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German Pages [345] Year 2019
Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung
Band 24
Herausgegeben vom Vorstand des Forums Mittelalter – Renaissance – Frühe Neuzeit mit der Redaktion des Forums Mittelalter – Renaissance – Frühe Neuzeit, Berlin
Ronny Kaiser / Frank Jasper Noll / Cornelia Selent / Sabine Spohner / Benjamin Wallura (Hg.)
Wissen und Geltung Interdisziplinäre Beiträge zur Dynamik kulturellen Wissens in Mittelalter und Neuzeit
Mit 21 Abbildungen
V& R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber https://dnb.d-nb.de abrufbar. 2020, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-6223 ISBN 978-3-7370-1061-0
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ronny Kaiser / Frank Jasper Noll / Cornelia Selent / Sabine Spohner / Benjamin Wallura Einleitung – Wissen und Geltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Geltungsansprüche gesellschaftlicher Eliten: Inszenierung und Funktionalisierung von Wissen Sabine Spohner Die Eroberung Jerusalems durch Titus in der altniederländischen Malerei. Überlegungen zur Genter Tafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Annett Klingner Verteufelt – Verändert – Verfälscht – Vergessen. Das Krönungshoroskop von Alexander VI. Borgia im Vatikan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Antonia Putzger »ich ästimiere die Rarität.« Überlegungen zur Rolle des religiösen Bildes in der frühneuzeitlichen Sammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Marion Müller Das Schloss als Empfangsort. Überlegungen zu einer Funktion französischer maisons de plaisance und ihrer Bedeutung für das Geltungsstreben neuer Eliten im französischen 17. Jahrhundert . . . . . 105
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Inhalt
II. Geltung durch Ausdifferenzierung und Neuordnung: Wissensformationen und ihre Präsentation Cornelia Selent Diskursive Mitgestaltung des curriculum scientiae: olfactus, gustus und tactus im Cambridger Kommentar zu Martianus Capellas De nuptiis Philologiae et Mercurii . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Frank Jasper Noll Thesaurus eruditionis. Antikes ›Weltwissen‹ zwischen fabula und historia in Johannes Herolds Heydenweldt (Basel 1554) . . . . . . . . . . . . . . . 159 Benjamin Wallura Die Geltung von Geographie und geographischem Wissen – Petrus Bertius’ Tabulae Geographicae contractae und die Beschreibung Arabiens um 1600 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187
III. Geltung durch Ästhetisierung und Poetisierung: Strategien der Wissensvermittlung Walter Marx Boccaccios Decameron: Die Novellensammlung als Abbild der kosmologischen und planetarischen Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . 225 Annegret Oehme »Wellichs du tuOt, das wirt dich reuen.« Strategien der Wissensvermittlung in Albrechts von Eyb ›Ehebüchlein‹ . . . . . . . . . . 253
IV. Prekäre Geltungsansprüche: Konfrontationen mit tradiertem Wissen Jonas Sellin »Dan das man in kainer Geschrifft findet«. Wissenstransfer und Intertextualität in der spätmittelalterlichen volksprachlichen Regionalchronistik Österreichs, Kärntens und der Steiermark . . . . . . 279 Ronny Kaiser Certe non defuissent, qui eum admonerent. Die Sermocinationes in Lorenzo Vallas Schrift gegen die Konstantinische Schenkung (1440) . . . 301
Inhalt
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Maike Priesterjahn Zwischen Tradition und Distanz. Paolo Emilios Transformation französischer Vergangenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341
Vorwort
Der vorliegende Band geht auf eine gemeinsame Initiative der Mitglieder des interdisziplinären Colloquiums am Forum Mittelalter-Renaissance-Frühe Neuzeit der Freien Universität Berlin zurück. Das Ziel dieser Initiative war (und ist) es, die Ergebnisse der mehrsemestrigen interdisziplinären Arbeit des Colloquiums zu dokumentieren, in deren Verlauf sich das komplexe Wechselverhältnis von Wissen und Geltung als ein gemeinsamer analytischer Fokus der Beiträgerinnen und Beiträger herauskristallisiert hat. Das Erscheinen des Sammelbands ist einer Reihe von Personen und Institutionen zu verdanken, die sich auf die eine oder andere Weise um den Band verdient gemacht, ihn unterstützt und sich an ihm beteiligt haben: An erster Stelle gilt unser Dank den Autorinnen und Autoren, die die Entstehung des Bandes durch ihre Beiträge, durch das in uns gesetzte Vertrauen und schließlich durch ihre Geduld überhaupt erst möglich gemacht haben. Ohne die Unterstützung durch das Forum Mittelalter-Renaissance-Frühe Neuzeit der Freien Universität Berlin hätte das Projekt in der jetzigen Form indes ebenfalls nicht realisiert werden können. Auch dafür möchten wir uns herzlich bedanken, allen voran bei Hannah Wälzholz sowie bei Prof. Dr. Jutta Eming und ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern (Dr. Johannes Traulsen, Lydia Jones, Peter Baltes). Zu danken haben wir ferner der Redaktion für die freundliche Aufnahme des Bandes in die Reihe Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung, insbesondere Prof. Dr. Bernd Roling, der das Zustandekommen der Veröffentlichung mit Wohlwollen und Interesse verfolgt und uns im Laufe der Zeit mehr als einmal tatkräftig zur Seite gestanden hat. Für die reibungslose Zusammenarbeit mit dem Verlag v& r unipress möchten wir vor allem Susanne Köhler, Carla Schmidt und Julia Schwanke danken. Schließlich sind wir der Ernst-Reuter-Gesellschaft der Freien Universität Berlin für die Gewährung eines großzügigen Druckkostenzuschusses zu Dank verpflichtet. Berlin, Göttingen, im Juli 2019 Die Herausgeber
Ronny Kaiser / Frank Jasper Noll / Cornelia Selent / Sabine Spohner / Benjamin Wallura
Einleitung – Wissen und Geltung
1.
Exodus 32–34
Mit den von Gott geschriebenen Gesetzestafeln in den Händen steigt Moses vom Berg Sinai herab. Als er das Volk Israel um das Goldene Kalb tanzen sieht, zerschmettert er vor Wut die mitgebrachten Tafeln (Exodus 32,19). Nachdem das Fehlverhalten der Israeliten bestraft ist und sie Reue zeigen, steigt Moses abermals auf den Berg Sinai und bringt den Israeliten nach vierzig Tagen zum zweiten Mal die Gesetzestafeln (Exodus 34,28–29). In seinem 1659 entstandenen Gemälde Moses mit den Gesetzestafeln (Abbildung 1)1 konfrontiert Rembrandt den Bildbetrachter frontal mit der Hauptfigur einer der bekanntesten Szenen des Alten Testaments. Während der Berg Sinai im Hintergrund nur schemenhaft angedeutet ist, erstrahlt im Zentrum des in dunklen Brauntönen und grober Manier gestalteten Werkes in hellem Licht2 der Kopf Mose, über den er die beiden Tafeln mit den Geboten Gottes hält.3 Die Frage, welchen Moment der im Exodus 1 Zu Rembrandts Gemälde Moses mit den Gesetzestafeln siehe beispielsweise Jan Kelch: Rembrandt, Moses zerschmettert die Gesetzestafeln, in: Gemäldegalerie Berlin, 200 Meisterwerke. Staatliche Museen zu Berlin. Preußischer Kulturbesitz 1998, S. 264. 2 Das Licht spielt in Rembrandts Œuvre generell eine bedeutende Rolle, die in zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen diskutiert wird. Vgl. hierzu beispielsweise Margriet van Eikema Hommes/Ernst van de Wetering: Licht und Farbe bei Caravaggio und Rembrandt – mit den Augen ihrer Zeitgenossen gesehen, in: Rembrandt – Caravaggio [Ausst. Kat., Rijksmuseum Amsterdam und Van Gogh Museum in Amsterdam, 24. Februar bis 18. Juni 2006], hg. v. Duncan Bull, Zwolle 2006, S. 164–179. 3 In Rembrandts Œuvre sind dabei vor allem die Gebote der zuvorderst gehaltenen Tafel zu erkennen. Oftmals wurden die zehn Gebote auf die beiden Tafeln gleichmäßig verteilt. Entsprechend gibt auch Kelch an, dass Rembrandt die Gebote sechs bis zehn dargestellt hat. Kelch, Rembrandt (s. Anm. 1), S. 264. Basierend auf älteren jüdischen Vorgaben setzte sich im Luthertum folgende Teilung durch: die ersten drei Gebote auf der ersten Tafel regeln das Verhalten der Menschen gegenüber Gott, die Gebote vier bis zehn der zweiten Tafel regeln dagegen die Beziehung der Menschen untereinander. Vgl. Friedrich Wilhelm Graf: Moses Vermächtnis. Über göttliche und menschliche Gesetze, München 2006, S. 51. Rembrandts Auffassungen über Religion sind in der Forschung oft diskutiert worden. Zur Gestaltung biblischer Themen und zum Umgang des Protestanten Rembrandt mit der katholischen
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beschriebenen Geschichte Rembrandt in seinem Gemälde dargestellt hat, ist in der Forschung umstritten. Während die über den Kopf gehaltenen Tafeln ikonographisch auf den Moment hinweisen, als Moses diese beim Anblick der um das Goldene Kalb tanzenden Israeliten vor Zorn zerschmettert (Exodus 32,19), deutet sein hell erleuchtetes Gesicht dagegen auf die zweite Präsentation der Gesetztafeln, da sein Antlitz nach dem Gespräch mit Gott strahlte (Exodus 34,29).4 Unabhängig davon, welcher Moment nun genau dargestellt ist,5 zeigt Rembrandt in seinem Gemälde eine der bedeutendsten Szenen in der Religionsgeschichte des Monotheismus, die sich, wenngleich unterschiedlich stark, in das kulturelle Gedächtnis von Juden, Christen und Muslimen eingeprägt hat.6 Die Sinai-Offenbarung, die vor allem im Juden- und im Christentum von zentraler Bedeutung ist, wurde im Laufe der Jahrhunderte von den religiösen Gruppen unterschiedlich ausgelegt, was sich beispielsweise in der differierenden Ikonographie der Szene7 und der abweichenden Zählung der einzelnen Gebote8 zeigt.
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Bildtradition vgl. Volker Manuth: Mit Verlaub, bist du Mennonit, Papist, Arminianer oder Geuse? Kunst und Konfession bei Rembrandt, in: Rembrandt – Genie auf der Suche [Ausst. Kat., Gemäldegalerie, Staatliche Museen zu Berlin, 4. August bis 5. November 2006 und in Amsterdam unter dem Titel »Rembrandt – zoektocht van een genie«, vom 1. April bis 2. Juli 2006], Köln 2006, S. 51–64. Seit dem 12. Jahrhundert wurde Moses, in Folge einer missverständlichen Übersetzung der lateinischen Vulgata, bei der das »strahlende Antlitz« mit cornuta (gehörnt) übersetzt wurde, mit Hörnern dargestellt. Videbant faciem Moysi esse cornutam (Exodus 34,29). Hanspeter Schlosser: Moses, in: LCI, Bd. 3, Freiburg i.Br. 1994/2004, S. 285f. Dagegen steht die Annahme, dass Hieronymus sich bewusst für den Begriff cornuta (gehörnt) entschieden habe, da sie einerseits physische Kraft und andererseits übermenschliche Macht versinnbildlichen. Moses, in: Lexikon der Kunst, Bd. 5, Leipzig 2004, S. 4f. Unumstritten ist der von Michelangelo um 1515 gestaltete Moses innerhalb des Julius-Grabmals die berühmteste Darstellung der biblischen Figur mit Hörnern. Möglicherweise liefert die Neutronenautoradiographie, die im laufenden Rembrandt-Forschungsprojekt der Berliner Gemäldegalerie von Rembrandts Gemälde Moses mit den Gesetzestafeln angefertigt wurde und derzeit analysiert wird, hierzu weitere Erkenntnisse. Auch ist in diesem Zusammenhang der Rückgriff Rembrandts auf Flavius Josephus’ Antiquitates Judaicae (III. Buch, 5. Kapitel) zu berücksichtigen, in dessen Bericht vom Zerschmettern der Gesetzestafeln ebenso wenig die Rede ist wie von einem Moses umgebenden »strahlenden Glanz«. Zur Rolle Mose in den drei monotheistischen Religionen vgl. Christfried Böttrich/Beate Ego/Friedmann Eißler : Mose in Judentum, Christentum und Islam. Göttingen 2010. Mose im Alten Testament vgl. Erich Zenger, LThK, Bd. 7, S. 486–488. Mose im Neuen Testament vgl. Johannes M. Nützel, LThK, Bd. 7, S. 488f. Mose im Judentum vgl. Johann Maier, LThK, Bd. 7, S. 489f. Ikonographie Moses vgl. Eva-Bettina Krems, LThK, Bd. 7, S. 491. Dem jüdischen Bilderverbot Jahwes entsprechend ist in diesen Darstellungen lediglich die Hand Gottes zu sehen, sein Angesicht dagegen zeigen viele christliche Werke. Die Juden sehen Exodus 20,2 als erstes und Exodus 20,3f. als zweites Gebot, das bei den Christen zusammengenommen als erstes Gebot gilt. Dahingegen wird das zehnte Gebot der Juden von den Christen auf zwei Gebote verteilt. Vgl. Graf, Moses Vermächtnis (s. Anm. 3), S. 50f.
Einleitung – Wissen und Geltung
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Abb. 1: Rembrandt, Moses mit den Gesetzestafeln, 1659, Öl auf Leinwand, 168,5 x 136,5 cm (bezeichnet rechts unten: Rembrandt f. 1659), Berlin, Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz, Gemäldegalerie
Während der Dekalog etwa im jüdischen Gottesdienst anfänglich eine Rolle spielte, später jedoch verboten wurde,9 galt er im Christentum nachkonstantinischer Zeit zunehmend als eine der höchsten religiösen Wahrheiten und erhielt zudem den Status einer auch das weltliche Recht begründenden, normativen Autorität. Die Geltung des ius humanum ist demnach in hohem Grade von seiner Rechtfertigung durch das ius divinum abhängig: sobald es den geoffenbarten Verhaltensnormen nicht mehr entspricht, verliert es nach der Überzeugung mittelalterlicher Theologen seine Geltungsgrundlage und wird ungültig.10 9 Jüdische Gottesgelehrte, denen zufolge Gott Mose 613 Gebote übergeben hatte, fürchteten eine Reduktion auf die Zehn Gebote. Vgl. Graf, Moses Vermächtnis (s. Anm. 3), S. 23 und 47. 10 Vgl. hierzu Graf, Moses Vermächtnis (s. Anm. 3), S. 26ff. »Thomas von Aquin […] erklärte in der »Summa de theologia«, daß keinerlei weltliche Obrigkeit, sondern allein die höchste kirchliche Autorität, also der Papst in Rom, auf der Grundlage der Heiligen Schrift und der kirchlichen Tradition die Normen göttlichen Rechts festzustellen hat.« Jahrhunderte lang hat
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Die kulturelle Wirkmächtigkeit des biblisch fundierten Wissens um die SinaiOffenbarung in der Vormoderne drückt sich nicht zuletzt in einer Vielzahl bildlicher Repräsentationen aus, die von Reliefs auf frühchristlichen Sarkophagen über Miniaturen in mittelalterlichen Handschriften bis hin zu großformatigen Gemälden und Graphiken reichen.11 Die jeweiligen Artefakte präsentieren die Sinai-Offenbarung in ganz unterschiedlichen kulturellen Zusammenhängen und machen insofern zugleich die spezifische Zeitgebundenheit des Wissens vom mosaischen Gesetz deutlich. Die je differente Inszenierung und Funktionalisierung dieses Wissens ist dabei meist eng mit den Vorgaben des Auftraggebers und dem räumlich-materiellen Kontext verknüpft, für den das entsprechende Artefakt gedacht ist.12 Waren Darstellungen von Moses mit den Gesetzestafeln im Mittelalter vor allem im religiösen Rahmen – sei es in Andachtsbüchern, in liturgischen Handschriften oder im Kircheninnern – zu sehen, ist Rembrandts Gemälde möglicherweise ursprünglich für den Schöffensaal des Amsterdamer Rathauses bestimmt gewesen.13 Ausgehend von dieser Annahme, interagiert das im Bild präsentierte ius divinum mit dem durch den Aufhängungsort repräsentierten ius humanum: das Bild kommentiert seinen eigenen Rezeptionskontext und lässt sich überdies als Mahnung verstehen, das menschliche Gesetz stets in Relation zum göttlichen Gesetz – und von diesem abgeleitet – zu begreifen.14 Rembrandt gelingt dies, indem er sein Gemälde auf starke Untersicht hin konzipiert, sodass Moses mit den Gesetzestafeln sprichwörtlich über allem anderen steht. Statt der szenischen Darstellung wählt er zudem eine einfigürliche Historie, die den Be-
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»die römisch-katholische Kirche […] den dreifachen Anspruch [verteidigt], daß ihr ein geoffenbartes Wissen um die Normen göttlichen Rechts erschlossen ist, daß dieses ewige, jedem Vernunftgeschöpf ins Herz geschriebene Recht universell gilt und daß nur dem Inhaber des Petrusamtes die verbindliche Normdeutungskompetenz eignet.« Ebd., S. 28. Vgl. ferner Andreas Speer : Naturgesetz und Dekalog bei Thomas von Aquin, in: Das Gesetz – The Law – La Loi, hg. v. Andreas Speer, Berlin/Boston 2014 (Miscellaneae Mediaevalia 38), S. 350–370. In der Moderne kommen schließlich auch filmische Darstellungen hinzu: Vgl. etwa Cecile B. DeMilles Film »Die Zehn Gebote« von 1956, dessen Szene, in der Moses die Gesetzestafeln hochhält, sich ikonographisch an Rembrandts Gemälde orientiert. Im Falle der biblischen Historien Rembrandts sind Auftraggeber und ursprüngliche Aufhängungsorte meist unbekannt. Vgl. Manuth, Kunst und Konfession bei Rembrandt (s. Anm. 3), S. 51–64. Vgl. Kelch, Rembrandt (s. Anm. 1), S. 264. »Für die Wirksamkeit von Autoritätsmustern ist dabei ausschlaggebend, in welchem Zusammenhang die Vermittlung geschieht. Gerade das Verhältnis Bild/Leser und damit auch die ›Wirksamkeit‹ der Bildaussage ist abhängig vom Kontext, in dem die Bilder wahrgenommen werden.« Vgl. Gabriele Wimböck: Die Autorität des Bildes – Perspektiven für eine Geschichte vom Bild in der Frühen Neuzeit, in: Das Bild als Autorität. Die normierende Kraft des Bildes, hg. v. Frank Büttner/Gabriele Wimböck, Münster 2004, S. 9–42, hier S. 19 und Anm. 34.
Einleitung – Wissen und Geltung
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trachter direkt mit der biblischen Gestalt konfrontiert: dieser nimmt daher die Position der im Bild nicht dargestellten Israeliten ein, denen Moses das göttliche Gesetz als für sie verbindliches Regelwerk präsentiert. Im Rekurs auf Verfahren der zeitgenössischen Bildrhetorik – etwa mittels entsprechender Lichtführung und durch geschickte ›Psychologisierung‹15 – ruft Rembrandt die alttestamentliche Szene nicht nur ikonographisch in Erinnerung, sondern vergegenwärtigt, ja ›verlebendigt‹ sie und bringt sie bei den Betrachtern so als intersubjektiv verbindlichen Wissensbestand zur Geltung. Indem das Bild den in Exodus 20,1–21 überlieferten gesetzgebenden Akt quasi nachvollzieht, lässt es das ius divinum des Dekalogs im Schöffensaal des Amsterdamer Rathauses normativ wirksam werden und stellt das dort praktizierte ius humanum zugleich unter ein göttliches Prärogativ. Umgekehrt verschafft die bildliche Inszenierung des Bibeltextes, indem sie seinen Offenbarungscharakter (d. h. seine religiöse Geltungsgrundlage) in den Vordergrund rückt, nun aber auch der Rechtsprechung derjenigen Geltung, die als juristische Laien (Schöffen) die Institutionen städtischer Gerichtsbarkeit repräsentieren.16
2.
Wissen und Geltung. Probleme und Lösungsansätze der jüngeren Wissensforschung
Rembrandts Gemälde Moses mit den Gesetzestafeln impliziert, so lässt sich das bisher Gesagte zusammenfassen, gleichermaßen wissenshistorische wie geltungstheoretische Dimensionen und macht damit exemplarisch auf das ebenso komplexe wie dynamische Verhältnis von Wissen und Geltung aufmerksam. Denn Wissen und Geltung zeigen sich in Rembrandts Moses wechselseitig aufeinander bezogen: das Bild setzt, um den mit ihm aufgeworfenen juristischen Geltungsanspruch zu substantiieren, gleichermaßen gültiges Wissen voraus, wie es diesem Wissen beim Betrachter allererst durch verschiedene Darstellungs15 Hierfür greift Rembrandt auf Flavius Josephus’ Antiquitates Judaicae (III, 5) zurück, ein Text, der eine ›psychologische‹ Interpretation der atl. Szene beinhaltet. Vgl. Christian Tümpel: Die Rezeption der Jüdischen Altertümer des Flavius Josephus in den holländischen Historiendarstellungen des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Wort und Bild in der niederländischen Kunst und Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts, hg. v. Hermann Vekeman/Justus Müller Hofstede, Erftstadt 1984, S. 173–204, hier S. 196. Auch in anderen Werken Rembrandts wie beispielsweise Jeremias trauert über den Untergang Jerusalems (1630, Holz, 58,3 x 46,6 cm, Amsterdam, Rijksmuseum) steht die Psychologisierung im Vordergrund. Vgl. hierzu Tümpel, ebd., S. 185. 16 Vgl. zur Schöffengerichtsbarkeit an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit und den für sie typischen Begründungsszenarien exemplarisch Alexander Krey : Die Praxis der spätmittelalterlichen Laiengerichtsbarkeit. Gerichts- und Rechtslandschaften des Rhein-MainGebietes im 15. Jahrhundert im Vergleich, Wien u. a. 2015.
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strategien Geltung verschafft. Das Wissen um Ursprung und Inhalt der Zehn Gebote, deren genauer Wortlaut sich dem Bild bestenfalls andeutungsweise entnehmen lässt,17 wird als gültiges Wissen inszeniert und damit im praktischen (juristischen) Sinne wirksam: Durch seine performative Präsenz im Bild – dadurch, dass er im religiös bedeutsamen Augenblick seiner durch Gott initiierten Einsetzung dargestellt wird – erhält der Dekalog zumindest aus christlicher Sicht den normativen Status eines göttlich verbürgten, transzendenten Prinzips, von der sich die Geltung der weltlichen Rechtsprechung direkt oder indirekt ableitet. Mit dieser hier am Beispiel eines frühneuzeitlichen Gemäldes explizierten, facettenreichen und dynamischen Korrelation von Wissen und Geltung ist unserer Auffassung nach ein Spezifikum kultureller Wissensformationen bezeichnet, das sich grundsätzlich auch in anderen historischen und medialen Konstellationen beobachten lässt und das es deshalb Wert ist, kulturhistorisch genauer in den Blick genommen zu werden. Indem Wissen und Geltung derart als miteinander interagierende Leitbegriffe der kulturwissenschaftlichen Analyse fokussiert werden, schließt der vorliegende Band nolens volens an eine Diskussion an, die in den Kulturwissenschaften seit geraumer Zeit kontrovers geführt wird. Ihren noch immer aktuellen Hintergrund hat diese Diskussion in einer geradezu dramatischen Ausweitung des Wissensbegriffs auf eine Vielzahl ganz unterschiedlicher kulturwissenschaftlicher Forschungsfelder, die sich seit einigen Jahrzehnten beobachten lässt: Literatur, Kunst, Musik – nicht etwa nur die Wissenschaften, sondern nahezu alle kulturellen Objektivationen und gesellschaftlichen Praktiken scheinen als Träger epistemischer Gehalte, ja mehr noch, als distinkte Wissensformen je eigenen Rechts in Frage zu kommen.18 Den Kern der Debatte bildet dabei der den jeweiligen Forschungsansätzen oft eher implizit als explizit zugrundeliegende Wissensbegriff. In mehr oder minder reflektiertem Anschluss an die begrifflichen Traditionen der Wissenssoziologie19 setzt dieser Wissensbegriff nicht nur, wie bereits angedeutet, einen etwa gegenüber der herkömmlichen Wissenschaftstheorie und -geschichtsschreibung 17 Auf der Tafel, die Rembrandts Moses in Händen hält, sind die letzten fünf Gebote in hebräischer Schrift zu sehen, die wohl in erster Linie die historische Wahrheit des Abgebildeten verbürgen und dem Bild auf diese Weise die für den Hängungskontext nötige Autorität verleihen soll. Es ist indes nicht davon auszugehen, dass die Amsterdamer Schöffen als (mögliche) primäre Rezipienten des Gemäldes diese hebräische Schrift auch tatsächlich hätten lesen können. 18 Stellvertretend sei an die breite – und noch immer nicht abgeschlossene – Debatte erinnert, die in den letzten zehn bis zwanzig Jahren um das Verhältnis von Wissen und bzw. Wissen in Literatur in Gang gekommen ist. Vgl etwa die Beiträge in Literatur und Wissen: theoretischmethodische Zugänge, hg. v. Tilmann Köppe, Berlin u. a. 2011; Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch, hg. v. Roland Borgards u. a., Stuttgart/Weimar 2013. 19 Vgl. hierzu u. a. die einschlägigen Einführungsbände von Sabine Maasen: Wissenssoziologie, 2. kompl. überarbeitete Aufl., Bielefeld 2009 u. Hubert Knoblauch: Wissenssoziologie, 3. überarb. Aufl., Konstanz 2014.
Einleitung – Wissen und Geltung
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radikal erweiterten Gegenstandsbereich voraus – er impliziert zudem die soziale bzw. kulturelle Kontextualisierung allen Wissens und aller mit epistemischen Geltungsansprüchen verknüpften kulturellen Objektivationen. Beides unterscheidet ihn vom ›klassischen‹ epistemologischen Wissensbegriff, der Wissen in philosophischer Tradition als ›wahre, gerechtfertigte Meinung‹ konzeptualisiert: als Wissen qualifizieren sich so gesehen nur jene von einem Subjekt bewusst gehegten Überzeugungen, die die Bedingungen der Wahrheit und der rationalen Begründbarkeit erfüllen.20 Mag die wissenssoziologische Kontextualisierung epistemologischer Rechtfertigungskriterien auch unterschiedlich weit gehen (bis hin zum sog. ›strong programme‹ der Wissenssoziologie, das eine soziale Determination noch der ›exakten‹ Naturwissenschaften und ihres Bestands an ›positiven‹ Fakten postuliert),21 so hat sie in jedem Fall »tiefgreifende Veränderungen des Wissenschaftsverständnisses und für den Begriff des Wissens selbst« zur Folge, »da es jetzt schwierig ist, kontexttranszendierende Rechtfertigungsmöglichkeiten für Wissen und Erkenntnis zu formulieren«.22 Die begriffliche Perspektive der jüngeren kulturwissenschaftlichen Wissensforschung zieht, dieser Lesart zufolge, eine gleichsam ›geltungsneutrale‹ Einstellung nach sich: »Wahres Wissen wird Wissen relativ zur Lage […] so dass (derzeit) die einzige effektive Wahrheitstheorie der Soziologie in der deskriptiven Delegation von Geltungsdefinitionen an soziale Wahrheitszuschreibungen besteht.«23 Sowohl das (sozial)konstruktivistische Paradigma der neueren Wissensforschung als auch ihre streng historische Ausrichtung führen demnach dazu, dass »alle Geltungsfragen« von vornherein »auf Fragen der Genese« reduziert werden.24
20 Vgl. zu diesem Wissensbegriff und seinen Problemen Michael Anacker: Das Erkenntnisproblem und der Wissensbegriff in der philosophischen Tradition, in: Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung, hg. v. Rainer Schützeichel, Konstanz 2007, S. 353–374. Vgl. ferner Hans Ole Matthiessen/Markus Willaschek: Wissen, in: Enzyklopädie Philosophie, hg.v. Hans Jörg Sandkühler, Hamburg 2010, Bd. 3, S. 3012–3018; Petra Kolmer: Wissen (allgemein), in: Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe, neu hg. v. Petra Kolmer/ Armin G. Wildfeuer, Freiburg/München 2011, Bd. 3, S. 2554–2564. 21 Vgl. etwa Karin Knorr-Cetina: Die Fabrikation von Erkenntnis, Frankfurt a. M. 1984; Bruno Latour/Steve Woolgar : Laboratory Life. The Construction of Scientific Facts, Princeton 1986; Barry Barnes u. a. (Hg.): Scientific Knowledge. A Sociological Analysis, Chicago 1996. 22 Claus Zittel: Einleitung. Wissen und soziale Konstruktion in Kultur, Wissenschaft und Geschichte, in: Wissen und soziale Konstruktion, hg. v. Claus Zittel, Berlin 2002, S. 7–12, hier S. 7. 23 Joachim Renn: Eine rekonstruktive Dekonstruktion des Konstruktivismus, in: Konstruktion und Geltung. Beiträge zu einer post-konstruktivistischen Sozial- und Medientheorie, hg. v. Joachim Renn u. a., Wiesbaden 2012, S. 19–42, hier S. 19 (Herv. i. Orig.). 24 Vgl. Gideon Stiening: Am »Ungrund« oder Was sind und zu welchem Ende studiert man ›Poetologien des Wissens‹?, in: KulturPoetik 7 (2007), S. 234–248, hier S. 239. Grundlegend für die sozialkonstruktivistische Wissenstheorie ist immer noch Peter L. Berger/Thomas
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Der Blick auf die jüngere Debatte zeigt allerdings nicht nur, dass der Wissensbegriff implizit schon immer mit geltungstheoretischen Problemen verknüpft ist,25 sondern auch und insbesondere, dass der in Bezug auf Wissen habituell zugrunde gelegte Begriff der Geltung häufig in einem dogmatisch epistemologischen Sinne, d. h. als Explikation des philosophischen Wissensbegriffs verstanden wird: »Die Ge[ltung] einer Aussage ist dasselbe wie ihre Wahrheit.«26 Diese Definition epistemischer Geltung setzt die Indifferenz von Wissen sowohl gegenüber sozialen als auch gegenüber räumlichen und zeitlichen Faktoren voraus: »Wenn eine wahre Überzeugung Wissen darstellt, dann sollte es ausgeschlossen sein, daß sie zu einem anderen Zeitpunkt nicht Wissen ist.«27 Es überrascht daher nicht, dass ein solcher Geltungsbegriff in kulturwissenschaftlichen, vor allem jedoch in kulturhistorischen Arbeiten zur Wissensforschung so gut wie keine Verwendung findet. Vielmehr überwiegt die Tendenz, Geltungsfragen entweder explizit oder stillschweigend auszuklammern. Offenkundig ergeben sich daraus zwei gleichermaßen problematische Alternativen: auf der einen Seite stehen die mit einem absoluten Wissensbegriff verknüpften, ›objektiven‹ Geltungsansprüche (überzeitliche Wahrheit, rationale Begründbarkeit); auf der anderen Seite der völlige Verzicht der Wissensforschung auf den Einbezug geltungstheoretischer Kriterien. Dass ein solcher Verzicht auch für die kulturhistorische Forschung kaum ratsam ist, ergibt sich nicht erst aus der Annahme, dass mit ihm dem Relativismus (vermeintlich) Tür und Tor geöffnet wurde. Vielmehr ebnet der weitgehende Ausschluss geltungstheoretischer Überlegungen den nicht zuletzt »historisch verbürgte[n] unterschiedliche[n] Geltungsstatus zwischen variierenden Wissens- bzw. Reflexionsformen«28 ein. Es scheint daher gerade in historischer Perspektive geboten – und das führt auch das Rembrandt-Beispiel deutlich vor Augen –, die Untersuchung kultureller Wissensformationen mit Geltungsfragen zu verknüpfen. Darauf deutet im Grunde bereits der wissenssoziologische Wissensbegriff selbst hin: Denn wenn sich die Wissenssoziologie – und in ihrem Gefolge auch die
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Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a. M. 252013. Das betont auch Anacker, Erkenntnisproblem (s. Anm. 20), S. 353: »Die Frage nach dem Wissen ist in der Philosophie […] von jeher aufs Engste mit dem Skeptizismus verbunden, also mit der Möglichkeit, dass alle unsere Hoffnungen, über so etwas wie Wissen zu verfügen, zum Scheitern verurteilt sind […].« Vgl. Christoph Lumer : Geltung, in: Enzyklopädie Philosophie, hg. v. Hans Jörg Sandkühler, Hamburg 2010, Bd. 1, S. 811–818, hier S. 812. Vgl. ferner Wilhelm Vossenkuhl: Geltung, in: Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe, hg. v. Petra Kolmer/Armin G. Wildfeuer, Bd. 1, München 2011, S. 904–919, insbesondere S. 913–917. Wolfgang Detel: Wissen und Kontext, in: Wissen zwischen Entdeckung und Konstruktion. Erkenntnistheoretische Kontroversen, hg. v. Matthias Vogel/Lutz Wingert, Frankfurt a. M. 2003, S. 249–287, hier S. 249. Stiening, Am »Ungrund« (s. Anm. 24), S. 241.
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kulturwissenschaftliche Wissensforschung – »mit all dem befasst, was für sich selbst den Wissensstatus reklamiert«,29 so ist nicht nur nach den spezifischen Erfüllungsbedingungen dieser Reklamation, d. h. nach dem jeweiligen Wissensstatus als solchem, sondern auch nach der historischem Wandel unterliegenden Art und Weise zu fragen, wie für etwas der Wissensstatus reklamiert werden kann. Dass es dabei jedoch – auch und gerade angesichts der aktuellen Debatte um den angeblichen Beginn ›postfaktischer‹ Zeiten – nicht darum gehen sollte, die Einsichten der kulturwissenschaftlichen Wissensforschung sowohl in die Historizität als auch in die kulturelle Konstitution und Standortgebundenheit (›Interessiertheit‹ bzw. Zweckorientierung) von Wissen zugunsten einer wie immer emphatischen Wiederanknüpfung an die vermeintlich ungebrochene »abendländische Tradition des Wissensbegriffs«30 aufzugeben, liegt auf der Hand. Neuere Studien, die an den Grenzen von philosophischer Epistemologie, Wissenschaftsgeschichte und kulturwissenschaftlicher Wissensforschung situiert sind, versuchen daher auch, durch die Verknüpfung kontextualistischer Wissenstheorien31 und kulturwissenschaftlicher Ansätze eine ›Theorie der Wissenskultur‹ zu erarbeiten, die sich für die historische Erforschung kultureller Wissensformationen eignet.32 Grundlegend ist dabei nicht nur die Voraussetzung, dass »jede Wissenskultur ihren eigenen Wissensbegriff definiert« und »die Pluralität verschiedener Wissensbegriffe nicht per Konstruktion nivelliert werden sollte«.33 Vielmehr wird im Rahmen solcher Studien zugleich daran gearbeitet, einen »Begriff von allgemeine[m], lokale Kontexte transzendierendem Wissen« zu entwerfen, der nicht »zwangsläufig mit (mehr oder weniger starken) universalistischen Rationalitätsbegriffen kurzgeschlossen« ist.34 Im Hinblick auf die damit verknüpfte ›Theorie der Wissenskultur‹ lässt sich in jedem Fall das Folgende festhalten: Ein wesentlicher Faktor der so verstandenen Allgemeinheit und Kontexttranszendenz scheint gerade in den kulturellen Dynamiken von 29 Maasen, Wissenssoziologie (s. Anm. 19), S. 10. 30 Stiening, Am »Ungrund« (s. Anm. 24), S. 237. 31 Vgl. dazu Detel, Wissen und Kontext (s. Anm. 27); Michael Williams: Unnatural Doubts. Epistemological Realism and the Basis of Scepticism, Princeton 1996; Ders.: Groundless Belief. An Essay on the Possibility of Epistemology, Princeton 1999. 32 Vgl. etwa Claus Zittel: Konstruktionsprobleme des Sozialkonstruktivismus, in: Wissen und soziale Konstruktion, hg. v. Claus Zittel, Berlin 2002, S. 87–108; Ideals and Cultures of Knowledge in Early Modern Europe – Wissensideale und Wissenskulturen in der Frühen Neuzeit, hg. v. Wolfgang Detel/Claus Zittel, Berlin 2002; Wissenskulturen. Ein forschungsstrategisches Konzept, hg. v. Johannes Fried/Thomas Kailer, Berlin 2003; HansJörg Rheinberger: Epistemologie des Konkreten. Studien zur Geschichte der modernen Biologie, Frankfurt a. M. 2006; Wolfang Detel: Wissenskultur, in: Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung, hg. v. Rainer Schützeichel, Konstanz 2007, S. 670–678. 33 Zittel, Konstruktionsprobleme (s. Anm. 32), S. 97. 34 Zittel, Konstruktionsprobleme (s. Anm. 32), S. 99 (Herv. i. Orig.).
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Wissen zu liegen, d. h. in der »Übernahme etablierter Praktiken in andere Kontexte«35. Ohne den Anspruch zu erheben, einen methodologisch etablierten Beitrag zur ›Theorie der Wissenskultur‹ zu liefern oder eine solche Methodologie konsistent vorauszusetzen, greift der vorliegende Band genau jenen Aspekt der Dynamik im Verhältnis von Wissen und Geltung auf. Was die einzelnen Fallstudien miteinander verbindet, ist dabei eher als heuristische Annahme denn als feststehendes Theorieangebot zu verstehen. Ausgegangen werden soll dabei von der Beobachtung, dass die Dynamik von Wissen intrinsisch mit Fragen epistemischer Geltung verknüpft ist: In dynamischen Konstellationen tritt Wissen zunächst als Wissensanspruch auf, der sich zuallererst erfüllen muss oder diese Erfüllbarkeit doch implizit voraussetzt. Die Beiträge fokussieren solche dynamischen Konstellationen kultureller Wissensformationen und legen dabei ganz unterschiedliche Dimensionen von Wissen und Geltung frei. Die damit verbundene Heuristik soll im Folgenden näher expliziert werden.
3.
Wissen und Geltung in dynamischer Perspektive. Zur Heuristik des vorliegenden Bandes
»Wissen« – davon geht auch der vorliegende Band aus – »ist nicht an und für sich, sondern wird von Gesellschaften immer nur zur Bewältigung ihrer jeweiligen Realitäten hergestellt und angewandt.«36 Deshalb ist es stets an historisch und kulturell variable Praktiken und Diskurse gebunden, durch die es überhaupt erst als Wissen konstituiert und gegebenenfalls temporär »als gesellschaftlich normative[r] Referenzhorizont«37 etabliert wird. Die grundlegende Einsicht, »dass Wissen und Wissensansprüche auf ihre jeweiligen Kontexte bezogen […] werden müssen«38, gilt jedoch nicht nur in diachroner Hinsicht, sondern ergibt sich bereits aus einer synchronen Perspektive: So, wie »unterschiedliche Kulturen distinkte Wissensbestände«39 ausbilden, kann intrakulturell zwischen allgemeinem, von nahezu allen Mitgliedern einer Kultur geteiltem Wissen, und gruppenspezifischem Wissen unterschieden werden, das etwa »alters-, ge-
35 Zittel, Konstruktionsprobleme (s. Anm. 32), S. 99. 36 Achim Landwehr : Wissensgeschichte, in: Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung, hg. v. Rainer Schützeichel, Konstanz 2007, S. 801–813, hier S. 802. 37 Birgit Neumann: Kulturelles Wissen und Literatur, in: Kulturelles Wissen und Intertextualität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien zur Kontextualisierung von Literatur, hg. v. Marion Gymnich/Birgit Neumann/Ansgar Nünning, Trier 2006, S. 29–51, hier S. 43. 38 Detel, Wissenskultur (s. Anm. 27), S. 670. 39 Neumann, Kulturelles Wissen (s. Anm. 37), S. 45.
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schlechts-, schicht-, berufs-, religions- und ideologiespezifisch«40 ausdifferenziert und begründet ist. Da Wissen mithin an spezifische Wissenskulturen gebunden ist und jeweils distinkten historischen Regeln, Praktiken und Aushandlungsprozessen folgt, ist es im Grunde immer auch dynamisch und nicht als ein abstraktes, statisches Archiv von Propositionen zu verstehen, die sich gemessen an modernen epistemologischen Standards als ein für allemal ›wahr‹ erweisen. Es unterliegt Prozessen permanenter »Produktion, Fixierung und Transformation von Zeichen und Bedeutungen«41, in die stets unterschiedliche Akteure und Aktionsformen, Institutionen, Medien und Symbolsysteme involviert sind. Diese Wissensdynamik lässt sich mit dem Begriff des kulturellen Wissens genauer in den Blick nehmen.42 Nach Birgit Neumann bezeichnet er die »Gesamtmenge der in einer Kultur zirkulierenden Kenntnisse, die durch Kommunikation und Erfahrung konstruiert, erworben und tradiert werden«43. Kulturelles Wissen lässt sich insofern als Summe von Kenntnissen, Überzeugungen, Fertigkeiten und Praktiken beschreiben, die in einer Gruppe, Gesellschaft, Zeitspanne oder Epoche aktuell zirkulieren, konstituiert, umgesetzt, verhandelt und – zumindest temporär – als wahr, wertvoll oder gültig ausgezeichnet werden.44 Grundlegende Bedeutung kommt dabei dem Aspekt der Zirkulation zu: Kulturelles Wissen ist Wissen ›in Bewegung‹. Das bedeutet nicht nur, dass es – auch und gerade, wenn es sich auf vergleichbare ›Gegenstände‹ bezieht – »radikal verstreut über alle kulturellen Objektivationen und Handlungen« und daher »nur im Modus der Pluralität« existiert.45 Es bedeutet zugleich auch, dass diese – diskurs- und medienspezifisch ausdifferenzierten – Teilmengen des kulturellen Wissens miteinander interagieren und konkurrieren können, so dass
40 Michael Titzmann: Propositionale Analyse – Kulturelles Wissen – Interpretation, in: Medien und Kommunikation. Eine interdisziplinäre Einführung, hg. v. Hans Krah/Michael Titzmann, 3. erweiterte Auflage, Passau 2013, S. 87–114, hier S. 94. 41 Reiner Keller : Wissenssoziologische Diskursanalyse. Grundlegung eines Forschungsprogramms, 3. Auflage, Wiesbaden 2011, S. 60 (Hervorhebung i. Orig.). 42 Vgl. dazu Neumann, Kulturelles Wissen (s. Anm. 37); Titzmann, Propositionale Analyse (s. Anm. 40); Ders.: Kulturelles Wissen – Diskurs – Denksystem. Zu einigen Grundbegriffen der Literaturgeschichtsschreibung, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 99 (1989), S. 47–61. 43 Neumann, Kulturelles Wissen (s. Anm. 37), S. 43. 44 Vgl. Michael Titzmann: Strukturale Textanalyse. Theorie und Praxis der Interpretation, München 1977, S. 263–329; Ders., Kulturelles Wissen (s. Anm. 42); Medien und Kommunikation. Eine interdisziplinäre Einführung, hg. v. Hans Krah/Michael Titzmann, 3. Auflage, Passau 2013. 45 Neumann, Kulturelles Wissen (s. Anm. 37), S. 43 u. 45.
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Wissensbestände transferiert und dabei aktualisiert, appropriiert, transformiert oder auch disqualifiziert werden können.46 In der Untersuchung von kulturellem Wissen gilt es dabei zwei Perspektiven zu unterscheiden: Die des wissenschaftlichen Beobachters und die des (personalen, medialen, institutionellen etc.) Akteurs. Der wissenschaftliche Beobachter nimmt dabei eine im Idealfall zeitlich differente Metaperspektive ein, um Dynamiken von kulturellem Wissen zu beobachten. Dabei wird er zugleich selbst zum Akteur von neuen Aushandlungsprozessen von kulturellem Wissen und befördert dessen Dynamiken. Der nicht nur personal zu denkende Akteur wiederum ist Träger und Mitwirkender an einer Kultur und zeichnet sich gerade dadurch aus, dass er in unmittelbarem Kontakt zu den jeweiligen kulturellen oder diskurs- respektive gruppenspezifischen Regeln seiner Zeit steht, ihnen folgt, sie bestätigt, ausdifferenziert oder aber gezielt ignoriert, verwirft, hintergeht und unterläuft. Gerade die Teilnahme an und die unmittelbare Auseinandersetzung mit den Kenntnissen, Überzeugungen und Fertigkeiten seiner Kultur unterscheiden ihn vom wissenschaftlichen Beobachter, der nur noch mittelbar darauf Zugriff finden kann. Die Unterscheidung dieser beiden Perspektiven ermöglicht eine Historisierung und Kontextualisierung kulturellen Wissens und bietet so die Möglichkeit, das Spannungsverhältnis zu beleuchten, durch das kulturelles Wissen maßgeblich geprägt ist: das aus der Perspektive des wissenschaftlichen Beobachters wahrnehmbare dynamische Moment von kulturellem Wissen fördert nämlich die Einsicht in die dem kulturellen Wissen innewohnende Spannung zwischen Fragilität und Stabilität und macht deutlich, dass Wissen nicht ist, sondern gemacht wird. Es äußert sich nicht in einer universellen Sag- und Behauptbarkeit, sondern ist selbst an epochale, kulturelle oder diskursspezifische Hierarchisierungs- und Autorisierungsstrategien gebunden: um erfolgreich behauptet, konsolidiert und epochal, kulturell oder diskursiv wirksam werden zu können, muss Wissen nach den jeweiligen Regeln und Standards vom Akteur präsentiert werden.47 Kulturelle Wissensformationen zeichnen sich daher vor allem durch ihre permanenten, dynamischen Aushandlungsprozesse aus und erweisen sich insofern als hybride und keineswegs als bedingungslos stabile, konstante oder prädisponierte Entitäten. An die Stelle der abstrakten ›Wahrheit‹ von Wissen als vor allem unter philosophischen Gesichtspunkten traditionelles Kriterium, an dem sich alle Wissensansprüche messen lassen müssen, tritt damit die konstitutive Frage nach seiner – beanspruchten oder aber bereits durchgesetzten – 46 Vgl. zu Formen und Bedingungen des Wissenstransfers Jan Behrs/Benjamin Gittel/Ralf Klausnitzer: Wissenstransfer. Konditionen, Praktiken, Verlaufsformen der Weitergabe von Erkenntnis, Frankfurt a. M. 2013 (Berliner Beiträge zur Wissens- und Wissenschaftsgeschichte 14). 47 Vgl. Neumann, Kulturelles Wissen (s. Anm. 37), S. 43.
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Geltung und den in einem spezifischen Kontext als epistemische Rechtfertigungskriterien jeweils vorgebrachten oder widerlegten Geltungsgründen:48 Während solche Gründe auf der Akteursebene normativ wirken und bestimmtes Wissen durchsetzen oder auch widerlegen können, erweisen sich – gerade angesichts der mit der Prozessualität und Zirkulation einhergehenden Pluralität und Variabilität kulturellen Wissens – Stabilität, Objektivität, ›Wahrheit‹ und ›Richtigkeit‹ als Faktoren eines performativ umgesetzten Geltungsanspruchs – also eines Anspruchs auf allgemeine gesellschaftliche Anerkennung als Wissen, auf praktische Verbindlichkeit und wirklichkeitserschließende Bedeutung.49 Epistemische Geltungskategorien wie wahr, richtig, wahrscheinlich oder falsch entpuppen sich so als kulturell arbiträr und müssen aus der Perspektive des wissenschaftlichen Beobachters folglich als performative Wissensansprüche identifiziert werden, nicht jedoch als universell feststellbare und zu deduzierende Substrate, die dieses oder jenes Wissen unumstößlich werden ließen. Kulturelles Wissen umfasst insofern alle ›epistemischen Dinge‹, die mit Geltungsansprüchen verhandelt werden und innerhalb verschiedenster kultureller Kontexte »ebenso falsch wie richtig und ebenso real wie fiktiv« sein können, immer aber »weder rein natürlich noch rein sozial determiniert sind«.50 So werden Geltungsansprüche, die zugleich Ausdruck und Resultat von diskursund kulturspezifischen Aushandlungsprozessen sind, gerade dort bedeutsam, wo Wissen prekär und in Frage gestellt, verworfen und neu geordnet, aber auch generiert, aktualisiert oder bestätigt wird. Dabei wäre an Situationen zu denken, in denen bestimmte Gruppen miteinander konkurrieren, Objekte, Personen oder Wissen selbst inszeniert, Machtansprüche (de)legitimiert oder Wissensformen und -ordnungen transformiert werden. Auf diese Weise können epistemische Geltungsansprüche synchrone Pluralisierungen und diachrone Variierungen von kulturellem Wissen provozieren oder selbst generieren. Wird kulturelles Wissen in diesem Sinne auf seine jeweiligen Geltungsansprüche hin untersucht, rücken zugleich die zeit-, diskurs- und medienspezifischen Verfahren und Strategien in den Fokus, die dem Wissen Geltung verschaffen oder auch entziehen sollen. Abgesehen von der zentralen Rolle, die
48 Vgl. Vossenkuhl, Geltung (s. Anm. 26), S. 910–911. 49 Zur Rolle von Geltungsansprüchen in der Argumentationsanalyse vgl. Jürgen Habermas: Wahrheitstheorien, in: Ders.: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a. M. 1984, S. 127–183; Josef Kopperschmidt: Methodik der Argumentationsanalyse, Stuttgart-Bad Cannstatt 1989 (problemata 119), S. 14–77. 50 Bernd Roling: Drachen und Sirenen. Die Rationalisierung und Abwicklung der Mythologie an den europäischen Universitäten, Leiden 2010, S. 7. Zur Definition ›epistemischer Dinge‹ als Wissens(chafts)objekte, die weder rein natürlich noch rein sozial determiniert sind, vgl. ebd. Anm. 8 sowie: Hans-Jörg Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Go¨ ttingen 2001, S. 24–30.
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gesellschaftliche Machtrelationen in diesem Zusammenhang spielen,51 manifestieren sich solche Verfahren und Strategien in ganz unterschiedlichen sozialen Praktiken: Makrostrukturell etwa im Aufbau intellektueller Netzwerke, der medialen Distribution von Texten und Bildern oder der Privilegierung bestimmter Orte, Quellen und Modi der Wissensgenerierung; mikrostrukturell beispielsweise in der diskursiven Verwendung spezifischer Präsentationsformen, Argumentationsfiguren und Strukturmuster, die sich zu Topoi der Darstellung und Begründung von Wissen verfestigen können.52 Aus der diskursiven und kulturellen Zweckgebundenheit des Wissens lassen sich auch Rückschlüsse auf Prozesse der Geltungserzeugung ziehen, die sich als entscheidender Faktor bei der Aushandlung von Wissen erweisen. Das aus der Perspektive des Akteurs statische Moment von Geltung respektive Geltungsansprüchen erweist sich in diesem Zusammenhang als der vielleicht entscheidende Antriebsgenerator, durch den Aushandlungsprozesse von kulturellem Wissen erst befördert werden. Durch den eigenen Geltungsanspruch nämlich bestätigen, multiplizieren, verschieben oder destabilisieren Akteure bestimmte Wissensbestände. Die jeweils postulierte und performativ durchgesetzte Deutungshoheit resultiert dabei aus den spezifischen kulturellen Techniken und Strategien und zielt darauf ab, selbst ein Wissen zu konstituieren, das seinem Anspruch nach stabil ist. Vordergründig kann es in solchen Aushandlungsprozessen allerdings auch darum gehen, bestehende Wissensformationen zu hinterfragen und so zu destabilisieren. Auch solchen destruierenden Ansätzen liegen eigene Geltungsansprüche und Vorstellungen von richtigem und falschem Wissen zu Grunde. Dabei geraten jeweils kultur- und diskursspezifische Autorisierungsverfahren, aber auch Prozesse der (Re-)Integrierung, Rehabilitierung, Hybridisierung und Ausdifferenzierung von kulturellem Wissen in den Blick. Das Begreifen von Geltung als einem konstituierenden Faktor von kulturellem Wissen führt dazu, Wissen nicht nur mit dem, was gilt, gleichzusetzen sondern stattdessen die Frage zu stellen, zu welchem Zweck, unter welchen Bedingungen, in welchem Bereich für etwas Geltung beansprucht wird. Das Erkenntnisinteresse eines wissenschaftlichen Beobachters verlagert sich dabei also mehr auf die Frage danach, wie etwas zu unterschiedlichen Zeiten gewusst und wozu es geltend gemacht wurde. Die Identifizierung von Wissen und Geltung als wissenshistorisch bedeutsamer Phänomene erfordert daher, diese nicht nur philosophisch-logisch zu fassen, sondern sie auch mit historisch-kulturwissenschaft-
51 Vgl. dazu etwa Hannelore Bublitz: Macht, in: Foucault-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung, hg. v. Clemens Kammler/Rolf Parr/Ulrich Johannes Schneider, Stuttgart/ Weimar 2008, S. 273–277. 52 Vgl. exemplarisch Peter Burke: Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft, Berlin 2001.
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lichen und literaturwissenschaftlichen Methoden in den Blick zu nehmen.53 Kulturelles Wissen und Geltung, die sich in einem permanenten Spannungsfeld von Fragilität und Stabilität bewegen, sind also nicht unabhängig voneinander denkbar, sondern stehen in einem hybriden und reziproken Wechselverhältnis zueinander und entwickeln eigene kultur- und diskursspezifische Dynamiken. Konkrete Ausprägungen dieser komplexen Wechselbeziehung sind dabei an die jeweiligen Strategien der Geltungserzeugung und Verfahren der Funktionalisierung von Wissen geknüpft, die ihrerseits miteinander verschränkt sein und sich gegenseitig bedingen können. Dieses dynamische und produktive Wechselverhältnis von Wissens- und Geltungsgenerierungen lässt sich daher als ein entscheidendes Charakteristikum von kulturellem Wissen sowie als Generator kulturspezifischer Transformationsprozesse54 begreifen. Transformationsprozesse selbst lassen sich insofern als Modi verstehen, in denen Dynamiken kulturellen Wissens ablaufen.
4.
Zu den Beiträgen des Bandes
Die im vorliegenden Band versammelten Aufsätze gehen auf Beiträge zurück, die die AutorInnen im Rahmen des interdisziplinären Colloquiums am Forum Mittelalter-Renaissance-Frühe Neuzeit der Freien Universität Berlin in den Jahren 2011 bis 2014 zur Diskussion gestellt haben. Das Colloquium sollte dem wissenschaftlichen Nachwuchs aus unterschiedlichen kulturwissenschaftlichen Teilfächern (darunter Kunstgeschichte, Literatur- und Geschichtswissenschaft) die Möglichkeit zum regelmäßigen Gedankaustausch sowie zur Vorstellung und Diskussion eigener Projekte bieten. Dabei kristallisierte sich im langfristigen interdisziplinären Austausch das komplexe Wechselverhältnis von Wissen und Geltung als ein gemeinsamer Fokus der BeiträgerInnen heraus, insofern diese sich in ihren Beiträgen aus ganz unterschiedlicher Perspektive immer wieder mit Geltungsfragen und der Dynamik kulturellen Wissens auseinandersetzten. Jenseits institutioneller Vorgaben lässt sich der vorliegende Band mithin auch als
53 Vgl. etwa Kopperschmidt, Argumentationsanalyse (s. Anm. 49) und Konstellationsforschung, hg. v. Martin Mulsow/Marcelo Stamm, Frankfurt am Main 2005. 54 Zum Konzept kultureller Transformationen sei grundlegend verwiesen auf den Band Lutz Bergemann/Hartmut Böhme/Martin Dönike/Albert Schirrmeister/Georg Toepfer/Marco Walter/Julia Weitbrecht, Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels, München 2011. Vgl. darin besonders die Beiträge von Hartmut Böhme: Einladung zur Transformation, S. 7–37 sowie Lutz Bergemann/Martin Dönike/ Albert Schirrmeister/Georg Toepfer/Marco Walter/Julia Weitbrecht: Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels, S. 39–56.
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ein positives Beispiel dafür verstehen, was eine interdisziplinäre Perspektive und ein entsprechender colloquialer Austausch zu leisten imstande sind. Die nun vorliegenden und in Folge des gemeinsamen Austausches überarbeiteten Beiträge aus den verschiedenen Bereichen der Literatur-, Geschichtsund Kunstwissenschaft stellen kommunikative, medial vermittelte Praktiken von Akteuren in den Fokus, die ›kulturelles Wissen‹ geltend machen und dabei in spezifischer Weise funktionalisieren. Anhand von mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Fallbeispielen zeigen die AutorInnen mit je unterschiedlicher Schwerpunktsetzung, welche Strategien der Geltungserzeugung und Formen der Funktionalisierung von ›Wissen‹ dabei in verschiedenen Epochen, Medien und kulturellen Kontexten jeweils relevant werden können. Die Komplexität des Wechselverhältnisses spiegelt sich nicht zuletzt darin, dass die in einer Sektion zusammengefassten Beiträge immer auch Parallelen zu den jeweils anderen der insgesamt vier Sektionen erkennen lassen. In der ersten Sektion des vorliegenden Bandes werden Formen und Medien der Inszenierung und Funktionalisierung von ›Wissen‹ durch gesellschaftliche Eliten untersucht. Die Genter Tafel des ausgehenden 15. Jahrhunderts stellt das, historisch wie theologisch, bedeutende Ereignis der Eroberung Jerusalems durch Titus im Jahre 70. n. Chr. dar. Neben Aspekten der Geltungserzeugung durch den Darstellungsinhalt sowie der von außen durch den zeitgenössischen Betrachter zugesprochenen Geltung untersucht Sabine Spohner, ausgehend von der Frage nach dem möglichen Auftraggeber der Genter Tafel, Instrumentalisierungen ›religiösen Wissens‹ zum Zweck der Inszenierung und Legitimation herrschaftlicher Macht. Im Zentrum des folgenden Beitrages steht das umfangreiche Bildprogramm im Appartemento Borgia, das im Quattrocento eine neue Form päpstlicher Selbstinszenierung darstellt. Anhand der Planetenkinderdarstellungen in der Sala delle Sibille untersucht Annett Klingner die Funktion ›astrologischen Wissens‹ im kurialen Kontext. Der Wandel der Rezeption religiöser Bilder in fürstlichen Sammlungen im Zeitalter der Reformation und Gegenreformation ist Gegenstand von Antonia Putzgers Beitrag. Sie diskutiert die Frage, inwieweit sich die Rezeption des religiösen Bildes in einer Sammlung – und damit innerhalb anderer Wissensordnungen – verändert und welche Rolle dabei die Selbstinszenierung des Sammlers in seiner Frömmigkeit spielt. Marion Müller fokussiert die von hohen Regierungsmitgliedern der Noblesse de Robe in Auftrag gegebenen französischen Landschlösser im 17. Jahrhundert sowie deren künstlerische Gestaltung und Funktion als Empfangsort für erhoffte königliche Besuche. Ausgehend von Überlegungen zum Empfangszeremoniell und der Bewegung in auf diese Funktion hin konzipierten Räumlichkeiten untersucht sie die Ausrichtung der dort verwendeten Zeichensysteme auf die Wahrnehmung durch den Besucher und zeigt, dass diese zugleich als Teil eines elitären Geltungsanspruches zu verstehen sind.
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Die Beiträge der folgenden zweiten Sektion thematisieren Prozesse der Ausdifferenzierung und Neuordnung von ›Wissen‹. Cornelia Selent untersucht anhand eines vermutlich von Bernardus Silvestris verfassten Kommentars (Commentum in Martianum) die olfaktorische, gustatorische und taktile Perzeption im curriculum scientiae des europäischen 12. Jahrhunderts. Dabei stellt sich die Frage nach zeitgenössischen Mechanismen und Verfahren der Aufwertung eines bis dato eher unterrepräsentierten Wissensgebietes und einer Sicherung andauernder Geltung im Wissenskanon. Am Beispiel von Johannes Herolds 1554 erstmals gedruckter Heydenweldt analysiert Frank Jasper Noll in seinem Beitrag frühneuzeitliche Transformationen antiker Wissensbestände und ihre Distribution in volkssprachliche Wissensordnungen. Dabei untersucht er unterschiedliche strukturelle und textuelle Strategien und fokussiert insbesondere die Überführung und Einschreibung ›kulturellen Wissens‹ in den Horizont der Volkssprache, durch die Herold dem ›antiken Wissen‹ im zeitgenössischen Kontext Geltung zu verschaffen sucht. Benjamin Wallura fragt in seinem Beitrag nach der Geltung von Geographia und ›geographischem Wissen‹ in Petrus Bertius Tabulae Geographicae contractae (1602). An einem Fallbeispiel zeigt er, in welcher Weise Bertius die von ihm formulierten Geltungsansprüche der Geographie einlöst und wie er ›geographisches Wissen‹ über die arabische Halbinsel fortschreibt, transformiert, neu konstituiert und ihm dadurch im zeitgenössischen Diskurs Geltung zuspricht. In der dritten Sektion stehen spezielle Ästhetisierungs- und Poetisierungsverfahren bei der Vermittlung von ›Wissen‹ im Zentrum. Walter Marx zeigt, wie Boccaccio ›kosmologisches Wissen‹ als Strukturierungselement seiner Mitte des 14. Jahrhunderts entstandenen Novellen des Decameron verwendet, wie ›astrologisches Wissen‹ innerhalb der Narration eingesetzt und wie anhand von Dec. 5,8 das formale Wissenselement des rhetorischen Exempels als moralisches Erzählen von Boccaccio identifiziert und subvertiert wird. In allen drei Fällen wird die Transformation kultureller Wissensformen (Kosmologie, Astrologie und exemplum) ins Literarische untersucht und differenziert, wodurch ihnen im zeitgenössischen Kontext durch Boccaccio neue Geltungen zugesprochen werden. Annegret Oehmes Beitrag zu Albrechts von Eyb Ehebüchlein (1472) geht der Frage nach, welche poetischen Methoden der Wissensvermittlung in dieser frühneuzeitlichen Ehelehre eingesetzt werden. Dabei untersucht sie verschiedene textinterne und paratextuelle Strategien, die das subversive Potential der von Albrecht von Eyb mit einbezogenen Texte und Diskurse kontrollieren sollen und auf diese Weise Geltungsansprüche verhandeln und generieren. Die Beiträge der vierten und abschließenden Sektion fokussieren die Konfrontation mit tradiertem ›Wissen‹. Anhand der Steiermärkischen Reimchronik (um 1300), Johanns von Viktring Liber Certarum Historiarum (1. Hälfte 14. Jh.), der Chroniken Jakob Unrests (2. Hälfte 15. Jh.) und Hieronymus Magisers (um
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1600) untersucht Jonas Sellin deren Funktion für die Konstituierung eines Regional- und Landesbewusstseins innerhalb des Habsburgerreiches. Besonderes Augenmerk legt er dabei auf konkurrierende Geschichtsentwürfe, die sich jeweils mit überliefertem ›Wissen‹ zur Regional- und Reichsgeschichte auseinandersetzen und zugleich eine regionale Identität modellieren. Ronny Kaiser diskutiert die Funktionen der drei fiktiven Reden (Sermocinationes), die Lorenzo Valla im ersten Teil seiner Schrift gegen die Konstantinische Schenkung (1440) von einem aus dem persönlichen Umfeld Konstantins, einem Vertreter des römischen Senats und schließlich auch von Papst Silvester halten lässt. In ihnen äußert sich ein komplexes Antikebild, das aus Sicht eines Humanisten bestimmte politische und religiöse Handlungsmuster in der römischen Spätantike voraussetzt und dadurch die Geltung des im Constitutum Constantini etablierten ›historischen Wissens‹ in Frage stellt. Maike Priesterjahn untersucht in ihrem Beitrag humanistische Geschichtsdarstellungen am Pariser Hof des 16. Jahrhunderts. Im Zuge sich verbreitender humanistischer Methoden, wie der Quellenkritik und des Rückgriffs auf antike Autoritäten, bemühen sich gerade solche Geschichtswerke um die Dekonstruktion historischer Mythen, wie etwa der Troja-Genealogie der Franken. Beim Festschreiben historisch-kultureller Wissensbestände konfrontieren humanistische Akteure tradiertes Geschichtswissen mit ihrem Anspruch auf methodische Überlegenheit und generieren stattdessen ein anderes, das den humanistischen Standards und Plausibilisierungsstrategien folgt.
I. Geltungsansprüche gesellschaftlicher Eliten: Inszenierung und Funktionalisierung von Wissen
Sabine Spohner
Die Eroberung Jerusalems durch Titus in der altniederländischen Malerei. Überlegungen zur Genter Tafel
Die Eroberung Jerusalems durch Titus im Jahre 70 n. Chr. wurde in der christlichen Deutungstradition als göttliche Strafe für die Kreuzigung Jesu interpretiert.1 Das Wissen2 und seine Deutung um dieses, historisch wie theologisch, bedeutende Ereignis wurden bereits seit der Spätantike tradiert und zirkulieren seitdem in verschiedenen Gruppen und Medien. Dabei wurde es immer wieder neu ausgehandelt, an das jeweilige Publikum, die jeweilige Epoche angepasst und auf diese Weise aktualisiert.3 Um sich allerdings behaupten zu können »bedarf das Wissen einer festen Organisation«,4 durch die es klassifiziert und hierarchisiert wird. In Bezug auf die Eroberung Jerusalems übernimmt diese Aufgabe die christliche Kirche, die nach dem Mailänder Edikt von 313 zunehmend einen Kausalzusammenhang zwischen der Kreuzigung Jesu und der 1 Bereits im 3. Jahrhundert hatte Origines die Zerstörung Jerusalems sowie des Tempels im Jahre 70 n. Chr. als Strafe der am Tod Jesu Schuldigen gedeutet. Rainer Kampling: Hinsehen – Biblische Grundlagen und patristische Quellen als Hintergrund antijüdischer Motive in der religiösen Kunst, in: Von Kunst und Temperament. Festschrift für Eberhard König (Reihe: Ars Nova, Band 13), hg. v. Caroline Zöhl/Mara Hofmann, Turnhout 2007, S. 119–130, vgl. hier S. 124. 2 Zum Begriff des ›kulturellen Wissens‹ vgl. Michael Titzmann: Kulturelles Wissen – Diskurs – Denksystem. Zu einigen Grundbegriffen der Literaturgeschichtsschreibung, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 99 (1989), S. 47–61 und Birgit Neumann: Kulturelles Wissen und Literatur, in: Kulturelles Wissen und Intertextualität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien zur Kontextualisierung von Literatur, hg. v. Marion Gymnich/Birgit Neumann/ Ansgar Nünning, Trier 2006, S. 29–51. Die Eroberung Jerusalems kann sowohl als ›kulturelles Wissen‹ als auch das darunter zu subsummierende ›religiöse Wissen‹ bezeichnet werden. 3 Dabei bedeutet die Veränderung und Neudisposition »immer auch Sicherung im Sinne einer erneuten Verfestigung, Sortierung und Stärkung«. Elmar Eggert/Susanne Gramatzki/ Christoph Oliver Mayer: »Scientia valescit«. Zur Institutionalisierung von kulturellem Wissen in romanischem Mittelalter und Früher Neuzeit, in: »Scientia valescit«. Zur Institutionalisierung von kulturellem Wissen in romanischem Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. v. Elmar Eggert/Susanne Gramatzki/Christoph Oliver Mayer, München 2009, S. 17 und S. 21. 4 Eggert et. al., »Scientia valescit« (s. Anm. 3), S. 18f.
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Zerstörung Jerusalems herstellte,5 um die heilsgeschichtliche Substitution der Juden durch die Christen zu rechtfertigen und nutzte dazu Flavius Josephus’ Augenzeugenbericht, der seine Überlieferung und weitreichende Verbreitung eben dieser verdankt. Josephus’ Bellum Judaicum wurde seit dem 2. Jahrhundert überliefert und im Laufe der Jahrhunderte zu einer Mischung aus historischen Fakten und theologischer Anschauung.6 Vor allem durch die Kreuzzüge fand der Bericht weite Verbreitung.7 Auch für die bildliche Rezeption des Ereignisses ist die Schrift die wohl wichtigste literarische Quelle. Die Genter Tafel der Eroberung Jerusalems durch Titus (Abbildung 1 bis Abbildung 4) des ausgehenden 15. Jahrhunderts, bei der es sich um eine Predella und somit Unterteil eines Altarretabels handelt,8 ist das früheste erhaltene Beispiel im Bereich der Tafelmalerei.9 Bilder, die wie auch Texte Träger des Wissens sind und es verewigen, spiegeln, in der Rückschau betrachtet, das Wissen ihrer eigenen Entstehungszeit wider. Die Wirkmacht der Bilder ist vor allem im Mittelalter enorm, fungieren sie doch als eine Art »stumme Predigt« (muta praedicatio) des christlichen Glaubens.10 Aufgrund der dargestellten zeitgenössischen Kleidung und Architektur adaptiert der Betrachter dabei die jeweilige Historie an seine eigene Gegenwart. Der Antijudaismus weitete sich im Mittelalter auf breitere Schichten der Bevölkerung aus. Christliche Legenden wie die vindicta salvatoris trugen dazu bei, dass die einstige Strafaktion der Römer gegen Jerusalem zu einem Kreuzzug gegen
5 Vor allem Origenes und Eusebius hatten weitreichenden Einfluss. Heinz Schreckenberg: Josephus und die christliche Wirkungsgeschichte seines »Bellum Judaicum«, in: Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt. Einundzwanzigster Band (2. Halbband) Religion (Hellenistisches Judentum in Römischer Zeit: Philon und Josephus), hg. v. Wolfgang Haase, Berlin u. a. 1984, S. 1106–1217, vgl. hierzu S. 1124ff und S. 1134f. 6 Das Testimonium Flavianum ist dabei die bemerkenswerteste Fälschung durch die Christen. Heinz Schreckenberg: Die Flavius-Josephus-Tradition in Antike und Mittelalter, Leiden 1972, S. 173. 7 In Zentren der Kreuzzugsbewegung entstanden zahlreiche, zum Teil prächtig illuminierte Handschriften, die den Kreuzfahrern Auskunft über die Geschichte und Geographie des Heiligen Landes gaben und ihnen als eine Art Reiseführer diente. Ulrike Liebl: Die illustrierten Flavius-Josephus-Handschriften des Hochmittelalters, Frankfurt a. M. 1997, vgl. hierzu S. 31. Im 15. Jahrhundert, in dem die Handschriftenproduktion eine zweite Blütezeit erreichte, dominiert das Interesse an Josephus’ Bellum Judaicum. Siehe hierzu Liebl, Flavius-Josephus-Handschriften (s. Anm. 7), S. 16. Überblick der lateinischen Handschriftenproduktion des Josephus siehe Liebl, Flavius-Josephus-Handschriften (s. Anm. 7), S. 21f. 8 Die Form der Tafel, schmal und lang, dabei an den beiden Seiten oben länger als unten, ist für eine Predella durchaus üblich. Als Unterteil eines Altarretabels erstreckt sich die Predella bei einem Flügelaltar über die Breite der Mitteltafel. 9 Aufgrund der Bedeutung und Rezeption des Bellum Judaicum ist von mehreren, heute jedoch zerstörten niederländischen Tafelgemälden des Themas auszugehen. Guy N. Deutsch: Iconographie de l’illustration de Flavius JosHphe au temps de Jean Fouquet, Leiden 1986, S. 48. 10 Heinz Schreckenberg: Christliche Adversus-Judaeos-Bilder, Das Alte und Neue Testament im Spiegel der christlichen Kunst, Frankfurt a.M. 1999, S. 30.
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Abb. 1: Die Eroberung Jerusalem durch Titus, um 1468, Gent, Museum Voor Schone Kunsten, Öl auf Holz 30 x 169,4 cm (Detail)
Abb. 2: Die Eroberung Jerusalem durch Titus, um 1468, Gent, Museum Voor Schone Kunsten, Öl auf Holz 30 x 169,4 cm (Detail)
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Abb. 3: Die Eroberung Jerusalem durch Titus, um 1468, Gent, Museum Voor Schone Kunsten, Öl auf Holz 30 x 169,4 cm (Detail)
Abb. 4: Die Eroberung Jerusalem durch Titus, um 1468, Gent, Museum Voor Schone Kunsten, Öl auf Holz 30 x 169,4 cm (Detail)
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die Juden wurde.11 Legenden wie der jüdische Ritualmord, der Hostienfrevel sowie die Brunnenvergiftungslegenden des 14. Jahrhunderts, verschärften den Antijudaismus weiter und hatten zahlreiche Pogrome zur Folge.12 Auch das Festhalten der Juden an ihren Status als von Gott auserwähltes Volk sowie an der Thora trug hierzu bei.13 Juden wurden zunehmend ausgegrenzt und mussten in Folge des Vierten Laterankonzils 1215 besondere Kleidungsvorschriften beachten, durch die sie gekennzeichnet und stigmatisiert wurden.14 Die Genter Tafel, die die Eroberung Jerusalems zeigt, entstand Ende des 15. Jahrhunderts und somit zu der Zeit als sich das christlich-jüdische Verhältnis auf seinem vorläufigen negativen Höhepunkt befand, was sich besonders in der grausamsten Episode der Tafel niederschlägt: nämlich in der Darstellung der, getrieben von Hunger, ihr eigenes Kind verspeisenden Mutter – der Teknophagie der Maria. Machthaber und Autoritäten sind durch die Eigenmacht des Wissens15 aufgefordert, sich zu diesem zu positionieren, wobei sie es teilweise instrumentalisieren.16 Das Verhalten mittelalterlicher christlicher Herrscher gegenüber ihren jüdischen Untertanen war durchaus ambivalent.17 Die Entscheidung des jeweiligen Herrschers, ob er die Juden vor den Christen oder umgekehrt schützte, wurde allerdings weniger aus religiösen Gründen als vielmehr aus politischem Kalkül getroffen. Im Folgenden soll nach den Strategien der Funktionalisierung des durch die Genter Tafel dargestellten Bildprogramms durch einen möglichen 11 Vgl. Israel Jacob Yuval: Zwei Völker in deinem Leib. Gegenseitige Wahrnehmung von Juden und Christen in Spätantike und Mittelalter. Aus dem Hebräischen von Dafna Mach. Jüdische Religion, Geschichte und Kultur, hg. v. Michael Brenner/Stefan Rohrbacher, Bd. 4, Göttingen 2007, S. 52ff. Zur Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte der vindicta salvatoris siehe Heinz Schreckenberg: Rezeptionsgeschichtliche und Textkritische Untersuchungen zu Flavius Josephus, Leiden 1977, Kapitel VI, S. 53ff. 12 Vgl. Rainer Kampling, Antijudaismus, II. Patristik bis 19. JH., in: LThK 2009, S. 750ff. 13 Schreckenberg, Christliche Wirkungsgeschichte (s. Anm. 5), S. 1198. 14 Thomas Brechenmacher : Der Vatikan und die Juden. Geschichte einer unheiligen Beziehung vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2005, vgl. S. 23. Die Konstitutionen 67–70 sollten sich im Kern bis zum Ende des Kirchenstaates halten. Die bekannteste Kennzeichnung war die gelbe Farbe, die jedoch in der mittelalterlichen Kunst nicht so häufig zu finden ist wie der Judenhut. Thérèse und Mendel Metzger : Jüdisches Leben im Mittelalter nach illuminierten hebräischen Handschriften vom 13. bis 16. Jahrhundert, (Fribourg 1982; deutschsprachige Ausgabe) Würzburg 1983, vgl. S. 142 und S. 147f. 15 »Wissen beansprucht für sich selbst Geltung, reklamiert also Eigenmacht aus sich selbst heraus. Wissen dominiert über Nicht-Wissen und schreibt sich selbst Kompetenz, Expertentum und Legitimität zu.« Eggert et. al., »Scientia valescit« (s. Anm. 3), S. 19. 16 »Mit Wissen ist demnach immer Anspruch auf Macht verbunden, wird Macht demonstriert, erhalten und inszeniert. Dabei ist Wissen an die jeweiligen Machtstrukturen gebunden, wirkt aber auch auf diese beeinflussend, stabilisierend und verändernd zurück.« Eggert et. al., »Scientia valescit« (s. Anm. 3), S. 19. 17 David Nirenberg: Warum der König die Juden beschützen mußte, und warum er sie verfolgen mußte, in: Die Macht des Königs. Herrschaft in Europa vom Frühmittelalter bis in die Neuzeit, hg. v. Bernhard Jussen, München 2005, S. 225–240, vgl. hierzu S. 226–228.
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Auftraggeber und den Möglichkeiten seiner damit einhergehenden Inszenierung gefragt werden. Dabei wird davon ausgegangen, dass das historische Ereignis der Eroberung Jerusalems hier als Modell einer auctoritas verwendet wird und in Beziehung zu dem Auftraggeber gesetzt werden sollte.18 Entsprechend der grundsätzlichen Problematik bei der Erforschung altniederländischer Malerei haben auch hier fehlende zeitgenössische Quellen zur Folge, dass Fragen nach dem ausführenden Künstler der Genter Tafel, der genauen Datierung, dem dazugehörigen Retabel sowie dem Auftraggeber bislang nicht abschließend geklärt werden konnten. Während der Religionskriege im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts wurden zahlreiche Werke zerstört und Altäre auseinandergerissen, was darauf zurückzuführen ist, dass die Malerei in den Augen der Reformatoren als betrügerisch und verführerisch galt.19 Deshalb sind nachfolgend auch solche noch strittigen Fragen bezüglich der Genter Tafel zu diskutieren. Im Zentrum der vorliegenden Untersuchung steht jedoch die Frage nach der zeit- und diskursgebundenen Rezeption der Eroberung Jerusalems sowie der Funktionalisierung und Geltung des an dieses Ereignis geknüpften Wissens. Das von den Kirchenvätern geprägte Wissen wurde in das Medium des Tafelbildes mit den diesen zur Verfügung stehenden Mitteln sowie der durch die Buchmalerei geprägten Ikonographie transferiert. Ein möglicher Auftraggeber funktionalisiert das Wissen um die Eroberung Jerusalems zur eigenen Herrschaftsinszenierung.20 Diese einzelnen Aspekte werden nachfolgend diskutiert.
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Überlegungen zum Künstler der Genter Tafel
Die 30 x 169,4 cm große Genter Tafel der Eroberung Jerusalems (Abbildung 1 bis Abbildung 4) zeigt ein Panorama des historischen Ereignisses,21 wobei die 18 »Man nehme ein unhinterfragbares Modell einer auctoritas, dessen Geltung sich bereits bewährt hat und erzwinge aus dieser Position heraus durch die nachgewiesene Analogie die Anerkennung der neuen Ordnung.« Eggert et. al., »Scientia valescit« (s. Anm. 3), S. 17. 19 Robert Suckale: Zum Körper- und Wirklichkeitsverständnis der frühen niederländischen Malerei (2002), in: Ders., Stil und Funktion. Ausgewählte Schriften zur Kunst des Mittelalters, hg. v. Peter Schmidt/Gregor Wedekind, Berlin 2008, S. 473–500, vgl. hierzu S. 496. 20 »Geltung kann ihm [dem Bild] und dem von ihm Dargestellten bekanntermaßen aufgrund außerhalb des Bildes liegender Faktoren zugesprochen werden […]«. Gabriele Wimböck: Die Autorität des Bildes – Perspektiven für eine Geschichte vom Bild in der Frühen Neuzeit, in: Das Bild als Autorität. Die normierende Kraft des Bildes, hg. v. Frank Büttner/Gabriele Wimböck, (Pluralisierung & Autorität Bd. 4), Münster 2004, S. 20. 21 Die dargestellten Episoden basieren im Wesentlichen auf dem fünften und sechsten Buch des Bellum Judaicum von Flavius Josephus. Als weitere literarische Quelle nennt Brinkmann Jacob van Maerlants Rijmbijbel. Bodo Brinkmann, Der Maler und sein Kreis, in: Eberhard König, Das Berliner Stundenbuch der Maria von Burgund und Kaiser Maximilians, Berlin 1998, S. 113–154, vgl. hierzu S. 143.
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wichtigsten Episoden im Vordergrund dargestellt sind und durch die narrative Ausgestaltung des Hintergrundes ergänzt werden. Die Stadtmauer teilt die Tafel in zwei Hälften, so dass sich ein ländlicher und ein städtischer Teil gegenüber stehen. Der linke Bildteil wird von einer Gruppe römischer Fußsoldaten und einigen Reitern dominiert, wobei ein Orientale auf einem Schimmel und ein Gekrönter mit goldenem Brustharnisch als Anführer hervortreten. Im Hintergrund erscheint ihr Zeltlager, wobei auf einigen Zelten Wappen zu erkennen sind. Römer, die Holz für Belagerungswälle sammeln und Gefangene foltern, sind ebenfalls zu sehen. Vor einer großen Schleuder eilt ein Mann im leuchtend gelben Obergewand schnellen Schrittes zur Mauer und zieht den Blick des Betrachters, auch durch seinen ausgestreckten Arm geführt, entlang der westlichen Leserichtung von links nach rechts. Auf der rechten Seite der Mauer ist ein wildes Schlachtengetümmel vor dem Jerusalemer Tempel dargestellt. Im Hintergrund sind Häuser und Straßenfluchten zu erkennen. Der vordere rechte Teil der Tafel wird durch die Teknophagie der Maria dominiert. Ein, am vorderen Bildrand kniender und frontal zum Betrachter gerichteter, Soldat leitet die Episode ein. Drei Soldaten stürmen in das Haus, in dem Maria sitzt. Auf dem Boden vor ihr steht eine Schale, darin eine Hälfte ihres toten Kindes, die andere Hälfte brät über dem Kaminfeuer. Rechts neben dem Haus der Maria sind plündernde Soldaten zu sehen sowie ein Mann, der sich vor ihnen versteckt und, getrieben von Hunger, in seinen Schuh beißt. Im Hintergrund erscheint auf einer Anhöhe die Burg Antonia und außerhalb der Stadtmauer ist auf einer Waldeslichtung der Verkauf von Juden in die Sklaverei zu sehen. Durch die Anordnung, dem der Blick des Betrachters von links nach rechts und von vorne nach hinten folgt, erzeugt der Künstler Dynamik und Lebendigkeit. Außerdem stellt er eine Vielzahl unterschiedlicher Emotionen und Bewegungen dar. Doch wer ist der Künstler der Genter Tafel? Die Zuschreibung ist strittig, wobei die Forschung Justus van Gent und den Wiener Meister der Maria von Burgund als mögliche Künstler nennt.22 Aufgrund fehlender zeitgenössischer Quellen ist für diese Frage zunächst die Stilkritik als wichtigste Methode zur Klassifizierung heranzuziehen. Der erste mögliche Künstler der Tafel ist der nachweislich in der zweiten Hälfte der 1460er Jahre in Gent tätige Joos van Wassenhove, in Urbino als Justus
22 Zu Justus van Gent vgl. Paul Coremans/Paul Eeckhout/Jacques Lavalleye/J. van Lerberghe, Juste de Gand, Berruguete et la cour d’ urbino (Mus8e des Beaux-Arts-Gand, 12.10.–15. 12. 1957), Gent 1957, S. 157 und Deutsch, Iconographie (s. Anm. 9), S. 48. Zum Wiener Meister der Maria von Burgund vgl. Bodo Brinkmann: Die flämische Buchmalerei am Ende des Burgunderreichs. Der Meister des Dresdener Gebetbuchs und die Miniaturen seiner Zeit, 2 Bde, Turnhout 1997, S. 32 und Museum of Fine Arts Ghent, Paintings catalogue. Volume I 14th–18th century, Gent 2007, S. 127.
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van Gent bezeichnet.23 Das ihm von einigen Forschern zugeschriebene Kreuzigungstriptychon24 (Abbildung 5) dient einem Vergleich mit der Genter Tafel. Auf der Mitteltafel des vermutlich zwischen 1465 und 1468 gemalten Triptychons ist in einer hügeligen Landschaft die Kreuzigung Jesu dargestellt. Die zentrale Kreuzigung wird von zwei alttestamentlichen Geschichten auf den beiden Seitenflügeln eingerahmt. Der linke Flügel zeigt die im Exodus beschriebene Wüstenwanderung der Israeliten, die in Mara Wasser fanden (Ex 15,23–25), auf dem gegenüberliegenden Flügel ist die Errichtung der Ehernen Schlange (Num 21,4–9) dargestellt. Bei einem Vergleich des Kreuzigungstriptychons von Justus van Gent mit der Tafel der Eroberung Jerusalems fällt zunächst einmal auf, dass beiden Darstellungen eine hügelige Landschaft von großer räumlicher Tiefe gemein ist. Auch die Vielfältigkeit von Bewegung und Emotion, Lebendigkeit und Dynamik sowie eine diskursive Erzählweise zeichnen sowohl das Triptychon als auch die Genter Tafel aus. Zwar ist ersteres deutlich heller gestaltet, doch entspricht dies durchaus dem dargestellten Inhalt, bedeutet doch die Kreuzigung Jesu Hoffnung auf die Erlösung von den Sünden, die Eroberung Jerusalems hingegen das göttliche Strafgericht für die Kreuzigung. Der Schimmel, der auf der mittleren Kreuzigung des Triptychons dargestellt ist, ähnelt demjenigen der Genter Tafel.25 Außerdem fallen sowohl auf dem linken Flügel des Triptychons als auch auf der Genter Tafel zwei prägnante Profile nach links gewendeter Frauen auf: nämlich die sich liebevoll um ihr Kind kümmerende Mutter der alttestamentlichen 23 Zu den Nachweisen seiner Tätigkeit in Gent vgl. Max Friedländer : Altniederländische Malerei. Band III. Dierick Bouts und Joos van Gent. Leiden 1924, S. 75ff., Christian Kruse in: Hans Belting/Christiane Kruse: Die Erfindung des Gemäldes. Das erste Jahrhundert der niederländischen Malerei. München 1994, S. 226 und Brinkmann, Flämische Buchmalerei (s. Anm. 22), S. 32. Zu den unterschiedlichen Namensformen siehe Paul Eeckhout: La deuxiHme g8n8ration. Juste de Gand, in: Les Primitifs flamand et leur temps, hg. v. Maryan Wynn Ainsworth, Bruxelles 1994, S. 412. 24 Das Kreuzigungstriptychon, welches seit Winklers Zuschreibung 1916 als Werk des Künstlers gilt, wird heute in der Krypta der Genter Kathedrale St. Bavo aufbewahrt. Vgl. Coremans et. al., Juste de Gand (s. Anm. 22), S. 34. Gemäß Pächt gilt die Zuschreibung des Triptychons an Justus van Gent als gesichert. Otto Pächt: Altniederländische Malerei. Von Rogier van der Weyden bis Gerard David, hg. v. Monika Rosenauer, München 1994, S. 153. De Schryver hatte dagegen in seiner Publikation von 1969 die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass das Kreuzigungstriptychon Daniel de Rijk zuzuschreiben sei, wie Brinkmann anmerkt. Vgl. hierzu Brinkmann, Der Maler und sein Kreis (s. Anm. 21), S. 143, Anm. 69. Jedoch hat De Schryver diese Meinung 2007 revidiert und verweist nun auf einen »Unbekannte[n] Genter Meister« als Künstler der Kreuzigung. Vgl. Antoine De Schryver: Das Gebetbuch Karls des Kühnen Ms. 37, The J. Paul Getty Museum, Los Angeles. Ein flämisches Meisterwerk für den Hof von Burgund. Kommentar Antoine de Schryver. Mit einem Vorwort von Thomas Kren. Regensburg 2007, S. 205, Abb. 93. In der vorliegenden Untersuchung wird weiterhin von einer Zuschreibung an Justus van Gent ausgegangen. 25 Auf die Ähnlichkeit der beiden dargestellten Schimmel ist bereits mehrfach hingewiesen worden. Vgl. beispielsweise Brinkmann, Flämische Buchmalerei (s. Anm. 22), S. 32.
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Abb. 5: Justus van Gent, Kreuzigungstriptychon, Gent, St. Bavo, um 1465–68, Eichenholz, Mitteltafel: 216,1 x 169,8 cm; Flügel: 216,2 x 80,8 cm
Darstellung (Ex 15,23–25) und die ihr eigenes Kind verspeisende Maria der Eroberung Jerusalems. Analog zum knienden Soldaten der Genter Tafel, der die grausame Episode einleitet, nimmt im Kreuzigungstriptychon ein in rot gekleideter Mann, der am äußeren Rand des rechten Seitenflügels mit der Errichtung der Ehernen Schlange (Num 21,4–9) dargestellt ist, die Rolle des Vermittlers ein und fordert den Betrachter mit hochgehobenen Arm dazu auf, das Wunder zu verfolgen.26 Stilistische Ähnlichkeiten zeigen sich jedoch nicht nur im Vergleich mit Justus van Gents Kreuzigungstriptychon, sondern ebenfalls bei der Gegenüberstellung mit Werken des Wiener Meisters der Maria von Burgund. Zwar ist dessen Œuvre keineswegs unumstritten,27 doch sind sich die Forscher darin einig, dass einzelne 26 Der Handgestus findet sich sowohl im Kreuzigungstriptychon als auch auf der Genter Tafel mehrfach. 27 Die Monographie Pächts ist bis heute bedeutend. Otto Pächt: The Master of Mary of Burgundy, London 1948. In Folge der Abschreibung des Berliner Stundenbuchs der Maria von Burgund und Kaiser Maximilians (Berlin, Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Ms.78.B.12) wurde er in Bezug auf die ihm weiterhin zugeschriebenen Miniaturen des Wiener Stundenbuchs der Maria von Burgund (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 1857) als Wiener Meister der Maria von Burgund bezeichnet. Zuschreibungen des Malers siehe beispielsweise Brinkmann, Flämische Buchmalerei (s. Anm. 22), S. 25f., Thomas Kren/Scot Mc Kendrick: Illuminating the Renaissance. The Triumph of Flemish Manuscript Painting in Europe. The J. Paul Getty Museum (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung im J. Paul Getty Museum, Los Angeles, 17.06.–7.09. 2003 und in der
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Abb. 6: Wiener Meister der Maria von Burgund, Kreuzannagelung (fol. 43v), Stundenbuch der Maria von Burgund, Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 1857, um 1468, Pergament, 22,5 x 16,3 cm
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der ihm zugeschriebenen Werke um 1470 den Höhepunkt der letzten Blüte abendländischer Buchmalerei markieren.28 Ein einzigartiger Sinn für Raumdarstellung zeichnet seine Werke ebenso aus wie die außergewöhnliche Gestaltung der Emotionen einzelner Figuren.29 Die Kreuzannagelung (Abbildung 6) im namengebenden Wiener Stundenbuch (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Codex 1857, fol. 43v),30 dient einem stilistischen Vergleich. Die Miniatur zeigt einen menschenleeren Raum, in dem vorne rechts ein aufgeschlagenes Buch zu sehen ist. Durch eine torbogenartige Öffnung erblickt der Betrachter das biblische Ereignis der Kreuzannagelung.31 Nicht zuletzt durch die geringe Figurengröße fällt der Vergleich der Genter Tafel der Eroberung Jerusalems mit Werken des Wiener Meisters der Maria von Burgund positiv aus.32 Zudem zeigen sowohl die Kreuzannagelung (fol. 43v) als auch die Genter Tafel der Eroberung Jerusalems eine Vielzahl unterschiedlicher Bewegungen und Emotionen. Bildaufbau, die tiefenräumliche Staffelung als kompositorische Eigenart, die verwendete Farbpalette, die zum Horizont verblassenden Farben sowie die Lebendigkeit der Darstellungen sind ebenfalls ähnlich.33 Zwei Frauen der Miniatur, die der Kreuzannagelung beiwohnen und in der Nähe der Öffnung dargestellt sind, sowie der kniende Soldat rechts wie auch der unbehelmte Fußsoldat links der Genter Tafel treten in einen »imaginären Dialog« mit dem Betrachter, indem sie ihn anblicken.34 Bodo Brinkmann verweist zudem auf eine wörtliche Über-
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Royal Academy of Arts, London, 29. 11. 2003–22. 02. 2004) Los Angeles 2003, S. 126ff. sowie De Schryver, Gebetbuch Karls des Kühnen (s. Anm. 24), S. 230f. Vgl. Kren, Illuminating the Renaissance (s. Anm. 27), S. 134 und Otto Pächt: Buchmalerei des Mittelalters. Eine Einführung, hg. v. Dagmar Thoss/Ulrike Jenni. München 52004 [1984], S. 200f. Zur Gestaltung der Emotionen vgl. De Schryver, Gebetbuch Karls des Kühnen (s. Anm. 24), S. 224. Zum virtuosen Spiel mit der Illusion von Innen- und Außenraum vgl. Pächt, Buchmalerei (s. Anm. 28), S. 199ff. Dem Wiener Meister der Maria von Burgund werden im Wesentlichen folgende vier Vollbilder zugeschrieben: Sitzende Frau am Fenster vor der Madonna in der Kirche (fol. 14v), die Kreuzannagelung (fol. 43v), die Kreuztragung (fol. 94v) und die Kreuzigung (fol. 99v). Die Kreuzannagelung (fol. 43v) beziehe sich auf das Messopfer selbst und fordere den Betrachter zum Gebet auf. Eberhard König: Zur Wirklichkeit im Fensterbild der Kreuzannagelung des Wiener Stundenbuchs der Maria von Burgund, in: Tributes in Honor of James H. Marrow: Studies in Painting and Manuscript Illumination of the late Middle Ages and Northern Renaissance, hg. v. Jeffrey F. Hamburg/Anne S. Korteweg, London 2006, S. 271–283, vgl. S. 277ff. Letztlich liefere die Miniatur das, was die Beterin als Erlösungstat Jesu Christi begreifen soll und somit das, was sie in dem Moment, in dem sie die Kreuzigung Jesu aufschlägt, anbetet. Siehe S. 282f. Das ebenfalls dem Wiener Meister der Maria von Burgund zugeschriebene Fensterbild – die Frau am Fenster (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 1857, fol. 14v) – zeigt einen ähnlich konstruierten Blick. Brinkmann, Flämische Buchmalerei (s. Anm. 22), S. 31f. Vgl. auch Brinkmann, Flämische Buchmalerei (s. Anm. 22), S. 32. Zu den beiden zurückblickenden Frauen siehe Anja Grebe: Die Fensterbilder des sogenannten Meister der Maria von Burgund, in: Porträt – Landschaft – Interieur. Jan van Eycks
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nahme – der Mann, der Jesus einen Nagel durch die Hand treibt, erscheint ebenfalls vor der Schleuder in der Genter Tafel, wenn auch mit seitenverkehrter Beinstellung und anderer Kleidung.35 Eine solche Wiederholung ist nicht ungewöhnlich, zumal in der damaligen Werkstattpraxis Vorlagen zirkulierten und ein Austausch auch zwischen den verschiedenen Medien stattfand. Letztlich belegt ein eventueller Rückgriff auf dieselbe Vorlage also nicht, dass Miniatur und Tafel auch vom selben Künstler ausgeführt wurden. Ein stilistischer Vergleich reicht daher nicht für eine eindeutige Zuschreibung aus, sondern führt vielmehr die in der Forschung immer wieder angemerkte enge Verbundenheit der beiden Künstler, dem Wiener Meister der Maria von Burgund und Justus van Gent, vor Augen.36 In der Diskussion um die bislang ungeklärte Identität des Wiener Meisters der Maria von Burgund schlägt Eberhard Freiherr Schenk zu Schweinsberg vor, diesen mit Justus van Gent zu identifizieren. Dabei verweist er auf die Initialen »GG«, die auf mehreren Seiten des Oxforder Stundenbuchs (Douce 219, fol. 151v, fol. 158v und Douce 220, fol. 269) erscheinen und deutet sie als Signatur des aus Urbino zurückgekehrten Justus van Gent, wobei die Buchstaben die italianisierte Form seines Namens »Giusto da Guanto« abgekürzt habe.37 Trotz stilistischer Ähnlichkeiten lehnt Bodo Brinkmann diese These als »märchenhaft anmutend« ab.38 Der einzigartige Sinn für Raumdarstellung in den Miniaturen des Wiener Meisters der Maria von Burgund veranlasste wiederum Thomas Kren zu der Annahme, dass dieser von einem Tafelmaler ausgebildet wurde, eventuell selbst einer war, und seine tiefgreifende Kunst Justus van Gent verdankte.39 Während Eberhard König in seinem 2006 erschienenen Aufsatz beim Wiener Meister der Maria von Burgund
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Rolin-Madonna im ästhetischen Kontext, hg. v. Christiane Kruse/Felix Thürlemann, Tübingen 1999, S.257–271, vgl. S. 266. Dagmar Thoss bringt es auf den Punkt – »Du siehst auch, was wir sehen.« Otto Pächt/Dagmar Thoss: Flämische Schule II. Die Illuminierten Handschriften und Inkunabeln der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien 1990, S. 82. Der kniende Soldat der Genter Tafel fordert den Betrachter auf, die Kunde der Teknophagie der Maria weiterzutragen und zugleich darüber nachzudenken. Brinkmann, Flämische Buchmalerei (s. Anm. 22), S. 28f. Hierauf verweist auch Kren. Vgl. Kren, Illuminating the Renaissance (s. Anm. 27), S. 127. Stilistische Parallelen zu Miniaturen des Wiener Meisters der Maria von Burgund zeigen sich auch im Hinblick auf das Kreuzigungstriptychon Justus van Gents. Vgl. hierzu Kren, Illuminating the Renaissance (s. Anm. 27), S. 133f. und S. 139f. sowie De Schryver, Gebetbuch Karls des Kühnen (s. Anm. 24), S. 204f. und S. 225. Eberhard Freiherr Schenk zu Schweinsberg: Das Gebetbuch für Graf Engelbert II. von Nassau und seine Meister, in: Nassauische Annalen 86, 1975, S. 139–157, vgl. S. 150f. und S. 154f. Brinkmann, Flämische Buchmalerei (s. Anm. 22), S. 32. Kren, der ebenfalls Schenk zu Schweinsbergs These anführt, merkt an, dass es bezüglich der vorgeschlagenen Identifizierung eine Vielzahl ungeklärter Fragen gibt. Kren, Illuminating the Renaissance (s. Anm. 27), S. 127. Vgl. Kren, Illuminating the Renaissance (s. Anm. 27), S. 122, S. 127, Kat. Nr. 18, S. 134 und S. 136.
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noch von einem einzeln auftretenden Buchmaler ausgeht,40 tendiert er jüngst dazu, diesen mit Justus van Gent zu identifizieren.41 Da beim Wiener Stundenbuch (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Codex 1857) Wappen fehlen, ist die Frage der Besitzerin und der Datierung strittig. Eine im Text der Marienmesse vorkommende weibliche Fürbittformel – »pro me peccatrice«42 – sowie die Vermutung eines Porträts der Burgunderherzogin Maria von Burgund im Fensterbild Sitzende Frau am Fenster vor der Madonna in der Kirche (fol. 14v),43 haben zu einer Datierung um 1475 geführt. Jedoch gehörte das Wiener Stundenbuch eher Margarete von York.44 Die Annahme, dass es sich bei dem Stundenbuch um ein Verlobungsgeschenk Karls des Kühnen für seine zukünftige Frau handelt, bietet eine mögliche Erklärung für das Fehlen von Wappen. Demnach ist die Handschrift vor der Hochzeit im Juli 1468 zu datieren. Davon ausgehend, dass auch die Kreuzannagelung (fol. 43v) zu dieser Zeit entstanden ist, stützt die Datierung sowie die angeführten stilistischen Ähnlichkeiten zwischen den erörterten Werken die Annahme, dass es sich bei Justus van Gent um den Wiener Meister der Maria von Burgund und auch um den Künstler der Genter Tafel der Eroberung Jerusalems, die ebenfalls um 1468 zu datieren ist, handelt. 40 Der Künstler sei weder Werkstattleiter, noch in einer solchen tätig gewesen. König, Wirklichkeit im Fensterbild (s. Anm. 31), S. 276. 41 Eberhard König: Charles the Bold and the Mary of Burgundy Style: or Who said ›Voustre Demeure‹?, in: Staging the Court of Burgundy, Proceedings of the Conference »The Splendour of Burgundy«, hg. v. Wim Blockmans/Till-Holger Borchert/Nele Gabriëls/Johan Oostermann/Anne van Oosterwijk, Turnhout 2013, S. 287–299, vgl. S. 294. Pächt schlug Alexander Bening zur Identifizierung vor, De Schryver dagegen Nicolas Spierinc, wobei er dies mehr als drei Jahrzehnte später selbst ausschloss. Pächt, Master of Mary of Burgundy (s. Anm. 27), S. 43–45 und De Schryver, Gebetbuch Karls des Kühnen (s. Anm. 24), S. 78. 42 Vgl. Antoine De Schryver/Franz Unterkircher: Gebetbuch Karls des Kühnen vel potius Stundenbuch der Maria von Burgund (Codex 1857 der Österreichischen Nationalbibliothek), 2 Bde., Graz 1969, S. 4. 43 »The first of the two miniatures shows a Lady (apparently the owner of the book, i. e. Mary of Burgundy), sitting by a window which opens into the choir of a church, and reading a book.« Pächt, Master of Mary of Burgundy (s. Anm. 27), S. 26. Bereits 1913 hatte Durrieu die Dame mit Maria von Burgund identifiziert. Vgl. hierzu Kruse, Die Erfindung des Gemäldes (s. Anm. 23), S. 225. Davon ausgehend, dass es sich bei der Miniatur um ein Widmungsbild der Handschrift handelt, kann der Schluss gezogen werden, in Maria von Burgund die Besitzerin des Codex zu sehen. Vgl. Belting, Die Erfindung des Gemäldes (s. Anm. 23), S. 56. 44 Zur Anspielung auf Margarete von York durch die stilisierten Rose des Hauses York auf fol. 7v, fol. 53v und fol. 77v siehe De Schryver, Gebetbuch Karls des Kühnen (s. Anm. 24), S. 85f. Die Kreuzigung (fol. 99v) zeigt gleich eine zweifache Anspielung: die Margerite sowie die Perlen (lat.: margaritae), die die Samen der anderen Blumen darstellen. De Schryver, Gebetbuch Karls des Kühnen (s. Anm. 24), S. 228. Brinkmann sieht in der Frau am Fenster (fol. 14v) die Marienvision des Thomas von Canterbury dargestellt, was wiederum die These stärkt, dass es sich bei dem Wiener Codex 1857 um eine Handschrift im Besitz Margarete von Yorks handelt. Brinkmann, Flämische Buchmalerei (s. Anm. 22), S. 23.
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Überlegungen zur Zusammengehörigkeit von Genter Tafel und Justus van Gents Kreuzigungstriptychon
Bevor die Predella der Eroberung Jerusalems (Abbildung 1 bis Abbildung 4) 1957 in das Genter Museum gelangte, wo sie als Einzelteil mit dem Hinweis, dass das zugehörige Retabel verloren sei, ausgestellt ist, befand sie sich in der Vigiliuskapelle der Krypta in der Genter Kathedrale St. Bavo.45 In der Forschung wurde bereits auf eine mögliche Zusammengehörigkeit der Genter Tafel und dem sich in St. Bavo befindlichen Kreuzigungstriptychon von Justus van Gent (Abbildung 5) hingewiesen.46 Obwohl eine Beschreibung des 18. Jahrhunderts die Zusammengehörigkeit von Retabel (Kreuzigungstriptychon) und Predella (Eroberung Jerusalems durch Titus) belegt,47 ist diese keineswegs unumstritten. Bei der Frage, ob beide Teile vom selben Künstler ausgeführt wurden, besteht ebenso keine Einigkeit. So merkt Bodo Brinkmann an, dass die Figuren auf dem Retabel »eleganter und flüssiger« gestaltet sind.48 Abweichungen in der künstlerischen Gestaltung ergeben sich jedoch zwangsläufig durch die unterschiedlichen Formate und die stark divergierende Figurengröße. Wie mit Blick auf die Figuren bereits gezeigt wurde, stimmen Predella und Retabel in grundsätzlichen Gestaltungsprinzipien überein, auch landschaftliche und architektonische Details weisen durchaus Parallelen auf, so dass in dem vorliegenden Beitrag davon ausgegangen wird, dass beide Teile von Justus van Gent gemalt wurden. Dies allein belegt jedoch nicht die Zusammengehörigkeit der Genter Tafel und dem Kreuzigungstriptychon. Neben stilistischen Ähnlichkeiten und demselben ausführenden Künstler ist mit den übereinstimmenden Maßen von Mitteltafel des Retabels und Predella ein wichtiges Kriterium einer Zusammengehörigkeit erfüllt.49 Auch der von Kirchenvätern wie Origenes und Eusebius hergestellte Kausalzusammenhang zwischen der Kreuzigung Jesu und der Zerstörung Jerusalems sowie deren Deutung 45 Zur Provenienz siehe Museum of Fine Arts Ghent (s. Anm. 22), S. 127. 46 Coremans et. al., Juste de Gand (s. Anm. 22), S. 157. Vgl. auch Anja Sibylle Steinmetz: Das Altarretabel in der altniederländischen Malerei. Untersuchungen zur Darstellung eines sakralen Requisits vom frühen 15. bis zum späten 16. Jahrhundert, Weimar 1995, S. 35, Anm. 649. 47 Brinkmann, Flämische Buchmalerei (s. Anm. 22), S. 26f. und Anm. 75. 48 Brinkmann verweist auf einen Restaurierungsbericht von 1961, in dem dies mehrfach betont und anhand eines Vergleichs zweier Reiter von Mitteltafel des Retabels und Predella demonstriert wurde. Brinkmann, Flämische Buchmalerei (s. Anm. 22), S. 32. 49 Zwar handelt es sich bei dem im Dreipassbogen geschlossene Flügelalter nicht um die ursprüngliche Form, für die Zusammengehörigkeit von Predella und Retabel ist jedoch eine Veränderung am oberen Abschluss unerheblich, da alleine die übereinstimmende Breite entscheidend ist. Zur ursprünglichen Form siehe Jacques Lavalleye: Juste de Gand. Peintre de Fr8d8ric de Montefeltre, Louvain 1936, S. 88, Abb. Anm. 2. Vgl. auch Friedländer, Altniederländische Malerei (s. Anm. 23), S. 82.
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des Ereignisses als göttliches Strafgericht spricht ebenfalls dafür. Im 15. Jahrhundert war Flavius Josephus’ Bellum Judaicum weit verbreitet und auch die christliche Auslegung der Eroberung Jerusalems war im kulturellen Wissen des Mittelalters fest verankert, so dass die Verbindung dieser Motive durchaus denkbar und eine Zusammengehörigkeit von Kreuzigungstriptychon und Genter Tafel nicht unwahrscheinlich ist.50 Das Ereignis der Eroberung Jerusalems und der Zerstörung des Tempels markiert das Ende der Juden als von Gott auserwähltes Volk. Das Christentum wiederum konstituiert sich durch Abgrenzung vom Judentum als Heilsgemeinschaft.51 Nicht die Abstammung entschied über die Zugehörigkeit zum Heilsvolk Israel, sondern der Glaube an Christus. Die Kirchenväter sprachen von der »Zerstörung« des Judentums und betonten damit, dass »die Gnade Gottes vom Judentum auf die Kirche übergegangen sei«, so dass das historische Ereignis der Eroberung Jerusalems kein »nebensächliches«, sondern vielmehr »entscheidende Grundlage christlichen Selbstverständnisses« ist.52 Das christliche Selbstverständnis zeigt sich eben in dem Ensemble von Kreuzigungstriptychon und Genter Tafel der Eroberung Jerusalems: So führt das Retabel dem Betrachter den Glauben an Jesus Christus und die Predella das Negativum des Judentums sowie deren Ende als von Gott auserwähltes Volk vor Augen.
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Überlegungen zur Darstellungsweise des kulturellen Wissens um die Eroberung Jerusalems
Entsprechend einer durch die Bewegung der Devotio moderna verbreiteten Meditationspraxis, gemäß welcher sich der Betrachter von Kunstwerken heilige Ereignisse vorstellt, indem er sie in die eigene Gegenwart holt und sich nicht in entfernte Länder und Zeiten versetzt,53 ist die Genter Tafel gestaltet. Mittels zeitgenössischer Architektur und Kleidung wird das historische Ereignis des 50 Friedländer zeigt eine Abbildung von Retabel und Predella. Max J. Friedländer: Early Netherlandish Painting. Volume III. Dieric Bouts and Joos van Gent, Leyden 1968, Abb. 102. 51 Kampling verweist »auf ein theologisches Dilemma der Substitutionslehre: Sie bedarf des Judentums als Negativum, um durch Abgrenzung zu einer Eigendefinition zu kommen. Der Nachweis, Heilsgemeinschaft zu sein, wird nicht positiv, sondern negativ unter Verweis auf das heilsferne Judentum geführt.« Rainer Kampling: Substitutionslehre, in: Handbuch des Antisemitismus, Band 3: Begriffe, Theorien, Ideologien, hg. v. Wolfgang Benz, Berlin 2010, S. 310–312, hier S. 311. 52 Steve Mason: Flavius Josephus und das Neue Testament (aus dem Amerikanischen von Manuel Vogel), Tübingen und Basel 2000, hier S. 27. 53 Geert Grote (1340–1384) ist der Gründervater dieser Bewegung, der auch das Traktat De quattuor generibus meditabilium bzw. Vier Inhalte der Meditation schrieb. Suckale, Zum Körper- und Wirklichkeitsverständnis (s. Anm. 19), S. 491.
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1. Jahrhunderts an das 15. Jahrhundert und demzufolge an die Gegenwart des damaligen Bildbetrachters adaptiert. So entspricht der Jerusalemer Tempel weder einer historisch getreuen Darstellung, noch stimmt er mit der Beschreibung Josephus’ überein.54 Justus van Gent stellt ein prächtiges Bauwerk dar, das in hellem Licht erscheint und das der Betrachter mit dem Jerusalemer Tempel assoziiert. Die Teknophagie der Maria ist »eine Schlüsselszene im Zusammenhang der Eroberung Jerusalems und ihrer christlichen Auslegung«.55 Maria, Tochter des Eleazar, tötet infolge der aussichtslosen Situation von Hungersnot und Plünderung ihr Kind, brät es über dem Feuer, isst die eine Hälfte und bietet die andere den römischen Soldaten an.56 In diesem Zusammenhang ist die Auslegung der Kirchenväter sowie frühchristlicher Theologen von Mt 27,25 – »Sein Blut komme über uns und unsere Kinder« – besonders hervorzuheben, da sich hierauf das Prinzip der Kollektivschuld begründet und zugleich das Ende der Juden als auserwähltes Volk, nicht jedoch das Ende der Juden, bedeutet.57 Mt 27,25 ist die wohl wichtigste Quelle eines christlich motivierten Antijudaismus, wenngleich sie diesen nicht begründet, wie Rainer Kampling in seiner Untersuchung anmerkt.58 Erst Augustinus prägte durch seine Auslegung von Mt 27,25 das »Bild der bluttrinkenden Juden«.59 Guy N. Deutsch bezeichnet die ihr Kind verspeisende Maria als negatives jüdisches Abbild der Jungfrau Maria.60 Dabei ignoriere er jedoch den spätantiken lateinischen Autor Fabius Claudius Gordianus Fulgentius des 6. Jahrhunderts und damit die Tatsache, dass Maria durch ihr Verhalten indirekt Buße für das Verbrechen der Juden an Jesus übt, wie Heinz Schreckenberg anführt.61 Eben diese Szene der Teknophagie der Maria, die Heinz 54 Vgl. David Amit: Model of Jerusalem in the Second Temple Period, hg. v. David Mevorah/ Yoram Tsafrir. The Israel Museum, Jerusalem 1992. Flavius Josephus: De Bello Judaico. Der Jüdische Krieg. Griechisch und Deutsch, hg. v. Otto Michel/Otto Bauernfeind, Darmstadt 32013 [1963] Buch V, Kapitel 5, S. 135ff. 55 Liebl, Flavius-Josephus-Handschriften (s. Anm. 7), S. 145. 56 Josephus, BJ (s. Anm. 58), Buch VI, Kapitel 3, 4.201, S. 35ff. 57 Die Schriftauslegung Hieronymus’ zielt darauf, »daß die Christen das rechtmäßige Volk Gottes sind«. Rainer Kampling: Das Blut Christi und die Juden. Mt 27,25 bei den lateinischsprachigen christlichen Autoren bis zu Leo dem Großen, Münster 1984 (zugl. Diss. Uni. Münster 1982/83), S. 128f. 58 Kampling, Das Blut Christi und die Juden (s. Anm. 61), S. 230. 59 Vgl. Kampling, Das Blut Christi und die Juden (s. Anm. 61), S. 193. Zur Autorität Augustinus in Thomas Cantipratanus Bonum universale de apibus, in dem ein angeblicher Ritualmord thematisiert wird, siehe ebd. Anm. 279. Augustinus betonte aber auch, dass die Juden keine Gottesmörder seien und hob den Aspekt ihrer Zeugenschaft hervor, weswegen sie nicht zu töten seien. Vgl. Schreckenberg, Christliche Adversus-Judaeos-Bilder (s. Anm. 10), S. 32 und Kampling, Das Blut Christi und die Juden (s. Anm. 61), S. 175f. 60 Deutsch, Iconographie (s. Anm. 9), S. 180. 61 Heinz Schreckenberg: Josephus in Early Christian Literature and Medieval Christian Art. Chapter Four : Josephus in Mediaval Christian Art, in: Jewish Historiography and Icono-
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Schreckenberg als »historiographisches Prunkstück ersten Ranges« bezeichnet,62 nimmt innerhalb der Genter Tafel der Eroberung Jerusalems auch formal eine besondere Stellung ein. Das Haus der Maria, das in seinem äußeren Erscheinungsbild an Giottos Häuserdarstellungen des Trecento erinnert, ist an den vorderen Bildrand gerückt. Einerseits wird der Betrachter, indem der Künstler ihm durch die Schauöffnung63 einen voyeuristischen Blick eröffnet, unmittelbar mit dem grausamen Ereignis konfrontiert und durch die Vermittlerfigur des links neben dem Haus knienden und frontal zum Betrachter gerichteten Soldaten zum Nachdenken angeregt. Andererseits erscheint die Episode wie eine Miniatur64 vom übrigen Bildraum separiert, wobei die Begleitumstände der Hungersnot und Plünderung die Szene ringsum ergänzen.65 Maria erscheint bildparallel nach links gewendet. In einer Schale am Boden vor ihr liegt eine Hälfte ihres toten Kindes, die andere brät über dem Kaminfeuer im Hintergrund. Maria streckt ihren Arm in Richtung der von links eintretenden Soldaten aus, wodurch der Moment des Anbietens der schrecklichen Speise betont wird. Die Wirkung auf den christlichen Bildbetrachter ist vor dem Hintergrund mittelalterlichen Antijudaismus, besonders der Ritualmordvorwürfe, zu bewerten. Den vor allem im Zusammenhang mit den Kreuzzügen weit verbreiteten Legenden zufolge töteten Juden Christenknaben zur Paschazeit, angeblich um Jesus zu verhöhnen und deren Blut für spezielle Zeremonien und Bräuche zu verwenden.66 Die Ritualmordvorwürfe wurden dazu genutzt, um auf die von Juden angeblich aus-
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graphy in Early and Medieval Christianity, hg. v. Heinz Schreckenberg/Kurt Schubert, Assen 1992, S. 87–130, vgl. S. 111 und S. 113. »Judäa lehnte das Fleisch des Gottessohnes ab, es mußte dafür aus dem Fleisch des eigenen Sohnes ein Mahl bereitet werden.« Schreckenberg, Rezeptionsgeschichtliche und textkritische Untersuchungen (s. Anm. 11), S. 31f. Schreckenberg, Christliche Wirkungsgeschichte (s. Anm. 5), S. 1202f. Handlungs- und Schauöffnungen sind insofern zu differenzieren, da die einen die bildinterne Kommunikation, die anderen hingegen diejenige zwischen dargestellter Handlung und Betrachter regeln. Wolfgang Kemp: Die Räume der Maler. Zur Bilderzählung seit Giotto, München 1996, vgl. hierzu S. 29. Dabei ähnelt sie im Erscheinungsbild stark drei Miniaturen aus Boccaccios Des Cas des nobles hommes et femmes, die Deutsch anführt. Vgl. Deutsch, Iconographie (s. Anm. 9), Abb. 144, Abb. 146 und Abb. 145. Die Not der städtischen Bevölkerung wird besonders durch einen in seinen Schuh beißenden Mann, der sich vor den Plündern versteckt und vorne rechts dargestellt ist, deutlich. Josephus, BJ (s. Anm. 58), Buch VI, 3. Kapitel, 3.193, S. 35. Der erste Fall ereignete sich 1144 in Norwich. Zum Ritualmordvorwurf vgl. Gerd Mentgen, Ritualmord, LThK, 2009, S. 1210 und Rainer Erb (Hrsg.): Die Legende vom Ritualmord. Zur Geschichte der Blutbeschuldigungen gegen die Juden, Berlin 1993, hierzu S. 9 und S. 14. Zum Verweis eines Dominikaners auf einen nicht existierenden Augustinus-Text, den Juden missverstanden hätten und demzufolge sie Christenkinder töteten, vgl. Heinz Schreckenberg: Die christlichen Adversus-Judaeos-Texte und ihr literarisches und historisches Umfeld (13.–20. Jh.), Europäische Hochschulschriften. Reihe XXIII Theologie Bd./Vol. 497, Frankfurt a.M. 1994, S. 246.
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gehende Gefahr aufmerksam zu machen und Pogrome zu rechtfertigen.67 Derartige Fälle ereigneten sich auch in der Entstehungszeit der Genter Tafel und waren folglich für den Betrachter allgegenwärtig.68 Mit den auf der Genter Tafel dargestellten Fahnen ist ein weiteres bildliches Element zu beachten. Links hebt ein Soldat eine Fahne hoch, welche über dem Kopf des gekrönten Reiters zu sehen ist, eine weitere hält ein Soldat auf der Stadtmauer. Zwei sind in der rechten Bildhälfte, eine im Schlachtengetümmel, die andere in der Nähe des Mannes, der den Befehl zur Tempelerstürmung gibt, zu sehen. Bei diesen Fahnen handelt es sich um diejenige des Heiligen Römischen Reiches – schwarzer Doppeladler auf gelbem Grund – und offerieren die Möglichkeit einer politischen Lesart der Genter Tafel, welche das kulturelle Wissen um die Eroberung Jerusalems mit den historischen Umständen ihrer eigenen Entstehungszeit verknüpft und darüber hinaus im Zusammenhang mit dem Auftraggeber zu sehen ist.69
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Inszenierung und Funktionalisierung des kulturellen Wissens um die Eroberung Jerusalems durch den Auftraggeber der Genter Tafel
Ein Auftraggeber der Predella ist bislang nicht belegt. Wenngleich eine Zusammengehörigkeit von Kreuzigungstriptychon und Genter Tafel der Eroberung Jerusalems, wie bereits ausgeführt, nicht unwahrscheinlich ist, bedeutet dies jedoch nicht zwangsläufig, dass auch beide Teile von ein und derselben Person in Auftrag gegeben wurden. Der Auftraggeber des Kreuzigungstriptychons ist 67 Der sich 1235 in Fulda ereignete Fall hatte erstmals einen Pogrom zur Folge. Friedrich Lotter : Innocens Virgo et Martyr. Thomas von Monmouth und die Verbreitung der Ritualmordlegende im Hochmittelalter, in: Die Legende vom Ritualmord. Zur Geschichte der Blutbeschuldigungen gegen die Juden, hg. v. Rainer Erb, Berlin 1993, S. 25–72, vgl. S. 54ff. In der Folge dieser Ereignisse erneuerte Friedrich II. das Wormser Privileg und stellte alle deutschen Juden seine Kammerknechtschaft (servi camerae nostre). Vgl. beispielsweise Schreckenberg, Christliche Adversus-Judaeos-Texte (s. Anm. 70), S. 148. 68 Der bekannteste Fall ist der des Simon in Trient 1475, der durch Literatur wie auch Bilder weite Verbreitung erfuhr. So zeigt beispielsweise ein Holzschnitt der 1493 in Nürnberg gedruckten Schedelschen Weltchronik das Martyrium des kleinen Simon. 69 Auch auf dem linken Flügel von Rogier van der Weydens Bladelin-Altar (um 1445, Berlin, Gemäldegalerie) erscheint das Emblem des Römischen Kaiserreichs auf den Fensterscheiben des Schlafgemachs. Während Belting darin einen weiteren Anachronismus sieht, versucht De Vos den dargestellten Augustus mit einem europäischen König der Entstehungszeit des Werkes zu identifizieren. Belting, Die Erfindung des Gemäldes (s. Anm. 23), S. 113 und Dirk De Vos: Rogier van der Weyden. Das Gesamtwerk, München 1999, S. 244, Anm. 7. Suckale hebt hingegen die Verehrung des »Königs der Könige« – Jesus Christus – durch den römischen Kaiser hervor. Suckale, Zum Körper- und Wirklichkeitsverständnis (s. Anm. 19), S. 489.
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ebenfalls nicht bekannt, doch geht Kathryn M. Rudy davon aus, dass das Triptychon für die Kapelle von Lauren Maech, Ratgeber Philipps des Guten sowie receveur g8neral de Flandre und dessen Ehefrau Louise van Hove angefertigt wurde.70 Hinsichtlich der Predella der Eroberung Jerusalems weist das Genter Museum auf einen zeitgenössischen Bezug zur Belagerung Gents 1488 hin, welcher durch die dargestellten Fahnen und Wappen hervorgerufen werden soll.71 Kaiser Friedrich III. brach am 4. Juni 1488 zur Belagerung Gents auf, um die Aufständischen, die im Februar desselben Jahres seinen Sohn Maximilian festgenommen hatten,72 zu bestrafen. Der augenscheinlichste bildimmanente Bezug zur Belagerung Gents sind insofern die Fahnen des Heiligen Römischen Reiches und der Umstand selbst, dass sich die Tafel wohl immer in Gent befand. Eine aufgrund der zuvor angeführten stilistischen Vergleiche angenommene Datierung der Genter Tafel um 1468 schließt aber einen zeitgenössischen Bezug zur Genter Belagerung 1488 aus.73 Stattdessen ist Karl der Kühne, der 1465 zum Generalstatthalter ernannt wurde und nach dem Tod seines Vaters Philipps des Guten ab 1467 offiziell als Herzog von Burgund regierte, als Auftraggeber der Genter Tafel in Betracht zu ziehen und zu diskutieren. Eine Verbindung zu Justus van Gent besteht insofern, als dass dieser nachweislich im Rahmen der Hochzeit des Burgunderherzogs mit Margarete von York 1468 für ihn tätig war.74 Im Folgenden wird diskutiert, wie der Auftraggeber der Genter Tafel das Wissen um die Eroberung Jerusalems zur eigenen Herrschaftsinszenierung funktionalisiert. Hierzu werden verschiedene Lesarten der Tafel erörtert.
70 Kathryn M. Rudy : The Trivulzio Hours, the Ghent Altarpiece and the Mass as Devotional Subject, in: Staging the Court of Burgundy, Proceedings of the Conference »The Splendour of Burgundy«, hg. v. Wim Blockmans/Till-Holger Borchert/Nele Gabriëls/Johan Oostermann/Anne van Oosterwijk, Turnhout 2013, S. 301–323, vgl. S. 313 und Abb. 104. Auf den Flügelrückseiten wurde das Porträt des Stifters vermutet. Aufgrund des schlechten Erhaltungszustandes sind die Dargestellten jedoch nur schwer zu identifizieren. Abbildung der Flügelrückseiten siehe Friedländer, Early Netherlandisch Painting (s. Anm. 54), Abb. 102. 71 Siehe hierzu http://www.vlaamsekunstcollectie.be/nl/zoeken.aspx [13. 10. 2018] unter Weense Meester van Maria van Bourgondi[. 72 Zu den Hintergründen von Maximilians Gefangenschaft siehe Wim Blockmans: Wie der Römische König in Flandern zum Gefangenen seiner Untertanen wurde, in: Die Macht des Königs Herrschaft in Europa vom Frühmittelalter bis in die Neuzeit, hg. v. Bernhard Jussen, München 2005, S. 275–286, vgl. S. 281f. 73 Der vom Museum vorgeschlagene zeitgenössische Bezug zur Genter Belagerung 1488 steht zudem im Widerspruch mit der eigens vorgeschlagenen Datierung zwischen 1469 und 1483. Vgl. Museum of Fine Arts Ghent (s. Anm. 22), S. 127. 74 Vgl. Schenk zu Schweinsberg, Gebetbuch Engelbert II. (S. Anm. 37), S. 150. Gemäß Van der Velden waren im Zuge der Feierlichkeiten insgesamt 150 Künstler beschäftigt. Hugo van der Velden: The Donor’s image. Gerard Loyet and the votive portraits of Charles the Bold, Turnhout 2000, S. 34.
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Karl der Kühne war äußerst ehrgeizig und strebte eine Königskrone an.75 Einen Höhe- und Wendepunkt in seinem Leben bildeten die Verhandlungen mit Friedrich III. 1473 in Trier.76 Hierbei wurde die bereits 1463 von Papst Pius II. angeregte Eheschließung Marias von Burgund und Maximilians sowie damit einhergehende Modalitäten erörtert.77 Da Karl der Kühne den vom Kaiser vorgeschlagenen Kompromiss eines unabhängigen Königreichs78 nicht akzeptierte, scheiterten die Verhandlungen.79 Anschließend wollte er sich das holen, was ihm verwehrt wurde, und starb 1477 schließlich in der Schlacht von Nancy.80 In der Forschung wird die Vorliebe des Burgunderherzogs für prunkvolle Objekte ebenso wie die Machtdemonstration durch äußere Prachtentfaltung betont; in Trier übertraf er sogar den Kaiser.81 Bereits sein äußeres Erscheinungsbild war durch einen prunkvollen Mantel und eine von Edelsteinen besetzte Kopfbedeckung königlich in Szene gesetzt.82 Außerdem ließ sich der Herzog als Na-
75 Bereits seine Vorfahren, Johann Ohnefurcht und Philipp der Gute, strebten die Ernennung zum König an, jedoch schien Karl der Kühne im Unterschied zu ihnen, sein Anliegen um jeden Preis durchsetzen zu wollen. Heribert Müller : Warum nicht einmal die Herzöge von Burgund das Königtum erlangen wollten und konnten, in: Die Macht des Königs. Herrschaft in Europa vom Frühmittelalter bis in die Neuzeit, hg. v. Bernhard Jussen München 2005, S. 255–274, vgl. S. 258ff. und S. 264. 76 Vgl. Müller, Herzöge von Burgund (s. Anm. 79), S. 270. Zum Treffen des Burgunderherzogs und Friedrich III. 1473 in Trier siehe auch Birgit Franke: Zwischen Liturgie und Zeremoniell. Ephemere Ausstattung bei Friedensverhandlungen und Fürstentreffen, in: Kunst und Liturgie im Mittelalter, hg. v. Nicolas Bock et. al., München 2000, Akten des internationalen Kongresses der Bibliotheca Hertziana und des Nederlands Instituut de Rome, Rom 28.–30. 09. 1997, München 2000, S. 205–216, vgl. S. 210ff. 77 Vgl. Müller, Herzöge von Burgund (s. Anm. 79), S. 262. 78 »Karl nahm […] die böhmische Karte nie ganz aus dem Königsspiel; 1473 in Trier erwog er offenbar für kurze Zeit sogar, über die böhmische Kur und Krone ins römische Königtum zu gelangen, und vor allem zur Zeit des Neusser Krieges verhandelte er mit Matthias Corvinus, dem gefährlichsten Gegner Friedrichs III. im Osten, über ein das gesamte linksrheinische Gebiet umfassendes burgundisches Königtum und eine um Böhmen und Schlesien erweiterte und anerkannte Herrschaft des Ungarnkönigs.« Müller, Herzöge von Burgund (s. Anm. 79), S. 263. 79 Obwohl zum Trierer Treffen zahlreiche Quellen vorliegen, wird über die Gründe des Scheiterns gerätselt. Vgl. hierzu Müller, Herzöge von Burgund (s. Anm. 79), S. 256f. 80 Vgl. Werner Paravicini: Menschen am Hof der Herzöge von Burgund. Gesammelte Aufsätze, hg. v. Klaus Krüger/Holger Kruse/Andreas Ranft, Stuttgart 2002, S. 583ff. und S. 594f. 81 Vgl. De Schryver, Gebetbuch Karls des Kühnen (s. Anm. 24), S. 13 und S. 252 sowie Werner Paravicini: »Vernünftiger Wahnsinn«. Karl der Kühne, Herzog von Burgund (1433–1477), in: Karl der Kühne (1433–1477). Kunst, Krieg und Hofkultur, hg. v. Susan Marti/Till-Holger Borchert/Gabriele Keck (Katalog zur Ausstellung Karl der Kühne (1433–1477), Historisches Museum Bern, 25.04.–24. 08. 2008 und Bruggemuseum & Groeningemuseum Brügge, 27.03.–21. 07. 2009), Stuttgart 2008, S. 39–49. 82 Sein Goldschmied G8rard Loyet fertigte für ihn zudem ein sceptre du roy an. Müller, Herzöge von Burgund (s. Anm. 79), S. 266.
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mensvetter Karls des Großen verehren83 und stellte sich in eine Ahnenreihe mit antiken Vorbildern, die bis zu Aeneas reichten.84 In diesem Zusammenhang spielten auch monumentale Tapisserien, auf denen antike Historien dargestellt waren, und die er als mobile Kunstschätze bei dem Treffen mit Friedrich III. in Trier mit sich führte, eine wichtige Rolle. In der situativen Gegenüberstellung von den auf den Tapisserien gestalteten Historien und dem Burgunderherzog übertrugen sich gewissermaßen die vorbildlichen Herrschertugenden wie auch die trojanische Abstammungslegende auf diesen.85 In zeitgenössischen Quellen wird Karl der Kühne zudem als letzter Grand Duc d’Occident bezeichnet und er soll davon überzeugt gewesen sein, dass Gott ihm eine führende Rolle zugedacht hatte.86 Ein bildimmanenter Bezug, der die Genter Tafel mit Karl dem Kühnen in Verbindung bringt, sind die Wappen auf den Zelten der Römer links. Zwar sind diese aufgrund ihrer geringen Größe nur teilweise zu identifizieren, aber es könnte sich dabei um diejenigen der Besitztümer des Herzogs handeln. So findet sich auf dem Zelt am äußeren linken Rand der Genter Tafel ein rotes Wappen mit goldenem Streifen, der von links oben nach rechts unten verläuft. Eben dieses Wappen ist auch auf der Miniatur Karl der Kühne ernennt die Offiziere seiner Ordonnanz der Heeresordnung von 1473 (London, The British Library, Add. Ms. 36619, fol. 5r) zu sehen, auf der 19 Wappenschilde seiner Herrschaftsgebiete in der Bordüre dargestellt sind, um den Machtanspruch des Hauptbildes zu unterstreichen.87 Mit der Genter Tafel der Eroberung Jerusalems würde Karl der Kühne mit römischer Kriegsführung in Verbindung gebracht und abermals in eine Ahnenreihe mit antiken Herrschern gestellt werden. Zwar stimmt seine Physiognomie mit keinem der beiden Reiter links auf der Tafel überein,88 dies 83 Vgl. Müller, Herzöge von Burgund, (s. Anm. 79), S. 265. 84 Vgl. Paravicini, Karl der Kühne (s. Anm. 85), S. 40. 85 Zeitgenössische Quellen wiedersprechen sich bei der Frage, welche Historien genau dargestellt waren. Vgl. Franke, Liturgie und Zeremoniell (s. Anm. 80), S. 212. 86 Till-Holger Borchert, Das Bildnis Karls des Kühnen, in: Karl der Kühne (1433–1477). Kunst, Krieg und Hofkultur, hg. v. Susan Marti/Till-Holger Borchert/Gabriele Keck (Katalog zur Ausstellung Karl der Kühne (1433–1477), Historisches Museum Bern, 25.04.–24. 08. 2008 und Bruggemuseum & Groeningemuseum Brügge, 27.03.–21. 07. 2009), Stuttgart 2008, S. 73–81, vgl. S. 73. Molinet bezeichnet Karl den Kühnen in seiner Chronik als »grand duc d’Occident«. Des Weiteren stellt Molinet einen Vergleich mit den Römern an, die »aufgrund ihrer Überlegenheit in der Kriegskunst die Weltherrschaft errungen hätten«. Hierzu Michael Zingel: Frankreich, das Reich und Burgund im Urteil der burgundischen Historiographie des 15. Jahrhunderts. Sigmaringen 1995, Anm. 89, S. 175 und S. 172. 87 Marti et. al., Karl der Kühne (s. Anm. 85), vgl. Taf. 42 und Kat. Nr. 47, S. 220f. 88 Rogier van der Weydens Porträt hat die Vorstellung vom Äußern Karls des Kühnen am ehesten geprägt. Renate Prochno: Bildnisse Karls des Kühnen, in: Kunst und Kulturtransfer zur Zeit Karls des Kühnen, hg. v. Norberto Gramaccini/Marc Carel Schurr, Bern 2012, S. 15–48. Vgl. S. 15f.
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ließe sich aber einerseits auf die geringe Figurengröße zurückführen und ermöglicht andererseits ihre gleichzeitige Assoziation mit Titus und Vespasian. Karl den Kühnen als Reiter auf dem Schimmel angenommen wäre der zweite Reiter auf dem braunen Pferd entsprechend der Vater-Sohn-Analogie Vespasians und Titus’ mit Philipp dem Guten, dem Vater Karls, gleichzusetzen.89 Die Tatsache, dass Karl der Kühne in anderen Miniaturen bekrönt dargestellt ist,90 ließe ihn auch als Reiter des braunen Pferdes annehmen. Dann wäre er in der Genter Tafel ein weiteres Mal zum Zwecke der Herrschaftsinszenierung und vor dem Hintergrund, dass er seine Macht in Form eines eigenen Königreiches ausdehnen wollte, gekrönt dargestellt. Karl der Kühne wurde in seinen Stiftungen oft als Soldat oder Feldherr dargestellt und mit Schlachten und Kriegen, an denen er beteiligt war, in Verbindung gebracht.91 Die Darstellung der Eroberung Jerusalems wird nicht zuletzt durch die auf den Zelten dargestellten Wappen mit dem Burgunderherzog in Verbindung gebracht, auch Anachronismen der Kleidung und Architektur, die vom zeitgenössischen Betrachter wahrgenommen werden, verknüpfen das historische Ereignis des Jahres 70 n. Chr. mit der Entstehungszeit der Tafel. Somit findet eine Form der politischen Aktualisierung und Instrumentalisierung des kulturellen Wissens um die Eroberung Jerusalems statt und es ist nach einer Lesart zu fragen, die das dargestellte Ereignis mit der Stadt Gent des 15. Jahrhunderts verbindet. Bereits während der langen Regierungszeit Philipps des Guten leistete Gent mehrfach Widerstand gegen seine Zentralisierungspolitik, so dass er 1452 und 1453 Krieg gegen Gent führte, an dem auch Karl der Kühne beteiligt war.92 Nach dem Sieg des Burgunderherzogs kam es zu einer zeremoniellen Unterwerfung der Genter Bürger, bei der die Wortführer – allen voran der Abt von St. Bavo93 – sich barhäuptig im weißen Hemd vor dem Herzog niederknieten, dahinter die übrigen Bürger in schwarzer Trauerkleidung.94 Die Genter Tafel führt dem zeitgenössischen Betrachter demnach nicht nur die Eroberung Jerusalems 89 Die Vater-Sohn-Analogie entwickelte sich im Zusammenhang mit dem Talionsprinzip, so dass die Juden, die Gottvater und Jesus beleidigten, durch Vespasian und seinen Sohn Titus gerächt wurden. Vgl. Liebl, Flavius-Josephus-Handschriften (s. Anm. 7), S. 28. 90 Auch die Miniatur Karl der Kühne wird vom heiligen Georg empfohlen (fol. 1v) seines Gebetbuchs (Los Angeles, The Paul Getty Museum, Ms. 37) zeigt ihn mit einem fleurs de lys bekrönten Helm. Vgl. De Schryver, Gebetbuch Karls des Kühnen (s. Anm. 24), S. 15f., Farbtafel I. S. 18. Laut Liebl wird auch Titus mit Krone dargestellt, obwohl sie ihm gemäß der Historie zu diesem Zeitpunkt noch nicht zustand. Liebl, Flavius-Josephus-Handschriften (s. Anm. 7), S. 144. 91 Vgl. van der Velden, The Donor’s image (s. Anm. 78), S. 155f. 92 Vgl. Paravicini, Am Hof von Burgund (s. Anm. 84), S. 381. 93 Die Genter Tafel wurde lange Zeit in der Genter Kathedrale St. Bavo aufbewahrt. 94 Belting/Kruse, Die Erfindung des Gemäldes (s. Anm. 23), S. 23. Zur Schlacht von Gavere und der zeremoniellen Unterwerfung der Genter Bürger siehe van der Velden, The Donor’s image (s. Anm. 78), S. 161f. sowie Abb. 81 und Abb. 82.
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vor Augen, sondern erinnert die Genter Bürger ebenfalls an die Macht des Burgunderherzogs. Ein implizierter Bezug der Genter Tafel zur Schlacht von Gavere 1453 und der nachfolgenden zeremoniellen Unterwerfung der Genter Bürger ist ebenso denkbar wie zu anderen kriegerischen Auseinandersetzungen des Burgunderherzogs in der zweiten Hälfte der 1460er Jahre. Von einer Datierung der Predella um 1468 ausgehend, könnte die Darstellung beispielsweise mit dem wichtigen Sieg Karls des Kühnen gegen den französischen König Ludwig XI. im Jahre 1465 oder den Auseinandersetzungen mit Lüttich 1467 und 1468 in Verbindung gebracht werden.95 In Anbetracht seines Ehrgeizes und einer politischen Selbstinszenierung kämen die dargestellten Fahnen des Heiligen Römischen Reiches einem Affront gegen den Kaiser gleich, dessen Nachfolge er nur zu gerne angetreten hätte.96 Eine weitere politische Lesart, die die Darstellung der Tafel zulässt, kommt durch die Eroberung Konstantinopels 1453 durch Mehmed II. hinzu. Die Gefahr islamischer Expansion vor Augen verhandelte Papst Pius II. in den 1460er Jahren mit Kaiser Friedrich III. und Philipp dem Guten über das Zustandekommen eines Türkenkreuzzuges.97 Karl der Kühne versprach, den Kreuzzug gegen die Türken zu seinem Anliegen zu machen, wobei er sich in der Realisierung seiner Pläne als »nachgiebig und schwach« erwies.98 Die Genter Tafel könnte insofern auch als bildliche Propaganda für seine Stärke und Durchsetzungskraft in Anlehnung an die antiken Vorbilder gedient haben. Der einstige Kampf Titus’ gegen die Juden im 1. Jahrhundert wäre demnach mit dem Kampf Karls des Kühnen gegen die Türken im 15. Jahrhundert gleichzusetzen. Ein aufschlussreiches Beispiel für die bewusste Bildpolitik Karls des Kühnen ist das, von seinem Goldschmied G8rard Loyet gestaltete Lütticher Reliquiar,99 95 Zu den historischen Ereignissen siehe van der Velden, The Donor’s image (s. Anm. 78), S. 164 und S. 91–105. 96 Zu den ehrgeizigen Plänen Karls des Kühnen und das Anstreben der Kaiserkrone vgl. Müller, Herzöge von Burgund (s. Anm. 79), S. 263. 97 Vgl. hierzu Müller, Herzöge von Burgund (s. Anm. 79), S. 259 und 262. 98 Vgl. Müller, Herzöge von Burgund (s. Anm. 79), S. 266f. 99 G8rard Loyet, Reliquiar Karls des Kühnen, Gold, Silber, Email, H (mit Sockel) 53, L 32, B 17,5 cm, Lüttich, Tr8sor de la Cath8drale. Philippe George, Kat. Nr. 66 Reliquiar Karls des Kühnen, in: Marti et. al., Karl der Kühne (s. Anm. 85), S. 252f. Ausführliche Informationen zum Reliquiar sind van der Velden, The Donor’s image (s. Anm. 78), zu entnehmen. Nach der Eroberung von Lüttich 1467 entschied Karl der Kühne dem Heiligen Lambert eine Statue zu stiften. In Folge der erneuten Konflikte mit Lüttich 1468 wurden die ursprünglichen Pläne für die Statue geändert und Karl der Kühne ließ sich mit dem Heiligen Georg darstellen. Vgl. van der Velden, The Donor’s image (s. Anm. 78), S. 152. Zu den Hintergründen der Stiftung und den Veränderungen der Statue siehe auch van der Velden, The Donor’s image (s. Anm. 78), S. 91–105. Einige Details des 1471 gestifteten Reliquiars, wie ein Schwert an der Seite des Burgunderherzogs, sind heute verloren. Siehe hierzu van der Velden, The Donor’s image (s. Anm. 78), S. 87 und Abb. 55, S. 89.
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mit dem er sich zum »neuen Georg« und damit zum »Kämpfer für den Glauben« erklärt.100 Karl der Kühne kniet in antikisierender Rüstung mit einer Fingerreliquie des Heiligen Lambert und lässt sich vom Heiligen Georg empfehlen.101 Dadurch, dass der Heilige Georg die Gesichtszüge Karls des Kühnen trägt, wird der Burgunderherzog als ruhmreicher Krieger inszeniert. Zugleich werden dadurch aber auch die Tugenden auf ihn übertragen, wobei die dargestellte Berührung die Nähe zum Heiligen noch unterstreicht.102 Karl der Kühne inszeniert sich als miles christi und identifiziert sich mit dem Ritterideal.103 Mit der Genter Tafel der Eroberung Jerusalems würde der Burgunderherzog nun in die Rolle des antiken Kaisers Titus104 schlüpfen und als ein von Gott eingesetztes Werkzeug an der Spitze der Christenheit den Kampf gegen die Ungläubigen aufnehmen.105 Das Negativum des zu überwindenden Judentums wiederum wird durch die innerhalb der Darstellung hervorgehobenen Teknophagie der Maria betont. Letztlich kann Karl der Kühne als Auftraggeber der Genter Tafel der Eroberung Jerusalems aufgrund fehlender zeitgenössischer Quellen nicht zweifelsfrei belegt werden. Die Datierung der Tafel um 1468 sowie die Verbindung zum Künstler Justus van Gent sprechen für eine solche Annahme. Die verschiedenen, vorgestellten politischen Lesarten zeigen die Funktionalisierung des kulturellen Wissens um die Eroberung Jerusalems zur Herrschaftsinszenierung des Burgunderherzogs.
100 Vgl. Borchert, Bildnis Karls des Kühnen (s. Anm. 90), S. 80f. Welzel beschreibt die politische Instrumentalisierung und Herrscherinszenierung des Lütticher Reliquiars. Barbara Welzel: Bildnis – Schenkung – Territorium. Zum Reliquiar Karls des Kühnen von G8rard Loyet, in: Porträt – Landschaft – Interieur. Jan van Eycks Rolin-Madonna im ästhetischen Kontext, hg. v. Christiane Kruse/Felix Thürlemann 1999, S. 203–217, vgl. S. 212. 101 Zur kostbaren Materialästhetik vgl. Welzel, Lütticher Reliquiar (s. Anm. 104), S. 207. 102 Der Heilige Georg war weder Namenspatron noch Patron Burgunds, sondern von Karl dem Kühnen als Referent zur legitimatorischen Spiegelung seines Selbstbildes gewählt. Welzel, Lütticher Reliqiuar (s. Anm. 104), S. 209. 103 Maximilian I. und Philipp der Gute ließen sich ebenfalls als Heiliger Georg darstellen. De Schryver, Gebetbuch Karls des Kühnen (s. Anm. 24), S. 26. 104 Die Bronzemedaille Giovanni Candidas (um 1474, Wien, Kunsthistorisches Museum) zeigt Karl den Kühnen als antiken Kaiser, im Profil und lorbeerbekränzt. Vgl. Prochno, Bildnisse Karls (s. Anm. 92), S. 25. 105 Zur Frömmigkeit und Religiosität Karls des Kühnen siehe De Schryver, Gebetbuch Karls des Kühnen (s. Anm. 24), S. 252. Zur nachfolgenden Rezeption durch Maximilian I. siehe Manfred Hollegger : Maximilian I. (1459–1519), Herrscher und Mensch einer Zeitenwende, Stuttgart 2005, S. 32. Zum Selbst- und Fremdbild Karls des Kühnen vgl. Paravicini, Karl der Kühne (s. Anm. 85), S. 40ff.
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Schlussbetrachtung
Anhand der Eroberung Jerusalems werden dynamische Prozesse des kulturellen Wissens und seiner Zeit- und Diskursgebundenheit besonders deutlich. Die Genter Tafel zeigt dieses auf Flavius Josephus’ Bellum Judaicum basierende Wissen im ausgehenden 15. Jahrhundert als es eine Mischung von historischen Fakten, vor allem aber theologischer Anschauung ist. Durch die Anordnung der vielen Episoden in ein größeres Panorama und die diskursive Erzählweise gelingt dem Maler Justus van Gent eine weit über mittelalterliche Illustrationen in Handschriften hinausgehende Verarbeitung des Themas. Die in der Darstellung hervorgehobene Teknophagie der Maria ist nicht nur Schlüsselszene im Zusammenhang des historischen Ereignisses und seiner christlichen Auslegung, sondern wird vom Bildbetrachter des 15. Jahrhunderts vor dem Hintergrund mittelalterlichen Antijudaismus, besonders der Ritualmordvorwürfe, betrachtet. Von einem zugehörigen Kreuzigungsaltar ausgehend, wird dem Betrachter der von der frühchristlichen Kirche hergestellte Kausalzusammenhang von Tat und Gottesstrafe vor Augen geführt. Die Wirkmacht der Genter Tafel wird durch das ergänzende Retabel verstärkt. Das Ensemble stärkt das christliche Selbstvertrauen des Betrachters und »predigt« zugleich das Ende der Juden als auserwähltes Volk. Tafel beziehungsweise Ensemble werden als Träger dieser christlichen Botschaft ebenso funktionalisiert wie durch den Auftraggeber. Das kulturelle Wissen um die Eroberung Jerusalems wird durch Anachronismen der Kleidung und Architektur an das 15. Jahrhundert adaptiert, politisch aktualisiert und durch den Auftraggeber instrumentalisiert. Karl der Kühne als möglicher Auftraggeber angenommen, wird durch die Genter Tafel der Eroberung Jerusalems in eine Ahnenreihe mit dem römischen Kaiser Titus gestellt und demonstriert dadurch wiederum eigene Stärke und Macht.
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Verteufelt – Verändert – Verfälscht – Vergessen. Das Krönungshoroskop von Alexander VI. Borgia im Vatikan
Das Jahr 1492 ist als Jahr der Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus in die Weltgeschichte eingegangen. Im selben Jahr fiel Granada, das letzte maurische Herrschaftsgebiet in Spanien. Damit endete dort die 700jährige muslimische Geschichte. In Rom wurde am 10. August 1492 ein neuer Papst gewählt. Vom künftigen Pontifex wurde die umgehende und resolute Lösung vielschichtiger Probleme erwartet: Belastend wirkten vor allem die starke Korruption des hohen römischen Klerus, Unruhen in vielen Teilen des Kirchenstaates und ständige Angriffe auf den Besitz des Heiligen Stuhls.1 Der gerade verstorbene Papst Innozenz VIII. hatte einen vergeblichen Krieg gegen König Ferrante d’Aragon von Neapel geführt.2 Nicht zuletzt drohte Gefahr von den Türken, die während der beiden vorangegangenen Pontifikate bereits mehrfach italienisches Festland betreten hatten.3 Vor dem Konklave hatten sich die Kardinäle deshalb während einer Messe gegenseitig ermahnt, demjenigen die Tiara zu übergeben, der am besten den Frieden zwischen den christlichen Völkern Europas herstellen könne – damit sie gemeinsam stark gegen die Türken wären.4 Vor die Tür von Alt-St. Peter trat schließlich ein Mann, der zuvor 35 Jahre lang Vizekanzler gewesen war. Während dieser Zeit hatte er großes diplomatisches 1 Der Vatikan erwog, alle Städte und Ländereien des Kirchenstaates unter seine direkte Obergewalt zu stellen. Vgl. Ursula Paal: Studien zum Appartamento Borgia im Vatikan, Dissertation, Tübingen 1981, S. 189. 2 Bei diesem Krieg waren viel Kirchenkapital verschwendet und die Lehensmänner der Kirche in der Folge stark belastet worden. Dadurch kam es zu Streitigkeiten unter den einflussreichen Familien Roms und der Campagna. Vgl. Giovanni Soranzo: Studii intorno a papa Alessandro VI (Borgia), Mailand 1950, S. 4. 3 Paal, Appartamento Borgia (siehe Anm. 1), S. 188. 4 Der Originaltext der capitolazioni elettorali aus dem Jahr 1492 ist nicht erhalten. Der entsprechende Schriftsatz aus dem Jahr 1484 wird jedoch vollständig im Tagebuch des päpstlichen Zeremonienmeisters Burcardus wiedergegeben. Giovanni Soranzo: Studii intorno a papa Alessandro VI (Borgia), Mailand 1950, S. 15, geht davon aus, dass die Formulierungen in zumindest ähnlicher Form auch für 1492 übernommen wurden.
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Geschick und enormes Engagement bei Kreuzzugsplänen an den Tag gelegt. Dass sich der über 60 Jahre alte Spanier Rodrigo Borgia gegen andere höchst ehrgeizige Kandidaten, wie den späteren Papst Julius II., durchsetzen konnte, hatte allerdings nicht nur mit seiner Kompetenz zu tun.5 Er war der mit Abstand reichste Kardinal und seine üppigen Geschenke sowie verführerischen Versprechungen hatten ihm die nötige Zweidrittelmehrheit der Stimmen gesichert.6 Die erste Amtshandlung eines neuen Pontifex ist traditionell seine Namenswahl. Rodrigo Borgia entschied sich für den symbolträchtigen Namen Alexander VI. Das verweist nicht etwa auf den Märtyrer Alexander I. (105–115) oder den Gelehrten und Gegner Barbarossas, Alexander III. (1159–1181), sondern auf Alexander den Großen.7 Bereits im Spätmittelalter hatte dieser makedonische 5 Alexander VI. wurde Anfang der 1430er Jahre als Rodrigo Borja im spanischen J#tiva bei Valencia geboren, ab 1449 ist seine Anwesenheit in Italien nachweisbar. Vgl. Sabine Poeschel: Alexander Maximus. Das Bildprogramm des Appartamento Borgia im Vatikan, Habilitationsschrift, Weimar 1999, S. 33. Nach dem Studium des kanonischen Rechts an der Universität von Bologna (vgl. Peter de Roo: Material for a History of Pope Alexander VI, his Relatives and his Time, I–V, Brügge 1924, Band II, S. 66–69; Schüller-Piroli: Die BorgiaPäpste Kalixt III. und Alexander VI., München 1984, S. 87; Francesco Giorgio: Rodrigo Borgia allo studio di Bologna, in: Atti e memorie delle reverenda deputazione di storia patria per la provincia di Romagna, 3 seria, VVV, 1890, S. 159–195) italianisierte er seinen Familiennamen zu »Borgia« und nahm durch die Protektion seines Onkels Calixtus III. (Pontifikat von 1455 bis 1458) die Positionen als Kardinaldiakon (1456), Gouverneur der Mark Ancona (1456), Kommissar der päpstlichen Truppen in Italien (1457) und Vizekanzler der Römischen Kirche (1458) ein. Calixtus III. förderte Rodrigo von all seinen Familienmitgliedern am meisten. Poeschel, ebd., S. 34, nimmt sicher zu Recht an, dass er damit hohe Erwartungen bezüglich der Weiterführung eigener Ziele verband. Dazu gehörte hauptsächlich der entschlossene Kampf gegen die Türken, den der Neffe tatsächlich als Vizekanzler und während seines Pontifikats konsequent weiterführte und seinen Onkel sowie dessen Nachfolger Pius II. als Vorbilder benannte. Vgl. Alexander VI. – Instructiones diverse vom 4. Juni 1497, zit. nach Johannes Burcardus: Burchardi Argentinensis Johannis Capellae pontificiae sacrorum Rituum Magistri Diarium sive Rerum urbanarum Commentarii (1483–1506). hg. v. L. Thuasne, Paris 1883–1885, hier Bd. II, Appendix, S. 673. Zur Kreuzzugspolitik von Calixtus III. vgl. Michael Edward Mallet: The Borgias. The Rise and Fall of a Renaissance Dynasty, London 1969, S. 48. 6 Zum Verlauf des Konklaves sowie den im Zusammenhang mit der Papstwahl Alexanders VI. erhobenen Simonievorwürfen siehe Stefano Infessura: Römisches Tagebuch, hg. von Hermann Hefele, Jena 1913, S. 261f.; Ludwig Freiherr von Pastor : Geschichte der Päpste seit dem Ausgang des Mittelalters, 16 Bände, Band III, Freiburg/i.Br. 1895, S. 275–278; entgegen Poeschel, Alexander Maximus (siehe Anm. 5), S. 39, wurde Borgia nicht einstimmig gewählt. Die Kardinäle Carafa, Costa, Piccolomini, della Rovere, Bassi und Cybo verweigerten ihm die Zustimmung. Siehe Giuseppe Portigliotto: The Borgias: Alexander VI, Caesar, Lucrezia, New York 1978, S. 25f. 7 Die Namenswahl unterstreicht das generelle Interesse des Papstes an der Antike. Während dessen Pontifikat begannen Ausgrabungen an der Villa Hadriana in Tivoli. Inzwischen verlorene Inschriften an der Decke des von Pintoricchio ausgemalten Palastes vor der Engelsburg stellten Bezüge zwischen römischen Imperatoren und dem Papst her und auf der Piazza Navona wurden mehrfach antike Triumphzüge nachgestellt. Vgl. Poeschel, Alexander Maximus (siehe Anm. 5), S. 40f. Zu den Grabungen in der Villa Hadriana unter Alexander VI. vgl.
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König (346–323 v. Chr.) zum Kreis der neun guten Helden gehört,8 in Italien waren im Verlauf des 14. und 15. Jahrhunderts zahlreiche volkssprachige literarische Werke über sein Leben entstanden.9 Diese christianisieren Alexander den Großen weitgehend und stellen ihn als frommen, geradezu heiligen Wundertäter dar, welcher die Welt als Universalmonarch mit Recht und Frieden beglückt habe. Ende des 15. Jahrhunderts erreichte das Interesse an der Alexander-Sage seinen Höhepunkt. Zahlreiche Reden und Briefe, die anlässlich von Borgias Krönung zum Papst verfasst wurden, belegen, dass die zeitgenössischen Gelehrten, Kleriker und Regenten dessen Namenswahl als klare programmatische Ankündigung einer straffen Regierungsführung sowie des Zieles verstanden, sich – wie der unbesiegte antike Feldherr – die Völker des Orients zu unterwerfen.10 Horst Kähler : Hadrian und seine Villa bei Tivoli, Berlin 1950, S. 18; Salvatore Aurigemma: Die Hadriansvilla bei Tivoli, Rom 1955, S. 62; Joachim Raeder : Die statuarische Ausstattung der Villa Hadriana, Frankfurt/M. 1983, S. 48. 8 Hierbei handelt es sich um einen in der volkssprachigen Literatur beliebten Heldenkatalog, der für die Zeit des Alten Testaments, die griechisch-römische Antike und die christliche Zeit jeweils die drei größten Helden benannte. Zum Kanon der neun guten Helden vgl. Ivo Rauch/ Dagmar Täube (Hg.): Die Gute Regierung. Vorbilder der Politik im Mittelalter. Katalog zur Ausstellung vom 13. Oktober 2000–14. Januar 2001, Köln 2001, passim; Jörg Rogge: Die Bildzyklen in der Amtsstube des Weberzunfthauses in Augsburg von 1456/57, in: Mundus in Imagine. Bildersprache und Lebenswelten im Mittelalter, hg. v. Andrea Löther, München 1996, S. 319–343; Uwe Heckert: Die Ausstattung des Großen Saales im alten Erfurter Rathaus. Ein Beitrag zum politischen Selbstverständnis eines Stadtrats im späten Mittelalter, in: Mundus in Imagine. Bildersprache und Lebenswelten im Mittelalter, hg. v. Andrea Löther, München 1996, S. 303–318. 9 Grundlage war meist die um 1100 entstandene lateinische Historia de preliis. Als älteste vollständig erhaltene italienische Alexanderdichtung gilt die Istoria Alexandri regis von Domenico Scolari aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Zur Entwicklung der Alexander-Literatur vgl. Kerstin Börst/ Ruth Finckh u. a. (Hg.): Herrschaft, Ideologie und Geschichtskonzeption in Alexanderdichtungen des Mittelalters, Göttingen 1998, passim. 10 Der Dichter und Humanist Angelo Poliziano erklärte in seiner Funktion als sienesischer Botschafter bei den Krönungsfeierlichkeiten, dass dem Papst Lob als dem wahren Alexander gebühre und dass er größer als sein antiker Vorgänger sei. Nicolas Tygrinus, Botschafter Luccas, ergänzte, dass es mehr gelte, der Herrscher Roms zu sein als derjenige von Makedonien. Vor allem erregte jedoch die in mehreren Auflagen gedruckte Rede des Gesandten von Savoyen, Pietro Cara, Aufsehen. Dieser äußerte die Hoffnung, dass der Papst als neuer Alexander den der Christenheit feindlichen Königen und Völkern entgegentreten werde. Er forderte ihn auf, die Kirchen zu vereinen und sich den Königen des Orients nach dem Vorbild seines Onkels Calixtus III. als wahrer Alexander zu zeigen. Auch außerhalb der Gratulationsreden wurde die Wahl des Papst-Namens als Verweis auf den berühmten antiken König und Eroberer verstanden. Im August 1492 schrieb Sigismund Gossinger, seit 1491 Student an der Sapienza, an den Humanisten Konrad Celtis: Pontifex summus modernus a cardinalium coetu electus Alexander Papa VIus nomen sibi delegens clarissima ac illustri animi sui ex magnanimitate Alexandrum magnum imitari proponens aggredietur facta pro magna Christianitatis totius consolatione. Zit. Nach Hans Rupprich: Der Briefwechsel des Konrad Celtis, München 1934, S. 60. Zu den Lobreden auf den Borgia-Papst anlässlich seiner Krö-
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Am Krönungstag, dem 26. August 1492, ritt Rodrigo Borgia quer durch Rom zu seiner Titularkirche San Giovanni in Laterano. Dort fand die Krönung am Nachmittag statt. Entlang der Strecke waren zahlreiche Triumphbögen all’antica errichtet worden, die mit dem Stier, dem Wappentier der Borgia geschmückt waren oder auf denen die Unbesiegbarkeit und Göttlichkeit des Papstes betont wurde. Zudem forderten Spruchbänder und Sprechchöre, dass Alexander VI. für Frieden sorgen sowie die christlichen Fürsten aussöhnen und vereinen solle. Doch zunächst hatte der neue Stellvertreter Gottes auf Erden ein ganz weltliches Problem: Er brauchte eine neue Unterkunft im Vatikanischen Palast und entschied sich für einen Teil der ersten Etage des Nordtraktes. Die nach seinem ersten Bewohner benannte Appartamento Borgia benannte Wohnung umfasst fünf Haupt- und drei Nebenräume. Der Papst ließ alle Säle umfangreich aus- und umbauen. Außerdem wurde im Nordwesten der nach ihm benannte BorgiaTurm angebaut.11 Dort entstanden im ersten Obergeschoss zwei weitere Säle, die durch ein etwas höheres Bodenniveau von den übrigen Wohnräumen abgesetzt sind, jedoch durch wenige Treppenstufen von diesen aus erreicht werden können. Alexander VI. beauftragte den umbrischen Maler Pintoricchio und dessen Werkstatt mit der Ausmalung aller Räume.12 Beim realisierten Bildprogramm, nung vgl. Angelo Poliziano: Ad Alexandrum VI. Pont. Max. Angeli Politiani pro Senensium oratribus, in: Orationes clarorum hominum vel honoris officiique causa ad principles vel in funere de virtutibus eorum habitae, Venedig 1559, fol. 36r ; Nicolaus Tygrinus: Ad Alexandrum VI. Pont. Max. Nicolai Tugrini pro Lucensibus, in: Orationes clarorum hominum vel honoris officiique causa ad principles vel in funere de virtutibus eorum habitae, Venedig 1559, fol. 37r ; Pietro Cara: Petri Carae Iurisconsulti & Comitis Ducalis Sabaudiae Senatoris et Legati ad Alexandrum VI. Pont. Maximum Oratio, Rom 1493, in: Orationes clarorum hominum vel honoris officiique causa ad principles vel in funere de virtutibus eorum habitae, Venedig 1559, fol. 78r und 80r ; Bernd-Ulrich Hergemöller: Die Geschichte der Papstnamen, Münster 1980, S. 157–162. 11 Zur Baugeschichte und Ausstattung des Turmes vgl. Francesco Ehrle/ Enrico Stevenson: Gli affreschi del Pintoricchio nell’Appartamento Borgia del Palazzo Apostolico Vaticano, Rom 1897, S. 29–31; James S. Ackerman: Bramante and the Torre Borgia, in: Atti della Pontificia Accademia romana de archeologia, Bd. 25/26, 1949–1951, S. 247–265; dort (S. 250, Anm. 7 und 8) auch die Literatur zur Ansicht des Turmes am Ende des 15. Jahrhunderts. 12 Zuschreibungsfragen an einzelne Mitarbeiter Pintoricchios bleiben trotz zahlreicher stilkritischer Forschungen noch völlig offen und können im Rahmen dieses Aufsatzes ebenfalls nicht unternommen werden. Zusammenfassung der bisherigen Thesen bei Annett Klingner: Pintoricchios Planetenkinder-Fresken in der Sala delle Sibille des Appartamento Borgia (Vatikanische Museen Rom), Magisterarbeit an der Humboldt Universität zu Berlin 2010, S. 15f. Der übereinstimmend vorgetragenen These, dass Pintoricchio an der Ausmalung der Sala delle Sibille gänzlich unbeteiligt gewesen sei, muss jedoch angesichts prägnanter Analogien zwischen der Darstellung der Sibilla Samia in der Sala delle Sibille sowie der bereits 1490 entstandenen Friedensmadonna von Sanseverino Marche und der im direkten Folgeauftrag des Appartamento Borgia nachweislich eigenhändig geschaffenen Madonna aus dem Altarbild der Kirche S. Maria dei Fossi in Perugia widersprochen werden. Siehe Klingner, ebd., S. 16.
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das 86 Bildfelder (davon 44 großformatige Lünetten mit lebensgroßen Figuren) umfasst, handelt es sich um eines der umfangreichsten malerischen Programme des Quattrocento. In den ersten vier Sälen, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, sind jeweils in sich abgeschlossenen Programme wiedergegeben: Szenen des Christus- und Marienlebens bzw. prägnante Lebensstationen verschiedener Heiliger, der Mythos der Io sowie das Leben von Isis und Osiris sowie die sieben freien Künste und die zwölf Apostel als Träger des Glaubensbekenntnisses. Eine Verbindung dieser Themenkreise stellte Ende des 15. Jahrhunderts innerhalb der Freskenzyklen Italiens eine wegweisende Neuerung dar, wenngleich ihr inhaltlicher Zusammenhang bislang unterschiedlich bewertet wurde.13 An zahllosen Stellen ist das Borgia-Wappentier Stier angebracht, sei es als schmückendes Element an Decken und Wänden, innerhalb rahmender Bordüren oder in Verbindung mit dem ägyptischen Isis-Osiris-Mythos. Auf einem Fresko ließ sich der Papst kniend vor dem Sarkophag des auferstandenen Jesus Christus darstellen. Dass eine derart aufwändige Dekoration in nicht unerheblichem Maße der Inszenierung des regierenden Papstes diente und dass er seine Geltungsansprüche mittels eines so umfassenden Bildprogramms formulierte, war ebenfalls ein Novum.14 Dies ist umso bemerkenswerter, als ihm die Räume nicht gehörten und davon auszugehen war, dass sie nach seinem Tod von anderen Päpsten bewohnt werden würden, die dann ständig mit seinen Hinterlassenschaften konfrontiert gewesen wären. Im zweiten Turmzimmer, dessen Ausmalung zwischen dem 18. 12. 1492 und dem 18. 12. 1494 erfolgte,15 erreicht Alexanders Selbstdarstellung einen weiteren 13 Fritz Saxl: The Appartamento Borgia, Vortrag im Courtauld Institute (London, 1945), in: Fritz Saxl Lectures, London 1957, Bd. I, S. 174–188, hier S. 177, konstatiert eine mittelalterlich-enzyklopädische Tradition. Claudia Cieri Via: Mito, allegoria e religione nell’Appartamento Borgia, in: Le arti a Roma da Sisto IV a Giulio II, Rom 1985, S. 104 sowie Dies.: Sacrae effigies e signa arcana: la decorazione di Pintoricchio e scuola nell’ Appartamento Borgia in Vaticano, in: Roma, centro ideale della cultura dell’Antico nei secoli XV e XVI: da Martino Val Sacco di Roma 1417–1527, Mailand 1989, S. 185, S. 195, sieht darüber hinaus die Programmfunktion eines eschatologischen Weges von der Sühne zur Erlösung durch Christus. Poeschel, Alexander Maximus (siehe Anm. 5), S. 240–248, schließt beides aus und schlägt vor, dass das gesamte Bildprogramm unter Bezugnahme auf die christliche Tradition und die Antike von der politischen Zielsetzung Alexanders VI. durchzogen wird. 14 Alexander VI. veranlasste die Anbringung seines Familien- und Papstwappens und seines Wappentieres in zahllosen Varianten. Darüber hinaus ließ er sich selbst, nähere Verwandte und Persönlichkeiten des päpstlichen Hofes darstellen. Diese wurden bislang zwar noch nicht überzeugend identifiziert, einige sehr individuelle Darstellungen dürfen jedoch als Portraits gelten. Vgl. Paal, Appartamento Borgia 1981 (siehe Anm. 1), S. 212f.; Poeschel, Alexander Maximus (siehe Anm. 5), S. 260. 15 Vgl. Klingner, Pintoricchios Planetenkinder-Fresken (s. Anm. 12), S. 20f.
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Höhepunkt.16 Die ornamentale Freskierung der Wandflächen ist heute von einer Stoffbespannung verdeckt. In jede der darüber liegenden drei Stichkappen pro Wandseite wurde ein Lünettenfeld eingeschrieben, das eine Sibylle und einen alttestamentarischen Propheten als Halbfigur zeigt. Daraus leitet sich auch der Name des Raumes, Sala delle Sibille, ab. Die Flächen zwischen den Lünetten nehmen acht oktogonale Felder ein, welche die sieben klassischen Planetengötter Saturn, Jupiter, Mars, Venus, Merkur sowie die beiden Lichter Sonne und Mond mit ihren zugehörigen Tierkreiszeichen und »Kindern« präsentieren. Die Anordnung der acht Fresken entspricht der von Ptolemäus im Tetrabiblos überlieferten »chaldäischen Reihe«, also der Planetensphären-Abfolge in der geozentrischen kosmologischen Ordnung. Bei dieser sind die Planeten nach ihrer Umlaufzeit geordnet. Die Reihenfolge innerhalb des Raumes wurde jedoch auch darüber hinaus sehr bewusst angelegt. So ist das Apollo-Bildfeld (Abbildung 1) direkt gegenüber der Tür zur benachbarten Sala del Credo platziert. Dadurch musste es dem durch diesen Zugang eintretenden Gast zwangsläufig zuerst auffallen. Sowohl die besondere Positionierung als auch das Motiv, auf das noch einzugehen sein wird, verweisen auf seine exponierte Rolle. Das obere Drittel der Bildflächen bleibt jeweils den Göttern vorbehalten, die den Himmel auf Triumphwagen von links nach rechts durchqueren. Ihre Gefährte werden von den Symbolen derjenigen Tierkreiszeichen flankiert, welche die ›Häuser‹ des betreffenden Planeten sind. Eine Ausnahme in der Art der Darstellung bildet lediglich die frontal gezeigte Venus (Abbildung 2). Auf deren Fresko tauchen zudem Borgia-Stiere als Zugtiere des göttlichen Gespanns auf. Diese besondere Präsentation sowie die in der Sala delle Sibille nur im VenusBildfeld vorhandenen Vergoldungen lassen auf eine herausragende Bedeutung dieses Freskos schließen. Das Prinzip der Planetenkinder basiert auf der Überzeugung, dass die Menschen in ihrem Aussehen, Wesen und Verhalten von dem Gestirn geprägt sind, unter dessen Einfluss sie geboren wurden.17 Daher zeigen die jeweils unteren Bildhälften Menschengruppen bei Tätigkeiten, die ihrer jeweiligen Bestimmung entsprechen. Neben den sieben Fresken der Planetenkinder steht ein achtes, das 16 Beschreibung des Raumes und sowie ikonografische und ikonologische Erörterung der einzelnen Bildfelder bei Klingner, Pintoricchios Planetenkinder-Fresken (s. Anm. 12), S. 24–33; 52–73. 17 Dabei war in der Regel derjenige Planet entscheidend, der im Moment der Geburt am östlichen Horizont aufging. Häufig verfügte jedoch niemand vor Ort über die nötigen Kenntnisse zum Erstellen eines Horoskops. In diesen Fällen wurde der Geburtsstern über den Zahlenwert des Namens ermittelt. Zum Bildmotiv der Planetenkinder siehe Annett Klingner : Die Macht der Sterne. Planetenkinder: ein astrologisches Bildmotiv in Spätmittelalter und Renaissance, Berlin 2017.
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Abb. 1: Apollo und seine Kinder, Sala delle Sibille, Appartemento Borgia, Vatikanische Museen, Rom
die Astrologie repräsentiert. Die Sternwissenschaft wird dort nicht in Form einer Allegorie symbolisiert, sondern durch eine Armillarsphäre, unter der sich eine Gruppe diskutierender Astrologen aufhält. Während das Appartamento Borgia wiederholt Gegenstand intensiver kunsthistorischer Untersuchungen gewesen ist,18 fand der Planetenkinder-Zyklus nur selten Beachtung. Im Zuge der Forschungen über diese Papstwohnung wurde er häufig erwähnt, jedoch nicht intensiv begutachtet. Ein Grund hierfür könnte neben der Raumhöhe im schlechten Zustand der Fresken liegen. Dieser erlaubt kaum, wesentliche Details zu untersuchen.19 Um 1890 waren die Räume umfassend fotografisch dokumentiert worden. Die Aufnahmen der Planetenkinder-Fresken zeigen, dass damals noch erheblich mehr Details erkennbar waren. Mitte des 20. Jahrhunderts haben jedoch Fußbodenarbeiten in den über 18 Zusammenfassung des Forschungsstandes zum Appartamento Borgia: Klingner, Pintoricchios Planetenkinder-Fresken (s. Anm. 12), S. 2f. 19 Restaurierungsgeschichte des Appartamento Borgia und insbesondere der Sala delle Sibille bei Klingner, Pintoricchios Planetenkinder-Fresken (s. Anm. 12), S. 11f.
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Abb. 2: Venus und ihre Kinder, Sala delle Sibille, Appartemento Borgia, Vatikanische Museen, Rom
dem Appartamento Borgia liegenden Raffael-Stanzen stattgefunden, bei denen Wasser durch die Decke in die Sala delle Sibille drang. Außerdem waren die Bildwerke während Restaurierungsarbeiten Anfang der 1970er Jahre gereinigt worden. Dabei ging dem neben dem Staub auch ein Teil des ursprünglichen Farbauftrags verloren.20 Die Lünetten, Oktogone und Tondi wurden gesäubert, gekittet und dabei deren Farbigkeit reduziert.21 Eine malerische Rekonstruktion der Figuren erfolgte nicht. Fotos der Planetenkinder-Fresken vor, während und 20 Der verantwortliche Restaurator stellte in seinem Bericht fest, dass er den Hauptteil der dortigen Fresken übermalt vorfand. Mit dieser Maßnahme waren seiner Meinung nach Feuchtigkeitsschäden überdeckt worden, die durch »Jahrhunderte langes Wassertropfen«, aber auch »durch einen Wasserschaden im Zuge von zwanzig bis dreißig Jahre zurückliegenden Fußbodenarbeiten in den darüber liegenden Raffael-Stanzen« entstanden waren. Ottemi della Rotta: Relazione sul restauro delle pitture murali nell’Appartamento Borgia, Maschinenschrift, Citt/ del Vaticano März 1973, S. 12. Abschrift und Übersetzung des Restaurationsberichtes bei Klingner, Pintoricchios Planetenkinder-Fresken (s. Anm. 12), S. 103. 21 Wenn die Tempera-Übermalung zu stark mit dem Untergrund verklebt war, wurde ein Teil der Schichten abgetragen, die jeweilige Zone mit einem Fixativ bestäubt, der Grund gespachtelt und mit einer Lückenfarbe ausgefüllt.
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nach den Restaurierungsarbeiten belegen, dass sich der Zustand durch die Konservierungsmaßnahmen keineswegs verbesserte, sondern dass weitere wertvolle Bilddetails zerstört worden sind.22 Bei der Untersuchung der Darstellungen war es deshalb erforderlich, neben aktuellem Fotomaterial auch dasjenige aus dem Jahr 1890 zu begutachten. Was veranlasste den Papst, ausgerechnet im Zentrum des Christentums, im apostolischen Palast, Bildwerke astrologischer Thematik zu beauftragen und dafür Darstellungen der Planetenkinder zu wählen? Im 15. Jahrhundert wurde die Astrologie noch nicht als esoterische Randerscheinung gesehen, sondern stand als eine der sieben freien Künste in voller Blüte. Im geozentrischen Weltbild schien das Schicksal der Menschen vom Lauf der Planeten bestimmt, welche als Ausdrucksmittel Gottes galten.23 Wenn Sterndeutung zum Zweck des Lesens und Erkennens des göttlichen Willens erfolgte, stand sie nicht im Gegensatz zur christlichen Lehre. Als Geheimwissenschaft blieb sie jedoch an Höfe gebunden, wo sie von deutschen und italienischen Herrschern, aber auch den Regenten Spaniens, Frankreichs, Englands, Dänemarks und Ungarns gefördert wurde.24 An Universitäten war die Sternkunde ebenfalls fest etabliert. Auch die Kirche ließ die Astrologen samt ihrer heidnischen Planetengötter und Horoskop-Deutungen folgenlos gewähren, obwohl judiziarische Astrologie und der Konjunktionalismus25 längst verboten waren. Selbst Päpste beauftragten Horoskope.26 Auch Alexander VI. hatte bereits 22 Fotos vom Zustand der Fresken vor, während und unmittelbar nach der Restaurierung bei Klingner, Pintoricchios Planetenkinder-Fresken (s. Anm. 12), Abb. 27–30; 81–110. 23 Paul Abelson: The seven liberal arts, New York 1906, S. 119; Anton Hauber : Planetenkinderbilder und Sternbilder : zur Geschichte des menschlichen Glaubens und Irrens, Strasburg 1916, S. 229f. 24 Listen der Regenten, die an die Astrologie glaubten und sie förderten, erstellte Rantzau (Ranzovius) Henricus: Exempla, quibus astrologicae scientiae certitudo […]collectus, Frankfurt/M., 1602. 25 Konjunktionalismus: eine Lehre, die durch Al-Kindi, Ma¯ˇsa’alla¯h und Abu¯ Ma’sˇar etabliert wurde und bei der die Konjunktionen der beiden langsamen Planeten Jupiter und Saturn zur Prognose der Abfolge von politischen Weltherrschaften sowie der Weltreligionen herangezogen wurden. Vgl. hierzu: Kita¯b-al quirant Abu¯ Ma’sˇar : De magnis coniunctionibus et annorum revolutionibus ac eorum profectionibus, Augsburg 1489 und Venedig 1515. Englische Übersetzung des Werkes: Keiji Yamamoto/ Charles Burnett, Leiden 2000. Zum Konjunktionalismus generell: Bartel Leendert van der Waerden: Die Astronomie der Griechen. Eine Einführung, Darmstadt 1988, S. 246; David John North: Astrology and the Fortunes of Churches, in: Centaurus 24 (1988), S. 188f. 26 Paul II. (1464–1471) bestätigte in seiner Krönungsrede, an astrologische Vorhersagen zu glauben. Vgl. Wilhelm Knappich: Geschichte der Astrologie, Frankfurt/M. 1988, S. 204. Papst Sixtus IV. (1471–1484) beschäftigte mehrere verbeamtete Astrologen, die ihm günstige Termine für Empfänge und Staatsgeschäfte errechneten. Vgl. Marco Maroldi: Marcii Maroldii oratorio in Epiphania, Rom 1475; Alessandro Cortesi: Oratio in Epiphania, Rom 1483, unpaginiert. Leo X. (1513–1521) schätzte die Arbeiten des neapolitanischen Astrologen Augustinus Niphus so hoch ein, dass er ihm gestattete, das Hauswappen der Medici zu
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während seiner Amtszeit als Vizekanzler die Dienste zahlreicher Astrologen in Anspruch genommen und darüber hinaus Mystiker wie Beata Colomba da Rieti konsultiert.27 In seinem Kardinalspalast gab es sogar eine camera stellata.28 Als Papst ließ Alexander VI. mehrere Astrologen für sich arbeiten.29 Ihre Aussagen, u. a. zur Präsentation seines Pontifikats als Werk göttlicher Vorsehung, zum Verlauf bestimmter Jahre oder der Dauer seiner Regentschaft, nutzte er gezielt.30
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führen. An der päpstlichen Universität, der Sapientia, richtete der Pontifex im Jahr 1520 einen Lehrstuhl für Astrologie ein. Auch an den Universitäten von Bologna, Padua, Ferrara, Rom, Neapel, Paris und Krakau wurde Sternkunde gelehrt. Eine begriffliche Trennung zwischen Astrologie und Astronomie existierte im 15. und 16. Jahrhundert noch nicht. Georges Minois: Die Geschichte der Prophezeiungen. Orakel, Utopien, Prognosen, Düsseldorf 2002, S. 348; Franz Boll: Sphaera. Neue griechische Texte und Untersuchungen zur Geschichte der Sternbilder, [Leipzig, 1903], Hildesheim 1967, S. 434–439. Zu Beata Colomba da Rieti vgl. Eckart Sauser : Proprium des Dominikanerordens. Feier des Stundengebetes, Proprium der Heiligen, Köln 1991, S. 375f. Von diesem Raum ist weder eine Beschreibung noch der Name des ausführenden Künstlers überliefert, wohl aber die Notiz des Notars Camillo Beneimbene, der darin den Ehevertrag zwischen Giulia Farnese (der späteren Geliebten Alexanders VI.) und Ursinus Orsini ausgehandelt hatte: Actum in dominibus prefati Rmi D. Vicecancellari in cam. stellarum presente ipso Rmo […]. Vgl. Ferdinand Gregorovius: Lucrezia Borgia. Nach Urkunden und Briefen ihrer eigenen Zeit, Stuttgart 1874, Anhang, S. 10. In der Gratulationsrede nach Borgias Wahl zum Papst berief sich der Botschafter Antonius Manilius auf astrologische Konstellationen. Siehe Antonius Manilius: Oranio Antonii Manilii Britonoriensis pro Britonoriensibus ad Alexandrum Sextum Pontificem Maximum, in: Orationes clarorum hominum vel honoris officiique causa ad principes vel in funere de virtutibus eorum habitae, Venedig 1559, fol. 66r/v. Spätestens ab 1493 stand Bonetus de Latis in päpstlichem Dienst. Der in Frankreich verfolgte Jude wurde von Alexander VI. sogar zum Leibarzt und Hofastrologen erhoben und blieb auch unter den Päpsten Julius II. und Leo X. im Amt. Er erstellte Voraussagen für Alexander VI. sowie Cesare Borgia und schrieb dem Pontifex ein Prognostikon für das Jahr 1493. Bonetus de Latis: Prognosticon anni MCCCCLXXXXIII, Rom 1493. Lorenz Beheim und Gaspare Torella erarbeiteten nachweislich astrologische Berechnungen für Cesare Borgia. Vgl. Emil Reicke (Hg.): Willibald Pirckheimers Briefwechsel, 1. Band, München 1940, S. 539. Zu Torellas astrologischer Tätigkeit im Auftrag des Borgia-Sohnes vgl. Filippo Maria Renazzi: Storia dell’ universit/ degli studi di Roma detta communemente ›La Sapienza‹, Rom 1803/4, Band II, S. 228. Noch 1501 berichtete Carlo Canale, der Ehemann von Alexanders VI. ehemaliger Geliebter und Mutter von vier seiner Kinder, Vanozza Cattanei, in einer Depesche über die Verbindungen des Papstes zu Astrologen: »Das neunte Jahr des Pontifikats des jetzigen Papstes hat begonnen, welcher sich über die Astrologen belustigt und ihnen sagt, er habe noch weitere neun Jahre zu leben. Einer hat ihm gesagt, dass das sein könne, aber mit Schwierigkeiten im Amt. Darauf sagte ihm der Papst, und er hat dies in der Vergangenheit schon viele Male gesagt, dass ihm 18 Jahre im Amt vorbestimmt seien und dass derjenige, der ihm vorausgesagt habe, dass er Papst werden würde, ihm dies bestätigt habe und auch, dass er einen seiner Söhne zum König machen müsse.« Carlo Canale: Dispaccio vom 15. August 1500, bei Alessandro Luzio: Isabella d’Este e i Borgia, in: Archivio storico Lombardo 41 (1914), S. 521. Übersetzung nach Poeschel, Alexander Maximus (siehe Anm. 5), S. 198. Aus dem Schriftstück geht weder hervor, welcher Astrologe Alexander VI. diese Prognose gestellt noch wer ihm das Pontifikat vorausgesagt hatte. Letztere Prophezeiung fügt sich aber blendend in die Reihe der Pontifikats-Vorhersagen für seine Vorgänger, wie z. B. Nikolaus V., Calixtus III.
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Zur Funktionalisierung der Prognosen und Darstellung seines Geltungsanspruches boten sich Planetenkinder-Darstellungen geradezu an: Ihre Bedeutung wurde von den Besuchern des Appartamento Borgia, die in der Regel über ein Mindestmaß an astrologischem Wissen verfügten, sofort verstanden. Dennoch war der selbstbewusste Inhalt geschickt in diesen Ende des 15. Jahrhunderts hochpopulären Bildtyp integriert. Die Fresken antworten auf die wichtigsten vor dem Amtsantritt Alexanders formulierten Forderungen. Als sie an die Decke der Sala delle Sibille gemalt wurden, waren bereits anderthalb Jahre Regierungszeit vergangen, während derer der Papst den Kampf »gegen die Türken und jeglichen Unglauben« als vorrangige Aufgabe aufgenommen hatte.31 Traktate waren formuliert worden, die seine Person über die weltlichen Fürsten stellten und dadurch das Papsttum stärkten. Bereits acht Monate nach seiner Krönung hatte Borgia ein Bündnis zwischen Mailand, Venedig und dem Kirchenstaat32 sowie eine weitere Allianz durch die Verheiratung seines Sohnes Juan ins spanische Königshaus erreicht.33 Die Kardinals-Erhebungen seines Neffen Juan Borgia-Lancol und des erst 17-jährigen Sohnes Cesare sowie die Hochzeit von Tochter Lucrezia ins Fürstentum Mailand stärkten die Macht der Familie.34 Die Ernennung einer großen Zahl nicht-italienischer Kardinäle, die er unter den Prälaten europäischer Hauptmächte auswählte, riss den italienischen Kirchensenat aus seiner Isolierung und verschaffte der Kurie neue, überaus wichtige Kontakte zur christlichen Staatenwelt.35 Zudem gewährte der Papst Juden und Mauren Asyl in Rom und entwickelte eine eifrige Bekehrungstätigkeit, die zu zahlreichen Taufen führte. Per Federstrich (Raya) vom Nord- zum Südpol sowie der Bulle Inter Caetera hatte er im Mai 1493 die von
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oder Sixtus IV. ein. Der Borgia-Papst nutzte die Astrologie offenbar gezielt, um an diese Prognosen anzuknüpfen. Zu vergleichbaren Prophezeiungen für Calixtus III. vgl. Poeschel, Alexander Maximus (siehe Anm. 5), S. 199; zur Voraussage für Sixtus IV. vgl. Vincenzo Pacifi: Un carme biografico de Sisto IV del 1477, Tivoli 1922, S. 6; Federico Patetta: Venerino de Prioribus, umanista ligure del secolo XV, Citt/ del Vaticano, 1950, S. 315f. Peter de Roo, Pope Alexander VI. (siehe Anm. 5) S. 465f. (Dok. 87). Die Absicht, gegen die Türken vorzugehen, äußerte er während seines gesamten Pontifikats. Siehe hierzu: Soranzo, Papa Alessandro VI. (siehe Anm. 4), S. 131–194; Poeschel, Alexander Maximus (siehe Anm. 5), S. 46f. In einem Breve an König Maximilian beschrieb er das Vorrücken der Türken auf dem Balkan und tadelte dessen Untätigkeit gegenüber dem Feind der Christenheit. Vgl. Alexander VI., Breve Tertius nunc an Maximilian vom 2. Oktober 1493; zit. bei Poeschel, Alexander Maximus (siehe Anm. 5), S. 45. Dieses Bündnis wurde am 25. April 1494 geschlossen. Siehe Joachim Brambach: Die Borgia. Faszination einer Renaissance-Familie, München, 1997, S. 103. Vgl. Brambach, Die Borgia (siehe Anm. 32), S. 103. Vgl. Volker Reinhardt: Der unheimliche Papst. Alexander VI. Borgia 1431–1503, München 2005, S. 84–100. Vgl. Schüller-Piroli, Die Borgia-Päpste (s. Anm. 5), S. 148f.
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Kolumbus und seinen Nachfolgern entdeckten Territorien der neuen Welt zwischen Spanien und Portugal aufgeteilt. Dem von ihm legitimierten neuen Eremitenorden, den Minimen, den er mit allen Privilegien der alten Bettelorden ausgestattet hatte, vertraute er die Missionstätigkeit dieser Ländereien an.36 In den Planetenkinder-Fresken werden die pontifikalen Leistungen präsentiert: So hat der Papst im Apollo-Fresko (Abbildung 1) die irdischen Würdenträger nicht nur um sich versammelt, sondern auch friedlich geeint. Links neben ihm sitzt ein Kaiser. Der König zu seiner Rechten hebt gerade die Schwurhand, um einen Gehorsamseid zu leisten. In der hinteren Reihe gruppieren sich Vertreter der wichtigsten geistlichen Orden, des Militärs und Adels. Zusammen bilden sie unter der Führung des Borgia-Papstes eine starke, friedliche und vereinte christliche Macht. Doch warum ließ sich Alexander VI. unter Apollo darstellen? Obwohl der Sonnengott im antiken und frühchristlichen Rom zum Reichsgott erhoben und von amtierenden Herrschern häufig als Verschmelzungs-Divinität gewählt worden war,37 steht die Sonnenverehrung als natürliche Religion der Offenbarungsreligion des Christentums zwangsläufig konträr gegenüber. Insofern hätte sich der Borgia-Papst ohne eine kanonisierte Verbindung der Häresie schuldig gemacht. Doch die katholische Theologie ist keineswegs frei von religiöser Wertschätzung der Sonne. Bereits seit dem Ende des 2. Jahrhunderts gab es Versuche, bei christologischen Aussagen auf diese zu rekurrieren. Das Gebiet, auf dem sich eine grundlegende theologische Stellungnahme am unmittelbarsten anbot, war der Grundsatz der Schöpfungsgeschichte nach Genesis 1. Theophil von Antiochien kommentierte diesen entsprechend: »Am vierten Tag wurden die Lichter erschaffen. Gott kannte in seinem Vorherwissen die Faseleien törichter Philosophen, dass sie nämlich behaupten würden, die Erzeugnisse der Erde verdankten den kosmischen Elementen ihren Ursprung, damit sie keinen Gott brauchten. Deshalb wurden, damit die Wahrheit klar hingestellt werden würde, die Pflanzen und Samen vor den Elementen erschaffen. Es kann ja nun das später Gewordene nicht das früher Gewordene hervorbringen«.38
Aus christlicher Sicht gab es keinen Zweifel daran, dass Wert und Würde der Sonne aus ihrem Status als Geschöpf resultieren – und auch darin begrenzt sind. Auf dieses kritische Moment konnte man sich jederzeit zur Abgrenzung gegenüber der paganen Sonnenverehrung berufen. Seit dem vierten Jahrhundert ist zudem ein Bezug der Sonnenmetaphorik auf Christus nachweisbar. Als bi36 Vgl. Anneliese Dangel: Alexander von Humboldt. Sein Leben in Bildern. 1769–1859, Leipzig, 1959, S. 20; Schüller-Piroli, Die Borgia-Päpste (s. Anm. 5). 37 Vgl. Klingner, Pintoricchios Planetenkinder-Fresken (s. Anm. 12), S. 55f. 38 Zit. nach Martin Wallraff: Christus versus sol. Sonnenverehrung und Christentum in der Spätantike, Münster 2001, S. 41.
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blische Entsprechung fungiert dabei die messianische Weissagung des auch in der Sala delle Sibille abgebildeten Propheten Sacharja: »Siehe ein Mann, Aufgang ist sein Name« (Sach 6,12).39 Zudem wurde der Titel »Sonne der Gerechtigkeit« aus Maleachi (Mal 3,20) übernommen, der sich in der Folge zum festen Topos in der christlichen Literatur entwickelte. Und schließlich wurde in bestimmten Fällen mit einem doppelten Sonnenbegriff operiert. Dabei trat zur christologisch verstandenen Sonne der Gerechtigkeit eine weitere, die Gott »aufgehen lässt über Bösen und Guten« (Mt 5,45). Martin Wallraff stellt in seiner Studie zur Verbindung von Sonnenkult und Christentum fest, dass ersterer von letzterem überboten wird.40 Dies ermöglichte es, solare Attribute für Christus problemlos zu adaptieren. Die Positionierung von Papst Alexander VI. unter Apollo demonstriert also zunächst seine Gottesnähe. Er präsentiert sich als frommer Mann, der – wie alle Menschen, inklusive der weltlichen Regenten und Militärs – dem triumphierenden Jesus Christus untergeordnet ist. Dennoch bezeugen seine zentrale Position und der Segensgestus, dass er innerhalb der irdischen Gemeinde die entscheidende Sonderstellung einnimmt. Eingesetzt durch Gottes Gnade folgt er in der Rangfolge direkt auf den Heiland und lässt nun seinerseits die Sonne in all ihrer christologischen Metaphorik über die Menschen erstrahlen. König und Kaiser huldigen ihm und erbitten seinen Beistand. Doch der Papst segnet nicht nur die Regenten, sondern den ganzen Raum – als pars pro toto für die Menschheit. Hier inszeniert Alexander seine eigene Person, indem er das BildWissen seiner Mitmenschen abruft, seine eigenen politischen Botschaften andockt und dadurch seine einzigartige Geltung als weltlicher sowie klerikaler Herrscher herausstellt. Auch das bereits durch die frontale Darstellung auffallende Fresko der Venus (Abbildung 2) ist in überaus deutlicher Weise mit dem Papst verknüpft. So wurde die Landschaft am linken Bildrand analog zu derjenigen seines Geburtsortes Jativ/ gestaltet (Abbildung 3 und Abbildung 4). Die Liebesgöttin kommt mit ihrem Stiergespann aus der Richtung dieser spanischen Stadt angefahren. Dabei legt die Zusammengehörigkeit der Venus und der Borgia-Bullen eine genealogische Verbindung nahe. Eine Darstellung an der Decke der Sala dei Santi (einem anderen Raum des Appartamento Borgia) bringt Osiris mit dem heraldischen Motiv des Pontifex in Verbindung und erklärt den ägyptischen Stier-Gott dadurch zum Urahn der Familie.41 In der Sala delle Sibille wird die Venus ebenfalls zur Urmutter der Borgia und die Herkunft der Familie damit auf 39 Allerdings bezieht sich Sacharjas Spruch dort nicht auf die Sonne. Siehe Klingner, Pintoricchios Planetenkinder-Fresken (s. Anm. 12), S. 76f. 40 Vgl. Wallraff, Christus versus sol (s. Anm. 38), S. 157. 41 Vgl. Poeschel, Alexander Maximus (siehe Anm. 5), S. 165.
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den Gründungsmythos der Stadt Rom zurückgeführt.42 So wird für Alexander VI. als Regenten einerseits entsprechend der üblichen mittelalterlichen Praxis eine mythologische Genealogie kreiert. Zugleich ist er in mehrfacher Hinsicht als der ideale Herrscher Roms gezeigt: Seine pagan-göttlichen Vorfahren Osiris und Venus bieten ihm die genealogischen Voraussetzungen. Und die Berufung als irdischer Stellvertreter des christlichen Gottes bestätigt ein weiteres Mal die herausragende Einzigartigkeit des Borgia-Papstes.
Abb. 3: Venus und ihre Kinder (Detail) Sala delle Sibille, Appartemento Borgia, Vatikanische Museen, Rom
Die mit ihrem Sohn Amor auftretende Venus verkörpert traditionell die Prinzipien »Anziehung« und »Verschmelzung«.43 Daher ist sie in der Regel wenig oder gar nicht bekleidet dargestellt.44 In der Sala delle Sibille deuten jedoch lediglich ihr dekolletiertes Kleid, die entblößten Unterarme und ihr volles, wallendes blondes Haar eine erotische Komponente an. Signifikante VenusAttribute (z. B. Spiegel, Kamm, Muschel, Schmuck, Pfauenfedern oder Rosen) fehlen jedoch und sind durch einen Pfeil ersetzt, den die Göttin mit dem rechten Arm emporstreckt. Dieses Motiv der bewaffneten Venus kam schon im antiken
42 Der Sage nach war Aeneas der Sohn von Venus und Anchises. Die Liebesgöttin führte ihn mit dem alten Vater zunächst sicher aus dem untergehenden Troja, später gründete sein Sohn Iulus Ascanius die Mutterstadt Roms, Alba Longa. Auf Aeneas und die mythologische Abstammung von Venus berufen sich die Julier, bis hin zu Gaius Julius Caesar und seinen Adoptivsohn Octavian. Nach Vergil (Aeneis 6, 763) soll Silvius der Nachfolger seines Bruders Iulus Ascanius in Alba gewesen sein. 43 Zur Ikonografie der Venus und ihrer Kinder vgl. Hauber, Planetenkinderbilder (s. Anm. 23), S. 134–137. 44 Vgl. Hauber, Planetenkinderbilder (s. Anm. 23), S. 135.
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Abb. 4: Festung Jativ#, 1789
Rom vor.45 Es wurde in der späten Republik häufig mit einem Sieg in Verbindung gebracht46 und von großen Feldherren im Rahmen einer elitären Wissens-Inszenierung für politische Propaganda genutzt, um schließlich als Venus victrix mit dem Kaiserhaus assoziiert zu werden.47 In seiner Dissertation zur Venus armata fasst Johan Flemberg zusammen: »Der Sinn des Motivs dürfte ziemlich allgemein sein: Venus als Ahnherrin der Iulier (Genetrix) und als Siegeshelferin (Victrix)«.48 Im 15. Jahrhundert waren Darstellungen der bewaffneten Venus bekannt und gebräuchlich,49 auch in anderen Planetenkinder-Darstellungen findet das Motiv Verwendung.50 45 Caesars Siegelring zeigte z. B. eine bewaffnete Liebesgöttin, nach seinem Tod wurde das Schmuckstück von Octavian und anderen Mitgliedern der gens Iulia getragen. Diese Venus kommt auch in der sog. Triumphalprägung des Octavian und auf Münzen der nachfolgenden Kaiser bis Commodus vor. Vgl. Konrad Kraft: Zur Münzprägung des Augustus, Wiesbaden, 1978, S. 291–337. Zum Motiv der bewaffneten Venus im antiken Rom vgl. Johan Flemberg: Venus Armata. Studien zur bewaffneten Aphrodite in der griechisch-römischen Kunst, Stockholm, 1991, S. 110f. 46 Die Beziehung der Venus victrix zum Sieg wird auf Darstellungen deutlich, auf denen die Göttin Palmzweig und Apfel statt Speer und Helm trägt und der Schild weggelassen ist. Zu diesem Motiv vgl. den Sesterz der Julia Domna (P. Hoeg Albrethsen: Romerske mönter i Ny Carlsberg Glyptotek, Kopenhagen 1982, Nr. 97) sowie den Aureus des Septimius Severus für Julia Domna (Carol H.V. Sutherland: Roman coins, London, 1974, Nr. 398–399). 47 Flemberg, Venus Armata (s. Anm. 45), S. 115. 48 Flemberg, Venus Armata (s. Anm. 45), S. 111f.; K. Kraft: Der behelmte Alexander der Große, in: Zeitschrift für Numismatik und Geldgeschichte 15 [1978], S. 14 spricht von den Waffen des Mars, die Venus nach dem Sieg in der Schlacht jeweils in Verwahrung nimmt. 49 Vgl. z. B. Niccolk Fiorentinos Medaille für Giovanna Tornabuoni sowie die Frontispize des Iudicum Lipsense für 1489/90 und 1494 des Wenzel Fabri. 50 Z. B. im Mittelalterlichen Hausbuch (Süddeutschland 1470/80) oder auf den so genannten Baccio-Baldini-Kupferstichen (Florenz, ca. 1460).
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Venuskinder werden in der Regel beim Musizieren, Baden, Tanzen oder bei Liebkosungen gezeigt, insofern ist ihre Darstellung als plaudernde Gemeinschaft höchst ungewöhnlich. Nur in einer fast 100 Jahre zuvor entstandenen Serie war ebenfalls auf sinnliche Beschäftigungen verzichtet worden: auf dem Venusbild der ältesten bekannten Planetenkinder-Illustrationen in Christine de Pizans51 um 1400 entstandenem Pp%tre d’Oth8a / Hector.52 Dort ist dennoch ein Bezug zur körperlichen Liebe intendiert. Denn die Göttin sammelt in ihrem gerafften Rock die Herzen von Menschen, welche diese ihr leichtfertig entgegenstrecken Der zugehörige Text warnt aus diesem Grund ausdrücklich vor ihr. Eine tugendhafte Zurückhaltung der Venuskinder, wie in der Sala delle Sibille gezeigt, bleibt somit innerhalb der Planetenkinder-Darstellungen einmalig. Statt der üblichen (auf die Liebe verweisenden) Symboltiere, der Tauben bzw. Schwäne, ziehen – ebenfalls nur im Appartamento Borgia – Stiere den Götter-Wagen. Diese haben als eines der beiden Tierkreiszeichen der Venus53 sowie als Wappentier Alexanders VI. eine Doppelbedeutung. Der Verzicht auf jegliche sinnliche Assoziation bei der Darstellung der Venus-Kinder legt nahe, dass das Fresko keine Venus vulgaris, sondern eine Venus coelestis meint. Diese erstmals in Platons Symposion getroffene Zweiteilung der Liebesgöttin, bei der körperliches Begehren abgewertet und Tugendhaftigkeit idealisiert wird,54 erhielt 1484 durch den Neuplatoniker Marsilio Ficino ihre philosophische Formulierung und christliche Erweiterung: Liebe sei lediglich ein anderer Begriff für die wechselseitige Zuneigung von Gott und Menschen. Das größte Ziel der Liebe sei es, zu Gott zu gelangen.55 Ficino verweist dabei auf die Bibel. Dort ist nach dem ersten Brief des 51 Christine de Pizan hatte als Tochter des Hofastrologen von König Karl V., Tommaso de Pizzano, Kenntnisse der Astrologie erworben. Zu Tommaso de Pizzano vgl. Margarete Zimmermann: Christine de Pizan, Reinbek b. Hamburg 2002, S. 19. 52 Sandra Hindman widmete den beiden Handschriften dieses Textes (heute in der British Library, London, MS Harley 4431, und der BibliotHque Nationale in Paris, MS fr. 606) eine ausführliche Studie. Vgl. Sandra L. Hindman: Christine de Pizan’s ›Epistre Othea‹. Paintings and Politics at the court of Charles VI, Toronto 1986.Christine hielt ihre Vorstellungen über das Aussehen der Planetenminiaturen schriftlich fest. Dabei schrieb sie den Miniaturisten vor, die Planeten als höfisch gekleidete Figuren vor einem gestirnten Himmelssegment darzustellen und sie durch Wolken von ihren Kindern auf der Erde zu trennen. In den entstandenen Illustrationen drücken die Wandelsterne mit intensiven Gebärden ihren Einfluss auf ihre Kinder aus; diese huldigen den Himmelsherrschern oder üben eine ihnen zustehende Tätigkeit aus. Vgl. Anna Rapp-Buri/ Monica Stucky-Schürer : Die sieben Planeten und ihre Kinder: eine 1547–1549 datierte Tapisseriefolge in der Fondation Martin Bodmer, Basel 2007, S. 80, Anm. 26.; Zimmermann, Christine de Pizan (s. Anm. 51), S. 125. 53 Sie beherrscht den Stier und die Waage. 54 Physische Liebe ist für Platon lediglich ein nachrangiger Aspekt menschlichen Begehrens, welches jedoch stets in intellektuelle Kontemplation verwandelbar ist. Vgl. Platon: Symposion 201d–212c. 55 Marsilio Ficino benannte in seinem 1484 veröffentlichten Commentarium in convivium Platonis de amore zwei Venus-Typen, welche die unterschiedlichen Seiten der Liebe reprä-
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Johannes (1 Joh 4) Gott die Liebe selbst und die Liebe der Menschen zu ihm die geforderte Antwort. Im Evangelium des Matthäus (Mt 22, 36–40) ist die Liebe von und zu Gott sowie zu den Mitmenschen das wichtigste Gebot.56 Auch der zweite Brief des Petrus (2 Petr 1,5–8) beinhaltet eine Reihe von Eigenschaften, an deren zentralen Begriff »Tugend« erstrebenswerte Charakterzüge wie Mäßigung (Selbstbeherrschung), Frömmigkeit (gottgefälliges Verhalten und ehrfurchtsvolle Scheu) sowie christliche Erkenntnis gereiht werden.57 Diese sind in den bislang lediglich als Concordia gesehenen Venuskindern umgesetzt.58 Vor allem die dem Betrachter gegenüber verschlossene, jeden Blickwechsel verneinende, gesenkte Kopfhaltung zweier Frauenfiguren ist als Zeichen der Keuschheit zu verstehen.59 Somit weckt Venus zwar, symbolisiert durch die verführerische Kleidung der Göttin, sinnliche Leidenschaft, sublimiert diese aber zu Humanität, Harmonie und reiner Tugend.60 Auch die übrigen Fresken veranschaulichen das Wirken Alexanders VI.: Er sorgt dafür, dass das Wort Gottes auf fruchtbaren Boden fällt, dass die Türken christianisiert und barmherzige Taten vollbracht werden (Saturn). Er ist das Sinnbild des idealen Herrschers (Jupiter) und scheut sich nicht, mit ungewöhnlichen Methoden für seine Ziele zu kämpfen (Mars). Unter seiner Herrschaft entwickeln sich Wissenschaften und Künste zu neuer Blüte zu Ehren Gottes (Merkur). Die Fischer auf dem Mond-Fresko schaffen schließlich die Verbindung zu Petrus, dem Jesus Christus gesagt hatte: »Ich will dir die Schlüssel des Himmelreichs geben: Alles, was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden sein, und alles, was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel gelöst sein.«61
Petrus wurde durch diese Weisung ermächtigt, den Zugang zum von Gott verkündeten Himmelreich zu erschließen oder zu verwehren. Er durfte die Lehre
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sentieren. Während die Venus vulgaris Sinnbild der sinnlichen Liebe ist, schwebt die Venus coelestis über irdischen Dingen. Vgl. Erwin Panofsky : Studies in Iconology. Humanistic Themes in the Art of the Renaissance, New York 1939, S. 141. Söding: Art. Liebe in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 6, 1997, S. 911. Stuttgarter Erklärungsbibel mit Apokryphen. Die Heilige Schrift nach der Übersetzung Martin Luthers mit Einführungen und Erklärungen, Stuttgart 2005, S. 1793. Vgl. Poeschel, Alexander Maximus (s.Anm. 5), S. 236. Deren Demonstration ging gemäß neuplatonischer Vorstellungen notwendigerweise mit besonderer Schönheit einher. Vgl. Andreas Schumacher: Botticelli. Bildnis, Mythos, Andacht, Ausstellungskatalog des Städel Museums Frankfurt/M. – 13. November 2009 bis 28. Februar 2010, Frankfurt/M., 2009, S. 29. Vgl. Liana Cheney: Quattrocento Neoplatonism and Medici Humanism, in: Lanham (Hrsg.): Botticelli’s Mythological Paintings, 1985, S. 88f; Liana Cheney: Botticelli’s Camilla/ Minerva and the Centaur. A Neoplatonic View of Antiquity, in: Liana Cheney/ John Hendrix (Hrsg.): Neoplatonism and The Arts, Lewiston 2002, S. 177–188. Vgl. Mt 16,18–19. Stuttgarter Erklärungsbibel (s. Anm. 56), S. 1432.
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Jesu auslegen und trat damit an die Stelle der Schriftgelehrten und Pharisäer.62 Die Vollmacht beinhaltete auch, dass Petrus nach Belieben Dinge für verbindlich, erlaubt oder verboten erklären durfte. Einschließlich der Erlaubnis, Menschen aus der christlichen Gemeinde auszuschließen oder wieder aufzunehmen. Dem in der Nachfolge Petri stehenden Papst standen dieselben Rechte und Privilegien zu. Er konnte Menschen erheben, krönen oder exkommunizieren, Krieg und Frieden verkünden oder mit einem simplen Strich auf der Weltkarte Länder und Meere unter Nationen verteilen. Die Planetenkinder-Fresken der Sala delle Sibille stellen diese Position als mächtigster Mann der Welt überaus deutlich heraus und präsentieren die großartigen Leistungen während seines Pontifikats. Damit bestätigen und illustrieren sie eindrucksvoll den Inhalt des achten Bildfeldes. Wegen des schlechten Erhaltungszustandes sind auf dem Fresko der Astrologie heute einige prägnante Details nicht mehr erkennbar (Abbildung 5). Während hinter der Armillarsphäre nur noch blauer Himmel erkennbar ist, war auf der Abbildung von 1890 an dieser Stelle deutlich eine weiße geschwungene Bildfläche zu sehen. Der Versuch ihrer Rekonstruktion zeigt, dass es sich dabei um eine Art Schriftband gehandelt haben muss, das links von einer Schleife gehalten wird (Abbildung 6). Allerdings lag die Übermalung dieser Bildfläche auch im Jahr 1890 schon längere Zeit zurück, der Farbauftrag blätterte damals bereits ab. Auf dem Mittelring des Gerätes sind sechs Symbole der Tierkreiszeichen erkennbar – von links nach rechts: Löwe, Schütze, Jungfrau, Krebs, Steinbock und Wassermann. Da dies nicht der üblichen Abfolge der Tierkreiszeichen entspricht, war zu prüfen, ob eine spezielle astrologische Konstellation dargestellt sein könnte.63 Bei der Darstellung einer Armillarsphäre wird der Mittelring des Gerätes, der für die Himmelsäquator-Ebene steht, üblicherweise in einem etwa der Ekliptik entsprechenden Winkel gezeigt. Auch Pintoricchio selbst wählte diese Form der Abbildung in der Sala delle Arti liberali des Appartamento Borgia und ein weiteres Mal in der Baglioni-Kapelle von Spello. Dennoch entschied er sich hier für einen nahezu horizontalen Ringabschnitt, der die Lesbarkeit der darauf abgebildeten Tierkreiszeichen vereinfacht. Dies stärkt die These einer HoroskopDarstellung ebenso wie das ursprüngliche Hinterfangen der Armillarsphäre mittels eines Schriftbandes. Durch dieses wurde der beschriftete Teil des Gerätes besonders hervorgehoben. Und schließlich weist der rechte unter dem Gerät stehende Astrologe mit dem Finger auf dieses. 62 Vgl. Mt 23,13; Mt 13,51–52. 63 Die Reihenfolge der Tierkreiszeichen beginnt mit der Tag- und Nachtgleiche im Frühjahr, die zugleich der Beginn des astrologischen Jahres ist. Sie lautet: Widder, Stier, Zwillinge, Krebs, Löwe, Jungfrau, Waage, Skorpion, Schütze, Steinbock, Wassermann, Fische.
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Abb. 5: Astrologie, Sala delle Sibille, Appartamento Borgia, Vatikanische Museen, Rom
Abb. 6: Astrologie (Rekonstruktionsversuch von Bilddetails), Sala delle Sibille, Appartamento Borgia, Vatikanische Museen, Rom
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Bei einem Krönungszeitpunkt am 26. August 1492 zwischen 14.35 und 16.30 Uhr entsprechen fünf der sechs Tierkreiszeichen auf der Armillarsphäre dessen astrologischen Konstellationen.64 Der links dargestellte Löwe steht hierbei für die Mars-Jupiter-Konjunktion im Löwen,65 die an dritter Stelle dargestellte Jungfrau spiegelt die Sonne-Merkur-Konjunktion in diesem Zeichen wider. Der Deszendent im Krebs wird an vierter Stelle gezeigt, der Steinbock-Aszendent findet sich direkt daneben. Ganz rechts ist der Wassermann zu sehen, in dem eine Konjunktion des Saturn mit dem Glückspunkt stattfand.66 Nur das zweite Tierkreiszeichen von links hat keinerlei Bezug zu den astrologischen Bedingungen des Krönungsnachmittages. Es zeigt einen Kentaur als Symbol des Schützen. Seine eigentümliche Form, vor allem im unteren Bereich, wirkt jedoch wie nachträglich aufgemalt. Stattdessen fehlt das Zeichen Waage, in dem zum Krönungszeitpunkt eine aus astrologischer Sicht prägnante Konjunktion stattfand, welche Macht, Ruhm, Reichtum und hohes Ansehen sowie ein friedliches Miteinander versprach.67 Das Zeichen Waage ist zugleich darum bedeutsam, weil es, wie der Stier, der zugleich das Wappentier der Borgia ist, vom Planeten Venus beherrscht wird. Das Fresko der Venus beinhaltet beide Tierkreiszeichen (Stier und Waage), zudem wird der Wagen der Göttin von Borgia-Stieren gezogen. Doch auch dort stechen Eigentümlichkeiten ins Auge, zum Beispiel am ausgestreckten Arm der Göttin (Abbildung 7): Auffällig sind die eigentümliche Verdrehung der Hand und das Abknicken des Pfeils unterhalb des Handgelenkes, aber auch die deutlich als Übermalung erkennbare Faust. Vermutlich reckte Venus im Originalzustand des Freskos ihre geöffnete Hand empor und präsentierte auf dem Handteller einen anderen Gegenstand. Die rechteckige Form der blau übermalten Fläche am linken oberen Bildrand sowie deren interne Gliederung durch 64 Alvaro Ruggeri: Alessandro VI Borgia. Com ampi ragguagli sulla vita di Lucrezia docile istrumento e vittima di disegni politici del padre e del fratello Cesare, Rom 2003, S. 63–66; Mario A. Stranges: Giustizia per i Borgia. Delitti, crimini e amori di Alessandro VI, Cesare e Lucrezia al vaglio di un magistrate, Rom 2005, S. 137. 65 Auf diese Konjunktion berief sich Botschafter Antonius Manilius (siehe Anm. 29), fol. 66r/v, in seiner Gratulationsrede nach der Wahl Alexanders VI. und führte aus, dass unter dieser auch die Stadt Rom gegründet worden sei. Er verwies zudem auf den rückläufigen Mars im Zeichen der Jungfrau, unter welchem neues Vertrauen beginnen könne, sowie auf den Schöpfer, der den Himmel und die neuen Planeten erschaffe und der neue Epochen anbrechen lasse. Irritierend an Manilius‘ Aussage ist jedoch, dass Jupiter und Mars am 26. August 1492 zwar in Konjunktion standen, dass der Mars aber weder die Jungfrau durchlief, noch rückläufig war. 66 Den Glückspunkt, der auch ›Glücksrad‹ oder ›arabischer Punkt‹ genannt wird, erwähnt bereits Ptolemäus imTetrabiblos. Seine Berechnung erfolgt aus den Positionen von Sonne, Mond und Aszendent und wird mit materiellen Lebensverhältnissen sowie dem Wohlbefinden des Horoskopeigners in Verbindung gebracht. Vgl. Claudius Ptolemäus: Tetrabiblos, Mössingen 2000, S. 165. Vgl. Renzo Baldini: Die arabischen Punkte, Tübingen 2008. 67 Vgl. Ptolemäus, Tetrabiblos (s. Anm. 65), S. 232f., S. 236.
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einen schwarzen Rahmen bestätigen auch hier nachträgliche Veränderungen. Zudem sind links neben dem Unterarm der Göttin Reste eines hellblauen Gefäßes und einer Vergoldung erkennbar. Auch neben dem Maul des rechten Stieres sowie unter dem Triumphwagen wurden zahlreiche Überarbeitungen vorgenommen.68
Abb. 7: Venus und ihre Kinder (Detail), Sala delle Sibille, Appartamento Borgia, Vatikanische Museen, Rom
Welchen Grund gab es für die zahlreichen nachträglichen Veränderungen? Natürlich wäre es denkbar, dass zum Zeitpunkt der diversen Restaurierungen der Bildgrund bereits derart angegriffen war, dass der ursprüngliche Zustand nicht mehr rekonstruiert werden konnte. Doch eine andere These ist wahrscheinlicher. Alexander VI. hatte sich bereits zu Lebzeiten zahlreiche Feinde gemacht: seine Kirchenreform blieb im Ansatz stecken, es kam zu einer Reihe kriegerischer Auseinandersetzungen und zu massiver Kritik an der päpstlichen Lebensführung. Borgia war der Dämonie bezichtigt, als Antichrist bezeichnet69 und nach seinem Tod in der offiziellen Rede zum nachfolgenden Konklave ange-
68 An dieser Stelle muss leider auf das Referieren der nachträglichen Veränderungen und Übermalungen der anderen Planetenkinder-Fresken verzichten werden, welche ebenfalls lange vor der um 1890 angefertigten Foto-Dokumentation vorgenommen worden waren und jeweils prägnante Bilddetails unkenntlich gemacht haben. Dazu Klingner, Pintoricchios Planetenkinder-Fresken (s. Anm. 12), S. 26–33. 69 Vgl. Marion Hermann-Röttgen: Die Familie Borgia, Stuttgart/Weimar, 1992, S. 62–67.
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griffen worden.70 Dem nur wenige Tage dauernden Pontifikat Pius’ III.71 folgte Giuliano della Rovere als Papst. Seit seiner Niederlage im Konklave von 1492 war dieser der größte Rivale Alexanders VI. gewesen.72 Der neue Pontifex wählte, wie sein Vorgänger, einen paganen Namen – aber einen, der durch die Anspielung auf Julius Caesar in Rom noch viel besser ankam: Julius II. Während seines eigenen Pontifikats betrieb er offensiv die damnatio memoriae seines Vorgängers.73 Nach dem Bericht seines Zeremonienmeisters Paris de Grassi konnte Julius II. nicht einmal das Bild Borgias ertragen und ließ dessen Wappen von öffentlichen Gebäuden Roms herunterschlagen, unter anderem von der Engelsburg. In Anbetracht dieser Bemühungen, jegliche Erinnerung an Alexander VI. auszulöschen, wäre es denkbar, dass nachträglich gezielt Bildelemente in der Sala delle Sibille entfernt oder verändert wurden: zum Beispiel im Fresko der Astrologie durch die Entfernung des Schriftbandes hinter der Armillarsphäre, welches diese hervorhob und dem Betrachter zusätzliche Informationen gab, aber auch durch eine kleine, aber folgenschwere Veränderung innerhalb der dargestellten Tierkreiszeichen. Bereits diese beiden Interventionen hätten es unmöglich gemacht, die im 15. Jahrhundert jedem Gebildeten geläufigen Symbole in ihrer Gesamtheit zu deuten. Tatsächlich ist nun nicht mehr ohne weiteres erkennbar, dass die Armillarsphäre des Astrologie-Freskos die relevanten Konstellationen der Krönung Alexanders VI. präsentierte und somit das älteste erhaltene Horoskop-Fresko in Rom darstellt. Zudem wurde die Basis dafür geschaffen, auch den Inhalt der Planetenkinder-Fresken zu missdeuten, ihre Bedeutung zu vergessen und die sieben Bildfelder statt als politisches Programm eines ehrgeizigen Papstes lediglich als dekorativen Themenkreis innerhalb anderer Zukunftskünder wahrzunehmen. Somit wird der Wissensinszenierung und -funktionalisierung die Grundlage entzogen. In diesem Zusammenhang ist der erneute Blick auf das Vorgehen Julius’ II. aufschlussreich. Dieser weigerte sich, dauerhaft im Appartamento Borgia zu leben und beauftragte deshalb die Anlage neuer Wohnräume in der darüberliegenden Etage. Auf die Frage seines Zeremonienmeisters Paris de Grassi, warum er die Fresken und Wappen Alexanders VI. nicht einfach entfernen ließe, 70 Abdruck und Kommentar bei John M. McManamon: The Ideal Renaissance Pope – Funeral Oratory from The Papal Court, in: Archivium Historiae Pontificiae 14 (1976), S. 54–70. 71 Am 22. September 1503 wurde Francesco Todeschini Piccolomini zum Papst Pius III. gewählt, er starb jedoch bereits am 18. Oktober 1503. 72 Giuliano della Rovere hatte sich Alexander VI. im Konklave von 1492 geschlagen geben und sich während dessen Pontifikat ins Exil nach Ostia zurückziehen müssen. Vgl. Brambach, Die Borgia (s. Anm. 32), S. 102; Reinhardt, Der unheimliche Papst (s. Anm. 34), S. 84f., S. 100. 73 Vgl. Stranges, Giustizia per i Borgia (s. Anm. 64), S. 139–141.
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antwortete er, das sei kein dekoratives Problem. Der Geist seines Vorgängers würde auch dann nicht aus den Räumen vertrieben, wenn dessen Bilder entfernt wären. Zudem schätzte er Pintoricchios Malerei trotz dessen Tätigkeit für Alexander VI., er selbst hatte bereits mehrere Werke bei diesem beauftragt.74 Die vier Säle der neuen Residenz Julius’ II. wurden ebenso reich an hohem begrifflichen Inhalt gestaltet wie die Wohnräume des verhassten Vorgängers, auch der luxuriöse Charakter beider Ausstattungen ist vergleichbar.75 In der Stanza della Segnatura ließ der Rovere-Papst von Raffael ein Fresko der Astrologie malen, das den Sternenhimmel zum Zeitpunkt seiner Krönung (31. 10. 1503, drei Stunden nach Sonnenuntergang) zeigt.76 Wahrscheinlich wollte er damit dem Krönungshoroskop Alexanders VI. die Darstellung seines eigenen glanzvollen Pontifikatsbeginns entgegensetzen.
74 Der Künstler hatte bereits mehrfach für die Familie della Rovere gearbeitet, zwei Grabkapellen in der römischen Kirche S. Maria del Popolo und im Palazzo des Domenico della Rovere an der Piazza Scossacavalli (heute Palazzo dei Penitenzieri) ausgemalt. Für Julius II. hatte er während dessen Zeit als Kardinal den Palazzino di Giuliano della Rovere (heute Palazzo Colonna) freskiert. Zwölf Jahre nach Antritt seines Pontifikats, im Jahr 1515, beauftragte Julius II. Pintoricchio mit der Ausmalung des Chorgewölbes von S. Maria del Popolo. Vgl. Claudia La Malfa: Pintoricchio. Iterinario romano, Mailand 2008, S. 60; Dies.: Pintoricchio a Roma. La Seduzione dell’antico, Mailand 2009, S. 119. Zur Gestaltung des Palazzo dei Penitenzieri vgl. Maria Giulia Aurigemma/ Anna Cavallaro: Il Palazzo della Rovere in Borgo, Rom 1999, S. 47. Zu Pintoricchios Werken im Palazzo Colonna vgl. Anna Cavallaro: Gli affreschi di Pintoricchio nella palazzina di Giuliano della Rovere ai SS Apostoli, in: S. Colonna (Hg.): Un’ idea di Roma. Societ/, arte e cultura tra Umanesimo e Rinascimento, Rom 2004, S. 297–312, S. 297–312. Vgl. Stranges, Giustizia per i Borgia (s. Anm. 64), S. 140f. 75 Vgl. Poeschel, Alexander Maximus (siehe Anm. 5), S. 261. Der Auftrag für die Deckengestaltung der vier Säle erfolgte zunächst an mehrere Künstler : an die Italiener Perugino, Peruzzi, Sodoma, Bramantino und Lotto sowie den Deutschen Johannes Ruysch, einem Experten für die Ausführung grotesker Motive. Ab 1508 arbeitete zudem Raffael in der Stanza della Segnatura. Julius II. beauftragte den 25-Jährigen daraufhin mit der Ausführung der gesamten Dekoration und entließ die übrigen Maler. Vgl. Andrea Pomella: Die Vatikanischen Museen, Rom 2007, S. 111. 76 Zur Darstellung dieses Horoskops und dem Krönungszeitpunkt vgl. Gioia Mori: Arte e Astrologia, Florenz/Mailand 1987, S. 34.
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»ich ästimiere die Rarität.« Überlegungen zur Rolle des religiösen Bildes in der frühneuzeitlichen Sammlung
»Ich kam einstmals mit einem vornehmen Hernn in eine Kunstkammer, darinnen schöne Raritäten waren. Unter den Gemälden gefiel mir nichts besser als ein EcceHomo wegen seiner erbärmlichen Darstellung, mit welcher es die Anschauer gleichsam zum Mitleiden verzuckte. Darneben hienge eine papierne Karte, in China gemalt; darauf stunden der Chineser Abgötter, in ihrer Majestät sitzend, deren teils wie die Teufel gestaltet waren. Der Herr im Haus fragte mich, welches Stück in seiner Kunstkammer mir am besten gefiele? Ich deutet auf besagtes Ecce-Homo. Er aber sagte, ich irre mich; das Chineser Gemäld wäre rarer und dahero auch köstlicher ; er wolle es nicht um zehen solcher Ecce-Homo manglen. Ich antwortet: ›Herr! ist Euer Herz wie Euer Mund?‹ Er sagte: ›Ich versehe michs.‹ Darauf sagte ich: ›So ist auch Euers Herzen Gott derjenige, dessen Conterfait Ihr mit dem Mund bekennet, das köstlichste zu sein.‹ – ›Phantast‹, sagte jener, ›ich ästimiere die Rarität.‹ Ich antwortet: ›Was ist seltener und verwunderungswürdiger, als daß Gottes Sohn selbst unsertwegen gelitten, wie uns dies Bildnus vorstellet?‹«1
Diese Episode aus Grimmelshausens Simplicissimus (1668/1669) eignet sich hervorragend, um die von der Kunstgeschichte etwas vernachlässigte Frage nach der Rolle des christlich-religiösen Bildes in der frühneuzeitlichen Sammlung aufzugreifen. Was Simplicius in der Kunstkammer in Hanau widerfährt, ließe sich aus kunsthistorischer Sicht folgendermaßen interpretieren: Nachdem der Hirtenjunge bereits während seiner Zeit bei einem Einsiedler die Überzeugungskraft des christlichen Bildes erfahren hat, wird er hier Zeuge von dessen profaner Entzauberung und Bewertung nach den Kriterien des neuzeitlichen Kunstkenners und Sammlers.2 Dabei erscheint es ihm geradezu ketzerisch, die
1 Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen: Der Abenteuerliche Simplicissimus Teutsch. Erstes bis Drittes Buch, Berlin/Weimar 41977 [1960] (Grimmelshausens Werke in vier Bänden, Bd. 1), S. 73–74. Ich danke Simon Zeisberg für den Hinweis auf diese Textstelle. Ausgangspunkt für diesen Artikel war ein Vortrag der Verfasserin im Colloquium des IZ Mittelalter – Renaissance – Frühe Neuzeit am 31. Januar 2012. 2 Vgl. Gabriele Wimböck: Unschuldige Blicke. Skizzen zur Kunstbetrachtung des »Laien« in der Frühen Neuzeit, in: Kunst, Geschichte, Wahrnehmung. Strukturen und Mechanismen von
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chinesische Landkarte, deren figurative Darstellungen er als »Abgötter« ansieht, höher zu bewerten als ein Bild des gegeißelten Christus. Dem Sammler wiederum gilt das christliche Bild aufgrund seiner mangelnden Einzigartigkeit als minderwertig gegenüber der Landkarte, denn die Ecce Homo-Darstellung – vermutlich ein spätmittelalterliches oder zeitgenössisches Andachtsbild nach dem Vorbild eines sehr verbreiteten Typus – kann keinen Anspruch auf »Rarität« erheben. Gemeint ist damit im Fall der chinesischen Landkarte die Kombination aus Seltenheit sowie exotischer Herkunft und Erscheinung, die das Objekt interessant macht und sich wertsteigernd auswirkt.3 Dies zeigt auch die Umwertung der Karte zum »Gemäld« an. Religiöses Empfinden beeinflusst die Meinung des kunstsinnigen, protestantischen Burgherren anscheinend nicht – im Mittelpunkt steht für ihn die Exklusivität des Artefakts als Luxusgegenstand. Das Erkennen und Würdigen dieser Exklusivität wiederum setzt ein erlerntes Wissen über Kunstwerke, ferne Länder und die geltenden Konventionen der Kunstbetrachtung voraus, welches auch im Dienst des fürstlichen Distinktions- bzw. Geltungsbedürfnisses steht. Im Fall des Ecce-Homo-Bildes, das in der betreffenden Kunstkammer keine spezifische Funktion mehr erfüllt, bildet also die Rarität des Sammlerobjektes den Maßstab für die Wertschätzung durch den Sammler, während die religiöse Aussage und potenzielle Wirkmacht des christlichen Bildes hierfür nicht ausschlaggebend zu sein scheinen. Für die Moral der Geschichte ergeben sich dadurch zwei verschiedene Interpretationen: Einer möglichen Lesart nach verdeutlicht sie die fehlende kulturelle Bildung des simplen Bauernjungen, der intellektuell nicht in der Lage ist, das im Sammlungskontext angesetzte Kriterium der Rarität auf die Herkunft und Machart des Artefakts zu beziehen. Stattdessen versteht er es im Zusammenhang mit dem Inhalt der Darstellung, den er nicht in einem Akt rein ästhetischer Anschauung von der Form und Art der Umsetzung zu trennen vermag.4 Man könnte diese Passage also als willkommene literarische Darstellung einer in der Kunstgeschichte des Öfteren konstatierten Entwicklung werten: die Wahrnehmungsstrategien, hg. v. Stephan Albrecht/Michaela Braesel/Sabine Fastert/ Andrea Gottdang/Gabriele Wimböck, München 2008, S. 281–293, hier S. 281–282. 3 »Rarität« ist ein im Sammlungskontext des 17. Jahrhunderts oft für Kunstwerke und Kuriositäten verwendetes Qualtitätskriterium, welches sich sowohl auf die exquisite Machart, ein wertvolles Material, die exotische Herkunft, wunderliche Form, einen bestimmten Stil oder Urheber beziehen kann. Im Vordergrund steht die Seltenheit und die damit begründete Exklusivität eines Artefakts, derer sich beide – der Besitzer und der Betrachter – bewusst sein müssen. Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, 16 Bde. in 32 Teilbänden, Leipzig 1854–1961, Bd. 14, Sp. 125 : »1) seltener und vorzüglicher gegenstand, den man zur besichtigung oder erwerbung vorzeigt. in diesem sinne, der auch dem franz. raret8 eigen war, kam das wort im 17. jh. empor, auf seine form hatte das lat. raritas einflusz […]«. [http://woerterbuchnetz.de/DWB/?sigle=DWB& mode=Vernetzung& lemid=GR00782#XGR0 0782; 22.10. 2015] 4 Vgl. hierzu Wimböck, Unschuldige Blicke (s. Anm. 2), S. 282.
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Profanierung und schließlich Säkularisierung des christlichen Bildes in der Frühen Neuzeit und seine kennerschaftliche Neubewertung nach den Kriterien der Kunst. Dies führte einem geläufigen Narrativ entsprechend zu einer Verschiebung in der Rezeption von einer kultisch-religiös-andächtigen hin zu einer rein ästhetischen Betrachtung.5 Gemäß dieser Auffassung mussten gerade schlichte, ältere, also aus formaler Sicht veraltete und nicht durch geltende Bewertungsmaßstäbe ausgezeichnete religiöse Bilder, zwangsläufig einen Bedeutungsverlust erfahren. Mit der Erforschung von Kultbildern im konfessionellen Zeitalter wird dieses lineare Narrativ jedoch zunehmend herausgefordert.6 So ermöglicht die eingangs zitierte Episode aus dem Simplicissimus auch eine zweite Lesart: Gerade sein Mangel an Bildung bewirkt eine Unverbildetheit im positiven Sinne, die es Simplicius ermöglicht, dem Fürsten den Spiegel vorzuhalten und dessen Kriterien der Wertschätzung in Frage zu stellen. Dass es sich bei dem betreffenden Bild um eine Ecce-Homo-Darstellung – um den dem Spott preisgegebenen, gegeißelten Christus – handelt, ist in diesem Zusammenhang bedeutsam: Dem Fürsten wird somit vorgehalten, das Leiden Christi nicht angemessen zu würdigen. Implizit wird ihm damit unterstellt, es dessen Peinigern gleichzutun und Christus wiederum zu verspotten. Beide Lesarten lassen sich begründen. Somit eignet sich die von Grimmelshausen beschriebene Episode dazu, eine Reflexion über die angelegten Wertmaßstäbe und über konfessionell bedingte Unterschiede der Bildbetrachtung anzuregen. Daran anknüpfend stellt sich die Frage, welche Rolle(n) das religiöse Bild in der frühneuzeitlichen Sammlung zugewiesen bekam und ob es tatsächlich ganz in anderen Kategorien aufging, die nicht nach inhaltlicher Bedeutung und Wirkmacht unterschieden, wie zum Beispiel Material, Herkunft, Stil oder Urheberschaft. Der angebrachte Zweifel, ob sich hierzu überhaupt eine allgemeine Aussage treffen lässt, führt zu der Frage, ob und wie sich Formen der religiösen Funktion und Rezeption im Sammlungskontext nachweisen lassen.
5 Vgl. Hans Belting: Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 62004 [1990]. Im letzten Kapitel, welches von der »Krise des Bildes am Beginn der Neuzeit« handelt, formuliert Belting die These: »Als die Bilder ins Zwielicht gerieten, wurden sie als Werke der Kunst gerechtfertigt. Man konnte sie nicht mehr im naiven Sinne benutzen, wollte aber nun den Kunstverstand des Malers bewundern und damit die eigene Kennerschaft unter Beweis stellen.« Ebd., S. 523. 6 Vgl. u. a. Rahmen-Diskurse. Kultbilder im konfessionellen Zeitalter, hg. v. David Ganz/Georg Henkel, Berlin 2004, sowie Martin Büchsel: Abkehr vom »Kultbild« als Epochenbegriff, in: Intellektualisierung und Mystifizierung mittelalterlicher Kunst. »Kultbild«: Revision eines Begriffs, hg. v. Martin Büchsel/Rebecca Müller, Berlin 2010, S. 9–25.
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Antonia Putzger
Das religiöse Bild in der Sammlung: (fast) eine Leerstelle in der Forschung
Wie kam es zur kunsthistorischen Trennung der ästhetischen und der religiösen Rezeption? Die frühneuzeitliche Sammlung ist ein weites und facettenreiches Forschungsfeld. Je nachdem, wer aus welchen Gründen sammelte und mit welchen Mitteln er ausgestattet war, lassen sich diverse Zielsetzungen, Interessenschwerpunkte und Spezialisierungsmöglichkeiten unterscheiden.7 Im Verlauf des 15. bis 18. Jahrhunderts wurden komplexe Ordnungssysteme entwickelt und neuartige Aufbewahrungs- und Ausstellungsorte eingerichtet. Gemalte Bilder waren also nur eine Kategorie unter vielen Gegenständen, die gesammelt wurden, jedoch eine, die gerade in den Sammlungen der Fürsten und Adligen zunehmend Raum beanspruchte: Zunächst in den Schlaf- und Empfangszimmern der Paläste in Schubfächern und Kabinettschränken aufbewahrt, eroberten sie die Wände der Apartments, der humanistisch geprägten Studioli, der Kunstkammern und schließlich ganze Galerien.8 Die gemeinsame Aufbewahrung und Präsentation von religiösen Bildern mit Porträts, »profanen« Darstellungen und antiken Skulpturen in den Bildergalerien sowie mit einer Vielzahl von Exotika, Naturalia und Mirabilia in den Kunstkammern, die durch Inventare, Beschreibungen und eine Anzahl von Gemälden aus dem 17. und 18. Jahrhundert überliefert sind, suggerieren auf den ersten Blick den Verlust ihrer religiösen Relevanz. In den Galerien hingen ehemalige Altarbilder, kleinformatige Andachtsbilder, Ikonen und religiöse Historien – um das Spektrum von gemalten religiösen Bildern in der Sammlung zu benennen – neben mythologischen Darstellungen und Porträts, später auch Landschaftsbildern und Stillleben, wie es auf einer Ansicht der Galerie des Erzherzogs Leopold in Brüssel von David Tenier, d. J. zu sehen ist (Abbildung 1).9 Diese Entwicklung scheint zunächst die 7 Für einen Überblick zu den unterschiedlichen Zielsetzungen und Sammlungstypen vgl. Julius von Schlosser: Die Kunst- und Wunderkammern der Spätrenaissance. Ein Beitrag zur Geschichte des Sammelwesens, Braunschweig 21978 [Leipzig 1908]; Nils von Holst: Creators, Collectors and Connoisseurs. The anatomy of artistic taste from antiquity to the present day, London 1967; Horst Bredekamp: Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte, Berlin 32007 [1993]; Klaus Minges: Das Sammlungswesen der Frühen Neuzeit. Kriterien der Ordnung und Spezialisierung, Münster 1998; sowie die Sammelbände Macrocosmos in Microcosmo. Die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammelns 1450 bis 1800, hg. v. Andreas Grote, Opladen 1994 und Sammeln als Institution. Von der fürstlichen Wunderkammer zum Mäzenatentum des Staates. hg. v. Barbara Marx/Karl-Siegbert Rehberg, München 2006. 8 Dies ist natürlich eine sehr vereinfachte Darstellung einer keineswegs immer linear und in abgegrenzten Schritten vollzogenen Entwicklung. 9 Nicht berücksichtigt werden im Rahmen dieses Aufsatzes andere religiöse Objekte wie Reliquiare und liturgisches Gerät, die in der Kunstkammer ebenfalls einen ambivalenten Status haben. Vgl. Stefan Laube: Von der Relique zum Ding. Heiliger Ort – Wunderkammer –
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These von der Profanierung des religiösen Bildes, das sich von seiner kultischen Funktion emanzipierte und dafür dem ästhetischen Werturteil standhalten musste, zu stärken und somit Teil der Geschichte eines zunehmend säkularisierten, ästhetischen Blicks auf die Kunst einhergehend mit der vermeintlichen Autonomie des Kunstwerks von funktionalen Erfordernissen zu sein.10
Abb. 1: David Tenier, d. J., Galerie des Erzherzogs Leopold in Brüssel (IV), um 1653, Leinwand, 99,7 V 128,4 cm, München, Bayerische Staatsgemäldesammlungen
Museum, Berlin 2011 [zugl. Habil., Berlin 2010]. Laube fragt nach Ortswechseln und institutionellen Bedingungen, Perspektiven und Praktiken, die dazu beitragen, das »Ding« einem Gefäß gleich mit Bedeutung zu füllen oder auch wieder zu entleeren. Wichtig in Bezug auf die Frage nach der Profanierung von Sammlerstücken ist seine Feststellung: »Wenn man sich auf die Suche nach auratischen Spuren in der Kunstkammer sowie nach säkularen Resten im Kirchenraum begibt, verschwimmen die seit der Moderne so eindeutig gezogenen Grenzen zwischen sacrum und profanum.« Laube, Von der Relique zum Ding, S. 4. 10 Zu Belting, Bild und Kult vgl. Anm. 5. Problematisch wird die Trennung der Kategorien Kult und Kunst aber vor allem nachfolgend aufgrund der breiten Rezeption dieses wichtigen Buches, die dazu tendiert ihre Trennung vereinfachend festzuschreiben. Zur Entwicklung des »autonomen Tafelbildes« Hans Belting: Vom Altarbild zum autonomen Tafelbild, in: Funkkolleg Kunst. Eine Geschichte der Kunst im Wandel ihrer Funktionen, Bd. 1, hg. v. Werner Busch, Berlin 21997 [1987], S. 155–181.
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Die Funktion und Rezeption des christlich-religiösen Bildes im frühneuzeitlichen Sammlungskontext sind jedoch noch nicht annähernd genügend erforscht, um hierzu abschließende Schlüsse ziehen zu können. Tatsächlich handelt es sich nahezu um eine Leerstelle in der Forschungsliteratur.11 Selten wurde zum Beispiel kommentiert, dass religiöse Bilder neben Porträts den größten Anteil an frühneuzeitlichen Gemäldesammlungen ausmachten und dass viele von ihnen zuvor eine sakrale Funktion hatten, während andere eigens für die Sammlung in Auftrag gegeben wurden.12 Um die Suche nach Ansätzen zur Erforschung des religiösen Bildes und seiner Rezeption im Sammlungskontext vorzustellen, folgt eine Analyse von Forschungspositionen, die sich ausdrücklich nicht als einleitender Forschungsstand, sondern als erster Hauptteil dieses Beitrags und Einblick in die spezifische Problematik des Themenfeldes versteht. Die seit Beginn des 20. Jahrhunderts erschienenen Publikationen zur Entwicklung des frühneuzeitlichen Sammelwesens erwähnen die religiösen Bilder meist nur kursorisch und werden daher hier nicht im Einzelnen aufgeführt.13 Auch Krysztof Pomians sammlungstheoretische Studie Der Ursprung des Museums fragt nicht spezifisch nach dem religiösen Bild oder Artefakt: Zwar sieht Pomian das entscheidende Merkmal von Sammlungsstücken darin, dass sie – dem Kriterium der Nützlichkeit und ökonomischen Prozessen entzogen – zu Bedeutungsträgern eigener Art, zu Semiophoren werden, die zwischen dem Betrachter und einer unsichtbaren Welt vermitteln, doch bezieht er diese Eigenschaft nicht explizit auf eine mögliche religiöse Rezeption.14 Indes verwies bereits Jakob Burckhardt auf das bei aller »Mythologie und Nacktheit« bestehende Übergewicht der Gemälde »des christlichen Bildkreises« in den venezianischen Sammlungen der Renaissance. Dieses sei allerdings nur noch in wenigen Fällen auf den »Willen für die Andacht« zurückzuführen. 11 Eine Ausnahme bildet der Tagungsband Sacred possessions. Collecting Italian religious art, 1500–1900 (Issues & debates 20), hg. v. Gail Feigenbaum/Sybille Ebert-Schifferer, Los Angeles 2011, der Untersuchungen von relevanten Fallbeispielen versammelt. 12 Vgl. Valeska von Rosen zu Caravaggios Bild des Evangelisten Matthäus (1602), das von den Priestern von San Luigi dei Francesi aufgrund mangelnden Dekorums als Altarbild abgelehnt wurde und dann in die Sammlung Giustiniani kam: »Dabei verdeutlichen besonders diejenigen Werke, die ursprünglich für einen anderen Ort und für eine andere Funktion bestimmt waren, wie sich durch die seit 1600 massiv anwachsenden Bildersammlungen die Rahmenbedingungen der Künste sowohl auf der produktionsästhetischen wie der rezeptionsästhetischen Ebene ändern.« Valeskavon Rosen: Caravaggio und die Grenzen des Darstellbaren. Ambiguität, Ironie und Performativität in der Malerei um 1600, Berlin 2009 [zugl. Habil., FU Berlin 2006], S. 19. 13 Zur Forschungsliteratur s. Anm. 7. 14 Krysztof Pomian: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln, Berlin 1988, S. 16 zur Definition der Sammlung, zur Definition des Semiophors u. a. S. 50. Pomian führt immerhin an, dass die Semiophoren in ihrer Vermittlerrolle christlichen Artefakten in Schatzkammer und Sakralraum ähnlich seien (S. 58).
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Vielmehr seien hier »Bibel und Legende das große Epos, welches die selbstverständliche Beschäftigung der Malerei vorzugsweise ausmacht«.15 Dieser Interpretation nach also wären die christlichen Geschichten vor allem eine Stoffsammlung, derer sich der Maler für die virtuose Umsetzung seiner inventio bediente und deren inhaltliche Aufgabe es höchstens noch war »schicklich« zu sein.16 Der »Kunstfreund« und der »Andächtige« sind für Burckhardt zwei unterschiedliche Personen oder doch zumindest unterscheidbare Rezeptionshaltungen, die getrennten Kontexten zugeordnet sind und nicht parallel auftreten.17 Auch die wenigen neueren Publikationen zum Thema des religiösen Sammlerbildes schließen die Möglichkeit einer religiös motivierten Rezeption im Sammlungskontext tendenziell aus. Von nur zwei kurzen Artikeln, die sich gezielt mit diesem Thema beschäftigen, widmet sich einer der Funktion kleinformatiger frühniederländischer »Privatbilder«:18 Die Wertschätzung dieser Tafeln bezog sich laut Christiane Kruse vor allem aus ihrem »Prestigewert« als »Medium der Selbstdarstellung«; sie dienten also, wie man es im Sinne dieses Bandes formulieren könnte, dem Geltungsanspruch einer gesellschaftlichen Elite.19 Dass das religiöse Bild im 15. Jahrhundert Gegenstand einer »Umdeutung« zum Kunstwerk war, gilt der Autorin als ausgemacht und bildet den Ausgangspunkt ihrer Argumentation.20 Für die Niederlande wird somit eine ähnliche Entwicklung reklamiert wie seit Burckhardt für Italien. Ein Artikel von Viktor Stoichita behandelt die Erfindung der barocken Blumenkranzmadonna als Ergebnis einer Transformation der mittelalterlichen Marienikone in ein Sammlerbild.21 Dieser Bildtypus wird von Stoichita als paradigmatisch für die Umwertung des religiösen Bildes in ein exquisites Kunstwerk und die Ver-
15 Jacob Burckhardt: Die Sammler, in: Ders.: Das Altarbild – Das Porträt in der Malerei – Die Sammler. Beiträge zur Kunstgeschichte von Italien, aus dem Nachlass, hg. v. Stella von Boch/Johannes Hartau/Kerstin Hengevoss-Dürkopp/Martin Warnke, München 2000, S. 283–471, hier S. 381. 16 Burckhardt, Sammler (s. Anm. 15), S. 381. 17 Burckhardt, Sammler (s. Anm. 15), S. 382. Bei Burckhardt ist zu bedenken, dass er Protestant war, was seine Einstellung zur christlich-katholischen Malerei der italienischen Renaissance zu beeinflussen scheint. 18 Christiane Kruse: Andachtsbild – Kunstbild – Sammlerbild? Frühniederländische Gemälde in privatem Besitz. In: Sammler – Bibliophile – Exzentriker, hg. v. Aleida Assmann/ Monika Gomille/Gabriele Rippl, Tübingen 1998, S. 299–314. 19 Kruse, Andachtsbild – Kunstbild – Sammlerbild (s. Anm. 18), S. 307. 20 Kruse, Andachtsbild – Kunstbild – Sammlerbild (s. Anm. 18), S. 301. Vgl. auch Belting, Bild und Kult (s. Anm. 5) und Belting, Autonomes Tafelbild (s. Anm. 10). 21 Victor I. Stoichita: Zur Stellung des sakralen Bildes in der neuzeitlichen Kunstsammlung. Die »Blumenkranzmadonna« in den »Cabinets d’Amateurs«, in: Macrocosmos in Microcosmo. Die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammelns 1450 bis 1800, hg. v. Andreas Grote, Opladen 1994, S. 417–436.
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schiebung der Bewertungsmaßstäbe im Sammlungskontext angesehen.22 Beide Beispiele zeigen deutlich, dass sich neben der Trennung nach sakralen und profanen Kontexten auch die von Hans Belting konstatierte und seither in der Kunstgeschichte stark rezipierte Differenzierung einer vorreformatorischen, kultischen Bildverehrung und einer nachreformatorischen Kunstrezeption in Untersuchungen zum religiösen Sammlungsbild niederschlägt.23 Dagegen stellt ein Beitrag Wolfgang Kemps zum Phänomen des Sammelns die Umwertung der ehemals sakralen Räumen zugeordneten religiösen Bilder in der Sammlung etwas vorsichtiger dar und weist damit einen Weg für eine differenzierte Untersuchung der Rezeptionsbedingungen: Am Beispiel der Mediceischen Tribuna argumentiert er, die bildenden Künste seien hier in einen neuen Zusammenhang übertragen, »der nun als genauso ordnungsstiftend und zwingend empfunden wurde wie der alte Kontext religiöser Kunstpräsentation«.24 Die neuen institutionellen Rahmenbedingungen machten dem Rezipienten der Bilder laut Kemp ebenso strenge Vorgaben wie eine sakrale Aufstellung – ein Argument, das ihrer Autonomisierung widerspricht. Die Sammlung interpretiert Kemp als »Abbild der Schöpfung, und so gesehen auch ein Tribut an den Schöpfer aller Dinge, ohne daß sich diese Zielsetzung allerdings mit kirchlichen Praktiken und Einrichtungen vergleichen wollte«.25 Kemps offener formulierte Frage nach der Veränderung der institutionellen Rahmenbedingungen und deren Bedeutung für die Rezeption der Bilder eröffnet neue Perspektiven auf die Kriterien und Bedingtheiten der Bildrezeption in der Sammlung und kann als methodischer Ansatz für weitere Untersuchungen dienen. Ein Beispiel für differenziertes Vorgehen findet sich in Valeska von Rosens Studie Caravaggio und die Grenzen des Darstellbaren: Konkret fragt die Autorin hier nach der Auswirkung der Dekontextualisierung sakraler Bilder in der Sammlung auf die Produktionsbedingungen und die intendierte Rezeption der
22 Stoichita spricht hier von »der Frage des sakralen Bildes innerhalb eines nicht-sakralen Milieus«. Stoichita, Zur Stellung des sakralen Bildes (s. Anm. 21), S. 421. Es erscheint jedoch hier zur Erfassung der Gemengelage sinnvoller, für die nicht-sakralen Kontexte allgemeiner von »religiösen Bildern« zu sprechen und den Begriff des »sakralen Bildes« den Bildern vorzubehalten, die im sakralen Raum verortet sind und eine entsprechende Funktion (Altarbild, Epitaph etc.) haben. 23 Vgl. vor allem Belting, Bild und Kult (s. Anm. 5); Der Einfluss von Beltings Thesen und die dagegen vorgebrachten Kritikpunkte werden treffend beschrieben in Jeffrey Hamburger : Hans Belting’s »Bild und Kult: eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst«, 1990 (Art history reviewed XI), in: The Burlington Magazine 153 (2011), Nr. 1294, S. 40–45. 24 Wolfgang Kemp: Kunst wird gesammelt, in: Funkkolleg Kunst. Eine Geschichte der Kunst im Wandel ihrer Funktionen, hg. v. Werner Busch, Berlin 21997 [1987], S. 185–204, hier S. 188, S. 194. 25 Kemp, Kunst wird gesammelt (s. Anm. 24), S. 194.
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religiösen Bilder im privaten Kontext nach dem Tridentinum (1545–1563).26 Dabei verweist sie auf die Vernachlässigung der »reinen Kunstsammlung« durch die Sammlungsforschung und das Ausklammern der Frage nach dem religiösen Bild und schlussfolgert »die Konturen des religiösen Sammlerbildes um 1600 sind mitnichten klar«.27 Für ihren eigenen Forschungsgegenstand stellt von Rosen fest, dass sich um 1600 ein Spalt zwischen den gegenreformatorischen Ansprüchen an das religiöse Bild und der Umsetzung religiöser Bildthemen für den privaten Kontext durch Caravaggio und seine Zeitgenossen auftut, der wiederum neue Möglichkeiten der Reflexion und des intellektuellen Diskurses eröffnet. Sie schließt daraus, die Bildergalerie werde »zum Erprobungsfeld, in dem die Normen und Möglichkeiten der Visualisierung nicht nur, aber in besonderer Weise im religiösen Bild ausgelotet und diskursiviert werden«.28 Somit zeigt von Rosen, dass die Frage nach der spezifischen Rolle des religiösen Bildes im Sammlungskontext auch neue Sichtweisen auf vertraute Bilder eröffnen kann. Das weitreichende Ausklammern des religiösen Bildes bei der Erforschung frühneuzeitlicher Sammlungen oder seine einseitige Behandlung lassen sich zum Teil aus dem verständlichen Bedürfnis der Bildwissenschaften und Sammlungsgeschichte heraus erklären, das traditionelle Forschungsfeld der Kunstgeschichte zu erweitern und gerade die Objekte in den Blick zu nehmen, die bislang nicht zum etablierten kunsthistorischen Kanon gehörten, so die Automaten, Naturalia, Prunkgeschirre und Handsteine, um nur einige zu nennen.29 Diese Objekte eröffnen Perspektiven auf die Sammlung als Wissensspeicher und Generator von neuem Wissen, aber auch auf die Zusammenhänge von Wissenschaft und Wunderglauben, Religion und Kosmos. Besonders den frühneuzeitlichen Kunstkammern wird in diesem Zusammenhang des Öfteren der Anspruch zugewiesen, den Makrokosmos der göttlichen Schöpfung in einer Art Mikrokosmos abzubilden.30 An dieses Ergebnis sollte auch die Erforschung der religiösen Gemälde und anderer Gegenstände religiöser Bildthematik im Sammlungskontext anknüpfen. Schließlich erschiene es widersprüchlich, von einer Einordnung jeglicher von Natur und Menschenhand gemachter Dinge in ein kosmisches System, das im frühneuzeitlichen Verständnis auf die Schöpfung Gottes zurückgeht, auszuge26 von Rosen, Caravaggio (s. Anm. 12), Kap. II.7 »Zum Problem des religiösen Sammlerbildes um 1600«. 27 von Rosen, Caravaggio (s. Anm. 12), S. 227. 28 von Rosen, Caravaggio (s. Anm. 12), S. 227 u. 237. 29 So klammert Bredekamp die Malerei in Antikensehnsucht und Maschinenglauben ganz aus, um sich auf die Objekte zu konzentrieren, die für die Untersuchung seiner Kernthese von der »Historisierung der Natur […] im Horizont der Kunstkammern« zielführend sind: die Naturalia, Maschinen und Automaten. Bredekamp, Antikensehnsucht (s. Anm. 7), S. 17. 30 Literaturangaben s. Anm. 7. Vgl. auch Lorraine Daston/Katharine Park: Wonders and the order of nature. 1150–1750, New York 1998.
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hen und gleichzeitig gerade den Bildern religiösen Inhalts eine Emanzipation von diesem System zuzusprechen, die sie letztlich aus dem christlichen Weltverständnis löst. Wenn also im Kontext der frühneuzeitlichen Sammlung alles als Teil eines göttlich bestimmten Systems gelten konnte, auch der Fortschritt der Wissenschaft und das Schaffen des Menschen, dann müssen gerade die religiösen Bilder ihren Platz darin gehabt haben und zwar in mehrfacher Weise: als Abbildung christlicher Themen und als fromme »Schöpfung« eines gottgefälligen Malers, unter Umständen aber auch als Gegenstand der Verehrung oder als sichtbarer Verweis auf die Frömmigkeit des Sammlers.31 Zu bedenken ist hierbei, dass auch nach der Reformation der Rezipient in der Regel ein gläubiger Christ war. Christliche Bildthemen wurden also meist als solche erkannt und riefen vertraute Episoden der Heilsgeschichte auf, die somit wesentliche Glaubensinhalte bildeten und zum Allgemeinwissen gehörten. Es bedarf also einer Erforschung der Möglichkeiten und Praktiken der Rezeption religiöser Bilder und anderer christlich konnotierter Sammlungsgegenstände im vermeintlich profanen Kontext. Wie zu Beginn aufgezeigt wurde, ist die Frage nach der Funktion und Rezeption des religiösen Bildes in der frühneuzeitlichen Sammlung eng verbunden mit dem Geltungsanspruch des Sammlers, mit allgemeinen Wissenskonfigurationen und -konventionen sowie exklusivem Spezialwissen als Vorbedingung der Bildbetrachtung. Doch lässt sie sich nicht auf diese Aspekte beschränken, da der Wissensbegriff allein nicht für die Erklärung der religiösen und ästhetischen Rezeption von Kunst ausreicht. Vielmehr knüpft sich ein ganzes Spektrum an weiteren Fragen an, die noch keineswegs beantwortet sind und der genauen exemplarischen Untersuchung bedürfen: Lässt sich eine Trennung des Blicks auf das religiöse Bild in einen ästhetisch-profanen und einen christlich-religiösen Blick feststellen, je nachdem ob es in der Sammlung oder im Sakralraum gesehen wird? Welche Rolle spielt das religiöse Bildthema für die Rezeption im Sammlungskontext und die repräsentative Funktion eines Bildes? Bewirkt die gemeinsame Präsentation mit mythologischen und anderen profanen Bildthemen automatisch den Verlust der religiösen Bedeutung? Wenn nicht, inwiefern ist die religiöse Bedeutung wesentlich für die Rarität des religiösen Bildes in der Sammlung? Ziel des zweiten Teils dieses Beitrags ist es nicht, diese Fragen abschließend zu beantworten, sondern sie anhand einer begrenzten Anzahl von Quellenauszügen und Fallbeispielen aus dem 16. Jahrhundert aufzugreifen, das 31 Wenn zum Beispiel der gegenreformatorische Bildtheologe Johannes Molanus für die religiösen Bilder annimmt, dass sie »gleichsam immer und überall ›vor den Juden und Heiden‹ [Zitat Molanus] ein Bekenntnis zu Christus ablegen«, dann muss dies auch für das religiöse Bild in fürstlichem Privatbesitz und in der Sammlung gelten. Vgl. Christian Hecht: Katholische Bildertheologie der Frühen Neuzeit. Studien zu Traktaten von Johannes Molanus, Gabriele Paleotti und anderen Autoren, Berlin 22012 [1997], S. 252.
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Themenfeld zu eröffnen und das Säkularisierungs-Narrativ des profanierten Bildes infrage zu stellen.
II.
Eröffnung des Forschungsfeldes anhand von Text- und Fallbeispielen
Die in diesem Teil anhand konkreter Fallbeispiele und Quellenauszüge aus dem 16. Jahrhundert vorgestellte übergreifende These lautet, dass die Trennung der Rezeption in einen profan-säkularen und einen sakral-religiösen Blick für die frühneuzeitliche Sammlung keineswegs uneingeschränkt vorausgesetzt werden kann und in der Tat davon auszugehen ist, dass verschiedene Formen der religiösen Rezeption im Sammlungskontext möglich waren. Frömmigkeit und Kunstsinn müssten sich demnach nicht notwendigerweise entgegenstehen, sondern könnten sich bisweilen sogar wechselseitig bedingt haben.
1.
Sakraler Kontext / profaner Kontext »Die Ausführungen über die Auferstehung, merkte Michelozzo an, haben mich an ein Bild Bronzinos in der Annunziata erinnert, das dieses Mysterium darstellt. Lass[t uns] bitte davon nicht sprechen, antwortete Vecchietti, weil dort ein so lasziver Engel dargestellt ist, daß es eine Schande ist. Wenn ich diese schöne Figur in meinem Haus hätte, sagte Michelozzo, würde ich sie sehr schätzen und würde davon eine hohe Meinung haben, weil dies eine der feinsten und zartesten Figuren ist, die man irgendwo sehen kann […].«32
Diese Passage im ersten Buch von Raffaele Borghinis Il Riposo (1584) belegt, dass man im Florenz des fortgeschrittenen 16. Jahrhunderts durchaus zwischen der Betrachtung eines religiösen Bildes im Sakralraum und in einem Privathaus unterscheiden konnte.33 Vier Florentiner Adlige und Sammler – Vecchietti, Sirigatti,Valori und Michelozzo – führen Dialoge über Bilder, hauptsächlich religiöser Thematik, die meisten davon in Kirchenräumen. Das erklärte Ziel der 32 Raffaele Borghini: Il Riposo, 1584, S. 116; dt. Übersetzung dieses Zitats mit leichter sprachlicher Anpassung zitiert nach Thomas Frangenberg: Der Betrachter. Studien zur florentinischen Kunstliteratur des 16. Jahrhunderts, Berlin 1990 [zugl. Diss., Köln 1986], S. 90 u. Anm. 48. 33 Diese Unterscheidung darf aber keineswegs als allgemein gültig angenommen werden. So beschreibt Albrecht Dürer während seiner Reise durch die Niederlande 1520 sakrale und profane Gemälde ohne Unterschied allein im Hinblick auf ihre künstlerische Qualität, was auch seiner Profession und dem Ziel seiner Reise entspricht. Albrecht Dürer : Tagebuch der Reise in die Niederlande, in: ders.: Schriften und Briefe, hg. v. Ernst Ullmann, Leipzig 6 1993 [1978], S. 21–67.
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Giovanni de Medici gewidmeten Schrift ist es, dem adligen oder fürstlichen Laien das Handwerkszeug zur kritischen Beurteilung von Kunstwerken zu vermitteln und ihm zu ermöglichen, »fundiert darüber zu reden«.34 Mit ihren Vorgaben für das gebildete Gespräch erinnert sie an den 1528 erschienenen und vielgelesenen Hofmann Baldassare Castigliones.35 Gleichzeitig reflektiert sie aber deutlich die in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts aktuellen gegenreformatorischen Diskussionen über die Zulässigkeit und das korrekte Aussehen des religiösen Bildes.36 So wird die Berechtigung der künstlerischen Mittel in der Umsetzung der Bildinhalte ausführlich von den vier Dialogpartnern diskutiert. Die religiösen Bilder stellen dabei »die höchsten Anforderungen an die inhaltliche Richtigkeit und klare Verständlichkeit der Darstellung«.37 Darum geht es letztlich auch in dem vorgestellten Textauszug, der Agnolo Bronzinos Altarbild der Auferstehung Christi (1552) kritisch in den Blick nimmt (Abbildung 2).38 Aus der Debatte um das decorum dieses Bildes schließt Frangenberg, »das in der Kirche untragbar scheinende Bild wäre in einem Privathaus ein hochgeschätzter Besitz«.39 Dies allerdings reflektiert nur die Meinung des einen DialogTeilnehmers (Michelozzo), während aus den Aussagen Vecchiettis hervorgeht, dass die künstlerische Umsetzung der religiösen Thematik unabhängig vom Kontext bestimmten Regeln folgen sollte. Er vertritt den strengen gegenreformatorischen Blick auf das Bild, welcher lascivitas unter keinen Umständen duldet.40 Auch dies jedoch ist noch nicht Borghinis letzter Schluss zu Bronzinos Auferstehung, denn an zwei weiteren Stellen kommen auch die anderen DialogTeilnehmer zu Wort: Im zweiten Buch lobt Sirigatti die Ausgewogenheit der 34 »con fondamento favellare«, zitiert nach Frangenberg, Betrachter (s. Anm. 32), S. 78; zur Zielleserschaft S. 80. 35 Baldassar Castiglione: Il libro del Cortegiano, Venedig 1528. 36 Besonders relevant hier die kurz zuvor erschienene Schrift von Gabriele Paleotti: Discorso intorno alle immagini sacre e profane diviso in 5 libri, Bologna 1582. Aus der umfangreichen Forschungsliteratur zur gegenreformatorischen Bildkritik seien hier nur folgende Titel genannt: Christian Hecht, Bildertheologie (s. Anm. 31); David Freedberg: Johannes Molanus on provocative paintings, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 34 (1971), S. 229–245; Christine Göttler : Die Disziplinierung des Heiligenbildes durch altgläubige Theologen nach der Reformation. Ein Beitrag zur Theorie des Sakralbildes im Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit, in: Bilder und Bildersturm im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, hg. v. Bob Scribner, Wiesbaden 1990, S. 263–295. 37 Frangenberg, Betrachter (s. Anm. 32), S. 89. 38 Es muss einer der beiden Engel zu den Seiten Christi gemeint sein. Der Vorwurf der »Laszivität« könnte sowohl durch ein Übermaß an entblößter Haut als auch durch die vermeintlich unschickliche Haltung der Figur begründet sein, auch wenn das hier nicht genauer ausgeführt wird. Daraus ließe sich vielleicht schließen, dass der linke Engel gemeint ist, da sich die Haltung des rechten immerhin daraus erklärt, dass er die steinerne Grababdeckung beiseite rollt. 39 Frangenberg, Der Betrachter (s. Anm. 32), S. 90. 40 Vgl. Hecht, Katholische Bildertheologie (s. Anm. 31), S. 336–354 zum Begriff der lascivitas.
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Abb. 2: Agnolo Bronzino, Auferstehung Christi, Mitte 16. Jh., Öl auf Holz, 445 V 280 cm, Florenz, Santissima Annunziata
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Figurenkomposition, die Farben und die Darstellung der Engel während Michelozzo die Ausführung der Figuren kritisch betrachtet: Das linke Bein Christi sei zu lang, der fliehende Soldat zu groß, das Bein des einen Engels solle in eine andere Richtung weisen.41 Im vierten Buch wird von Valori kritikfrei angemerkt, das Altarbild enthalte eine sehr schöne Engelsfigur.42 Die Diskussionen um das Auferstehungsbild in Il Riposo verdeutlichen, dass für Bilder mit religiösen Inhalten im sakralen und profanen Bereich durchaus unterschiedliche Qualitätsmaßstäbe angesetzt werden konnten, und reflektieren zugleich den Umstand, dass zeitgenössische künstlerische Entwicklungen auch an der formalen Umsetzung der christlichen Geschichten für den Kirchenraum abzulesen waren. Dabei lässt Borghini die Gesprächsteilnehmer die allgemeinen Kriterien der künstlerischen Wertschätzung vor allem an sakralen Bildern entwickeln, was dazu führt, dass sich die gegenreformatorische Forderung nach korrekter und angemessener Darstellung (decorum) nicht immer mit den im Quattrocento und Cinquecento etablierten künstlerischen Qualitätsmaßstäben (z. B. variet/, difficolt/) in Übereinstimmung bringen lässt. Das ästhetische Werturteil wird hier also nicht generell über den Inhalt des religiösen Bildes gestellt oder gar von ihm befreit, sondern mit der religiösen Aussage und Wirkung in dialogischer Form verhandelt. Der Leser – selbst ein potenzieller Bildbetrachter – wird zur Reflexion seiner Bewertungsmaßstäbe angehalten, es bleibt ihm aber überlassen, wessen Haltung er letztendlich einnehmen möchte. Das Format des Gesprächs erlaubt es Borghini somit, die Pluralität verschiedener Perspektiven bzw. Rezeptionshaltungen gegenüber religiösen Bildern aufzuzeigen. In dieser dialogischen Offenheit bietet Il Riposo auch die Möglichkeit, das Verhältnis der Rezeption des religiösen Bildes im profanen Kontext zur sakralen Rezeption im Zeitalter der Gegenreformation folgendermaßen zu denken: Laut der gegenreformatorischen Bildkritik besteht die Gefahr der fehlgeleiteten Betrachtung vor allem für die ungebildeten, des Lesens unkundigen Laien. Ihnen die korrekte Kenntnis der Bibel und der heiligen Geschichten zu vermitteln, ist nach dem gregorianischen Diktum, das in der Gegenreformation ein ums andere Mal aufgegriffen wird, eine der Hauptaufgaben der religiösen Bilder.43 Der gebildete Betrachter aber, der über ein sicheres Bibelwissen verfügt, ist nicht so 41 Raffaello Borghini: Il Riposo, hg. u. übers. v. Lloyd H. Ellis, Toronto 2007, S. 136. 42 Borghini, Il Riposo (s. Anm. 41), S. 252. 43 So Christian Hecht in Bezug auf die zehn Gründe für die Nützlichkeit religiöser Bilder in den Traktaten von Johannes Molanus und Nicolaus Sanders: »Zuerst sind Bilder nützlich wegen der Lehre, da sie die Ungebildeten unterweisen. Erwartungsgemäß erscheint hier der Verweis auf den hl. Gregor d. Gr. Die theoretische Bedeutung dieses Punktes ist kaum zu überschätzen. In vielen Traktaten steht er an erster Stelle.« Hecht, Bildertheologie (s. Anm. 31), hier S. 250–251, vgl. auch S. 53, 136 und bes. S. 263–265.
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leicht zu verführen, wie es die Dialoge Borghinis aufzeigen. Wenn also im privaten Kontext mehr »Laszivität« geduldet wird, so muss dies nicht zwingend daher rühren, dass das Bild dort seine religiöse Bedeutung gänzlich verliert, sondern könnte auch dadurch bedingt sein, dass der gebildete Betrachter vor dem Hintergrund seiner Kenntnis der Künste und der den Bildinhalten zugrunde liegenden Texte weniger leicht Gefahr läuft, die Bildaussage misszuverstehen. Dass das religiöse Bild unabhängig von einer wie auch immer gearteten liturgischen oder Andachtsfunktion auch im profanen Kontext Gegenstand intellektueller religiöser Kontemplation sein konnte, wird schon durch einen berühmten Dialog in den Colloquia Familiaria (1518) des Erasmus von Rotterdam gestützt: »Hier zur Linken wo das beste Licht ist und die Mauern durch wenige Fenster unterbrochen sind, rollt das Leben Jesu ab nach der Erzählung der Evangelien bis zur Aussendung des Heiligen Geistes und der ersten Apostelpredigt nach der Apostelgeschichte. Es sind auch die Ortsnamen angegeben, damit der Beschauer wisse, an welchem See oder auf welchem Berg der Vorgang sich abspielte […]. Dem entsprechen auf der anderen Seite Gestalten und Weissagungen aus dem Alten Testament, besonders aus den Propheten und Psalmen, die das Leben Christi und der Apostel nur auf andere Weise erzählen. Hier gehe ich zuweilen auf und ab, rede mit mir selbst und sinne in meinem Herzen über jenen unaussprechlichen Ratschluß Gottes nach, nach welchem er durch seinen Sohn das Menschengeschlecht erlösen wollte. Manchmal leistet mir meine Frau Gesellschaft oder ein Freund, der an frommen Dingen Gefallen hat.«44
Im Convivium Religiosum führt der Gastgeber Eusebius seine Gäste durch sein Landhaus. In der Beschreibung von Haus und Garten wird ein idealtypischer Ort für das Leben des tugendhaften christlichen Laien entworfen. Statt Prunk und Überfluss dominieren Bescheidenheit, heitere Naturnähe und Sauberkeit. Dabei wird auf eine bildliche Ausstattung nicht verzichtet, die an vielerlei Orten beschrieben wird: am Eingang zum Landgut, in der Kapelle, im Speisesaal und zum Schluss in einem ausgemalten Wandelgang im oberen Stockwerk des Hauses. Hier sind auf der jeweils besser beleuchteten Wandseite Bilder des Neuen Testaments zu sehen, auf der etwas dunkleren Seite Bilder des Alten Testaments. Schon die beschriebene Lichtsituation gibt Aufschluss über die höhere Gewichtung der neutestamentlichen gegenüber den alttestamentlichen Bildern. Beide dienen Eusebius als Hintergrundfolie für seine Kontemplation der Heilsgeschichte – allein und im Gespräch. An dieser Stelle wird das sich wechselseitig bedingende Zusammenspiel von Betrachterwissen und Bild deutlich. Dabei allerdings verlässt sich das Bildprogramm nicht allein auf die Vorkenntnisse des 44 Desiderius Erasmus: Das fromme Gastmahl [Convivium Religiosum], in: Vertraute Gespräche, übertr. u. eingel. v. Hubert Schiel, Köln 1947, S. 379.
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Betrachters, sondern sorgt durch Beschriftung für Unmissverständlichkeit wodurch das Lesevermögen und damit ein Wissensbereich speziell des gebildeten Betrachters angesprochen wird. Die im Gartenhaus befindlichen Naturdarstellungen werden in ihrer Funktion übrigens nicht grundlegend von den religiösen Bildern unterschieden: Sie repräsentieren Gottes Schöpfung und haben somit ihre Berechtigung im Gesamtkonzept der Ausstattung.45 Diese ist nicht als Sammlung sondern als Bildprogramm zu bezeichnen, denn hier geht es nicht darum, Objekte und Bilder aufgrund ihrer Rarität zu versammeln.46 Generell lässt sich bei der Betrachtung frühneuzeitlicher Sammlungen kaum zwischen Raumausstattung, Kunstbesitz und Sammlung unterscheiden. Wenn sich die Untersuchung der Sammlung auf eigens dafür geschaffene Räume und institutionelle Zusammenhänge konzentriert, muss sie also zwangsläufig Wesentliches ausklammern und sich auf die Beispiele beschränken, in denen eine Kunstkammer oder Galerie als eigener Raum und eigene Institution bestanden. Diese Konzentration aber kann den Blick auf die Rolle des religiösen Bildes in der Sammlung durchaus verzerren, denn religiöse Bilder wurden oft im Schlafzimmer und in anderen Empfangsräumen aufbewahrt. Dort dienten sie unter Umständen der religiösen Andacht oder Kontemplation und hatten zudem eine repräsentative Funktion.47 So ist das von Erasmus beschriebene Ideal der intellektuellen, religiösen Kontemplation der Bilder relevant für die hier vorgestellten Überlegungen zur Rezeption des religiösen Sammlerbildes. Der funktional für das religiöse Bild prädestinierte Ort jedoch war die Kapelle, die auch von Erasmus zu Beginn des Dialogs beschrieben wird und auf deren Altar hier ein nicht näher beschriebenes Christusbild steht.48 Da die Haus- oder Palastkapelle als sakraler Ort im profanen Kontext, an dem sich Kunst und Kult notwendigerweise überkreuzen, noch nicht ausreichend untersucht ist, rückt sie nun in den Fokus.49
45 Erasmus, Das fromme Gastmahl (s. Anm. 44), S. 339. 46 Erasmus, Das fromme Gastmahl (s. Anm. 44), S. 378. Explizit nimmt der Gastgeber Abstand von reichen Silbergeschirren, wie sie in fürstlichen Häusern vorhanden sind. 47 Vgl. z. B. Dagmar Eichberger: Leben mit Kunst. Wirken durch Kunst. Sammelwesen und Hofkunst unter Margarete von Österreich, Regentin der Niederlande (Burgundica 5), Turnhout 2002 [zugl. Habil., Saarbrücken]. 48 Erasmus, Das fromme Gastmahl (s. Anm. 44), S. 336. 49 Eine der ersten Untersuchungen, die die Hofkapelle nicht allein unter architektonischen Gesichtspunkten behandelt, sondern ihr künstlerisches Programm und religiöse Inszenierungen im Zusammenhang untersucht, bei Martin Hirschboeck: Florentinische Palastkapellen unter den ersten Medici-Herzögen (1537–1609). Verborgene Orte frommer Selbstdarstellung und konfessioneller Identität, Berlin/München 2011 [zugl. Diss., Freiburg i. Br. 2008].
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Das höfische Altarbild und die Hofkapelle als sakraler Raum im profanen Kontext »[In der Kapelle] befand sich ein Retabel, das die Kreuzabnahme Christi zeigte. Es war das beste Stück im Schloss und, wie ich glaube, auf der ganzen Welt. Ich habe nämlich in diesem Land viele hervorragende Gemälde gesehen, jedoch kein einziges mit dem Pinsel gemachtes, das ebenso naturnah und fromm war. Diese Meinung wird von allen geteilt, die es gesehen haben.«50
Die Palastkapelle diente sowohl als Aufstellungsort neu und eigens geschaffener als auch älterer Altarbilder. Das vorangestellte Zitat beschreibt das Altarbild der Kreuzabnahme Rogier van der Weydens (vor 1443) – gemalt für die Löwener Armbrustschützen – an seinem zweiten Standort in der Kapelle des Schlosses in Binche.51 Im Lob des spanischen Adligen Vicente Alvarez auf das Altarbild in der Schlosskapelle der Habsburger Regentin Maria von Ungarn verschmilzt die kunstästhetische mit der andächtig-frommen Bildbetrachtung: Zum einen muss das Bild dem Vergleich mit allen anderen im Schloss aufbewahrten Kunstwerken standhalten, darunter Bilder Tizians und Michiel Coxcies, Abgüsse nach antiken Statuen und kunstvoll gewebte niederländische Tapisserien.52 Dies ist hier nicht als gängiger Topos des Bilderlobes zu verstehen, sondern zeugt von einer höfischen Praxis des visuellen Vergleichs mit anderen Werken. Zum anderen wird gerade auch die handwerkliche Gemachtheit des Bildes als Basis für die naturnahe und fromme Darstellung hervorgehoben. Hier lässt sich keine Trennung eines religiösen und eines ästhetischen Blicks feststellen. Das Bild ist Altarbild und höfisches Kunstwerk, ohne dass dies für den Betrachter ein Problem darstellt. Im Vergleich zu seinem vormaligen Status als Altarbild in der Löwener Armbrustschützenkapelle hat sich demnach seine Funktion nicht grundlegend geändert, aber das ganze Rezeptionsgefüge ist dennoch ein anderes. So steht das 50 Vicente Alvarez: Relacijn del camino y buen viaje que hizo el Principe de Espan˜a Don Phelipe nuestro sen˜or, an˜o del nascimiento de nuestro Salvador, y Redemptor IESV CHRISTO de 1548 an˜os: que passo de Espan˜a en Italia, y fue por Alemania hasta Flandres donde su padre el Emperador y Rey don Carlos senor estava en la villa de Bruselas (1548), publiziert 1551. Digitalisat auf der Seite der Bayerischen Staatsbibliothek: http://www.bsb-muenchendigital.de/web1017/bsb10179406/images/, Bildnr. 157 [15. 7. 2014]. Übersetzung des Zitats durch die Verfasserin. 51 Zu den verschiedenen Stationen der Kreuzabnahme im 16. Jahrhundert vgl. Amy Powell: The errant image: Rogier van der Weyden’s Deposition from the Cross and its copies, in: Art History 29 (2006), S. 540–562. 52 Zur Ausstattung von Binche vgl. u. a. Bob C. Van den Boogert: Macht en Pracht. Het mecenaat van Maria van Hongarije, in: Maria van Hongarije. Koningin tussen keizers en kunstenaars, 1505–1558 (Ausst.-Kat. Rijksmuseum Het Catharijne Convent, Utrecht/ Noordbrabants Museum, ’s-Hertogenbosch, 11.9. bis 28. 11. 1993), hg. v. Bob C. Van den Boogert/Jacqueline Kerkhoff, Zwolle 1993, S. 269–301.
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Bild in Binche nicht nur in einem höfischen Kunstzusammenhang mit anderen Bildern religiösen und profanen Inhalts, sondern dient zudem zur visuellen Anknüpfung der spanischen Habsburger an die Zeit der Burgunder Herzöge, ihrer Vorgänger als Herrscher über die Niederlande.53 Weitere altniederländische Bilder in den spanischen Sammlungen und andere Formen der Inszenierung – zum Beispiel in Form von höfischen Festen und Turnieren – bestärken die Annahme, dass hier fürstliche Legitimationsstrategie und Repräsentation katholischer Frömmigkeit zusammenfallen.54 Das höfische Altarbild konnte auch zum Gegenstand des zwischenhöfischen Geschenkeverkehrs werden, wie ein Florentiner Beispiel zeigt: Im Jahr 1545 stellte der bereits erwähnte Maler Agnolo Bronzino eine Beweinung Christi für die Kapelle der Eleonora di Toledo im Palazzo Vecchio in Florenz fertig. In der Florentiner Palastkapelle hatte das Bild eindeutig eine religiöse Funktion.55 Der im Bild äußerst präsente Leib Christi vergegenwärtigt – ebenso wie jener auf der Kreuzabnahme Rogier van der Weydens – das Sakrament der Eucharistie. Doch bereits kurz nach seiner Aufstellung wurde das Bild als Geschenk an einen engen Berater Kaiser Karls V., den Kardinal Nicolas de Granvelle, gegeben.56 Sein Einsatz im diplomatischen Gabenverkehr zeigt die Anerkennung seines künstlerischen Werts an – sei es aufgrund seines Urhebers oder der Art der Ausführung. Hätte Granvelle ein beliebiges Beweinungsbild gewollt, so hätte man wohl nicht gerade dieses für die Florentiner Kapelle geplante Gemälde hergegeben. Für die anhaltende religiöse Bedeutung des Bildthemas in Form eben dieser Beweinung und ihre zentrale Rolle im Gesamtprogramm der Medici-Kapelle spricht der Umstand, dass man Bronzino beauftragte, eine weitere Version des Bildes zu erstellen, die wiederum auf dem Altar dieser Kapelle aufgestellt wurde und sich dort noch heute befindet. Doch auch der Kardinal schätzte die erste Version des Bildes offenbar als religiöses Kunstwerk, denn er ließ sie auf dem Altar seiner Grabkapelle in BesanÅon aufstellen.57 Mit diesem Altarbild Bronzinos lässt sich somit ein weiterer Fall greifen, in dem die religiöse Funktion und 53 Diesem Zusammenhang gehe ich im Rahmen meiner 2017 abgeschlossenen Dissertation zum Thema »Kunst und Kult, Kopie und Original. Fallstudien zu Aneignung, Wiederholung und Ersatz von Altarbildern in der Frühen Neuzeit« nach (Publikation 2020 erwartet). 54 Vgl. Emily Peters: 1549 Knight’s Game at Binche. Constructing Philip II’s ideal identity in a ritual of honor, in: Nederlands Kunsthistorisch Jaarboek (Hof-, Staats- en Stadsceremonies) 49 (1998), S. 11–35. 55 Zu den Florentiner Palastkapellen Hirschboeck, Palastkapellen (s. Anm. 49); zur Kapelle der Eleonora di Toledo Janet Cox-Rearick: Bronzino’s Chapel of Eleonora in the Palazzo Vecchio, Berkeley u. a. 1993. 56 Cox-Rearick, Bronzino’s Chapel of Eleonora (s. Anm. 55), S. 75–77; Sylvie Béguin: A propos du chef-d’œuvre de Bronzino. La D8ploration sur le Christ mort, in: Les Granvelle et l’Italie au XVIe siHcle. Le m8c8nat d’une famille, hg. v. Jacqueline Brunet, BesanÅon 1996, S. 129–151. 57 Cox-Rearick, Bronzino’s Chapel of Eleonora (s. Anm. 55), S. 77.
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ästhetische Rezeption im höfischen Kontext einander nicht ausschließen. Für die Bedeutung dieser beiden Aspekte in Bezug auf das Altarbild in der Hofkapelle spricht zudem die repräsentative Funktion des Ortes, der dem Besucher Rückschlüsse auf die Frömmigkeit des Fürsten ermöglichte. Das religiöse Bild in der Hofkapelle konnte somit in verschiedener Weise rezipiert werden, hatte aber im Gegensatz zu Galerie oder Kunstkammer noch immer eine durch den institutionellen Kontext klar vorgegebene Funktion, die seinen Geltungsbereich und seine Wirkung bestimmte. Für Galerie und Kunstkammer ist die Untersuchung der religiösen Rezeptionsmodi entsprechend schwieriger.
3.
Religiöse Bilder in der fürstlichen Kunstkammer »Bilder der Heilsgeschichte ebenso gemalte wie auch modellierte oder durch irgendeine andere Kunstfertigkeit geschaffene. Solche, die aus der biblischen und der übrigen christlichen Geschichte hervorgegangen sind, werden in der heiligen Schatzkammer [sacro thesauro] an erster Stelle aufgestellt und wegen der außerordentlichen künstlerischen Eigenschaften in höchstem Maße verehrt [venerantur].«58
So beginnt die Inscriptiones vel Tituli Theatri amplissimi betitelte Schrift des Niederländers Samuel Quiccheberg aus dem Jahr 1565, die gemeinhin als der erste frühneuzeitliche Sammlungstraktat gilt und von Bredekamp als die »richtungweisende Formulierung« des Sammlungstyps der »zwischen ca. 1540 und 1740 vorherrschenden, enzyklopädisch angelegten Kunstkammer« bezeichnet wird.59 Sie entwirft ein Ordnungssystem für eine ideale Kunstkammer und ist dem bayerischen Herzog Albrecht V. gewidmet, der etwa zur gleichen Zeit seine umfangreiche Kunstkammer einrichtete.60 Quiccheberg teilt die Kunstkammer in fünf Klassen ein, von denen jede wiederum in zehn bis elf Inscriptiones untergliedert ist. Dieses Ordnungssystem
58 Samuel Quiccheberg: Inscriptiones vel tituli theatri amplissimi, in: Der Anfang der Museumslehre in Deutschland. Das Traktat »Inscriptiones vel tituli theatri amplissimi« von Samuel Quiccheberg, lateinisch-deutsch, hg. u. komm. v. Harriet Roth, Berlin 2000, S. 36–226, hier S. 41. 59 Bredekamp, Antikensehnsucht (s. Anm. 7), S. 33. 60 Jedoch lässt sich der Traktat Quicchebergs nicht als Entwurf für die Münchner Kunstkammer bezeichnen. Zur Kunstkammer Albrechts V. vgl. Die Münchner Kunstkammer, hg. v. Dorothea Diemer, München 2008 (Abhandlungen/BayerischeAkademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse 129); Johann Baptist Fickler : Das Inventar der Münchner herzoglichen Kunstkammer von 1598. Editionsband, Transkription der Inventarhandschrift cgm 2133, hg. v. Peter Diemer, München 2004.
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bildet im Kleinen große Zusammenhänge ab.61 Dabei umfasst die erste Klasse christliche Darstellungen, Porträts des Herrschers und seiner Ahnen, Bilder und Karten seines Territoriums, Architekturmodelle und Modelle von Maschinen; die zweite Klasse Standbilder, Handwerksarbeiten und Geräte, Gefäße, Münzen und andere symbolische »Zeichen« sowie Kupferdruckplatten; die dritte Klasse Naturalia und gegossene Tiergestalten, Metalle, edle oder seltene Steine und Farbpigmente, »irdene Stoffe und Säfte«; die vierte Klasse Musikinstrumente, mathematische und medizinische Instrumente, Schreib- und Zeichenwerkzeuge, Werkzeuge sowie Spielzeuge, Waffen und Kleidung; die fünfte und letzte Klasse schließlich listet Gemälde und Stiche verschiedener Art, Stammbäume und Wappen, Tapisserien und Möbel. Gemalte Bilder sind in der ersten und fünften Klasse enthalten. Der grundlegende Unterschied besteht darin, dass mit den ersten acht Inscriptiones der ersten Klasse eine Kategorisierung nach dem Bildgegenstand vorgenommen wird und zwar nach Themen, die für den Herrscher relevant sind; es kann sich dabei aber sowohl um gemalte als auch um modellierte oder skulptierte Bilder handeln. In der fünften Klasse ist die Herstellungsart bzw. die materielle Verfasstheit des Bildes entscheidend. Spielen auch religiöse Bilder und Gegenstände im Gesamtsystem auf den ersten Blick eine untergeordnete Rolle, werden sie doch in der ersten, zweiten und fünften Klasse explizit benannt: In der zweiten Klasse fügen sich die religiösen Goldschmiedearbeiten in eine Sammelkategorie von »religiösen und profanen Bildchen« (imagunculas sacras & prophanas) für Altäre, Gefäße und Schmuck ein, wobei besonders die begriffliche Trennung des Heiligen und Profanen auffällt. Diese zeigt sich dann auch in der fünften Klasse, wo die religiösen Bilder unter der vierten Überschrift »religiöse und profane Tafelbilder« (Partitionem tabulae sacrae et profanae) in eine Gruppe mit anderen auf Tafeln gemalten oder aufgezogenen Chronologien, Karten und Genealogien gefasst werden. Die Bezeichnung zeigt an, dass zwischen religiösen und profanen Darstellungen unterschieden wird, sich die Unterscheidung also auf das Bildthema bezieht. Religiöse und profane Bilder erscheinen demnach in derselben Sammlungskategorie und sollen offenbar zusammen gezeigt werden. Eva Schulz hat jedoch bemerkt, dass Quicchebergs System seine Begründung direkt der Bibel entnimmt: »According to him the first collections were already 61 Die folgende Kurzzusammenfassung basiert direkt auf der Übersetzung des Traktates von Quiccheberg, publiziert von Roth (s. Anm. 58). Die deutschen Zitate orientieren sich an Roths Übersetzungen; Weitere Zusammenfassungen von Quicchebergs System bei Bredekamp, Antikensehnsucht (s. Anm. 7), S. 34, und Eva Schulz: Notes on the history of collecting and of museums in the light of selected literature of the sixteenth to the eighteenth century, in: Journal of the history of collections 2 (1990), S. 205–218, hier S. 206–208; eine ausführlichere Darstellung, die das astrologische Moment sehr stark in den Vordergrund stellt, bei Minges, Sammlungswesen (s. Anm. 7), S. 62–75.
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described in the Old Testament, the desirability being thereby established that true Christians should also form such a collection.«62 Unter dieser Voraussetzung kann hier nicht die systematische Profanierung der religiösen Bilder im Sinne einer säkularisierten Kunstbetrachtung angenommen werden; vielmehr scheint es so zu sein, dass gerade die religiösen Bilder Eckpfeiler von Quicchebergs Sammlungsstruktur bilden und sich ihre Bedeutung auf die anderen Sammlungsobjekte übertragen soll. Dies wird durch die oben zitierte Erwähnung der religiösen Bilder in der ersten Klasse, am Anfang der von Quiccheberg vorgeschlagenen Ordnung, bekräftigt. In ihrer vorangestellten Position aber auch in der Verwendung des Verbs venerare, das eher der Gnadenbildverehrung als der Kunstbetrachtung angemessen scheint, zeichnet sich eine Rezeptionshaltung ab, die nicht von der Art der Ausführung oder der Urheberschaft abhängt. Dennoch scheint die Qualität der Bilder eine entscheidende Rolle für ihre Auswahl zu spielen, denn es werden nur die »besten« religiösen Bilder in der ersten Klasse präsentiert. Leider gibt Quiccheberg nicht an, welche Bewertungskriterien er anlegt. Dafür reflektiert er die hervorgehobene Position der besten religiösen Bilder in den beigefügten Digressiones et Declarationes. Hier rechtfertigt er, dass er jene »erlesensten sakralen Tafelbilder« den Porträts des Fürsten und seiner Ahnen vorziehe, »damit der beste Anfang des Theaters […] von den göttlichen Bildern gemacht werde«.63 Eine weitere Quelle des fortgeschrittenen 16. Jahrhunderts, die manchmal im Zusammenhang mit Quicchebergs Traktat genannt wird, insgesamt aber noch zu wenig Berücksichtigung gefunden hat, ist Gabriel Kaltemarckts 1587 verfasste Schrift Bedenken wie eine Kunst-Cammer aufzurichten seyn möchte.64 Dem sächsischen Kurfürsten Christian I. gewidmet, weist sie ihre reformatorische Prägung auf, indem sie gleich zu Beginn die Frage des rechten Bildgebrauchs thematisiert: »[…] die Pictur aber durch das gesicht, die Menschen zu gebürlicher eerlicher Freude zuerwecken, von Gott fürnemlich gegeben und verordnet Derhalben dise beide Künste [die Musik und die bildende Kunst] allezeit zu rechtem Gottesdinst, auch in der Kirchen gebraucht, und disfals allen andern Künsten fürgezogen worden. Ob sy woll wie auch die heilige Schrifft selbst, zur Abgötterey und anderm ergernus vilmals gezwungen, ist doch salches weder der Schrifft, noch disen beiden Künsten, sondern dem Misbrauch zuzurechnen. Ich in meiner einfalt, halte genczlich darfür. Das gleich wie kein Volck 62 Schulz, history of collecting (s. Anm. 61), S. 209. 63 Quiccheberg, Inscriptiones (s. Anm. 58), S. 109. 64 Gabriel Kaltemarckt: Bedenken wie eine Kunst-Cammer aufzurichten seyn mochte, in: Barbara Gutfleisch/Joachim Menzhausen: »How a Kunstkammer should be formed«. Gabriel Kaltemarckt’s advice to Christian I of saxony on the formation of an art collection, 1587, in: Journal of the history of collections 1 (1989), S. 3–32 (Transkription des Originaltextes S. 7–32).
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under der Sonnen ausserhalb der rechten christlichen Kirchen nichts gründlichs von Gott weis, also ist auch der rechte gebrauch der Bilder und Gemehle, allein bei rechter Religion zufinden, […]«65
Der Missbrauch der Bilder durch »Heiden und Papisten« sei also nicht den Bildern selbst vorzuwerfen, sondern eine Frage der richtigen Religion, kann er doch genauso der Heiligen Schrift widerfahren, die dadurch auch nicht ihre Berechtigung verliert. Kaltemarckt entwickelt somit gewissermaßen eine Gegenposition zu Quiccheberg: Weit entfernt vom Quiccheberg’schen venerare besteht laut Menzhausen die von Kaltemarckt beschriebene korrekte Rezeption der Bilder in der fürstlichen Sammlung in der Aufnahme ihres didaktischen und moralischen Gehalts.66 Durch ihre, auch von den Lutheranern anerkannte Funktion im »rechten Gottesdienst« aber liefern ihm die religiösen Bilder eine wesentliche Begründung dafür, dass der christliche Fürst überhaupt Bilder besitzen dürfe und sogar müsse.
Fazit und Ausblick Aus den präsentierten Beispielen und Textauszügen des 16. Jahrhunderts lässt sich kein einheitlicher Schluss zur Funktion und Rezeption des religiösen Bildes in der fürstlichen Sammlung ziehen. Die heterogene Zusammenstellung der vor- und nachreformatorischen, katholischen und protestantischen, nordund südalpinen Beispiele ergibt jedoch in der Zusammenschau, dass sich auch eine dem Säkularisierungs-Narrativ gegenläufige Geschichte des religiösen Sammlungsbildes erzählen lässt. So legt der Text Borghinis nahe, dass das begriffliche Instrumentarium und die Kriterien für die ästhetische Bewertung von Kunst zu einem beträchtlichen Teil am religiösen, sakralen Bild entwickelt und in den profanen Kontext übertragen wurden. Zugleich zeigt das Beispiel, dass der Kunstbetrachter religiösen Bildern sowohl im Rahmen der Sammlung als auch im Sakralraum begegnete. Gelockerte Ansprüche an das decorum der Bilder im profanen Kontext mussten einer religiösen Rezeption dabei nicht widersprechen. In der idealtypischen Beschreibung des Erasmus von Rotterdam sind es die religiösen Bilder, welche die Rezeptionshaltung gegenüber allen anderen Bildern vorgeben. Dies könnte auch für Quiccheberg gelten, der jedoch je nach Sammlungskategorie durchaus zwischen einer Form der Bildverehrung und 65 Kaltemarckt, Bedenken (s. Anm. 64), S. 8. 66 »This line of reasoning, in which didactic and moral functions are assigned to art, is specifically Lutheran and would have been understood by the young Elector without difficulty.« Gutfleisch/Menzhausen, »How a Kunstkammer should be formed« (s. Anm. 64), S. 4.
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anderen Betrachtungsweisen unterscheidet. Bei Kaltemarckt lässt sich dies nicht feststellen, hier aber gibt erst die sakrale Funktion der religiösen Malerei den Bildern eine Daseinsberechtigung im Rahmen der Sammlung. Es muss also davon ausgegangen werden, dass es neben Gottesdienst, Gebet und Andacht – in der Hofkapelle weiterhin gültige Bedingungen der Betrachtung – weitere Möglichkeiten der christlichen Bildrezeption gab. Grundsätzlich sollte stets angenommen werden, dass der frühneuzeitliche Betrachter eine Rezeptionshaltung einnahm, die sich von einem modernen aufgeklärten und säkularisierten, dabei ästhetisch oder auratisch aufgeladenen Blick notwendigerweise unterschied. In der Rezeption des religiösen Sammlungsbildes, so lässt sich aus den Quellen schlussfolgern, konnten sich Frömmigkeit und ästhetisches Betrachten vermengen und mit dem Wissen des Betrachters um den Ablauf der Heilsgeschichte, um Bibeltexte und Legenden der Heiligen überschneiden. Anhand der genannten Beispiele lassen sich verschiedene Möglichkeiten für religiös bestimmte Rezeptionshaltungen im Sammlungskontext differenzieren: so der gebildet-kunstsinnig-fromme (Borghini), der christlich-kontemplativ-intellektuelle (Erasmus) und der sakramental-ästhetische Blick (Alvarez), sowie eine katholisch-repräsentative (Quiccheberg) und eine lutherischdidaktische Haltung (Kaltemarckt). Ein ästhetischer oder qualitativer Anspruch an das Bild schwingt in allen mit. Die Bedeutung von Exklusivität und künstlerischer Form und die repräsentative Funktion der Bilder religiösen Inhalts in der Sammlung widersprechen demnach nicht notwendigerweise ihrer religiösen Rezeption. Auch der ästhetische Aspekt der religiösen Verzückung und des Mitleidens (Grimmelshausens Simplicius) sollte für das Sammlerbild ernst genommen werden. So erscheint es möglich, dass einige religiöse Bilder den Ansprüchen an die künstlerische Form und Rarität sowie an die Anregung religiöser Kontemplation oder gar Verzückung gleichermaßen gerecht werden konnten und ihr Erfolg als Sammlerstück gerade dadurch bedingt war. In Bezug auf diesen letzten Punkt wäre es lohnenswert, nach weiteren Quellentexten zu suchen, die das affizierende Potenzial des religiösen Bildes im Sammlungskontext aufzeigen. Fast wie eine Antwort auf die anfangs analysierte Simplicissimus-Passage mutet etwa eine Episode aus dem Leben des zunächst protestantischen Grafen von Zinzendorf an, der zu Beginn des 18. Jahrhundert laut seiner Biographie durch die Besichtigung eines EcceHomo-Bildes in der Düsseldorfer Galerie »zum rechten Glauben« bekehrt wurde: »In der vortrefflichen Bildergallerie daselbst zog, unter der Menge der auserlesensten Gemählde, ein Ecce Homo das Auge und Gemüth unseres Grafen an sich. Es war in demselben der Affect unvergleichlich ausgedruckt, mit einer lateinischen Unter-
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schrift dieses Inhalts: ›Das alles habe ich für dich gethan: was thust du für mich?‹ Er gedachte dabey, daß er auf diese Frage auch nicht viel würde antworten können und bate seinen Heiland, ihn in die Gemeinschaft seiner Leiden mit Gewalt zu reissen, wenn sein Sinn nicht hinein wolle.«67
67 Zitiert nach Hecht, Bildertheologie (s. Anm. 31), S. 255; vgl. auch die hier auf S. 258 beschriebene Bekehrungsgeschichte einer »hoffärtigen Welt-Tochter« durch ein Ecce-HomoBild.
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Das Schloss als Empfangsort. Überlegungen zu einer Funktion französischer maisons de plaisance und ihrer Bedeutung für das Geltungsstreben neuer Eliten im französischen 17. Jahrhundert
Anschließend an die kultur- und sozialwissenschaftliche Erfassung von Raum als Ergebnis, Ausdruck und Bühne gesellschaftlicher Interaktionsprozesse wurde auch das frühneuzeitliche Schloss als ein sozial konstruierter Raum beschrieben, der folglich immer auch als ein Wissensraum zu verstehen ist. In einer Schlossanlage wirksam werdende Wissensformen zeichnen sich durch eine hohe Diversität und Komplexität aus, die man bereits durch eine idealtypische Unterteilung in präfiguratives, höfisches und extrinsisches Wissen ansatzweise zu strukturieren versuchte.1 Vielfach ist den heterogenen Manifestationen von Wissen ein kulturelles und symbolisches Kapital eigen, das einen wesentlichen Beitrag zur Legitimation, Kommunikation und Ausweitung von Macht- und Geltungsansprüchen liefert.2 Im Kontext barocker Schlossanlagen rückten Prozesse der Generierung und Instrumentalisierung von Wissen bereits in den Fokus kunsthistorischer Forschung,3 wobei sich das Interesse vorrangig auf kaiserliche, königliche oder fürstliche Residenzschlösser richtete – dies ist vermutlich nicht zuletzt der Annahme geschuldet, dass der Hof in Analogie zu seiner politischen, ökonomischen und kulturellen Bedeutung als weitgehend konkurrenzloses Zentrum von Akkumulation, Produktion und Demonstration von Wissen zu begreifen sei.4 Ist diese Beobachtung zwar vielerorts zutreffend, 1 Präfiguratives Wissen umfasst demnach ein »theoretisch-planerische[s], ästhetische[s] und praktisch-technische[s] Wissen« für die Umsetzung des Schlossbaus sowie ein Wissen von den durch das Gebäude zu erfüllenden Aufgaben und Funktionen; höfisches Wissen bezeichnet ein in den im Schloss stattfindenden Handlungen relevant werdendes oder neu entstehendes Wissen; extrinsisches Wissen benennt ein neu produziertes Wissen, »das nicht unmittelbar aus der Bestimmung und der sozialen Wirklichkeit des Schlosses abgeleitet, sondern wesentlich durch äußere Faktoren initiiert ist.« Hole Rößler : Das barocke Schloss als Wissensraum. Einleitende Überlegungen, in: Residenz der Musen. Das barocke Schloss als Wissensraum, hg. v. Berthold Heinecke/Hole Rößler/Flemming Schock, Berlin 2013, S. 9–33, hier S. 14. 2 Vgl. Rößler, Einleitende Überlegungen (s. Anm. 1), S. 11. 3 Vgl. die Beiträge in Residenz der Musen (s. Anm. 1). 4 Vgl. Rößler, Einleitende Überlegungen (s. Anm. 1), S.11.
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muss sie dennoch im jeweiligen Kontext von historischen Bedingungen und spezifischen Machtstrukturen differenziert und erweitert werden. Ein anschauliches Beispiel hierfür liefern die Schlossbauten neuer Eliten im Frankreich des 17. Jahrhunderts, die auf Eigeninitiative vermögender und einflussreicher Regierungsmitglieder abseits des Hofes und zugleich in seinem Spannungsfeld entstanden. Die künstlerische Entfaltung und aufwendige Repräsentation jenseits der höfischen Zentren wurde insbesondere durch eine begrenzte Institutionalisierung und fehlende Bündelung kunstpolitischer Interessen seitens der Monarchie in den ersten beiden Dritteln des 17. Jahrhunderts ermöglicht.5 Bevor Ludwig XIV. nach Beginn seiner alleinigen Regentschaft 1661 die Kunst systematisch für seine politisch-repräsentativen Interessen zu instrumentalisieren begann, lässt sich in Kreisen der noblesse de robe und Finanzeliten eine wahre Blüte neu errichteter Landhäuser beobachten,6 die dem enormen Geltungsbedürfnis und den politisch-gesellschaftlichen Ambitionen ihrer Besitzer beredten Ausdruck verliehen.7 Als Teil von Legitimations- und Anerkennungsstrategien oszillierte die Bauaufgabe des Landschlosses zwischen der von einem Individuum in ›privatem‹8 Rahmen initiierten Repräsentation und einer öffentlich orientierten Ausrichtung, die ihren Ausgangspunkt in der Abhängigkeit der mehrheitlich im Staatsdienst stehenden Eliten von der Gunst des Königs nahm. Der Empfang hochrangiger Persönlichkeiten und insbesondere des Königs hatte für das Landschloss sinnstiftende Bedeutung und erlaubte die Schaffung einer situativen Öffentlichkeit,9 an die sich die repräsentative Ausstattung und die 5 Bereits Kardinal Richelieu nutzte das geringe Kunstinteresse Ludwigs XIII. für eine parallel zu einem staatlich geführten Mäzenatentum praktizierte Inanspruchnahme der Kunst für seine eigenen Interesssen, was sein Nachfolger im Amt des premier ministre Jules Mazarin in ähnlicher Form fortführte. Erst mit Jean-Baptiste Colberts Ernennung zum surintendant des b.timents 1663 kam es zu einer wirkungsvollen Verengung kunstpolitischer Aktivitäten auf Ludwig XIV. Vgl. Stefan Germer : Kunst-Macht-Diskurs. Die intellektuelle Karriere des Andr8 F8libien im Frankreich von Louis XIV., München 1997, S. 130. 6 In der Region von Lyon beispielsweise waren mehr als 160 Landsitze im Besitz der noblesse de robe, denen gegenüber der Schwertadel mit 47 an der Zahl deutlich unterrepräsentiert war. Vgl. Jean-Pierre Brancourt: La monarchie et les ch.teaux du XVIe au XVIIIe siHcle, in: XVIIe siHcle. Les ch.teaux en France au XVIIe siHcle, 118–119 (Janvier/Juin 1978), S. 25–36, hier S. 33. 7 Nach 1661 lässt sich erwartungsgemäß eine veränderte Baupraxis der Untertanen beobachten, deren Landhäuser nun in erster Linie dem ›plaisir‹ dienten und ein wesentlich bescheideneres Anspruchsniveau in deutlicher Abstufung zum König verfolgten. Vgl. Katharina Krause, Die maison de plaisance: Landhäuser in der Ile-de-France (1660–1730), München [u. a.] 1996, (Kunstwissenschaftliche Studien 8), S. 319. 8 Vgl. zu den Schwierigkeiten einer rückwirkenden Anwendung des begrifflichen Gegensatzpaares ›privat-öffentlich‹ überblickend Peter von Moos: Die Begriffe ›öffentlich‹ und ›privat‹ in der Geschichte und bei den Historikern, in: Saeculum 49 (1998), S. 161–192. 9 Der Begriff der ›Öffentlichkeit‹ ist in seiner Anwendung auf die Frühe Neuzeit viel diskutiert und von dem Habermas’schen Verständnis von Öffentlichkeit als Instrument politischer
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Bemühungen einer Lenkung des rezeptionsästhetischen Diskurses richteten. Jene Empfänge sollen im Folgenden den Ausgangspunkt für die Frage nach sich in der Schlossanlage konstituierenden Handlungsabläufen, einem sich in Zeremoniell und Zeichensystemen generierendem Wissensvorrat und der Bedeutung für das Geltungsstreben aufsteigender Eliten im französischen 17. Jahrhundert bilden. Die Gestaltungen der Schlossanlagen und die mit ihnen verfolgten ästhetischen und performativen Strategien werden vor dem Hintergrund der sozialen Identität ihrer Auftraggeber les- und erfassbar, wobei ein differenziertes Verständnis derselben vor der Herausforderung heterogener gesellschaftlicher Strukturen des französischen 17. Jahrhunderts steht, die sich gerade im Bereich der Kunst und Kultur vielfach eindeutigen Kategorisierungen und Begrifflichkeiten entziehen.10 Die heterogene Gruppe der neuen Eliten einte insbesondere ihr schnell vollzogener familiärer Aufstieg, das Besetzen staatlicher Schlüsselpositionen und eine ungeachtet der eigenen ökonomischen und kulturellen Stärke angestrebte Akzeptanz in den Reihen des Geburtsadels, der seine ideelle Überlegenheit zu wahren wusste. Ohne Zweifel hatten die aufstrebenden Eliten im 17. Jahrhundert bereits erkannt, was Pierre Bourdieu mehr als 300 Jahre später theoretisch festhalten sollte, dass nämlich bei erfolgreicher Prätention des angestrebten Lebensstils die Grenzziehung zwischen den Kollektiven schwieriger und das symbolische Kapital zur Hauptressource in der Identitätskon-
Partizipation und Emanzipation abgegrenzt worden; ebenso wurde die antithetische Gegenüberstellung von ›bürgerlicher‹ und ›repräsentativer‹ Öffentlichkeit zurückgewiesen. ›Öffentlichkeit‹ wird im Kontext der Frühen Neuzeit mehrheitlich nicht mehr als kollektiver Akteur, sondern als eine durch Kommunikationsakte konstituierte Sphäre verstanden. Vgl. für einen Überblick über die Diskussion Eva-Maria Schnurr : Religionskonflikt und Öffentlichkeit. Eine Mediengeschichte des Kölner Kriegs (1582–1590), Köln [u. a.] 2009, S. 11– 47. Zum Phänomen von räumlich und sozial begrenzten Teilöffentlichkeiten oder situativen Öffentlichkeiten in der Frühen Neuzeit vgl. Susanne Rau/Gerd Schwerhoff: Öffentliche Räume in der Frühen Neuzeit. Überlegungen zu Leitbegriffen und Themen eines Forschungsfeldes, in: Zwischen Gotteshaus und Taverne. Öffentliche Räume in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, hg. v. Susanne Rau/Gerd Schwerhoff, Köln [u. a.] 2004, (Norm und Struktur : Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit 21), S. 11–52, hier S. 18. 10 Die Forschung hat gezeigt, dass die oftmals antithetisch verwendeten Begriffspaare wie ›Adel‹ versus ›Bürgertum‹, ›Schwertadel‹ versus ›Amtsadel‹ oder ›Imitation‹ versus ›Innovation‹ das Spannungsfeld sozialer Gruppen im französischen 17. Jahrhundert nur unzureichend zu beschreiben vermögen. Für eine kritische Begriffsreflexion siehe die Einleitung in Ppreuves de noblesse. Les exp8riences nobiliares de la robe parisienne (XVIe–XVIIIe siHcle), hg. v. Robert Descimon, Paris 2010 (Histoire 106), S. 14 und Donna Bohanan: Old and new nobility in Aix-en-Provence: 1600–1695. Portrait of an urban elite, Baton Rouge [u. a.] 1992, S. 1–10.
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struktion würde.11 Hieraus auf eine eindimensionale Imitation der angestrebten Klasse zu schließen, greift angesichts der vielfältigen kulturellen Ausprägungen sozialer Räume im 17. Jahrhundert jedoch zu kurz. Vielmehr lässt sich eine Vielzahl kollektiver Identitäten beschreiben, deren verbindende Elemente nicht zwangsläufig auf rangspezifischen oder dynastischen Kategorien aufbauten. So muss gerade in Bezug auf Fragen nach Rezeptionsprozessen und Anverwandlungen künstlerischer Modelle die im Kontext einer territorialen Kulturtransferforschung bereits zurückgewiesene »reduktionistische Vorstellung einer eingleisigen Modellrezeption«12 auch für die Betrachtung des Verhältnisses von alter Aristokratie und neuen Eliten relativiert werden; auszugehen ist im Gegenzug von einem komplexen System aus Konkurrenzverhältnissen sowie Kommunikations- und Perzeptionsprozessen. Auch die sich in den Schlössern manifestierenden Wissensformen sind folglich als Ergebnis von Bezugnahmen, Aneignungen und Rekontextualisierungen zu verstehen, wobei für die der neuen Eliten ein spezifischer Zugriff auf die Kunst zu vermuten ist, der ihre Anerkennungs- und Legitimationsbestrebungen transportierte und eine eigene Funktionalisierung und Generierung von Wissen mit einschloss. Bereits die angemessene Nutzung und Wahrnehmung eines frühneuzeitlichen Schlossbaus setzten ein umfangreiches Wissen voraus, das in Formensprache und Handlungsabläufen als ein Zeichenvorrat generiert wurde, der von den zeitgenössischen Besuchern gelesen und zur Anwendung gebracht werden sollte. Die mehrheitlich zeremoniell festgelegten Handlungsabläufe, über die eine Schlossanlage im Zuge eines Empfangs erfahrbar wurde, standen in enger Wechselwirkung mit der Gestaltung des Raumes, in dem sie sich vollzogen. Dass Zeremoniell und Raum konstitutive Elemente der Repräsentation von Herrschaft darstellen und in einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen, wurde in der Forschung bereits hinreichend betont: Mit dem Ziel, die exponierte Stellung des Herrschers zu legitimieren und zu demonstrieren wurden zeremonielle Hierarchisierungsmechanismen in umfassender Weise genutzt – das Schloss bot den zu gestaltenden Rahmen für die herrschaftlichen Distinktionsbedürfnisse, die im Zeremoniell über die Etablierung eines statusgebundenen, gesellschaftlichen Ordnungsmusters ihre Umsetzung fanden.13 Jene 11 Vgl. Pierre Bourdieu: La distinction. Critique sociale du jugement, Paris 1979, S. 281f.; Rainer Diaz-Bone: Kulturwelt, Diskurs und Lebensstil. Eine diskurstheoretische Erweiterung der Bourdieuschen Distinktionstheorie, Wiesbaden 2010, S. 48. 12 Eva-Bettina Krems: Modellrezeption und Kulturtransfer : Methodische Überlegungen zu den künstlerischen Beziehungen zwischen Frankreich und dem Alten Reich (1660–1740), in: Jahrbuch der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden 31 (2004), S. 7–21, hier S. 8. 13 Vgl. Lars Reinking: Stein und Geist. Fürstbischöfliche Herrschaftsrepräsentation im rheinischen Residenzbau des frühen 18. Jahrhunderts, Essen 2008, S. 18ff.; Barbara Stollberg-Rillinger : Des Kaisers alte Kleider : Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches, München 2013, S. 7–22.
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Strategien symbolischer Kommunikation ließen ein dynamisches Wissen entstehen, das als essentielles Gestaltungsmittel frühneuzeitlicher Herrscherrepräsentation zu verstehen ist.14 Während in einem herrschaftlichen Residenzschloss stattfindende Handlungsabläufe und räumliche Funktionszuweisungen über zahlreiche erhaltene Dokumente verhältnismäßig gut rekonstruiert werden können, sind die konkreten Nutzungen der von den Untertanen erbauten Schlösser nur vereinzelt in schriftlichen Zeugnissen festgehalten. Die ausgehend von einem höfischen Zeremoniell gewonnenen Kenntnisse können in Anwendung auf ein ›privates‹ Landhaus nur begrenzt fruchtbar gemacht werden, differieren schließlich nicht nur Ausgangspunkt und Traditionen, sondern ebenso Zielsetzung und Zielgruppe. Der Rekurs auf eine jahrhundertealte Familientradition war den jungen Eliten verschlossen, so dass das Schloss in erster Linie zu einem Ausdruck des über eigene Leistungen errungenen Status wurde. Im Kampf um Geltung und Einfluss adressierte es sich zum einen an das in steter Neuverhandlung ihrer sozialen Positionen stehende höfische Umfeld, zum anderen an hochrangige Mitglieder des Königshauses und den König selbst. Das Schloss als königlicher Empfangsort gab den Anlass für eine vielfach an königlicher Formensprache orientierte Gestaltung,15 die sich aus dem Versuch ableitete, über die künstlerische Form und Ausstattung eine dem empfangenen Gast entsprechende Angemessenheit umzusetzen. So äußerte sich beispielsweise der surintendant des finances Nicolas Fouquet in Bezug auf die mit seiner Position verbundene Verpflichtung des Empfangs hochstehender Persönlichkeiten mehrfach zu der Notwendigkeit eines entsprechenden Rahmens. Detailliert berichtet er vom Transport seiner in Paris aufbewahrten Möbel in sein nahe gelegenes Schloss Vaux-le-Vicomte und der Intention, Möblierung und Ausstattung weiter auszubauen, um den Ansprüchen der empfangenen Personen genügen zu können: »tout ce que nous avions de meubles considerables ma Femme & Moy fut port8 / Vaux […]; Et pource que le Roy m’ayant fait l’honneur de m’avertir […] qu’il desiroit que la Reine d’Angleterre, Monsieur & Madame y fussent receus ; & depuis sa Majest8 mÞme, la Reine Mere, & toute la Cour ayant fait dessein d’y venir, je fus oblig8, pour les recevoir, d’y faire porter tous les meubles que j’avois, & d’en achetter encore. / Toutes les ann8es precedentes, on sÅait que leurs Majestez ou Monsieur le Cardinal, des Ambassadeurs, & d’autres personnes […] y estoient receu[s ; en sorte que je fus contraint d’incommoder 14 Vgl. Reinking, Stein und Geist (s. Anm. 13), S. 31. 15 Vgl. Monika Melters: Innovation und Imitation: die Architektur der ›noblesse de robe‹ und ihr europäischer Modellcharakter, in: Kunstgeschichte. Open Peer Reviewed Journal (2011), http://www.kunstgeschichte-ejournal.net/125/ [9. 7. 2014]. Als Beispiel für die Anverwandlung einer explizit royalen Architektursprache kann die Verwendung einer Kolossalordnung gelten, die von Louis Le Vau an den Fassaden verschiedener Hitel- und Schlossbauten der noblesse de robe umgesetzt wurde.
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mes affaires pour avoir de la vaisselle & des meubles, dix fois au-del/ de ce que j’en eusse eu sans ces ordres frequens, & sans que je croyois devoir rendre au Roy le respect le plus grand que je pouvois, & que je faisois chose agreable / sa Majest8, de m’aquiter honorablement de toutes ces choses, quoy qu’elles me fussent onereuses.«16
In diesem Kontext sieht Fouquet gar einen Griff in die Staatskasse als gerechtfertigt: »Toutes ces d8penses, dis-je, estant excessives en elles-mÞmes […]; & seroient pl0tit des excuses legitimes, si j’avois pris sur le bien du Roy, dequoy soulager ces grandes surcharges.«17 Als eine Selbstverständlichkeit beschreibt Fouquet zudem seine Bemühungen um den schönen Schein, um ein Verbergen aller confusion und d8sordre seines Hauses in Erwartung eines königlichen Besuchs: »n’aurois-je pas deu faire tous mes efforts pour prevenir le temps de sa venu[, cacher & oster une partie de la confusion, & mettre les lieux en estat de paro%tre plus agreables aux yeux de sa Majest8 ?«18
Was Nicolas Fouquet als eine Dienstleistung mit hohen Verpflichtungen darstellte,19 war tatsächlich das höchste Ziel eines jeden Staatsdieners und hatte im 17. Jahrhundert bereits Tradition. So lässt sich bereits um die Mitte des 16. Jahrhunderts eine Blüte neu errichteter Anwesen ambitionierter Höflinge beobachten, welche König und Hof – zu diesem Zeitpunkt noch ohne feste Residenz und überwiegend auf Reisen – anzuziehen versuchten, um ihrer Karriere Vorschub zu leisten. Monique Ch.tenet konnte für die Zeit der letzten Valois von Beginn der Regierung Karls VIII. (1483) bis zur Ermordung von Heinrich III. (1589) die hohe Bedeutung solcher Besuche aufzeigen, so insbesondere unter Franz I. und intensiver noch unter Heinrich II.20 Die Bemühungen, über einen Empfang des Königs in dessen Gunst zu steigen, spiegeln sich spätestens seit den 1540er Jahren in der Wahl des geographischen Ortes der neuerbauten Anwesen 16 Nicolas Fouquet: Les Oeuvres de Mr Fouquet, ministre d’Estat, contenant son accusation, son procez et ses d8fenses contre Louis XIV,[…], Paris 1696, Band VI, S. 138. Ähnlich äußert sich Fouquet auch bezüglich der Funktion seines zweiten Anwesens in Saint-Mand8: »j’estois dans un poste de grand 8clat, j’estois visit8 des personnes des plus considerables du Royaume, j’ay voulu accommoder une maison pour les recevoir, j’y ay fait un jardin, & je l’ay accompagn8 des agremens ordinaires qui sont dans les autres maisons.« Fouquet, Les Oeuvres (s. Anm. 16), Band VI, S. 123f. 17 Fouquet, Les Oeuvres (s. Anm. 16), Band VI, S. 123. 18 Fouquet, Les Oeuvres (s. Anm. 16), Band IX, S. 126f. 19 Zu bedenken ist der Entstehungskontext der von Fouquet verfassten Schriften, die im Anschluss an seine Verurteilung entstanden. Dem Anklagepunkt der Veruntreuung staatlicher Gelder und dem Vorwurf der Verschwendung versuchte er hierin zu begegnen. Siehe hierzu auch S. 9. 20 Vgl. Monique Châtenet: La cour de France au XVIe siHcle. Vie sociale et architecture, Paris 2002, S. 315.
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an durch den König häufig frequentierten Routen.21 Die Gestaltung der Schlösser blieb hiervon nicht unbeeinflusst, was sich in Rückgriffen auf königliches Formenrepertoire und Ende des 16. Jahrhunderts in der Einrichtung von eigens für den König reservierten Raumfolgen zeigt. Im 17. Jahrhundert verlor der königliche Besuch nicht an Bedeutung, wie zahlreiche Erwähnungen der aufwendigen Empfänge in den Gazetten – der von Jean Loret seit 1650 verfassten Muze historique sowie der von Th8ophraste Renaudot 1631 gegründeten Gazette de France – belegen,22 die den königlichen Gunstbezeugungen eine erwünschte mediale Verbreitung verschafften. Generell wurde das Privileg eines Besuches, der vom Herrscher oder einem Mitglied der königlichen Familie initiiert sein musste, nur wenigen zuteil und beschränkte sich auf die höchsten Mitglieder der französischen Administration.23 Ein üblicher Ablauf der Festlichkeiten kann in großen Zügen über die Muze historique und die Gazette de France rekonstruiert werden: Nach einer collation folgten Zerstreuungen, bestehend aus Theater- und Ballettaufführungen, Konzerten, Bällen und Feuerwerk, deren Aufwand und Kombination je nach finanziellen Möglichkeiten des Gastgebers variierten. Große Aufmerksamkeit widmet die Muze historique stets den Banketten: Exquisität, Vielfalt und Kostspieligkeit der aufgetragenen Speisen waren den detaillierten Aufzählungen nach zu schließen Gegenstand größter Bemühungen; man strebte nach Überfluss und Extravaganz um den König zu beeindrucken.24 Die theatralischen Aufführungen und Feuerwerke standen ganz im Sinne einer esth8tique de la surprise unter dem Zeichen möglichst effektvoller Überra21 Anne de Montmorency beispielsweise besetzte gezielt den Norden von Paris, wo er mit den Schlössern Chantilly, Anet, FHre, Pcouen, Joinville und Vallery die wichtigsten Stationen zwischen der Normandie und der Champagne besaß. Seine Bemühungen waren nicht umsonst: In weniger als 13 Jahren richtete er insgesamt 37 Empfänge für Heinrich II. aus. Vgl. Châtenet, La cour de France (s. Anm. 20), S. 259f. 22 Vgl. Jean Loret: La Muze historique, ou Recueil des lettres en vers contenant les nouvelles du temps, Paris 1650–1665; Théophraste Renaudot: Gazette de France, recueil des nouvelles ordinaires et extraordinaires. Relation et 8crits des choses avenues tant en ce royaume qu’ailleurs, Paris 1631–1761. Verweise auf die wichtigsten Empfänge bis 1661 finden sich bei Stefan Rath: Schloss Maisons: Landsitz Ren8 de Longueils und königliche maison de plaisance, Bonn 2011, S. 201 ff und Christine Howald: Der Fall Nicolas Fouquet: Mäzenatentum als Mittel politischer Selbstdarstellung 1653–1661, München 2011, S. 174f. Einen Überblick über die Aufenthalte des Königs auf den Landschlössern seiner Untertanen während seiner Reisen geben die Itin8raires von Ludwig XIII. und Ludwig XIV. in Pieces fugitives pour servir a l’Histoire de France, hg. v. Charles de Baschi Aubais [u. a.], Band I, Paris 1759, S. 655–675. 23 Vgl. Rath, Schloss Maisons (s. Anm. 22), S. 200ff. 24 So heißt es in der Muze historique beispielsweise über Louis Hesselin: »Il ne plaint et n’8pargne rien, / Il traite admirablement bien, / Il exerce dame Opulence«, Loret, Muze historique (s. Anm. 22), N8 47 (28. 11. 1654); ebenso: »Hesselin, Homme d’opulence, / Lequel traite par exc8lence, / Et souvant Þtant vizit8, […] / Paroit dans son Palais d’Essine / Comme un petit Roy dans son Trine«, Loret, Muze historique (s. Anm. 22), N8 45 (13. 11. 1655).
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schungsmomente. Nicht selten zog ein erfolgreicher Empfang einen zweiten Besuch des Königs nach sich.25 Die politische Dimension der Feste und ihre wesentliche Rolle für einen angestrebten Aufstieg des Gastgebers verdeutlichen sich in den im Anschluss an die Festlichkeiten erfolgenden Beförderungen.26 Die Bemühungen der Aufsteiger mittels Luxus und Aufwand zu beeindrucken, stießen bei den Zeitgenossen auf wenig Verständnis. Die Praxis des demonstrativen Konsums im Milieu der Neureichen und erkauften Adeligen war bereits seit der ersten Jahrhunderthälfte Gegenstand massiver Kritik. Diese richtete sich in erster Linie gegen die Schnelligkeit des sozialen Aufstiegs, dessen meist ausschließlich finanzielle Basis und den sich anschließenden außenwirksamen kostspieligen Lebensstil.27 Besonders anschaulich wird dies in der Literatur der Fronde, welche die typischen Werdegänge der Aufsteiger beschreibt, vom beruflichen Einstieg in die Finanzwelt über die Vorteilsbeschaffung durch gezielte Heiraten bis hin zur Imitation adeliger Lebensweise. So schreibt beispielsweise Arnauld d’Andilly in seinem anonym veröffentlichten Pamphlet La V8rit8 toute nue: »Ie serais trop long si ie voulais nommer tous ceux qui ont fait comme en vn moment tant de fortunes prodigieuses, et ce grand nombre de Partisans et de Traitants sortis de la lie du peuple, dont les noms n’ont est8 connus que par la somptuosit8 de leurs festins, le luxe de leur train et de leurs meubles, la magnificence de leurs bastimens et les cris qu’ont poussez iusques au ciel les aisez, la pluspart mal aisez, dont ils ont rauy le bien […].«28
25 So zum Beispiel im Falle von Pierre S8guier in Reaktion auf einen Empfang vom 26. 1.1655: »Le 29 du mois dernier, le Roy ayant fait dire au Chancelier de France, qu’il estoit si contant de la r8ception qu’il lui avoit faite, que Sa Majest8 d8siroit qu’il lui donnast le lendemain, Bal & / souper«, Renaudot, Gazette (s. Anm. 22), N8 19 (6.2.1655). Gleiches gilt für einen Besuch von Gaston d’Orl8ans bei S8raphin de Mauroy : »Le 8 de ce mois, Monsieur Fr8re vnique du Roy, se souvenant des bons traitemens qu’il a receus chez le sieur de Mauroy Intendant des Finances, alla voir la maison de S. Oüyn.« Renaudot, Gazette (s. Anm. 22), N8 72 (14. 6.1653). 26 Ein anschauliches Beispiel liefert Jacques Bordier : Zu Beginn der Errichtung seines Schlosses Le Raincy 1643 war er noch ein einfacher secr8taire du conseil, arbeitete indes systematisch an seinem Aufstieg und pflegte eine Nähe zu Particelli d’H8mery, der etwa zeitgleich zur Fertigstellung von Bordiers Schloss im Jahr 1648 surintendant des finances wurde. Im Sommer desselben Jahres empfing Bordier nicht nur zweimal den König, sondern auch die Mar8chale de La Meilleraye, deren Mann zu diesem Zeitpunkt die surintendance gemeinsam mit Particelli ausübte. Bereits ein Jahr später, am 11. Juni 1649, wurde Bordier intendant des finances. Vgl. Alexandre Cojannot: Louis Le Vau et les nouvelles ambitions de l’architecture franÅaise: 1612–1654, Paris 2012, S. 225. 27 Vgl. Françoise Bayard: L’image litt8raire du financier dans la premiHre moiti8 du XVIIe siHcle, in: Revue d’histoire moderne et contemporaine, janvier–mars (1986), S. 3–20 sowie das Kapitel »Les financiers dans le royaume« in Françoise Bayard: Le monde des financiers au XVIIe siHcle, Paris 1988, (Nouvelle bibliothHque scientifique), S. 297ff. 28 Arnauld d’Andilly : La V8rit8 toute nue (1652), in: Célestin Moreau: Choix de mazarinades, Paris 1853, S. 406–438, hier S. 409.
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Auch die allseits bekannte Praxis der genealogischen Fälschungen zwecks Erfindung einer alt-aristokratischen Herkunft29 werden Objekt von Hohn und Persiflage.30 Jene Kritik fokussiert das Missverhältnis zwischen bürgerlicher Herkunft und adeligem Anspruch31 und entsprechend werden auch die Anwesen der Aufsteiger wahrgenommen. Auch in deren Bewertung geht es vorrangig um die mit der prachtvollen Erscheinung der Schlösser nicht kompatible Familienhistorie, nicht selten Spekulationen über die fragliche Herkunft des immensen Reichtums nach sich ziehend. In der zeitgenössischen Wahrnehmung bewegte sich die Bau- und Empfangspraxis der Aufsteiger auf einem schmalen Grad zur Überschreitung des ihnen zugestandenen decorum und kollidierte mit den gesellschaftlichen Verhaltensnormen von biens8ance und convenance. Relevant wurde damit ein in der Zeit präsentes, aber elusives Wissen32, das in der sozialen Praxis eine verbindliche Gültigkeit beanspruchte ohne in begrifflich eindeutige Diskurse gefasst zu werden. Gerade die diskursive Unschärfe der mit decorum und biens8ance verknüpften Formen gesellschaftlicher Angemessenheit wies auch dem Wissen hierüber eine Unbestimmtheit zu, welche die offenkundig divergierenden Auslegungen zuließ. Die Orientierung der neuen Eliten am Status der empfangenen Personen war mit ihrer eigenen Sozialisation kaum vereinbar. Nicht umsonst lässt sich bei den Aufsteigern der Versuch beobachten, ihre aufwendigen Repräsentationspraktiken mit einem vermeintlichen Nutzen für die Öffentlichkeit in Verbindung zu bringen und ›le public‹33 zu einer ex29 Exemplarisch genannt seien der Minister Jean-Baptiste Colbert, der seine Herkunft von einem schottischen Ritter abzuleiten versuchte sowie der Kanzler Pierre S8guier, der sich in eine Linie mit Sigar, König von Dänemark und Sachsen, stellte. Das Basieren solcher Fälschungen auf ausgestorbenen oder wenig einflussreichen Schwertadelfamilien entsprach einer üblichen Praxis. Vgl. Leonhard Horowski: Die Belagerung des Thrones. Machtstrukturen und Karrieremechanismen am Hof von Frankreich 1661–1789, Ostfildern 2012, S. 63. 30 Zahlreiche Beispiele aus der Literatur der Fronde finden sich bei Hubert Carrier : Le labyrinthe de l’Ptat: essai sur le d8bat politique en France au temps de la Fronde (1648–1653), Paris 2004, S. 516 und S. 576ff. 31 Dieses Missverhältnis erschien nicht nur unangemessen, sondern barg in der fehlenden bürgerlichen Einsicht in die Vergeblichkeit ihrer äußerlichen Legitimierungsversuche viel Potential für Komik und Satire und spiegelt sich vielfach in der zeitgenössischen Literatur. Vgl. Stoyan Tzonev : Le financier dans la com8die franÅaise sous l’ancien r8gime, Paris 1977. S. 44ff. 32 Mit der Bezeichnung des »elusiven Wissens« wird ein nicht-propositionales und nicht in artikulierbaren Regeln erfasstes Wissen beschrieben, das sich von dem Konzept eines epistemischen Wissen unterscheidet. Vgl. Günter Abel: Zeichen der Wirklichkeit, Frankfurt am Main 2004, S. 322f. 33 In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts ist die Bedeutung von ›public‹ noch breit gefasst und kann neben der allgemeinen ›öffentlichen Sache‹ im Sinne von ›res publica‹ den Staat, den Staatsschatz wie auch die gesamte Gesellschaft der Staatsangehörigen bezeichnen. Vgl. Ulrich Nolte, Philosophische Exerzitien bei Descartes: Aufklärung zwischen Privatmysterium und Gesellschaftsentwurf, Würzburg 1995, S. 161.
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ternen, legitimierenden Instanz zu erheben. So stilisiert beispielsweise der Kunsttheoretiker und spätere historiographe du roi Andr8 F8libien seinen Gönner, den bereits zitierten Nicolas Fouquet, zu einem generösen und selbstlosen Minister, der auch seine Bautätigkeit in den Dienst des Allgemeinwohls stelle, und enthebt die ostentative Zurschaustellung von Luxus der Kritik: »Il semble que tout ce qu’il a ne soit point / luy, & on peut dire qu’il bastit moins pour sa satisfaction particuliere que pour celle du public. […] Et comme il [Fouquet] n’attache ses pens8es qu’aux choses hautes, il m8prise la possession des richesses comme des choses basses, quand elles n’ont point d’autre prix que l’opinion commune leur donne.«34
Über den Zusammenhang zwischen Schlossbau und einem öffentlichen Interesse – sei es in direktem Bezug auf eine gesellschaftliche Öffentlichkeit oder über den Umweg des im Interesse der Allgemeinheit handelnden Staates – wird das Bild des idealen Staatsdieners entworfen, der seine Eigeninteressen hinter jenen der Öffentlichkeit zurückstellt. Bereits Richelieu hatte in seinem Testament politique die Bedeutung eines solchen Zurückstellens der eigenen Interessen beschworen und in diesem Sinne gute und schlechte Staatsdiener einander gegenübergestellt.35 F8libiens Koppelung der Bautätigkeit an ›le public‹ weist auf die für die Aufsteiger charakteristische enge Bindung an ihre Staatsfunktionen, die für die künstlerische Repräsentation die nötige Legitimation liefern sollten. Das Fallbeispiel von Nicolas Fouquets Schloss Vaux-le-Vicomte (Abbildung 1) vermag weitere der bisherigen Überlegungen zu veranschaulichen. Die Schlossanlage entstand 1653–1661 und wurde noch vor ihrer endgültigen Fertigstellung einer größeren Öffentlichkeit präsentiert, indem der König und große Teile des Hofes am 17. August 1661 mit einem Fest empfangen wurden, das als legendenbehaftetes Ereignis in die französische Geschichtsschreibung eingehen sollte. Denn nur wenige Wochen nach dem königlichen Empfang wurde Nicolas Fouquet verhaftet, seines Postens enthoben und in einem aufsehenerregenden Prozess mit der Begründung der Geldunterschlagung und Majestätsbeleidigung zu lebenslanger Haft verurteilt. Die Geschichte des schnellen Aufstiegs und tiefen Falls von Nicolas Fouquet zog eine bis heute anhaltende Fas34 André Félibien: De l’origine de la peinture et des plus excellens peintres de l‘Antiquit8, Paris 1660, S. 15f. 35 »[…] la plupart des Malheurs qui sont arrivez / la France ont 8t8 causez par le trop grand attachement que beaucoup de ceux qui ont 8t8 employez / l’Administration ont eu / leurs propres Int8rÞts au pr8judice de ceux du Public. / Les uns ont toujours suivi les Int8rÞts du Public, qui par la force de leur nature les ont tirez / ce qui s’est trouv8 le plus avantageux / l’Etat. / Et les autres accommodat toutes choses ou / leur utilit8 ou / leur caprice, les ont souvent d8tournez de leur propre Fin, pour les conduire / celles qui leur 8toient ou plus agr8ables ou plus avantageuses.« Testament politique d’Armand du Plessis, cardinal duc de Richelieu, […], Amsterdam 1688, Band II, S. 15.
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zination und zahlreiche Überformungen der historischen Ereignisse nach sich. Das prunkvolle Fest avancierte vielfach zum Grund der königlichen Ungnade, einhergehend mit der Stilisierung Fouquets zu einem unbesonnenen und anmaßenden Minister, dem seine standesbedingten Grenzen – auch in Form seiner künstlerischen Repräsentation – nicht bewusst gewesen seien. Wiederholt wurde das Bild eines eifersüchtigen Königs bemüht, der angesichts einer seine eigenen Anwesen in den Schatten stellenden Schlossanlage voll Neides zu drastischen Mitteln griff, um sich des Rivalen zu entledigen und dessen Künstler für sich vereinnahmen zu können. Ungeachtet der mehr als fraglichen historischen Faktizität36 solch anekdotisch angereicherter Auslegungen vermittelt sich in der Darstellung des sich in sein Gegenteil verkehrenden Verhältnisses zwischen König und Untertan die Dimension des über die Schlossanlage nach außen getragenen Geltungsstrebens.
Abb. 1: Vaux-le-Vicomte, Gartenansicht
Der Bezug des Schlosses zu Nicolas Fouquets politischer Funktion als surintendant des finances ist offensichtlich: Ostentative Zurschaustellung von fi-
36 Die tatsächlichen Gründe für Fouquets Sturz lassen sich nur vage umreißen, stehen jedoch ohne Zweifel in Verbindung mit dem Beginn der alleinigen Regierungsübernahme Ludwigs XIV., der über die Absetzung des Finanzministers und die anschließende Abschaffung des Amtes seine Stärke demonstrierte und zugleich den Weg für den Aufstieg Jean-Baptiste Colberts ebnete, der maßgeblich am Fall seines Konkurrenten beteiligt war. Vgl. Jean Meyer: Le cas Fouquet: Faut-il r8habiliter Fouquet?, in: Les ann8es Fouquet. Politique, soci8t8, vie artistique et culturelle dans les ann8es 1650, hg. v. Chantal Grell/Klaus Malettke, Münster 2001, (Forschungen zur Geschichte der Neuzeit: Marburger Beiträge 2), S. 11–32.
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nanzieller Prosperität konnte die mit der surintendance verbundene Kreditakquise erleichtern; zugleich wurde Vaux-le-Vicomte mit einem über die Maßen personalisierten Ausstattungsprogramm bedacht, das im Dienste der Inszenierung und Antizipierung von Fouquets Aufstieg stand, den er mit dem höchsten staatlichen Amt des ersten Ministers abzuschließen gedachte. Fouquets Vorgängern im Amt der surintendance des finances war allesamt die Ehre eines königlichen Besuchs zuteil geworden. Erwartungsgemäß empfing auch Fouquet seit Mitte der 1650er Jahre regelmäßig hohe Personen des Hofes, zunächst in seinem Anwesen in Saint-Mand8 und mit Fortschreiten der Bauarbeiten zunehmend in Vaux-le-Vicomte.37 Der am 17. August 1661 ausgerichtete Empfang des Königs und eines großen Teils des Hofes ist durch verschiedene Quellen außergewöhnlich gut dokumentiert. Vermutlich von Fouquet selbst in Auftrag gegeben entstand eine Festbeschreibung Andr8 F8libiens, zudem erschien jeweils ein Beitrag in der Muze historique sowie der Gazette de France und existiert ein Brief von Jean de La Fontaine an FranÅois de Maucroix, in dem das Ereignis detailliert geschildert wird.38 Den meisten Erkenntnisgewinn liefert der Text F8libiens, der durch Beschreibung und Konstruktion der Reaktionen von König und Hof das Ereignis rezeptionsästhetisch vollendet. Ähnlich zwei weiteren Texten F8libiens, welche die Lesart zweier Deckenprogramme im Innenraum des Schlosses vorgaben39, wurde das Wissen um die richtige Wahrnehmung des Schlosses für künftige Besucher oder abwesende Leser festgeschrieben und auf die erwünschte Rezeption verengt. F8libiens Darstellung des Festablaufs ist als eine von deskriptiven Passagen durchbrochene Erzählung konzipiert und folgt in ihrem Aufbau dem Festablauf und der Bewegung des Königs, mit der das Anwesen räumlich
37 Am 25. Mai 1656 ist ein Besuch des Hofes in Saint-Mand8 belegt, am 13. August folgte Gaston d’Orl8ans, am 28. September gab Fouquet in Melun, nahe Vaux-le-Vicomte, ein Bankett für Christina von Schweden. Im November 1657 empfing er den König und Mazarin gemeinsam in Saint-Mand8. Im Juli 1659 ist ein erster Besuch Mazarins in Vaux-le-Vicomte belegt; es folgten am 17. Juli 1659 der König und seine Mutter sowie etwa ein Jahr später am 19. Juli 1660 der König mit Maria Theresia. Am 12. Juli 1661 empfing Fouquet in Vaux-le-Vicomte die englische Königinwitwe Henriette Maria mit ihrer Tocher und dem Herzog von Orl8ans. 38 Vgl. André Félibien: Relation des magnificences faites par M. Fouquet / Vaux-le-Vicomte lorsque le Roy y alla, le 17 aoust 1661, et de la somptuosit8 de ce lieu, in: Jacques Thuillier : Avec La Fontaine chez Foucquet: Andr8 F8libien / Vaux-le-Vicomte (1660–1661). Le Fablier. Revue des Amis de Jean de La Fontaine. N8 11 (1999), S. 31–33; Jean de La Fontaine: Relation d’une fÞte donn8e / Vaux, 22 Aout 1661 [Brief an FranÅois Maucroix], in: Jean de La Fontaine. Oeuvres complHtes, hg. von Pierre Clarac, Paris 1991, Band II, S. 522–557. 39 Die beiden in Form fiktiver Briefe verfassten Beschreibungen haben die Deckengemälde von Chambre und Antichambre von Fouquets repräsentativem Appartement im Erdgeschoss zum Thema, publiziert bei Thuillier, Avec La Fontaine chez Foucquet (s. Anm. 38), S. 35– 51.
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erschlossen wird.40 Der Ablauf des Empfangs sei in wenigen Worten rekapituliert: Ludwig XIV. reiste aus Fontainebleau an und erreichte Vaux-le-Vicomte am späten Nachmittag gegen sechs Uhr. Sein Weg führte über den großen Vorhof in den Schlosshof und von hier in die Innenräume. Es folgte ein Spaziergang im Garten und bei Einbruch der Nacht das Festmahl in den Schlossräumen. Anschließend fand eine Aufführung von MoliHres Stück Les F.cheux wiederum im Garten statt, gefolgt von einem Feuerwerk und einem weiteren unerwarteten Feuerspektakel auf dem Rückweg zum Schloss, wo der Empfang mit einer kleinen Mahlzeit beendet wurde. Die Ankunft des Königs und sein anschließender Aufenthalt in den Innenräumen finden bei den Autoren keine oder nur sehr knappe Erwähnung,41 obwohl eine Besichtigung der repräsentativen Appartements vermutet werden kann. Dass La Fontaines Text unmittelbar mit der Gartenpromenade einsetzt und auch Loret den Weg in den Garten als »marche premiHre«42 bezeichnet, lässt nicht nur auf die hohe Bedeutung der Gartenbesichtigung schließen, sondern mag sich auch über die Tatsache erklären, dass der Weg durch die Innenräume einem kleinen privilegierten Kreis vorbehalten war, dem die Autoren nicht angehörten. An der Promenade im Garten nahm der gesamte anwesende Hof teil.43 F8libien schildert als Einziger den im Garten genommenen Weg, der trotz eines vermeintlich zufälligen Charakters dem Wunsch des Königs folgend einem festen Ablauf unterworfen war, welcher durch die künstlerische Gestaltung mitbestimmt wurde. Die Gartengestaltung und im Besonderen die Wasserspiele waren maßgeblich an der Bewegungsführung beteiligt. Der Weg des Königs führte auf der zentralen Achse bis zum Wasserbassin am Ende der Allee und La Fontaine erwähnt mit »la Cascade, la Gerbe d’eau, la Fontaine de la Couronne, et les Animaux«44 alle wichtigen Bassins, die von König und Gefolge passiert wurden. Die beiden außergewöhnlich hohen Kaskaden, so F8libien, »arrÞtHrent sa veüe et sa promenade« und »cent jets d’eau de plus de trente cinq pieds de hauteur de chaque cit8 faisoient qu’on marchoit dans une all8e comme entre deux murs d’eau.«45 Es wird offensichtlich, dass die Gartenarchitektur die 40 Vgl. Germer, Kunst-Macht-Diskurs (s. Anm. 5), S. 162ff. 41 Bei Loret heißt es: »Le Monarque, en suite, et le reste / De sa Cour ravissante et leste, / Ayant travers8 la Maizon, / De tous bien garnie / foizon, / Pour y faire ch8re pl8ni8re.« Loret, Muze historique (s. Anm. 22), N8 33 (20. 8. 1661); F8libien gibt etwas mehr Informationen: »Les meubles sont splendides et somptueux dans les appartemens et Leurs Majestez s’y reposHrent jusqu’/ ce que le soleil fut baiss8.« Félibien, Relation des magnificences (s. Anm. 38), S. 31. 42 »[Le roi] Adressa sa marche premi8re / Dans l’incomparable Jardin.« Loret, Muze historique (s. Anm. 22), N8 33 (20. 8. 1661). 43 La Fontaine spricht von »toute la cour«. La Fontaine, Relation d’une fÞte (s. Anm. 38), S. 523. 44 La Fontaine, Relation d’une fÞte (s. Anm. 38), S. 523. 45 Félibien, Relation des magnificences (s. Anm. 38), S. 32.
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scheinbar absichtslose Bewegung in eine gezielte Richtung lenkte, unterstützt durch sonore und visuelle Effekte der verschiedenen Wasserspiele. Die zentrale Achse des Gartens stellte ein wesentliches Erschließungsmoment dar – vielfach ging hier dem Körper das Auge voraus46 und wurden Bewegung und Blick insbesondere von den Wasserspielen begrenzt.47 F8libien folgend überquerte die Gesellschaft den Kanal über eine Brücke und erreichte den Punkt, von dem aus sich eine perfekte Gesamtansicht der Schlossanlage bietet. Bei Einbruch der Dunkelheit, so Loret, kehrte man ins Schloss zurück, um das Festmahl zu genießen.48 Die hohe Bedeutung des Gartens im festlichen Ablauf des Empfangs lässt sich neben Vaux-le-Vicomte auch für zahlreiche Empfänge in anderen Schlössern bezeugen und steht zweifelsohne auch in Zusammenhang mit den Bedeutungsebenen, über die der Garten die Ansprüche der neuen Eliten zu transportieren vermochte. In Vaux-le-Vicomte hatte Andr8 Le Nitre den Garten als dynamischen Erlebnisraum konzipiert, dessen Wahrnehmung mit der Bewegung der Besucher einer steten Veränderung unterworfen war und der auf sich immer wieder erneuernde Perspektiven und Überraschungsmomente baute. Im Garten verdichteten sich Anspielungen auf das Mäzenatentum des Schlossbesitzers, konnten finanzielle Prosperität, Fortschrittsdenken und Zugang zu neuester Technik oder botanischem Wissen wirkungsvoll in Szene gesetzt werden. Modellgebend waren die italienischen Skulpturengärten, die seit dem 16. Jahrhundert insbesondere von den aufgestiegenen römischen Kardinalsund Nepotenfamilien zum systematischen Ausbau ihres sozialen Prestiges genutzt wurden.49 Dies geschah in erster Linie durch im Garten präsentierte Kollektionen antiker Skulpturen, die neben der Herausstellung der Kunstkennerschaft ihrer Besitzer eine hohe Bedeutung in Bezug auf den in Rom präsenten Geschichtshintergrund entfalteten: Über den Besitz der Antiken konnte eine 46 Vgl. Cornelia Jöchner: Barockgarten und zeremonielle Bewegung. Die Möglichkeiten der Al8e couverte. Oder : Wie arrangiert man ein incognito im Garten?, in: Zeremoniell als höfische Ästhetik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Jörg Jochen Berns/ Thomas Rahn, Tübingen 1995, S. 471–483, hier S. 478ff. 47 Auch in einer romanesken Beschreibung Vaux-le-Vicomtes von Madeleine de Scud8ry wird dieser Aspekt angedeutet: »ce grand iardin est entre deux bois, qui arrestent agreablement les yeux«, Madeleine de Scudéry : Cl8lie. Histoire romaine [Paris 1660], Genf 1973, Band X, S. 1127; »l’all8e […] a deux agreables ruisseaux gazonnez, auec des iets d’eau de distance en distance, qui sont si proches les vns des autres, que cela semble vne balustrade de cristal, qui regne des deux costez de cet all8e«, Scudéry, Cl8lie, S. 1130. 48 Vgl. Loret, Muze historique (s. Anm. 22), N8 33 (20. 8. 1661). 49 Vgl. Katrin Kalveram: Antikensammlung als Element der Selbstdarstellung und des sozialen Prestiges: Die Antikensammlung Borghese, in: Die Kreise der Nepoten. Neue Forschungen zu alten und neuen Eliten Roms in der frühen Neuzeit, hg. v. Daniel Büchel/ Volker Reinhardt, Bern [u. a.] 2001, (Freiburger Studien zur frühen Neuzeit 5), S. 261– 296, hier S. 261f.
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römische Verwurzelung kommuniziert werden, über die auch die der familiären Kontinuität entbehrenden Aufsteigerfamilien ihren Anspruch auf legitime Nachfolge ihrer antiken Vorgänger und eine Romanisierung im Dienste der Kirche formulierten.50 Für die Mehrheit der französischen Mäzene war eine Imitation eines römischen Villengartens sicherlich angestrebt, jedoch schlicht nicht umsetzbar. Der Zugang zu echten Antiken, ihr Erwerb und ihre Ausfuhr aus Italien verlangten nicht nur enorme finanzielle Mittel, sondern scheiterten ebenso an diplomatischen Hürden und fehlenden Kontakten. In zahlreichen Gartenausstattungen der neuen Eliten zeigt sich folglich eine Konzentration auf andere Elemente sozialer Distinktion, die sich in den zeitgenössischen Gartenbeschreibungen spiegeln. Ein anschauliches Beispiel für einen nachweislich fast vollständigen Verzicht auf skulpturale Ausstattung in einem dennoch hoch gerühmten Garten liefert Louis Hesselin in seinem Anwesen Chantemesle. Hesselin konzentrierte sich ganz auf die Wirkung des Wassers in allen denkbaren Variationen und schaffte es, über technischen Aufwand und neuartige Effekte seinen Garten im zeitgenössischen Bewusstsein zu verankern. Diverse Berichte heben einstimmig die dominierende Präsenz des Wassers sowie außergewöhnliche hydraulische Maschinen hervor, während so gut wie keine Skulpturen im Garten verortet werden.51 Auch in Vaux-le-Vicomte war eine hochwertige skulpturale Ausstattung mit Ausnahme einzelner prestigereicher Objekte zunächst zurückgestellt worden.52 Von Beginn an zeigt sich indes die Bemühung um eine Integration aller wichtigen Wasserformationen in den Gartenraum, hierbei eine größtmögliche Vielfalt verfolgend. Die Wasserspiele, über entsprechende finanzielle Mittel einfacher realisierbar als ein umfassendes Skulpturenprogramm, kamen der neuen Elite auch in einem mit dem Wissen um Ressourcen und moderner Technik verbundenen Fort50 Volker Reinhardt/Daniel Büchel: Schnittpunkte und Schnittmengen. Kurie, Karrieren, Konkurrenzen. Diskussionsbericht und -auswertung, in: Daniel Büchel/Volker Reinhardt, Die Kreise der Nepoten (s. Anm. 49), S. 359–393, hier S. 388ff. 51 Vgl. Moana Weil-Curiel: Recherches sur Louis Hesselin (1602–1662), ses r8sidences et ses collections, Paris 2001, S. 263–269. Auf mäzenatisches Desinteresse an der Skulptur ist hieraus indes nicht zu schließen: Hesselin besaß eine beachtliche Sammlung von Bronzeskulpturen, die er in den repräsentativen Räumlichkeiten seines Pariser Hitels auf der 6leSaint-Louis präsentierte. 52 So schreibt der zwecks Kunstankäufe in Italien weilende Louis Fouquet in einem Brief an seinen Bruder Nicolas im Kontext der Gartenskulpturen am 23. August 1655: »[…] consid8rant qu’il vous en [=sculptures] faut beaucoup et pour mettre / l’air, il me survient un nouveau scrupule, qui est de les prendre toutes si fines et si chHres pour cet usage, auquel, ce me semble, de passablement bonnes suffiroient.« Lettres de Louis Fouquet / son frHre Nicolas Fouquet (1655–1656), hg. v. Ernest de Buchère de Lépinois, in: Archives de l’art franÅais 2 (1862), S. 267–309, hier S 292. Die prestigeträchtigsten Skulpturen in Vaux-le-Vicomte – nach Entwürfen Nicolas Poussins entstandene Marmorhermen – waren an der Hauptachse aufgestellt.
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schrittsgedanken entgegen. Der ausreichenden Wasserversorgung einer Schlossanlage war erwartungsgemäß eine hohe Bedeutung eingeschrieben, was sich in expliziten Hervorhebungen in Beschreibungen und wissenschaftlichen Gartentraktaten spiegelt.53 In ähnlicher Form lassen sich auch die im Garten vorgenommenen Bepflanzungen im Kontext distinktiver Strategien verorten. Fouquets mäzenatische Erfolge als Blumensammler hätten in Vaux-le-Vicomte ihre außenwirksame Repräsentation erfahren: In prominenter Lage unmittelbar vor dem Schlossgebäude plante Andr8 Le Nitre seitlich des zentralen parterre de broderie das parterre de fleurs, dem der Kupferstecher Israel Silvestre eine eigene Ansicht mit wahrscheinlich imaginierter Bepflanzung widmete. Zu sehen sind Beete in unterschiedlicher Form und Größe mit variierenden Blumenbepflanzungen, dazwischen Raum für umherlaufende Besucher, denen auf diese Weise eine Betrachtung und Begutachtung der botanischen Errungenschaften aus nächster Nähe möglich wurde.54 Neben den Blumen sind es insbesondere die Orangerien und der fruitier-potager55, welche zu Statussymbolen werden und die Erfolge des curieux in einem botanischen Wettbewerb um Raritäten und ausgefeilte Anpflanzungs- und Kultivierungstechniken nach außen tragen. Zahlreiche Traktate erschienen vermehrt seit den 1650er Jahren und ließen den Anbau von Früchten zu einem gesellschaftsrelevanten Sujet werden, das auf Bildung und Einflussmöglichkeiten übertragen wurde.56 Zitrusbäume eigneten sich in geradezu idealer Weise als Statussymbol: Sie mussten aus südlicheren Regionen eingeführt werden, verlangten in ihrer Kultivierung nicht nur einen 53 Ren8 Rapin beispielsweise widmete dem Problem des fehlenden Wassers in der Schlossanlage Meudon einen ganzen Abschnitt seines Gartentraktats Hortorum libri IV. Trotz kostspieliger und intensiver Suche sei hier kein Wasservorkommen gefunden worden, was den Schlossherrn Abel Servien bis in seine Träume verfolgt habe. Vgl. Ruth Monreal: Flora Neolatina. Die Hortorum libri IV von Ren8 Rapin S. J. und die Plantarum libri VI von Abraham Cowley. Zwei lateinische Dichtungen des 17. Jahrhunderts, Berlin 2010, S. 165. 54 In ähnlicher Form präsentierte sich das Blumenparterre in Liancourt, wiedergegeben auf einer Zeichnung und einem Stich von Israel Silvestre aus dem Jahr 1656, mit dicht bepflanzten Beeten, zwischen denen Personen umherlaufen, Blumen pflücken, Sträuße in der Hand halten und im Gespräch gezeigt sind. 55 In Denis Godefroys Beschreibung von Schloss Berny erhält der jardin potager ausführliche Aufmerksamkeit. Mit floralen vergoldeten Eisengittern abgegrenzt, war er mit Brunnen, Sonnenuhren und Statuen dekoriert, »le tout si proprement orn8 premierement que qui commenceroit par sa visite le prendroit pour l’unique du lieu«, Denis Godefroy : Description du Beau-lieu de Berny sur le Chemin d’Orle¼s (1636), in: Souvenirs de voyage de Denis II Godefroy ; offerts / son pHre Th8odore, 1638, BibliothHque de l’Institut, ms. Godefroy, t. 219 et 221, S. 11. Die Früchte werden im Einzelnen als Errungenschaften des Ortes aufgezählt und die Gestaltung des potagers wird beschrieben als »Invention nouvelle, & ornement merveilleux jusques / present non pratiqu8 dans les jardins de ce Pays.« Godefroy, Description du Beau-lieu de Berny, S. 12. 56 Vgl. Florent Quellier : Les fruits de la civilit8 franÅoise: l’engouement des 8lites du XVIIe siHcle pour le jardin fruitier-potager, in: Polia. Revue de l’art des jardins, 8 (2007), S. 25–39.
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kompetenten Gärtner, sondern ebenso ein im Winter beheizbares Gewächshaus und avancierten somit zu echten Luxusobjekten.57 In der metaphorischen Unterwerfung der Natur und Kultivierung exotischer Pflanzen demonstrierte so eine kleine Gruppe Zugang zu neuestem botanischen Wissen. Der intensive schriftliche Austausch in Form von Sammlungskatalogen oder zur Verfeinerung der Kultivierung58 zeugen von der hohen Bedeutung, die jener Demonstration eines spezialisierten Wissensvorrats zukam. Dass gerade die neuen Eliten ihr Geltungsstreben auf solcherart Aktivitäten aufbauten, erklärt sich zusätzlich durch die Tatsache, dass Titel und Herkunft für Erfolg oder Misserfolg als curieux keine entscheidende Rolle spielten. Vielmehr lässt sich die Bildung eines eigenen sozialen Raums beobachten, verbunden mit einer – im Falle der Blumen – kulturellen Identität des Blumensammlers, die auf für die Blumenkultivierung relevanten Konsummustern, spezialisiertem Wissen und Geschmacksverständnis gründete. Jene Kriterien galten in gleicher Weise für die alte Aristokratie und das Königshaus, die mit den Aufsteigern in eine direkte Konkurrenz treten mussten.59 Im Zuge des Empfangs stand indes nicht die rationale Erfassung jener Distinktionsmechanismen, sondern eine sinnliche Vereinnahmung und Überwältigung der Besucher im Vordergrund, teilweise rückwirkend über publizierte Festbeschreibungen rationalisiert. Deutlich wird dies anhand der anhaltend illusionären Umdeutungen, denen der reale Raum der Schlossanlage unterworfen wurde. So fand in Vaux-le-Vicomte die Aufführung von MoliHres Les F.cheux in aufwendiger Kulisse im Garten statt, gefolgt von einem Feuerwerk, das der weiteren Effektsteigerung und Fortführung der Überraschungsmomente diente. Ein ganz ähnliches Szenario lässt sich anlässlich des von Hugues de Lionne ausgerichteten königlichen Empfangs in Schloss Berny beschreiben, der ebenfalls größtenteils im Garten stattfand. Das Festmahl wurde in einem Rahmen aufwendiger ephemerer Architekturen abgehalten und versammelte zahlreiche wertvolle Objekte: »Il y avoit quatre Sales artistement constrüites de feüillages, avec des festons, corniches, frises, & tous les autres ornemens de l’Architecture : oF estoyent dress8es autant de 57 Zu Zitrusfrüchten als Zeichen sozialen Prestiges vgl. Ekaterini Kepetzis: Soziale Distinktion, Hoffnung und Leid, paradiesische Gefilde. Zitrusfrüchte als Bedeutungsträger im Porträt, in: Die Frucht der Verheißung. Zitrusfrüchte in Kunst und Kultur, hg. v. Yasmin Doosry, Christiane Lauterbach und Johannes Pommeranz, Ausstellungskatalog, Germanisches Museum Nürnberg, 19. Mai bis 11. September 2011), Nürnberg 2011, S. 137– 159. 58 Vgl. Elizabeth Hyde: Flowers of Distinction: Taste, Class, and Floriculture in SeventeenthCentury France, in: Bourgeois and Aristocratic Cultural Encounters in Garden Art, 1550– 1850, hg. v. Michel Conan, Washington 2002, S. 77–100, hier S. 90f. 59 Vgl. Hyde, Flowers of Distinction (s. Anm. 58), S. 86 ff und S. 90ff.
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Tables, sur des estrades 8lev8es d’vn pied, & couvertes de riches Tapis de Turquie (…) Il y avoit aussi des Dais au dessus, garnis de festons, avec plusieurs Chandeliers de Cristal : & dans le fonds de ces Sales, de grands Bufets, chargez de Bassins, de Vases, & d’autres Pi8ces d’argenterie vermeil dor8, toutes cizel8es & embellies de figures en relief, dans vne si prodigieuse quantit8, qu’on eust cr0 voir ces superbes & pompeux Autels que dressoit l’Antiquit8 Payenne pour ses plus c8lHbres Sacrifices.«60
Desgleichen war die Theater- und Ballettaufführung in eine beeindruckende und fein abgestimmte Architektur eingebunden, welche die Grenzen zu einer realen Schlossarchitektur verschwimmen ließ: »Au bout de ces Sales, on en trouvoit vne autre, accommod8ede la mesme mani8re, oF estoit dress8 le Th8atre pour la Com8die & pour le Balet, encor avec vn Dais au dessus du lie oF devoyent estre Leursdites Majestez : & , / l’issu[ d’vne longue all8 de pallissades, se d8couvroyent plusieurs Pyramides d’vne hauteur si excessive, qu’elles surpassoyent de beaucoup les plus grands arbres, avec vn vaste Portique de la Corintienne, dont les proportions estoyent si parfaitement observ8es, que les plus habilles Architectes n’y auroyent pu rien trouver de contraire aux r8gles de leur Art.«61
Im Gegensatz zum Garten wurde der Innenraum der Schlösser in unterschiedlich ausgeprägter Form in den Festablauf der Empfänge integriert. Im Falle von Vauxle-Vicomte sind die Ausführungen vage: Nach F8libien speiste der König in der Chambre du roi, wo sich offenbar ein ausgewählter Kreis aufhielt, denn F8libien verweilte hier nur kurz, »n’a"ant pas voulu m’embarrasser dans la chambre du roy et voulant profiter de l’ordre que Mr le surintendant avoit donn8.«62 Ob der König auch die anderen Räume durchlief, ist nicht belegt, kann aber vermutet werden, da das insbesondere in den Deckengemälden umgesetzte komplexe Bildprogramm maßgeblich zum Ziel hatte, Fouquets staatsmännische Qualitäten an der Seite des Königs zu betonen. Dem größten Teil des Hofes war der Zugang zu den privaten Appartements verschlossen. Loret gibt einen Hinweis auf den Aufenthaltsort im Kontext der zweiten, nach Theaterstück und Feuerwerk eingenommenen Mahlzeit: »Puis on passa, sans faute nule, / Au travers d’un grand Vestibule, / OF la Cour colationna, / Et, tout soudain, s’en retourna.«63 Entsprechend einer räumlich gespiegelten zeremoniellen Rangfolge zeigt sich hier die Abstufung von der Chambre du roi zu dem der Mehrzahl der Gäste zugänglichen, halböffentlichen Vestibül. Die generell eingeschränkte Zugänglichkeit der Innenräume wird von Loret, dem offenbar der Zutritt trotz persönlicher Kontakte verwehrt war, deutlich ausformuliert:
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Renaudot, Gazette (s. Anm. 22), N8 63, o. D. Renaudot, Gazette (s. Anm. 22), N8 63, o. D. Félibien, Relation des magnificences (s. Anm. 38), S. 32. Loret, Muze historique (s. Anm. 22), N8 33 (20. 08. 1661).
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»Je ne sÅay par quelle raizon / Je n’entray point dans la Maizon / Aux endroits oF sont les Peintures, / Les Ameublemens, les Tentures, / Et cinq cens autres raretez, / Qu’on y va voir de tous citez; / Cela me mit, presque, en d8route: / J’ay-l/ quelques amis, sans doute, / Mais ils avoient lors sur les bras / Trop d’afaires et d’embaras.«64
Dass der größte Teil der Besucher die Appartements nicht betrat, ging indes in Vaux-le-Vicomte nur geringfügig zu Lasten der sich in den Bildprogrammen manifestierenden Geltungsansprüche des Schlossbesitzers. Denn für den auf das Vestibül folgenden Grand Salon, der zwangsläufig durchquert wurde um den Garten zu betreten, war das aufwendigste Deckengemälde des Schlosses vorgesehen, welches das von Fouquet verfolgte Anspruchsniveau auf einen Blick manifestiert hätte: Charles Le Brun plante eine mehr als 200 Figuren umfassende Komposition, in der die Aufnahme eines neuen Sterns mit Fouquets Wappen in den Götterhimmel verbildlicht werden sollte, umgeben von einer Ikonographie der Jahres- und Tierkreiszeichen und bekannten olympischen Gottheiten (Abbildung 2). Ohne Zweifel steht die künstlerische Form und gewählte Ikonographie des Deckengemäldes in Zusammenhang mit dem halböffentlichen Charakter des Grand Salons und der hier zu erwartenden höheren Besucherfrequenz anlässlich der im Schloss stattfindenden Empfänge: Trotz der hohen Figurenanzahl ist die programmatische Bildaussage weniger komplex als in den Deckengestaltungen der repräsentativen Appartements Fouquets und des Königs, wurde zudem mit Tierkreiszeichen und Jahreszeiten eine in der Zeit überaus verbreitete und konventionelle Ikonographie verwendet, die auf eine hohe Wiedererkennung zählen konnte. Das zentral platzierte Wappen Fouquets ließ keinen Zweifel, auf wen die Aussage des Bildprogramms zu beziehen war. Verlangten zwar auch hier die Bilddetails und programmatischen Feinheiten profunde Kenntnisse seitens der zeitgenössischen Betrachter, war ein solches für das Verständnis der intendierten Gesamtaussage nicht zwingend notwendig und hätte ausgehend von einer bildimmanenten Erfassung des Deckengemäldes von der Mehrheit der Rezipienten gar nicht geleistet werden können. Es ist anzunehmen, dass dem Auftraggeber ein begrenzter Erkenntnishorizont des Zielpublikums zunächst ausreichte, wenn sich die Grundausrichtung bereits über wenige Schlüsselmotive erschloss.65 Dass es sich um ein komplexes Programm 64 Loret, Muze historique (s. Anm. 22), N8 33 (20. 08. 1661). Auch bei anderer Gelegenheit berichtet Loret von ihm verwehrten Zugängen, so bei dem Empfang des Königs in Berny durch Lionne, wo er nicht in den Ballsaal gelangt: »[…] un grand Bal / Dans une tr8s-superbe Sale, / Et, dudit Lieu, la capitale; / OF tout fut beau, tout 8clatant, / Mais oF je n’entray pas, pourtant« und auch nicht an der abschließenden collation teilnehmen kann: »[…], dont, non plus je ne vis rien«. Loret, Muze historique (s. Anm. 22), N8 20 (25. 5. 1659). 65 Vgl. Pablo Schneider : Repräsentation oder Illustration. Die Ikonographie der Hundisburger Deckengemälde im Kontext der höfischen Wissenskultur, in: Residenz der Musen (s. Anm. 1), S. 90–105, hier S. 96.
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handelte, vermittelten schon die Anzahl der Figuren und die Bildkomposition. Allein die formale Gestaltung konnte den hohen Bildungsstand des Auftraggebers, seine gesellschaftliche Bedeutung und das Anspruchsniveau des Ortes transportieren. Nicht zuletzt erzeugte der räumliche Kontext des Bildprogrammes eine Erwartungshaltung, die dem Auge vielfach vorausging und die Rezeption bestimmte. Es reichte also bereits der »Akt des Schauens auf eine komplexe Wissensebene«,66 ohne dass das Wissen selbst in allen Dimensionen erfasst sein musste. Eben dieser Effekt sollte in Vaux-le-Vicomte bereits in den halböffentlichen Räumen erreicht werden und erlaubte es, die privaten Appartements mit Exklusivität und eingeschränkter Zugänglichkeit im Sinne einer höfischen zeremoniellen Ordnung zu belegen.
Abb. 2: G8rard Audran, Le palais du Soleil, Stich nach einem Entwurf von Charles Le Brun für die Kuppel des Grand Salon in Vaux-le-Vicomte, 1681
Auch bei Empfängen, welche die Innenräume umfassender in den Festablauf mit einbinden, verrät sich die differenzierte Raumnutzung in Analogie zum gesellschaftlichen Status der Besucher. Aufschlussreich ist Renaudots Bericht vom Empfang Ludwigs XIV. im Ch.teau de Richelieu im Juni 1650, bei dem auch die Königin, Mazarin und eine große Anzahl weiterer ranghoher Persönlichkeiten 66 Schneider, Repräsentation oder Illustration (s. Anm. 65), S. 94.
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anwesend waren. Renaudot widmet einen auffallend großen Teil seiner Beschreibung der Sitzordnung während des d%ners und den Räumlichkeiten, in denen die Gäste bewirtet wurden, hierbei auch Hinweise auf die Schlossausstattung einflechtend. Erwartungsgemäß entsprechen sich Rang der Personen und Repräsentationsgrad des Raumes, in dem sie platziert wurden, und auch Renaudots Interesse und der Detailreichtum seines Textes nehmen mit der Ranghöhe ab. König und Königin sowie ihre namentlich einzeln genannten Tischgenossen, hierunter Mazarin und der Bruder des Königs, speisten im Salon am Ende der Galerie im ersten Obergeschoss, wobei Renaudot sowohl die Wanddekoration der zuvor durchquerten Galerie als auch die Antiken im Salon hervorhebt.67 Dem König als erstem Adressaten wurden damit Räume präsentiert, die zum einen klassische Orte der Sammlungspräsentation darstellen und in deren Dekor sich zum anderen anschaulich das Erbe Kardinal Richelieus verdichtete, in das der Marquis de Richelieu sich stellen konnte.68 Der Tisch der seigneurs aus Mazarins Gefolge sowie jener des Hausherrn befanden sich hingegen in der »grand’salle basse«69 im Erdgeschoss, während die »Filles de la Reyne« in einer »grande antichambre«, die »femmes de chambre« der Königin in einer »chambre haute« und die restlichen gentilshommes in einer weiter entfernten »grand’sale« bedient wurden.70 Die Ausstattung jener untergeordneten Räume interessiert Renaudot indes nicht mehr. Seine exakte Beschreibung der Sitzordnungen bildet die Analogie ab, die im Zuge der Empfänge zwischen gesellschaftlicher und hierarchischer Raumordnung hergestellt wurde. Die Bemühung, die Besucher über einen erlebbaren räumlichen Illusionismus in Staunen zu versetzen und zu überwältigen, wurde am konsequentesten offenbar von Louis Hesselin verfolgt. Anlässlich des Empfangs von Christina von Schweden im Ch.teau de Chantemesle in Essone71 vollzieht sich die Visite des Schlosses im
67 »Le festin estant dress8 dans le salon, qui est vne petite sale ronde au bout d’vne longue galerie contenant toutes les victoires du Roy d8funt : ce salon en forme de dome de dix toises de diametre, soustenu de plusieurs colomnes de marbre & porphyre de diverses couleurs, & orn8 des plus belles antiques que le d8funt Cardinal Duc y ait p0 faire transporter d’Italie & des autres pa"s estrangers, dont le reste de cette maison majestüeuse est aussi rempli.« Renaudot, Gazette (s. Anm. 22), N8 107 (18.–20. 6. 1650). 68 Dies wird von Renaudot zu Anfang betont: »en cette Maison Ducale, qu’vn premier Ministre [=Kardinal Richelieu] s’est efforc8 d’honorer de la plus belle structure & des plus riches meubles de son si8cle«, Renaudot, Gazette (s. Anm. 22), N8 107 (18.–20. 6. 1650). 69 Vgl. Renaudot, Gazette (s. Anm. 22), N8 107 (18.–20. 6. 1650). 70 Eine solche Differenzierung zeigt sich auch bei anderen Beschreibungen, so in jener des königlichen Empfangs in Essonne am 25. Oktober 1655, wo Mazarin »disna aussi dans vn cabinet joignant la chambre de Leurs Majestez.« Renaudot, Gazette (s. Anm. 22), N8 146 (30. 10. 1655). 71 Vgl. Robert Ballard: Relation de ce qvi s’est pass8 / l’arriu8e de la reine Christine de SvHde, / Essaune en la Maison de Monsievr Hesselin. Ensemble la description particuliere du Ballet
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Rahmen einer Aufführung, während deren Verlaufs realer und theatralischer Raum verschwimmen, Kulisse und Schlossdekoration sowie Innen- und Außenraum ineinander übergehen. Szenen- und Perspektivwechsel gehen mit räumlicher Bewegung einher, wobei die einzelnen Räume spektakuläre Inszenierungen erfahren72 oder unerwartet hinter verschwindenden Kulissen erscheinen.73 Die Überraschungsabfolgen verfehlen ihre Wirkung nicht. So ersehnt Christina am Ende »auec impatience le lendemain pour se renouueller le plaisir des beaux objets que les tenebres luy auoient cachez, & dont il nous suffira de dire, Qu’apres qu’on les a bien considerez, on se d8fie de ses propres yeux, & on doute si ce qu’on a veu est vne verit8 ou vne illusion.«74
Die in den Landschlössern zu beobachtenden Rauminszenierungen wurden seitens der Aufsteiger in ähnlicher Form auch in den Pariser Stadtpalais umgesetzt, wie sich anhand ausführlicher Berichte von Besuchen im Hitel von Pierre S8guier75 belegen lässt. S8guier ließ seine Besucher stets lange Wege zurücklegen, um sein Hitel zur Geltung zu bringen. Mazarin habe alle Appartements besichtigt, heißt es in der Gazette zur Visite am 29. Januar 165576 und eine Woche später durchquerte der König bis zu seinem souper mehrere Räume, »passans au travers de deux gr.des anti-chambres, au devant d’vne tres belle chapelle, puis par vn fort agr8able cabinet, & ensuite par vne longue galerie, […].«77 Nach dem Essen wurde der Weg zum Ball erneut variiert und führte durch ein weiteres, noch nicht gesehenes Appartement.78 Anlässlich des ein Jahr später stattfindenden königlichen Empfangs bestätigen zwei holländische Ge-
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qui y a est8 dans8, Le sixiesme Septembre 1656. Der Text ist abgedruckt bei A. Dufour: La Reine de SuHde / Essonnes en 1656, Paris 1906. So erscheint nach einem Feuerwerk eine »Salle orn8e de Colonnes Doriques, & d’autres ordres d’Architecture«, Ballard, Relation (s. Anm. 71), S. 4. Unerwartet verschwindende Kulissen geben beispielsweise den Blick auf eine dunkle Enfilade mit zahlreichen Türen frei, an deren Ende man in eine »grande Chambre« gelangt, »qui parut orn8e d’vn lict / Alcoue & autres embellissemens.« Ballard, Relation (s. Anm. 71), S. 4f. Ballard, Relation (s. Anm. 71), S. 6. Vgl. zu den Empfängen im Hitel S8guier Renaudot, Gazette (s. Anm. 22), N8 16 (30. 1. 1655); Renaudot, Gazette (s. Anm. 22), N8 19 (6. 2. 1655); Renaudot, Gazette (s. Anm. 22), N8 27 (26. 2. 1656); Loret, Muze historique (s. Anm. 22), N8 9 (26. 2. 1656). »Son Eminence, qui se retira sur le milieu du Bal, apres avoir visit8 tous les appartemens pr8parez pour recevoir vne si auguste compagnie«, Renaudot, Gazette (s. Anm. 22), N8 19 (6. 2. 1655). Renaudot, Gazette (s. Anm. 22), N8 19 (6. 2. 1655). »Apres le souper, Leursdites Majestez retourn8rent au Bal par vn autre appartement: oF, dans vne Alcove, Elles furent d8licieusement diverties par vn concert des plus harmonieux«, Renaudot, Gazette (s. Anm. 22), N8 19 (6. 2. 1655).
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sandte die absichtsvoll langen Wege durch das Hitel, deren räumliche Abschnitte nun durch sich ändernde Speisen gekennzeichnet werden. S8guier »les [=dames] faisoit passer de la sale du bal en la galerie, et de l/ en ses chambres, et / chacune, en un endroict il faisoit pr8senter des limons doux, en un ature des bassins oF dans de beaux vases de porcelaine il y avoit de toutes sortes de confitures et de fruicts exquis aussi bien que, dans les bouteilles, de tous les breuvages les plus agr8ables. AprHs qu’il eust ainsi reÅeu toutes les invit8es et qu’il leur eust fait parcourir sa maison pour leur en faire voir toute la magnificence, le bal se commenÅa / l’arriv8e du Roy.«79
Eine nähere Betrachtung des Ablaufs einzelner Empfänge auf den Landschlössern bestätigt deren wesentliche Funktion innerhalb der Geltungs- und Anerkennungsbestrebungen aufgestiegener Regierungseliten im Frankreich des 17. Jahrhunderts. Das Schloss bot einen vielfach nutzbaren Rahmen für die Entwicklung distinktiver Strategien und die Legitimation eines errungenen Status, wofür die ursprünglich aristokratisch besetzte arkadische Tradition des Landhauses als Rückzugsraum mit neuen Ausdeutungen im Dienste politischsozialer Interessen belegt wurde. Die plaisirs blieben zwar stets ein wesentlicher Teil inszenierter Landhausidylle, doch rückte die demonstrative Zurschaustellung von Prosperität und künstlerisch-technischer Innovation vermehrt in den Vordergrund. Der Repräsentationsdruck im Spannungsfeld neuer und alter Eliten führte offenkundig zu einer erhöhten Innovationsbereitschaft, was auch eine Verdichtung diverser Wissens- und Ausdrucksformen beinhaltete. Die hohe Bedeutung des Gartens und hier präsentierter Errungenschaften verdeutlichen, dass die Aufsteiger ihnen zugängliches Wissen ausbauten und für ihre Legitimationsbestrebungen instrumentalisierten. Indes zielte der Moment des detailliert inszenierten und in eine zeremonielle Bewegung gebundenen Empfangs vorrangig auf eine emotionale Überwältigung des Betrachters, dem ein komplexer Wissensvorrat erst in zweiter Instanz abverlangt wurde. Die in Bildprogrammen und architektonischer Zeichensprache wirksam werdenden vielschichtigen Wissensformen traten zugunsten einer unmittelbaren Wirkmächtigkeit zurück, die erst im Nachhinein durch Berichte und Begleittexte ausdifferenziert wurde.
79 Zitiert nach Yannick Nexon: Topographie d’une collection d’art au XVIIe siHcle: l‘hitel S8guier, in: Studiolo 8 (2010), S. 75–87, hier S. 84. Das Bemühen um ein Einbeziehen möglichst vieler Räumlichkeiten über das Verteilen des Essens und der ›Entertainment‹-Objekte findet man auch in anderen Festbeschreibungen, so zum Beispiel bei einem Empfang von Hesselin in Essone. Vgl. Loret, Muze historique (s. Anm. 22), N8 45 (13. 11. 1655).
II. Geltung durch Ausdifferenzierung und Neuordnung: Wissensformationen und ihre Präsentation
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Diskursive Mitgestaltung des curriculum scientiae: olfactus, gustus und tactus im Cambridger Kommentar zu Martianus Capellas De nuptiis Philologiae et Mercurii
Einleitung Die Bibliothek von Cambridge bewahrt einen singulär überlieferten Kommentar zu Martianus Capellas Dichtung De nuptiis Philologiae et Mercurii auf, ein Text,1 der so faszinierend wie opulent, so komplex wie ungewöhnlich innerhalb der bis dato bestehenden De nuptiis-Kommentierungstradition ist. Vermutlich entstand er bereits in der ersten Hälfte oder um die Mitte des 12. Jahrhunderts, obwohl die einzige bekannte Handschrift erst am Beginn des 13. Jahrhunderts (ca. 1200 bis 1220) angefertigt wurde.2 Die Diskrepanz zwischen Abfassungszeitraum und Handschriftdatierung weist wohl darauf hin, dass es Abschriften des Textes gab und er eine gewisse Verbreitung gefunden hat. Hinsichtlich der Verfasserfrage des anonym überlieferten Kommentars kommen nach heutigem Kenntnisstand Bernardus Silvestris oder ein gewisser Odo, Autor der Ysagoge in Theologiam, in Betracht.3 Für das Verstehen der mittelalterlichen Kultur sind Texte wie der Cambridger Kommentar (CK) von großem Wert, dokumentieren sie doch, wie Bildung und Wissenschaft jenseits der einflussreichen und kulturprägenden Texte der Zeit,
1 The Commentary on Martianus Capella’s De nuptiis Philologiae et Mercurii attributed to Bernardus Silvestris, hg. v. Haijo Jan Westra, Toronto 1986. Der Kommentar liegt in der Bibliothek der Universität von Cambridge (Royal-Library-Sammlung) MS Mm.1.18. Zur Handschrift vgl. Westra, Commentary Introduction, S. 1–7. 2 Westra geht auf die Diskrepanz zwischen Entstehungszeit des Kommentars und Handschriftendatierung nicht explizit ein. Dass der Kommentar erst um 1200–1220 entstanden sein könnte, macht allerdings die Quellenlage, die Westra aufarbeitet, unwahrscheinlich, da nur Texte zitiert und verarbeitet werden, die bis zur ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts zur Verfügung standen: »After ca. 1150 the influx of new Greek and Arabic sources caused a dramatic change in the direction of scientific speculation, a change which this commentary clearly antedates.« Westra, Commentary Introduction, (s. Anm. 1) S. 9. 3 Zu Bernardus Silvestris Westra, Commentary Introduction (s. Anm. 1), S. 7–8, zu Odo Michael Evans, The Ysagoge in Theologiam and the Commentaries attributed to Bernardus Silvestris, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, 54 (1991), S. 1–42.
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wie etwa das Didascalicon Hugos von St. Viktor,4 Teil eines experimentellen intellektuellen Lebens waren. Dieser eigenwillige Text soll nun unter einem Blickpunkt gelesen werden, der vielleicht nicht weniger eigenwillig ist als der Kommentar selbst, denn die nahsinnliche5 Wahrnehmung ist sicher kein Aspekt, der als Untersuchungsgegenstand nahezu selbsterklärend ist. Warum sollte sich daher ein Blick aus dieser Perspektive lohnen? Genau besehen lässt sich diese Frage erst am Ende der Ausführungen beantworten. Vorab kann aber schon soviel gesagt werden, dass der CK dem Thema ›sinnliche Wahrnehmung‹ an vielen Stellen ein Interesse entgegenbringt, das im 12. Jahrhundert aus zwei Gründen hochaktuell war : Der enge Zusammenhang zwischen der sinnlichen Wahrnehmung und den Erkenntnisbestrebungen in der Naturphilosophie und, daran anschließend, in der Theologie (Gotteserkenntnis) war ebenso ein Grund wie die Beziehung zwischen der Perzeption und dem Erwerb von Bildungs- und Naturwissen. Die sensus sind, wie der Zeitgenosse Petrus Abaelard es formulierte, für jegliches Wissen und Forschen die Grundlage: Sic et deus, qui in seipso invisibilis et incomprehensibilis est, ex operum suorum magnitudine primam nobis de se scientiam confert, cum omnis humana noticia surgat a sensibus.6 (»So verschafft uns Gott, der in sich selbst unsichtbar und unbegreiflich ist, eine Ersterkenntnis über sich aus der Größe seiner Werke, indem alle menschliche Erkenntnis mit den Sinneswahrnehmungen beginnt.«) Diesem Aspekt widmet sich der erste Teil des Aufsatzes mit der Einschränkung, dass angesichts der allgemeinen Aussage die Frage gestellt wird, inwieweit diese Feststellung auf die fünf Perzeptionsmodi im Einzelnen zutrifft. Außer Frage steht, dass der visuellen und auditiven Wahrnehmung auch im 12. Jahrhundert die Priorität in dieser Beziehung zukommt und dass diese Überzeugung Teil des kulturellen Wissens7 war. Im Gegensatz zur opinio communis kann jedoch ge-
4 Hugonis de Sancto Victore Didascalicon. De studio legendi, A Critical Text, hg. v. Charles Henry Buttimer, Washington 1939; auf dieser kritischen Textausgabe beruht Hugo von Sankt Viktor, Didascalicon. De studio legendi, lat./dt., übersetzt u. eingeleitet v. Thilo Offergeld, Freiburg im Breisgau u. a. 1997. 5 Der Begriff ›Nahsinne‹ und dessen Derivate stehen als Sammelbegriff für die drei Perzeptionsmodi des Riechens, Schmeckens und Tastens. Sie scheinen mir trotz der inhaltlichen Ungenauigkeit hinsichtlich des Geruchssinns und, nach neueren Erkenntnissen, auch des Tastsinns, dennoch eine pragmatische und einsichtige begriffliche Abgrenzung gegenüber den vordergründig als ›Fernsinne‹ klassifizierbaren sensus des Sehens und Hörens zu bieten. Zum Tastsinn oder Tastgefühl als Fernsinn Rainer Schönhammer : Einführung in die Wahrnehmungspsychologie. Sinne, Körper, Bewegung, Wien 20132, S. 41–43. 6 Petrus Abaelard: Expositio in Hexameron, hg. v. Mary Romig/David Luscumbe, in: ders., Opera theologica, Bd. 5, Turnhout 2004, S. 6. 7 Kulturelles Wissen verstehe ich hier im Sinne Titzmanns als das Wissen um die Bedeutung der einzelnen sensus im System der Wahrnehmungslehre, das weitläufig akzeptiert wurde und in diesem Sinne vorherrschte. Michael Titzmann: Kulturelles Wissen – Diskurs – Denksystem.
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zeigt werden, wie der CK hinsichtlich der Ursachenforschung im Kontext der Naturphilosophie eine Umwertung vornimmt und der taktilen Wahrnehmung eine höhere Stellung als der visuellen zuerkennt. Als Erkenntnismittel erfährt der tactus aus spezifischen historischen Gründen eine ungewöhnliche Aufwertung und eine höhere Geltung. Ein weiterer Grund für die Betrachtung der Nahsinne wird im zweiten Abschnitt des Aufsatzes deutlich, in welchem eine ganz andere Art von diskursiver Mitwirkung der Nahsinne näher untersucht werden soll. Nicht mehr Mittel zum Zweck für Wissenserwerb und Erkenntnis, sind sie mit Blick auf Fragen nach der Konstitution von Makrokosmos wie Mikrokosmos selbst Wissensgegenstand. Aus diesem Perspektivwechsel ergeben sich andere Fragen hinsichtlich der Beziehung von Geltung und Wissen. Welche Stellung nehmen die Nahsinne in Bezug auf das Gesamtsystem (Welt bzw. Mensch) und im Verhältnis zum Sehen und Hören ein? Bleiben sie weiterhin im Schatten von visus und auditus oder sind sie als Gruppe und Einzelsinne ähnlich präsent? Wie wirken Argumentation und Rhetorik bei der Etablierung hierarchischer oder eher paritätischer Tendenzen zusammen? Der dritte Teil beschäftigt sich mit der moraltheologischen Perspektive der Nahsinne. Wie positionieren sie sich im Gesamtsystem der sensus? Werden sie infolge der ihnen angelasteten moralischen Depravation dämonisiert und einseitig negativ gesehen, oder findet eher eine dialektische Auseinandersetzung statt? Da der CK noch nicht zu den gut erschlossenen Quellen gehört, versteht sich diese kleine Studie als Vor- und Zuarbeit zur Erschließung des Textes im Kontext der Wissenskultur des 12. Jahrhunderts. Die Geltungsfrage wird in diesem Zusammenhang vor allem immer dann aufkommen, wenn es um Hierarchisierungsfragen geht.
I.
Ursachenforschung und Wissenserwerb
Abaelards eingangs zitierte Feststellung unterstreicht einmal mehr, dass wissendes Erkennen erst durch die Wahrnehmung der den Menschen umgebenden Welt möglich wird. Unter dieser Bedingung aber müsste die gesamte Breite der Perzeption erkenntnistheoretisch relevant sein, denn eine Welterkenntnis abgeleitet aus dem, was Auge und Ohr vermitteln, führt zwar sehr weit, wäre aber konsequenterweise unvollständig und zieht eine eingeschränkte Kenntnis der natura und folglich auch ihres Schöpfers nach sich. Gibt es auch an der Priorität Zu einigen Grundbegriffen der Literaturgeschichtsschreibung, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 99 (1989), 47–61.
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der visuellen und auditiven Vermittlung von Wissen im 12. Jahrhundert im Grunde keinen Zweifel,8 erstaunt doch die Lücke zwischen der nicht nur von Abaelard geäußerten Ansicht und der kaum vorhandenen Präzisierung für die einzelnen sensus jenseits des Sehens und Hörens. Auf welche Weise olfactus, tactus und gustus epistemologisch relevant sind, wird, soweit ich sehe, kaum reflektiert. Eine der wenigen Ausnahmen stellt in dieser Hinsicht zumindest teilweise der CK dar. Während der Geruchs- und Geschmackssinn für die Suche nach grundsätzlichen Kausalursachen der materiellen Welt de facto auch im CK keine Rolle spielen, beurteilt aber bereits dessen praefatio9 die überlegene Relevanz des Tastsinns im Erkenntnisgefüge. Neben der visuellen Wahrnehmung nimmt er eine systematische Schlüsselstellung innerhalb der Erkenntnistheorie ein: Matheseos discipline quatuor rationem excitant, tres vero eloquentie artes sermonem disertum reddunt. Cum enim incorporeorum tria sint genera, scilicet invisibiles substantie, invisibiles visibilium cause, visibiles visibilium forme, forme causas quidem, cause substantias, licet natura priores, ordine doctrine antecedunt. Humane namque agnitioni familiariores forme causis, cause substantiis. Licet enim incorporee sint forme, visibiles sunt tamen, cause vero invisibiles. Cause quoque, etsi invisibiles, tactum tamen non refugiunt. Calor enim et frigus, levitas et pondus, humor et siccitas huic sensui se suggerunt. […] Unde philosophandi inicium est mathesis, quia contemplatur formas; provectus phisica que causas; consummatio theologia que substantias. Ecce habemus rationem circa formas in mathesis primo excitari oportere, ut consequenter causas in phisica rimari queat, novissime vero in substantiis theologie insistens intuitum figat.10 (»Die vier mathematischen Disziplinen leiten zum logischen Denken an, die drei Redekünste aber zur wohlgeordneten Rede. Weil es drei Arten von Unkörperlichem gibt, nämlich die unsichtbaren Substanzen, die unsichtbaren Ursachen der sichtbaren Dinge und die sichtbaren Formen der sichtbaren Dinge, gehen aufgrund der Reihenfolge der Lehre die Formen gewiss den Ursachen und die Ursachen den Substanzen voraus, obwohl diese von ihrem Wesen her die früheren sind. Denn der menschlichen Erkenntnis sind die Formen vertrauter als die Ursachen und die Ursachen vertrauer als die Substanzen. Denn auch wenn die Formen unkörperlich sind, sind sie dennoch sichtbar, die Ursachen jedoch nicht. Auch die Ursachen, obwohl nicht sichtbar, entgehen dem Tastsinn nicht. Wärme und Kälte, Leichtigkeit und Schwere, Feuchtigkeit und Trockenheit unterliegen dieser Sinneswahrnehmung. […] Daher steht am Anfang des Philosophierens die Zahlenwissenschaft, da man hier über Formen nachdenkt; im fortgeschrittenen Stadium folgt die Naturlehre, wo die Ursachen erforscht werden; die 8 Um nur zwei prominente repräsentative Vertreter der Zeit zu nennen: Hugo von St. Viktor spricht im Didascalicon mehrfach von der Relevanz der visuellen und auditiven Wahrnehmung für die Vermittlung der Lehrinhalte, Hildegard von Bingen erlebt ihre Offenbarungen fast ausschließlich visuell und auditiv. 9 Westra versah die einzelnen Abschnitte mit Nottiteln, auf die hier auch zurückgegriffen wird. Der Kommentar beginnt mit S. 41. 10 CK S. 41 Z. 1–10, 12–17.
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Vollendung ist die Theologie, die sich den Substanzen widmet. Wir halten es also für richtig, dass es sich gehört, zuerst die Formen zu betrachten, sodass im Anschluss daran die Ursachen erforscht werden können und an letzter Stelle die beharrliche Einsicht sich an die Substanzen in der Theologie heftet.«)11
Hier wird nicht nur deutlich, wie sehr Bildungs- und Erkenntnistheorie ineinandergreifen, sondern auch, wie die Grenzen des traditionellen Programms der septem artes12 im Ausbildungsfortschritt erweitert werden. Zwar ermöglichen die höheren Fächer des Quadriviums das Erkennen der Formen im gesamten mundus, doch erst dadurch, dass dieses Erkenntnisstadium und damit der herkömmliche Kanon der abstrakteren disciplinae überschritten wird, können die visuell erfassbaren Formen auf ihre nicht visuell erfahrbaren Ursachen, die noticia causae, hin durchsichtig werden. Die Disziplin, welche unmittelbar auf dem Quadrivium aufbauend die kausalen Zusammenhänge erforscht, ist die Naturphilosophie (phisica). Kennt man wiederum die Kausalgesetze der Natur, eröffnet einem die Theologie als höchste Disziplin den Weg zur Erkenntnis der Substanzen und damit zur Gotteserkenntnis. Der CK trifft nun, wie das Zitat zeigt, eine ungewöhnliche Differenzierung hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen der sinnlichen Wahrnehmung und den einzelnen Erkenntnisstufen des Quadriviums und der phisica. Für den Menschen beginnt der Weg zur Erkenntnis der Formen und Ursachen bei den qualitativen Informationen, die ihm seine Sinnesorgane zur Verfügung stellen. Differenzierter betrachtet, gewährleisten die visuellen Informationen im Sinne des wissenschaftlichen Wahrheitsanspruchs die Erkenntnis der wahren Formen der res naturae, die das Quadrivium systematisch aufarbeitet. Für die naturphilosophische Ursachenforschung sind dagegen die taktilen Informationen wesentlich, denn die Ursachen sind der visuellen Wahrnehmung nicht mehr zugänglich. Zwar behält der CK in Bezug auf die Gewohnheit oder Vertrautheit (agnitio familiaris) im Umgang mit den res naturae die Prominenz des visus bei, aber dieser ist doch nur der Ausgangspunkt für die nächst höhere Erkenntnisstufe, denn einzig der tactus kann die den Formen zugrundeliegende materielle Kausalität der visuell wahrnehmbaren Dinge dem Erkenntnisapparat des Menschen zugänglich machen. Hugo von St. Viktor, einer der führenden
11 Die Übersetzungen der Zitate aus dem CK stammen von der Autorin. An Ronny Kaiser an dieser Stelle ein herzlicher Dank für die hilfreiche Kritik und die wertvollen Verbesserungsvorschläge. 12 In der Spätantike etablierte sich die auch im 12. Jahrhundert übliche Ausbildungsabfolge der septem artes: Auf die Grundausbildung der sprachlichen Fächer des Triviums (Grammatik, Dialektik und Rhetorik) folgte der Unterricht in den vier eher mathematischen Aufbaufächern des Quadriviums (Geometrie/Geographie, Arithmetik, Astronomie, Musik). Die Reihung folgt der Fächerabfolge in De nuptiis.
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Bildungstheoretiker dieser Zeit, verfährt an dieser Stelle anders.13 Er bringt die Ursachenforschung nicht mit der taktilen Sinneswahrnehmung in Verbindung, sondern sieht den intellektuellen Fortgang (Formen – Ursachen – Substanzen) als eine Zunahme des abstrakten Denkens (speculari – scrutari – contemplari). Ob das Sehen der Formen wörtlich genommen werden sollte und der visus als der dem abstrakten Denken nächstgelegene sensus firmiert, oder das Sehen als pars pro totum für die fünf sensus gelesen werden kann, bleibt in gewisser Weise offen. Für den Autor des CK ist die Ursachenforschung zwar ebenso zweifellos unmittelbare Vorstufe zur höchsten Erkenntnis (theologia), sie hat aber aus seiner Sicht ihre epistemologische Vorbedingung in der taktilen Sinnlichkeit und ist keine rein abstrakte Denkleistung. Durch die Kopplung der jeweiligen Perzeptionsmodi an die hierarchisch gestaffelten Disziplinen aber, und das ist der entscheidende Punkt, schreibt der CK dem Tastsinn das epistemologische Primat über den Sehsinn zu. Obwohl es eine opinio communis hinsichtlich der erkenntnistheoretischen Vorrangstellung des visus gibt, kann man doch mit Blick auf den CK von einer dynamischen Hierarchisierungskultur sprechen, in der sensus-Wertungen nicht allgemeingültig festgeschrieben sind. Für eine historische Erfassung aller möglichen epistemologischen sensus-Überlegungen im frühen 12. Jahrhundert ist das eher ungewöhnliche Modell des CK aufschlussreich, spiegelt es doch die intellektuelle Bandbreite wider, auch wenn es damit nicht Teil des kulturellen Wissens im Sinne der breiten Präsenz ist, sondern eher eine die intellektuelle Kultur bereichernde Einzelstimme im erkenntnistheoretischen Diskurs der Zeit. Ein vorrangiger Geltungsanspruch der visuellen Wahrnehmung im Hinblick auf das Betreiben einer verlässlichen und der Wahrheit genügenden Ursachenforschung kann also nicht immer selbstredend für diese Zeit angenommen werden. Nun lässt sich fragen, wie es zu solch einer Aufwertung des tactus kommen konnte. Meines Erachtens macht sich hier der Einfluss der platonischen Naturphilosophie bemerkbar. Die in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts einfluss-
13 Prima enim, id est mathematica, speculatur visibiles rerum visibilium formas. Secunda autem, id est physica, scrutatur invisibiles rerum visibilium causas. Tertia vero sola, id est theologia, contemplatur invisibiles substantias, et invisibilium substantiarum invisibiles naturas. Et est in his quasi progressio quaedam, et profectus mentis ad cognoscendum verum conscendentis. Per visibiles enim visibilium formas pervenitur ad invisibiles visibilium causas; et per invisibiles visibilium causas ascenditur ad invisibiles substantias, et earum cognoscendas naturas. Hugo von St. Viktor : Opera omnia, Bd. 1, Patrologia Latina 175, hg. v. Jacques Paul Migne, Paris 1854, Sp. 927B–928 A; vgl. auch die Epitome Dindimi in philosophiam, II (De divisione philosophie) 20, S. 195f., in: ders., Opera propaedeutica. Practica geometriae, De grammatica, Epitome Dindidmi in philosophiam, hg. v. Roger Baron, Notre Dame Indiana 1966 und in: ders., Didascalicon, hg. v. Charles Henry Buttimer, Washington D.C. 1939, L. 6, 14 (Divisio philosohpie continentium), S. 131.
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reiche Teilübersetzung des Timaios14 differenziert die perzeptiven Modalitäten, anhand derer die Existenz der physischen Welt erfahrbar ist, in das Sehen und Ertasten aus. Beide Modi werden quasi als primordiale perzeptive Zustände vorgestellt, da im platonischen Schöpfungsmythos der Blick für die göttliche Schönheit des gesamten mundus ebenso existenziell ist wie das fühlende Tasten, über welches die der mundialen Urexistenz eingeschriebene Körperlichkeit erfahrbar ist.15 Der mundus sollte also in seiner sinnlichen Grundkonstitution für den Menschen zuallererst sichtbar und ertastbar sein. Als Folge dieses apriorischen Beschlusses, der den Menschen bereits als das zentrale Wesen des gesamten mundus positioniert, müssen jene Elemente eine Existenz erhalten, die das bewundernde Sehen und erkenntnistragende Tasten ermöglichen: Et quia corpulentus visibilisque et contiguus erat merito futurus, sine igni porro nihil visibile sentitur nec vero tangi quicquam potest sine soliditate, soliditas porro nulla sine terra, ignem terramque corporis mundi fundamenta iecit deus.16 (»Und weil das Zukünftige zurecht körperlich, sichtbar und zusammenhängend sein würde, ohne Feuer allerdings nichts Sichtbares wahrgenommen wird und auch nichts ohne Festigkeit berührt werden kann, es weiterhin keine Festigkeit ohne Erde gibt, legte der Gott das Feuer und die Erde als Fundamente des Weltkörpers.«) Entscheidend ist, dass der Timaeus latinus mit den Folgerungsketten visibilis – ignis und tangibilis – soliditas – terra auf die Elemententheorie zusteuert. Wilhelm von Conches17 (bis nach 1154) macht diese Richtung in seinem Timaeuskommentar denn auch explizit. Die Verbindung zwischen Elementenlehre und Ursachenforschung macht der CK mehr noch als die platonische Darstellung dadurch deutlich, dass er die dem Tastsinn eigenen qualitates zusätzlich konkret benennt: Calor enim et frigus, levitas et pondus, humor et siccitas huic sensui se suggerunt.18 (»Denn Wärme und Kälte, Leichtigkeit und Schwere, Feuchtigkeit und Trockenheit unterliegen dieser Sinneswahrnehmung«). Diese sechs ausschließlich über den Tastsinn wahrnehmbaren Qualitäten aber sind die festen Qualitätskategorien der Elemen14 Der spätantike Gelehrte Calcidius übersetzte Platons Timaios bis 53c und kommentierte die Teilübersetzung ausführlich; im Weiteren als Timaeus latinus bezeichnet. Timaeus. A Calcidio translatus commentarioque instructus, hg. v. Jan Hendrik Waszink unter Mithilfe v. P. J. Jensen, London 1962. 15 Volens siquidem deus bona quidem omnia provenire, mali porro nullius, prout eorum quae nascuntur natura fert, relinqui propaginem, omne visibile corporeumque motu importuno fluctuans neque umquam quiescens ex inordinata iactatione redigit in ordinem sciens ordinatorum fortunam confusis inordinatisque praestare. Timaeus latinus 30 a. 16 Tim. lat. 31 b. 17 Et subiungit quod: omne visibile. Sed quia non omnia elementa visibilia sunt, addit: corporeumque. Et sic est perifrasis id est descriptio elementorum quatuor. Wilhelm von Conches: Glosae super Platonem, hg. v. Edouard A. Jeauneau, Turnhout 2006, S. 94. Wörtliche Übernahmen aus dem Timaeus latinus setzte Jeauneau in Kapitälchen. 18 CK S. 41 Z. 9–10.
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tenlehre. Daraus erklärt sich auch die Schlüsselstellung des tactus in Bezug auf die causae mundi, da allen sensiblen Dingen die Elemente und deren qualitates als verursachende causae vorausgehen.19 Feuer, Luft, Wasser und Erde werden erst durch je zwei taktil erfassbare Qualitäten beschreibbar : Das Feuer ist heiß und trocken (calidus, siccus), die Luft warm und feucht (calidus, humidus), das Wasser kalt und feucht (frigida, humida) und die Erde kalt und trocken (frigida, sicca). Anders als das dreigliedrige Elementenmodell beruht dieses zweigliedrige vollständig auf den taktilen qualitates.20 So lässt sich sagen, dass der tactus im CK vor dem Hintergrund des platonischen Schöpfungsmythos eine Geltung innerhalb einer an den causae naturae interessierten Naturphilosophie erlangen kann, die die alleinige Vormachtstellung der visuellen Wahrnehmung relativiert. Diese Relativierung, und das ist das Besondere des CK, ist inhaltlich wohlbegründet und innerhalb des Bildungskanons präzise verankert. Dabei stehen die taktilen Wahrnehmungsqualitäten aus gutem Grund in der programmatischen praefatio des CK, denn deren ganz praktische Relevanz für die Ursachenerkennung führt der Kommentator im Laufe der Kommentierung immer wieder vor Augen. Dazu zwei Beispiele. Unter dem Stichwort Quem matre (erster Vers des Eingangsgedichtes von De nuptiis)21 verknüpft der CK in einem langen Exkurs22 mythologische Götterfiguren, die vier Elemente sowie die taktilen Qualitäten der Elemente miteinander. Anders als das Stichwort erwarten lässt, geht es im Folgenden nicht um eine (mütterliche) Genealogie des Hymeneus, welcher hinter dem quem steht, sondern um Bacchus, einen der beiden Söhne Jupiters. Kommentar und kommentierter Text gehen hier getrennte Wege. Was aber füllt nun das offene Integumentum der Bacchusfigur? Ausgangspunkt ist der Vorschlag des CK, Bacchus 19 Secundum invisibilis invisibilium causa, ut calor, humor. CK S. 79 Z. 920. 20 Wilhelm von Conches erläutert im zweiten Buch des Dragmaticon philosophiae beide Modelle. Demnach sind die vier Elemente ignis – aer – aqua – terra im zweistelligen Modell durch jeweils eine mit dem benachbarten Element gemeinsame Eigenschaft verbunden: Das Feuer ist trocken und warm, die Luft warm und feucht, das Wasser feucht und kalt, die Erde kalt und trocken. Das dreistellige Modell ordnet jedem Element nicht zwei sondern drei qualitates zu, wobei die zwei zwischen dem Feuer und der Erde liegenden Elemente Luft und Wasser (von oben nach unten betrachtet) genau zwei Eigenschaften mit dem nahen und eine Eigenschaft mit dem entfernteren Element gemeinsam haben: ignis (acutus, subtilis, mobilis), aer (obtusus, subtilis, mobilis), aqua (obtusa, corpulenta, mobilis), terra (obtusa, corpulenta, immobilis). Das dreistellige Modell lässt sich als ein abstrakteres Dichtemodell charakterisieren, während das zweistellige eher ein primärtaktiles Temperatur- und Feuchtigkeitsmodell ist. Wilhelm von Conches: Dragmaticon philosophiae, hg. v. Italo Ronca, Turnhout 1997, S. 35–48, bes. die Schemata S. 45. 21 Tu quem psallentem thalamis, quem matre Camena/progenitum perhibent,[…]. De nuptiis Lib I, 1 V. 1–2. 22 CK S. 55–58 Z. 175–287.
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u. a. als integumentale Figuration der naturalis potentia zu lesen.23 Die mythologische Geschichte von der Zeugung des Bacchus durch Jupiter und Semele kann so gesehen als Verhüllung für das Wirken der Naturkräfte gedeutet werden. Jupiter verkörpert die naturalis potentia des Feuers, Semele die der Erde. Die Beziehung der Elemente Feuer und Erde erklärt der Kommentartor anhand des Zeugungsvorgangs: Jupiter/Feuer entfaltet seine Wirkung in Semele/Erde in der für Semele/Erde verträglichen Menschengestalt (sub humana forma), d. h. in Bezug auf die Erde in Form von Regen, Schnee, Reif und Hagel. Das Feuer würde dagegen nur die Erde verbrennen und eine Befruchtung vereiteln. Eine derartige integumentale Lesung ist möglich, weil der Formbegriff zwei Bedeutungen erhält. Der humana forma des Gottes Jupiter in der Mythologie entspricht im Reich der res naturae die visuell erkennbare Form von Regen, Schnee etc., aber auch die taktil erfassbare nasse/feuchte (humor) Qualitätsform der Niederschlagsarten, da forma in diesem Fall dasjenige benennt, durch das das Wesen einer res erkannt wird.24 Konkret ist es hier die Form der taktilen Qualität der Feuchtigkeit, durch die die natura der Niederschlagsarten (res) erkannt wird.25 An einer späteren Stelle wird der Zusammenhang zwischen der taktilen Empfindung und der kausalen Ursachenerkenntnis ganz ohne mythologischen Überbau im Reich der Naturbeobachtung relevant.26 Die Winterkälte sorgt dafür, dass die Erde sich zusammenzieht und verschließt, wodurch die Sommerwärme, in den Tiefen der Erde eingeschlossen, erhalten bleibt, mit der Folge: Unde illo tempore amnes ab intimis venientes calidos sentimus.27 (»Deshalb fühlt sich das Flusswasser, das zu dieser Zeit aus dem Erdinneren strömt, für uns warm an.«) Die taktile Temperaturempfindung stellt eine unerwartete Temperaturdiskrepanz zwischen kalter Jahreszeit und warmer Wassertemperatur fest und liefert damit die sinnliche Voraussetzung für eine Suche nach der Ursache dieses Naturphänomens aufgrund der bekannten Wirkungen von Kälte (Zusammenziehen) und Wärme (Ausdehnung).
23 Set de Apolline differentes dicamus quia nomen Bachi in integumentis ad quatuor equivocator: ad naturalem potentiam terre producendi vinum; ad animam humanam; ad opulentiam temporalem; ad spiritum divinum. CK S. 55 Z. 176–179. 24 In Semelen ergo agit Iupiter sub humana forma, quando in terram agit ignis inferiorum natura. Humana enim forma est pluvia, nix, pruina, grando. Forma quidem dicitur et humor et quelibet natura, quia discernitur res per suam naturam. CK S. 55 Z. 185–189. 25 In der Analogiebildung vermischt der Kommentator die qualitates (der Elemente verstanden als Grundbausteine des mundus) durch welche die innere Beschaffenheit (natura) einer res erkannt werden kann (warm, kalt, feucht, trocken etc.) und die Wirkung der Naturelemente Feuer und Erde aufgrund ihrer Eigenschaften. Diese Interdependenz kann hier allerdings nicht genauer untersucht werden, sie bleibt aber eine noch zu klärende Erscheinung gerade im Umfeld der platonischen Naturphilosophie im frühen 12. Jahrhundert. 26 CK S. 101f. Z. 229–304. 27 CK S. 101 Z. 235f.
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II.
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Die Nahsinne in Makrokosmos und Mikrokosmos
Von der besonderen Rolle des Tastsinns als Erkenntnismittel geht es jetzt zu einer vollkommen anderen Perspektive auf die drei Nahsinne insgesamt. Dazu ist vorab anzumerken, dass der CK in einem Maße an der Entfaltung des Wissens über den Aufbau der Welt und des Menschen interessiert ist, wie es der De nuptiis-Kommentierungstradition bis dahin unbekannt war. Er ist den naturphilosophischen Interessen der eigenen Zeit insofern wesentlich mehr verbunden und verpflichtet als seinen Vorgängern. Für die Nahsinne, das Wissen über sie und ihre Stellung innerhalb des Weltsystems und der menschlichen Existenz stellen sich hinsichtlich der Hierarchisierungs- und damit Geltungsfrage andere Probleme. Wenn es um die nahsinnliche Wahrnehmung innerhalb Konstitution der Welt im Großen und des Menschen im Kleinen geht, lassen sich zwei voneinander weitestgehend unabhängige Parameter festhalten, die mit gegensätzlichen Geltungstendenzen verknüpft sind. Auf der einen Seite wäre von einem äußeren Grund zu sprechen, in dem die Nahsinne aufgrund an sie herangetragener Systemzwänge ein diskursnotwendiger Teil bei der Darlegung beider Welten sind. Diese äußeren Gründe haben dabei eine Tendenz zur paritätischen Sicht auf die fünf Perzeptionsmodi, unabhängig von deren je spezifischen perzeptiven Besonderheiten. Sobald olfactus, tactus und gustus innerhalb von systematischen Entfaltungen der Struktur von Makrokosmos und Mikrokosmos einen Platz zugewiesen bekommen, treten Fragen der hierarchischen Bewertung in den Hintergrund. Das gilt umso mehr, als Kosmos und Mensch mit all ihren partiellen Bausteinen Resultate des göttlichen Schöpfungsvermögens sind. Für die Nahsinne ergibt sich daraus ein Geltungszuwachs gegenüber dem Sehen und Hören. Auf der anderen Seite bewirken die den fünf Perzeptionsmodi inhärenten Eigenheiten eine Tendenz zur Aufrechterhaltung hierarchischer Vor- und Nachrangigkeit. Hier ist das Wissen über die einzelnen sensus von wesentlicher inhaltlicher und damit argumentativer Bedeutung. Im Einzelnen wird im Folgenden zu zeigen versucht, wie der CK mit dieser Doppelstruktur, sowohl in Bezug auf den übergeordneten Makro- bzw. Mikroskosmos als auch hinsichtlich der fünf sensus untereinander verfährt. Die Leidenschaft des Kommentators für die Darlegung des strukturellen Aufbaus des makro- sowie mikrokosmischen Gesamtsystems wird an einem umfangreichen Exkurs deutlich, der die Möglichkeiten der integumentalen Auslegung, man kann schon fast sagen, radikal ausnutzt. Ausgangspunkt ist das ›Auftreten‹ Jupiters in der De nuptiis-Erzählung. Zum besseren Verständnis folgt ein kurzer Blick auf die Ereignisse: Martianus senior singt das Eingangsliedchen gedankenverloren vor sich hin, worüber sein Sohn allerdings wenig beglückt ist, denn das anzügliche aber doch
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auch geheimnisvolle Liedchen gehört seiner Meinung nach nicht in den Mund seines ehrwürdig ergrauten Vaters. Er fordert ihn deshalb auf, dann wenigstens den tieferen Sinn und das Ziel der erotischen Verse zu erklären.28 Martianus senior kommt der Aufforderung gerne nach und beginnt sein Aufklärungswerk über den die gesamte Götterwelt strukturierenden und im Hochzeitshymnus besungenen nexus (auch complexus, foedus).29 Dem kosmischen Urprinzip des nexus wird durch das Bild der legitimen Götterehen ein würdiges Ansehen verliehen, in dem die Lust an der verbindenden sexuellen Vereinigung gesichert aufgehoben ist. Martianus führt als Beleg für die auf Liebe und Vertrauen (amor, fides) beruhende Omnipräsenz des Verbindungsprinzips neben Jupiter und Juno weitere Götterpaare an.30 Vor dem Hintergrund der zwiespältigen Lebenserfahrungen der Menschen kommt der engen und vollumfänglichen ehelichen Verbindung des höchsten Götterpaares eine metaphysische Bedeutung zu, denn die auf der Schreibtafel der Parzen (Parcarum pugillo asservante) festgeschriebenen Schicksale oder besser Schicksalsschläge (Jupiter) können durch Fürsprache (Juno) gemildert werden.31 Genau diese Tafel aber (pugillo (id est carta))32 greift der CK auf und deutet sie zum sinnlich wahrnehmbaren mundus um: pugillo (id est mundo sensili) iam asservante (id est ostendente).33 Dafür wird der providenziell waltende Jupiter integumental als christlicher Gott gelesen, übrigens nur eine der sechs möglichen Lesarten des antiken Gottes.34 Analog zum antiken Schöpfer zukünftiger menschlicher Schicksale, tritt hier der christliche Schöpfergott in den Vordergrund, denn über eine geschickte philologische Argumentation kann Gott zum ›Schreiber der Welt‹ und die Tafel der Parzen metaphorisch zum Blatt für den geschaffenen mundus werden, in welchen die Buchstaben zeichenhaft für die einzelnen Geschöpfe eingeschrieben sind.35 Aus einem Speichermedium, das die 28 29 30 31
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Mart. Cap. I,2. Mart. Cap. I,2,3. Mart. Cap. I,3,4. […], cum quid Iuppiter hominum votis trepida curarum ambage suspensis multa implacacabilis hostia denegaret, exorata eius matrona provenire, et quicquid ille exprompta sententia, Parcarum pugillo asservante, dictaverit, delenitum suadae coniugis amplexibus iussuque removere;[…]. Mart. Cap. I,3,4. Der CK bestimmt pugillo asservante wie folgt: […] pugillo (id est carta) asservante (id est affirmante illam sententiam). Pugillum vel pugillar est quo scribitur et pugno defertur, ut tabula, scriptorium. CK S. 105 Z. 339–341. CK S. 109, Z. 461f. Iovis nomen ad sex integumenta equivocatum invenimus: ad summum deum, ad superius elementum, ad planetam, ad animam mundi, ad animam hominis, ad ipsum mundum. CK S. 98, Z. 136–139. Ideo se pugillatorem dixit esse quod manu defertur, et ideo scribitur quod teneat mundum pugno. Audi prophetam: »Quis,« inquid, »mensus est pugillo aquas et celos palma ponderavit? Quis appendit tribus digitis molem terre et librat in pondere montes et colles in statera?«
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prozesshaften Abläufe zukünftiger Ereignisse determiniert, macht der CK eines, das die statische Ordnung des mundus als Endprodukt der Schöpfung darstellt. Der Schicksalsdeterminismus der Parzentafel ist ein völlig anderer als jener, der in der ereignislosen Statik der natürlichen Weltordnung abgebildet ist. Mit dieser Transformation aber hat sich der Kommentator den Raum für eine großangelegte Darstellung der constitutio mundi geschaffen. Diese Umdeutung ist unbestreitbar eine Innovation in der Kommentierungstradition. Die GAEC führen unter dem Lemma »pugillo« nur sehr knappe Deutungen als Bild der verschriftlichten determinatio an,36 während Eriugena und Remigius das Lemma erstaunlicherweise gar nicht aufnehmen und erklären. Der CK setzt dagegen zu einem Exkurs an, der inhaltlich und teilweise wörtlich mit Passagen des dritten Buches der Ysagoge in Theologiam, die vermutlich zwischen 1148 und 1152 verfasst wurde und anonym überliefert ist,37 übereinstimmt.38 Grundlage für die Darlegung der constitutio mundi ist ein, gelinde gesagt, ausufernder Strukturbaum. Um die Übersicht zu behalten, offerieren die Ysagoge und der CK eine anschauliche Zeichnung, die aber nicht alle Stufen erfasst! Die unterste Ebene, auf der die sensus liegen, wird nur im Text selbst thematisiert. Ihr Nichterscheinen im leicht erfassbaren Schema macht sie zwar ›gesichtslos‹ und unterminiert dadurch ihre Bedeutung, der Text aber bestimmt sie gleich mehrfach als basale Träger und Mitkonstituenten des gewaltigen Stufensystems. An drei Stellen geht der CK bis auf die Grundlinie der nahsinnlichen [Jes. 40,12] Quod vero in mundo scribatur divinitas, sic accipe: mundus hic sensilis liber quidam est habens in se divinitatem scriptam. Singule vero creature littere sunt et note alicuius quod in divinitate est., CK S. 109, Z. 462–469, Gott kann pugillator genannt werden, weil, wie ich die Stelle verstehe, die Tätigkeit des Briefträgers oder Briefschreibers mit der Hand (in der auch die ›Faust‹ semantisch nahverwandt mitschwingt) vollrichtet wird, wie auch die Schaffung und souveräne Handhabung der Welt ›Handarbeit‹ war. 36 Die anonymen Glossen der ältesten karolingischen Kommentartradition sind im Beitrag mit GAEC (= Glossae Aevi Carolini) abgekürzt, nach dem Titel der Ausgabe von Sinéad O’Sullivan: Glossae aevi Carilini in libros I–II Martiani Capellae de nuptiis Philologiae et Mercurii, Turnholt 2010; »pvgillo i. scriptu vel determintione j digito j digito vel scripto j scriptura« GAEC S. 24 Z. 143f. Welche Handschriften welche Variante überliefern vgl. ebd. 37 Wie der CK ist auch die Ysagoge in theologiam in: ðcrits thHologiques de l’8cole d’Ab8lard, hg. u. eingeleitet v. Arthur Landgraf, Löwen 1934 nur in einer Handschrift überliefert und wird heute ebenfalls in Cambridge aufbewahrt. Landgraf datiert sie auf 1148–1152, vgl. die Einführung zur Ysagoge S. LIIIf. 38 Die Frage, wer die Quelle für wen war, ist angesichts der angenommenen Entstehungsdaten nicht eindeutig zu klären (CK 1130–1150, Ysagoge 1148–1152). Auch wenn die Daten zunächst nahe legen, dass der CK die Quelle für die Ysagoge gewesen sei, fällt dies doch schwer zu glauben, da die entsprechenden Ausführungen in der Ysagoge inhaltlich und strukturell wesentlich kohärenter entwickelt sind. Vielleicht standen dem Verfasser des CKvergleichbare Texte früheren Datums als die erhaltene Ysagoge-Handschrift aus dem Umfeld der Schule Abaelards zur Verfügung, die heute nur leider nicht mehr greifbar sind.
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Wahrnehmungsmodi zurück, mit einer unverhofften Wendung zum Mikrokosmos. Den großen mundus, vormals die Parzentafel, will der CK nun systematisch in seinem strukturellen Aufbau darlegen. Demnach konstituiert er sich aus drei großen Teilbereichen, der Ausdehnung (inmensitas), Schönheit (pulcritudo) und Nützlichkeit (utilitas). Obwohl es ausdrücklich um den Aufbau der Welt und des Kosmos geht, steht nur die folgende nahsinnliche Bezugnahme tatsächlich mit dem Makrokosmos in Verbindung: Pulcritudinem parciuntur situs, motus, species, qualitas; situm compositio et dispositio; compositionem aptitudo et firmitas. Porro in qualitatem et quanitatem scissa est aptitudo. Qualitatis aptitudinem habet hic mundus. Non enim sociat contigua calidissima frigidissimis, humidissima siccissimis, levissima gravissimis. Aptitudinem quoque quantitates habet quia in eo non coherent magis exilia corpulentissimis.39 (»Die Schönheit gliedert sich in Lage, Bewegung, äußere Gestalt und Qualität; die Lage wiederum gliedert sich in Zusammensetzung und Einrichtung; die Zusammensetzung in passende Zurichtung (aptitudo) und Festigkeit. Schließlich wird die passende Zurichtung in Qualität und Quantität unterteilt. Die Welt ist der Qualität nach passend zugerichtet, denn extrem heiße Dinge verbinden sich nicht unmittelbar mit extrem kalten, extrem feuchte nicht mit extrem trockenen, ganz leichte nicht mit ganz schweren. Auch hinsichtlich der Quantität ist sie (die Welt) wohl eingerichtet, weil in ihr die sehr feinen/dünnen Dinge nicht mit den dichten zusammenkommen.«)
Hier schimmert m. E. die platonische visus – tactus Dichotomie durch, nicht im Sinne einer Ursachenforschung, sondern im Sinne einiges taktil erfassbaren Grundgesetzes der constitutio mundi. Zur visuell erkennbaren Schönheit der Welt am oberen Ende gehört, neben vielen anderen Teilen, auch die explizit taktil erfassbare Ebenmäßigkeit der qualitativen Grundausstattung, in der eine ›schöne‹ graduelle Kontinuität zwischen den verschiedenen Zuständen herrscht, ganz ohne abrupte Sprünge. Auch wenn man einen hierarchischen Strukturbaum vor sich sieht, kommt kaum der Eindruck einer bewertenden Stufung auf. Der Grund dafür ist sicher, dass die Vollkommenheit der göttlichen Schöpfung sich bis in das kleinste Detail der Natur hinein auswirkt und der Tastsinn als Mittel dieses Beweises von einer Degradierung nicht betroffen ist. Nun ist es vielleicht nicht weiter verwunderlich, wenn der CK im Folgenden eine unerwartete Wendung innerhalb der constitutio mundi hin zur consitutio hominis macht, denn letztendlich ist die Perzeption genuiner Wissensgegen39 CK S. 109f., Z. 482–488; Die Passage stimmt fast wörtlich mit der entsprechenden in der Ysagoge überein: Pulcritudo vero mundi divisa est in situm, motum, speciem. Situs in compositionem et dispositionem. Compositio vero in aptitudinem et firmitatem. Aptitudo huius machine in eo deprehenditur, quod contigua non faciat gravissima levissimis. Sed neque siccissima humidissimis, nec frigidissima calidisssimis, nec rarissima corpulentissimis. Ysagoge S. 236.
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stand in Bezug auf den Menschen und andere animalia. Warum allerdings der Sprung in den Mikrokosmos an dieser Stelle unternommen wird, erklärt der Autor irritierenderweise nicht und er gibt auch keine Hinweise auf die Beziehung zwischen mundus und Mensch im pugillar-scilicet-mundus-Kontext. So befindet sich, wie im obigen Zitat gesehen, unter den der Lage (situs) – Unterkategorie der Schönheit – zugeordneten Kategorien auch die der Einrichtung (dispositio). Die Einrichtung der Welt wiederum lässt sich örtlich (loco), zeitlich (tempore) und nach der Eigenart (proprietas) erfassen.40 Während Raum und Zeit tatsächlich in Bezug auf die Einrichtung der Welt erläutert werden (der Himmel ist oben, die Erde unten etc.; Tag und Nacht etc.),41 springt der Kommentator bei den Spezifika (dispositio proprietatum) unvermittelt in den Mikrokosmos des Menschen: Proprietatum vero dispositio circa hominem talis est. Facies instrumenta sensuum pro quantitate potentie mirabiliter distincta: eminentior est visus, quasi speculator, ut ante pericula videat que aliis superventura sunt; gustus vero imo locatus utpote nil sentiens nisi id quod tangit. Inter hos vero sunt reliqui pro captus sui modo dispositi. Nam tactus speciali sede caret utpote universalis et qui cunctis cooperatur. Unde pollex eum significans omnibus coadunatis in unum digitum solus respondet. Hec de situ.42 (»Die Einrichtung der menschlichen Eigenheiten ist so beschaffen. Das Gesicht wird durch die Sinnesinstrumente nach der Größe des Vermögens auf wunderbare Weise untergliedert: das Sehen ragt, gleichsam als Späher mehr hervor, damit es Gefahren voraussieht, die den anderen zustoßen könnten; der Geschmackssinn aber liegt in der Tiefe (des Körpers), weil er nichts fühlt, außer das, was er berührt. Zwischen diesen beiden sind die Übrigen entsprechend ihres Vermögens angeordnet. Allerdings entbehrt der Tastsinn eines spezifischen Sitzes, da er ein Universalsinn ist und mit den anderen zusammenarbeitet. Daher bezeichnet ihn der Daumen, der als einziger in einem Finger allen anderen versammelten gegenüberliegt. Soweit von der Lage.«)
Mit diesem überraschenden Sprung in den Mikrokosmos ist man bereits mitten in dem komplexen Geflecht aus von eher außen herangetragener, paritätischer Sicht auf die sensus und die aus dem Wissen über sie gespeiste Hierarchisierung untereinander. Das Ordnungskriterium, nach dem auch eine Wertung erfolgt, ist das der Entfernung zum Wahrnehmungsobjekt. Das Sehen überragt dabei die anderen, sowohl nach Lage der Augen im Gesicht, als auch in ihrem Vermögen und damit in ihrem generellen Wert. Während nun in der Folge die direkte oder indirekte Benennung der physiologischen Lage von Hör-, Geruch-, Geschmackund Tastorgan beibehalten wird, verblasst der Ton der Wertung vollständig. Man kann hier gut von einer Marginalisierung hierarchisierender Werturteile spre40 Dispositio autem triplex: in loco, in tempore, in proprietate. CK S. 111, Z. 502. 41 CK S. 111, Z. 503–525. 42 CK S. 111, Z. 526–533.
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chen, wie an anderer Stelle im mundus-Kontext noch deutlicher wird. Zur Erläuterung der Rubrik ›Eigenschaft‹ (qualitas), jetzt eine der vier unmittelbaren Unterkategorien43 zur Schönheit (pulcritudo), äußert der CK: Qualitates tam diverse date sunt rebus ut omnis sensus obletamenta inveniat. Visum enim pascit colorum pulcritudo, auditum concentus cantilene, olfactum odoris fragrantia, gustum saporis dulcedo, tactum corporis aptitudo. Hec de qualitate.44 (»Den Dingen sind so verschiedene Qualitäten mitgegeben, damit jede Sinneswahrnehmung Annehmlichkeiten finden kann. Das Sehen erfreut sich an der Farbenpracht, das Hören am Zusammenklang der Gesänge, das Riechen an den Düften, der Geschmackssinn an der Süße, der Tastsinn an der körperlichen Berührung. Soviel von der Eigenschaft.«) Die Qualitäten konstituieren die Schönheit der Welt dadurch, dass sie Annehmlichkeiten bereiten. Vielleicht ist daher der Blick auf die qualitative Schönheit der von Gott geschaffenen Welt mittels der menschlichen Sinnlichkeit doch auch wieder weniger überraschend als es zunächst scheint, denn die Schönheit der Qualitäten, d. h. die Annehmlichkeiten, die sie bereiten, können nicht unabhängig von der Sinneswahrnehmung benannt werden. Daraus erklärt sich auch die völlige inhaltliche Abwesenheit von Auf- oder Abwertungen einzelner Perzeptionsmodi. Die Nahsinne stehen inhaltlich gleichberechtigt neben dem Sehen und Hören, da sie einen Eigenwert in Bezug auf die sinnliche Erschließung des geschaffenen mundus besitzen. Dem Riechen, Schmecken und Tasten sind Qualitäten zugänglich, die weder von den Augen noch Ohren erfasst werden können. Ein Rest des hierarchischen Denkens ist allein in der sensusAbfolge rhetorisch konserviert. Im makrokosmischen Zusammenhang kommt die nahsinnliche Perzeption demnach aus zwei Gründen zur Geltung. Erstens ist der Tastsinn eine Größe für sich, da die taktilen Parameter mit den (graduellen) Basisqualitäten des mundus identisch sind. Der tactus eröffnet einen wesentlichen Zugang zur elementaren Konstitution des Makrokosmos. Dieser Bezug korrespondiert mit seinem epistemologischen Erkenntniswert. Zweitens ist die Wahrnehmung an sich die direkte Vermittlungsstelle zwischen Makrokosmos und Mikrokosmos, wie das mundus-Schema mit dem zweimaligen mehr oder weniger nachvollziehbaren Sprung in den menschlichen Mikrokosmos zeigt. Die Nahsinne im Speziellen gewinnen an Prestige und Geltung da sie dem Verfahren nach von der fortschreitenden divisio profitieren, aber vor allem inhaltlich, da sie als nahezu
43 Die anderen sind Lage (situs), Bewegung (motus) und äußere Gestalt (species); vgl. S. 143 mit Anm. 39. 44 CK S. 113 Z. 592–596; Ysagoge, S. 238: Pulchritudo namque colorum ad hoc data est, ut visum pasceret; concentus sonorum ut auditum; fragrancia odoris, ut olfactum; dulcedo saporis, ut gustum; aptitudo corporis, ut tactum.
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gleichberechtigte Teile neben dem Sehen und Hören Erschließungsmittel für den Menschen in Bezug auf den Makrokosmos sind. Dabei korrespondiert die Ausführung des CK zu den den einzelnen Naturdingen mitgegebenen Qualitäten unmittelbar mit der Auslegung eines Details in der Psyche-Episode in De nuptiis. Dazu kurz zurück zur Dichtung des Martianus. Nachdem Martianus senior seinem Sohn den moralischen Wert und die metaphysische Bedeutung legitimer Eheverbindungen unter den Göttern erläutert hat, fährt er fort, seinem Sohn die Brautwerbunggeschichte Merkurs detailreich zu erzählen. Martianus junior erfährt nun, dass Merkurs Wunsch, eine Braut zu gewinnen, zum Leidwesen des Gottes mit einer Reihe von Fehlversuchen beginnt. Weder Sophia noch Mantice oder Psyche kann er für sich gewinnen. Psyche, Tochter der Entelechia (Weltseele) und des Sol (Sonne), stellt unter den drei Wunschkandidatinnen eine Besonderheit dar, da sie ausgerechnet an ihrem Geburtstag in den Blick Merkurs und des Erzählers gerät. Acht Götter gratulieren ihr zum Festtag, darunter auch Merkur selbst, und übergeben dem Geburtstagskind nach und nach ihre Geschenke.45 Auf die Spiegelung der sinnlichen res naturae in der Einrichtung des menschlichen Sinnesapparatur kommt der CK bei der integumentalen Auslegung von Jupiters Geburtstagsgeschenk für Psyche zu sprechen: Der antike Gott überreicht ihr das Diadem der aeternitas, die veräußerlichte Manifestation der inneren Seelenqualität. Geschenk und Beschenkte, d. h. die literarische Parallelisierung von Äußerem und Innerem, bieten sich für einen Exkurs zur strukturellen Analogie von Seele und Körper an. Die nun folgende umfängliche anima-Lehre, vermutlich ebenfalls angeregt durch die Ysagoge in Theologiam,46 zeigt einmal mehr, wie weit sich der Kommentar partiell zu einem autonomen naturphilosophischen Text verselbstständigt und die Maßstäbe der Vorgängerkommentare außer Kraft setzt.47 Worum geht es? Die unkörperliche Seele ist auf eine gewisse Weise der Form des materiellen Körpers nachgebildet.48 Wie der 45 Mart. Cap. I,7. 46 Quid autem uniforme corpus superius indicat, nisi uniformem rationem, que est vis superior? Inferior autem que est sensus divisiva est, quod monstrat biforme inferius. Extensio autem brachiorum in latum, nota est intentionis operationem animi extendentis; fixura vero tibiarum deorsum affectus desiderii animam figentis. Eadem artificis prudentia significavit duplicis extensionis animi consummationem per gemine protensionis corporee finem. Nam intentio que superior est, et desiderium quod inferius, per quinque sensus foras exeunt, sicut superior protensio lati per quinque digitos manuum, inferior vero alti per quinque pedum articulos finitur. Ysagoge, S. 68. (Der Stellenbezug ist in Westras Edition des Commentum in Martianum nicht vermerkt). 47 Die Vorgängerkommentare konzentrieren sich auf wenige Erklärungen, bieten aber keine geschlossenen Exkurse zur analogen Konstitution von Seelenvermögen und Körperbau des Menschen. Vgl. dazu Eriugena, Annotationes, S. 10f. und Remigius, Commentum, S. 76f. 48 Sciendum est animam, etsi incorporea sit, ad similitudinem tamen corporis quodam modo effigiatam. Auch die folgenden Ausführungen CK S. 148f., Z. 573–596. Die Anpassung der
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Körper, beginnend bei der Einheit des Kopfes über die Zweigliedrigkeit der Arme und Beine bis hin zur Fünfgliedrigkeit der Finger und Zehen, sich immer weiter ausdifferenziert, sind in den potentiae der Seele ähnliche Ausdifferenzierungen vorhanden. Der Einfachheit des Kopfes entspricht die ratio, dem Zwischenbereich der zweigliedrigen Arme und Beine entspricht die kognitive Verarbeitung des gerade empfangenen Sinneseindrucks (retractatio), während der unterste und am stärksten ausdifferenzierte Bereich in Analogie zu den Fingern und Zehen jener der fünf Perzeptionsmodi ist.49 Wie jeder Finger und Zeh ein nicht zu vernachlässigendes Teil des vollständigen Körper ist, ist jede der fünf Wahrnehmungen wesentlicher Teil der Seele: Unusquisque enim sensus alicui imaginationi previus est. Est enim retractatio visionis; est et auditionis; est et olfactuum; est et gustatuum, et est tactuum. Prima retractamus qualem colorem vel formam vidimus; secunda qualem sonum audivimus; tercia qualem fragrantiam olfecimus; quarta quales sapores gustavimus; quinta qua frigidum vel calidum, lene vel asperum, molle vel durum, leve vel ponderosum tetigimus.50 (»Denn jede einzelne Sinnesempfindung geht einer Vorstellung voraus. Es gibt nämlich die kognitive Verarbeitung des gerade empfangenen Sinneseindrucks des Sehsinns, Hörsinns, Geruchssinns, Geschmackssinns und des Tastsinns. Zuerst verarbeiten wir nämlich, welche Farbe und Form wir gesehen haben, danach, welchen Ton wir gehört, drittens, welchen Duft wir gerochen, viertens, welche Geschmacksnuance wir geschmeckt, und fünftens, inwiefern wir Kaltes oder Warmes, Glattes oder Rauhes, Weiches oder Hartes, Leichtes oder Schweres ertastet haben.«)
Wenn man sich an die korrespondierende Stelle innerhalb des mundus-Schemas erinnert (Zitat S. 145, Anm. 44), so ist es erneut die Singularität des jeweils sinnlich erfassbaren Bereichs, die den Nahsinnen im Kontext des perzeptiven Gesamtsystems diskursiven Aufwind und einen Geltungszuwachs bringt. Die olfaktorischen Sinnesempfindungen heben sich also nicht in der visuellen oder akustischen Wahrnehmung auf. Ebenso verhält es sich mit den Geschmacksund Tastempfindungen. Aus dieser Individuation ergibt sich eine egalitäre Relevanz der Einzelsinne, die bis in die Rhetorik vordringt (Reihung est et). Die anima an die körperlichen Gegebenheiten nennt auch Thierry von Chartres (bis ca. 1150) in seinem Commentum super Boethii librum De Trinitate, hg. v. Nikolaus M. Häring, in: Commentaries on Boethius by Thierry of Chartres and his School, Toronto 1971, S. 55–116, hier S. 68f.: Anima huius nature est ut suis semper se ipsam conformet instrumentis. Quod sensus etiam corporeus apertissime declarat. Si quis enim vitreo rubeo vel coloris alterius vitro imposito litteras inspiciat, rubeas quoque vel cuius coloris vitrum extiterit videbitur sibi videre litteras. Adeo vis intima sensus corporei obstanti vitro se ipsam conformat. etc. 49 Die fünf Finger und Zehen auf rechten Seite stehen moraltheologisch für die ›gesunde‹ oder ›gute‹ sensualitas, die linke für die fehlgeleitete. Inferius autem anime, quo affigitur terre, est sensualitas qua inheret felicitati caduce. Hec biformis est, habens quasi dexteram partem sanam sensualitatem, sinistram vero erraticam. CK S. 148, Z. 583–586. 50 CK S. 149 Z. 596–603.
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Dialektik von horizontaler und vertikaler Werteordnung der Perzeptionsmodi bleibt aber auch hier bestehen, denn auf der ›Rückseite‹ der sozusagen zeitgleich auf alle fünf Perzeptionsmodi einstürmenden unmittelbaren Sinneseindrücke, wird die psychologische Differenzierung der kognitiven Verarbeitungsgeschwindigkeiten zum Gradmesser für die Vertikalordnung. Damit ist aber m. E. keine wirkliche Abwertung der Nahsinne verbunden, vielmehr wirkt die Reihenfolge – visus, auditus, olfactus, gustus, tactus – wie das Ergebnis einer rationalen Beobachtung. Erwähnenswert ist zudem, dass wieder dem Tastsinn eine gewisse exklusive Stellung zugestanden wird, denn er ist der einzige sensus, dessen Qualitätsparameter explizit genannt werden. An diesen Qualitäten fällt allerdings auf, dass neben der Temperatur- und Gewichtsempfindung die haptischen Qualitäten von Oberflächen genannt sind. Vielleicht könnte diese Ausrichtung für die Lesung von tactum corporis aptitudo (Zitat S. 145, Anm. 44) insofern wichtig sein, als dort auch haptitudo (von grie. ûpteim) gelesen werden könnte, im Sinne von ›Körperoberfläche‹. Wenn das auch eher eine assoziative Sprachgeschichtsspekulation bleiben muss, inhaltlich würde es nicht weniger passen als ›Angemessenheit/richtige Einrichtung/Brauchbarkeit eines Körpers‹. Versteht man die beiden Passagen (Qualitates tam diverse date sunt rebus etc. und Unusquisque enim sensus alicui imagination etc.) als Außen- und Innenseite der sinnlichen Wahrnehmung, d. h. die Bedeutung der sensus in Bezug auf den Makrokosmos einerseits und den Mikrokosmos andererseits, dann liegt die Vermutung nahe, dass der CK die Sinneswahrnehmung ganz besonders unter dem Aspekt der Vermittlung zwischen beiden Bereichen sieht. Auf diese Schwerpunktsetzung deutet auch die Auslegung einer anderen Stelle der PsychePassage hin. Ausgangspunkt ist die Auflösung des Genealogieintegumentums Psyches: Sie ist die Tochter der Entelechia – theologisch aufgelöst: der Weisheit Gottes (sapientia Dei) – und des Sol (der Sonne) und ererbt damit zwei Seelenpotenzen: von der Entelechia die mens (Geist), von Sol die sensualitas (sinnliche Wahrnehmungsfähigkeit).51 Wenn die Sonne die Ursache der sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen ist, stellt sich die Frage, wie genau sie das sein kann. Der Kommentator greift zu einer recht kreativen Erklärung. Zunächst hält er schlicht fest, dass es ohne die Wirkung der Sterne keine sensualitas geben kann (Sensualitatem autem non habet [die Seele (des Menschen), CS] sine stellarum effectu.)52. Warum? Die sinnliche Wahrnehmung hat zwei Wirkungsseiten, eine im Körper, weil sie dort allein mit den körperlichen Werkzeugen, d. h. Organen (instrumenta), ausgeübt wird, und eine um den Körper herum, da sie allein so, d. h. medial vermittelt, die körperlichen Dinge erfassen kann; weil 51 CK S. 143–144, Z. 407–456. 52 CK S. 144, Z. 440–441.
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die Sterne aufgrund ihrer Wirkung die körperlichen Dinge erschaffen (creare) und erhalten (alere), verleihen sie den Sinnen erst dadurch, dass sie ihnen funktionierende Wahrnehmungsorgane (instrumenta) und ein materielles Übertragungsmedium geben, die Existenz.53 Abgesehen von der Fragwürdigkeit der ersten Behauptung (Sterne als konkret physikalische creatores der Wahrnehmungsorgane),54 bleibt die weitaus nachvollziehbarere Frage des Mediums. In diesem Sinn konkretisiert der CK seine Annahme für den Stern ›Sonne‹: Sol enim effectu suo confert sensualitatem. Splendor enim eius visum operatur, […]; calor vero tactum, olfactum, auditum. Unde si aliquod membrorum corporis calore destituatur, et tactu privatur. Olfactum quoque calor facit dum aerem imminuendo spirabilem reddit. Similiter et auditum efficit dum aerem rarefaciendo eum ad formam suscipiendam habilem reddit.55 (»Die Sonne nämlich verleiht durch ihre Wirkung die Fähigkeit zur sinnlichen Wahrnehmung. Denn ihr glänzendes Licht setzt das Sehen in Gang, […]; die Wärme aber den Tast-, Geruchs- und Hörsinn. Weicht die Wärme aus einem Körperteil, geht auch der Tastsinn verloren. Die Wärme ermöglicht zudem das Riechen, indem sie die Luft ausdünnt und so atembar macht. Auf ähnliche Weise bewirkt sie auch das Hören, da sie die Luft auflockert und dadurch ein aufnahmefähiges Übertragungsmedium erzeugt.«)
An der Passage überrascht die gedankliche Experimentierfreude, mit der teilweise die Perzeptionsmodi einen Platz in diesem Schöpfungsmodell finden sollen. Licht und Wärme der Sonne sind ohne große Schwierigkeiten als mediale Voraussetzungen für das Sehen und Tasten56 erkennbar. Bei der Integration von Geruchssinn und Hörsinn sind kreative Lösungen gefragt, denn soll die integumentale Auslegung den Leser überzeugen, muss mindestens eine der beiden Sonneneigenschaften auch für die olfaktorische und auditive Wahrnehmung 53 Sensus enim in corpore est et circa corpus: in corpore quia solis corporis instrumentis exercetur; circa corpus vero quia sola corporea capit; et quia stelle effectu suo et corporea creant et creata alunt dando sensibus instrumenta quibus exerceantur, et corpoream materiam, in qua agunt, conferunt eis esse. CK S. 144, Z. 440–446. Diese wenig christliche materielle Schöpfungstheorie rechtfertigt der CK mit dem Verweis auf die platonische Schöpfungserzählung im Timaeus latinus 41a–d: In Thimeo Platonis legitur quia fecerat Deus animam et rogabat filios ut partem, que deerat, supplerent. […] Et hoc est quod astruit Plato filios partem anime creasse. CK S. 143, Z. 431–432, S. 144, Z. 446–447. Martianus soll Platon so verstanden haben und daher Sol zum Vater der Psyche gemacht haben können: Idem hoc loco sentit iste philosophus [sc. Martianus, CS]. Idem est enim Deum creasse animam et Endelichiam genuisse Sichen. Idem est quod filii partem addiderunt anime et quod Sol genitor est Siches. CK S. 144 Z. 447–449. 54 Der CK verfolgt diese hochspekulative Behauptung leider nicht weiter. Offensichtlich ist diese Auffassung auch unter starken Platonikern der Zeit untypisch, zumindest ist es mir bis jetzt nicht gelungen, vergleichbare Aussagen zu finden. 55 CK S. 144 Z. 449–456. 56 Eventuell kann der eng mit dem Tastsinn verbundene Geschmackssinn mitgedacht werden, ausdrücklich integriert wird er aber erstaunlicherweise nicht.
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relevant sein. Die Wärme wird daher zur Schlüsseleigenschaft. Für den hier interessierenden olfactus sorgt sie demnach dafür, dass die Luft durch Auflockerung vom Menschen eingeatmet werden kann und so die Voraussetzung für jede Geruchswahrnehmung schafft. Das ist eine extrem verkürzte Darstellung und es bietet sich an, auf eine frühere Stelle im Kommentar zurückzugreifen, an der der Zusammenhang zwischen Luft, Wärmewirkung und Geruchswahrnehmung etwas deutlicher wird. Im Fokus stehen dabei die Bedingungen, unter denen die Luft zum Einatmen tatsächlich lebenserhaltend und nicht etwa schädlich für Lebewesen ist.57 Die Wärme ist in dieser Hinsicht von großem Einfluss, denn ohne sie verdichten Erd- und Wasserteilchen die Luft (Nebel und Kälte) derart, dass sie nicht ohne Gefahr für Leib und Leben eingeatmet werden kann. Erst wenn die Wärme die Luftdichte auflockert und für das bekömmliche Atmen ›zubereitet‹, kann eine olfaktorische Affizierung ausgelöst werden, da die Luft notwendiges Trägermedium von Gerüchen ist. Alle Beispiele zeigen, dass die Nahsinne innerhalb einer naturphilosophischen Schöpfungserklärung, sei es im Bereich des Makrokosmos oder des Mikrokosmos, als ›Geschöpfe‹ in ihrer Wertigkeit dem Sehen und Hören kaum nachstehen. Vielmehr sind sie ein gleichberechtigter Teil der Argumentation, die die Schönheit der Welt und die kommunikative Relevanz für den in der Welt stehenden Menschen plausibel, aber auch in ihrer Komplexität und Größe dem Leser vermitteln möchte. Dass der Kommentar damit über weite Strecken die Dichtung des Martianus fasst vollständig ausblendet und als ein solcher teilweise nur noch schwer wahrgenommen werden kann, ist eine andere Frage.
III.
Theologie, Moral und nahsinnliche Vergnügungen
Sinnliche Wahrnehmung und moraltheologische Bedenken scheinen unter negativem Vorzeichen ähnlich fest aneinanderzuhängen, wie Schöpfungstheologie und Wahrnehmung unter positivem. Die Psyche-Passage von De nuptiis bietet auch für die Entfaltung der gespannten Beziehung zwischen christlicher Moraltheologie und der sensualitas des Menschen eine passende Auslegungsbasis. Aphrodite, die letzte Gratulantin, vermacht dem Geburtstagskind alle anziehenden Seiten der fünfgliedrigen potentia sensualitatis. Aus gegebenem Anlass bleiben die abstoßenden Seiten der sinnlichen Empfindung (Gestank, Geschrei u. ä.) außen vor, wenn Aphrodite das sinnlich wohltuende Rundumpaket 57 Corruptionem aeris duobus modis operatur ignis. Aliquando minimum calorem deorsum mittit; qui, cum ad rarefaciendum aerem non sufficit, ex nebula et frigore duorum corpulentorum †terreis et aquam† ultra modum densatur ipse aer. Cumque animalia illud tam spissum in se admittunt, nequeunt vivere, et sic fit una corruptio aeris et una mortalitas. CK S. 103, Z. 290–295; Zur Luftverschmutzung durch zu viel Wärme vgl. CK S. 103 Z. 295–304.
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– circa sensus cunctos (»alle Sinne betreffend«) – schnürt:58 Wohlriechende Salböle und Blumen umgeben und beleben Psyche durch ihre Düfte; Aphrodite bestreicht sie mit Honig, legt ihr schön anzusehenden Schmuck an, hüllt sie in süße Klänge ein und verleiht ihr taktil-erotisches Verlangen. Mit dem Eintritt der Dichtung in die christliche Kommentierungstradition lassen sich zwar noch nicht in den GEAC, aber bereits bei Eriugena und dem wesentlich einflussreicheren Remigius bald mehr (Eriugena) oder weniger (Remigius) starke theologische Lesungen ausmachen. Beide kommentieren die Aphroditepassage ganz unter dem Vorzeichen des peccatum originale. Korrumpiert durch die Erbsünde, bedeuten die verlockenden Gaben der Venus die Verkehrung der sinnlichen Schönheiten. In diesem Sinne, argumentiert Eriugena, wühlen Blumenschönheit, Salbendüfte und Glockenmusik die Seele auf und reizen sie zur sexuellen Begierde (libido), zu Geiz/Gier (avaritia) und anderen Verlockungen (illicia).59 Remigius setzt die Erbsünde ebenfalls an den Anfang seines kurzen Kommentars,60 geht darüber hinaus aber explizit darauf ein, dass Martianus jeden einzelnen der fünf Perzeptionsmodi bedacht haben wollte: Disincte vero commemorat singulorum quinque sensuum voluptates per quas mortifera delectatio penetral animae irrumpit et eius castitatem incestat.61 (»Ausdrücklich erinnert er [sc. Martianus, CS] aber an die Annehmlichkeiten jeder einzelnen der fünf Sinnesempfindungen, durch welche das totbringende Vergnügen in das Innerste der Seele einfällt und dessen Keuschheit befleckt.«) Anders als es die Erbsündenproblematik nun eigentlich erwarten lassen würde, hält Remigius seine darauf folgenden Kommentare zu den einzelnen sensus frei von moraltheoretischen Verurteilungen. Für den olfactus liefert er helfende Worterklärungen, differenziert inhaltlich zwischen halatus/halitus und präzisiert die Stellensemantik von pasci.62 Das bei Martianus lediglich angedeutete 58 omnes vero illecebras circa sensus cunctos apposuit Aphrodite; nam et unguentis oblitam floribusque redimitam halatu pasci foverique docuerat et melle permulserat et auro et monilibus inhiare membraque vinciri honorationis celsae affectatione persuaserat. tunc crepitacula tinnitusque, quis infanti somnum duceret, adhibebat quiescenti. praeterea ne ullum tempus sine illecebra oblectamentisque decurreret, pruritui subscalpentem circa ima corporis apposuerat voluptatem. Mart. Cap. I,7. 59 Omne vero quod merito originalis peccati ex corruptibili et mortali creatura naturalibus animae virtutibus et miscetur et inseritur per illecebrosa Veneris donaria significat. Hinc est generalis et specialis libido, hinc avaricia, hinc insatiabilis connubendi pruritus ceteraque illicia quae dinumerare longum est, florum pulchritudine praetiosorumque unguentorum alatibus nec non supervacuis tinnitibus, infructuosa quoque quietis corporibus veluti quadam somnolentia non inconvienter significate. Eriugena, Annotationes, S. 13. 60 Per illecebrosa Veneris donaria significantur omnia vitia quae merito originalis peccati reationali animae ingeruntur. Remigius, Commentum, S. 79. 61 Remigius, Commentum, S. 79. 62 Nam et unguentis oblitam usque foveri docuit Oblitam id est delibutam et perunctam, halatu id est suavitate et respiratione. Distat autem inter halitum et halatum hoc, quod
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angenehme Geschmackserlebnis (süßer Honig) konkretisiert Remigius,63 während er das erotische Begehren, die Chiffre für den tactus, nicht weiter problematisiert.64 Man kann bei Remigius von einer Rationalisierung und deutlichen Trennung zwischen theologischer und sachbezogener Perspektive auf die einzelnen Sinneswahrnehmungen sprechen. Der CK nun bietet eine weitere Deutungsvariante an. Wie schon Remigius erinnert auch er zuvor an die durch Martianus vorgegebene Notwendigkeit der Einzelbetrachtung: Ideoque non sufficit philosopho dicere: composuit Afrodite illecebras, set dicit omnes illecebras, et non modo circa sensus, set circa cunctos sensus.65 (»Deshalb genügt es dem Philosophen [sc. Martianus, CS] nicht zu sagen: Aphrodite hat Verlockungen zusammengestellt, sondern er sagt alle Verlockungen, und nicht nur hinsichtlich der Sinneswahrnehmungen, sondern aller Sinneswahrnehmungen.«66) Dieses Vollständigkeitsdiktum erfüllt der CK allerdings erneut komplexer als seine Vorgänger. Durch die streng eingehaltene divisio sensuum werden die Nahsinne ebenso in unterschiedlichen Zusammenhängen dargestellt wie der visus und auditus. Das peccatum originale gibt zwar auch im CK die Richtung vor,67 aber weder stehen die fünf Sinneswahrnehmungen vollkommen unter dessen Diktum (Eriugena), noch sind sie quasi von der Sündenthematik abgekoppelt (Remigius). Im ersten und umfangreichsten Schritt geht es dem Kommentator dagegen um eine kritische Auseinandersetzung mit der ambigen Beziehung Verlockung – sinnliche Wahrnehmung (illecebrae – sensus). Dafür wählt er einen anderen argumentativen Weg als seine Vorgänger, indem er die Dialektik der Beziehung zwischen den sinnlichen Annehmlichkeiten und der Lenkungsmacht, die sie ausüben, aufdeckt. Er beginnt mit einer reichen Apologetik der angenehmen Sinnesempfindungen, die nach der extensiven Entfaltung der Schönheit des mundus nur allzu verständlich schöpfungstheologisch, aber auch ganz konkret aus der Psyche-Erzählung selbst heraus gerechtfertigt werden kann. Denn die
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halitus est hominum vel ceterorum animalium, halatus vero cuiuscumque rei respiratio, id est odor sive fragrantia. Pasci id est oblectari. Non enim pasci semper ad cibum pertinent.« Remigius, Commentum, S. 79. Die in Kapitälchen gesetzten Passagen sind vom Herausgeber markierte wörtliche Übernahmen aus De nuptiis. Et melle permulserat hoc pertinet ad sensum gustandi. Permulserat id est oblectaverat. In melle omnium gustuum et dulcedinum varia suavitas exprimitur. Remigius, Commentum, S. 79. Praeterea apposuerat voluptatem circa ima corporis id est circa genitalia. Subscalpentem pruritui id est titillationi. Titillatio enim est motus obscenae voluptatis. Remigius, Commentum, S. 80. CK S. 159 Z. 935–937. Kursiva stammen von der Autorin. Omnes vero illecebras. Hactenus ostendit que data sint anime in prima creatione ad exornamentionem et decus; nunc enumerate sordes quas contrahit ex originali delicto ad contaminationem. CK S. 158 Z. 882–885.
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illecebrae sind zuerst Geschenke, Gaben, die die Empfängerin erfreuen und ehren sollen.68 Die De nuptiis-Erzählsituation, die der CK integumental ernst nimmt, steuert nicht weniger die Auslegungsrichtung als die sündentheologische Sicht, und verhindert dadurch eine einseitig negative Deutung. Für die Apologetik greift der CK – vielleicht mit bewusst gesetzter Intertextualität –, auf einen Auszug aus der Ysagoge in Theologiam, zurück, die ja bereits die Erklärung der Parzenschreibtafel, d. h. die Schönheit der Welt, sekundierte.69 Da das Vergnügen an den Naturdingen ausdrücklicher Wille des göttlichen Schöpfers ist, ist die Diversität der angenehmen Sinnesempfindungen allgemein gerechtfertigt und im Einzelnen auch aufzuzeigen. Jede Sinnesempfindung kann und darf die göttliche Schöpfung auf ihre jeweils spezielle Art und Weise genießen und sorgt so für eine Vervielfachung des erlebten Gottesvergnügens: Scire debemus non omnes sensuum voluptates illicitas. Voluit enim conditor ut omnis sensus oblectamentum suum inveniat, ideoque tam diversas qualitates rebus indidit. Pulcritudo colorum ad hoc data est rebus ut visum pasceret, concentus sonorum ut auditum, fragrantia odoris ut olfactum, dulcedo saporis ut gustum, aptitudo corporis ut tactum mulceret. Multiplices etiam voluit esse artifex singulorum sensuum delicias.70 (»Wir dürfen nicht alle Sinnesfreuden für unerlaubt halten, wollte doch der Weltschöpfer, dass jede Sinnesempfindung das ihr eigene Vergnügen findet, weshalb er eine solche Vielfalt an Eigenschaften in die Dinge hineinlegte. Die Schönheit der Farben ist den Dingen dazu mitgegeben, dass sie den Blick genussvoll erfreut, ebenso schmeichelt das melodiöse Zusammenspiel der Klänge dem Hören, der Wohlgeruch des Dufts dem Geruchssinn, der süße Geschmack dem Geschmackssinn, die Anschmiegsamkeit des Körpers dem Tastsinn. Überdies wollte der Schöpfer, dass es für jede der einzelnen Sinnesempfindungen vielfache Köstlichkeiten gibt.«)
Das von Gott intendierte abwechslungsreiche Sinnenvergnügen setzt bei der schon genannten Singularität jeder Wahrnehmung an und endet mit dem Hinweis auf die vielen verschiedenen res, an denen sich die die Sinne erfreuen können. Qualitäten wie Quantität lassen die Möglichkeiten eines sinnlichen Genusses an der Schöpfung geradezu explodieren. Wie bei der anschließenden Aufzählung der deliciae für Augen,71 Ohren,72 Nase, Gaumen und Hand nochmals deutlich wird, liegt der Bereich legitimen
68 Prius quidem ostendit eam muneratam a Iove, Iunone, Tritonia, Vulcano, unde innuit illa munera naturalia; post vero ponit dona Afrodites tamquam aliena. CK S. 158 Z. 885–887. 69 Vgl. oben S. 142. 70 CK S. 158 Z. 890–897. 71 Visum enim aliter lenit rosa rubea, aliter lilium candidum, aliter viola purpurea, aliter nigrum vaccinium, aliter saphiri splendor in celo, aliter auri rutilatio in sole, aliter electri pallor in luna. Quot diversi colores in herbis, tot in gemmis, in avibus pennatis. CK. S. 158 Z. 897–901, nach der Ysagoge, S. 238.
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Vergnügens fast ausschließlich in den von Gott erschaffenen res naturae.73 So ist die Erdoberfläche auch mit einem olfaktorischen Netz überzogen, wodurch Eigenschaften der Naturdinge jenseits der visuellen und auditiven Eindrücke in den Fokus geraten. Ohne die vielgestaltigen Dufterlebnisse bliebe ein Großteil des geschaffenen Reichtums unbemerkt: Set nec olfactus diversitate oblectaminum caret. Alium enim odorem habent prata, alium rubeta, alium rosaria, alium pascua, alium nemora, alium unguenta, alium timmeamata, alium flores, alium fructus.74 (»Aber auch dem Geruchssinn ermangelt es nicht an abwechslungsreichen Genüssen. Wiesen haben nämlich (ihren ganz eigenen) Duft, einen anderen haben die Brombeersträucher, einen anderen die Rosengärten, einen anderen die Weiden, einen weiteren die Wälder, einen anderen wiederum Duftsalben, einen anderen das Räucherwerk, einen anderen Blumenblüten und wieder einen anderen die Früchte.«) Die Vielfalt der sensiblen Naturdinge sind für den Geschmackssinn nicht mehr weiter ausgeschrieben und eine Ausführung zum Tastsinn (wohl aus moralischen Gründen) nur angedeutet: Hac quoque varietate gustum et tactum noluit carere conditor. Ideoque, sicuti gustus modestum et licitum usum habet in saporibus, sic alii in suis oblectaminibus; et sicut illecebras dat in cibis voluptas nostra isti sensui, sic et unicuique alii.75 (»Der Schöpfer wollte zudem nicht, dass diese Vielfalt dem Geschmacks- und Tastsinn fehlte. Daher hat der Geschmackssinn einen ebenso einen maßvollen und erlaubten Nutzen, wie alle anderen (Sinnesempfindungen) in ihren Ergötzlichkeiten; und wie unsere Lust am Speisen jener Sinnesempfindung Verlockungen bereitet, so auch jeder einzelnen anderen (Empfindung).«) Der CK positioniert gleich im Anschluss an die göttlich legitimierte Genusslizenz den korrumpierten Sinnengenuss. Dazu verschiebt er den Bezugsrahmen. Aus der Schöpfungstheologie kehrt er in den poetisch-mythologischen Bezirk der Aphrodite-Episode zurück76 und illustriert vor diesem Hintergrund das Fehlverhalten beim Essen anhand von Beispielen aus dem Alten Testament.77 72 Auditui preparavit varia oblectamina. Aliter enim mulcetur garritu lucinie, aliter modulatu oloris, aliter tinnitu campanarum, aliter crepitaculis fidium. Quis sonus avium, quis concentus instrumentorum numerare queat? CK S. 158 Z. 901–904, nach der Ysagoge, S. 238. 73 In der Aufzählung fällt nur die Instrumentalmusik (concentus instumentorum) aus den res naturae heraus. 74 CK S. 158f. Z. 904–907, nach der Ysagoge, S. 238. 75 CK S. 159 Z. 907–911, nach der Ysagoge, S. 238. Beide Passagen deuten eine wahre Explosion der Sinnlichkeit an, denn jeder einzelne sensus potenziert das Vergnügen, indem er viele Nuancen innerhalb seiner eigenen Reichweite aufnehmen kann. 76 Circa hunc quidem quinque illecebras ponit Afrodite. CK S. 159 Z. 911. 77 Vgl. CK S. 159 Z. 912–924. Anhand von fünf Geschichten aus dem Alten Testament führt der CK die sozialen und politischen Folgen einer verfehlten Esskultur vor (Prediger, Israel in der Wüste, Elias, Sodom, Esau).
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An die Stelle der zeitlosen Apologetik tritt so die historisierte corruptio prandendi. Esau und den Einwohnern Sodoms wird dabei zur Last gelegt, dass sie aus der Esslust eine Fresslust voll unreflektierter und maßloser Hingabe gemacht hätten. Den Übergang vom Lob zur Kritik vollzieht der CK insofern auf der Ebene des Essens, allerdings ohne explizit auf die Rolle der gustativen Wahrnehmung selbst einzugehen, mit dem die Apologetik abschloss. Das ist im Grunde nur konsequent, denn eine Kritik an der angenehmen Geschmacksempfindung käme einer Kritik an der Schöpfung gleich. Die Empfindung selbst ist aufgrund ihres schöpfungstheologischen Wertes sünden- und damit moraltheologisch nicht angreifbar. Erst der korrumpierte Weltzustand konfrontiert den sinnlichen Apparat des Menschen mit Dingen, Umständen und Verhaltensweisen, die dieser selbst geschaffen und zu verantworten hat. Daher weicht der CK für die Darlegung des negativen Potenzials sämtlicher sinnlicher Genüsse auf zivilisatorische Phänomene aus. Über sie zu sprechen oder sie gar auszuagieren, sei in einigen Fällen unflätig und grässlich,78 was den Verfasser in dieser kunstvollen Praeteritio jedoch nur dazu veranlasst, ironischerweise die fehlgeleiteten Sinnesgenüsse im kumulativen Durchgang auszumalen, um so von der partiellen schließlich auf die totale Lasterhaftigkeit zu sprechen zu kommen: Et aliquando quidem unus solus sensus corrumpitur, ut siquis psaltrias et funambulas intueatur ; aliquando duo simul, ut siquis in saltu gaudeat latratu vario canum et simul discursu caprarum; aliquando tres simul, ut siquis in theatro cernat funambulum, audiat tibicinem, palpet meretricem; aliquando quatuor, ut siquis in pomerio deliciose odorat gramina, suggit mella, rosas et violas intuens, lucinias audiens; aliquando omnes simul sensus oberrant, ut siquis in balneo odorat tura, gustat pigmenta, audiat ebrios cantantes, videat saltantes, .79 (»Zuweilen wird nur eine einzige Sinneswahrnehmung korrumpiert, wenn etwa jemand Zitterspielerinnen und Seiltänzerinnen zuschaut; manchmal zwei gleichzeitig, wenn man sich etwa im Hain am unterschiedlichen Gebell der Hunde und zugleich am Auseinanderlaufen der Ziegen erfreut; dann sogar drei gleichzeitig, wenn etwa jemand im Theater einen Seiltänzer ansieht, einem Flötenspieler lauscht und ein Freudenmädchen streichelt; zuweilen auch vier, wenn jemand etwa im Apfelgarten verwöhnt an den Gräsern riecht, Honig nascht, Rosen und Lilien betrachtet und Nachtigallen zuhört; manchmal gehen alle Sinneswahrnehmungen zusammen fehl, wie wenn jemand im Badehaus Weihrauchduft genießt, Gewürztes goutiert, betrunkenen Sängern zuhört, Tänzer(innen) zusieht, und .«)
Die Beispiele der drei ersten Reihen kritisieren Bereiche des städtischen und adligen Zeitvertreibs – Musik, Tanz, Gaukler, Theater, Jagd. Das Problem scheint die mehrfache sinnliche Verstrickung in die dem Autor kritikwürdigen weltli78 Aliis quoque sensibus dat Afrodite illecebras suas, quarum quedam et spurce sunt actu et fede relatu. CK S. 159 Z. 925f. 79 CK S. 159 Z. 926–935.
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chen Vergnügungen zu sein. Das Sehen, Hören und Tasten lassen sich in bestimmten Situationen nicht getrennt voneinander betrachten. Vielmehr bindet die jeweilige soziale Situation den Menschen über die Sinnlichkeit mehrfach an sich und damit an die Sündhaftigkeit der Welt. Mit der vierten Reihe aber wird ein anderer Weg eingeschlagen. Sobald das Riechen und Schmecken in die Kulmination eingebunden werden, weicht der CK auf Naturexempel aus. Dieses Beispiel ist besonders interessant, denn hier ist die Dialektik der res naturae aufgrund des Sündenfalls unmittelbar zu greifen. Auf der einen Seite sind Gräser, Honig, Rosen, Lilien und Nachtigallen ohne jedes Problem auch als Exempel für die sinnliche Schönheit der Schöpfung verwendbar. Auf der anderen Seite aber scheinen der zivilisatorische Einschlag (Garten), die Anspielung auf die Paradiesszene (Apfelgarten) und vielleicht auch die sprichwörtliche Naschhaftigkeit (Honig)80 die vier genannten sensus in ein negatives Licht zu rücken, ohne allerdings die Sinnesempfindungen und die sensibilia selbst degradieren zu können. Man kann sich letztendlich nicht ganz des Eindrucks erwehren, dass dieses Beispiel nicht ganz das bewirkt, was es bewirken soll und der positive Schöpfungsgedanke der negativen Implikation im Hintergrund entgegenarbeitet. Wie eindeutig Kritik durch das städtische Setting formuliert werden kann, zeigt der Sinnenrausch der letzten Reihe. Duft- und Geschmackserlebnis in Verbindung mit dem tactus (Ergänzungsvorschlag des Herausgebers des CK) machen das Badehaus zum vielleicht auch übertrieben komischen Inbegriff totaler sinnlicher Verstrickung und Entgrenzung.
VI.
Fazit
Der Cambridger Kommentar greift für die Auslegung von De nuptiis auf neue Art und Weise auf das Wissen um und über olfactus, gustus und tactus zurück. Sein richtungsweisender Einfluss in dieser Hinsicht ist auch in den späteren Kommentaren erkennbar.81 Die methodische Grundlage für den bei Weitem nicht nur mit nahsinnlichen Referenzen angereicherten Kommentar ist die stark integumentale Sicht auf De nuptiis, nach der es weniger um eine ›klassische‹ Kom80 sicut qui mel multum comedit non est ei bonum sic qui scrutator est maiestati opprimitur gloria. Prov. 25, 27; vgl. auch die Sprichwörter und sprichwörtlichen Redewendungen zum Honig im: Thesaurus proverbiorum medii aevi. Lexikon der Sprichwörter des romanischgermanischen Mittelalters, begr. v. Samuel Singer, hg. v. Kuratorium Singer der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften, Bd. 6, Berlin/ New York 1998, S. 171–184. 81 Nähere Untersuchungen dazu stehen allerdings noch aus. Vgl. The Berlin Commentary on Martianus Capella’s De nuptiis Philologiae et Mercurii, Buch 1, hg. v. Haijo Jan Westra/ Christina Vester, Leiden u. a. 1994, Alexander Neckham: Commentum super Martianum, hg. v. Christopher J. McDonough, Florenz 2006.
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mentierung im Sinne von Wort- und Stellenerklärungen zum besseren Verständnis der Dichtung geht, als um eine (durchaus auch mehrfache) Auslegung ein und derselben Stelle, um vor allem die naturphilosophischen aber auch theologischen Sinngehalte hinter der literalen narrativen Ebene freizulegen. Die Nähe zur Bibelexegese ist unübersehbar. Innerhalb der integumentalen Hermeneutik treten die nahsinnlichen Referenzen in drei Bereichen auf. Zuerst konnte gezeigt werden, wie die taktile Empfindung in der Epistemologie, genauer der Ursachenerkenntnis, nach Ansicht des CK eine herausragende Rolle spielt und dabei auch die Leistungsfähigkeit der sonst dominierenden visuellen Wahrnehmung hinter sich lässt. Dieser Geltungszuwachs wird darüber hinaus durch die Anbindung an die Naturphilosophie im curriculum der Bildungsstufen geradezu institutionalisiert. Inwiefern die Aufwertung des tactus eine Randsicht war oder zumindest innerhalb der naturphilosophischen und bildungstheoretischen Diskussion Teil des breiteren kulturellen Wissens, bleibt noch zu eruieren. Im zweiten und dritten Teil ging es um die Nahsinne im Gesamtsystem der fünf sensus, einmal in Hinblick auf ihre Funktion als Verbindungsinstanz zwischen Makrokosmos und Mikrokosmos, dann im Kontext der Moral- bzw. Sündentheologie. Mit Blick auf die Kommentierungstradition ist zunächst festzuhalten, dass alle drei Nahsinne in ihrer Individualität zunehmend diskursiv relevant geworden sind. Geruchs-, Geschmacks- und Tastsinn werden genannt und zugleich in ihrer Eigenheit im perzeptiven System thematisiert. Dadurch, dass sie eine Stimme erhalten und im Text präsent sind, ist der entscheidende Schritt zur Aufwertung vor allem im positiven Sinne innerhalb einer schöpfungstheologisch durchdrungenen Naturphilosophie getan. Diese Bewegung kann man als eine Relativierung der hierarchischen Zwänge beschreiben, die mit einem Geltungszuwachs der Nahsinne in Relation zum Sehen und Hören einhergeht. So zeichnet den CK wie gesehen aus, dass er sich ›Zeit‹ nimmt, beispielsweise eine ganze Reihe von olfaktorisch markanten Naturdingen zu benennen, nahezu gleichberechtigt neben den vorranging visuell und auditiv erschließbaren res. Zwar bleiben gustatorische und taktile Einzeldinge ungenannt, aber immerhin ist der Wohlgeschmack nicht nur selbstverständlicher Teil der Moraltheologie. Diese vorsichtige Aufwertung ist allerdings weniger das Resultat einer Intention, die der nahsinnlichen Perzeption aus sich selbst heraus mehr Geltung verschaffen möchte, als vielmehr das Nebenprodukt einer immer weiter vorangetriebenen divisio mundi, d. h., einer systematischen Zergliederung von Makrokosmos und Mikrokosmos zur Darstellung der göttlichen Schöpfungsgenialität und -vielfalt. In der Moraltheologie lässt sich eine ähnliche Tendenz ausmachen, allerdings nach einer anderen Logik. Während die Apologetik die diversitas der Naturdinge und den Facettenreichtum des göttlichen Schöpfergeistes im Blick hat, zielt die Kritik auf die graduelle Verfehlung. Je mehr
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Perzeptionsmodi durch Sinneseindrücke innerhalb der menschlichen Gemeinschaft, vorzüglich der körperzentrierten Künste und Tätigkeiten, in Beschlag genommen werden, desto weiter verstrickt sich der Mensch im Kokon sinnlicher Sündhaftigkeit. Man kann von einer extensiven Logik im ersten Fall und einer intensiven im zweiten sprechen. Die Nahsinne sind die Träger der Intensivierung, erst wenn sie das Sehen und Hören ergänzen ist die höchste Verführungsdichte erreicht. Der Cambridger Kommentar legt den Nahsinnen zum Teil eine ungewöhnliche Bedeutung zu. Insbesondere die taktile Empfindung erfährt eine besondere Aufwertung. Dabei konnte die stark auf den Kommentar konzentrierte Studie vorerst nur gelegentlich eine Einordnung in größere Zusammenhänge andeuten. Inwiefern die Besonderheiten des CK innerhalb der Wissenskultur im 12. Jahrhunderts auch an anderer Stelle präsent waren, muss daher in weiteren Arbeiten genauer erkundet werden.
Frank Jasper Noll
Thesaurus eruditionis. Antikes ›Weltwissen‹ zwischen fabula und historia in Johannes Herolds Heydenweldt (Basel 1554)*
I.
Einleitung »[A]ll mein fürnemen stat dohin / wie doch mein liebs vaterland / von ye weldten haer an mannheyt und glaubvester trewe hoch berhüemptes Teütschlande / in yetziger erleüchtung des hellen Worts Gottes / in seiner einigen vnzerkryppelten spraach / auch der Welt weyßheit (die dan zuo prauch der liebe / ein zuogaab von Gott ist) erlernen / vnd in gmeyn erfassen möchte.«1
Mit diesen Worten beschreibt Johannes Herold in der Vorrede an den »Christlichen künstliebenden Leser« die Ziele, die er mit seiner 1554 in Basel erschienenen Heydenweldt verfolgt. Hauptaufgabe des in der Offizin von Heinrich Petri entstandenen Großprojekts ist es demnach, einer volkssprachigen Leserschaft die Aneignung säkularer »weyßheit« zu ermöglichen. So weit, so gut. Allerdings inszeniert Herold sein divulgatives Unternehmen nicht nur als dezidierten Beitrag zum bildungspolitischen Fortschritt der für ihre Tapferkeit und Gottesfurcht seit jeher berühmten deutschen Nation, sondern verspricht sich von ihm offenbar auch eine Aufwertung der deutschen Sprache. Begründet wird dieser (sprach)patriotische Anspruch im Rekurs auf die zeitgenössischen Entwicklungen protestantischer Bibelphilologie: Nachdem das Deutsche sogar seine Fähigkeit unter Beweis gestellt hat, das Wort Gottes klar und angemessen wiederzugeben, müsste es sich nun auch als adäquates Medium der Gelehrtenkultur und Mittel des profanen Erkenntnisgewinns bewähren können. So gese* Marion Gindhart bin ich für ihre konstruktive Lektüre des vorliegenden Beitrags und zahlreiche wichtige Anmerkungen zu Dank verpflichtet. Außerdem danke ich den TeilnehmerInnen des interdisziplinären Colloquiums am Forum Mittelalter – Renaissance – Frühe Neuzeit der Freien Universität Berlin für die Möglichkeit, das Aufsatzprojekt in einem frühen Stadium zur Diskussion stellen zu können. 1 Johannes Herold: Heydenweldt und ihrer Goetter anfaengcklicher ursprung etc. Basel: Heinrich Petri 1554 (VD16 H 2545), Vorrede, Bl. iijv (Exemplar der Universitätsbibliothek Heidelberg, Signatur C 1588 Folio RES). Die diakritischen Zeichen des Frühneuhochdeutschen (übergestelltes e und o, Nasalstriche etc.) wurden hier und in den folgenden Zitaten stillschweigend aufgelöst.
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hen, scheint sich Herolds Buchprojekt geradezu als weltliches Pendant zur volkssprachigen Übertragung der Heiligen Schrift zu verstehen, wie sie zwanzig Jahre vor dem Erscheinen der Heydenweldt Martin Luther vorgelegt hatte. Eine solche Parallele suggeriert Herold nicht zuletzt dadurch, dass er das überlieferte Weltwissen als »zuogaab von Gott« auch seinem Ursprung nach neben das offenbarte Heilswissen stellt. Schon diese knappen Ausführungen machen deutlich, dass Herold seine Heydenweldt in eine Vielzahl von Diskursen einbindet und dabei gleich mehreren Ansprüchen gerecht zu werden versucht. Die Vorrede greift einerseits den von deutschen Humanisten schon früh angestoßenen Diskurs nationaler Identität auf, der die deutschsprachigen Länder als eigenständige Kulturnation neben Italien und Frankreich zu etablieren versuchte und sich maßgeblich im Gefolge der Rezeption der Germania des Tacitus entfaltete: Mit Tapferkeit und religiöser Ehrfurcht aktualisiert Herold denn auch zwei seit Tacitus topische Eigenschaften der – konsequent als Deutsche verstandenen – Germanen.2 Darüber hinaus sucht die Vorrede Anschluss an die ebenfalls seit dem deutschen Frühhumanismus geführte Debatte um die volkssprachige Übersetzung antiker Texte und die Rolle des Deutschen in der frühneuzeitlichen Gelehrtenkultur zu gewinnen.3 2 Vgl. zur Tacitus-Rezeption etwa Christopher B. Krebs: Negotiatio Germaniae. Tacitus’ Germania und Enea Silvio Piccolomini, Giannantonio Campano, Conrad Celtis und Heinrich Bebel, Göttingen 2005. Zur Gleichsetzung der Deutschen mit den Germanen vgl. Dieter Mertens: Die Instrumentalisierung der ›Germania‹ des Tacitus durch die deutschen Humanisten, in: Zur Geschichte der Gleichung ›germanisch–deutsch‹. Sprache und Namen, Geschichte und Institutionen, hg. v. Heinrich Beck, Berlin u. a. 2004, S. 37–101. Johannes Herold hat diesem Diskurs nationaler Identität seinerseits mehrere historiographische Werke gewidmet: So verfasste er Schriften zur historischen Landeskunde (De Germaniae veteris […] locis antiquissimis, Basel 1555) und entwarf überdies den »Plan zu einer umfassenden Geschichte Deutschlands, den Commentarii efflorescentis Germaniae«. Vgl. dazu Andreas Burckhardt: Johannes Basilius Herold. Kaiser und Reich im protestantischen Schrifttum des Basler Buchdrucks um die Mitte des 16. Jahrhunderts, Basel/Stuttgart 1967 (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft 104), hier S. 151. 3 Vgl. zur frühneuzeitlichen Übersetzung antiker Texte Franz Josef Worstbrock: Zur Einbürgerung der Übersetzung antiker Autoren im deutschen Humanismus, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 99 (1970), S. 45–83; Nikolaus Henkel: Deutsche Übersetzungen lateinischer Schultexte. Ihre Verbreitung und Funktion im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, München/Zürich 1988 (Münchener Texte und Untersuchungen 90). Zum humanistischen Sprachbewusstsein vgl. grundlegend Karl Otto Apel: Die Idee der Sprache in der Tradition des Humanismus von Dante bis Vico, in: Archiv für Begriffsgeschichte 8 (1963), S. 7–398. Zur Rolle des Deutschen in der frühneuzeitlichen Gelehrtenkultur vgl. ausführlich Wolf Peter Klein: Die deutsche Sprache in der Gelehrsamkeit der frühen Neuzeit. Von der ›lingua barbarica‹ zur ›HaubtSprache‹, in: Diskurse der Gelehrtenkultur in der frühen Neuzeit. Ein Handbuch, hg. v. Herbert Jaumann, Berlin/New York 2011, S. 465–517. Zum Zusammenhang zwischen humanistischem Vernakular- und Nationaldiskurs vgl. Joachim Knape: Humanismus, Reformation, ›deutsche Sprache‹ und ›Nation‹, in: Nation und Sprache. Die Diskussion ihres Verhältnisses in Geschichte und Gegenwart, hg. v. Andreas Gardt, Berlin/New York 2000, S. 103–138.
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Schließlich stellt Herold die volkssprachige Distribution der »Welt weyßheit«, die das erklärte Ziel seines Unternehmens ist, als einen heilsgeschichtlich verbürgten und göttlich legitimierten Vorgang dar : Gott selbst habe der (gefallenen) Menschheit das Weltwissen zum Gebrauch im Zeichen der Nächstenliebe zugestanden. Offenbar, so wird man daraus folgern dürfen, ist der Wert des Wissens, das die Heydenweldt ihrem Publikum vermitteln will, also keineswegs selbstverständlich. Es scheint, genauer betrachtet, noch nicht einmal klar, ob der Gegenstand des didaktischen Projekts überhaupt für sich in Anspruch nehmen kann, Wissen zu sein: Mit Blick auf den problematischen, paganen Gehalt der kompilierten Texte spricht Herold noch am Beginn seiner Vorrede lediglich von den »verwhaente[n] meynung[en]« der Alten und begegnet dem Vorwurf, durch seine Heydenweldt womöglich »Goetzenwerck auffrichten« zu wollen, mit einer ausführlichen Rekapitulation des christlichen Glaubensbekenntnisses.4 Entsprechend können der Verweis auf den erwarteten nationalen Bildungsfortschritt, die Aufwertung der Volkssprache und die Integration der »verwhaente[n] meynung[en]« in einen heilsgeschichtlichen Rahmen als Versuche begriffen werden, dem präsentierten Inhalt beim Publikum zur Anerkennung als relevante »Welt weyßheit« zu verhelfen. Mit Blick auf Johannes Herolds Heydenweldt scheint die Relevanz der Frage nach dem Zusammenhang von Wissen und Geltung, die im Zentrum des vorliegenden Bandes steht, daher unmittelbar evident: Der mit diesem Kompendium angestrebte Wissenstransfer – von der lateinischen Gelehrtenkultur in die Sphäre der Volkssprache, von der ›heidnischen‹ Antike in die christliche Gegenwart – wird, wie sich bereits in der Vorrede zeigt, mehrfach legitimiert, um das präsentierte Material im Horizont der Volkssprache als Wissen zur Geltung zu bringen. Ein solcher Transfer ist daher nicht nur mit einer »(selegierenden) Transformation der Wissensmenge«5 verknüpft – die sich im Falle der Heydenweldt etwa in der Orientierung des Kompendiums an den spezifischen Wissensordnungen und -formen zeigt, die die volkssprachige Laienkultur um die Mitte des 16. Jahrhunderts ausbildet. Er impliziert zugleich die Anwendung spezifischer Praktiken, die den transferierten Beständen beim Zielpublikum ›epistemische Autorität‹6, das heißt Anerkennung als Wissen verschaffen sollen. 4 Vgl. Herold, Heydenweldt (s. Anm. 1), Bl. Iijr/v. 5 Karl Richter/Jörg Schönert/Michael Titzmann: Literatur – Wissen – Wissenschaft. Überlegungen zu einer komplexen Relation, in: Die Literatur und die Wissenschaften 1770–1930, hg. v. Karl Richter/Jörg Schönert/Michael Titzmann, Stuttgart 1997, S. 9–36, S. 14 (Hervorhebung i. Orig.). 6 Vgl. Jan Behrs/Benjamin Gittel/Ralf Klausnitzer: Wissenstransfer. Konditionen, Praktiken, Verlaufsformen der Weitergabe von Wissen. Frankfurt a. M. u. a. 2013 (Berliner Beiträge zur Wissens- und Wissenschaftsgeschichte 14), S. 71f. Dort bezieht sich der Begriff der ›epistemischen Autorität‹ allerdings auf personale Wissensträger, insbesondere auf wissenschaftliche Experten.
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Die in der Heydenweldt eruierbaren Strategien der Geltungserzeugung und die dabei beobachtbaren Wissenstransformationen sollen im Folgenden in drei Schritten genauer beleuchtet werden. Zunächst sind in gebotener Kürze der Sammeldruck selbst sowie sein Herausgeber Johannes Herold vorzustellen (II). Anschließend stehen die Paratexte im Vordergrund, die Herold seiner Edition beifügt (III): Titelblatt, Widmungsschreiben und Vorrede an den Leser thematisieren das Verhältnis von Wissen und Geltung auf vielfältige Weise und konditionieren zugleich das Rezeptionsverhalten der Leser.7 Schließlich soll exemplarisch auf die Gestaltung eines der Haupttexte eingegangen werden (IV): Im Zuge seiner Bearbeitung der De deis gentium historia Giglio Gregorio Giraldis transformiert Herold das überlieferte Wissen nicht nur durch seine eigene Praxis der ›Übersetzung‹, sondern auch durch die (Neu)Ordnung, interne Gliederung und Illustration der Vorlagentexte.
II.
»Durch Johann Herold beschriben vnd jnns teütsch zuosammen gepracht«8 : Die Heydenweldt und ihr Herausgeber
Mit Johannes (Basilius)9 Herold (1514–1567) hat sich die geschichts- und literaturwissenschaftliche Forschung bislang nur spärlich befasst. Andreas Burckhardt, Verfasser der bisher einzigen Monographie zu Herolds Leben und Werk, charakterisiert ihn als rastlosen, aber kaum in größerem Umfang humanistisch gebildeten Übersetzer, Herausgeber und Korrektor, der Zeit seines Lebens mit dem Makel unehelicher Geburt zu kämpfen hatte, stets auf vermögende Gönner angewiesen war und seinen Unterhalt im wesentlichen als Adlatus mehrerer Basler Buchdrucker – darunter Robert Winter, Johann Oporinus und Heinrich Petri – bestritt.10 Geboren in Höchstädt an der Donau als Sohn des für die Fugger tätigen Augsburger Bürgers Johannes Herold, begab er sich nach dem Besuch der Lateinschule als Scholar auf eine zehnjährige Wanderschaft durch Deutschland und Italien. 1539 bemühte er sich vergeblich, in Basel zum Studium der artes 7 Vgl. dazu allgemein Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt a. M. 2001. 8 Herold, Heydenweldt (s. Anm. 1), Titelblatt. 9 Den Beinamen Basilius nahm Herold an, »als ihm die Stadt Basel 1556 das Bürgerrecht geschenkt hatte«. Burckhardt, Johannes Basilius Herold (s. Anm. 2), S. 93, Anm. 1. Zu Biographie und Werk Herolds vgl. jetzt auch Seraina Plotke: Herold, Johannes, in: Frühe Neuzeit in Deutschland 1520–1620. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon, hg. v. Wilhelm Kühlmann, Bd. 3, Berlin/New York 2014, Sp. 317–326. 10 Vgl. dazu und zum Folgenden Burckhardt, Johannes Basilius Herold (s. Anm. 2), S. 93– 263.
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zugelassen zu werden und ein Stipendium aus dem Legat des Erasmus von Rotterdam zu erhalten.11 Nach erfolglosen Versuchen, sich auf im Zuge der Reformation freigewordene oder neu geschaffene Prädikaturen zu bewerben,12 und nach einem kurzen Zwischenspiel als Pfarrer in Pfeffingen gab Herold ab der Mitte der 1550er Jahre im Auftrag verschiedener Basler Drucker humanistische und historiographische Schriften heraus: So betreute er eine Gesamtausgabe der Werke Petrarcas (1554) und übersetzte Dantes Monarchia ins Deutsche (1559).13 Nach seiner Aufnahme in die Basler Bürgerschaft 1556 stand er zeitweilig in diplomatischen Diensten des städtischen Rates. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er als Amanuensis im Umkreis des Grafen Wilhelm Werner von Zimmern. Fraglich ist, ob Herold im Zuge seiner Bewerbung als Pfarrer in Augsburg auch mit dem dortigen Patriziergeschlecht von Stetten in Kontakt kam. Jedenfalls widmete er Georg von Stetten, dem ältesten Sohn des erfolgreichen Kaufmanns Michael von Stetten, die erste Ausgabe seiner Heydenweldt.14 Dieser Sammeldruck, den Herold 1554 bei Heinrich Petri herausgab, vereint in deutschsprachigen Bearbeitungen vier Texte heterogener Provenienz zu einem umfangreichen Kompendium, das dem Anspruch nach Wissen über die pagane Antike vermitteln will: Giglio Gregorio Giraldis De deis gentium varia et multiplex historia (gedr. 1548), die ersten fünf Bücher der Bibliotheca historica des griechischen Universalhistorikers Diodorus Siculus (1. Jh. v. Chr.), Dictys Cretensis’ Ephemeris belli Troiani (4. Jh. n. Chr.) sowie die Hieroglyphica des Hor11 Beides blieb ihm wohl aufgrund seiner unehelichen Geburt verwehrt: Um in Basel ein akademisches Examen abzulegen, war ein beeideter Nachweis der ehelichen Abkunft nötig. Vgl. Burckhardt, Johannes Basilius Herold (s. Anm. 2), S. 98f. 12 So etwa 1543 in Augsburg. Burckhardt, Johannes Basilius Herold (s. Anm. 2), S. 101, resümiert, Herold habe vor der dortigen Auswahlkommission eine »nicht eben gute Figur gemacht«. Bemängelt worden seien u. a. seine ungenügende theologische Bildung sowie das Fehlen jeglicher Griechischkenntnisse. Gerade letztere waren für protestantische Pfarrer jedoch von besonderer Bedeutung – erst sie gestatteten einen eigenen, von der kirchlichen Tradition unabhängigen Zugang zur mutmaßlichen ›Urfassung‹ der Heiligen Schrift. Vgl. dazu etwa Jean-Christophe Saladin: La bataille du grec / la Renaissance, Paris 2000. Wenn man so will, hat Herold das Verhältnis von Wissen und Geltung auf diese Weise geradezu am eigenen Leibe erfahren. 13 Als größte editorische Leistung Herolds hat Andreas Burckhardt die Herausgabe der Lex Frisionum sowie weiterer germanischer Stammesrechte im Jahre 1557 bewertet, die im Kontext der Arbeit an den unabgeschlossenen Commentarii efflorescentis Germaniae stand. Vgl. Burckhardt, Johannes Basilius Herold (s. Anm. 2), S. 160ff. 14 Georg (1489–1562) hatte sich nach seiner Heirat mit einer reichen Tochter Ulrich Fuggers (d. Ä.) aus dem Geschäft zurückgezogen und pflegte ab 1524 einen feudalen Lebensstil auf seiner Herrschaft Boxberg bei Augsburg. Vgl. dazu Josef Bellot u. a.: Stetten, in: Augsburger Stadtlexikon. 2., völlig neu bearbeitete und erheblich erweiterte Auflage, hg. v. Günther Grünsteudel/Günter Hägele/Rudolf Frankenberger, Augsburg 1998, S. 852–854.
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apollo (ca. 5. Jh. n. Chr.).15 Während Herold im Falle der Ephemeris extensiv auf eine bereits existierende Übersetzung zurückgegriffen hat – ohne dies allerdings eigens kenntlich zu machen –,16 stellen seine Bearbeitungen der Bibliotheca historica, der Hieroglyphica und der De deis gentium historia nach gegenwärtigem Kenntnisstand tatsächlich die frühesten deutschsprachigen Fassungen dieser Schriften dar. Damit erweitert die Sammlung die volkssprachige ›Bibliothek‹ nicht nur um zwei antike Referenztexte, die in gelehrten humanistischen Kreisen vor allem aufgrund ihres ›ägyptosophischen‹17 Schwerpunkts äußerst prominent waren, sondern – mit Giraldis Historia – auch um einen elaborierten zeitgenössischen Beitrag zum altertumswissenschaftlichen Diskurs.18 Der thematische Schwer15 Alle vier in dem Kompendium versammelten Texte waren bereits vor 1554 auf Latein in Basel erschienen und daher leicht greifbar. Während die Hieroglyphica in der lateinischen Übersetzung Bernardino Trebazios 1518 von Johann Froben und 1534 von Johann Herwagen d. Ä., Giraldis De deis gentium historia 1548 von Johann Oporinus gedruckt worden waren, entstammten die (lateinischen) Ausgaben der Bibliotheca historica und der Ephemeris belli Troiani der Offizin Heinrich Petris selbst. Als Vorlage kommt dabei insbesondere die Ausgabe von 1548 in Betracht, die nicht nur Diodors Bibliotheca, sondern auch die Ephemeris und darüber hinaus Dares Phrygius’ Bericht vom Trojanischen Krieg enthält: Man habe, so der damalige Herausgeber Markus Hopper, die durch die verlorenen Bücher der Bibliotheca entstandene weltgeschichtliche Lücke durch Dictys und Dares füllen wollen. Vgl. dazu En Basileia polei te¯s Germanias. Griechischer Geist aus Basler Pressen, Ausst. Kat., Basel 1992, S. 346f. 16 Es handelt sich um die 1536 veröffentlichte Übersetzung des Marcus Tatius Alpinus. Vgl. zu Herolds Vorgehen Petra Fochler: Fiktion als Historie. Der Trojanische Krieg in der deutschen Literatur des 16. Jahrhunderts, Wiesbaden 1990 (Wissensliteratur im Mittelalter 4), S. 32–41. 17 Vgl. zum Begriff der ›Ägyptosophie‹ im Unterschied zur ›Ägyptologie‹ Erik Hornung: Hermetische Weisheit. Umrisse einer Ägyptosophie, in: Ägypten-Bilder. Akten des ›Symposions zur Ägypten-Rezeption‹, Augst (bei Basel), vom 9. bis 11. September 1993, hg. v. Elisabeth Staehelin/Bertrand Jaeger, Freiburg (Schweiz)/Göttingen 1997 (Orbis biblicus et orientalis 150), S. 333–342. 18 Eine fundierte Studie zur humanistischen Rezeptionsgeschichte der Bibliotheca historica Diodors ist Desiderat. Vgl. aber die Angaben bei Arthur M. Woodward: Greek History at the Renaissance, in: The Journal of Hellenic Studies 63 (1943), S. 1–14; Anne Pinkepank: Diodoros Siculus, in: Geschichte der antiken Texte. Autoren- und Werklexikon, hg. v. Manfred Landfester, Stuttgart/Weimar 2007 (Der Neue Pauly, Supplemente 2), Sp. 201–203; Anthony Grafton: Historiography, in: The Classical Tradition, hg. v. Anthony Grafton/ Glenn W. Most/Salvatore Settis, Cambridge/London 2010, S. 441–448, bes. S. 444; Zur Bedeutung der Hieroglyphica in der Renaissance vgl. Erik Iversen: The Myth of Egypt and its Hieroglyphs in the European Tradition, Kopenhagen 1961, S. 65–87. Zu Herolds Bearbeitung der Hieroglyphica vgl. jetzt Marion Gindhart: Bildschrift im Kontext. Die Hieroglyphika-Übersetzung Johannes Herolds (Basel 1554), in: Humanistische Antikenübersetzung und frühneuzeitliche Poetik (1450–1620), hg. v. Regina Toepfer/Johannes Klaus Kipf/Jörg Robert. Berlin/Boston 2017 (Frühe Neuzeit 211), S. 243–286. Zur De deis gentium historia Giglio Gregorio Giraldis vgl. ausführlich Karl A. E. Enenkel: The Making of 16th-Century Mythography. Gyraldi’s Syntagma de Musis (1507, 1511 and 1539), De deis
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punkt der Auswahl liegt dabei auf antiker Mythologie und Religion: Während die monumentale De deis gentium historia den gesamten paganen Götterglauben des Altertums auf antiker Quellenbasis darzustellen beansprucht und dabei systematisch Namen, Ikonographie, Kulte und Riten griechisch-römischer und orientalischer Gottheiten verzeichnet,19 liefern die ersten fünf Bücher der Bibliotheca historica, die die Weltgeschichte bis zum Beginn des Trojanischen Krieges behandeln, »rich mythological material on ancient Egypt, Chaldaea, and Greece«20. Ergänzt wird das von ihnen bereitgestellte Material durch Dictys’ schon im Mittelalter weit verbreiteten ›Augenzeugenbericht‹ vom Trojanischen Krieg21 und durch den in Horapollos Handbuch vermeintlich überlieferten »hieroglyphic wisdom of the Egyptians«22. Allerdings bietet die Heydenweldt ihrem christlichen, volkssprachigen Publikum auf diese Weise einen prekären, keineswegs allgemein anerkannten Lesestoff: Vielfach nämlich galt die Beschäftigung mit den paganen Göttern und der heidnischen Mythologie als ebenso fragwürdig wie fruchtlos – schließlich handelt es sich nicht nur um Dokumente der Idolatrie, sondern, so zumindest eine frühneuzeitliche Lesart, auch um fabulae, ›eitle‹ Fiktionen, die kaum für sich in Anspruch nehmen können, Wissen zu sein. Andererseits aber schienen fabulae, Hieroglyphen und heidnische Mysterien als ›allegorische Vermittlungsinstanzen‹ Einblick in eine ursprünglich-sakrale Weisheit zu versprechen – eine Weisheit, die man insbesondere in den neuplatonisch inspirierten Strömungen der humanistischen Philosophie zu rekonstruieren und unter dem Titel einer prisca theologia oder philosophia perennis mit der biblischen Offenbarung in Einklang zu bringen versuchte.23
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gentium historia (ca. 1500–1548) and Julien De Havrech’s De cognominibus deorum gentilium (1541), in: Humanistica Lovaniensia 51 (2002), S. 9–53. Vgl. dazu Enenkel, Making of Mythography (s. Anm. 18), S. 18–23. Grafton, Historiography (s. Anm. 18), S. 444. Bearbeitet hat Herold die lateinische Fassung der ersten fünf Bücher, die Poggio Bracciolini – unter tätiger Mithilfe des Georgios Trapezuntios – um die Mitte des 15. Jhs. erstellte. Vgl. dazu Woodward, Greek History (s. Anm. 18), S. 8. Zusammengenommen machen die Texte Giraldis und Diodors etwa vier Fünftel des Umfangs der Heydenweldt aus: Von den 718 Seiten des hier zugrunde gelegten Exemplars (s. Anm. 1) entfallen insgesamt 574 Seiten auf die Bearbeitungen der De deis gentium historia (280 Seiten) und der Bibliotheca historica (294 Seiten). Vgl. dazu Stefan Merkle: Troiani belli verior textus. Die Trojaberichte des Dictys und Dares, in: Die deutsche Trojaliteratur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Materialien und Untersuchungen, hg. v. Horst Brunner, Wiesbaden 1990 (Wissensliteratur im Mittelalter 3), S. 491–522. Iversen, Myth of Egypt (s. Anm. 18), S. 49. Vgl. dazu Charles B. Schmitt: Perennial Philosophy. From Agostino Steuco to Leibniz, in: Journal of the History of Ideas 27 (1966), S. 505–532; Cesare Vasoli: La ›prisca theologia‹ e il neoplatonismo religioso, in: Il neoplatonismo nel Rinascimento, hg. v. Pietro Prini, Rom 1993, S. 83–101; Wilhelm Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis. Historische Um-
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Johannes Herold begegnet, so soll im Folgenden gezeigt werden, dieser Problemlage durch eine Strategie der gezielten ›Historisierung‹: Zum Einen wird die theologische Relevanz der in der Heydenweldt gesammelten heidnischen Überlieferungen konsequent negiert; im Hinblick auf Fragen der Religion handelt es sich also eigentlich, so Herolds Ansatz, nicht um Wissen, sondern um dezidierte Irrtümer. Zum Anderen wird das präsentierte Material nicht minder konsequent in eine profanhistorische Perspektive gerückt und erhebt damit den Anspruch, als Wissen im Sinne der frühneuzeitlichen historia zu gelten.24 Zu diesem Zweck wird es in den ethisch-praktischen Funktionskontext integriert, der die Historiographie in Renaissance und Früher Neuzeit weithin prägt und sich am deutlichsten im Konzept der historia als magistra vitae ausdrückt.25 Diese didaktisch-paränetische Funktionalisierung der Heydenweldt wird von Herold vor allem in den Paratexten, mit Blick auf Widmungsadressat und Leser, konsequent entfaltet.
III.
Historia magistra vitae: Geltung durch ›Historisierung‹ in den Paratexten der Heydenweldt
Dass es ausgerechnet die Paratexte sind, die den Diskurs der historia magistra vitae aufgreifen und der Heydenweldt so einen ›historischen‹ Bezugspunkt verleihen, dürfte angesichts der diesen Texten eigenen erkenntnis- und rezeptionssteuernden Funktion kaum überraschen. Bereits das grafisch aufwändig gestaltete Titelblatt26 der Heydenweldt bringt den Bezug zur historia sowohl risse abendländischer Spiritualität in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit, Frankfurt a. M. 1998. 24 Vgl. zur Bedeutung von historia als gleichermaßen ›empirischer‹ Methode und ›wahrer‹ Geschichte in der Frühen Neuzeit Arno Seifert: Cognitio historica. Die Geschichte als Namengeberin der frühneuzeitlichen Empirie, Berlin 1976 (Historische Forschungen 11); Joachim Knape: ›Historie‹ in Mittelalter und Früher Neuzeit. Begriffs- und gattungsgeschichtliche Untersuchungen im interdisziplinären Kontext, Baden-Baden 1984 (Saecula Spiritalia 10). Zum Verhältnis von historia und fabula in Renaissance und Früher Neuzeit vgl. Peter G. Bietenholz: Historia and Fabula. Myths and Legends in Historical Thought from Antiquity to the Modern Period, Leiden 1994 (Brill’s Studies in Intellectual History 59); Peter Burke: History, Myth, and Fiction. Doubts and Debates, in: The Oxford History of Historical Writing, Bd. 3, hg. v. José Rabasa/Masayuki Sato/Edoardo Tortarolo/Daniel Woolf, Oxford 2012, S. 261–281. Zur Rolle der historia in der frühneuzeitlichen Religionsgeschichte vgl. Martin Mulsow: The ›Historia‹ of Religions in the Seventeenth Century, in: Historia. Empiricism and Erudition in Early Modern Europe, hg. v. Gianna Pomata/Nancy G. Siraisi, Cambridge 2005, S. 181–209. 25 Vgl. dazu Dieter Harth: Geschichtsschreibung, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. v. Gert Ueding, Bd. 3, Berlin/New York 1996, Sp. 832–870, bes. Sp. 850–856. 26 Zu Form und Funktion frühneuzeitlicher Titelblätter vgl. Ursula Rautenberg: Die Entstehung und Entwicklung des Buchtitelblatts in der Inkunabelzeit in Deutschland, den Nie-
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sprachlich, im Titelwortlaut, als auch bildlich, durch den Titelholzschnitt, zum Tragen (vgl. Abbildung 1). So entfaltet gleich der erste, typographisch besonders hervorgehobene Absatz ein inhaltliches Panorama, das sich erkennbar an den additiven Titelformulierungen, Leitthemen und Quellenberufungen zeitgenössischer Chroniken und Geschichtswerke orientiert: »Heydenweldt vnd irer Goetter anfaengcklicher vrsprung / durch was verwhaenungen den selben etwas vermeynter macht zuogemessen / vmb dero willen / sie von den alten verehert worden. Also / das jnen stifft / tempel / bilder / altaer auffgericht / vnd vnzalbare nammen zuogegeben. Wie auch etlich Koenig / Keiser / Staet vnd staend die selben mit hohem guot vnd reichtumb befürdert / etwa widerumb beraubt / außgepraent / nidergerissen / gar zuo grund gericht. Was sich desselben halben für zaenck / krieg vnd bluotvergiessen erhaben / auß viler glerten thewrs maenner schrifften (dern benamsung am vmbkaerten plat) zuosammen getragen.«27
Diese Angaben, die zwar in erster Linie den Inhalt der De deis gentium historia umschreiben, aufgrund ihrer herausgehobenen Position jedoch zugleich als Gesamttitel des Kompendiums verstanden werden können, stellen einerseits klar, dass der heidnische Götterglaube Ergebnis bloßen Meinens ist und im Vergleich zur christlichen Offenbarung keinerlei theologische Wahrheit beanspruchen kann. Andererseits unterstreichen sie die profanhistorische Relevanz des dargebotenen Stoffes, indem sie die Geschichte der heidnischen Religiosität von vornherein mit politischen Repräsentationsbedürfnissen und kriegerischen Auseinandersetzungen in Zusammenhang bringen und dadurch in den Kontext politisch-militärischer Ereignisgeschichte einordnen. Damit wird gezielt ein (historischer) Themenkomplex (re)konstruiert, der auch die von kirchenpolitischen Konflikten geprägte Gegenwart der Leser zu reflektieren und entsprederlanden und Venedig. Quantitative und qualitative Studien, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 62 (2008), S. 1–105; Christian Klein/Lukas Werner : Pragmatik des Erzählens – der Paratext, in: Handbuch Erzählliteratur. Theorie, Analyse, Geschichte, hg. v. Matías Martínez, Stuttgart/Weimar 2011, S. 17–29, bes. S. 22–28. 27 Herold, Heydenweldt (s. Anm. 1), Titelblatt. Vgl. etwa den Titel von Sebastian Francks Germaniae chronicon (Augsburg 1538): »Von des gantzen Teutschlands aller Teutschen voelcker herkommen / Namen / Haendeln / Guten vnd boesen Thaten / Reden / Raethen / Kriegen / Sigen / Niderlagen / Stifftungen / Veraenderungen der Sitze / Reich / Laender / Religion / Gesatze / Policei / Spraach / Voelcker vnd sitten […] Ankunfft vnnd Stifftung der Reich / Bistump / Fürstenthumb / Herschafftenn / Stett / Cloester vnd Stifft […] Auß glaubwirdigen angenommen / Geschichtschreibernn / zuo ruck diß blats verzeichenet / zuosamen getragen […].« Als Leitthemen der humanistischen Chronistik und Geschichtsschreibung hat Ulrich Muhlack neben der politisch-militärischen Ereignisgeschichte die »Geschichte der Zustände, Institutionen, Kulturerscheinungen« identifiziert. Der letzteren rechnet er sowohl die profane Religions- und Kirchengeschichte als auch die Landeskunde, die Rechts- und Verfassungsgeschichte, die Kunst- und Literaturgeschichte sowie die Zivilisationsgeschichte zu. Ulrich Muhlack: Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus, München 1991, S. 199.
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Abb. 1: Heydenweldt vnd irer Goetter anfaengcklicher vrsprung etc. Basel: Heinrich Petri 1554, Universitätsbibliothek Heidelberg, Sign. C 1588 Folio. RES, Titelblatt
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chende Einsichten zu gewinnen erlaubt: Der »Christlich leser«, so heißt es denn auch im letzten Absatz des Titelblatts, möge aus dem Gelesenen »ergründen / waraus von ye waeldten haer im glauben vnd des gleichen wichtigen sachen / sich mishellung / aus der selben zwytracht ein reysse.«28 Der prinzipielle Anspruch auf die Lehrhaftigkeit der Geschichte, der von der Historiographie in erster Linie verlangte, den Rezipienten einen möglichst umfangreichen Schatz an verwertbaren exempla zur Verfügung zu stellen, galt unter humanistischen Geschichtsschreibern als ausgemacht.29 Auf dem Titelblatt der Heydenweldt wird dieses Denkschema aktualisiert, um die Inhalte des Kompendiums konsequent in den Horizont eines als Sammlung von Handlungsund Orientierungsmustern verstandenen ›historischen Wissens‹ zu rücken: Nicht nur die religiös begründeten »zaenck / krieg vnd bluotvergiessen«, sondern auch die »viln vnglaeublich geachten gschichten / sitten / rechten vnnd gepraeuchen«30, die Diodor dem Titelblatt der Heydenweldt zufolge in seiner Bibliotheca historica überliefert, werden als eine solche ›historische‹ Wissensform ettiketiert und sind in diesem Sinne als Lehrstücke zu verstehen, die der Unterweisung des Lesers dienen sollen.31 Auch der Titelholzschnitt folgt einem solchen ›historisch-exemplarischen‹ Register (Abbildung 2).32 Er zeigt zwei in eine handfeste Rauferei verwickelte, 28 Herold, Heydenweldt (s. Anm. 1), Titelblatt. 29 »Dem gegen die Ungewißheiten der Praxis sich wappnenden Leser galt es historische Exempla für die richtige Urteilsbildung (consilia), für die wohlgeformte Rede (dicta) und für moralisch gute Taten (facta) zu liefern.« Harth, Geschichtsschreibung (s. Anm. 40), Sp. 851. Vgl. ferner Muhlack, Geschichtswissenschaft (s. Anm. 42), S. 44–66. Zu den epistemologischen Voraussetzungen dieses frühneuzeitlichen Verständnisses von ›Historie‹, die sich als Vorform des neuzeitlichen Konzepts der Empirie begreifen lässt, vgl. Wilhelm SchmidtBiggemann: Topica Universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft, Hamburg 1983 (Paradeigmata 1). 30 Herold, Heydenweldt (s. Anm. 1), Titelblatt. e 31 Selbst der epistemologisch auf reine »verwahnungen« reduzierte heidnische Götterglaube wird in dieses Schema eingebunden: Ihm könne der christliche Leser »die guotthat Gottes / gegen jme als dem recht vnderwyßnen« entnehmen und außerdem erkennen, »wie jaemerlich Natürliche witz / on erleuchtung Goettlicher weyßheit verblaendet werde«. Herold, Heydenweldt (s. Anm. 1), Titelblatt. 32 Von dem Schweizer Goldschmied und Formschneider Heinrich Holtzmüller ursprünglich für die dritte, 1550 bei Heinrich Petri in Basel gedruckte Auflage von Sebastian Münsters Cosmographei geschnitten, hat dieser Holzstock in der Heydenweldt nicht nur für die Titelillustration, sondern auch zur Bebilderung der bei Diodor überlieferten Erzählung von der Usurpation des ägyptischen Herrscherthrones durch »Psamniticus« (Psammetich) Verwendung gefunden. Vgl. Herold, Heydenweldt (s. Anm. 1), Diodorus, S. 46 [Bl. D5v]. In der Cosmographei illustriert der Holzschnitt den Bericht von der Ermordung König Adolfs von Nassau durch Herzog Albrecht von Habsburg 1298 in der Schlacht bei Gillenheim (Göllheim). Vgl. Sebastian Münster : Cosmographei oder beschreibung aller laender etc. Basel: Heinrich Petri 1550 (VD 16 M 6693), S. 592 (Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek München, Signatur Res/2 Geo.u. 48). Zu Holtzmüller vgl. Hans Koegler : Holtzmüller,
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aristokratisch gekleidete männliche Figuren – eine Szene, die im Kontext des Titelblatts zweifellos die »mishellung« und »zwytracht« illustrieren soll, die sich bevorzugt aus Glaubensgründen unter den Menschen immer wieder erheben. Gleichzeitig ist das Geschehen jedoch in eine theatrale Architektur versetzt: Die beiden Figuren scheinen auf den Planken einer Theaterbühne zu stehen, die rechts und links von zwei steinernen Arkaden, im Bildmittelgrund von einer halbhohen Mauer begrenzt wird. So gesehen, setzt der Holzschnitt eine für die didaktisch-pragmatische Geschichtskonzeption des Humanismus zentrale Metapher ins Bild: nämlich die der »Geschichte […] als lehrreiches Theaterstück«33. Sie bietet der frühneuzeitlichen Historiographie einen epistemologischen Rahmen, innerhalb dessen sich das überlieferte Material »als Sammlung von moralisch wertvollen und belehrenden ›Szenen‹«34 – und damit als Wissen – begreifen lässt. Dass Herold den Anspruch der frühneuzeitlichen Historiographie, dem Publikum ethisch-praktisches Orientierungswissen an die Hand zu geben, tatsächlich nutzt, um der Heydenweldt bei den volkssprachigen Lesern Geltung zu verschaffen, zeigt sich besonders deutlich im Widmungsschreiben an den »Edlen Vesten / Georgen von Staetten«35. Den narrativen Rahmen dieser Widmung bildet eine angeblich zehn Jahre zurückliegende Gesprächssituation bei Tisch: Wie gewöhnlich habe Georg von Stetten damals während des Essens – bei dem offenbar auch Herold selbst zugegen war – über die besonders ruhmvollen Autoren sakraler und profaner Geschichtsbücher gesprochen und dabei insbesondere Diodorus Siculus hervorgehoben. Dieser vermittle in seinen Schriften »nit allein herliche thaaten der alten«, sondern liefere darüber hinaus »ehrliche billiche satzungen« und lasse dabei ein derart starkes Interesse an sittlichem Verhalten erkennen,
Heinrich, in: Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart, begr. v. Ulrich Thieme/Felix Becker, hg. v. Hans Vollmer, Bd. 17, Leipzig 1924, S. 409– 411. Identifizieren lässt sich Holtzmüller aufgrund seines Monogramms, vgl. dazu Georg Kaspar Nagler: Die Monogrammisten, 2., unveränderte Auflage, Nieuwkoop 1966, Bd. 3, Nr. 1041 [1022]. 33 Markus Friedrich: Das Buch als Theater. Überlegungen zu Signifikanz und Dimensionen der Theatrum-Metapher als frühneuzeitlichem Buchtitel, in: Wissenssicherung, Wissensordnung und Wissensverarbeitung. Das europäische Modell der Enzyklopädie, hg. v. Theo Stammen/Wolfgang E. J. Weber, Berlin 2004 (Colloquia Augustana 18), S. 205–232, S. 212. Zum Zusammenhang zwischen der Metapher von der ›Weltgeschichte als Bühne‹ und der Entwicklung der Bühnenform von der Simultan- zur Sukzessionsbühne im 16. Jh. vgl. auch Ulrike Haß: Das Drama des Sehens. Auge, Blick und Bühnenform, München 2005, S. 172–187 u. 201–217. 34 Friedrich, Buch als Theater (s. Anm. 47), S. 211. 35 Herold, Heydenweldt (s. Anm. 1), Widmungsschreiben, Bl. ijr.
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Abb. 2: Heydenweldt vnd irer Goetter anfaengcklicher vrsprung etc. Basel: Heinrich Petri 1554, Universitätsbibliothek Heidelberg, Sign. C 1588 Folio. RES, Titelblatt (Detail)
»das sich gleich zuouerwundern / wo doch disen voelckern / die vnwissend Goettlichs beuelchs / soelliche saenliche neygung zum guotten haerkommen / mit dergleichen glaste / dz auch ein Christ durch das Gsatz Mose / durch die frey leer vnsers Erloesers vnderwisen / bei jhenen ersaehen khuendte / wo ye mannheyt / tugent vnd billicheit jr volg gfunden / das doselbst der gwalt auffgangen / die wolfhart der Reich Staett vnd Staenden in verharrung plyben.«36
Herold zieht in diesem Absatz, der den von ihm selbst angestrebten Wissenstransfer narrativ vorwegnimmt, zwar einerseits eine deutliche Grenze zwischen der in Altem und Neuem Testament niedergelegten Heilsgeschichte und den von Diodor überlieferten profanen Geschichten der heidnischen Völker, »die vnwissend Goettlichs beuelchs«. Er stellt die letzteren jedoch als historische Exempel weltlicher »mannheyt / tugent vnd billicheit« dar, die auch für die Lebensgestaltung der Christen, denen der göttliche Heilsplan ja offenbart worden ist, von einigem Nutzen sind, nämlich insbesondere für die Stabilisierung von Herrschaft und die Aufrechterhaltung des allgemeinen Wohlstands. Auf diese Weise erscheint das in der Heydenweldt versammelte Material von vornherein in einem spezifischen Licht: Das Publikum liest es nun tendenziell mit Blick auf die einzelnen exemplarischen Ereigniszusammenhänge – und das
36 Herold, Heydenweldt (s. Anm. 1), Widmungsschreiben, Bl. ijr.
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heißt: die ›historischen‹ Wissenselemente –, die sich von ihm (angeblich) erwarten lassen.37 Dem exemplarischen Geltungsanspruch der profanen Geschichten kommt ferner die Autorität des patrizischen Widmungsadressaten Georg von Stetten zugute, dem die oben zitierte Aussage in den Mund gelegt ist. Von Stetten firmiert im Widmungsschreiben nicht nur als derjenige, der die Arbeit an der Heydenweldt durch seinen Hinweis auf Diodorus überhaupt erst angeregt und Herold finanziell gefördert hat, sondern auch als Richter, der das Geleistete bewerten und das Kompendium durch sein kundiges »vrtl […] auffmutzen« soll.38 Denn welcher Leser, so heißt es zur Begründung, »wolt das nit für nutz vnd guot achten / das Herr Georg von Staetten / als dem Gmeynen nutz fruchtpar vnd fürstaendig haltet?«39 Die Eignung von Stettens als Richter des Buchprojekts ergibt sich dabei nicht etwa aus besonderen philologischen Kompetenzen, sondern wird darauf zurückgeführt, dass er Sittlichkeit und Gemeinnutz – mithin gerade jene Tugenden, die das Widmungsschreiben den Lesern als ethischen Mehrwert der Lektüre anpreist – als Prinzipien der eigenen Lebenspraxis verinnerlicht und dies durch seine Biographie, namentlich auf seiner Kavalierstour sowie als Ratsherr und Förderer des Gemeinwohls in Augsburg, bereits unter Beweis gestellt habe.40 Der Widmungsadressat figuriert damit in eigener Person als lebendiges Exempel nicht nur »aller ehrlustlichen züchtigen maessigkeit«, sondern auch »aller von Gott Natur vnd Ehren zuowissen nothwendigen / lustigen vnd nutzlichen fragen«41. Das zu vermittelnde Wissen erscheint somit in erster Linie als ein Element der Praxis: Seinen Status als ›historisches‹ Wissen behauptet es gerade aufgrund seiner – vom Widmungsadressaten exemplarisch unter Beweis gestellten – didaktischen Verwendbarkeit und praktischen Relevanz. Die Vorrede an den »Christlichen künstliebenden Leser« schließlich greift die ›historisierenden‹ Tendenzen von Titelblatt und Widmungsschreiben auf, gibt ihnen jedoch eine spezifische Wendung: Im Vordergrund steht hier nicht mehr das Denkmuster des (historischen) Exempels, sondern die Argumentationsfigur
37 Wie noch zu sehen sein wird, findet die intendierte Rezeptionshaltung ihre Entsprechung zum Teil in der strukturellen Präsentation der Texte selbst. 38 Herold, Heydenweldt (s. Anm. 1), Widmungsschreiben, Bl. ijv. 39 Herold, Heydenweldt (s. Anm. 1), Widmungsschreiben, Bl. ijv. 40 »Jr aber der selben Statt [i. e. Augsburg, FJN] ja ein soellicher Burger / der […] sein jugent in allen Adelichen yebungen / mit durchreysung viler Künigreichen / an Hoeven der hoechsten Fürsten zuobracht / im Vatterland hernach / als ein hohverstaendiger den Gmeinen nutz / im Rath / auch etwa mit der thaat vnd für gespanntem vermoegen […] mit trewen vnd liebe gneigt / dienstwillig vnd fürderlich befunden.«Vgl. Herold, Heydenweldt (s. Anm. 1), Widmungsschreiben, Bl. ijv. 41 Herold, Heydenweldt (s. Anm. 1), Widmungsschreiben, Bl. ijv.
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der Genealogie, resp. der translatio artium.42 Ihren Ausgang nimmt die Vorrede zunächst von dem Problem der Idolatrie, das mit den »Heydnischen Goettern« scheinbar zwangsläufig verknüpft ist. Signifikanterweise wird dieses Problem jedoch nicht im Hinblick auf unverrückbar ›heidnische‹ Merkmale des Gegenstands, sondern als eine Frage des Bildungshorizonts der Rezipienten und damit der variablen Wahrnehmung des Gegenstands behandelt: Während die »inn vilen spraachen erüebten glerten mentschen« Herolds Unternehmen entweder Lob zollen, es mindestens aber »on anstoß« zur Kenntnis nehmen würden, müssten die »Gmeinen Teütschen« zuvor in aller Deutlichkeit der christlichen Orthodoxie des Verfassers versichert werden.43 Das geschieht durch eine ausführliche Rekapitulation des christlichen Glaubensbekenntnisses, an die sich ein Verweis auf die Autorität frühchristlicher Apologeten (Augustinus, Arnobius, Clemens Alexandrinus u. a.) anschließt, die den heidnischen Aberglauben in ihren Schriften bereits vollständig »ernider gehawen« und »außgereüthet« hätten.44 Theologisch wird so dem heidnischen Gehalt der Heydenweldt auf Basis einer dogmatischen Argumentation die Geltung entzogen: in Fragen des religiösen Glaubens repräsentiert allein das Christentum die »waarheyt«. Als Wissen gelten kann das präsentierte Material jedoch – wie es der Beginn der Vorrede ja bereits angedeutet hatte –, wenn man es aus einer anderen Perspektive wahrnimmt und die theologische Unwahrheit der heidnischen Überlieferung zugleich als Beweis ihrer rein profanen Bedeutsamkeit versteht: Zweck des Unternehmens, so heißt es im weiteren Verlauf der Vorrede, sei es nicht, eine theologische Kontroverse auszutragen, sondern dem deutschsprachigen Publikum die Aneignung von »Welt weyßheit« zu ermöglichen.45 Die theologische Diskreditierung des antiquarischen Materials verfolgt also keine apologetischen Ziele, sondern dient seiner Überführung in eine andere Wissensordnung, die Tradition der säkularen »Welt weyßheit«: Als solche verkörpert es eine ebenso natürliche wie nützliche »zuogaab von Gott« und ist deshalb auch ohne Schwierigkeiten in den übergeordneten Rahmen der Heilsgeschichte redintegrierbar. Soll bereits die Rückbindung an den göttlichen Heilsplan der heidnischen Überlieferung Geltung im Sinne eines historischen Wissens verschaffen, so wird 42 Vgl. dazu Franz Josef Worstbrock: Translatio artium. Über die Herkunft und Entwicklung einer kulturhistorischen Theorie, in: Archiv für Kulturgeschichte 47 (1965), S. 1–22; Florian Neumann: Tradition, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Hg. v. Gert Ueding, Bd. 9, Tübingen 2009, Sp. 732–741. 43 Herold, Heydenweldt (s. Anm. 1), Vorrede, Bl. iijr. Herold folgt mit dieser Äußerung einem zentralen Grundsatz der ars rhetorica, demzufolge die rhetorischen Strategien und Stilmittel stets auf das gegebene bzw. intendierte Publikum abzustimmen sind. 44 Vgl. Herold, Heydenweldt (s. Anm. 1), Vorrede, Bl. Iijr/v. 45 Vgl. Herold, Heydenweldt (s. Anm. 1), Vorrede, Bl. iijv.
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diese in der Vorrede zusätzlich durch die Argumentationsfigur der translatio generiert. Die Weltweisheit, die Herold den Lesern verfügbar zu machen verspricht, wird genealogisch an ihre Ursprünge bei den vorbildlichen Kulturvölkern der Antike, den Ägyptern, Griechen und Römern rückgebunden, die das zivilisatorische Erbe sukzessive voneinander übernommen und dabei stets »vmb vil gmhoert […] vnd vmb ein groß gebessert«46 hätten. Dieser Prozess fortlaufender Aneignung und Überbietung findet seine zeitgenössische Ausprägung laut Vorrede schließlich bei den »Italiern«, die sich insbesondere darum gesorgt hätten, »wie sye die [d. i. die Weltweisheit, FJN] auff dz hoechst praechtend«.47 Dem Fluchtpunkt im italienischen Humanismus entsprechend spielt das Mittelalter in dieser ›Fortschrittsgeschichte‹ des menschlichen Wissens keine Rolle: Die Reihe der Autoritäten, auf die Herold sich zur Legitimierung seines Projekts beruft, springt von »Plato« und »Cicero« als paradigmatischen Vertretern der Antike direkt zu »Bembus« (Pietro Bembo) als einem Repräsentanten humanistischer Bildung. Dieser Translations- und Aemulations-Gedanke fügt dem Verfahren der ›Historisierung‹ noch eine weitere, für die epistemische Geltung des präsentierten Materials mitentscheidende Dimension hinzu: Er situiert die Anfänge des nun auch in deutscher Sprache vermittelten Wissens in der Antike, d. h. in einem für alle humanistischen Wissensansprüche zentralen historischen Raum. Dass damit neben die ›große Erzählung‹ der translatio artium, die den Umweg über die »Italier« zu nehmen gezwungen ist, auch eine räumliche Komponente tritt, in der sich die (deutsche) Gegenwart mit der Antike unmittelbar kurzschließen lässt, wird in der Vorrede an den Leser durch zweierlei deutlich: Erstens inseriert Herold in sein spezielles Bekenntnis zu der in Basel seinerzeit gültigen lutherischen Konfession in Parenthese eine kurze, assertorisch formulierte Bemerkung über die antike Gründung Basels durch einen gewissen »T. Minutius Basillus«.48 Und zweitens lässt er sein Lob der wissensvermittelnden Fähigkeiten der deutschen Sprache, mit der die Vorrede an den Leser schließt, in eine von ihm selbst 46 Herold, Heydenweldt (s. Anm. 1), Vorrede, Bl. iijv. 47 Herold, Heydenweldt (s. Anm. 1), Vorrede, Bl. iijv. 48 Versuche, neben dem wenige Kilometer östlich von Basel gelegenen Städtchen Augst (Augusta Raurica) auch Basel selbst auf eine antik-römische Gründung zurückzuführen, wurden im 16. Jahrhundert etwa von Beatus Rhenanus unternommen, der den römischen Feldherrn Munatius Plancus zum Stadtgründer erklärte. Vgl. dazu Felix Mundt: Beatus Rhenanus: Rerum Germanicarum libri tres (1531). Ausgabe, Übersetzung, Studien, Tübingen 2008 (Frühe Neuzeit 127), S. 324–336. Eine Zusammenstellung zeitgenössischer Basler Ursprungstheorien bietet Christian Wurstisen in seiner Baßler Chronik (Basel 1580). Ebd., S. 79, heißt es kritisch zu der von Herold aufgestellten Behauptung: »Die ihren Namen von Tito Minutio Basillo harfuehren / als Johan Herold […] denen wurd ich leichtlich beyfahl thuon / wann sie jhres vermuotens Historischen Grund wüßten. Da sie aber des selbigen mangelbar / stell ichs zuo ruck.«
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angefertigte Probeübersetzung des Martial-Epigramms vitam quae faciant beatiorem münden, die nicht nur die (sprachlichen und insbesondere metrischen) Möglichkeiten des Deutschen, sondern auch die direkte Übertragbarkeit von in der Antike verbindlich formulierten ethisch-praktischen Orientierungsmustern als gültigem Wissen auf die Gegenwart des volkssprachigen Publikums demonstrieren soll.49
IV.
»[A]lle lhermoeglichen vnd zuo wissen würdige künsten«50 : Geltung durch epistemische Transformation in Herolds Bearbeitung der De deis gentium historia
Wie gezeigt, werden antike Mythologie und pagane Religion in den Paratexten der Heydenweldt recht konsequent dem Feld frühneuzeitlicher Historie eingeschrieben und auf diese Weise selbst zu Lieferanten erinnerungswürdiger Personen, Vorgänge und Geschehnisse, zum topisch-rhetorischen Inventionsbereich von – im frühneuzeitlichen Sinne – ›historischem Wissen‹.51 Auf den ersten Blick scheint das Kompendium diese programmatische paratextuelle Geltungsstrategie jedoch kaum zu reflektieren: Vielmehr scheint es, als sei die Heydenweldt nicht mehr als eine Kompilation von vier disparaten Textvorlagen zum Thema der antik-heidnischen Religions- und Kulturgeschichte, die – mehr schlecht als recht – in die Volkssprache übertragen wurden. Bei genauerem Hinsehen lassen sich allerdings auch an den bearbeiteten Texten selbst einige signifikante Transformationen beobachten, die in erster Linie struktureller Natur sind und vor allem in der Selektion und Neuordnung des präsentierten Materials bestehen. Erkennbar wird anhand solcher Adaptationen das Bemühen, Anschluss an im volkssprachigen Kontext gültige Wissensformen und -bestände zu gewinnen und diese als epistemische Geltungsgrundlagen für den prekären, ›heidnischen‹ Gehalt zu nutzen. Dies sei im Folgenden exemplarisch an dem unter wissensgeschichtlichen Gesichtspunkten wohl am meisten legitimationsbedürftigen Text der Sammlung 49 Vgl. Herold, Heydenweldt (s. Anm. 1), Vorrede, Bl. iiijr : »Ists aber das du der Griechen vnd Latiner Sprechen / das sie Poesim nennend / als ein stuck / das jnen nit nach zethuon achtest / waere bald gescheen / das man hoppende vnd jr auff vil schlaeg springende maerlin ersatzte. Dessen zum beyspil / ich dir Martialis Wolleben / von mir verteütscht hie her setzen will.« 50 Herold, Heydenweldt (s. Anm. 1), Vorrede, Bl. iiijr. 51 In diesem Sinne hat etwa der Nürnberger Dichter und Meistersinger Hans Sachs die Heydenweldt in den späten 1550er Jahren ausgewertet. So verfasste er im Mai 1559 in rascher Folge eine Reihe exemplarischer ›Historien‹, die auf Episoden aus Diodoros’ Bibliotheca historica in der Übertragung Herolds zurückgehen. Vgl. Wilhelm Abele: Die antiken Quellen des Hans Sachs, Bd. 1, Cannstatt 1897, S. 15–20.
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illustriert, nämlich der Bearbeitung von Giraldis De deis gentium historia. Sie steht in den erhaltenen Drucken fast durchweg an erster Stelle des Kompendiums und bildet gemeinsam mit der Adaptation von Diodors Bibliotheca historica auch quantitativ den Schwerpunkt der Heydenweldt.52 Insbesondere an Giraldis Historia lässt sich zeigen, dass Herold seine Textvorlagen nicht nur übersetzt, sondern konsequent (neu) bearbeitet hat: er kürzt, fügt hinzu, stellt um, bringt den Stoff in eine von der Vorlage weitgehend unabhängige Ordnung und sucht ihn auf diese Weise in die den volkssprachigen Lesern vertraute Wissenssystematik zu integrieren. Die Notwendigkeit solcher Transformationen ergibt sich dabei nicht allein aus religiösen Gründen, sondern scheint auch vor dem Hintergrund der Differenz zwischen lateinischer Gelehrten- und volkssprachiger ›Populärkultur‹ geboten: Schließlich wendet sich Herold, wie gesehen, weniger an ein gelehrtes Publikum als an den »Gmeinen Teütschen«53, dem die epistemische Qualität der Heydenweldt allererst vermittelt werden muss. Denn tatsächlich sieht sich Herold vor das Problem gestellt, dass die antiquarische Perspektive auf die antik-heidnische Religion, wie sie sich mit Giraldis philologisch-kritischer ›Göttergeschichte‹ in der humanistischen Gelehrtenkultur des 16. Jahrhunderts abzuzeichnen beginnt,54 in der volkssprachigen Wissenskultur noch keine Parallele und entsprechend auch keine unmittelbare epistemische Geltung bei den volkssprachigen Rezipienten hat. Herold ist deshalb gezwungen, für seine Bearbeitung der De deis gentium historia und in diesem Zusammenhang für die Beschäftigung mit der paganen Götterwelt andere als ›rein‹ antiquarische Kriterien geltend zu machen.55 Eine Schlüsselrolle spielen dabei jene Veränderungen am Material, die ich als epistemische Transformationen bezeichnen möchte: es handelt sich um mal mehr, mal weniger explizite Eingriffe in den Vorlagentext, die allesamt von dem Versuch zeugen, 52 In den von mir eingesehenen Drucken (München, BSB; Heidelberg, UB; Wolfenbüttel, HAB; Berlin, SBB) überwiegt eine Gliederung, die auch den Angaben des Titelblatts entspricht: Auf Giraldis Historia und Diodors Bibliotheca historica folgen Dictys’ Trojabericht sowie Horapollos Hieroglyphica. Lediglich im Wolfenbütteler Exemplar wird die Sammlung nicht mit Giraldis Historia, sondern durch Diodor eröffnet. 53 Herold, Heydenweldt (s. Anm. 1), Vorrede, Bl. iijr. 54 Vgl. dazu Enenkel, Making of Mythography (s. Anm. 18), S. 21: »Giraldi’s work on mythology is […] one of the forerunners of the Realencyclopädie des classischen Alterthums.« Enenkel attestiert Giraldi außerdem (ebd., S. 18) »a genuine and deep interest in antiquity as such«. Er habe ein Handbuch schreiben wollen für »people with an outspoken interest in Greek and Roman literature« (ebd., S. 22). 55 Das gilt umso mehr, als Herold zumindest eine Mitverfasserschaft an dem Göttertraktat der Heydenweldt zu beanspruchen scheint: Diese Schrift ist der einzige Text des Kompendiums, der nicht bereits im Titel auf einen fremden Autor (und damit eine personale Autorität) zurückgeführt wird, sich also auch nicht als Übertragung zu erkennen gibt. Lediglich in der Vorrede an den Leser merkt Herold an, er habe sich soweit wie möglich an Giraldi orientiert. Vgl. Herold, Heydenweldt (s. Anm. 1), Vorrede, Bl. iijr.
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Giraldis Geschichte der paganen Religiosität zu einem volkssprachigen Kompendium universellen ›historischen‹ Wissens56 von der Antike auszubauen. Beobachten lässt sich dies, wie im Folgenden zu zeigen ist, sowohl an der makrowie mikrostrukturellen Neuordnung und Umformung des ursprünglichen Inhalts als auch an den zahlreichen Exkursen, durch die Herold zusätzliche Wissensbestände in seine Textvorlage implementiert. Was den Aspekt der makrostrukturellen Neuordnung des in der Historia versammelten Materials betrifft, so hält Herold zwar grundsätzlich an dem von Giraldi vorgegebenen und seit Pietro Giacomo Montefalcos De cognominibus deorum opusculum (Perugia 1525)57 zum bevorzugten Strukturmodell der ›Paganologie‹58 des 16. Jahrhunderts avancierten Organisationsschema fest: Ausgehend von jeweils einem übergeordneten Götternamen werden die dieser Gottheit zugehörigen lateinischen Eponyme gesammelt, mit einer deutschen Übersetzung versehen und erläutert, wobei diese Erläuterungen im Umfang zwischen wenigen Sätzen und mehreren Buchseiten schwanken können.59 Doch nicht nur werden die Eponyme in Herolds Adaptation der besseren Übersichtlichkeit halber typographisch hervorgehoben und vom restlichen Fließtext abgesetzt, bekommen also explizit die Funktion lexikalischer Lemmata, durch die den Rezipienten die Auffindung des gesuchten Wissensstoffes erheblich erleichtert wird;60 mehr noch weicht Herold von Giraldis eher losem Ordnungs56 Mit ›historischem‹ Wissen ist hier Wissen im Verstand des humanistischen Konzepts der historia, d. h. ›Erfahrungswissen‹ im umfassendsten Sinne gemeint. Vgl. dazu o. Anm. 24. 57 Vgl. PETRI j IACOBI MONTI j FALCHII DE j COGNOMINI j BVS DEORVM j OPVSCVLVM. Perugia: Girolamo Cartolari 1525. 58 Vgl. zu diesem – allerdings für das 17. Jh. vorgeschlagenen – wissenschaftshistorischen Begriff Jan Assmann: Herrschaft und Heil. Politische Theologie in Altägypten, Israel und Europa. Frankfurt/Main 2002. Von ›Paganologie‹ auch im Hinblick auf die einschlägigen Traktate des 16. Jahrhunderts zu sprechen, die sich mit der paganen Götterwelt beschäftigen, halte ich schon deshalb für angemessen, weil die zentrale Differenz, die diese Auseinandersetzung determiniert, diejenige zwischen – als wahr gesetztem – christlichem Monotheismus und – als falsch behaupteten – nicht-christlichen Polytheismen ist. 59 Die übergeordneten Götternamen lassen sich dabei als die Loci der frühneuzeitlichen ›Paganologie‹ im Sinne der Topik verstehen: sie dienen als Leitbegriffe, mit denen sich die gigantische Menge der in der antiken Literatur überlieferten Aussagen über einzelne Götter ordnen lässt. So gesehen, liegt die Reduktion auf eine einigermaßen überschaubare Zahl solcher Götter-Loci, wie sie bei Herold und, weniger systematisch, auch bei Giraldi zu beobachten ist, nahe. Enenkel, Making of Mythography (s. Anm. 18), S. 21, weist darauf hin, dass Giraldi die wichtigsten griechisch-römischen Gottheiten als »framework for the description of other religions« nutze. 60 Eine ähnliche Funktion haben die Eponyme, wie Enenkel, Making of Mythography (s. Anm. 18), S. 27, zu Recht anmerkt, schon bei Giraldi: »In Giraldi’s anthology, the cognomina of the gods of classical antiquity function as major heuristic keys.«. Erst in der Heydenweldt ist diese heuristische Funktion jedoch auch druckbildlich realisiert worden. Dafür, dass Herold und Petri den Eponymen eine wichtige Rolle bei der Texterschließung zuerkennen, spricht noch ein weiterer Umstand: Jedes einzelne Götter-Kapitel beginnt mit einer Tabelle,
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prinzip einzelner, als Syntagmata bezeichneter Abschnitte, die thematisch zusammengehörige Gottheiten behandeln,61 zugunsten einer systematischeren Struktur ab, wie sie zur Gliederung der paganen Götterwelt im 16. Jahrhundert zuerst von Julien de Havrech in seinem Traktat De cognominibus deorum gentilium (Antwerpen 1541) genutzt worden war.62 Aus der unüberschaubaren Vielzahl der heidnischen Götter werden dabei nach einem auf Marcus Terentius Varros Antiquitates zurückgehenden, durch Augustinus in De civitate Dei überlieferten Klassifikationsschema zwanzig Gottheiten herausgegriffen: die zwölf olympischen Götter – in der interpretatio Romana, d. h. mit ihren lateinischen Namen – als Dei consentes sowie acht sogenannte Dei selecti (Saturn, Bacchus, Sol, Ianus, Pluto, Luna, Tellus, Genius).63 Mit diesem Selektionsprozess geht eine erste epistemische Transformation einher. Denn die so konstituierte Auswahl von zwanzig griechisch-römischen Hauptgöttinnen und -göttern erlaubt es Herold, die heidnischen Idole in das auch während der Frühen Neuzeit noch lange als selbstverständlicher Teil der artes und scientiae anerkannte astrologische Wissensfeld einzugliedern.64 So wird etwa die Zwölfzahl der olympischen Gottheiten traditionell auf die Anzahl der Monate im Jahreszyklus und damit auf die zwölf Zeichen des Zodiakus
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in der sämtliche im Text behandelten Beinamen der jeweiligen Gottheit noch einmal gesondert aufgelistet werden. So behandelt Giraldi etwa im dritten Syntagma nach der Göttin Juno die Götter Hymenaeus und Thalassus und begründet dies damit, dass auch diese Götter, ähnlich wie Juno, als Hochzeitsgötter angerufen worden seien. Zum buchgeschichtlichen Terminus des ›Syntagmas‹, den Giraldi wohl deshalb für die einzelnen Abschnitte seines Werkes verwendet, um deren enzyklopädischen Anspruch und Kompendiencharakter herauszustellen, vgl. Günther Pflug: Syntagma, in: Lexikon des gesamten Buchwesens. 2., völlig neu bearbeitete Auflage, hg. v. Severin Corsten/Stephan Füssel/Günther Pflug, Bd. VII, Stuttgart 2007, S. 323. Vgl. zu de Havrech und seinem Verhältnis zu Giraldi Enenkel, Making of Mythography (s. Anm. 18). De Havrechs Traktat wurde 1543, zusammen mit zwei antiken mythographischen Texten, Palaiphatos’ De non credendis fabulosis narrationibus und Cornutus’ De natura deorum gentilium, in Basel bei Johann Oporinus nachgedruckt (VD 16 H 800). Im Basler Druck von de Havrechs Traktat (s. Anm. 62) findet sich diese Einteilung auf S. 178f. Dort wird sie allerdings direkt Augustinus zugeschrieben. Bei Varro fallen auch die olympischen Götter in die Gruppe der Dei selecti. Vgl. dazu Georg Wissowa: Die Varronischen di certi und incerti, in: Hermes 56 (1921), S. 113–130. Zum römischen Umgang mit den zwölf Olympischen vgl. Charlotte R. Long: The Twelve Gods of Greece and Rome, Leiden 1987 (Ptudes pr8liminaires aux religions orientales dans l’Empire romaine 107), S. 232–330. Vgl. dazu neuerdings Brendan Dooley : Astrology and Science, in: A Companion to Astrology in the Renaissance, hg. v. Brendan Dooley, Leiden 2014 (Brill’s Companions to the Christian Tradition 49), S. 233–266, hier S. 233: »From the standpoint of many thinkers in the renaissance, astrology was not just ideology : it was science. It comprised a body of knowledge that fit the criteria of verification commonly accepted for confirming information and establishing certitude about the natural world. […] Its methods were the methods of all knowledge-gathering; one could say, it corresponded to the cognitive ›style‹ of the time.«
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bezogen, die in der astrologischen Überlieferung zugleich humoralpathologische Bedeutung haben und einzelnen Gliedmaßen und Organen des menschlichen Körpers zugeordnet sind (Melothesie).65 Viel wichtiger ist freilich die Tatsache, dass sich unter den von Herold herausgegriffenen Gottheiten auch die sieben sogenannten ›Planetengötter‹ befinden – diejenigen Götter also, die bereits in der Antike als Gestirnsgottheiten verehrt und in der mittelalterlichen bzw. frühneuzeitlichen Astrologie mit den sieben ›Planeten‹ Saturn, Jupiter, Mars, Sol, Venus, Merkur und Luna identifiziert wurden, von denen man annahm, dass sie auf ihren Sphären um den ›sublunaren‹ Bereich kreisten.66 Besondere Bedeutung kam dabei der astrologischen Prämisse zu, dass die Planeten als ›Zeitherrscher‹ ihren – guten oder schlechten – Einfluss auf Jahre, Tage und Stunden geltend machten:67 Auf diese Weise konnten die antiken Gestirnsgottheiten samt den ihnen zugeschriebenen Eigenschaften und Machtbereichen problemlos in die christliche Kosmologie integriert werden. Die zumindest im frühen 16. Jahrhundert nahezu uneingeschränkte Geltung dieses astrologischen Wissens, die sich gerade im volkssprachigen Bereich in einer schier endlosen Zahl an gedruckten Prognostika und Praktiken ausdrückt,68 sucht sich auch Herold in seiner Auseinandersetzung mit den Heydnischen Goettern zunutze zu machen: Schon auf dem Titelblatt wird das Kompendium mit der Bemerkung beworben, es enthalte »Planeten Tafeln /darinnen die / so in obermelten Goettern / an statt der siben vmbschweyffenden sternen benambset / nach dargeben der Sternenseher / was sie in
65 In der Heydenweldt lassen sich die entsprechenden Analogiebildungen einer eigens angefertigten Tabelle entnehmen, in der jede der zwölf olympischen Gottheiten u. a. mit einem Element, einem Monat, einem Tierkreiszeichen und einem Körperteil korreliert. Vgl. Herold, Heydenweldt (s. Anm. 1), Von Heydnischen Goettern, Bl. cijv. An dieser Stelle bleibt jedoch offen, ob es sich bei der Tabelle um ein Instrument astrologischen Wissens oder um die schematische Rekonstruktion paganen Irrglaubens handeln soll. 66 Dass solche astrologischen Korrelationen auch in gelehrten, lateinischen Göttertraktaten der Frühen Neuzeit eine Rolle spielen konnten, zeigt exemplarisch Georg Pictorius’ Theologia mythologica (Freiburg i. Br. 1532): Nach einem einleitenden Kapitel über Ianus folgen hier in der Ordnung des zeitgenössischen Sphärenmodells die sieben Planetengötter. Anschließend setzt Pictorius mit der – Makrokosmos und Mikrokosmos überblendenden – Bemerkung neu ein, diese Götter seien wahrhaft als die Säulen unseres Lebens zu bezeichnen, da die Planeten das irdische Dasein derart bestimmten, dass es enden müsste, sobald ihre Bewegung zum Stillstand käme. 67 Vgl. zu diesem Konzept konzis Markus Mueller : Beherrschte Zeit. Lebensorientierung und Zukunftsgestaltung durch Kalenderprognostik zwischen Antike und Neuzeit, Kassel 2009, S. 202–213. 68 Vgl. dazu das bibliographische Verzeichnis gedruckter Prophetien und Prognostika bei Jonathan Green: Printing and Prophecy. Prognostication and Media Change 1450–1550, Ann Arbor 2012 (Cultures of Knowledge in the Early Modern World), S. 155–203.
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gpurten der mentschen / jnn ahrtung vnd neygungen jres lebens würckend / was sie jnn witterung vnd erzeugung der früchten vermuegen / gantz kurtz für gestaelt würdt.«69
Diese astrologischen Diagramme, die in Giraldis Traktat keinerlei Entsprechung haben, sind in die den Plantengöttern gewidmeten Kapitel von Herolds Bearbeitung integriert worden und nehmen dort jeweils eine Doppelseite in Anspruch: Übersichtlich gegliedert werden dem Leser hier – offensichtlich zum konkreten Gebrauch – die vielfältigen Auswirkungen präsentiert, die die Planeten je nach Tageszeit und astrologischer Konstellation auf den Menschen und sein Handeln haben (Abbildung 3).70
Abb. 3: Heydenweldt vnd irer Goetter anfaengcklicher vrsprung etc. Basel: Heinrich Petri 1554, Universitätsbibliothek Heidelberg, Sign. C 1588 Folio. RES, Planetentafel des Jupiter (unpaginiert)
Im mikrostrukturellen Bereich lassen sich ebenfalls Eingriffe in die Ordnung und Präsentationsform des Vorlagentextes beobachten, die Konsequenzen für die 69 Herold, Heydenweldt (s. Anm. 1), Titelblatt. Es ist bemerkenswert, dass der planetarische Einfluss offenbar mit der gleichen Selbstverständlichkeit als gültig anerkannt wird, mit der Herold die Existenz und Macht der heidnischen Götter als bloße Einbildung zurückweist. 70 Vgl. exemplarisch Herold, Heydenweldt (s. Anm. 1), Von Heydnischen Goettern, Bl. kijvf.
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Epistemik der Heydenweldt haben. Ein besonders charakteristisches Beispiel sei dafür herausgegriffen: Innerhalb des Kapitels, das Herold dem wichtigsten der olympischen Götter, Jupiter, widmet, ist der Eintrag, der das Eponym ›Jupiter Capitolinus‹ – und damit den zentralen Kult der römischen Staatsreligion – behandelt, mit einer Gesamtlänge von knapp fünf Buchseiten nicht nur der bei weitem umfangreichste, sondern auch deutlich länger als bei Giraldi.71 Diese Erweiterung resultiert dabei nicht nur aus einer rein quantitativen Amplifikation des in der Historia unter dem gleichen Lemma versammelten Materials, sondern verdankt sich in erster Linie einer gegenüber den Ausführungen des italienischen Humanisten gänzlich veränderten Textpragmatik. Der »fanatic and pedantically precise philologist«72 Giraldi nämlich bietet seinen Rezipienten vor allem ein Verzeichnis von Aussagen antiker Autoritäten, die er entweder direkt zitiert oder auf die er pauschal verweist. Auf diese Weise ermöglicht er es dem gelehrten Leser, die lediglich knapp referierten Informationen zum ›Jupiter Capitolinus‹, die meist die Etymologie des Beinamens betreffen, durch einen Blick in die jeweiligen Texte, ggf. auch aus dem eigenen Gedächtnis zu ergänzen und zugleich als gültiges, schriftliterarisch verbürgtes Wissen zu verifizieren:73 Er kompiliert demnach, ganz im Sinne der gelehrten Wissenspraktiken der Frühen Neuzeit, ›Lesefrüchte‹ aus der antiken Überlieferung, die unter thematischen Leitbegriffen – hier den Eponymen der Götter – zusammengestellt werden.74 Herold dagegen ist besonders daran gelegen, den mit diesen ›Lesefrüchten‹ anzitierten ›historischen‹ Wissensstoff selbst narrativ zu aktualisieren: Er tilgt im Zuge seiner volkssprachigen Übertragung fast alle Verweise auf die antiken Autoritäten und ersetzt Giraldis kursorische Referate durch detaillierte Nacherzählungen jener Geschichten rund um den kapitolinischen Tempel, die bei antiken Schriftstellern wie Livius, Varro, Valerius Maximus, Plinius oder Plutarch – und zwar in durchaus wechselnden epistemischen Kontexten – überliefert sind. Darunter finden sich nicht nur diejenigen Geschichten, die Giraldi äußerst knapp oder an anderer Stelle erwähnt – etwa die u. a. in Plutarchs Vita des Valerius Publicola enthaltene Erzählung von der Weihe des kapitolini71 Vgl. Herold, Heydenweldt (s. Anm. 1), Von Heydnischen Goettern, Bl. eiijv-e6r. Bei Giraldi dagegen hat der Eintrag zum Eponym ›Jupiter Capitolinus‹ mit etwas über einer Buchseite eher einen durchschnittlichen Umfang. 72 Enenkel, Making of Mythography (s. Anm. 18), S. 18. 73 So fordert Giraldi seine Leser beispielsweise auf, selbst bei Tacitus nachzuschlagen, sofern sie bündige Informationen über die Geschichte des Kapitols wünschten. Der Name des antiken Geschichtsschreibers fungiert als ›Merkzeichen‹, mit dem das gesuchte Wissen verknüpft ist, und als Geltungsgrund dieses Wissens. 74 Vgl. dazu die Beiträge in Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit, hg. v. Helmut Zedelmaier/Martin Mulsow, Berlin/New York 2001 (Frühe Neuzeit 64) sowie Ann Moss: Printed Commonplace Books and the Structuring of Renaissance Thought, Oxford 1996, und Schmidt-Biggemann, Topica universalis (s. Anm. 29).
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schen Tempels durch M. Horatius Pulvillus75 oder die bei Varro nachzulesende Geschichte von dem menschlichen Kopf, den man beim Bau eines neuen Jupitertempels auf dem ehemals Mons Tarpeius genannten römischen Hügel gefunden und der – als Symbol der zukünftigen Weltherrschaft Roms gedeutet – dem Kapitol seinen Namen gegeben habe.76 Tatsächlich fügt Herold dem Lemma auch Berichte hinzu, die er offenbar selbständig aus den antiken Quellen, auf die Giraldi nur verweist, kompiliert hat: So entnimmt er etwa der Naturalis Historia des Plinius, auf die auch Giraldi im Zusammenhang mit dem von Tarquinius Priscus für den Tempel in Auftrag gegebenen Kultbild des Jupiter hinweist, die Information, Sulla habe eigens Marmorsäulen aus Athen für die prachtvolle Ausstattung der kapitolinischen Kultstätte herbeischaffen lassen.77 Offenkundig, so wird man aus diesen Beobachtungen folgern dürfen, geht es Herold vor allem um die Distribution von antik-›historischem‹ Stoff. Allerdings ist diese Stoffvermittlung beileibe kein Selbstzweck, sondern folgt dem frühneuzeitlichen Konzept der historia als einer für die moralische Entwicklung der Rezipienten und für die Schulung ihrer Urteilskraft unmittelbar relevanten Sammlung exemplarischer ›Merk-Würdigkeiten‹: Erinnert sei diesbezüglich noch einmal an die Ankündigung des Titelblatts der Heydenweldt, das Kompendium biete seinen Lesern Einblick in die religiös begründeten »zaenck / krieg vnd bluotvergiessen« sowie die »viln unglaeublich geachten gschichten / sitten / rechten vnnd gepraeuchen«78 des paganen Altertums. Epistemische Geltung beansprucht der verzeichnete Stoff der heidnischen Götterwelt also nicht, wie vorrangig bei Giraldi, im Rahmen philologischer Gelehrsamkeit bzw. auf der Grundlage der Autorität antiker Schriftsteller, sondern als Teil einer Sammlung 75 Giraldi referiert diese Geschichte unter dem Lemma ›Jupiter Optimus Maximus‹ und reduziert sie auf die Information, dass der kapitolinische Tempel, obwohl von Tarquinius Superbus vollendet, nicht von diesem, sondern vom Konsul M. Horatius Pulvillus geweiht worden sei. Herold hingegen nimmt sie darüber hinaus auch in den Eintrag zum ›Jupiter Capitolinus‹ auf und baut sie dort – vermutlich im Rückgriff auf Plutarch – narrativ aus: Horatius habe während der Tempelweihe Kenntnis vom Tod seines Sohnes erhalten, die kultische Handlung jedoch nicht unterbrochen, sondern lediglich geantwortet, es sei ihm gleichgültig, wohin man die Leiche werfe. Vgl. Herold, Heydenweldt (s. Anm.1), Von Heydnischen Goettern, Bl. eiiijv. Die gleiche Erzählung findet sich – als Exempel für Eltern, die um den Tod ihrer Kinder wenig bekümmert gewesen seien – auch bei Valerius Maximus. 76 Auch diese Geschichte, die bei Giraldi ebenfalls auf die etymologisch wesentlichen Informationen reduziert ist, wird von Herold ausführlich rekapituliert. Wo Giraldi lediglich jene Ereignisse heranzieht, die zum Verständnis der Wortgeschichte vonnöten sind, erzählt Herold detailliert – und zum Teil sogar im Modus direkter Figurenrede –, wie nach der Auffindung des Schädels eine Abordnung aus Rom in die Toskana entsandt worden sei, um den Vorfall von einem dortigen Seher deuten zu lassen: Dieser habe den Gesandten mitgeteilt, das gefundene Haupt deute auf die zukünftige Rolle Roms als Hauptstadt Italiens. Vgl. Herold, Heydenweldt (s. Anm. 1), Von Heydnischen Goettern, Bl. Eiiijr/v. 77 Vgl. Herold, Heydenweldt (s. Anm. 1), Von Heydnischen Goettern, Bl. e5v. 78 Herold, Heydenweldt (s. Anm. 1), Titelblatt.
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ebenso kurioser wie belehrender Geschichten aus der antiken Überlieferung, eines gleichsam ›polyhistorischen‹ Nachschlagewerks zur Antike, das sich an den bildungsbewussten Laien richtet.79 Ablesen lässt sich dies schließlich auch an den zahlreichen Exkursen, die Herolds Handbuch der Heydnischen Goetter gegenüber Giraldis Historia enthält. Sie sind durch entsprechende Formulierungen meist deutlich als Digressionen gekennzeichnet80 und führen zusätzliches ›historisches‹ Wissen in den Text ein, allen voran aus den Bereichen Naturkunde, Geographie und Sittengeschichte. Auch hier muss ein knappes Beispiel genügen: In den Abschnitt, der das Eponym ›Juno Novella‹81 erläutert, integriert Herold umfangreiche, fast fünfzehn Buchseiten füllende Ausführungen zur Berechnung von Zeit in der paganen Antike, die das antike Kalenderwesen, die Entwicklung der Zeitrechnung im Altertum sowie eine tabellarische Übersicht über die Periodisierung der Monate im antiken Rom umfassen.82 Auf diese Weise erweitert Herold nicht nur den materiellen Wissensfundus seines Kompendiums – ein Wissensfundus, den Giraldi offenbar meint, bei seinen gelehrten Lesern voraussetzen zu können –, sondern verändert zugleich den epistemischen Kontext, in dem der antik-heidnische 79 Dies wird besonders dort offenkundig, wo inhaltliche Zusätze Herolds den Kontext der antikheidnischen Religion eindeutig verlassen: So berichtet Herold im Eintrag zur ›Juno Pharygea‹ zunächst – und in Übereinstimmung mit Giraldi – davon, dass dieser Juno ein Tempel in der Stadt Pharygia (bei Giraldi: Pharygis) erbaut worden sei. Errichtet hätten ihn Bewohner von Argos. Diese Information nimmt er dann jedoch zum Anlass, geographisches Wissen über die insgesamt sieben Städte dieses Namens in der Antike auszubreiten – ein Exkurs, der am Ende etwa drei Viertel des Umfangs dieses Lemmas ausmacht und im Grunde nichts mit dem Eponym der Juno zu tun hat. Vgl. Herold, Heydenweldt (s. Anm. 1), Von Heydnischen Goettern, Bl. nv. Zum Begriff der ›Polyhistorie‹ vgl. Helmut Zedelmaier : Von den Wundermännern des Gedächtnisses. Begriffsgeschichtliche Anmerkungen zu Polyhistor und Polyhistorie, in: Die Enzyklopädie im Wandel vom Hochmittelalter bis zu Frühen Neuzeit, hg. v. Christel Meier, München 2002 (Münstersche Mittelalter-Schriften 78), S. 421–450. 80 Vgl. Herold, Heydenweldt (s. Anm. 1), Von Heydnischen Goettern, Bl. liijv : »Vnd weil wir eben vff dise red kommen […].« Vgl. ebd., Bl. kr : »Dormit ich aber nichts außlasse / das lieblich zuo lesen […].« 81 Der von Giraldi und Herold gleichermaßen verzeichnete Beiname ›Novella‹ lässt sich als produktives Missverständnis der Epiklese ›Covella‹ verstehen – ein Kultname, mit dem Juno bei der monatlichen Verkündigung der Nonen angerufen wurde. Vgl. dazu Fritz Graf: Iuno I. Kult und Mythos, in: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, hg. v. Hubert Cancik/ Helmuth Schneider/Manfred Landfester, Bd. 6, Stuttgart/Weimar 1999, Sp. 72–76. 82 Vgl. Herold, Heydenweldt (s. Anm. 1), Von Heydnischen Goettern, Bl. liijv-miiijv. Dabei zieht Herold zwei Einträge, die in Giraldis Historia unmittelbar aufeinander folgen – denjenigen zur ›Juno Novella‹ und denjenigen zur ›Juno Calendaris‹ –, zu einem Lemma zusammen – ein Vorgehen, das seinen Niederschlag auch in Herolds Übersetzung des Eponyms ›Novella‹ mit »Newlinge Calenderin« gefunden hat. Das Stichwort der »Calenderin« begründet den langen Exkurs. Andere Digressionen haben bspw. die vier Elemente und das kosmologische Sphärenmodell (als Beigabe zur Planetentafel des Jupiter), die sieben Weltwunder (im Lemma zur ›Diana Ephesia‹) oder Formen antiker Mantik (im Lemma zum ›Apollo Pythius‹) zum Gegenstand.
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Stoff steht: Aus einem paganen Götter-Eponym, einem Kultnamen der Juno, mit dem die Göttin bei der monatlichen Verkündigung der Nonen angerufen wurde, wird ein lexikalisches Lemma, das in erster Linie Informationen über die Einteilung des Jahres in der Antike bereithält.
V.
Schluss
Dass Johannes Herold seine Textvorlage nicht einfach in die Volkssprache überträgt, sondern dabei auch vielfach verändert und erweitert, ist beileibe keine Besonderheit, die seinen Umgang mit Giraldis Historia auszeichnet. Ganz im Gegenteil: »Übersetzen bedeutete für H[erold] immer auch bearbeiten, weshalb er den durch ihn ins Deutsche gebrachten Werken bedenkenlos eigene Zusätze beifügte.«83 Zumindest im Hinblick auf den Sammeldruck der Heydenweldt legt dieses Vorgehen jedoch nicht nur von der ›Bedenkenlosigkeit‹ des Herausgebers Zeugnis ab, sondern lässt sich, wie gezeigt, als Ausdruck gerade solcher Anforderungen verstehen, die die differenten Wissenskulturen von gelehrt-lateinischen und volkssprachigen Diskursen in der Frühen Neuzeit stellen. Zugleich verdankt es sich der Notwendigkeit, dem epistemologisch prekären Stoff der paganen Götterwelt, der in Giraldis Historia philologisch aufbereitet wird, auch im volkssprachigen Kontext den Status von Wissen zuzuerkennen: ein Umstand, der unmittelbar mit der Geltungsproblematik verknüpft ist. Epistemische Autorität, d. h. Geltung als Wissen, soll dem fabulösen Material der heidnischen Religion, das sich gerade aus christlich-theologischer Perspektive mit dem Vorwurf konfrontiert sieht, Nicht-Wissen, Irrtum, gar bewusste Lüge zu sein, in der Heydenweldt zuvorderst durch eine Strategie der ›Historisierung‹ zuwachsen: Schon in den Paratexten wird der Wissensanspruch der frühneuzeitlichen historia offensiv als epistemologischer Rahmen herausgestellt, innerhalb dessen sich der präsentierte Stoff als Sammlung politisch und ethisch relevanter, insofern exemplarischer Ereigniszusammenhänge darstellt. Auch die Bearbeitung der Textvorlagen lässt sich, wie an Herolds Adaptation der De deis gentium historia Giglio Gregorio Giraldis exemplifiziert, im epistemischen Kontext der frühneuzeitlichen historia verorten, die ja nicht zuletzt als universeller Materialbereich des schriftliterarisch überlieferten wie ›empirisch‹ erhobenen ›Erfahrungswissens‹ verstanden wurde: Die Neuordnung des Materials und die zahlreichen stofflichen Erweiterungen können als Momente einer epistemischen Transformation der Textvorlage begriffen werden und verleihen dem Sammel83 Plotke, Herold (s. Anm. 24), Sp. 322. Dies gilt, wie Plotke weiter ausführt, u. a. auch für die von Herold 1557 herausgegebene deutschsprachige Fassung der Prodigien-Sammlung des Conrad Lycosthenes. Vgl. ebd.
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druck tendenziell den Charakter eines ›polyhistorischen Weltbuchs‹. Diesem Befund entspricht nicht zuletzt die Wahl des Titels, der für das Kompendium den Anspruch erhebt, die antike ›Welt der Heiden‹ in ihrer Gesamtheit abzubilden. Hatten die hier beschriebenen Strategien der Geltungserzeugung im volkssprachigen Kontext tatsächlich Erfolg? Gemessen an der Druckgeschichte der Heydenweldt wird man diese Frage wohl eher negativ beantworten müssen: Abgesehen von der ersten Auflage 1554 wurde das Kompendium nur 1628 noch einmal, und zwar unter dem Titel Theatrum Divum Dearumve, von den Erben Sebastian Henricpetris in Basel nachgedruckt.84 Mittelbar lässt sich die Wirkung des Textes jedoch an seiner Rezeption durch einen der wohl produktivsten deutschsprachigen Schriftsteller des 16. Jahrhunderts ablesen: Hans Sachs (1494–1576) hat in den 1550er und 60er Jahren mehrfach auf die Heydenweldt als Quelle für literarische Stoffe zurückgegriffen, die er poetisch bearbeitete und zugleich didaktisch-exemplarisch verwertete. So verfasste er Anfang November 1555 und erneut im Sommer 1562 in rascher Folge eine Reihe von Spruchgedichten, deren Thematik er Herolds Bearbeitung von Giraldis Historia entnahm.85 Die Gattungsbezeichnung der Historia, die er zumindest einigen dieser Spruchgedichte gab, zeigt, dass Sachs den Stoff der Heydenweldt – wenn auch sicher nicht ausschließlich86 – als ›historisches Wissen‹ wahrgenommen hat.
84 Vgl. Johannes Herold: Theatrum Divum Dearumve etc. Basel: Henricpetri 1628 (VD 17 23:230338T). 85 Es handelt sich um eine – für Sachs typische – Rezeptionsweise, die Szenen und Ereigniszusammenhänge aus einzelnen Lemmata der Heydnischen Goetter herausgreift. Vgl. dazu auch oben, Anm. 51. 86 Neben der Historia als Gattungsbezeichnung wählt Sachs für einige der Spruchgedichte auch den – vermutlich mittelbar auf Macrobius’ Konzept der narratio fabulosa zurückgehenden – generischen Namen Poetische Fabel.
Benjamin Wallura
Die Geltung von Geographie und geographischem Wissen – Petrus Bertius’ Tabulae Geographicae contractae und die Beschreibung Arabiens um 16001
I.
Einleitung, Fragestellung und Konzeption: Petrus Bertius (1565–1619) und die Geographie an der Universität Leiden um 1600
»La v8ritable ›bible‹ g8ographique de la Renaissance a 8t8 la G8ographie de Ptol8m8e […]«2. Mit diesem Satz beginnt Numa Broc das erste Kapitel seines Buches La g8ographie de la Renaissance. Diese Apostrophierung der Geographike hyphegesis3 des Claudius Ptolemäus lässt sich in zweifacher Weise verstehen: Zum einen bildete sie – neben der Naturalis historia Plinius’ d. Ä. und den Geographik# des Strabon von Amaseia – in Renaissance und Früher Neuzeit das Referenz- und Standardwerk zu Gegenständen der Geographie, das die gelehrte Welt aus der Antike besaß. Das blieb es auch trotz der Tatsache, dass im Zuge des 16. Jahrhunderts die ptolemäische Beschreibung der Welt an vielen entscheidenden Punkten korrigiert und erweitert wurde.4 Zum anderen war die disciplina der Geographia, deren Entwicklung und Ausdifferenzierung nicht zuletzt durch die Rezeption und Transformation dieser antiken Standardwerke 1 Dieser Aufsatz ist ein Resultat meiner Arbeit im Rahmen des Colloquiums am Forum für Mittelalter – Renaissance – Frühe Neuzeit der Freien Universität Berlin. Mein Dank gilt allen Teilnehmenden und DiskutantInnen, die mir bei der ersten Präsentation dieses Beitrags konstruktive Rückmeldungen gegeben haben. Insbesondere Ronny Kaiser und Cornelia Selent bin ich zu großem Dank verpflichtet für die hervorragende redaktionelle Betreuung meines Beitrags und für ihre kritischen Anmerkungen. Ohne sie wäre dieser Beitrag nicht das, was er jetzt ist. 2 Numa Broc: La g8ographie de la Renaissance (1420–1620), Paris 1986, S. 9. 3 So der über die Handschriften und im Text belegte Titel des antiken Werks. Klaudios Ptolemaios: Handbuch der Geographie. Einleitung, Text und Übersetzung, 2 Bde., hg. v. Alfred Stückelberger/Gerd Graßhoff, Basel 2006, S. 11 übersetzen den Titel mit »Einführung in die darstellende Erdkunde« bzw. »Handbuch der Geographie«. Zur Geographike hyphegesis des Ptolemäus in der Renaissance jetzt auch: Ptolemey’s Geography in the Renaissance, hg. v. Zur Shalev/Charles Burnett, London/Turin 2011. 4 Vgl. Walter Goffart: Historical Atlases. The first three hundred years, 1570–1870, Chicago/ London 2003, S. 14f.
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befördert wurde, vornehmlich ein Geschäft von geistlich und theologisch gebildeten Akteuren und hatte auch institutionell häufig bei diesen ihren Sitz.5 Geographie diente in der Frühen Neuzeit (vor allem noch um 1600) vornehmlich dazu, die von Gott geschaffene Welt zu beschreiben, ihre Vollkommenheit zu rühmen und auf diese Weise ein christlich-aristotelisches (und damit geozentrisches statt heliozentrisches) Weltbild eher zu fixieren und zu bestätigen als es zu entthronen. Vor diesem Hintergrund sollen diesem Beitrag, der in Sektion II dieses Sammelbandes (»Geltung durch Ausdifferenzierung und Neuordnung: Wissensformationen und ihre Präsentation«) verortet ist, damit das folgende Fallbeispiel und die folgende Fragestellung für die weiteren Ausführungen leitend sein: In welcher Weise verhandelte der an der Universität Leiden tätige niederländische Theologe, Mathematiker und Geograph Petrus Bertius (1565–1629) in seinen Tabulae Geographicae contractae (zuerst 1600)6 die Geltung der Geographie (Geographia) und welche Geltung schreibt er dem geographischen Wissen zu, das mit ihr produziert werden kann? In welchem Verhältnis steht bei Bertius die Geographie zur Historie und zur Heilsgeschichte und in welchem Verhältnis steht sie zu anderen Disziplinen? Welche genauen Geltungsansprüche formuliert Bertius dabei für die Geographie und wie setzt er diese selbst konkret in den Tabulae Geographicae in der Beschreibung Arabiens um, das für ihn sowohl Ursprungsland des Islam als auch Ort biblisch-christlicher Heilsgeschichte gewesen ist? Wie verändert er dabei den niederländischen CaertThresoor von 1598/1599, der die Vorlage seines Werkes gewesen ist, und wie arbeitet er dabei mit der geographischen Tradition, die in vielen Punkten auch durch Geographike hyphegesis des Ptolemäus repräsentiert ist? Mit der Behandlung dieser Fragen sollen Aussagen darüber möglich werden, wie Bertius Geographie betrieben und gemacht hat und welche Konzepte kulturell-geographischen Wissens dabei für ihn am Beginn des 17. Jahrhunderts an der Uni-
5 Vgl. Zur Shalev : Sacred Words and Worlds. Geography, Religion, and Scholarship, 1550–1700, Leiden/Boston 2012, S. 7. Den ›Geographen‹ im engeren Sinne gab es also nicht, und akademisch etablierte sich die Geographie in der Regel nur als eine Hilfs- oder Teildisziplin anderer etablierter Wissenschaften wie der Theologie, der Mathematik oder der Historie an den frühneuzeitlichen Universitäten Europas. 6 Petrus Bertius: Tabularum Geographicarum contractarum libri quattuor. Cum luculentis singularum Tabularum explicationibus, Amsterdam 1600 [gedr.: Cornelis Claeszoon]. Hier und im Folgenden werden nur punktuell auch die Drucker und Verleger in den bibliographischen Angaben erwähnt. Dies geschieht, um auch die jeweiligen Drucker und Verleger zu dokumentieren, die sich um die Publizierung geographischen Wissens in der Frühen Neuzeit vermehrt verdient gemacht haben. Auch wenn dies hier nicht Gegenstand der Fragestellung sein kann, muss darauf hingewiesen werden, dass es analog zum Netzwerk (konkurrierender) Schreiber auch eines der Drucker, Verleger und Kartographen gab, das sich in den Niederlanden um 1600 vor allem auf die Städte Amsterdam und Leiden konzentrierte.
Die Geltung von Geographie und geographischem Wissen
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versität in Leiden maßgebend gewesen waren und seinen geographischen Blick auf Arabien beeinflusst haben. Zunächst jedoch scheint es sinnvoll, hier noch einmal weiter aufzufächern, welche einzelnen Kompetenzen der Geographie um 1600, nicht zuletzt in universitären und gelehrten Milieus wie im niederländischen Leiden, zukommen konnte. Geographie als nicht eigenständiges Universitätsfach konnte eingesetzt werden, um historische Räume zu beschreiben und aktuelle (politische) Räume zu dokumentieren,7 sie konnte den nationalen und patriotischen Identitätsfindungsprozessen verschiedenster europäischer Regionen dienlich sein,8 von neuen und bekannten (aber auch fremden) Erdteilen berichten9 oder Bestandteil der Bibelexegese sein, indem sie eine Beschreibung und bildlich-kartographische Vorstellung von biblischen Handlungsorten zu liefern suchte.10 Und nicht zuletzt konnte sie auch bei der Lektüre oder philologischen Arbeit mit antiken oder biblischen Texten zum Einsatz kommen, etwa um Raum- und Zeitangaben
7 Vgl. Gerardus Mercator : Atlas minor a Iudoco Hondio plurimis aeneis tabulis auctus atque illustratus, Arnheim 1621 [gedr.: Judocus Hondius]. Nach einer Beschreibung und Darstellung verschiedener Erdteile, folgen ebd., S. 669–83 Karten und Beschreibungen etwa zur Lokalisierung des Paradieses, des Wegs der Israeliten durch die Wüste, der Missionsrouten des Paulus, aber auch zur Ausdehnung des antiken Römischen Reiches, zu den Heerzügen und Expeditionen Alexanders des Großen und zu den Irrfahrten der Aeneaden und dokumentieren damit die Bandbreite geographischer Publikationen in der Frühen Neuzeit. Möglich waren aber auch nicht rein geographisch ausgerichtete Einzelstudien zu spezifisch ausgewählten (›historischen‹) Räumen (vgl. Philipp Clüver: Germaniae antiquae libri tres, Leiden 1616 [gedr.: Ludovicus Elzevirius]), oder mehr diachrone Betrachtungen von Räumen über größere Zeitspannen hinweg (vgl. Petrus Bertius: Commentariorum Rerum Germanicarum libri tres, Amsterdam 1616 [gedr.: Joannes Janssonius]. 8 Ein Beispiel für die Breite an Textsorten, in denen verschiedenste (›nationale‹) Akteure ›geographisches Wissen‹ (im weitesten Sinne) zu diesem Zweck in Anschlag nahmen, bildet unter vielen anderen: Petrus Scriverius: Batavia illustrata, seu De Batavorum insula, Hollandia, Zelandia, Frisia, Territorio Traiectensi et Gelria, Scriptores varii notae melioris, nunc primum collecti simulque editi, Leiden 1609 [gedr.: Ludovicus Elzevirius]. 9 Diese Rolle wird man für das 16. Jahrhundert und darüber hinaus vor allem Abraham Ortelius: Theatrum orbis terrarum, Antwerpen 1570 [gedr.: Aegidius Coppenius Diesth], der Initialzündung jeglicher nachfolgenden atlantischen Drucktätigkeit, attestieren dürfen. Ein Meilenstein nicht zuletzt der Archivierung, Aktualisierung aber auch Fixierung geographischen Wissens. 10 Auch solche listet Abraham Ortelius in seinem Atlas: Bonaventura Brochardus: Palaestina, seu Descriptio terrae sanctae, Paris [gedr.: Poncetus le Preux; das genaue Jahr dieser Pariser-Ausgabe nennt Ortelius nicht (vgl. Ortelius: Catalogus Auctorum, in: Ders.: Theatrum (s. Anm. 9)]; Jacob Ziegler/Wolfgang Wissenburg: Terrae Sanctae, quam Palaestinam nominant, Syriae, Arabiae, Aegypti et Schondiae doctissima descriptio, Straßburg 1536; oder auch Benedictus Arias Montanus: Antiqvitatvm Iudaicarvm libri IX., in quis, praeter Iudeae, Hierosolymorum, et Templi Salomonis accuratam delineationem, praecipui sacri ac profani gentis ritus describuntur, Leiden 1593 [gedr.: Franciscus Raphelengius]. Für weitere Formen der Verflechtung von Geographie und Bibelexegese siehe: Shalev, Sacred Words (s. Anm. 5), 8–11.
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einordnen und verstehen zu können.11 Geographie um und nach 1600 (vor allem an der Universität Leiden) war also insofern oftmals eine Geographia sacra, als sie sich mit der Beschreibung der Erde (terra), also einem entscheidenden Teil des großen Schöpfungswerkes (mundus), beschäftigte.12 Das dort verhandelte geographische Wissen präsentiert sich dem modernen Betrachter dabei als eine spezifische Form kulturellen Wissens. Ebenso wie kulturelles Wissen lässt es sich beschreiben als eine »Summe von Kenntnissen, Überzeugungen, Fertigkeiten und Praktiken […], die auch medial in einer Gruppe, Gesellschaft, Zeitspanne oder Epoche aktuell zirkulieren, konstituiert, umgesetzt, verhandelt und – zumindest temporär – als wahr, wertvoll oder gültig ausgezeichnet werden«.13 Anhand dieses kurzen Abrisses lässt sich bereits ersehen, in welcher Weise hier von der ›Geltung‹ der Geographie und des durch sie produzierten geographischen Wissens die Rede sein soll: Es geht vor allem um die Funktionalisierungen der Geographie durch historische Akteure sowie um die Prozesse der Neuordnung und Ausdifferenzierung geographischer Wissensformationen, die sich in geographischen Werken manifestieren. Die Frage nach der (stets historisch einzuordnenden) ›Geltung‹ der Geographie hängt demzufolge also eng mit der Frage nach ihren jeweiligen Repräsentationen durch bestimmte Akteure zusammen und wie dabei die für die Geographie und ihres Wissens postulierten 11 Dafür seien – neben vielen anderen – genannt: Erasmus von Rotterdam: Ratio seu methodus perveniendi ad veram theologiam, Basel 1518 oder Heinrich Bünting: Itinerarium et chronicon totius sacrae scripturae, Magdeburg 1598 [zuerst auf Deutsch: Leipzig 1585]. Vgl. zum Ganzen auch: Shalev, Sacred Words (s. Anm. 5), S. 8–9, insbes. S. 8: »It had become common understanding among students of Scripture that correct reading must be based on correct geography (as well as botany, zoology, and mineralogy)«. Dasselbe ließe sich in der Frühen Neuzeit für die Lektüre und Beschäftigung mit antik-profanen Texten sagen. 12 Der Geltungsanspruch der Geographia war also ein ganzheitlicher, in sowohl zeitlicher als auch räumlicher Dimension: sie betrachtete die Geographie der alten (auch biblischen) wie der zeitgenössischen Welt und konnte grundsätzlich auch ›profan-historische‹ Räume thematisieren, die nicht zur christianisierten Welt zählten, da auch diese Teil des saeculum und der Heilsgeschichte waren. Nach Shalev, Sacred Words (s. Anm. 5), S. 6 gingen »sacred geography« und »biblical (bzw. ecclesiastical) geography« in der Frühen Neuzeit häufig zusammen, sodass »sacred geography« einen sehr weiten und flexiblen Gebrauch (auf semantischer Ebene) verzeichnen konnte. Auch die Termini sacer und geographia sind bei der Verschiedenartigkeit der in Betracht zu ziehenden Texte, wie Shalev, Sacred Words (s. Anm. 5), S. 6 konstatiert, auf sehr verschiedene Weisen in der Frühen Neuzeit verwendet worden. Auf diese Problematisierung der Begrifflichkeiten von ›Geographie‹ sei hiermit ausdrücklich hingewiesen. Den Meilenstein jedenfalls dieser diffusen Sach- und Text-Kategorie der Geographia sacra lieferte schließlich (wie schon der Titel zeigt): Samuel Bochart: Geographia sacra, cuius pars prior Phaleg De dispersione gentium et terrarum divisione facta in aedificatione turris Babel, pars posterior Chanaan De coloniis et sermone Phoenicum agit, Frankfurt/Main 1681. 13 Birgit Neumann: Kulturelles Wissen und Literatur, in: Kulturelles Wissen und Intertextualität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien zur Kontextualisierung von Literatur, hg. v. Marion Gymnich/Birgit Neumann/Ansgar Nünning, Trier 2006, 29–51.
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Geltungsansprüche in den konkreten Fallbeispielen und für die anvisierte Leserschaft an bestimmten Orten umgesetzt werden. Einer der vielen wichtigen, aber wenig besprochenen Multiplikatoren dieser eben besprochenen, oft eng miteinander verzahnten Funktionalisierungen von Geographie war zweifellos der niederländische gelehrte Theologe, Mathematiker, Historiograph, Kosmograph und Geograph Petrus Bertius (1565–1629).14 Auch er gehört zur Reihe derer, die die ›Bibel der Geographie‹, die Geographike hyphegesis des Ptolemäus, in einer griechischen und lateinischen Version herausgegeben haben.15 In seinem späteren Breviarium totius orbis terrarum (Paris 14 Die bisher einzige Monographie zu Leben und Werk liefert: Leonardus Johannes Marinus Bosch: Petrus Bertius (1565–1629), Meppel 1979. Vgl. auch die einschlägigen Lexikonartikel: Barend Glasius: Petrus Bertius, in: Godgeleerd Nederland. Biographisch Woordenboek van Nederlandsche Godgeleerden, Eerste Deel, hg. v. Barend Glasius, Hertogenbusch 1851, S. 109–116; P. van der Aa et al.: Bert (Petrus De), in: Biografisch Woordenboek der Nederlanden, Tweede Deel, Haarlem 1854, S. 446–50; F. S. Knipscheer : Bertius (Petrus) 2, in: Nieuw Nederlandsch Biografisch Woordenboek, Eerste Deel, Leiden 1911, S. 320–323; S. B. J. Zilverberg: Bertius, Petrus, in: Biografisch Lexikon voor de Geschiedenis van het Nederlandse Protestantisme, Deel 2, Kampen 1983, S. 63–64. Ältere Lexikoneinträge finden sich u. a. in: Johann Heinrich Zedler : Bertius (Petrus), in: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 3, Halle/Leipzig 1731–1754, S. 1433–1434; Christian Gottlieb Jöcher: Bertius (Petr.), in: Allgemeines GelehrtenLexicon, Darinne die Gelehrten aller Stände sowohl männ- als auch weiblichen Geschlechts […] beschrieben werden, Bd. 1, Leipzig 1750, S. 1037–1038; Thijm Alberdingk: Bert, Peter, in: Allgemeine Deutsche Biographie (1875) [Onlinefassung], S. 509–510. Eine frühe, noch zu Bertius’ Lebzeiten angefertigte Biographie mit Schriftenverzeichnis lieferte 1625 bereits dessen Kollege Johannes van Meurs in seinen Athenae Batavae. Die Biographie reicht bis zu Bertius’ unfreiwilliger Übersiedlung von Leiden nach Paris in den Jahren 1619/20 infolge der Synode von Dordrecht (1618–19): vgl. Joannes Meursius: Athenae Batavae, sive de urbe Leidensi et Academia, virisque claris, qui utramque ingenio suo atque scriptis illustrarunt libri duo, Leiden 1625 [gedr.: Andreas Cloucquius/Isaac Elzevir], S. 232–237. Vgl. dazu Anthony Grafton: Athenae Batavae: The Research Imperative at Leiden, 1575–1650, Leiden 2003. Ein umfassendes Schriftenverzeichnis zu Bertius liefert: Louis D. Petit: Bibliographische Lijst der Werken van de Leidsche Hoogleeraren van de Oprichting der Hoogeschool tot op onze Tagen, Leiden/Leipzig 1894, S. 144–161. 15 Vgl. Petrus Bertius: Theatri Geographiae veteris Tomus prior, in quo Cl. Ptol. Alexandrini Geographiae libri VIII, Graece et Latine, Graeca ad codices Palatinos collata, aucta et emendata sunt, Latina infinitis locis correcta, Amsterdam 1618 [gedr.: Iudocus Hondius Jr.]. Andere übersetzten und/oder edierten schon vor ihm Ptolemäus – entweder mit oder ohne Karten, die oftmals recht unterschiedlich ausfallen konnten. Genannt seien von den lateinischen Übersetzungen: Jacobo d’Angelo: Cosmographia, Vicenza 1475 [zunächst noch ohne Karten]; die erste Straßburger-Ausgabe: Johann Essler: Claudii Ptolemei viri Alexandrini Mathematic[a]e discipline Philosophi doctissimi Geographi[a]e opus, Straßburg 1513 [gedr.: Johann Schott]; Johannes Werner: In hoc opere haec continentur Nova translatio primi libri geographiae Cl. Ptolomaei: quae quidem translatio verbum: habet e verbo fideliter expressum. Libellus de quattuor terrarum orbis in plano figurationibus […], Nürnberg 1514; Willibald Pirckheimer: Claudii Ptolemaei Geographicae Enarrationis libri octo, Straßburg 1525; Sebastian Münster: Geographia universalis, vetus et noua, complectens Claudii Ptolemaei Alexandrini Enarrationis libros VIII, Quorum primus noua
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1626) behandelt er sechs Erdteile (Artica, Antarctica, Europa, Asien, Africa, America) und beschreibt sie überblicksartig, ohne Karten zu verwenden.16 An der Konstruktion einer nationalen Identität der Niederländer schreibt er ebenso mit, wenn er in seinen Commentarii rerum Germanicarum (Leiden 1616) die civitas Batavorum, also die Region der frühneuzeitlichen Niederlande, mit den von Tacitus in der Germania und den Annalen beschriebenen Batavern in eine Traditionslinie stellt und seinen Ausführungen eine am taciteischen Text orientierte Karte der Batavia antiqua, der ›antiken Niederlande‹, zur Seite stellt.17 In seiner Pariser Zeit (1619–1629) als Kosmograph und Historiograph am Hofe Ludwigs XIII. lieferte er auch zwei historische Karten für den französischen Raum.18 Er war auch im Bereich der Itinerar-Literatur tätig und beschäftigte sich dabei mit antiken Itinerarien (wie dem Itinerarium Antonini), der Tabula Peutingeriana und den Reiserouten in das Heilige Land (von Bordeaux bis nach Jerusalem), wie der zweite Band seines Theatrum Geographiae veteris (1619)
translatione Pirkheimheri et accessione commentarioli illustrior qu/m hactenus fuerit, redditus est. […], Basel 1540; Eine bloße kartographische Ausgabe mit Kommentierung der Karten, aber ohne ptolemäischen Text liefert: Gerardus Mercator : Tabulae Geographicae Cl. Ptolemei ad mentem autoris restitutae et emendatae, Duisburg/Köln 1578; Die griechische Erstausgabe erstellte Erasmus: Erasmus von Rotterdam: Claudii Ptolemaei Alexandrini philosophi cm primis eruditi, De Geographia libri octo, Basel 1533. Vgl. auch Stückelberger/Graßhoff: Klaudios Ptolemaios (s. Anm. 3), 29–30; Goffart, Historical Atlases (s. Anm. 4), S. 1–49. Mit einer nützlichen, nach historischen Räumen systematisierten Auflistung von Karten und Übersetzungen zu Ptolemäus: Carl Moreland/David Bannister (Hgg.): Antique Maps, dritte Auflage, Oxford 1989, S. 62–281. 16 Vgl. Petrus Bertius: Breviarium totius orbis terrarum, Paris 1626 [gedr.: Mathurinus Henault], S. 1. 17 Bertius, Commentarii (s. Anm. 7), bes.: S. 29b–31a. Die relevanten Stellen bei Tacitus und Caesar finden sich vor allem in: Tac. Germ. 29, 1–4; Tac. Ann. 2, 6, 8; Caes. Gall. 4, 10, 1. Von großem Einfluss für Bertius waren hier u. a.: Gerardus Noviomagus: Historia Batavica, ex optimis quibusque auctoribus, Köln 1541; Hugo Grotius: Liber de Antiquitate Reipublicae Batavicae, Leiden 1610 [gedr.: Franciscus Raphelengius] (mit einer modernen Edition, Übersetzung und Kommentar : Jan Waszink: The Antiquity of the Batavian Republic, with notes by Petrus Scriverius, Assen 2000). Auch ein einflussreicher Lehrer von Bertius, Iustus Lipsius, rühmt Tacitus’ Bedeutung als antike Quelle für die Geschichte der niederländischen res publica in der dedicatio seines Annalen-Kommentars: Iustus Lipsius: Ad Annales C. Taciti liber commentarius, Leiden 1585 [gedr.: Antonius Gryphius; Erstdruck: Antwerpen 1581 bei Christophorus Plantinus]. Vgl. auch Philipp Gruther: De prisca virtute Batavorum oratio, habita in Auditorio Theologico, Praesentibus Magnifico Rectore, Nobilissimis Academiae Lugd. Batavae Curatoribus, Consulibus, Professoribus, aliisque, IX Maij anno 1618, Leiden 1618 [gedr.: Isaac Elzevier], zu der der (noch) im Amt befindliche Professor der Leidener Universität (1615–1619) Petrus Bertius eine Ad Leonem Batavum Adlocutio geschrieben hat (vgl. ebd., S. 47–50). 18 Vgl. Petrus Bertius: Caroli Magni et vicinarum regionum descriptio, Paris 1623. Besprochen bei: Goffart, Historical Atlases (s. Anm. 4), S. 69–74. Sowie Petrus Bertius/Joannes Picart: Notitia chorographica Episcopatuum Galliae, Paris 1625.
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dokumentiert.19 Sogar die historische Dimension des Menschen bei der Gestaltung der Erde nimmt er in seinem Digestum novum in den Blick, wenn er – kurz vor seinem Tod – über die bisher in der Geschichte am Meer errichteten Dämme und Brücken schreibt und so auch eine Brücke zwischen dem Feld der frühneuzeitlichen Geographie und den Inhalten, die Vetruv bereits in der Antike in seiner Architectura verhandelt hatte.20 Nicht zuletzt gehört in diese Schriftenreihe auch seine Rede über die Geographie (Paris 1622), ein bedeutendes kulturgeschichtliches Dokument für die Erforschung der frühneuzeitlichen Geographie.21 Dies umso mehr, da Bertius mit dieser Rede eine Definition des Geographen, des geographus, liefert, die nicht ohne Belang ist für die Frage, wie er Geographie betrieben hat und welche konzeptionellen Überlegungen für ihn dabei leitend gewesen sind. Er schreibt: »Es hat gänzlich der Geograph dies mit Gott gemeinsam: wie es diesem [Gott] zusteht, die Erde zu erschaffen, so steht es jenem [dem Geographen] zu, die Erde darzustellen. Es schafft und gestaltet also auch dieser [der Geograph] die Welt und fügt bald Gallien, bald Germanien zusammen […].«22
Freilich tritt der Geograph hier bei Bertius, dies wäre ein Missverständnis, nicht in Konkurrenz zu Gott. Vielmehr wird in diesem Zitat die Geographie als Disziplin um ein Vielfaches nobilitiert und in ihrer Geltung23 verstärkt, indem Bertius ihr die Aufgabe zukommen lässt, das irdische Schöpfungswerk und dessen einzelnen Teile zu beschreiben. Die Schlüsselbegriffe hierbei sind: depingere, mundum facit und condit, die in dieser Reihung wiedergegeben werden können als »anschaulich darstellen«, »schaffen/gestalten« und »zusammenfügen«. Stellt man das rhetorische Kolorit der Rede in Rechnung, lassen sich daraus dennoch folgende Überlegungen bezüglich Bertius’ konzeptionellen Zugriff auf 19 Vgl. Petrus Bertius: Theatri Geographiae veteris Tomus posterior, in quo Itinerarium Antonini Imperatoris terrestre et maritinum, Provinciarum Romanorum libellus, Civitates provinciarum Gallicarum, Itinerarium a Burdigala Hierosolymam usque, Tabula Peutingeriana cum notis Marci Velseri, Parergi Orteliani tabulae aliquot, Leiden 1619 [gedr.: Iudocus Hondius]. 20 Vgl. Petrus Bertius: De aggeribus et pontibus hactenus ad mare extructis Digestum novum, Paris 1629 [gedr.: Joannes Libert]. 21 Vgl. Petrus Bertius: De Geographia oratio, habita in Collegio Cameracensi, XI. Kal. Julii, quo die professionem Regiam auspicatus est, Paris 1622 [gedr.: Mathurinus Henault]. Später herausgegeben durch Johann Gottfried Lüdde, in: Zeitschrift für Erdkunde 6 (1847), S. 288–304. Wie der Titel anzeigt, hielt Bertius die Rede anlässlich seiner Erlangung der königlichen Professur als cosmographus durch Ludwig XIII. von Frankreich und Navarra. 22 Bertius: De Geographia oratio, in: Lüdde (s. Anm. 21), 296: […] habet omnino geographus id commune cum Deo, quemadmodum illius est orbem creare, sic istius est orbem depingere. Facit et ipse mundum et jam Galliam condit, jam Germaniam […]. 23 Hier durchaus auch im Sinne von ›Prestige‹, ›Gültigkeit‹ oder ›Wichtigkeit/Bedeutung‹ zu verstehen.
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die Geographie festhalten: Der Gegenstand des Geographen, so ließe sich Bertius verstehen, ist das Schöpfungswerk, das mit Hilfe von Karten und anschaulichen Beschreibungen darzustellen ist. Seine Aufgabe besteht dabei darin, die Ordnung der Schöpfung in eine geeignete Systematik der Darstellung zu überführen, indem er z. B. nach bestimmten Erdteilen und Ländern unterscheidet.24 Erst in einem zweiten Schritt, dies wird vor allem im Folgenden zu zeigen sein, scheint es bei Bertius der Geograph zu sein, dem immer wieder daran gelegen sein muss, diese Systematik der Darstellung neu zu ordnen und auszudifferenzieren, um auch den (heils)geschichtlichen Verlauf des Schöpfungswerkes und die damit verbundenen Veränderungen auf irdischer Ebene in einem geeigneten Modus beschreiben zu können.
II.
Der niederländische Caert-Thresoor (1598/1599) und die Tabulae Geographicae contractae des Petrus Bertius: Neuordnung, Ausdifferenzierung und Geltung geographischen Wissens
Eines der erfolgreichsten Werke des umfassenden geographischen Oeuvres des Petrus Bertius sind zweifellos seine Tabulae Geographicae contractae (zuerst gedruckt 1600), die zu seinen Lebzeiten mehrere Druckauflagen erfuhren.25 Das 24 Dem scheint nicht zuletzt auch der von Bertius gewählte Titel Tabulae Geographicae contractae (wortwörtlich: »zusammengefügte geographische Karten«) zu entsprechen. 25 Dazu gehören: zwei Ausgaben von 1600 (eine in Amsterdam bei Cornelis Claeszoon und eine in Arnheim bei Jan Janszoon) in vier Büchern sowie die zweite Ausgabe von 1602/1603 und eine von 1606 mit jeweils fünf Büchern, die alle bei Cornelis Claeszoon (i. e. Cornelius Nicolai) in Amsterdam verlegt worden sind und um die 170 bis 175 Karten enthalten (vgl. Petrus Bertius: Tabularum Geographicarum contractarum libri quattuor. Cum luculentis singularum Tabularum explicationibus, Amsterdam 1600 [gedr.: Cornelis Claeszoon; in der Erstausgabe noch mit altem Titelbild des Caert-Thresoor]. Ab den Ausgaben von 1616 und 1618 übernahm die Verlegerfamilie des Iudocus Hondius, ein Schwager von Bertius, den Druck, jetzt in durchgängig sieben Büchern mit über 200 Karten und begleitendem Text, durch die das Werk auf bis zu 829 Seiten anwächst (vgl. Petrus Bertius: Tabularum Geographicarum contractarum libri septem, in quibus tabulae omnes gradibus distinctae descriptiones accuratae, caetera supra priores editiones politiora auctioraque ad Christianissimum Galliae et Navarrae Regem Ludovicum XIII, Amsterdam 1618 [gedr.: Iudocus Hondius Jr.]). Hinzu kam 1612 eine deutschsprachige Ausgabe (vgl. Petrus Bertius: Geographischer eyn oder zusammengezogener Tabeln fünnff unterschiedliche Bücher […], Frankfurt am Main 1612 [gedr.: Heinrich Lorentzen]) sowie weitere lateinische und auch französische Drucke und zahlreich ausgekoppelte Einzeldarstellungen, wie die Beschreibung Amerikas, die auch losgelöst von den Tabulae Geographicae publiziert wurden. Für die bibliographische Erfassung und Beschreibung sämtlicher Ausgaben und Übersetzungen vgl.: Petit, Bibliographische Lijst (s. Anm. 14), S. 145–46 sowie: Peter van Krogt: Koeman’s atlantes Neerlandici, Bd. 3: Ortelius’s Theatrum orbis terrarum, De Jode’s Speculum
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Werk geht zurück auf den Caert-Thresoor, ein Miniatur-Atlas26 mit Begleittexten in niederländischer Sprache, den der Verleger Barent Langenes 1598 in Middelburg und der Verleger Cornelis Claeszoon (i. e. Cornelius Nicolai)27 1599 in Amsterdam publizierten.28 Zuerst sollte Paullus Merula, seit 1597 der Bibliothekar der Universität in Leiden, dann aber Petrus Bertius, zu diesem Zeitpunkt Subregent des Staatencollege in Leiden, den niederländische Caert-Thresoor in eine lateinische Fassung übertragen, die er 1600 dann auch zusammen mit dem Verleger Cornelis Claeszoon in Amsterdam unter dem Titel Tabularum Geographicarum contractarum libri quatuor herausgab.29 Diese erste lateinische Ausgabe von Bertius und Claeszoon von 1600 orientiert sich stark an der niederländischen Vorlage, enthält aber bereits das Kapitel über
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orbis terrarum, the Epitome, Caert-thresoor and Atlas minor, the atlases of the XVII provinces, and other atlases published in the Low Countries up to c. 1650, Bd. III A., ’t Goy-Houten 2003, S. 373–462. Dies erklärt auch das besondere Querformat, das gleichsam allen Ausgaben der Tabulae Geographicae contractae eigen ist. Cornelis Claeszoon (ca. 1546/1547–1609), auch Cornelis Claesz oder Cornelius Nicolai, war ein niederländischer Buchhändler und -verleger in Amsterdam und stammte aus Brabant. Vgl. C. P. Burger Jr.: Claeszoon (Cornelis), in: Nieuw Nederlandsch Biografisch Woordenboek (NNBW), Deel 10, Leiden 1937, S. 173–177. Barent Langenes: Caert-Thresoor, Inhoudende de tafelen des gantsche Werelts Landen, met beschryvingen verlicht, tot lust vanden Leser, nu alles van nieus met groote costen ende arbeyt toegereet, Middelburg 1598; Cornelis Claeszoon: Caert-Thresoor, Inhoudende de tafelen des gantsche Werelts Landen, met beschryvingen verlicht, […], Amsterdam 1599; Cornelis Claeszoon: Hand-boek of Cort Begrijp der Caerten, Amsterdam 1609 [erschienen im Sterbejahr von Cornelis Claeszoon und von Jacobus Viverius mit einer dedecatio an die Staaten von Zeeland versehen]. Auch dieses Vorlagen-Werk für die Tabulae Geographicae contractae wurde zuvor bereits zügig in andere Sprachen übersetzt: Cornelis Claeszoon: Thresor des Chartes, contenant des Tableaux de tous les Pays du Monde, enrichi de belles descriptions et nouvellesment mis en lumiere, Den Haag 1600 [gedr.: Albert Henry für Cornelis Claeszoon; übers. v. Jean de la Haye]; Cornelis Claeszoon: Thresor des Chartes, contenant des Tableaux de tous les Pays du Monde, enrichi de belles descriptions, reveu et augment8, Leiden 1602 [gedr.: Christoffel Guyot für Cornelis Glaeszoon; übers. v. Jean de la Haye]. Vgl. für Beschreibung und Inhalt der einzelnen Ausgaben van Krogt: Koeman’s atlantes Neerlandici (s. Anm. 25), S. 374–408. Umstritten ist, ob eine Ausgabe von Cornelis Claeszoon (angenommen für 1597) der Ausgabe von Langenes (1598) vorausging. Dafür spricht sich aus van Krogt: Koeman’s atlantes Neerlandici (s. Anm. 25), S. 374 [mit weiterer Literatur]; dagegen argumentiert Jan W. H. Werner : Caert-Thresoor, 1598–1998, in: Barent Langenes: Caert-Thresoor, Weesp 1998. Vgl. auch zur Debatte: Bosch, Petrus Bertius (s. Anm. 14), S. 64; H. J. Hessels: Ecclesiae Londino-Batavae Archivum (ELBA), Bd. 1, Cambridge 1887, S. 911b–912a; Pieter Anton Tiele: Nederlandsche Bibliographie van Land- en Volkenkunde, Amsterdam 1884, S. 56; Moreland/Bannister : Antique Maps (s. Anm. 15), S. 106. Günter Schilder: Monumenta Cartographica Neerlandica, Bd. VII, Alphen an den Rijn 2003, S. 457–464 plädiert für die Erstveröffentlichung 1598, argumentiert aber, dass Langenes nicht mehr als ein Co–Verleger neben Claeszoon gewesen sein könne. Petrus Bertius: Tabularum Geographicarum contractarum libri quattuor. Cum luculentis singularum Tabularum explicationibus, Amsterdam 1600 [gedr.: Cornelius Claeszoon].
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die Geographie (De Geographia), das von Bertius selbst stammt und seinen ersten eigenständigen Beitrag zur niederländischen Vorlage des Caert-Thresoor markiert. Erst mit der zweiten Ausgabe der lateinischen Fassung (Tabularum Geographicarum contractarum libri quinque, Amsterdam 1602/1603) nimmt Bertius auch an der Anordnung der Karten sowie am gesamten Aufbau und der Struktur des Werkes erste größere Veränderungen vor und entwickelt sich vom reinen Übersetzer zunehmend zum Redaktor und neuen Autor des CaertThresoor bzw. der Tabulae Geographicae contractae. So umfasst das Werk nun fünf statt vier Bücher. Es entsteht von Ausgabe zu Ausgabe eine ausdifferenzierte Einleitung in das Werk (mit den Kapiteln De Geographia, De Mundo, De Sphaera Caelesti und De Globo Terrae),30 die von Beginn an das erste Buch bildet. Danach folgen – wie im Caert-Thresoor – geordnet nach Kontinenten die vier Bücher mit Karten und Beschreibungstexten, die im Umfang weiterhin durchschnittlich zwischen zwei und bis zu zehn Seiten liegen. Das zweite Buch behandelt nun Europa, Afrika tauscht mit Asien und bildet nun das dritte Buch und Asien rückt dafür eine Stelle weiter und wird zum vierten Buch. Den Abschluss bildet dann im fünften Buch – wie bereits im Caert-Thresoor – Amerika. Auch wenn dies nicht der Zahl der acht Bücher der Geographike hyphegesis des Claudius Ptolemäus entspricht und Bertius in späteren Ausgaben Erdteile hinzufügt, die in Ptolemäus komplett fehlen,31 so orientiert sich die Abfolge der dargestellten Regionen durch die angesprochene Vertauschung von Afrika und Asien nun doch mehr an einem ptolemäischen Aufbau, in der die Erdbeschreibung im Nordwesten Europas beginnt und sich dann schrittweise weiter nach Osten vorarbeitet32. Für diese Einschreibung in die ptolemäische Tradition spricht nicht zuletzt auch die Wahl des Titels (Tabulae Geographicae), der unverkennbar an die Ptolemäus-Ausgabe des Gerhard Mercator (1512–1594) von 1578 erinnert,33 der im Leservorwort des Cart-Thresoor ebenso wie in der Ein-
30 Bertius: Tabulae Geographicae, Amsterdam 1618 (s. Anm. 25), S. 1–50. 31 Auch hier kommen Aspekte der Neuordnung, Ausdifferenzierung und Erweiterung geographischen Wissens zum Tragen, etwa wenn Bertius das zweite Buch seiner Tabulae Geographicae überschreibt mit Liber secundus, in quo Terrae Septentrionalis, Ptolemaeo incognitae (Bertius: Tabulae Geographicae, Amsterdam 1618 (s. Anm. 25), S. 51). 32 Ein Punkt, den Bertius bereits in der ersten Ausgabe von 1600 für seinen Buchaufbau postuliert hatte wie van Krogt, Koeman’s atlantes Neerlandici (s. Anm. 25) S. 374 und 409 anmerkt. Vgl. Klaudios Ptolemaios, Handbuch der Geographie (s. Anm. 3). 33 Gerardus Mercator : Tabulae Geographicae Cl. Ptolemei ad mentem autoris restitutae et emendatae, Duisburg/Köln 1578. Dieses Werk liefert im wesentlichen Karten zur Geographike hyphegesis des Ptolemäus und kommentiert diese. Es handelt sich dabei nicht um eine Übersetzung des Ptolemäus.
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leitung über die Geographie (De Geographia) in Bertius’ Tabulae Geographicae als wichtige Referenz des Faches genannt wird.34 Auf diese Weise entstand durch Bertius aus der niederländischen Vorlage des Caert-Thresoor und dem geographischen Erbe des Ptolemaios eine neue, und in den Auflagen zunehmend auch eigenständige, lateinische Beschreibung der Welt, die ganz spezifischen Ansprüchen der Erdbeschreibung (der Geo-graphie35), wie Bertius sie in den Paratexten und Einleitungskapiteln der Tabulae Geographicae aufstellt, genügen sollte. Dazu gehörte in Bertius’ Tabulae Geographicae im Gegensatz zum Caert-Thresoor auch, dass die Texte nicht mehr nur als Kartenkommentar fungierten, sondern sich schrittweise von den (nunmehr rein illustrierenden) Karten emanzipierten. Bertius nahm Umstellungen und neue Einschübe vor und entwickelte die Texte damit zu eigenen kleinen, Traktat ähnlichen Abhandlungen über die betreffenden Regionen.36 Bereits an diesem Punkt lässt sich ersehen, dass es vor allem die Neuordnung und Ausdifferenzierung von (geographischem) Wissen ist, die die Tabulae Geographica contractae des Petrus Bertius gegenüber der ursprünglichen Vorlage des Caert-Thresoor kennzeichnen. Aus diesem Grund fiel die Wahl des hier zu betrachtenden Fallbeispiels auch auf die Beschreibung Arabiens: Der Autor des Caert-Thresoor wie auch Bertius in seinen Tabulae Geographicae haben diese Region in je ihrer spezifischen Weise behandelt, sodass sich insbesondere für die Tabulae Geographicae des Bertius die Frage stellt, in welcher Weise eine Neuordnung und Ausdifferen34 Vgl. Claeszoon: Aenden Leser, in: Ders., Caert-Thresoor, Amsterdam 1599 (s. Anm. 28); Petrus Bertius: De Geographia, in: Tabulae Geographicae, Amsterdam 1618 (s. Anm. 25), S. 3. 35 Für diese Wortzerlegung und die daraus resultierende, zeitgenössisch etablierte Definition der Geographie wie etwa bei Philipp Clüver (1580–1622), der in Leiden studiert hatte und neben Bertius ab 1615 in Leiden als Geograph tätig war, vgl.: Phillip Clüver: Introductionis in universam Geographiam, tam veterem quam novam libri VI, Leiden 1624 [postum hrsg. v. Josephus Vorstius; gedr.: Isaac Elzevier], lib. 1, c. 1, S. 1: Geographiae est terrae universae, quatenus nobis cognita est, descriptio. Vocabulum eius Graecum est: nam a cai˜a, sive ca_g, id est, terra (pro quo in compositione usurpatur c]a) et cq\vy, hoc est, scribo, compositum sit Ceycqav_a, id est, Terrae descriptio. Diese Definition ist selbstredend konsequent aus der antiken, griechischen Tradition geschöpft. Vgl. nur: Ptol. Geogr. 1, 1, 1: J ceycqav_a l_lgs_r 1sti di± cqav/r toO jateikgll]mou t/r c/r l]qour […]. (»Die Geographie ist die Nachbildung des bekannten Teils der Erde durch anschauliche Darstellung […]«, Übers. d. Verfassers, modifiziert nach Stückelberger/Graßhoff: Klaudios Ptolemaios (s. Anm. 3), S. 53). Zentral ist dabei der Ausdruck di± cqav/r, der auf eine Abbildung, aber auch ganz allgemein auf das Schreiben als solches verweisen kann. Bildliche und schriftliche Darstellung in der Geographie sind also hier nicht immer konsequent trennbar, was zum einen nicht ohne Folgen für die Auslegung des Ptolemäus geblieben ist und zum anderen für die gelehrten Definitionsbemühungen um die Geographie in der Frühen Neuzeit. 36 Vgl. dazu C. P. Burger Jr.: De Tabulae contractae van Petrus Bertius, in: Het Boek. Tweede Reeks van het Tijdschrift voor Boek- en Bibliotheekswezen 19 (1930), S. 301–320, hier S. 304; Schilder, Monumenta Cartographica Neerlandica (s. Anm. 28), S. 464; an Krogt, Koeman’s atlantes Neerlandici (s. Anm. 25) S. 374 und 409).
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zierung geographischen Wissens über Arabien im Vergleich zur Vorlage zu beobachten ist. Hinzu kommt, dass die Beschreibungen Arabiens mit je knapp drei Seiten im Atlasformat von einer überschaubaren Länge sind und Unterschiede zwischen Tabulae Geographicae und Caert-Thresoor gut sichtbar gemacht werden können. Ferner ist das kulturelle Wissen um Arabien um 1600 in den Niederlanden noch nicht durch die erst später einsetzende Flut von Einzelbeschreibungen Arabiens und diverser Reiseberichte durchsetzt.37 Das gelehrte Interesse an der arabischen Sprache und Welt (und damit indirekt auch am Islam) war an der Universität Leiden um 1600 mit Figuren wie Franciscus Raphelengius (1539–1597), Joseph Justus Scaliger (1540–1609) und vor allem Thomas Erpenius (1584–1624), der dort 1613 die allererste Professur für Arabisch erhalten hatte, gerade erst am Entstehen.38 Gerade aus dieser Perspektive erscheint es also lohnend zu sehen, wie Bertius Arabien am Vorabend der intensiven Arabisch-Studien in Leiden beschreibt, die in den kommenden Dekaden weit über Leiden hinaus einen herausragenden Ruf genießen sollten und durch einflussreiche Erpenius-Schüler wie Jokob Golius (1596–1667) auf universitärer Ebene weitere Verbreitung finden sollten. Dennoch scheint auch Bertius den Anspruch gehabt zu haben, in seinen Weltbeschreibungen insofern innovativ zu sein und Neues zu liefern, als er die Beschreibung Arabiens gemäß bestimmter für die Geographie formulierter Geltungsansprüche konzipierte, die auch innerhalb des Diskurses etablierter Gelehrtennetzwerke auf Bestand und
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37 Die Beschäftigung mit dem Arabischen und mit dem Islam in den frühneuzeitlichen Niederlanden spielte sich nicht zuletzt auch im außeruniversitären Bereich ab, wofür der Kontakt des Mennoniters Jan Theunisz (ca. 1569–1637?) mit dem marokkanischen Diplomaten Abd al-Azı¯z in Amsterdam ein gutes Beispiel bietet. Vgl. dazu Dorrit van Dalen: Johannes Theunisz and Abd al-Aziz: a friendship in Arabic studies in Amsterdam, 1609–1610, in: Lias. Journal of Early Modern Intellectual Culture and Its Sources 43/1 (Juni 2016), 161–189. Eine lateinische Einzelbetrachtung aus dem niederländischen Raum erfährt Arabien erst 1635 durch die Mennoniter Gabriel Sionita und Johannes Hesronita, die aus einer Reihe orientalischer Schriftsteller (die sie alle namentlich nennen) Kompilationen zu Arabien anfertigen und publizieren: Gabriel Sionita/Johannes Hesronita: Arabia sei Arabum vicinarumque gentium Orientalium leges, ritus, sacri et profani mores, instituta et historia. Accedunt praeterea varia per Arabiam itinera in quibus multa notatu digna enarrantur, Amsterdam 1635 [gedr.: Willem und Joan Blaeu]. Für die Geschichte von europäischen Reiseberichten aus Asien im 17. und 18. Jahrhundert, die etwa mit Reiseberichten wie die eines Jean de la Roque oder eines Carsten Niebuhr erst schrittweise eine größere Aufmerksamkeit für Arabien entwickelten, vgl. Jürgen Osterhammel: Reisen an die Grenzen der Alten Welt. Asien im Reisebericht des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Der Reisebericht. Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur, hg. v. Peter J. Brenner, Frankfurt am Main 1989, S. 224–260. 38 Es war auch Thomas Erpenius, der aus eigenen Mitteln eine Druckwerkstatt mit eigenen arabischen Drucktypen finanzierte, die in der Folgezeit die Herausgabe arabischer Texte in Leiden ungemein beförderte. Für die Geschichte der Arabisch-Studien im Europa des 17. Jahrhunderts insgesamt vgl. auch Jan Loop: Johann Heinrich Hottinger. Arabic and Islamic Studies in the Seventeenth Century, Oxford 2013.
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Geltung39 hoffen konnten, weil sie, anders als der Caert-Thresoor und die ptolemäische Geographike hyphegesis, für diesen gelehrten Leserkreis gedacht waren.40 Dieses angesprochene Verhältnis der je anvisierten Leserkreise von CaertThresoor (vorangig volkssprachiges, nicht-universitäres Milieu) und Tabulae Geographicae contractae (vorangig lateinsprachiges, gelehrt-universitäres Milieu), und die Tatsache, dass das lateinische Werk zunächst als eine Übersetzung des niederländischen entstanden war, legt nahe, dass sich beide Werk auch geographisches Wissen teilen, trotz bestehender Unterschiede. Denn – ganz im Sinne der Definition von ›kulturellen Wissen‹ – wird auch dieses keineswegs nur von Wissenschaften erzeugt, sondern rekurriert auf »die Gesamtmenge der in einer Kultur zirkulierenden Kenntnisse, die durch Kommunikation und Erfahrung konstruiert, erworben und tradiert werden.«41 Genau wie kulturelles Wissen, stellt auch geographisches Wissen »einen reproduzierbaren Bestand kulturell möglicher Denk-, Orientierungs-, und Handlungsmuster bereit, die innerhalb der jeweiligen kulturellen Rahmenbedingungen als gesellschaftlich gültig und wertvoll gelten.«42 Bezieht man diesen Aspekt der Geltung (das meint in diesem Fall: der zeitgenössischen Gültigkeit) geographischen Wissens konkret auf die Tabulae Geographicae contractae des Petrus Bertius, wird schnell klar, dass es hierbei um einen Geltungs- und Gültigkeitsbegriff gehen muss, der mit Geltungs- und Gültigkeitsansprüchen der frühneuzeitlichen Wissenschaften zusammenhängen muss. So musste auch Bertius sich unter den kulturellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen seiner Zeit Rechenschaft darüber ablegen, was als ›wissenschaftlich‹ gelten darf.43 Dafür war es im besten Falle angesagt, im Rahmen eines gelehrten Milieus zu agieren (wie etwa der Universität Leiden) und die darin geltenden Maßstäbe wissenschaftlicher Produktion und Publikation zu beachten. Wie Bertius’ Biographie zeigt, gelang ihm das durchaus, indem er 1593 Subregent des Statencollege wurde und die Tochter von Johannes Kuchlinus 39 Hier im Sinne von ›Gültigkeit‹/›Anerkennung‹ zu verstehen. 40 Neben anderen möglichen Gründen scheint es vor allem die Wahl des Lateinischen (statt des Niederländischen) zu sein, die eine solche These nahelegt. 41 Neumann, Kulturelles Wissen (s. Anm. 13), S. 43. 42 Neumann, Kulturelles Wissen (s. Anm. 13), S. 43. 43 Ein Diskurs, der durchaus in den Wissenschaftsdebatten der Frühen Neuzeit direkt wie indirekt fassbar ist. Vgl. Frank Rexroth: Praktiken der Grenzziehung in Gelehrtenmilieus der Vormoderne. Einige einleitende Bemerkungen, in: Was als wisseschaftlich gelten darf. Praktiken der Grenzziehung in Gelehrtenmilieus der Vormoderne, Frankfurt am Main 2014, hg. v. Martin Mulsow/Frank Rexroth, S. 11–37. Dass die Geltung der Wissenschaften für Bertius ein Thema war, zeigen auch seine Dissertationen. Vgl. nur Petrus Bertius – Josephus van der Rosieren: Theses Philosophicae de scientiarum prioritate, certitudine ac dignitate, Leiden 1604; Ders. – Rudolphus Petri: Theses Philosophicae de scientiarum subalternatione, Leiden 1604.
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heiratete, dem er nach dessen Tod (1606) auf dem Posten als Regent des Statencollege nachfolgte. Durch diese Heirat wurde der Kartograph Iudocus Hondius zu seinem Schwager, in dessen Verlegerbetrieb er spätere Ausgaben seiner geographischen Werke publizieren sollte. Doch erlangte Bertius diese akademische Geltung auch über seine konkrete Arbeit auf dem Gebiet der Geographie. Bereits in der Erstausgabe der Tabulae Geographicae von 1600 sind dem Werk mehrere Gedichte vorangestellt, in denen Personen aus dem Leidener Gelehrtenmilieu wie Bonaventura Vulcanius, Cornelius Rekenarius, Festus Homminga Frisius, Joannes Meursius, Gerardus Vossius, Daniel Heinsius oder in späteren Ausgaben auch Petrus Scriverius und Daniel Heremita dieses geographische Werk des Petrus Bertius rühmen. Die Gedichte dokumentieren, in welchem Umfang Bertius – der bis zur Synode von Dordrecht 1618/19 eine gradlinige Karriere in Leiden vorweisen konnte – in dieses späthumanistische (auch international ausgerichtete) Gelehrtennetzwerk in Leiden eingebunden war und dort für seine Arbeit auf dem Gebiet der Geographia großes Ansehen genoss.44 Dafür bilden auch die von ihm als Praeses in Leiden betreuten Dissertationen, die im weitesten Sinne Fragen der Geographie und Kosmologie behandelten, sowie seine Vorlesungen einen weiteren Indikator.45 Sie dokumentieren auch die Nähe von Bertius’ kosmologischen und geo-
44 Vgl. Bosch, Petrus Bertius (s. Anm. 14). Auch im Widmungsbrief an die Magistrate von Leiden in der Ausgabe von 1603 lässt Bertius erkennen, dass seinen Tabulae Geographicae Erfolg beschieden war : Bertius: Widmung, in: Tabularum Geographicarum contractarum libri quinque […] Editio secunda, Amsterdam 1603: Sed quum laus esset publica, et nos ante annos octo novem, peregre agentes aliquid de his rebus essemus commentati, voluimus rogante Typographo, amicisque suadentibus, virium nostrarum iudiciique publici facere periculum. Allgemein zum gelehrten Milieu in und um Leiden, in dem Bertius sich bewegte, vgl. Philip Christiaan Molhuysen: Geschiedenis der Universiteits-Bibliotheek te Leiden, Leiden 1905; Lunsingh Scheurleer/G.H.M. Posthumus Meyjes (Hgg.): Leiden University in the Seventeenth Century. An Exchange of Learning, Leiden 1975; Henrike L. Clotz: Hochschule für Holland. Die Universität Leiden im Spannungsfeld zwischen Provinz, Stadt und Kirche, 1575–1619, Stuttgart 1998. Gerardus Johannes Vossius (1577–1649), zeitgleich zu und nach Bertius an der Universität in Leiden tätig, nennt Bertius ausdrücklich als eine der zeitgenössischen Referenzen auf dem Gebiet der Geographie neben Abraham Ortelius und Gerardus Mercator (vgl. Gerardus Joannes Vossius: Dissertatio particularis de ratione et ordine universam legendi Historiam, in: Gerardi Io. Vossy et aliorum Dissertationes de studiis bene instituendis, hg. v. Theodorus Ackersdyk/Gisbert Zylaeus, Utrecht 1658, S. 43). Und auch in De scientiis mathematicis bespricht er ihn als einen der renommierten zeitgenössischen Geographen (vgl. Ders.: De universae mathematesios natura et constitutione liber, Amsterdam 1650 [gedr.: Joannis Blaeu], c. 44, § 35, S. 260–261). 45 Herausgegriffen seien hier nur folgende: Petrus Bertius – Ioannes Wyringius: Theses miscelaneae de terra, Leiden 1604; Ders. – Petrus Cuylius: Theses physicae de aere eiusque regionibus, Leiden 1604; Ders. – Cornelius a Nieren: Theses peripateticae de natura coeli, Leiden 1603; Ders. – Samuel Hochedaeus de la Vigne: Theses physicae de elemento ignis eiusque motu in orbem, Leiden 1603; Ders. – Christianus Sopingius: Theoremata physica
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graphischen Vorstellungen zum universitären Aristotelismus, der an einer ganzen Reihe von frühneuzeitlichen Universitäten Europas das etablierte methodische und wissenschaftssystematische Paradigma gewesen war. Dieser Aristotelismus kam nicht zuletzt aus Italien (z. B. über Jacopo Zabarella, den Bertius in seinen Dissertationen zitiert46) in die Niederlande. Noch bot hier das aristotelisch-geozentrische Weltbild die größeren Karrierechancen und Anschlussmöglichkeiten an gelehrte Netzwerke bereit, statt sich den Ideen eines Nikolaus Kopernikus (1473–1543), Galileo Galilei (1564–1642) oder eines Johannis Kepler (1571–1630) anzuschließen.47 So erklärt sich ohne Weiteres, dass Bertius nicht zuletzt aus karrieretechnischen Gründen daran liegen musste, Beiträge zur Wissenschaft zu liefern, die im Rahmen etablierter (vornehmlich universitärer) Geltungsmaßstäbe seiner Zeit und seines Wirkungsortes Leiden lagen, was nicht ohne Auswirkungen auf die konzeptionelle Ausrichtung der Geographie blieb, der er sich anschloss und die er in eigenen Publikationen, nicht zuletzt in den Tabulae Geographicae contractae, zu fördern suchte.48
III.
Die Geltung von Geographie und geographischen Wissen: Die Paratexte und die Einleitung der Tabulae Geographicae und die Disziplin der Geographia bei Bertius
Gegenüber den Ausgaben des Caert-Thresoors zeichnen sich die Tabulae Geographicae vor allem dadurch aus, dass Bertius in den Paratexten und zu Beginn des ersten Buches in topischer, aber dennoch anschaulicher Weise konzeptionelle Betrachtungen über die Disziplin der Geographie anstellt. Im ersten Ein-
de loco, Leiden 1605. Vgl. dazu auch diese Abhandlung von Bertius: Petrus Bertius: Logicae Peripateticae libri sex, Leiden 1604). 46 So z. B. in Petrus Bertius – Ioannes Wyringius: Theses miscelaneae de terra, Leiden 1604. 47 Entsprechend der aristotelischen und geozentrischen Positionen in der frühneuzeitlichen Wissenschaft, war der Kosmos unveränderlich und die Erde unbeweglich in dessen Mitte. Zur schrittweisen und langwierigen, immer wieder durch Brüche durchsetzten Abwicklung dieser aristotelischen Positionen durch heliozentrische Konzepte in der Frühen Neuzeit siehe Michael Weichenhan: Ergo perit coelum… Die Supernova des Jahres 1572 und die Überwindung der aristotelischen Kosmologie, Stuttgart 2004. 48 Dass Bertius ein vehementer Vertreter eines wissenschaftlich-universitären Aristotelismus war, zeigen auch die Einleitungskapitel (De Mundo, De Sphaera Caelesti und De Globo Terrae) seiner Tabulae Geographicae contractae. Vgl. Bertius: De Sphaera Caelesti, in: Tabulae Geographicae, Amsterdam 1618 (s. Anm. 25), S. 27: Terra, qua una cum aqua globum efficit, centrum est universi: Hanc ambit a[r, hunc, elementum ignis. Circa elementarem vero regionem, aethera motu circulari fertur, quam Philosophus [= Aristoteles] quintam appelat essentiam, vulgo ouqamom [sic] et caelum vocant.
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leitungskapitel mit dem Titel De Geographia49 stellt er fest: Die Geographie sei das »wahre Licht der Historie« (vera Historiae fax), das »Rüstzeug für die Wissenschaften und die Weisheit insgesamt« (litterarum et totius sapientiae ornamentum) und ihr Studium sei eine »spezifische Eigenheit des gelehrten Geistes« (huius studium ut omnibus aliquod adnatum, ita optimis ingeniis proprium quoddam et singulare).50 Und auch einer seiner Lehrer aus Strasbourg, der Rechtsgelehrte Dionysius Gothofredus, wie er an anderer Stelle bemerkt, habe ihn jedes Mal, wenn er ihn zu bedeutenden Studien (studia graviora) angehalten habe, besonders zum Studium der Geographie ermuntert (imprimis ad Geographiae cognitionem hortari solebat).51 Selten habe – so Bertius in der Manier Strabons – irgendein Teil der Philosophie einen nützlicheren Beitrag (utilitas/ commoditas) für die res publicae geleistet als die Geographie.52 Ohne die Geographie, fährt er fort, wanke die Geschichte (labat Historia) und jedes Erinnern an Altertümer sei blind (omnia rerum antiquarum monumenta caeca sunt). Der Theologus wisse ohne sie nicht, wo Chanaan, wo Ägypten oder sämtliche alt- und neutestamentlichen Regionen und Städte zu finden seien. Er wisse nichts von der Beschaffenheit der Reise des Abrahams, kenne nicht den Weg der Israeliten durch die Wüste oder die Missionsrouten des Paulus. Das Gleiche gelte für den Medicus, der das Wesen der Pflanzen und Kräuter nicht vollends verstünde, ohne nicht auch die Gründe ihrer Heilkräfte zu kennen, die sich aus der geographischen Lage und dem jeweiligen Klima (ex regionum positu et mundi climate) ergäben, in dem die Pflanzen wachsen. Und auch der Rechtsgelehrte könne ohne Kenntnis der Geographie kaum Politicus genannt werden, weil er die unterschiedlichen Gesetze der verschiedenen Länder nicht kenne. Der Astronom (Astronomus), der Händler (Mercator) und selbst ein Herrscher, Staatsmann oder Feldherr (Princeps) dürfe der Kenntnis der Geographie nicht entbehren.53 In Anlehnung an Strabon verortet Bertius den Großteil des Nutzens der Geographie damit bei der Geschichtsschreibung, die er exponiert voranstellt, sowie bei den Bedürfnissen des öffentlichen Lebens (pros tas politikas, wie es bei 49 Bertius, De Geographia, in: Tabulae Geographicae (s. Anm. 25), S. 3-6. Wo nicht anders vermerkt, bezieht sich die Textzitation im Folgenden auf die von Iudocus Hondius Jr. verlegte Ausgabe, Amsterdam 1618 (s. Anm. 19). Sie wird gewählt, weil sie die letzte lateinische zu Bertius’ Lebzeiten († 1629) darstellt. Die Übersetzungen der jeweiligen Textpassagen stammen vom Verfasser dieses Aufsatzes. 50 Bertius, De Geographia, in: Tabulae Geographicae (s. Anm. 25), S. 3. 51 Bertius, Praefatio ad benignum lectorem, in: Tabulae Geographicae (s. Anm. 25). 52 Es ist sehr wahrscheinlich, dass Bertius für die Geographik# des Strabon die Edition von 1587 von Isaac Casaubon (1559–1614) benutzt hat. Vgl. Isaac Casaubon: Strabonis Rerum Geographicarum libri XVII, Genf 1587, S. 6–8, wo Strabon ganz analog bereits eine ähnliche Reihe von Nutzen der Geographie auflistet, beginnend bei der Historie und der Naturkunde bis hin zum öffentlichen und politischen Nutzen für Herrscher. 53 Insgesamt: Bertius, De Geographia, in: Tabulae Geographicae (s. Anm. 25), S. 3–4. Vgl. dazu auch: Casaubon: Strabonis Res Geographicae (s. Anm. 52), S. 6–8.
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Strabon heißt), was vor allem den Nutzen für die Politik der Herrscher meint.54 Die Welt, die von den Menschen bewohnt wird, bildet gleichsam den Schauplatz der wichtigsten irdischen Ereignisse, für deren Beschreibung und Verdeutlichung gerade auch die Geographie in ihrem Nutzen für die Historie notwendig sei. Mit diesen für die Geographie formulierten, allumfassenden Geltungsansprüchen rekurriert Bertius auch auf die Theatrum-Topik, die häufig für sie bedient worden ist.55 Mit ihren Karten und Beschreibungen liefert die Geographie (als vera Historiae fax) ein Wissen, das sonst für das bloße Auge und den Verstand nicht sichtbar wäre. Sie erlaubt eine Art ganzheitliche Perspektiverweiterung, die einen Gesamtblick (von oben) auf das göttliche Schöpfungswerk und das, was es umfasst, zulasse.56 Daher – so ließen sich Bertius’ Ausführungen verstehen – wankt die Erforschung der Historie (labat Historia), wenn sie nicht an bestimmten Orten und auf festem, sichtbarem Boden lokalisiert wird, und bliebe demzufolge blind (caeca) gegenüber ihren jeweiligen Gegenstand. Auf diese Weise ordnet Bertius die Geographia, die er als litterarum et totius sapientiae ornamentum versteht, nicht nur als essentielle Hilfsdisziplin in die zeitgenössischen Wissen(schaft)ssystematik ein,57 sondern misst ihr durch
54 Bertius, De Geographia, in: Tabulae Geographicae (s. Anm. 25), S. 4. Hier zitiert Bertius den griechischen Text (Strab. 1, 14, 16) aus der griechisch-lateinischen Edition von Isaac Casaubon (1587). Vgl. Casaubon: Strabonis Res Geographicae (s. Anm. 52), S. 6. 55 Vgl. Ortelius, Theatrum orbis terrarum (s. Anm. 9), der zu Beginn seines Vorworts die Geographie – wie andere vor ihm – als historiae oculus bezeichnet. Vgl. auch: Iudocus Hondius im Vorwort zu seiner Ausgabe des Atlas minor des Gerardus Mercator: Iudocus Hondius: Iudocus Hondius Lectori, in: Gerardus Mercator : Atlas minor, Arnheim 1621 (s. Anm. 7): Recte illi meo iudicio senserunt, benevole Lector, qui inter disciplinas liberales, quae citra controversiam plurimum adferunt utilitatis vitae mortalium, primum locum Geographiae tribuunt, non tantum ob id, quod absque hac caeca est omnis veterum auctorum lectio, surda rerum gestarum narratio: Verum etiam quod in publicis consultationibus, inque dirimendis controversiis, quoties de ditionis finibus ambigunt Principes, vel fideli consilio, vel aequo iudicio iuvat. Vgl. zur Theatrum-Metapher auch: Peter von Moos: Geschichte als Topik. Das rhetorische Exemplum von der Antike bis zur Neuzeit und die historiae im Policraticus Johanns von Salisbury, Hildesheim/New York/Zürich 1988, S. 508–512; Goffart, Historical Atlases (s. Anm. 4), S. 13. 56 Vgl. Bertius, In Theatrum Geographiae veteris praefatio, in: Ders.: Theatrum Geographiae veteris Tomus prior (s. Anm. 15), S. 5: Habet certe Geographiae studium ingentem vim ad animos nostros Deo coniungendos, quippe cum Providentiae ipsius opera tam conspicua sint in terra et mari, quam in Sole et Luna. […] Hoc illud est theatrum in quo Deus mortales ad imaginem suam factos protegit […]. 57 Zur Systematik der Disziplinen vgl. auch die zeitgenössische Perspektive auf den Wissenschaftsapparat in Christophorus Mylaeus: De scribenda universitatis rerum historia libri quinque, lib. IIII: De Sapientia, Basel 1551, S. 196f. Grundsätzlich dazu Wilhelm SchmidtBiggemann: Topica Universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft, Hamburg 1983, S. 23–29.
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weitere topische Aufladungen vermehrte Geltung unter den disciplinae liberales zu und versucht so ihre spezifische praestantia (Eigenheit) herauszuarbeiten. Die der Geographia in den Tabulae Geographicae zugeschriebene Geltung lässt sich dabei terminologisch als eine ›topische Geltung‹ fassen. Im Gang durch verschiedenste Wissen(schaft)sgebiete (Geschichte, Theologie, Medizin, Jurisprudenz, Astronomie, Handel, Politik) identifiziert Bertius Wissen, das die Geographie mit diesen teile oder diesen sogar überhaupt erst bereitstelle. Das durch die Geographia zur Verfügung gestellte geographische Wissen wird durch diese argumentative Strategie als ein ›geteiltes Wissen‹ präsentiert, das die Geographie für andere Disziplinen bereitstellt und das ohne ihre Hilfe auch nicht generiert werden könne.58 So kann, nach Bertius, ein nicht zuletzt historischer und biblischer Handlungsraum (wie beispielsweise Arabia) als solcher überhaupt erst dann in seiner Gänze verstanden werden, wenn er durch die umspannende Perspektive von Landkarten und geographischen Beschreibungen, den zentralen Methoden der geographischen Disziplin, ausreichend erschlossen und durchdrungen ist. Auf diese Weise wird geographisches Wissen bei Bertius zu einem Wissen, mit dessen Hilfe die Welt (d. h. die Schöpfung in ihrer Gesamtheit) beschreiben werden kann. Diese argumentative Strategie, die sich der utilitas-Topik bedient, ist für Bertius essentiell, um das Wissensgebiet der Geographia abzustecken und zu legitimieren und so ihre Relevanz nicht zuletzt für die vor allem akademisch bereits etablierten Disziplinen aufzuzeigen. Auch wenn diese Argumentationen, wie sie hier bei Bertius begegnen, topischer Natur sind und Allgemeinplätze repetieren, so wird durch sie doch die Bedeutung ersichtlich, die Bertius der Geographie zu attestieren bestrebt war, um ihre Geltung im zeitgenössischen Diskurs weiter zu verankern und zu multiplizieren.59 Eben dies versucht auch Bertius für die Geographie, indem er geographisches Wissen konsequent als allgemeingültiges kulturelles Wissen ausweist. Nahezu jedes Wissen, so ließe sich Bertius in diesem Punkt verstehen, kann zu geographischen Wissen werden, wenn es der Beschreibung der Erde (der terra) dient. Ein weiterer essentieller Bestandteil der Validierung und Legitimierung der Geographia und des mit ihr verbundenen Wissens liegt in Bertius’ umfassendem, wiederum stark topischem Rekurs auf die einschlägigen Autoritäten des 58 Eine auch für andere Disziplinen verbreitete Praxis. Für die Geographie: Bertius, Oratio de Geographia (s. Anm. 21), S. 297–300. Für die Astronomie vgl. Michael Maestlin: Epitome Astronomiae, Heidelberg 1582, für das Studium des Arabischen vgl. Johann Heinrich Hottinger: Dissertatio de usu linguae Arabicae in Theologia, Medicina, Jurisprudentia, Philosophia et Philologia, in: Annalecta Historico-Theologica, Zürich 1652, S. 233–316. 59 Vgl. z. B. zu Johann Heinrich Hottinger (1620–1667) und dessen Rechtfertigung der Arabisch-Studien Jan Loop: Johann Heinrich Hottinger. Arabic and Islamic Studies in the Seventeenth Century, Oxford 2013, S. 3.
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Fachgebiets: Er weiß zu berichten von den ante diluvium primi artium inventores, die sich in alter, vorsintflutlicher Zeit bereits mit ihr beschäftigt hätten (tractarunt eam).60 Auch Homer – so schöpft es Bertius aus Strabon – habe sie gepflegt und weiterentwickelt (coluit/exornavit) und das homerische Werk sei nicht bloß als schlichte Dichtung (Poiesis), sondern als bildliche Darstellung der Welt (als pictura) zu verstehen. An Odysseus, Nestor und Menelaos, so Bertius weiter, habe Homer daher auch zu Recht gelobt, dass sie viele Länder bereist und die Sitten vieler Völker gesehen hätten61: ein essentieller Teil, wenn es darum geht, geographisches Wissen zusammenzutragen. So konstatiert Bertius herausfordernd: Diejenigen, die hier noch glaubten, Homer sei blind gewesen (caecus), könne man nur noch als verrückt bezeichnen (mente capti dicendi sint).62 Auf diese Weise verknüpft Bertius – ganz gemäß etablierter Tradition – die Geographie mit der Homer-Exegese und schreibt sich somit in einen Diskurs ein, der ganz dezidiert die Geographie als Wissensdisziplin zu nobilitieren versucht. In seiner Ptolemäus-Ausgabe von 1618 schöpft Bertius an vielen Punkten aus den Geographik# des Strabon erneut und sagt, dass Homer es gewesen sei, der die gesamte Geographie (universa Geographia) seiner Zeit erfasst habe und dass Hipparch zu Recht an ihm als einem Vertreter dieser Disziplin (huius disciplinae autor) nicht gezweifelt habe.63 Doch auch aus seiner eigenen Kompetenz und Belesenheit auf dem Gebiet der Geographie macht Bertius keinen Hehl und listet all jene Autoren auf, die das Wissen der Geographie vermehrt hätten: Anaximander, Hekataios, Demokritos, 60 Bertius, De Geographia, in: Tabulae Geographicae (s. Anm. 25), S. 3. Interessanterweise benennt Bertius an dieser Stelle keine konkrete biblische Figur, sondern scheint die Beschäftigung mit der Geographie nur möglichst weit in die Vergangenheit (vor die Sintflut) verlegen zu wollen. Der Jesuit Antonio Possevino wenige Jahre vor ihm war überzeugt, Moses als Archegeten der Geographie ausmachen zu können (Antonio Possevino: Apparatus ad omnium gentium historiam […] et Methodus ad Geographiam tradendam, Venedig 1597, S. 226: Moyses primus inventor Geographiae). 61 Bertius, De Geographia, in: Tabulae Geographicae (s. Anm. 25), S. 3. Schon der Beginn der Odysseia bildete das Fundament für diese geographische Deutungstradition innerhalb der Homer-Exegese, die durch Strabon und spätantike Kommentatoren (u. a. Eustathius v. Thessalonike) bereits in der Antike einflussreiche Multiplikatoren fand (Vgl. Strab. 1, 1, 3; Hom. Od. 1, 1–5: -mdqa loi 5mmepe, LoOsa, pok}tqopom, dr l\ka pokk± / pk\cwhg, 1pe· Tqo_gr Req¹m ptok_ehqom 5peqse: / pokk_m d’ !mhq~pym Udem %stea ja· m|om 5cmy, / pokk± d’ f c’ 1m p|mt\ p\hem %kcea dm jat± hul|m, / !qm}lemor Fm te xuwµm ja· m|stom 2ta_qym). 62 Bertius, De Geographia, in: Tabulae Geographicae (s. Anm. 25), S. 3. 63 Vgl. Bertius, In Theatrum Geographiae veteris praefatio, in: Ders., Theatrum Geographiae veteris Tomus prior (s. Anm. 15), S. 6. (vgl.: Strab. 1, 1, 3). Ebd. präsentiert Bertius Moses als jemanden, der zwar den Sitz und die Flüsse des Paradieses beschrieben habe, jedoch gerade – wie Homer auch – nicht der Begründer (inventor) der Disziplin gewesen sei. Diesen Verdienst attestiert Bertius – auf Grundlage von Strabon – dem Griechen Anaximander (Bertius, De Geographia, in: Tabulae Geographicae (s. Anm. 25), S. 5: Inventum creditur esse Anaximandri.
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Eudoxos, Dikaiarchos, Ephoros, Erathosthenes, Polybios, Poseidonios, Strabon, Dionysios Periegetes, Pomponius Mela, Plinius, Solinus, Titianus und natürlich die Koryphäe unter allen: Claudius Ptolemäus (omniumque coryphaeus Cl. Ptolemaeus). Und auch seine Vorgänger und Zeitgenossen lässt er nicht unerwähnt: Gerhard Mercator, Abraham Ortelius, Antonio Magini (der 1588 statt Galilei den Lehrstuhl für Mathematik in Bologna erhielt) und Judocus Hondius.64 Nachdem Bertius den Nutzen der Geographie vornehmlich in Anlehnung an Strabon dargelegt hat, übernimmt er im Folgenden die Definition der Geographia aus Ptolemäus, des »versiertesten Autoren dieser Wissenschaft« (solertissimus huius scientiae autor).65 Geographia sei demnach eine imitatio picturae totius terrae cognitae, cum iis quae universaliter ei sunt adnexa, das heißt: eine Nachbildung (imitatio) des Abbilds (picturae) der gesamten Erde, soweit sie bekannt sei, und all dem, was insgesamt damit verbunden ist. Bertius zitiert hier eine der etablierten lateinischen Übersetzungsvarianten des ersten Satzes der ptolemäischen Geographie, eine Übersetzung, die sich mit seiner eigenen im Theatrum Geographiae und z. B. mit der einflussreichen Übersetzung des Willibald Pirckheimer (Strasbourg 1525) deckt.66 Daraus leitet er das Beschreiben (die descriptio) als Schlüsseltätigkeit des Geographen ab und knüpft damit auch an die seinerzeit durchaus gängige Worterklärung von Geo-graphia an,67 wenn er schreibt: »Deshalb beschreibt die Geographie, sei es auf der Fläche, sei es auf der Kugel, alle Orte und besonderen Teile der gesamten, bekannten Erde unter Beachtung der exakten Einsicht in ihre Entfernungen zueinander.«68 Sie bedient 64 Zur gesamten Autorenreihe: Bertius, De Geographia, in: Tabulae Geographicae (s. Anm. 25), S. 3. In den früheren Ausgaben der Tabulae Geographicae (z. B. der von 1603; s. Anm. 44) gehörte in diese Reihe noch der Calvinist Petrus Plancius. Mit den HondiusAusgaben (seit 1616; s. Anm 25) gelangt zwischen Widmungsgedicht und Leservorwort noch ein weiterer Paratext in die Tabulae Geographicae, worin Bertius noch Autoren erwähnt wie: Scylax, Nicomedes, die (verlorene) Geographie des Plinius, Antonius, Agrippa, Rheginus sowie Beatus Rhenanus und Sebastian Münster. Dies alles dokumentiert das immense (und dennoch selektive) geographische Textkorpus, auf das Bertius zurückgegriffen hat. 65 Hier und im Folgenden: Bertius, De Geographia, in: Tabulae Geographicae (s. Anm. 25), S. 5–6. 66 Vgl. Bertius, Theatrum Geographiae veteris (s. Anm. 15), lib. I, c. 1, S. 4 sowie Pirckheimer: Cl. Ptolemaei Geographicae Enarrationis libri (s. Anm. 15), lib. I, c. 1, fol. 3: Geographia imitatio est picturae totius partis terrae cognitae, cum iis, quae sibi quasi universaliter sunt annexa. Vgl. auch Ptol. geogr. 1, 1, 1: J ceycqav_a l_lgs_r 1sti di± cqav/r toO jateikgll]mou t/r c/r l]qour fkou let± t_m ¢r 1p_pam aqt` sumgll]mym. Stückelberger/ Graßhoff, Klaudios Ptolemaios (s. Anm. 3), S. 53 übersetzen: »Die Geographie/Erdkunde ist die auf einem Abbildungsverfahren beruhende Nachbildung des gesamten bekannten Teils der Erde, samt dem, was allgemein damit im Zusammenhang steht.« 67 Also als Zusammensetzung aus griech. c/ (= Erde) und griech. cq\veim (= schreiben, zeichnen, beschreiben). So z. B. Bertius’ Kollege Phillip Clüver (s. Anm. 35). 68 Bertius, De Geographia, in: Tabulae Geographicae (s. Anm. 25), S. 5: Describit igitur Geographia vel in plano, vel in globo omnia loca et partes praecipuas totius orbis cogniti, servata intervallorum exacta ratione.
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sich also der Karten und Globen der Kartographen und stellt selbst die Texte zur Beschreibung der darauf abgebildeten geographischen Räume bereit.69 Damit nähert Bertius seine Konzeption von Geographia dem an, was in der neueren Forschung schon mit Bezug auf die Antike als ›praktische‹ bzw. ›beschreibende Geographie‹ klassifiziert wurde.70 Auch Bertius scheint es nicht darum zu gehen, eine Karte durch einen nüchternen Kartenkommentar zu beschreiben, sondern die beschreibenden Texte seiner geographischen Werke, nicht zuletzt der Tabulae Geographica contractae, sollen auch der Beschreibung historischer Zusammenhänge dienen, die sich auf die Regionen beziehen, die in den Karten abgebildet sind. Dieser schriftlich-beschreibende Aspekt bleibt nicht ohne Folgen für die Frage nach der Geltung des durch die Geographie vermittelten geographischen (Text-)Wissens. Anders als die Cosmographia, die sich mit dem gesamten Kosmos (mundus) beschäftigt, ist die Geographia laut Bertius enger gefasst (Cosmographia angustior), da sie nur allein die Erde (terra) berücksichtigt. Ihr Interesse richtet sich, so Bertius, nicht darauf, wie weit sich der Erdkörper insgesamt erstreckt – dies ist Aufgabe der Physik –, sondern auf dessen Oberflächenbetrachtung (ratione suae superficiei).71 Bertius sieht ihre Funktion vornehmlich darin, lebensweltliches und historisches Ordnungswissen bereitzustellen: Wo befinden sich für Menschen bewohnbare Zonen? Was sind die termini, fines, magnitudines, ambitus, origines, cursus, flexus, ostia, amplitudines, situs, positiones der Länder, Meere, Flüsse oder Städte und in welchem Verhältnis befinden sie sich jeweils zueinander und zum Himmel?72 Anschlie69 Dies konnte durchaus ein Autor in Personalunion von Kartograph und Geograph allein bewerkstelligen. Häufiger jedoch stellten vor allem die niederländischen Atlanten und sonstigen, etwa in Amsterdam oder Leiden gedruckten, geographischen Werke eine Zusammenarbeit dar von Kartographen, die die Karten lieferten, und Geographen, die für die Texte sorgten. Dabei waren die Kartographen oft oftmals zugleich Verleger (wie etwa Iudocus Hondius oder Cornelis Claeszoon). Auch Geographen besaßen mitunter die Expertise, Karten zu erstellen. Das Erstellen und Ausfertigen von Karten für den Druck hatte sich jedoch offenbar relativ schnell zu einer spezifischen Drucker- und Verlegerprofession entwickelt, die zu dieser in der Regel geteilten Arbeitsweise zwischen Kartograph und Geograph geführt hatte. 70 Vgl. Frank Schleicher : Cosmographia Christiana. Kosmologie und Geographie im frühen Christentum, Paderborn 2014, S. 24–27. So liegt denn auch Bertius’ Verdienst nicht primär bei der Erstellung von Karten, sondern bei den sprachlichen Beschreibungen, die er in den Tabulae Geographicae für seine Erdbescreibung bereitstellt. 71 Vgl. Bertius, De Geographia, in: Tabulae Geographicae (s. Anm. 25), S. 5–6: Et ut terra mundo, ita Geographia Cosmographia est angustior. Describit igitur Cosmographia totam rerum universitatem, Elementa, Terras, Maria, Caelestes orbes, eorumque cursus, siderumque singulorum distantias, totam quoque sub se Astronomiam complexa. Geographia vero terrarum hunc orbem tantum considerat: non quidem quatenus est corpus naturale, ita enim pertinet ad Physicum, sed ratione suae superficiei. 72 Vgl. Bertius, De Geographia, in: Tabulae Geographicae (s. Anm. 25), S. 6.
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ßend scheidet Bertius – wie vor ihm Ptolemäus – die Geographia von der Chorographia. Diese sei kleinschrittiger als die Geographia, weil sie aus der geographischen Karte (ex tabula Geographica) Details, z. B. eine Stadt oder Region, herauslöse und minutiös beschreibe (singularem descriptionem profitetur). Wie es beim Malen etwas anderes sei, statt nur den Kopf den ganzen menschlichen Körper zu zeichnen, so unterscheide sich auch die Geographia von der Chorographia73. Die Geographie legt ihr Augenmerk auf den gesamten Körper. So findet Bertius am Schluss seiner Einleitung über die Geographie auch zu folgender Einschätzung: »Deshalb scheinen mir jene nicht gut daran zu tun, die in ihren geographischen Werken minutiösen Einzelheiten der Sprachen, der Gesetze, der Familien und Stammbäume sowie der Bündnisse und Wissenschaften nachjagen: Denn wenn der, der die Welt beschreibt, möchte, dass das, was auch immer die Welt in ihrer Gesamtheit ausmacht, sich in seinen Büchern wiederfindet, dann ist das, was er braucht, eine Bibliothek und nicht Karten und ihre Beschreibungen. […] Die Gesetze aber der Geographie sind jene, die ich zuvor genannt habe: Wer die Karten mit einer sprachlichen Darstellung – gleichsam wie mit Farben – ausschmückt, wird dem guten Maß dienen und zwischen nüchterner Aufzählung von Orten und weitschweifiger, überladener Vielrederei einen Mittelweg finden.«74
Diese Passage ist ein Zusatz, der erst mit der ersten Hondius-Ausgabe von 1616 in den Text gelangt, und verrät viel über Bertius’ Konzeption der Tabulae Geographicae contractae und darüber, wie er mit ihnen beabsichtigte, Geographie zu betreiben. Die Geographie hat, nach Bertius, in der sprachlichen Darstellung spezifischen Ordnungsprinzipien zu folgen, gleichwohl er nicht sagt, worin diese genau bestehen. Die Kunst der Geographie, soviel wird jedoch aus Bertius ersichtlich, muss aus dem enormen Fundus an Weltwissen, das für die Geographie wichtige Wissen auswählen und zu einer kompakten, selektierenden Darstellung zusammenfügen. Diese Kunst scheint es zu sein, die, nach Bertius, eine gute geographische Darstellung von einer schlechten unterscheidet und sie idealiter sogar vor anderen Darstellungsformen anderer Disziplinen (wie etwa in der Topographie, aber auch der Historie, der Theologie oder der Jurisprudenz) auszeichnet.
73 Vgl. Bertius, De Geographia, in: Tabulae Geographicae (s. Anm. 25), S. 6. 74 Bertius, De Geographia, in: Tabulae Geographicae (s. Anm. 25), S. 6: Quocirca, non mihi videntur recte facere, qui in Geographicis libris minutias quasdam persequuntur, linguarum, legum, prosapiarum, stemmatum, foedorum, artium: Nam si quaecumque mundo continentur velit is qui mundum describit suo libri complecti, Bibliotheca opus erit, non Tabulis et Tabularum descriptionibus. […] Sed Geographiae illae sunt quas dixi leges: qui tabulas oratione tamquam coloribus exornat, servabit modum, atque inter ieiunam locorum enumerationem, interque laxam et laciniosam pokukoc_am medius incedet.
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Die zentrale Besonderheit der Geographie scheint für Bertius in ihrem Anspruch auf Kompaktheit zu bestehen, dabei aber zugleich den ubiquitären Anspruch verfolgt, alle bekannten Teile der Erde einer Beschreibung zu unterziehen. In Bezug auf die geographische Darstellung schließt sich Bertius also auch einem Qualitätsdiskurs an, in dem es um ein spezifisches Profil, und wenn man so will, um eine spezifischen Geltung der Geographie geht. Dieser programmatische Anspruch auf Kompaktheit scheint sich nicht zuletzt auch im Titel der Tabulae Geographicae contractae niederzuschlagen. Zudem scheint sich dieser Anspruch auch erst im Verlauf der Ausgaben der Tabulae Geographicae entwickelt zu haben: Nennt Bertius sein Werk, einem Bescheidenheitstopos folgend, in der zweiten Ausgabe von 1603 im Widmungsbrief an die Magistrate von Leiden noch ein Munusculum mediocre ohne großen gelehrten Anspruch,75 wendet er dies mit den oben zitierten Zusätzen im Einleitungsteil später dann zu einem besonderen Vorzug der Geographie: In ihr soll nicht alles in ausschweifender, unübersichtlicher Art und Weise (interque laxam et laciniosam pokukoc_am) erzählt werden, sondern ein gewisses Maß der Mitte (modus) soll den Beschreibungen strictim breviterque zugrunde liegen.76 Im Leservorwort, das der Einleitung über die Geographie vorausgeht, formulierte Bertius die dazu passende Zielsetzung (finis) seines Werkes, die sich bereits mit der Erstausgabe von 1600 im Text befand: »Ziel ist es, die Erdteile jenen darzulegen, die ihre Studien auf diesem Gebiet entweder gerade beginnen oder sie gar fachfremd betreiben […], sodass die Beachtung dieses Ziels die Fülle des breiten und immensen Materials komprimiert und in eine Ordnung bringt«.77 Auch deshalb, so Bertius, hat er den Titel Tabulae Geographicae contractae gewählt, um seinen Lesern anzuzeigen, dass er nicht alles behandeln konnte und auch nicht für alle (omnibus) Wissen präsentieren wollte.78 Inwieweit Bertius mit diesen und ähnlichen konzeptionellen Aussagen und seiner Kritik an der pokukoc_a (polylogia/›Vielrederei‹) auf zeitgenössische Diskurse der Geographie und Kosmographie reagiert, zeigt sich an Paullus Merula. Dieser Konkurrent von Bertius in Leiden79 verteidigt im Widmungsbrief 75 Petrus Bertius: Widmung, in: Tabulae Geographicae (s. Anm. 44). 76 Vgl. wie eben Bertius, De Geographia, in: Tabulae Geographicae (s. Anm. 25), S. 6 sowie Bertius, Praefatio ad benignum lectorem [unpaginiert], in: Tabulae Geographicae (s. Anm. 25). 77 Bertius, Tabulae Geographicae (s. Anm. 25), praefatio ad benignum lectorem: Finis est repraesentare orbis partes iis qui vel incipiunt studia ista tractare, vel etiam peregre agunt; […] ut finis ratio materiae vastae immensaeque molem restrinxerit, in ordinemque coegerit. 78 Vgl. Bertius, Praefatio ad benignum lectorem, in: Tabulae Geographicae (s. Anm. 25): […] ut […] Lector intelligeret, neque omnia nos scripsisse, neque omnibus. 79 Merula war seit 1597 Bibliothekar der Universitätsbibliothek in Leiden. Bertius hingegen hatte bereits 1595 den ersten gedruckten Katalog der Universitätsbibliothek Leiden vorgelegt (Petrus Bertius: Nomenclator. The First Catalogue of Leiden University Library (1595),
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seiner Cosmographia (1605) die eigene Polymatheia (›Vielwisserei‹), die im Kern dem entspricht, was Bertius später als Polylogia in der Geographie kritisieren sollte.80 Merula verweist in seinem Leservorwort sogar explizit auf Bertius und zeigt sich etwas indigniert und abschätzig in Bezug auf Bertius’ lateinische Übersetzung des Caert-Thresoor, die vom Verleger Cornelis Claeszoon eigentlich ihm, Merula, zugedacht war. Bertius jedoch kam ihm dann aus nicht näher geklärten Umständen zuvor, indem er 1600 seine Tabulae Geographicae contractae publizierte.81 Die Debatte mit Merula scheint Bertius jedoch öffentlich nie explizit gemacht zu haben.82 So finden sich in Bertius’ Werken auch keine namentlichen Nennungen Merulas. Allerdings wird man Bertius’ Darlegung seines eigenen methodischen Vorgehens bei der Erdbeschreibung im Vorwort der Tabulae Geographicae als subkutanen Gegenentwurf zu Merulas Cosmographia (1605) verstehen dürfen: Zuerst (I.) habe er, Bertius, die durch Karten abgebildeten Gebiete vermittels einer sprachlichen Darstellung (oratione) beschrieben, anschließend (II.) die alten Orte mit den gegenwärtigen Orten verglichen und in Einklang gebracht, und schließlich (III.) habe er dies alles aus eigener Belesenhg. v. R. Breugelmans). Noch dazu waren beide Gelehrte in der Geographie tätig. Diese Situation wird wohl zwischen den beiden nicht immer ohne Spannungen abgelaufen sein, die mitunter auch nur indirekt in ihren jeweiligen geographsichen Werken greifbar sind. 80 Vgl. Paullus Merula: Widmung [unpaginiert], in: Cosmographiae generalis libri tres, item Geographiae particularis libri quatuor: quibus Europa in genere, speciatim Hispania, Gallia, Italia, describuntur, Amsterdam 1605 [gedr.: Cornelius Claeszoon]: A quo tempore Studiis, quae mementi majoris feriaque, tractandis animum adplicare coepi, Viri Magni, praeter Iurisprudentiam, quae praecipue in oculis et mente semper fuit, ingredibile, quantum mihi, liberum et effrenem amanti cursum, placuerit pokul\heia quaedam, et varia Rerum Divinarum Humanarumque, si non plena solidaque, certe aliqua, quaeque Instituto primario juvando atque exornando satis esset, cognitio. […] de iis, quae nunc haec, nunc illa in amplissimis Procerum Reip. Litterariae Comitiis movebantur, disserere ausi. Sic animatus, Cosmographia quoque, Mundique cum Aetherei, tum Elementarii Secreta rimari sum adgressus. 81 Merula, Lectori meo [unpaginiert], in: Cosmographia (s. Anm. 80): Caussas habuit suas (cum iam mecum esset conventum) V. Cl. Petrus Bertius suscipiendae, quam renueram, versionis: quam non infeliciter, quibusdam adjectis, perfectam in vulgo edidit. Opus igitur magnis viribus adgressus, quum in suas distribuissem partes, illud mihi, solitae insistens Methodo, Fundamentum posui, quod in fine locatum Primae Partis. Zugleich profiliert Merula mit diesem Einwurf seine Cosmographia, wenngleich sie nur Europa (insbesondere Spanien, Frankreich und Italien) behandelt, und wertet die Arbeit von Bertius damit indirekt ab. Bertius wie Merula lassen hierbei je unterschiedliche Strategien erkennen, geographisches Wissen zu differenzieren und neu zu ordnen (vgl. auch: Schilder, Monumenta Cartographica, (s. Anm. 28), S. 464–465). 82 Paullus Merula stirbt 1607 und mit ihm etwaige Debatten mit Bertius. Inwiefern der gelehrte Kontakt beider Akteure etwa in Briefen fassbar wird, wäre gesondert einmal zu untersuchen. Allein die institutionelle Nähe beider Gelehrter zu Leiden legt einen regelmäßigen Kontakt nahe, obwohl sich bis hierher ersteinmal nicht bestimmen lässt, wie sich dieser Kontakt konkret gestaltete.
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heit so miteinander verbunden, dass man den noch unwissenden Leser belehrt, den trägen ermuntert und den aufmerksamen nicht verliert.83 Bertius verbindet mit seinem Werk also auch ein didaktisches Anliegen. Er möchte eine Einführung in und einen ersten Zugriff auf die Geographie und ihr Wissen liefern und kein aus allen Registern schöpfendes Opus magnum. Wie er seine eigenen methodologischen Prämissen im Einzelnen umsetzt, zeigt Bertius schließlich im Rahmen seines Werkes. Dabei weisen seine geographischen Beschreibungen spezifische Strategien der Ausdifferenzierung, Selektierung und Neuordnung auf gemäß der von ihm für die Erdbeschreibung (Geographia) und für das geographische Wissen formulierten Geltungsansprüche.
IV.
Die Descriptio Arabiae in den Tabulae Geographicae contractae – das Fallbeispiel einer Wissensformation und ihrer Präsentation
Wie sich diese Strategien der Selektierung, Neuordnung und Ausdifferenzierung konkret in Bertius’ Werk niederschlagen, soll im Folgenden exemplarisch an der Beschreibung Arabiens in den Tabulae Geographicae ausgelotet werden. Die Beschreibung Arabiens umfasst samt Karte drei Druckseiten des über 800 Seiten umfassenden Werkes und erfüllt damit zunächst formal das Gebot der Kompaktheit, das Bertius für die geographische Beschreibung postuliert hatte.84 Was seinen Blick auf Arabien von vornherein limitiert ist, dass er Arabien nie bereist hat und auch das Arabische, soweit wir wissen, nicht aktiv beherrschte und daher auch nur Text-Wissen aus zweiter Hand liefern konnte.85 83 Vgl. Bertius, Praefatio ad benignum lectorem, in: Tabulae Geographicae, Amsterdam 1618 (s. Anm. 25), Primus labor fuit, plerasque orbis terrarum parteis tabulis repraesentatas oratione describere. Alter, loca vertera cum recentibus conferre. Ultimus, ex varia lectione miscere ea, quae vel docere ignarum, vel recreare defessum, vel tenere attentum lectorem possent. 84 Vgl. Bertius, Descriptio Arabiae, in: Tabulae Geographicae (s. Anm. 25), S. 706–708. Damit gehört die Descriptio Arabiae insgesamt zu den kleineren Beschreibungen des Werkes. 85 Die meisten seiner Quellen jedoch nennt er. Eine wichtige zeitgenössische Quelle für Bertius’ Arabien-Beschreibung, die er über den Atlas des Ortelius gekannt haben kann, war : Ziegler/Wissenburg: Terrae Sanctae […] descriptio (s. Anm. 8), S. 76–84. Bemerkenswert ist auch, dass er die Geographie des islamischen Geographen Abu al-Fida (1273–1331), oder Abel Feda, wie er ihn selbst nennt, zumindest mittelbar gekannt haben muss, da er sie in der Widmungsschrift an Ludwig XIII. (also erst ab 1616) zu den besonderen Geographien zählt, die für oder von Herrschern geschrieben worden seien: Bertius, Widmung, in: Tabulae Geographicae (s. Anm. 25): Abel Feda Syriae Rex potentissimus Geographiam ipse accuratam edidit. Es ist fraglich, wie weit Bertius’ Kenntnisse des Arabischen über reine Namensetymologien hinausreichten, da er arabische Termini immer in lateinischer Umschrift verwendet und eine lateinische Übersetzung des Abu al-Fida erst später 1712 durch Johann
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In den Tabulae Geographicae des Bertius geht die Karte Arabiens dem Beschreibungstext voran und die gesamte Abhandlung ist eingebettet zwischen der Beschreibung Palästinas (vier Druckseiten) und der Persiens (sieben Druckseiten). Damit erfolgt zunächst eine grundlegende geographische Verortung Arabiens, aber auch eine heilsgeschichtliche Einordnung und Platzierung neben Palästina, dem Heiligen Land Chanaan, das eine lange Tradition vor allem im Bereich der Geographia sacra vorzuweisen hat. Damit gliedert Bertius Arabien grundlegend anders in seine Tabulae Geographicae ein, als dies im niederländischen Caert-Thresoor noch der Fall gewesen war.86 Die Beschreibung Arabiens beginnt bei Bertius (a) mit den Namen und Bezeichnungen der Einwohner Arabiens, skizziert dann (b) die allgemeine geographische Lage zwischen Rotem Meer, Persischem Golf und Indischem Ozean, worauf (c) ein kurzer historischer Abriss der ›sarazenischen‹ Eroberungszüge folgt. Anschließend werden (d) bestimmte geographische Eigenheiten (Landstriche, Orte, Berge, Bauten etc.) betrachtet und mit verschiedenen (z. B. biblischen, historiographischen oder literarischen) Narrativen verknüpft. Für den leicht mäandernden Gang dieser Beschreibung bildet die geographische Dreiteilung Arabiens in Arabia deserta, Arabia petraea und Arabia felix das OrdHudson verfügbar wird: Johann Hudson: Geographiae veteris scriptores graeci minores, accedunt Geographica Arabica, Bd. 3, Oxford 1712. Siehe auch: Johann Georg Hager : Geographischer Büchersaal, 3. Bd., Chemnitz 1778, S. 260. Inwieweit also Bertius diese Geographie des Abu al-Fida (1273–1331), etwa mittelbar durch eine vorläufige Übersetzung oder durch Leidener Gelehrte wie Raphelengius, Scaliger oder Erpenius, wirklich gekannt hatte, kann hier nur Spekulation bleiben, da er Abu al-Fida in seinen Tabulae Geographicae nur sehr flüchtig als syrischen König und Geographen vorstellt. Dass er jedoch andere arabisch-islamische Geographen des Mittelalters indirekt gekannt haben muss, wie etwa das geographische Werk von al-Idrisi (1100–1166) (Muhammad Ibn-Muhammad al-Idrı¯sı¯: ˙ Kita¯b Nuzhat al-musˇta¯q/De geographia universali, Hortulus cultissimus,˙ mire orbis regiones, provincias, insulas, urbes earumque dimensiones & orizonta describens, Rom 1592) hat Marina Tolmacheva: Bertius and al-Idr&s&: an Experiment in Orientalist Cartography, in: Terrae Incognitae. The Journal of the Society for the History of Discoveries 28.1 (1996), 49–59 plausibel gemacht. Sie identifizierte eine Karte, die Bertius wohl auf Grundlage der lateinischen Übersetzung von al-Idrisi angefertigt hatte (Petrus Bertius: Nova orbis tabula, ex fide geographi nubiensis delineata, Paris 1619). Diese Übersetzung lag (noch unperfekt) erst seit 1619 unter dem Titel Geographia Nubiensis vor (Gabriel Sionita/Johannes Hesronita: Geographia Nubiensis, id est accuratissima totius orbis in septem climata divisi descriptio, Paris 1619). Bertius kannte sie, als er 1619 in Frankreich war, konnte sie aber zu seinen Lebzeiten in der letzten Ausgabe der Tabulae Geographicae (1618!) nicht mehr darin verarbeiten. 86 Dort folgte Arabia direkt auf die Beschreibung der Insel Hormus im Persischen Golf und bildete den Abschluss des zweiten Buches, das, beginnend mit dem Osmanischen Reich, etwas quer durcheinander mehrere Teile Asiens, Afrikas und Amerikas behandelt. Bei Bertius hingegen gelangt Arabia zunehmend in das erste Drittel des Asien-Buches (das sechste Buch in der Ausgabe von 1616/1618). Hilfreiche Inhaltsangaben zu sämtlichen Ausgaben liefert: van Krogt: Koeman’s atlantes Neerlandici (s. Anm. 25), S. 373–462.
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nungsmuster, die für die westlich-europäische Welt nicht zuletzt seit Plinius und Ptolemäus einen integralen Bestandteil des Arabienwissens darstellte.87 Die Beschreibung schließt ringkompositorisch (e) mit ergänzenden Überlegungen zur Namensetymologie der ›Sarazenen‹ und Araber.88 Diese Punkte fanden sich zum Teil auch in der Beschreibung Arabiens im Caert-Thresoor,89 wurden aber an vielen Stellen, wie zu zeigen sein wird, in den Tabulae Geographicae des Bertius neu bewertet, geordnet und ausdifferenziert. Aus der Inhaltsübersicht wird zunächst deutlich, dass Bertius bestrebt ist, seine methodologischen Ansprüche einzulösen: Er fertigt von Arabien und dessen kartographischer Darstellung im Modus einer oratio eine geographische Beschreibung an. Dabei vergleicht er – womit er das zweite seiner drei methodologischen Prinzipien einlöst – die alten Ortsbezeichnungen mit den aktuellen seiner Gegenwart: Arabia petraea nämlich habe ihren Namen von der dortigen Metropole Petra, welche nostro tempore, wie er sagt, die ›Sarazenen‹ Barraab nennten,90 und die bei Plinius, Strabon und Ptolemäus als Nabathaea auftauche.91 Sein drittes methodologisches Prinzip, die jeweiligen Ausführungen so miteinander zu verbinden (miscere), dass die Forderungen nach docere ignarum, recreare defessum und tenere attentum lectorem erfüllt würden,92 demonstriert er an derselben Stelle: Ebenfalls in Arabia petraea, nahe der Stadt Mecha (Mekka), befänden sich die Wüsten, durch die das Volk der Israeliten 40 Jahre geirrt sei, nämlich Ethan, Sur, Sin, Tzin und Paran. Bertius scheint es dabei allerdings nicht erwähnenswert zu sein, wo in Arabien die Israeliten nach der Durchquerung des Roten Meeres gelandet sind.93 In Arabia petraea befinden sich, so Bertius weiter, auch die Berge Oreb und Sinai, die Ptolemäus Melani nenne, und die in der Heiligen Schrift vielfach begegnen.94 Die Lokalisierung der Wanderung der Israeliten, die Benennung der bekannten Wüsten und Berge und ihr Abgleich mit den Angaben der Geographia vetus (hier vor allem vertreten durch Ptolemäus und Strabon) bilden für Bertius den Auftakt, um im Folgenden die von ihm in diesem Zusammenhang erwähnten Orte und Gebiete mit den Handlungsorten der Bibel überein zu bringen. Damit rekurriert er auf Vorwissen seiner intendierten Leserschaft und fordert dies implizit ein. Die geographische 87 Vgl. Ptol. 6, 7, 1; Plin. Nat. 5, 87. 88 Dieser letzte Teil (e) ist ein Zusatz, der erst mit den Hondius-Ausgaben (ab 1616) – offenbar aber durch Bertius selbst – in den Text gelangt. 89 Claeszoon, Caert-Thresoor (s. Anm. 28), II, S. 88–90. 90 So u. a. bereits bei: Ziegler/Wissenburg: Terrae Sanctae […] descriptio (s. Anm. 10), S. 76. 91 Vgl. Bertius, Descriptio Arabiae, in: Tabulae Geographicae (s. Anm. 25), S. 707. 92 Vgl. Bertius, Praefatio ad benignum lectorem, in: Tabulae Geographicae (s. Anm. 25). 93 Eine Reihe von Gelehrten hatte dies zuvor versucht minutiös zu ergründen. Hier nur für den Bereich der Geographia sacra: Ziegler/Wissenburg, Terrae Sanctae […] descriptio (s. Anm. 8), S. 86–87. 94 Vgl. Bertius, Descriptio Arabiae, in: Tabulae Geographicae (s. Anm. 25), S. 707–708.
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Beschreibung der Berge Horeb und Sinai verwebt er eng mit den biblischen Narrativen: »Zum Berg Sinai gelangte das Volk der Judäer unter der Führung von Moses 30 Monate nach dem Auszug aus Ägypten [Ex, 19, 1]. An ihn wurde das Gesetz, die Gesetzestafeln, und die festgesetzten religiösen Praktiken für die Menschen übergeben [Ex, 20–40]. Der Berg ist steil, erhaben, schwer zu besteigen und überragt an Höhe das Iti-Gebirge und das Ida-Gebirge auf Kreta. Eben dort [am Sinai] befindet sich ein Kloster von Christen mit griechischem Gelübde; diese selbst nennen [ihn] Caloieros95 und gewähren Fremden Zutritt. Der Horeb ist ein Teil des Sinai und wesentlich kleiner. An ihm erschien Gott Moses in Gestalt des brennenden Dornenbusches, als dieser dort das Vieh seines Schwiegervaters weidete [Ex, 3, 1–3]. Aus ihm trat das jungfräuliche Wasser des Springquells hervor [Ex, 17, 5–6]. Hier betete Moses, als Josua gegen die Amalekiter kämpfte [Ex, 17, 8–15]. Und in einer seiner Höhlen schließlich erschien Gott dem Elias in Form eines sanften Säuselns der Luft [1 Reg, 19, 11–12].«96
Indem Bertius die Beschreibung der geographischen Orte mit den konkreten biblischen Handlungsorten verknüpft, eröffnet er seinen Lesern die Möglichkeit, den Bibeltext als historische Realie zu verstehen: die biblischen Handlungsorte sind mittels geographischen Wissens auch für die Gegenwart lokalisierbar. Ohne die Geographie allerdings bliebe die Geschichte und das Wissen um diese biblischen Orte abstrakt oder ›blind‹, wenn man in Bertius’ Metapher bleiben möchte.97 Die Geographie bekommt durch Bertius auf diese Weise also eine entscheidende Funktion für die historischen Realien der Bibel zugeschrieben, da die Geographie nicht zuletzt als oculus historiae, als Auge der Geschichte, fungiert.98 Dies ist zudem ein gravierender Unterschied zum Caert-Thresoor, in dem die Beschreibung der Berge Horeb und Sinai nicht auf diese Weise mit Bibeltext und Heilsgeschichte verschränkt worden ist. Hier ist bei der Beschreibung von Arabia petraea, in die im Caert-Thresoor wie in den Tabulae Geographicae die 95 Die Bedeutung dieses Epithetons des Sinai ist nicht ganz sicher. Gemeint sein könnte: LSJ (Liddell-Scott-Jones), 869b: jakºcgqor, »venerable«, also »ehrwürdig« oder »altehrwürdig«. 96 Bertius, Descriptio Arabiae, in: Tabulae Geographicae (s. Anm. 25), S. 708: Ad montem Sinai mense tertio a profectione ex Aegypto venit populus Iudaicus duce Mosis: Ad eundem lex, Iudicia, ceremoniae constitutae et generi humano datae sunt. Mons est arduus, sublimis, adscensu difficilis, superat Oetam et altitudine et Idam Cretae. In eo est monasterium Christianorum professionis Graecae, ipsi Caloieros vocant; Hi advenas excipiunt. Horeb pars est montis Sinai et quidem minor. Ad hunc apparuit Deus Mosi in rubo ardente, dum is ibi pasceret oves soceri sui. Ex hoc manatilis petrae liquor virga excussus est. In hoc oravit Moses dum Iosue adversus Amalechitas pugnaret. In huius denique spelunca Eliae adfulsit Deus sibilo tenuis aurae. 97 Vgl. Bertius, De Geographia, in: Tabulae Geographicae (s. Anm. 25), S. 3: Sine hac labat Historia et omnia rerum antiquarum monumenta caeca sunt: sine hac ne Theologus quidem situm terrae Chanaan, Aegypti et tot urbium regionumque, quae in Vetere ac Novo Testamento recensentur, intelliget: ignorabit rationem peregrinationis Abrahae: nescit itinera deserti: laborabit in profectionibus B. Pauli. 98 Vgl. Anm. 55.
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Erwähnung von Horeb und Sinai gehört, nur vom ›Manna‹ die Rede, jener Speise, die laut Bibeltext zur Speisung der Israeliten dort vom Himmel gefallen sei.99 Dieser Unterschied ist nicht gering zu schätzen. Was sich im Caert-Thresoor wie eine einfache Anekdote der geographischen Beschreibung ausnimmt, ist in den Tabulae Geographicae des Bertius ein eminenter Bestandteil der beanspruchten christlichen Deutungshoheit über Arabien: Der Sinai als Fluchtpunkt nach dem Auszug der Israeliten aus Ägypten, Moses’ dortiger Empfang der Gesetzestafeln durch Gott, die diversen Offenbarungen und Wunder Gottes am Horeb. All diese Schlüsselmomente christlicher Heilsgeschichte in Arabien und der Hinweis, dass es am Horeb noch immer ein christliches Kloster gibt, unterstreicht den christlichen Deutungsanspruch, den Bertius hier für die Christenheit in Bezug auf Arabien geltend machen möchte. Arabien wird in der geographischen Darstellung damit mit zu einer Region dezidiert christlichen Heilsgeschehens stilisiert. Der Islam und Mohammed, der in Bertius’ Darstellung kaum bis gar nicht thematisiert, ja geradezu ignoriert wird, bekommt keinen nennenswerten Platz in Arabien zugesprochen.100 Als Religion disqualifiziert, wird allenfalls die politische wie militärische Macht des Islam etwas eingehender in zwei längeren Satzperioden erwähnt.101 Nachdem Bertius diese christlich motivierte, bibelexegetische Funktion des geographischen Wissens anhand von Arabien exemplifiziert hat, geht er über zur Landschaft des sogenannten ›glücklichen Arabien‹. Auch diese Beschreibung ist kurz und knapp und reicht nicht über etablierte Topoi hinaus, sondern dokumentiert vielmehr Bertius’ Anliegen und Bemühen um Neuordnung und Verdichtung von zur Verfügung stehendem Material: die Fruchtbarkeit des Landes, ihr Reichtum, der Weihrauch (den schon der Dichter Vergil besungen hat), Zimt und Myrrhe sowie der Phoenix-Vogel, der sich nur dort befinde, gehören in diese Reihe, um nur die Eckpunkte zu nennen, die auch Bertius auflistet.102 Hierbei
99 Claeszoon, Caert-Thresoor (s. Anm. 28), II, S. 89. 100 So weiß Bertius nur Folgendes zu berichten: Bertius, Descriptio Arabiae, in: Tabulae Geographicae (s. Anm. 25), S. 707: In hac Arabia est Mecha urbs ampla, ut quae sex millia aedificorum suo ambito contineat. In media urbe moles alta instar Colossaei, in qua turris conspicua columnis quadringentis fulcitur : monumentum Mahometi Pseudoprophetae. Insgesamt bewegt sich Bertius damit innerhalb der geltenden Normen der Zeit. Erstarrt in christlicher Invektive stand eine Neuberwertung Arabiens und des Islam, beginnend mit der europäischen Orientalistik in der Mitte des 17. Jahrhunderts, erst noch aus. Vgl. Bernd Roling: Contra Sarracenos: Topik und Innvoation im christlichen Islambild des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, in: Sborn&k Prac& Filozofick8 Fakulty Brnensk8 University, N, Rada klasick# 11 (2006), S. 101–121, bes. S. 118f. 101 Bertius, Descriptio Arabiae, in: Tabulae Geographicae (s. Anm. 25), S. 707. 102 Gleichwohl sich diese Reihung zu Arabia felix nicht im Caert-Thresoor findet: Claeszoon, Caert-Thresoor (s. Anm. 28), II, S. 87–90. Vergleichbare Beschreibungselemente zu Arabia felix lieferte vor Bertius auch: Sebastian Münster: Cosmographia, Das ist: Beschreibung
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schöpft er, wie viele seiner Zeitgenossen, nahezu direkt aus Plinius, der über Jahrhunderte der Rezeptionsgeschichte das lateinischsprachige Material lieferte, um Arabien zu beschreiben.103 Damit gelangt Bertius noch einmal zur Geschichte und Landeskunde der Arabischen Halbinsel. Sein Interesse gilt hierbei vor allem der Etymologie der Bewohner, mit der er seine Beschreibung Arabiens beginnt und auch abschließt. In Übereinkunft mit Strabon fächert Bertius zu Beginn zunächst Bezeichnungen und Fehlbezeichnungen für die Bewohner Arabiens auf: ›Araber‹, ›Syrer‹, ›Erember‹ und andere mehr. Hierzu referiert er zunächst die Etymologisierungen, die sich auch schon bei Strabon finden und die er nicht weiter vertieft: Die Bezeichnung ›Erember‹, referiert Bertius, stamme aus dem Griechischen, nämlich von tµm 5qam 1lba_meim (»in die Erde gehen«), was auch die Alternativbezeichnung ›Troglodyten‹ (d. h. ›diejenigen, die in Höhlen hineingehen‹) bedeute.104 Die eigentlichen Bewohner Arabiens jedoch, wie Bertius berichtet, seien die ›Sarazenen‹ und ›Mauren‹, die auch als Agareni105, also als Abkömmlinge Hagars, bekannt seien. Schon im Caert-Thresoor begegnet diese Verquickung von Volksetymologie und biblischer Geschichte, die dort allerdings zwischen zwei Varianten schwankt. Dort heißt es: »Die Sarazenen sind benannt nach Sara, der Ehefrau von Abraham, auch Agareni [werden sie genannt], nach [H]agar, der Mutter von Ismael, woher sie abstammen«106. Bertius räumt diese Unentschiedenheit aus und desavouiert in einem letzten Zusatz seiner Arabien-Beschreibung vollständig die These, dass die ›Sarazenen‹ sich etymologisch von Sara herleiten: »Es ist lächerlich zu glauben, dass diese [›Sarazenen‹] nach Sara, der Frau des Abraham, benannt sind. Demnach müsste nämlich entweder das Volk
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der gantzen Welt, Basel 1528, S. 1521. Das Werk war Bertius, wie den Paratexten der Tabulae Geographicae zu entnehmen ist, bekannt. Plin. Nat., 5, 65; 5, 87. Vgl. zum Ganzen: Bertius, Descriptio Arabiae: in: Tabulae Geographicae (s. Anm. 25); S. 708: Arabas quidam Syros vocant: certe appellationes horum atque Assyriorum et Arianorum et Armeniorum adfines esse docet Strabo lib. 1. Nam quos nos Syros dicimus, ipsi Syri nominat Armenios et Aramaeos, Graeci etiam Arabas et Erembos. Sed et Eremborum vox Troglodytas denotat, quasi tµm 5qam 1lba_momtar. Vgl. Strab. 1, 2, 34 ; LSJ (Lieddel-ScottJones), S. 1831: tqyckodut]y: »dwell in holes«. Hagar war laut Gen. 16 und 21 die ägyptischen Sklavin von Sara, der Ehefrau Abrahams. Laut Bericht des Alten Testament sollte Hagar der Kinderlosigkeit von Abraham und Sara Abhilfe schaffen. Sara machte sie zu einer Nebenfrau Abrahams und Hagar gebar daraufhin den Sohn Ismael. Aufgrund von Streit mit Abrahams Sohn Isaak sollten Hagar und Ismael jedoch Abraham und Sara verlassen. Abraham schickte ohne Skrupel beide mit Proviant in die Wüste fort, da Gott ihm gesagt hatte, dass auch aus Ismael einmal ein großes Volk entstehen werde. Claeszoon, Caert-Thresoor (s. Anm. 28), II, S. 88: »De Sarazynen zijn ghenaemt van Sara d’Huijsvrouwe van Abraham, oock Agareni van Ager, moeder van Ismael, daer zy af ghecomen zijn«.
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Sarei, oder jene Frau Saraca genannt werden«.107 Die Gesetze der Wortbildung, so Bertius, widersprächen also einer Volksetymologie der ›Sarazenen‹ als Nachfahren der Sara und damit Abrahams. Diese philologische Argumentation scheint hier befremdlich in einer geographischen Beschreibung, fügt sich doch aber stringent in Bertius’ beabsichtigte Präsentation Arabiens ein. Sie dient dazu, mit allen gelehrten Registern der Zeit (also hier auch der Philologie), die Araber als Bewohner Arabiens zu disqualifizieren. Die Festschreibung der Etymologie der ›Sarazenen‹ auf Hagar, dies scheint hier naheliegend, konnte Bertius nicht zuletzt aus der 1613 in Leiden gehaltenen Antrittsvorlesung des Arabisch-Professors Thomas Erpenius geschöpft haben. Erpenius publizierte seine Rede unter dem Titel Oratio de linguae Arabicae praestantia et dignitate 1613 in Leiden und vertrat darin die These, dass die Agareni, die von Hagar abstammten, nach der Babylonischen Sprachverwirrung erst in das von den Sabäern bewohnte Arabien eingewandert seien, also aus christlicher Sicht noch nicht einmal eine origo in Aabien geltend machen konnten. Diese Hagerer bezeichneten sich, so Erpenius, selbst lieber als Saraceni, hätten also ihre Abstammung von Sara nur konstruiert, um mit den einheimischen Sabäern an Nobilität konkurrieren zu können, was schließlich divergierende Volksetymologien nach sich zog.108 Im Punkt der Volksetymologie evaluiert und korrigiert Bertius also den Caert-Thresoor und aktualisiert mit seinen Tabulae Geographicae die zeitgenössische Geltung überlieferten Arabienwissens, indem er es neu festschreibt. Zudem wird auf diese Weise ganz klar von Bertius eine Deutungshoheit über Arabien und seine Bewohner beansprucht, die sich nicht zuletzt auch in der umstandslosen Desavouierung von Volksetymologien niederschlägt. So kommt Bertius an derselben Stelle seiner Arabien-Beschreibung zuletzt zu der Frage, wie denn die Namen ›Sarazenen‹ und ›Araber‹ dann eigentlich zu erklären seien. Dazu verweist er auch hier auf antike Autoritäten: Mit Bezug auf 107 Bertius, Descriptio Arabiae: in: Tabulae Geographicae (s. Anm. 25); S. 708: Rediculum est, putare eos dictos a Sara uxore Abrahae: ita enim vel Sarei dicendi essent populi, vel mulier illa Saraca. 108 Thomas Erpenius: Oratio de linguae Arabicae praestantia et dignitate Leiden 1613. Diese wurde in einer Ausgabe von 1621 zusammen mit einer Rede über das Hebräische und einer weiteren über das Arabische erneut publiziert, nach der hier zitiert wird: Thomas Erpenius: Orationes tres de Linguarum Ebraeae atque Arabicae Dignitate, Leiden 1621, S. 7–8: Dispersis autem diversitate linguarum populis, Saba, cui hanc linguam [i. e. Arabisch] contigisse paulo ante meminimus, eum terrae tractum quem Antiqui Historici et Geographi Sabaeam, (nomine a Saba derivato) recentiores nomine etiam antiquo Arabiam appellant, cum suis occupat, et solus incolit donec partem eius Borealem quam Arabiam desertam vocamus, cum suis habitare coepit Ismael, Abrahami Patriarchae ex Hagara filius, cuius posteri, cum Sabaeorum, id est, Arabum sermonem dedicissent et loquerentur, Arabes quoque sunt nominati; sed Hagareni, tanquam ab Hagare oriundi (licet ipsi, ut quibusdam placet, Saraceni, tanquam a Sara progeniti, vocari maluerint) […] appellantur.
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Ammianus Marcellinus’ Res gestae109 weist er die ›Sarazenen‹ als sogenannte Arabes Scenitae aus und versteht sie somit analog zur antiken Tradition, wie sie auch bei Ptolemäus begegnet, als ein Volk von ›Zelt-Nomaden‹, das auf der SinaiHalbinsel zu finden sei.110 Ihr Name leite sich von Saraca her, einer Region in Arabien in Nähe der Nabatäer, wie Bertius mit Verweis auf die Ethnica des Stephanos von Byzanz zu berichten weiß.111 Bertius bindet die Namensetymologie der Araber also rück an spezifisch geographisches Wissen, wenn er unter Zuhilfenahme antiker Autoritäten postuliert, dass sich die Namensetymologie der Araber aus dem von ihnen bewohnten Gebiet entwickelt habe. Auch hierbei greift Bertius wieder nur auf die verbreiteten Arabien- und Islam-Topoi zurück:112 Die Araber seien nämlich mol\dar, umherziehende Nomaden, und seien demnach »Diebe« und »Räuber« (quod sint furaces et kgsqijo_). Und auch das gebräuchliche Wort im Arabischen für das griechische Wort mol\dar (»Nomaden«), so ist Bertius fest überzeugt, klinge wie Sarah, der zentrale Wortbestandteil der Volksbezeichnung Saraceni (hoc enim Arabiae sonat Sarah)113. Anstelle einer genealogisch-biblischen Abkunft setzt Bertius also ein pejoratives Verfahren des Etymologisierens, das die Araber dezidiert unter die ›Barbarenvölker‹ der profanen Geschichte einzuordnen versucht. Dass die Macht des Topos und der Invektive gegen Islam und Arabien hier überdeutlich spürbar sind, bedarf wohl keines weiteren Belegs. Seien es die arabischen Eroberungsfeldzüge der Vergangenheit, die Bertius erwähnt, die geographischen Sehenswürdigkeiten und die Landesgeschichte oder die Volksetymologie der Araber, dies alles wird in seiner geographischen Beschreibung Arabiens dem Geltungsanspruch der christlichen Heilsgeschichte und Bibelexegese unterworfen. Was am Ende von Bertius’ Arabienbeschreibung bleibt, sind eine zur Topik erstarrte Landschaft und die Eroberungsfeldzüge der vermeintlichen arabischen Barbaren. Diesen wird kontrastierend der Auszug der 109 Vgl. Amm. 22, 15, 2: […] et Scenitas praetenditur Arabas, quos Sarracenos nunc appellamus […]. 110 Bertius, Descriptio Arabiae, in: Tabulae Geographicae (s. Anm. 25), S. 708: Saraceni sunt Arbes Scenitae. Ammian lib. XXII. ›Et Scenitas praetenditur Arabas, quos Sarracenos nunc appellamus‹. Vgl. auch Ptol. 6, 7, 21. Der Begriff der Arabes Scenitae taucht ebenso bereits bei Plinius auf: Plin. Nat., 5, 65; 5, 87. 111 Bertius, Descriptio Arabiae, in: Tabulae Geographicae (s. Anm. 25), S. 708: Nomen het a Saraca, quae teste Stephano Arabiae regio est, finitima Nabatheis. Vgl. Stephanus von Byzanz: Ethnica, in: Stephani Byzantii Ethnicorum quae supersunt Tomus prior, hg. v. August Meinecke, Berlin 1849, S. 556: S²qaja, w~qa )qab_ar let± to»r Mabata_our. OR oQjoOmter Saqajgmo_. Eine moderne Edition mit Kommentar liegt nur von a bis o in drei Bänden vor: Margarethe Billerbeck: Stephani Byzantii Ethnica. Drei Bände, Berlin 2006/2011/2014. Weitere Bände zu p bis y sollen folgen. 112 Zu den verschiedenen Topoi des Arabien- und Islambildes in Mittelalter und Früher Neuzeit vgl. Roling: Contra Sarracenos (s. Anm. 100). 113 Vgl. Bertius, Tabulae Geographicae (s. Anm. 25), S. 708.
Die Geltung von Geographie und geographischem Wissen
219
Israeliten nach Arabien gegenübergestellt, die dorthin geflohen waren, um schließlich unter Moses das Gesetz Gottes, die religionsstiftenden Zehn Gebote, in Empfang zu nehmen.
V.
Fazit: Was gilt die Geographie um 1600?
Was gilt nun die Geographie um 1600? Für das Ausloten dieser Frage wurde sich in diesem Beitrag das Ziel gesetzt, auf die Neuordnung und Ausdifferenzierung geographischen (und damit kulturellen) Wissens in den Tabulae Geographicae contractae des Geographen Petrus Bertius und dessen Beschreibung Arabiens im frühen 17. Jahrhundert einen genaueren Blick zu werfen. Ausgehend von der Frage, welche grundlegende Geltung Bertius der Geographie zuschreibt, wurden zunächst die schrittweisen Änderungen untersucht, die Bertius mit seinen Tabulae Geographicae am niederländischen Caert-Thresoor vornahm (II.). In einem zweiten Schritt wurden dann die Paratexte und die Einleitung seiner Tabulae Geographicae, allen voran das Kapitel De Geographia, einer eingehenderen Betrachtung unterzogen (III.). Dabei zeigte sich, dass Bertius mit der Geographie auch eine Konzeption verband, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, eine Beschreibung der Welt und all ihrer Teile zu liefern. Diese Form der Weltbeschreibung entpuppte sich dabei für den heutigen Betrachter in vielen Punkten auch als die Beschreibung eines konkreten Weltbilds. Die Geographie, wie Bertius sie betrieb, war untrennbar verbunden mit einer um 1600 als etabliert zu klassifizierenden christlich-aristotelischen Weltsicht. Dennoch ließen sich Ansätze von Neuordnung und Ausdifferenzierung von georgaphischen Wissen bei Bertius beobachten. Die Redigierungen am niederländischen Caert-Thresoor, die Bertius mit seiner Übertragung ins Lateinische vornahm, waren auf formaler wie inhaltlicher Ebene zahlreich und seine Konzeption von Geographie machte daraus ein Werk mit völlig anderem geographischen Anspruch. Gewissermaßen in Reaktion auf die Vorlage entwickelte er bereits mit den ersten Ausgaben seiner Tabulae Geographicae grundlegende definitorische und methodologische Überlegungen, die er für das Betreiben der Geographie und des Schaffens von geographischen Wissen für essentiell hielt. Hierbei bewies Bertius durchaus, dass er es verstand im Rahmen des zeitgenössischen, gelehrten Diskurses eine innovative Ausrichtung der Geographie vorzunehmen: ein gutes geographisches Werk durfte nicht, so hatten wir es bei Bertius gesehen, zu einer überbordenden und vielfach gelehrten Bibliothek anwachsen, wie so viele Zeitgenossen es zu tun pflegten, sondern musste sich auf die Karten (tabulae) und auf eine sich von ihr emanzipierende Beschreibung in Textform (descriptio) konzentrieren und dabei zugleich bestimmten Ansprüchen der Kompaktheit genügen.
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Hier wurde in einem weiteren Schritt des Beitrags danach gefragt, ob und, wenn ja, wie sich diese konzeptionellen Postulierungen von Bertius zur Geographie konkret in seinen Tabulae Geographicae realisiert haben. Hierzu trug die Analyse des Fallbeispiels der Descriptio Arabiae, seiner Beschreibung Arabiens, einige grundlegende Punkte zusammen (IV.): Bertius’ Verständnis von Geographie und ihrem Wissen orientierte sich auch am Beispiel Arabiens an einem fest umrissenen christlich-biblischen Weltbild, mit dem unter Zuhilfenahme sämtlicher antiker Autoritäten eine Beschreibung Arabiens geleistet werden sollte. Dadurch machte Bertius einen heilsgeschichtlich-christlichen Anspruch auf Arabien geltend und disqualifizierte an diesem Erdteil im Wesentlichen alles Islamische weitgehend durch seine intellektuelle Ignoranz. Obwohl Bertius mittelbaren Zugang auch zu arabischen Geographien gehabt zu haben schien, fanden diese in kaum nennenswerter Weise Eingang in seine Beschreibung. Dennoch hielt, trotz dieser noch weitgehenden Ignorierung arabisch-islamischer Wissenschaften, die europäische Geographie um 1600 an der Universität Leiden einige Innovationen bereit. Trotz der Tatsache, dass die Geographike hyphegesis des Ptolemäus unter arabischsprachigen Gelehrten, wie etwa alKwa¯rizmı¯, al-Muqaddasi, al-Mas u¯dı¯ († 956), al-Bı¯ru¯nı¯ († 1048), al-Idrisi oder Ibn Battuta (ca. 1304–ca.1369), schon seit dem 8. und 9. Jahrhundert eine fruchtbare und langanhaltende Rezeptionsgeschichte erfuhr,114 setzte auch in Europa – mit großer zeitlicher Verzögerung – in der Mitte des 16. Jahrhunderts eine rege Übersetzungs- und Editionstätigkeit an Ptolemäus ein, die nicht gering zu schätzen ist. Nicht zuletzt auch die Drucktätigkeit im Bereich der Atlanten, die mit zahlreichen Beschreibungstexten zu versehen waren, führte dies zu einer enormen Produktion und inhaltlichen Auseinandersetzung mit der Geographie, die, wie wir sehen konnten, nicht zuletzt durch Bertius an der Universität Leiden entscheidend mit vorangetrieben wurden. Innovationen lagen dabei vor allem in der Konturierung der Geographie als Wissensgebiet im europäischen, gelehrten Diskurs. Die Geographie musste sich in der europäischen, gelehrten Welt profilieren und nichts schien hierfür geeigneter als sie mit Hilfe der eigenen europäischen Texttraditionen zu einer intellektuellen Dienerin des christlichen Weltbildes zu entwickeln. Dies führte zwar nicht zu einer nennenswerten Verbesserung der Kenntnisse, die man etwa von Arabien hatte, sorgte aber dafür, dass die Geographie, als Wissenschaft der Weltbeschreibung, schrittweise damit begann, ihren Stand innerhalb der europäischen, universitären Milieus mehr und mehr zu behaupten und ihre Geltung in ihren gelehrten Diskursen zu vermehren.
114 Grant Parker : Geography, in: The Classical Tradition, hg. v. Anthony Grafton/Glenn W. Most/Salvatore Settis, Cambridge 2010, S. 391–394, bes. S. 393.
Die Geltung von Geographie und geographischem Wissen
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Die Tätigkeit des Geographen, wie wir gesehen haben, war auch für Bertius dabei eine zutiefst christliche Tätigkeit. Es ist bei ihm der Geograph jemand, der das Werk Gottes, die Welt und ihre Geschichte ganzheitlich zu erfassen vermag und selbst sogar schöpferisch tätig wird, indem er das Werk Gottes in Text und Bild präsentiert.115 Die Geographie wurde auf diese Weise bei Bertius – und nicht nur da – zu einer Schlüsseldisziplin für andere Wissensbereiche stilisiert, die selbst essentielles Wissen bereitstellt und auch von anderen Disziplinen Wissen bezieht. Die Geographie, dies scheint für Bertius ganz klar, konnte nur Erfolg beschieden sein, wenn sie an die etablierten, wissenschaftlich geltenden Rahmenbedingungen andocken konnte und dabei kulturelles Wissen lieferte, das sich in ein christliches und anti-islamisches Bild von der Welt integrieren ließ. Erst in den nachfolgenden Jahrzehnten sollten jedoch die steigende Bedeutung hebräischer und arabischer Studien (überhaupt das Studium der orientalischen Sprachen) sowie die Neubewertung aristotelischer und das Eindringen heliozentrischer Weltkonzepte erneut die Produktion von Wissen innerhalb der Geographia entscheidend beflügeln und weit über bisherige Wissensgrenzen hinaus dynamisieren.116 Dass dies zwar zu mehr Arabien-Wissen, aber nicht zwangsweise auch zu mehr Arabien-Verstehen innerhalb der Geistesgeschichte geführt hat, wäre ein weiteres Kapitel, das uns aus heutiger Sicht sogar als umso dringlicher erscheinen muss.
115 Vgl. Anm. 22. Bertius, De Geographia oratio, in: Lüdde (s. Anm. 21), S. 296: […] habet omnino geographus id commune cum Deo, quemadmodum illius est orbem creare, sic istius est orbem depingere. Facit et ipse mundum et jam Galliam condit, jam Germaniam […]. 116 Vgl. Marina Tolmacheva: The Medieval Arabic Geographers and the beginnings of Modern Orientalism, in: International Journal of Middle East Studies 27.2 (1995), S. 141–156; Weichenhan, Ergo perit coelum (s. Anm. 47).
III. Geltung durch Ästhetisierung und Poetisierung: Strategien der Wissensvermittlung
Walter Marx
Boccaccios Decameron: Die Novellensammlung als Abbild der kosmologischen und planetarischen Ordnung
Es geht mir in den drei Teilen meines Aufsatzes um drei Aspekte des kulturellen Wissens in der Mitte des 14. Jahrhunderts, die bislang wenig Beachtung gefunden haben. a) Die Kosmologie. Ausgangspunkt sind dabei der Paradiso und das Convivio von Dante. Die zehn Himmelssphären Dantes bilden eine Etappe im Transformationsprozess des ›Wissens‹ über den Kosmos zwischen Antike und früher Neuzeit. Während der Kosmos in der Antike aus acht Himmelssphären bestand, wird er im 16. Jahrhundert aus elf Sphären bestehen. Zum kulturellen Wissen um 1300 gehört auch, dass man seit Pseudo-Dionysius Areopagita (also seit etwa 500 n. Chr.) die Sphären in Analogie setzte zu den neun Engelschören, die zwischen Gott und den Menschen vermitteln. Dante transformiert nun dieses kulturelle Wissen durch eine Akzentverschiebung. Gewöhnlich bildet die Sonne das Zentrum der sieben Planetensphären; bei ihm wird die Marssphäre die zentrale Sphäre der neun beweglichen Sphären des Kosmos. (Das Empyreum, der Wohnsitz Gottes, die äußerste Sphäre, ruht wie die Erde.) Entscheidend ist aber die Verschiebung, Aktualisierung oder der Gattungswechsel: In der Commedia handelt es sich nicht mehr wie im Convivio um die theoretische Darstellung des (leicht variierten herrschenden) kosmologischen Diskurses, sondern um eine Ästhetisierung, die dem Diskurs eine völlig neue Geltung verschafft. Die Reise durch den Kosmos bildet (im Rückgriff auf Ciceros Somnium Scipionis) eine ästhetische Innovation. Boccaccio überträgt nun dieses Wissen vom Aufbau des Kosmos auf die Gliederung seines Decameron und kreiert damit eine wohlgeordnete Welt. Dieser erneute Gattungswechsel schließt an einen anderen Aspekt des herrschenden scholastischen Weltbildes an, der sich vor allem in der gotischen Architektur äußert: der behaupteten Korrespondenz von Himmel und Erde. Die Schönheit der Erde ist ein Abglanz der himmlischen Schönheit. Um seiner Novellensammlung also einen perfekten Aufbau zu geben, bedient sich Boccaccio des kosmologischen Wissens seiner Zeit und überträgt die Struktur des Kosmos auf die Struktur seiner Novellensammlung.
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Walter Marx
b) Die Astrologie. Nachdem man vom 11. bis 13. Jahrhundert die wichtigsten arabischen und griechischen Schriften zur Astrologie übersetzt hatte, bildet auch sie einen wichtigen Teil des kulturellen Wissens, der bis ins 16. Jahrhundert stetig anwachsen wird. Dantes Paradiso bietet auch in Bezug auf die Astrologie eine neue Etappe. Auf seiner Reise durch die Himmelssphären begegnet der Pilger den Seligen, die ihren Tugenden und Lastern entsprechend auf den diesen Eigenschaften korrespondierenden Planeten platziert werden. Sie werden also als ›Planetenkinder‹ präsentiert. Wieder handelt es sich darum, dass theoretisches Wissen in Literatur transformiert wird und dadurch neue Geltung erhält. Boccaccio imitiert Dante auch in diesem Aspekt und unterlegt den einzelnen Erzähltagen eine planetarische Motivik. Erwähnen will ich hier nur, dass bei ihm der Dienstag, der Tag des Mars, im Zentrum der Tage steht. Hier ist übrigens das kulturelle Wissen von entscheidender Bedeutung. Als heutiger unbefangener Leser versteht man vieles überhaupt nicht mehr, wenn man nicht auf das damalige Wissen rekurrieren kann. c) Das Exemplum. Im letzten Teil meines Aufsatzes geht es schließlich auch um eine konkrete Wissensfiguration, nämlich das Exemplum als Figur des Argumentierens und Erzählens. Boccaccio präsentiert uns zahlreiche Exempla im rhetorischen Sinne. So auch im Fall von Decameron V.8, einer Geschichte, die zugleich inhaltlich das exemplarische Erzählen thematisiert. Und obwohl es sich tatsächlich um ein Exemplum handelt, wird doch das exemplarische Erzählen als moralisches subvertiert und der Lächerlichkeit preisgegeben. Dantes Commedia bildet für mich also den Ausgangspunkt, auf den ich mich in erster Linie beziehe.1 Ob man Boccaccios Bearbeitung der Commedia, als die ich das Decameron begreife, eher als Nachahmung, als Fehllektüre oder als Persiflage von Dantes Werk auffassen will, bleibt dem Belieben der Leser überlassen. Meines Erachtens ist sie dies alles zugleich. Erwähnen will ich dennoch
1 Richard Kay: Dante’s Christian Astrology, Philadelphia 1994, S. 261–282, nennt als Hauptquellen für Dantes astrologisches Wissen Ptolemäus, Albumasar, Alcabitius, Haly Abenragel, Johannes von Sevilla, Ibn Ezra, Michael Scotus, Guido Bonatti und den anonymen Liber novem iudicium. Dieter Blume: Andalo di Negro und Giovanni Boccaccio. Astrologie und Mythos am Hof des Robert von Anjou, in: Medien der Kunst. Kunst zur Zeit der Anjous in Italien, hg. von Tanja Michalsky, Berlin 2001, S. 319–335, ergänzt die Liste durch Andalk di Negro für Boccaccio. Boccaccio bezieht sich in seinen Genealogie deorum gentilium in Bezug auf die Astrologie explizit nur auf Andalk di Negro und Albumasar. Nachdem ich meinen Text geschrieben hatte, erschienen weitere Veröffentlichungen, die den Bezug Boccaccios in anderen seiner Werke zu Andalk di Negro weiter ausführten: Thomas Ricklin: Die Lektion des Andalk del Negro in Boccaccios ›De casibus virorum illustrium‹, in: Iohannes de Certaldo. Beiträge zu Boccaccios lateinischen Werken und ihrer Wirkung, hg. von Karl Enenkel, Tobias Leuker und Christoph Pieper, Hildesheim, Zürich, New York 2015, S. 39–48, sowie Peter Roland Schwertsik: Die Erschaffung des heidnischen Götterhimmels durch Boccaccio. Die Quellen der Genealogia Deorum Gentilium in Neapel, Paderborn 2014, S. 455–508.
Boccaccios Decameron
227
eine Bezugnahme, die mir programmatisch erscheint2. Dante erzählt in den ersten Versen seiner Commedia, dass er in der Mitte seines Lebens stand, als er sich in einem Wald verirrte. Diese Verirrung im Wald findet am Karfreitag des Jahres 1300 statt, als Dante fast 35 Jahre alt ist. Wie aus den frühen Dantekommentaren hervorgeht, verstanden die Leser den Hinweis: die Mitte des Lebens bedeutet ein Alter von 35 Jahren.3 Auf den ersten Blick mutet es wie ein Zufall an: als die Pest Ende März 1348 Florenz heimzusuchen beginnt, steht auch Boccaccio, der 1313 geboren wurde, in der Mitte seines Lebens. Die Reise seiner Protagonisten, ihre Flucht vor der Pest, wird also mit der Jenseitsreise von Dante parallelisiert.4 Damit verwandelt sich die Pest in eine etwas konkreter beschriebene Zeit der Verirrung, verliert also für die damaligen Zeitgenossen meines Erachtens die apokalyptische Dimension, die wir ihr heute gern zuschreiben.5
I.
Die kosmologische Ordnung als Modell des strukturellen Aufbaus des Decameron
Dass das Decameron symmetrisch aufgebaut ist, springt einem ins Auge, wenn man sich vergegenwärtigt, dass sich die Erzählungen des zehnten und letzten Tages, die von der Großmut handeln, deutlich von den übrigen Novellen unterscheiden.6 Hat man den Sonderstatus des 10. Tages begriffen, erschließt sich die zugrunde liegende Struktur. Die grundsätzliche Einteilung in 9+1 Tage wird übrigens auch (und teilweise auf den Kopf gestellt) durch die einzelnen Erzähltage bestätigt. Ab dem 2. Tag (also an neun von zehn Tagen) hat Dioneo das Privileg, immer die letzte Geschichte zu erzählen. So wird auch hier verdeutlicht, dass die zehnte Geschichte ein andersartiger Zusatz ist, denn Dioneo bekommt
2 Darauf wies schon Vittore Branca hin. Giovanni Boccaccio: Decameron, hg. von Vittore Branca, Mailand 1976, S. 981, Anm. 10. 3 Die frühen Dantekommentare sind im Internet vom Dartmouth Dante Project (dante.dartmouth.edu) zugänglich gemacht worden. 4 Das tertium comparationis ist nicht das Alter der Protagonisten, sondern das der Schriftsteller zur Zeit der Handlung. 5 Verglichen mit der Sintflut, die nur Noah und seine Familie überlebten, war die Pest geradezu harmlos. Die erste Katastrophe, die tatsächlich auch das religiöse Denken erschütterte, war das Erdbeben von Lissabon 1755. 6 Auf den Sonderstatus der Erzählungen des 10. Tages machte Andr8 Jolles bereits 1921 aufmerksam: »Wen die Gesinnung, die am letzten Tag herrscht, erfaßt, der wird das Vorhergehende zwar nicht vergessen, aber er wird es überwinden.« André Jolles: Einleitung, in: Giovanni Boccaccio: Das Dekameron, Frankfurt 1972, S. LXXXV.
228
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die Freiheit, sich nicht an die vorgegebene Thematik der einzelnen Tage halten zu müssen.7 Janet Levarie Smarr hat sowohl die Einteilung in 9+1 Tage als auch die Symmetrie des gesamten Werks erstmals beschrieben.8 Ich folge ihrer Darstellung, unterschlage die symmetrische Anordnung der von den Protagonisten gesungenen Lieder, und ergänze sie durch einige Aspekte, die für meine weitere Argumentation wichtig sein werden. Betrachtet man die zentralen ersten neun Tage, die einerseits von der Beschreibung der Pest und andererseits vom 10. Erzähltag gerahmt werden, so entsprechen sich der 1. und 9. Erzähltag, weil es in beiden Fällen kein vorgegebenes generelles Thema der Erzählungen gibt. Nach den ersten und vor den letzten zwei Erzähltagen liegen jeweils zwei Ruhetage. Am Beginn des 3. Tages zieht man in den zweiten Palast um, wie man am Ende des 7., also drittletzten Tages nach einem Ausflug in das Frauental wieder in den zweiten Palast zurückkehrt. Der 3. und der 7. Tag präsentieren die anzüglichsten Geschichten. Den 4. Tag beginnt der Erzähler mit einem neuen Vorwort und am Beginn des 6. Tages steht mit dem Streit der Domestiken ebenfalls eine Variation des sonst so eintönigen Erzählrahmens. Damit bleibt der 5. Tag als das Zentrum, als die Mittelachse. Es scheint kein Zufall zu sein, dass ausgerechnet Fiammetta die Tagesregentin des zentralen Tages ist, ist sie doch im Werk von Boccaccio die Entsprechung zu Dantes Beatrice und Petrarcas Laura, auch wenn sie natürlich völlig fiktiv ist. Vorgreifend will ich erwähnen, dass der zentrale Tag auf einen Dienstag fällt, so wie das Ende der rahmenden Pestbeschreibung und der 10. Erzähltag. Im Prinzip erklären sich damit sämtliche Variationen des Erzählrahmens, die die Monotonie ein klein wenig auflockern. Sie dienen in erster Linie dazu, die symmetrische Anordnung les- und wahrnehmbar zu machen. Janet Levarie Smarr hat nicht versucht, diese symmetrische Ordnung zu deuten, weshalb ich von hier ab ihre Beschreibung der Gliederung weiterdenke.
7 Da man immer nach der Nona zu erzählen beginnt, also um 15 Uhr, wird auch der Tag in neun Stunden, die für das Decameron weniger wichtig sind, und die darauf folgende Zeit geteilt, die sich allerdings nicht nur auf eine Stunde reduziert. 8 Janet Levarie Smarr: Symmetry and Balance in the ›Decameron‹, in: Mediaevalia 2 (1976), S. 159–187, sowie Dies., Boccaccio and Fiammetta: the narrator as lover, Urbana 1986, S. 174ff. – Soweit ich sehe, bildet auch ihr Abschnitt über den Ameto (besonders S. 95–100) die einzige Interpretation eines literarischen Werks von Boccaccio, das auf die Anlehnung Boccaccios an die planetarische Ordnung eingeht. Blume, Andalo di Negro (s. Anm. 1), S. 329–333, hat gezeigt, dass Boccaccio in seinen Genealogie deorum gentilium die Geschichten der antiken Götter mit den Eigenschaften der entsprechenden Planeten zu erklären versucht. In VII.3 von De casibus virorum illustrium lässt Boccaccio Valeria Messalina ihre sexuelle Gier mit ihrem Horoskop entschuldigen, das ganz von Venus bestimmt sei. Dazu jetzt Ricklin, Die Lektion (s. Anm. 1), S. 30.
a)
Es folgen 2 Ruhetage
Filomena
Donnerst. Jupiter Dioneo
Donnerst. [Jupiter]
Es herrscht Venus Beginnt mit Streit der Domestiken
Elissa
Mittwoch Merkur
Davor zwei Ruhetage
Lauretta
Sonntag Sonne
3. Sequenz: Tage 7–9 7. Tag 8. Tag
Es herrscht Venus
Zentrum
Fiammetta
Dienstag Mars
6. Tag
Ausflug u. Rückkehr in den 2. Palast
Beginnt mit neuem Vorwort des Erzählers
Filostrato
Montag Mond
2. Sequenz: Tage 4–6 4. Tag 5. Tag
Umzug in den 2. Palast
Neifile
Sonntag [Sonne]
3. Tag
Smarr, Symmetry and Balance (s. Anm. 8), S. 162.
Pest
Ohne festes Thema
Pampinea
Regenten:
Vorgeschichte:
Mittwoch Merkur
1. Sequenz: Tage 1–3 1. Tag 2. Tag
Dienstag Mars
0 (1. Tag)
Der symmetrische Aufbau des Decameron (in Anlehnung an Janet Levarie Smarra))
Ohne festes Thema
Emilia
Montag Mond
9. Tag
Enthält Rückkehr in die Stadt
Panfilo
Dienstag Mars
4. Sequenz 10. Tag
Boccaccios Decameron
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2. Merkur Erzengel Rhetorik Arithmetik
Musik
Geometrie
8. Fixsterne 9. Kristallh. Cherubim Seraphim
Astrologie Physik / MoralMetaphysik philosophie
3. Venus 4. Sonne 5. Mars 6. Jupiter 7. Saturn Throne Herrschaften Kräfte Fürstentümer Mächte
Theologie
Empyreum Gott
Zeichenerklärung: der dicke Strich trennt (in Bezug auf Dante) die ruhenden Sphären Erde und Empyreum von den beweglichen Sphären. Analog dazu bilden die Einleitung und der letzte Tag bei Boccaccio eine Sphäre für sich. – Der doppelte Strich (bei Boccaccio) markiert die beiden Ruhetage Freitag und Samstag. – In der Commedia ordnet Dante die Engelschöre nach dem ursprünglichen Modell von Pseudo-Dionysius Areopagita um und verzichtet auf die Analogisierung der artes liberales mit den Planeten.
Grammatik Dialektik
Erde 1. Mond Menschen Engel
Kosmos nach Dante in der Commedia (gilt nur für Zeile 1) und im Convivio (Zeilen 1–3)
230 Walter Marx
Boccaccios Decameron
231
Ich verschweige mögliche andere Deutungen9 und komme gleich zu meinem Hauptargument: Diese Anordnung scheint die mittelalterliche Einteilung des Kosmos zu spiegeln, wie wir sie etwa aus Dantes Paradiso kennen.10 Man unterteilte die Welt damals in die Erde und die 10 Sphären, von denen sie umgeben war. Diese gliedern sich in neun bewegliche Sphären und das Empyreum, also das himmlische Paradies oder den Wohnsitz Gottes, das genauso ruht wie die Erde. Dieses Modell könnte die Einteilung in 9+1 Tage erklären, nicht aber die konkrete inhaltliche oder motivische Bestimmung der zehn Erzähltage. Dantes Einteilung des Kosmos in zehn die Erde umschließende Sphären stimmt mit der astronomischen Beschreibung des Weltalls durch Johannes de Sacrobosco (De sphaera mundi) überein, die um 1230 geschrieben wurde und Jahrhunderte lang maßgeblich war. Sie entspricht dem Modell der neun Engelschöre, die sich zwischen den Menschen und Gott befinden, wie es zuerst von Pseudo-Dionysius Areopagita entworfen wurde (De caelesti hierarchia) und für das gesamte Mittelalter (wenn auch mit leichten Variationen) verbindlich war.11 Dante hat die kosmologische Ordnung auch auf die Hölle und das Fegefeuer übertragen. Die Hölle besteht ihm zufolge aus der Vorhölle und neun Höllenkreisen. Im untersten Kreis hat dann schließlich Satan seinen Ort. Das Purgatorium besteht aus zwei Kreisen der spät Bereuenden und den sieben Stufen der Todsünden. Darunter liegt die Küste des Läuterungsberges und darüber das irdische Paradies. Damit scheint mir klar, dass sich die weltliche Ordnung des Decameron der physischen und metaphysischen Ordnung verdankt, wie wir sie bei Dante vorgeführt bekommen. Ich möchte die Novellensammlung von Boccaccio gerade in diesem merkwürdigen Spannungsverhältnis untersuchen: Obwohl das Geschehen des Novellenrahmens und das der erzählten Geschichten völlig weltlich ist, obwohl man die auftretenden Figuren meines Erachtens nicht allegorisieren 9 Dante hat im zweiten Gesang des Inferno die neun Musen angerufen. Im ersten Gesang des Paradiso wendet er sich an Apollo. Auch hier findet sich also eine Aufteilung in 9+1. 10 Leichter nachvollziehbar ist Dantes Darstellung des Kosmos im 2. Traktat seines Convivio. 11 In der Antike bestand der Kosmos aus der Erde und den acht Sphären bis zum Fixsternhimmel. Setzt man ein geozentrisches Weltbild voraus, so scheint dies die einzig empirisch nachvollziehbare Einteilung. Ab dem 16. Jahrhundert unterteilte man die 9. Sphäre Sacroboscos in den Kristallhimmel und das primum mobile. (Diese Unterteilung findet sich meines Wissens erstmals in der Schedelschen Weltchronik von 1493.) Damit wurde das Empyreum, der Wohnsitz Gottes oder das himmlische Paradies, zur 11. Sphäre. Das scheint erklärbar : einerseits trat die Parallelisierung der himmlischen Sphären mit den Engelschören in den Hintergrund, andererseits sprach die Zahlensymbolik für die neue Einteilung. Der physische Himmel bestand nun aus zehn idealen Sphären. Da die Elf die Zahl der Überschreitung ist, was normalerweise als die Überschreitung der Zehn Gebote ausgelegt wird, ist die Zahl Elf meist mit der Sünde konnotiert. Hier jedoch scheint das Gegenteil gemeint: das Empyreum ist die jenseitige Welt, die die physische Welt transzendiert.
232
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kann oder sollte, folgt Boccaccio einem metaphysischen Modell und nutzt es, um sein literarisches Werk zu strukturieren. Boccaccio imitiert nicht nur den großen Meister Dante, sondern den Schöpfer selbst, indem er seiner Novellensammlung eine Form gibt, die derjenigen gleicht, die Gott dem Kosmos gegeben hatte. Vielleicht sollte man diese imitatio dei nicht als hybride Selbststilisierung des Autors als Schöpfer eines kleineren literarischen Kosmos missverstehen, der es wagt, in Konkurrenz zu Gott zu treten. Eher handelt es sich darum, dass Boccaccio versuchte, seiner allzu weltlichen Novellensammlung dadurch Dignität und damit auch eine über den literarischen Erfolg hinausgehende Geltung zu verschaffen, indem er die göttliche Schöpfung imitierte.
II.
Die planetarisch vermittelte Ordnung des Decameron
Ich beginne mit einigen Vorbemerkungen zur Astrologie des Mittelalters. Anders als heute ging es in der populären Form der Astrologie im 14. Jahrhundert nicht primär um den Einfluss der Tierkreiszeichen, sondern um den der damals bekannten sieben Planeten, zu denen auch die Sonne und der Mond gerechnet wurden. Man glaubte, die Planeten beeinflussten das Wesen und die Handlungen der Menschen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen begriff man diesen Einfluss jedoch nicht als deterministisch. Die Menschen hatten ihren freien Willen und konnten sich so den himmlischen Einflüssen widersetzen. Man bezog die sieben Planeten auch auf die sieben Todsünden, die sieben Lebensalter und die sieben Sakramente. Die Planeten herrschten zudem über die sieben Tage der Woche, besonders über die erste und achte Stunde der jeweiligen Tage.12 Da sich die Tagesregentschaft der Planeten also bei Sonnenaufgang mit der Stundenregentschaft verknüpft, wird man bereits hier assoziieren dürfen, dass die Tagesregenten bei Boccaccio, die sich immer bei Sonnenaufgang erheben, etwas mit den sieben Planeten zu tun haben könnten. Meine These ist, dass die jeweiligen Erzähltage durch den Bezug zu den ihnen zugeordneten Planeten im Zeichen dieser Planeten stehen.13 Dieser Bezug wird auf unterschiedliche Arten hergestellt, was ich aber hier nur andeuten kann: 12 Dies war eine arbiträre Setzung, die mit dem realen Stand der Planeten überhaupt nichts zu tun hatte. Sie geht wohl letztlich auf Vettius Valens (2. Jh. n. Chr.) zurück. Für ihn begann der Tag allerdings wie für die Juden mit Einbruch der Nacht. Später übernahm man sein Modell, bezog es dann aber auf den neu definierten Tag, der mit Sonnenaufgang begann. Vgl. Wilhelm Gundel: Sternglaube, Sternreligion und Sternorakel, Heidelberg 1959, S. 104ff. 13 Ronald L. Martinez: Also known as ›Prencipe Galeotto‹. (Decameron), in: Boccaccio. A Critical Guide to the Complete Works, hg. von Victoria Kirkham/Michael Sherberg/ Janet Levarie Smarr, Chicago u. a. 2013, S. 23–39 und S. 356–364. Ronald Martinez kon-
Boccaccios Decameron
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1. deutlich erkennbar durch die erzählten Motive. (Auf diese werde ich im Folgenden teilweise eingehen. Erwähnen will ich hier zudem die Geschichten des 4. Tages, der auf einen Montag fällt. Der Mond steht für Veränderlichkeit und so spielt Fortuna in den Novellen dieses Tages eine ganz besondere Rolle. Ausgangspunkt der Novellen sind bereits bestehende Liebesverhältnisse, deren Entstehung teilweise kurz angedeutet wird. Durch den Einfluss von Fortuna oder des Mondes werden diese Beziehungen gestört und einer der oder beide Protagonisten sterben. Hierbei spielt neben der planetarischen Symbolik auch die christliche Liturgie eine Rolle: in den Votivmessen gedachte man im Mittelalter montags der Toten, was wohl damit zusammenhängt, dass man glaubte, die Toten in der Hölle und im Fegefeuer seien am Sonntag, dem Herrentag, von ihren Qualen befreit, diese begännen also montags erneut.14) 2. durch die Art der Darstellung. (Damit meine ich vor allem: a) die Geschichten des 2. Tages, des Donnerstags. Jupiter ist der Planet der Kleriker, der Frommen, des Glaubens. Hätte Boccaccio nur diese zehn Novellen geschrieben, so gälte er heute als konservativer Erzähler. Obwohl auch fingierte Wunder thematisiert werden, geschehen doch auch handfeste Wunder, werden die Frommen – durch evozierten göttlichen Eingriff – belohnt. Vieles mag man immer noch als ironisch begreifen, aber der Tonfall unterscheidet sich merklich von dem der anderen Tage. b) In den Geschichten des 4. Tages, des Montags, ist auffällig, dass die Protagonisten nach den ihnen zugemuteten Qualen nicht einfach nur traurig und verzweifelt sind oder weinen. Da der Mond mit dem Wasser konnotiert ist, übertreibt Boccaccio hier gewaltig. Die Tränen fließen ganz wörtlich in Strömen. Diese speziellen Übertreibungen finden sich nur in den Geschichten des 4. Tages.)
statiert (auf S. 33), dass sich Boccaccio bei den Motiven der Erzählungen der einzelnen Tage an die mit diesen Tagen verknüpfte astrologische Symbolik hielt, deutet dies aber nur für die beiden Tage 1 und 6, die auf einen Mittwoch fallen, an. Dass die beiden Tage 3 und 7 von der Wollust handeln, sieht Ronald Martinez in aller Klarheit, zieht dann aber nicht die Konsequenzen: dass es sich bei diesen Tagen um Ausnahmen handelt, die im Zeichen der Venus stehen. Ebenso klar ist seine Strukturbeschreibung der Novellensammlung (auf S. 30), nur dass er eben nicht begreift, dass man den 10. Tag von den ersten neun Tagen trennen müsste. Erst dann würde seine Strukturbeschreibung wirklich plausibel. 14 Vgl. Georg Schreiber : Die Wochentage im Erlebnis der Ostkirche und des christlichen Abendlandes, Köln u. a. 1959, S. 93–95.
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3. kaum noch wahrnehmbar durch die Namen oder Charakterisierung der Regenten. (Regentin des 8. Tages, des Sonntags, ist Lauretta, also die kleine Laura. Sie ist – als Lorbeer – eine italianisierte Daphne, die damit in (negativem) Bezug zu Apollo als der Verkörperung der Sonne steht. Fiammetta, die kleine Flamme, ist die Regentin des Dienstags, der sich auf Mars bezieht. Mars steht für Krieg und Feuer, und so kann man Fiammetta entweder direkt auf Mars beziehen oder durch die Verkleinerungsform als temperierendes Element gegen das Feuer von Mars begreifen.) 4. durch unmittelbare Bezüge zu den Tagen und den zu ihnen gehörenden Planeten. (Dies bezieht sich nur auf den 8. Tag, den Sonntag. Das ist der einzige Tag, der auch zahlensymbolisch bestätigt, dass es um einen bestimmten und nicht zufälligen Tag geht. Der Sonntag als der Auferstehungstag, der Herrentag, ist der Tag nach dem Sabbat und damit in der christlichen Logik der 8. Tag. Die handfesteren Verweise beginnen bereits im Rahmen. Nur an diesem Tag begeben sich die jungen Leute in eine Messe. Dies bestätigt negativ gleichzeitig, dass zwar auch der 3. Erzähltag auf einen Sonntag fällt, dieser aber gar nicht im Zeichen der Sonne, sondern in dem der Venus steht. Denn am 3. Erzähltag wird kein Kirchgang erwähnt. – Motivisch findet man in den Novellen des 8. Tags wenig, was man astrologisch auf die Sonne beziehen könnte. Das scheint einerseits kompensiert durch die Verlegung entscheidender Handlungsmomente auf einen Sonntag, was sich entsprechend an keinem der anderen Erzähltage wiederfindet. In der Geschichte VIII.3 geht es um den Heliotrop, den Wunderstein, der unsichtbar machen soll. Da der Name der Sonne zugewandt bedeutet, soll die Geschichte wohl auch auf die Sonne verweisen. Die Geschichte VIII.7 schließlich präsentiert die Sonne als Protagonistin: ein Gelehrter rächt sich an einer Dame, die ihn im Winter im Schnee stehen ließ, indem er sie im Hochsommer nackt auf die Plattform eines Turmes lockt und sie dort ungeschützt der Sonnenstrahlung aussetzt. Selten wurde die Folter durch einen Sonnenbrand drastischer beschrieben.) 5. durch den Ort oder die Zeit der Handlung. a) Man ordnete Länder, Gegenden und Orte bestimmten Planeten oder auch Tierkreiszeichen zu. Da ich aber entsprechende Aufzählungen erst aus dem 16. Jahrhundert kenne, sagt mir die Wahl der meisten Orte des Geschehens aus astrologischer Sicht nichts.15 Am 4. Tag, dem Montag, ist allerdings 15 Claudius Ptolemaeus: Tetrabiblos. Nach der von Philipp Melanchthon besorgten seltenen Ausgabe aus dem Jahre 1533, Mössingen 2000, verknüpft (in seinem zweiten Buch) bereits
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auffällig, dass die Geschichten entweder direkt auf dem Meer, auf Inseln, oder in Städten spielen, die am Meer liegen. Diese Orte wurden wohl schon zu Boccaccios Zeit wie auch noch im 16. Jahrhundert mit dem Mond oder dem Krebs, dem Haus des Mondes, konnotiert. b) Da nicht nur die Tage auf die Planeten bezogen wurden, sondern auch die einzelnen Stunden, kann es vorkommen, dass die genaue Stundenangabe eines bestimmten Tages auf den Einfluss eines Planeten verweist, der nicht mit dem Tagesregenten übereinstimmt. Soweit ich sehe gilt dies aber nur für die Novelle V.8, auf die ich im Teil III eingehen werde, sowie für die Novelle VI.10.) Ausnahmen bilden der 3. und 7. Erzähltag, die sich durch die symmetrische Struktur aufeinander beziehen und beide im Zeichen der Venus stehen.16 Diese Verschiebung und Abweichung war nötig, weil Boccaccio die beiden Ruhetage Freitag und Samstag eingeführt hatte, er aber gleichzeitig nicht auf das Thema der Liebe verzichten wollte. Umgekehrt folgt daraus, dass es keinen einzigen Tag gibt, der sich auf Saturn und seine Symbolik bezieht. Auch dies scheint logisch, denn Boccaccio schreibt in der Vorrede, dass er die Novellen geschrieben habe, um die Melancholie der Frauen zu verscheuchen. Da Saturn aber der Planet der einzelne Länder, Gegenden und Städte mit den Tierkreiszeichen. (Auf S. 97 findet sich eine Überblicksdarstellung.) Einige seiner Zuordnungen haben sich bis in die frühe Neuzeit erhalten. Da aber in der Antike andere Gegenden wichtiger waren, liefert er wenig konkrete Hinweise, die für die Schauplätze bei Boccaccio wichtig wären. Blume, Andalo di Negro (s. Anm. 1), erwähnt auf S. 322, dass auch Andalk di Negro (in einem Manuskript in Paris) auf die Beziehungen zwischen Ländern und Planeten verweist, führt dies aber nicht näher aus. 16 Ergänzend sei erwähnt, dass die Beschreibung und Charakterisierung Neifiles am Ende des zweiten Tages ganz auf eine Parallelisierung mit Venus angelegt ist. Ihre Schönheit wird mit Rosenknospen im April oder Mai verglichen: Rosen und auch das Tierkreiszeichen des Stiers, in dem die Sonne im April und Mai steht, sind der Venus zugeordnet. Ihre Augen werden mit dem Morgenstern verglichen, also ebenfalls mit Venus. Man würde somit erwarten, dass Neifile, deren Name etwa neue Liebe, also vielleicht die neue Venus bedeutet, die Regentin des Freitags würde. Diese Erwartungshaltung wird zunächst enttäuscht, denn Neifile führt ja die beiden Ruhetage Freitag und Samstag ein. Somit wird sie zur Regentin des Sonntags. Und dennoch verweist ihre Charakterisierung und ihr Name auf den Freitag. Letztlich scheint mir das ein scholastisches Problem: die Integration der Widersprüche. Die Dialogizität ist keineswegs erst ein Phänomen der Renaissance, sondern bereits das der Scholastik. – Nicht nur aus Gründen der Symmetrie verweist auch der Name von Dioneo, der den 7. Tag, den Donnerstag, beherrscht, auf Venus. Dione wird in manchen Texten die Mutter von Venus genannt. Da aber Venus in der Regel aus dem Ejakulat des entmannten Uranus entspringt, hat sie gar keine Mutter. Und so erscheint der Name Dione – etwa bei Dante – auch für Venus selbst. Dioneo ist aber die männliche Form von Dione. Somit erscheint Dioneo wie Neifile als eine andere Venus. Zudem wird am Beginn des 7. Tages erwähnt, dass Venus noch strahlt, als es hell wird. Und es scheint kein Zufall zu sein, dass es in den beiden von ihnen präsidierten Tagen 3 und 7 um die Wollust geht. – Vergleiche zum 7. Tag auch: Elsa Filosa: ›Decameron‹ 7: Under the Sign of Venus, in: Annali d’Italianistica 31 (2013), S. 315–352.
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Melancholiker ist, erklärt sich diese Leerstelle fast von selbst. Aus Platzgründen kann ich hier leider nur konkreter auf die Tage eingehen, die von Mars und Merkur beherrscht werden. Der erste Erzähltag bei Boccaccio liegt nicht auf einem Sonntag, wie man es wegen des Titels, der »Zehntagewerk« bedeutet, und den damit implizierten Parallelen zum Sechstagewerk Gottes vermuten könnte, sondern auf einem Mittwoch. Damit bildet die Zäsur zwischen Dienstag und Mittwoch einen gravierenden Einschnitt. Dem Dienstag ist die Vorgeschichte zugeordnet, also sowohl die Beschreibung der Pest als auch das Treffen der sieben Damen und drei Herren in der florentinischen Kirche Santa Maria Novella. Diese Zäsur scheint mir mehrfach motiviert. Pampinea, die den Vorschlag macht, sich zusammen aus der Stadt zurückzuziehen und aufs Land zu gehen, betont in ihrer Beschreibung der Zustände wie der Erzähler den Sittenverfall, das schamlose Treiben, die Todesverfallenheit. Das verweist symbolisch auch auf eine extreme Form des Karnevals. Denn man hatte ja den Ausdruck Karneval (fälschlich) auch von carne vale abgeleitet, das als Abschied vom Fleisch und von der Leiblichkeit per se auf den Tod verweist. Dass sich die onesta brigata genau am Mittwoch von diesem dem Tod verfallenen Karneval verabschiedet, den die Pest in Pampineas Beschreibung bildet, um auf dem Land einem unschuldigen, arkadischen, asketischen Vergnügen zu huldigen, verweist also auf den Aschermittwoch, die Abkehr vom Karneval, der bekanntlich mit dem Faschingsdienstag endet. Hier wird die erste (christlich motivierte) Dichotomie artikuliert, die dann aber im Folgenden unterlaufen und karikiert wird. Denn ein Großteil der Novellen perpetuiert die Karnevalszeit: in ihnen wird unmoralisches Verhalten präsentiert, das nicht (in erster Linie) moralisch verurteilt wird, sondern Anlass zu Lachen und Amüsement liefert. Die Pest als Geißel Gottes, als grausame Heimsuchung, als Verheerung und göttliche Strafe, kann oder muss man mit dem Einfluss des Planeten Mars konnotieren. Mars als der Gott des Krieges, der Tod und Gewalt bringt, ist der Namensgeber des Planeten Mars, den man auch als ›das kleine Unglück‹ bezeichnete. – Da man auch die Todsünden und die Sakramente auf die Planeten bezog, steht ›der gerechte Zorn‹ Gottes für die martialische Todsünde der ira, und die Züchtigung für das Sakrament der Buße, das man ebenfalls auf Mars bezog.17 Boccaccio erwähnt neben und möglicherweise alternativ zum Zorn Gottes auch den Einfluss der Gestirne, der die Pest hervorgerufen haben könnte. Er bezieht sich hierbei implizit auf die damals weit verbreitete Theorie, eine große Konjunktion von Saturn, Jupiter und Mars, die sich am 20. März 1345 im Zeichen 17 Da der Zorn Gottes gerecht ist, handelt es sich natürlich in diesem Fall nicht um eine Todsünde. Auch Christus, der die Händler aus dem Tempel vertreibt, ist zornig.
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des Wassermanns ereignete, sei die Ursache für die Pest gewesen.18 Große Konjunktionen der äußersten Planeten Saturn und Jupiter, die nur alle 20 Jahre auftreten, galten per se schon als Zeichen großer Veränderungen oder Ereignisse. Nun war gar noch der Unglücksplanet Mars dazu getreten. Die Ansteckung wird von Boccaccio mit dem Feuer verglichen, das auf trockene oder fettige Dinge überspringt.19 Auch hier wird also eine Symbolik verwendet, die auf den dem Feuer zugeordneten Mars verweist. – Und schließlich habe die Pest am Frühlingsanfang des Jahres 1348 begonnen, in Florenz zu wüten. Möglicherweise hielt sich Boccaccio hierbei an die historischen Tatsachen, und die Aussage wäre nicht weiter signifikant.20 Oder er hat eben bewusst auf dieses Faktum hingewiesen: der Frühling beginnt mit dem Äquinoktium, wenn die Sonne in das Tierkreiszeichen des Widders tritt. Der Widder ist eines der beiden Häuser von Mars. Selbst wenn man das nicht weiß: der März, in welchem der Frühling beginnt, bezieht sich ja allein schon durch seinen Namen auf Mars. Die generelle Beschreibung der Pest bezieht sich also auf einen relativ genau bestimmten Zeitpunkt, an dem die Seuche ausgebrochen sein soll. Auch der Übergang zur konkreten Geschichte der onesta brigata ereignet sich an einem Dienstag Morgen. So wird nicht nur die Pest als ganze Mars zugeordnet, sondern auch das Ende des Aufenthalts der späteren Erzähler in Florenz auf einen Dienstag, also den Tag des Mars, verlegt. Das ergibt auch ›planetarisch‹ betrachtet einen Sinn: dienstags ist man noch in der von der Pest beherrschten Stadt, also im Einflussbereich von Mars, während man mittwochs, dem Tag des redegewandten Gottes Merkur, aufs Land zieht und zu erzählen beginnt. Damit ist der Einschnitt zwischen Dienstag und Mittwoch gleich doppelt motiviert. In der christlichen Symbolik bezeichnet er den Übergang von der Todesverfallenheit der Karnevalszeit zur enthaltsamen Fastenzeit, in der planetarischen Symbolik wird die martialische Herrschaft der todbringenden Pest überwunden durch die merkurische Kunst des Erzählens.21 Zu erwähnen wäre eine dritte Ebene, die man nur versteht, wenn man die florentinischen Mythen des 14. Jahrhunderts kennt, die man sowohl bei Dante 18 Klaus Bergdolt: Der Schwarze Tod. Die Große Pest und das Ende des Mittelalters, München 1994, S. 27–29. 19 »[…] non altramenti che faccia il fuoco alle cose secche o unte quando molto gli sono avvicante.« Ich zitiere das Decameron nach der im Internet zugänglichen Ausgabe: Giovanni Boccaccio: Decameron, hg. von Vittore Branca, Turin 1956, hier S. 6. 20 Die Pest 1348 in Italien. Fünfzig zeitgenössische Quellen, hg. und übersetzt von Klaus Bergdolt, Heidelberg 1989. Ist ein konkreteres Datum des Pestausbruchs in Florenz erwähnt, so sprechen die meisten Chronisten von Ende März, einmal wird er aber auch in den April verlegt. 21 Jan Söffner : Das ›Decameron‹ und sein Rahmen des Unlesbaren, Heidelberg 2005, S. 27–28, denkt diese planetarische Symbolik an, verwirft sie dann aber.
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(Inferno, XIII, 143–150) als auch bei Boccaccio (explizit im Ameto) sowie in einer Unzahl anderer florentinischer Texte und Chroniken wiederfindet. Florenz habe seit seinen Anfängen unter dem Patronat des Mars gestanden. Als Florenz christlich wurde und sich Johannes den Täufer als Patron erkoren habe, sei Mars böse geworden. Alles Unglück, das Florenz drohe, ginge deshalb von Mars aus.22 In diesem Fall ist zwar nicht der Planet, sondern der Gott gemeint, aber astrologisch gedacht gehen ja die Eigenschaften der Götter auf die Planeten über. Dieser Mythos existiert auch in Varianten. So wurde in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts behauptet, das Baptisterium sei ursprünglich ein Marstempel gewesen. Nachdem man es Johannes dem Täufer geweiht habe, habe man das Standbild des Mars entfernt und in der Nähe des Arno aufgestellt.23 Es gibt noch eine vierte Ebene, die ebenfalls den Einschnitt zwischen Dienstag und Mittwoch betrifft. Sie wurde (ohne den Bezug zu den Tagen und ihrer Symbolik zu artikulieren) von Winfried Wehle beschrieben.24 Obwohl Wehles Argumentation zu meiner bisherigen quer zu stehen scheint, bestätigt sie sie gerade wegen des Kontrastes von Vorgeschichte und Erzähltagen. So trifft man sich am Dienstag in der Kirche Santa Maria Novella, zu der ein Kloster gehörte, das »Zentrum und Hochschule dominikanischer Theologie und Lebenslehre« war.25 Die Dominikaner stünden in der Mitte des 14. Jahrhunderts wie die Franziskaner für Weltentsagung, seien Bußprediger wider die Weltverfallenheit. In dieser Lesart ist die Flucht aus der Stadt und das Projekt des Geschichtenerzählens ein Gegenentwurf zur Buße propagierenden Weltverachtung der Dominikaner. Dass Mitglieder dieses Ordens auch gegen Dantes Commedia eiferten, also selbst fromme Literatur ablehnten, passt in dieses Bild. (Und der Do-
22 Blume, Andalo di Negro (s. Anm. 1), präsentiert auf S. 324 eine Abbildung (4) von Mars aus einer Sammelhandschrift der Werke von Andalk di Negro, die wohl nach 1323 in Neapel entstand. Mars wird als Bogenschütze dargestellt. Da man sich die Infizierung mit der Pest durch göttliche Pfeile vorstellte, könnte auch diese Darstellung von Mars die Verbindung zwischen Mars und der Pest verstärkt haben. 23 Gerhard Straehle: Die Marstempelthese. Dante, Villani, Boccaccio, Vasari, Borghini. Die Geschichte vom Ursprung der Florentiner Taufkirche in der Literatur des 13. bis 20. Jahrhunderts, München 2001. 24 Winfried Wehle: Der Tod, das Leben und die Kunst. Boccaccios Decameron oder der Triumph der Sprache, in: Tod im Mittelalter, hg. von Arno Borst u. a., Konstanz 1993, S. 221–260. 25 Wehle, Der Tod (s. Anm. 24), S. 232. – Obwohl ich hier mit Winfried Wehle auch auf die mit der Kirche verbundenen Symbolik eingehe, will ich doch nicht unterschlagen, dass sich die Kirche zunächst wegen ihrer Lage als Treffpunkt anbot. Sie befand sich zwar seit der letzten Erweiterung der Stadtmauer am Ende des 13. Jahrhundert innerhalb der Mauer, markierte aber dennoch die Grenze zwischen der Stadt und dem Land, denn zwischen ihr und der Mauer befanden sich in der Mitte des 14. Jahrhunderts nur Gärten. Dies war sicher der wichtigste Aspekt, weswegen Boccaccio genau diese Kirche als Treffpunkt wählte.
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minikaner Savonarola sollte am Ende des 15. Jahrhunderts Boccaccios Decameron verbrennen.) Will man die Dominikaner ins Spiel bringen, so könnte man auch an die Bedeutung ihres Namens denken. Als canes domini sind sie die Hunde Gottes. Spätestens im 16. Jahrhundert wird auf den Planetenkinderdarstellungen der Wagen des Mars von Hunden gezogen. Fraglich ist jedoch, ob man die Hunde im 14. Jahrhundert generell mit Mars konnotierte. Immerhin erscheinen sie bei Dante im 14. Gesang des Purgatorio in Anlehnung an Boethius (3. Prosa des 4. Buches der Consolatio Philosophiae) als Personifizierungen der Zanksucht, also ebenfalls in einem martialischen Umfeld.26 Der Übergang von der Todesverfallenheit in der von der Pest beherrschten Stadt Florenz in die ländliche Idylle, in der man Geschichten erzählt, also der Tageswechsel von Dienstag auf Mittwoch, die Passage aus dem Einflussbereich des Mars in den des Merkur, ist für die ganze Novellensammlung bestimmend. Insofern könnte man generalisierend sagen, dass die ersten neun Tage insgesamt im Zeichen des Merkur stehen. Dies würde den Untertitel prencipe Galeotto erklären, mit dem Boccaccio sein Decameron in Anlehnung an die Episode von Francesca und Paolo im fünften Gesang von Dantes Inferno als eine Art Kuppelbuch abqualifiziert. Merkur ist der Götterbote, er überbringt Nachrichten, wie Galeotto als Bote und damit Kuppler zwischen Ginevra und Lanzelot fungierte. Als Bote überbringt Merkur prinzipiell Neuigkeiten und ist damit der Patron der neu entstehenden Gattung der Novelle. Da er sich seine Stellung unter den Olympiern durch den Betrug an Apollo erschlich, ist er letztlich eine Karikatur der Götter. Der niedere Stil, die italienische Prosa und die meist bürgerlichen Protagonisten der Novellen stehen ganz im Zeichen Merkurs.27 Im engeren Sinn sind es aber nur der erste und der sechste Erzähltag, die auf einen Mittwoch fallen, und damit merkurische Themen und Motive präsentieren.28 Meist geht es in den zwanzig Novellen um die Schlagfertigkeit, um einen 26 Im 17. Gesang des Paradiso, also in der Marssphäre, erwähnt Dante auch seinen Gönner Cangrande (den »großen Hund«) de la Scala. Da er noch lebte, als Dante den Paradiso schrieb, wird betont, dass Cangrande den Einfluss dieses Sterns – also den des Mars, auf dem man sich befindet – bei seiner Geburt erfahren habe (Verse 76–79). Hier geht es allerdings um die positiven Eigenschaften des Mars, auf die ich noch zu sprechen kommen werde. 27 Ich bin mir natürlich bewusst, dass die Prosa Boccaccios hochartifiziell ist, heutigen Charakterisierungen von niederem Stil also nicht entspricht. Aber Boccaccio kokettiert im Vorwort zum 4. Tag mit der Florentiner Mundart, der Prosa und dem anspruchslosen Stil. Das mag eine Anspielung auf Dante sein, der sein Hauptwerk Komödie titulierte und damit auch auf den mit ihr verbundenen niederen Stil verwies, wie aus seinem Brief an Cangrande de la Scala hervorgeht, was natürlich noch absurder ist. Vergleiche dazu Robert Hollander : Boccaccio’s Dante: Imitative Distance (Decameron I 1 and VI 10), in: Studi sul Boccaccio 13 (1981/82), S. 169–198, hier S. 173f. 28 Kurt Flasch, der das Decameron als Ganzes in Bezug zu setzen versucht zu der Philosophie von Wilhelm von Ockham, argumentiert genau mit den Novellen des ersten Tages. Giovanni
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wachen Verstand und um rhetorisches Geschick, alles Eigenschaften, die man durch den Einfluss Merkurs verliehen bekommt.29 Oft geht es um Fragen der richtigen Interpretation. Ein Beispiel dafür ist Decameron VI.5: Giotto und sein Begleiter reiten im Regen nach Hause und sind völlig verschmutzt. Bei diesem Erscheinungsbild würde niemand vermuten, dass es sich bei Giotto um einen großen Maler handelt. Die Interpretationsfragen beziehen sich meist auf den christlichen Glauben. (So die Geschichten I.1–3 und VI.6, 9 und 10.) Das hängt auch damit zusammen, dass man im Mittelalter eine Konjunktion von Jupiter, der prinzipiell für Glauben und Frömmigkeit steht, mit Merkur dafür verantwortlich machte, dass das Christentum entstand.30 Oft werden die Fragen kombiniert mit einem rhetorischen Geschick, das die übliche oder gewohnte Argumentationsweise geradezu auf den Kopf stellt. So konvertiert der Jude Abraham in Decameron I.2 zum Christentum, weil er die Verworfenheit der obersten Kirchenvertreter in Rom sah: Wenn sich das Christentum trotz solcher Vertreter ausbreite, so beweise das, dass es die wahre und heiligste Religion sei.31 Gesondert erwähnen möchte ich die Geschichte VI.9. Guido Cavalcanti, ein guter Logiker, bedeutender Naturphilosoph und hinreißender Redner wird von seinen Zeitgenossen als Epikureer und Gottesleugner bezeichnet. Dass die Boccaccio: Poesie nach der Pest. Der Anfang des Decameron. Neu übersetzt und erklärt von Kurt Flasch, Mainz 1992. Jan Söffner (Söffner, Das Decameron, s. Anm. 22), der Flaschs Ansatz weiterverfolgt, argumentiert in Bezug auf seine These von der Unlesbarkeit der Welt vor allem mit Novellen aus dem ersten und sechsten Tag. In den Details sind beider Arbeiten wunderbar. Das Problem scheint mir, dass beide den Status dieser beiden Erzähltage verkennen. Ihre Analysen sind überzeugend, aber sie gelten eben nur für den ersten und sechsten Erzähltag, die im Zeichen Merkurs stehen, weil sie beide auf einen Mittwoch fallen. Merkur heißt im Griechischen Hermes und ist damit derjenige, bei dem es um die Hermeneutik, also die Interpretation, geht. So verwundert es nicht, dass die Schwierigkeiten der rechten Interpretation genau – und nur – am ersten und sechsten Tag, einem Mittwoch, artikuliert werden. 29 Peter Roland Schwertsik (Schwertsik, Die Erschaffung [s. Anm. 1], S. 496–508) zitiert und übersetzt die Stellen aus den Genealogie deorum gentilium, in denen sich Boccaccio explizit auf Texte von Andalk di Negro bezieht. Darunter finden sich auch die Stellen über Merkur, Venus und Saturn, sowie die entsprechenden Texte von Andalk di Negro. Dort bestätigt sich, was ich hier beschrieben habe. Aus Platzgründen verzichte ich darauf, hier meinen Text durch längere Zitate zu ergänzen. 30 Diese These geht auf die Konjunktionstheorie von Albumasar aus dem 9. Jh. zurück. Heinz Artur Strauß: Der astrologische Gedanke in der deutschen Vergangenheit, München u. a. 1926: »Es war eine weitverbreitete Überzeugung, daß alle Religionsentstehungen, wie Religionsveränderungen in Konjunktionen des die Religion beherrschenden Jupiter mit anderen Planeten zu suchen seien. So sei einst bei einer Konjunktion Jupiters mit Saturn die chaldäische Religion entstanden, aus einer Konjunktion Jupiters mit der Sonne die ägyptische, aus seiner Verbindung mit Venus die mohammedanische, mit Merkur schließlich die christliche.« (S. 66f.) 31 Das klingt wie eine Darstellung der These, dass »hübsche Begründungen« von Merkur gelehrt würden, wie Andalk di Negro schrieb. (Zitiert bei Schwertsik, Die Erschaffung, s. Anm. 1, S. 498.)
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Haupthandlung der Novelle zwischen Sarkophagen spielt, scheint eine Hommage an Dante, der den Vater seines Freundes Guido Cavalcanti, ebenfalls Epikureer, im 10. Gesang des Inferno in einem Sarkophag präsentiert. Die Geschichten I.6–8 thematisieren die Habgier und den Geiz, also die Todsünde der avaritia, die man Merkur zuordnete. Die Geschichten I.1–3 handeln von Kaufleuten und Wucherern, die ebenfalls unter dem Patronat des Merkur stehen. Die Geschichte VI.1 präsentiert einen schlechten Erzähler, der seine Zuhörerin ermüdet. Mit dieser Geschichte beginnt die zweite Hälfte der Sammlung, und man wird sie als programmatisch bezeichnen dürfen. Aus Platzgründen musste ich mich mit diesem kursorischen Rundumschlag begnügen. Aber ich wollte zumindest an einer Beispielreihe andeuten, wie Boccaccio die einzelnen Tage auf die planetarischen Tagesregenten und ihre Symbolik bezieht. Damit komme ich zum 5. Erzähltag, dem Zentrum, sowie zum Schluss des Decameron. Der 5. Tag fällt auf einen Dienstag, müsste also meiner Hypothese entsprechend im Zeichen von Mars stehen. Das scheint zunächst vollkommen abwegig, denn das Tagesmotto variiert das Thema des zweiten Tages nur ein klein wenig. Fiammetta wünscht, dass man von Liebenden erzähle, »die nach mancherlei ernsten und bösen Zwischenfällen schließlich doch zu einem glücklichen Ende kamen«.32 Während sich am 2. Tag, dem Donnerstag, das gute Ende durch die Frömmigkeit der Protagonisten und den glückbringenden Einfluss Jupiters herstellt, liegt hier der Akzent auf den »bösen Zwischenfällen«. Sie evozieren durchweg eine Welt des Mars: Die Protagonisten geraten in Kriege, Zwiste, Überfälle. Es sind diese Ereignisse und nicht der glückliche Ausgang der Erzählungen, die sich auf Mars beziehen. Der fünfte Tag bildet das Zentrum der Novellensammlung. Hier zeigt sich der Einfluss Dantes vielleicht am ungebrochensten. In seinem Convivio hatte Dante im 14. Kapitel des zweiten Traktats die Ähnlichkeit der sieben Planeten mit den sieben artes liberales behauptet. Das scheint selbst innerhalb des astrologischen Diskurses schwer nachvollziehbar, denn seit Martianus Capella (De nuptiis Philologiae et Mercurii) ordnete man die sieben artes liberales dem Merkur zu.33 Dennoch ist der Abschnitt über Mars hochinteressant, denn er erklärt die herausragende Positionierung des Zorns als der mit Mars konnotierten Todsünde in 32 »Incomincia la quinta giornata nella quale, sotto il reggimiento di Fiammetta, si ragiona di cik che ad alcuno amante, dopo alcuni fieri o sventurati accidenti, felicemente avvenisse.« Boccaccio, Decameron (s. Anm. 19), S. 403. 33 Richard Kay (Kay, Dante’s Christian Astrology, s. Anm. 1, S. 42–44) will diese sonderbare Theorie nur für das Convivio gelten lassen. In der Commedia ordne Dante die sieben freien Künste wie üblich Merkur zu.
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der Commedia. Dante vergleicht den Marshimmel mit der Musik, weil es in der Musik um die Harmonie, das schöne Verhältnis, ginge. Der Marshimmel nämlich sei, egal, ob man von unten oder von oben zu zählen anfange, der fünfte der beweglichen Himmel. Da sich das Empyreum nicht bewegt, ist es von dieser Rechnung ausgeschlossen. Anders gesagt: der Marshimmel ist der mittlere der Himmel. Auch diese These scheint absolut befremdlich. Normalerweise ist es die Sonne, also die vierte Sphäre, die das Zentrum der sieben Planetensphären bildet. Das Convivio erklärt damit, warum die Zornigen im fünften Kreis des Inferno und im fünften Kreis des Purgatorio angesiedelt werden, so wie die Gotteskrieger in der fünften Sphäre des Mars im Paradiso.34 Die Kinder des Mars bewohnen jeweils das Zentrum, und im Purgatorio und im Paradiso sind ihnen auch die Mittelkapitel gewidmet. – So scheint sich Boccaccio bei der Wahl des 5. Tages als Zentrum seiner Novellensammlung wieder an Dante anzulehnen. Auch scheint es kein Zufall zu sein, dass Fiammetta, die kleine Flamme, die Regentin dieses Dienstags ist. Mars und die unter seinem Einfluss Stehenden gelten als heiß und trocken, sind also cholerischen Temperaments und damit dem Feuer zugeordnet. Fiammetta ist allein schon wegen ihres Namens prädestiniert, dem fünften Erzähltag vorzustehen. Victoria Kirkham dagegen hat vorgeschlagen, dass Fiammetta die Kardinaltugend der Mäßigung verkörpere, und den Namen der Protagonistin entsprechend interpretiert: sie sei nicht die hell lodernde Flamme der Liebe oder des Zorns, sondern nur ein gemäßigtes Flämmchen.35 Zwei Argumente präsentiert Kirkham, um ihre These zu begründen. Einerseits enden viele der Geschichten am 5. Tag mit einer Ehe, wie auch in den anderen von Fiammetta erzählten Geschichten. Fiammetta scheint tatsächlich die gute Ehe einer außerehelichen Beziehung oder einem Ehebruch vorzuziehen. Und umgekehrt hält sie auch das allzu unterwürfige Verhalten der Griselda ihrem Ehemann gegenüber (in der letzten Novelle der Sammlung) für abgeschmackt. Andererseits bilde, so Kirkham, der Tag von Fiammetta im Erzählzusammenhang eine Art Waage, was der Allegorie der temperantia entspräche. Janet Levarie Smarr hatte ja bereits gezeigt, dass der 5. Erzähltag das Zentrum des symmetrischen Aufbaus des Decameron bildet. In diesem Sinne kann man Fiammetta und ihren Tag tatsächlich als eine ›Waage‹ begreifen, die die anderen Tage im Gleichgewicht hält. Der zentrale Dienstag, dem Fiammetta vorsteht, weist sowohl auf die im Zeichen des Mars stehende Pest und das an einem Dienstag stattfindende erste Treffen der Gesellschaft zurück als auch auf das Ende der Rahmenhandlung an einem Dienstag voraus. 34 In Bezug auf das Purgatorio muss man die beiden Kreise der spät Bereuenden dazurechnen. Innerhalb der sieben Kreise der Todsünden nimmt der Zorn die dritte Stufe ein. 35 Victoria Kirkham: The sign of reason in Boccaccio’s fiction, Florenz 1993, S. 153ff.
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Die Geschichten, die am 5. Tag erzählt werden, enden alle versöhnlich, meist mit einer Hochzeit, obwohl sie sich fast alle vor dem Hintergrund von Kriegen, Piraten- und Raubüberfällen oder gewaltsamer Entführungen abspielen. Das Marsthema ist in allen Erzählungen präsent, aber Fiammetta fungiert quasi versöhnend. Das gilt letztlich auch für die Erzählungen, die Fiammetta selbst an den anderen Tagen erzählt. Und es ist, wie Lucia Marino konstatierte, auffällig, dass sieben der Erzählungen Fiammettas an fünfter oder sechster Stelle der jeweiligen Tage erzählt werden.36 Sieht man von Dioneo ab, so gibt es solch eine deutliche Gewichtung kein zweites Mal. Worum es mir hier geht, ist die Variation des Mars-Themas, die den Beginn, die Mitte und das Ende des Decameron miteinander verbindet. Am Beginn steht Mars für das Chaos, die Unordnung, die Pest, den Tod. Die einzige vernünftige Alternative scheint die Flucht und der Übergang in eine merkurische Welt, also eine Welt der Kunst, der Literatur, aber auch eine Welt der Bürger, Händler, Handwerker, Bankiers und Betrüger. Am 5. Tag wird der gewalttätige Hintergrund innerhalb der Geschichten selbst schon überwunden, das Thema der Tapferkeit und der Großmut klingt bereits (in der Geschichte V.9) an. Der zehnte Erzähltag, der wieder auf einen Dienstag fällt, vollendet einerseits die bereits angedeutete Tendenz des 5. Tages, stellt aber andererseits alles bisher Gesagte auf den Kopf. Die Geschichten berichten von der Großmut, einer Tugend, die nicht zu den theologischen oder Kardinaltugenden zählt. Es handelt sich um eine aristokratische oder, besser gesagt, eine ritterliche Tugend, die normalerweise in Fürstenspiegeln erscheint. Jedenfalls gehört sie nicht in einen möglichen Tugendkanon für Bürger. Im Verständnis des 14. Jahrhunderts ist die Großmut eine Potenz der Tapferkeit. Dies ist der Grund, warum die Großmut in das symbolische Feld von Mars fällt. Auch hierbei wird man sich an Dante erinnert fühlen, wenn man bedenkt, dass Dante in der Marssphäre des Paradiso (XV–XVIII) seinem Vorfahren Cacciaguida begegnet, der wegen seiner Teilnahme an einem Kreuzzug geadelt wurde. Hier geht es um christliches Rittertum, um Stolz auf die Aristokratie, um die Noblesse und Größe des früheren Florenz. Richard Kay macht in seinem Buch über Dantes christliche Astrologie im Kapitel über die Marssphäre einen Umweg über Thomas von Aquins Beschreibung der Kardinaltugend der Stärke bzw. Tapferkeit (fortitudo).37 Kay zufolge bezieht sich Dante in der Marssphäre des Paradiso weniger auf die gängigen Marsmotive, als auf diese Abschnitte über die fortitudo. Richard Kays Verweis 36 Lucia Marino: The Decameron »cornice«: allusion, allegory and iconology, Ravenna 1979, Appendix II, S. 186. 37 Kay, Dante’s Christian Astrology (s. Anm. 1), zu Mars: S. 137–186, Anm. S. 322–338, zu Thomas von Aquin: S. 142–149. Thomas von Aquin: Summa theologica, II.II, quaestio 123ff.
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auf den fortitudo-Begriff bei Thomas von Aquin für die Marssphäre scheint mir absolut einleuchtend. Er gilt aber fast noch eindeutiger für die Novellen des 10. Tages in Boccaccios Decameron. Thomas von Aquin zerlegt die fortitudo in vier zentrale Aspekte: fiducia (Vertrauen, zuversichtlicher Glaube, Mut), magnificentia (Großherzigkeit) sowie Geduld und Ausdauer.38 Damit erklärt sich das Auftauchen der Novelle X.10 in diesem Umfeld. Während die ersten neun Novellen von der Großmut handeln, wird man das Verhalten von Griselda am besten mit den drei restlichen Begriffen charakterisieren können: Vertrauen, Geduld und Ausdauer. Neun Tage (oder wegen der Ruhetage zwei Wochen) lang suchten die Protagonisten des Rahmens ihr Heil in der Flucht vor den bösen Einflüssen des Mars, indem sie sich quasi verbürgerlichten. Sie folgten kleinmütig den klugen Ratschlägen Pampineas und verbrachten ihre Zeit, indem sie sich Geschichten der niedrigsten Gattung erzählten.39 Am 10. Tag kommen sie nach dieser Art von Entfremdung zu sich selbst zurück. Man besinnt sich auf die aristokratischen und ritterlichen Werte. So ist man quasi gerüstet, um in die von Mars und der Pest besetzte Stadt Florenz zurückzukehren. Es ist nicht primär das christliche Denken, das die Herausforderung der neuerlichen Bedrohung zu überwinden hilft, sondern das aristokratische (das natürlich auch christlich ist). Insofern erscheint mir das Decameron als eine Apologie der Aristokratie, obwohl die ersten neun Tage ein völlig entgegengesetztes Bild zeigen.40 Letztlich aber besteht das Decameron eben aus allen 10 Tagen, aus der Verirrung und ihrer Überwindung, also aus einer Totalität, die auch das Falsche als Teil des Ganzen begreift. Hier wird nicht ausgegrenzt, sondern integriert, nicht schwarzweiß gemalt, sondern eine komplexe Welt gezeigt. Diese Welt ist in all ihrer Komplexität sowohl geordnet als auch lesbar. Der Schlüssel zu dieser Lesbarkeit ist das kulturelle Wissen des 14. Jahrhunderts, besonders die Kosmologie und die Astrologie des scholastischen Diskurses. Dieter Blume argumentierte, dass Boccaccio in seinen Geneologie deorum gentilium die scheinbar so fabulösen antiken Mythen zu retten versuchte, indem er behauptete, dass all diese Geschichten nichts anderes wären als die Darstellung des Einflusses der Planeten auf die Menschen: »die vermeintlich beliebigen Fiktionen der Dichter führen in Wahrheit die komplexen Zusammenhänge der Sternenwissenschaft vor.«41 Da Boccaccio etwa gleichzeitig an seinem Decame38 Thomas von Aquin, Sth II.II, q. 128. 39 Thomas von Aquin erwähnt in Sth II.II, q. 123, 5 die Form der fortitudo, die die Protagonisten anfangs gerade nicht haben: die selbstlose und riskante Pflege von Freunden, die an einer ansteckenden Krankheit leiden. 40 Vergleiche dazu Giorgio Padoan: Adel und Bürgertum im ›Decameron‹ [1964], in: Boccaccios Decameron, hg. von Peter Brockmeier, Darmstadt 1974, S. 148–190. 41 Blume, Andalo di Negro (s. Anm. 1), S. 331.
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ron und an seinen Genealogie zu schreiben begann, wird man vielleicht einen ähnlichen Impuls voraussetzen dürfen. So wie er die antiken Mythen als »poetische Schilderungen astrologischer Zusammenhänge«42 verteidigte, so versuchte er sich abzusichern, indem er auch den als prekär empfundenen Novellen eine astrologische Ordnung unterlegte. In beiden Fällen geht es um die Geltung: nicht nur die antike, sondern auch die Literatur von ihm selbst beansprucht eine Würde, weil sie sich eben nicht nur auf Poesie beschränkt, sondern das astrologische Wissen in poetischer Form exemplifiziert.43
III.
Martialisches Kino: Die Geschichte des Nastagio degli Onesti (Decameron, V.8)
Abschließend möchte ich eine einzelne Novelle konkreter interpretieren. Meine Wahl fiel auf die Geschichte V.8, die an einem Dienstag erzählt wird, weil sie meine Thesen einerseits exemplarisch bestätigt, andererseits aber verdeutlicht, dass man sie nur begreifen kann, wenn man bei der Interpretation auf das kulturelle Wissen des 14. Jahrhunderts, in diesem Fall auf die Astrologie und die scholastische Moralphilosophie, zurückgreift. Beginnen möchte ich mit dem Motiv der Perpetuierung, das sich am deutlichsten in der Wiederholungsschleife der »höllischen Jagd« (caccia infernale) zeigt. Sie ist gleichzeitig ein Beispiel für die perpetuierte Exemplarität sowohl der rhetorischen als auch der inhaltlichen Ebene der Novelle.44 42 Blume, Andalo di Negro (s. Anm. 1), S. 332. 43 Schwertsik, Die Erschaffung (s. Anm.1), besonders S. 484–487, machte auf eine andere Art der Verbindung zwischen Astrologie und Poesie aufmerksam. Er bezieht sich dabei auf Boccaccios Filocolo (V,8) und die Genealogie deorum gentilium (XIV,8). Die Dichtkunst, so Boccaccio, sei dadurch entstanden, dass man über die wunderbare Welt der Sterne staunte. Man schloss, dass es einen Schöpfer dieses Wunderwerks geben müsse. Um diesen entsprechend zu feiern, erfand man eine exquisita locutio (ausgesuchte Redeweise), die den Ursprung der Dichtung bildete. 44 Vergleiche zu der Novelle Bodo Guthmüller: Christliches Inferno und Amor-Mythologie in der Novelle von Nastagio degli Onesti (Dec. V.8), in: Studi sul canone letterario del Trecento, hg. von Michelangelo Picone, Ravenna 2003, S. 161–173. – Erst kurz vor der Drucklegung dieses Bandes, als ich die zwischenzeitlich erschienenen Arbeiten zu Boccaccios Decameron durchsah, stieß ich auf den zweiten Aufsatz von Bodo Guthmüller zu der Novelle: Bodo Guthmüller: Parodierung und spielerische Umkehrung mittelalterlicher Erzählliteratur. Boccaccios Novelle von Nastagio degli Onesti, in: 700 Jahre Boccaccio. Traditionslinien vom Trecento bis in die Moderne, hg. von Christa Bertelsmeier-Kierst/Rainer Stillers, Frankfurt a. M. u. a. 2015, S. 105–125. Obwohl unsere Interpretationen unabhängig voneinander entstanden, ähneln sie sich an manchen Stellen frappierend. Ich möchte es bei diesem generellen Hinweis belassen, ohne jede Übereinstimmung in einer Fußnote nachträglich zu dokumentieren. Bodo Guthmüller argumentiert an vielen Stellen wesentlich konkreter als ich und bringt zudem noch weitere mittelalterliche Intertexte ins Spiel. Wäh-
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Die Novelle beginnt, wie viele andere Novellen auch, mit einer von den jeweiligen Erzählern artikulierten These. Filomena behauptet, das Mitleid (piet/) der Frauen würde belohnt, dagegen ihre Grausamkeit (crudelt/) von der göttlichen Gerechtigkeit mit Strenge bestraft. Die von ihr erzählte Geschichte sei einerseits ein Beweis dieser These und andererseits der Versuch, die Zuhörerinnen zu veranlassen, alle Grausamkeit aus ihrem Herzen zu verbannen oder genauer gesagt: sie zu verjagen (cacciarla). Gleichzeitig erwähnt Filomena, dass ihre Geschichte die Zuhörer/innen rühren (oder deren Mitleid erregen) und ergötzen werde. Zugespitzt, und im Verhältnis zu vielen anderen Einleitungen der Geschichten selbst schon wieder fast exemplarisch, thematisieren Filomena und Boccaccio einerseits das prodesse et delectare, andererseits die Rhetorik des Exemplarischen. Ich betone hier die Rhetorik. Meist fungieren die Geschichten nur im rhetorischen Sinn als Exempel, illustrieren, bestätigen oder beweisen durch einen konkreten Fall die artikulierten Thesen der Erzähler. Da es sich dabei weder um moralische Erzählungen handelt, noch um Geschichten, die allegorisiert werden, haben einige Kritiker den exemplarischen Charakter der Novellen vollständig bestritten. Filomena suggeriert allerdings, dass es sich in diesem Fall auch um ein moralisches Exemplum handle, denn die göttliche (Belohnung und) Strafe für richtiges oder falsches Verhalten legt das nahe. Das ist aber nur ein rhetorischer Trick, eine Übertragung von weltentsagenden Predigtstrategien auf eine dann doch allzu weltliche und lustbetonte Situation. Die Geschichte, meint Filomena, illustriere also die göttliche Strafe für Grausamkeit. Sieht man sich allerdings die konkrete Grausamkeit an, so besteht sie schlicht und einfach darin, dass zwei Frauen, denen noch nicht einmal ein Eigenname zugestanden wird (die erste ist die Tochter von Paolo Traversaro, die zweite bleibt völlig anonym), die Liebe eines Mannes zurückweisen. Das passiert und ist nicht weiter verwerflich. Das hat natürlich auch Boccaccio so gesehen, denn viele andere Geschichten zeigen, wie sich Frauen gegen die freundlichen Bemühungen oder plumpen Zudringlichkeiten der Männer wehren und trotzdem oder gerade deswegen als sympathisch erscheinen. Immerhin wird die Zurückweisung Nastagios durch die Tochter von Paolo Traversaro negativ bewertet. Sie sah entweder wegen ihrer einzigartigen Schönheit oder wegen ihres hohen Adels nicht nur auf Nastagio, sondern auf alle verächtlich herab. Insofern wäre sie also eher wegen ihres Hochmuts als wegen der Zurückweisung eines Verehrers zu kritisieren. Nastagio ist verzweifelt und will sich das Leben nehmen, was er dann aber doch nicht tut. So verständlich seine Trauer sein mag, indem sie sich bis zur rend er aber, wie aus dem Titel seines Aufsatzes schon hervorgeht, eine Distanzierung Boccaccios von Dante favorisiert, geht es mir eher um das ambivalente Verhältnis von imitatio und Parodie.
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Verzweiflung steigert, schlägt sie in eine Sünde, die desperatio, um. Diese rangiert zwar nicht unter den Todsünden, ist aber das Gegenstück zur Hoffnung und insofern absolut verwerflich. Sie ist die Sünde, derer sich Judas schuldig machte, als er seine Tat, Christus verraten und verkauft zu haben, bereute, nicht an eine Vergebung glaubte und sich selbst umbrachte. Nachdem sich Nastagio auf seine Güter in Chiassi zurückgezogen hat, wird er im dortigen Pinienwald Zeuge der »höllischen Jagd«. Am helllichten Tag begegnen ihm zwei Gespenster, eine Frau und ein Ritter, die sich eigentlich in der Hölle befinden. Diese merkwürdige Vision, deren Realitätsstatus man nur sehr schwer beschreiben kann, scheint mir eine der schönsten Bezugnahmen Boccaccios auf die Commedia von Dante. Wie bei den anderen Bezügen zur Commedia auch, scheint sie sowohl ingeniöse imitatio, also freie Nachahmung, als auch Umkehrung und Persiflage zu sein. Nastagio befindet sich zwar in einem Wald, hat auch (wie Dante am Beginn der Commedia) ein klein wenig die Orientierung verloren, tritt aber nicht in die Hölle ein, sondern die Höllenbewohner machen einen Ausflug auf die Erde. Diese Umkehrung scheint mir für das gesamte Decameron zu gelten: Boccaccio präsentiert die Ordnung des gesamten Kosmos, nicht indem er wie Dante durch die jenseitigen Welten reist, sondern indem er ganz irdisch bleibt. Die irdische Welt ist ein Abbild des Kosmos. Da der Blick auf die irdische Welt damit sozusagen immer schon einen Blick auf den Kosmos en miniature darstellt, verwundert es letztlich nicht, wenn Boccaccio in dieser Szene die Ebenen verschränkt. Dass sich die höllische Jagd auf der Erde ereignet, also für einen irdischen Beobachter wahrnehmbar ist, verdankt sich letztlich einer anderen Analogie zum Paradiso. Dort begegnet Dante den Figurationen oder Reflexen der Seelen der Seligen in den verschiedenen Planetensphären. Dies ist nicht ihr wirklicher Aufenthaltsort, sondern nur der Ort, an dem sie für den irdischen Besucher zur Erscheinung kommen, weil dieser noch seinen irdischen Denk- und Wahrnehmungsformen verhaftet ist. Insofern exemplifiziert Boccaccio hier auch das Verfahren von Dante. Nastagio hat wie Dante das Privileg, einer Art objektiven Vision teilhaftig zu werden. Und wie bei Dante vermischen sich einerseits die zeitlichen Ebenen und andererseits die Gefühle des beobachtenden Protagonisten. Guido degli Anastagi, der Geist, der Höllenbewohner, der holographische Protagonist des martialischen Kinos, verfolgt mit seinen Hunden eine nackte Frau, die um Erbarmen schreit. Nastagio will die Frau verteidigen, verkennt damit die unterschiedlichen Realitätsebenen. Er ist einerseits ein Abklatsch von Dante, der manchen der Höllenbewohner Sympathie entgegen bringt und somit implizit die Gerechtigkeit der göttlichen Strafe infrage stellt, andererseits ein Vorläufer von Don Quijote vor dem Puppentheater von Maese Pedro und all seinen Abkömmlingen, die in Theater- oder Kinovorführungen eingreifen wollen. Nastagio wird aber von Guido aufgeklärt, und es zeigt sich, dass sowohl er als auch die anonym
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bleibende Frau für ihre Sünden auf Erden bestraft werden. Das martialische Kino, die sich wiederholende Endlosschleife, zeigt die Folgen eines vergangenen Verhaltens, das dasjenige von Nastagio und der Tochter des Paolo Traversaro spiegelt. In den Erläuterungen Guidos werden nun auch die Sünden der beiden expliziert: er hat sich umgebracht und sie wird wegen ihres Hochmuts bestraft. So funktionieren die Begegnung mit Guido degli Anastagi und dessen Erklärungen selbst als eine Art Exempel innerhalb der Geschichte, die von Filomena selbst schon als Exempel ihrer These erzählt wird, dass das Mitleid der Frauen belohnt und ihre Grausamkeit bestraft würden. Nun beginnt das Exempel im Exempel Wirkung zu zeigen und exemplifiziert damit zugleich den richtigen Gebrauch von Exempeln. Nastagio überwindet seine Schwermut und Verzweiflung, indem er einen Plan schmiedet. Da er erfahren hat, dass Guido seine frühere Angebetete immer zur gleichen Zeit am gleichen Ort mit seinen Hunden jagt, sie umbringt und ihre Eingeweide den Hunden zum Fraß vorwirft, will er dieses Schauspiel auch seiner Geliebten zeigen. Er organisiert ein Mittagessen im Wald von Chiassi, zu dem auch Paolo Traversaro und seine Familie eingeladen werden. Die Szene wiederholt sich und zeitigt auch Wirkung auf die Tochter Paolo Traversaros. Auch sie beherzigt die Lehren des Exempels – wenngleich weniger aus Einsicht als aus Angst, dass auch sie einst so enden könnte wie das Opfer des martialischen Kinos – und heiratet schließlich Nastagio. Ein heutiger Leser wird allerspätestens hier von einem unguten Gefühl beschlichen. Nastagio instrumentalisiert das martialische Kino, wie die Bußprediger der Franziskaner und Dominikaner ihre apokalyptischen Szenarien ausmalten, um ihre Zuhörer in Angst und Schrecken vor dem Jüngsten Gericht zu versetzen. Mir scheint, dass bereits Boccaccio eine solche Parallele im Sinn hatte. Indem er die intendierten und auch erfolgreichen Strategien des exemplarischen Erzählens derart extrem ausstellt, werden sie gleichzeitig fragwürdig. Und es klingt wie Spott und Hohn, wenn Filomena und Boccaccio schließlich auch noch erwähnen, dass durch dieses martialische Kino alle Mädchen Ravennas so eingeschüchtert waren, dass sie danach »viel bereitwilliger auf die Wünsche der Männer eingingen als je zuvor«.45 Denn hier ist nicht mehr die Rede von einer Hochzeit. Man assoziiert zwangsläufig, dass die Mädchen aus Angst eher zur Unzucht bereit waren. Der Effekt des Exempels wäre in diesem Fall kein moralischer, sondern im Gegenteil ein unmoralischer. Damit komme ich nochmals ausführlicher zu den Bezügen zu Dantes Commedia, die mir einerseits für eine adäquate Interpretation der Novelle eminent 45 »[…] anzi s' tutte la ravignane donne paurose ne divennero, che sempre poi troppo piF arrendevoli a’ piaceri degli uomini furono, che prima state non erano.« Boccaccio, Decameron (s. Anm. 19), S. 469.
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wichtig erscheinen und andererseits die Voraussetzung bilden, um die planetarische Symbolik wirklich begreifen zu können. Völlig offensichtlich ist, dass Boccaccio Familiennamen aus Ravenna wie die der Traversari und der Anastagi verwendet, die bereits in Dantes Commedia erwähnt werden. Der Pinienwald bei Chiassi, in welchem Nastagio seine Vision hat, wird von Dante mit dem irdischen Paradies verglichen (Purgatorio, XXVIII). Spätestens hier ist man irritiert, würde man doch aufgrund eines solchen intertextuellen Bezuges eher eine paradiesische als eine höllische Szene erwarten. Der entscheidende Referenztext ist aber der Selbstmörderwald aus dem 13. Gesang des Inferno. Dieser Bezug wird einerseits ganz allgemein evoziert, da sich beide Szenen in einem Wald abspielen und auch Guido ein Selbstmörder ist. Der Auftritt der gejagten Frau bei Boccaccio modifiziert das Geschehen von Inferno XIII ab Vers 111: In beiden Szenen erscheinen plötzlich nackte Gestalten, die durch ihre Flucht durchs Gestrüpp völlig zerkratzt sind und von Hunden gejagt werden, die sie zerfleischen und zerstückeln.46 Die wirkliche und innovative Variation besteht darin, dass bei Boccaccio Guido dazutritt, der die Frau tötet und ihre Eingeweide und ihr Herz den Hunden zum Fraß vorwirft. Indem er die höllische Strafe an ihr vollzieht, bestraft er sich selbst, denn er liebte sie ja einst, muss sie jetzt aber ohne Unterlass töten. Oben habe ich dargestellt, dass Dante die planetarischen Bezüge zu Mars beziehungsweise der mit Mars konnotierten Todsünde des Zorns in allen drei Teilen der Commedia im fünften zentralen Kreis ansiedelt.47 Im Purgatorio und im Paradiso entspricht das auch den mittleren Kapiteln. Das muss ich hier erweitern. Da diejenigen, die eine Todsünde (abgesehen vom Hochmut) begingen, bereits in den ersten fünf Höllenkreisen malträtiert werden, entsteht ein Ungleichgewicht. Der 7. Höllenkreis, der die Gesänge 12 bis 17 umfasst, präsentiert diejenigen, die Gewalt ausübten. Da man die Gewalt Mars zuordnete, steht dieser Höllenkreis ebenfalls im Zeichen des Kriegsgottes und seines Planeten. Irritierend ist für uns heutige Leser die Abfolge und damit Gewichtung der Aspekte der Gewalt, wie sie Dante ordnet. Da wir mit dem Pilger immer weiter in die Hölle hinabsteigen, steigert sich die ausgeübte Gewalt von der harmlosesten zur perversesten Art. Im 12. Gesang geht es um die Gewalt gegen andere, die 46 All diese Bezüge wurden in den Kommentaren und Aufsätzen zu der Geschichte längst thematisiert, wurden zu einer Art Grundwissen, weswegen ich darauf verzichte, aufzulisten, wer das wo schon sagte. Erwähnen will ich aber zumindest die Decameron-Ausgabe von Vittore Branca, Mailand 1976. 47 Diese identische Positionierung der Marsbezüge war nur möglich, weil Dante Mars ins Zentrum der beweglichen Himmel versetzt hatte. Entsprechendes gilt deshalb nicht für die anderen Planeten oder die anderen Todsünden. Im Inferno und im Purgatorio sind die Bezüge zu den Todsünden tendenziell umgedreht oder punktsymmetrisch gespiegelt. Das Inferno führt von den leichtesten zu den schwersten Sünden, das Purgatorio von den schwersten zu den leichtesten.
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durch die Tyrannen exemplifiziert wird. Im 13. Gesang folgt die Gewalt gegen sich selbst, der Pilger trifft Selbstmörder in Gestalt von Bäumen. Schlimmer noch erscheint die Gewalt gegen das Eigentum, die die Vergeuder darstellen. Es folgen noch die Gewalt gegen Gott (14. Gesang) und gegen die Natur (15.– 17. Gesang).48 Hanskarl Kölsch versuchte, die Abfolge von 12. und 13. Gesang zu erklären, die uns heute besonders merkwürdig anmutet. Die Einordnung erklärt sich aus der Scholastik, die für Dante bindend ist. Der Selbsterhaltungstrieb des Menschen (die Achtung vor sich selbst) wurde höher bewertet als die Achtung des Nächsten; Gewalt gegen das eigene Leben wiegt noch schwerer als Gewalt gegen andere (die in der vorhergehenden Fläche des 7. Kreises verbüßt wird). Vergeudung (Gewalt gegen den eigenen Besitz) wiegt so schwer wie Selbstmord (Gewalt gegen den eigenen Leib). Dante unterscheidet die ›Verschwender‹ aus Genusssucht (die im 4. Höllenkreis büßen) von den ›Vergeudern‹, die ihren Besitz widersinnig gewaltsam vernichten.49
Damit habe ich fast alle Aspekte thematisiert, die belegen, dass sich Boccaccio in der Novelle V.8 einerseits auf Dante und andererseits auf eine davon abgeleitete Mars-Symbolik bezieht. Der Anknüpfungspunkt ist nicht nur die gewalttätige Szene, in der Guido und seine Hunde eine Frau töten. Die martialische Todsünde des Zorns wird ersetzt durch das ebenfalls Mars zugeordnete gewalttätige Verhalten gegen sich selbst und sein Eigentum. Deshalb ist Nastagio so verzweifelt, dass er mit dem Gedanken spielt, sich selbst umzubringen, und deshalb vergeudet er auch so sinnlos sein Vermögen. Die Funktion dieses letzten Sachverhalts ist einem heutigen Leser zunächst überhaupt nicht verständlich, denn es geht weder darum, seine Geliebte durch den Einsatz seines Reichtums zu beeindrucken (obwohl das anfangs so erscheint), noch darum, sich durch teure Exzesse abzulenken. Erst durch die Lektüre Dantes oder die scholastische Moralphilosophie erschließt sich dieses Motiv. 48 Im 15. und 16. Gesang des Inferno treten die Homosexuellen Brunetto Latini und Iacopo Rusticucci auf, die die Gewalt gegen die Natur exemplifizieren. Die Homosexualität als »Gewalt wider die Natur« erklärt auch, warum bei Boccaccio in der Novelle V.10 die Homosexualität thematisiert wird. Pietro de Vinciolo entdeckt den Liebhaber seiner Frau, wird aber nicht böse, sondern schlägt vor, eine Nacht zu dritt zu verbringen. Nur das als martialisch begriffene Vergehen contra naturam bei Dante erklärt, warum Boccaccio diese Novelle genau hier, an einem Dienstag, im Einflussbereich des Mars, platzierte. Im 16. Jahrhundert wird man die Homosexualität dann dem Einfluss des Mondes zurechnen. 49 Hanskarl Kölsch: Dantes ›Divina Commedia‹, Norderstedt 2008, S. 73. – Da im scholastischen Denken der Selbsterhaltungstrieb höher bewertet wurde als die Achtung vor den anderen, ist die Flucht der Protagonisten aus der von der Pest heimgesuchten Stadt Florenz keineswegs als moralische Verfehlung zu interpretieren, wie man annehmen könnte, sondern im Gegenteil die einzig vernünftige Entscheidung.
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Während der Ort des Geschehens, der Wald bei Chiassi, auf die erwähnte Stelle in der Commedia Dantes verweist, thematisiert die Zeit der Handlung einerseits die anamnetische christliche Zeitstruktur und andererseits die Tages- und Stundenherrschaften der Planeten. Guido erzählt, dass er seine Geliebte unablässig verfolgt und tötet. Aber nur freitags zur gleichen Stunde geschehe es genau an diesem Ort.50 Eine ewige Wiederholung wird damit auf ein konkretes Datum verlegt, so wie man an jedem Sonntag in der Messe die Eucharistie feiert. Diese exakte Zeitangabe – an einem Freitag, wie wir von Guido wissen, und zwar »als bereits die fünfte Tagesstunde fast vergangen«51 war, wie die Erzählerin davor schon konkretisierte – verlegt die Handlung auf die 6. Stunde des Freitags. Im vorliegenden Zusammenhang ist genau diese Kombination von Tag und Stunde relevant. Der Freitag steht als ganzer im Zeichen der Venus. So verwundert es auch nicht, dass Petrarca, der eher ein Gegner der Astrologie war, trotzdem seine erste Begegnung mit Laura auf einen Freitag, den Tag der Venus und damit der Liebe verlegte. Auch er kann sich trotz seiner Skepsis der vorherrschenden Denkform nicht entziehen. Boccaccio geht subtiler vor. Mehrfach geht es in seinen Werken um die erste Begegnung verschiedener Protagonisten mit Fiammetta. Diese Begegnung findet immer in der fünften Stunde des Samstags statt. Die erste Stunde des Samstags steht unter dem Einfluss des Tagesregenten, also Saturns. Die weiteren Stunden folgen der chaldäischen Reihe der Planeten, also der Ordnung der Planeten vom äußersten zum innersten. Am Samstag wird also die zweite Stunde von Jupiter, die dritte von Mars, die vierte von der Sonne und die fünfte von Venus regiert. Wie Petrarca verlegt Boccaccio die fiktiven Begegnungen mit Fiammetta in eine Zeit, die unter die Herrschaft von Venus fällt. Seine zeitgenössischen Leser haben das sofort begriffen, uns fehlt heute dafür das astrologische Grundwissen. Überträgt man dieses Verfahren auf die Zeitangabe der Begegnung Nastagios mit den Protagonisten der höllischen Jagd, so fällt sie zwar auf den Venustag, aber in die Marsstunde (die 1. Stunde des Freitags wird von Venus beherrscht, die 2. von Merkur, die 3. vom Mond, die 4. von Saturn, die 5. von Jupiter und die 6. von Mars). Dies scheint mir die deutlichste Bestätigung dafür, dass Boccaccio
50 Peter Brockmeier verweist in seinem Kommentar zu der Novelle darauf, dass auch Dantes Jenseitsreise an einem (Kar-)Freitag beginnt. Leicht variiert könnte man also sagen, dass sich die Verirrung in einem Wald nicht nur motivisch an den Beginn von Dantes Commedia anlehnt, sondern auch auf denselben Wochentag fällt. Giovanni Boccaccio: Das Decameron, hg. von Peter Brockmeier, Stuttgart 2012, S. 929. 51 »Ed essendo gi/ passata presso che la quinta ora del giorno […].« Boccaccio, Decameron (s. Anm. 19), S. 464.
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diese Geschichte, die an einem Dienstag, dem Tag des Mars, erzählt wird, tatsächlich als martialisch begreift.52 Boccaccios Novelle V.8 bestätigt damit nicht nur, dass der fünfte Erzähltag im Zeichen von Mars steht, sondern auch, dass viele der Novellen tatsächlich einen – wenngleich nur rhetorischen – exemplarischen Charakter haben. Schließlich belegt die Novelle, wie eine Inszenierung, also letztlich eine künstlerische Anordnung, zu wirken vermag. Da sich das Verhalten der Frauen von Ravenna ändert, wird hier ironisch vorgeführt, wie man einem trockenen moralischen Postulat gesellschaftlich anerkannte Geltung verschaffen kann.
52 Ebenso funktioniert die Zeitangabe in der Novelle VI.10. Frate Cipolla wird wegen seines rhetorischen Geschicks, seines schelmischen Wesens und seiner Schlagfertigkeit als ein Kind Merkurs präsentiert. Sein großer Auftritt, bei welchem er die Kohlen vorzeigt, auf denen der heilige Laurentius geröstet wurde, wird auf einen Sonntag nach der Nona, also in die zehnte Stunde, verlegt. Sonntags stehen die erste und die achte Stunde im Zeichen der Sonne, die neunte in dem der Venus und die zehnte in dem von Merkur, dem der ganze 6. Tag, der Mittwoch, geweiht ist.
Annegret Oehme
»Wellichs du tuOt, das wirt dich reuen.« Strategien der Wissensvermittlung in Albrechts von Eyb ›Ehebüchlein‹1
Heiraten oder Nichtheiraten? Das ist hier die Frage! Von einem jungen Mann in diesem Anliegen um Rat gebeten, antwortet der weise Sokrates umsichtig: »Wellichs du tuOt, das wirt dich reuen.«2 So steht es gleich am Anfang von Albrechts von Eyb ›Ehebüchlein‹,3 einer der zentralen Eheschriften des 15. Jahrhunderts. Dieses Dilemma ist programmatisch für das ›Ehebüchlein‹, denn argumentativ, so wird der rhetorisch versierte Humanist Albrecht von Eyb seinem Publikum zeigen, lässt sich keine Antwort finden und somit kein Anspruch auf normative Geltung etablieren. Dieser Aufsatz soll zeigen, wie durch einen Wechsel der Argumentationsebene schließlich doch die Ehe zur einzig richtigen Beziehungsform stilisiert wird und welche Methoden der Wissensvermittlung auf der Suche nach einer Antwort Verwendung finden.4 Es sind primär drei 1 Dieser Aufsatz greift die Hauptthesen meiner Masterarbeit auf. Er ist daher in Dankbarkeit meiner damaligen Betreuerin Prof. Dr. Annette Gerok-Reiter gewidmet, die nicht nur beim Verfassen der Arbeit hilfreich zur Seite stand, sondern auch mein Interesse an der Altgermanistik geweckt und gefördert hat. 2 Albrecht von Eyb: Ehebüchlein, in: Deutsche Schriften des Albrecht von Eyb. Erster Band: Das Ehebüchlein, hg. v. Max Herrmann, Berlin 1890, S. 5. Alle folgenden Zitate sind der Edition Max Herrmanns entnommen, die eine genaue Wiedergabe des Kobergerschen Druckes unter Berücksichtigung verschiedener Handschriften bietet. 3 Obwohl der eigentliche Titel des Textes Ob einem manne Sey zunemen ein eelich weyb oder nicht ist, bietet sich doch aufgrund pragmatischer Überlegungen zur Handhabbarkeit an und hat sich in der Forschung als gängige Kurzform etabliert, weshalb ich ihn auch so verwenden werde, aber im Folgenden in einfache Anführungszeichen setze, um auf den konsequenten Zusatz »sog.« zu verzichten. 4 Ich orientiere mich hier in Anlehnung an Michael Titzmann an einem weiten Wissensbegriff und verstehe alles, worüber in einer Kultur Behauptungen aufgestellt werden können, als Element dieses Wissens (Vgl. Michael Titzmann: Kulturelles Wissen – Diskurs – Denksystem. Zu einigen Grundbegriffen der Literaturgeschichtsschreibung, in: Zeitschrift für Französische Sprache und Literatur Bd. 99 H.1 (1989) S. 47–61, hier S. 49). Des Weiteren halte ich Birgit Neumanns Definition für produktiv : »Gesamtmenge der in einer Kultur zirkulierenden Kenntnisse, die durch Kommunikation und Erfahrung konstruiert, erworben und tradiert werden.« (Birgit Neumann: Kulturelles Wissen und Literatur, in: Kulturelles Wissen und Intertextualität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien zur Kontextualisierung von Literatur,
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verschiedene Methoden der Wissensvermittlung, die mit der Dreigliederung des Textes einhergehen und in der Forschung bisher vernachlässigt und nicht mit dem dezidierten Aufbau des Textes in Verbindung gebracht wurden: Die argumentative Aufbereitung der Ausgangsfrage mittels einer Vielzahl von Pro- und Kontraargumenten klassischer Autoritäten zur Ehefrage (Florilegium); die Lösung des so entstanden Konfliktes auf der Ebene religiöser Dichtung; und schließlich der performative Vollzug der im zweiten Teil gefundenen Lösung durch die Ausrichtung eines Hochzeitsmahls.5 Dieser Aufsatz untergliedert sich in vier Teile. In einem ersten Schritt werde ich zunächst eine kurze Einführung in die Tradition der Eheschriften geben, die notwendig ist, um Albrechts von Eyb ›Ehebüchlein‹ besser verorten zu können. Im Anschluss werden die drei Formen der Wissensvermittlung nachgezeichnet und ihre Rolle für die ›Ehefrage‹ analysiert. Nach einer anfänglichen genaueren Analyse dieser drei Teile und den damit einhergehenden Argumenten werde ich in einem weiteren Schritt zeigen, dass bei aller Lehre (prodesse) der humanistischen Eheschrift das Vergnügen (delectare) nicht zu kurz kommt und essentieller Bestandteil des Textes ist, und abschließend die Frage nach der Verortung und Konstruktion der Sprecherautorität diskutieren.
1.
Das ›Ehebüchlein‹ im Kontext der Tradition
Die Zahl der Schriften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit zu den Themen Ehe und Familie ist fast unüberschaubar groß und reicht von Berthold von Regensburg bis zu Martin Luther.6 In manchen der Texte nur am Rande gestreift, hg. v. Marion Gymnich/Birgit Neumann/Ansgar Nünning, Trier 2006, S. 29–51, hier S. 43). 5 Dabei finden wir in Albrechts von Eyb ›Ehebüchlein‹ alle von Michael Titzmann untersuchten Arten von Relationen von Texten im Rahmen der Wissensvermittlung: a) Wissensreferenzen: Texte setzen kulturelles Wissen voraus und setzen sich mit kulturellem Wissen auseinander ; b) Texte können sich auf von anderen Texten abstrahierte Systeme beziehen und sich mit diesen auseinandersetzen; c) Textreferenzen: Text bezieht sich auf einen anderen identifizierbaren Text (Titzmann, Kulturelles Wissen (s. Anm. 4), S. 54). 6 Innerhalb dieser Schriften ist die Bewertung der Ehe grundsätzlich von der der Geschlechter(-rollen) zu unterscheiden. Nicht immer sind Reflexionen über die Ehe mit Reflexionen über das weibliche Geschlecht im Allgemeinen verknüpft und umgekehrt. Mitunter wird nur die Rolle der Ehefrau thematisiert. Die Übergänge von misogam und misogyn bzw. philogam und philogyn sind zwar fließend, dennoch gilt es, zwischen den einzelnen Debatten und – im Rahmen der Textanalyse – vor allem auch den verschiedenen Gattungstraditionen zu differenzieren, denn »[d]as ›Frauenbild‹ und damit auch die an Mädchen und Frauen adressierten Erwartungshaltungen hinsichtlich ihres Verhaltens sind durchaus abhängig von den (innerliterarischen) Bedingungen jener Textssorte und jener literarischen Gattung, in der sie geäußert werden.« (Ingrid Bennewitz: Darumb lieben Toechter / seyt nicht zu gar fürwitzig…. Deutschsprachige moralisch-didaktische Literatur des 13.–15. Jahrhunderts, in: Geschichte
»Wellichs du tuOt, das wirt dich reuen.«
255
in anderen zentral, lässt sich in der Frage, ob ein Mann überhaupt heiraten soll, ein bereits aus der Antike bekannter Topos erkennen, der bis mindestens ins 18. Jahrhundert in den Texten reflektiert wurde: die rhetorische Frage – oder Quaestio – an viro sapienti uxor sit ducenda [›soll ein weiser Mann eine (Ehe-)Frau nehmen‹].7 Quintilian griff die ›Ehefrage‹ in seiner Institutio Oratoria auf.8 Im Mittelalter trat, so Edith Feistner, die Ehequaestio gemäß dem dominant klerikalen Kontext, in dem sich die Rezeption der antiken Rhetorik vollzog, ganz zurück und war höchstens noch in Form der Eheinvektive zu finden.9 Die Humanisten aktualisierten die antike Tradition der Quaestio und machten sie gerade im Rahmen sogenannter Gelegenheitsdichtung – unter anderem anlässlich von Hochzeiten prominenter Paare – wieder populär. Das berühmte Ehelob De rex uxoria Francesco Barbaros, entstand beispielsweise für die Hochzeit Lorenzos de’ Medici.10 Eine zweite, für die humanistischen Eheschriften signifikante Bewegung ist das Eindringen des Topos An uxor ducenda im 15. Jahrhundert in die volkssprachige Literatur. Die frühneuhochdeutschen Texte, die diese Frage aufgreifen, gehören ganz unterschiedlichen Gattungen an und bieten ein extrem heterogenes Feld. Albrecht von Eyb behandelt die Frage in seinem lateinischen Traktat An viro sapienti uxor sit ducenda und im ›Ehebüchlein‹.11 Bei Letzterem greift er jedoch zu einer spezifischen Variante, indem
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der Mädchen- und Frauenbildung, hg. v. Elke Kleinau/Claudia Opitz, Frankfurt a. M./ New York 1996. S. 23–41, hier S. 24). Vgl. Detlef Roth: An uxor ducenda. Zur Geschichte eines Topos von der Antike bis zur Frühen Neuzeit. In: Geschlechterbeziehungen und Textfunktionen. Studien zu Eheschriften der Frühen Neuzeit, hg. v. Rüdiger Schnell, Tübingen 1998. S. 171–232, hier S. 171, und Edith Feistner : Form und Funktion der Quaestio bei Albrecht von Eyb. Ein Beitrag des Ehediskurses in der Frühen Neuzeit, in: Germanisch-romanische Monatsschrift 45 (1995). S. 268–278, hier S. 268. Vgl. Quintilian: Institutio Oratoria, III, 5.16 und Feistner, Form und Funktion der Quaestio (s. Anm. 7), S. 269. Feistner, Form und Funktion der Quaestio (s. Anm. 7), S. 269. Feistner, Form und Funktion der Quaestio (s. Anm. 7), S. 269. Albrechts von Eyb (1420–1475) Vita »folgt fast schon idealtypisch dem klerikalen Laufbahnmuster der Zeit.« (Matthias Thumser: Albrecht von Eyb und seine Eheschriften. Humanistische Wissenstransformationen, in: Mittellateinisches Jahrbuch. Band 44, Heft 3 (2009), S. 485–517, hier S. 486). Der Doktor beider Rechte war nach seinem Studium in Padua, Pavia und Bologna als Domherr und Erzpriester in Eichstätt und Würzburg tätig und erwarb sich neben seiner klerikalen Karriere eine Reputation als Rechtsgutachter mit den Schwerpunkten Ehe und Familie (vgl. Manfred Lentzen: Auffassungen über Ehe und Familie in Francesco Barbaros ›De re uxoria‹ (1415) und Albrechts von Eyb ›Ehebüchlein‹ (1472). Textstruktur und Textfunktion, in: Deutschland und Italien in ihren wechselseitigen Beziehungen während der Renaissance, hg. v. Bodo Guthmüller, Wiesbaden 2000. S. 45–60, hier S. 46). Zu Albrechts von Eyb Werk zählen zahlreiche lateinische und zwei deutschsprachige Schriften, darunter humanistische Schelt- und Prunkreden und Traktate über Ehe und Frauen. Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang vor allem seine Traktate An viro sapienti uxor sit ducenda und Clarissimarum feminarum laudatio und die Margarita
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er sich nicht auf Quintilian, sondern auf Theophrasts Liber de nuptiis bezieht. Darin warnt Theophrast einen weisen Mann ausdrücklich davor, sich eine Frau zu nehmen, da dies unweigerlich von seinen Studien ablenken würde und die anfängliche Liebe und Zuneigung schnell in Streit und Hass umschlage, so dass die Ehefrau schließlich nicht einmal davor zurückschrecke, den eigenen Mann zu vergiften.12 Theophrast verknüpft die Ausgangsfrage nach dem Heiraten mit ökonomischen Überlegungen bzw. Haushaltslehren und beantwortet sie letztlich negativ.13 Vermittels Hieronymus’ Adversus Jovinianum fragmentarisch überliefert, lässt sich eine breite Rezeptionsgeschichte dieses Traktats nachzeichnen, die auch das Mittelalter hindurch nicht abbricht.14 Die Traditionen der Antike und der Humanisten führt Albrecht von Eyb in seinem ›Ehebüchlein‹ zusammen, das 1472 unter dem Titel Ob einem manne Sey zunemen ein eelich weyb oder nicht bei Anton Koberger erschienen und dem Rat der Stadt Nürnberg gewidmet ist.15 Zwölf Drucke und fünf Handschriften bis 154016 zeugen von einer großen Leserschaft und starkem Interesse am Werk. In der direkten Folgezeit lassen sich noch elf weitere Auflagen des Ehebüchleins belegen.17 Bereits der Titel macht den Bezug auf die an-uxor-ducenda-Tradition deutlich. Dabei ist der Text keine bloße Übersetzung des Traktates An viro sapienti uxor sit ducenda, welches Albrecht von Eyb einige Jahre zuvor verfasst hatte. Die Konzeption orientiert sich zwar streckenweise an der des lateinischen Traktats, wurde aber zugleich erweitert und durchbrochen, so »daß es sich nicht um eine Neufassung, sondern um eine ganz neue Schrift handelt.«18 Der Mehrwert des Textes wird in der Forschung vor allem in der Transformation des anuxor-ducenda-Topos für ein volkssprachiges Publikum gesehen. Das ›Ehebüchlein‹ selbst zeichnet sich durch die Zusammenstellung von kürzeren Zitaten und längeren Texten lateinischer Autoren und solchen der italienischen Renaissance aus. Als Vorlage dienten Albrecht von Eyb unter anderem die Vulgata, Valerius Maximus’ Florilegium griechischer und römischer Literatur, Schriften von Cicero, Laktanz, Prudentius, Apuleius, Aristoteles, Sokrates, Werke von Petrarca und Boccaccios Decameron. Zudem bezieht Albrecht von Eyb seine eigenen Werke, vor allem An viro sapienti uxor sit ducenda, und verschiedene von ihm verfasste Gutachten mit ein. Zu den umfangreichsten
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Poetica, das lateinische Hauptwerk Albrechts, ein Rhetoriklehrbuch in Form eines Florilegiums. Vgl. Lentzen, Auffassungen über Ehe und Familie (s. Anm. 11), S. 45. Vgl. Thumser, Albrecht von Eyb und seine Eheschriften (s. Anm. 11), S. 485. Vgl. Thumser, Albrecht von Eyb und seine Eheschriften (s. Anm. 11), S. 485. Vgl. Urusla Kocher : Boccaccio und die deutsche Novellistik. Formen der Transposition italienischer ,novelle’ im 15. und 16. Jahrhundert, Amsterdam u. a. 2005, hier S. 202. Vgl. Kocher, Boccaccio und die deutsche Novellistik (s. Anm. 15), S. 209. Vgl. Thumser, Albrecht von Eyb und seine Eheschriften (s. Anm. 11), S. 506. Thumser, Albrecht von Eyb und seine Eheschriften (s. Anm. 11), S. 509f.
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erzählenden Abschnitten gehören Bearbeitungen der Marina- und der Gwiscardus-und-Sigismunda-Novellen und die Albanuslegende. Die Forschung zum ›Ehebüchlein‹ ist, ausgehend von den Monographien Max Herrmanns und Joseph Anthony Hillers,19 durch zwei grundsätzliche Kontroversen charakterisiert: Der Frage, ob Albrecht von Eyb Humanist oder mittelalterlicher Moralist war und ob er ein philo- oder misogynes Frauenbild vertrat. Dabei impliziert die Diskussion um Albrechts Humanismus oder scholastischen Moralismus den Trugschluss, dem Humanismus ein frauenfreundliches Menschenbild zu-, der mittelalterlichen Scholastik hingegen ein solches abzusprechen.20 Einige der neueren Forschungstexte bewegen sich jedoch jenseits der Misogynie- oder Humanismus-Fragen, wie beispielsweise Ursula Kochers, Matthias Thumsers oder auch Annette Volfings Untersuchungen zu Albrecht von Eyb und dem ›Ehebüchlein‹.21 Im Anschluss an diese Aufsätze soll es mir hier auch nicht um die Bewertung Albrechts von Eyb im Sinne einer bestimmten Denkrichtung gehen, sondern darum, die Ergebnisse neuerer Forschung zu Rhetorik und Performanz im ›Ehebüchlein‹ aufzugreifen und weiterzuentwickeln, um die spezifischen Strategien der Wissensvermittlung herauszuarbeiten, die im Text Anwendung finden.
19 Max Herrmann: Albrecht von Eyb und die Frühzeit des deutschen Humanismus, Berlin 1893; Joseph Anthony Hiller : Albrecht von Eyb. A Medieval Moralist, Washington D.C. 1939. 20 Vgl. hier unter anderem Hiller, Medieval Moralist (s. Anm. 20), S. 7; Eckhard Bernstein: Die Literatur des deutschen Frühhumanismus, Stuttgart 1978, hier S. 70; oder Werner Oehme: Zum Leben und Werk Albrechts von Eyb, in: Sammlung – Deutung – Wertung. Ergebnisse, Probleme, Tendenzen und Perspektiven philologischer Arbeit; melanges de litt8rature m8di8vale et de linguistique allemande; offerts / Wolfgang Spiewok / l’occasion de son soixantiHme anniversaire par ses collHgues et amis, hg. v. Wolfgang Spiewok/Danielle Buschinger, Amiens 1988. S. 271–280, hier S. 278. In vielen neueren Beiträgen zeichnet sich zunehmend eine vermittelnde Position ab. So weist Michael Dallapiazza im Rahmen der Kontroverse darauf hin, dass scholastische Moralphilosophie und humanistische Bewegung nicht gegeneinander stehen und es wenigstens zwischen 1200 und 1500 keinen Sinn mache, im Rahmen der Moraldidaktik Mittelalter gegen die der Frühen Neuzeit auszuspielen. Vgl. Michael Dallapiazza: Spätmittelalterliche Ehedidaktik, in: Liebe – Ehe – Ehebruch in der Literatur des Mittelalters, hg v. Xenia von Ertzdorff-Kupfer/Marianne Wynn, Gießen 1983, S. 161–172, hier S. 162. 21 Annette Volfing: ›Ich hab gemacht vnd geben ein wirtschafft on eßnn vnd trincken‹. Albrecht von Eyb und die Hochzeit zu Kana, in: Humanismus in der deutschen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. XVIII. Anglo-German Colloquium Hofgeismar 2003, hg. v. Nicola McLelland, Tübingen 2008, S. 365–381, hier S. 365.
258
2.
Annegret Oehme
Argumentation, Gotteslob und Performanz: Die drei Formen der Wissensvermittlung
Das ›Ehebüchlein‹ ist – wie bereits erwähnt – in drei Teile gegliedert: Der erste Teil bietet in Form eines Florilegiums Pro- und Kontraargumente zur Ehe; der zweite Teil beinhaltet die Schöpfungsgeschichte nach Laktanz, die Entscheidung der Streitfrage zugunsten der Ehe und Lobreden auf Ehe und Frauen; im dritten Teil schließlich werden ein Hochzeitsfest ausgerichtet und allgemeine Fragen zur Lebensführung behandelt. Zunächst legt die Sprecherinstanz ihr Vorgehen offen und begründet den ersten Teil, in dem gezeigt werden soll, »was vngemachs, was bersorgnus, was irrung, mue vnd arbeit vnd was widerwertigkeit, vnd do bey was luOt und freuden vnd was guttes Oich in dem eelichen Otande vnd weOen mugen begeben«.22 Dies ist die Ausgangssituation für die sich im zweiten Teil anschließende stringente Begründung der Beantwortung der Ehefrage mit ›Ja‹. Denn der zweite Teil ist eben jener Abschnitt, in dem die Frage gelöst werden soll: »Im anndern teyl will ich antworten auff die frag vnd beschlieOen, das einem manne Oey ein weyb zunemen, vnd do bey etzlich hubsch hyOtorien erzelen«.23 Mit dem narrativen Vollzug des Hochzeitsfestes im dritten Teil gibt es schließlich eine Antwort, die performativen Charakter hat. Nicht nur wird zur Ehe geraten, sondern diese wird auch tatsächlich geschlossen: »Im dritten vnd letzten teyle will ich ein frolich hochzeyt mit einem koOtenlichen male vnd wirtOchafft machen, als dann gewonlich iOt, Oo ein man ein weyb genomen hat, vnd mit ettlichen hupschen leren vnd hyOtorien beOchlieOzen«.24 Damit stellt sich nicht mehr die Frage, ob, sondern aus welchen Gründen ein weiser Mann eine Ehe einzugehen habe und wie die Antwort verhandelt wird.
2.1.
Die Argumentation des ersten Teils
Der erste Teil trägt den gleichen Titel wie das Buch selbst Ob einem manne Sey zunemen ein eelich weyb oder nicht25 und bietet eine breite Zusammenstellung diverser Autoritäten und ihrer Positionen, eine »mosaikartige[] Montage«26 entsprechender Partien aus dem ersten und zweiten Teil des lateinischen Traktats Albrechts von Eyb. In den einzelnen Kapiteln des ersten Teils finden sich Überlegungen zu Keuschheit, Schönheit, Fruchtbarkeit, Kindererziehung, Zorn 22 23 24 25 26
von Eyb, Ehebüchlein (s. Anm. 2), S. 5. von Eyb, Ehebüchlein (s. Anm. 2), S. 5. von Eyb, Ehebüchlein (s. Anm. 2), S. 5. von Eyb, Ehebüchlein (s. Anm. 2), S. 3. Feistner, Form und Funktion der Quaestio (s. Anm. 7), S. 270.
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und Unberechenbarkeit der Frau, Mitgift sowie Reichtum und Armut.27 Bereits Albrechts von Eyb lateinische Eheschriften und das Florilegium Margarita Poetica zeichnen sich durch eine scheinbar lose Zusammenstellung solcher Themen aus. Max Herrmann schreibt – die Kritik der nach ihm folgenden Forschung vorwegnehmend –: »Auf streng regelrechten Gedankenausbau, wie ihn die Scholastik geliebt, pflegte der Humanismus überhaupt zu verzichten und lieber unbeengt von den Fesseln eines Systems wichtige Einzelfragen zu behandeln, und gar zu unlogisch ist die Anordnung der von Eyb auf solche Art erörterten Fragen auf dem Gebiete des Ehelebens keineswegs.«28
Vielfach wird Albrecht von Eyb Strukturlosigkeit und eine fehlende Ordnung der Zitate regelrecht vorgeworfen.29 Dabei steht nicht in Abrede, dass es sich beim ersten Teil des Buches vornehmlich um ein Florilegium handelt. Doch bei genauerem Blick wird ein Ordnungsmuster der Zitate, Sentenzen und kürzeren erzählenden Abschnitte nach bestimmten Schwerpunkten sichtbar, das durch Zwischentitel noch verstärkt wird. Der Rezipient wird durch die Reihung von Argumenten und Gegenargumenten mit in die Diskussion der Ehefrage hineingenommen. Dabei wird eine Pluralität an Meinungen dargestellt, zum Teil werden diese kommentiert und mit einer eigenen Position abgeschlossen, zum Teil aber auch nur nebeneinander als mehr oder weniger sich widersprechende Argumente stehen gelassen. Albrecht von Eyb bringt letztlich die Autoritäten verschiedener Epochen miteinander in einen Dialog über die Ehe und ihr zugeordnete Themen. Auf diese Weise macht er sich gezielt die kulturelle und historische Variabilität und Pluralität zunutze.30 Im ersten Teil tritt das Sprecher-Ich dabei nur vereinzelt hervor und übernimmt stärker eine moderierende Funktion, gibt sich dabei aber zugleich als Rezipient früherer Texte zu erkennen. Den ›Reigen‹ der Autoren früherer Texte eröffnet Sokrates, dem die Frage nach der Berechtigung des Heiratens gestellt wurde und der daraufhin mit den Worten »Wellichs du tuOt, das wirt dich reuen«31 den oben anzitierten, dilemmatischen Charakter dieser Frage verdeutlicht. Hier wird die Leserschaft meiner Meinung nach gezielt in eine Pattsituation geführt, die erst im zweiten Teil aufgelöst wird. Auf Sokrates lässt Albrecht von Eyb eine lange Reihe großer Autoritäten und ihre Positionen zu Frauen und der Ehe folgen. So wurde beispielsweise Augustinus gefragt, ob er 27 Vgl. von Eyb, Ehebüchlein (s. Anm. 2), S. 3. 28 Herrmann, Frühzeit des deutschen Humanismus (s. Anm. 20), S. 332. 29 So bspw. bei Hiram Kümper : Albrecht von Eyb: ›Das Ehebüchlein‹. Nach dem Inkunabeldruck der Offizin Anton Koberger, Nürnberg 1472. Ins Neuhochdeutsche übertr. und eingel. von Hiram Kümper. Stuttgart 2008, hier S. XXXV. 30 Vgl. Neumann, Kulturelles Wissen und Literatur (s. Anm. 4), S. 44. 31 von Eyb, Ehebüchlein (s. Anm. 2), S. 5.
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Annegret Oehme
nicht eine Frau nehmen wolle, die schön und gebildet sei.32 Doch er antwortete ablehnend, da nichts die männliche Gesellschaft mehr verletze als die Anwesenheit einer Frau. Theophrast wiederum schlägt einem weisen Mann vor, eine hübsche, gesunde und reiche Frau mit guten Sitten und ehrbaren Eltern zur Frau zu nehmen, resümiert aber, dass all dies selten zusammenkäme, weshalb nicht zu heiraten sei.33 Cicero merkt kritisch an, dass Frauen nur auf Schmuck, Mode und Hausgeräte fixiert und die ganze Nacht geschwätzig, zänkisch und eifersüchtig seien.34 Als letztes Beispiel sei noch Gorgias erwähnt, dessen Ehefrau ständig mit der Magd gestritten haben soll.35 Als Gorgias ein Buch über die Eintracht an die Griechen sandte, gaben diese es ihm prompt mit der Bemerkung zurück, er könne ja nicht einmal im eigenen Haus für Eintracht sorgen. Diesem Abschnitt kritischer Meinungen schließen sich Beispiele für gute Ehefrauen an, die aber in der Regel meist freiwillig und jung sterben. Dabei werden auch Erzählungen geboten, die den Reiz von Fremdheit vermitteln: so wird etwa Valerius Maximus zitiert, der über die Gewohnheit der Inder berichtet, einem Mann mehrere Frauen zu geben.36 Solche Erzählungen können unkommentiert stehen, werden mitunter aber auch mit einem Fazit versehen, wie beispielsweise die Erzählung über Tertia Emilia, die Frau des Scipio Africanus, der diese mit einer Dienerin hinterging. Emilia habe dies in Liebe ertragen und dem Mädchen nach dem Tod ihres Gatten ihre Güte nicht entzogen. Dem schließt sich der Kommentar an: »Sollich große, uberflußige lieb und getrue der eeleute iOt nit in allem weg zuloben«.37 Die implizite Ironie der Erzählungen über jene vorbildlichen, unterwürfigen Frauen, die häufig jung starben, mag auch den Zeitgenossen Albrechts nicht verborgen geblieben sein. Dennoch werden hier den Kritikern Exempel vorbildlicher Frauen gegenübergestellt, sodass ein Widerspruch entsteht. Innerhalb des Liebes-, Ehe- und Frauendiskurses werden so mehrfach gegensätzliche Positionen gegenübergestellt, ohne eine wirkliche Harmonisierung zwischen ihnen zu erreichen. Auch bei der Frage nach Reichtum oder Armut der Frau prallen grundsätzlich unterschiedliche Positionen aufeinander. Warnt Petrarca vor einer zu hohen Mitgift, da sie die Frau hochmütig machen würde und ihr den Wunsch, Herrin zu sein, ins Herz lege, wird diese Position zunächst 32 Vgl. von Eyb, Ehebüchlein (s. Anm. 2), ebd., S. 6. 33 Hier handelt es sich um eine der Stellen, in der der Text anekdotenhafte Züge trägt und durch eine Pointenstruktur Komik zu integrieren scheint. 34 Vgl. von Eyb, Ehebüchlein (s. Anm. 2), S. 6. 35 Vgl. von Eyb, Ehebüchlein (s. Anm. 2), S. 7. 36 Nach dessen Tode bestimme deshalb ein Gericht, welche seiner Frauen er am liebsten gehabt hätte, auf das diese sich zum Toten lege, um mit ihm verbrannt zu werden (vgl. von Eyb, Ehebüchlein (s. Anm. 2), S. 8). 37 von Eyb, Ehebüchlein (s. Anm. 2), S. 9.
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durch ein Plautus-Zitat unterstützt, in dem es heißt, dass eine Frau mit geringer Mitgift untertänig, dienstbar und fleißig sei.38 Dem steht jedoch die Position einer anonymen Autorität gegenüber, die darauf hinweist, dass Frauen mit einer kleinen oder ganz ohne Mitgift das Geld des Mannes verprassen würden.39 Vermittelnd wird hier Juvenal angeschlossen, der anmerkt, man müsse so oder so recht überlegen, da der Beutel ja nie leer sein solle.40 Die Mitgiftdiskussion endet wiederum mit einem Bericht aus einem anderen Kulturkreis. In diesem Falle schildert Valerius Maximus eine Begebenheit aus Afrika. Dort habe ein weiser Mann nur einen Kürbis als Mitgift erbeten. So konnte er, wann immer es Streit gab, darauf zeigen und sagen: »Sihe! Da iOt dein heyratgut: das magOstu mit dir nemen vnd gien, wo du wilt!«41 Ähnlich verhält es sich mit der Diskussion über Armut und Reichtum, in der zunächst ein Secundus Philosophus (vermutlich Plinius Secundus) mit den Worten »das die armut Oey […] ein muter der geOuntheit, ein verachtung der Oorgen, ein erfinderin der weyßheit vnd ein Oeligkeit an arbeit«42 zitiert wird. Im Anschluss folgt die Position von Terenz, der anmahnt, »[…] das die armut Oey ein ellende, schwere gepurt deßhalben, das die armen alle zeyt den reichen mer geben mußen, vnd das Oie ine an eOOen vnd trincken abgeprochen vnd bey dem pfenning vnd der vntze gewunnen haben, das nemeu [sic!] in die reichen vnd gedenken nit, wie gar harte vnd Ochwerlich Oie das haben erobert.«43
Die positiven Auswirkungen der Armut werden damit dem Elend gegenübergestellt. Das Sprecher-Ich beschließt diese Diskussion mit dem Hinweis, dass Not und Armut dann gut seien und viele Fertigkeiten lehrten, so man sie annähme und zufrieden mit diesem Zustand sei.44 Dieses Auf und Ab in der Bewertung der Frauen und der Ehe, der ständige Wechsel potentieller Pro- und Kontraargumente ist es, was im Sokrates-Zitat des Anfangs auf den Punkt gebracht wird: Der dilemmatischen Situation ist nicht zu entkommen. Dennoch kommt den Argumenten ein Wert zu, weshalb sie auf breitem Raum entfaltet werden. Denn in dieser von Max Herrmann als »Buntscheckigkeit«45 und von Ursula Kocher als »Gewirr teilweise widersprüchlicher Empfehlungen«46 beschriebenen und kritisierten Struktur liegt die zentrale Strategie des ersten Teils, die zu einer Pattsituation führt. Der Rezipient wird von 38 39 40 41 42 43 44 45 46
Vgl. von Eyb, Ehebüchlein (s. Anm. 2), S. 31. Vgl. von Eyb, Ehebüchlein (s. Anm. 2), S. 32. Vgl. von Eyb, Ehebüchlein (s. Anm. 2), S. 32. von Eyb, Ehebüchlein (s. Anm. 2), S. 33. von Eyb, Ehebüchlein (s. Anm. 2), S. 36. von Eyb, Ehebüchlein (s. Anm. 2), S. 36 Vgl. von Eyb, Ehebüchlein (s. Anm. 2), S. 37. Herrmann, Frühzeit des deutschen Humanismus (s. Anm. 20), S. 335. Kocher, Boccaccio und die deutsche Novellistik (s. Anm. 15), S. 213.
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den Argumenten auf die eine oder andere Seite gezogen und bekommt so vor Augen geführt, dass sich auf rein ›rational‹-argumentativer Ebene keine Lösung des Problems finden lässt. Daraus erwächst die implizite Forderung an den Leser, sich selbst zu positionieren, seinen Weg entlang der Argumente zu finden, denen er nicht konsequent zustimmen kann, ohne mehrfach die Position zu wechseln. Die Autoritäten werden gegeneinander gestellt und daher problematisch, zumindest in ihren Aussagen antastbar, da nicht alle gleichermaßen Recht haben können. Am Ende des ersten Teils hat der Leser entweder eine eigene Position der partiellen Anerkennung oder Ablehnung der Autoritäten gefunden oder aber er ist völlig verunsichert. Der Autor inszeniert damit ein scholastisch-dialektisches Vorgehen der Antwortsuche, das er zugleich ins Leere laufen lässt. Die Kette gegensätzlicher Argumente könnte so ergebnislos weitergeführt werden.
2.2.
Das Gotteslob des zweiten Teils
Sich von dieser Methode der Antwortfindung abwendend, vollzieht das Sprecher-Ich im zweiten Teil, »Wie die welt vnd wie der mensch vnd warumb Oie erOchaffen Oein«,47 mit der – an Laktanz’ Divinarum institutionum libri VII ausgerichteten – Abhandlung über den Schöpfungsbericht einen markanten Wechsel auf die religiöse Ebene. In einer weitschweifigen Kosmogonie, in die viele Diskurse und Topoi etwa aus der Temperamentenlehre, Medizin und Astrologie einfließen, wird die Natürlichkeit der Ehe vor dem Hintergrund der Schöpfung und der Ordnung Gottes begründet. Dabei werden die drei traditionellen Werte der Ehe (bona matrimonii) genannt: bonum prolis (das Zeugen von Kindern), bonum fidei (Moralität, insbesondere die Eindämmung sexueller Begierde) und bonum sacramenti (die Ehe als ein Symbol für Christi Beziehung zur Kirche).48 Der Prokreation kommt noch eine weitere besondere Bedeutung zu, da sie die Verehrung Gottes sicherstellt, die mit der Erhaltung des menschlichen Geschlechts einhergeht. Aus dieser Perspektive heraus bietet der Text schließlich das Fazit: »Nun werden Oolche ding geheiOOen die heymlichkeit gotes vnd mugen nit werden auffenthalden vnd gemeret dann durch vermiOchung des mannes mit der frawen; die Oelben vermiOchung hat got geOaczt in dem paradeis in geOtalt der heyligen ee. Darumb iSt eim manne zu nemen ein weyb auch durch vrOachen, daO die welt mit menOchen erfullet, die menOcheit geewigt, ein geOchlecht vnd name gemeret vnd die Ounde der vnkeuOcheit vermiden werde.«49 47 von Eyb, Ehebüchlein (s. Anm. 2), S. 38. 48 Vgl. Volfing, Albrecht von Eyb und die Hochzeit zu Kana (s. Anm. 23), S. 368. 49 von Eyb, Ehebüchlein (s. Anm. 2), S. 48. Hervorhebung durch Autor.
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Im Zuge dessen wird die Ausgangsfrage mit einem zweifelsfreien ›Ja‹ beantwortet. Darum seien auch die Widerwärtigkeiten in der Ehe geduldig zu ertragen, wie sich in einem kurzen Cento-Abschnitt direkt im Anschluss vernehmen lässt, denn »wo vil freud vnd luOt iOt Oam in der ee, do muß auch zuzeiten Oein trawren vnd widerwertigkeit«.50 Dieser Erkenntnis, die durch einen kurzen Florilegienteil noch unterstrichen wird, folgen zwei längere Erzählungen unter den Überschriften »Das man frawen vnd iunckfrawen zu rechter zeyt menner geben Ooll«51 und »Wie Oich ein fraw halten Oolle In abweOen irs mannes«.52 Der zweite Teil des ›Ehebüchlein‹ gipfelt schließlich im Lob der Ehe und im Lob der Frauen, die aber beide – entgegen dem Eindruck, den man durch die Sekundärliteratur gewinnt – im Blick auf den gesamten Text rein quantitativ nur einen sehr kleinen Teil ausmachen, worauf Albrecht von Eyb auch selbst mehrfach hinweist. So heißt es beim Lob der Ehe: »Hie will ich mit kurtzen worten außfuren das lob der Ee, wiewol die heillig gotlich Ee nit genug gelobt mag werden«.53 Und beim Lob der Frauen heißt es: »Die wirde vnd ubertreffen der frawen zuloben, darzu ich in Ounderheit geneigt bin, will mir Oein ein Ochwere purd«.54 Nach dieser Begründung mit Anklängen an einen Bescheidenheitstopos folgt auch weniger ein Lob der Frauen, als vielmehr ein Lob der Schrift, worauf ich später noch eingehen werde. Mit der Konzentration auf Laktanz wird in diesem Fall nur eine Argumentationsführung nachvollzogen und zugleich die Form der breit angelegten Kosmogonie übernommen. Aus der Vielzahl der Stimmen des ersten Teils, die ein breites Feld an Vor- und Nachteilen der Ehe entfalten, ist nun eine einzige geworden. Das Sprecher-Ich wird zugleich zum Prediger, der sich der Worte Laktanz’ bedient. Im Rahmen des Schöpfungsberichts wird die Ausgangsfrage zunächst ausgesetzt und erst im direkten Anschluss daran explizit beantwortet. Es handelt sich dabei weniger um eine Verlagerung von einer Methode auf eine argumentativ anders strukturierte, als vielmehr um einen klaren Bruch mit dem Vorgehen des ersten Teils. Nach der Ergebnislosigkeit des ersten Abschnitts setzt der Text im zweiten völlig neu an und führt zum ›Ja‹ zur Ehe. Innerhalb des religiösen Rahmens findet sich die Antwort, die die klassische Rhetorik scheinbar nicht zulässt. Auch der zweite Teil des Buches wird in der Forschung kontrovers diskutiert. Max Herrmann bewertet ihn ganz entschieden als »den uninteressantesten Teil der ganzen Schrift«, als »eine sehr umständliche Auseinandersetzung«.55 Joseph 50 51 52 53 54 55
von Eyb, Ehebüchlein (s. Anm. 2), 49. von Eyb, Ehebüchlein (s. Anm. 2), 52. von Eyb, Ehebüchlein (s. Anm. 2), 59. von Eyb, Ehebüchlein (s. Anm. 2), S. 67. Hervorhebung durch den Autor. von Eyb, Ehebüchlein (s. Anm. 2), S. 69. Herrmann, Frühzeit des deutschen Humanismus (s. Anm. 20), S. 338.
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Anthony Hiller hingegen sieht im Schöpfungslob den Schlüssel zum Verständnis des gesamten ›Ehebüchlein‹ und dessen Argumentationsweise.56 Dies werde auf struktureller Ebene an der exponierten Stellung des Schöpfungsberichtes in der Mitte des ›Ehebüchlein‹ deutlich.57 Ob nun interessant, in sich schlüssig oder nicht, so ist doch gerade der Umfang des Schöpfungslobes auffällig. Es setzt nach der Argumentationsführung des ersten Teils völlig neu an und lässt die zuvor entfaltete Meinungspluralität hinter sich. Über viele Seiten hinweg ist die Frage nach dem Heiraten zunächst ausgesetzt. In der ersten Unterüberschrift des zweiten Teils wird angekündigt, dass es darum gehen soll, »Wie die welt vnd wie der mensch vnd warumb Oie erOchaffen Oein«.58 Die darauf folgende Unterüberschrift markiert mit den Worten »Die Antwort, das ein weyb zunemen Oey«59, dass bereits hier die Antwort gegeben wird, also im zweiten von drei Teilen des Buches. Nachdem der erste Teil in Form des Florilegiums zu keiner Lösung führte, verändert sich die Herangehensweise an die Beantwortung der Ausgangsfrage. Dabei wird deutlich, dass nicht nur die Argumentationsführung, sondern auch die Ebene wechselt, auf der die Argumente angesiedelt sind. Dieser Wechsel erfolgt, um der im ersten Teil etablierten kommunikativen Problemlage zu begegnen. Solche Problemlagen entstehen nach Josef Kopperschmidt »[…] durch die Problematisierung der im kommunikativen Handeln implizit erhobenen und wechselseitig als eingelöst oder jederzeit einlösbar unterstellten Geltungsansprüche. Die Problemlage meint eine Situation, in der die Geltungsbasis kommunikativen Handelns brüchig wird und ein tragendes Einverständnis zwischen den Kommunikationspartnern nicht weiter naiv unterstellt werden kann.«60
Auf der argumentativen Ebene lässt sich zwischen den Kommunikationspartnern innerhalb des ersten Teils des ›Ehebüchleins‹ keine Lösung finden. Die von Anfang an entworfene dilemmatische Situation – Entscheidungen für oder gegen die Ehe haben negative Konsequenzen – wird im Rahmen der Reihung von Argumenten und Gegenargumenten nicht aufgelöst. Stattdessen wird die Ausgangsfrage nun im zweiten Teil auf die religiös-ideelle Ebene transferiert, auf der sie sich mit einem klaren ›Ja‹ beantworten lässt. Albrecht von Eyb operiert somit im Rahmen seiner Fragestellung mit zwei verschiedenen kommunikativen Ebenen, einer pragmatisch-praktischen, auf der Widersprüche und auch Gegenargumente Platz haben, und einer religiös-ideellen, auf der die Ehe als 56 57 58 59 60
Vgl. Hiller, Medieval Moralist (s. Anm. 20), S. 127. Vgl. Hiller, Medieval Moralist (s. Anm. 20), S. 127. von Eyb, Ehebüchlein (s. Anm. 2), S. 38. von Eyb, Ehebüchlein (s. Anm. 2), S. 47. Josef Kopperschmidt: Methodik der Argumentationsanalyse, Stuttgart/Bad Cannstatt 1989, hier S. 76.
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Ordnungsmodell Gottes gilt. Dabei ist die religiös-ideelle Ebene, deutlich der zweiten übergeordnet, nicht zuletzt dadurch, dass sie nach dem ergebnislosen ersten Teil folgt. Auf dieser Ebene ist auch das Schöpfungslob angesiedelt, das als ultimative Begründung der Ehe dient. Bei Albrecht von Eyb wird im zweiten Teil göttliche Vorsehung zum Geltungsgrund und evoziert damit innerhalb einer religiösen Matrix die subjektive Geltung der Institution Ehe.61 Nach dem Schöpfungslob resümiert Albrecht: »Darumb iOt eim manne zu nemen ein weyb auch durch vrOachen, das die welt mit menOchen erfullet, die menOcheit geewigt, ein geOchlecht vnd name gemert vnd die Ounde der vnkeuOcheit vermiden werde«.62 Die drei Argumente für die Ehe, die sich aus dem Schöpfungslob ableiten, sind also Prokreation, Erhaltung des menschlichen Geschlechts und Vermeidung der Unkeuschheit. An anderen Stellen tritt noch explizit das Lob Gottes hinzu, was dem Menschen überhaupt erst seine volle Bedeutung gibt. Gott zu loben und zu preisen wird somit als einer der Schöpfungsgründe des Menschen angeführt. Erst der zweite Teil bringt mit dem Wechsel auf die Ebene der religiösen Argumentationsführung letztlich die solutio.63 Das Schöpfungslob bietet den Anlass, die Ehefrage mit einem ›Ja‹ zu beantworten. Alles vorherige Diskutieren und Evaluieren, alle Pluralität an Meinungen und Autoritäten tritt innerhalb der Logik des Textes und der Struktur dahinter zurück.
2.3.
Die Performanz des dritten Teils
Es folgt der dritte Teil unter dem Titel ›wie die male vnd wirtschaft Sein zuhalten‹64, in dem es um die Ausgestaltung der Hochzeitsfeier, Kommunikations- und Umgangsformen, Maßhalten im Essen und Trinken, Reichtum und Armut, Gastfreundschaft, auftretende Krankheiten und die allgemeine Sündhaftigkeit des Menschen geht. Eine Argumentationsführung als solche ist nicht mehr nötig. Die Ausgangsfrage wurde beantwortet. Dadurch werden nun Freiräume eröffnet, die eine völlig andere, eine dritte Form der Wissensvermittlung ermöglichen. Dieser Teil zieht daher vielmehr die Konsequenz aus dem ›Ja‹ zur Ehe, und ein opulentes Hochzeitsfest mit Mahl und Tanz wird entfaltet, in dessen Rahmen wiederum einige Autoritäten zu Wort kommen. Das Sprecher-Ich selbst lädt zu Tisch und Tanz und knüpft daran Hinweise auf das richtige Verhalten. Die Florilegienform dieses dritten Teils unterscheidet sich deutlich von derjenigen 61 Zur Terminologie vgl. Christoph Lumer: Geltung/Gültigkeit, in: Enzyklopädie Philosophie. Bd. 1, hg. v. Hans Jörg Sandkühler, Hamburg 2010, S. 811–818, hier S. 812. 62 von Eyb, Ehebüchlein (s. Anm. 2), S. 48. 63 Vgl. Kocher, Boccaccio und die deutsche Novellistik (s. Anm. 15), S. 211. 64 Kocher, Boccaccio und die deutsche Novellistik (s. Anm. 15), S. 71.
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des ersten Teils: Das Sprecher-Ich inszeniert ein Festmahl, in dessen Verlauf Autoritäten und ihre Hinweise zum Maßhalten bei Speisen und Wein sowie Anmerkungen zum rechten Sprechen bei Tisch angeführt werden. Damit werden die Autoritäten quasi zu Gästen und wie der Leser selbst zu Teilnehmern des Festes. Nach dem Hochzeitsfest werden zunächst die Schattenseiten der Ehe aufgezeigt und Geduld zwischen den Eheleuten angemahnt. Die Ratschläge beziehen sich zunehmend nicht mehr auf die Ausgangsfrage des Heiratens und damit einhergehender Konflikte (Mitgift, sozialer Status der Brautleute, etc.), sondern auf das Leid und Glück, das in der Ehe zusammentrifft, und letztlich auf die allgemeine Lebensführung. Nach Anweisungen, die viele Bereiche des irdischen Lebens betreffen, schließt der Text mit der wiederholten Ermahnung, dass Leid zum Diesseits und Leben auf Erden gehöre. Dass der Mensch aber bei allem nicht verzweifeln soll, wird anhand eines ›Worst-Case-Szenarios‹ gezeigt, der Albanuslegende, die von doppeltem Inzest und abschließender Reue handelt. Nachdem der zweite Teil mit seiner weitschweifigen Kosmogonie zur Entscheidung für die Ehe geführt hat, bietet der dritte Teil ein Hochzeitsfest mit Festessen und Tanz. Sollte der erste Teil noch die Breite der Pro- und Kontraargumente liefern, »Dar durch ein man nit vnbillich in zweyfel gefurt mag werden, ob ein weyb zunemen Oey oder nit«,65 wurde bereits in den ersten Zeilen des Haupttextes angekündigt, dass der zweite Teil dieses Dilemma lösen solle: »Im anndern teyl will ich antworten auff die frag vnd beschlieOen, das einem manne Oey ein weyb zunemen, vnd do bey etzlich hubsch hyOtorien erzelen«.66 Der dritte Teil setzt nach der eigentlichen Eheschließung an, die somit durch die Antwort im zweiten Teil als gegeben angenommen wird. So heißt es gleich im Anschluss an das Lob der Ehe und der Frauen zu Beginn des dritten Teils: »So nun ein man hat genumen ein weyb, iOt ein froliche hochzeyt mit einem koOtperlichen male vnd wirtOchafft zumachen, das dann das dritt vnd letzte teyl diOes puchleins weOeni«.67 Mit der Inszenierung des Hochzeitsfestes verlässt das ›Ehebüchlein‹ endgültig die rein argumentative Ebene und bestätigt die im zweiten Teil auf die Ausgangsfrage gefundene Antwort. Neu ist, dass die Antwort im dritten Teil einen performativen Charakter annimmt. Im ›Ehebüchlein‹ wird damit nicht nur zur Ehe geraten, sondern im Anschluss an die Überlegungen das Hochzeitfest selbst vollzogen. In der Forschung wird die Tatsache, dass es hier nun nicht mehr explizit um die Ausgangsfrage geht, mitunter zum Anlass genommen, diesen Teil als »loses
65 von Eyb, Ehebüchlein (s. Anm. 2), S. 5. 66 von Eyb, Ehebüchlein (s. Anm. 2), S. 5. 67 von Eyb, Ehebüchlein (s. Anm. 2), S. 71.
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Anhängsel« zu betrachten.68 Dabei liegt der Fokus dieses Teils auf den Implikationen, die sich aus dem ›Ja‹ zur Ehe ergeben, wie sie den gesamten Text hindurch immer wieder aufgegriffen werden. Dass aber die zuvor genannten Einwände und Probleme eben nicht aus dem Blick geraten, sondern als solche ernst genommen und potentielle Möglichkeiten im Umgang mit ihnen aufgezeigt werden sollen, zeigt dieser letzte Teil des Buches ausführlich. Mit den Schwerpunkten korrekte Lebensführung, gutes Haushalten und Gottvertrauen passt sich dieser Teil auf der pragmatisch-praktischen Ebene in den grundlegenden Ehediskurs des Textes ein. Gerade in Anbetracht der Tatsache, dass die Ehe unausweichlich ist und alternativlos erscheint, verlagert sich der Fokus auf die Konsequenzen: Welche Frau als Ehefrau vorzuziehen sei, eine alte oder eine junge oder gar eine Witwe? Wie sollten Kinder erzogen werden? Was kann der Mann tun, wenn die Vaterschaft zweifelhaft ist? Gerade die Schilderung von Hochzeitsmahl und Tanz verdeutlicht, dass es sich beim ›Ehebüchlein‹ um kein bloßes Cento oder eine Exempelsammlung handelt, sondern sich auch eine selbstbewusste literarische Herangehensweise bei der Präsentation des Materials zeigt. Diese zielt auch auf das prodesse und delectare der Widmung ab. Das Textmaterial des Hochzeitsfestes wird anders präsentiert als die vorherigen Teile. Thema und Text fließen ineinander und bieten den Lesern literarischen Genuss.69 Genau das ist es, was das Sprecher-Ich seinen Lesern in der einleitenden Passage selbstbewusst versprochen hatte: es werde ihnen ein »frolich hochzeyt mit einen koOtenlichen male«70 machen. Somit stellt sich das SprecherIch gerade im dritten Teil als konstruierende Instanz dar, die die Fäden in der Hand hält – dies aber zugleich zu erkennen gibt und reflektiert – und so zum »literarischen Gastgeber[]«71 wird. Das Ästhetische und Spielerische, so Annette Volfing, steht dabei Seite an Seite mit dem Programmatisch-Didaktischen.72 Dabei ist dieser Teil nicht weniger an der Didaxe orientiert als die anderen. Es handelt sich vielmehr um ein Learning by Doing. Es wird zu Tisch gebeten und dabei über angemessene Rede 68 Die meisten Texte folgen dieser These in direkter Anlehnung an Max Herrmann (vgl. Herrmann, Frühzeit des deutschen Humanismus (s. Anm. 20), S. 342). Die Frage, die aber dahinter steht, ist, ob denn die Ehe in der an-uxor-ducenda-Tradition im ›Ehebüchlein‹ wirklich zur Diskussion steht oder ob es sich hier nicht doch vielmehr um ein Ehetraktat im Allgemeinen handelt, das nur den antiken Topos als Anlass nutzt, eine allgemeine Ehelehre zu formulieren. 69 Die Tatsache, dass »die literarische Diskussion darüber, wie man eine Hochzeit feiert, als eigenständige Hochzeitsfeier dargestellt wird«, bezeichnet Annette Volfing als konsequente »Übereinstimmung von Text und Thema« (Volfing, Albrecht von Eyb und die Hochzeit zu Kana (s. Anm. 23), S. 374). 70 von Eyb, Ehebüchlein (s. Anm. 2), S. 5. 71 Volfing, Albrecht von Eyb und die Hochzeit zu Kana (s. Anm. 23), S. 380. 72 Vgl. Volfing, Albrecht von Eyb und die Hochzeit zu Kana (s. Anm. 23), S. 380.
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reflektiert; die Gänge werden aufgetischt und dabei das Maßhalten thematisiert. Was die Stoiker völlig ablehnten und von Epikur als höchstes Gut angepriesen wurde, soll, so kommentiert das Sprecher-Ich, in angemessener und maßvoller Weise genossen werden.73 Es finden sich selbst für die Gästeliste praktische Hinweise: Valerius Maximus meint, dass solche Feste nur in der Familie begangen werden sollten, damit mögliche Streitigkeiten behoben werden könnten.74 Dabei bezieht der Text auch allgemeine rhetorische Topoi ein. So wird beispielsweise angemerkt, dass man sich bei der Wortwahl zunächst bewusst machen sollte, wo und für wen gesprochen wird (vgl. aptum). Die Anweisungen reichen bis zu konkreten Hinweisen für die Gesprächsführung, wenn beispielsweise – von Macrobius’ Lehre ausgehend – geraten wird, bei solchen Festlichkeiten leicht zu beantwortende Fragen zu stellen, da sich jeder freue, wenn er sein Wissen anbringen könne, oder wenn eine Art Liste von guten und schlechten Themen für die Unterhaltung aufgeführt wird.75 Diese Reflexionen stellen das Hochzeitsmahl und die Gespräche dar, die bei Tisch geführt werden, weshalb es auch im Anschluss daran heißt: »Ich hab gemacht vnd geben ein wirtOchaft on eßen vnd trincken, So will ich auch machen ein tantz on OaytenOpil vnd frolicheit, vnd will alhie geben zuuerOtien das ellende, die armut, die erparmung, die kranckheit vnd widerwertigkeit der menOchlichen natur«.76 Das Festmahl ohne Essen und Trinken und der Tanz ohne dazugehörige Musik sind in ihrem defizitären Charakter zugleich als poetologische Reflexionen zu verstehen, die den Text als Inszenierung offenlegen. Kommt Annette Volfing in ihrer Analyse des dritten Teils77 zum Schluss, hier werde die Idee vermittelt, man könne »einen Text ›trinken‹ […] und darüber hinaus, daß Leser, die sich sachgemäß mit der Beschreibung einer Hochzeitsfeier auseinanderset-
73 Vgl. von Eyb, Ehebüchlein (s. Anm. 2), S. 71. Dabei werden die Themenbereiche Reden und Essen/Trinken mehrfach miteinander verschränkt. So wird beispielsweise maßlose Rede als Effekt maßlosen Weingenusses kritisiert (von Eyb, Ehebüchlein (s. Anm. 2), S. 71). 74 Vgl. von Eyb, Ehebüchlein (s. Anm. 2), S. 71. 75 Ein Fernreisender etwa freue sich, wenn er über ferne Länder befragt werde, ein Mönch hingegen, wenn er von geistlichen Dingen reden könne. Einfacher käme man über Beruf und Person ins Gespräch. Sei jemand eine Sorge los, so berichte er gern davon; jemanden, der aber noch mitten in derselben stecke, dürfe man nicht danach fragen (vgl. von Eyb, Ehebüchlein (s. Anm. 2), S. 72). 76 von Eyb, Ehebüchlein (s. Anm. 2), S. 77. 77 Annette Volfing ihre Kernthesen auf die Hochzeit zu Kanaan, die jedoch im Text nur einmal (und da in anderem Zusammenhang) erwähnt wird, »daß diese biblische Hochzeitsfeier, zusammen mit dem archetypischen klassischen Bankett und dem idealisierten arthurischen Fest, als Vorbilder des angemessenen Feierns gelten und deshalb implizit den Tischregeln im dritten Teil zugrunde liegen«. Implizite Vorlage des arthurischen Fests wird nicht an Belegstellen konkretisiert (Volfing, Albrecht von Eyb und die Hochzeit zu Kana (s. Anm. 23), S. 376).
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zen, selbst unmittelbar daran teilhaben« könnten,78 so zeigen die oben zitierten Äußerungen des Sprecher-Ichs vielmehr die Grenzen der literarischen Möglichkeiten auf. Weder soll der Text als »der lebenden brit«79 noch als metaphorische Musik verstanden werden,80 wenn auch nicht völlig auf eine Art performativen Nachvollzug der gewonnenen Erkenntnisse verzichtet wird. Dabei hebt gerade diese Unvollkommenheit der Inszenierung hervor, dass Fröhlichkeit und Leid einander bedingen, ein Thema, das im ›Ehebüchlein‹ immer wieder angesprochen und für die Ehe in Anspruch genommen wird. Der »tantz on Oaytenspil vnd frolicheit«81 ist defizitär. Dies deutet eine Parallele zur Ehe an, die ebenfalls nicht ideal und vollkommen ist, eine Tatsache, die im gesamten Text nie übergangen wurde. Das ›Ehebüchlein‹ verweilt aber nicht nur bei diesem Befund, sondern versucht, Handreichungen zu geben, Hinweise im Umgang mit den Sorgen und Nöten, die sich früher oder später einstellen. Bei der Ehe beginnend weitet sich dabei der Blick immer wieder aus auf die – wie es in einer Zwischenüberschrift heißt – »ellende, kranckeit vnd widerwertigkeit der menOchlichen natur«.82 Widerspricht damit aber der dritte Teil der Widmung und ihrem Versprechen, einen fröhlichen und unterhaltsamen Text zu liefern? Er tut es insofern nicht, als er das unterhaltende Moment nicht vernachlässigt, sondern Themen und narrative Passagen bietet, die dem Leser gerade in ihrer Inszeniertheit Freude bereiten können. Dennoch bleiben die negativen Implikationen der Ehe von Anfang an Teil der Auseinandersetzung mit der Ehefrage. Nachdem die Festivitäten vorüber sind und der Alltag Einzug hält, liegt der Fokus des Textes daher konsequenterweise wieder stärker auf dem Leid in der Ehe und der Welt allgemein. Es wird als Thema im Laufe des dritten Teils zunehmend dominanter, bis das Sprecher-Ich schließlich zur Erzählung der Albanuslegende anhebt: Berichtet wird »von einem groOOen hawptOunder, der vater vnd muter, weyb und OchweOter erOchlagen vnd Oich mit der Ounde der vnkeuOchheit mit muter und OchweOter – doch vnwiOOentlich – befleckt hat vnd durch Oein pußwertig leben an Oein letzten zeiten Oelig vnd heilig geworden iOt«83. Durch Albanus’ Buße und Reue soll die Heiligenlegende Trost und Hoffnung am Ende des Textes vermitteln. Man muss dabei nicht gleich Annette Volfings Lesart folgen, dass das tägliche Einerlei der Ehe unweigerlich eine heftige Enttäuschung 78 Volfing, Albrecht von Eyb und die Hochzeit zu Kana (s. Anm. 23), S. 375. 79 Gottfried von Straßburg: Tristan, V. 240. 80 Ganz anders interpretiert hier Annette Volfing das Hochzeitsfest, wenn sie davon ausgeht, dass der Text ausdrücklich Speise und Musik verkörpere, da er letztlich im Vollzug des Lesens mit seinem Thema identisch werde (vgl. Volfing, Albrecht von Eyb und die Hochzeit zu Kana (s. Anm. 23), S. 374f). 81 von Eyb, Ehebüchlein (s. Anm. 2), S. 77. 82 von Eyb, Ehebüchlein (s. Anm. 2), S. 77. 83 von Eyb, Ehebüchlein (s. Anm. 2), S. 91.
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darstellen muss.84 Vielmehr geht es darum, dieses Leid als Bestandteil der Ehe anzuerkennen, ohne aber die Fröhlichkeit derselben zu leugnen. Dennoch entfaltet sich am Ende ein großes Memento mori, das die Rezipienten ermahnt, mit stoischer Geduld und Hoffnung auf das Jenseits dem Wankelmut des irdischen Schicksals zu trotzen.85 Letztlich soll dieser Abschnitt zeigen, dass es keine Ehe ohne Leid geben kann, da Leid ein natürlicher Teil der menschlichen Existenz ist und der einzige Trost im Vertrauen auf Gott liegen kann. Joseph Anthony Hiller meint daher, dass Eyb im dritten Teil einem zunächst positiven Bild der Ehe entgegentrete.86 Doch das ›Ehebüchlein‹ stellt die Ehe an keiner Stelle als explizit ›schön‹ dar ; es hebt höchstens positive Seiten hervor, unterschlägt aber nie die Probleme, sondern lässt sie als solche stehen. Sie werden lediglich auf eine andere Ebene verlagert. Im Wechsel zwischen religiös-ideeller und pragmatisch-praktischer Ebene der Argumentation zeigt sich, dass jede ihre Berechtigung hat und bedacht werden muss. Der Fatalismus und Pragmatismus, der dem Rezipienten entgegenschlägt, kann an der Ehe zweifeln lassen, soll aber vielmehr verdeutlichen, dass Leid und Sorgen Bestandteile der Ehe sind, die als Ordnungsmodell für den Menschen alternativlos ist. Dabei ist zu bedenken, dass es sich hier – anders als im Fall des lateinischen Traktats gleichen Themas – um die volkssprachige Bearbeitung des Topos handelt, die sich nicht mehr an ein notwendigerweise lateinkundiges Publikum richtet. Für dieses neue, lateinunkundige Publikum steht die Ehe als Ordnungsmodell deutlich vor Augen. Damit wird aber nicht notwendigerweise eine zölibatäre, klerikale Karriere in Frage gestellt. Da es für das ›Ehebüchlein‹ keinen funktionierenden Gegenentwurf für Laien gibt, sind alle Gegenargumente untergeordnet. Sie müssen nicht widerlegt werden und dürfen als Kritikpunkte stehen bleiben.87
3.
Prodesse – Delectare
Alle Wissensvermittlung im ›Ehebüchlein‹ ist vom versprochenen delectare durchzogen. So finden sich im ersten Teil zahlreiche Einschübe kürzerer Erzählungen, denn das Sprecher-Ich will von »großer, begirlicher lieb, freundschafft vnd getreue der eeleut […] durch beyOpile vnd exempel auß bewerten 84 Vgl. Volfing, Albrecht von Eyb und die Hochzeit zu Kana (s. Anm. 23), S. 368. 85 Darin sah Joseph Anthony Hiller das ›Mittelalterliche‹ und begründete sein Verständnis Albrechts von Eyb als »a medieval man who could look coolly into life’s grim visage and yet hopefully in the light of eternity realize its other meaning.« (Hiller, Medieval Moralist (s. Anm. 20), S. 146). 86 Vgl. Hiller, Medieval Moralist (s. Anm. 20), S. 134. 87 Vgl. Hiller, Medieval Moralist (s. Anm. 20), S. 128.
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hyOtorien geben zuuerOtien.«88 In der Widmung und dem ersten Teil des Haupttextes legt Albrecht von Eyb seine Absichten und Methoden offen. Dabei ist die Widmung an zwei Adressatenkreise gerichtet, einmal an den Nürnberger Rat als expliziten Widmungsadressaten und zweitens an eine allgemeine und breitere Leserschaft. Ziel ist es, einen Text zur Stärkung der politischen Führungsschicht Nürnbergs zu verfassen (»zu lob vnd ere vnd Oterckung irer pollicey vnd regimentz«89), der zugleich ein ästhetisches Vergnügen bieten soll. So heißt es an einer Stelle der Widmung: »frolich vnd luOtig geben zu leOen«,90 an einer anderen: »diOes puchlein zu wolgefallen vnd zu leOen mit freuden«.91 Es geht also nicht nur um die Klärung der Ehefrage und damit einhergehender Wissensvermittlung, sondern ganz entschieden auch um einen Lektüregenuss und damit um die klassische Verknüpfung von prodesse und delectare im Horazschen Sinne. Dieses Diktum wird von Albrecht im Laufe des Textes immer wieder reflektiert. In diesen Kontext ordnet er explizit die längeren Erzählungen ein, die zwar unterhalten sollen, zugleich aber mit einer Lehre bzw. einem klaren ›Lernziel‹ verknüpft sind, das sich aus dem Text erschließen soll. Zugleich sind die Novellenbearbeitungen weit davon entfernt, als Exempla im Sinne der integumentum-Tradition – also der Einhüllung einer moralischen Wahrheit in eine fiktive Geschichte – bloß eine vorgefertigte Moral in ein narratives Gewand zu kleiden. Die längeren Geschichten versteht Annette Volfing aus der Widmung heraus als relativ selbständige Extras und weniger als integralen Teil einer Rechtfertigung der Ehe.92 Sie seien eine »kleine Leckerei«93 für den Leser : »Es wird ausdrücklich erwartet, daß die Leserschaft der Auseinandersetzung mit den verschiedenen exempla und den in sie eingebetteten und das Leitargument unterstreichenden Erzählungen ästhetischen und sogar sinnlichen Genuß abgewinnt.«94 Diese, das delectare berücksichtigende Wissensvermittlung variiert durch den gesamten Text hindurch mit verschiedenen Formen. Ist der Rezipient im ersten Teil mit zahlreichen auch einander widersprechenden Positionen konfrontiert und wird in eine Debatte hineingenommen, so wird er im zweiten Teil zum weitgehend passiven Hören, Lesen und Verstehen angehalten und im dritten Abschnitt schließlich wieder in das ›Geschehen‹ integriert, indem der Rezeptionsakt zur Teilnahme am Hochzeitsfest selbst wird. Die Verknüpfung von prodesse und delectare ist im ›Ehebüchlein‹ somit durch eine Vielzahl an Ver88 89 90 91 92 93 94
Hiller, Medieval Moralist (s. Anm. 20), S. 8. Hiller, Medieval Moralist (s. Anm. 20), S. 8. von Eyb, Ehebüchlein (s. Anm. 2), S. 36. von Eyb, Ehebüchlein (s. Anm. 2), S. 36. Vgl. Volfing, Albrecht von Eyb und die Hochzeit zu Kana (s. Anm. 23), S. 374. Volfing, Albrecht von Eyb und die Hochzeit zu Kana (s. Anm. 23), S. 374. Volfing, Albrecht von Eyb und die Hochzeit zu Kana (s. Anm. 23), S. 366.
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mittlungsmöglichkeiten gekennzeichnet, zu der auch die Reflexion über die Wissensvermittlung tritt. Trotz der Verwendung bekannter Topoi entfaltet der Text so ein produktives Potential, das nie im rein Topischen verbleibt. Damit zeigt das Ehebüchlein jene Tendenzen, die Sandra Linden und Henrike Lähnemann für die Traditionen lehrhafter Dichtung im Mittelalter ausgemacht haben: »Die im Bereich des lehrhaften Sprechens geprägten Traditionen bleiben freilich noch länger erhalten, aber in der Umgestaltung der verfügbaren Lehrinhalte durch die Humanisten erfolgt auch eine Neubestimmung des Zusammenspiels von Dichtung und Didaxe.«95 Dabei verschwimmt der Unterschied zwischen prodesse und delectare und orientiert sich an der Verknüpfung von Unterhaltung und Belehrung als dezidiert literarische Form der Wissensvermittlung.96 Gerade hier setzt das ›Ehebüchlein‹ an und sucht sich zwischen den unterschiedlichen Traditionen zu verorten, indem es verschiedene Formen der Wissensvermittlung wie des Erkenntnisgewinns ineinander verwoben durchspielt.
4.
Konstruktion des Sprecher-Ichs
Für die Konstruktion von Text und Sprecher-Ich ist die Art der Bearbeitung der Ausgangsfrage, die nach der Zueignung offengelegt wird, von großer Bedeutung. Er habe sich, so Albrecht von Eyb, vorgenommen, »auff die furgelegten frag zuOchreiben vnd die Oelben mit vil hupOchen wortten vnd zuuallenden Stucken, HyOtorien vnd materien zu weytteren vnd zu zieren, frolich vnd luOtig zu leOen vnd zu horen«.97 Angesichts dessen steht der Autor in der Forschung immer wieder als bloßer Kompilator im Vordergrund. Seine eigenen narrativ-kompositorischen Fähigkeiten werden weitestgehend ignoriert. Das ›Ehebüchlein‹ besteht zwar zu einem großen Teil aus Zitaten namhafter Autoritäten, dennoch tritt das Sprecher-Ich an vielen Stellen als selbstbewusste Instanz hervor, die sich innerhalb der vielen Traditionen verortet, verwendete Textvorlagen erweitert und kürzt und Methoden (beispielsweise der Inszenierung des Hochzeitsmahles)
95 Henrike Lähnemann/Sandra Linden: Was ist lehrhaftes Sprechen? In: Dichtung und Didaxe. Lehrhaftes Sprechen in der deutschen Literatur des Mittelalters, hg. v. Henrike Lähnemann/Sandra Linden, Berlin/New York 2009, S. 1–10, hier S. 10. 96 Bereits Birgit Neumann schlägt vor, den Unterschied zwischen prodesse und delctare als skalierenden zu verstehen, wie auch zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten kein ontologischer ›Wesensunterschied‹ zu konstatieren ist. Neumann, Kulturelles Wissen und Literatur (s. Anm. 4), S. 46. 97 Aus Rezeptionssicht ist interessant, dass den Lesern und Hörern des Textes zugleich Freude bei diesem Unterfangen gewünscht und damit davon ausgegangen wird, dass der Text auch vorgelesen werden könnte. Mit der Instanz des Vorlesers tritt eine noch stärkere Verschachtelung der Instanzen ein.
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offen legt. Schon die Lektüre dieser Quellen ermöglicht einen produktiven Umgang mit ihnen, denn »[j]eder Rezeptionsakt impliziert einen historisch determinierten Wahrnehmungsund Entschlüsselungscode, demzufolge auch die Aktualisierung des literarisch encodierten Wissens variiert. Als Bezugsfeld der Auslegung schreibt sich der rezipientenseitige Kontext unweigerlich in den fiktionalen Text ein, wird also bedeutungskonstitutiv. Auch die Aneignung von literarischen Texten kann damit zum Ausgangspunkt für die Emergenz von neuem Wissen werde, das das im Text angelegte Sinn- bzw. Wissenspotential übersteigt, ja sogar parodieren oder konterkarikieren mag.«98
Zur Zeit der Entstehung des ›Ehebüchlein‹ war Albrecht von Eyb laut Widmung »in beyden rechten doctor, Archidiacon zu Wirtzburg vnd Thummherr zu Bamberg und EyOtet«.99 Mit diesen Ämtern und seinem Doktor in beiden Rechten setzt er sich gleich zu Beginn der Widmung als Autorität in Szene. Die Herkunft seiner Quellen nennt er dabei oft, aber nicht immer und nicht immer korrekt. Zumindest im Florilegiumsteil wird die Autorität, der die jeweilige Aussage zugeschrieben wird, zumeist offengelegt und ebenso wird ausdrücklich Laktanz als Quelle des Schöpfungslobes im zweiten Teil benannt.100 Im Zuge dessen thematisiert das Sprecher-Ich selbst seine Tätigkeit als Kompilator und Bearbeiter und begründet den Rückgriff auf Laktanz mit der Aussage, dass »diOes puchlein mitt lere vnd meiOterOchaft der poeten, der naturlichen meiOtern, oratorum vnd philoOophorum«101 gefüllt sein soll. Zugleich betont das Sprecher-Ich mit Nachdruck, dass es verschiedene Diskurse und deren Repräsentanten einbeziehen möchte: »wiewol ich auch die lerer vnd meiOter der heilligen geOchrift, der geOchreiben rechten vnd der ertzney anzeigen möcht«.102 Von den drei längeren erzählenden Abschnitten wird einzig die Erzählung von Gwiscardus und Sigismunda auf eine Quelle, Boccaccio und dessen »hubOche hiOtori«, zurückgeführt.103 Das Sprecher-Ich inszeniert sich damit ganz klassisch als Rezipient und Bearbeiter : »DiOe hernachgeOchriben hyOtori oder fabel gibt zuuerOteen, Wie Oich ein fraw halten solle in abweOen irs mannes, die ich auch auff das kurzt auß latein ins teutOche bringen will, als ich dann diOes puchlein aus latein an manchen enden genumen und geordent hab.«104 Das Sprecher-Ich beschreibt hier seine Tätigkeiten als Bearbeiter (›»kürzt«‹), Übersetzer (›»auß latein ins teutSche«‹) und Kompilator (›»geordent«‹). 98 Neumann, Kulturelles Wissen und Literatur (s. Anm. 4), S. 49. 99 von Eyb, Ehebüchlein (s. Anm. 2), S. 36. 100 »Vnd nym fur mich den andechtigen vater vnd lerer Lactancium« (von Eyb, Ehebüchlein (s. Anm. 2), S. 8). 101 von Eyb, Ehebüchlein (s. Anm. 2), S. 38. 102 von Eyb, Ehebüchlein (s. Anm. 2), S. 38. 103 von Eyb, Ehebüchlein (s. Anm. 2), S. 52. 104 von Eyb, Ehebüchlein (s. Anm. 2), S. 59.
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Annegret Oehme
»Im Falle des ›Ehebüchleins‹ sind diese Prozesse, d. h. der Übersetzung und der centoartigen Neugestaltung, zentral für das literarische Unterfangen. Albrecht übersetzt nicht nur Material aus dem Lateinischen ins Deutsche, sondern re-kontextualisiert es auch in einer Weise, die dessen Sinn ändert. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, daß dieses Phänomen auf die längeren Erzählungen zutreffen könnte, doch das gleiche trifft auch auf die diskursiven Passagen zu, die mit zahlreichen kurzen Beispielen übersäht sind.«105
Eine wichtige Stelle im Hinblick auf die Tradition, in der sich Albrecht von Eyb verortet, sind die poetologischen Reflexionen im Lob der Frauen, das sich recht unvermittelt und ohne direkte Erklärung an das Schöpfungslob anschließt. Dieses Lob, das von ebenso auffallender Kürze ist wie das Ehelob, wurde in der Forschung zwar häufig als Belegstelle eines modernen und innovativen Frauenbildes gewertet, besitzt aber tatsächlich in ganz anderer Hinsicht eine spezifische Besonderheit: Es nimmt die Frauen als Erfinderinnen der Schrift zum Ausgangspunkt eines Lobes auf die Schrift als Höchste aller Künste, als Höchstes, was dem menschlichen Geschlecht gegeben ist.106 Dieses Wissen wiederum wird über das Lesen vermittelt: »Wann wir leOen, das nichtz groOers, nichtz wirdigers vnd nichtz nuczers dem menOchlichen geOchlecht dann kunOt der geOchrifft gegeben iOt.«107 Und was lehrt diese Kunst? »durch die kunOt werd wir vndterweiOt gen vnns vnd anderen recht zuthun, ein gemeinen nutz zufurdern vnd ein andechtigs, Oeligs leben zufuren«.108 Es schließt sich eine Klage über den Analphabetismus an, weil die Leseunkundigen ohne Wissen umherirren müssten, ohne Erkenntnis in göttlichen und menschlichen Dingen. Ins Extreme 105 Volfing, Albrecht von Eyb und die Hochzeit zu Kana (s. Anm. 23), S. 379. 106 Geht Max Herrmann noch davon aus, dass das Frauenlob ursprünglich komplett aus der Feder Albrechts von Eyb entstammt und sich spätere Verfasser, wie beispielsweise Niklas von Wyle, auf dieses bezogen haben müssten (vgl. Herrmann, Frühzeit des deutschen Humanismus (s. Anm. 20), S. 270), so hat Dalapiazza bereits die Vorlage bei Francesco Barbaro nachgewiesen (vgl. Michael Dalla piazza: Minne h0sere und das ehlich leben. Zur Konstitution bürgerlicher Lebensmuster in spätmittelalterlichen und frühhumanistischen Didaktiken, Frankfurt a. M./Bern 1981, hier v. a. S. 124). Eine noch ältere italienische Quelle hat hingegen Vivien Hacker in ihrer detaillierten Quellenarbeit belegen können (vgl. Vivien Hacker : Die Konstruktion der weiblichen Natur als Domestizierung der Frau. Zu Aspekten der Weiblichkeit bei Nicolosa Sanuda, Niklas von Wyle und Albrecht von Eyb, in: Natur und Kultur in der deutschen Literatur des Mittelalters, hg. v. Alan Robertshaw/ Gerhard Wolf, Tübingen 1999, S. 139–149, hier v. a. S. 141). – Elke Kleinau und Claudia Opitz haben zudem darauf hingewiesen, dass vor allem im 15. Jahrhundert die Rezeption der Literatur über berühmte und gelehrte Frauen der Vergangenheit, durch die die Verdienste und Fähigkeiten von Frauen seit der Antike aufgelistet und tradiert wurden, enorm anwuchs (vgl. Elke Kleinau/Claudia Opitz: Einleitung, in: Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung. Band I. Vom Mittelalter bis zur Aufklärung, hg. v. Elke Kleinau/Claudia Opitz, Frankfurt a. M./New York 1996, S. 15–20, hier S. 16). 107 von Eyb, Ehebüchlein (s. Anm. 2), S. 69. 108 von Eyb, Ehebüchlein (s. Anm. 2), S. 69.
»Wellichs du tuOt, das wirt dich reuen.«
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gewendet liest man dort, dass für niemanden ›rechte‹ Weisheit zu erlangen ist, der nicht lesen kann.109 Die Schrift wird somit zum zentralen Medium der Wissensvermittlung. Von Isis, die die Buchstaben erfunden habe, führt eine Liste von Frauen, die sich um Schrift und Wissen im Allgemeinen verdient gemacht haben, hin zu Aspasia, die so gelehrt gewesen sei, dass sich nicht einmal Sokrates geschämt habe, von ihr zu lernen, und Centona, der großer Ruhm als Leserin Vergils zukommt.110 Damit entwirft Albrecht eine lange Traditionskette aus Schreibenden und Rezipierenden, die Männer und Frauen gleichermaßen einschließt. Und auch das ›Ehebüchlein‹ gehört in diese verlängerte Kette, da sich das SprecherIch im ersten Teil des Buches selbst auf Vergil111 und Sokrates112 beruft.
5.
Schlussbetrachtung
Albrechts von Eyb ›Ehebüchlein‹ ist ein hybrider Text, der sich verschiedener Formen der Wissensvermittlung bedient, um Geltung beanspruchen zu können. Die daraus resultierende Heterogenität macht ein changierendes und flexibles Sprecher-Ich nötig, das auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Funktionen agieren kann. Im Rahmen der unterschiedlichen Formen der Wissensvermittlung übernimmt es jeweils unterschiedliche Funktionen und ist so beispielsweise Kompilator und Kommentator im Florilegiumsteil, Prediger im Schöpfungsteil oder Gastgeber eines Hochzeitsmahles im dritten Teil des Textes. Auf struktureller Ebene vereint der Text Florilegium, Novellenbearbeitung und didaktische Abhandlung mit Versatzstücken aus theologischen und medizinischen Diskursen. Albrecht von Eyb ist nicht bloßer Kompilator, der – wie von der Forschung oft kritisiert – ein zum Teil loses Netz aus Zitaten knüpft und nach der Antwort auf die Ehefrage noch einen dritten Teil anhängt, der nur noch in lockerem Zusammenhang mit den ersten Teilen steht. Das Sprecher-Ich legt immer wieder die Struktur seines Textes und seine diskursiven Methoden offen, ordnet sich zwar in eine Tradition ein, tritt aber zugleich als Verfasser selbstbewusst hervor, was sich auf den Ebenen der Rezipientenorientierung und der Textgestaltung deutlich zeigen lässt. Gerade über die Reflexionen des SprecherIchs lässt sich ein Zugang zur poetologischen Konzeption des Textes finden. Der Text, der eine Vielzahl an Positionen und Wertungen transportiert und diese nicht immer harmonisierend ordnen kann, tritt nicht nur mit den Tradi109 110 111 112
Vgl. von Eyb, Ehebüchlein (s. Anm. 2), S. 69. Vgl. von Eyb, Ehebüchlein (s. Anm. 2), S. 69. Vgl. von Eyb, Ehebüchlein (s. Anm. 2), S. 11, 69, 76 u. 86. Vgl. von Eyb, Ehebüchlein (s. Anm. 2), S. 5, 8, 50 u. 69.
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tionen und Rezipienten in ein Gespräch, sondern inszeniert auch eine Debatte der einzelnen Autoritäten. Dabei liegt gerade in der Heterogenität, die sich auf den ersten Blick bietet, der Schlüssel zum Verständnis des Textes. Denn die Ausgangsfrage wird zum Anlass genommen, verschiedene Methoden der Wissensvermittlung und Argumentation durchzuspielen und zu erproben. Das Ästhetische und Spielerische steht neben dem Programmatisch-Didaktischen. Die Verknüpfung von prodesse und delectare, die sich in der Widmung findet, durchzieht den ganzen Text und wird auch immer wieder offengelegt. Diese unterschiedlichen Meinungen und verschiedenen Positionierungen zur Ehefrage bilden mitunter ein kontroverses Geflecht aus widerstrebenden Wertungen, die oft absichtsvoll in keinen Einklang gebracht werden. Dem Text ist damit die Möglichkeit inhärent, in verschiedene Richtungen gelesen zu werden. Darin liegt sicher auch ein Grund dafür, dass das ›Ehebüchlein‹ in der Forschung so kontrovers diskutiert wurde. Wichtig ist dabei, das ›Ehebüchlein‹ als Vertreter der Eheschriften des 15. Jahrhunderts in seiner Vielschichtigkeit und den Brüchen im Text ernst zu nehmen und seine Heterogenität nicht durch eine rein gattungstheoretische Perspektive zu reduzieren.
IV. Prekäre Geltungsansprüche: Konfrontationen mit tradiertem Wissen
Jonas Sellin
»Dan das man in kainer Geschrifft findet«1. Wissenstransfer und Intertextualität in der spätmittelalterlichen volksprachlichen Regionalchronistik Österreichs, Kärntens und der Steiermark
1.
Ein dynastischer Umbruch im Spiegel der zeitgenössischen Geschichtsschreibung »Wie aber annder Hertzogn von Kerndt gehaissn und regiert habn, das verlass ich hye. Dan man in kainer Geschrifft findet, dann sy habn all ein tugentlich Leben gefuert und sind zw kunigklichn ern komen. und zw grosser kunigklicher und furstlicher frewntschafft von Heyrat wegn.«2
Mit diesen Worten entschuldigt der Chronist Jakob Unrest sein Unvermögen, mehr über das Geschlecht der ›geborenen‹ Herzöge Kärntens zu schreiben, obgleich diese in seiner Kärntner Chronik eine zentrale Rolle einnehmen. Diese ist ein Beispiel dafür, wie ein mittelalterlicher Geschichtsschreiber mit einem beschränkten Quellenfundus durch Interpolation und Umdeutung neue Sinnkomplexe schaffen konnte. Trotzdem schöpfte er nicht aus dem Nichts: Gerade der Umgang mit dem beschränkten Material, dass ihm zur Verfügung stand, zeigt besonders prägnant Aspekte der Wissenstransformation und der Intertextualität in Relation zu seinen Vorlagen, die ihrerseits ganz anders mit dem ihnen zur Verfügung stehenden Wissen agierten. In einer bewegten Zeit standen die Autoren des habsburgischen Herrschaftsgebiets im Spätmittelalter vor komplexen Fragen, die ein im steten Wandel befindlicher politischer Rahmen aufwarf. Immer wieder standen diese Chronisten vor der Herausforderung, die sich aus den Reibungspunkten des durch ihre Vorgänger tradierten Wissens mit den Geltungsansprüchen ergeben, die in ihrer Gegenwart gestellt werden, sei es durch sie selbst, ihre Umwelt, oder vor allem ihre Auftragsgeber. Bezogen auf Kärnten im Spätmittelalter war es eine Reihe dynastischer Umbrüche, der zu
1 Jakob Unrest: Kärntner Chronik, in: Collectio monumentorum veterum et recentium ineditorum, Bd.1, hg. v. Simon Friedrich Hahn, Braunschweig 1724, S. 479–536, hier S. 491, Z.33. 2 Unrest, Kärntner Chronik (s. Anm. 1), S. 491, Z.31–36.
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einer Verschiebung der Perspektiven und einer Unsicherheit in Bezug auf den Umgang mit althergebrachten Deutungsmustern führte. Der Umgang mit und die Präsentation von Wissen in Chroniken ist ein vielschichtiger Prozess, der sich für den heutigen Leser nicht immer vollständig entschlüsseln und ausdeuten lässt. Diese Gattung speiste sich stets aus den verschiedensten Quellen historiographischer und nicht historiographischer Natur. Die Rückgriffe auf bewährte Autoritäten sind in diesem Genre ein bewusst herausgestelltes Qualitätsmerkmal, dass die Glaubwürdigkeit eines Textes erhöht. Chronisten sahen es aber zugleich auch stets als ihre Aufgabe an, ihre Vorlagen zu ergänzen, zu erweitern, zu verbessern, auf der anderen Seite aber auch, sie zu komprimieren, auf das Wesentliche zu reduzieren und in Kompilationen mit anderen Quellen in Beziehung zu setzen und zu verknüpfen. Die einzelnen Chroniken weisen in ihrer Relation zueinander daher die verschiedensten Muster von intertextuellen Bezügen wie Adaption, Umformung und Bedeutungsverschiebungen auf.3 Es ist insofern festzuhalten, dass die gleichen Informationen in anderen Kontexten oder auch nur von einem anderen Zeitpunkt aus betrachtet, gänzlich andere Bedeutungen annehmen können. Will man die Rolle der verschiedenen Elemente eines Textes innerhalb der jeweiligen Verschiebungen und Umformungen verfolgen und beurteilen, so müssen vor allem drei Formen ihrer Beeinflussung durch den Kontext berücksichtigt werden: zum Einen ihre Funktion innerhalb des Textes, zum anderen die Funktion des Textes insgesamt und schließlich die Beschränkung durch die Grenzen der Möglichkeiten, Fähigkeiten und des Wissens des Autors. Im Folgenden soll versucht werden, die Entwicklungen, denen ein Textelement innerhalb verschiedener Chroniken unterworfen sein konnte, anhand eines in Zeit, Raum, Genre und Umfang bewusst beschränkten Textkorpus beispielhaft zu verfolgen und so die Prozesse von Wissenstransfer und Wissenstransformation exemplarisch herauszuarbeiten. Der gewählte politisch-geographische Rahmen ist dabei der der habsburgischen Erblande. Drei volkssprachlichen Chroniken, nämlich die Reimchronik Ottokars, die Chronik von den 95 Herrschaften und die Kärntner Chronik des Jakob Unrest,4 wurden zur Behandlung ausgewählt, weil sie zum einen in unterschiedlicher Weise einen bestimmenden Einfluss auf das Geschichtsverständnis ihrer Region hatten, zum anderen in den entsprechenden Passagen in unmittelbarer Abhängigkeit voneinander stehen. Der ausgewählte Themen3 Zur Bedeutung solcher adaptiver Prozesse in der Historiographie vgl. Jean Marco Sawilla: Prozesse, in: Geschichte schreiben. Ein Quellen- und Studienhandbuch zur Historiographie (ca.1350–1750), hg. v. Susanne Rau/Birgit Studt, Berlin 2010, S. 172–177. 4 Ein ähnlicher Versuch mit einer anderen Textgrundlage und einem eher sprachlichen Ansatz bei Rolf Sprandel: Chronisten als Zeitzeugen. Forschungen zur mittelalterlichen Geschichtsschreibung in Deutschland, Köln u. a. 1994, S. 129–144.
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komplex sind dabei um die Taten, die Herrschaft und das Ende der beiden letzten Spanheimerherzöge von Kärnten, Ulrichs III. und seines Bruders Philipp.5 Dabei liegt ein besonderer Fokus auf dem abenteuerlichen Lebenslauf Philipps, der mit seinen weitausgreifenden Plänen und Ambitionen eine der schillerndsten Gestalten seiner Zeit war. Das Ende des alten Herrschergeschlechts und der Übergang Kärntens zunächst auf die Meinhardiner, dann auf die Habsburger leitete eine für die Legitimation der neuen Machthaber ebenso wie für die Wahrnehmung des Landes Kärnten prekäre Zeit ein. Alte Deutungsmuster waren im Wandel, in einer Zeit, in der eine Dynastie und das von ihr beherrschte Land oft gleichgesetzt wurden, bestand der Bedarf nach einer Neudefinition der Herrschaft und einer neuen Legitimation der zunächst einmal fremden neuen Herzöge. Dazu bot sich entweder ein Anknüpfen oder eine bewusste Abgrenzung zu den Vorgängern an. Die Chroniken der Zeit versuchten den Ereignissen daher eine Deutung auf die neuen Herzöge hin zu geben. Der Stellenwert des entsprechenden Handlungskomplexes fluktuiert dabei ebenfalls, so nimmt er in der Reimchronik noch eine nicht unbedeutende Rolle ein, in der Chronik von den 95 Herrschaften verblasst sie mehr oder weniger zu einer Randnotiz, für Unrest stellt sie dagegen einen zentralen Angelpunkt seiner Argumentation dar. Dazu soll kurz zum besseren Verständnis der behandelten Ereignisse die Ereignisgeschichte umrissen werden. Dann soll zunächst die Entwicklung der Chronistik im behandelten Raum im Spätmittelalter skizziert werden, um die Stellung und Bedeutung der im Fokus stehenden Werke und ihre Beziehung zueinander zu verdeutlichen. Vergleichend soll schließlich ihre Darstellung in den drei ausgewählten Chroniken geschildert und zueinander in Beziehung gesetzt werden.
2.
Die letzten Spanheimer
Um die Mitte des 13. Jahrhunderts fanden in Kärnten und den umliegenden Ländern entscheidende machtpolitische Umwälzungen statt. Als Herzog Bernhard von Spanheim 1256 starb, hinterließ er zwei Söhne: der ältere, Ulrich, war zu seinem Nachfolger als Herzog von Kärnten und Herr von Krain und der Windischen Mark designiert, der zweite, Philipp, erlangte als erwählter Erzbischof von Salzburg nicht nur eine kirchenpolitisch bedeutsame Position, sondern stand vor allem auch an der Spitze einer der in der Region territorialpolitisch einflussreichen Mächte. Der zwischen Ulrich und Philipp bald nach 5 Ulrich III. von Spanheim (Herr von Krain ab 1248/51, Herzog von Kärnten ab 1256, gest.1269). Philipp von Spanheim (Elekt von Salzburg 1247–1257, Patriarch von Aquileia 1269–1271, gest. 1279).
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Bernhards Tod geschlossene Bündnisvertrag, in dem Philipp als Ulrichs Erbe eingesetzt wurde, zeigt, dass Philipp bereit war, seine offenbar ohnehin nicht sehr ausgeprägten Ambitionen auf eine geistliche Laufbahn seinen Ansprüchen als Herzogssohn unterzuordnen. Zunächst aber strebte Philipp in erster Linie den Machtzuwachs Salzburgs an, auch und besonders mit militärischen Mitteln. Seine ehrgeizigen Pläne zum territorialen Ausbau des Erzbistums scheiterten letztendlich aber trotz anfänglicher spektakulärer Erfolge, denn seine kirchenpolitische Karriere fand ihr jähes Ende, als der erwählte Erzbischof es ablehnte, die höheren Weihen zu empfangen, um sein Erbrecht auf Kärnten nicht zu gefährden. Nachdem Philipp die päpstliche Aufforderung ignorierte, innerhalb von sechs Monaten die Weihen zu empfangen, wurde er suspendiert. Im August 1256 wurde Ulrich von Seckau6 als neuer Bischof gegen ihn gewählt. Im folgenden Konflikt konnte sich dieser allerdings militärisch nicht gegen Philipp und Ulrich durchsetzen, zumal auch ihr Vetter Ottokar II. von Böhmen7 die Spanheimerbrüder unterstützte, der Österreich beherrschte und dabei war, sich im östlichen Mitteleuropa eine herausragende Machtposition aufzubauen. Im Gegenzug standen diese seiner Seite, als er 1260 die Steiermark von den Ungarn eroberte. Das Blatt wendete sich indes, als Ottokar sich im Auftrag des Papstes gegen Philipp wandte. 1267 legte Philipp infolgedessen sein Amt nieder, erhielt im Gegenzug eine Pension auf Lebenszeit und wurde von allen Kirchenstrafen losgesprochen. Nunmehr richtete sich sein Ehrgeiz allein auf die Erlangung der Kärntner Herzogswürde, zumal der einzige Sohn seines Bruders jung verstorben war.8 Philipp gelang es, wohl durch Urkundenfälschung, von Ulrich als Miterbe anerkannt zu werden. 1268 setzte allerdings Ulrich dennoch Ottokar II. von Böhmen zu seinem Gesamterben ein. Nach Ulrichs Tod 1269 erwirkte Ottokar, wohl gewissermaßen als Entschädigung, Philipps Wahl zum Patriarchen von Aquileia, auch wenn er vom Papst nie anerkannt wurde. Philipp gab sich damit jedoch keineswegs zufrieden, sondern versuchte unmittelbar darauf, sich gewaltsam Kärntens zu bemächtige. Dieser Versuch scheiterte jedoch und Philipp wurde von Ottokar zur Abdankung als Patriarch gezwungen. Doch auch nach Philipps Ausschaltung war Ottokars Stellung nicht endgültig gesichert. Obwohl seine Macht in Kärnten, Krain und der Windischen Mark überaus gefestigt war, wurde er nie formell mit dem Herzogtum belehnt. Das nutzte König Rudolf von
6 Ulrich von Seckau (Bischof von Seckau ab 1243, nominell Erzbischof von Salzburg 1256/ 57–1265, gest. 1268). 7 Ottokar II. Prˇemysl (König von Böhmen ab 1253, Herzog von Österreich ab 1251, Herzog der Steiermark ab 1261, Herzog von Kärnten und Krain ab 1269, gest. 1278). 8 Vgl. Claudia Fräss-Ehrfeld: Geschichte Kärntens. Band 1: Das Mittelalter, Klagenfurt 1984, S. 325.
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Habsburg9 1275 für einen Schlag gegen diesen, indem er die seiner Interpretation nach heimgefallenen Herrschaften einzog und Philipp zum Herzog von Kärnten, Krain und der Mark einsetzte. Auf diese Weise erhielt er einen Vorwand zum Vorgehen gegen Ottokar, offiziell zur Durchsetzung der Ansprüche Philipps. Bei diesen Vorgängen spielte dieser allerdings selbst keine Rolle mehr, sondern fungierte nur noch als Strohmann für Rudolfs eigene Interessen. Bis zu seinem Tod 1279 lebte er zurückgezogen von der Pension, die ihm Ottokar nach seiner Kapitulation zugesprochenen hatte, ohne je wieder herrschaftliche Macht de facto auszuüben, auch nicht nachdem Ottokar die ihm zugesprochenen Länder 1276 im militärischen Konflikt mit Rudolf verloren hatte. Vielmehr verwaltete Meinhard II. aus dem Haus der Görz-Tiroler,10 die einst erbitterte Konkurrenten der Spanheimer gewesen waren, im Namen des Reichs das Herzogtum Kärnten und wurde schließlich nach Philipps Tod und langwierigen Auseinandersetzungen um die Nachfolge zum neuen Herzog eingesetzt.11
3.
Die Historiographie in den Habsburgischen Erblanden im Spätmittelalter
Das Spätmittelalter erlebte im Bereich der Historiographie den Bedeutungsverlust der Weltchronistik und dem Aufstieg der Regionalchronistik, wobei mit dieser Entwicklung ein rapider Anstieg der Zahl der Chroniken und der sozialen Vielfalt der Autorengruppen einherging.12 Der bis dahin vorherrschende universale Ansatz, der vom Zeitrahmen her versuchte, die gesamte Weltgeschichte von der Erschaffung bis zum Ende der Welt und räumlich zumindest die gesamte Christenheit zu umspannen wich begrenzteren Ansätzen, die nur die Geschichte eines Volkes, ein Land, einer Stadt oder eines Klosters darzustellen versuchte. In dieser Entwicklung spiegeln sich auch Eigenheiten der politischen Struktur des 9 Rudolf von Habsburg (Graf von Habsburg ab 1240, ab 1273 römisch-deutscher König, gest. 1291). 10 Meinhard II. (Graf von Görz 1258–1267, Graf von Tirol ab 1271, Herzog von Kärnten und Herr von Krain ab1286, gest. 1295). 11 Vgl. zur Ereignisgeschichte Fräss-Ehrfeld: Geschichte Kärntens (s. Anm. 8), S. 316–342. Meinhards Machtpolitik führte ihn schon bald auf Konfrontationskurs mit Rudolf. Die GörzTiroler wurden zu den hauptsächlichen Konkurrenten der Habsburger im Kampf um die Vorherrschaft im österreichischen Raum. 12 Zum Begriff der regionalen Historiographie und zur Problematik des älteren Begriffs der Landesgeschichte angesichts mittelalterlicher Herrschaftsformen vgl. Dieter Mertens: Landeschronistik im Zeitalter des Humanismus und ihre Spätmittelalterlichen Wurzeln, in: Deutsche Landesgeschichtsschreibung im Zeichen des Humanismus (Contubernium 56), hg. v. Franz Brendle/Dieter Mertens/Anton Schindling/Walter Ziegler, Stuttgart, 2001, S. 19–31.
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Reichs: Während in Frankreich und England gerade im Zuge des hundertjährigen Krieges Ansätze eines Nationalbewusstseins fassbar werden, trat das Kaisertum in der Politik wie in der Wahrnehmung der Historiographie immer mehr in den Hintergrund gegenüber den zunehmend autonom und selbstbewusst agierenden Landesherrschaften. Dabei ist es gelegentlich schwer, Selbstwahrnehmung und Selbstdarstellung zu differenzieren: Die Landesherren der Zeit begannen immer mehr, Historiographie bewusst zu nutzen um ein Bild ihrer Dynastie und ihres Landes zu konstruieren und zu transportieren, dass ihren Absichten entsprach.13 Das Schicksal eines Landes wurde von den Geschichtsschreibern der Zeit immer noch mit dem Schicksal seiner Herrscherdynastie gleichgesetzt.14 Es überrascht insofern nicht, dass die Habsburger auf ihrem Weg zur bedeutendsten Macht innerhalb des Reichs am Ende des Mittelalters, auch versucht haben, der Geschichtsschreibung ihren Stempel aufzudrücken. Ihr Aufstieg zur Vorherrschaft im Südosten des Reichs ging auch mit dem Versuch einher, auf dem Weg über die Historiographie eine Deutungshoheit über ihre eigene Geschichte und die Geschichte ihrer Territorien zu erlangen. Dabei ergab sich allerdings die besondere Situation, dass der ausgedehnte Komplex der habsburgischen Länder schon wieder eine überregionale Einheit bildete, die einzelnen Territorien unter ihrer Herrschaft aber historisch und teilweise auch kulturell als klar voneinander abgegrenzt wahrgenommen wurden und auch politisch ihre eigenen Spielräume und Spielregeln besaßen. Daher war eine Gleichsetzung eines Territoriums mit einer bestimmten Dynastie in diesem Fall nicht ohne weiteres möglich. Angesichts der großen Disparität der verschiedenen von den Habsburgern beherrschten Länder und Gebiete war dennoch in erster Linie die Ausrichtung auf die gemeinsame Herrscherdynastie das verbindende und identitätsstiftende Moment. Lange bevor sich diese Gebiete etwa als Teil eines Landes Österreich wahrgenommen hätten, kam die Rede vom »Haus Österreich« auf und gewann im ausgehenden Mittelalter immer mehr an Bedeutung. Dabei wurden nicht nur die Dynastie der Habsburger, sondern auch die von ihnen beherrschten Territorien unter dieser Bezeichnung zusammengefasst. Diese enge begriffliche Verknüpfung des Herrscherhauses wie des gesamten Territorialverbandes mit einzelnen Teilgebiet innerhalb des Gesamtkomplexes 13 Zu den Möglichkeiten und Grenzen der bewussten Einflussnahme auf Geschichtsbilder und öffentliche Meinung durch Historiographie vgl. Frantisek Graus: Funktionen der spätmittelalterlichen Geschichtsschreibung, in: Geschichtsschreibung und Geschichtsbewusstsein im späten Mittelalter, hg. v. Hans Patze, Sigmaringen 1987, S. 11–55, hier S. 30–39. Generell ist von Historiographie kein unmittelbar propagandistischer Effekt zu erwarten, aber längerfristig aber doch formende und Geschichtsbilder stabilisierende Wirkungen. 14 Vgl. zum ordnenden Charakter genalogischer Prinzipien Markus Völkel: Geschichtsschreibung. Eine Einführung in globaler Perspektive, Köln u. a. 2006, S. 118–119.
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zeigt indes auch bereits eine dominierende Rolle des Landes Österreichs gegenüber den anderen Territorien: Steiermark, Tirol und Kärnten blieben daneben in verschiedenster Hinsicht mehr oder weniger zweitrangig, von den zerstreuten oberrheinischen Besitzungen Vorderösterreichs ganz zu schweigen. In der Selbst- wie auch der Fremdwahrnehmung erschienen sie als Peripherie. Selbst als in Tirol und Steiermark eigene Linien der weitverzweigten habsburgischen Dynastie regierten, wurden diese nie im gleichen Maße mit ihren jeweiligen Territorien identifiziert; die Habsburger wurden weiterhin primär mit Österreich assoziiert. Als sich in den trotz oder gerade wegen der Österreich deutlich untergeordneten Stellung und ihrer im Vergleich nachrangigen Bedeutung für das Haus Habsburg strukturell und in sich institutionell bereits sehr geschlossenen Ländern Steiermark, Kärnten und Tirol dennoch allmählich ein von der übergreifenden Dynastie unabhängiges Landesbewusstsein auszubilden begann, geschah dies vor allem auf der Ebene des einheimischen Landadels und der Landstände.15 Nach dem zuvor Gesagten überrascht es nicht, dass tatsächlich als Landesgeschichtsschreibung anzusprechende Werke zuerst in Österreich auftraten, zumal nur hier eine Gleichsetzung der Landesgeschichte mit der Geschichte der herrschenden Dynastie möglich war. Diese ersten ausdrücklich nur mit Österreich befassten Werke entstanden meist im Auftrag der Landesherren, oder zumindest in deren Umkreis. Nach den Werken des Wiener Patriziers Jans Enikels aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhundert, der eine Weltchronik und mit dem Fürstenbuch eine Geschichte Wiens in gereimter Form verfasste,16 ist es insbesondere die von Leopold von Wien im späten 14. Jahrhundert verfasste Chronik von den 95 Herrschaften, die als erste wirkliche Landesgeschichte zu verstehen ist.17 Sie erlangte weite Verbreitung und hatte großen Einfluss. Für mehr als 150 Jahre war sie das grundlegende Werk zur Geschichte Österreichs schlechthin. Erst das abschätzige Urteil Enea Silvio Piccolominis in der humanistisch geprägten Historia Austrialis,18 die sich größtenteils auf Gegenwarts15 Zur Begrifflichkeit des Landes- und Regionalbewusstseins in Chroniken vgl. Stefan Dicker: Landesbewusstsein und Zeitgeschehen. Studien zur bayerischen Chronistik des 15. Jahrhunderts (Norm und Struktur 30), Köln u. a. 2009, S. 21–25. Dort auch Gesichtspunkte, wie sich Landesbewusstsein in der Historiographie äußern kann: zum einen durch die Auswahl der Stoffe, zum zweiten durch Urteile über das Handeln der Akteure, in erster Linie, wessen Schaden beklagt wird und zum dritten durch explizite Äußerungen in den Paratexten. 16 Jans Enikel: Werke, in: Jansen Enikels Werke. Weltchronik. Fürstenbuch (MGH Dt. Chroniken 3), Hannover/Leipzig 1900. 17 Leopold von Wien: Österreichische Chronik von den 95 Herrschaften (MGH Dt. Chroniken 6), Hannover/Leipzig 1909. 18 Enea Silvius Piccolomini: Historia Austrialis. Österreichische Geschichte (MGH SS rer. Germ. N.S. 24), Hannover 2009. Zur Kritik an der Österreichischen Chronik vgl. ebd. Kap.
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geschichte, insbesondere die Herrschaft Friedrichs III. beschränkt, fügte ihrer Reputation ernsthaften Schaden zu und ließ sie in der Frühen Neuzeit in der Bedeutungslosigkeit versinken. Die Chronik von den 95 Herrschaften umfasst die Geschichte Österreichs von einer fantastisch anmutenden imaginierten Vorgeschichte in alttestamentlicher Zeit an bis zur Gegenwart des Autors, dessen genaue Identität bis in die heutige Zeit immer wieder umstritten war. Sie ist eindeutig vom universitären Umfeld und der Universitätsbildung ihres Verfassers geprägt, der Theologie in Wien studiert und gelehrt hatte. Die Konzentration auf die Herrscher zeigt sich im Einteilungsschema nach Herrschaften, von dem sich auch der heute gebräuchliche Titel ableitet.19 Von der Frühen Neuzeit an wurde sie besonders aufgrund der wenig glaubhaften, von Fabelherrschern geprägten Frühgeschichte gering geschätzt, wobei der hohe historiographische Wert der späteren Passagen, die sich vor allem auf die Steirische Reimchronik stützen, meist übersehen wurde. In ihrer Zeit war sie prägend für die Historiographie des österreichischen Raums und das Bild der österreichischen Geschichte. Erst die Chronik Piccolominis löste sie zumindest in der gelehrten Welt ab. Das im Auftrag Friedrichs III. um 1460 entstandene Mammutwerk Thomas Ebendorfers erreichte nie eine vergleichbare Popularität. Er verfasste im Auftrag des Kaisers eine sechsbändige lateinische Weltgeschichte, deren siebenter Band die Chronik Österreichs darstellen sollte. Diese Konzeption wurde allerdings nie verwirklicht. Da sein Auftraggeber sein Werk bei der Übergabe als zu langatmig ablehnte, wich er vom ursprünglichen Plan ab und konzipierte seine Chronica Austriae20 neu, so dass sie in ihrer endgültigen Form nicht nur die jüngere Geschichte Österreichs, sondern auch die frühere Weltgeschichte in kompakterer Form enthält und so ohne Kenntnis der übrigen Bände als eigenständiges Werk fungieren kann. Die Chronik von den 95 Herrschaften ist in weiten Teilen eine Prosaauflösung der Steirischen Reimchronik, die Ottokar aus der Gaal, der dem ritterlichen Niederadel entstammte, im frühen 14. Jahrhundert vollendete;21 Ebendorfer wiederum überträgt in Teilen die Chronik von den 95 Herrschaften ins Lateinische. Die Reimchronik besitzt grundsätzlich einen universalgeschichtlichen Ansatz, ihr Hauptaugenmerk liegt auf der Reichsgeschichte, doch innerhalb dieser liegt ein besonderer Schwerpunkt auf der Geschichte Österreichs und der I,4–I,7 Piccolomini demontiert vor allem die frühen Teile der Chronik von den 95 Herrschaften systematisch, hat aber für die österreichische Frühzeit auch keine besseren Quellen anzubieten. 19 Im Mittelalter und der Frühen Neuzeit wurde sie dagegen schlicht als »Österreichische Chronik« bezeichnet. 20 Thomas Ebendorfer : Chronica Austriae (MGH SS rer. Germ. N.S.13), Berlin/Zürich 1967. 21 Ottokar von Steiermark: Reimchronik (MGH Dt. Chroniken 5,1/5,2), Hannover 1890.
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Steiermark, wobei Aufstieg und Fall Ottokars II. von Böhmen den meisten Raum einnehmen. Der steirische Hintergrund des Autors Ottokar prägt die Beurteilung der behandelten Ereignisse entscheidend mit. Obwohl sie weniger direkte Verbreitung und Bekanntheit erlangte als viele Chroniken, die ihr ihren Kernbestand an Informationen verdanken, spielte sie doch aufgrund ihrer Rezeptionsgeschichte eine zentrale Rolle in der Historiographie der habsburgischen Erblande. Als eines der ersten umfangreichen deutschsprachigen Geschichtswerke war die Reimchronik für die spätmittelalterliche Historiographie aber nicht nur durch ihren Inhalt, sondern auch durch ihre Form und Methodik wegweisend. Sie ist von der höfischen Dichtung beeinflusst,22 in ihren Inhalten dabei stark um Faktentreue bemüht und ihren Quellen gegenüber durchaus kritisch. Die uns heute im Kontext eines historiographischen Werkes fremd erscheinende Reimform und die szenische Inszenierung von Geschichte, die sich in der Tradition der epischen Dichtung auf große und eindrucksvolle Ereignisse wie Turniere, Reden und Hochzeiten konzentriert, anhand derer geschichtliche Konfliktlinien aufgezeigt und verdichtet werden, bot der älteren Geschichtswissenschaft immer wieder Anlass zu massiver Kritik. Auch wenn diese Dialoge und Auftritte in dieser Form sicherlich nicht tatsächlich stattgefunden haben, ist der hohe historiographische Wert der Chronik davon jedoch ungeschmälert. Unter den Kärntner Geschichtsschreibern des Spätmittelalters ragt der Abt Johann von Viktring heraus, dessen Liber Certarum Historiarum23 in sechs Büchern Reichsgeschichte vom frühen 13. Jahrhundert bis in das Jahr 1343 berichtet. Ottokars Reimchronik war auch für ihn eine wichtige Quelle. Trotz der großen Bedeutung seines Werks, das auch von den bedeutendsten Vertretern der gelehrten Welt, wie Enea Silvio Piccolomini, rezipiert wurde, fand er keine unmittelbaren Nachfolger innerhalb Kärntens.24 Erst in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhundert lassen sich wieder Ansätze historiographischer Tätigkeit fassen, wobei insbesondere der Kärntner Landgeistliche Jakob Unrest hervorzuheben ist. Er verfasste drei Chroniken in deutscher Sprache, von denen eine, die um 1490 verfasste Kärntner Chronik,25 als 22 Vgl. zu den höfischen Einflüssen bei Ottokar : Harald Tersch: Unruhe im Weltbild. Darstellung und Deutung des zeitgenössischen Lebens in deutschsprachigen Weltchroniken des Mittelalters. Köln u. a. 1996, S. 280–282. 23 Johann von Viktring: Iohannis abbatis Victoriensis Liber certarum historiarum (MGH Script. rer. Germ. 36) Hannover, 1909–1910. 24 Zu seiner Bedeutung und Rezeption vgl. Wilhelm Neumann: Perspektiven zur Landesgeschichtsschreibung in Kärnten, in: Bausteine zur Geschichte Kärntens, hg. v. Dems., Klagenfurt 1985 (das Kärntner Landesarchiv 12), S. 435–442, hier S. 437–438. 25 Vgl. Unrest, Kärntner Chronik (s. Anm. 1). Neben Unrest existieren mit Johann Turs und Jakob Radhaupt noch zwei weitere Geschichtsschreiber, die wie er der mittleren Geistlichkeit entstammten, doch sind ihre Werke nur in Fragmenten erhalten. Gedruckt in: Siegfried Haider: Jakob Radhaupt als Geschichtsschreiber, in: Carinthia I 165 (1975), S. 47–67 sowie
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das erste Beispiel einer Kärntner Landesgeschichtsschreibung zu betrachten ist. Sein eher ländliches Umfeld ohne bekannte Bindungen zu einem Auftraggeber aus Adel oder Geistlichkeit heben Unrest von der Mehrheit der Chronisten seiner Zeit ab.26 Er stützt sich in der Kärntner Chronik massiv auf die Chronik von den 95 Herrschaften, für die Geschichte des Spätmittelalters ist er praktisch ausschließlich von ihr abhängig.27 Obwohl er dadurch indirekt viele Elemente der Steirischen Reimchronik übernimmt, war ihm diese selbst wohl nicht bekannt, genauso wenig wie die Chronik Ebendorfers oder Johann von Viktrings. Sie beginnt mit den Anfängen Kärntens, die für Unrest mit der Christianisierung des Landes gleichzusetzen sind, und endet mit dem Übergang der Herrschaft auf die Habsburger, wobei in einem Teil der Handschriften noch eine Liste der ausgestorbenen Adelsgeschlechter Kärntens angehängt ist, die sich in seinen Vorlagen nicht findet. Für die jüngere Geschichte verweist Unrest ausdrücklich auf seine Österreichische Chronik. Die Kärntner Chronik enthält insgesamt nur sehr wenig eigenen Text Unrests und wird dementsprechend in der Einleitung auch ausdrücklich als ein »Auszug aus etlichen Chroniken«28 bezeichnet. In der offensichtlich planvollen Zusammenstellung der Versatzstücke weist aber auch die Kärntner Chronik eine völlig eigenständige Konzeption auf. Obwohl in ihrem Umfang gering und auf einer dürftigen Quellengrundlage fußend, war sie die einzige von Unrests Chroniken, die weitere Verbreitung fand und wohl eine nicht unwesentliche Rolle für die Herausbildung eines von der Herrscherdynastie unabhängigen Kärntner Selbstbewusstseins einnahm.29
4.
Ottokars Steirische Reimchronik
Obwohl nicht ausdrücklich als Landesgeschichte angelegt, ist die steirische Perspektive der Reimchronik doch überaus präsent. Kärnten und Salzburg spielen darin nur eine Rolle, insofern sie für die Geschichte der Steiermark
26
27
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Siegfried Haider: Der Gurker Hofkappelan und ›Geschichtsschreiber‹ Johann Turs, in: Carinthia I 161 (1971), S. 231–248. Zu Unrests Lebensumständen und seiner sozialen Stellung vgl. Wilhelm Neumann: Jakob Unrest, Leben, Werk und Wirkung, in: Geschichtsschreibung und Geschichtsbewusstsein im späten Mittelalter (Vorträge und Forschungen, Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte 31), hg. v. Hans Patze, Sigmaringen 1987, S. 681–694. Zu Unrests Quellen für die Kärntner Chronik vgl. Jean-Marie Moeglin: Jakob Unrests Kärntner Chronik als Ausdruck regionaler Identität, in: Regionale Identität und soziale Gruppen im deutschen Mittelalter (Zeitschrift für historische Forschung, Beiheft 14), hg. v. Peter Moraw, Berlin 1992, S. 165–191. Unrest, Kärntner Chronik (s. Anm. 1), S. 479. Die zeitgenössische Wertschätzung kontrastiert in dieser Hinsicht mit der der modernen Geschichtswissenschaft, die die Kärntner Chronik unter Unrests Werken lange Zeit klar am niedrigsten einschätzte.
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relevant sind. Allerdings gab es in dieser Region im Spätmittelalter kaum größere Konflikte, die nicht auch das jeweilige Nachbarland mit einbezogen hätten. Die Geschichte Philipps ist in der Reimchronik in zahlreichen Einzelstücken weit über den Text verstreut, Ulrich wird gar meist nur am Rande erwähnt. Weder Philipp noch Ulrich werden im Text eingeführt; vielmehr wird die erste Erwähnung Philipps nahtlos wird in die Wirren nach dem Aussterben der Babenberger eingeordnet. Sie betrifft seine als unrechtmäßig dargestellte gewaltsame Besetzung des Ennstals 1250 im Rahmen seiner kriegerischen Ausweitung der Besitzungen Salzburgs. Dieser Akt wird schon deshalb verurteilt, weil König Wenzel von Böhmen,30 der Gegner in diesen Krieg, über die mütterliche Seite mit Philipp verwandt gewesen sei.31 Von Vornherein also ist die Darstellung Philipps vorbelastet. Darüber hinaus offenbart sich ein stark an Herrscherpersönlichkeiten und ihre Beziehungen untereinander gebundenes Geschichtsverständnis. Anlässlich der Hochzeit zwischen Ottokar II. und Margarethe, der Schwester des letzten Babenbergers im Jahr 1252, taucht Philipp wieder auf und wird zum ersten Mal wirklich vorgestellt: Die Chronik verweist auf seine Verweigerung der Priesterweihe und nimmt vorweg, dass er deswegen später in die Ungunst des Papstes geraten und vertrieben werden sollte, kündigt aber an, darauf später genauer einzugehen. In Form direkter Wechselrede wird schließlich der Abschluss des Bündnisses der beiden gegen Ungarn inszeniert.32 Herzog Ulrich III. wird anlässlich seiner zweiten Ehe zum ersten Mal genannt, wobei es in der entsprechenden Passage allerdings nicht hauptsächlich um ihn geht, sondern um seine Frau.33 Kurz wird sein kinderloser Tod und ihre anschließende Wiederverheiratung erwähnt.34 Beide Brüder werden also von vornherein aus einer zurückblickenden Perspektive eingeführt, der Leser weiß also schon von vornherein vom Ende ihrer Herrschaft, wodurch ein Eindruck der Schicksalhaftigkeit und Unvermeidlichkeit erzeugt wird. Auf die Schilderung des folgenden Krieges Ottokars mit Ungarn und verschiedener Italien betreffender Ereignisse folgt eine längere Philipp betreffende Passage, die sich um seinen siegreichen Kampf gegen die Görz-Tiroler 1252 dreht, die einen Handstreich auf Kärnten versucht hatten, woraufhin Philipp seinem Bruder zur Hilfe kam. Dabei wird das zuvor über Philipp nur Angedeutete in einen größeren Zusammenhang gestellt, zum ersten Mal ist von Ulrich Wenzel I. Prˇemysl (König von Böhmen ab 1230, gest.1253), Vater Ottokars II. Vgl. Ottokar, Reimchronik (s. Anm. 21), V. 1925–1967. Vgl. Ottokar, Reimchronik (s. Anm. 21), V. 2204–2293. Agnes von Baden-Österreich, (verheiratet mit Ulrich 1263–1269, gest. 1295), Tochter Markgraf Hermanns VI. von Baden und der Babenbergerin Herzogin Gertrud von Österreich. 34 Vgl. Ottokar, Reimchronik (s. Anm. 21), V. 2656–2669.
30 31 32 33
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und Philipp als Brüdern sowie ihrem Vater Bernhard die Rede, auch der Konflikt um das Ennstal klingt noch einmal an, als beide versuchen, gegen König Bela IV. von Ungarn Stimmung zu machen, der ihre Eroberungen in der Steiermark nicht anerkennen will. In einem Rückblick wird noch einmal auf Philipps Bischofswahl und einen päpstlichen Gegenkandidaten35 eingegangen, nach dessen Tod der Papst ihn erst anerkannt habe. Philipp erscheint insofern von vornherein nicht unumstritten. Nach der Schilderung des siegreichen Feldzuges wird noch einmal seine Weigerung, sich weihen zu lassen, thematisiert, wobei die Chronik andeutet, die römische Kurie habe Philipp ohnehin nur aufgrund von Bestechung so lange agieren lassen. Nun aber spricht der Papst ein Machtwort und fordert die Wahl eines Geistlichen für das Amt des Erzbischofs. Die Wahl des Domkapitels fällt auf Ulrich von Seckau, der sich zunächst sträubt und für unwürdig erachtet, ein häufiger Topos bei den ›Helden‹ mittelalterlicher Literatur. Als ihm auch die Unterstützung Ungarns zugesagt wird, macht er sich mit dem Domprobst Otto auf den Weg nach Rom. Philipp lässt nun endgültig jeden Anschein von Rechtschaffenheit fallen und rächt sich mit Übergriffen auf den Besitz des Domprobstes, doch reut es ihn, dass es ihm nicht gelungen ist, die Geistlichen vor ihrer Fahrt zu töten Als die Gesandten des Salzburger Domkapitels beim Papst eintreffen, werden sie dort zwar gnädig empfangen, doch gegen weitere Bestechungen setzt der Papst Philipp zwei Jahre Frist, was als Übel für das Gotteshaus bezeichnet wird. Erst die Übergriffe auf die Güter der Salzburger Domherren führen dazu, dass der Papst den Bischof Heinrich von Chiemsee dazu auffordert, Philipp vorzuladen, damit dieser sich für seine Taten verantworten solle. Dazu werden ihm die weltlichen Güter des Erzbistums Salzburg übertragen und Philipp für den Fall seines Widerstandes der Kirchenbann angedroht. All seine Gefolgsleute sollen ihres Gehorsams entbunden sein. Als Ulrich davon Nachricht erhält, sucht er das Bistum Chiemsee mit Raub und Brand heim.36 Mit seinen Untaten zieht er sich Hass und Furcht zu: »[..] darumb her Philip wart gehaz im und den Salzpurgaeren man seit, die dienstman wæren an im durch die vorhte, daz er si niht entworhte
35 Burkhard von Ziegenhain (gest. 1247), der Kanzler des Gegenkönigs Heinrich Raspe, der noch im Jahr der Wahl verstarb. Philipp wurde daraufhin als Prokurator der Salzburger Kirche bestätigt, 1249 von Papst Innozenz IV. zum ersten Mal als Erwählter bezeichnet. Vgl. Fräss-Ehrfeld, Geschichte Kärntens (s. Anm. 8), S. 316. 36 Vgl. Ottokar, Reimchronik (s. Anm. 21), V. 5214–5497.
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als von KimsÞ den bischolf. si forhten in als einen wolf.«37
Selbst seine Gefolgsleute gehorchen ihm nur aus Angst. 1256, das Datum wird genannt, erhält er die Nachricht vom Tod seines Vaters Bernhard. Auf die Nachricht von seinen Übergriffen hin weiht der Papst Ulrich von Seckau, doch Philipp antwortet nur mit neuer Gewalt. Er wird gebannt und der Großteil der Domherren flieht. Ulrich von Seckau wird bei seiner Rückkehr begeistert von den unterdrückten Geistlichen der Salzburger Diözese empfangen und begibt sich zum König von Ungarn.38 Nach einem Einschub, der sich damit befasst, warum sich der ungarische König zu dieser Zeit in der Steiermark befand, kehrt die Erzählung zur Ankunft Ulrichs bei Bela zurück. Ulrich bittet in einer neuerlichen Dialogszene ihn und seinen Sohn Stephan, dem dieser die Steiermark übertragen hatte, um Hilfe. Stephan sichert ihm Unterstützung gegen Philipp zu, doch muss ihm Ulrich das umstrittene Pettau verpfänden. Ausführlich werden sodann Ulrich von Seckaus Versuch, mit Waffengewalt nach Salzburg zurückzukehren und der Kampf mit den Kärntnern, die Philipp unter Herzog Ulrich zur Hilfe kommen, geschildert. Die Kärntner werden zunächst von Ulrichs steirischen Gefolgsleuten in die Flucht geschlagen, die aber in der Sorglosigkeit nach dem Sieg vom Gegenangriff der Kärntner überrumpelt und in die Steiermark zurückgetrieben werden. Philipps Herrschaft über Salzburg wird in der Folgezeit der Chronik zufolge zu einer wirklichen Schreckensherrschaft. Schließlich versucht Ulrich sich nach Salzburg durchzuschlagen und wird von Philipps Leuten gefangen.39 Die folgenden Teile befassen sich mit der Eroberung der Steiermark durch Ottokar von Böhmen und der Vertreibung der Ungarn, wobei Herzog Ulrich als Befehlshaber der Nachhut erwähnt wird.40 Insofern steht die nächste Philipp betreffende Episode unter gänzlich anderen Vorzeichen: hat Philipp seinen wichtigsten militärischen Rückhalt verloren; Ottokar besitzt nun die uneingeschränkte Vorherrschaft in der Region und veranlasst die Freilassung Ulrichs von Seckaus. Nachdem dieser gegen diejenigen vorgegangen ist, die trotz des verhängten Interdikts aus Furcht vor Philipp Gottesdienste abgehalten hatten, wird er vom Papst unter Banndrohung zur Zahlung seiner Schulden ermahnt und reist nach Rom um sich zu rechtfertigen. Ottokar versucht zwischen Ulrich und Philipp zu vermitteln und von letzterem die Rückerstattung der besetzten Salzburgischen Güter zu erreichen. Indessen sieht Herzog Heinrich von Bayern in der der päpstlichen Anordnung folgenden Besetzung salzburgischer Besit37 38 39 40
Ottokar, Reimchronik (s. Anm. 21), V. 5498–5504. Vgl. Ottokar, Reimchronik (s. Anm. 21), V. 5505–5585. Vgl. Ottokar, Reimchronik (s. Anm. 21), V. 5768–6226. Vgl. Ottokar, Reimchronik (s. Anm. 21), V. 7110.
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zungen in Bayern durch Ottokars Truppen ein Eindringen in sein Herzogtum und beginnt diese zu bekriegen. Da Ulrich von Seckau sich in seiner neuerlichen Bedrängnis nicht in der Lage sieht, seine Schulden beim Heiligen Stuhl zu bezahlen, resigniert er von seinem Amt.41 In der Darstellung der Reimchronik erscheint er als tragische Figur, die nicht nur wegen seines erbitterten Widersachers Philipp scheitert, der alle erdenklichen negativen Charakteristika eines Gewaltmenschen auf sich vereinigt, sondern auch aufgrund der Trägheit und Geldgier des Papstes und der Kardinäle, denen das Wohlergehen des Erzbistums weniger am Herzen liegt als ihr Profit. Nach der Schilderung des einigen vor allem Ottokar II. betreffenden Passagen kommt die Chronik auf den Tod des Patriarchen von Aquileia zu sprechen. Ottokar bietet Herzog Ulrich an, sich bei den Chorherren für dessen Bruder Philipp als Nachfolger einzusetzen. Nachdem der Herzog auf der Reise nach Aquileia stirbt, wird vom Domkapitel jedoch ein anderer Kandidat gewählt und vom Papst bestätigt. Unter Bruch des Erbvertrages zwischen Herzog Ulrich und Ottokar versucht Philipp nun stattdessen Kärnten und Krain zu erobern, doch gelingt es dem von Ottokar entsandten Bischof von Brünn, einen Großteil Kärntens auf seine Seite zu bringen.42 Nach einer eingeschobenen Passage über den Herrscherwechsel in Ungarn wird der Krieg geschildert: Weil der Bischof von Brünn zu ihm überläuft, kann Philipp sich im Land festsetzen. Diese Wendung wird in Form einer Befragung eines Boten aus Kärnten durch Ottokar geschildert. Doch ist sie nicht von Dauer : Das Heer, das Ottokar von Böhmen ursprünglich wegen eines drohenden Krieges mit Ungarn gesammelt hat, wird nun gegen Philipp geführt. Schier unaufhaltsam erobert Ottokar zunächst Krain, dann rückt er in Kärnten ein. Philipp trifft ihn zu Friedensverhandlungen und gibt all seine Ansprüche und Herrschaften auf.43 Das weitere Schicksal Philipps wird nicht berichtet, er verschwindet ohne Abschied oder abschließende Worte aus der Chronik. Der Erbvertrag mit Ulrich wird noch einmal bei Ottokars Verhandlungen mit dem im Auftrag von König Rudolf entsandten Burggrafen von Nürnberg thematisiert, die letztendlich zum Bruch zwischen beiden führen. Er dient hier Ottokar als Verteidigung gegen Rudolfs Auffassung, Kärnten als erledigtes Lehen aufzufassen.44 Die Rolle Philipps als Marionette der habsburgischen Interessen wird dabei allerdings nicht thematisiert. Noch einmal wird bei der Schilderung der Truppenaufgebote vor der Schlacht auf dem Marchfeld zu den Kärntnern gesagt, seit dem Tod Herzog Ulrichs hätten diese keinem mehr so treu gedient, da 41 42 43 44
Vgl. Ottokar, Reimchronik (s. Anm. 21), V. 8228–8528. Vgl. Ottokar, Reimchronik (s. Anm. 21), V. 10122–10214. Vgl. Ottokar, Reimchronik (s. Anm. 21), V. 10454–10700. Vgl. Ottokar, Reimchronik (s. Anm. 21), V. 13372–13289.
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sie, seit er als ihr Erbherr von ihnen gegangen sei, in Kummer und Fremdherrschaft geraten seien:45 »0f m%n w.rheit ich ez nim daz si mit solhen getursten nie gedienten dheinem fursten s%t herzog Uolrich erstarp, der daz umbe si erwarp, daz im ir dienest was bereit mit ganzer undertaenigkeit, wand er ir erbeherre was. manic man b% im genas, der s%t wart kummerhaft, di ze fremder hÞrschaft, gedÞch daz selbe lant, daz Kernden ist genant.46«
Hier zeigt sich deutlich eine Auffassung von der Verbundenheit eines Landes mit seiner rechtmäßigen Herrscherdynastie, die zu seinem Gedeihen notwendig ist. Der Kontrast zwischen den willig ihrem rechtmäßigen Herrn folgenden Kärntnern gegenüber den eingeschüchterten Dienstleuten Philipps ist prägnant. Ulrich scheint die Anforderungen des Chronisten an einen guten Landesherrn zu erfüllen, ohne dass dies durch das Anführen von Taten untermauert werden muss. Um in der Chronik Ottokar als unrechtmäßigen Gewaltherrscher zu kennzeichnen, muss ein positives Gegenbild entworfen werden. Da Philipp selbst, dessen Untaten das Ende der Spanheimer als moralisch gerechtfertigt erscheinen lassen, sich hierfür wenig eignet, bleibt zu diesem Zweck nur Ulrich. Dies entspricht der Gesamtdarstellung der letzten Spanheimer in der Chronik: Sie nehmen eine Schlüsselrolle ein, doch in erster Linie immer auf andere bezogen, insbesondere den Ottokar II., dessen Geschichte eng mit der ihren verflochten ist. Philipp erscheint in der Reimchronik insgesamt äußerst negativ, als ein Gewalttäter und Tyrann sowie als ein Unterdrücker der Geistlichkeit, ein exemplarisches Beispiel dafür, wie ein Geistlicher nicht sein soll. Der Großteil seiner Handlungen ist militärische Gewaltakte gekennzeichnet und erscheint egoistisch motiviert. Die gegen ihn erhobenen Vorwürfe fallen auch auf den Heiligen Stuhl zurück, der dadurch, dass er sein Wüten letztendlich ermöglicht, einen Teil der Mitverantwortung trägt. Ulrich dagegen bleibt insgesamt blass. Immerhin wird sein rechtmäßiger Anspruch auf Kärnten hervorgehoben und im Rückblick erscheint er durch die Haltung seiner Untergebenen und im Kontrast zu dem, was nach ihm kam, doch als eine positive Gestalt. Die Klage über das 45 Vgl. Ottokar, Reimchronik (s. Anm. 21), V. 15130–15144. 46 Ottokar, Reimchronik (s. Anm. 21), V. 15130–15142.
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Schicksal des Landes, die wohl in erster Linie auf Ottokar gemünzt sein dürfte, der als ›fremder‹ Herrscher dargestellt wird, wirft ein schlechtes Licht auf seine Nachfolger. Eine Verbundenheit der Brüder wird in ihrer gegenseitigen Unterstützung füreinander angedeutet und trotz ihrer so verschiedenen Beurteilung offenbar als selbstverständlich hingenommen.
5.
Die Chronik von den 95 Herrschaften
Im Gegensatz zur Steirischen Reimchronik ist der landesgeschichtliche Charakter der Chronik von den 95 Herrschaften ausgeprägter. Als Auftragsarbeit des Landesherren ist sie eindeutig von ihrem Ende her gedacht: Bereits die vorchristlichen Anfänge Österreichs stellen eine Hinführung zur Herrschaft der Habsburger als Ziel der Landesgeschichte dar.47 Dabei wird einerseits die Würdigkeit der Dynastie zum Herrschen herausgestrichen, andererseits die Altehrwürdigkeit des von ihnen beherrschten Landes. Während für frühere Teile Quellen wie Jans Enikels Fürstenbuch herangezogen werden oder sie auch gänzlich unbekannt sind wie im Falle der phantastischen jüdisch-heidnischen Vorgeschichte, folgen die späteren Teile fast ausschließlich der Reimchronik.48 Gegenüber der blumig ausgemalten Schilderung der Reimchronik wirkt die Schilderung allerdings nüchtern und schmucklos und ist im Umfang deutlich verknappt. Nicht nur sind die Reime völlig weggefallen und viele Einzelheiten insbesondere beschreibender und schmückender Natur sind weggelassen, auch wörtliche Rede findet sich nicht mehr. Die Ereignisfolge ist allerdings bis hin zu den Schauplatzwechseln in aller Regel gleich, selbst Teile die, wie der Bericht über den Fall von Akkon, nicht die österreichische Geschichte tangieren, werden nicht ausgelassen, sondern getreulich übernommen. Fast alle Erwähnungen der Spanheimerbrüder folgen der Reimchronik. Dabei fehlt in der Chronik von den 95 Herrschaften so gut wie keine der entsprechenden Passagen, auch wenn sie teilweise massiv gekürzt sind. Nur eine frühe Erwähnung Ulrichs von 1246 folgt nicht diesem Schema. Sie hebt sich durch die Beschreibung von dessen Wappen und Helmzier ab, wie Leopold auch Wien sie auch immer wieder für jede seiner ›Herrschaften‹ anführt.49 Wie in der Reimchronik wird mit dem Einfall Philipps ins Ennstal zum ersten Mal einer der Brüder erwähnt. In der Gliederung der die Chroniken strukturierenden Herrschaften steht diese Erwähnung zu Beginn der neunzigsten 47 Vgl. beispielsweise Leopold von Wien, Chronik von den 95 Herrschaften (s. Anm. 17), S. 126 die prophetische Ankündigung der habsburgischen Herrschaft. 48 Vgl. Sprandel: Chronisten als Zeitzeugen (s. Anm. 4), S. 129. 49 Vgl. Leopold von Wien, Chronik von den 95 Herrschaften (s. Anm. 17), S. 109.
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Herrschaft, der Herrschaft Ottokars. Im Unterschied zur Reimchronik wird König Wenzel von Böhmen hier nur als ein Freund Philipps, nicht als Verwandter bezeichnet.50 Der Kampf mit den Görz-Tirolern wird völlig ausgelassen, stattdessen geht die Chronik unter der eigenen Überschrift »Von dem bischtumb ze Salczburg«51 direkt zu der Schilderung von Philipps Wahl über, die insofern hier nicht mehr als Rückblick erscheint, sondern in eine knappe chronologische Schilderung seiner Zeit als erwählter Bischof von Salzburg eingeordnet wird. Die Schilderung ist massiv gekürzt: Vom Zögern des Papstes, seiner Fristsetzung und der Rolle des Bischofs von Chiemsee ist keine Rede. Entgegen der Reimchronik wird hier Ulrich von Seckau erst nach dem Eintreffen der Salzburger Gesandtschaft auf Empfehlung des Papstes gewählt, nicht umgekehrt. Der Text springt direkt zu seinem Hilfegesuch an den Ungarnkönig und zur Verpfändung von Pettau. Die Passage über die Kämpfe bei Radstadt und Ulrichs Gefangennahme ist ebenfalls sehr kurz, bringt aber die wesentlichen Ereignisse.52 Die Schilderung der Freilassung Ulrichs von Seckau und seiner Rückkehr nach Salzburg ist verkürzt, aber im Großen und Ganzen gleich.53 Auch die Darstellung der Bemühungen der Brüder um Aquileia und des letzten Kampfes Philipps um sein Kärntner Erbe unterscheiden sich inhaltlich nicht wesentlich.54 Tendenziell wird die kurze Passage allerdings noch stärker in die Geschichte Ottokars eingeordnet und auf diesen hin zugeschnitten. In der Chronik von den 95 Herrschaften manifestiert sich ein gänzlich anderes Verständnis von der Rolle der Geschichtsschreibung als in der Reimchronik. Der erzählende und szenische Charakter tritt deutlich in den Hintergrund. In ihrer verknappten und viel stärker gegliederten Form scheint sie viel eher auf praktische Verwendbarkeit angelegt, wozu die in regelmäßiger Form wiederkehrenden Strukturen beitragen. In ihrer ausgeprägten Strukturierung und den regelmäßig eingestreuten Überschriften nämlich erscheint sie teilweise geradezu wie ein Nachschlagewerk. Auch der wesentlich größere zeitliche Umfang, der immerhin mit der Zeit Noahs ansetzt, mag das Bedürfnis verstärkt haben, sich kurz zu fassen. Betrachtet man die Abhandlung über die letzten Spanheimer genauer, so klingt die in der Reimchronik exzessiv ausgemalte Gewaltherrschaft Philipps hier nur noch sehr am Rande an, seine zahllosen Missetaten, die die Reimchronik anführt, werden nur noch an einer Stelle stark pauschalisiert als 50 Vgl. Leopold von Wien, Chronik von den 95 Herrschaften (s. Anm. 17), S. 114. 51 Leopold von Wien, Chronik von den 95 Herrschaften (s. Anm. 17), S. 117, Z. 30. Solche Überschriften werden immer wieder eingeschoben, wo von anderen Schauplätzen als Österreich berichtet wird. 52 Vgl. Leopold von Wien, Chronik von den 95 Herrschaften (s. Anm. 17), S. 117. 53 Vgl. Leopold von Wien, Chronik von den 95 Herrschaften (s. Anm. 17), S. 121. 54 Vgl. Leopold von Wien, Chronik von den 95 Herrschaften (s. Anm. 17), S. 124.
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›viel Übles‹ angedeutet. Darüber hinaus fallen vor allem die massiven Auslassungen in Bezug auf den Heiligen Stuhl auf: Die deutlichen Vorwürfe in der Reimchronik gegen Papst und Kardinäle, vor allem finanzielle Interessen zu verfolgen, sind restlos weggefallen, genauso wie die Andeutungen von Bestechlichkeit. Die finanziellen Nöte Ulrichs von Seckau fallen ebenso unter den Tisch wie seine daraus resultierende Bevormundung und Bedrohung durch den Heiligen Stuhl. Mag auch ein Teil der Auslassungen mit dem stärker ausgeprägten Charakter der Chronik von den 95 Herrschaften als Österreichische Landeschronik zusammenhängen, die dazu neigt, Geschehnisse, die Österreich nicht direkt tangieren, zu verkürzen, so legt der doch von ihrer Tendenz her sehr einheitliche Charakter der Auslassungen, die meist eine antipäpstliche Tendenz aufweisen, doch auch die Vermutung nahe, dass sie durch den unterschiedlichen soziokulturellen Kontext des jeweiligen Autors bedingt sein könnten. Im Gegensatz zum vor allem der ritterlichen Lebenswelt verbundenen Ottokar war Leopold von Wien nämlich Geistlicher und mag als solcher papstfeindliche Tendenzen seiner Vorlage bewusst abgeschwächt haben. Als habsburgische Auftragsarbeit hätten die Chronik vielleicht Philipps Untaten thematisieren können, um den Übergang der Macht auf die Habsburger zu legitimieren, doch waren es nicht die Habsburger, die den Tyrannen stürzten und in dieser Hinsicht konnte sich Leopold auf die gegen Ottokar gerichteten Teile der Reimchronik stützen, die ihm einen reichen Fundus an Material boten. Dass er den Preis Ulrichs und in ihm des geborenen Herrschergeschlechts auslässt, ist aus dieser Perspektive heraus jedenfalls ohne weiteres verständlich, hätte sich hier doch ein unvorteilhafter Vergleich zur habsburgischen ›Fremdherrschaft‹ aufgedrängt.
6.
Jakob Unrests Kärntner Chronik
Unrests Arbeitsweise bei der Abfassung der Kärntner Chronik besteht zu einem großen Teil daraus, dass er aus Quellen, die sich eigentlich nicht primär mit Quellen befassen, die Kärnten betreffenden Teile extrahiert und zu einem flüssigen Gesamttext kombiniert. Auch verglichen mit den Ausgangsstoffen ist die Chronik daher nur kurz, denn beim Umgang mit den Vorlagen wird vieles ausgelassen oder komprimiert. Angesichts seines Anliegens, eine durchgehende Geschichte Kärntens von den Anfängen zur Gegenwart zu verfassen, ist es naheliegend, dass die Passagen in der Chronik von den 95 Herrschaften, die sich mit den letzten Spanheimern befassen, für ihn von größtem Interesse sind. Bereits in der Einleitung gibt er als seine Zielsetzung an: »Darum dem Adel zw Eren hab ich einen Auszug aus etlichen Cronicken entworffn auf das kurzist von dem Land Quarantein, nun Kernden genennt und von den alten
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Hertzogen des Landes, wie ir Regiment verwandelt sey, wie sy vergangen seyn, und zu welchn Zeittn das Land zw christlichm Gelaubn gekerrt hab«.55
Gerade die alten Herzöge und ihr Ende stehen also an erster Stelle in seiner Konzeption. Sein Problem ist jedoch, dass ihm seine Vorlagen über das von ihm genannte, für sein Anliegen so zentrale Geschlecht der geborenen Herzöge Kärntens nur sehr wenige Informationen liefern. Zwischen Unrests frühmittelalterlichen Quellen und den späteren Teilen, die zum allergrößten Teil der Chronik von den 95 Herrschaften entnommen sind, klafft eine Lücke, die er nur mit allgemein gehaltenen Formulierungen über die Größe des einstigen Herzogsgeschlechts zu füllen vermag. Indem er dieses Haus der geborenen Herzöge von Kärnten mit der ersten Einsetzung eines verbindet, der seiner Darstellung nach von den Bauern des Landes aus ihrer Mitte gewählt wird, werden zwei Formen der Legitimation miteinander verknüpft, die klassisch dynastische und das durch ihr Alter und ihre Ursprungsgeschichte geheiligte Zeremoniell der Wahl und Lehensübertragung durch die Bauernschaft.56 Da die Chronik von den 95 Herrschaften, die seine einzige Quelle für die fragliche Zeit darstellt, für diese Phase allerdings kaum etwas über Kärnten berichtet, konstatiert Unrest einfach, in keiner Schrift fände sich etwas über die Herrschaft der alten Herzöge von Kärnten, außer, dass sie tugendhaft geherrscht hätten, zu königlichen Ehren aufgestiegen seien, sich deshalb den Titel von Erzherzögen verdient hätten und dass die Herrscher von Ungarn, Böhmen und Österreich bevorzugt Frauen aus Kärnten geheiratet hätten.57 Indem er die Grafen von Görz als Abkömmlinge dieser Familie bezeichnet und mehrfach betont, diese seien eigentlich geborene Herzöge von Kärnten, kann er einige legendenhafte Informationen über deren Anfänge ebenfalls seiner Absicht unterordnen, vom Herzogshaus zu berichten.58 55 Unrest, Kärntner Chronik (s. Anm. 1), S. 479, Z. 6–14. 56 Vgl. zum Aufbau der Kärntner Chronik und Unrests Umgang mit seinen Vorlagen insbesondere Moeglin, Jakob Unrests Kärntner Chronik (s. Anm. 27), S. 165–191, sowie Peter Wiesflecker : Zur Adelsliste in Jakob Unrests Kärntner Chronik, in: Handschriften, Historiographie und Recht, Winfried Stelzer zum 60. Geburtstag, (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsband 42), hg. v. Gustav Pfeifer, Wien/ München 2002, S. 168–189. Unrest überträgt die Schilderung der Herzogeinsetzung Meinhards II, aus der Chronik von den 95 Herrschaften zurück auf die erste Herzogseinsetzung im 9. Jh., indem er geltend macht, die ursprünglichen slawischen Herzöge Kärntens seien durch Einfälle der Ungarn ausgerottet worden und um die Herrscherlosigkeit zu beenden, hätten die Bauern Kärntens einen aus ihrer eigenen Mitte zum Herzog gewählt. Auf diese Weise erklärt er das eigenartige und vieldiskutierte Einsetzungszeremoniell der Herzöge Kärntens und schafft zugleich eine legitimatorische Kontinuität über den Anspruch einzelner Dynastien hinaus. 57 Vgl. Unrest, Kärntner Chronik (s. Anm. 1), S. 491–492. 58 Vgl. Unrest, Kärntner Chronik (s. Anm. 1), S. 490–491. Seine Herausstellung der Görzer Ansprüche hat schon zu der Vermutung geführt, er habe Zugriff auf eine heute verlorene Chronik der Grafen von Görz gehabt. Vgl. Robert Eisler: Die Legende vom heiligen Ka-
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Dass er auch die Spanheimer Herzöge diesem alten Erzherzogsgeschlecht zurechnet wird erst nach dem Ende der durch Quellenarmut gekennzeichneten Zeitlücke deutlich, als er ankündigt, auf das Ende dieser Dynastie zu sprechen zu kommen: »Wie oder wan der yetz geschribn Hertzogn von Kernndtn Nam und Stam verganngn sey, und das Landt Kerndtn in annder Fursten Gewalt khomen sey, davon wil ich schreibn«.59 Mit diesen Worten kündigt sich nach dem Mittelteil, der keine durchgängige chronologische Abfolge bietet, die Wiederaufnahme einer durchgängigen Schilderung an, der ganze folgende Teil der Chronik steht somit gewissermaßen unter dieser Prämisse. Er leitet mit der Aussage ein, Herzog Bernhard habe nach seinem Tod die beiden Söhne Ulrich und Philipp hinterlassen und beginnt dann die Schilderung der Wahl Philipps, wobei er dem entsprechenden Abschnitt der Chronik der 95 Herrschaften folgt. Die Kürzung ist hier indes noch ausgeprägter : Selbst die Unterredung Ulrichs von Seckau mit dem Ungarnkönig wird ausgelassen. Vielmehr wird nach der recht allgemein gehaltenen Aussage, Philipp sei ein Feind des Bistums Salzburg geworden und habe diesem viel Übles getan, der Eindruck erweckt, Herzog Ulrich habe, um seinen Bruder zu helfen, Ulrich von Seckau in der Steiermark angegriffen, wobei dessen Zug gegen Salzburg keine Erwähnung findet. Die Schlachtschilderung wird hingegen in allen Einzelheiten übernommen, genau wie die Gefangennahme Ulrichs von Seckau. Beide Brüder werden in diesem Zusammenhang als Herzöge bezeichnet. Für das weitere Schicksal Ulrichs wird auf die »Österreichische Chronik« verwiesen, womit Unrest wohl Chronik von den 95 Herrschaften meinen dürfte. Die Rückkehr Ulrichs von Seckau nach Salzburg wird ebenfalls ausgelassen, es wird lediglich konstatiert, Philipp habe so das Bistum verloren und sei in Kärnten geblieben, bis Ottokar durch Heirat Herzog von Österreich und der Steiermark geworden sei. Anschließend wird der Erbvertrag zwischen Ulrich und Ottokar in aller Kürze geschildert, schließlich die Bewerbung Philipps um Aquileia, wobei der Einschub über den Herrscherwechsel in Ungarn und die daraus resultierende Kriegsgefahr zu einem einzigen Satz zusammengekürzt wird. Der letzte Konflikt Philipps um Kärnten wird wieder genau nach der Chronik von den 95 Herrschaften geschildert.60 Obwohl Philipps Tod nicht mehr erwähnt wird, beschließt Unrest den Abschnitt doch mit einem Resümee: »Also habn die loblichn gepornFurstn vonKerndtnEndt genomen, und an Erb vergangn, die doch vor erblich gewurtzt, geerbt und regiert habn im Lanndt zu Kerndtn
rantanerherzog Domitianus, in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 28 (1907), S. 82–83, sowie Wiesflecker, Adelsliste (s. Anm. 56), S. 186–187. 59 Unrest, Kärntner Chronik (s. Anm. 1), S. 492, Z. 26–29. 60 Vgl. Unrest, Kärntner Chronik (s. Anm. 1), S. 492–494.
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vier hundert ain und achtzig Jar mit Furstlichn Ern, und Tugenden, Got der erfrew Sew mit ewign Lebn im Hymlreich.«61
Noch zwei kurze Erwähnungen folgen, zum einen die Eroberungen »Herzogs« Philipp in der Steiermark,62 die in den Kontext der Anfänge Ottokars eingeordnet werden, zum anderen wie in der Chronik von den 95 Herrschaften die kurze Erwähnung von Ulrichs Hochzeit.63 In Unrests Schilderung hat der hier im Fokus stehende Stoff seine größte Verknappung erfahren. Zugleich wird er zum ersten Mal als eine Einheit präsentiert und erhält mit Unrests abschließendem Resümee eine eigene Sinngebung. Während in den anderen hier behandelten Beispielen die die Spanheimer betreffenden Episoden lediglich in Hinblick auf andere, zentrale Handlungsstränge Beachtung finden und auch so angeordnet sind, wird ihnen hier erstmals eine eigene geschichtliche Bedeutung zugeschrieben. Die Ansetzung der Spanheimer-Herrschaft auf 480 Jahre verdeutlicht zudem erneut ihre Gleichsetzung mit dem gewissermaßen ›ewigen‹ Geschlecht der ›geborenen‹ Herzöge von Kärnten, das Kärnten Unrests Auffassung nach von seinen Anfängen her beherrscht hat. Hier lässt sich eine Parallele zum lobenden Nachtrag über den ›geborenen‹ Herzog Ulrich in der Reimchronik ziehen, der Unrest aber sicherlich unbekannt war, da er in der Chronik von den 95 Herrschaften weggefallen ist. Er dient dort auch eher der Diskreditierung Ottokars, nicht, wie bei Unrest, der Erhöhung des Herzogsgeschlechts an sich. Unrests ähnliche Beurteilung der Spanheimer entspringt also gänzlich anderen Motiven und ist nicht in seinen Quellen begründet. Im Vergleich zur Lobpreisung dieses Herrschergeschlechts fällt auch das negative Urteil über Philipp, das allerdings bereits in der Chronik von den 95 Herrschaften zur Randnotiz geschrumpft war, kaum mehr ins Gewicht. Von den hier behandelten Chronisten verfügte Unrest über die in Anbetracht seiner Zielsetzung mit Abstand unzureichendste Informationslage. Durch die verdichtete und zielgerichtete Komposition gelang es ihm aber offenkundig dennoch, ein in seinem Sinne wirkmächtiges Geschichtswerk zu schaffen, was sich an der Popularität und Akzeptanz der Chronik als der Kärntner Chronik schlechthin in der Folgezeit deutlich zeigt.
7.
Resümee
Obwohl unser exemplarischer Einblick in die Verflechtungen der Chronistik der habsburgischen Erblande notwendigerweise punktuell bleiben muss, konnte 61 Unrest, Kärntner Chronik (s. Anm. 1), S .495, Z.1–5. 62 Unrest, Kärntner Chronik (s. Anm. 1), S. 497. 63 Vgl. Unrest, Kärntner Chronik (s. Anm. 1), S. 498.
300
Jonas Sellin
doch gezeigt werden, dass Informationstransfer und Intertextualität in Chroniken des Mittelalters und der Frühen Neuzeit eine wichtige, vermutlich bestimmende Rolle spielen. Die Darstellungen des behandelten SpanheimerStoffes sind nahezu vollständig voneinander abhängig. Trotz ihrer inhaltlichen Übereinstimmung könnten die entsprechenden Teile der Chroniken jedoch in Form und Ausgestaltung unterschiedlicher nicht sein. Die episch-erzählende Reimchronik brilliert im Zeichnen von Charakteren und Szenen, die Chronik von den 95 Herrschaften überzeugt durch Klarheit und Übersichtlichkeit, Unrests Kärntner Chronik schließlich durch ihre Dichte und Zielgerichtetheit. Die Traditionen, die das Haus der Spanheimer umgaben, stellten für die Autoren, die nach ihrem Ende schrieben, eine Herausforderung dar. Die Reimchronik begegnet diesem in der geschickten Doppelung, indem die Legitimität Ulrichs betont wird, um seinen Nachfolger Ottokar zu deskreditieren, während zugleich durch die Illegitimität Philipps das Ende der Dynastie gerechtfertigt wird. Die Chronik von den 95 Herrschaften weiß mit diesem Komplex dagegen nicht umzugehen. Als notwendiger Baustein auf dem Weg zur Habsburgerherrschaft kann sie die Brüder nicht völlig verschweigen, doch wird ihr Part auf ein Minimum reduziert. Kreativer geht Unrest mit dem geringen ihm verbliebenen Wissen um, indem er eine neue Deutung vornimmt, die die alten Legitimationsmuster der Spanheimer nicht nur für die neue Dynastie der Habsburger in Anspruch nimmt, sondern insbesondere für ein Land Kärnten, dass jenseits von Herrscher und Dynastie existiert. In der Reimchronik sind die beiden Spanheimerbrüder vor allem wegen der zahlreichen Verflechtungen ihres Schicksals mit der Geschichte der Steiermark von Bedeutung. Philipp ist hier ein wichtiger Akteur. In der Chronik von den 95 Herrschaften wird er stärker marginalisiert, seine Relevanz besteht nur noch als Vorgeschichte für die Herrschaft der Habsburger, auf die die Chronik hinausläuft. Für Unrest schließlich stellen die letzten Spanheimer einen zentralen Angelpunkt seiner Gesamtargumentation dar, doch besitzt er eigentlich nicht mehr die Quellen und das Wissen, die von ihm behauptete immense Bedeutung dieses Komplexes mit Inhalten zu unterfüttern und dem von ihm behaupteten Anspruch Geltung zu verschaffen. Dennoch gelingt ihm dies mit kompositorischen Mitteln: Allein durch die Zusammenstellung und Ausdeutung der vorhandenen Textbausteine verschafft er seinem Stoff eine neue Interpretation, die für Jahrzehnte die öffentliche Wahrnehmung prägen sollte. Zumindest in einem beschränkten räumlichen zeitlichen und kulturellen Rahmen vermochte seine Chronik eine Deutungshoheit zu erlangen und zu behaupten. Während Unrests Wissen über die behandelten Ereignisse im Vergleich am Geringsten ist, erfahren sie ihm einen Höhepunkt ihrer bedeutungsträchtigen Aufladung.
Ronny Kaiser
Certe non defuissent, qui eum admonerent. Die Sermocinationes in Lorenzo Vallas Schrift gegen die Konstantinische Schenkung (1440)
1.
Einleitende Bemerkungen Et tu vis Constantinum regnum Deo donasse, quod ab illo non accepisset? Qui presertim […] offenderet filios, deprimeret amicos, negligeret suos, lederet patriam, merore omnes afficeret, sui quoque oblivisceretur. Qui si etiam talis fuisset et quasi in alium hominem versus, certe non defuissent, qui eum admonerent, et imprimis filii, propinqui, amici. Quos quis est, qui non putet protinus imperatorem fuisse adituros?1
Für die Frage nach der Zirkularität und Stabilität von kulturellem Wissen2 sind v. a. die Strategien seiner Autorisierung von großer Bedeutung, die den jeweili1 Lorenzo Valla: De falso credita et ementita Constantini Donatio, hg. v. Wolfram Setz, Weimar 1976 (Monumenta Germaniae Historica 10), S. 68, IV. 12–V. 13: »Und du möchtest, dass Konstantin sein Reich Gott geschenkt hat, obwohl er es von jenem nicht empfangen hatte? Damit hätte er wohl besonders […] seine Söhne vor den Kopf gestoßen, seine Freunde herabgesetzt, seine Anhänger vernachlässigt, seinem Vaterland Schaden zugefügt, alle in Trauer gestürzt und seiner selbst sogar vergessen. Wenn er solcher Art gewesen wäre und sich sozusagen zu einer ganz anderen Person verändert hätte, dann hätte es ganz gewiss nicht an solchen gefehlt, die ihn ermahnt hätten, besonders seine Söhne, seine Anhänger und Freunde. Wen gibt es, der nicht glauben könnte, dass diese auf der Stelle an den Kaiser herangetreten wären?« 2 Zum ›kulturellem Wissen‹ vgl. insbesondere die Einführung des vorliegenden Bandes. Das Konzept beruht wesentlich auf Michael Titzmann: Strukturale Textanalyse. Theorie und Praxis der Interpretation, München 1977, S. 263–329, der es dann später weiter ausgearbeitet hat. Vgl. auch ders.: Kulturelles Wissen – Diskurs – Denksystem. Zu einigen Grundbegriffen der Literaturgeschichtsschreibung, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 99 (1989), S. 47–61; Karl Richter/Jörg Schönert/Michael Titzmann: Literatur – Wissen – Wissenschaft, in: Die Literatur und die Wissenschaften. 1770–1930. Walter Müller-Seidel zum 75. Geburtstag, hg. v. dens., Stuttgart 1997, S. 9–36; Michael Titzmann: Propositionale Analyse – kulturelles Wissen – Interpretation, in: Medien und Kommunikation. Eine interdisziplinäre Einführung, hg. v. Hans Krah/ Michael Titzmann, Passau 2013, S. 87–114. Eine wenngleich etwas schematische Fallstudie liegt vor in Michael Titzmann: Literarische Strukturen und kulturelles Wissen: Das Beispiel inzestuöser Situationen in der Erzählliteratur der Goethezeit und ihrer Funktionen im Denksystem der Epoche, in: Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920. Vorträge zu einem interdisziplinären Kolloquium,
302
Ronny Kaiser
gen Geltungsansprüchen zugrunde liegen. Gerade in Prozessen, in denen kulturelles Wissen infrage gestellt und destabilisiert wird, stehen sie auf dem Prüfstand und werden dabei gezielt unterlaufen, um so die jeweiligen Wissensformationen aufzubrechen und für ungültig zu erklären. An ihre Stelle treten neue, ihnen entgegengesetzte Autorisierungsstrategien, die nicht nur Ausdruck zeitgenössischer Diskursregeln und damit selbst Teil eines kulturellen Wissens sind, sondern auch und besonders die jeweiligen Geltungsansprüche der Infragestellung selbst fundieren. Diese neuen Autorisierungsstrategien zielen daher nicht nur auf die grundsätzliche Infragestellung einer bestimmten Wissensformation ab, indem sie ihr den Anspruch auf Geltung gezielt entziehen, sondern sie sind zugleich auch darauf angewiesen, die eigene Position diskursiv und argumentativ zu festigen. Gerade hier setzt das oben angeführte Zitat aus Lorenzo Vallas (1407–1457) Schrift gegen die Konstantinische Schenkung (1440) an,3 das dezidiert nach den historischen Konsequenzen der vermeintlichen Schenkung fragt. Valla wendet sich hier gegen den namentlich unbekannten Fälscher des Constitutum Constantini, also jenes Schriftstücks, auf dem die Konstantinische Schenkung im Wesentlichen beruht,4 und führt ihm im Modus der Fiktion und des KontraHamburg, 10.–12. April 1985, hg. v. Jörg Schönert/Konstantin Imm/Joachim Linder, Tübingen 1991 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 37), S. 229–281. 3 Zu Vallas Fälschungskritik sind unzählige Forschungsbeiträge erschienen. Exemeplarisch sei hier deshalb nur auf einige sehr wichtige verwiesen: Wolfram Setz: Lorenzo Vallas Schrift gegen die Konstantinische Schenkung. De falso credita et ementita Constantini donatione. Zur Interpretation und Wirkungsgeschichte, Tübingen 1975; ders.: Einleitung (s. Anm. 1), S. 7–54; Salvatore I. Camporeale: Lorenzo Valla’s Oratio on the Pseudo-Donation of Constantine. Dissent and Innovation in Early Renaissance Humanism, in: Journal of the History of Ideas 57 (1996), S. 9–26; ders.: Rhetoric, Freedom, and the Crisis of Christian Tradition. Valla’s ›Oratio‹ on the Pseudo Donation of Constantine (1440), in: Innovation and Tradition. Essays on Renaissance Art and Culture, hg. v. Dag T. Andersson/Roy Eriksen, Roma 2000, 17–25; Salvatore I. Camporeale: Lorenzo Valla and the De falso credita donatione. Rhetoric, Freedom, and Ecclesiology in the Fifteenth Century, in: Christianity, Latinity, and Culture. Two Studies on Lorenzo Valla, hg. v. Patrick Baker/Christopher S. Celenza, Leiden/Bosten 2014, S. 17–143. 4 Das Constitutum Constantini, das vorgibt, die Kopie einer an Papst Silvester I. (314–335) gerichteten Urkunde Konstantin des Großen (270–337) aus Jahren 315/317 zu sein, und wahrscheinlich eine Fälschung aus der zweiten Hälfte des achten oder ersten Hälfte des neunten Jahrhunderts ist, besteht aus zwei häufig getrennt überlieferten Teilen: der confessio, als dem Glaubensbekenntnis des frisch getauften Konstantins, und der donatio, durch die Konstantin dem Papst und der römischen Kirche die unbestrittene geistliche Hoheit zuweist und die herrschaftspolitische Gewalt über Rom, Italien und den Westen des römischen Reiches überträgt. Die Edition des Constitutum Constantini liegt vor in: Das Constitutum Constantini (Konstantinische Schenkung), hg. v. Horst Fuhrmann, Hannover 1968 (Fontes Iuris Germanici Antiqui in Usum Scholarum ex Monumentis Germaniae Historicis separatim editi X). Zur Überlieferungsgeschichte des Constitutum Constantini vgl. knapp Horst Fuhrmann: Constitutum Constantini, in: Theologische Realenzyklopädie 8 (1987), S. 196–202, hier: S. 197, und ausführlicher ders.: Konstantinische Schenkung und abendländisches Kai-
Certe non defuissent, qui eum admonerent
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faktualen eindrücklich vor Augen, zu welchen unmittelbaren und notwendigen Ergebnissen die Schenkung hätte führen müssen. Nicht nur das persönliche Umfeld Konstantin des Großen, auch sein Vaterland und seine eigene Person wären durch eine solche Handlung erheblich diskreditiert worden – schlicht alle wären von Trauer erfüllt gewesen (merore omnes afficeret). In pointierter Prägnanz steigert sich Valla bis zu der als sicher gekennzeichneten Annahme, dass die Schenkung ganz bestimmte Leute auf den Plan gerufen hätte, die es sich nicht hätten nehmen lassen, Konstantin entsprechend zurechtzuweisen (certe non defuissent, qui eum admonerent): Gerade der Umstand, dass es zu einer solchen Reaktion ganz offensichtlich eben nicht gekommen ist, weist die Schenkung schon unter historischen Gesichtspunkten als klare Fälschung aus. Doch mit einer solch kurzen Absage begnügt sich Valla in seiner Schrift bekanntermaßen nicht. Vielmehr führt er die hier nur angerissene kontrafaktische Annahme im Folgenden detailliert aus, indem er drei Sermocinationes, also fiktive Reden, die in dieser Form niemals gehalten wurden, anführt, die sich in ihrer inhaltlichen und rhetorischen Intensität stetig steigern. Sie führen dem Leser der Schrift die insbesondere unter historischen Gesichtspunkten defizitäre Plausibilität der Konstantinischen Schenkung vor Augen und rütteln so gehörig an ihren innersten Grundfesten. Zugleich liefern die Sermocinationes aber auch einen Einblick in Vallas Verständnis von den politischen und herrschaftlichen Strukturen und Mechanismen der römischen Spätantike, das sich grundlegend von den historischen Prämissen des Constitutum Constantini unterscheidet, und bilden so die insbesondere unter historischen Gesichtspunkten argumentative Grundlage seiner Ausführungen gegen die Konstantinische Schenkung. Ausgehend von Vallas kontrafaktischer Annahme, dass es im Fall einer Schenkung tatsächlich entsprechende Personen gegeben hätte, die sich an Konstantin gewendet und ihm ins Gewissen geredet hätten, geht der Artikel der Frage nach, inwiefern die drei Sermocinationes, die in der bisherigen Forschung nur unzureichend beleuchtet wurden,5 dem Constitutum Constantini den grundlegenden Anspruch auf historische Plausibilität entziehen und welches Antikebild sie dabei entwickeln. In einem größeren Zusammenhang beleuchtet der Artikel die Sermocinationes also als rhetorische Strategien, die die grundsertum. Ein Beitrag zur Überlieferungsgeschichte des Constitutum Constantini, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 22 (1966), S. 63–178. 5 Vgl. Setz, Lorenzo Vallas Schrift (s. Anm. 3), S. 37–39; Andreas Kablitz: Lorenzo Vallas Konzept der Geschichte und der Fall der Konstantinischen Schenkung. Zur ›Modernität‹ von De falso credita et ementita Constantini donatione, in: Historicization = Historisierung, hg. v. Glenn Most, Göttingen 2001 (Aporemata 5), S. 45–67, v. a. S. 54–67; Ronny Kaiser: Antikebild und Selbstinszenierung als Parameter humanistischer Fälschungskritik. Die Konstantinische Schenkung bei Nikolaus von Kues und Lorenzo Valla, in: Verleugnete Rezeptionen. Fälschungen antiker Texte, hg. v. Wolfgang Kofler/Anna Novokhatko, Freiburg i. B. 2015 (Pontes 7), S. 245–257, v. a. S. 252–255.
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Ronny Kaiser
sätzlichen Geltungsansprüche des tradierten kulturellen Wissens, das mit der Konstantinischen Schenkung unmittelbar verknüpft ist, prekär werden lassen. Dazu wird Vallas Schrift zunächst in aller Kürze biographisch und wissenschaftshistorisch eingeordnet. In einem zweiten Schritt rücken dann die drei Sermocinationes selbst in den Fokus und werden dahingehend befragt, auf welche Weise sie das dem Constitutum Constantini zugrundeliegende historische Wissen kritisch hinterfragen und so demontieren.
2.
Biographische und wissenschaftshistorische Einordnung von Vallas Schrift gegen die Konstantinische Schenkung
Lorenzo Valla gehörte von 1435 bis 1448 als consiliarius, secretarius und familiaris des Königs Alfonso V. (1396–1458) auch zu dessen Humanistenkreis.6 In diesen Jahren, die zur literarisch produktivsten Zeit seines Lebens gehörten,7 wurde er zum poeta laureatus gekrönt und verfasste seine Schrift gegen die Konstantinische Schenkung, die sich dem Leser im Gewand einer oratio präsentiert.8 Zur Frage der causa scribendi äußert er sich darin nicht, auch nicht in seinen anderen Schriften und Briefen.9 Wahrscheinlich aber stellte die auf dem von 1438–1445 in Florenz tagenden Konzil von Basel-Ferrara-Florenz (1431– 1445) entbrannte Diskussion über den päpstlichen Primat, in der höchste kirchliche Würdenträger die Konstantinische Schenkung »ohne Bedenken zur Stütze theologischer Argumentation«10 heranzogen, eine entscheidende Motivation dar.11 In politischer Hinsicht jedenfalls spielte die Schenkung längst keine Rolle mehr.12 Eine entsprechende Inanspruchnahme der Schrift Vallas durch 6 Einen knappen biographischen Überblick zu Valla bieten Setz, Einleitung (s. Anm. 1), S. 7–10 und Ders., Lorenzo Vallas Schrift (s. Anm. 3), S. 1–5. 7 Vgl. Setz, Lorenzo Vallas Schrift (s. Anm. 3), S. 3: In dieser Zeit verfasst er seine Dialectica, seine Schriften De libero arbitrio und De professione religiosorum sowie seine Gesta Ferdinandi regis Aragonum. Zudem arbeite er seine Elegantiae weiter aus und überarbeitete seine Schrift De voluptate. Auch beschäftigte er sich mit textkritischen Arbeiten zu Livius, Sallust und Quintilian und übersetzte Homers Ilias, Äsop und Xenophons Kyropaideia ins Lateinische. 8 Vgl. bspw. Valla, Donatio (s. Anm. 1), III. 7, S. 62: Atque quod ad primam partem attinet – loquemur autem de Constantino prius, deinde de Silvestro –, non est committendum, ut publicam et quasi Cesaream causam non maiore, quam private solent, ore agamus. Itaque quasi in contione regum ac principum orans – ut certe facio, nam mea hec oratio in manus eorum ventura est – libet tanquam presentes et in conspectu positos alloqui. Zur Frage der Abfassungszeit seiner Schrift vgl. Setz, Einleitung (s. Anm. 1), S. 10–12. 9 Vgl. Setz, Lorenzo Vallas Schrift (s. Anm. 3), S. 13. 10 Setz, Lorenzo Vallas Schrift (s. Anm. 3), S. 13. 11 Ausführlicher dazu Setz, Lorenzo Vallas Schrift (s. Anm. 3), S. 75–78. 12 Vgl. Setz, Lorenzo Vallas Schrift (s. Anm. 3), S. 100.
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Alfonso war bei ihrer Abfassung deshalb wohl nicht intendiert. Wahrscheinlich ist das Verhältnis von Konziliaristen und päpstlichem Suprematsanspruch für die Frage nach der Wirkungsabsicht der Schrift von größerer Bedeutung.13 Doch Valla war nicht der erste, der sich der Konstantinischen Schenkung gegenüber kritisch äußerte. Bereits im hohen Mittelalter finden sich zahlreiche Belege dafür, dass sie nicht vorbehaltlos akzeptiert, sondern immer wieder infrage gestellt wurde – ohne dabei allerdings auch der Fälschung bezichtigt zu werden.14 Ein erstes, wenn auch sehr vorsichtig formuliertes Fälschungsverdikt spricht Nikolaus von Kues (1401–1464) im dritten Buch seiner Schrift De Concordantia Catholica (1433) aus, die – ihrem Titel entsprechend – einen grundsätzlich versöhnlichen Tenor besitzt.15 Anhand spätantiker Texte, die von Konstantin berichten, weist er dabei nach, dass das Constitutum Constantini nicht Teil dieser spätantiken Überlierferung ist und es sich deshalb um eine Fälschung handeln muss.16 Vor dem Hintergrund des kirchlichen Einheitsgedanks, der 13 Vgl. Setz, Lorenzo Vallas Schrift (s. Anm. 3), S. 100. 14 Die Konstantinische Schenkung wurde im 11. und 12. Jahrhundert sowohl im Zuge des Investiturstreits gegenüber weltlichen Herrschaftsträgern instrumentalisiert als auch dazu herangezogen, um den päpstlichen Primat Roms gegenüber Byzanz zu formulieren. Aufschlussreich für ihre mittelalterliche Wirkungsgeschichte ist dabei auch, dass sie auch von kirchlichen Würdenträgern und Theologen selbst kritisch rezipiert und in ihren Geltungsansprüchen infrage gestellt wurde: so etwa von Papst Innozenz IV. (1195–1254), von Augustinus von Ancona (1243–1328), Marsilius von Padua (1270/1295–1342/1343) und Wilhelm von Ockham (1288–1347). Zudem wurde das Constitutum Constantini bereits im 12. Jahrhundert im Kreis Arnolds von Brescia (1090–1155) als »Dokument des Antichrist« (Fuhrmann, Constitutum Constantini [s. Anm. 4], S. 200) verstanden. Auch wenn in diesem Zuge bereits auf historische Unstimmigkeiten innerhalb des Constitutum Constantini hingewiesen wurde, geriet die Schenkung selbst vor Nikolaus von Kues, Lorenzo Valla und Reginald Pecock nie »ins Zwielicht des Fälschungsverdachts« (Jürgen Miethke: Die »Konstantinische Schenkung« in der mittelalterlichen Diskussion. Ausgewählte Kapitel einer verschlungenen Rezeptionsgeschichte, in: Konstantin der Grosse. Das Bild des Kaisers im Wandel der Zeiten, hg. v. Andreas Goltz/Heinrich Schlange-Schöningen, Köln 2008, S. 35–108, hier : S. 70). 15 Zur Biographie von Nikolaus von Kues sei nur exemplarisch verwiesen auf Anton Lübke: Nikolaus von Kues. Kirchenfürst zwischen Mittelalter und Neuzeit, München 1968; Erich Meuthen: Nikolaus von Kues 1401–1464. Skizze einer Biographie, Münster 71992. Zu seinem Leben und Wirken vgl. insbes. Nikolaus von Kues Bischof von Brixen 1450–1464. Gesammelte Aufsätze, hg. v. Hermann Josef Hallauer/Erich Meuthen, Bozen 2002. Zur Konzeption und biographischen Einbettung der Schrift vgl. Paul E. Sigmund: Introduction, in: Nicholas of Cusa: The Catholic Concordance, hg. und übers. v. Paul E. Sigmund, Cambridge 1995, xi–xxxix. Grundlegend zur Wirkungsabsicht von De Concordantio Catholica vgl. Hermann Josef Sieben: Der Konzilstraktat des Nikolaus von Kues. »De concordantia catholica«, in: Annuarium Historiae Conciliorum 14 (1982), S. 171–226. 16 Vgl. Gerhard Kallen: Nicolai De Cusa De Concordantia Catholica libri tres, Hamburg 1963, lib. III, Cap. 2 (295–312), S. 329–337. Ausführlicher zu Nikolaus von Kues’ Kritik am Constiutum Constanti und damit zusammenhängend an der Konstantinischen Schenkung vgl. Setz, Lorenzo Vallas Schrift (s. Anm. 3), S. 25–32 und Kaiser, Antikebild und Selbstinszenierung (s. Anm. 5), S. 248–251.
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diese Schrift maßgeblich prägt, verwundert es allerdings nicht, dass dieses Fälschungsverdikt keineswegs polemisch ausfällt.17 Nachdem Valla 1440 seine recht detaillierte und im Gegensatz zu Nikolaus von Kues wenig versöhnliche Kritik am Constitutum Constantini geübt hatte, wies auch der englische Priester und Scholastiker Reginald Pecock (1395–1461) in seiner Schrift The repressor of over much blaming of the clergy (1449) die Konstantinische Schenkung als Fälschung zurück, um so allerdings gerade die päpstliche Autorität zu stärken.18 In der Rezeptionsgeschichte der Konstantinischen Schenkung nimmt Lorenzos Vallas Kritik eine exzeptionelle Stellung ein, da sie die lateinische Fassung des Constitutum Constantini, aus dem die Geltungsansprüche der Konstantinischen Schenkung bis dahin maßgeblich abgeleitet wurden, endgültig unbrauchbar machte. Nachdem seine Schrift zwischen 1518 und 1520 gleich zweimal von Ulrich von Hutten (1488–1523) ediert und so in den deutschen Reformationsdiskurs eingespeist worden war,19 wurden deshalb neue Strategien zur Rehabilitierung der Autorität der Konstantinischen Schenkung erforderlich. Als die wohl wirkmächtigste Strategie erwies sich dabei das von Bartolomeo Pincerno vorgebrachte Argument, dass nicht das lateinische Constitutum Constantini, sondern seine griechische Version das eigentlich originale Schriftstück sei, das von der Konstantinischen Schenkung berichte.20 Diesen Ansatz entwickelte unter anderen Augustinus Steuchus (1497–1548) weiter, der, um Vallas Kritik zu entschärfen und die Schenkung zumindest wahrscheinlich zu machen, in seinen Contra Laurentium Vallam de falsa donatione Constantini libri duo21 17 Zum kirchlichen Einheitsgedanken dieser Schrift vgl. Jürgen Miethke: Die Einheit der Kirche in der »Concordantia Catholica« des Nikolaus von Kues, in: Platonismus im Orient und Okzident. Neuplatonische Denkstrukturen im Judentum, Christentum und Islam, hg. v. Raif Georges Khoury/Jens Halfwassen, Heidelberg 2005, 201–213; Anton Gerard Weiler : Nicholas of Cusa on Harmony, Concordance, Consensus and Acceptance as Categories of Reform in the Church in ›de Concordantia Catholica‹, in: Conflict and Reconciliation. Perspectives on Nicolas of Cusa, hg. v. Iñigo Kristien Marcel Bocken, Leiden 2004, S. 77–90. 18 Zu Pecocks kirchlichem Werdegang vgl. Vivian Hubert Howard Green: Bishop Reginald Pecock, Cambridge 1945. Zu seiner Kritik am Constitutum Constantini vgl. Setz, Lorenzo Vallas Schrift (s. Anm. 3), S. 32–34. Einen Vergleich mit Valla bietet Joseph M. Levine: Reginald Pecock and Lorenzo Valla on the Donation of Constantine, in: Studies in the Renaissance 20 (1973), S. 118–143. 19 Zu diesen beiden von Ulrich von Hutten vorgelegten Editionen vgl. Setz, Lorenzo Vallas Schrift (s. Anm. 3), S. 151–166. Zur Überlieferungs- und Editionsgeschichte von Vallas Schrift vgl. Setz, Lorenzo Vallas Schrift (s. Anm. 3), S. 90–97. 20 Vgl. Fuhrmann, Konstantinische Schenkung und abendländisches Kaisertum (s. Anm. 4), S. 83. Bartolomeo Pincerno übersetzt die griechische Version ins Lateinische, um Valla zu widerlegen und zu zeigen, dass die Konstantinische Schenkung als historisches Ereignis nicht vom lateinischen Constitutum Constantini anhängig sei (vgl. Fuhrmann, Konstantinische Schenkung und abendländisches Kaisertum [s. Anm. 4], S. 83). 21 Vgl. Augustinus Steuchus: Augustini Steuchi Eugubini Bibliothecarii contra Laurentium Vallam de falsa donatione Constantini libri duo. Eiusdem de restituenda navigatione Tiberis, Lyon: Sebastian Gryphius 1547.
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dafür plädiert, diese griechische Version des Constitutum Constantini für die Überlieferungsgeschichte des lateinischen stärker zu berücksichtigen.22 Auch der italienische Kardinal und Historiker Cesare Baronio (1538–1607) griff diese Idee im dritten Band seiner Annales Ecclesiastici, die ab 1588 sukzessive in zwölf Bänden erschienen,23 auf und erweiterte sie, indem er die griechischsprachige Version des Constitutum Constantini an die »Spitze der Textgeschichte«24 zur Konstantinischen Schenkung stellte und die überlieferte lateinische Fassung zu einer von den Griechen angefertigten Fälschung erklärte.25 Durch diese überlieferungsgeschichtliche Marginalisierung des lateinischen Constitutum Constantini lässt Baronio Vallas Kritik strategisch ins Leere laufen und rehabilitiert zugleich den Anspruch auf die grundsätzliche Authentizität und Geltung der Schenkung selbst. Erst als der Theologe und Kirchenhistoriker Johann Joseph Ignaz von Döllinger (1799–1868) in seinen 1863 veröffentlichten Papst-Fabeln des Mittelalters dieses zuvorderst von katholischen Gelehrten vertretene Übersetzungsargument als falsch nachwies, war eine vorbehaltlose Inanspruchnahme der Konstantinischen Schenkung nicht mehr möglich.26 Döllinger widerlegt das Übersetzungsargument unter sprachhistorischen, inhaltlichen und überlieferungshistorischen Gesichtspunkten und weist die griechische Fassung als von der lateinischen abhängig nach.27 Auf diese Weise rehabilitierte er auch Vallas Fälschungskritik und versetzte der Konstantinischen Schenkung den letzten Todesstoß, von dem sie sich fortan nicht mehr erholen sollte. Mit seinem Beitrag eröffnet Döllinger eine neue Form der Rezeption der Konstantinischen Schen22 »Die griechische Version des Constitutum gilt ihm zwar nicht als die ältere, sie bezeuge aber allein schon durch ihr Vorhandensein die Echtheit der Schenkung und gebe manche Möglichkeiten, den lateinischen Text zu korrigieren.« Setz, Lorenzo Vallas Schrift (s. Anm. 3), S. 186. Ausführlicher zu Steuchus und seiner Argumentation gegenüber Valla vgl. Setz, Lorenzo Vallas Schrift (s. Anm. 3), S. 183–188. 23 Zur Konzeption seiner Annales ecclesiastici vgl. Mirella Scala: Aspetti teorici della committenza negli Annales ecclesiastici di Cesare Baronio, in: Baronio e l’arte. Atti del convegno internazionale di studi, hg. v. Romeo de Maio, Sora 1985, S. 261–287. Zur Wirkungsabsicht Baronios vgl. Rüdiger Otto: Gesprächsprotokolle. Die Tagebuchaufzeichnungen des Schweizer Theologen Gabriel Hürner während seines Aufenthalts in Leipzig im Mai 1738, in: Leipziger Stadtgeschichte. Jahrbuch 1 (2010), S. 75–188, v. a. S. 169, Anm. 698: »[S]eit 1568 erschienen seine Annales ecclesiastici, ein mit reichem Quellenmaterial ausgestaltetes kirchengeschichtliches Werk (bis 1198), das sich gegen die protestantischen ›Magdeburger Zenturien‹ (1559–74 in 13 Bänden) richtete und die These widerlegen sollte, dass die Papstkirche vom Urchristentum abgefallen sei.« 24 Fuhrmann, Constitutum Constantini (s. Anm. 4), S. 200. 25 Vgl. Setz, Lorenzo Vallas Schrift (s. Anm. 3), S. 116. 26 Vgl. Johann Joseph Ignaz von Döllinger : Die Schenkung Constantin’s, in: Die PapstFabeln des Mittelalters. Ein Beitrag zur Kirchengeschichte, hg. v. dems., München 1863, S. 61–106. 27 Vgl. Döllinger, Die Schenkung Constantin’s (s. Anm. 26), v. a. S. 62–67.
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kung, nämlich die wissenschaftliche Beschäftigung mit der nach wie vor nur unzureichend beantworteten Frage nach dem historischen Entstehungskontext des Constitutum Constantini als mittelalterlicher Fälschung.28
3.
Lorenzo Vallas Sermocinationes: Rhetorisierung und Demontage des historischen Kontextes
Nach einer kurzen Einleitung,29 in der er sein »Recht auf Kritik«30 begründet und seine sechsschrittige Erörterung vorstellt,31 fragt Valla im ersten Teil seiner Schrift nach der historischen Wahrscheinlichkeit der Konstantinischen Schenkung, indem er die Umstände, unter denen sie abgelaufen sein soll, konturiert.32 Dazu umreißt er die politischen und religiösen Aufgabenbereiche Kaiser Konstantins und Papst Silvesters und lotet die Mechanismen und Strukturen aus, die seines Erachtens das realpolitische Handeln eines römischen Kaisers, seines persönlichen und politischen Umfeldes sowie des Papstes bestimmt haben. Valla begreift das grundsätzliche Wesen jeglicher Herrschaft darin, die eigene Macht, auch mittels Verbrechen, zu erhalten und auszubauen.33 »Dem Bestreben, die Herrschaft auszuweiten, entspricht der Wille, nicht freiwillig auf Teile dieser Herrschaft zu verzichten.«34 Um das zu exemplifizieren, rekurriert Valla zunächst auf einige Beispiele aus dem Alten Testament und zeigt dabei auf, dass die 28 Döllinger selbst verortet die Entstehung des Constitutum Constantini im 8. Jahrhundert (vgl. Döllinger, Die Schenkung Constantin’s [s. Anm. 26], S. 67–78). Die Frage, ob nun die griechische oder die lateinische Version die Urfassung der Fälschung darstellt, wurde bis weit ins 20. Jahrhundert hinein diskutiert und größtenteils zugunsten der lateinischen Fassung beantwortet. Vgl. Fuhrmann, Konstantinische Schenkung und abendländisches Kaisertum (s. Anm. 3), S. 65f.; ders, Einleitung, in: Das Constitutum Constantini (s. Anm. 4), S. 7–47, v. a. S. 7–20; ders., Constitutum Constantini (s. Anm. 4) v. a. S. 196–199. Zur Datierungsfrage des Constitutum Constantini vgl. auch Johannes Fried: Die Konstantinische Schenkung, in: Die Welt des Mittelalters. Erinnerungsorte eines Jahrtausends, hg. v. dems./Olaf B. Rader, München 2011, S. 295–311; ders.: Donation of Constantine and Constitutum Constantini. The Misinterpretation of a Fiction and its Original Meaning, Berlin/New York 2007; ders.: Zu Herkunft und Entstehungszeit des ›Constitutum Constantini‹. Zugleich eine Selbstanzeige, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 63 (2007), S. 603–612. Darüber hinaus auch Pierluigi Gatti: Der Philosoph, ein Kaiser und ein Dichter treffen auf das Christentum. Fälschungsmethodik und Wirkabsicht im Briefwechsel zwischen Seneca und Paulus, im Constitutum Constantini und in de vetula, in: Verleugnete Rezeptionen. Fälschungen antiker Texte, hg. v. Wolfgang Kofler/Anna Novokhatko (s. Anm. 5), S. 211–226. 29 Vgl. Valla, Donatio (s. Anm. 1), I. 1, S. 55–II. 6, S. 62. 30 Setz, Lorenzo Vallas Schrift (s. Anm. 3), S. 34. 31 Vgl. Valla, Donatio (s. Anm. 1), II. 6, S. 61f. 32 Vgl. Valla, Donatio (s. Anm. 1), III. 7, S. 62–VII. 27, S. 85. 33 Vgl. Valla, Donatio (s. Anm. 1), III. 9, S. 64f. 34 Setz, Lorenzo Vallas Schrift (s. Anm. 3), S. 37.
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in der Konstantinischen Schenkung zum Ausdruck kommende Dankbarkeit – und zwar in Form eines Herrschaftsabtritts – für die Heilung von der Lepra weit über das normale Maß an Dankbarkeit hinausgeht.35 Von entscheidender Bedeutung für seine Argumentation gegen die historische Wahrscheinlichkeit der Konstantinischen Schenkung sind allerdings seine drei sprachlich wie auch stilistisch durchaus ansprechenden Sermocinationes, die die Schenkung zunehmend absurder erscheinen lassen, indem sie deren historischen Kontext Stück für Stück demontieren. Auch wenn Valla dazu keine konkrete Angabe macht, scheint er sie unmittelbar vor dem Schenkungsakt selbst anzusiedeln. Dabei lässt er gerade diejenigen Akteure zu Wort kommen, die von der geplanten Schenkung unmittelbar betroffen gewesen wären, und artikuliert so die politisch wie auch religiös motivierten Reaktionen, die mit der Schenkung eigentlich hätten erfolgen müssen. Als rhetorische Figur hat die Sermocinatio, die bereits in der Antike ihren »legitimen Ort in den Exempla des Redners«36 hatte, dabei einen festen Platz im humanistischen Diskurs der Frühen Neuzeit.37 Als Technik der mimetischen Impersonation38 ermöglicht sie es Valla, im Gewand der antiken Rhetorik historische Personen nach Maßgabe der Wahrscheinlichkeit sprechen zu lassen. In der ersten, nur knapp eine Seite umfassenden Rede39 lässt Valla jemanden aus dem persönlichen Umfeld Konstantins zu Wort kommen.40 Der anonyme Redner kritisiert Konstantin insbesondere dafür, dass die Schenkung nicht nur die expectata successio der Söhne unterlaufe, sondern auch alle anderen engen Vertrauten Konstantins demütige, da sie den Anschein erwecke, dass diese sich gegenüber Konstantin, dem Vaterland und der maiestas imperii der impietas schuldig gemacht hätten.41 Konstantins Verhalten wird dabei unter dem Blickwinkel des dynastischen Machterhalts fokussiert und als vollkommen wider35 36 37 38
Vgl. Valla, Donatio (s. Anm. 1), IV. 12, S. 67–68. Kablitz, Vallas Konzept der Geschichte (s. Anm. 5), S. 56. Vgl. Kablitz, Vallas Konzept der Geschichte (s. Anm. 5), S. 55. Vgl. Heinrich F. Plett: Einführung in die rhetorische Textanalyse, 9., aktualisierte und erw. Aufl., Hamburg 2001, S. 85–87 und Heinrich Lausberg: Elemente der literarischen Rhetorik. Eine Einführung für Studierende der klassischen, romanischen, englischen und deutschen Philologie, Ismaning 101990, §§ 432–433, S. 142f. 39 Vgl. Valla, Donatio (s. Anm. 1), V.13, S. 68–70. 40 Vgl. Valla, Donatio (s. Anm. 1), V.13, S. 68: Qui si etiam talis fuisset et quasi in alium hominem versus, certe non defuissent, qui eum admonerent, et imprimis filii, propinqui, amici. 41 Vgl. Valla, Donatio (s. Anm. 1), V.13, S. 69: Querimur autem, quod eam ad alios defers eum nostra et iactura et turpitudine. Quid enim cause est, quod liberos tuos expectata successione imperii fraudas, qui ipse una cum patre regnasti? Quid in te commisimus? qua in te, qua in patriam, qua in nomen Romanum ac maiestatem imperii impietate digni videmur? quos precipua optimaque prives principatus portione, qui a patriis laribus, a conspectu natalis soli, ab assueta aura, a vetusta consuetudine relegemur.
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sinnig und unverständlich entlarvt. Der Redner versteht die geplante Schenkung geradezu als Provokation gegenüber den eigenen Vertrauten sowie als Bruch mit der althergebrachten Tradition (vetusta consuetudo). Der Kaiser selbst wird so als ignoranter und undankbarer Deserteur stigmatisiert, der sich seiner politischen Verantwortung entzieht und seine Freunde und Weggefährten, die ihrerseits für ihn alles erlitten und ihr Leben riskiert haben, im Stich lässt.42 Valla beweist in seiner ersten Sermocinatio allerdings auch ein sehr feines Gespür für die religiösen Konfliktherde der Spätantike, indem er seinen Redner darüber hinaus auch die Frage nach den religiösen Konsequenzen der Konstantinischen Schenkung aufwerfen lässt: Unter solchen Umständen werde man erst recht am alten Götterkult festhalten, so dass eine friedliche und reibungslose Konvertierung zum Christentum gänzlich ausgeschlossen sei.43 Im Fokus dieser rhetorisch inszenierten Anklage steht insofern v. a. die Frage nach dem Erhalt des dynastischen und machtpolitischen Systems sowie des gesellschaftlichen Friedens zwischen den Religionen. Die von dem anonymen Redner vorgebrachten Einwände weisen so die geplante Schenkung als ein exzeptionelles Fehlverhalten des Kaisers aus, das jeglicher Herrschaftslogik entbehrt. Die zweite Sermocinatio, die ungefähr fünfmal so lang ist wie die erste,44 hält ebenfalls ein anonymer orator, nun allerdings ein Stellvertreter des senatus populusque Romanus.45 Sie greift wesentliche Kerngedanken der ersten Rede auf und entwickelt sie weiter, indem sie die Konsequenzen der Schenkung für das römische Reich selbst in den Blick nimmt und so in einen größeren politischen Horizont rückt. Valla schlägt hier einen deutlich schärferen Ton an als noch in der ersten und entzieht der Konstantinischen Schenkung auf diese Weise immer mehr die ihr zugrunde liegende historische Plausibilität. Konstantin als römi42 Vgl. Valla, Donatio (s. Anm. 1), V.13, S. 69: Quid, nos propinqui, quid, nos amici, qui tecum totiens in acie stetimus, qui fratres, parentes, filios hostili mucrone confossos palpitantesque conspeximus nec aliena morte territi sumus et ipsi pro te parati mortem oppetere, nunc abs te universi deserimur? […] Quomodo tibi istud in mentem venire potuit? Quomodo subita tuorum te cepit oblivio, ut nihil te misereat amicorum, nihil proximorum, nihil filiorum? 43 Vgl. Valla, Donatio (s. Anm. 1), V.13, S. 69f.: Et tu quidem de imperio tuo ad tuum arbitratum agere potes atque etiam de nobis uno duntaxat excepto, in quo ad mortem usque erimus contumaces: nec cultu deorum immortalium desistamus magno etiam aliis exemplo, ut scias tua ista largitas quid mereatur de religione christiana. Nam si non largiris Silvestro imperium, tecum christiani esse volumus multis factum nostrum imitaturis; sin largiris, non modo christiani fieri non sustinebimus, sed invisum, detestabile, execrandum nobis hoc nomen efficies […]. 44 Vgl. Valla, Donatio (s. Anm. 1), V. 14, S. 70–V. 17, S. 75. 45 Vgl. Valla, Donatio (s. Anm. 1), V. 14, S. 70: Nonne hac oratione Constantinus, nisi extirpatam ab eo volumus humanitatem, si sua sponte non movebatur, motus fuisset? Quid, si hos audire noluisset, nonne erant, qui huic facto et oratione adversarentur et manu? An senatus populusque Romanus sibi tanta in re nihil agendum putasset? nonne oratorem, ut ait Virgilius, gravem pietate ac meritis advocasset? qui apud Constantinum hanc haberet orationem?
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scher Kaiser wird nun in ein geradezu republikanisch anmutendes Korsett gezwängt und gerade in seiner herrschaftlichen Abhängigkeit vom römischen Senat und Volk apostrophiert. So zögert der zweite Redner auch nicht lange und weist Konstantin unmissverständlich darauf hin, dass dieser zwar die Konsequenzen der Schenkung für sich selbst und sein unmittelbares Umfeld ausblenden mag, das Volk und der Senat Roms allerdings könnten ihr ius und ihre dignitas nicht so ohne Weiteres vernachlässigen; auch betreffe seine Entscheidung ein imperium, das er nicht mit seinem eigenem Blut, sondern mit dem des römischen Volkes erworben habe.46 Auch die innenpolitischen Konsequenzen legt Valla in seiner zweiten Sermocinatio offen, die dem Reich insgesamt drohten, sollte es tatsächlich, wie es die Schenkung vorsieht, geteilt werden: Die durch die Teilung ohnehin evozierte Instabilität des Reiches würde dabei noch durch die unweigerlich eintretende Rebellion der Soldaten, Städte und Provinzen, aber auch der der römischen Herrschaft bisher unterworfenen Völkerschaften gegen den Papst als neuen, aber faktisch unerfahrenen und deshalb wohl auch nur kurzlebigen Herrscher zusätzlich gefördert werden.47 Pointiert zeichnet Valla das weltherrschaftliche Selbstverständnis der Römer nach, die sich selbst als principes orbis terrarum verstünden und es wohl kaum ertragen könnten, künftig gerade von den Christen beherrscht zu werden, die sie zuvor noch gleichsam schlechten Sklaven auf nur jede erdenkliche Art und Weise verschmäht und bestraft haben (omni contumeliarum genere suppliciorumque).48 46 Vgl. Valla, Donatio (s. Anm. 1), V. 14, S. 70f.: Cesar, si tu tuorum immemor es atque etiam tui, ut nec filiis hereditatem nec propinquis opes nec amicis honores nec tibi imperium esse integrum velis, non tamen senatus populusque Romanus immemor potest esse sui iuris sueque dignitatis. Etenim quomodo tibi tantum permittis de imperio Romano, quod non tuo, sed nostro sanguine partum est? 47 Vgl. Valla, Donatio (s. Anm. 1), V. 15, S. 72f.: Age vero, putas ne hinc fore, qui tibi bellis occupato esse auxilio aut velint aut sciant? ita ab armis atque ab omni re bellica abhorrentes erunt, qui preficientur militibus atque urbibus, ut ille, qui preficit. Quid, nonne hunc tam imperitum regnandi et iniurie facilem aut Romane legiones aut ipse provincie spoliare temptabunt ut quem sperabunt vel non repugnaturum vel penas non repetiturum? Credo, mehercule, ne unum quidem mensem illos in officio mansuros, sed statim et ad primum profectionis tue nuntium rebellaturos. Quid facies, quid consilii capies, cum duplici atque adeo multiplici bello urgebere? Nationes, quas subegimus, continere vix possumus.: quomodo illis accedente ex liberis gentibus bello resistetur? 48 Vgl. Valla, Donatio (s. Anm. 1), V. 15–V. 16, S. 73: Tu, Cesar, quid ad te spectet, ipse videris, nobis autem hec res non minus quam tibi cure esse debet. Tu mortalis es, imperium populi Romani decet esse immortale et, quantum in nobis est, erit, neque imperium modo, verum etiam pudor: scilicet, quorum religionem contemnimus, eorum accipiemus imperium? et principes orbis terrarum huic contemptissimo homini serviemus? Urbe a Gallis capta Romani senes demulceri sibi barbam a victoribus passi non sunt: nunc sibi tot senatorii ordinis, tot pretorii, tot tribunicii, tot consulares triumphalesque viri eos dominari patientur, quos ipsi tanquam servos malos omni contumeliarum genere suppliciorumque affecerunt? Isti ne ho-
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Die polemischen Fragen und Vorwürfe des römischen orator machen jede Antwort überflüssig. Das von Valla dem Redner in den Mund gelegte römische Selbstverständnis unterläuft die durch das Constitutum Constantini angedachte Umkehrung der religiösen und herrschaftspolitischen Verhältnisse und konterkariert so die sich vermeintlich in Wohlgefallen auflösende Zusammenführung von Heiden und Christen. Eindringlich und ohne auf die zahlreichen Fragen irgendeine Antwort zu liefern, apostrophiert Valla auf diese Weise die konfliktäre Unvereinbarkeit beider Gruppen v. a. in Fragen der Herrschaftsausübung. Die Sermocinatio, die eben einen deutlich schärferen Tonfall pflegt als noch die erste, ist darüber hinaus durchsetzt von mal mehr, mal weniger unterschwelligen Drohungen gegen Konstantin, wie etwa der Hinweis, dass der Kaiser sterblich, das imperium populi Romani dagegen unsterblich sei. So schaukelt sich die Rede zu ihrem emotionalen Höhepunkt, der der Idee einer vom Volk losgelösten Herrschaftsgewalt der römischen Kaiser eine Absage erteilt und die bisher noch unausgesprochenen Drohungen unverhohlen in eine explizite Morddrohung gegen Konstantin gipfeln lässt: Canem ovili preficimus, quem, si lupi mavult officio fungi, aut eiicimus aut occidimus: nunc tu, cum diu canis officio in ovili Romano defendendo sis functus, ad extremum in lupum nullo exemplo converteris? Atque ut intelligas – quandoquidem nos pro iure nostro cogis asperius loqui – nullum tibi in populi Romani imperio ius esse: Cesar vi dominatum occupavit, Augustus et in vitium successit et adversariarum partium profligatione se dominum fecit, Tiberius, Gaius, Claudius, Nero, Galba, Otho, Vitellius, Vespasianus ceterique aut eadem aut simili via libertatem nostram predati sunt, tu quoque aliis expulsis aut interemptis dominus effectus es, sileo, quod ex matrimonio natus non sis. Quare, ut tibi nostram mentem testificemur, Cesar, si non libet te Rome principatum tenere, habes filios, quorum aliquem in locum tuum nobis quoque permittentibus ac rogantibus nature lege substituas, sin minus, nobis in animo est publicam amplitudinem cum privata dignitate defendere. Neque enim minor hec iniuria Quiritum quam olim fuit violata Lucretia, neque nobis deerit Brutus, qui contra Tarquinium se ad libertatem recuperandam huic populo prebeat ducem. Et in istos primum, quos nobis preponis, deinde et in te ferrum stringemus, quod in multos imperatores et quidem leviores ob causas fecimus.49 mines magistratus creabunt, provincias regent, bella gerent, de nobis sententias capitis ferent? sub his nobilitas Romana stipendia faciet, honores sperabit, munera assequetur? Et quod maius quodque altius penetret vulnus accipere possumus? 49 Valla, Donatio (s. Anm. 1), V.17, S. 74f.: »Wir haben dem Schafstall einen Wachhund vorgesetzt, den wir, wenn er lieber die Aufgabe eines Wolfs ausüben möchte, entweder verjagen oder töten. Nun willst du dich, nachdem du so lange Zeit die Aufgabe eines Wachhundes bei der Verteidigung des römischen Schafstalls ausgeübt hast, ohne irgendein Vorbild bis aufs äußerste in einen Wolf verwandeln? Und damit du es verstehst – weil du uns nämlich dazu zwingst, für unser Recht schärfer zu sprechen –, dass du im Reich des römischen Volkes über keinerlei Rechte verfügst: Caesar hat die Alleinherrschaft mit Gewalt an
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In dem von Valla skizzierten Szenario verdankt der römische Kaiser seine herrschaftspolitische Macht einzig und allein dem römischen Volk und Senat, die ihm deshalb auch jederzeit wieder entzogen werden kann: Allein zum Schutz des Römischen Reiches wurde er eingesetzt – die Herrschaft des Kaisers avanciert so zu einem Gnadenakt der von ihm Regierten. Die Konstantinische Schenkung überschreitet vor diesem Hintergrund die kaiserlichen Befugnisse und provoziert entsprechende Reaktionen und unverblümte Drohungen. Nach Vallas historischem Verständnis, das in den beiden ersten Sermocinationes deutlich zutage tritt, gehen das Constitutum Constantini und seine ihm zugrunde liegenden historischen Prämissen an der herrschaftspolitischen Realität der Spätantike mit all ihren Mechanismen und Strukturen eindeutig vorbei. Die gewählte Anonymität der beiden ersten Redner, die lediglich bestimmten Gruppen zugeordnet werden können, ermöglicht es Valla, unterschiedliche Problemfelder des historischen Kontextes zu konturieren, die mit diesen historischen Prämissen in Widerspruch stehen. Mit den beiden Reden hinterfragt Valla die grundsätzliche historische Plausibilität der Konstantinischen Schenkung und modelliert zugleich ein fiktives Szenario, welches seiner Ansicht nach eigentlich hätte eintreten müssen.50 sich gerissen, Augustus folgte seinem Fehler und machte sich durch das Aufreiben der gegnerischen Parteien zum Herrn, Tiberius, Caligula, Claudius, Nero, Galba, Otho, Vitellius, Vespasian und die übrigen rissen entweder auf dieselbe oder eine ähnliche Weise unsere Freiheit an sich, und auch du hast dich, nachdem du die anderen vertrieben oder getötet hast, zum Herrn aufgeschwungen, ganz zu schweigen davon, dass du nicht aus einem Eheverhältnis geboren ist. Deshalb, um dir unsere Gesinnung zu bezeugen, Caesar, wenn es dir nicht beliebt, die Herrschaft über Rom zu halten, hast Du Söhne, von denen du einen, auch mit unserer Erlaubnis und auf unseren Antrag, durch das Gesetz der Natur an deine Stelle setzen kannst; wenn aber nicht, werden wir die öffentliche Erhabenheit zusammen mit der privaten Würde verteidigen. Nicht nämlich ist dies eine geringere Ungerechtigkeit an den Bürgern als es die vergewaltigte Lucretia war, und nicht wird uns ein Brutus fehlen, der sich diesem Volk als Anführer gegen Tarquinius erweist, um die Freiheit wiederzuerlangen. Und zuerst werden wir gegen diese, die du uns voranstellst, schließlich auch gegen dich das Schwert ziehen – etwas, das wir schon gegen viele Kaiser und zwar aus nichtigeren Gründen getan haben.« 50 In diesen Zusammenhang gehört auch seine abschließende Bemerkungen, dass das Volk in jedem Fall, wenn auch nur unter sich, seinem Ärger Luft gemacht hätte. Vgl. Valla, Donatio (s. Anm. 1), V. 17, S. 75: Hec profecto Constantinum, nisi lapidem eum aut truncum existimamus, permovissent, que, si populus non dixisset, tamen dicere apud se et his passim verbis fremere credibile erat. An dieser Stelle ist Andreas Kablitz, der mit seinem Artikel über Vallas Geschichtsbild einen überaus wertvollen Beitrag geliefert hat, offenbar ein Lapsus unterlaufen. Valla meint hier wohl weniger »ein naheliegendes Selbstgespräch des Kaisers« (Kablitz, Vallas Konzept der Geschichte [s. Anm. 5], S. 56) als vielmehr die Wahrscheinlichkeit, dass das Volk eine solche Rede auch apud se gehalten hätte. Ein unangekündigter Subjektswechsel, wie ihn Kablitz offenbar vermutet, ist hier eher unwahrscheinlich. Auch unter argumentativen Gesichtspunkten erscheint die Annahme eines kaiserlichen Selbstgesprächs nicht unbedingt plausibel, da Vallas Sermocinationes, die ja programmatisch die Gegenposition zu Konstantins Schenkung bilden, gerade davon ausgehen, dass Konstantin unbedingt an der Schenkung festhalten möchte (vgl. Valla, Donatio [s. Anm. 1], VI. 18,
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In seiner dritten Sermocinatio, die knapp neun Seiten umfasst und ungefähr doppelt so lang ist wie die zweite, lässt Valla Papst Silvester selbst auftreten und nimmt damit die Perspektive des von der bevorstehenden Schenkung unmittelbar Betroffenen und Begünstigten ein.51 Bereits die Überleitung zwischen zweiter und dritter Rede treibt die historische Absurdität der Schenkung spürbar auf die Spitze: So weist Valla darauf hin, dass die Schenkung das sofortige Todesurteil des Papstes bedeutet hätte, da die Römer ihre Schwerter sogleich gezückt und den neuen Herrscher kaum einen einzigen Tag hätten leben lassen. Aller Einsicht zum Trotz ist Valla dennoch gewillt, das Schenkungsszenario und das Bild vom beratungsresistenten Konstantin im Modus der rhetorisierten Fiktion weiter durchzuspielen.52 Silvesters Rede ist durchsetzt von religiösen Argumenten und zeichnet ein pietätvolles, insbesondere auf das geistliche Wirken gerichtetes Bild von Silvester bzw. vom Papsttum selbst, das frei von polemischen Andeutungen oder Ausführungen ist. Die von Valla gezeichnete Figur Silvesters versteht Konstantins Schenkungsabsicht als Ausdruck einer überschwänglichen pietas des Kaisers und entschuldigt dieses Verhalten mit dessen christlicher Unerfahrenheit, da dieser ja noch ein tiro in der christlichen Religion sei.53 Silvester argumentiert sehr bedächtig und weitsichtig, etwa wenn er Konstantin auf die bereits in den ersten beiden Sermocinationes angeklungenen interreligiösen Konfliktherde, die die Schenkung verschärfen würde, aber auch auf die Unvereinbarkeit von weltlicher Macht und der ihm eigentlich zugedachten geistlichen Aufgaben hin-
S. 76: Age porro, si fieri potest, concedamus neque preces neque minas neque ullam rationem aliquid profecisse perstareque adhuc Constantinum nec velle a suscepta semel persuasione recedere […].). Ein Selbstgespräch des Kaisers mit potentiellen Selbstzweifeln würde dieses überformte Konstantin-Bild unterlaufen und die polemische Zuspitzung der Argumentation, die Valla ja offensichtlich gerade mit seinen Sermocinationes im Sinn hatte, verhindern. Kablitz’ weitere, vor allem geschichts- und handlungsphilosophisch aufgeladene Argumentation (vgl. Kablitz, Vallas Konzept der Geschichte [s. Anm. 5], S. 56–57), die auf diesem Missverständnis basiert, ist somit hinfällig. 51 Vgl. Valla, Donatio (s. Anm. 1), VI. 19, S. 76–VII. 26, S. 85. 52 Vgl. Valla, Donatio (s. Anm. 1), VI. 18, S. 76: Eamus nunc et dicamus Constantinum gratificari voluisse Silvestro, quem tot hominum odiis, tot gladiis subiiceret, ut vix, quantum sentio, unum Silvester diem in vita futurus fuisset, nam eo paucisque aliis absumptis videbatur omnis sublatum iri de pectoribus Romanorum tam dire iniurie contumelieque suspicio. Age porro, si fieri potest, concedamus neque preces neque minas neque ullam rationem aliquid profecisse perstareque adhuc Constantinum nec velle a suscepta semel persuasione recedere: quis non ad Silvestri orationem, si res vera fuisset, unquam commotum assentiatur? que talis haud dubie fuisset. 53 Vgl. Valla, Donatio (s. Anm. 1), VI. 19, S. 76: Princeps optime ac fili, Cesar, pietatem quidem tuam tam pronam tamque effusam non possum non amare atque amplecti, veruntamen, quod in offerendis Deo muneribus immolandisque victimis nonnihil erres, minime demiror, quippe qui adhuc es in christiana militia tiro.
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weist.54 Silvester selbst verfügt damit implizit über mehr herrschaftspolitischen Weitblick als der überschwänglich schenkende Konstantin und wird als verantwortungsbewusster Geistlicher inszeniert. Mit zahlreichen Verweisen auf und Zitaten aus dem Neuen Testament, v. a. aus dem Matthäus-Evangelium und den Paulus-Briefen, entsteht so das Bild eines Papstes, der auch um die sittlichmoralischen Abgründe der weltlichen Macht weiß und sich dezidiert auf sein geistliches Metier besinnen möchte.55 Konstantin muss sich dabei sogar mit dem Teufel selbst vergleichen lassen, der bereits Christus in Versuchung geführt habe.56 Unter den Umständen einer solchen Schenkung, so Silvester, würden auch die ihm zur Seelsorge Anvertrauten in Mitleidenschaft gezogen werden, für deren Seelenheil er dann nicht mehr ausreichend garantieren könne.57 Symptomatisch für die gesamte Argumentation der dritten Sermocinatio ist v. a. sein abschließendes, auf Mt. 22, 21 verweisendes Postulat nach der notwendigen Teilung von weltlicher und geistlicher Macht.58 Mit seinem Idealbild von einem in erster Linie seelsorgerischen Papsttum zeigt Valla auf, dass das Constitutum Constantini ein mehr als fragwürdiges Verständnis von den Aufgaben desselbigen vermittelt, die gar nicht in dessen Interesse liegen dürften. Die in der dritten Sermocinatio aufgegebene Anonymität des Redners zugunsten Papst Silvesters ermöglicht es Valla, sein Idealbild eines christlich-seelsorgerischen und keineswegs herrschaftspolitischen Papsttums als postuliertes Selbstverständnis dem Kirchenoberhaupt selbst in den Mund zu legen und auf diese Weise der Konstantinischen Schenkung eine v. a. unter inhaltlichen Ge54 Vgl. Valla, Donatio (s. Anm. 1), VI. 19, S. 77: si foret tui iuris partem imperii cum regina orbis, Roma, alteri tradere quam filiis – quod minime sentio –, si populus hic, si Italia, si cetere nationes sustinerent, ut, quos oderunt et quorum religionem adhuc respuunt, capti illecebris seculi eorum imperio obnoxii esse vellent – quod impossibile est –, tamen, si quid mihi credendum putas, fili amantissime, ut tibi assentirer ulla adduci ratione non possem, nisi vellem mihi ipsi esse dissimilis et condicionem meam oblivisci ac propemodum dominum Iesum abnegare. 55 Vgl. v. a. Valla, Donatio (s. Anm. 1), VI. 21–22, S. 78: Gloria nostra est apud Deum honorificare ministerium nostrum, ut idem inquit: Vobis dico gentibus, quandiu ego quidem sum gentium apostolus, glorificabo ministerium meum. Ego, Cesar, aliis quoque sim et exemplum et causa delinquendi? christianus homo, sacerdos Dei, pontifex Romanus vicarius Christi. Iam vero innocentia sacerdotum quomodo incolumis erit inter opes, inter magistratus, inter administrationem secularium negotiorum? 56 Vgl. Valla, Donatio (s. Anm. 1), VII. 26, S. 84: Quare, Cesar, – cum pace tua dictum sit – noli mihi diabolus effici, qui Christum, id est me regna mundi a te data accipere iubeas, malo enim illa spernere quam possidere. 57 Vgl. Valla, Donatio (s. Anm. 1), VII. 26, S. 84: Filios mihi carissimos volo reddere, non servos; adoptare, non emere; generare, non manu capere; animas eorum offerre sacrificium Deo, non diabolo corpora. 58 Vgl. Valla, Donatio (s. Anm. 1), VII. 26, S. 85: Reddite, que sunt Cesaris, Cesari et que sunt Dei, Deo, quo fit, ut nec tu, Cesar, tua relinquere neque ego, que Cesaris sunt, accipere debeam, que, vel si millies offeras, nunquam accipiam.
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sichtspunkten finale Abfuhr zu erteilen. Das rhetorisierte päpstliche Selbstverständnis, das Valla immer wieder durchschimmern lässt, lässt eine päpstliche Akzeptanz der Konstantinischen Schenkung damit gar nicht mehr zu. So macht v. a. diese dritte Sermocinatio deutlich, dass Valla mit seiner Suche nach der historischen Wahrheit auch die Suche nach der moralischen Wahrheit verknüpft,59 oder anders gewendet: die rhetorisch inszenierte Demontage des dem Constitutum Constantini zugrunde liegenden historischen Kontextes bedeutet für Valla auch die Entlarvung moralischer Verfehlungen. Vallas rhetorisierte Demontage des der vermeintlichen Konstantinischen Schenkung zugrunde liegenden historischen Kontextes steigert sich also kontinuierlich und lässt Konstantins Vorhaben nicht nur zunehmend absurder, sondern auch seine Akzeptanz durch Papst Silvester praktisch unmöglich erscheinen. Auch die Abschnitte zwischen den Sermocinationes, durch die die Vallas Argumentation eine zusätzliche Polemik erfährt, zeichnen sich durch eine inhaltliche Steigerung aus. So wird Konstantin, der trotz der ersten Rede die Schenkung noch ausführen möchte, zunächst ganz allgemein seine humanitas abgesprochen;60 bereits nach der zweiten Sermocinatio muss er sich dagegen ganz profan mit einem Stein oder Stück Holz vergleichen lassen, sollte er noch immer nicht einlenken wollen.61 Der Silvester-Rede schließlich, die den vorläufigen Höhepunkt seiner Argumentation gegen das dem Constitutum Constantini zugrunde liegende historische Wissen bildet, fügt Valla die Frage an, was Konstantin darauf überhaupt noch hätte entgegnen können – dass Konstantin angesichts dieser Rede überhaupt noch an seinem Schenkungsvorhaben hätte festhalten wollen, ist für Valla praktisch unvorstellbar. So beschließt er den Abschnitt der Sermocinationes mit einer geballten Fülle an Vorwürfen gegen alle Verfechter der Konstantinischen Schenkung und nimmt dabei die historischen Akteure selbst, die an der vermeintlichen Schenkung in irgendeiner Weise beteiligt oder von ihr betroffen gewesen wären, explizit in Schutz.62 59 Vgl. Kablitz, Vallas Konzept der Geschichte (s. Anm. 5), S. 57: » Historische Wahrheit – und dies wird sich als eine der wesentlichen Differenzen von Vallas Konzept der Geschichte gegenüber der Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts erweisen – ist stets auch moralische Wahrheit. Eine von ihr verschiedene, autonome historische Wahrheit, d. h. das Bemühen um Zuverlässigkeit der Vergangenheitsrekonstruktion um ihrer selbst willen, bleibt ein für Valla fremdes Konzept.« 60 Vgl. Valla, Donatio (s. Anm. 1), V. 14, S. 70: Nonne hac oratione Constantinus, nisi extirpatam ab eo volumus humanitatem, si sua sponte non movebatur, motus fuisset? 61 Vgl. Valla, Donatio (s. Anm. 1), V.17, S. 75: Hec profecto Constantinum, nisi lapidem eum aut truncum existimamus, permovissent, que, si populus non dixisset, tamen dicere apud se et his passim verbis fremere credibile erat. 62 Vgl. Valla, Donatio (s. Anm. 1), VII. 27, S. 85: Ad hanc Silvestri orationem apostolico viro dignam quid esset, quod amplius Constantinus posset opponere? Quod cum ita sit, qui aiunt donationem esse factam, nonne iniuriosi sunt in Constantinum, quem suos privare imperiumque Romanum voluisse convellere? iniuriosi in senatum populumque Romanum, Italiam
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In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage nach den Adressaten der drei Sermocinationes. Auf der intradiegetischen Ebene ist das zunächst einmal der im Constitutum Constantini in Erscheinung tretende Kaiser Konstantin selbst, an ihn richten sich die jeweiligen Redner. Darüber hinaus ist allerdings auch der mimetischen Anlage der Sermocinatio als rhetorischer Figur Rechnung zu tragen: Der Rhetorisierung der Beweisführung und ihrer sprachlich-stilistischen Ausgestaltung sind so auch ästhetische Ansprüche inhärent, die als eigenes argumentatives Beweismittel gegen die Schenkung fungieren, da im humanistischen Diskurs Sprache und Stil auch »als Index des moralischen Standards einer Person«63 gelten. Die sprachliche Ästhetik der Sermocinationes dokumentiert dabei nicht nur Vallas eigene rhetorische Fähigkeiten, die wohl auch einer gewissen Selbstinszenierung dienen. Sie zielt auch darauf ab, die vom Constitutum Constantini wohl unfreiwillig in Mitleidenschaft gezogene antike Rhetorik selbst in einer angemessenen Art und Weise zu Wort kommen zu lassen und so das vermeintliche Schenkungsdokument auch unter rhetorischen Gesichtspunkten ad absurdum zu führen. So moniert Valla an späterer Stelle seiner Schrift gerade den sermo barbarus des Schriftstücks, in welchem Konstantin, der eigentlich in einem hochkultivierten Zeitalter lebte, ja selbst spricht.64 Insofern scheint Valla mit seinen Sermocinationes auch auf einer Metaebene zum Verfasser des Constitutum Constantini selbst zu sprechen, dem er mit ihrer Hilfe nicht nur sein historisches, sondern auch rhetorisches Nichtwissen performativ vor Augen führt. Die Reden sind allerdings auch durch »die Leistung der Fiktion« selbst Beweismittel.65 Gerade die fehlende Überlieferung solcher Reden,66 die allgemeine
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totumque occidentem, quem contra ius fasque mutari imperium permisisse? iniuriosi in Silvestrum, quem indignam sancto viro donationem acceptam habuisse? iniuriosi in summum pontificatum, cui licere terrenis potiri regnis et Romanum moderari imperium arbitrantur? Hec tamen omnia eo pertinent, ut appareat Constantinum inter tot impedimenta nunquam fuisse facturum, ut rem Romanam Silvestro ex maxima parte donaret, quod isti aiunt. Kablitz, Vallas Konzept der Geschichte (s. Anm. 5), S. 67. Vgl. Valla, Donatio (s. Anm. 1), XV. 50, S. 116: Impresentiarum autem de barbarismo cum hoc sycophanta loquamur, cuius ex stultiloquio impudentissimum eius patescet sua sponte mendacium. Und Valla, Donatio (s. Anm. 1), XVI. 53, S. 120: Deus te perdat, improbissime mortalium, qui sermonem barbarum attribuis seculo erudito. Kablitz, Vallas Konzept der Geschichte (s. Anm. 5), S. 56. Vgl. dazu Vallas jeweils einleitende Bemerkungen zu den drei Reden, die bewusst im Irrealis der Vergangenheit formuliert sind: Valla, Donatio (s. Anm. 1), V. 13, S. 68: Qui si etiam talis fuisset et quasi in alium hominem versus, certe non defuissent, qui eum admonerent, et imprimis filii, propinqui, amici. Vgl. Valla, Donatio (s. Anm. 1), V. 14, S. 70: nonne oratorem, ut ait Virgilius, gravem pietate ac meritis advocasset? qui apud Constantinum hanc haberet orationem? Vgl. Valla, Donatio (s. Anm. 1), VI. 18, S. 76: Age porro, si fieri potest, concedamus neque preces neque minas neque ullam rationem aliquid profecisse perstareque
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Unkenntnis über die vor allem verwaltungspolitischen Konsequenzen, die auf eine solch gewaltige Machtübertragung eigentlich hätten unmittelbar folgen müssen,67 das fehlende Wissen über ein vermeintliches Silvestrianum imperium68 sowie der damit zusammenhängende Befund, dass in den überlieferten Texten, die diese Zeit beschreiben, nichts von einem politischen Machtwechsel berichtet wird,69 belegen für Valla eindeutig, dass es zu solch einem Schenkungsakt überhaupt nicht gekommen sein kann.70 Gegen das Constitutum Constantini führt Valla also mit seinen Sermocinationes implizit auch die Frage nach der schriftlichen Überlieferung ins Feld. In ihrem dezidiert fiktiven Zustand generieren sie nicht nur historisch plausible Situationen, sondern auch ihre eigene Beweiskraft, da von solchen Reden und Reaktionen nichts überliefert ist.71 Die insofern auch als eigenes Beweisinstrument fungierende Fiktion der Reden macht zugleich deutlich, auf welchem Wissen Vallas Sermocinationes und die ihnen inhärenten Wissensformationen basieren: Sie beruhen im wesentlichen auf seinem Vertrauen in »eine gänzlich ungebrochene und fraglos akzeptierte Überlieferung«72 der Antike – was nicht schriftlich fixiert und überliefert ist, kann folglich auch nicht geschehen sein. In dieser Lesart ist historische Faktizität also an ihre schriftliche oder materielle Überlieferung geknüpft. Ein positiver Überlieferungsbefund bedeutet im Umkehrschluss allerdings nicht automatisch, alles Beschriebene unhinterfragt zu glauben – ansonsten spräche auch nichts gegen die Glaubwürdigkeit des Constitutum Constantini. Vielmehr postuliert Valla mit seinen Sermocinationes implizit, die Glaubwürdigkeit eines überlieferten Textes danach zu beurteilen, wie er sich das Panorama anderer historisch belastbarer Texte einfügt, die über den gleichen Sachverhalt Zeugnis ablegen.73 Erst der in dieser Hinsicht einheitliche Überlieferungszusammenhang
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adhuc Constantinum nec velle a suscepta semel persuasione recedere: quis non ad Silvestri orationem, si res vera fuisset, unquam commotum assentiatur? que talis haud dubie fuisset. Vgl. Valla, Donatio (s. Anm. 1), VIII. 29, S. 86–87. Vgl. Valla, Donatio (s. Anm. 1), VIII. 30, S. 89: Romanum autem sive Silvestrianum imperium, qua ratione inceperit aut qua desierit, quando, per quos, in ipsa quoque urbe nescitur. Interrogo: num quos harum rerum testes auctoresque proferre possitis? ›Nullos‹, respondetis: et non pudet vos, non tam homines quam pecudes, dicere verisimile esse possedisse Silvestrum? Vgl. Valla, Donatio (s. Anm. 1), IX. 31, S. 89: Quod quia vos non potestis, ego e contrario docebo ad ultimum usque diem vite Constantinum et gradatim deinceps omnes Cesares possedisse, ut nequid habeatis, quod hiscere possitis. At perdifficile est et magni, ut opinor, operis hoc docere. Evolvantur omnes Latine Greceque historie, citentur ceteri auctores, qui de illis meminere temporibus, ac neminem reperies in hac re ab alio discrepare. Dazu auch Setz, Lorenzo Vallas Schrift (s. Anm. 3), S. 39. Vgl. dazu auch Kablitz, Vallas Konzept der Geschichte (s. Anm. 5), S. 56. Kablitz, Vallas Konzept der Geschichte (s. Anm. 5), S. 57. Dazu auch Kaiser, Antikebild und Selbstinszenierung (s. Anm. 5), S. 254. Valla, Donatio (s. Anm. 1), XXI. 68, S. 137: Quisquis enim de superiore etate historiam texit, aut Spiritu sancto dictante loquitur aut veterum scriptorum et eorum quidem, qui de sua etate
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also garantiert für ihn gesichertes historisches Wissen. Insofern veranschaulicht gerade der von Valla explizit gemachte Fiktionsgrad der Sermocinationes performativ das historische Nichtwissen des Constitutum Constantini.
4.
Zusammenfassung
Vallas Sermocinationes fokussieren das persönliche, herrschaftspolitische wie auch religiöse Umfeld Kaiser Konstantins und führen dabei die entsprechenden Konsequenzen des Schenkungsvorhabens anschaulich aus. Auf diese Weise sprechen sie der Konstantinischen Schenkung allein schon mit Blick auf ihre historischen Rahmenbedingungen und Entstehungsvoraussetzungen jegliche Plausibilität ab. Im Gewand der Sermocinatio entwirft Valla dabei ein eigenes historisches Wissen über die spätantike Gesellschaft der römischen Kaiserzeit, das den vermeintlichen historischen Kontext des Constitutum Constantini und die damit grundsätzlich zusammenhängenden historischen Prämissen systematisch unterläuft und als unhaltbar nachweist. So dokumentiert Valla mit ihnen nicht nur die aus seiner Sicht eigentlich notwendigen, aber ausgebliebenen Reaktionen derjenigen, die von der Konstantinischen Schenkung unmittelbar betroffen gewesen wären, sondern benennt auch bestimmte politische und religiöse Facetten des historischen Kontextes, die das Constitutum Constantini ganz offensichtlich ignoriert. Zugleich rehabilitiert Valla aber auch die an der vermeintlichen Schenkung beteiligten und vom Constitutum Constantini verzerrt dargestellten Akteure Konstantin und Silvester, indem er sie vom Makel der Schenkung freispricht. Dabei entwirft er (s)ein Idealbild des Papsttums und der römischen Kirche, die sich zuvorderst als geistliche und seelsorgerische Institutionen und durch ihren expliziten Verzicht auf jegliche weltliche Macht auszeichnen. Doch auch der kontrafaktische, fiktive Charakter der drei Reden selbst besitzt für Valla Beweiskraft: Er ist sinnbildlicher Ausdruck eines defizitären Überlieferungszustands an historisch belastbaren Textzeugnissen über die Konstantinische Schenkung. Gerade der Umstand, dass die spätantiken Zeugnisse weder von der Schenkung selbst noch von irgendwelchen macht- und verwaltungspolitischen Reaktionen oder gar Konsequenzen für das Römische Reich berichten, tritt in der Figur der Sermocinatio unmissverständlich zutage. Vor diesem Hintergrund verschafft Valla gerade denjenigen, die von der Schenkung unmittelbar betroffen gewesen wären, nicht nur die Möglichkeit, selbst zu Wort zu kommen und ihr Unbehagen zu äußern, sondern auch – zumindest auf einer Metaebene – auf die Fälschung entsprechend zu reagieren. scripserunt, sequitur auctoritatem. Quare quicunque veteres non sequitur, is de illorum numero erit, quibus ipsa vetustas prebet audaciam mentiendi.
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Darüber hinaus verschafft die anspruchsvolle sprachlich-stilistische Ausgestaltung der Reden, die Vallas eigene rhetorische Fähigkeiten unterstreicht, der spätantiken römischen Rhetorik performativ auch eine ästhetische Geltung und entzieht dem Constitutum Constantini so auch in rethorischer Hinsicht jegliche Geltungsansprüche. Insofern stellen die drei Sermocinationes das dem Constitutum Constantini zugrunde liegende Wissen auf ganz unterschiedlichen Ebenen dezidiert infrage und konfrontieren es mit einem komplexen, performativ ausgestalteten Wissen um die römische Spätantike.
Maike Priesterjahn
Zwischen Tradition und Distanz. Paolo Emilios Transformation französischer Vergangenheit
»Vergangene Ereignisse verwandeln sich nicht ohne Weiteres in Erinnerungen; sie werden dazu gemacht durch das kollektive Bedürfnis nach Sinnstiftung, durch die Traditionen und Wahrnehmungsweisen, die aus den gesellschaftlichen Milieus erwachsen.«1 Nach Etienne FranÅois und Hagen Schulze entsteht keine Gemeinschaft ohne Gedenkfeiern und Denkmäler, Mythen und Rituale, ohne die Identifizierung mit großen Persönlichkeiten, Gegenständen und Ereignissen der ›eigenen‹ Geschichte.2 Die Erinnerungskulturen und kulturellen Narrative einer spezifischen Gruppe gleicher regionaler Zugehörigkeit bestehen aus »langlebigen generationenübergreifenden Kristallisationspunkten kollektiver Erinnerung«.3 Der Historiker Pierre Nora verwendet für diese Kristallisationspunkte die Metapher des ›Erinnerungsortes‹ (lieux de m8moire), der ebenso materieller wie immaterieller Natur sein kann und zu dem reale wie sagenhafte Gestalten und Ereignisse, sowohl Gebäude und Denkmäler als auch Institutionen und Begriffe gehören.4 Die Erinnerungsorte sind dabei keineswegs unveränderlich, sondern wandeln sich in dem Maße, in dem sich die Weise ihrer Wahrnehmung, Aneignung, Anwendung und Übertragung verändert.5 Erinnerungsorte und die 1 Etienne François/Hagen Schulze: Einleitung, in: Deutsche Erinnerungsorte, Bd. I, hg. v. Etienne François/Hagen Schulze, München 2001, S. 9–24, hier : S. 13. 2 ›Mythos‹ wird von Aleida und Jan Assmann als fundierende, legitimierende und sogar weltmodellierende Erzählung umschreiben. Kennzeichnend sei, dass ein solcher ›Mythos‹ für eine Gruppe oder Gesellschaft kulturell bedeutsam und/oder identitätsstiftend und lebenspraktisch eingebunden ist, indem an ihn geglaubt wird. Siehe Aleida/Jan Assmann: Mythos, in: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, hg. v. Hubert Cancik u. a., Bd. IV, Stuttgart u. a. 1998, S. 179–200, hier ; S. 180. Vgl. auch Bernd Bastert: Karl der Große in den europäischen Literaturen des Mittelalters. Konstruktion eines Mythos, Tübingen 2004, S. XIVf. 3 François/Schulze: Einleitung (s. Anm. 1), S. 18. 4 Vgl. Pierre Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Berlin 1990, S. 12. Zum Konzept der Erinnerungsorte siehe auch: Otto Gerhard Oexle: Erinnerungsorte. Eine historische Fragestellung und was sie uns sehen lässt, in: Mittelalter und Industrialisierung, hg. v. Thomas Schilp/Barbara Welzel, Bielefeld 2009 (Dortmunder Mittelalter-Forschungen 12), S. 17–38. 5 François/Schulze: Einleitung (s. Anm. 1), S. 18.
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sich je um sie gruppierenden Erinnerungen sind eine wichtige Basis für das, was die kulturellen Wissensbestände der Angehörigen einer Gemeinschaft zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten Raum ausmacht. Entsprechend der Veränderbarkeit der Erinnerungen hat auch geschichtliches ›kulturelles Wissen‹6 keinen absoluten feststehenden Charakter. Insbesondere erfährt es Transformationen durch Tradierung in unterschiedlichen Kontexten. Die Agenten solcher Transformationen bzw. Wissensformungsprozesse im hier betrachteten Szenario der Formung des Wissens um die ›eigene‹ Nationalgeschichte im 16. Jahrhundert sind in erster Linie die Geschichtsschreiber. Ausgangspunkt für die Tätigkeit der Geschichtsschreiber bei der Charakterisierung von Bewohnern eines Territoriums und von deren Verbindung mit der monarchischen, personal orientierten Herrschergeschichte7 ist das tradierte und aktuell für gültig gehaltene Wissen. Neben historischen Fakten handelt es sich dabei aus heutiger Perspektive betrachtet jedoch auch vielfach um ›bloß erfundene Erzählungen‹, Konstruktionen und Legenden. Ein für die Transformation von Erinnerung und Wissen bedeutsamer Schritt der Qualifizierung eben solcher Elemente als Legenden und ein in vielen Hinsichten aufschlussreicher Umgang mit diesen Legenden zwischen Loslösung, Perpetuierung und Substituierung lässt sich bei dem italienischen Historiographen Paolo Emilio (um 1455–1529) feststellen.8 In seinem Werk De rebus gestis Francorum9 aus dem 16. Jahrhundert beschränkt er sich nicht wie seine Vorgänger auf das Transportieren von ›kulturellem Wissen‹ , sondern passt es kritisch an neue, insbesondere humanistische Wissensanforderungen – wie das 6 Vgl. Birgit Neumann: Kulturelles Wissen und Literatur, in: Kulturelles Wissen und Intertextualität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien zur Kontextualisierung von Literatur, hg. v. Marian Gymnich/Birgit Neumann/Ansgar Nünning, Trier 2006, S. 29–51, hier : S. 43. 7 Vgl. Albert Schirrmeister: Was sind humanistische Landesbeschreibungen? Korpusfragen und Textsorten, in: Medien und Sprachen humanistischer Geschichtsschreibung, hg. v. Johannes Helmrath/Albert Schirrmeister/Stefan Schlelein, Berlin/New York 2009 (Transformationen der Antike, Bd. 11), S. 5–45, hier : S. 36. 8 Zu Paolo Emilio siehe Franck Collard: Paulus Aemilius’ De rebus gestis Francorum. Diffusion und Rezeption eines humanistischen Geschichtswerks in Frankreich, in: Diffusion des Humanismus. Studien zur nationalen Geschichtsschreibung europäischer Humanisten, hg. v. Johannes Helmrath/Ulrich Muhlack/Gerrit Walther, Göttingen 2002, S. 377–397; Thomas Maissen: Von der Legende zum Modell. Das Interesse an Frankreichs Vergangenheit während der italienischen Renaissance, Basel/Frankfurt a. M. 1994 (Baseler Beiträge zur Geschichtswissenschaft, Bd. 166), S. 176–242; Kathrine Davies: Late XVth Century Frensh Historiography, as exemplified in the ›Compendium‹ of Robert Gaguin and the ›De Rebus Gestis Francorum‹ of Paulus Aemilius, Edinburgh 1954 [Diss.]; Luciano Rognoni/Gian Maria Varanini: Da Verona a Parigi: Paulus Aemilius autore del ›De rebus gestis Francorum‹ e la sua famiglia, in: Quaderni per la storia dell’universit/ di Padova 40 (2007), S. 163–180. 9 Paolo Emilio: De rebus gestis Francorum, hg. v. Michael Vascosan, Paris 1539 (im Folgenden abgekürzt mit RGF). Hier und im Folgenden wird die Orthographie teilweise modernisiert.
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Postulat der Glaubwürdigkeit sowie die sprachlich-stilistische Imitation klassischer Autoren – an und transformiert es auf diese Weise. Der seit 1497 in Paris das Amt des königlichen Hofhistoriographen ausübende Emilio schrieb die Geschichte der Franken10 von 420 bis 1488 in zehn Büchern, deren erste vier Bücher 1517 in Paris gedruckt wurden.11 Emilio verfasste sein Werk über die Geschichte Frankreichs zu einer Zeit, als sich an europäischen Höfen zahlreiche Humanisten einfanden, um – meist im Auftrag der Monarchen – die Geschichte des jeweiligen Landes neu zu schreiben. Im Zuge der europäischen Bildungsbewegung war es zu einer verstärkten Wahrnehmung räumlich regionaler Einheiten und einer sukzessiven Ausprägung eines Gemeinschaftsgefühls gekommen. Gleichzeitig war insbesondere in Frankreich durch mehrere erfolgreiche Schlachten, den endgültigen Sieg Frankreichs im Hundertjährigen Krieg und die damit verbundene führende Position unter den europäischen Staaten, das Selbstbewusstsein der französischen Elite allmählich gewachsen und führte zu einem Interesse, die eigene ›Nation‹12 vom italienischen und deutschen Modell abzugrenzen.
10 Die Verwendung der Begrifflichkeiten franci und galli war keineswegs einheitlich. Bereits seit dem 9. Jahrhundert wurde im Heiligen Römischen Reich zwischen dem Gebiet westlich des Rheins (Gallien) und östlich des Rheins (Germanien oder Franken) unterschieden. Siehe hierzu Margret Lugge: ›Gallia‹ und ›Francia‹ im Mittelalter. Untersuchungen über den Zusammenhang zwischen geographisch-historischer Terminologie und politischem Denken vom 6.–15. Jahrhundert (Bonner Historische Forschungen, Bd. XV), Bonn 1960, S. 40. Ostfränkische Autoren verwenden Francia für das eigene Regierungsgebiet und Gallia für den Westen, westfränkische Verfasser grenzten ihr Reich als Francia von den Germanen ab und Italiener benutzten galli und franci häufig synonym, unterschieden jedoch grundsätzlich zwischen Gallia (nördlich der Alpen) und Italien (südlich der Alpen). In Frankreich bezog sich die Bezeichnung Galli oder Gallici vorrangig auf die ethnographische Beschreibung, wohingegen rex Francorum vor allem als Terminus für den französischen König verwendet worden war, der allmählich durch Franci abgelöst wurde, sowie die geographische Verortung von Gallia durch die politische eines Regnum, wie Franciae, bzw. Francia, verdrängt wurde. Vgl. hierzu Maissen, Von der Legende zum Modell, (siehe Anm. 8), S. 15f. Emilio unterscheidet hinsichtlich des Einsatzes von Galli und Franci zwischen geographischer Verortung, für die er in der Regel Gallia verwendet, und Franci als militärische Einheit. 11 Die erste vollständige Edition von 1539 erlebte er allerdings nicht mehr. 12 Seit der Mitte des 15. Jhs. wurde der Begriff ›Nation‹ zunächst aus Abgrenzung gegen eine äußere Bedrohung geschaffen. Vgl. Winfried Schulze: Europa in der Frühen Neuzeit – Begriffsgeschichtliche Befunde, in: Europäische Geschichte als historiographisches Problem, hg. v. Heinz Duchhardt/Andreas Kunz, Mainz, S. 35–65, hier S. 65. Hier soll der Definition von Annette Helmchen gefolgt werden, derzufolge ›Nation‹ eine Gesellschaftsform mit gleicher Abstammung, gemeinsamer Geschichte, Geographie und Kultur, einheitlichem Glauben, ähnlicher Gesinnung, Loyalitätsempfinden und gleicher Sprache ist. Siehe Anette Helmchen: Die Entstehung der Nationen im Europa der Frühen Neuzeit. Die Entstehung der Nationen im Europa der Frühen Neuzeit. Ein integraler Ansatz aus humanistischer Sicht (Freiburger Studien zur Frühen Neuzeit, Bd. X), Berlin u. a. 2005, S. 39.
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Das noch um 1500 als offizielles Geschichtswerk geltende mittelalterliche Kompendium der Grandes Chroniques de France13 genügte den frühneuzeitlichen Bedürfnissen der Zeitgenossen nicht mehr, sondern ließ die Forderung nach einem neuen Geschichtswerk laut werden. Aufgrund der streng chronologischen Einteilung und der unnötigen Ausschweifungen, der anekdotischen Ausschmückungen, ihrer Unstrukturiertheit und des Fehlens kritischer Reflexion galten die Chroniken des Mittelalters nicht mehr als zeitgemäß.14 Vielmehr forderte die französische Elite eine völlig neue Geschichte. Das Versäumnis der früheren Geschichtsschreiber habe Robert Gaguin zufolge in mangelnder Überlieferung und Desinteresse gelegen, was zu einer weitgehenden Unkenntnis der französischen Historie geführt habe, die im Dunkeln (»caligo«) geblieben sei, da eine Überlieferung in sprachlich adäquatem Ausdruck gefehlt habe.15 Künftig sollte Historie nicht einfach fortgesetzt, sondern völlig neu aufgeschrieben werden. Dementsprechend lässt sich speziell in Paris um 1500 eine vermehrte Produktion und Publikation von historiographischen Werken beobachten, wie beispielsweise Robert Gaguins Compendium de origine et gestis Francorum (1491), Nicole Gilles’ Chroniques et Annales de France (1492), Jean Lemaire de Belges’ Illustrations de Gaule et singularitez de Troie (1511/1513), Enguerrand de Monstrelets Le premier [second, tiers] volume des chroniques (1518), Claude de Seyssels La grande monarchie de France (1519) und Jean Bouchets Les anciennes et modernes G8n8alogies des Roys de France et mesmement du Roy Pharamond (1531). Davon hoben sich Gaguin und Emilio bereits dadurch ab, dass sie ihr Werk in lateinischer Sprache verfassten. 13 Die Grandes Chroniques de France bestanden aus mehreren unabhängigen Chroniken wie der Gesta regum Francorum von Aimoin von Fleury (ca. 970–1008), der Gesta Dagoberti von Hilduin v. St. Denis (ca. 835), den Annales Laureshamenses (8. Jahrhundert) noch unbekannter Autoren, der Vita Karoli Magni Einhards (ca. 770–840), der Vita Hludowici Imperatoris von Astronomus, der Gesta Normannorum Ducum (2. Hälfte des 11. Jhs.), der Vita Ludovici VI (1081–1151) Sugers v. St. Denis, der Gesta Philippi Augusti von Rigord (ca. 1160–1206) und Wilhelm dem Bretonen (ca. 1160–1226) und wurden 1274 im Kloster Saint-Denis vom Mönch Primat zusammengestellt. Grandes Chroniques de France, hg. v. Antoine V8rard, Paris 1493. Eine modernere französische Edition liegt heute von M. Paulin vor: Paulin: Les Grandes Chroniques de France selon qu’elle sont conserv8es en l’8glise de Saint Denis en France, Paris 1838. 14 Siehe hierzu auch Henri Hauser : De la forme des 8crits historiques, in: Les Sources de l’histoire de France. SeiziHme siHcle (1494–1610), Bd. I. Les premieres guerres d’Italie. Charles VIII et Louis XII, Paris 1906, S. 6–9, hier S. 8. 15 Robert Gaguin, Ep. 23, Gaguin an Petro Doriolo, 4. November 1476, in: Epistole et Orationes, hg. v. Loius Thuasne, Bd. I, Paris 1904, S. 253f. Ceterum nescio quis error pene in morem inolevit eos contemnere qui eloguentie studerent. Hinc illa barbaries, hinc rebus francis caligo offusa est, ut rarus eas peregrinus pernoscere possit. Vgl. ebd. S. 254f: Ita maxime sum amore patrie laudis affectus, ut me perpudeat sepe amplissima ipsius facta recte scriptionis incuria obscurari, que vel celo vel diis immortalibus equari eleganti dictione potuerunt.
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Wer Latein schrieb, ahmte gewissermaßen eo ipso Rom nach und setzte dessen Literatur fort.16 Als besonders erfolgsfördernd erwies sich jedoch Emilios gelungene Gratwanderung zwischen der Berücksichtigung des Erwartungshorizonts des Auftraggebers und der Leserschaft einerseits und seinem eigenem Anspruch einer steten Prüfung der Quellen andererseits. Die Erwartung, die man in Emilios Nationalgeschichte setzte, bestand nämlich darin, dass die im Frankreich des 16. Jahrhunderts für wahr gehaltenen Bestandteile französischer Geschichte übernommen wurden, die jedoch zu einem beachtlichen Teil von legendären Stoffen geprägt waren und sich nicht ohne Weiteres mit dem Postulat eines humanistischen Historiographen nach Glaubwürdigkeit und der literarisch avancierten Form einer Geschichtsschreibung als Kunstwerk vereinbaren ließen.17 So ging es in der Geschichtsschreibung stets darum fabulae weitestgehend von historia zu trennen. Während antike Autoren, wie beispielsweise Cicero, bereits zwischen fabula als Bericht von Ereignissen, die weder wahr noch der Wahrheit ähnlich sind (»nec verae nec veri similes res«) und historia als Ereignisse, die zu einer vorherigen Zeit zeitgenössischer Erinnerung gehören (»gesta res ab aetatis nostrae memoria remota«),18 unterschieden, war diese Differenzierung im hohen und späten Mittelalter nicht mehr allgegenwärtig. Vielmehr wurde die Glaubwürdigkeit eines Textes daran gemessen, dass er von einer Autorität, wie etwa einem Fürsten oder einem Bischof, bestätigt wurde. Je höher die Autorität der Person war als desto authentischer galt der Text.19 Erst durch die humanistische Bildungsbewegung, in der durch die Verbreitung neu aufgelegter antiker Werke neue Sichtweisen möglich waren, begannen die Gelehrten, die Glaubwürdigkeit durch Quellenlektüre zu prüfen.20 Dabei ging es nicht darum, Wahres zu berichten, sondern die historischen Darstellungen auf ihre Authentizität hin zu untersuchen. Die Autoren rückten damit von unbelegten, sagenhaften Erzählungen ab, lösten über lange Zeit bestehende und tradierte Konstrukte auf und das ›kulturelle Wissen‹ von unsicheren Inhalten ab. Auch Paolo Emilio machte all das, was seiner Auffassung nach als unwahr und 16 Markus Völkel: Modell und Differenz. Volkssprachliche Historiographie der Frühen Neuzeit und ihre lateinischen Übersetzungen, in: Medien und Sprachen humanistischer Geschichtsschreibung, hg. v. Johannes Helmrath/Albert Schirrmeister/Stefan Schlelein, Berlin 2009, S. 217–250, hier : S. 219. 17 Vgl. hierzu Ulrich Muhlack: Die humanistische Historiographie, in: Deutsche Landesgeschichtsschreibung im Zeitalter des Humanismus, hg. v. Franz Brendle u. a. (Contubernium 56), Stuttgart 2001, S. 3–18. 18 Cic., inv.1.19.27. 19 Vgl. Chantal Grell: History and Historians in France, from the Great Italian Wars to the Death of Louis XIV, in: The Oxford History of Historical Writing, Bd. III (1400–1800), hg. v. José Rabasa u. a. (The Oxford History of Historical Writing), Oxford 2012, S. 384–405, hier: S. 390. 20 Vgl. Paul Oskar Kristeller: Der italienische Humanismus und seine Bedeutung (Vorträge der Aeneas-Silvius-Stiftung an der Universität Basel X), Basel 1969, S. 13.
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sagenhaft anzusehen war durch einschränkende Wendungen wie ›dicitur‹, ›ut fertur‹, ›fama est‹ oder ›contendunt‹, bzw. ›contendit‹ kenntlich.21 Im Folgenden wird Emilios Umgang mit legendären Stoffen wie der origo gentis der Franken, der Gründung von Florenz durch Karl den Großen, dem heiligen Salböl bei der Königstaufe Chlodwigs und der Brunichildefigur untersucht. Entlang dieser Beispiele soll zum einen gezeigt werden, wie und auf welch unterschiedliche Weisen Emilio das kulturelle Gedächtnis der Franzosen von den darin verankerten Stoffen auf unterschiedliche Weise loslöst. Zum anderen soll im Vergleich mit vorhumanistischen Quellen geprüft werden, welchen Wandel die aus Sicht eines italienischen Humanisten verfasste Nationalgeschichte erfährt.
Distanzierung von fremden Gründerfiguren Zur Legitimation von traditionellen gesellschaftlichen Gefügen und Machtverhältnissen führten europäische Völker, Reiche, Herrscherhäuser, Adelsfamilien und Städte häufig ihren Ursprung auf Gottheiten oder prominente Gründerfiguren zurück. Die in französischen Geschichtswerken bis ins 16. Jahrhundert am häufigsten verwendete Ursprungserzählung ist die Idee des trojanischen Ursprungs der Franken,22 die erstmals in der Fredegar-Chronik (Liber historiae Francorum) um 700 in Erscheinung tritt. Fredegar zufolge sei eine Gruppe Trojaner dem Fall ihrer Stadt entkommen und hätten einen Mann namens Francus aus ihrer Mitte zum König erhoben. Unter dessen Führung hätten sie sich in der Nähe des Rheins niedergelassen und ihr Land Francia genannt.23
21 Emilio, RGF (s. Anm. 8), liber I, xvr : Graviores authores sunt, patrem, ut iussu suo interempti filii invidiam a se averteret, fabulam illam confinxisse; RGF (s. Anm. 8), liber I, xixv : Addunt fabulae reliquos Theodoberti filios eam necasse cumque illius filiam sibi Theodoricus iungere vellet […]. RGF (s. Anm. 8), liber VII, clviiiv : Hanc vel fabulam fictam, vel veram famam certior res secuta est; Emilio, RGF (s. Anm. 8), liber IX, ccvv : Iohannes Theologus Minor, antequam Gregorio Pontifice purpura in Italiam remigraret, Avenione ductus in carcerem fuerat, quod ea in urbe gravibus concionibus vitia temporum coarguere, veterique fabulae novum commentum affingere auderet; RGF (s. Anm. 8), liber IX, ccxiiiv : Optimates intolerabilia tributa conquesti, alii compedibus vincti, alii extrema metuentes, nihil non ausuri per desperationem errant et sola morte Navarri liberari poterant quae et in tempore insecuta est, eo miraculo, ut fides rerum commento fabulae adumbrata videatur. Emilio, RGF (s. Anm. 8), liber III, liiiiv : Fabula gentibus Franci sumus. 22 Im Mittelalter leiteten ca. einhundert Städte ihre Gründungsgeschichte von den Trojanern ab. Vgl. Jörn Garber: Trojaner–Römer–Franken–Deutsche. ›Nationale‹ Abstammungstheorien im Vorfeld der Nationalstaatsbildung, in: Nation und Literatur im Europa der Frühen Neuzeit. Akten des ersten internationalen Osnabrücker Kongresses zur Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit, hg. v. Klaus Garber, Tübingen 1989, S. 108–163, hier: S. 130. 23 Fredegar, Chronicae II, 4–9 und III, 2,3,5,9, in: MGH SS rer. Merov. 2, hg. v. Bruno Krusch, Hannover 1888.
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Als einer der maßgeblichen Initiatoren von Gründungslegenden, die auf die homerische Ilias zurückgehen, kann Vergil angesehen werden, der in seiner Aeneis den Rom-Mythos aus dem homerischen Trojaepos entwickelte. In seiner Version war der trojanische Königssohn Aeneas in der Schlussphase des Trojanischen Kriegs aus Troja nach Italien geflüchtet, dessen Nachfahren Romulus und Remus schließlich Rom gründeten. Eine Herkunftssage, die mit der Gründung Roms vergleichbar und damit genealogisch ebenbürtig war, wurde von den Franken zur Darstellung der eigenen origo lange Zeit als angemessen betrachtet. Seit dem frühen Mittelalter bestand daher nach französischem Selbstverständnis ein untrennbarer Zusammenhang zwischen der eigenen nationalen Vergangenheit und dem Trojastoff. Die Abstammungserzählung prägte das Traditionsbewusstsein der in der Nachfolge des Karolingerreichs stehenden Völker, Länder und Herrscherhäuser bis in das 16. Jahrhundert wesentlich.24 Insbesondere in vorhumanistischen Werken wie Hinkmar von Reims’ Vita Remigii (9. Jh.),25 Aimoin de Fleurys Historia Francorum (10. Jh.),26 Otto von Freisings Chronica sive Historia de duabus civitatibus (12. Jh.),27 den Grandes Chroniques de France (13.–15. Jh.)28 sowie der von Nicole Gilles bearbeiteten Fortsetzung, den Chroniques et Annales de France (15. Jh.),29 war die Trojaerzählung vorbehaltlos präsent. Paolo Emilio hingegen bezeichnet die Abstammung der Franken von den Trojanern im Eingangssatz von De rebus gestis Francorum als bloße von den Franken aufgestellte Behauptung: Franci se Troia oriundos esse contendunt.30 24 Eugen Ewig, Trojamythos und fränkische Frühgeschichte, in: Die Franken und die Alemannen bis zur ›Schlacht bei Zülpich‹ (496/97) (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. IXX), Berlin/New York 1998, S. 1. 25 Hinkmar von Reims: Vita Remigii, in: Passiones vitaeque sanctorum aevi Merovingici et antiquiorum aliquot (I), hg. v. Bruno Krusch: MGH SS rer. Merov. 3, Hannover 1896, S. 239–349, hier: S. 291: Cum gentis Francorum, ut historiae produnt, de Troia civitate, […]. 26 Aimoin Von Fleury : Francorum origine gestisque clarissimus usque ad Philippum Augustum, hg. v. Johannes Parvus/Jodocus Badius, Paris 1514, liber I, fol. iiiiv : Quidam vero auctores referunt quod a Francione rege vocati sunt Franci, dicentes quod digressi a Troja regem sibi Frigam nomine, constituerint. 27 Otto von Freising: Chronica sive historia de duabus civitatibus, in: MGH SS rer. Ger. 45, hg. v. Adolf Hofmeister, Hannover 1912, liber I, S. 56f: Ferunt etiam Francorum gentem ab eis traxisse principium. […] Tradunt tamen quidam a quodam Francone Troianorum principe, qui iuxta Rhenum consedit, Francos esse appellatos. 28 Grandes Chroniques de France, hg. v. Antoine Vérard, Paris 1493, fol iiir : En ce temps entra machomire en France. Celui Machomires estoit filz au roy priamut de ostriche qui estoit decendu de la lignee au roy priamut de troye. 29 Nicole Gilles: Les Annales et Chroniques de France, hg. v. Gilles Corrozet, Paris 1553, fol. viv : De Dardanus […] vindrent les Troyens: dont sont descendus Francoys, Veniciens, Rommains, Angloys, Normans, Turcs […]. 30 Emilio, RGF (s. Anm. 8), liber I, fol. iir : »Die Franken behaupten, dass sie von den Trojanern abstammen«. Übersetzungen von Emilios Werk hier und im Folgenden durch die Autorin. Gedankt sei Johannes Helmrath und Ronny Kaiser diesbezüglich für wertvolle Hinweise.
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Durch die Formulierung oriundos unterstreicht er die Überzeugung der Franken von einer Verflechtung ihrer Geschichte mit dem Trojastoff. In massiver Weise verdeutlicht das Verb contendunt jedoch, dass Emilio die Aussage für eine bloße Behauptung hält. Wohl aus diesem Grunde geht er in seinem Werk nicht mehr darauf ein. Neben Robert Gaguin gehört Emilio damit zu den ersten Autoren in Frankreich, die sich von der mittelalterlich traditionellen Rückführung der Franken auf die Trojaner distanzierten.31 Sie konnten in frühen Quellen keine Hinweise auf eine Abstammung der Franken von den Trojanern finden und waren daher überzeugt, das Modell der Abstammung der Franken von den Trojanern sei lediglich ein Konstrukt vorhumanistischer Autoren. In der Nachfolge Emilios lässt sich auch bei französischsprachigen Autoren eine erst zögerliche und bald schon offenkundige Distanzierung von der Trojasage feststellen.32 Beispielsweise findet bei Jean Bouchet33 und Guillaume du Bellay34 eine
31 Da sich der Humanismus im deutschsprachigen Bereich bereits früher als in Frankreich ausgebreitet hatte, standen auch deutschsprachige Humanisten wie Hermann von Neuenahr (1492–1530) und Beatus Rhenanus (1485–1547) den Troja-Bezügen bereits in den 20er bzw. 30er Jahren des 16. Jahrhunderts kritisch gegenüber. So schreibt Hermann von Neuenahr in seiner Brevis narratio De origine et sedibus Priscorum Francorum, hg. v. Pieter van Dieven/David Hoeschel/John Hudson: Opera varia, Löwen 1757, S. 9: De origine et sedibus Francorum priusquam in Gallias eruperint, eorum, qui hactenus eius gentis historiam scripserunt, nemo satis fideliter accurateque tractasse mihi videtur. Quidam enim antiquiores, quod seculum illud infelicissimum esset, ad fabulas plerumque prolapsi sunt, quoniam delectum non habebant, nec sine bonarum literarum cognitione de rebus historiae exactum poterant proferre iudicium. Fuerunt enim inter eos qui a Troiano excidio Francorum deducerent gentem, idque tam aperte astruentes, ut etiam regum nomina adscriberent, nescio quid graecanicae proprietatis subolentia. Beatus Rhenanus vermerkt über die Autoren, die aufgrund von Informationsmangel eine Abstammung der Franken von den Trojaner konstruierten: Primum omnium satis demirari nequeo veterum istorum licentiam, qui quoties de origine rei cuiuspiam parum constaret, statim ad fabulas confugerint, fortassis in hoc Romanos et alias nationes imitati. Hinc est, quod Francos nobis ex Troia deducunt […], in: Ders., Rerum Germanicarum libri tres, hg. v. Felix Mundt, Tübingen 2008, S. 86. 32 Im Blick zu behalten ist dabei stets, dass es nach Helmrath keinen linearen Fortschritt an ›Objektivität‹ in der Quellenkritik gegeben hat, sondern dass spätere Autoren auch alte Inhalte weiter referieren konnten, wenn die causa scribendi dies erforderte. Siehe Johannes Helmrath: Probleme und Formen nationaler und regionaler Historiographie des deutschen und europäischen Humanismus um 1500, in: Wege des Humanismus. Studien zu Praxis und Diffusion der Antikeleidenschaft im 15. Jahrhundert. Ausgew. Aufsätze, Bd. 1, hg. v. Johannes Helmrath, Tübingen 2013, S. 213–278, hier : S. 244. 33 Er schreibt, dass sich die Franken von der Antike bis in seine Zeit stets von Troja zurückführen, nimmt jedoch selbst keine Stellung dazu. Jean Bouchet: Les anciennes et moderns G8n8alogies des Roys de France et mesmement du Roy Pharamond, Paris 1537, Einleitung. »Les historiens antiques et modernes se accordent assez que les Francoys sont descenduz des Troyens. Mais tous ne se accordent pour quelle cause ilz ont este nommez francois […]. Autres ont escript quilz prindrent ce nom de Francus ou Francion filz de Hector de Troye. Autres de leur courtoysie ou ferocite et les autres dung Francus filz de Anthaarius descendu des Troyens«.
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auffällig vorsichtige Distanzierung statt. Die Behutsamkeit ihres Vorgehens hing mit einer, bereits Anfang des 16. Jahrhunderts getätigten Feststellung Jean Lemaire de Belges zusammen, nach der hinsichtlich der Abstammungslinie in Frankreich immer noch eine Erwartungshaltung vorherrschte, die von den Autoren bedient werden müsse. So hielten nämlich alle Fürsten, die im Abendland hervorragen an der wahrhaften Erzählung (»la rememoration veritable«) der tatenreichen Trojaner fest.35 Im Zuge der Niederlagen in den Italienischen Kriegen ging das Interesse an einer Abstammungsgeschichte in gleichrangig konzipierter Genealogie wie die der Bewohner Italiens in Frankreich erheblich zurück. Zudem hatte auch die zunehmende Verbreitung des trojanischen Herkunftsmodells im Spätmittelalter zu einer Entwertung seiner ursprünglichen Funktion, der Begründung eines exklusiven Rechts auf die Kaiserwürde, geführt.36 Einer der ersten indigenen französischen Humanisten, die sich dann nicht nur zögerlich sondern deutlich vom Trojastoff abkehrten, war Etienne Pasquier. In seinen Recherches de la France begründet er seine Position damit, dass niemand sich zu diesem Thema sicher äußern könne und dass die Franken von den klassischen Autoren nicht erwähnt werden.37 Zudem verwiesen humanistische Historiographen auf die Unauflösbarkeit der in einigen Erzählvarianten auftretenden Ungereimtheiten, dass etwa Francus der Sohn Hektors gewesen sein soll, dass aber Homer zwar von einem Sohn Hektors berichtete, dieser bei Homer jedoch nicht Francus, sondern Astyanax hieß.38 Im, insbesondere von Paolo Emilio eingeleiteten, 34 Guillaume Du Bellay : Epitome de l’antiquit8 des Gaules et de France, Vincent Sertenas, Paris 1556, fol 26r. »atendu mesmement que les susditz hystoriens […] en tout ce qu’ilz ont escript, dont aussi les sÅavans Grecz et Latins ayent fait mention, ne se trouvent aucunement estre contraires ne discordans / leur tesmoignage«. 35 Jean Lemaire de Belges: Illustrations de Gaule et singularitez de Troie, Paris 1511/1513, Vorwort, S. 1. »Laquelle chose doit trop desplaire / tous coeurs rempliz de generosit8 attendu que la glorieuse resplendissance presques de tous les Princes qui dominent auiourdhuy sur les nations occidentales, consiste en la rememoration veritable des hauts gestes Troyens«. 36 Gernot Michael Müller : ›Quod non sit honor Augustensibus si dicantur a Teucris ducere originem‹, in: Humanismus und Renaissance in Augsburg. Kulturgeschichte einer Stadt zwischen Spätmittelalter und Dreißigjährigem Krieg, hg. v. Gernot Michael Müller, Berlin/New York 2010, S. 237–273, hier S. 255. 37 Etienne Pasquier : Les Recherches de la France, Paris 1621, livre I, S. 17. »Toutefois la commune resolution est que les FranÅois extraicts premierement des Troyens […]. Telle est l’opinion de Gaguin, et Gilles, qu’ils ont tiree de Sigisbert, laquelle ie souhaitterois toutesfois estre plus curieusement remachee. En premier lieu, que nos premiers FranÅois soient descendus des Troyens, quel autheur ancien de nom avons nous, qui nous y puisse server, ou de guide ou de garand?« 38 Jean de Serres: Inventaire General De L’Histoire de France, Paris 1600, S. 2. »C’est cercher la verit8 en la vanit8, suyvant la commune erreur, d’imaginer l’origine des FranÅois ou aux masures et cendres de Troye, ou aux palus Maeotides. Car aux plus anciennes histoires des Troyens, il n’y a un seul mot de Francus ou Francion, fils de Hector, qui n’a eu qu’un fils
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Abrücken von der Gründungslegende taugte der Trojastoff nicht mehr zur Identitätsstiftung für die Franzosen, der als bloße Erfindung entlarvt war. Emilio und nachfolgende Autoren, die nicht nur ihre Quellenbasis, sondern auch die philologischen Instrumentarien für die Textkritik erweiterten und anwandten, lehnten das rein axiologische Vorgehen ab, durch das die Trojageschichte und die Frankengeschichte einst miteinander verbunden worden waren. Zudem war seit den Italienischen Kriegen das allgemeine Interesse der französischen Könige an einer Abstammungsgeschichte, die gleichrangig konzipiert war wie die ihrer italienischen Kontrahenten, sukzessive zurückgegangen. Aus französischer Sicht gab es kaum mehr einen Grund, Italiener nachzuahmen. Vielmehr wurde nach der Auseinandersetzung mit Rom und Habsburg die eigene Kultur über die fremde gestellt. Methodisch setzt Emilio anstelle einer möglichst weit zurückreichenden genealogischen Eingliederung eines Geschlechts in die Welt- und Heilsgeschichte auf quellenfest nachweisbare Genealogien, indem er nach der zunächst kritischen Abhandlung der Gründungsfiguren mit Chlodio, dem ersten fassbaren König der Salfranken, beginnt. Emilio transformiert also die in der Antike so konstruierten und im Mittelalter kompilierten Abstammungserzählungen in autochthone Ursprungsversionen.
Assimilieren von Gründungserzählungen Im Gegensatz zu den im ›kollektiven Gedächtnis‹ der Franzosen verankerten Elementen steht jedoch Emilios – wenn auch recht knapper – Hinweis auf den Wiederaufbau von Florenz durch Karl den Großen. So heißt es im Zuge der Darstellung Karls des Großen: »Florentiam restituit«.39 Damit ist Emilio der einzige Autor, der nördlich der Alpen auf den Wiederaufbau von Florenz durch Karl zu sprechen kommt.40 Gründe, weshalb Emilio die Erzählung – wenn auch in aller Knappheit – aufnimmt, sind zum einen, dass sich sein Auftraggeber Karl VIII. als persönlicher Nachkomme des großen Karls verstand. Karl VIII., Ludwig XII. und Franz. I., die aus der Dynastie der von Karl von Valois im 14. Jahrhundert begründeten Valois, einer Nebenlinie der Kapetinger (bzw. aus deren Nebenlinien Orl8ans und AngoulÞme) stammten, verstanden sich als Nachfahren Karls des Großen und machten sich diese genealogische Herkunft zu Nutze, um ihre Italienpolitik zu legitimieren. So hatte bereits der Dichter Ugolino Verino (1438–1516) Karl den Großen in seinem Carlias-Epos (1489) nicht von nomm8 Astyanax, tu8 en l’aage de trois ans au sac de Troye.« Auch vereinzelte Lösungsversuche, Francus und Astyanax als ein und dieselbe Person zu betrachten oder Hektor zwei Söhne zuzuschreiben, waren dabei nicht zielführend. 39 Emilio, RGF (s. Anm. 8), liber III, fol. xlviiv. 40 Vgl. Maissen, Von der Legende zum Modell (s. Anm. 8), S. 109.
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ungefähr als vorbildlichen Kämpfer präsentiert, kurz bevor der französische Karl VIII. im Oktober 1494 seinen Krieg in Italien begann und Karl VIII. sogar höchstpersönlich für den Wiederaufbau von Florenz verantwortlich macht.41 Und als es zu Beginn des 16. Jahrhunderts um die Nachfolge Kaiser Maximilians ging und Fürsten wie Karl I. von Spanien, Franz I. von Frankreich und Kurfürst Friedrich der Weise von Sachsen darum konkurrierten, wurde eine Rückbindung an Karl den Großen erneut aktuell. Zum anderen war die Legende, dass die Stadt Florenz nach ihrer Zerstörung im Jahre 455 durch den Hunnenkönig Attila beziehungsweise den Ostgotenkönig Totila,42 von Karl dem Großen im 9. Jahrhundert wieder aufgebaut wurde, tief verwurzelt im Geschichtsbild der Italiener. Dieser aus heutiger Sicht gleichermaßen als ein Mythos über Karl den Großen wie auch als Gründungs- bzw. Wiedergeburtsmythos der Stadt Florenz anzusehende Teil damaliger, weitgehend für fraglos gehaltener italienischer Geschichtserinnerung geht auf den Florentiner Geschichtsschreiber und Kaufmann Giovanni Villani zurück. Dieser konstruierte in seiner Nuova Cronica (um 1320) die Legende vom Wiederaufbau der Stadt Florenz durch Karl den Großen.43 In der Nachfolge Villanis entwickelte sich die Karlslegende zu einem festen Bestandteil des kulturellen Wissens und war nicht nur in den vorherrschenden Teilen der traditionellen italienischen Dichtung, sondern auch in der italienisch geprägten Geschichtsschreibung präsent.44 So vermeldet Donato Acciaiuoli in
41 Ugolino Verino, Carlias. Ein Epos des 15. Jahrhunderts, hg. v. Nikolaus Thurn (Humanistische Bibliothek, Reihe II, Texte Bd. 31), München 1995, S. 135. Florentia in primis non solum servata, sed restituta et aucta, quicquid habet dignitatis, id omne debet Vestrae maiestati. 42 Die Frage, ob der Hunnenkönig Attila oder der Ostgotenkönig Totila Florenz zerstört habe, bleibt in der Historiographie strittig. Vgl. Gerhard Straehle: Die Marstempelthese: Dante, Villani, Boccacio, Vasari, Borghini. Die Geschichte vom Ursprung der Florentiner Taufkirche in der Literatur des 13.–20. Jahrhunderts, München 2011, S. 131. 43 Villani hat sich in diesem Zusammenhang auf Quellen wie z. B. die anonyme Chronica de origine civitatis (1228) bezogen, nach der Julius Caesar die Stadt belagert und zerstört habe, sie nach römischem Vorbild habe wieder aufbauen lassen und sie »Florentia« genannt habe. Diese sei von Totila zerstört und wenig später von Römern wieder aufgebaut worden. Nach Villani hätten jedoch die Römer die Stadt nicht wieder aufgebaut, sondern erst Karl der Große habe 300 Jahre später die besten Handwerker für einen Wiederaufbau entsandt. 44 Beispiele hierfür sind: Fazio degli Uberti, Dittamondo 1346; Antonio Pucci, Centiloquio 1373; Ser Giovannni, Pecorone 1378; Giannozzo Manetti, In vita et moribus trium illustrium 1450; Niccolk Machiavelli, Istorie fiorentine 1525. Anspielungen auf die Wiedergründung der Stadt Florenz noch ohne einen Hinweis auf Karl den Großen finden sich bereits in Dantes Divina Commedia und Boccaccios Filocolo. Vgl. Thomas Maissen: Ein Mythos wird Realität. Die Bedeutung französischer Geschichte für das Florenz der Medici, in: Der MediciPapst Leo X. und Frankreich. Politik, Kultur und Familiengeschäfte in der europäischen Renaissance, hg. v. Götz-Rüdiger Tewes/Michael Rohlmann, Tübingen 2002 S. 117–136, hier : S. 120.
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seiner Vita Caroli Magni (1461), dass es niemanden gebe, der vom Wiederaufbau durch Karl den Großen nicht wisse.45 Gleichzeitig wird jedoch auch hinsichtlich dieser Erzählung eine Distanzierung Emilios offensichtlich, die sich nicht nur durch die Kürze der Erwähnung zeigt, sondern auch durch seinen, für den aufmerksamen Leser jedoch schon einige Seiten zuvor, gegebenen Hinweis, dass Vorsicht bei der Übernahme dieser vermeintlichen historischen Gewissheit geboten sei.46 Er verdeutlicht an dieser Textstelle, dass er die Erzählung unter Hinzuziehung von Autoritäten kritisch geprüft habe und weist auf den gelehrten Anastasius Bibliothecarius hin, der nur zwei Aufenthalte Karls des Großen in Italien, jedoch keinen in Florenz, belegt. Anastasius III. zufolge sei zwei Mal in Rom gewesen: das erste Mal anlässlich seiner Ernennung zum Patrizier im Jahr 774, das zweite Mal zu seiner Kaiserkrönung im Jahr 800. Grund für die Distanzierung ist bereits der von Flavio Biondo 1458 erbrachte Nachweis, dass sich die Legende nicht belegen lässt. So schreibt er in seiner Italia Illustrata, dass er lediglich imstande sei nachzuweisen, dass Karl der Große in Florenz Ostern gefeiert habe, nicht aber, dass er auch für den Wiederaufbau verantwortlich gewesen sei.47 Im Zuge der Ausbreitung des Humanismus reifte die Erkenntnis, dass sich in frühen Quellen kein Nachweis über die Erzählung finden lässt, was dazu führte, dass die Karlslegende auch in Florenz allmählich an Bedeutung verlor. An der Legende vom Wiederaufbau von Florenz durch Karl den Großen werden demnach gleichzeitig zwei Methoden Emilios deutlich. Erstens assimiliert er hier einen italienischen Traditionsbestand in seine Frankengeschichte und erwähnt die Legende von der Wiedererrichtung von Florenz durch Karl den Großen, die in der Erinnerungskultur der Franken bislang keine Rolle gespielt hat. Zweitens untersucht er autoritäre Quellen auf einen Nachweis für diesen bislang für wahr gehaltenen Bestandteil historischer Erinnerung und distanziert sich anschließend davon, indem er die Erzählung auf zwei lapidare, geradezu formelhafte Worte, zusammenschrumpft.
45 Vgl. Maissen, Von der Legende zum Modell (s. Anm. 8), S. 51. 46 Emilio, RGF (s. Anm. 8), liber II, fol. xliiiir : Bibliothecarius Romanus nimius prope in recensendis illius aetatis et Caroli Magni rebus, bis omnino eum petisse Italiam, semel cum Patricius, iterum cum Augustus salutatus est, ostendit, res tantas ab illo gestas non dissimulaturus. 47 Flavio Biondo: Italia Illustrata, Buch I, in: Flavio Biondo, Italy Illuminated, hg. u. übers. v. Jeffrey A. White, Bd. I. (The I Tatti Renaissance Library), London 2005, S. 68: Idque, quod de reaedificatione a Carolo Magno facta aliqui sentiunt non probamus, cum Gesta Caroli ab Alcuino, eius praeceptore, scripta, tantummodo dicant illum Romam euntem Florentiae Dominicum Pascha bis celebrasse.
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Ausblendung und Säkularisierung Eine weitere methodische Ausprägungsform der Loslösung von Traditionen bei Emilio lässt sich in seiner Historiographie durch Analyse derjenigen Elemente demonstrieren, die ursprünglich die Funktion der Herrschersakralisierung hatten. Prominentes Beispiel ist die Trias von Salböl, Taube und Lilienwappen, die im Zusammenhang mit der Taufe des ersten zum Christentum konvertierten Frankenkönigs Chlodwig (466–511) steht.48 Gemäß der von Erzbischof Hinkmar von Reims Mitte des 9. Jahrhunderts konstruierten Legende hätten sich bei Chlodwigs Taufe durch Bischof Remigius von Reims so viele Personen in und vor der Abtei Saint-Remis aufgehalten, dass es der Geistliche nicht vermocht habe, sich durch die dicht gedrängte Volksmenge einen Weg zum Eingang der Kirche zu bahnen.49 Da er folglich das heilige Öl für die auf die Taufe folgende Salbung50 Chlodwigs nicht bringen konnte, sei stattdessen unvermutet eine Taube von oben herbeigeflogen und habe in ihrem Schnabel eine Ampulle mit Salböl gebracht.51 Damit fand die Taube als sakrales Element der Darstellung von Chlodwigs Taufe Eingang in die französischen Geschichtswerke, wie unter anderem in Aimoin von Fleurys Historia Francorum und in die Grandes Chroniques.52 In Verbindung mit der Königstaufe im Fran48 Das Jahr der Taufe ist bis heute in der Forschung umstritten. Die Taufe könnte 497, 498, 499 oder auch 507 gewesen sein. Hans-Hubert Anton datiert die Taufe auf 498 oder 499, siehe Hans-Hubert Anton: Chlodwig, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 4, Berlin/New York 1981, S. 478; bei Andreas Kustering heißt es: »Chlodovech wurde wahrscheinlich zu Weihnachten 498 getauft«. Siehe Andreas Kustering: Die vier Bücher der Chroniken des sogenannten Fredegar, in: Quellen zur Geschichte des 7. und 8. Jahrhunderts (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters), Darmstadt 1994, S. 109; Alain Dierkens datiert die Taufe Chlodwigs auf das Jahr 508, siehe Alain Dierkens: Die Taufe Chlodwigs, in: Die Franken. Wegbereiter Europas. Vor 1500 Jahren: König Chlodwig und seine Erben, hg. v. Reiss-Museum Mannheim, Mainz 1996, S. 187. 49 Hinkmar konstruierte die Geschichte im Zusammenhang mit der von ihm durchgeführten Taufe Karls des Kahlen in Metz 869, um diesen in eine Reihe mit Chlodwig zu stellen. 50 Die Salbung ist ein Ritual zur Übertragung und Legitimation politischer Macht nach dem Vorbild biblischer Könige und galt in vielen europäischen Ländern als Akt der Königserhebung. Bevor dem König die eigentlichen Herrschaftsinsignien überreicht wurden, wurden ihm einige Tropfen des heiligen Öls auf die Brust gerieben. Die religiöse Komponente der Krönung verlieh dem König zusätzlich zur weltlichen Macht eine sakrale Stellung. 51 Hinkmar von Reims: Vita Remigii, 15. Vita Remigii, in: Passiones vitaeque sanctorum aevi Merovingici et antiquiorum aliquot (I), hg. v. Bruno Krusch, MGH SS rer. Merov. 3, Hannover 1896, S. 239–349. 52 Aimoin de Fleury : Historia Francorum, Paris 1514 [Josse Bade], liber I, fol. xv, cap. xvi: Nam cum forte qui chrisma ferebat interclusus a populo deesset, ecce subito non alius sine dubio quam sanctus apparvit spiritus in columbae visibili figuratus specie. Qui, rutilanti rostro sanctum deferens chrisma, inter manus deposuit sacerdotis undas fontis sanctificantis; Grandes Chroniques de France, hg. v. Antoine Vérard, Paris 1493, fol. xiir : »Nostre seigneur monstra bien appertement combien il avoit agreable la foy du roy
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kenreich steht neben dem Salböl und der Taube auch das Lilienwappen, das sowohl in schriftlichen als auch in bildlichen Quellen seit dem 11. Jahrhundert ein Bestandteil der französischen Erinnerungskultur ist. Durch eine Legende, die Robert Gaguin zufolge in der Abtei Joyenval, einem Prämonstratenserkloster der Diözese Chartres um 1350, entstand,53 wurde die Regentschaft des Frankenkönigs symbolisch mit der Lilie (Fleur-de-Lys) verbunden. Dieser Legende nach habe Chlodwigs christliche Frau Chrodechilde von einem Engel die Eingebung erhalten, den Wappenschild Chlodwigs dahingehend zu verändern, dass er statt der bisherigen drei goldenen Halbmonde künftig drei goldene Lilien auf blauem Grund zeige.54 Tatsächlich habe Chlodwig unter dem Zeichen der Lilie in den Kampf ziehend, seinen Gegner, den ebenfalls heidnischen König Conflat, in Frankreich besiegt.55 Dankbar und beeindruckt von dem dabei angeblich schlachtentscheidenden Eingreifen des Christengottes sei er zum Christentum übergetreten und habe sich taufen lassen. Die Wirkmächtigkeit der Trias von Taufe, Taube und Liliensymbolik erhöhte sich noch dadurch, dass sie zu einem komplexen französischen Königsmythos kombiniert wurde, der sich in zahlreichen Darstellungen zur französischen Geschichte finden lässt.56 Erneut ist es der Humanist Emilio, der die unhinterfragte Tradierung der Legende unterbricht. Er bringt zwar die Taufe mit dem Salböl und dem Lilienwappen in Verbindung, ignoriert aber die Taube in diesem Zusammenhang: Hos Regios spiritus, de Christiana civilitate mansuetudineque verba faciens Remigius ita demisit in vulgusque aequavit, ut Clodoveus omni fastu deposito, in humilitatemque privati hominis descendens, se purificandum abluendumque Remigio mitissime tradiderit. Ita sacra lustratus aqua, et velut cœlestis muneris chrismate delibutus. Cumque
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nouvellement converti par le grant miracle qui luy advint car droit en ce point que on deust faire l’onction et c’il qui le saint cresme devoit administrer ne peut venir avant pour la presse du peuple ung coulon avola soudainement de devers le ciel non pas coulon mais saint esperit en semblance de coulon aporta en son bec qui moult estoit cler reluisant et replendissant«. Siehe Robert Gaguin: Compendium, hg. v. Durand Gerlier/Jean Petit, Paris 1500, liber I, fol. vv. Vgl. hierzu auch Matthias Becher: Chlodwig I. Der Aufstieg der Merowinger und das Ende der antiken Welt, München 2011, S. 280. Drei Halbmonde waren das Symbol der Sarrazenen und wurden im Spätmittelalter mit dem Heidentum in Verbindung gebracht. Siehe Matthias Becher : Ein Reichsgründer und sein Historiograph: Gregor von Tours über Chlodwig und dessen Taufe, in: Gründungsmythen Europas im Mittelalter, hg. v. Matthias Becher u. a. (Gründungsmythen Europas in Literatur, Musik und Kunst, Bd. 6), Mainz 2013, S. 133–148, hier: S. 134. In literarischen und bildlichen Quellen lassen sich für die Wappenbebilderung auch drei Kröten anstelle der drei Halbmonde finden. Vgl. Michael Randall: On the Evolution of Toads in the French Renaissance, in: Renaissance Quarterly 57.1 (2004), S. 126–164, hier : S. 137. Siehe Becher, Chlodwig I. (s. Anm. 55), S. 280. So zu finden z. B. im Stundenbuch des Herzogs von Bedford (1423), in Robert Gaguins Fortsetzung der Grandes Chroniques de France (1514) oder in Nicole Gilles Les Annales et Chroniques de France (1553).
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tribus diadematibus rubris in alba parma depictis ad eam diem usus fuisset, pro gentilitiis insignibus Liliata signa accepit […].57
Im Gegensatz zu seinen Vorgängern geht Emilio nicht auf die mit der Taufe in Verbindung stehende Taube und die Veränderung der Königssymbolik infolge einer Engelserscheinung ein. Er beschreibt zwar ein vor der Schlacht mit Lilien verziertes Wappen,58 wenngleich er sich nicht zu Farbe und Anzahl der Lilien äußert, bringt es aber nicht in Zusammenhang mit Chrodechilde und der Schlacht von Zülpich. Die Liliensymbolik steht bei Emilio sowohl für die Bekehrung Chlodwigs als auch für den Beginn der französischen Monarchie, auch wenn diese sich nachweislich erst zu einem späteren Zeitpunkt mit dem Lilienwappen identifizierte. Emilios Methode der Säkularisierung besteht hier im Auslassen von legendären Elementen, die unmittelbar mit der göttlichen Instanz als Heilsbringer und Lenker weltlichen Geschehens verbunden waren. Stattdessen geht er auf die eigentliche Funktion und Symbolik der in der Taufe als Akt der Reinigung des Menschen von seinen Sünden ein und setzt dementsprechend die gesamte Taufzeremonie im Vergleich zu vorhumanistischen Autoren ungewöhnlich breit und prominent in Szene. Unterstrichen wird dies in der Darstellung noch durch eine detaillierte Beschreibung der Ausstattung der Kirche, der Gewänder der Teilnehmer und Chlodwigs äußerer Erscheinung.59 Durch Auslassung der früheren sakralen und als Legenden klassifizierten Erzählungen von der Taufe und dem Wechsel der Liliensymbolik schwächt Emilio die durch diese Legenden beigebrachte Sakralität Chlodwigs ab, die zur Legitimation seiner Herrschaft konstruiert worden waren und setzt hingegen durch Ekphrasis Chlodwig als merowingischen Herrscher in Szene, dessen Herrlichkeit und Macht er mit Hilfe narrativer Gestaltungsmittel betont.
57 Emilio, RGF (s. Anm. 8), liber I, fol vir : »Diese königlichen Geister erniedrigte Remigius, indem er Worte über christliches Benehmen und Milde predigte und ihn dem Volk gleichstellte, so dass Chlodwig allen Prunk niederlegte, zum Privatmann hinabstieg und sich Remigius zum Zwecke der Reinigung und des Waschens übergab. So wurde er mit dem Heiligen Wasser gereinigt und durch himmlische Gabe mit der Salbung benetzt. Und da er bis zu diesem Tag drei rote Kronen auf einem weißen Schild gebrauchte, nahm er als Familienwappen dieses Lilienwappen an […].« 58 Die ursprünglichen Symbole waren nach Emilio nicht etwa drei Halbmonde oder Kröten, sondern Kronen. Wie Emilio auf die Kronen kam, konnte bislang nicht nachgewiesen werden. 59 Emilio, RGF (s. Anm. 8), liber I, fol. vir.
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Umdeutung und Neukonstruktion Neben den bislang ermittelten Methoden der Distanzierung von fremden Gründungsfiguren, der Assimilierung von Gründungserzählungen sowie der Ausblendung und Säkularisierung verwendet Emilio bei der Darstellung der ostfränkischen Königin Brunichilde (545/550–613) eine weitere Form der Loslösung von Legenden. Brunhichildes Leben war in der gängigen Tradition geprägt von dem Streit mit der Geliebten ihres Mannes (Fredegunde), die Brunichildes Schwester (Gailswintha) umbringen ließ, und endete damit, dass Brunhichilde mit den Haaren am Schweif eines Pferdes festgebunden zu Tode geschleift worden sei. Ihr bewegtes Leben bot sich für mittelalterliche Legendenkonstruktionen wahrlich an. Befördert wurden diese nicht nur durch die Zusammensetzung ihres althochdeutschen Namens aus ›brunni‹ (Brustpanzer) und ›hiltja‹ (Kampf); auch trug hierzu die mindestens dem Namen nach gegebene Ähnlichkeit zur mythischen Figur der isländischen Königin Brünhild bei, die in der Nibelungensage ihren Ehemann Siegfried ermorden ließ.60 Rasch war das Schreckensbild von der rachsüchtigen, geheimnisvollen Königin Brünhild im kulturellen Gedächtnis mit Brunichilde verknüpft, und seit dem 7. Jahrhundert wird Brunichilde in Quellen stets auffallend pejorativ dargestellt. So bezeichnet sie beispielsweise Jonas von Bobbio (600–659) in seiner Vita Columbani als ›secunda Jesebel‹.61 Jesebel gilt als Synonym für eine hinterhältige, boshafte Frau, die im Alten Testament für die Missetaten Ahabs und die Ermordung zahlreicher Propheten verantwortlich gemacht und zur Strafe schließlich Hunden lebendig zum Fraß vorgeworfen wird.62 Auch der Westgotenkönig Sisebut (um 620) stellt Brunichilde in seiner Vita Desiderii als bösartige Übeltäterin dar, die zahlreiche Morde in Auftrag gegeben habe.63 Ferner wird in dem um 727 entstandenen Liber Historiae Francorum behauptet, Brunichilde habe ihrem Enkel Theuderich II. stets verderbliche Ratschläge gegeben und den Mord an König Chilperich initiiert,64 und in den Grandes Chroniques wird sie
60 Eine Orientierung an der ostfränkischen Brunichilde für die Figur der isländischen Königin ist wahrscheinlich, jedoch nicht sicher belegt. 61 Ionae Vitae Columbani Liber Primus, in: Quellen zur Geschichte des 7. und 8. Jahrhunderts, hg. v. Herwig Wolfram/Andreas Kusternig/Herbert Haupt (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters), Darmstadt 1982, S. 395–497, hier : S. 450. 62 1 Kön 18–19. 63 Sisebut, Vita Desiderii, Kap. 15f., in: MGH SS rer. Merov. 3, Passiones vitaeque sanctorum aevi Merovingici (II), hg. v. Bruno Krusch, Hannover 1902, S. 620–648, hier : S. 634f. 64 [Anonym]: Liber Historiae Francorum, in: Quellen zur Geschichte des 7. und 8. Jahrhunderts (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 4a), übers. u. hg. v. Herbert Haupt, hg. v. Andreas Kusternig, Darmstadt 1982, S. 338–379, hier S. 364–379.
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später als boshafte (malice) und illoyale (desloiaus) Frau beschrieben,65 die durch Hexenkunst aufgefallen sei und ihren Neffen Theoderich vergiftet habe. Paolo Emilio hingegen rückt von der in vorhumanistischen Quellen traditionell pejorativen Darstellung der Brunichilde ab und stellt sie weitaus wohlwollender dar. Für die Untersuchung von Emilios konkretem Vorgehen in diesem Zusammenhang erweist sich folgende Textstelle als zentral: Alii meram tragoediam concinunt, et non modo quicquid usquam impie scelesteve in numen, mortalesve peccatum est, sed quaecunque fingi dicive de perditissimis quibusque possunt, ea uni Brunechildi adscribunt […].66 In erster Linie macht Emilio also für das Negativbild der Brunichilde die früheren Autoren verantwortlich, deren Werke mit reinen Tragödien verglichen werden könnten, da sie auf Brunichilde stets alle Eigenschaften projiziert hätten, die sie bei anderen Negativfiguren finden konnten. Dem Bild der so gebrandmarkten Brunichilde sei insbesondere dadurch Vorschub geleistet worden, dass Quellen unkritisch fortgeschrieben wurden. Emilio weist nach, dass die Darstellungen durch vorhumanistische Autoren fingiert (fingere) gewesen sind; er greift stattdessen auf Inhalte zurück, die auch in Quellen nachweisbar waren und damit Gültigkeit hatten. Demzufolge waren die Inhalte also als Tatsachen anerkannt und wirksam.67 Nicht immer wurde nämlich Brunichilde in solch pejorativer Weise dargestellt. Noch im 6. Jahrhundert beschrieb sie der Zeitgenosse wie der Panegyriker Venantius Fortunatus und Gregor von Tours als eine herausragend schöne und kluge Person.68 Auch Papst Gregor der Große (590–604) hatte die Fürsorge und Frömmigkeit der Brunichilde hervorgehoben, die ihre königlichen Neffen auf eigene Kosten aus dem Gefängnis ausgelöst und viele Kirchen neu gegründet habe, auf den Emilio auf explizit Bezug nimmt.69 Ferner hat der von Emilio besonders geschätzte Giovanni Boccaccio in De casibus virorum illustrum70 zu 65 Les Grandes Chroniques de France, Bd. 5 (Hugo Capet bis Ludwig VI.), hg. v. Jules Viard, Paris 1928: Kap. XIV, S. 45, Kap. XI S. 50 u. Kap. XIV, S. 53. 66 Emilio, RGF (s. Anm. 8), liber I, fol. xixr : »Einige singen reine Tragödien und schreiben einzig der Brunichilde nicht nur zu, was auch immer irgendwo lasterhaft oder verbrecherisch gegen Gott oder Sterbliche gesündigt wurde, sondern auch das, was auch immer gerade über die verdorbensten Menschen erdichtet oder gesagt werden kann.« 67 Vgl. hierzu Wilhelm Vossenkuhl: Geltung, in: Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Bd. I, hg. v. Petra Kolmer/Armin G. Wildfeuer, Freiburg 2011, S. 904–919, hier S. 904. 68 Gregor von Tours: Historiarum, Buch IV, Kap. 27. Erat enim puella. elegans opere, venusta aspectus, honesta moribus atque decora, prudens consilio et blanda colloquio. 69 Emilio, RGF (s. Anm. 8), liber I, fol. xixv : Ea mulier praeterquam quod a divo Gregorio eius temporis aequali Pontifice maximo laudibus effertur ipsa, nepotesque Reges, captivos sua pecunia redemptos, cultosque domum remisit, aedes sacras permultas partim novas condidit, partim vetustate labentes restituit […]. 70 Giovanni Boccaccio: Die neun Bücher vom Glück und vom Unglück berühmter Männer und Frauen, übers., erl. u. hg. v. Werner Pleister, München 1965, S. 158.
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Protokoll gegeben, dass er viele angebliche Greueltaten Brunichildes ausgelassen bzw. abgemildert habe.71 Indem Emilio vorliegende Quellen zu Brunichilde offen kritisiert und die Mängel explizit auflistet, setzt er sich in reflektierter Weise mit der Legende auseinander und äußert hier im Vergleich zu den vorherigen Beispielen viel ausdrücklicher Kritik an den Vorgehensweisen, welche die Legenden begründet haben. Emilio, der sich hinsichtlich seines Anspruches auf Glaubwürdigkeit dezidiert von der unreflektierten Vorgehensweise seiner Vorgänger absetzt, hat das im kulturellen Wissen von Bösartigkeit und Durchtriebenheit durchsetzte Bild der Brunichilde transformiert und dabei durch Hinzuziehung bislang unberücksichtigter Quellen neu konstruiert. In dieses Vorgehen passt beispielsweise auch seine von Gregor von Tours her stammende These, dass Brunichilde ihren Enkel nicht, wie von anderen tradiert, vergiftet habe, sondern dieser an der Darmkrankheit Dysenterie gestorben sei, für die Emilio angibt, Gewährsmänner zu haben.72 Emilio trägt mit seiner Re-Konstruktion des Brunichilde-Bildes maßgeblich dazu bei, dass Brunichilde rehabilitiert wird. Seine als Resultat von Prozessen der Quellenrecherche und Transformation entstandene Darstellung setzt sich schließlich ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts auch bei anderen Autoren durch, die lediglich noch Brunichildes Gegenspielerin Fredegunde negative Eigenschaften zuschreiben, während Brunichilde sukzessive als unschuldiges Opfer angesehen wird.73
Was von den Legenden bleibt Gemäß dem humanistischen Postulat einer Geschichtsschreibung, sich auf quellenfest nachprüfbare, nicht fingierte Ereignisse zu stützen hat, findet bei Paolo Emilio auf unterschiedliche Weisen eine Abkehr von Elementen des zeitgenössischen, französischen kulturellen Gedächtnisses statt, die er durch sorgsame, nach humanistischen Standards durchgeführte Prüfung als nicht valide
71 Emilio, RGF (s. Anm. 8), liber I, fol. xixv : […] tot post seculis non temere venit in mentem Boccatio poetici quidem ingenii authori, sed antiquitatis cognoscendae studiosissimo, contendere eam externam mulierem temporibus perditissimis alienorum scelerum flagrasse invidia. 72 Emilio, RGF (s. Anm. 8), liber I, fol. xixv : […] eandem tunc intercursu optimatium servatam, paulo post veneno nepotem sustulisse, quem dysenteria decessisse authores habeo. 73 Siehe zum Beispiel Papire Masson: Annalium libri quatuor, hg. v. Nicolaus Chesnau, Paris 1578, liber I, S. 49f, Etienne Pasquier : Les Recherches de la France, hg. v. Laurens Sonnius, Paris 1621, livre III, S. 177f.; livre X, S. 936) und Jean de Serres: Inventaire General, Paris 1600, hg. v. Abraham Saugrain/Guillaume des Rues, S. 106 und 125.
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qualifiziert hat.74 Damit distanziert er sich von fremden Gründerfiguren, assimiliert Gründungserzählungen aus dem ›eigenen‹ kulturellen Wissen, blendet fabulöse Elemente aus und transformiert tradierte Überzeugungen in seinem Dafürhalten nach begründeteres Wissen. Dabei wägt er zwischen den einzelnen Quellen ab, prüft deren Glaubwürdigkeit und zieht neue Quellen für seine Analyse hinzu. Er entzieht den in der französischen Erinnerungskultur verankerten Beständen ihre seiner Meinung nach unglaubwürdigen und sagenhaften Komponenten, reduziert sie auf ihre in Quellen nachweisbaren Komponenten und äußert, wenn auch teilweise nicht direkt und ausdrücklich, Kritik an solchen Bestandteilen eines vermeintlichen kulturellen Wissens. Das Schicksal der von Emilio als sagenhaft und fingiert ausgewiesenen Komponenten im Korpus des historischen kulturellen Wissens ist im Zuge der von ihm angestoßenen transformierenden Loslösungsprozesse durchaus unterschiedlich. Im Falle des Trojastoffes stellt er die Überzeugung seiner Zeitgenossen zwar knapp dar, schwächt die damit zusammenhängende Legende aber insbesondere durch eine minimalisierte Erwähnung ab und initiiert auf diese Weise einen Prozess, an dessen Ende die Akzeptanz der Erzählung im 16. Jahrhundert weitgehend verschwunden ist. Die Legende von der Wiedererrichtung von Florenz durch Karl den Großen, die bislang im französischen Traditionsbestand noch nicht vorhanden war, assimiliert er hingegen nur so weit, wie sie sich in der Historia darstellen lässt, ohne sich damit zu disqualifizieren. Im Falle der Erzählung von der Taufe Chlodwigs erreicht Emilio durch Ausblendung, Umgewichtung und Ergänzung eine Sakralisierung des Herrschers als auch eine Erhöhung seiner Herrschaftsfunktion. Hinsichtlich der Person der Brunichilde transformiert Emilio die bestehende Legende insbesondere durch philologische Kritik und substituiert sie durch ein früheres Bild. So hatten für den methodisch geschulten Autor der humanistischen Nationalgeschichte authentische Schilderungen Vorrang vor sagenhaften Erzählungen, die auch bei seinen Gewährsmännern nicht zu finden waren. Die reflektierte und vielfältige kritische Auseinandersetzung mit den als Legenden ausgewiesenen Erzählungen in Paolo Emilios Historiographie kann als einer der Gründe für den Erfolg seines in zahlreichen Auflagen und mehreren Sprachen gedruckten Werkes De rebus gestis Francorum angesehen werden, vermeidet sie doch einerseits das unbefragte Weitergeben bestehender legendärer Stoffe als vermeintliches Geschichtswissen und sieht sie doch andererseits von einer dürren Auslassung ohne Kommentar oder von einer pauschalen 74 Vgl. Johannes Helmrath: Die Umprägung von Geschichtsbildern in der Historiographie des europäischen Humanismus, in: Von Fakten und Fiktionen. Mittelalterliche Geschichtsdarstellungen und ihre kritische Aufbereitung, hg. v. Johannes Laudage (Europäische Geschichtsdarstellungen 1) Köln u. a. 2003, S. 323–352, hier : S. 337.
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Diskreditierung fest tradierter Elemente des zeitgenössischen Geschichtswissens ab. Es ist dies eine der Weisen, in der Paolo Emilio vergangene Ereignisse in Erinnerungen verwandelt.
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Einleitung Abbildung 1: Rembrandt, Moses mit den Gesetzestafeln, 1659, Öl auf Leinwand, 168,5 x 136,5 cm (bezeichnet rechts unten: Rembrandt f. 1659), Berlin, Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz, Gemäldegalerie. Quelle: Ernst van de Wetering: Rembrandt: the painter at work, Berkeley u. a. 2009, S. 208, Abb. 270.
Sabine Spohner: Die Eroberung Jerusalems durch Titus in der altniederländischen Malerei. Überlegungen zur Genter Tafel Abbildung 1: Die Eroberung Jerusalem durch Titus, um 1468, Gent, Museum Voor Schone Kunsten, Öl auf Holz 30 x 169,4 cm. Quelle: Bodo Brinkmann: Die flämische Buchmalerei am Ende des Burgunderreichs. Der Meister des Dresdener Gebetbuchs und die Miniaturen seiner Zeit, Turnhout 1997, Band 1, S. 26. Abbildung 2: Die Eroberung Jerusalem durch Titus, um 1468, Gent, Museum Voor Schone Kunsten, Öl auf Holz 30 x 169,4 cm. Quelle: Bodo Brinkmann: Die flämische Buchmalerei am Ende des Burgunderreichs. Der Meister des Dresdener Gebetbuchs und die Miniaturen seiner Zeit, Turnhout 1997, Band 1, S. 27. Abbildung 3: Die Eroberung Jerusalem durch Titus, um 1468, Gent, Museum Voor Schone Kunsten, Öl auf Holz 30 x 169,4 cm. Quelle: Bodo Brinkmann: Die flämische Buchmalerei am Ende des Burgunderreichs. Der Meister des Dresdener Gebetbuchs und die Miniaturen seiner Zeit, Turnhout 1997, Band 1, S. 28. Abbildung 4: Die Eroberung Jerusalem durch Titus, um 1468, Gent, Museum Voor Schone Kunsten, Öl auf Holz 30 x 169,4 cm. Quelle: Bodo Brinkmann: Die flämische Buchmalerei am Ende des Burgunderreichs. Der Meister des Dresdener Gebetbuchs und die Miniaturen seiner Zeit, Turnhout 1997, Band 1, S. 29. Abbildung 5: Justus van Gent, Kreuzigungstriptychon, Gent, St. Bavo, um 1465–68, Eichenholz, Mitteltafel: 216,1 x 169,8 cm; Flügel: 216,2 x 80,8 cm. Quelle: Hans Belting/
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Abbildungsverzeichnis
Christiane Kruse: Die Erfindung des Gemäldes. Das erste Jahrhundert der niederländischen Malerei, München 1994, Tafel 160–161. Abbildung 6: Wiener Meister der Maria von Burgund, Kreuzannagelung (fol. 43v), Stundenbuch der Maria von Burgund, Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 1857, um 1468, Pergament, 22,5 x 16,3 cm. Quelle: Hans Belting/Christiane Kruse: Die Erfindung des Gemäldes. Das erste Jahrhundert der niederländischen Malerei, München 1994, Tafel 165.
Annett Klingner: Verteufelt – Verändert – Verfälscht – Vergessen. Das Krönungshoroskop von Alexander VI. Borgia im Vatikan Abbildung 1: Apollo und seine Kinder, Sala delle Sibille, Appartemento Borgia, Vatikanische Museen, Rom. Annett Klingner per gentile concessione dei Musei Vaticani, Archivio Fotografico. Abbildung 2: Venus und ihre Kinder, Sala delle Sibille, Appartemento Borgia, Vatikanische Museen, Rom. Annett Klingner per gentile concessione dei Musei Vaticani, Archivio Fotografico. Abbildung 3: Venus und ihre Kinder (Detail), Sala delle Sibille, Appartemento Borgia, Vatikanische Museen, Rom. Annett Klingner per gentile concessione dei Musei Vaticani, Archivio Fotografico. Abbildung 4: Festung Jativ#, 1789, gemeinfrei (http://commons.wikimedia.org/wiki/File: X%C3%A0tiva,_1786.jpg) [Abrufdatum: 17. 07. 2014, 17.02 Uhr]. Abbildung 5: Astrologie, Sala delle Sibille, Appartamento Borgia, Vatikanische Museen, Rom. Annett Klingner per gentile concessione dei Musei Vaticani, Archivio Fotografico. Abbildung 6: Astrologie (Rekonstruktionsversuch von Bilddetails), Sala delle Sibille, Appartamento Borgia, Vatikanische Museen, Rom. Annett Klingner per gentile concessione dei Musei Vaticani, Archivio Fotografico. Abbildung 7: Venus und ihre Kinder (Detail), Sala delle Sibille, Appartamento Borgia, Vatikanische Museen, Rom. Annett Klingner per gentile concessione dei Musei Vaticani, Archivio Fotografico.
Antonia Putzger: »…ich aestimiere die Rarität!« Überlegungen zu Status und Funktion des religiösen Bildes in der frühneuzeitlichen Sammlung Abbildung 1: David Tenier, d. J., Galerie des Erzherzogs Leopold in Brüssel (IV), um 1653, Leinwand, 99,7 V 128,4 cm, München, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, T Creative Commons Abbildung 2: Agnolo Bronzino, Auferstehung Christi, Mitte 16. Jh., Öl auf Holz, 445 V 280 cm, Florenz, Santissima Annunziata. Quelle: Thomas Frangenberg: Der Betrachter. Studien zur florentinischen Kunstliteratur des 16. Jahrhunderts, Berlin 1990 [zugl. Diss., Köln 1986], Abb. 11.
Abbildungsverzeichnis
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Marion Müller: Das Schloss als Empfangsort. Überlegungen zu einer Funktion französischer maison de plaissance und ihrer Bedeutung für das Geltungsstreben neuer Eliten im französischen 17. Jahrhundert Abbildung 1: Vaux-le–Vicomte, Gartenansicht. Foto: Marion Müller Abbildung 2: G8rard Audran, Le palais du Soleil, Stich nach einem Entwurf von Charles Le Brun für die Kuppel des Grand Salon in Vaux-le–Vicomte, 1681. Quelle: Jean-Marie Pérouse de Montclos: Le ch.teau de Vaux-le–Vicomte, Nouvelles Pditions Scala, Paris 2012, S. 140.
Frank Jasper Noll: Thesaurus eruditionis. Antikes ›Weltwissen‹ zwischen fabula und historia in Johannes Herolds Heydenwelt (Basel 1554) Abbildung 1: Heydenweldt vnd irer Goetter anfaengcklicher vrsprung etc. Basel: Heinrich Petri 1554, Universitätsbibliothek Heidelberg, Sign. C 1588 Folio RES, Titelblatt, CC-BY-SA 3.0 Abbildung 2: Heydenweldt vnd irer Goetter anfaengcklicher vrsprung etc. Basel: Heinrich Petri 1554, Universitätsbibliothek Heidelberg, Sign, C 1588 Folio RES, Titelblatt (Detail), CC-BY-SA 3.0 Abbildung 3: Heydenweldt vnd irer Goetter anfaengcklicher vrsprung etc. Basel: Heinrich Petri 1554, Universitätsbibliothek Heidelberg, Sign. C 1588 Folio RES, Planetentafel des Jupiter (unpaginiert), CC-BY-SA 3.0