verzeichnis astrologischer und illustrierter Handschriften (Ed. Saxl), Bd. 2, S. 159–163 (Abb. 21). 174 Homiliae in Evangelia (Ed. E´taix), XXIX . Die Wendung homo omnis creatura wird von mittelalterlichen Autoren vielfach benützt. Vgl. dazu: Allers, Microcosmus, S. 319–407, hier: 345 f. Barkan, Nature’s Work, S. 29 f. 175 Vgl. Allers, Microcosmus, S. 350. 176 Gottfried von St. Viktor, Microcosmus (Ed. Delhaye), I,20. Vgl. Finckh, Minor Mundus Homo, S. 187–192.
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fried darin an bedeutsamer Stelle eine Einteilung der Philosophie integriert. Das Ziel seiner Schrift sei es zu fragen, warum der Mensch Mikrokosmos genannt werde, um dadurch aufzuzeigen, wie gross seine Würde sei.177 Das erste Buch beginnt mit der Erörterung des Namens mundus von zwei Warten aus: von der philosophischen Warte und von der theologischen. Die Philosophen würden unter ›Makrokosmos‹ die visibilis mundi machina verstehen, unter ›Mikrokosmos‹ aber den Menschen. Die Sicht der Theologie vertritt anhand von Io 1,9 f. der magnus theologus Johannes.178 Viermal erscheine hier das Wort mundus, das letzte Mal – mundus eum non cognoscit – in der Bedeutung ›Mensch‹. ›Mensch‹ bedeute aber auch ›mundus‹, wenn der Evangelist den Baptisten, auf Christus vorausweisend, sagen lasse: Ecce agnus dei, ecce qui tollit peccata mundi.179 Zwei weitere grundlegende Unterscheidungen werden vorgenommen: Philosophen wie Theologen würden, wenn sie die Analogie zwischen Mensch und Welt gebrauchen, nicht an das Äussere des Menschen denken, sondern an sein Inneres, den Geist (spiritus).180 Unterscheiden würden sich die inspectiones von Philosophen und Theologen aber dadurch, dass der Philosoph jenen Teil des menschlichen Geistes betrachte, der ihm durch den Schöpfer von Natur aus gegeben sei – naturalia a deo creatore sibi data, der Theologe aber jenen Teil, der ihm durch den Erlöser gnadenhaft zukomme – gratuita a deo recreatore sibi superaddita.181 Was nun den Philosophen interessiere, sei die Ähnlichkeit, die den menschlichen Geist aufgrund des Naturgegebenen mit der Welt verbinde – inspexerit similitudinem quem habet in naturalibus cum mundo,182 genauer: einerseits die vier Elemente, andrerseits die vier Elementareigenschaften des Geistes. Hier würden sich Erde und Sinneswahrnehmung (sensualitas), Wasser und Vorstellungskraft (ymaginatio), Luft und Vernunft (ratio) sowie Feuer und Einsicht (intelligentia) ent-
177 Ebd. I ,3: Est itaque propositum nostrum principale docere lectorem cur mundi nomine latine uel microcosmi nomine grece homo censeatur, ac per hoc quante dignitatis homo sit astruatur. 178 Erat lux uera quae illuminat omnem hominem venientem in mundum. In mundo erat et mundus per ipsum factus est et mundus eum non cognoscit. 179 Io 1,29. 180 Gottfried von St. Viktor, Microcosmus (Ed. Delhaye), I,18: Sciendum igitur quod neque philosophus neque theologus hominem forinsecus inspexerunt dum eum uel mundi uel microcosmi nomine appallauerunt, mentis potius oculos ad spiritum qui intus erat defixerunt. 181 Ebd. I ,18. Vgl. dazu: Delhaye, Le Microcosmus, S. 60. 182 Gottfried von St. Viktor, Microcosmus (Ed. Delhaye), I,19.
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sprechen.183 Das Licht des ersten Tages ermögliche es dem Menschen, die Welt über die fünf Sinne wahrzunehmen,184 die Erschaffung des Firmaments am zweiten Tag, das Wahrgenommene als Vorstellung zu behalten.185 Die Sammlung der unteren Wasser am dritten Tag186 und – so ergänzt Gottfried den Bibeltext – die Sammlung der oberen Wasser187 seien nun für die Vernunft und die höhere Einsicht reserviert. Hier schiebt Gottfried eine Divisio philosophiae ein, wobei er die Philosophie nach dem Vorbild Hugos in mechanische, praktische, theoretische und ›eloquente‹188 Wissenschaften einteilt. Die unteren Wasser kämen dem ersten Paar zu, also den mechanischen und praktischen Künsten, insofern als diese Vernunft erforderten; die oberen Wasser dem zweiten Paar, insofern als diese Wissenschaftszweige höhere Einsichten vermittelten. Damit schliesst das erste Buch und damit auch die anfangs aufgeworfene philosophische Frage, warum der Mensch Mikrokosmos genannt werde. Das zweite und dritte Buch handeln von den letzten drei Tagen der Schöpfung und betreffen die inspectio des Theologen, die über die Ähnlichkeit des Menschen mit Gott Aufschluss geben soll. In dieser durch die Gnade begründeten Ähnlichkeit liege die Würde des Menschen in dieser Welt: inspexerit gratuita [. . .] per gratiam in quibus similitudinem habet cum deo, que est dignitas hominis in hoc mundo.189 Drei göttliche Interventionen ermöglichen dem Menschen, zur Wahrheit erleuchtet zu werden (illuminatio ad veritatem), nach dem Tugendhaften zu streben (affectio ad virtutem) und zu guten Taten fähig zu sein (facultas ad operationem).190 Die Erleuchtung zur Wahrheit fällt nun auf den vierten Schöpfungstag. Den Himmelslichtern entsprechen im allegorischen Sinn Christus und die Kirche, im moralischen Sinn Glaube (fides) und Weisheit (scientia Christi).191 Die Weisheit komme deswegen der Sonne gleich, leuchte darum mehr, weil sie aus sich selbst strahle (a se); der Glaube entspreche dem Mond, leuchte darum weniger, weil sein Licht von der Sonne komme 183 Nach Boethius, Consolatio philosophiae (Ed. Gigon), V, pr. 4, bzw. Aristoteles, De anima III ,3,427b6. 184 Gottfried von St. Viktor, Microcosmus (Ed. Delhaye), I,21. 185 Ebd. I ,22. 186 Ebd. I ,52. 187 Ebd. I ,64. 188 Umfasst die Wissenschaften des Triviums. 189 Gottfried von St. Viktor, Microcosmus (Ed. Delhaye), II ,76. 190 Ebd. II ,82. 191 Ebd. II ,87. Ich übersetze scientia Christi als genitivus subjectivus, ohne die ›objektive‹ Bedeutung ausschliessen zu wollen, also »die Wissenschaft, die sich mit Christus befasst«, d. i. die Theologie.
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(aliunde). Die moralische Auslegung geht auf in der allegorischen: Die scientia, das grosse Licht (Sonne), das mehr leuchte, sei Christus – filius dei qui ministrauit lumen verbi –, der die beati im ewigen Leben erleuchte; die fides aber das kleine Licht (Mond), das die fideles (d. i. die Kirche), die dem »Wort des Lebens« dienen – qui ministrauerunt uerbum uite – in der »Finsternis dieser Nacht« erleuchte: Ergo fides quasi minus luminare illuminat fideles in huius noctis caligine tenebrosa, scientia quasi maius luminare illuminat beatos in eterne uite luce clara. 192 Ich breche hier ab, denn ein Abriss der Struktur und des Inhalts des ›Microcosmus‹ soll genügen, um zu zeigen, dass die Amalgamierung von antikem Analogiedenken und christlichem Welt-, Mensch- und Wissenschaftsverständnis einen Bildungshorizont aufschliesst, der sich noch in R greifen lässt. Auch hier werden Welt, Mensch und Wissen im Spannungsfeld von Antike und Christentum vorgestellt, freilich bleiben die Analogien assoziativ aneinandergereiht und nebeneinander gestellt, statt dass sie, systematisch ineinander geschoben, an Kohärenz und Dichte gewännen, wie es bei Gottfried der Fall ist. Analogiereihen begegnet man auf der zentralen Doppelseite von R (Tafeln VIII und IX ) fünf Mal, zwei Mal, betreffen sie den Körper, drei Mal den Geist. Auf fol. 4v (Tafel VIII ) beginnt die Reihung mit der Gleichsetzung der Sinne mit den Elementen (Mikrokosmosmann) (Tafel VIII.4.1) und endet bei der herausragenden Rolle der Augen (›Fundament‹), die Sonne und Mond gleichen und für eine niedrigere und höhere Erkenntnisstufe stehen könnten (Tafel VIII.4.2).193 Die Beischrift besagt, dass der Mensch in seiner Struktur und Substanz der erstgeschaffenen ›nachgemacht‹ sei: beseelt mit dem Hauch des Lebens, ausgestattet mit Vernunft und gefestigt durch die Tugenden. Die Hierarchisierung der Analogien nach Körper und Geist sowie ihre Einbindung in die Schöpfung des Menschen kennzeichnen den Übergang von einem antik-literalen zu einem christlich-figurativen Analogieverständnis:194 Die Abbildung des Makrokosmos im Mikrokosmos gleitet wie selbstverständlich hinein in die Auffassung des Schöpfers als Bild und des Geschöpfes als Abbild.
192 Ebd. II ,88. 193 Der Text ist an dieser Stelle nicht klar: dy doch erleuchten daz firmament dez antlucz vnd dez ganczen leibez (Tafel VIII.4.2). Es scheint mir naheliegend, dass sich die Sonne auf die Erleuchtung des Gesichtes bezieht, übertragen also auf eine höhere Erkenntnis, der Mond auf die Erleuchtung des Körpers, also auf eine niedrigere Erkenntnis. 194 Vgl. die oben vorgenommene Unterscheidung (Anm. 158).
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Eine derart moralisierte Analogiebildung bietet nun an bezeichnender Stelle die Beischrift zum Zwerg (Tafel IX.4), ein ›Moralia‹-Zitat, das man im Kontext des hymnischen Lobes auf die Grösse Gottes zu situieren hat (Iob 11). Verglichen werden nun Schöpfer und Geschöpf über die Schöpfung, die in vier Richtungen weist, in die Höhe des Himmels und in die Tiefe der Hölle sowie in die Weite der Erde und in die Breite des Meeres (Iob 11,8 f.). Die in R zitierte Stelle setzt den Menschen jeweils mit einer dieser vier Weltdimensionen gleich. Das Zitat steht in den ›Moralia‹ im Kontext mehrerer Vergleiche zwischen Schöpfer und Schöpfung, die die Stellung des Menschen angesichts der Grösse Gottes relativieren. Gott sei nicht nur der Himmel wie der Mensch – homo ipse sit caelum –, versichert Gregor unmittelbar im Anschluss an das Zitat, sondern höher als der Himmel – caelo est excelsior –, weil er den Menschen durch die Fülle seiner Macht übertreffe, auch dann, wenn dieser sich über sich selbst erhebe. Gott sei tiefer als die Hölle, weil er zweifellos schärfer urteile, als der in Versuchungen verfangene menschliche Geist sich selbst zu erforschen vermöge; weiter als die Erde, weil auch die menschliche Hoffnung in keiner Weise die Früchte des Lebens, die Gott am Ende der Zeit erstatte, erfassen könne; breiter schliesslich als das Meer, weil der bewegliche menschliche Geist vieles über die Zukunft zusammentrage, aber wenn er nun beginne, das, was er vermutet habe, wahrzunehmen, erkenne er, wie beschränkt der menschliche Geist in seinen Vermutungen sei.195 Die wesentlichen Unterschiede zwischen Gott und Mensch werden am Schluss der Auslegung im Rahmen einer Handlungsanweisung erneut aufgerollt: Gott zeige seine Weite im Lieben, seine Breite im Ertragen, seine Höhe, indem er unsere Intelligenz, aber auch unsere Wünsche übertreffe, seine Tiefe, indem er über die verborgenen und unerlaubten Gedankengänge rigoros urteile.196 Der moraltheologische Wissenshorizont, dem die Beischrift zum Zwerg entnommen ist, relativiert die Weitsicht des Zwerges auf den Schultern des Riesen, freilich auf andere Weise als die Beischrift neben dem Riesen, die besagt, dass die moderni mit 195 Gregor, Moralia in Iob (Ed. Adriaen), X,9,15: Sed caelo est excelsior, quia potentiae eius magnitudine uincimur, etiam cum super nosmetipsos eleuamur; inferno profundior quia nimirum plus iudicat quam ipse se humanus animus in temptationibus inuestigat; terrae longior quia fructus uitae, quos in fine retribuit, nequaquam nunc uel spes nostra comprehendit; mari latior quia humana mens fluctuans multa de his quae uentura sunt conicit, sed cum iam cernere quae aestimauerat coeperit angustam se fuisse in sua aestimatione cognoscit. 196 Ebd.
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Studium und Verständnis den Wissensstand der antiqui erreichen können.197 Hier wird menschliche Erkenntnis neu im Spannungsfeld von Wissen und Moral gewertet. Moral begrenzt die Erkenntnis im Guten wie im Schlechten. Der Mensch ist Himmel und Hölle, ist gut und schlecht, ist sapiens und insipiens, schwankt zwischen Mehrwissen und Unwissen, wohlwissend, dass der Allwissende höher ragt und tiefer schöpft. Das moralisierte Plinius-Zitat, das ebenfalls Teil der Beischrift ist, etabliert den Zusammenhang von Wissen und Moral von neuem: Die zwergenhafte Gestalt der moderni sei die Folge ihrer Weltliebe. Die moderni, die schon in einer ›alten‹ Welt leben, nähern sich der Erde, der sie im Schlechten zugewandt sind; darum sind sie klein. Die antiqui, die noch in einer ›jungen‹ Welt lebten, entfernten sich von der Erde, der sie im Guten abgewandt waren; darum waren sie gross.198 Ich will die Riesen-Zwerg-Thematik vorerst verlassen, um die spätmittelalterliche Aneignung und Ausformung antiken Kosmoswissens an zwei weiteren Beispielen aufzuzeigen. Das für die Untersuchung des Text-BildVerhältnisses bereits herangezogene ›Tübinger Hausbuch‹199 (Mitte 15. Jh.) behandelt astronomisch-astrologisches Wissen in kompendienhafter Breite. Die Mikrokosmos-Makrokosmos-Thematik wird darin auf den Seiten 35r bis 43r in Text und Bild ausgebreitet. Anfang und Schluss sind jeweils mit einer Illustration versehen: der Darstellung eines Gelehrten mit zwei dicken Büchern auf der obersten Stufe einer neunstufigen Treppe (fol. 34v) und einer Darstellung des Zodiakus in Kreisform auf fol. 43r. Die achtzehn Seiten gliedern sich in drei inhaltliche Abschnitte: An den Vergleich zwischen Weltbereichen/Elementen und Körperzonen (fol. 34v–37r)200 schliessen sich Vergleiche zwischen Planeten und Kopföffnungen (fol. 37v–38v) sowie zwischen Tierkreiszeichen und Körperorganen an (fol. 38v–43r). Die Analogiereihen sind wie in R programmatisch eingebunden in ein christliches Welt-Mensch-Verständnis. Die erste Analogie beginnt in diesem Sinne mit einem Lob auf die Schöpfung ›Mensch‹, der, von Gott gemacht und von Gott zu Höherem berufen, sich von den Tieren unterscheide, auch hinsichtlich seines ›niedrigsten‹ Körperteils, der Füsse:
197 198 199 200
Vgl. dazu Teil A, Kapitel 3.1.2. Vgl. unten. Tübingen, UB , Md. 2. Vgl. Kapitel 1.1. Darunter befindet sich auf fol. 35r eine ganzseitige Illustration eines Mikrokosmosmannes. Vgl. ebd.
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Aber der mensche ist geschaffen der waren gescheffde vnd ist die aller edelste creature vor allen andern creaturen vnd ist geschaffen uber alle tiere, want der mensch herschet uber alle tiere vnd zwynget alle diere vnd alle dinge. Er hat auch von dem waren schopfer, so was er dut nach influsze der oberster naturen vnd nach schickonge des besten vnd verhengnisse menschliches wissens vnd gantzer naturen, als er gedeilet vnd gemachet wirt von inflisze vnd wirckonge des hiemels vnd darombe dass der mensche vff dem ertrich vffrecht geit vnd sin heubt vffrechts treit vnd nach dem schopfer gebildet ist vnd sin ougen zu der erden neyget. Davon er gemacht ist vnd darombe ist der mensche anders dan die tiere, die dan fier fusze hant vnd nit mer verachtent dan die erde vnd deglich nyt mer dunt dan zu gan vnd zu arbeiten myt den vier fuszen. Aber der mensche hat zwen fusze zu gen vff der erden vnd das sint zwey die mynsten glieder, die der mensche hat. Die fusze werden gedeilet zu glicherwise als die erde zu den snodsten elementen vnder den anderen driien elementen.201
Die vier Elemente werden in der Folge konsequent hierarchisiert: je näher die Zuordnungen der Kopfzone kommen, umso mehr gilt das Element. So sind die gen Himmel gestreckten Hände des Menschen in der Brustzone wiederum Ausdruck seiner Auszeichnung vor allen Tieren.202 Auch hier wird die Analogie in die Auffassung des Menschen als Abbild Gottes eingebunden: In dem dritten teile, da geteilet wirt die brust, die rippen vnd die armen bitz an das genycke in die luffte, das ist da das dritte teile besser dan die erde. Daromb gezieret sollent sin des menschen hende, die sie uff recken sin gegen gode vor allen tieren. Als in der ware schopfer geschaffen hat ime selber nyt zu eren, wan anderes nicht dan zu nütze syner menscheit vnd zu bezugen alle ding vnd auch furderlich damyt zu sin sinem wiederteile vnd zu arbeiten nach troste syner clugheit.203
Eine überragende Stellung nimmt das Feuer ein, das als »edelstes und schnellstes«204 Element dem Kopf und der Erkenntnis zugeordnet ist: Djs wiset vns der philosophus durch die ware geschepfde des menschen, wie er in vier gestalt sy der 4 elementen vnd doch eyns mere dan das ander vnd auch eyns mer krefftiger dan das ander. Darombe hat der schopfer geschaffen das heubte von dem fure furderlich vns zu erkennen vor allen anderen thieren vnd 201 Fol. 35v. Diplomatischer Abdruck mit Interpunktion von mir. 202 Gerade diese Armhaltung visualisiert auch das Bild des Mikrokosmosmannes auf fol. 35r, auf den sich der Text ausdrücklich bezieht: So werden sie [glieder] gedeilet in diser figuren nach uszwisen des bildes, das hier nach stet vff dem berge der erden gezeichnet (fol. 34v). Die Haltung der Hände und Arme erinnert an den Gestus spätantiker Oranten. 203 Fol. 36r–36v. 204 Fol. 36r.
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auch erschrockliche vor allen geschepfden, wan es ist geschaffen von der grossen krafft der siiben planeten, mit gesichte, mit gehorde vnd mit der gestalt, alle ding zu vollenbringen vnd zu betzwyngen vnd sich selbst zu spisen durch das heubt, vnd darombe ist das heupt wol das edelste an dem libe vnd auch das edelste von der nature. Dan alle glieder nichts ens[in]t ane das heubt wort zu machen oder usz zu kunden vnd sich selbst zu erlvgen weder [alle] gezierliche dinge, alle geschepfde vnd alle naturliche dinge.205
An dieser Stelle schliesst sich die Analogie zwischen den sieben Planeten und den sieben Kopföffnungen an. Nach Saturn, der als ältester Planet den Mund regiert und Sprache ermöglicht, folgen entgegen der üblichen Reihenfolge Sonne und Mond, die rechtes und linkes Auge dominieren. Die Sonne beleuchtet das rechte Auge, der Mond das linke mit dem Abglanz des Sonnenlichtes (Abb. 68).206 Die Analogie zwischen Sonne/Mond und Augen scheint hier, über die astronomische Bedeutung dieser beiden Himmelskörper hinaus – diese zeigt sich schon in der Häufigkeit ihrer Darstellungen207 –, mit der Analogie ›Kopf-Feuer‹ einherzugehen und den Vorrang des Kopfes nochmals mit der naheliegenden Entsprechung zwischen Augen und Erkenntnis zu untermauern. Die konsequente Rangordnung der Elemente und die Hervorhebung des Kopfes und der Augen als Erkenntnisorgane lassen eine Verschiebung erkennen von einer auf vier ›gleichberechtigten‹ Elementen gründenden Entsprechungslehre hin zu einem Körper-Geist-Dualismus, in dem der Kopf als Sitz der Erkenntnis den drei ›leiblichen‹ Körperzonen gegenübersteht. Regelrecht entwertet erscheint der ›makrokosmische‹ Anteil der MenschWelt-Analogie in einer Darstellung aus Giles van den Heckes Tafelsammlung (Abb. 69).208 Das Bild ist mit Ecce homo209 betitelt und wird mit den Angaben Nosce teipsum und Minor mundus präzisiert.210 Es zeigt einen als Adam bezeichneten Menschen inmitten von drei konzentrischen Kreisbahnen, die durch zwei sich überkreuzende Diagonalen in vier gleich grosse 205 Fol. 36v. 206 Fol. 37v: Dye sonne hat das recht auge zu beluchten vnd vnzelich zu bekom[m]en, wan sie ist das recht liecht naturlich zu luchten jn alle speren, des glantz die sonne. Der mone hat das lincke auge auch zu beluchten vnd jme zu bekom[m]ende geben solichs als die sonne gethan hat, wie doch sin schyn nyt also liecht ist als der sonnen schyn, wan der mone nympt synen schin von der sonnen, also dut auch das lincke auge von der krafft der rechten augen. 207 Fol. 35r, 41r, 42v, 43r. 208 Oxford, Bodl., MS . Douce 373, fol. 12r. 209 Vgl. Io 19,5. 210 Neben den lateinischen Ausdrücken stehen die in lateinischen Buchstaben wiedergegebenen griechischen Begriffe Gnotho solitos und Microcosmus.
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Segmente unterteilt werden. Die dadurch entstandenen inneren und mittleren Segmentabschnitte füllen vier Kreisformationen, die jeweils aus einem Mitteltondo und aus drei211 oder vier Kreisbändern bestehen. Derjenige Teil der Kreisformationen, der in die durch die innere Kreisbahn begrenzte Fläche hineingreift, ist jeweils mit figürlichen Darstellungen bestückt: Unten umgreift der Kreis die Füsse der Menschenfigur und ist mit Schafen, Vögeln und Fischen ausgefüllt; rechts und links von Adam erscheinen ein Engel bzw. ein Teufel, die jeweils eine Hand der Figur halten; oben umgreift der Kreis den Kopf der Figur. Hier ist das Bild Teil des Mitteltondos der Kreisformation212 und füllt im Gegensatz zu den Tondi213 der übrigen drei Formationen den inneren und den mittleren Segmentabschnitt. Im Tondo sind Gottvater und Gottsohn in persona und der Heilige Geist als Taube dargestellt. Der innere Bildteil zeigt je ein Bein und einen Fuss beider Herrscher, die den von einem Nimbus umgebenen Kopf der Menschenfigur nahezu umschliessen. Ich beginne die inhaltliche Beschreibung mit den drei grossen konzentrischen Kreisbahnen und fahre dann mit den vier Kreisformationen fort. Die zwei inneren Kreisbahnen überdecken die Diagonalen und sind dementsprechend mit je einer Bibelstelle beschriftet statt mit deren vier, wie dies bei der äusseren, unterteilten Kreisbahn der Fall ist. Die Auszüge sind dem Psalm 8 und dem Weisheitsbuch ›Sirach‹ entnommen. Der Psalmpassus ist hier in der Abfolge 8,7 – 8,8 – 8,6 wiedergegeben: Et constituisti eum super opera manuum tuarum. Omnia subiecisti sub pedibus eius. Minuisti dicere (?) hominem paulominus ab angelis. Gloria et honore coronasti eum. Die Umstellung bewirkt, dass die Begriffe eum, manuum, pedis und angelus genau über, unter oder neben den entsprechenden Körperteil der Menschenfigur zu stehen kommen. Der Inhalt der Psalmworte kreist um die Würde des Menschen als Geschöpf Gottes, das über das Werk seiner Hände als Herrscher eingesetzt worden ist (constituisti), das sich alle Tiere unterwirft (subiecisti), das kleiner gemacht worden ist als die Engel (minuisti), das schliesslich mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt worden ist (coronasti). Die Inschrift der zweiten Kreisbahn thematisiert den Entscheidungsspielraum des Menschen zwischen Gut und Böse, zwischen Leben und Tod im Rahmen der ihm gegebenen Gebote und Vorschriften (Sir 15,14–17). Die dritte 211 Die obere Kreisformation besteht aus nur drei Kreisbändern. 212 Inschrift: Originalis iustitia. 213 Die übrigen drei Tondi sind – wie auch die Kreisbänder – auf den mittleren Segmentabschnitt beschränkt. Der untere Tondo visualisiert die Hölle. Hier erscheinen zwei schmerzverzerrte Gesichter.
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Kreisbahn endlich ist durch Sonne, Mond sowie Morgen- und Abendstern in vier Teile gegliedert. Die Inschriften lassen sich lose an die in den äusseren Segmentabschnitten angebrachten Heptaden anbinden. Das Thema der miseria humana überwiegt hier, ausser bei der oberen Inschrift – miseria, malum und labor sind die Schlagwörter.214 Die conditio humana zwischen dignitas und miseria wird in den vier Kreisformationen weiter entfaltet, die nun den Menschen vertikal verorten zwischen den ›makrokosmischen‹ Kategorien Ortus in vitam/Celum und Occasus in mortem/ Infernus/Mundus sowie horizontal zwischen Aquilo/Prosperitas und Meridies/Aduersitas.215 Dem entsprechen die ›mikrokosmischen‹ Kategorien von Körper und Seele216 sowie Fleisch und Blut.217 Innerhalb dieses rigorosen Dualismus sind nun die vier Elemente zusammen mit den vier Körpersäften den zwei Triaden mit den Seelenkräften in der oberen Kreisformation programmatisch gegenübergestellt, marginalisiert und zudem inhaltlich bezogen218 auf die mit adversitas betitelten Kreisbänder links der Figur. Den Bändern sind vier Laster219 und die fünf Sinne eingeschrieben.220 Die Elemente werden global auf die Füsse des Menschen bezogen, also auf seinen fleischlichen Teil, weiter auf die Welt und letztlich auf die 214 Obere Inschrift: Fecit deus hominem rectum et ipse se infinitis miscuit questionibus (Ecl 7,30). Heptade: Haupttugenden mit caritas in der Mitte. Rechte Inschrift: Homo natus de muliere breui viuens tempore repletur multis miseriis (Iob 14,1). Heptade: Sieben Widrigkeiten: labor, languor, fames, mors, sitis, frigus, estus. Linke Inschrift: Sensus et cogitacio humani cordis ad malum prona sunt ab adolescencia sua (Gn 8,21). Heptade: Hauptlaster mit superbia in der Mitte. Untere Inschrift: Cuncti dies hominis laboribus et erumnis pleni nec per noctem mente requiescit (Ecl 2,23). Heptade: Tugendreihe: Spes, Timor, Gaudium, Dolor, Odium, Amor, Pudor. 215 Die Begriffe befinden sich in kleinen, innen an der mittleren Kreisbahn angebrachten Halbkreisen. 216 Die Begriffe ergänzen die Begriffe celum/mundus und befinden sich einmal innerhalb, einmal ausserhalb der inneren Kreisbahn. 217 Die Begriffe sind kleinen, innen an der inneren Kreisbahn angebrachten Halbkreisen eingeschrieben. 218 Durch das Gegensatzpaar Corpus und Caro sowie durch den Begriff Infernus (untere Kreisform) und die Teufelsgestalt (links der Figur). 219 Infirmitas, Ignorantia, Malitia, Concupiscientia (nach Bernhard von Clairvaux). Weitere Tetraden befinden sich in den Diagonalen, so im inneren Kreis die vier Lebensalter Pueritia, Iuuentus, Senectus, Vilis etas, im mittleren Kreis Subtilitas, Claritas, Agilitas, Mobilitas, im äusseren Kreis Mors prima, Infernus, Iudicij horror, Vita eterna. 220 In den mit Prosperitas betitelten Kreisbändern rechts der Figur stehen: Premium, Virtus, Vitium, Pena (oben) und Memoratiua, Ymaginatiua (unten).
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Hölle; dem Kopf dagegen sind die Seelenkräfte vorbehalten, die um die göttliche Trinität angeordnet sind.221 Die aus Triaden, Tetraden und Heptaden zusammengesetzte Kreisdarstellung ist gleichsam ›typologisch‹ eingefasst: Oben ist zweimal der Vetus Adam dargestellt, links als nackt erschaffener Adam (homo conditus), rechts als mit einem Fell bekleideter Adam unter einem drohenden Schwert (homo lapsus). Unten befindet sich der Novus Adam, links als Christuskind mit der Weltkugel – Deus pro homine homo natus, rechts als Schmerzensmann – Deus homo propter hominem mortuus. Mit dem aufrecht stehenden Adam inmitten der Kreisdarstellung kontrastiert ein auf ein Pferd und ein Maultier gebetteter nackter Mensch, der zentral im unteren Seitendrittel dargestellt ist. Sein Körper ist von Pfeilen durchbohrt, die verschiedene Krankheiten222 und sonstige Übel223 bezeichnen. An signifikanter Stelle sind ihm die Hauptlaster eingeschrieben. Hier soll dem Weisen, der sich selbst kennt, der Törichte gegenübergestellt werden: Homo, cum in honore esset, non intellexit, comparatus est iumentis insipientibus et similis factus est illis.224 Ich greife abschliessend das Zwerg-Riesen-Motiv und die damit verbundene Divisio philosophiae wieder auf. Motiv und Textsorte sind in den Kontext der in den Artistenfakultäten des 12. und 13. Jahrhunderts entstandenen ›philosophischen Einleitungschriften‹225 zu situieren. Im Unterschied zu den Leibeswohl- und Seelenheil-Themen geht es hier nicht nur um Fragen der Einteilung der Wissenschaften und um die gelehrte Auseinandersetzung mit deren Inhalten, sondern immer auch um das Selbstverständnis der Lehrenden und Lernenden selbst. Teil dieser Reflexion ist die Auseinandersetzung mit der Aneignung, Aufbereitung und Weitergabe gelehrten Wissens. Pointiert verhandelt werden Fragen des Gelehrt-Seins und Gelehrt-Werdens dort, wo das Zwerg-Riesen-Motiv als bildhafter Aus221 Memoria, Intellectus, Voluntas (nach Augustinus); Irascibilis, Concupiscibilis, Rationalis (nach Hieronymus). 222 Lepra, hydrops, pfhilis, febris, podagra, pestis, paralisis. 223 Identisch mit den unter Anm. 214 angeführten sieben Widrigkeiten. 224 Ps 48,21. Der Begriff insipientibus ist ein Zusatz des Schreibers. Inschrift unter dem Bild: Nolite fieri sicut equus et mulus, quibus non est intellectus (Ps 31,9). Das Bild flankieren Texte aus der biblischen Weisheitsliteratur (links: Sir 40,1–4 und 40,9 ff.; rechts: Sir 39,30 ff, 39,35 f., Ecl 9,12 und 8,11). Die Bücher ›Sirach‹ und ›Ecclesiastes‹ kreisen immer wieder um zentrale Themen der christlichen Anthropologie, so um Diesseits und Jenseits, Zeitlichkeit und Ewigkeit, Sünde und Erlösung. Zur Vertierung des Menschen vgl. auch: Lutz, Wahrnehmen, S. 61–65. 225 Der Begriff wird weiter unten in diesem Kapitel erläutert.
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druck gelehrter Selbstverortung schlagwortartig herangezogen wird. Dem Gedanken, dass die jüngeren Gelehrten scharfsichtiger seien als die alten, begegnet man zum ersten Mal im Vorwort der ›Institutiones Grammaticae‹ des Priscian. Priscian kritisiert seine Vorgänger, die jüngeren griechischen Grammatiker Herodian von Alexandria und Apollodor von Athen ignoriert zu haben. Auch sie verdienten Wertschätzung, nicht zuletzt, weil sie als Jüngere scharfsichtiger seien: quanto sunt iuniores, tanto perspicaciores.226 Ich beschränke mich im Folgenden auf Johannes von Salisbury, der das Motiv in seinem um 1159 entstandenen ›Metalogicon‹ aufgreift:227 Dicit Bernardus Carnotensis nos esse quasi nanos gigantum umeris insidentes, ut possimus plura eis et remotiora uidere, non utique proprii uisus acumine, aut eminentia corporis, sed quia in altum subuehimur et extollimur magnitudine gigantea.228
Johannes kehrt das Motiv gegenüber Priscian um: Die Wertschätzung gilt nunmehr den alten Lehrmeistern; konkret geht es um den Nutzen von Aristoteles’ ›Peri hermeneias‹ für die Logik.229 Obwohl die Gelehrten die Inhalte dieser Lehrschrift in den ›Introductiones‹ konziser und klarer vermitteln könnten als er selber, liessen sie die Wertschätzung für die Worte der Alten (reuerentia uerborum) vermissen.230 Was die genialen maiores (quorum floruerunt ingenia) mit ihrer bewundernswerten Erfindungskraft (inuentione mirabili pollentes) in lebenslanger, schweisstreibender Forschungsarbeit (sua tempora consumpserunt in inuentione sudantes plurimum) den Nachfahren vererbt hätten, könnten nun diese in kurzer Zeit mühelos erlernen. Ihr Mehrwissen gründe nicht auf eigener Genialität (non suo quidem praecedens ingenio), vielmehr auf der Geisteskraft anderer (sed innitens [ingenio] uiribus alienis) und auf der reichen Lehre der Väter (opulenta doctrina patrum).231 Die Aneignung und Vermittlung von Wissen sowie 226 Priscian, Institutiones grammaticae (Ed. Hertz), Bd. 1, S. 1. Vgl. auch die Priscian-Glosse des durch Bernhard geprägten Chartrensers Wilhelm von Conches. Vgl. Teil A, Kapitel 3.1.5. 227 Eine Liste der Autoren, die das Motiv behandeln bei: Stolz, ›Tum‹-Studien, S. 164 ff. 228 Johannes von Salisbury, Metalogicon (Ed. Hall/Keats-Rohan), III ,4,46–50: »Wir sind auf den Schultern von Riesen hockende Zwerge. Wir sehen so mehr und weiter als sie, nicht weil unsere Sicht schärfer oder der Wuchs höher ist, sondern weil sie uns in die Lüfte heben und um ihre ganze gigantische Grösse erhöhen.« (Übers. nach: Schulthess/Imbach, Die Philosophie, S. 124 f.). 229 Metalogicon (Ed. Hall/Keats-Rohan), III ,4,7–10. 230 Ebd. III ,4,11–14. 231 Ebd, III ,4,39–46.
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dessen Ausweis als Bildung gründen hier in einer ethischen Grundhaltung, die nicht nur den Autoritäten Respekt zollt, sondern auch einen Massstab für das eigene Lehren abgeben soll.232 Als Vorbild einer an ethischen Wertmassstäben sich orientierenden Unterrichtsweise nennt Johannes bereits im ersten Buch Bernhard von Chartres. Hier findet man nicht nur ein überschwengliches Lob auf den grossen Lehrer (exundantissimus modernis temporibus fons litterarum),233 sondern auch ein lebendig gezeichnetes Bild seiner Lehrmethoden, das Grundsätzliches über die (ontologisch begründete) Aneignung, die pädagogische Aufbereitung und die (ethisch ausgerichtete) Weitergabe von Wissen ausführt.234 Zentrale Bedeutung erlangen in erkenntnistheoretischer Hinsicht der Begriff informare, in pädagogischer Hinsicht die Begriffe inculcare, praelectio, lectio, illustratio, picturatio, imago, in ethischer Hinsicht die auf den Lehrenden zu beziehenden Begriffe uir bonus, humilitas und die als Ziel des Lehrens formulierten Desiderate fidem et mores aedificare, animare ad bonum, non inseruire litteris et carnalibus uitiis.235 Der Begriff informare ist vor dem Hintergrund der ›Form-Materie‹-Diskussion mittelalterlicher Philosophie zu sehen und bedeutet zunächst die Aufnahme der Form eines Gegenstandes durch den Intellekt – von der Materie wird dabei abstrahiert. In den Mittelpunkt rückt also die Frage, wie Wissen über die Aufnahme der Form der Dinge erworben wird.236 Daran schliesst sich die Frage, wie dieses Wissen im Geist repräsentiert wird. Dafür verwendet die mittelalterliche Philosophie den Terminus technicus species, der etwa mit dem Begriff ›Vorstellung‹ wiedergegeben und in die Abstraktionsstufen der species sensibilis und der species intelligibilis unterteilt werden kann.237 Auf der ersten Stufe wird der sinnlich wahrgenommene Gegenstand als ›bildhafte‹ Repräsentation (Vorstellung, Bild) im Geist repräsentiert, auf der zweiten Stufe wird sein Wesen als 232 Zur Rolle der Ethik im Trivium-Unterricht vgl. Jaeger, The Envy, S. 128– 164, bes. 129 ff. 233 Metalogicon (Ed. Hall/Keats-Rohan), I,24,48 f. 234 Zu erwähnen sind hier die wertvollen Ausführungen von Michael Stolz zum Form-Begriff bei Alanus ab Insulis und Johannes von Salisbury (Artesliberales-Zyklen, Bd. 1, S. 88–93). 235 Sämtliche Begriffe finden sich im ›Metalogicon‹, I,24. 236 Als Hauptströmungen gelten die platonische Form-Vorstellung als ewige Präfiguration im Geist Gottes und der ›Hylemorphismus‹ des Aristoteles, wonach das durch Veränderung gekennzeichnete Seiende aus Form und Materie zusammengesetzt ist. Vgl. Bormann u. a., ›Form und Materie (Stoff)‹, in: HWP 2, Sp. 977–1030, hier: 978–982. 237 Engelhardt, ›Species‹, in: HWP 9, Sp. 1315–1342.
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Begriff repräsentiert.238 Dieser erkenntnistheoretische Bedeutungshorizont des Begriffs informare war Johannes von Salisbury als einem Schüler von Peter Abaelard und Wilhelm von Conches sicher geläufig. Interessant ist daher gerade, dass Johannes den Begriff nicht auf Vorgänge der Abstraktion und Kognition bezieht, sondern auf die Erziehung: Ad huius magistri formam praeceptores mei in grammatica Willelmus de Conchis et Ricardus cognomento Episcopus, officio nunc archidiaconus Constantiensis, uita et conuersatione uir bonus, suos discipulos aliquamdiu informauerunt.239
Der Begriff informare steht hier gleichsam in Hinblick auf die Summe der von Johannes propagierten Vermittlungsweisen von Wissen. Diese zeichnen sich nun, wie von verschiedener Seite und zuletzt von Michael Stolz festgestellt wurde, durch eine ausgeprägte Bildhaftigkeit aus.240 Neben die lectio (stilles Lesen) und die praelectio (Vorlesen) treten gleichberechtigt die Verfahren der illustratio und der picturatio: Illi enim per diacrisim quam nos illustrationem siue picturationem possumus appellare, cum rudem materiam historiae aut argumenti aut fabulae aliamue quamlibet suscepissent, eam tanta disciplinarum copia, et tanta compositionis et condimenti gratia excolebant, ut opus consummatum omnium artium quodam modo uideretur imago.241
Es scheint mir nun gut möglich, dass die pädagogische und ethische Prägung des informatio-Begriffs bei Johannes mit seiner programmatischen Abkehr von dem theoretischen, Schule und Leben trennenden Wissenschaftsverständnis der Scholastik einhergeht, wie es im 12. Jahrhundert entstand.242 In diesem Sinn wäre dann die Wissensvermittlung mittels bildhafter Verfahren, ineins gehend mit der Betonung der species sensibilis statt der species intelligibilis, durchaus als Teil von Johannes’ Programm zu 238 Als Beispiel kann man sich hier die Repräsentation eines Balles als ›rund‹ und als ›Kreis‹ denken. 239 Metalogicon (Ed. Hall/Keats-Rohan), I,24,116–120. 240 Artes-liberales-Zyklen, Bd. 1, S. 91–94. 241 Metalogicon (Ed. Hall/Keats-Rohan), I,24,27–33. Für die Begriffe illustratio und picturatio gibt Daniel D. McGarry »vivid representation« und »graphic imagery« (The Metalogicon, S. 66). Die Betonung der Notwendigkeit, Metaphern und Redefiguren in der Rede zu gebrauchen, weisen in die gleiche Richtung: Et quia splendor orationis aut a proprietate est [. . .] aut a translatione, id est ubi sermo ad alienam traducitur significationem, hoc sumpta occasione inculcabat mentibus auditorum (Metalogicon [Ed. Hall/KeatsRohan], I,24,55–59). 242 Vgl. Schulthess/Imbach, Die Philosophie, S. 22 f.
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verstehen, Wissenschaft und Leben miteinander zu verschränken. Im Wissenschaftsverständnis des Johannes von Salisbury wird die Schule zur Lebensschule, die Ethik, die Wissenschaft der guten Lebensführung, zur alles Wissen durchdringenden Instanz, der Lehrer zum uir bonus, der sich durch Demut auszeichnet:243 Sed quia nec scolam nec diem aliquam decet esse religionis expertem, ea proponebatur materia, quae fidem aedificaret et mores, et unde qui conuenerant quasi collatione quadam animarentur ad bonum.244
Ein Wissen und Ethik verbindendes Wissenschaftsverständnis, wie es von Johannes etabliert wird, ist freilich weit weg von der Indienstnahme des Wissens durch die Moral in der Umgewichtung des Motivs in der ›Süddeutschen Tafelsammlung‹. Näher an der Auffassung von Johannes von Salisbury als an der Umarbeitung in R steht das Zwerg-Riesen-Motiv bei Hervaeus Brito, einem Pariser Magister (bezeugt 1260–1277),245 den ich hier heranziehe, weil seine unter dem Incipit Dicit Aristoteles tradierte Schrift meines Wissens zum ersten Mal das Zwerg-Riesen-Motiv im Rahmen einer sogenannten philosophischen Einleitungsschrift überliefert. Wie schon zuvor im ›Metalogicon‹ geht es hier erneut um den Zusammenhang zwischen Wissen und Ethik, jedoch nicht im Rahmen des Triviums, sondern als Teil einer Commendatio philosophiae, die einer Diffinitio und einer Divisio vorausgeht.246 Auf die gemeinsame Überlieferung von Zwerg-Riesen-Motiv und Divisio philosophiae kommt es hier an, denn beide sind auch in R zusammen tradiert. Zu klären ist also die Textsorte der ›philosophischen Einleitungsliteratur‹ und ihr vielleicht wichtigster Teil, die Einteilung der Philosophie.247 Mit ›Einleitungsliteratur‹ sind, um die treffende Umschreibung von 243 244 245 246
Metalogicon (Ed. Hall/Keats-Rohan), I,24,109–115. Ebd. I ,24,69–72. Vgl. Lafleur, La Philosophia, S. 149–226, hier: 150 ff. Hervaeus verknüpft gleich mehrere Dikta von Autoritäten mit Bernhards Motto, das er Petrus Helias zuschreibt: Huic etiam consonat uerbum Prisciani in principio Maioris, ubi dicit quod ›quanto moderniores tanto perspicaciores et ingenio magis floruisse uidentur‹. Supra quod dicit P. H. quod ›nos sumus sicut nanus positus super humeros gigantis‹, quia sicut potest uidere quicquid gigas et adhuc plus, sic Moderni possunt uidere quicquid inuentum est ab Antiquis etsi quid noui potuerunt addere. Huic etiam consonat Alanus cum dicit: ›Nam pigmea humilitas excessui superposita giganteo ipsius altitudinem superat et riuus de fonte cacurizans in torrentem multiplicatus excrescit‹ (Philosophia [Ed. Lafleur], S. 359–442, S. 370, § 10). 247 Die Begriffe divisio philosophiae, divisio scientiarum, divisio artium und
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Ludwig Baur zu zitieren, jene Schriften gemeint, die »einen kurzen, klaren Einblick in den Begriff, die Teile und die Unterteilung der Gesamtphilosophie, m. a. W. eine systematische Gliederung des philosophischen Wissenschaftsganzen und seiner Teile geben, und zwar zu dem Zweck, den angehenden Schüler in die Philosophie einzuführen [. . .]«.248 Einleitungschriften sind im 12. und 13. Jahrhundert reich überliefert, meistens entstammen sie dem Umkreis der Pariser Artistenfakultät. Illustre Schriften wie das ›Didascalicon‹ des Hugo von St. Viktor oder Bonaventuras ›De reductione artium ad theologiam‹ wechseln sich ab mit zahlreichen, anonym überlieferten Texten.249 Prominentester Teil solcher Schriften ist die Einteilung der Philosophie,250 die nicht nur über Inhalt und Umfang der einzelnen Disziplinen unterrichtet, sondern auch Umwertungen und Neuwertungen einzelner Wissenschaftszweige sichtbar macht, also eine Momentaufnahme des jeweiligen Diskurses über die keineswegs fest umrissene Grösse ›Philosophie‹ übermittelt. Wiederholt thematisierte Aspekte sind die wesentlichen Unterschiede zwischen den Disziplinengruppen, so etwa zwischen theoretischen und praktisch-ethischen Disziplinen oder aber zwischen den Disziplinen selber. Eine bevorzugte Stellung im Wissenschaftssystem nimmt die Metaphysik ein; die schleichende Relativierung ihrer Erstposition innerhalb des Systems wird im 13. Jahrhundert zunehmend brisant und manifestiert sich in Versuchen, sie mehr als Wissenschaft vom Seienden, denn als Wissenschaft vom Göttlichen zu definieren.251 Die Rezeption von Einteilungen der Philosophie im 14. und 15. Jahrhundert ist nicht zu denken ohne ihre bildliche Aufbereitung für den Schulunterricht oder Lehrbetrieb der Universitäten.252 Die Disposition der Wissenschaften erfolgt anhand figuraler Darstellungen und mittels Stemmata oder Baumschemata (arbor scientiae, arbor sapientiae). Stemmata nehmen zumeist ihren Anfang in einer Personifikation der Philosophie, aus der die einzelnen Wissensgebiete ›ausfliessen‹. Die Abbildung des Baumes andrerseits impliziert, über die schematische Disposition hinaus, ein durchaus
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divisio disciplinarum werden in der Einleitungsliteratur gleichbedeutend gebraucht. Die philosophische Einleitungsliteratur, S. 316–397, hier: 317. Vgl. Imbach, Einführungen, S. 63–91, hier: 63 ff. Zu den einzelnen Teilen von Einleitungschriften vgl. Lafleur, Quatre introductions, S. 3 und 160. So etwa in der ›Divisio scientiarum‹ des Arnulfus Provincialis oder noch radikaler in der Schrift ›De summo bono‹ des Boethius von Dacien. Wirth, Von mittelalterlichen Bildern, S. 272 f.
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auch moralisch verstandenes Streben nach Höherem, stiftet also »einen Bezug zwischen Wissenschafts(einteilung) und Frömmigkeit, beschreibt ein dialektisches Spannungsverhältnis und mildert es«.253 Die Aneignung von Wissen über die Philosophie und ihre Einteilung unterliegt im Spätmittelalter, soweit ich sehe, zwei Tendenzen, die man als Moralisierung und Theologisierung bezeichnen kann. Beide Tendenzen lassen sich am konkreten Bild jeweils als Kombinationen und Kontaminationen, als Erweiterungen und Umwertungen fassen, unabhängig davon, ob es um hochstehende, subtil differenzierende Ausführungen geht oder um fehlerhafte Abschriften von pädagogischem Probecharakter. Näher beim ersten liegt die Divisio in C, die ihre Angleichung an die Tugend-Laster-Katechese bereits dadurch bekundet, dass sie antithetisch einem Stemma mit den verbotenen Künsten gegenübergestellt ist und neben den Wissenschaften gleichrangig die Tugenden integriert (fol. 36v, Abb. 70).254 Ein Novum ist, wie Karl-August Wirth betont, die Tugenden und Wissenschaften von einer Christusfigur statt von der gewohnten Personifikation der ›Philosophie‹ oder ›Weisheit‹ ausgehen zu lassen; bemerkenswert ist aber auch, dass die Tugenden als Heilsmittel gleichgestellt werden mit den Wissenschaften insgesamt, also nicht in den praktisch-ethischen Teil der ›Philosophie‹ eingegliedert werden, sondern wie die scientiae direkt von der Figur ausgehen.255 Die Aufwertung der virtutes spiegelt sich auch in der Abwertung der sapientia, die auf der gleichen Stufe des Differenzierens erscheint wie die drei von virtus ausgehenden theologischen Tugenden. Diese werden ergänzt um die Kardinaltugenden, die ebenfalls direkt an der Christusfigur ›hängen‹, und die Seelenkräfte memoria, intelligentia und ratio,256 die ohne übergeordnete Bezeichnung bleiben. Auf der ›Tugendseite‹ hat der Concepteur drei erwähnenswerte Umgewichtungen vorgenommen: erstens die Gleichstellung der unter virtus subsumierten theologischen Tugenden mit den unter scientia eingeordneten vier traditionellen Domänen des Wissens,257 zweitens die Aufnahme der Seelen253 Ebd. S. 282. 254 Karl-August Wirth hat die Doppelseite fol. 36v/37r bereits einer Interpretation unterzogen (Von mittelalterlichen Bildern, S. 318–321). Ich begnüge mich hier mit ein paar Ergänzungen, die bei Wirth fehlen. 255 Dies unterstreicht zusätzlich die Inschrift um die Christusfigur: Virtutes procedentes a Ihesu Christo. W ergänzt (fol. 47v): Qui sequitur me, non ambulabit in tenebris sed habebit lumen vite (Io 8,12). 256 Als einzige teilt sich die ratio weiter auf in cogitacio, meditacio, contemplacio. 257 Vgl. Anm. 260.
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kräfte, die vielleicht aus Analogiegründen zur göttlichen Dreiheit als einzige direkt von Christus ausgehen und ohne Oberbegriff bleiben, und drittens die zahlenmässige Hervorhebung der iusticia bzw. benignitas. Die Betonung der iusticia hat durchaus programmatischen Charakter. Sie gliedert sich mittels einer ersten Differenzierung in liberalitas und seueritas auf, die liberalitas mittels einer zweiten in benignitas und benificencia, die benignitas mittels einer dritten in acht weitere Untertugenden.258 Die herausragende Stellung der Gerechtigkeit und ihrer ›belohnenden‹ – nicht bestrafenden – Abkömmlinge erklärt sich aus der Christusfigur. Diese sitzt auf einem Kastenthron, formt die rechte Hand zum Segensgruss und hält in der linken Hand ein Buch. Es liegt nun nahe, in Christus die Richtergestalt mit dem Buch des Lebens zu sehen, die gerecht urteilt und die Tugend der Gerechtigkeit durch die Akzentuierung ihrer soteriologischen Seite auszeichnet. Auf der Seite der Wissenschaften teilt sich die aus der sciencia hervorgehende sapiencia in die ›Theorik‹, Praktik, Logik und Mechanik auf.259 Gerade dieses Modell dokumentiert durch den Einbezug der mechanischen Künste die möglichst umfassende Erfassung menschlichen Wissens.260 Die sapientia wird als sapientia christiana verstanden, so die Botschaft des über der Inschrift positionierten Textes: Die Gaben des Heiligen Geistes werden als disposiciones bezeichnet, die den menschlichen Geist zu den acht Seligkeiten hinführen.261 Christus gegenüber thront eine Teufelsfigur,262 von der zwei Verbindungslinien ausgehen (fol. 37r, Abb. 71). Sie führen linkerhand zu vicium und rechterhand zu ignorancia uel sophica (!) und von dieser zu parasophia und paralogia. Vom ›Laster‹ zweigen zwei weitere Linien ab, die eine führt zu superbia, der von links nach rechts die sieben Hauptlaster in der 258 Graciarum accio, religio, pietas, innocencia, amicicia, reuerencia, concordia, misericordia. 259 Mehr zu den Feingliederungen in: Wirth, Von mittelalterlichen Bildern, S. 320. 260 Die Einbeziehung und Aufwertung der handwerklichen Künste und das daraus resultierende Vierersystem erscheinen zum ersten Mal im ›Didascalicon‹ des Hugo von St. Viktor (Ed. Offergeld, II ,20–27, und Einführung, S. 45 f.). 261 Nota, quod dona spiritus sancti sunt disposiciones, quibus mens humana promptificatur ad sequendum mocionem seu instinctum spiritus sancti Beatitudines. Vero sunt operaciones virtutum et donorum, quibus homini consurgit spes eterne beatitudinis et sic in eis eterna beatitudo quodam nomen inchoatur, propter quod dicit apostolus: Spe salvi facti sumus [Rm 8,24]. 262 Inschrift: Vicia, Diabolus.
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Überlieferungsverbünde und Wissensformationen
SIIAAGL -Reihenfolge angegliedert sind,263 die andere zu cupiditas, die ein
Quartett von fleischlichen Sünden unter sich vereinigt.264 Die Gegenseite versammelt, von parasophia ausgehend, zwanzig abusiones265 und zehn magische Künste (magica),266 von paralogia ausgehend dreizehn Fehlschlüsse. Die hier vollzogene Moralisierung des Wissenschaftssystems unterscheidet sich deutlich von der Neigung zur Theologisierung, wie sie in R zum Ausdruck kommt. Mit Theologisierung meine ich im Fall von R die Dreiteilung der Wissenschaften und ihre konsequente Rückführung auf die göttliche Trinität. Demzufolge fehlt auch jede über die Dreiheit hinausgehende Differenzierung wie etwa das sich an die Mathematik anschliessende Quadrivium oder die Siebenerreihe der handwerklichen Künste, die eine zusätzliche Kategorie erfordert hätte. Die Definition der Wissenschaften erfolgt nicht aufgrund antiker Wissensvoraussetzungen, vielmehr gründet sie auf der Relation zur jeweiligen göttlichen Entität: Die ›Ökonomie‹ nimmt in diesem Sinn die dinstlichait Christi zum Vorbild (Tafel IX.3.3.1), weniger orientiert sie sich an dem Haus- und Familienführung betreffenden oiÂkowBegriff. Mehr hält es die ›Politik‹ mit der frey¨lichait des Heiligen Geistes (Tafel IX.3.3.1) als mit der ›Politeia‹ des Aristoteles. Die Beispiele liessen sich ohne weiteres fortführen. Was die Artes-Verse angeht, so künden sie bereits den von Moralisierung und Theologisierung sich emanzipierenden Frühhumanismus an. Man findet sie wieder267 im Clm 3941268 der Bayerischen Staatsbibliothek in München, einem Sammelkodex aus dem Besitz des Augsburger Frühhumanisten Sigmund Gossembrot.269 Die Handschrift überliefert über mehrere Seiten eine Reihe von deutschen und lateinischen Artes-Merkversen. Die Verssammlung bekundet ein ähnliches, wenn auch anspruchsvolleres Interesse, 263 264 265 266
Superbia erscheint in der Siebenerreihe als inanis gloria. Gulositas, ebrietas und intemperancia, fornicatio. Zwölf abusiones claustri und acht abusiones saeculi. Sieben davon figurieren unter maleficium. Aufgelistet bei Wirth, Von mittelalterlichen Bildern, S. 321. Nachzutragen bleibt die von Wirth nicht wiedergegebene ciromantia. 267 Mit Ausnahme des letzten Verses. 268 Fol. 33r. Dazu: Wirth, Neue Schriftquellen, 319–328. Stolz, Artes-liberalesZyklen, Bd. 1, S. 334–339 (Bd. 2, Abb. 102–115). 269 Einsicht in das humanistische Selbstverständnis dieses Augsburger Kaufmanns, Patriziers und Ratsherrn geben die noch erhaltenen Glückwunschschreiben anlässlich seiner Wahl zum Augsburger Bürgermeister im Jahr 1458. Dazu: Worstbrock, Imitatio, S. 187–201. Vgl. auch: Schneider, Berufs- und Amateurschreiber, S. 8–26, hier: 21.
Mikrokosmos, Makrokosmos, Artes
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als es in R fassbar ist, präsentiert sich aber ausladender und nur lose zusammenhängend als Ergebnis einer uneinheitlichen Niederschrift. Die Merkverse sind teils Bildbeschreibungen, teils waren sie wohl selber wieder für Bildinschriften gedacht. Ein Vermerk in der Handschrift verweist dann auch hinsichtlich der Merkverse auf einen in Gossembrots Bibliothek befindlichen codex albus mit den dazugehörigen Darstellungen.270 Das Buch ist heute nicht mehr erhalten, aber Gossembrot besass offenbar Darstellungen des Beschriebenen. Die willkürliche Aneinanderreihung der Merkverse ist Ausdruck jahrelangen Sammelns und Festhaltens. Hier findet man, kaum überraschend, auch die Artes-Verse wieder, die dem Surcot des Riesen in R eingepasst sind. Solche listenmässigen Zusammenstellungen von Artes-Versen waren in spätmittelalterlichen Laienkreisen verbreitet. Gebraucht wurden sie besonders als eine Art ›humanistischer Code‹ im Briefverkehr271 und im Gespräch. Ihre Konventionalität und Formelhaftigkeit machen sie beliebig austauschbar und für Bildinserate geeignet. Sie sind zuallererst Ausdruck eines gemeinsamen Selbstverständnisses und erfüllen sich nicht in korrekter sprachlicher Formung, sondern in ihrer kommunikativen Funktion, bei Gossembrot als produktiv angeeignete imitatio im Lebensalltag, in R als ausgedünnter, aber immer noch prestigeträchtiger Ausweis von Bildung. Im Hinblick auf den Gebrauch von R bleibt vorerst einiges zu relativieren: Die Darstellung von hochmittelalterlicher Naturphilosophie (Tafel VIII , fol. 4v) und konventionellem Artes-Wissen (Tafel IX , fol. 5r) scheint hier für ein halbgebildetes Laienpublikum aufbereitet, auf einen Kernbestand reduziert, sprachlich zersetzt, formelhaft leer. Trotz aller Verstümmelung sind die Texte aber ›bildhaft‹ gestaltet, inhaltlich abgestimmt und formal in zwei Schriftgraden unterschieden: eine Handschrift zum Vorzeigen, weniger zum Lesen, eher zum Schauen, gebraucht wohl mehr als Prestigeobjekt und Ausweis bezugloser Gemeinbildung, denn als Nachweis verbindlicher Gelehrsamkeit.272 270 Wirth, Neue Schriftquellen, S. 324. 271 So gezeigt von Worstbrock, Imitatio, S. 196. 272 Deutlicher wird dieser Eindruck, wenn man sich die Rolle der lateinischen Texte auf der Doppelseite 4v/5r vergegenwärtigt. Latein bleibt für die ArtesVerse im Surcot des Riesen (Tafel IX.6) und für die Beischrift zum ZwergRiesen-Gleichnis (Tafel IX.5) reserviert. Die Artes-Verse sind einerseits fehlerhaft und formelhaft, andrerseits farblich unterschieden und durch den Schriftgrad ausgezeichnet. Der Text eignet sich trotz aller Defekte für das Bild, ist Bestandteil des Bildes, hat selbst ›bildhafte‹ Funktion.
3 Gebrauchszusammenhänge Die Frage nach Funktion und Gebrauch von R wurde anhand von Vergleichsbeispielen bereits ansatzweise diskutiert: auf der Ebene der Text- und Bildmotive in den Interpretationen der einzelnen Text-Bild-Ensembles und auf der Ebene der Überlieferungsverbünde an den exemplarischen Fällen im vorangehenden Kapitel. Es bleiben zwei Desiderata, um die Untersuchung abzurunden: erstens die Bewertung der ›Süddeutschen Tafelsammlung‹ als Ganzes hinsichtlich ihres Gebrauchs und zweitens die Einbettung der Motive und Überlieferungsverbünde in unterschiedliche Formen handschriftlicher und bildlicher Überlieferung. Das erste Kapitel kann summarisch abgehandelt werden; ich knüpfe hier an die zu C und W angestellten Überlegungen zum Text-Bild-Verhältnis an. Das zweite Kapitel ist umfangreicher. Es geht hier darum, durch die Verknüpfung ausgewählter Motive und Überlieferungsverbünde mit verschiedenen Überlieferungsträgern ein repräsentatives Repertoire an Gebrauchskontexten spätmittelalterlichen Bildungswissens zu skizzieren.1 Das Spektrum reicht vom Hausbuch, mit dem ich beginne, über die Tafelsammlung und verschiedene Formen der Einblattschriftlichkeit (Tafel, Faltblatt, Einblattdruck) bis zu Wandmalereien und Wandbehängen. Um das Vorhaben praktikabel zu halten, beschränke ich mich bei jedem Medium auf einzelne Themen.
3.1 Theoretische Vorüberlegungen Vorab gilt es, ein paar terminologische Klärungen vorzunehmen. Die Frage nach den Gebrauchszusammenhängen wissensvermittelnder und frömmigkeitsbildender Texte und Bilder greift mitten in die altgermanistische Forschungsdiskussion. Ich habe im vorausgehenden Kapitel zur Vermittlung zwischen den Begriffen ›kulturelles Wissen‹ und ›Stoff‹ den Begriff des ›Bildungswissens‹ eingeführt. Kulturelles Wissen, so Jan-Dirk Müller, »betrifft die Normen des Handelns, Regeln des Verhaltens, Annahmen über 1 Vgl. dazu: Lutz, Einspielung, S. 361–392.
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den Lauf der Welt, vor deren Hintergrund das Geschehen abläuft und die zu seiner Erklärung und Deutung abgerufen werden.«2 Solches Wissen ist als Hintergrund sämtlicher Reproduktionen von Wissen mitzubedenken: »Es füllt auf, was auf syntagmatischer Ebene, d. h. bei der motivierenden Verknüpfung der Handlungsfäden (syntagmatische Kohärenz) offen bleibt«.3 In welchem Mass und auf welche Art diese »Auffüllung« nun stattfindet, hängt entscheidend von der Wahl des Mediums ab. Text, Bild und Wort aktualisieren Wissen und ermöglichen Kommunikation auf unterschiedliche Art: Beim Lesen hat sich das kulturelle Wissen einzugliedern in eine möglichst »eindeutige und vollständige Verknüpfung der Handlungselemente«4, beim Hören wird kulturelles Wissen bei geringerer Anforderung an der syntagmatischen Kohärenz unmittelbar wahrgenommen, beim Sehen schwankt es zwischen der an Kohärenz gebundenen Textorientierung und der Unmittelbarkeit mündlichen Austauschs. Verlauf und Gelingen von Kommunikation sind in der Tat komplizierter als es diese idealtypische Gliederung vorgibt. Wird Bildungswissen nämlich als Textwissen reproduziert, rückt das vieldiskutierte Problem mittelalterlicher Textualität in den Mittelpunkt. In dieses Problemfeld fällt etwa die Frage nach Oralitätssignalen oder nach der Varianz mittelalterlicher Texte.5 Was das Bildwissen betrifft, ist mit verschiedenen Graden an gegenseitiger Durchdringung von Text und Bild zu rechnen, aber auch mit Verselbständigungsprozessen im Bildmedium.6 Studien an Fallbeispielen haben wiederholt gezeigt, dass die vielfältigen Beziehungen zwischen Text und Bild ein Abstrahieren von Texttraditionen und Bildtypen erfordern, ja Bilder oft 2 Spielregeln, S. 25–38, hier: 30. Jan-Dirk Müller lehnt sich hier an den Begriff des ›kulturellen Gedächtnisses‹ von Jan Assmann an: Das kulturelle Gedächtnis. 3 Ebd. In Anlehnung an Bäuml, Varieties, S. 237–265, hier: 251 f., und Schaefer, Vokalität, S. 57 und 71–87. 4 Ebd. S. 28 und 30. 5 Das Problem der Textkonstitution wurde zuletzt in der ersten Sektion des Germanistischen Symposions auf Schloss Reisensburg diskutiert: Text und Kultur. Vgl. auch: Strohschneider, Textualität, S. 19–41, und Müller, Aufführung – Autor – Werk, S. 149–166. 6 Ich orientiere mich hier an den zahlreichen Arbeiten von Michael Curschmann, die in vorbildlicher Weise theoretische Reflexion und quellenorientierte Einzeluntersuchungen miteinander verbinden. Dieses Forschungsdesiderat ist formuliert in seiner Rezension von Horst Wenzels Publikation ›Hören und Sehen‹, S. 433–438. Vgl. auch: Ders., Wort – Schrift – Bild, S. 378 ff., und Brenk, Der Concepteur, S. 431–450, hier: 431–434.
Die Tafeln im Gebrauch
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unabhängig von der jeweiligen Texttradition Wissen als Bildwissen konstituieren und neue Sinnbezüge stiften.7 Der Transferprozess von einem Medium ins andere, beispielsweise von der Schriftlichkeit in die Mündlichkeit, unterliegt in hohem Mass einem situativen und informellen Wissensaustausch, der eingebettet ist in einen Formen wie Inhalte verhandelnden Diskurs: This process of transfer from one medium into the other and the creation of a general consciousness that embraces the manifestations of both appear to depend heavily on an environment of informal exchange of information and ideas, an environment in which both form and meaning become the subject of continued negotiation.8
Michael Curschmann verwendet für diesen diskursiven Wissensaustausch den Begriff »social discourse«, der zwischen dem vagen Begriff der ›Oralität‹ und dem restriktiven der ›Rede‹ vermitteln soll: »Such discourse can take many forms, including speech, but not excluding other forms of formal and informal communication or the immediacy of visual experience.«9 Ich werde im Folgenden Ausformungen von Bildungswissen in Text und Bild an verschiedenen Überlieferungszeugen untersuchen. Die Zusammenhänge zwischen den Kommunikationsformen der Schriftlichkeit, Bildlichkeit und Mündlichkeit sollen als dynamisch verstanden werden; ihre Beziehungen sind im Moment der Produktion und Rezeption vielfältig vermittelt und auf verschiedenen Ebenen angesiedelt.10 Dazu kommen materielle Vorgaben wie Werkstoff, Werkform und Werkgrösse sowie die Anbindung an konkrete Ansprüche, Interessen und Gebrauchsintentionen.
3.2 Die Tafeln im Gebrauch Die ›Süddeutsche Tafelsammlung‹ repräsentiert einen vermutlich weit verbreiteten, aber nur noch in diesem Exemplar greifbaren Typus einer Darstellung von Vorzeigewissen, das – im Rückgriff auf gelehrtes Wissen – weniger auf Wissensaneignung als auf Ausweis von Bildung abzielt. Das 7 Vgl. die Vielzahl neuer Fallstudien in: Lutz/Thali/Wetzel, Literatur und Wandmalerei I und II . 8 Curschmann, Marcolf or Aesop?, S. 1–45, hier: 3. 9 Ebd. 10 Zu diesem Problem vgl. Curschmann, Wolfgang Stammler, S. 115–137, hier: 136 f.
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Spektrum des Wissens ist hier so erweitert, dass ein enzyklopädischer Anspruch auf Bildung sichtbar wird. Die Strukturierung und Systematisierung dieses Wissens anhand konventioneller Figuren und Schemata wird durch Begleittexte ergänzt und erschlossen. Zugleich liegt es in einer Form vor, in der Texte und Bilder ›beschädigt‹ erscheinen. Den irritierenden Gegensatz zwischen dem offenkundigen Anspruch auf eine abbreviaturhaft verdichtete, aber umfassende gelehrte Bildung, den die lateinischen Texte der Handschrift unterstreichen, und den gravierenden Defekten in Bildern und Texten, auf die der Anspruch sich stützt, ist offenbar Spiegel des vom Schreiber zu erwartenden wie des tatsächlichen Gebrauchs. Es ist von einer Rezeption auszugehen, die – zum Ausgleich ihrer Fehlerhaftigkeit und zur Ausbreitung ihres rudimentären Inhalts – des assoziationsgeleiteten Rückgriffs auf Vorwissen einerseits und des diskursiven Zugriffs auf konversationelles ›Mitwissen‹ andrerseits bedarf. Dabei zeichnet sich ein Weg ab von einer meditativen Aneignung vergleichbarer Tafelsammlungen wie beispielshalber C, in denen Wissen aufgenommen und neu bewältigt wird, hin zu einem kolloquialen Gebrauch von Tafeln wie in R, mit denen Wissen lediglich als Anspruch und als Ausweis von Bildung behauptet wird. Angesichts der Beschädigungen ist in erster Linie an eine gemeinschaftliche Aneignung der Tafeln in lockerem Gespräch zu denken.11 Der Stellenwert der Texte relativiert sich angesichts der Tatsache, dass die Rezeption der Inhalte mittels der Bilder, die gleichsam als ›Konversationsstücke‹ den Text über weite Strecken obsolet machen, für den hier sich abzeichnenden Bildungsbegriff wahrscheinlicher ist als das ernsthafte Bemühen um einen defekten Text. Auch die visuelle Prägung der Texte legt eine Rezeption nahe, die primär über die Bilder stattgefunden haben mag und über das, was diese an abrufbarem Wissen voraussetzen; auf die Texte wird man allenfalls selektiv zurückgegriffen haben. Auf inhaltlicher Ebene wird die These eines Gebrauchs als ›Konversationsstück‹ dadurch gestützt, dass R konventionell vorgewusstes Wissen als Rudiment darbietet, das im Gespräch sinnvoll ›ausgefaltet‹ werden kann. Ob es bei einem oberflächlichen Durchblättern der Tafeln blieb, ob es zu einer inspirierenden Betrachtung kam, ob Texte wie Bilder Anlass gaben für eine vertiefte, einerseits Stoffselektion vornehmende, andrerseits Mehrwissen einbringende Anschlussdiskussion, in 11 Für einen ›dialogischen‹ Umgang mit solchen Tafeln spricht auch die grundsätzliche Nähe von Bildlichkeit und Mündlichkeit. Visuell wie oral geschieht die Aneignung von Wissen über Assoziationen, Themensprünge, spontane Vergleiche sowie Ordnen und Neuordnen von Vorgegebenem.
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jedem Fall entscheidend waren der Bildungshorizont des Publikums und die situativen Gegebenheiten. Vorwissen wird sich während der Betrachtung der Tafeln von selbst eingestellt haben und es wird zur Sprache gebracht worden sein; gerade dann relativieren sich Widersprüche, Brüche und Lücken in den Texten und Bildern.12 Die Handschrift hat man demnach weniger an ihrem Beschädigungsgrad zu messen, als an dem, was die Tafeln trotz der überlieferungs- und abschriftsbedingten Fehlerhaftigkeit als ›offener‹ Text in der mündlichen Aktivierung von Wissen zu leisten vermögen. Für eine Einschätzung aus diesem Blickwinkel spricht vielleicht, dass der Zeichner und Schreiber, in der Annahme einer visio-verbalen Aneignung, dem Bild Priorität einräumte und die vielen Textverderbnisse gleichgültig in Kauf nahm. Damit rückt mehr das (theoretische) Reden über Inhalte ins Blickfeld, weniger ihre praktische Erprobung: Die Aderlasstafeln sind in ihrer theoretischen Akzentuierung kaum für den Aderlass bestimmt gewesen, dagegen spricht schon ihr praxisfernes Format. Auch Tugend- und Lasterbaum haben mehr allgemeinen Mahncharakter, als dass sie eine geordnete Disposition für einen Beichtspiegel abgeben; die Behandlung der Artes bleibt ein oberflächlicher Hinweis auf die Grundlagen der Bildung ohne Rechenschaft über verbindliche Inhalte. Alles in allem macht sich die Handschrift gut zur Präsentation im gesellschaftlichen Umgang und bestätigt dem Besitzer beim Vorzeigen seinen Anspruch auf Bildung. Trotzdem ist das hier vermittelte Bildungswissen nicht als Antagonismus zu einem wie auch immer gearteten Handlungswissen zu verstehen. Die Unmittelbarkeit des mündlichen Austauschs löst einen solchen Gegensatz auf: In der Gesprächssituation entkräften sich Widersprüche, nivellieren sich Brüche, füllen sich Wissenslücken. Schriftlich erstarrte und inhaltlich reduzierte Spruchweisheiten können, einmal zur Sprache gebracht, allemal handlungsgerichtete Relevanz haben.13 12 Auf die wichtige Rolle von Vorwissen und Erwartung bei der Aneignung von medizinischen Wissen deutet Ortrun Riha hin: Medizin, S. 9–33, hier: 27. 13 Die Frage, ob die Begriffe ›Handlungswissen‹ bzw. ›Bildungswissen‹ eine relevante und den Blick schärfende Konturierung von anspruchsvoll-theoretischer lateinischer versus anspruchslos-praktischer volkssprachiger Wissensliteratur abzugeben vermögen, relativiert Ortrun Riha mit den folgenden Worten: »Beide Aspekte sind zur selben Zeit in jedem medizinischen Text enthalten, und dies ist auch der Grund, weshalb Fachleute und Laien die gleichen Texte lesen: Wissen stiftet Identität, Wissen interessiert, da es Einblicke in das Wesen der Welt und die Stellung des Menschen vermittelt, Wissen ist ein beruhigender Anker im gefährdeten Alltag, und Wissen beeinflusst konkret das Verhalten im Krankheitsfall. Dass die Theorie die Praxis begrün-
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Die Tafeln gleichen einer ›Enzyklopädie‹ im Kleinen, das oral zu entfaltende Weltbild-Wissen steht den volkssprachigen, von Laien angeregten und für Laien konzipierten ›Imago-mundi‹-Texten nahe,14 ist – zumindest der Intention nach – eine (städtische?) Spätform jenes gelehrten Austauschs zwischen Klerikern und Laien, wie er die Anfänge der höfischen Kultur charakterisiert. Der Schritt von einer kolloquialen Rezeption der Tafeln zur Rezeption weitgehend textentledigter Bildzeugnisse ist nur mehr ein kleiner. Für eine reine Bildlektüre spräche besonders auch die Wahl der Bildmotive. Ein wesentlicher Teil des in R vertretenen Typenschatzes ist nicht nur handschriftlich überliefert und damit überwiegend auf die private Gebrauchssphäre beschränkt; man findet die Darstellungen eben auch im visio-verbalen Kontext des öffentlichen Diskurses an Wänden von Profan- und Sakralbauten, so zum Beispiel das Rad der Fortuna, Personifizierungen der Artes, Darstellungen der sieben Todsünden oder die Reihe der Frauensklaven. Bei letzterer bildet die handschriftliche Überlieferung gar die Ausnahme: Sie ist nur in R überliefert.
3.3 Gebrauchskontexte Ausgehend von einzelnen, in R vertretenen Themen widmet sich das folgende Kapitel spezifischen Gebrauchskontexten. Den Anfang macht das Thema der ›Weiberlisten‹, das man unter anderem im sogenannten Hausbuch des Michael de Leone vorfindet. Es folgen ausgewählte Themen aus den Bereichen der Astrologie, Medizin und Frömmigkeit. Das Spektrum an Gebrauchskontexten ist weit und schlägt sich in der Vielfalt an Überlieferungsträgern nieder: Falthefte und Faltbücher, Tafeln und Tafelsammlungen, Pergamenthefte und Einblattdrucke tradieren spätmittelalterliches Bildungswissen wie es auch Wandmalereien, Tapisserien und Gebrauchsgegenstände tun.
det, ist auch uns klar; dass die Theorie gleichzeitig die Praxis ist, macht das Wesen der mittelalterlichen Heilkunde aus.« (Handlungswissen, S. 18). Zur Debatte zwischen Ortrun Riha und Bernhard Schnell: Riha, Das systematologische Defizit, S. 255–276, bes. 270–276. Schnell, Die volkssprachliche Medizinliteratur, S. 129–145. Vgl. Teil A, Kapitel 6.2.3, Anm. 293. 14 Vgl. Steer, Imagines mundi-Texte, S. 23–33, hier: 27.
Gebrauchskontexte
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3.3.1 Frauensklaven: Die Überlieferung der Pseudo-Frauenlob-Strophe V ,204 Ein paar Überlegungen zum Text-Bild-Bezug und zur Rezeption der Reihe der Frauensklaven in R (Tafeln XIV und XV ) sollen hier den Einstieg für die weiteren Überlieferungs- und Gebrauchskontexte der Pseudo-Frauenlob-Strophe (Tafel XV .5) bilden. Die Doppelseite bietet Gelegenheit zu interessanten Einsichten, lassen sich die Bilder doch gleich an ihrer vermutlichen Textquelle überprüfen. Den Inhalt der Einzelstrophe kann man mit gutem Recht als konventionell bezeichnen. Der Text erschöpft sich in Anspielungen auf vielfach angeführte Frauensklaven, setzt also deutlich mehr Wissen voraus, als er an Inhalt vermittelt. Die Funktion der Strophe bei der Entstehung der Zeichnungen mag darin bestanden haben, die jeweils angespielte Episode in Erinnerung zu rufen. So spricht der Text zum Beispiel allgemein von Artus scham, die von weiben chom (vgl. Tafel XV .5.3), während das Bild im zehnten Feld spezifisch seine Hornprobe zeigt (Tafel XIV .10). Im Fall des Achilles begnügt sich der Text mit der Bemerkung dem geschach alsam (Tafel XV .5.3), während das neunte Bild seine Überlistung erzählt (Tafel XIV .9). Die Mehrzahl der Bilder erklärt sich als Reproduktion bekannter Bildtypen, so der gerittene Aristoteles im zweiten Feld (Tafel XIV .2), der im Korb hängende Vergil im vierten (Tafel XIV .4), der im Schoss von Dalila geschorene Samson im fünften (Tafel XIV .5) oder der im Baum hängende Absalon im elften Bildfeld (Tafel XIV .11). Die Bilder speisen sich aus Stoffkreisen, die der Text in seiner Offenheit zwar initiiert; ihre Ausführung beruht aber weniger auf Texttreue als auf spontanem Abrufen von Bildtypen und Bildreminiszenzen. Das funktioniert gut bei den bekannteren Episoden, wo der Zeichner in Kohärenz mit der Textvorgabe auf einen festgefügten Bildtyp mit einem Repertoire an Reminiszenzen rekurrieren kann, wie es der Fall ist bei der Idolatrie Salomons im sechsten Feld (Tafel XIV .6), bei der Verführung Davids durch Bathseba im zwölften (Tafel XIV .12) oder bei der Enthauptung des Holofernes auf fol. 8r (Tafel XV .1), führt aber dort zu inhaltlichen Brüchen, wo der Text allgemein und unverbindlich bleibt und der Zeichner weder an eine genaue Inhaltsvorgabe gebunden war, noch über das erforderliche Bildwissen verfügte. Die Darstellung des Achilles in der neunten Miniatur (Tafel XIV .9) ist dafür ein treffendes Beispiel. Das Bild stellt die Entlarvung des jungen Achilles durch Ulixes dar.15 Mit der Thematik der Frauenlist hat diese Episode nichts zu 15 Vgl. die Beschreibung der Szene in Teil A, Kapitel 6.1.3.9.
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tun, auch nicht die Jugendliebe des Achilles zu Deidameia, die seine Entlarvung in keiner Weise mitverschuldet. Die Pseudo-Frauenlob-Strophe spielt mit dem Wissenshorizont der verhängnisvolleren Liebe zwischen Achill und Polyxena (Tafel XV .5.2). Das Bild (Tafel XIV .9) zeigt zudem Versatzstücke einer anderen Bildszene: Die Situierung der Szene auf einem Schiff, die zerrissenen Stricke über der Rahe, die an den Mastbaum angelehnte Rüstung mit dem ihr zugeordneten Spruchband gehören zum Bildarsenal des Sirenenabenteuers, das seit der Antike im Bildtyp des am Mast festgebundenen Ulixes verbildlicht wurde. Die Weiterarbeit an der PseudoFrauenlob-Strophe geht hier Wege, die weitab von einem einfachen TextBild-Bezug liegen. Die Entstehung der Zeichnung ist an ihren inhaltlichen Brüchen abzulesen. Diese veranschaulichen das (bewusste?) Lavieren des Zeichners zwischen zwei konkurrierenden Bildvorstellungen. Die Reihenfolge der Bilder hält sich, mit Ausnahme des Anfangs- und Schlussbildes, nicht an diejenige der Strophe: Der Zeichner springt beliebig von einem Beispiel zum anderen, ein Vorgehen, das auch ein Modell für die Rezeption der Bilder abgibt und sich im Einzelnen dann als eine der Entstehung der Miniaturen vergleichbare Interaktion von Text- und Bildwissen umreissen lässt. Die Betrachtung der Bilder lässt sich am besten optional denken im Sinn einer ›Weiterarbeit‹ im Oralen, eines Gesprächs über die Bilder. Der Betrachter wählt ein Bild, reaktiviert die Bildformel zur Vollform und vergegenwärtigt sich auf diese Weise den Ablauf der Erzählung durch assoziierendes Erinnern, teilt sie schliesslich mit – man kann sich eine Rezeption vorstellen, die, von den statisch-komprimierten Bildabbreviaturen initiiert, eine feinmaschige Diskussion nach sich zieht oder (im gegenteiligen Fall) über eine oberflächliche Andeutung nicht hinauskommt. In jedem Fall waren die einzelnen Bilder und ihre Inhalte einem durchschnittlichen mittelalterlichen Publikum verfügbar; ihre Aneignung im Gespräch wiederholte und bestätigte nur das, was man schon gehört, gesehen oder gelesen hatte. Auf dieses Vorwissen hin scheinen die Doppelseite wie die Strophe angelegt zu sein. Die Analyse der Doppelseite zeigt, wie sich ihre Planung unter der Hand veränderte. Das vom Text vorgegebene Fünfzehner-Programm wird in der untersten Reihe durchbrochen durch das Inserat des Bildpaares zur ›Buhlschaft im Baum‹ (Tafel XIV .14 und 15), das entsprechend der Erzählung in Betrug und Bestrafung geteilt ist. Mit der Aufnahme der ›Buhlschaft‹ in die Beispielreihe mag auch die Entscheidung gefallen sein gegen die Verbildlichung nur der Beispiele aus der Pseudo-Frauenlob-Strophe, für die wohl die fünfzehn Felder ursprünglich gedacht waren.
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Diese Baumszene findet sich ein weiteres Mal im Zürcher ›Haus zur Mageren Magd‹ (Abb. 35), dort zusammen mit der umgedeuteten Baumgartenszene des ›Tristan‹ und weiteren Szenen höfischer Geselligkeit.16 Hier, in R, bildet die Darstellung den Schluss einer Reihe, die ebenfalls mit einer Baumszene beginnt, zudem wie in der Zürcher Darstellung motivische Parallelen zur Sündenfallszene aufweist und, darüber hinaus, mit der Bestrafung der Frau einen vorläufigen Abschluss findet. Man wird auch beide Darstellungen auf die konventionellen Inhalte der beiden Textsorten ›Märe‹ und ›Schwank‹ zurückzuführen haben. Konventionalität scheint hier den Transfer ins Bildmedium zu begünstigen, wie das Zürcher Beispiel und die bildliche Umsetzung im Konstanzer ›Haus zur Kunkel‹ zeigen. Das Märe passt insofern in die Reihe, als auch in ihm die Frauenlist im Mittelpunkt steht, es wird zudem durch die Bestrafung der Frau sinnvoll abgerundet. Die Konstellation der Figuren auf der unteren Hälfte der rechten Seite (fol. 8r, Tafel XV .7) könnte der Zeichner gut in zeitgenössischen Bildern vorgefunden haben. Das Bild ist auch schon in Bezug gesetzt worden zu kunstvollen Darstellungen der Venusanbeter, wie sie auf oberitalienischen Wöchnerinnentabletts erscheinen, oder zu Illustrationen von Petrarcas ›Triumph der Liebe‹.17 Aber diese dienten unserem Zeichner wohl kaum als Anregung, eher schon waren es anspruchslosere genrehafte Verführungsszenen wie die Darstellungen in C (Abb. 48)18 oder ein früher Nürnberger Holzschnitt, der trotz Zerstörung der Venusfigur und der Spruchbänder ihrer Anbeter durch einen Benützer die Szene noch erkennbar in gleicher Konstellation wiedergibt. Der zwischen 1455 und 1465 datierte Reiberdruck zeigt drei nach Alter unterschiedene (Jüngling, Mann und Greis), vor Venus aufgereihte Männer. Sichtbar ist noch der Sitz der Venus, der traditionellerweise aus einer von Eisenkraut umwachsenen Muschel besteht.19 Den gleichen Wissenshintergrund evoziert ein Kupferstich des Dreifaltigkeitsstechers, der nachträglich in die Sammelhandschrift München, BSB , Clm 3941 des Sigmund Gossembrot eingeklebt worden ist 16 Lutz, Der Minnegarten, S. 380 ff. (Abb. 10). Ähnliche Szenen findet man auf einem Regensburger Medaillonteppich (um 1390). Hier erscheinen Liebespaare in Liebesfreude und Liebesleid (Werbungs-, Spiel- und Umarmungsszenen). Als Abschluss erscheint Aristoteles als Frauensklave. Vgl. Regensburg im Mittelalter (Ed. Angerer), Nr. 20.1 (Taf. 49). 17 Vgl. Teil A, Kapitel 6.1.3.18. 18 Fol. 3v. Vgl. Kapitel 1.2. 19 Holzschnitte aus dem ersten und zweiten Drittel des 15. Jahrhunderts (Ed. Schreiber), Bd. 1, Taf. 48.
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(Abb. 72).20 Das Bild zeigt eine Frau, die auf einem Esel reitet und an Stricken vier Affen hinter sich herzieht. Vor ihr stehen vier Männer mit Narrenkappen, die ihr ergeben sind. Hier geht es offenbar um die Verführung und Veräffung der sie anbetenden Narren.21 Das Repertorium der Sangsprüche verzeichnet für die Pseudo-Frauenlob-Strophe V ,204 neben den zwei bildlichen Überlieferungen (›Süddeutsche Tafelsammlung‹ und ›Haus zur Kunkel‹) fünf bildlose, handschriftliche Überlieferungsträger.22 Der vielleicht prominenteste Überlieferungsträger ist das Hausbuch23 des Michael de Leone, eine breit angelegte Textsammlung des zwischen 1336 und 1350 amtierenden bischöflichen Protonotars und Scholasters des Würzburger Neumünsterstifts.24 Der im Zeitraum zwischen 1348 und 1353 entstandene Kodex versammelt ein breites Spektrum an volkssprachigen und lateinischen Texten aus dem Bereich der Didaxe.25 Neben Grossformen wie dem ›Renner‹ oder dem ›Lucidarius‹ sind verschiedene Formen geistlicher und weltlicher Reden und Lieder (›Würzburger Liederhandschrift‹) vertreten.26 Hinzu kommen geistliche Gebrauchs20 Fol. 139v. 21 Spruchband nach Wilhelm Schmidt, Zur Geschichte, S. 127: Eynen essel reyden ich, wan ich weil eyn gauch; dat is myn federspil, da mit fangen ich naren ‹und› affen vyl. Vgl. die Ausführungen zu C (fol. 4r) in Kapitel 1.2. Ähnliche Darstellungen sind in der Erstausgabe von Sebastian Brants ›Narrenschiff‹ zu finden, so die Holzschnitte zum 13. und 50. Kapitel (Ed. Lemmer, S. 13 und 50). Vgl. dazu: Lutz, Spiritualis fornicatio, S. 333 f. 22 Sangsprüche (Ed. Haustein/Stackmann), Bd. 2, S. 353 ff. 23 Ich verwende hier den Begriff in Ermangelung eines besseren. Wichtigstes Merkmal von Hausbüchern ist das Kriterium der Privatheit, also ihr Gebrauch im Bereich von Haus und Familie, nicht die Kategorie des Inhalts, auf die etwa die Bezeichnung ›Buch von Mensch, Tier und Garten‹ abzielt. Auf diese Unterscheidung weist Nikolaus Henkel hin: Ein Augsburger Hausbuch, S. 27– 46, hier: 44 ff. Vgl. auch: Meyer, ›Hausbuch‹, in: RLW 2, S. 12 ff. 24 München, UB , 2° Cod. ms. 731 (= Cim. 4) (Würzburger Liederhandschrift). 25 Ausführlich dokumentiert in der detaillierten Beschreibung von Gisela Kornrumpf und Paul-Gerhard Völker: Die deutschen mittelalterlichen Handschriften der Universitätsbibliothek München (Beschr. Kornrumpf/Völker), S. 66–107. 26 Zu Entstehungsvorgang, Interessen und Präferenzen, hinter denen personelle Konstellationen (Beziehung Michael de Leones zu Hermann von Schildesche, Augustiner-Chorherr und Generalvikar des Bischofs) und lokale Strukturen (Administration und Schultradition rund um das Neumünster) stehen, vgl. Peters, Literatur, S. 141–162. Peters fasst Michaels Literaturinteresse unter der Kategorie des ›Gebrauchs‹ zusammen: Michaels ›Gebrauch‹ von Literatur gehe auf »die gesellschaftlichen Erfahrungen und das Literaturverständnis
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texte (Gebete, katechetische Stücke, 50 Mariengrüsse usw.), die vielfach lateinisch und deutsch geschrieben sind,27 sowie Texte, die um Hausführung und verschiedene Aspekte mittelalterlicher Gesundheitslehre kreisen. Die komplexe Entstehungsgeschichte des Hausbuchs, die Buntheit der darin versammelten Textsorten und ihr langer Entstehungsprozess führten dazu, dass vielfach Religiös-Unterweisendes neben Parodistisch-Obszönem steht, Höfisches neben Derb-Schwankhaftem, anspruchsvolle Allegorien neben simplen Klagen und Preisgedichten.28 Die Pseudo-Frauenlob-Strophe erscheint nun in dem zwischen 1345 und 1347 von Hand B geschriebenen Grundstock,29 der die Kapitel 9–14 des nicht erhaltenen ersten Buches30 und die Kapitel 15–28 des zweiten Buches31 umfasst. Die Strophe figuriert im Inhaltsverzeichnis unter Kapitel 27, zusammen mit Frauenlobs ›Marienleich‹, der ihr vorangeht und als Canticum canticorum betitelt wird,32 und dem Pseudo-Marner-Spruch ›Von den zehen geboten und vnd den siben totsunden‹, der ihr folgt.33 Das Kapitel bildet inhaltlich eine Einheit und setzt sich ab vom vorausgehenden ›König vom Odenwald‹ und einem einmalig überlieferten ›Lob auf die ritterliche Minne‹ (Kap. 26) sowie vom nachfolgenden Kapitel, das aus Versgut und medizinischer Traktatliteratur besteht. Die Pseudo-Frauenlob-Strophe stellt
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eines in städtisch-klerikale Kreise integrierten hohen geistlichen Verwaltungsbeamten des Würzburger Bischofs« zurück (S. 162). Vgl. auch: Glier, Kleine Reimpaargedichte, S. 24–32. Holznagel, Wege, S. 59 f. Einen ähnlichen Handschriftentyp stellt die von Sarah Westphal untersuchte Münchner Handschrift Cgm 717 dar (Textual Poetics, bes. S. 20–27). Zu dieser deutsch-lateinischen Mischkultur vgl. Glier, Kleine Reimpaargedichte, S. 25 f. Zu den religiösen Interessen von Michael de Leone vgl. Peters, Literatur, S. 145–148. Vgl. auch die ältere Arbeit: Keyser, Michael de Leone, S. 114–121. Vgl. Glier, Kleine Reimpaargedichte, S. 31. Die deutschen mittelalterlichen Handschriften der Universitätsbibliothek München (Beschr. Kornrumpf/Völker), S. 70. Die Inhalte sind bekannt dank des noch erhaltenen Inhaltsverzeichnisses. Hier fanden sich unter anderem der ›Cato‹, die ›50 Mariengrüsse‹, der ›Renner‹ und Lieder Frauenlobs. Vgl. ebd. S. 75. Hier finden sich Freidanks ›Bescheidenheit‹, Konrads von Würzburg ›Goldene Schmiede‹, der ›Lucidarius‹ sowie umfangreiche Liedkorpora von Walther und Reinmar. Vgl. ebd. S. 75 f. Zu diesem, auf das Hohelied sich beziehenden Titel und zur lateinischen Übertragung des Marienleichs in der sogenannten Wiener Leichhandschrift W vgl. Kühne, Latinum, S. 1–14, hier: 5. Das Hausbuch des Michael de Leone (Ed. Brunner), fol. 210v.
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nun dem hymnischen Lob auf Keuschheit und Weisheit Mariens gleichsam ›typologisch‹ den als Betrug Evas ausgelegten Sündenfall gegenüber. Der katechetische Inhalt des Pseudo-Marnerspruchs fügt sich hier insofern sinnvoll an, als die zwei zur Wahl stehenden Lebenswege, also der sich an Adams Fall orientierende Weg der durch Weiberlist Gefallenen und der heilsversprechende, Maria zum Vorbild nehmende Weg der Besserungswilligen in der Gegenüberstellung der Gebote und Todsünden eine moralischeschatologische Zuspitzung erfährt. Die Pseudo-Marner-Strophe beginnt mit einem Aufruf zur Umkehr34 und endet nach der Aufzählung der zehn Gebote und sieben Todsünden mit den postmortalen Realitäten helle oder engel schar: Nu nemet war, die helle ist eren bar, vnd stellet zuo der engel schar, unkiusche, hochvart, gitikeit, zorn, vrazheit, trakeit von dir bar; der die kan halten unde lan, dem wirt dort wol unt nimmer we.35 Das Vorhandensein des Marienleichs überrascht deswegen nicht, weil die auch anderweitig bezeugte Marienverehrung Michaels36 auch an anderen Stellen des Hausbuchs einen Niederschlag findet.37
34 Wer vor der helle welle genesen, dem rat ich, daz er sich ker an diu dink, diu mügen wesen in Gotes namen ewiklich, unt tuo er, als er im gebot in niuwer und in alter e (HMS II ,257). 35 HMS II ,257. Im Kontext von Marienfrömmigkeit und Tugend-Laster-Katechese erscheint die Pseudo-Frauenlob-Strophe auch in der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. germ. 314, fol. 63rb (1Frau/2/67d, 1443/47, im Besitz von Sigmund Gossembrot, Augsburg). In einer liturgischen Sammelhandschrift des späten 14. Jahrhunderts aus Engelberg (StiB, Cod. 314, fol. 11r) erscheint nur das Initium der Strophe als Tonangabe (1Frau/2/75–79a). Vgl. dazu: Engelberg Stiftsbibliothek Codex 314 (Faksimile-Ed. Arlt/Stauffacher), S. 85. 36 Ebenso im ›Manuale‹, einer Sammlung theologischer, juristischer und historiographischer Schriften, die im Besitz Michaels war. Die Verehrung Mariens erklärt sich aus der um 1350 geführten Debatte über die unbefleckte Empfängnis. Hermann von Schildesche und Michael de Leone traten für die Begehung des Festes der conceptio immaculata ein. Vgl. Keyser, Michael de Leone, S. 116 f. 37 So in den Textpartien des um 1350 entstandenen ersten Nachtrags. In den vorgeschalteten Lagen befindet sich nahezu das gesamte Repertoire an Mariengebeten (fol. 2v–3v): das dem ›Pater noster‹ angehängte ›Ave Maria‹, die Lobpreise ›Magnificat‹ und ›Nunc dimittis‹ sowie das Grussgebet ›Salve regina‹. Auf fol. 4v/5r erscheint ein Text für die Marienliturgie. Es folgen im Verlauf der Textsammlung volkssprachige Marienpreise wie ›Die goldene Schmiede‹ des Konrad von Würzburg (fol. 43r–58v), die Mariensprüche des Marners und Friedrichs von Sonnenburg (fol. 225v/226r) sowie die verlorengegangenen ›Mariengrüsse‹. Vgl. dazu: Keyser, Michael de Leone, S. 114–118.
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Die Überlieferung der Pseudo-Frauenlob-Strophe schliesst Präzisierungen ein in Form von gelehrten lateinischen Randglossen von späterer Hand. Die Nachträge bestehen jeweils aus dem Namen der Protagonistin und dem Nachweis der entsprechenden Bibelstelle, füllen also die im Text ›offen‹ gebliebenen Leerstellen mit Hintergrundwissen auf. Im Fall Absalons wird gleich auf zwei Deutungszusammenhänge hingewiesen: auf den unrechtmässigen Anspruch des Davidsohnes auf die Kebsweiber seines Vaters (II Sm 16,21) und auf die List einer namenlosen Frau, die Jonathan und Achimas vor den Knechten Absalons in einem Brunnen versteckt und somit indirekt Absalons Untergang vorbereitet (II Sm 17,18 f.). Die Zusätze bei ›Alexander‹ und ›Aristoteles‹ weisen auf Interferenzen zwischen der Tauchfahrt Alexanders und der Überlistung des Aristoteles hin: Bei ›Aristoteles‹ stehen weder Phyllis noch die indische Königin Candace, sondern Roxana bzw. Salusca, die während des Meeresabenteuers sich als treulos erweisende Geliebte des Makedonierkönigs. Die Glosse zu ›Achill‹ spielt mit dem Wissenshorizont der verhängnisvollen Liebe zu Polyxena, die, durch Hekuba veranlasst, mit dem Tod des Achill endet. Eine typologische Erweiterung erfährt die Strophe in einer der beiden Fassungen der Kolmarer Liederhandschrift (1Frau/2/537a, um 1460).38 Die mit Adam beginnende Strophe wird durch zwei typologisch auf sie bezogene Strophen ergänzt, in denen, ausgehend vom Verrat des Judas, die Erlösungstat Christi aufgerollt wird. Der Autor spielt mit den Begriffen kram und krämer. Strophe 2 setzt mit dem krämer Judas ein, der Christus, den kram ob allen kramen, für dreissig Pfennige an die Juden ausliefert.39 In Strophe 3 schliesslich sühnt der hochgelopt almechtig kram Adams Fall: du woltest zinsen Adames val. Die erste Strophe wird redaktionell dahingehend variiert, dass das Sänger-›Ich‹ nicht mehr in der Reihe der Toren erscheint. An seine Stelle tritt gleichsam Judas, der – in der neuen, zweiten Strophe – die alttestamentlichen Lapsus weiterführt, diese zugleich typologisch überbietet und auf das Heilswirken Christi hin öffnet. Die dritte Strophe schliesst mit der Hoffnung der Gerechten auf die freuden wat, die den grechten wol an stat jn hymmel.40 Ein zweites Mal ist die Pseudo-Frauen38 RSM III ,340. Die Kolmarer Liederhandschrift (Ed. Müller u. a.), Bd. 1, fol. 115vb und 122ra–122rb. 39 Fol. 115vb, I,1–6: Iudas, du bist ein wunder hoher krämer gwesen./ Ich han gelesen,/ von dinem krame riche/ dir wart me nit gliche./ Ich wen, daz mir die cristenheit der rede nit entwiche./ Eyn kram swebt allen krammen ob, recht als daz golt dem blye. 40 Fol. 122rb. Lähnemann charakterisiert die Umfunktionalisierung der Strophe
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lob-Strophe auf fol. 101r überliefert. Anstelle des im Hausbuch des Michael de Leone und in weiteren Handschriften überlieferten Namen ›Asahel‹ steht hier der ursprünglichere ›Ismahel‹, zu dem auch der Beiname ›wild‹ passt.41 In der Handschrift O IV 28 der Basler Universitätsbibliothek (1Frau/2/ 557a, um 1430), die ausser Suchendanks ›Zeitklage‹ ausschliesslich Sangspruchdichtung überliefert, nimmt die Strophe den zweiten Platz innerhalb von drei Einzelstrophen ein,42 von denen die erste eine Doublette der zweiten mit den Doppelnennungen David, Salomon, Absalon und Vergil darstellt. Die Strophe endet mit einer Warnung vor den Frauen – die Pointe fehlt: darumb sol nümer biderb man mit frowen sich vergahen.43 Die Pseudo-Frauenlob-Strophe ist nur assoziativ an die erste Strophe angebunden und lässt sich zudem kaum mit dem nachfolgenden Länderkatalog in Zusammenhang bringen – eine Anbindung ergibt sich allenfalls über die katalogartige Aufzählung und über den Schlussvers, der mit einem Lob auf die Frauen aller Länder schliesst: einer der es alls durchgangen und durchfahren hatt, kan zarter frowen rotten mund mit lob nit überküssen.44 Das kompilatorische Prinzip, das dem Katalog der Pseudo-Frauenlob-Strophe zugrundeliegt und auf Kosten der inhaltlichen Kohärenz geht, ist auch wieder massgebend für die Zusammenstellung der drei Strophen zu einem Bar, bei dem die logische Stringenz ebenso fehlt.45
3.3.2 Leibeswohl und Seelenheil: Einblattschriftlichkeit und verwandte Formen Die in R vorgestellten, wissensvermittelnden und frömmigkeitsbildenden Weisheiten sind in vielfältigen Gebrauchsformen greifbar. Einen Schwerpunkt bilden die Formen der Einblattschriftlichkeit, handschriftliche Ein-
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als »Beschreibung der miseria humane conditionis, um deren Überwindung Gott gebeten wird.« (Hystoria Judith, S. 429). Gn 16,12. Die Strophen sind hier, einer Tendenz des 14. Jahrhunderts folgend, zu einem Bar gefügt. Das gleiche Phänomen ist auch bei den Strophen in der Kolmarer Handschrift zu beobachten. Vgl. Schanze, Meisterliche Liedkunst, Bd. 1, S. 77–80. Sangsprüche (Ed. Haustein/Stackmann), V,208, V. 19. Die Strophe weist ein paar Abweichungen hinsichtlich der Namen auf, so Salander für Alexander und Ysyas fur Achill. Ismahel wird als ysahelisch wiedergegeben. Ebd. V .56 f. Vgl. Lähnemann, Hystoria Judith, S. 424–431.
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zelanfertigungen wie auch Vielfachanfertigungen des Einblattdruckes.46 Ich unterscheide fortan drei Kategorien der Einblattschriftlichkeit, weiche diese jeweils durch verwandte, am Codex sich orientierende Zwischenformen auf: die Form des Faltblatts durch jene des Faltbuchs, die Form des textierten Tafelbildes (tabula)47 durch jene der textierten Tafelsammlung und des Heftes, die Form des Einblattdrucks durch jene des Frontispizes. Die massgebliche Konstituente hinsichtlich des Gebrauchs scheint mir das Kategorienpaar ›Öffentlichkeit/Privatheit‹. Damit korrelieren ein Stück weit die Verfahren der Herstellung: die serielle Produktion im Druck und die Einzelanfertigung der Handschrift. Auf Faltblatt und Faltbuch werde ich anhand von zwei Beispielen etwas näher eingehen, die Formen der Tafel und des Einblattdruckes werden eher summarisch behandelt.
3.3.3 Medizinisches, Katechetisches, Brontologisches Ich beginne mit einer Gebrauchsform, die vom Kodex zu den Formen der Einblattschriftlichkeit überleiten soll. Die Form des Faltbuchs ist im 14. und 15. Jahrhundert vor allem für Kalender und Almanache verwendet worden und erfüllte die Funktion eines Vademecums, das kopfunter an den zusammengefassten Blattzungen hing und an einer Schnur in der Hand oder am Gürtel getragen werden konnte.48 Die einzelnen Pergamentblätter von Faltbüchern liessen sich auf ein Viertel, Sechstel oder Achtel falten und bieten eine »technisch ›rationelle‹ Lösung für das altbekannte Problem, etwas herzustellen, das von aussen klein, von innen aber gross ist.«49 Die Blätter wurden in der Regel nur inwendig beschrieben; die beim Falten nach aussen liegenden Seiten erst später oder gar nicht. Eine Ausnahme bildet hier die dreifach gefaltete, beidseitig beschriebene Londoner Handschrift 46 Ich stütze mich hier auch die umfassende Zusammenstellung unterschiedlichster Vorformen des Einblattdruckes von Volker Honemann: Vorformen, S. 1–43. 47 Honemann unterscheidet beim Begriff der Tafel zwischen Schrifttafel und textiertem Tafelbild. Letzteres biete »neben dem Bild auch – in deutlich steigendem Anteil – Text« (Vorformen, S. 11 f. Hier auch die einzelnen Bedeutungen des Begriffes tabula, der neben ›Inhaltsverzeichnis‹ oder ›Register‹ auch ›Gemälde‹ oder ›Schreibtafel‹ bedeuten kann, aber keineswegs die Publikationsform eines auf eine Tafel geschriebenen Textes bezeichnen muss). 48 Vgl. Gumbert, Über Faltbücher, S. 111–121, hier: 111. Muzerelle, Vocabulaire, S. 143. Talbot, A Mediaeval Physician’s Vade Mecum, S. 213–233, hier: 214 (Abb. 1–4). 49 Gumbert, Über Faltbücher, S. 114.
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MS Additional 17358 (um 1431), die ausgefaltet 250 × 170 mm misst,50 und
von beiden Seiten lesbar ist. Auf der einen Seite findet man den von fol. 7r–1r foliierten Almanach des John Somer,51 in den ein Zodiakusmann integriert ist (fol. 2v); auf der anderen Seite befinden sich auf zehn Blättern von fol. 8r–14r der biblische Stammbaum nach Petrus Pictaviensis und, daran anschliessend (fol. 14r–17r), katechetische Schemata, die mit einem Modell der Planetensphären beginnen (fol. 14r) und Motive aus dem ›Speculum theologiae‹ beinhalten.52 Was diese Handschrift vor vergleichbaren Faltbüchern, die sich üblicherweise im Rahmen eines Kalenders auf astrologisch-medizinische Angaben beschränken,53 auszeichnet, ist das Themenspektrum, das um einen Abriss der Heilsgeschichte und um eine Schemasammlung zur Seelenerbauung erweitert ist. Gerade die Erweiterung der Themen zu einer breiten, die Heilsgeschichte einbeziehenden Wissensauswahl hebt das Faltbuch von vergleichbaren, quasi seriell gefertigten Exemplaren ab. Der summarische Charakter verrät den Anspruch auf umfassendes Wissen rund um Leibeswohl und Seelenheil: Astrologisch-medizinisches ›Leibeswissen‹ steht neben biblisch-katechetischem ›Seelenwissen‹. In diesem Punkt ist das Faltbuch durchaus mit R vergleichbar, wenn auch im vorliegenden Fall der praktische Gebrauch auf der Hand liegt, während R eher Bildungswissen repräsentierte. Die Faltung der Seiten impliziert in diesem Falle, dass eine Zurschaustellung ausgeschlossen und ein individueller Gebrauch intendiert war, der sich durch rasche Informationsbeschaffung auszeichnen sollte:54 Über R hinaus enthält das Faltbuch die ›Genealogia Christi‹ des Petrus Pictaviensis, die heilsgeschichtlich geordnetes Wissen über biblische Figuren bietet und funktional in die Nähe eines Heiligenkatalogs zu rücken ist.55 Das durchweg lateinische Londoner Faltbuch stellt sich in die Tradition der franziskanischen Kalenderproduktion im England des ausgehenden 14. Jahrhunderts,56 setzt sich also ab von den rein volkssprachigen Laienkalen50 Gefaltet etwa 120 × 58 mm. 51 Vgl. Mooney, The Kalendarium, S. 59 f. 52 Fol. 15r: Tugend- und Lasterbaum, fol. 15v: zwölf Glaubensartikel, fol. 16r: zehn Gebote und zehn Ägyptische Plagen, fol. 16v: Manus dyaboli und Manus ecclesie, fol. 17r: eine Art Tugendhand. 53 So der Faltkalender Berlin, SBB-PK , Libr. pict. A 92. Dazu: Aderlass (Ed. Becker/Overgaauw), Nr. 181. 54 Vgl. Honemann, Vorformen, S. 36 f. 55 Die ›Genealogia‹ ist nicht selten zusammen mit dem ›Speculum theologiae‹ überliefert, so in Wien, ÖNB , Cod. 1548. 56 Vgl. Kapitel 2.2.
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dern. Der gelehrte Impetus lässt sich schon an Schrift57 und Sprachwahl ablesen, weiter aber auch an den Beischriften, die einen gelehrten Hintergrund vermuten lassen. Tugend- und Lasterbaum beispielsweise werden ergänzt durch Kurztexte zur Verkettung der Tugenden und Laster (Abb. 73).58 Zudem scheinen Akzente in der Auslegung der Tugenden und Laster gesetzt worden zu sein, die auf eine Neubewältigung des Stoffes hinweisen. Die sieben Nebentugenden etwa sind so angeordnet, dass jeweils eine oben ›ausschwingt‹: bei der ›Liebe‹ die ›Gnade‹ (gracia), beim ›Glauben‹ die ›Keuschheit‹ (virginitas), bei der ›Hoffnung‹ die ›meditierende Betrachtung‹ (contemplacio).59 In ein ähnlich gelagertes Gebrauchsumfeld sind sechs zusammengehörende, aber nicht zusammengebundene Faltblätter der Bodleian Library in Oxford zu situieren, die unter der Signatur MS . Rawl D. 939 verzeichnet sind. Ausgefaltet zählen sie insgeamt 87 nahezu quadratische Felder a` 140 × 110 mm,60 die mit Diagrammen, Tabellen und figürlichen Darstellungen aus den Themenbereichen Bibelgeschichte, Heiligenikonographie, Astrologie, Prognostik, Komputistik und Landwirtschaft (Berechnungstafeln) bebildert sind. Die einzelnen Blätter sind 280 mm breit und variieren in der Länge zwischen der vierfachen und zwölffachen Feldbreite. Die Faltung der einzelnen Blätter erfolgt zunächst längsseits, so dass zwei Bilderreihen entstehen, bevor dann nach Origami-Art weiter gefaltet wurde. Format und Inhalt lassen darauf schliessen, dass hier praktisches Wissen anhand knapper Bildformeln bei der Arbeit möglichst schnell zur Hand sein sollte.61 Der Textanteil, bestehend aus lateinischen, mittelenglischen und anglonormanischen Texten, beschränkt sich grösstenteils auf Bildbeischriften. Das Blätterkonvolut wurde von John B. Friedman auf das Jahr 1389 datiert.62 Erstbesitzer waren wahrscheinlich die auf Blatt 1 und 3 mit Hund und Horn porträtierten Harry the Haywarde und Peter the Pyndare, zwei für Abgaben, Bussen, Ernte und Vieh zuständige Beamte63 eines möglicher57 Mooney bezeichnet sie als »formal anglicana script« (The Kalendarium, S. 59). 58 Zur Verkettung der Laster bei Hugo von St. Viktor vgl. Teil A, Kapitel 4.2.5 und Kapitel 4 in diesem Teil. Zur Verkettung der Tugenden vgl. Kapitel 1.1 in diesem Teil. 59 Bei der ›Klugheit‹ erscheint die Gottesfurcht (timor domini) an oberster Stelle, bei der ›Gerechtigkeit‹ die Wahrheit (veritas), bei der ›Stärke‹ die Ruhe (requies), beim ›Mass‹ die Sittsamkeit (moralitas). 60 Blatt 1: 7 Flächen, Blatt 2: 24, Blatt 3: 8, Blatt 4: 16, Blatt 5: 16, Blatt 6: 16. 61 Faltbücher waren wohl für eine Gürteltasche oder einen Beutel gedacht. 62 Harry the Haywarde, S. 115–153, hier: 121. 63 Vgl. ebd. S. 116: »A hayward was an important manorial official, very like a
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weise zur Evesham-Abtei gehörenden Landgutes.64 Der Schreiber könnte durchaus dem monastischen Milieu dieser Abtei entstammen: Die dem Kalender beigegebenen Heiligen lokaler Provenienz,65 die Integration biblisch-theologischer Themen66 und die professionelle Textura sprechen für diese These.67 Einen Grossteil der Inhalte teilt das Blätterkonvolut mit R, so die Darstellung der Tierkreiszeichen, die hier mit den Monatsarbeiten parallelisiert werden (Blatt 2, Aussenseite), eine Rota mit den sieben Planeten und einen mittelenglischen Text zu ihren Einflüssen68 (Blatt 3, Aussenseite), eine Brontologie in Text69 und Bild (Blatt 3, Innenseite) und einen Zodiakusmann (Blatt 5, Innenseite). Blatt 3, um das es hier geht, bietet auf der Aussenseite, zuzüglich der Planeten-Rota, eine Darstellung des Christophorus einschliesslich eines dem Heiligen gewidmeten Gebetes (Abb. 74).70 Die Innenseite ist hälftig geteilt in die erwähnte Brontologie und in eine Planetentafel für die 24 Stunden jedes Wochentages (Abb. 75). Bemerkenswert ist, insbesondere bei der Brontologie, die Abbildung der Textinhalte mittels visueller Symbole,71 ein Verfahren, das auch aus dem ›Sachsenspiegel‹ be-
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labor foreman, in charge of plowing, harvesting, and collecting his lord’s rents and fines. A pinder was of similar status; he was an officer of the manor responsible for impounding stray cattle.« Vgl. auch: ebd. S. 117 (Abb. 2 f.) und S. 138. Vgl. ebd. S. 117 ff. (Abb. 4). Dafür sprechen in erster Linie die porträtierten Bischöfe und Lokalheiligen von Worcester Wulfstan und Oswald. Blatt 2 (Innenseite). Blatt 1: Verkündigungsszene (Aussenseite), Kreuzigungsgruppe (Innenseite); Blatt 4 (Aussenseite): Vier Szenenpaare aus der Genesis (vom Sündenfall bis zur Erschlagung Abels); Blatt 5 (Aussenseite): Szene 1: Seth trauert um den toten Adam; Szene 2: Höllenschlund mit nackten Gefangenen; Szene 3: Höllenfahrt Christi; Blatt 6 (Aussenseite): Szene 1: Anbetung der Hl. Drei Könige; Szene 2: Kreuzigungsgruppe. Anfangs- und Schlussblatt bilden den Rahmen, insofern als hier Geburt und Tod Christi parallelisiert werden. Die oberen Reihen von Blatt 4 und 5 erzählen vom Leben und Tod des ersten Menschenpaares, ausgreifend auf den Sündenfall und auf die Verdammung und Erlösung des Menschengeschlechts. Vgl. ebd. S. 132. Vgl. ebd. S. 124. Text ediert in: ebd. S. 124 f. Ediert in: ebd. S. 131. Die Darstellung des Christophorus ist hier in auffälliger Parallelität zum Portrait des Peter the Pyndare platziert. Christophorus als Schutzheiliger der Reisenden ist mit der Funktion des Besitzers als Verantwortlichen für streunendes Vieh gut vereinbar. Für das Kranksein vieler Menschen im August (multi homines egrotabunt)
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kannt ist. Die Inhalte werden dadurch auch einem lateinunkundigen oder gar illiteraten Publikum erinnerlich gemacht, sofern es vorher alles erklärt bekommen hat. Die Vermittlung von Wissen anhand visuell verdichteter Symbole ist durchaus bezeichnend für das Blätterkonvolut als Ganzes und schlägt sich auch formal nieder in der Organisation der einzelnen Seiten, die mehrheitlich visuell strukturiert sind.72 Nimmt man alle Blätter zusammen, ist das darin aufgezeichnete Wissen beachtlich und deckt alle Bereiche ab, die ein landwirtschaftlicher Aufseher in Herrendiensten bei der Ausübung seiner Arbeit benötigte.73 Zeit und Zeitrechnung bilden die inhaltlichen Schwerpunkte. Dass die ›heilige Zeit‹ daneben einen breiten Raum einnimmt, erklärt sich aus den klerikale wie laikale Interessen implizierenden Entstehungsvoraussetzungen.
3.3.4 Aderlassmännlein und Mikrokosmosmann Themen und Motive, wie man sie in R findet, waren in aller Regel nicht nur in individuell geprägten Gebrauchsformen verbreitet, sondern auch auf Tafeln, die für die öffentliche Schau und Didaxe bestimmt waren.74 Einen stehen beispielsweise zwei im Bett liegende Personen. Zwei Hände symbolisieren die Aufsicht, die ihnen zuteil wird. Für die zu erwartenden Todesfälle mächtiger Leute im September (mors potencium hominum) stehen ebenfalls zwei Personen in einem Bett. Die Haare der Figuren sind mit goldener Farbe ausgemalt, und über dem Bett liegt ein Wappenschild. Für die iocunditas im November steht eine goldfarbige Trompete. 72 Friedman, Harry the Haywarde, S. 117: »It is carefully organized by means of distinctive visual images; this pictorial signs stand as shorthand for whole texts and reappear as organizing and referencing icons throughout the various tables and circular diagrams, as in the ›Signa Planetarum‹.« 73 Ebd. S. 141: »The character of Rawlinson D. 939 is such, then, that it is the illuminated chronicle or travel book or Roman author of the nobility scaled down to the practical level of the emerging rural small gentry. [. . .] Rawlinson D. 939 contained in a small format much that was in the fourteenth-century illuminated books of the nobility: world history, a calendar as in a Book of Hours, and scientific knowledge coupled with more practical formulae such as the Assize of Bread and rules for making a sun dial. It was ›a medieval library in parvo‹, to use an idea well-expressed by Phillipa Hardman in a different context.« 74 Ich klammere hier die unter ›Seelenheil‹ subsumierten Motive aus. Diese sind ebenfalls in Form von Tafeln überliefert. Ruth Slenczka definiert solche Tafeln, in Ergänzung zum Begriff ›Andachtsbild‹, als »lehrhafte Bildtafeln«. Ich verweise hier auf die von Slenczka behandelte ›Antwerpener Beichttafel‹ (1490–1500). Darauf sind die Werke der Barmherzigkeit und die Todsünden in
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prominenten Patz nehmen die Aderlasstafeln ein, die allein oder als Teil von Wandkalendern überliefert sind. Ein Beispiel in handschriftlicher Form ist das ›Beilngrieser Aderlassmännlein‹ (ausgehendes 14. Jh.). Der Text ist weitgehend identisch mit jenem auf fol. 2r in R (Tafel III ). Die einzelnen Texte sind hier in nahezu gleicher Anordnung um die Aderlassfigur angebracht (Abb. 76 und 77): oben in der mittleren Spalte die ›Kritischen Tage‹, rechts und links der Figur die Lassstellentexte, unten, die ganze Breite der Seite einnehmend, die ›Verworfenen Tage‹. Das reich textierte Tafelbild mass ursprünglich ca. 56 × 67cm, bevor es 1537 für einen Einband ›zugeschnitten‹ und wahrscheinlich durch ein Aderlasskalenderblatt ersetzt wurde.75 Bis zu diesem Zeitpunkt hing die Tafel als »Lehr- und Merkschema« im Beilngrieser Rathaus, wo sich der kundige Bürger orientieren konnte.76 In gedruckter Form erscheinen Aderlasstafeln oft in Kombination mit Wandkalendern, auf denen der Zodiakusmann nach dem Vorbild medizinischer Demonstrationszeichnungen abgebildet ist.77 Das Motiv des Mikrokosmosmannes als Tafelbild ist im späten Mittelalter weniger im Kontext von Aderlass und Gesundheitsregimen anzutreffen als im Zusammenhang der Kartographie, die aus dem Wissensgut spätantiker Enzyklopädien und ihrer Nachfolger im Mittelalter schöpft und bildtypisch durch die reiche Tradition antiker Kosmosdarstellungen vorgeprägt ist.78 Ein bemerkenswertes Beispiel für eine Kombination von Weltkarte und Mikrokosmosmann stellte die seit einer Auktion von 1932 verschollene Weltkarte des Venezianers Albertin de Virga dar,79 deren Entstehung kontrovers um 1411/1415 angesetzt wird. Die 69,6 × 44 cm messende Pergamenthaut80 ist zweigeteilt: Den unteren Teil füllt eine Weltkarte mit einem
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Kombination mit einer Gerichtsszene abgebildet. (Lehrhafte Bildtafeln, S. 13 f. und 51–63 [Abb. 1.3a]). Künzel, Beilngrieser Aderlassmännlein, S. 153 und 156. Ebd. S. 161. Vgl. Holzschnitte aus dem letzten Drittel des 15. Jahrhunderts (Ed. Schreiber), Bd. 2,2, Taf. 160. Manuel (Ed. Schreiber), Bd. 5,1, Nr. 3236. Zu den antiken Kosmosdarstellungen vgl. die reiche Sammlung bei Gundel, Zodiakos. Ein besonders eindrucksvolles, spätmittelalterliches Beispiel einer Darstellung des Tierkreises ist ein um 1460 in den Niederlanden gewirkter Bildteppich aus der Kathedrale von Toledo. Vgl. dazu: von Wilckens, Gelehrte Erkenntnis, S. 29–42 (Abb. 1–4). Whitfield, The Mapping, S. 54 f. Die Karte ist noch als Reproduktion erhalten. Vgl. von Wieser, Die Weltkarte des Albertin de Virga. Dürst, Die Weltkarte, S. 18–21 (Abb. 1 f.). Mappemondes (Ed. Destombes), S. 205 ff. Die Haut ist möglicherweise um ein Stück Holz gerollt worden.
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Durchmesser von 41 cm, den oberen, etwa ein Viertel der Höhe einnehmenden Teil zwei seitlich angebrachte Tabellen zur Berechnung des Mondstandes und des Osterdatums sowie ein zentral positionierter Zodiakalring, der eine frei schwebende Figur umgibt.81 Die einzelnen Zodia sind traditionsgemäss mit den Körperteilen verbunden und machen die Figur als Zodiakusmann kenntlich. Die gekrümmte Figur, die ein Stück weit den Kreis nachbildet und die Hände vor der Brust zusammenhält, signalisiert neben der für den Bildtyp des Zodiakusmannes bezeichnenden Querteilung der Körpers in einzelne Körpersegmente eine Angleichung an die Ganzheit implizierende Zirkularität von Makrokosmos-Darstellungen, markiert in diesem Sinne den fliessenden Übergang zwischen dem Bildtyp des Zodiakus- und dem des Mikrokosmosmannes. Die für den öffentlichen Gebrauchsraum konzipierten, einseitig beschrifteten Tafeln und Karten sind mit den doppelseitig beschrifteten Tafelsammlungen und Heften insofern verwandt, als das Kriterium, wonach ein vollständiges, in sich geschlossenes Text-(Bild-)Ensemble auf einer Seite dargeboten wird, auch hier oft erfüllt ist. Die einzelnen Seiten bilden zwar eine thematische Einheit als Ganzes, lassen sich zudem assoziativ aneinanderreihen, bleiben aber als inhaltlich abgeschlossene Einzelseiten lesbar. Der Gebrauch solcher Sammlungen ist vorzugsweise in der Privatsphäre oder in einer Unterrichtssituation anzusiedeln. Gerade im Fall der ungebundenen ›Süddeutschen Tafelsammlung‹ steht eine Rezeption der Tafeln als Einzeltafeln oder Doppelseiten gleichberechtigt neben der seitenübergreifenden ›Lektüre‹ als Bildfolge.82 Nicht anders verhält es sich mit der in der ersten 81 Zum Bildtyp vgl. Kapitel 2.4. 82 Das Phänomen der Bildfolge ist auch in der Blockbuch-Forschung Gegenstand der Diskussion. Die einzelnen Tafeln solcher Blockbücher »eigneten sich auch dazu, sie als Bildfolge an den Wänden anzuheften, als ständig sichtbares Lehr- und Erbauungsinstrument.« (Die Zehn Gebote [Beschr. Werner], S. 44). Vgl. auch die Ausführungen von Avril Henry zum Stellenwert des Bildes in der Blockbuch-Ausgabe der ›Biblia pauperum‹. Henry sieht solche Bilder als Mittel der Unterweisung, freilich nicht im traditionellen Verständnis einer Unterweisung des illiteraten Pubikums, sondern einer Unterweisung, die Vorwissen voraussetzt und die Bilder als »reminder of the known truth« funktionalisiert. (Biblia pauperum [Ed. Henry], S. 17, und ders., The Iconography, 265 f.). Hinsichtlich der Rezeption von Bildern als Folge ist auch an die im 16. Jahrhundert aufkommenden Graphikserien zu denken, die thematische Zusammenhänge erst dann erzeugen, wenn die einzelnen Blätter als geordnete Serie betrachtet werden. Vgl. dazu: Kaulbach, Allegorische Graphikserien, S. 11–17, hier: 13 f. Zum frühneuzeitlichen Bildverständnis vgl. die
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Gebrauchszusammenhänge
Hälfte des 14. Jahrhunderts entstandenen Tafelsammlung des Opicinus de Canistris83 oder der zweihundert Jahre jüngeren Sammlung 373 aus der Douce-Kollektion der Bodleian Library in Oxford.84 Stärker der KodexTradition verhaftet sind die für den Laienadel angefertigten Kalender aus der Ashmole-Sammlung der Bodleian Library, die, einst als selbständige Hefte konzipiert,85 später als Lagen in Sammelkodizes eingegliedert wurden.86
3.3.5 Fortuna und Sapientia Konventionelle Bildmotive wie das Rad der Fortuna, die Planetenkinder,87 Lasterpersonifikationen88 oder der Turm der Weisheit89 fanden im Medium des Einblattdruckes weite Verbreitung. Ich konzentriere mich hier auf das Motiv der Fortuna und ihres Rades, das auf vielfältige Weise mit anderen Bildmotiven kontaminiert und kombiniert wurde. Ein gutes Beispiel für eine Kombination und Kontamination zugleich ist ein Einblattholzschnitt (um 1490), auf dem die Personifikationen der Planeten um eine von einem Engel gedrehten Kugel angeordnet sind.90 Das Rad ist als Weltkugel auf einem Drehgestell dargestellt; Fortuna wurde durch einen Engel ersetzt. Die äussere Kugel wird um eine innere ergänzt, die um die Mittelachse angebracht ist und eine Stadtvignette zeigt. Die Ersetzung der Fortuna durch einen Engel zeigt gut die Entschärfung der durch die Fortuna symbolisierten Willkür mittels einer als Vorsehung Gottes zu interpretierenden Engelsgestalt. Bemerkenswert ist auch ein Holzschnitt mittelrheinischer Provenienz, der um 1470 entstanden sein dürfte.91 Das Bild, das nahezu Lehrtafelgrösse
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theoretischen Ausführungen von Warncke, Sprechende Bilder, bes. S. 9–16 und 221. Vgl. Salomon, Opicinus de Canistris. Dazu: Kiening, Zwischen Körper und Schrift, S. 223–243. Vgl. Kapitel 2.3. Zum Heft als distinkte Einheit von Sammelhandschriften vgl. Robinson, The ›Booklet‹, S. 46–69, hier: 48. Vgl. Kapitel 2.2. Vgl. die Beispiele in: Blockbücher des Mittelalters (Ed. Gutenberg-Gesellschaft und Gutenberg-Museum), S. 199–203 (Nr. 52 ff.). Vgl. Blöcker, Studien, S. 56–126 (Abb. 13 und 18). Vgl. Blockbücher des Mittelalters (Ed. Gutenberg-Gesellschaft und Gutenberg-Museum), S. 173 f. (Nr. 33). Einzel-Formschnitte (Ed. Schmidbauer), Taf. 9. Holz- und Metallschnitte (Ed. Schreiber), Taf. 67.
Gebrauchskontexte
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aufweist, zeigt eine in der spätmittelalterlichen Handschriftenillustration gängige Kombination des Fortunarades mit den Lebensaltern.92 Auch hier fehlt die Gestalt der Fortuna. Stattdessen erscheint eine Mikrokosmosfigur in den Speichen des Rades und eine Engelsgestalt unter dem Rad zwischen Säugling (generacio) und Leichnam (corrupcio).93 Das Rad steht hier für die verschiedenen Stationen eines durch die Allgegenwärtigkeit des Todes geprägten Lebenslaufs.94 Im Rahmen der Lasterthematik kann das Fortunarad zum Laster- oder Höllenrad umfunktioniert werden. Zwischen den Speichen erscheinen dann die Personifikationen der Todsünden, die Kurbel wird von einer Teufelsgestalt betätigt, das Rad dreht sich unweigerlich dem Höllenschlund entgegen.95 Nicht mehr in die Kategorie der Einblattdrucke fallen die späteren Frontispize. Sie haben mit den Einblattdrucken aber mehr Gemeinsames als Trennendes. So ist auch hier das Konstituens einer in sich geschlossenen, seriell gefertigten Text-Bild-Einheit gegeben, nur sind solche Illustrationen – zumeist allegorische Darstellungen – auf Titel, Verfasser oder Inhalt des nachfolgenden Werkes bezogen. Frontispizien können über den konkreten Werkbezug hinaus auf gemeinsame Wissenshorizonte Bezug nehmen, sind unter diesem Aspekt wiederum mit den Einblattdrucken vergleichbar. Ein solches Beispiel ist das Frontispiz der 1556 gedruckten astronomischen Lehrschrift ›The Castle of Knowledge‹ des Robert Recorde. Die Darstellung visualisiert das »Schloss des Wissens« zwischen Sapientia und Fortuna. Rechts des Schlosses steht die Personifikation der Sapientia, die als Regentin der Sphaera Fati ausgegeben wird.96 Die Figur steht fest auf einem Kubus und hält in der linken Hand ein (aus Metall konstruiertes) Modell des Himmels in die Höhe. In der rechten Hand hält sie einen nach oben geöffneten Zirkel. Links des Schlosses steht die blinde Fortuna auf einer Kugel. Mit Daumen und Zeigefinger der hochgehobenen rechten 92 So in C, fol. 4v und München, BSB , Cgm 312, fol. 98r. 93 Inschrift auf der Radfelge: Sic ornati uascuuntur in hac mortali uita/ Est uelut aqua labuntur deficiens ita. Inschrift auf der Radnabe: Rota uite que fortuna uocatur. 94 Text unter dem Bild: Est hominis status in flore significatus, flos cadit et perijt sic homo cinis erit. Si tu sentires, quis esses et unde venires, numquam rideres sed omni tempore fleres. Sunt triaque vere que faciunt me sepe dolere: Est primum durum, quia scio me moriturum. Secundum timeo, quia hoc nescio quando. Hinc tercium flebo, quia nescio ubi manebo. 95 Vgl. Kimminich, Des Teufels Werber, S. 236 ff. (Abb. 163). The Illustrated Bartsch (Ed. Strauss), S. 228. 96 Beischrift: Sphere of Destinye, whose gouernour is Knowledge.
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Hand betätigt sie mit Hilfe eines Fadens die Kurbel des ›am Himmel‹ aufgehängten Fortunarades. Die Beischrift lautet hier analog zur Gegenseite: Sphaera Fortunae. The Wheele of Fortune, whose ruler is Ignoraunce. Die programmatische Gegenüberstellung von Sapientia und Fortuna ist auf nahezu identische Weise als Eingangsbild zum ›Liber de sapientia‹ des Charles de Bouelles (1510) ins Bild gesetzt.97 Die Personifikation der Sapientia ist hier mit jener der Virtus ineins gesetzt. Sie erscheint sitzend auf der sedes virtvtis quadrata und erblickt ihr Abbild in einem mit den sieben Planetensymbolen eingefassten Spiegel, dem speculum sapientie. Ihr gegenüber sitzt Fortuna mit verbundenen Augen auf einer Kugel in labiler Position und hält ihr Rad vor sich. Die Gegenüberstellung von Sapientia und Fortuna wiederholt sich im oberen Bildteil: Die Büste eines Sapiens figuriert gegenüber dem Insipiens. Den Spruchbändern ist zu entnehmen, dass der Weise auf die Virtus vertraue,98 der Tor hingegen Fortuna zur Göttin erhebe.99 Der an diesen beiden Frontispiz-Darstellungen aufscheinende Wissenshorizont einer antik geprägten Weisheitslehre begegnet auch schon in R. Deren Eingangsseite schliesst mit dem zuversichtlichen Befund, dass der Weise sich gegen den Einfluss der Gestirne durchzusetzen vermöge. Die Schlussseite kommt hinsichtlich der Willkür Fortunas zum gleichen Schluss, so wenigstens, wenn man dem Seneca entlehnten Zitat, das im Text unter dem Fortunarad an erster Stelle erscheint, Glauben schenken will: Fortunam vincit sapiens virtute.100
97 Carolus Bovillus, Liber de sapiente (Faksimile-Nachdr. d. Ausg. Paris 1510), S. 118. 98 Fidite virtuti. Fortvnam fvgatior vndis. 99 Te facimvs, fortuna, deam celoque locamvs (Juvenal, Satiren [Ed. Ramsay], X,366). 100 Die Gegenüberstellung von Sapientia und Fortuna ist in mittelalterlichen Handschriften relativ selten anzutreffen. Ein Beispiel bietet die im Interpretationsteil erwähnte Handschrift 66 der Parker Library des Corpus Christi College in Cambridge (Teil A, Kapitel 7.2.2, Anm. 25). Abgewandelt erscheint die Gegenüberstellung als Eingangsbild in der ›Holkham Bibel‹ (1327–1335, London, BL , MS Additional 47682). Dem Fortunarad auf fol. 1v steht hier Gott als Schöpfer mit Zirkel gegenüber (fol. 2r). Vgl. The Holkham Bible Picture Book (Faksimile-Ed. Hassall).
4 Ausblick: Die Tugend-Laster-Thematik in der Wandmalerei Das in R vorhandene Spektrum an Bildmotiven ist, wie mehrmals betont, fast durchgehend in Malereien an Wänden profaner und sakraler Bauten anzutreffen, wo sie Teil des öffentlichen Diskurses waren. Ich habe in dieser Arbeit wiederholt versucht, punktuelle Bezüge zwischen Handschriftenillustration und Wandmalerei aufzuzeigen und schliesslich auch den Gebrauch von R vor dem Hintergrund eines breit angelegten, konventionellen Bildwissens zu umreissen. In diesem Sinn widmet sich dieser abschliessende Ausblick der Tugend-Laster-Thematik, wie sie an Wänden französischer und englischer Kirchen des Spätmittelalters erscheint. In England sind heute noch schätzungsweise 50 Wandmalereien der Hauptlaster überliefert, fast ausnahmslos in einfachen Pfarreikirchen.1 Die Bilder waren, so vermutet man, mehr für laikale Kirchenbesucher als für Geistliche gedacht. Eine relativ gut erhaltene Malerei stellt der zwischen 1390 und 1410 datierte Lasterbaum in der Petrus und Paulus-Kirche von Hoxne, Suffolk dar.2 Die Äste des Baumes sind hier zu Drachen abgewandelt, die die sieben Lasterpersonifikationen verschlingen. Im Maul des obersten Drachens erscheint die Personifikation des Stolzes als elegant gekleideter Jüngling mit Zepter und Spiegel. Unten sägen zwei Teufel am Stamm des Baumes, der in den Höllenschlund fallen soll. Die Darstellung ist Teil eines Bilderzyklus an der Nordwand des Mittelschiffes. Auf ihr folgen die sieben Werke der Barmherzigkeit und eine Darstellung des Jüngsten Gerichts.3 In gleicher Kombination erscheint der Lasterbaum auch in der 1 Vgl. Gill, The Role, S. 117–135, hier: 124. Virtue and Vice (Ed. Hourihane), S. 437 f. 2 Vgl. Ebd. S. 123 f. (Abb. 10.3). Blöcker, Studien, S. 277 f. Tristram, English Wall Painting, S. 99–107 und 182 f. Long, Some Recently Discovered English Wall Paintings, S. 225–232 (Taf. III A). 3 Die Verbindung von Jüngstem Gericht und Hauptlastern kommt in seltenen Fällen auch als Raddarstellung vor. Vgl. Piggot, Notes, S. 137–143 (mit Umzeichnung). Virtue and Vice (Ed. Hourihane), S. 438. Blöcker, Studien, S. 276 f.
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Kirche St. Georg in Trotton, Sussex.4 Die Malereien befinden sich hier an der Westwand über dem Haupteingang. Vom Betrachter aus links des Eingangs befinden sich Darstellungen der Hauptlaster, die um eine nackte Figur angeordnet sind, sonst aber ähnlich wie in Hoxne gestaltet sind. Rechts des Eingangs steht eine mit langem Gewand bekleidete Figur, die ihre Hände zum Gebet faltet und von Rundbildern mit den sieben Werken der Barmherzigkeit umgeben ist. Die Figur wendet ihren Kopf den von Moses gehaltenen, unmittelbar über der Eingangspforte abgebildeten Gesetzestafeln zu, während ihr Gegenüber sich von diesen abwendet. Von den beiden Figuren aus führen je ein Weg zu Christus, der über Moses auf dem Himmelsgewölbe thront und seine Wundmale zeigt. Auf halbem Weg steht links von ihm ein Engel und weist einen schlechten Menschen ab, während der rechts von Christus abgebildete Engel einen guten Menschen aufnimmt. Die ins Bild gebrachte Wegsymbolik und die programmatisch zwischen gutem und bösem Menschen dargebotenen mosaischen Gesetze sind in raffinierter Weise auf den Betrachter abgestimmt: Ihm wird beim Verlassen der Kirche die Wahl zwischen Gut und Böse vor Augen geführt. In der ursprünglichen Kathedrale Notre-Dame-du-Bourg in Digne (Haute-Provence, um 1480) erscheinen auf der Südwand des Schiffes die sieben Lasterpersonifikationen in der Tradition der ›Psychomachie‹ auf Reittieren, die aneinandergekettet sind.5 Das Motiv der Kette rekurriert auf die Tradition der Lastertraktate und ist ebenso gängig in der Bildtradition. Es soll dem Gedanken Ausdruck verleihen, dass das eine Laster unweigerlich zum nächsten führt.6 In Notre-Dame-du-Bourg bildet die Reihe der Laster das mittlere Register einer drei Register umfassenden Gesamtkomposition.7 Das obere Register enthält die Haupttugenden; im unteren sind die sieben Höllenstrafen abgebildet. Die Personifikationen der beiden oberen Register ›laufen‹ auf eine Gerichtsdarstellung an der Südwand des Schiffes zu, lassen sich also horizontal lesen, sind aber auch vertikal aufeinander 4 Vgl. Reiss, Pictorial Composition, S. 1–26, hier: 12 ff. (Abb. 12). Caiger-Smith, English Medieval Mural Paintings, S. 49–55 (Taf. XVIII ). 5 Norman, Lay Patronage, S. 213–236, hier: 218 ff. (Abb. 3). 6 Vgl. ebd. Abb. 4. Vgl auch die Lasterdarstellung in der Kirche von Catfield (Norfolk), die noch als Umzeichnung vorhanden ist. Hier sind die Lasterpersonifikationen als Baum visualisiert und jeweils am Hals durch eine Kette miteinander verbunden. Vgl. Turner, Mural Painting, S. 133–139 (mit Abb.). 7 Die einzelnen Lasterpersonifikationen sind durch Arkaden voneinander abgesetzt.
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ausgerichtet, indem eine Tugend jeweils einem Laster entspricht, das Laster jeweils einer Höllenstrafe. Eine genauere Kontextualisierung erlaubt mein letztes Beispiel, das die Busstugenden der moralisierten Cherubsfigur zum Gegenstand hat. Sie ist als Wandmalerei im spätmittelalterlichen England äusserst spärlich überliefert. Sie erscheint aber gleich zweimal im Kapitelsaal von Westminster Abbey, der zwischen 1372 und 1404 im Auftrag des Benediktinermönches John von Northampton ausgemalt worden ist.8 Die Ostwand des oktogonalen Raumes ist in fünf Arkaden unterteilt, die mit teilweise zerstörten, aber noch deutlich erkennbaren Malereien ausgefüllt sind.9 Die mittlere Arkade nimmt eine Darstellung Christi als Richter ein. Christus steht auf einem Globus und zeigt seine Wunden. Er wird von zwei Seraphim assistiert, die ein Tuch – das Leichentuch Christi als Zeichen der Auferstehung – halten. Dazu gesellen sich weitere Engel mit den Marterwerkzeugen.10 In den links und rechts sich anschliessenden Arkaden erscheinen je ein Cherub auf einem mit sieben Speichen versehenen Rädchen.11 Der Cherub rechts des Richters hält eine Krone und einen Rosenkranz in seinen Händen, sein Gegenüber zwei Kronen. Diese Figur ist zudem mit den üblichen Inschriften auf den Federn versehen, die auf Alanus’ Auslegung von Is 6 zurückgehen.12 Man kann nun diese drei Darstellungen mit Paul Binski als ›alternative Gerichtsdarstellung‹ betrachten: Die Christusfigur ist der Ikonographie des Schmerzensmannes angeglichen; den Platz der Interzessoren Maria und Johannes nehmen die Seraphim mit einer Art Ehrenkleid ein; die 8 Vgl. Turner, The Patronage, S. 89–100, hier: 89. Die Auftraggeberschaft ist durch einen Eintrag im sogenannten ›Liber Niger Quarternus‹ gesichert. Die Malereien werden hier als pictura de judicio bezeichnet. 9 Die Malereien der beiden äussersten Arkaden sind nicht mehr zu entschlüsseln. An der Südostwand sind noch Reste einer Schar von biblischen Personen zu erkennen, die sich der Christusfigur zuwenden. Neben diesen Malereien ist noch eine Bilderserie zur ›Apokalypse‹ des Johannes an der Nordwestwand teilweise erhalten. Die Serie beginnt mit Szenen aus der ›Vita‹ des Johannes. (Ebd. S. 94–97). 10 Ebd. S. 90 (Pl. XIX A). Paul Binski, Westminster Abbey, S. 188 (Abb. 245). 11 Die Rädchen sind kaum mehr sichtbar. Ihr Vorhandensein erklärt sich aber aufgrund ähnlicher Darstellungen aus Handschriftenillustrationen. Die sieben Speichen waren dann wohl mit den Werken der Barmherzigkeit beschriftet. Die Vorstellung der Räder ist der Ezechielvision entnommen (Ez 1,15–21). 12 Binski, Westminster Abbey, Abb. 246. Eine Umzeichnung bei Gill, The Role, S. 126. Die Inschriften sind bei Turner abgedruckt (The Patronage, S. 91).
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Schar der Heiligen vertreten die beiden Cheruben.13 Der Einbezug der Seraphim und Cherubim lässt ein Programm erkennen, das auf die im Kapitelsaal versammelte, monastische Betgemeinschaft abgestimmt ist. Die Seraphim erscheinen nach Is 6,1–3 über Gott im Tempel und rufen einander den Lobpreis Sanctus, sanctus, sanctus Dominus zu. Die Cherubim werden in Ex 25,17–20 an den beiden Enden der Bundeslade (propitiatorium) aufgestellt und sollen diese mit ihren Flügeln beschützen. Das propitiatorium bezeichnet den heiligen Ort der Gegenwart Gottes unter dem Volk Israel. Die Mönchsgemeinschaft im Kapitelsaal wird nun im übertragenen Sinn zur Nachkommenschaft Israels, die einerseits mit den Cherubim die Stufen der Busse erklimmt, andrerseits mit den Seraphim in den Lobpreis einstimmt.14 Paul Binski formuliert es so: »The general character of these images is quite clear: the monks of Westminster, as children of Israel, are gathered in the presence of God as the source of propitiation and cleansing (Is 6,5–7)«.15 Den Zusammenhang der Malereien mit dem Chorgesang und dem confessio-Gedanken stützen wiederum die Überlieferungskontexte der Seraphim und Cherubim. In Kombination mit den Seraphim erscheint Christus etwa im ›Utrecht-Psalter‹ als Illustration zu Psalm 99 (Dominus regnavit), einem Lobpreis auf den Herrschergott.16 Die Cherubsfigur war seit ihrer busstheologischen Auslegung durch Alanus gleichsam als »practical epitome of the confessional«17 bekannt. Die Malereien in Westminster sind auf eine gemeinschaftliche Aneignung angelegt, die als Ausweitung der monastischen lectio verstanden werden kann.18 Ihre Rezeption durch ein gelehrtes Publikum ist hier ebenso offensichtlich wie die Aneignung der oben beschriebenen Lasterdarstellungen durch ein Laienpublikum.
13 Binski, Westminster Abbey, S. 188 f. 14 Zur Rolle des Kapitels vgl. auch die Consuetudines der Abteien von St. Augustin (Canterbury) und St. Peter (Westminster) von 1270: Est igitur capitulum officina Spiritus Sancti, in qua filii Dei congregantur, ut ei reconcilientur. Atque precipue domus est confessionis, domus obedienciae, misericordiae, et indulgenciae, domusque unitatis, pacis, et tranquillitatis, in qua quicquid a fratribus intus aut extra delinquitur, per confessionem et satisfaccionem misericorditer relaxatur (Customary of the Benedictine monasteries [Ed. Thompson], S. 183 f.). 15 Binski, Westminster Abbey, S. 189. 16 Ebd. Hier noch weitere Parallelen zum Psalter. 17 Evans, An Illustrated Fragment, S. 14–43, hier: 23. 18 Vgl. Gill, The Role, S. 125.
Abkürzungen Häufig zitierte Textzeugen Br C E M Ma Mü R RsC U W Wo
Wrocław (Breslau), BU , Cod. I F 334 Roma, BC , Ms.1404 Heidelberg, Privatsammlung Eis, Hs. 54 München, BSB , Clm 8201 Mainz, StB , Hs I 166 München, BSB , Cgm 398 Washington, D.C., LoC , Lessing J. Rosenwald Collection, ms. no. 4 (olim 3) ›Regimen sanitatis Coppernici‹ Utrecht, UB , Hs. 1355 London, WL , MS 49 Wolfenbüttel, HAB , Cod. Guelf. 23.3 Aug. 4°
Quellensammlungen ATB BLV BNL CCCM CCSL DTM HMS LCL MGH PG PL
Altdeutsche Textbibliothek Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur von der ältesten bis auf die neuere Zeit Corpus Christianorum, Continuatio Mediaevalis Corpus Christianorum, Series Latina Deutsche Texte des Mittelalters Friedrich von der Hagen, Minnesinger, Leipzig 1938. Loeb Classical Library Monumenta Germaniae Historica Patrologiae cursus completus, Series Graeca, hg. von J.-P. Migne Patrologiae cursus completus, Series Latina, hg. von J.-P. Migne
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Bibel Abkürzungen nach: Biblia Sacra iuxta vulgatam versionem, Stuttgart 41994
Zeitschriften, Jahrbücher AGNM AHDLMA DVjs
Fmst JWCI MedGG PBB SBW /SWI WmM ZfdA
Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums Archives d’histoire doctrinale et litte´raire du Moyen Age Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Frühmittelalterliche Studien Journal of the Warburg and Courtauld Institutes Medizin, Gesellschaft und Geschichte. Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur Studien der Bibliothek Warburg/Studies of the Warburg Institute Würzburger medizinhistorische Mitteilungen Zeitschrift für deutsches Altertum
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LexMA RAC RDK RLW RSM
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Walther Carmina Proverbia Wander
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Cassino Biblioteca statale del Monumento nazionale di Montecassino ms. 189 268 Chantilly muse´e Conde´ ms. 65 26 329 Chicago The Newberry Library Case MS f9 179 Eichstätt Universitätsbibliothek Cod. st 213 278 Engelberg Stiftsbibliothek Cod. 314 384 Firenze Biblioteca Medicea Laurenziana Cod. Pluteo 20,24c 165 Heidelberg Privatsammlung Eis Hs. 54 74 f. Universitätsbibliothek Cod. Pal. germ. 291 34 f. Cod. Pal. germ. 314 384 Cod. Pal. germ. 392 201 Heiligenkreuz Stiftsbibliothek Cod. 130 273
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Verzeichnis der Handschriften und Frühdrucke
Karlsruhe Badische Landesbibliothek Karlsruhe 3378 220 Donaueschingen 37 270 Köln Historisches Archiv der Stadt Köln Best. 7010 (Handschriften [Wallraf]), W 276A 140 335 København Det Kongelige Bibliotek GKS 79 2° 321 Kremsmünster Stiftsbibliothek CC 243 151 332 Lie`ge Bibliothe`que de l’Universite´ 431 234 Lilienfeld Stiftsbibliothek Cod. 151 82 343 London British Library MS Additional 17358 26 331 387– 389 MS Additional 30024 150 331 MS Additional 47682 396 MS Arundel 44 230 335 MS Arundel 83 I 82 87 MS Arundel 83 II 82 152 330 f. MS Arundel 251 27 MS Arundel 507 85 MS Royal 1 B X 171 283 f. MS Sloane 282 322 Gray’s Inn Library MS 9 85 87 90 f. 95 331 Lambeth Palace Library MS 209 332
Wellcome Library MS.49 25 f. 38 82 271 288–316 321 f. 342–344 368–370 Lucca Biblioteca Statale Ms. 1942 104 Mainz Stadtbibliothek Hs I 166 63 67 74 f. 76 f. 80 München Bayerische Staatsbibliothek Cgm 5 204 Cgm 28 74 Cgm 312 254 271 273 395 Cgm 349 34 Cgm 398 64 74 f. 80 Cgm 430 46 f. Cgm 717 382 f. Cgm 725 46 Cgm 2655 351 Cgm 6406 204 Cgm 7377 194 Cgm 8010 a 204 Clm 2599 110 177 179 Clm 2655 116 351 Clm 2777 46 f. Clm 3941 370 f. 381 f. Clm 4660 254 269 f. Clm 7999 47 Clm 8201 86 f. 131–136 141 143 f. 145–148 152–156 166 f. 282–284 331 f. 338–341 343 Clm 13002 104 116 349–352 Clm 17404 271 f. Clm 19414 26 28 Rar. 955 220 2 Inc.c.a. 531 220 Universitätsbibliothek 2° Cod. ms. 731 (= Cim. 4) 384 4° Cod. ms. 808 18
382–
Verzeichnis der Handschriften und Frühdrucke New York Pierpont Morgan Library MS M.268 204 Public Library, Spencer Collection Ms. 104 204 Oxford Bodleian Library MS . Ashmole 210 (I ) 324 328 MS . Ashmole 391 (V ) 25 35 324– 326 328 MS . Ashmole 789 (VIII ) 25 35 324–328 MS . Bodl. 264 204 MS . Bodl. 270b 223 MS . Canon. Misc. 248 25 f. 66 325 MS . Canon. Misc. 559 323 MS . Douce 5/6 204 MS . Douce 373 332 344–349 359– 362 MS . Laud Misc. 156 330 MS . Laud Misc. 202 333 MS . Laud Misc. 377 152 173 333 MS . Laud Misc. 544 147 168–170 173 344 347 f. MS . Laud Misc. 644 27 MS . Rawl. D. 939 27 76 80 389–391 MS . e Mus. 62 143 Corpus Christi College MS . 123 26 Paris Bibliothe`que Mazarine ms. 3599 35 Bibliothe`que Nationale ms. fr. 167 223 ms. fr. 9220 82 152 331 ms. lat. 3110 179 ms. lat. 10483/10484 204 ms. lat. 10525 222 Regensburg Fürst Thurn und Taxis Hofbibliothek Ms. Perg. III 202
443
Roma (Citta` del Vaticano) Biblioteca Apostolica Vaticana Vat. gr. 752 222 Pal. lat. 1066 298 Pal. lat. 1369 20 f. 319 f. 321 f. Urb. lat. 1398 323 Roma Biblioteca Casanatense Ms.1404 248 273 288–316 381 f. Salzburg Universitätsbibliothek M I 32 140 M III 36 16 17 19 21 f. 279 f. 329 Tübingen Universitätsbibliothek Md. 2 19 25 78 278 f. 357–359 Utrecht Universiteitsbiblitoheek Hs. 1355 63 74 f. 80 Wien Österreichische Nationalbibliothek Cod. 1548 143 f. 330 388 Cod. 3085 20 329 Cod. 12538 145 167 f. Cod. 12600 351 f. Wolfenbüttel Herzog August Bibliothek Cod. Guelf. 23.3 Aug. 4° 64 74f. 80 Worcester Cathedral Library MS F. 154 302 Wrocław Biblioteka Uniwersytecka Cod. I F 334 64 74 f. 76 f. 80 Cod. III Q 1 46 Cod. Rhed. 291 46 71 Zürich Zentralbibliothek Ms. C 54 19 21 27 29 38 329
Schemata zur ›Süddeutschen Tafelsammlung‹
447
Schemata zur ›Süddeutschen Tafelsammlung‹
4.2
4.1 1.1
1.7
1.1
2.1
1.2
1.7 2.7
2.2
3
1.2
1.6 1.6 2.6 2.3 1.3 2.5 1.5 1.5
1.4 2.4 1.4
4.3 5
Tafel I (fol. 1r): Sphärenschema, Planetenkinder.
4.4
1.3
448
Schemata zur ›Süddeutschen Tafelsammlung‹
1
4.1
4.2
3.1 4.3 3.2 2
4.4
3.3
4.5
3.9 2.1
4.6 4.7
3.4
3.10 4.8
2.2
3.5
3.11 4.9
2.3
3.6
3.12
3.7
3.8
4.10 4.11
2.4 4.12
Tafel II (fol. 1v): Zodiakusmann.
449
Schemata zur ›Süddeutschen Tafelsammlung‹
1 2.5
2.6
2.1
2.2
2.3
2.7
2.9
2.10 2.11
2.8
2.4
2.13
2.12
2.14
2.17
2.15
2.18
2.16
2.19
2.25 2.20
2.26 2.21
2.22
2.24
2.27 3
Tafel III (fol. 2r [3r]): Aderlassmann I .
2.28
2.23
2.29
450
Schemata zur ›Süddeutschen Tafelsammlung‹
3
2
4 5.1 5.2
6.9
6.1
6.3 6.2
5.3
6.4
6.15
6.7
6.18
6.5
6.10
6.26 6.21
6.19 6.22 5.5
6.23
6.30 6.31 6.29 6.36 6.35
6.24 6.13 6.25 1
Tafel IV (fol. 2v [3v]): Aderlassmann IIa.
6.8 6.11 6.12 6.14
6.17 5.4
6.6
6.34 6.33
5.6
5.12
5.11
6.16 6.20 6.27
5.10
5.9
6.32 6.28
5.8
5.7
451
Schemata zur ›Süddeutschen Tafelsammlung‹
2.7
2.3
2.8
2.1
2.5
2.2 1.2
1.1
2.4 2.6 2.11
2.9 2.14 2.10 2.15
2.16
2.18 2.12 2.19 2.13 2.17 2.25 2.20
2.22 2.26
2.23
2.24
Tafel V (fol. 3r [2r]): Aderlassmann III .
2.28
2.21
2.27
452
Schemata zur ›Süddeutschen Tafelsammlung‹
2
5.1
6.8
3 6.5
6.4
6.2
6.1
6.6
6.9
5.2
6.10 5.3
6.14
6.15
5.4
6.18 6.22
5.5
6.23 5.6
6.7 6.11
6.16 6.17
5.7
6.3
6.12
6.13
6.25
6.34
6.20
Tafel VI (fol. 3v [2v]): Aderlassmann IIb.
5.10
5.11
6.28 6.30
6.29
6.24 6.37 6.35 6.36 6.31 6.26 6.27 1
5.9
6.19
6.21 6.32 6.33
5.8
4
5.12
453
Schemata zur ›Süddeutschen Tafelsammlung‹
12.3 12 12.2 11.1 11
12.1
11.3
11.4 12.4 11.5
11.2
12.6
12.5
11.6
10.12 10.11 10.10 10.9 10.8 10.7 10.6 10.5 10.4 10.3 10.2 10.1 1
8.1
8
9.1
3.1
2
3.3
3
3.2
3.7
8.2 3.6 7 3.4 6.1 5.1 4.1
3.5
6.2 4.2 5.2
Tafel VII (fol. 4r): Turm der Weisheit.
9.2 6.3
9.3 6.4
4.3 5.3 4.4 5.4
9.4
454
Schemata zur ›Süddeutschen Tafelsammlung‹
1
3
3.1
3.2
4
Tafel VIII (fol. 4v): Mikrokosmosmann.
2
455
Schemata zur ›Süddeutschen Tafelsammlung‹
1
2.4 2.3 2.2 2.5 2.1
2
4
3
6 5
Tafel IX (fol. 5r): Makrokosmosschema.
456
Schemata zur ›Süddeutschen Tafelsammlung‹
2.6
5
2.4 2.2
2.5 2.3 2.1
1.7
6
1.5
1.6
1.3 1.4
1.1
1 1.2
3
Tafel X (fol. 5v): Tugendbaum, Cherub.
4
457
Schemata zur ›Süddeutschen Tafelsammlung‹
1.4.5 1.4.6
1.4.3 1.4.4
1.4.1
1.4.7
1.4.2
2 1.3 3
1.2
1.1
Tafel XI (fol. 6r [7r]): Lasterbaum, Johannes Evangelista.
458
Schemata zur ›Süddeutschen Tafelsammlung‹
12.3 12
11.4
11.3
11
11.2
12.4
12.2
11.1
11.5
12.1 10.12 10.11 10.10 10.9 10.8 10.7 10.6 10.5 10.4 10.3 1 10.2 10.1 8 8.1
8.2
6 3.7 3.6 3.5 3.3 3.4 3.1 3.2 3
2
4.1
9.2
9.1
5.2
9.3 5.3
12.5
9.4 5.4
5.1 4.2
Tafel XII (fol. 6v [7v]): Turm der Weisheit.
4.3
4.4
11.6
9
7
Schemata zur ›Süddeutschen Tafelsammlung‹
2.3
2.4
2.5
1.2
1.1 2.2
2.6
1 2.1
Tafel XIII (fol. 7r [6r]): Philosophie, die sieben freien Künste.
2.7
459
460
Schemata zur ›Süddeutschen Tafelsammlung‹
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
Tafel XIV (fol. 7v [6v]): Frauensklaven I .
14
15
461
Schemata zur ›Süddeutschen Tafelsammlung‹
1
2 5
4
3
7
6
Tafel XV (fol. 8r): Frauensklaven II .
462
Schemata zur ›Süddeutschen Tafelsammlung‹
1 2.6.3
2.1.1
2.2.3
2.6.1 2.1
2.2
2
2.2.1 2.2.2
2.6
2.1.2 2.6.2
2.3.2
2.5.2
3.1 3.2 2.5.1
2.4.2 2.5
2.3 2.4.1 2.4 2.3.1 5
Tafel XVI (fol. 8v): Fortuna.
4
Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Sphärenschema, Planetenkinder. ›Süddeutsche Tafelsammlung‹, Tafel I . Washington, D.C., LoC , Lessing J. Rosenwald Collection, ms. no. 4, fol. 1r, Foto: LoC , Washington, D.C. Abbildung 2: Zodiakusmann. ›Süddeutsche Tafelsammlung‹, Tafel II . Washington, D.C., LoC , Lessing J. Rosenwald Collection, ms. no. 4, fol. 1v, Foto: LoC , Washington, D.C. Abbildung 3: Aderlassmann I . ›Süddeutsche Tafelsammlung‹, Tafel III . Washington, D.C., LoC , Lessing J. Rosenwald Collection, ms. no. 4, fol. 2r (3r), Foto: LoC , Washington, D.C. Abbildung 4: Aderlassmann IIa. ›Süddeutsche Tafelsammlung‹, Tafel IV . Washington, D.C., LoC , Lessing J. Rosenwald Collection, ms. no. 4, fol. 2v (3v), Foto: LoC , Washington, D.C. Abbildung 5: Aderlassmann III . ›Süddeutsche Tafelsammlung‹, Tafel V . Washington, D.C., LoC , Lessing J. Rosenwald Collection, ms. no. 4, fol. 3r (2r), Foto: LoC , Washington, D.C. Abbildung 6: Aderlassmann IIb. ›Süddeutsche Tafelsammlung‹, Tafel VI . Washington, D.C., LoC , Lessing J. Rosenwald Collection, ms. no. 4, fol. 3v (2v), Foto: LoC , Washington, D.C. Abbildung 7: Turm der Weisheit. ›Süddeutsche Tafelsammlung‹, Tafel VII . Washington, D.C., LoC , Lessing J. Rosenwald Collection, ms. no. 4, fol. 4r, Foto: LoC , Washington, D.C. Abbildung 8: Mikrokosmosmann. ›Süddeutsche Tafelsammlung‹, Tafel VIII . Washington, D.C., LoC , Lessing J. Rosenwald Collection, ms. no. 4, fol. 4v, Foto: LoC , Washington, D.C. Abbildung 9: Makrokosmosschema. ›Süddeutsche Tafelsammlung‹, Tafel IX . Washington, D.C., LoC , Lessing J. Rosenwald Collection, ms. no. 4, fol. 5r, Foto: LoC , Washington, D.C.
464
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 10: Tugendbaum, Cherub. ›Süddeutsche Tafelsammlung‹, Tafel X . Washington, D.C., LoC , Lessing J. Rosenwald Collection, ms. no. 4, fol. 5v, Foto: LoC , Washington, D.C. Abbildung 11: Lasterbaum, Johannes Evangelista. ›Süddeutsche Tafelsammlung‹, Tafel XI . Washington, D.C., LoC , Lessing J. Rosenwald Collection, ms. no. 4, fol. 6r (7r), Foto: LoC , Washington, D.C. Abbildung 12: Turm der Weisheit. ›Süddeutsche Tafelsammlung‹, Tafel XII . Washington, D.C., LoC , Lessing J. Rosenwald Collection, ms. no. 4, fol. 6v (7v), Foto: LoC , Washington, D.C. Abbildung 13: Philosophie, die sieben freien Künste. ›Süddeutsche Tafelsammlung‹, Tafel XIII . Washington, D.C., LoC , Lessing J. Rosenwald Collection, ms. no. 4, fol. 7r (6r), Foto: LoC , Washington, D.C. Abbildung 14: Frauensklaven I . ›Süddeutsche Tafelsammlung‹, Tafel XIV . Washington, D.C., LoC , Lessing J. Rosenwald Collection, ms. no. 4, fol. 7v (6v), Foto: LoC , Washington, D.C. Abbildung 15: Frauensklaven II . ›Süddeutsche Tafelsammlung‹, Tafel XV . Washington, D.C., LoC , Lessing J. Rosenwald Collection, ms. no. 4, fol. 8r, Foto: LoC , Washington, D.C. Abbildung 16: Fortuna. ›Süddeutsche Tafelsammlung‹, Tafel XVI. Washington, D.C., LoC , Lessing J. Rosenwald Collection, ms. no. 4, fol. 8v, Foto: LoC , Washington, D.C. Abbildung 17: Zodiakusmann. London, WL , MS.49, fol. 41r, Foto: WL , London. Abbildung 18: Zodiakusmann. London, WL , MS.49, fol. 43v, Foto: WL , London. Abbildung 19: Zodiakusmann, Dominium signorum-Text. Oxford, Bodl., MS . Canon. Misc. 248, fol. 42r, Foto: Bodl., Oxford. Abbildung 20: Astronomisches Kompendium, Kreiszeichenbild. Oxford, Bodl., MS . Laud Misc. 644, fol. 8v, Foto: Bodl., Oxford. Abbildung 21: Astronomisches Kompendium, Zodiakusmann. Oxford, Bodl., MS . Rawl. D. 939, section 5 verso, Foto: Bodl., Oxford.
Abbildungsverzeichnis
465
Abbildung 22: Jahreszeitenlehre. Mainz, StB , Hs I 166, fol. 106v, Foto: StB , Mainz. Abbildung 23: Turm der Weisheit. London, LGI , MS 9, fol. 151r, Foto: LGI , London. Abbildung 24: Turm der Weisheit. London, BL , MS Arundel 83 II , fol. 135r, Foto: BL , London. Abbildung 25: Turm der Weisheit. Lilienfeld, StiB, Cod. 151, fol. 258v, Foto: StiB, Lilienfeld. Abbildung 26: Turm der Weisheit. Lilienfeld, StiB, Cod. 151, fol. 259r, Foto: StiB, Lilienfeld. Abbildung 27: Turm der Weisheit. (Begleittext) London, LGI , MS 9, fol. 150v, Foto: LGI , London. Abbildung 28: Lasterbaum, Lebensbaum. München, BSB , Clm 8201, fol. 96r, Foto: BSB , München. Abbildung 29: Tugendbaum. München, BSB , Clm 8201, fol. 96v, Foto: BSB , München. Abbildung 30: Baum der Tugenden und Laster. London, BL , MS Additional 30024, fol. 2r, Foto: BL , London. Abbildung 31: Lasterbaum. London, BL , MS Arundel 83 II , fol. 128v, Foto: BL , London. Abbildung 32: Lasterbaum. Paris, BN , ms. fr. 9220, fol. 6r, Foto: BN , Paris. Abbildung 33: Tugendbaum. Wien, ÖNB , Cod. 12538, fol. 12v, Foto: ÖNB , Wien. Abbildung 34: Lasterbaum. Wien, ÖNB , Cod. 12538, fol. 13r, Foto: ÖNB , Wien. Abbildung 35: Frauensklaven. Wandmalerei im ›Haus zur Kunkel‹, Münsterplatz 5, Konstanz, Fotos: Nachzeichnungen, Rosgartenmuseum Konstanz. Abbildung 36: Mikrokosmosmann. Tübingen, UB , Md. 2, fol. 35r, Foto: UB , Tübingen. Abbildung 37: Mikrokosmosmann. Tübingen, UB , Md. 2, fol. 38v, Foto: UB , Tübingen. Abbildung 38: Planet Mars und seine Kinder. Salzburg, UB , M III 36, fol. 237r, Foto: UB , Salzburg.
466
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 39: Tugendbaum. London, BL , MS Royal 1 B X , fol. 5v, Foto: BL , London. Abbildung 40: Lasterbaum. London, BL , MS Royal 1 B X , fol. 6v, Foto: BL , London. Abbildung 41: Eröffnungsseite: Christus-Monogramm und Bussallegorien. Roma, BC , Ms.1404, fol. 1r, Foto: BC , Rom. Abbildung 42: Bussallegorien, Allegorie der Gnade. London, WL , MS.49, fol. 60r, Foto: WL , London. Abbildung 43: Cherub, Scala celi, Bussbaum. London, WL , MS.49, fol. 63r, Foto: WL , London. Abbildung 44: Lebensalter, Septenare, Superbia. Roma, BC , Ms.1404, fol. 1v, Foto: BC , Rom. Abbildung 45: Fortuna. Roma, BC , Ms.1404, fol. 2r, Foto: BC , Rom. Abbildung 46: Personifikationen der Laster. Roma, BC , Ms.1404, fol. 2v, Foto: BC , Rom. Abbildung 47: Memento mori, Totentanz. Roma, BC , Ms.1404, fol. 3r, Foto: BC , Rom. Abbildung 48: Amor mundi. Roma, BC , Ms.1404, fol. 3v, Foto: BC , Rom. Abbildung 49: Amor mundi. Roma, BC , Ms.1404, fol. 4r, Foto: BC , Rom. Abbildung 50: Lignum vitae. Roma, BC , Ms.1404, fol. 16r, Foto: BC , Rom. Abbildung 51: Palmbaum. Roma, BC , Ms.1404, fol. 26r, Foto: BC , Rom. Abbildung 52: Kreuzigung mit Sündenwaage. Roma, BC , Ms.1404, fol. 37v, Foto: BC , Rom. Abbildung 53: Kampf zwischen Tugenden und Lastern. Roma, BC , Ms.1404, fol. 38r, Foto: BC , Rom. Abbildung 54: Seraph, Kreuzigung mit Sündenwaage. London, WL , MS.49, fol. 62v, Foto: WL , London. Abbildung 55: Cherub, Scala celi, Bussbaum. London, WL , MS.49, fol. 63r, Foto: WL , London.
Abbildungsverzeichnis
467
Abbildung 56: Planet Saturn und seine Kinder. Roma (Citta` del Vaticano), BAV , Cod. Pal. lat. 1369, fol. 144v, Foto: BAV , Rom. Abbildung 57: Zodiakusmann. London, BL , MS Sloane 282, fol. 18r, Foto: BL , London. Abbildung 58: Zodiakusmann. Roma (Citta` del Vaticano), BAV , Cod. Urbin. lat. 1398, fol. 10v, Foto: BAV , Rom. Abbildung 59: Zodiakusmann. Oxford, Bodl., MS . Canon. Misc. 559, fol. 2r, Foto: Bodl., Oxford. Abbildung 60: Volvella solis et lunae, Zodiakusmann. Oxford, Bodl., MS . Ashmole 789 (VIII ), fol. 363r, Foto: Bodl., Oxford. Abbildung 61: Aderlassmann. Oxford, Bodl., MS . Ashmole 789 (VIII ), fol. 365r, Foto: Bodl., Oxford. Abbildung 62: Sponsa beata und Filia Babilonis. München, BSB , Clm 8201, fol. 95r, Foto: BSB , München. Abbildung 63: Gekreuzigter als Priester. München, BSB , Clm 8201, fol. 97v, Foto: BSB , München. Abbildung 64: Tugendbaum. London, WL , MS.49, fol. 65v, Foto: WL , London. Abbildung 65: Lasterbaum. London, WL , MS.49, fol. 66r, Foto: WL , London. Abbildung 66: Lasterbaum. Oxford, Bodl., MS . Douce 373, fol. 5r, Foto: Bodl., Oxford. Abbildung 67: Mikrokosmosfigur. München, BSB , Clm 13002, fol. 7v, Foto: BSB , München. Abbildung 68: Sonne/Mond-Augen-Analogie. Tübingen, UB , Md. 2, fol. 37v, Foto: UB , Tübingen. Abbildung 69: Mensch-Welt-Analogie. Oxford, Bodl., MS . Douce 373, fol. 12r, Foto: Bodl., Oxford. Abbildung 70: Moralisierte Divisio philosophiae. Roma, BC , Ms.1404, fol. 36v, Foto: BC , Rom. Abbildung 71: Verbotene Künste und Laster. Roma, BC , Ms.1404, fol. 37r, Foto: BC , Rom.
468
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 72: Liebesnarren. München, BSB , Clm 3941, fol. 139v, Foto: BSB , München. Abbildung 73: Tugend- und Lasterbaum. London, BL , MS Additional 17358, Faltblatt fol. 15r, Foto: BL , London. Abbildung 74: Planeten-Rota, Christophorus. Oxford, Bodl., MS . Rawl. D. 939, section 3 verso, Foto: Bodl., Oxford. Abbildung 75: Planetentafel, Brontologie. Oxford, Bodl., MS . Rawl. D. 939, section 3 recto, Foto: Bodl., Oxford. Abbildung 76: Aderlassfigur. ›Beilngrieser Aderlassmännlein‹, Blatt 1, Foto: Max Künzel, Beilngries. Abbildung 77: Aderlassfigur. ›Beilngrieser Aderlassmännlein‹, Blatt 2, Foto: Max Künzel, Beilngries.
Abbildungen
470
Abbildungen
Abb. 1: Sphärenschema, Planetenkinder. ›Süddeutsche Tafelsammlung‹, Tafel I . Washington, D.C., LoC , Lessing J. Rosenwald Collection, ms. no. 4, fol. 1r.
Abbildungen
471
Abb. 2: Zodiakusmann. ›Süddeutsche Tafelsammlung‹, Tafel II . Washington, D.C., LoC , Lessing J. Rosenwald Collection, ms. no. 4, fol. 1v.
472
Abbildungen
Abb. 3: Aderlassmann I . ›Süddeutsche Tafelsammlung‹, Tafel III . Washington, D.C., LoC , Lessing J. Rosenwald Collection, ms. no. 4, fol. 2r (3r).
Abbildungen
473
Abb. 4: Aderlassmann IIa. ›Süddeutsche Tafelsammlung‹, Tafel IV . Washington, D.C., LoC , Lessing J. Rosenwald Collection, ms. no. 4, fol. 2v (3v).
474
Abbildungen
Abb. 5: Aderlassmann III . ›Süddeutsche Tafelsammlung‹, Tafel V . Washington, D.C., LoC , Lessing J. Rosenwald Collection, ms. no. 4, fol. 3r (2r).
Abbildungen
475
Abb. 6: Aderlassmann IIb. ›Süddeutsche Tafelsammlung‹, Tafel VI . Washington, D.C., LoC , Lessing J. Rosenwald Collection, ms. no. 4, fol. 3v (2v).
476
Abbildungen
Abb. 7: Turm der Weisheit. ›Süddeutsche Tafelsammlung‹, Tafel VII . Washington, D.C., LoC , Lessing J. Rosenwald Collection, ms. no. 4, fol. 4r.
Abbildungen
477
Abb. 8: Mikrokosmosmann. ›Süddeutsche Tafelsammlung‹, Tafel VIII . Washington, D.C., LoC , Lessing J. Rosenwald Collection, ms. no. 4, fol. 4v.
478
Abbildungen
Abb. 9: Makrokosmosschema. ›Süddeutsche Tafelsammlung‹, Tafel IX . Washington, D.C., LoC , Lessing J. Rosenwald Collection, ms. no. 4, fol. 5r.
Abbildungen
479
Abb. 10: Tugendbaum, Cherub. ›Süddeutsche Tafelsammlung‹, Tafel X . Washington, D.C., LoC , Lessing J. Rosenwald Collection, ms. no. 4, fol. 5v.
480
Abbildungen
Abb. 11: Lasterbaum, Johannes Evangelista. ›Süddeutsche Tafelsammlung‹, Tafel XI . Washington, D.C., LoC , Lessing J. Rosenwald Collection, ms. no. 4, fol. 6r (7r).
Abbildungen
481
Abb. 12: Turm der Weisheit. ›Süddeutsche Tafelsammlung‹, Tafel XII . Washington, D.C., LoC , Lessing J. Rosenwald Collection, ms. no. 4, fol. 6v (7v).
482
Abbildungen
Abb. 13: Philosophie, die sieben freien Künste. ›Süddeutsche Tafelsammlung‹, Tafel XIII . Washington, D.C., LoC , Lessing J. Rosenwald Collection, ms. no. 4, fol. 7r (6r).
Abbildungen
483
Abb. 14: Frauensklaven I . ›Süddeutsche Tafelsammlung‹, Tafel XIV . Washington, D.C., LoC , Lessing J. Rosenwald Collection, ms. no. 4, fol. 7v (6v).
484
Abbildungen
Abb. 15: Frauensklaven II . ›Süddeutsche Tafelsammlung‹, Tafel XV . Washington, D.C., LoC , Lessing J. Rosenwald Collection, ms. no. 4, fol. 8r.
Abbildungen
485
Abb. 16: Fortuna. ›Süddeutsche Tafelsammlung‹, Tafel XVI . Washington, D.C., LoC , Lessing J. Rosenwald Collection, ms. no. 4, fol. 8v.
486
Abbildungen
Abb. 17: Zodiakusmann. London, WL , MS.49, fol. 41r.
Abbildungen
Abb. 18: Zodiakusmann. London, WL , MS.49, fol. 43v.
487
488
Abbildungen
Abb. 19: Zodiakusmann, Dominium signorum-Text. Oxford, Bodl., MS . Canon. Misc. 248, fol. 42r.
Abbildungen
489
Abb. 20: Astronomisches Kompendium, Kreiszeichenbild. Oxford, Bodl., MS . Laud Misc. 644, fol. 8v.
490
Abbildungen
Abb. 21: Astronomisches Kompendium, Zodiakusmann. Oxford, Bodl., MS . Rawl. D. 939, section 5 verso.
Abbildungen
Abb. 22: Jahreszeitenlehre. Mainz, StB , Hs I 166, fol. 106v.
491
492
Abbildungen
Abb. 23: Turm der Weisheit. London, LGI , MS 9, fol. 151r.
Abbildungen
Abb. 24: Turm der Weisheit. London, BL , MS Arundel 83 II , fol. 135r.
493
494
Abbildungen
Abb. 25: Turm der Weisheit. Lilienfeld, StiB, Cod. 151, fol. 258v.
Abbildungen
Abb. 26: Turm der Weisheit. Lilienfeld, StiB, Cod. 151, fol. 259r.
495
496
Abbildungen
Abb. 27: Turm der Weisheit. London, LGI , MS 9, fol. 150v.
Abbildungen
Abb. 28: Lasterbaum, Lebensbaum. München, BSB , Clm 8201, fol. 96r.
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Abbildungen
Abb. 29: Tugendbaum. München, BSB , Clm 8201, fol. 96v.
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499
Abb. 30: Baum der Tugenden und Laster. London, BL , MS Additional 30024, fol. 2r.
500
Abbildungen
Abb. 31: Lasterbaum. London, BL , MS Arundel 83 II , fol. 128v.
Abbildungen
Abb. 32: Lasterbaum. Paris, BN , ms. fr. 9220, fol. 6r.
501
502
Abbildungen
Abb. 33: Tugendbaum. Wien, ÖNB , Cod. 12538, fol. 12v.
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Abb. 34: Lasterbaum. Wien, ÖNB , Cod. 12538, fol. 13r.
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504
Abbildungen
Abb. 35: Frauensklaven. Wandmalerei im ›Haus zur Kunkel‹, Münsterplatz 5, Konstanz.
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Abb. 36: Mikrokosmosmann. Tübingen, UB , Md. 2, fol. 35r.
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Abb. 37: Mikrokosmosmann. Tübingen, UB , Md. 2, fol. 38v.
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Abb. 38: Planet Mars und seine Kinder. Salzburg, UB , M III 36, fol. 237r.
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Abb. 39: Tugendbaum. London, BL , MS Royal 1 B X , fol. 5v.
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Abb. 40: Lasterbaum. London, BL , MS Royal 1 B X , fol. 6v.
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510
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Abb. 41: Eröffnungsseite: Christus-Monogramm und Bussallegorien. Roma, BC , Ms.1404, fol. 1r.
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Abb. 42: Bussallegorien, Allegorie der Gnade. London, WL , MS.49, fol. 60r.
511
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Abb. 43: Bussbaum, Scala celi. London, WL , MS.49, fol. 63r.
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Abb. 44: Lebensalter, Septenare, Superbia. Roma, BC , Ms.1404, fol. 1v.
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Abb. 45: Fortuna. Roma, BC , Ms.1404, fol. 2r.
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Abb. 46: Personifikationen der Laster. Roma, BC , Ms.1404, fol. 2v.
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Abb. 47: Memento mori, Totentanz. Roma, BC , Ms.1404, fol. 3r.
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Abb. 48: Amor mundi. Roma, BC , Ms.1404, fol. 3v.
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Abb. 49: Amor mundi. Roma, BC , Ms.1404, fol. 4r.
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Abb. 50: Lignum vitae. Roma, BC , Ms.1404, fol. 16r.
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Abb. 51: Palmbaum. Roma, BC , Ms.1404, fol. 26r.
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Abb. 52: Kreuzigung mit Sündenwaage. Roma, BC , Ms.1404, fol. 37v.
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Abb. 53: Kampf zwischen Tugenden und Lastern. Roma, BC , Ms.1404, fol. 38r.
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523
Abb. 54: Seraph, Kreuzigung mit Sündenwaage. London, WL , MS.49, fol. 62v.
524
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Abb. 55: Cherub, Scala celi, Bussbaum. London, WL , MS.49, fol. 63r.
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525
Abb. 56: Planet Saturn und seine Kinder. Roma (Citta` del Vaticano), BAV , Cod. Pal. lat. 1369, fol. 144v.
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Abb. 57: Zodiakusmann. London, BL , MS Sloane 282, fol. 18r.
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527
Abb. 58: Zodiakusmann. Roma (Citta` del Vaticano), BAV , Cod. Urbin. lat. 1398, fol. 10v.
528
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Abb. 59: Zodiakusmann. Oxford, Bodl., MS . Canon. Misc. 559, fol. 2r.
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529
Abb. 60: Volvella solis et lunae, Zodiakusmann. Oxford, Bodl., MS . Ashmole 789 (VIII ), fol. 363r.
530
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Abb. 61: Aderlassmann. Oxford, Bodl., MS . Ashmole 789 (VIII ), fol. 365r.
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531
Abb. 62: Sponsa beata und Filia Babilonis. München, BSB , Clm 8201, fol. 95r.
532
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Abb. 63: Gekreuzigter als Priester. München, BSB , Clm 8201, fol. 97v.
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Abb. 64: Tugendbaum. London, WL , MS.49, fol. 65v.
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Abb. 65: Lasterbaum. London, WL , MS.49, fol. 66r.
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Abb. 66: Lasterbaum. Oxford, Bodl., MS . Douce 373, fol. 5r.
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Abb. 67: Mikrokosmosfigur. München, BSB , Clm 13002, fol. 7v.
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Abb. 68: Sonne/Mond-Augen-Analogie. Tübingen, UB , Md. 2, fol. 37v.
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Abb. 69: Mensch-Welt-Analogie. Oxford, Bodl., MS . Douce 373, fol. 12r.
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Abb. 70: Moralisierte Divisio philosophiae. Roma, BC , Ms.1404, fol. 36v.
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Abb. 71: Verbotene Künste und Laster. Roma, BC , Ms.1404, fol. 37r.
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Abb. 72: Liebesnarren. München, BSB , Clm 3941, fol. 139v.
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Abb. 73: Tugend- und Lasterbaum. London, BL , MS Additional 17358, Faltblatt fol. 15r.
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Abb. 74: Planeten-Rota, Christophorus. Oxford, Bodl., MS . Rawl. D. 939, section 3 verso.
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Abb. 75: Planetentafel, Brontologie. Oxford, Bodl., MS . Rawl. D. 939, section 3 recto.
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Abb. 76: Aderlassfigur. ›Beilngrieser Aderlassmännlein‹, Blatt 1.
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Abb. 77: Aderlassfigur. ›Beilngrieser Aderlassmännlein‹, Blatt 2.