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German Pages [216] Year 2003
Wedig Kolster
Wissen und Bewerten Unterwegs zu einer Ethik der Naturwissenschaft
ALBER PHILOSOPHIE
https://doi.org/10.5771/9783495997208
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Wedig Kolster Wissen und Bewerten
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In diesem Buch wird ein neues Verständnis von Wissen auf der Grundlage der Kommunikationsprozesse eines Individuums mit seiner Umwelt entworfen. Gestützt auf neueste neurobiologische Forschungen unterscheidet der Autor ein Wissen über die Umwelt aus den Wahrnehmungen, aus den Emotionen und aus den Reflexionen, wobei den Emotionen die unverzichtbare Aufgabe der Bewertung der Wahrnehmungen zufällt. Dieser Zugang ermöglicht es, objektiviertes Wissen über die Welt, wie es die Naturwissenschaften hervorbringen, systematisch zu verknüpfen mit den subjektiven Aspekten des Individuums, wie sie in den Geisteswissenschaften zum Ausdruck kommen. Aus dieser unauflöslichen Verbindung lässt sich ein Alleinvertretungsanspruch der Naturwissenschaften nicht aufrechterhalten, weil zu einem Wissen über die Welt die emotionale Bewertung hinzugehört. Aus dieser systematischen Verbindung erschließt der Autor einen Weg zu einer Ethik der Naturwissenschaften. Der Autor: Dr. Wedig Kolster, Jahrgang 1935, Studium der Philosophie und Wissenschaftslehre, arbeitete auf dem Gebiet konstruktivistischer Erkenntnistheorien. Nach Beendigung seiner Tätigkeit in der Militärgeschichtsforschung nimmt er seit 1995 einen Lehrauftrag an der Universität Freiburg wahr.
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Wedig Kolster
Wissen und Bewerten Unterwegs zu einer Ethik der Naturwissenschaften
Verlag Karl Alber Freiburg / München https://doi.org/10.5771/9783495997208 .
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Alle Rechte vorbehalten – Printed in Germany © Verlag Karl Alber GmbH Freiburg/München 2003 www.verlag-alber.de Originalausgabe Einbandgestaltung: SatzWeise, Föhren Einband gesetzt in der Rotis SemiSerif von Otl Aicher Satzherstellung: SatzWeise, Föhren Inhalt gesetzt in der Aldus und Gill Sans Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg 2003 ISBN 3-495-48088-9
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Inhaltsverzeichnis
A.
B.
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Wissen und Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Überblick: Wissen und Bewerten . . . . . . . . . . . .
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Wissen und Welt
III. Vom Wissen . . . . . . . . a. Zum Begriff des Wissens b. Einteilung des Wissens . c. Methode . . . . . . . .
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17 17 19 24
IV. Die Frage nach einer dem Wissen vorausgehenden Welt a. Zum Begriff der Außenwelt . . . . . . . . . . . . b. Außenwelt in den Wahrnehmungstheorien . . . . c. Wahrnehmungstheorien des Realismus . . . . . . d. Phänomenologische Theorien der Wahrnehmung .
26 26 32 33 35
V. Eine Kritik des Radikalen Konstruktivismus . . . . a. Das Konzept des Radikalen Konstruktivismus . b. Die Konstruktion der Wirklichkeit . . . . . . . c. Eine Kritik des Geltungsanspruchs des Radikalen Konstruktivismus . . . . . . . . . . . . . . . . d. Leistungen und Grenzen des Radikalen Konstruktivismus . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
C.
Wissen und Zugrundeliegendes . . . . . . . . . . . .
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VI. Zugrundeliegendes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Der Begriff des Zugrundeliegenden . . . . . . . . . b. Überlegungen zum Nachweis der Einteilung des Wissens und seines Zugrundeliegenden . . . . . .
55 55
VII. Wahrnehmungswissen und Zugrundeliegendes . a. Die Sinnesorgane . . . . . . . . . . . . . . . b. Topographie des Gehirns . . . . . . . . . . . c. Neuronale Prozesse . . . . . . . . . . . . . . d. Zugrundeliegendes als Quelle der Umweltreize e. Wahrnehmung: ein schöpferischer Prozeß . .
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VIII. Emotionswissen und Zugrundeliegendes . . . . . . . . a. Vom Einfluß der Gefühle auf ein Wissen . . . . . . b. Lokalisation und Spezifizierung der Emotionen im Gehirn und ihre Reizquellen . . . . . . . . . . . . c. Emotionen: eine Art des Wissens . . . . . . . . . . d. Emotionale Kommunikation . . . . . . . . . . . . e. Handeln und Verhalten aus emotionaler Bewertung
74 74
IX. Reflexionswissen und Zugrundeliegendes . . a. Reflexion: eine Art des Wissens . . . . . b. Reflexion des Wissens . . . . . . . . . . c. Zugrundeliegendes des Reflexionswissens d. Das Eigentümliche des Reflexionswissens e. Reflexion und Abstraktion . . . . . . . .
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79 85 93 95 98 98 102 104 107 109
X. Beziehungen zwischen den Arten des Wissens . . . . . 113 a. Eigentümlichkeiten der Arten des Wissens und ihre Zuordnung zueinander . . . . . . . . . . . . . . . 113 b. Systematischer Zusammenhang der drei Arten des Wissens durch das Zugrundeliegende . . . . . . . . 118 XI. Begründungszusammenhang und Rechtfertigung . . . 123 a. Begründungszusammenhang . . . . . . . . . . . . 123 b. Rechtfertigung der empirischen Methode . . . . . 124
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Inhaltsverzeichnis
D.
Kritische Betrachtung wissenschaftlichen Wissens . . 127
XII. Wissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Wissen in den Wissenschaften . . . . . . . . . . b. Die Arten des Wissens in den Wissenschaften . . c. Geschichtlichkeit der Wissenschaften . . . . . . . d. Systematisches der Wissenschaften . . . . . . . . e. Folgen einer Trennung der Wissenschaftsbereiche
. . . . . .
127 127 130 132 138 144
XIII. Öffnen des wissenschaftlichen Wissens für das Einmalige seiner Gegenstände . . . . . . . . . . . . . 150 a. Wahrnehmungswissen als gemeinsame Grundlage . 150 b. Systematische Verknüpfung eines Wissens des Allgemeinen mit dem Wissen vom Einzelnen . . . 152
E.
Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
XIV. Ethik aus Emotionen . . . . . . . . a. Zum Begriff der Ethik . . . . . . b. Normen . . . . . . . . . . . . . c. Ethik aus emotionaler Bewertung
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157 157 158 161
XV. Bewertungen und Werte . . . . . a. Einteilung der Bewertungen . b. Reflektieren der Bewertungen c. Werte . . . . . . . . . . . . .
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179 179 182 183
XVI. Handlungsentscheidungen a. Freiheit . . . . . . . . b. Wille . . . . . . . . . c. Vernunft . . . . . . .
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XVII. Ethik und Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . a. Naturwissenschaft und Bewertung . . . . . . . b. Systematische Begründung einer Bewertung der Naturwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . c. Schlußbetrachtung zum Wissen und Bewerten .
. . 187 . . 187 . . 189 . . 197
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Inhaltsverzeichnis
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Verzeichnis der Schlüsselbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . 215
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A. Einfhrung
I.
Wissen und Welt
Unser Wissen von der Welt besteht aus unserem alltäglichen Wissen und aus Reflexionen über dieses. Das Alltagwissen präsentiert seine Gegenstände in der Wahrnehmung und in Emotionen, während eine Reflexion die Gegenstände befragt und ein Wissen über sie hervorbringt wie z. B. in seinem geordneten Zusammenhang als Wissenschaft, aber auch in Gestalt von Kunst und Religion. In manchen Bereichen des Wissens aus der Reflexion über die Natur, d. h. in der Naturwissenschaft, sind gegenwärtig Probleme dadurch entstanden, daß wir über manche gewonnenen Erkenntnisse verfügen, von denen wir nicht mehr wissen, ob wir sie anwenden dürfen; ob wir das, was zu wissen möglich scheint, erforschen dürfen. Das Wissen nach Gesetzmäßigkeiten über Gegenstände der Natur und das Wissen, das wissenschaftliches Handeln bewertet, haben sich auseinanderentwikkelt. Zwischen beiden ist eine Kluft entstanden, die nicht mehr erlaubt, Wissen nach Naturgesetzmäßigkeiten und moralisches Wissen – das, was erlaubt sein soll zu tun und was nicht erlaubt sein soll – aus gemeinsamer Grundlage zu begründen. Die naturwissenschaftliche Forschung geht in einigen Bereichen auf einem Weg voran, der vielfältige Machbarkeiten erlaubt und der zugleich zu einem Unbehagen führt in der Vorstellung, ihn weiter zu verfolgen. Therapeutisches Klonen als ein Beispiel aus der Molekularbiologie macht das Unbehagen deutlich, das aus einer Kluft zwischen Naturwissenschaft und moralischer Bewertung entsteht: Die Molekularbiologie ermöglicht einerseits, einen Menschen zu klonieren, d. h. durch Embryonenteilung oder durch Zellkernverpflanzung ein Individuum zu vervielfältigen; andererseits wird eine Anwendung dieses Wissens und eine weitere Erforschung von einer kritischen Öffentlichkeit nicht akzeptiert. 1 Befürworter verweisen z. B. 1 Klonen ist in vielen Ländern, auch in Deutschland rechtlich verboten; Möglichkeiten des Klonens und seine Zulassung werden aber aus verschiedenen Motiven erwogen.
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Einfhrung
auf die Möglichkeit der Herstellung von Ersatzorganen für kranke Patienten, wobei eine Schädigung oder Abtötung des Klons dabei nicht ausgeschlossen wird; sie berufen sich auf eine Moral des Heilens und der Hilfe für Patienten. Die Gegner halten therapeutisches Klonen für einen Eingriff in das Menschsein, der den Menschen in seiner Individualität verletzt; der geklonte Embryo wird zum Diener eines Zweckes. Ein naturwissenschaftliches Wissen über Klonieren und ein moralisches Wissen aus einer Bewertung stehen einander unvermittelt gegenüber. Da ein Wissen über Herstellung eines Klons nach naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten keine Orientierung enthält, ob die Herstellung erlaubt sein soll, ergibt sich eine Konkurrenz zwischen beiden, die zu dem beschriebenen Unbehagen führt und die wissenschaftstheoretisch bisher nicht ausgeräumt werden konnte. Welchem Wissen soll man folgen? Wenn es gelingt, naturwissenschaftliches Wissen und dessen moralische Bewertung aus gemeinsamer Begründungsgrundlage herzuleiten, könnte ein Wissen – in diesem Fall über den Embryo – entstehen, in das naturwissenschaftliches Können und dessen Bewertung integriert sind. Es würde zu einer Beurteilung der Frage führen, ob das Lebensrecht eines Embryos eine Verrechnung mit einem hilfsbedürftigen Patienten erlaubt. Eine Betrachtung der Geschichte der Wissenschaft zeigt, daß die genannte Kluft des Wissens historisch entstanden ist: Die Naturwissenschaften haben in der Neuzeit Einmaliges und Subjektives aus ihrem Wissen ausgeschlossen; möglicherweise damit auch einen Zugang zu ihrer Bewertung, wie noch zu klären sein wird. Die Geisteswissenschaften haben dagegen Subjektives und Einmaliges der Wissenschaft wieder zugänglich gemacht, aber um den Preis, daß Kriterien dessen, was als Wissen gelten soll, und die Methoden zu einer unüberbrückbaren Trennung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften geführt haben. Die Kluft zwischen beiden hat nicht nur zu ihrer Konkurrenz in Fragen der Wissenschaftspolitik, der Finanzierungen und Förderung von Forschungsprojekten geführt, sondern vor allem zu einem unvollständigen Wissen über ihre Gegenstände. Über das Auge z. B. erklärt die Naturwissenschaft optische und physiologische ZusamSiep, 1999, S. 22 ff., diskutiert die mit dem Klonen zusammenhängenden ethischen Fragen ausführlich; vgl. auch Mieth (2002), der einen umfassenden Überblick über die Herausforderungen an eine Ethik vor allem in der Medizin und der Biochemie gibt.
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Wissen und Welt
menhänge, nicht aber seinen emotionalen Ausdruck wie Liebe oder Trauer; diesen betrachtet dagegen z. B. eine Poetik. Die Kluft zwischen Natur- und Geisteswissenschaften ist unüberbrückbar geworden, weil ihnen eine gemeinsame Wissensbegründung fehlt, auf die sich beide beziehen können. Kann diese Kluft überwunden und gezeigt werden, wie Gesetzmäßiges und Einmaliges, Objektives und Subjektives zu einem vollständigen Wissen ihrer Gegenstände integriert zusammengehören? Zwei Fragen – die allgemeine nach einer Überwindung der Kluft zwischen Natur- und Geisteswissenschaften und die besondere nach einer Bewertung der Naturwissenschaft – verlangen nach einer Überprüfung dessen, was als Wissenschaft gelten kann. Daß unsere Vorstellung von Wissenschaft einer Überprüfung bedarf, läßt sich auch an zwei anderen Entwicklungen zeigen. Zum einen geht es um die Anerkennung von Wahrnehmen, Fühlen und Denken als unterschiedliche und gleichberechtigte Arten des Wissens. Im alltäglichen Leben werden sie als eigenständige und gleichberechtigte Arten akzeptiert, nicht dagegen in der Naturwissenschaft. Sie beruft sich auf Denken, vereinnahmt Wahrnehmung zur empirischen Rechtfertigung ihrer Aussagen und schließt Emotionen aus; als eigenständige Art werden weder Wahrnehmungen noch Emotionen akzeptiert. Der Grund dafür ist, daß sich im Laufe der Wissenschaftsgeschichte Vorstellungen über naturwissenschaftliches Wissen herausgebildet haben wie z. B. die Beschränkung auf Objektivierbarkeit, die ein Wissen aus Wahrnehmungen und aus Emotionen nicht erfüllt. Deren Wissen repräsentiert das Einmalige einer Situation und das Subjektive des Betrachters. Versteht man aber Wissen als einen Prozeß, wie es die Konstruktivisten gestützt auf neue Einsichten aus den Neurowissenschaften tun, dann gewinnen Wahrnehmungen und Emotionen eine eigenständige Bedeutung zur Hervorbringung von Wissen. Zweitens werden herkömmliche Entwürfe zur Erklärung des Wissens wie der aus einer Kombination von sinnlichem und geistigem Vermögen (s. Kant) oder der aus einem Bewußtsein (s. Phänomenalisten) oder der aus einer Abbildung der Welt (s. Realisten) neuen neurobiologischen Forschungsergebnissen nicht mehr gerecht. Ihre Erkenntnisse zeigen, daß sich ein Subjekt sein Wissen aus einer Kommunikation mit einer Umwelt herausbildet. Sie erklären, wie ein Subjekt sein Wissen selbst erschafft. Es wird deshalb unser Wissen daraufhin zu überprüfen sein, wie es sich aus unterschiedlichen A
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Einfhrung
Kommunikationsmöglichkeiten mit der Umwelt ergibt und wie es nach den unterschiedlichen neuronalen Prozessen, aus denen es hervorgebracht wird, eingeteilt werden kann. Allerdings ist eine Erklärung des Wissens aus der Kommunikation eines Subjekts mit seiner Umwelt mit einem Problem verbunden: Die Erklärung erlaubt nicht mehr, Wissen als Abbildung einer existierenden Außenwelt zu verstehen, deshalb bestreiten solche Theorien eine Außenwelt. Damit geht aber eine Instanz verloren, die bisherige Vorstellungen von Wissen prägte und rechtfertigte. Deshalb ist zu fragen, ob diese Art der Erklärung überzeugt, oder ob doch eine unserem Wissen vorausgehende Welt anzunehmen ist. Sind also ein Wissen von der Welt und die Welt zweierlei oder konstituiert das Wissen die Welt? Die Frage nach der einem Wissen vorausgehenden Welt ist auch deshalb von Bedeutung, weil sie geeignet sein könnte, die Kluft zwischen natur- und geisteswissenschaftlichem Wissen zu überwinden.
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berblick:
II.
berblick: Wissen und Bewerten
In einem ersten Teil geht es um Fragen nach einer Erklärung des Wissens. Was zeichnet ein Wissen aus, was soll dazu rechnen, wo sind seine Quellen und gibt es Unterschiede innerhalb des Wissens? Die Antwort orientiert sich an den Vorstellungen von Wissen als Ergebnis einer Kommunikation eines Subjekts mit seiner Umwelt, die in den Neurowissenschaften und im Radikalen Konstruktivismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihren Niederschlag gefunden haben. Die Erkenntnisse aus der Neurowissenschaft verlangen eine neue Einteilung des Wissens, weil ihnen die alte Einteilung aus geistigen Vermögen nicht mehr gerecht wird. Die neue Einteilung unterscheidet Wahrnehmungswissen, Emotionswissen und Reflexionswissen, nachgewiesen aus neuronalen Prozessen. Vor dem Hintergrund der neuen Einteilung soll geprüft werden, was wir von einer Welt wissen und wissen können, die sich einem Subjekt in einer Kommunikation mit der Umwelt präsentiert. Nach Erkenntnissen der Neurowissenschaften über das Entstehen von Wissen ist die Vorstellung von einer Außenwelt fragwürdig geworden. Wie kann man ein Wissen von einer Welt, d. h. die Beziehung eines Wissens zu seinen Gegenständen erklären? Zunächst werden aus der Philosophiegeschichte überlieferte Entwürfe angesichts neurowissenschaftlicher Erkenntnisse geprüft, ob sie diesen noch standhalten können, beginnend mit den Wahrnehmungstheorien des Realismus und des Phänomenalismus. Ausführlicher wendet sich die Untersuchung der Theorie des Radikalen Konstruktivismus zu. Er erklärt Wissen als Prozeß aus der Kommunikation eines Subjekts mit seiner Umwelt. In der Prozeßerklärung hat eine Außenwelt keinen Platz mehr und wird bestritten. Eine Kritik an dem Radikalen Konstruktivismus zeigt aber, daß nur dann eine Außenwelt bestritten werden kann, wenn sie als eine solche angenommen wird, die in der Wahrnehmung abgebildet wird. Nicht bestritten werden dagegen Quellen der Reize, die über die Sinnesorgane und neuronale Prozesse bestimmenden Einfluß auf ein Wahrnehmungswissen ausüben. Wahrnehmungswissen ist zwar das Ergebnis eines schöpferischen Prozesses des Subjekts, das die Reize aus der Umwelt verarbeitet; es gehen aber Reize der Umwelt voraus, die einem Wahrnehmungswissen zugrunde liegen und aus den unterschiedlichen neuronalen Prozessen als differenzierte Quellen rekonstruiert werden können. Ihre A
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Gesamtheit wird hier anstelle Außenwelt ein dem Wissen Zugrundeliegendes genannt. Im folgenden Abschnitt geht es um die Herausbildung des Wissens gemäß der neuen Einteilung, unterschieden nach bestimmten Unterscheidungsmerkmalen: Diese sind sensorische Signale, bestimmte neuronale Reaktionen und Gehirnorte. Sie kennzeichnen drei verschiedene Prozesse der Wissensbildung: das aus der Wahrnehmung, das aus Emotionen und das aus der Reflexion. Jede Art verfügt über Eigentümlichkeiten. Aus den neuronalen Reaktionsmustern und aus einer Topographie des Gehirns lassen sich einem bestimmten Wahrnehmungs- und Emotionswissen entsprechende Reize und deren Quellen aus der Umwelt zuordnen; die differenzierten Reizquellen gehen dem Wissen voraus und werden als dessen Zugrundeliegendes bezeichnet. Die Reizquellen lassen sich als notwendige Bedingung für die Herausarbeitung eines Wahrnehmungsbzw. Emotionswissens erweisen. Durch ihren Einfluß als notwendige Bedingung kommt zum Ausdruck, daß es sich bei der Herausbildung des Wissens um keine Abbildung einer Umwelt handelt, sondern um den Nachweis, daß dort, wo Wissen entsteht, Einflüsse des Zugrundeliegenden wirksam sind oder waren; hinzu kommen solche der individuellen und artgemäßen Ausstattung eines Subjekts. Es zeigt sich, daß jede Art des Wissens die ihr eigentümliche Sichtweise eines Gegenstandes hervorbringt. Wahrnehmungswissen erfaßt seinen Gegenstand in seiner Einmaligkeit und Vielfalt; Emotionswissen vermittelt eine Bewertung des Wahrnehmungswissens und beeinflußt Handeln und Verhalten des Subjekts; Reflexionswissen, das sich auf Wahrnehmungswissen bzw. Emotionswissen stützt, betrachtet besondere Aspekte des Gegenstandes, stellt Zusammenhänge her und ermöglicht Voraussagen durch Erklärung. Ein Blick auf den Begründungszusammenhang über die Herausbildung der Arten des Wissens und deren Zugrundeliegendes macht klar, daß eine empirische Herleitung aus den Erkenntnissen der Neurowissenschaften gerechtfertig ist und daß eine zirkuläre Begründung nicht auftritt, weil die notwendige Bedingung der Herausbildung durch ein Wahrnehmungswissen nachgewiesen wird, das keiner Theorie bedarf. Im nächsten Abschnitt wird wissenschaftliches Wissen betrachtet. Ein Blick auf seine historische Entwicklung zeigt, wie die Kluft zwischen Natur- und Geisteswissenschaft dadurch entstanden ist, daß Wissenschaft bestimmte Kriterien erfüllen sollte. Deutlich wird, 14
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was naturwissenschaftliches Wissen leisten kann und was ihm unzugänglich bleibt vor dem Hintergrund des vorausgesetzten Wahrnehmungswissens. Da es sich auf dieses stützt und bezieht, erscheint es aber nicht gerechtfertigt, sich von letzterem losgelöst zur Geltung zu bringen. Es liegt im Gegenteil nahe, alle drei Arten in das wissenschaftliche Wissen zu integrieren. Dadurch wird erreicht, daß die Eigentümlichkeiten jeder Art einander ergänzend in einem wissenschaftlichen Wissen zur Geltung kommen: naturwissenschaftliches Wissen als dasjenige Reflexionswissen, das Aspekte des Gegenstandes aus Gesetzmäßigkeiten erklärt, und geisteswissenschaftliches Wissen, das Wahrnehmungs- und Emotionswissen als dasjenige vom Einzelnen, vom Besonderen und Veränderlichen des Gegenstandes erfaßt. Die Integration der Arten des Wissens ist berechtigt, weil alle drei Arten und dadurch beide Wissenschaftsbereiche von einem ihnen gemeinsam Zugrundeliegenden geprägt sind. Ihre Integration führt zu einem vollständigen Wissen von dem Gegenstand. Sie ermöglicht, die Kluft zwischen den beiden Wissenschaftsbereichen zu überwinden, weil natur- und geisteswissenschaftliches Wissen sich als zusammengehörig erweisen und entsprechend ihrer Systematik und Methodik einen je eigentümlichen Beitrag zu einem vollständigen Wissen leisten. In einem letzten Teil wird die Frage nach einer Ethik der Naturwissenschaft behandelt. Es ist eine Ethik, die aus Emotionen hervorgeht. Es ist die emotionale Bewertung des Wahrnehmungswissens, die auf ein Handeln und Verhalten Einfluß ausübt. Eine Ethik auf der Grundlage emotionaler Bewertung vermeidet die Inanspruchnahme irgendwelcher Normen, deren Geltung oft strittig ist. Sie stützt sich dagegen auf Bewertungen der einzelnen Situation aus angeborenem bzw. erworbenem emotionalen Wissen, das sich am Überleben des Subjekts, am Wohlbefinden der Ersten Person, an Empathie und sozialer Kommunikation mit dem anderen und der Gemeinschaft orientiert. Eine Reflexion der Bewertungsergebnisse schafft Distanz für kritische Betrachtung, für ein Abwägen von Handlungsalternativen und erschließt Handlungsstrategien aufgrund gewonnener Erfahrungen. Eine Ethik aus Emotionen orientiert sich am Einzelfall und dessen Bewertung durch ein Subjekt in seiner Kommunikation mit seiner Umwelt und vermeidet einen Anspruch auf Normen, über die meist kein Konsens herzustellen ist. Emotionale Bewertung bildet Werte heraus, deren Verallgemeinerung durch die Einflüsse aus dem Zugrundeliegenden und vergleichbaren BedürfA
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nissen der Individuen nach Überleben, Wohlbefinden und sozialer Kommunikation gerechtfertigt erscheint. Eine Ethik naturwissenschaftlichen Handelns wird möglich, weil sich dessen abstrahiertes Wissen auf Wahrnehmungswissen bezieht, das seinerseits einer emotionalen Bewertung unterliegt. Wenn es um die Erforschung von Gesetzmäßigkeiten z. B. in der Zellbiologie geht oder um die Anwendung von deren Ergebnissen, dann bezieht sich das naturwissenschaftliche Handeln auf Wahrnehmungswissen der Zellen; sind diese diejenigen eines menschlichen Embryos, dann erwächst aus dem Wahrnehmungswissen des Embryos eine Bewertung, die sich auf Entscheidungen über einen weiteren wissenschaftlichen Umgang mit diesem Embryo auswirkt. Geht es um Möglichkeiten des Klonens solcher Zellen, um eine Präimplantationsdiagnostik oder um verbrauchende Embryonenforschung, dann wird deutlich gemacht werden können, daß eine emotionale Bewertung solchen Forschungshandelns einer kritischen Reflexion ausgesetzt ist, die bis hin zu ihrer Ablehnung reichen kann.
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B. Wissen und Welt
III. Vom Wissen a.
Zum Begriff des Wissens
Wissen ist lebensnotwendig, weil es für das Leben und Überleben eines Individuums in der Welt unverzichtbar ist: zur Bewältigung von Gefahren, zur Sicherung von Lebensgrundlagen und zur Gestaltung einer lebensschützenden Ordnung. Diese Vorstellung von Wissen stammt aus der Theorie der Konstruktivisten, und zwar aus der biologischen Perspektive ihrer Erklärung eines Wahrnehmungswissens. Maturana nennt Wissen »fähig sein, in einer individuellen oder sozialen Situation adäquat zu operieren.« (1974, S. 84). Es ist ein Wissensbegriff, der in den Kognitionswissenschaften 1 , in den Neurowissenschaften und in den unterschiedlichen Ausprägungen der konstruktivistischen Theorien verwendet wird. Entscheidend dafür, diesen Begriff des Wissens hier zu übernehmen, sind Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften: Er bietet die Möglichkeit, in der Erklärung von Wissen die neurobiologischen Prozesse zu berücksichtigen, die in der Kommunikation eines Subjekts mit der Umwelt beobachtet wurden. Es wird im Verlaufe der Arbeit kritisch zu prüfen bleiben, was ein Wissensbegriff dieser Art zum Ausdruck bringen und welche Geltung er beanspruchen kann, wenn er sich wie hier auf empirische Rechtfertigung stützt. Zunächst soll aber dieser Begriff genauer beschrieben, anschließend anhand der empirischen Befunde begründet und schließlich seine Reichweite kritisch untersucht werden. Wissen wird verstanden als das Ergebnis eines Kommunikationsprozesses eines Subjekts mit seiner Umwelt. Dieses nimmt Reize aus seiner Umwelt auf und verarbeitet sie. Aus dem Verarbeitungsprozeß entsteht dem Subjekt ein Wissen, unbewußtes oder bewußtes. Wissen manifestiert sich in Gegenständen je nach Art der 1 Zum Begriff der Kognitionswissenschaft vgl. Gold (Hg.) et al.: Der Mensch in der Perspektive der Kognitionswissenschaft, Frankfurt am Main 1998.
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Wissen und Welt
unterschiedlichen Kommunikationsprozesse; diesen entsprechend entstehen Gegenstände der Wahrnehmung, der Gefühle oder der Begriffe und Aussagen. Das Wissen zeigt sich dabei in unterschiedlicher Ausprägung, abhängig von den Bedingungen der Kommunikation, d. h. von der biologischen Ausstattung des Subjekts und von dessen Umwelt. Mittelstraß unterscheidet Wissen von Information. Während Information nur eine besondere Art des Wissens sei, nämlich die Art seines Transportes, verlangt er für Wissen eine begründungsorientierte Aneignung durch den Wissenden (Mittelstraß S. 226 ff.). Wissen bezeichne einen objektiven Tatbestand, benötige eine Begründungsstruktur und müsse lehrbar sein. Im Vergleich zur Beschreibung eines Wissens aus den Ergebnissen einer Kommunikation mit der Umwelt erfaßt Mittelstraß’ Begriff ein zu enges spezielles Wissen, nämlich eines, das eines Reflexionsprozesses bedarf. Der hier verwendete Begriff des Wissens dagegen umfaßt all das, was einem Subjekt aus der Verarbeitung von Reizen seiner Umwelt an Ergebnissen entsteht. Er ist anwendbar auf jede Art von Kommunikation in der belebten Natur. Dazu bedarf es weder eines Bewußtseins noch einer Reflexion. Erst auf der Reflexionsebene spielt dieses eine unverzichtbare Rolle, ebenso wie Fragen nach Wahrheit und Gewißheit und die nach einer Abgrenzung gegen Glauben und Meinen. Die hier verwendete Beschreibung von Wissen erfolgt durch die Begriffe Subjekt als lebendes System, Umwelt und Kommunikation. Maturana hat im Zusammenhang seines biologischen Austauschkonzeptes die Subjekte autopoietische Systeme genannt (Maturana, 1987, S. 94 ff.). Ein autopoietisches System ist dadurch gekennzeichnet, daß es sich selbst organisieren und erhalten kann. Der Austausch zwischen ihnen umfaßt Materie, Energie, aber auch die Möglichkeit der Selbstorganisation von Wissen durch wechselseitige Stimulierung der Auslotung und Ausweitung der interaktiven Prozesse – ihrer Kognitionsbereiche (Jantsch, 1987, S. 171). Dieser Begriff macht deutlich, daß Wissen der Selbsterhaltung eines Subjektes dient und daß Ergebnisse eines Austausches von den Subjekten selbst gestaltet werden. Der Begriff »Umwelt« ist seit Beginn des 19. Jahrhunderts gebräuchlich und geht in seiner naturwissenschaftlichen Verwendung auf Jacob von Uexküll zurück; er drückte damit den modernen Gedanken aus, daß Lebewesen ihre artspezifische Welt wahrnehmen. Ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird er von den Kon18
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Vom Wissen
struktivisten und den Neurowissenschaftlern verwendet; er beschreibt einerseits die Welt als Ergebnis subjektiver Kommunikation, andererseits als Quelle der von den Sinnesorganen aufgenommenen Reize. In letzterem Sinn soll der Begriff hier verwendet werden. Umwelt sind dann lebende Systeme, aber auch Strukturen anderer Ebenen, mit denen das jeweils als Subjekt betrachtete lebende System in einen Austausch durch Reize eintritt. 2 Kommunikation schließlich bedeutet Austausch zwischen lebenden Systemen; Köck unterscheidet zwar Interaktion von Kommunikation, wobei er anders als Maturana Kommunikation an Zeichen und Bedeutungen bindet. 3 In dieser Arbeit soll Kommunikation, ununterschieden von Interaktion, als Austausch eines Subjektes mit seiner Umwelt, bezogen auf bestimmte Materie und Energie und deren phylogenetisch und ontogenetisch bedingte Reizverarbeitung, verstanden werden. Die Begriffe orientieren sich an dem genannten biologischen Austauschkonzept. Betrachtet man Wissen als unverzichtbar für das Leben, erscheinen die Begriffsinhalte zu seiner Beschreibung als berechtigt, denn jedes Lebewesen bedarf zur Selbsterhaltung einer Umwelt, die sein Gedeihen erst ermöglicht. b.
Einteilung des Wissens
Eine alte Einteilung des Wissens nach Art der Erkenntnisvermögen wie Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft wird sich angesichts neuerer Forschungsergebnisse aus den Neurowissenschaften nicht mehr durchhalten lassen. In einem Entwurf des Wissens als subjektiver Herstellungsprozeß, in dem sich biologische, psychologische und neurologische Einflüsse auswirken und in den Handlungserfahrungen eingehen, ist spezielles Wissen nach Art der Vermögen Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft nicht mehr gegeneinander abgrenzbar. Sinnesorgane und Hirntätigkeiten sind unauflöslich miteinander verknüpft: Nichtbegriffliches Wissen, wie z. B. das aus einer Wahrnehmung, nimmt immer auch Leistungen des Gehirns in Anspruch 2 Rock, 1984, S. 3, erläutert bestimmte Aspekte der Umwelt, die unterschiedliche Lebewesen registrieren wie Bienen, Schlangen, Fische oder Fledermäuse. 3 Köck, 1987, S. 340 ff., behandelt den Begriff »Kommunikation« historisch und systematisch ausführlich; vgl. dazu auch Roth, 1987, S. 263 f.
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wie Denken, Erinnern, Vorstellen und Bewerten, und in begrifflichem Wissen ist Sinnliches nicht mehr abgrenzbar gegen ein Vermögen zur Begriffsbildung, wie es sich Kant vorgestellt hatte. 4 Kant hat die Wahrnehmung als eigenständige Quelle des Wissens nicht gelten lassen. Seine Vorstellung war, daß Erkenntnis erst aus der Kombination sinnlicher und begriffsbildender Vermögen hervorgeht. An anderer Stelle sagt er zwar, daß ein Geschmacksurteil, wie z. B. ein Urteil über Schönes, keines Begriffes bedarf; aber dieses Geschmacksurteil führe zu keiner Erkenntnis, weil es sich auf das Subjekt beziehe und nicht auf ein Objekt (KrdU B 21, 22). Dieser Vorstellung, daß eine sinnliche Wahrnehmung des Begriffes bedarf, um als Erkenntnis zu gelten, haben Psychologen und Konstruktivisten widersprochen. Mulligan zeigt, daß kein Begriff erforderlich ist, um sehend zu werden; er meint, daß die Konstanzphänomene auf Wahrnehmungsinhalte zurückführbar sind, die keiner Begriffe bedürfen: »Anschauungen sind wohl blind, sie verlangen aber keiner Begriffe, um sehend zu werden […], sondern Struktur, wie sie in Konstanzphänomenen vorkommt.« (Mulligan, S. 148). 5 Auch in konstruktivistischen Wahrnehmungstheorien wird deutlich, wie später gezeigt wird, daß die aus der Kommunikation eines Subjektes mit seiner Umwelt entstehende Wahrnehmung keiner Begriffe bedarf. Wissen bedarf auch nicht notwendigerweise der Sprache; das zeigen Erlebnisse, die »unbeschreibbar« genannt oder als ein »Unaussprechliches« bezeichnet werden. Sinnliche Wahrnehmung ist in der Lage, eine eigene Evidenz und Kraft zu entfalten, die keiner sprachlichen Vermittlung bedarf (Schantz 1998). Wissen läßt sich dagegen neu einteilen in ein Wissen aus der Wahrnehmung, in ein Wissen aus Emotionen und in ein Wissen aus Reflexion. Die Einteilung entspricht unserem alltäglichen Erleben. Wir nehmen einen Gegenstand, z. B. die Sonne, wahr, sie weckt Gefühle wie ein Wohlfühlen und Freude, und die wahrgenommene Sonne regt zum Nachdenken an wie z. B. über ihre Beschaffenheit, ihre Himmelsbewegung u. ä. Die Neurowissenschaften erlauben die Unterscheidung der Arten des Wissens und Einblicke in ihre EntsteKant, KrdrV B 74, 75, unterschied das Vermögen sinnlicher Anschauung vom Verstandesvermögen – eine Fähigkeit zur Begriffsbildung. Erst aus der Kombination beider rechtfertigte er Erkenntnis, zu der eine weitere, die Vernunfterkenntnis trat. 5 Auch Richard Schantz, 1998, plädiert für eine Unmittelbarkeit der Wahrnehmung als Wissen ohne auf anderes Wissen oder auf Begriffe zurückzugreifen; visuelle Erfahrung sei keineswegs epistemisch wertlos. 4
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hungsprozesse. Sie untersuchen mit Hilfe zellbiologischer Begriffe alle klassischen philosophischen und psychologischen Fragen zu den geistigen Funktionen (Kandel, S. 325 ff.). Sie zeigen, daß entsprechend der Art der Reize aus der Umwelt diese an jeweils unterschiedlichen Gehirnorten durch unterschiedliche neuronale Prozesse verarbeitet werden. Eine aus den Verarbeitungsprozessen hervorgehende Topologie des Gehirns bestätigt die Einteilung des Wissens in die drei Arten: Wissen aus Wahrnehmung, Wissen aus Emotionen und Wissen aus Reflexion. Neu ist an dieser Einteilung, daß die drei Arten des Wissens als eigenständige nebeneinander stehen; daß es nicht nur das eine Wissen unter Beteiligung sinnlicher und geistiger Vermögen gibt, sondern getrennte Arten aus biologischen Prozessen hervorgehend erklärt werden können. Während Wahrnehmungswissen bisher in verschiedenen Theorien, auf die später eingegangen wird, zu beschreiben versucht wurde, ist hier neu, ein Emotionswissen als eine gleichberechtigte Art zu zeigen, die sich als unverzichtbar erweist. Und schließlich läßt sich von beiden Arten ein Reflexionswissen unterscheiden, das eine denkende Betrachtung zur Geltung bringt. Sinnliche und geistige Vermögen sind in allen drei Arten miteinander verknüpft wirksam. Wahrnehmung als Tätigkeit und Ergebnis sinnlicher Erfahrung hat immer eine wesentliche Rolle in den Erkenntnistheorien gespielt, wobei aber das Gewicht ihres Beitrages für eine Erkenntnis sehr unterschiedlich beurteilt wurde; das gilt, solange sie nicht als eigenständige Quelle des Wissens anerkannt war und ihre Ergebnisse nur als Beitrag zu einem Wissen betrachtet wurden, das zugleich andere Erkenntnisvermögen in Anspruch nehmen muß. 6 Als solcher Beitrag zu einem Wissen schwankt ihre Bewertung zwischen einer Instanz der Rechtfertigung von Aussagen über die Welt – so die Empiristen – bis hin zu einer Unterordnung unter den Vorrang eines rationalen Denkens bei den Rationalisten, die eine mit Mängeln behaftete und zu Irrtümern führende Wahrnehmung kritisieren. Sie trauten einer Welt aus den Sinnesdaten keine Gewißheit zu; sie strebten nach einem Wissen von der Welt aus erfahrungsunabhängigen Prinzipien, Zum Begriff der Wahrnehmung: Kant, KrdrV B 74, 75, spricht von Anschauung, womit er die Fähigkeit meint, Vorstellungen durch Sinnlichkeit zu empfangen, die aber erst mit Hilfe des Verstandes auf den Begriff gebracht werden muß; Strawson, S. 51 f., hebt die Wahrnehmung in den Rang einer prägenden Möglichkeit des Wissens durch ein Subjekt; er unterscheidet dabei Wahrnehmung phänomenaler Eigenschaften von einer Wahrnehmung durch Theorie. 6
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bei dem die Wahrnehmung eine dienende Rolle einnahm. Hobbes’ Gewißheitsanspruch läßt keinen Raum für eine eigenständige Wahrnehmungswelt. Sinnliche Wahrnehmung liefere Phantasmen, erst ein gedanklicher Akt führe zur Erkenntnis. Erkenntnis der Natur ist ein Verstandesprodukt mit der daraus gefolgerten Vorstellung: »Die Natur ist des Irrtums unfähig« (Hobbes, Leviathan, S. 26). Auch Descartes verfolgt durch seine Methode des Zweifels ein Wissen über die Welt aus rationaler Einsicht; nur diese könne Gewißheit beanspruchen (Descartes, Zweite Meditation). Eine vermittelnde Position nahm Vico ein: Er hat Kritik an einem Wissen geübt, das sich nur auf rationale Einsicht beschränkt, weil sie Erkenntnismöglichkeiten verenge. Er gesteht den sinnlich anschaulichen Bildern zu, eine Quelle des Wissens zu sein. Er setzt auf eine Topik, die alle Vermögen zu einer Erkenntnis einschließt, besonders die Sinne, aber auch den Allgemeinsinn und ein Vermögen geistreicher Erfindung, das er Ingenium nennt. Mit seiner Erklärung der Sinnestätigkeit hat Vico bereits einen modernen Gedanken ausgedrückt, nämlich daß die Sinnestätigkeit die Sinneseindrücke erzeuge wie z. B. das Sehen die Farben, oder durch das Hören die Töne entstehen lasse (Vico, 1979, S. 119). Es wird sich aus den Ergebnissen der Neurowissenschaften zeigen, daß Wahrnehmung nicht nur wie bisher zu einem Wissen beiträgt, sondern eine eigenständige Art des Wissens bildet. Sie als solche zu betrachten, entspricht unserem intuitivem Verständnis von Wahrgenommenem. Es erscheint unmittelbar, es bedarf keiner sprachlichen Vermittlung. 7 Es bedarf auch keiner theoretischen Nachprüfung; das Wahrnehmungswissen, das zu einem »phänomenalen Begriff« führt, wie z. B. Schmerzen haben, bedarf keiner Theorie über Schmerzen, um festzustellen, ob man welche hat. Emotionen sind Gefühle und psychische Zustände, die sich auf körperliche Zustände, auf Handeln und Verhalten auswirken. Sie sind zwar hinsichtlich dieses Einflusses wiederholt untersucht worden. Als eigenständige und gleichberechtigte Quelle des Wissens waren sie nicht zugelassen. Gefühle sind etwas Subjektives, das aus einem Wissen, das sich an Objektivierbarkeit orientierte, ausgeschlossen blieb. Kanitscheider hat z. B. das Gefühl der Liebe zu einem Menschen dadurch objektiviert, daß er sie auf einen neuroRichard Schantz, 1998, plädiert für eine Unmittelbarkeit der Wahrnehmung als Wissen, ohne auf anderes Wissen oder auf Begriffe zurückzugreifen; visuelle Erfahrung sei keineswegs epistemisch wertlos.
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physiologischen Prozeß reduziert hat (Kanitscheider, S. 10 f.), dessen Nachweis zwar nicht zu bestreiten ist, der aber das subjektiv erlebte Gefühl nicht zum Ausdruck bringt, sondern nur den einen physiologischen Aspekt. Mitte des 20. Jahrhunderts hat Schrödinger den subjektiven Gefühlen einen Eingang in das Wissen eröffnet. Er bezeichnet diesen Teil des Wissens als eine Persönlichkeitsannahme des Wahrnehmenden, die zu einer Wahrnehmung hinzutritt (Schrödinger, 1984, S. 331 f.). Emotionen wie Erröten, Befangenheit oder Lampenfieber, die mit der Wahrnehmung des geliebten Menschen zusammenhängen können, sind als etwas Subjektives dasjenige, was zu einem Wissen der Liebe hinzugehört. Mit der Entstehung der Theorie des Konstruktivismus gewinnen die Emotionen eine Eigenständigkeit als Quelle des Wissens. 8 Emotionen begleiten ein Wahrnehmungswissen, weil sie dieses bewerten. 9 Möglich ist aber auch ein Wahrnehmungswissen ohne Emotionen wie z. B. das einer Zahl, die erst dann Emotionen auslöst, wenn sie sich auf eine andere Wahrnehmung bezieht wie z. B. auf eine Gewinnummer im Glücksspiel. Umgekehrt sind Emotionen ohne Wahrnehmung zu beobachten wie z. B. Angstgefühle, die sich nicht auf ein bestimmtes Wahrnehmungswissen zurückführen lassen. Meist sind aber Emotionen mit einer Wahrnehmung verbunden. Das Wissen aus Wahrnehmung läßt sich von dem Wissen aus Emotionen unterscheiden und zwar nach Kriterien aus neurologischen Prozessen in ihren jeweils eigentümlichen Hirnregionen. Schließlich bleibt zu prüfen, wie es sich mit einem Wissen verhält, das aus nachdenkender Betrachtung entsteht. Die Frage ist, ob sich dieses – hier eingeführt als Reflexionswissen – ebenso von den beiden anderen Arten unterscheiden läßt. Hinweise auf eine Unterscheidung des Wahrnehmungswissens von einem Reflexionswissen finden sich in Erkenntnistheorien des 20. Jahrhunderts wiederholt, so bei den Phänomenalisten Schmitz (1978, S. 62 u. 227) und Merleau-Ponty (1965, S. 44), bei den Konstruktivisten Maturana (1982, S. 54); Janich (1996, S. 172) und Glasersfeld (1996, S. 151 ff.). Letzterer verweist in der Erläuterung des Begriffs »Reflexion« von Erfahrung im Sinne von Operationen des 8 Vgl. Roth, 1997, S. 9 u. 212; Uexküll, 1996, S. 17; und Ploog, 1999, S. 526 ff.; diese verweisen einerseits auf das Zusammenwirken von Kognition und Emotion und andererseits auf die Emotionen als Quelle eigenen Wissens. 9 Vgl. Roth, 1997, S. 9 u. 212; Uexküll, 1996, S. 17.
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Geistes weiter zurück auf Locke, Humboldt und Piaget. Er erläutert »Reflexion« im Sinne von Abstraktion und Verallgemeinerung durch zwei Merkmale: empirisch wiederkehrende Vorkommnisse und eine konstruktive Herausbildung aus Erfahrungselementen (ebd. S. 156, 173); beide Merkmale verweisen auf eine Unterscheidung von Wahrnehmungswissen und Reflexionswissen. Auch Strawson (S. 51) unterscheidet unreflektierten Realismus von wissenschaftlichem Realismus. Eine empirische Unterscheidungsmöglichkeit des Reflexionswissens von den anderen beiden Arten des Wissens bieten auch in diesem Fall die Neurowissenschaften. Einen Überblick über die unterschiedlichen Hirnregionen, die an der Hervorbringung eines Wissen beteiligt sind und die erlauben, die drei Wissensarten nach ihren verschiedenen Regionen zu unterscheiden, ermöglichen bildgebende Verfahren. Sie zeigen, daß z. B. Lesen eines Wortes, Hören eines Wortes, Sprechen eines Wortes und Nachdenken über ein Wort jeweils verschiedene Areale des Gehirns (Kandel, 1996, S. 17) beanspruchen. Hier soll der Hinweis auf die Unterscheidungsmerkmale genügen, deren Nachweise bei der Behandlung der einzelnen Wissensarten erläutert werden. Das Neue und Wichtige an dieser Einteilung ist, daß Wissen nicht nur die Einsichten aus einer anspruchsvollen Reflexion umfaßt, sondern daß diesem bisher im Vordergrund stehenden bereits ein Wissen aus Wahrnehmungsprozessen einer Sinnestätigkeit und ein Emotionswissen vorgelagert ist, dem eine unverzichtbare Bedeutung in der belebten Natur zukommt. c.
Methode
Um zu zeigen, daß sich unser Wissen von der Welt unterteilen läßt in die drei Arten des Wissens aus der Wahrnehmung, den Emotionen und der Reflexion, und um zu erklären, daß die drei Arten solchen Einflüssen aus der Umwelt unterliegen, die eng miteinander zusammenhängen, wird folgender Weg gewählt: Ausgegangen wird von unserem Alltagswissen, das uns eine Welt aus der Wahrnehmung und den Emotionen präsentiert, unabhängig ob es ein bewußtes oder unbewußtes ist. Um Einflüsse einer Umwelt auf das Wissen aus der Kommunikation eines Subjektes zu untersuchen, wird wie erwähnt auf Erkenntnisse der Neurowissenschaften zurückgegriffen. Sie erlauben 24
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zwei Untersuchungshinsichten: eine nach Unterscheidungsmerkmalen verschiedener Arten des Wissens und eine andere nach Einflüssen aus der Umwelt hinsichtlich eines Wissens. Anhand der Ergebnisse wird zu prüfen sein, ob sich ein veränderter Wissenschaftsbegriff ergibt, ob sich die Kluft zwischen Natur- und Geisteswissenschaften überwinden und ob sich eine Ethik, vor allem als Möglichkeit einer Bewertung der Naturwissenschaften aus gemeinsamer Begründungsgrundlage, herleiten läßt. Da die Neurowissenschaften ihre Aussagen mit Hilfe empirischer Methoden gewinnen, wird eine Kritik zur Berechtigung der Verwendung der empirisch gewonnenen Ergebnisse, zu ihrer Reichweite und Rechtfertigung am Ende der neurowissenschaftlichen Untersuchungen aufgenommen. Da diese Arbeit selber einem Reflexionswissen zuzurechnen ist, auf das dessen behandelte Merkmale zutreffen, wird schließlich zu untersuchen sein, ob das Verhältnis des Wissens zu einer Welt, die es beschreibt, dadurch ausreichend erklärt ist, daß es sich auf die Herausarbeitung seiner notwendigen Bedingungen beschränkt. In der Einführung wurde darauf hingewiesen, daß die von einem Wissen repräsentierte Welt in einem neurowissenschaftlichen Verständnis von Wissen zu einem Problem geworden ist, weil die Vorstellungen von der Abbildung einer Außenwelt versagen. Um die Ergebnisse aus den Neurowissenschaften hinsichtlich dieses Aspektes beurteilen zu können, muß vor ihrer Inanspruchnahme auf die Frage nach einer Außenwelt eingegangen werden.
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IV. Die Frage nach einer dem Wissen vorausgehenden Welt a.
Zum Begriff der Außenwelt
Wenn wir nach unserem Wissen von der Welt fragen, ergibt sich eine Reihe weiterer Fragen wie die nach seinem Zustandekommen, nach seiner Rechtfertigung, nach der Ontologie seiner Gegenstände und vor allem nach seiner Beziehung zu dem Gegenstand, den es repräsentiert, also nach dem Verhältnis von Wissen zu Welt. Geht dem Wissen eine Welt voraus, die es abbildet, oder bilden wir uns im Wissen eine Welt heraus, die es ohne unser Wissen nicht gibt? Die Frage ist wichtig, um unser Wissen beurteilen zu können, vor allem hinsichtlich des Problems einer bestehenden Kluft zwischen einem Wissen nach Gesetzmäßigkeiten der Natur und einem Wissen des Einmaligen aus den Tätigkeiten der Menschen; denkbar wäre, daß eine dem Wissen vorausgehende Welt als Instanz die Kluft zu überwinden helfen könnte. Die Frage ist auch wichtig, weil eine Außenwelt in konstruktivistischen Theorien, die sich auf die Neurowissenschaften berufen, bestritten wird, und um solche Theorien geht es hier. Um die Bedeutung des Begriffs »Außenwelt« in seiner erkenntnistheoretischen Auswirkung zu verstehen, bedarf es eines Blicks auf seine philosophiegeschichtliche Entstehung, weil er aus einer Entwicklung hervorgegangen ist, die die Vorstellungen von wissenschaftlichem Wissen geprägt hat. Selbst die Frage nach einer Außenwelt ist historisch entstanden und zeigt eine Wende an, was als Wissen gelten soll. In der Geschichte der Philosophie hat die Frage nach einer Außenwelt erst eine Rolle gespielt, als das Subjekt in das Zentrum der Erkenntnisbegründung gerückt wurde. In vorausgegangenen Entwürfen wurden die Begriffe »innen« und »außen« in anderer erkenntnistheoretischer Beziehung verwendet. Eine Außenwelt spielte keine Rolle, weil das erkennende Subjekt, auf das später der Begriff Außenwelt bezogen wurde, nicht die zentrale Position in der Erklärung einer Erkenntnis der Welt einnahm. Aristoteles benutzt innen und außen, um Gegenstände nach einem sie bestimmenden Bewegungsprinzip zu unterscheiden: In sich selbst hat ein Ding seiner Natur nach den Ursprung seiner Bewegung, seines Wachstums und seiner Veränderung; im Unterschied dazu hat ein Kunsterzeugnis die Ursache seiner Fertigung nicht in sich selbst, sondern diese kommt von außen (Aristoteles, Physik, 26
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192 b 8). Innen und außen dienen insofern der Unterscheidung eines Naturgegenstandes von einem künstlich hervorgebrachten: Für den ersteren wird seine Entstehung, sein Wachstum und seine Veränderung auf seine innere Natur zurückgehend angenommen; der Kunstgegenstand dagegen verdankt seine Hervorbringung einem äußeren Anstoß. Galilei bezieht das Begriffspaar auf die Erkenntnismöglichkeit eines Gegenstandes. Er meinte, das innerste Wesen, die innerste Natur der Sache bliebe verborgen, während sich die naturwissenschaftliche Erkenntnis auf ein Äußeres der Erscheinung beschränken müsse (Galilei, 1964, 5, S. 187). Innen und außen relativieren eine Erkenntnis in bezug auf ihren Gegenstand, wobei Galilei eine Welt voraussetzt, der sich eine Erkenntnis zuwenden kann. Da er Erkenntnis auf Gegenstände der Erfahrung in Raum und Zeit bezieht, verweist außen auf ein physikalisches Wissen. Vico folgt einer Wende, die mit Descartes begonnen hat. In das Zentrum einer Erklärung des Wissens tritt das Subjekt. Vico bezieht »innen« und »außen« auf das erkennende Subjekt. Er unterscheidet wie später auch Leibniz ein Sein in der Seele bzw. im Geist von einem Sein außerhalb der Seele bzw. des Geistes. Vico erklärt Erkenntnis aus einem Schöpfungsakt dadurch, daß der Geist den Gegenstand aus Elementen erschafft, die er in sich findet. Aus dem Innen des Geistes tritt der Gegenstand in seine äußere Existenz durch einen Bewegungsimpuls des Geistes, gleichsam als Nachbildung göttlicher Schöpfung (Vico, 1990, Kap. IV). »Innen« und »außen« werden verwendet, um in einer Erklärung der Erkenntnis aus einem Erzeugerprinzip die Beziehung zwischen Subjekt und erkanntem Gegenstand zu kennzeichnen; es ist ein moderner Gedanke, der sich im Konstruktivismus wiederfindet. 10 Mit dem Auftreten eines selbstbewußten Subjekts in der Neuzeit entstand eine von diesem ausgehende Abgrenzung gegen eine Außenwelt; »Außenwelt« bezeichnet das, was als außerhalb des Subjektes wahrgenommen wird. Strittig ist, ob sie so, wie sie sich im Wissen präsentiert, als eine vom Subjekt hervorgebrachte zu betrachten ist, in der auch der Eindruck des »außen« ein hervorgebrachter ist, oder ob sie als eine zu verstehen ist, die außerhalb des Subjekts existiert und von diesem abgebildet werden kann. Zur Kolster, 1990: Ausführlich wird dort das Erzeugerprinzip hinsichtlich einer Erkenntnis behandelt.
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ersten Betrachtungsweise rechnen die Idealisten und Skeptiker. Sie bestreiten eine Welt außerhalb des Geistes. Der Eindruck einer Außenwelt wird als ein inneres Produkt des Subjektes angesehen. Für Berkeley z. B. gibt es nur eine Sinnenwelt, von der er meinte, daß das Sein der Dinge nur in ihrem Wahrgenommenwerden besteht. Welt, das ist der Geist und die in ihm vorhandenen Ideen. Darüber hinaus gibt es nichts. Um z. B. die Sonne am Himmel wahrnehmen zu können, bedarf es der in allen Geistern gleichermaßen vorhandenen Idee, die von einem unparteiischen Gott gegeben sei. 11 Ideen ermöglichen die Wahrnehmung, die aber im Vergleich zu den platonischen Ideen nicht mehr außerhalb des erkennenden Geistes angesiedelt sind, sondern diesem innewohnen. Und ein Skeptiker wie Hume bestreitet ein Wissen von materiellen Gegenständen oder Körpern, überhaupt die Existenz eines Fremdpsychischen. 12 Eine vermittelnde Position zur Frage nach der Außenwelt nimmt Kant ein. Außenwelt taucht zwar in seinem Denksystem auf, aber eher aus einer Denknotwendigkeit als daß sie erfahrbar wäre. 13 In seiner Vorrede der zweiten Auflage zur Kritik der reinen Vernunft beklagt er den Skandal der Philosophie, daß sie das Dasein der Dinge außer uns bloß auf Glauben annehmen müsse und sie einem Zweifler daran keine genügenden Beweise entgegenstellen könne. Er läßt nun einen Beweis folgen, indem er zeigt, daß es ein Beharrliches außer uns geben müsse, weil nur in Beziehung auf dieses ein empirisches Bewußtsein unseres Daseins in der Zeit bestimmbar sei (Kant, KrdrV B XXXIX). An anderer Stelle spricht er davon, daß man die Erscheinungen – nur von denen haben wir Erkenntnis – auch als Gegenstände an sich selbst müsse denken können, weil sonst Erscheinung ohne etwas ist, was da erscheint. 14 Ähnlich spricht er von dem »Ding an sich«: Er erklärt dessen Einführung dadurch, daß es ihm zum einen ermögliche, den Gegenstand als Erscheinung anzunehmen und die Vgl. Hans Joachim Störig, Kleine Weltgeschichte der Philosophie, S. 353 f. Strawson, Peter J., 1987, diskutiert einen modernen Skeptizismus, vertreten von Hume und Stroud. 13 Kant, KdrV, B 67, 321, verwendet Inneres und Äußeres in unterschiedlicher Weise bezogen auf die Sinne, auf die Anschauung und auf Reflexionsbegriffe; im Hinblick auf eine Außenwelt kommt hier sein Bezug auf Anschauung zur Geltung. 14 Ebd. B XXVI: Dort heißt es: »[…] daß wir eben dieselben Gegenstände auch als Ding an sich selbst, wenn gleich nicht erkennen, doch wenigstens müssen denken können. Denn sonst würde der ungereimte Satz daraus folgen, daß Erscheinung ohne etwas wäre, was da erscheint.« 11 12
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Erscheinung durch die Kategorien eines Ichs erfaßbar zu machen, und daß es zum anderen möglich würde, einen Gegenstand, nämlich ein Ich, sowohl kausalen Gesetzen zu unterwerfen als auch ihm die Freiheit des Willens zu sichern (Kant, KrdrV B XXIX). Gedacht hat Kant ein Außen bezogen auf einen erkannten Gegenstand der Erscheinung. In allen genannten Hinweisen bleibt aber dasjenige, auf das sich die Erscheinungen beziehen, ein Gedachtes, das keine Erfahrung zuläßt. Heidegger hat Kants Versuch, das Dasein der Dinge außer uns zu beweisen, kritisiert, weil der »Skandal« nicht darin bestehe, »daß dieser Beweis bislang noch aussteht, sondern darin, daß solche Beweise immer wieder erwartet und versucht werden« (Heidegger, 1953, S. 205). Er war der Meinung, daß Sein nicht durch Seiendes erklärt werden kann, weil so eine Frage von dem Dasein ausgeht, das dasjenige, was es erklären will, immer schon voraussetzt. Die Realität einer Welt sei nicht zu beweisen. Heidegger leugnet aber nicht das Vorhandensein von innerweltlich Seiendem, das nicht allein auf ein Subjekt beschränkt ist, sondern eher mit der These des Realismus übereinstimmt, allerdings ohne dessen Versuche, Realität ontisch durch Wirkungszusammenhänge zu beweisen (Heidegger 1953, S. 202 ff.). Heideggers Kritik leuchtet insoweit ein, als er bestreitet, das Sein einer Welt beweisen zu können, weil ein Sein, nämlich das des Beweisenden, immer schon vorausgesetzt werden muß. Worauf es aber Kant ankam und worauf Heidegger nicht eingeht, ist, den Einfluß auf eine Erkenntnis zu erfassen, wenn diese als eine vom Subjekt hervorgebrachte angenommen wird, wie es bei den Idealisten und auf andere Weise auch bei Kant selbst der Fall ist; wenn man sie nicht einer Beliebigkeit überlassen will, wird man sich fragen müssen, was ihr zugrunde liegt. Bei Kant ist es Sinnliches, das der Verstand zur Erkenntnis verarbeitet. Was Kant als »das Dasein der Dinge außer uns« bezeichnet hatte, wird man mindestens als einen äußeren Einfluß bezeichnen können, den Heideggers Kritik nicht treffen würde. Zur Gruppe derjenigen, die Außenwelt als ein vom Subjekt hervorgebrachtes Wissen betrachten, rechnen die, die das Bewußtsein in das Zentrum der Erkenntnis stellen. Dazu gehört z. B. Schopenhauer. Er lehnt eine Außenwelt ab, weil er keine Möglichkeit sieht, über die Welt in der Vorstellung hinaus zu einer Außenwelt zu gelangen. »Denn im Raume und folglich außer uns sind die Dinge nur sofern wir sie vorstellen: Daher sind diese Dinge, die wir solchermaßen unA
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mittelbar selbst, und nicht etwa ihr bloßes Abbild, anschauen, eben selbst auch nur unsere Vorstellungen, und als solche nur in unserem Kopf vorhanden. Also nicht sowohl, wie Euler sagt, schauen wir die außerhalb gelegenen Dinge unmittelbar selbst an; vielmehr die von uns als außerhalb gelegen angeschauten Dinge sind nur in unserer Vorstellung und deshalb ein von uns unmittelbar Wahrgenommenes.« (Schopenhauer, 1950, Bd. 2, S. 26). In einer ähnlich psychologischen Weise argumentierte Nietzsche, der die Außenwelt für ein Phantasieprodukt hielt. Außenwelt sei ein individueller Zustand der Phantasie. 15 Auch Dilthey rekonstruiert Außenwelt aus einem Bewußtsein und wehrt sich gegen eine vom Subjekt abgegrenzte Außenwelt. Er kritisiert Versuche von Beweisen eines über das Bewußtsein hinausreichenden Jenseits sowohl auf der Grundlage einer unmittelbaren Gewißheit als auch in einem intellektualistischen Ansatz; er weist die Kritik an einer Phänomenologie zurück, die meint, Objektbilder im Bewußtsein müßten einen Grund haben: entweder durch ein Bewußtseinstranszendentes bedingt, oder sie müßten ihren Grund im Bewußtsein haben: Dieses sei in diesem Falle so eingerichtet, daß es den permanenten Schein der von außen auftretenden und vom Ich unterschiedenen Objekte hervorbringt. Dilthey hat diese Einwände nicht gelten lassen. Er hat die Realität einer Außenwelt im Bewußtsein in einer psychologischen Analyse aus dem Willen und ihm entgegenstehenden Hemmungen erklärt. Es seien die Erfahrungen des Willens und eines diesem entgegentretenden Widerstandes, aus denen der Eindruck des Objektes entstünde, vermittelt durch Empfindungsprozesse und Denkvorgänge. Er schreibt: »Ich kann die lastende Vorstellung meiner Krankheit durch Willensanstrengung nicht entfernen, sondern sie übt auf mein Lebensgefühl einen dauernden Druck aus. In jeder Erfahrung solcher Art werde ich deutlich inne, daß in dem Druck oder der Hemmung eine Kraft gegenwärtig ist.« Und weiter heißt es: »[…] so ist mir in diesen Wirkungen eine Kraft gegenwärtig, deren Außenseite gleichsam die Empfindungsverbindung ist. Hierin ist die Dingvorstellung gegeben« (Dilthey, 1924,
Nietzsche, 1919, S. 36, schreibt: »Unsere hAußenwelti ist ein Phantasie-Product, wobei frühere Phantasien als gewohnte, eingeübte Thätigkeiten wieder zum Bau verwendet werden. Die Farben, die Töne sind Phantasien, sie entsprechen gar nicht exakt dem mechanischen wirklichen Vorgang, sondern unserem individuellen Zustande.«
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S. 131 f.). Wo diese Kräfte aber ihren Ursprung haben, bleibt ungeklärt. Eine gegensätzliche Positionen nehmen die Entwürfe ein, die eine räumliche Außenwelt zu begründen unternehmen wie z. B. die der Naturalisten. Dafür stehen Namen wie Moore, Carnap, Quine und Stroud. 16 Strawson hat in dieser Auseinandersetzung eine Außenwelt zu erklären versucht, die er einen unbezweifelbaren Naturalismus nennt. Gegenüber den skeptischen Kritikern zeigt er sich von einem Bezugssystem überzeugt, dem wir unentrinnbar verpflichtet sind, in dem es der Glaube an die physischen Gegenstände und die Praxis ist, Überzeugungen durch Induktion zu gewinnen.« (Strawson, S. 38). Er vergleicht diesen Naturalismus mit den Wittgensteinschen Elementen, die zu einer Überzeugung führen und die in dessen Metapher von »Fluß und Ufergrundgestein« hervortreten. Dieser hatte einen feststehenden überkommenen Hintergrund unterschieden von dem, was sich in Frage stellen läßt; der Hintergrund ermögliche, zwischen wahr und falsch zu entscheiden. Wittgenstein vergleicht den Hintergrund mit einem Flußbett aus hartem Gestein, das sich zwar verschieben könne, aber trotzdem eine Unterscheidung zwischen der Bewegung des Wassers und der Verschiebung erlaube (Wittgenstein, 1992, S. 33–35). Das Weltbild ist hier keine Angelegenheit des Bewußtseins, sondern entspricht einer uns bestimmenden Natur, einem Bezugssystem, dem wir unentrinnbar verhaftet sind. Diese unterschiedlichen erkenntnistheoretischen Entwürfe hinsichtlich einer Außenwelt machen deutlich, daß ihre Ontologie auf Annahmen beruht, die nicht beweisbar sind. Was aus den historischen Entwürfen auch heute noch Geltung angesichts eines hier verwendeten Begriffs von Wissen aus der Kommunikation beanspruchen kann, ist die Beziehung einer Außenwelt auf ein Subjekt, wie es mit Beginn der Neuzeit auftritt. Ob darin Beharrliches nach Kant oder ein uns bestimmendes Bezugssystem gemäß Strawson zum Ausdruck kommt, bleibt unter Einbeziehung der Untersuchungsergebnisse der Neurowissenschaften zu klären. Im Unterschied zu den geschilderten erkenntnistheoretischen Zusammenhängen, die Außenwelt unterschiedlich reflektieren, prä-
Strawson, 1987, erörtert ausführlich ihre unterschiedlichen Positionen bezüglich einer Außenwelt.
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sentiert ein eigenständiges Wissen aus der Wahrnehmung eine Außenwelt, die keiner Theorie bedarf, wahrgenommen zu werden. Um den Gestank eines Stinktieres zu riechen, ist keine Theorie erforderlich. Die Frage bleibt allerdings, ob Außenwelt, so wie sie sich als außerhalb des Subjektes im Wahrnehmungswissen zeigt, außer uns vom Subjekt abgegrenzt erwiesen werden kann oder ob sie als ein Produkt des Subjekts gelten muß. Es muß deshalb ein Blick auf die Theorien geworfen werden, die Wahrnehmung erklären, um zu sehen, wie sie mit einer Außenwelt umgehen. b.
Außenwelt in den Wahrnehmungstheorien
Mit der Anerkennung der Wahrnehmung als eigenständige Möglichkeit des Wissens wird die Frage nach der Außenwelt erneut interessant, weil Wahrnehmung eine Außenwelt präsentiert, die intuitiv als eine Außenwelt erlebt wird, von der aber nicht klar ist, ob sie als eine vom Subjekt abhängige gedacht werden muß oder ob das »Außen« ihrer Gegenstände ein vom Subjekt unabhängiges Sein markiert. Unstrittig ist, daß Wahrnehmung ein unverzichtbares Wissen vermittelt. Ein Subjekt ohne Wahrnehmung ist für dessen Überleben unvorstellbar (Roth, 1997, S. 78 ff.). Wie ist eine Wahrnehmung von Gegenständen erklärbar? Da Wahrnehmung durch die Sinne vermittelt wird, entsteht aus ihr ein subjektives Wissen über die Welt. Ob dieses verallgemeinerbar ist, d. h. für jedes Subjekt der gleichen Art und für jede Wiederholung eines vergleichbaren Wahrnehmungsprozesses gelten kann, wird erst durch eine reflexive Betrachtung zu beurteilen sein. Wahrnehmung präsentiert ihre Gegenstände als gegenwärtige und einzelne. Über Zukünftiges vermittelt Wahrnehmung kein Wissen, höchstens Vermutungen oder Erwartungen. Vergangenes spielt dagegen über das Erinnerungsvermögen eine Rolle, wie sich später zeigen wird. Wahrgenommenes ist präsent, ob wir es wollen oder nicht; es sei denn, daß es ausdrücklich vermieden wird. Dem Subjekt präsentiert Wahrnehmung eine Außenwelt, aber auch eine Innenwelt. Außenwelt bezeichnet die wahrgenommenen Gegenstände außerhalb des Subjekts. Als Innenwelt zeigen sich Wahrnehmungen aus dem eigenen Körper (Roth, 1997, S. 316), wobei hier das Innen einer weiteren Klärung bedarf hinsichtlich eines Bezuges auf räumliche Teile des Körpers oder auf unser Erleben, oft 32
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auch mit Empfindung bezeichnet. 17 In dieser Arbeit braucht dieser Unterscheidung nicht weiter nachgegangen zu werden, weil es darum geht, zu klären, wie Wahrnehmung zustande kommt, gleichgültig ob als Wissen von Gegenständen außerhalb oder innerhalb des Körpers. Es geht darum zu untersuchen, ob die von der Wahrnehmung hervorgebrachten Gegenstände auch unabhängig von der Wahrnehmung existieren, diese Position vertritt der naive Realismus, oder ob Subjekt und Welt sich wechselseitig konstituieren durch die Wahrnehmung: Das Subjekt entwirft sich in der Wahrnehmung die Welt, und in der Wahrnehmung der Welt konstituiert sich das Subjekt; dann sind Wahrnehmung und Welt unauflöslich miteinander verwoben. Diesem Weg folgen phänomenologische Theorien. Und eine dritte Möglichkeit ergibt sich, wenn man Wahrnehmung als einen Prozeß betrachtet, aus dem die wahrgenommene Welt hervorgeht, das ist die Position des Konstruktivismus. Ob sich weitere Möglichkeiten ergeben können, wird sich zeigen. Jede der drei Theoriepositionen bedarf einer Erörterung, um zu prüfen, ob die Wahrnehmung neue Wege eröffnet, die erkenntnistheoretische Frage nach der Außenwelt zu beurteilen. c.
Wahrnehmungstheorien des Realismus
Zunächst folgt ein Blick auf die Theorie eines naiven Realismus. Gibson als deren Vertreter kommt nach einer kritischen Betrachtung der Wahrnehmungstheorien zu dem Schluß, die Erklärung einer gegenständlichen Welt bedürfe keines Konstruktions-, Übersetzungs- oder Organisationsprozesses. Er geht von einer Wahrnehmung physikalischer Parameter aus. Die Eindrücke seien den Gegenständen gemäß; Ordnung existiere in den Reizen wie im Erleben, die Ordnung sei eine physikalische wie geistige (Gibson, S. 275). Die visuelle Welt nähere sich einer Entsprechung der Variablen der physikalischen Reizung an (Gibson, S. 311). An dieser Theorie wurde vielfach Kritik geübt. Die Radikalen Konstruktivisten lehnen diesen Realismus ab, weil sie keine Möglichkeit sehen, außerhalb des Subjekts eine Außenwelt nachweisen zu können (Glasersfeld, 1985 b, S. 17). Aus der Sicht eines Phänomenalisten zeigt Schmitz, daß es Wahrnehmungen Mohr, 1991, hat den inneren Sinn nach der Vorstellung von Kant ausführlich behandelt.
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gibt, die keinen physikalischen Parametern entsprechen wie z. B. Stille, Leere, Dunkelheit (Schmitz, 1978, S. 198). Und schließlich ist darauf zu verweisen, daß der naive Realismus keine Emotionen erklären kann, weil diese nicht in physikalischen Parametern darstellbar sind. Ein Physikalismus erweist sich als ungeeignete Erklärung einer Außenwelt. 18 Die Gestalttheorie beruht auf einem kritischen Realismus, der im Unterschied zum naiven Realismus eine transphänomenale Welt von einer phänomenalen unterscheidet. Vertreten wird sie vor allem von Metzger (Metzger, 1975 a, b). Die Unterscheidung einer phänomenalen Welt, die allein der Erkenntnis zugänglich ist, von einer transphänomenalen ermöglicht die Erklärung von Wahrnehmungstäuschungen. Die Wahrnehmung der phänomenalen Welt wird als schöpferischer Akt des Gehirns verstanden: Aus den Reizen der Sinne wird eine vollständige Gestalt erzeugt; diese ist mehr als die Summe ihrer Teile, vergleichbar einer Melodie, die mehr ist als eine Notenfolge – sie ist eine Wechselbeziehung der Töne, die in verschiedenen Tonarten gleich bleibt. In der Wahrnehmung werden verschiedene Aspekte eines Bildes so zu einem Ganzen kombiniert, daß eine größtmögliche Übereinstimmung mit den Objekten der transphänomenalen Welt entsteht. 19 Es wird eine transphänomenale Welt vorausgesetzt, zugleich der autonome Charakter der Wahrnehmung betont und deren Eigenständigkeit gegenüber einer realen Außenwelt hervorgehoben. Ungeklärt ist an diesem Entwurf, wie die phänomenale mit der transphänomenalen Welt zusammenhängt, die offenbar so etwas wie eine dem Bewußtsein vorausgehende Welt ist und Einfluß auf die erlebte gestaltete Welt ausübt. Aber wie ist der Einfluß zu denken? Schmitz kritisiert die Gestalttheorie, indem er auf einen Wechsel der Gestalt in der Wahrnehmung des gleichen Phänomens verweist, wie er am Beispiel des Anblicks einer Tonscherbe zeigt, die sich bei näherem Hinsehen als Speckschwarte entpuppt. Aus der einen Gestalt wird plötzlich eine andere; verallgemeinert nennt er es einen Vgl. zur Kritik am Realismus und einer objektiven Wirklichkeit: Roth, 1997, S. 354 ff. Metzger, 1975 b, S. 17, schreibt: »Obwohl die Dinge und Wesen unserer unmittelbaren Umgebung demnach tatsächlich zu den im ersten Sinn wirklichen Gegenständen [transphänomenale Realität] in der Beziehung eines Bildes zu dem darin Abgebildeten stehen, haben sie, falls sie nicht zufällig Bilder im gewöhnlichen Sinn (in einem Bilderbuch) sind, anschaulich nicht den Charakter eines Bildes […] – sondern als die letzte und eigentliche, ich-unabhängige Wirklichkeit selbst.«
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Charakterwechsel der Wahrnehmung (Schmitz, 1978, S. 149). Die Gestalttheorie könne den Wechsel nicht erklären. Diese Kritik ginge ins Leere, wenn einsichtig gemacht werden könnte, wie sich mit Hilfe der transphänomenalen Welt ein Gestaltwechsel vollziehen kann. Diese Erklärung wird nicht geleistet. 20 d.
Phänomenologische Theorien der Wahrnehmung
In phänomenologischen Theorien der Wahrnehmung tritt dem Subjekt keine Welt gegenüber, die in physikalischen Parametern oder aus transphänomenalem Bezug wahrgenommen werden kann, sondern Subjekt und Welt sind unzertrennlich miteinander verwoben. 21 Subjekt und Welt sind in leiblicher Kommunikation vereint (Schmitz, S. 26); die Welt ist das Feld unserer Erfahrung und wir selbst eine Sicht der Welt (Merleau-Ponty, S. 462). Einer solchen Verwobenheit entspricht unsere alltägliche Wahrnehmung: Ohne sich Rechenschaft über das Wahrgenommene zu geben, ist es präsent – wie z. B. wenn man von einer Landschaft sagt, man geht in ihrem Anblick auf. Welt und Subjekt treten dabei nicht auseinander, sie bilden eine Einheit, die erst in der Reflexion als eine Beziehung zueinander von Schmitz so beschrieben wird: Das Subjekt ist selbst Entwurf der Welt, von einer Welt, die es sich selbst entwirft (Schmitz, S. 489). Nach Auffassung Merleau-Pontys wird die Welt, die ein Subjekt wahrnimmt, durch dieses selbst strukturiert. Wahrnehmung ist keine Abbildung der Welt; sie konstituiert die Gegenstände der Welt, deren Konstitutionsgesetz sich im voraus im Leib des wahrnehmenden Subjekts befindet (S. 7). Wenn von einem Gegenstand keine der Wahrnehmung vorausgehende Struktur angenommen wird, wie kommt dann seine Struktur zustande? In den Entwürfen von Merleau-Ponty und Schmitz heißt es, der wahrgenommene Gegenstand werde durch den Leib vermittelt. Der Leib ist der Gesichtspunkt der Dinge; nicht durch ein Gesetz, sondern weil wir einen Leib haben, eröffnet sich ein Zugang zur Welt. Wobei »einen Leib haben« bei Zur Kritik an der Gestalttheorie der Berliner Schule vgl. Mulligan, 1997, der sie unter dem Aspekt der Konstanzphänomene und der Wahrnehmungskriterien am Beispiel des Philosophen E. Brunswik untersucht. 21 Hier wird auf die Theorien von Merleau-Ponty und Herrmann Schmitz eingegangen; beide Entwürfe zeigen trotz mancher Kritik von Schmitz an Merleau-Ponty viele Ähnlichkeiten, vor allem hinsichtlich der Frage nach einer Außenwelt. 20
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Merleau-Ponty bedeutet, über ein umfassendes Gefüge zu verfügen, das die Typik sämtlicher perzeptiver Entfaltungen und sämtlicher sensorischer Entsprechungen über das Weltstück umfaßt (MerleauPonty, S. 377). Leib haben ist nicht etwas Materielles, sondern die Fähigkeit, etwas zu spüren, zu empfinden. In ähnlicher Weise nannte Schmitz die Wahrnehmung leibliche Kommunikation. 22 Die Konturen, die eine Wahrnehmung präsentiert, sind vom Leib des Subjekts mindestens mitgeprägt. Das leuchtet ein, weil nicht jedes Subjekt bei gleichem Hinsehen Gleiches wahrnimmt; weil Wahrnehmungen von unterschiedlichen vorausgegangenen Erfahrungen mitgeprägt werden; weil mancher etwas sieht oder hört, was ein anderer zu erkennen sich nicht befähigt zeigt, wie z. B. in der Wahrnehmung von Kunstgegenständen. Bedeutet die Voraussetzung eines Leibes aber so etwas wie eine Außenwelt anzunehmen? Merleau-Ponty streitet eine an sich seiende Außenwelt ab (S. 29). Muß er nicht aber einem anderen Menschen, den er wahrnimmt, auch einen Leib zugestehen, der dem anderen dessen Wahrnehmung ermöglicht, wie er sie für sich als Erste Person begründet? Dieses zu bestreiten, fällt schwer. Da er aber nur seine und nicht dessen Wahrnehmung erfassen kann, wird er dem anderen eine Autonomie des Wahrnehmens zugestehen müssen. Den anderen Menschen durch den eigenen Leib wahrzunehmen heißt dann aber, eine autonome Existenz des anderen anzuerkennen, was einer Außenwelt entspricht, weil sie nicht den Gesetzen des eigenen Leibes folgen muß. Wenn auch in beiden Theorien Unterschiede in der Begründung des Gegenstandes aus der Wahrnehmung auftreten, auf die hier nicht weiter einzugehen notwendig erscheint, so ist ihnen die Vorstellung des Gegenstandes als einer Ganzheit gemeinsam, die aus einer Kommunikation des Leibes mit der Umwelt hervorgeht. Allerdings ergibt sich aus der Erörterung des Gegenstandes in beiden phänomenologischen Wahrnehmungstheorien von Merleau-Ponty und Schmitz ein vages Bild: Er ist einerseits subjektive Schöpfung und gehört andererseits zur Welt, in der sich das Subjekt findet. Es sind Erklärungen der Bewußtseinszustände eines Subjekts, das den Gegenstand reflektiert und aus dem Bewußtsein der Reflexion dieses auf sich selbst lenkt. Schmitz, 1978, S. 31: »Wahrnehmung als leibliche Kommunikation heißt: von etwas leiblich spürbar betroffen werden – sich davon für sein Befinden und Verhalten in Erleiden und Reaktion Maß geben zu lassen«; s. auch § 151 b; Bd. III, 2, S. 153–161.
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Die Frage ist aber, ob sich Wahrnehmung auf eine Welt zurückführen läßt, die sich nicht nur auf Bewußtsein beschränkt. Beide Theorien nennen ein »Ding«, das den Gegenstand der Wahrnehmung charakterisiert. Seine Einführung soll hier hinsichtlich einer Außenwelt geprüft werden. Die Schwierigkeiten beginnen, wenn die Kommunikation allein das Ding nicht mehr erklären kann, wenn das Wesen, das sich im Charakter eines Dinges zeigt, seinen Charakter wechselt 23 : Ein Erkanntes wird plötzlich als etwas Anderes erkannt. Schmitz beschreibt das Beispiel der Tonscherbe – ein Ding, das den Charakter der Tonscherbe aufweist – die sich plötzlich als Speckschwarte entpuppt (Schmitz, S. 141). Er nimmt deshalb an, daß das Ding mehr sei als sein Gesicht oder Charakter, der aus der Kommunikation erwächst; er nennt es ein dem Gesicht und Charakter Zugrundeliegendes (Schmitz, S. 144 ff.) und verweist damit auf eine von der Kommunikation irgendwie unabhängige Grundlage: Das Ding sei seiner Konstituierung aus der leiblichen Kommunikation überlegen; er beschreibt es durch das Verhältnis »Herr und Knecht«. Das Ding sei der Herr und der Wahrnehmende der Knecht (Schmitz, S. 169). Andererseits sagt er aber, daß ein Dasein eines Dinges jenseits von leiblicher Kommunikation keinen Sinn mache; er knüpft also dessen Daseinsverständnis an leibliche Kommunikation (Schmitz, S. 201). 24 Das Ding als Ausdruck des Verhältnisses von Subjekt und wahrgenommener Welt wird in einer merkwürdigen Schwebe beschrieben: Einerseits verfügt es über einen von der Wahrnehmung unabhängigen Herrenstatus und andererseits macht es jenseits der Wahrnehmung keinen Sinn. Eine zusätzliche Ungewißheit entsteht bei Merleau-Ponty, der das Ding als eine Rekonstruktion eines Erlebnisses bezeichnet, die nun nicht einmal mehr einen Charakterwechsel erklären kann (Merleau-Ponty, S. 377). Während das Ding bei Merleau-Ponty zu einer subjektiven Beliebigkeit wird, erweckt es in seiner Ausgestaltung bei Schmitz den Eindruck einer Hilfskonstruktion, um den beobachteten Charakterwechsel erklären zu können. Beide Theorien können mit Hilfe ihres Dinges nicht eine Wahrnehmung aus neuronalen Prozessen erklären, weil diese auf Reize Schmitz, 1978, S. 164: In seiner Kritik an Merleau-Ponty wirft ihm Schmitz vor, er habe das Ding selbst und dessen Charakter verwechselt. 24 Vgl. auch Merleau-Ponty, 1965, S. 29: Nie sei ein Ding von seiner Wahrnehmung zu trennen; die Idee einer an sich seienden Außenwelt sei zu verabschieden. 23
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der Umwelt zurückgehen, die weder einer Beliebigkeit überlassen sind noch von denen man behaupten kann, daß sie ohne Wahrnehmung keinen Sinn machen. Abgesehen von einer ungeklärten Außenwelt unterscheiden phänomenologische Wahrnehmungstheorien nicht zwischen verschiedenen Arten des Wissens, wie es mit Hilfe der Erkenntnisse aus der Neurowissenschaft möglich wird. Eine solche Einteilung erweist sich als wichtig, wenn es um eine Beurteilung der Wissenschaften und ihre ethische Perspektive geht. Insgesamt scheitern die bisher behandelten Wahrnehmungstheorien heute an den Ergebnissen der Neurowissenschaften. Aber auch dort, wo die Neurowissenschaften zur Grundlage einer Erklärung des Wahrnehmungswissens gewählt wurden, können die Vertreter des Radikalen Konstruktivismus die Frage nach einer Außenwelt nicht überzeugend beantworten. Sie wird von den Radikalen Konstruktivisten abgelehnt, weil es ihnen, wie sie meinen, nicht möglich sei zu erklären, wie eine dem Wissen vorausgehende Außenwelt in das Gehirn hineinkommen und nach der neuronalen Bearbeitung wieder als Außenwelt nach draußen gelangen soll; im Gehirn fände man keine Welt sondern nur neuronale Impulse. Ob das aber eine überzeugende Begründung ist, bedarf einer Betrachtung.
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Eine Kritik des Radikalen Konstruktivismus
V.
Eine Kritik des Radikalen Konstruktivismus
a.
Das Konzept des Radikalen Konstruktivismus
Eine dritte Möglichkeit zur Beantwortung der Frage nach einer Außenwelt folgt aus einer Erklärung des Wissens über die Welt, wie es ein Subjekt in einer Kommunikation mit seiner Umwelt hervorbringt. Anders als im Realismus, der eine der Wahrnehmung vorgängige Außenwelt annahm, und auch unterschieden von dem Phänomenalismus, der Subjekt und Welt in gegenseitiger Ausformung verbindet, erklärt der Radikale Konstruktivismus ein Subjekt als ein in sich geschlossenes System, das durch Kommunikation mit seiner Umwelt sein Wissen über die Welt selbst erzeugt. Zunächst und vor allem befaßt er sich mit einem Wissen aus der Wahrnehmung, wobei in machen Entwürfen auch Emotionen auftauchen. Wahrnehmung wird bei den Konstruktivisten beschrieben als eine Orientierung eines Subjektes an Umweltmerkmalen zum Zwecke der Selbsterhaltung, wobei bei den Menschen und vielen Tierarten auch das soziale Leben und Überleben eingeschlossen ist. Wahrnehmungen, so Roth, seien Hypothesen über die Welt, die falsch sein könnten; aber auch falsches Wissen wie ein vermeintlich erkannter Feind seien überlebenswirksamer als differenzierte Wahrnehmung. Die Anforderungen an ein Wahrnehmungssystem können je nach Komplexität der Umweltbedingungen mit einfachen oder sehr komplizierten Nervensystemen erfüllbar sein (Roth, 1997, S. 78 ff.). 25 Eine Begründung des Wissens aus der Herleitung seiner Erschaffung ist eine alte Idee, auf die sich die Konstruktivisten der Gegenwart berufen. Wissen aus den Schritten seiner Herstellung more geometrico zu begründen, war eine verlockende Idee der frühen Neuzeit, weil sie nicht begründbare metaphysische Annahmen über die Natur überflüssig machte (Hobbes, 1915, I. 8.; 1965, S. 62). Ähnlich wie Hobbes und später auch Vico fragt der moderne Konstruktivist nach den Prozessen, die zum Wissen der Wirklichkeit eines Subjektes führen. Bei Hobbes und Vico wurde das Wissen durch einen Denkprozeß konstruiert, also auf der Reflexionsebene, obgleich Vico bereits von eigenständigen Sinnesqualitäten spricht (Vico, 1979, S. 119). Der moderne Konstruktivist reklamiert ein Zustandekommen des Wahrnehmungswissens auf konstruktive Art: Dem leben25
Zum Begriff der Wahrnehmung vgl. auch Maturana, 1987, S. 104 ff. A
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den System entsteht Wirklichkeit aus seinen Kommunikationsschritten mit seiner Umwelt. Es ist ein subjektives Wissen des lebenden Systems. Ein wahrnehmendes Individuum produziert seine Wirklichkeit selbst. 26 Die Konstruktivisten sprechen anstelle von Welt häufig von Wirklichkeit, um die Ergebnisse des einzelnen Subjektes aus der Kommunikation mit seiner Umwelt als Erfahrbares zu kennzeichnen; unterschieden von der Wirklichkeit bezeichnet Roth mit Welt ein gedanklich Transphänomenales, das unerfahrbar ist (Roth, 1997, S. 316). Wirklichkeit ist im Konstruktivismus eine wissenschaftliche, eine gesellschaftliche, eine individuelle und eine biologische. Kennzeichnend für alle Konstruktivisten entlarvt Watzlawick eine von uns für objektiv gehaltene Wirklichkeit als Folge der Art und Weise, in der wir nach Wirklichkeit suchen (Watzlawick, 1994, S. 10). Diese Idee einer konstruktiven Wirklichkeit ist unter verschiedenen Aspekten ausgeformt worden: Die philosophischen Überlegungen des Radikalen Konstruktivismus untersuchen die grundlegende Frage nach einer Ontologie der Wirklichkeit; sie orientieren sich an einer Wende von einer statischen Ontologie der Wirklichkeit hin zu einer Wirklichkeit als Prozeßgeschehen, in denen nicht mehr nach dem ›was‹ sondern nach dem ›wie‹ einer Wirklichkeit gefragt wird. 27 Eine biologische Perspektive ist auf die Interaktion eines lebenden Systems mit seiner Umwelt gerichtet. Durch die Leistungen der Wahrnehmungsorgane, vor allem aber des Gehirns und des Nervensystems, wird gezeigt, wie ein Subjekt seine Wirklichkeit aus neurophysiologischen Prozessen herausbildet. Schließlich gibt es eine Richtung, die Wirklichkeit als Resultat menschlichen Handelns und Verhaltens begreift; es ist die meWatzlawick, 1994, S. 10, bedauert die Bezeichnung »Konstruktivismus«; er schlägt statt dessen Wirklichkeitsforschung vor. Diese Bemerkung zeigt, worauf es ankommt, nämlich nicht auf das Wahrnehmungsphänomen selbst, sondern auf dessen Ergebnis, eine Wirklichkeit. 27 Schmidt, 1987, S. 13, schreibt: »Die Erkenntnistheorie des Radikalen Konstruktivismus läßt sich kurz auf folgenden Nenner bringen: Sie versteht sich als Kognitionstheorie und sie ist nicht-reduktionistisch. Das soll heißen, sie ersetzt die traditionelle epistemologische Frage nach Inhalten oder Gegenständen von Wahrnehmung und Bewußtsein durch die Frage nach dem Wie und konzentriert sich auf den Erkenntnisvorgang, seine Wirkungen und Resultate. Und sie ist nicht-reduktionistisch, weil sie nicht auf fundamentale oder elementare Objekte oder Prozesse (etwas psychischer oder sensualistischer) fixiert ist, auf die Wahrnehmung oder Bewußtsein >letztlich< zurückgeführt werden sollen.« 26
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Eine Kritik des Radikalen Konstruktivismus
thodische und zielgerichtete Handlung, die einer Begründung ihres Ergebnisses, besonders hinsichtlich einer Naturerkenntnis, dient. 28 b.
Die Konstruktion der Wirklichkeit
Philosophische Einwände, unterstützt von neurophysiologischen Erkenntnissen, führten zu Zweifeln an einer Außenwelt. »Freilich können weder die antiken noch die zeitgenössischen Realisten erklären, wie die Einfuhr dieser Nachrichten [der Sinne] […] aus der Außenwelt der ontischen Dinge in die Innenwelt der Ideen bewerkstelligt werden könnte. Doch gleichgültig, was da vermittelt werden soll, mit dieser Vermittlerrolle der Sinnesorgane ist auch schon das ganze, unlösbare Problem der Wahrhaftigkeit in das Wahrnehmungsschema eingebaut, denn niemand wird je imstande sein, die Wahrnehmung eines Gegenstandes mit dem postulierten Gegenstand selbst, der Wahrnehmung verursacht haben soll, zu vergleichen.« (Glasersfeld, 1985, S. 12). Der Begriff Außenwelt wird bei den Konstruktivisten unter zwei Aspekten verwendet: Außenwelt als eine ontische Entität, die den Wahrnehmungsprozessen im Subjekt vorausgeht, und Außenwelt als ein strukturierter Gegenstand, der zur Ursache seiner Wahrnehmung wird. Glasersfeld sah keine Möglichkeit eines Zugangs zu einer solchen Außenwelt, weil das Subjekt immer nur auf die Wahrnehmungserkenntnis rekurrieren kann, die es selbst hervorbringt (Glasersfeld, 1996, S. 69; 185 b, S. 17). Mit der Erforschung neuronaler Vorgänge im Gehirn und im Nervensystem verstärkte sich der Zweifel, wie Gegenstände der Außenwelt in das Gehirn gelangen sollen, wo nur feuernde Neurone zu beobachten sind, und wie anschließend die Ergebnisse der neuronalen Prozesse wieder nach außen heraustreten sollten. 29 Roth hat auf Paradoxien verwiesen, die aus einer solchen Annahme hervorgehen, wie z. B.: Wenn alle Wahrnehmung im Gehirn entsteht – so die Neurophysiologen – muß es Diese Position vertritt Janich, 1996; Schmidt, 1987, S. 466, verweist auf drei Wurzeln des Konstruktivismus: auf Kybernetik, auf Entwicklungs- und Sprachpsychologie und auf die Biologie; s. dort auch weiterführende Literatur dazu. 29 Vgl. Roth, 1967, S. 22: Er beschreibt Paradoxien aus neurobiologischer Sicht. 28
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zwei Welten geben, nämlich eine Welt der Gegenstände außerhalb des Gehirns und eine zweite der Wahrnehmung der Gegenstände in unserem Gehirn. Das entspricht nicht unserem Erleben, denn wir leben nur in einer Welt (Roth, 1997, S. 22). Die Zweifel entstanden aus einer Verbindung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse über das Gehirn und dem philosophischen Nachdenken über Rechtfertigungsmöglichkeiten einer unabhängig von einer Wahrnehmung existierenden Außenwelt. Die Konstruktivisten meinen, ihr Erklärungsentwurf der Wahrnehmung aus neurobiologischen Prozessen könne die Paradoxien und die Zweifel an der Außenwelt überwinden und das Zustandekommen von Erkenntnis im Gehirn aus einer Kommunikation eines Subjekts mit seiner Umwelt begründen. Deshalb stehen am Anfang aller konstruktivistischen Theorien – und das ist ihnen trotz vieler Unterscheidungen gemeinsam – die Ablehnung einer von ihrer Erkenntnis unabhängigen Außenwelt. »Die Wirklichkeit, in der wir leben, ist ein Konstrukt des Gehirns« (Roth, 1997, S. 21); es gibt keine »objektive« Welt oder »Wirklichkeit« unabhängig von einem konkreten lebenden System (Köck, 1987, S. 363) 30 . Ein Subjekt konstruiert sich seine Wirklichkeit in einem Kommunikationsprozeß mit seiner Umwelt. Die Beziehung des Subjekts zu seiner Umwelt wird auch mit den Begriffen Austausch, Interaktion oder Kopplung (Maturana, 1982, S. 304) bezeichnet. Es handelt sich um einen Kontakt mit der Umwelt, die direkt materiell und energetisch auf den Organismus einwirkt und dessen Zustand beeinflußt (Roth, 1987 b, S. 263), wobei immer wieder darauf verwiesen wird, daß keine strukturierte Außenwelt dem Konstruktionsprozeß vorausgesetzt wird, sondern das Subjekt – das lebende System, die autopoietische Maschine – in der Auseinandersetzung mit seiner Umwelt seine Wirklichkeit herausbildet, an der es seine Überlebensaktivitäten orientiert. In seinem philosophischen Konzept hat Glasersfeld die Konstruktion der Wirklichkeit als Interaktion eines Subjekts mit der Umwelt zu veranschaulichen versucht durch eine Beschreibung des Weges eines blinden Wanderers, der als Ziel einen Fluß erreichen möchte, der jenseits eines Waldes liegt (Glasersfeld, 1985, S. 19 f.): »Ein blinder Wanderer, der den Fluß jenseits eines nicht allzu dichten Gleiche Aussagen finden sich bei Maturana, 1982, S. 76; Glasersfeld, 1996, S. 12; Janich, 1996, S. 113; Roth, 1997, S. 342.
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Waldes erreichen möchte, kann zwischen den Bäumen viele Wege finden, die ihn an sein Ziel bringen. Selbst wenn er tausendmal liefe und alle die gewünschten Wege in seinem Gedächtnis aufzeichnete, hätte er nicht ein Bild des Waldes, sondern ein Netz von Wegen, die zum gewünschten Ziel führen, eben weil sie die Bäume des Waldes erfolgreich vermeiden. Aus der Perspektive des Wanderers betrachtet, dessen einzige Erfahrung im Gehen und zeitweiligen Anstoßen besteht, wäre dieses Netz nicht mehr und nicht weniger als eine Darstellung der bisher verwirklichten Möglichkeiten, an den Fluß zu gelangen. […] In diesem Sinn paßt das Netz in den wirklichen Wald, doch die Umwelt, die der blinde Wanderer erlebt, enthält weder Wald noch Bäume, wie ein außenstehender Beobachter sie sehen könnte. Sie besteht lediglich aus Schritten, die der Wanderer erfolgreich gemacht hat, und Schritten, die von Hindernissen vereitelt wurden.« Daß es sich um einen Wald handelt, weiß in diesem Bild nur ein Beobachter. Umwelt übt einen Einfluß auf die Wahrnehmung aus, bleibt aber selber in diffuser, negativer Kontur, die nur deutlich macht, was nicht geht. Aus neurophysiologischer Sicht sind es von den Sinnesorganen aufgenommene Reize – auch Signale genannt –, die, in neuronale Zustände umgewandelt, an spezifischen Gehirnorten und im Zusammenwirken mit gespeicherten Mustern des Gedächtnisses zu Wahrnehmungen und Verhaltensreaktionen führen. Es ist ein dynamisches System, das aus den Entladungsmustern in einer Topologie der Verschaltung hochspezialisierter Neuronen Wissen über die Umwelt auf der Basis von Vorwissen erzeugt. An den neuronalen Vorgängen und ihren Auswirkungen zur Herausbildung eines Wahrnehmungswissens wird geforscht. Ungeklärt ist bisher, wie es von feuernden Neuronen zur Einheit der Wahrnehmung im Gehirn kommt, wie aus neuronalen Erregungszuständen im Gehirn das vielfältige und konstante Bild einer Welt entsteht. 31 Es gibt Entwürfe dazu wie z. B. Roths Gestaltgesetze der Wahrnehmung (Roth, 1997, S. 256 f.) und Singers Hypothesentheorie (Singer, 2000, S. 198 ff.). Zu weiteren Erklärungsentwürfen gibt es eine umfangreiche Literatur. 32 Hier geht es aber nicht darum, zu betrachten, wie eine Einheit und das konstante Bild der Welt zustande kommt, sondern darum, ein Foerster, 1994, S. 43; Watzlawik, 1994, S. 43, meinen, es gehe bei der Codierung der Erregungszustände nur um ein Wieviel, nicht um ein Was. 32 Vgl. Mulligan, 1997; S. Janich, 1996; Wallner, 1992; Köck, 1987; Hoffmann, 1998. 31
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Wahrnehmungswissen, so wie sie sich zeigt, hinsichtlich seiner Einflüsse aus der Umwelt zu untersuchen. Maturana schließlich hat seine biologische Sicht einer selbsterzeugten Wirklichkeit zusammengefaßt in dem Satz: »Wir erzeugen die Welt, in der wir leben, indem wir leben.« Die Sinnesorgane deuten auf eine differenzierte Umwelt hin. Ihnen kommt in der Kommunikation eines Subjektes mit seiner Umwelt eine Mittlerfunktion zu. Sie nehmen Informationen aus der Umwelt auf und übersetzen sie in eine Sprache des Gehirns. Die Verschiedenheit der Sinnesorgane weist auf entsprechende Unterschiede der Reize aus der Umwelt hin. Eine Bemerkung Roths bleibt zu erwähnen, die später eine Rolle hinsichtlich einer differenzierten Umwelt spielen wird: Die von den Sinnesorganen kommenden Erregungen werden im Gehirn nach einem Ortsprinzip als dem wichtigsten Prinzip interpretiert (Roth, 1997, S. 249). Aus dem Konstruktionsprozeß eines Lebewesens entsteht dessen individuelle Wahrnehmung. Wie ist aber eine Verallgemeinerung des individuellen Wissens erklärbar; denn der Konstruktivist behauptet, daß eine subjektiv hervorgebrachte Wirklichkeit nicht nur eine subjektive ist, sondern vom gleichen Subjekt wiedererkannt wird und von anderen Subjekten ebenfalls erkannt werden kann. Die Konstruktionsbedingungen müssen also so etwas wie Allgemeinheit ermöglichen. Zur Beantwortung der Frage nach der Allgemeinheit tauchen Begriffe auf wie Konstanz, Gleichheit, Grenze (Glasersfeld, 1987, S. 210 f.), Invarianz (Schmidt, 1987, S. 18) und Kategorisieren und Generalisieren (Roth, 1997, S. 252). Roth schreibt, daß einerseits die kognitive Welt verformbar sei, daß aber andererseits das kognitive Subjekt nicht der Akteur des Vorgangs, sondern vielmehr Objekt sei (Roth, 1987 b, S. 249), was ja soviel heißen könnte, daß sich einem Subjekt eine Wirklichkeit aufdrängt, wobei dann die Allgemeinheit wenigstens z. T. auf die Einwirkung von außen rückführbar wäre. Gesprochen wird aber auch von Umweltereignissen, die entsprechende Detektorneurone anregen oder auch von einer Klasse von Merkmalen, die Merkmalsdetektoren zugeordnet wird (Roth, 1997, S. 133); die Rede ist auch von Eigenschaften der Umweltreize, die dem Gehirn ermöglichen, Verläßliches über die Umwelt zu erfahren. Modalität und Qualität des Reizes würden durch den Verarbeitungsort im Gehirn bestimmt. Aus all diesen genannten Hinweisen läßt sich noch keine verbindliche Allgemeinheit eines Wahrnehmungswissens herleiten. Deutlich werden die unterschiedlichen Einfluß44
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quellen, die nicht im Belieben eines Subjektes stehen wie Umweltereignisse, Reize, Hindernisse oder die Einflüsse, denen sich ein Subjekt als Objekt ausgesetzt sieht. Sie verweisen auf Einflüsse, die einen Konstruktionsprozeß mitbestimmen und einen Beitrag zu einer Verallgemeinerung des Wahrnehmungswissens leisten können. Trotz berechtigter Zweifel an einer Außenwelt läßt sich ihre Leugnung nicht so einfach begründen, wie es Glasersfeld versucht. Am intensivsten hat sich Roth mit einer Außenwelt aus neurowissenschaftlicher Sicht auseinandergesetzt. Er begnügt sich nicht mit der Konstruktion einer Wirklichkeit aus neuronalen Erregungszuständen, die auf komplizierten Wegen zu bewußter Wahrnehmung, ihrer Einheit und Bedeutung führen. Er trifft eine erste einleuchtende Unterscheidung zwischen der Konstruktion der Wirklichkeit und ihrem Konstrukteur, weil eine Konstruktion den Konstrukteur voraussetzen muß (Roth, 1997, S. 324). Und er folgert, daß das Gehirn als Konstrukteur zu einer transphänomenalen Welt gehöre; er formuliert eine Theorie der zwei Gehirne, nämlich das wirkliche, das ich ansehen kann, und das reale 33, das das Geistige hervorbringt; dieses ist selber unzugänglich, weil jeder Versuch eines Zugangs zum wirklichen Gehirn führt (Roth, 1997, S. 324 ff.). Diese ZweiweltenTheorie erinnert an die oben erwähnte Gestalttheorie von Metzger; die tranzphänomenale Welt bleibt auch in Roths Entwurf eine dunkle ungeklärte Instanz. Was dagegen einleuchtet, ist, daß Roth zur Erklärung des Konstruktionsprozesses nach dessen Voraussetzungen fragt; er braucht ein Gehirn, Sinnesorgane und ein Nervensystem, ohne die kein neuronaler Prozeß und keine Erklärung der Wahrnehmung aus einem neuronalen Prozeß möglich wäre. Roth ergänzt die Voraussetzungen noch um neuronale Signale, über deren Herkunft man nichts Verläßliches wisse (Roth, 1987, S. 235). Die Annahme der zwei Welten erlaubt zwar, die Paradoxie einer Konstruktion ohne Konstrukteur zu vermeiden, aber es folgt ein Dilemma: Einerseits wird eine Außenwelt abgelehnt und andererseits eine einer Erkenntnis unzugängliche Welt angenommen, wobei auch noch zwischen Zutaten von außen und Zutaten des Gehirns nicht unterschieden werden kann. Um nicht in den Widerspruch zu geraten, daß die Welt von einem Gehirn erzeugt wird, das es nicht gibt, verteidigt Roth seine Annahme einer der Erkenntnis unzugänglichen Welt durch den Hinweis, daß menschliche Erkenntnismöglichkeiten 33
Zur Einführung der Begriffe Wirklichkeit und Realität vgl. Roth, 1987 b, S. 275. A
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an Bedingungen gebunden seien, die selber nicht mehr erkennbar seien, innerhalb deren sich Erkenntnis nur noch bewähren könne (Roth, 1997, S. 358 ff.). Kann man aber dann noch sinnvoll bestreiten, daß auch eine Außenwelt, die eine Wahrnehmung prägt, zu dieser realen Welt gehören könnte? Damit ist sie war nicht bewiesen, aber sie kann auch nicht abgelehnt werden. 34 Einerseits erweist sich Wahrnehmung als ein Konstrukt des Gehirns, andererseits sind aber Wahrnehmung und erfolgreiches Handeln nicht einer Beliebigkeit überlassen, was man nicht nur leicht im täglichen Leben feststellen kann, sondern was auch von den Konstruktivisten zugegeben wird. Niemand könne anstelle rot grün wahrnehmen, anstelle von Stein Brot (Roth, 1987, S. 249). Wir können alles machen, was nicht gegen die Welt ist; Glasersfeld verwendet für diese Nichtbeliebigkeit einer Konstruktion aus der Interaktion mit der Umwelt den Ausdruck »Passen« (Glasersfeld, 1985 b, S. 18 ff.; 1987 a, S. 410, 439); der Radikale Konstruktivismus verleugne nicht eine ontische Wirklichkeit, aber alle meine Aussagen seien 100 % mein Erleben (Glasersfeld, 1982, S. 422). Es geht hier nicht um einen unstrittigen Einfluß von außen, sondern um die Frage, welche Hinweise konstruktivistische Entwürfe auf eine Außenwelt enthalten. Es sind die Begriffe des Beobachters und des autonomen Wesens. Maturana hat den »Beobachter« eingeführt, um metasprachlich von den Operationen eines lebenden Systems sprechen zu können (Maturana, 1987, S. 110 f.): Der Beobachter beschreibt die Kommunikation eines lebenden Systems mit seiner Umwelt, und zwar aus einer Distanz, die erst eine verallgemeinernde Konstruktionstheorie eines Kommunikationsgeschehens erlaubt. Ist der Beobachter aber in der Lage, in das beobachtete lebende System des anderen hineinsehen zu können, um dessen Interaktionswahrnehmungen zu erfassen, oder kann er nur das beschreiben, was ihm als außenstehenden Beobachter zugänglich ist? Die Frage, ob man aus Gehirnzuständen mittels Meßinstrumenten z. B. auf bestimmte Wahrnehmungsergebnisse schließen kann – ob man Gedanken lesen kann – hat Roth mit Einschränkungen bejaht. Das Problem des Fremdpsychischen sei zwar überwunden, er schränkt aber ein, daß Details des Vorgestellten, Gedachten, ErinnerHeisenberg, 2000, S. 142 ff., diskutiert die Frage: Was ist drinnen und was ist draußen aus Sicht biologischer Gehirnforschung; er verwirft aber schließlich eine zweite Wirklichkeit und kommt zu dem Schluß: Die Welt ist unsere Repräsentation.
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Eine Kritik des Radikalen Konstruktivismus
ten auf technische Auflösungsgrenzen stoßen; daß vor allem aber eine vollständige Kenntnis der semantischen Vorgeschichte, die in die Wahrnehmung einginge, vorliegen müßte, was bestenfalls in einer Annäherung möglich sei (Roth, 1997, S. 274 ff.). Sowohl Foerster wie auch Uexküll bezweifeln das; Uexküll meint, im Gegensatz zu physikalischen Systemen, die über kein Selbst verfügen, besitzen lebende Systeme ein eigenes Selbst und interpretieren ihre Umgebung als ›eigene Realität‹; der Beobachter eines lebenden Systems könne dessen Interpretation wiederum nur interpretieren (Üexküll, 1996, S. 26). Ähnlich wie Uexküll spricht Foerster von einem Ich, das sich in seiner Vorstellung seine Welt bildet; und daß dem Ich, das sich seine Vorstellung bildet, diese die einzige Wirklichkeit ist. Daraus folgt, daß ein Beobachter das von einem lebenden System hervorgebrachte Wissen nicht so wissen kann, wie dieses selbst; es gibt deshalb Konstruktionsprozesse, die der Beobachter als eine ihm unzugängliche Außenwelt anerkennen muß. Ein anderer Hinweis dazu findet sich bei Roth (1997, S. 353): Er spricht von relativierten Wahrnehmungswelten bezogen auf verschiedene Lebewesen. Insekten könnten in ihrer Wahrnehmungswelt zu anderen Resultaten kommen als Menschen. Das heißt doch, daß man nicht sicher sein kann, daß man als Beobachter eines Insektes dessen Wahrnehmungswelt erfassen kann; insofern zeigt sich auch hier eine Wirklichkeit, die auf eine Außenwelt verweist in Gestalt eines lebenden Systems. Auch Foerster benutzt ein Bild, um das Selbst des Organismus in der konstruktivistischen Wirklichkeitsbildung zu verdeutlichen: Er beschreibt einen Mann, der behauptet, er sei die einzige Wirklichkeit; alles andere existiere nur in seiner Vorstellung. Er könne aber nicht leugnen, daß seine Vorstellungswelt von Geistern bewohnt werde, die ihm nicht unähnlich seien; die ihrerseits darauf bestehen könnten, die einzige Wirklichkeit zu sein. Der Standpunkt des Mannes werde unhaltbar, sobald er ein weiteres autonomes Lebewesen neben sich erfinde (Foerster, 1994, S. 58 f.). Was Foester zeigen will, ist, daß sich der Mann entscheiden muß, entweder zu glauben, nur er sei der Mittelpunkt der Welt, oder anzuerkennen, es gebe auch andere, die das von sich behaupten könnten. Die zweite Möglichkeit liegt aber näher, da wohl kaum einer leugnen wird, daß er als Mensch unter Menschen lebt, oder als Lebewesen unter Lebewesen. Auch dieses Beispiel zeigt, daß die Leugnung einer Außenwelt, bestehend aus autonomen Lebewesen, mehr als problematisch ist. A
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Wissen und Welt
c.
Eine Kritik des Geltungsanspruchs des Radikalen Konstruktivismus
Bei den Konstruktivisten zeichnen sich zwei Ebenen des Wissens ab: Die erste Ebene ist die einer Wahrnehmung. Hier entsteht ein Wahrnehmungswissen im Subjekt, dieses ist ein unreflektiertes Wissen. Wahrgenommene Wirklichkeit bedarf keiner Sprache und Begriffe, das lebende System nutzt seine Kommunikation mit der Umwelt für Reaktionen und Verhalten zur Selbsterhaltung. Die zweite Ebene ist die Reflexionsebene, gekennzeichnet durch eine Betrachtung der Wahrnehmung. Wahrnehmungswissen wird befragt und Theorien einer Erklärung entworfen wie die Prozeßtheorie aus neurobiologischer Perspektive; die Kommunikationstheorie aus der biologischen Sicht einer autopoietischen Reaktion des lebenden Systems auf seine Umwelt (Maturana, 1982, S. 303); durch eine Handlungstheorie, die Wahrnehmungswissen aus erfolgreichem Handeln und Verhalten erklärt und schließlich durch die philosophische Theorie der selbstgemachten Wirklichkeit. Wie kann der den Theorien gemeinsame Konstruktionscharakter gerechtfertigt werden? Eine Konstruktion des Wahrnehmungswissens wird von den Radikalen Konstruktivisten auf zwei unterschiedlichen Wegen zu rechtfertigen versucht: Auf dem Weg einer instrumentellen Wissensbegründung und auf dem einer empirischen Wissensbegründung. Den instrumentellen Weg beschreitet Glasersfeld. Er meint, der Radikale Konstruktivismus sei empirisch nicht als wahr zu erweisen, sondern nur instrumental als viabel (Glasersfeld, 1996, S. 13 u. 40). Handlungen, Begriffe und Operationen sind viabel, wenn sie zu den Zwecken passen, für die wir sie nutzen. Das bedeutet, daß das Wissen aktiv aufgebaut und nicht passiv aufgenommen wird, und daß dieses Wissen aus einer Organisation der Erfahrung besteht und nicht aus einer Entdeckung der ontologischen Realität. Er setzt sich mit dem Einwand gegen einen Instrumentalismus von Popper und Feyerabend auseinander, die sagen: Wenn eine ontische Welt geleugnet werde, würde der Begriff der Objektivität hinfällig. Führt die instrumentelle Wissensbegründung zu einer Beliebigkeit des Wissens? Glasersfeld verweist dagegen auf sein »Hindernisbeispiel« und auf die Erlebniswelt, die es hervorbringt (1985, S. 17 ff.). Geht man davon aus, daß die Konstruktion der Erlebniswelt keine beliebige Welt ist, wird man seine Entgegnung akzeptieren können. Aller48
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Eine Kritik des Radikalen Konstruktivismus
dings bleibt zu klären, worin der Unterschied zwischen Objektivität und Nichtbeliebigkeit besteht. Meint Objektivität eine dem Wahrnehmungsprozeß vorausgehende ontische Welt, so wird sie aus Sicht des Konstruktivismus nicht beweisbar sein. Dagegen wird sich eine Wissensbegründung zeigen lassen, deren Ergebnisse aus einer Verarbeitung von Umweltreizen hervorgebracht werden, die nicht beliebig ausgeformt werden können, weil sie äußeren Einflüssen unterliegen, die sie mitprägen. Anders verhält es sich bei der empirischen Rechtfertigung der konstruktivistischen Ergebnisse. Roth spricht in seiner Wissensbegründung davon, daß eine naturwissenschaftliche Aussage, auf deren empirische Begründung er seinen Konstruktivismus stützt, keine objektive Wahrheit beanspruche. Bestenfalls könnten solche Aussagen für eine bestimmte Zeitspanne ein Maximum an Konsistenz aufweisen. Empirisch ist seine Rechtfertigung nicht, weil er auf eine ontische Welt verweist, sondern weil die Aussage, gebunden an menschliche Begriffe, mit Hilfe von Beobachtungen bestätigt wird (Roth, 1997, S. 361 f.). Die Beobachtungen sind aber ein subjektives Konstrukt, die nur durch Vergleich mit anderen Versuchsleitern bestenfalls verallgemeinert werden können (Roth, 1997, S. 354). Die Schwäche der empirischen Begründung zeigt sich im Vergleichsmoment zwischen Versuchsleitern, die ihr Wahrnehmungswissen gegenseitig nachzuvollziehen versuchen müssen, ohne über ein Kriterium comparationis zu verfügen. Instrumentelle und empirische Begründung unterscheiden sich nur dadurch, daß die instrumentelle das Subjekt in das Zentrum der Begründung stellt, die empirische dagegen die Umwelt. In beiden Begründungen müssen sich die konstruktivistischen Ergebnisse in der Erfahrung bewähren und sind insofern keine Gedankenexperimente. Die Vorstellung der Konstruktivisten, alles Wissen aus der Wahrnehmung sei vom Subjekt hervorgebracht, darüber hinaus könne es kein Wissen von einer Außenwelt geben, weil dieses immer an das Subjekt gebunden sei, erscheint zunächst plausibel. Betrachtet man die Vorstellung unter dem Aspekt der eigenständigen Wissensmöglichkeiten aus Wahrnehmung bzw. aus Reflexion, ist sie nicht zu halten. Ein einfaches Beispiel zeigt, daß sie zum Widerspruch führt: Beobachtet man einen Planeten, z. B. Pluto, so ortet man ihn an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit. Eine Reflexion über Ort und Zeitpunkt des Himmelskörpers ergibt, daß er bei einer Entfernung von ca. 6 Mrd. km zum Zeitpunkt der Beobachtung beA
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reits um ca. 100000 km weitergewandert ist, nämlich während der Zeit – seiner Umlaufgeschwindigkeit entsprechend –, die ein Lichtimpuls von ihm bis zum Beobachter auf der Erde benötigt. Diese Verschiedenheit des Ortes bleibt verständlich, solange man als Außenwelt einen Himmelskörper annimmt, der sich unabhängig von seiner Wahrnehmung bewegt. Leugnet man die Außenwelt, so gerät man in eine widersprüchliche Situation: Das Wissen aus der Wahrnehmung vermittelt einen anderen Ort zu einer bestimmten Zeit als das Wissen aus der Reflexion. Der Himmelskörper müßte sich an zwei Orten gleichzeitig befinden. Beide Begründungsarten machen von der Instanz der Erfahrung Gebrauch, deren Ergebnisse nicht in das Belieben des Subjekts gestellt sind und die ihre Zwecke bzw. Aussagen scheitern lassen kann. Die Erfahrung nimmt Einflüsse der Umwelt auf, die auf ein dem subjektiven Konstrukt Vorausgehendes verweisen. Es gibt eine Reihe von Einwänden, die gegen den Geltungsanspruch der konstruktivistischen Theorie vorgebracht wurden. Ein Einwand wendet sich gegen den Beweiszirkel: Eine Theorie, die sich in ihrer Begründung auf die Selbsterhaltung des Lebewesens stützt, verweist auf eine zirkuläre Begründung, weil sie ein Lebewesen voraussetzt, dessen Existenz ihre Theorie bestätigt. 35 Das Problem des Zirkels ist aber zugunsten der Konstruktivisten lösbar. Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften können empirisch nachweisen, daß Wahrnehmung der Selbsterhaltung dient. Ein Lebewesen, das seinen Feind nicht wahrnimmt, ist gefährdet. Woher es weiß, daß es sich bei einer bestimmten Wahrnehmung um seinen Feind handelt, läßt sich angeborenen bzw. erlernten Bewertungen zeigen. Einen Einwand gegen die Leugnung der Außenwelt hat Nüse vorgebracht: »Wenn man keinen Zugang zu seiner Umgebung hat, dann kann man auch nicht feststellen, daß man keinen hat / Wenn der Radikale Konstruktivismus wahr wäre, dann wäre er widersprüchlich und falsch« (Nüse, Kap.11 u. S. 332). Es wurde bereits gezeigt, daß der Konstruktivismus nicht ohne Einflüsse der Umwelt auskommt. Nüses Prämisse ist in dieser strengen Abstraktion nicht haltbar; insofern wird auch die Konklusion fragwürdig. Die Frage bleibt aber, was unter Einflüssen aus der Umwelt zu verstehen ist, Janich, 1996, S. 172, verweist auf diese Zirkularität des konstruktivistischen Beweises; Nüse, 1995, S. 332, verdeutlicht diese Beweisproblematik am Beispiel von Glasersfelds Begriff des Passens.
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Eine Kritik des Radikalen Konstruktivismus
vor allem, ob sie die Herrschaft über den Konstruktionsprozeß ausüben und nicht dessen Knechte sind. Was die Konstruktivisten allerdings zu recht behaupten können und auch durch Nüses Argumentation nicht widerlegt wird, ist, daß eine der Wahrnehmung gegenüberstehende, ausdifferenzierte ontologische Umwelt nicht erweisbar ist. Eine weitere erkenntnistheoretische Kritik äußert Janich wegen eines normativen Defizits des Radikalen Konstruktivismus; er könne keine gute von einer schlechten Wissenschaft unterscheiden (Janich, 1996, S. 116); ein Geltungsanspruch aus einer Konstruktion, der die Instanz einer Außenwelt leugnet, läßt keine andere normative Bewertung zu. Auf den ersten Blick mag dieser Einwand überflüssig erscheinen, weil es in den Kommunikationsprozessen nicht um gut oder schlecht, sondern um Selbsterhaltung geht. Wenn man aber an das eingangs erwähnte Unbehagen denkt, das von einer von Menschen unternommenen Wissenschaft ausgehen kann, ist die Frage nach einer guten oder schlechten Wissenschaft nicht nur berechtigt, sondern es ist notwendig, sie zu stellen. Im Kapitel »Ethik« wird sie aus erkenntnistheoretischer Sicht behandelt. Eine kritische Anmerkung folgt noch zum Verständnis der Natur im Radikalen Konstruktivismus. Janich formuliert sie so: In der Naturwissenschaft – er nennt sie ein technisches Gelingen des Verfügens über künstlich erzwungene Eigenschaften durch Geräte (S. 211) – wird Natur zum Kulturprodukt, weil sie das sei, »was sich unter gewissen Perspektiven wissen läßt« (S. 215). Naturgegenstände würden in physikalischer Beschreibung und Erklärung zu Gegenständen menschlicher Handwerkskunst, der Technik und Mathematik (S. 216). Der Vorwurf, der nicht nur auf die konstruktivistische Wissensbegründung zutrifft, sondern ebenso auf rationalistische Begründungskonzepte, mag berechtigt sein. Janich verweist dagegen erkenntnistheoretisch auf ein Vorgegebenes in der Naturwissenschaft: auf eine Natur, die Wissen erlaubt und an dem sich Handeln erprobt. Dieses Verständnis von Natur als etwas vorgegebenem ähnelt Roths Bewährung an der Realität und Glasersfelds Scheitern an den Bäumen des Waldes. In Janichs Kritik gewinnt Natur zwar eine Eigenständigkeit als Instanz, die Wissen erlaubt oder nicht, wie es ihr auch von Konstruktivisten zugestanden wurde. Aber ihre Eigenständigkeit verharrt in einer Abhängigkeit von demjenigen, der Fragen an sie heranträgt. Insofern bleibt sie auch in Janichs Verständnis ein Gegenstand menschlicher Gestaltungskunst. Solange Wissenschaft A
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nur aus der Perspektive eines Reflexionswissens ihre Gegenstände behandelt, eröffnet sich keine Möglichkeit, einer Naturvorstellung in den Wissenschaften näher zu kommen, in der sie nicht nur zum Produkt von Machbarkeiten gemacht wird. Für dieses Problem wird im Kapitel »Wissenschaft und Ethik« eine Lösung vorgeschlagen. d.
Leistung und Grenzen der Erklärung des Radikalen Konstruktivismus
Seine überzeugende Leistung zeigt der Konstruktivismus in der Erklärung von Wahrnehmungsprozessen, in der naturwissenschaftliche Erkenntnisse, psychologische und philosophische Sichtweisen aus einem Erklärungsentwurf begründet werden. Hinsichtlich einer Wahrnehmung können aus der Theorie so verschiedene Ansätze wie neurophysiologische Vorgänge des Gehirns, die Vorstellung einer biologischen Wahrnehmungsorientierung lebender Systeme aus einem Zweck der Selbsterhaltung wie auch Verhaltensreaktionen als Reflexe oder als Ergebnisse von Lernvorgängen erklärt werden. In die konstruktivistische Erklärung der Wahrnehmung aus sprachlicher und nichtsprachlicher Kommunikation werden alle Lebewesen mit ihren unterschiedlichen Ausstattungen der Sinnesorgane, des Gehirns und Nervensystems einbezogen. Wahrnehmung wird im Unterschied zu Wahrnehmungstheorien des Realismus oder des Phänomenalismus nicht nur als eine Art von Wissen, sondern als fundamentale, unverzichtbare Bedingung von Lebensvorgängen ausgewiesen. Die Crux des Konstruktivismus liegt trotz seiner überzeugenden Argumentation für selbstgemachte Wirklichkeit in seiner Ablehnung einer Außenwelt bzw. in seinen oft diffusen Aussagen über eine Außenwelt. Seiner überzeugenden Erklärungskraft für viele Wahrnehmungsvorgänge steht ein nicht einlösbarer Anspruch auf Rechtfertigung einer ausschließlich konstruktiven Wirklichkeit gegenüber. Wirklichkeit ist hier nur Erfindung und keine Entdeckung 36 . Der Radikale Konstruktivismus ist selbst ein Reflexionswissen über Wissen, insbesondere über Prozesse des Wahrnehmungswissens nach Erkenntnissen aus den Neurowissenschaften. Er spricht über Wahrnehmungswissen, unterscheidet aber nicht zwischen 36
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Vgl. Foerster, 1987, S. 142; Nüse, 1995, S. 347.
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Eine Kritik des Radikalen Konstruktivismus
Wahrnehmungs- und Reflexionswissen bei den Lebewesen, wo neben einem Wahrnehmungsvermögen ein Reflexionsvermögen das erlaubt. Er beachtet nicht die Bedingungen des Reflexionswissens wie z. B. ihren Aspektcharakter. Seine Ablehnung einer Außenwelt berücksichtigt nicht, daß sie in einem Reflexionswissen nicht gerechtfertigt werden kann, was nicht ausschließt, daß sie in einem Wahrnehmungswissen präsent ist. Es bleibt deshalb zu fragen, wie aus der Perspektive des Radikalen Konstruktivismus ein Wissen der Außenwelt aus der Wahrnehmung mit seinem Wissen aus der Reflexion verträglich bleiben kann. Erste Hinweise darauf ergeben sich aus der Kritik an dem Radikalen Konstruktivismus: Ein Reflexionswissen über Wahrnehmungsprozesse verweist auf Quellen außerhalb des Konstruktionsprozesses; die Quellen erweisen sich als notwendige, aber nicht als hinreichende Bedingung für Wahrnehmung. Quellen
Wahrnehmung
Notwendige Bedingung
(F)
Replikation
(W)
(F) stimmt
Hinreichende Bedingung
(W)
Implikation
(F)
(F) stimmt nicht; es kann Quellen geben, ohne sie wahrzunehmen
Der Radikale Konstruktivismus stützt sich auf eine Beziehung zwischen differenzierten Reizquellen und den entsprechenden Wahrnehmungen. Die Annahme solcher Quellen als Außenwelt bleibt mit der Theorie des Radikalen Konstruktivismus verträglich, weil er nicht die Quellen, sondern nur eine der Wahrnehmung vorausgehende abbildbare Außenwelt leugnet.
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C. Wissen und Zugrundeliegendes
VI. Zugrundeliegendes a.
Der Begriff des Zugrundeliegenden
Wenn man Wissen aus einem Konstruktionsprozeß erklärt, ist Außenwelt ein ungeeigneter Ausdruck für das, was einem Wissen vorausgeht und Einfluß auf dieses ausübt, weil in der Kritik des Konstruktivismus nicht geklärt werden konnte, was Außenwelt bezogen auf ein Wissen aus einem Kommunikationsprozeß bedeutet. Da hier im erkenntnistheoretischen Zusammenhang nach Einflüssen auf den Konstruktionsprozeß gefragt wird, die nicht in das Ermessen des Subjekts gestellt sind, soll für diese Einflüsse der Begriff »Zugrundeliegendes« eingeführt werden. Der Begriff Zugrundeliegendes taucht philosophiegeschichtlich in unterschiedlichen Zusammenhängen auf. Aristoteles führt das Zugrundeliegende (hypokeímenon) als dasjenige ein, was dem Seienden vorausgeht. Er beschreibt es durch verschiedene Bestimmungen: Es ist zum Wesen gehörig das, wovon es Unterschied und Qualität gibt; es ist Stoff und auch Gestalt, aus denen Aristoteles das Seiende erklärt, und es ist ein aus beiden Verbundenes. Bezüglich der Wahrnehmung spricht er von Zugrundeliegendem, das die Wahrnehmung bewirkt, aber das es auch ohne Wahrnehmung gibt. Das Zugrundeliegende ist erkenntnistheoretisch ein Grundstoff, »von dem das Übrige ausgesagt wird, während es selbst von keinem anderen ausgesagt wird« (Aristoteles, 1970, 1028b). In seiner Erkenntnistheorie führt Aristoteles ein Zugrundeliegendes ein, das Gegenteiliges sowie Veränderung des Stoffes und der Gestalt an dem Einzelnen ermöglicht. Eine Beziehung des Zugrundeliegenden zum Subjekt spielt noch keine Rolle. 1 Kant dagegen spricht in seiner Erkenntnisbegründung nicht von 1 Franz Schwarz übersetzt hypokeímenon mit Substrat (in: Aristoteles, Metaphysik, Stuttgart: Reclam 1970); Viertel, 1982, Kap II, befaßt sich eingehend mit der Entwicklung des Aristotelischen hypokeímenon.
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den Dingen selber, sondern von ihren Erscheinungen; nur die hält er einer Erkenntnis für zugänglich (Kant, KdrV B XXVI, B 344). Darüber hinaus denkt sich der Verstand ein der Erscheinung Zugrundeliegendes, das Kant ein transzendentales Objekt nennt; er versteht es als oberste Bedingung der Sinnlichkeit. Das transzendentale Objekt sei unerforschlich; man wisse nicht, ob es in uns oder außer uns anzutreffen sei, ob es mit der Sinnlichkeit zugleich aufgehoben werde; Kant nennt es deshalb Noumenon (ebd., B 641/A 613). Auch wenn Kant in seinem Erkenntnissystem ein Zugrundeliegendes nicht weiter bestimmen kann, führt er es ein, weil es keinen Sinn macht, von Erscheinungen zu sprechen, ohne etwas anzunehmen, wovon sie Erscheinungen sind (KdrV BXXVI). Mit Blick auf die Wahrnehmungserkenntnis bleibt zu fragen, ob sich ein ihr Zugrundeliegendes durch die Neurowissenschaften näher bestimmen läßt. Auffallend ist, daß Aristoteles wie auch Kant in ihren Erkenntnistheorien ohne ein dem Erkannten Vorausgehendes nicht auskommen. Auch Schmitz konnte in seiner phänomenologischen Wahrnehmungstheorie nicht auf ein Zugrundeliegendes verzichten. Er hat es »Ding« genannt. Es liegt dem Charakter des Wahrgenommenen zugrunde. Das Ding ist seinem Charakter überlegen, wie er an Beispielen des Charakterwechsels zeigt. Er spricht auch von dem Ding als Substanz hinter Gesichtern und Charakteren; insofern kommt ihm Bestimmendes zu (Schmitz, 1978, S. 144 u.172 f.). Unklar bleibt, wie es zu denken ist: Einerseits ist es an das Subjekt durch dessen Kommunikation mit der Umwelt gebunden, andererseits ist es der Kommunikation überlegen, wobei es aber nicht aus einem Daseinsverständnis jenseits der Kommunikation zu denken sei. Es ähnelt dem Kantschen zugrundeliegenden »Ding an sich« als ein Gedachtes, um erklären zu können, warum ein Wahrgenommenes seinen Charakter wechseln und zu einem anderen Wahrgenommenen werden kann wie die Tonscherbe zur Speckschwarte. In der Konstruktivismuskritik hatten sich Hinweise gefunden, daß trotz der Ablehnung einer Außenwelt eine Wirklichkeit nicht ausschließlich eine vom Subjekt hervorgebrachte ist. Es waren die Hinweise auf Gehirn und Sinnesorgane als ein jeder Wahrnehmung Vorausgehendes, auf Zutaten zu den Wahrnehmungsprozessen von außen, die eine Wahrnehmung nicht der Beliebigkeit des Subjekts überlassen, ebenso wie die Einsicht, daß die Ergebnisse einer Kommunikation eines Subjekts mit der Umwelt von einem Beobachter nicht vollständig erfaßt werden können; und es gab auch den wichti56
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Zugrundeliegendes
gen Hinweis auf das autonome Selbst als ein vom Subjekt nicht selbst Hervorgebrachtes. Diese Einwände haben zwar gezeigt, daß der Konstruktivismus die Wirklichkeit nicht als ein nur subjektives Konstrukt beschreiben kann; aber ein der konstruierten Wirklichkeit Vorausgehendes wurde für unerkennbar gehalten. In den erwähnten Erkenntnistheorien der Realisten, der Phänomenalisten und der Konstruktivisten gab es bezüglich einer Außenwelt Lücken des nicht Erklärbaren. Ein über ein Wissen hinausgehender Bezug auf eine Welt scheint unverzichtbar zu sein, ob Außenwelt, Umwelt oder Zugrundeliegendes genannt. Die Frage ist, welche Aussagen über einen solchen Weltbezug möglich sind. Bert Brecht hat in einer Parabel, die in seiner Skizze »Turandot oder der Kongreß der Weißwäscher« enthalten ist, die Frage nach der Außenwelt in folgendem Dialog zwischen Lehrer und Schüler so gelöst: Lehrer: Si Fu, nenne uns die Hauptfragen der Philosophie! Si Fu: Sind die Dinge außer uns, für sich, auch ohne uns, oder sind die Dinge in uns, für uns, nicht ohne uns? Lehrer: Welche Meinung ist die richtige? Si F: Es ist keine Entscheidung gefallen. Lehrer: Zu welcher Meinung neigte zuletzt die Mehrheit unserer Philosophen? Si Fu: Die Dinge sind außer uns, für sich, auch ohne uns. Lehrer: Warum blieb die Frage ungelöst? Si Fu: Der Kongreß, der die Entscheidung bringen sollte, fand, wie seit zweihundert Jahren, im Kloster Mi Sang statt, welches am Ufer des Gelben Flusses liegt. Die Frage hieß: Ist der Gelbe Fluß wirklich, oder existiert er nur in den Köpfen? Während des Kongresses aber gab es eine Schneeschmelze im Gebirge, und der Gelbe Fluß stieg über seine Ufer und schwemmte das Kloster Mi Sang mit allen Kongreßteilnehmern weg. So ist der Beweis, daß die Dinge außer uns, für sich, auch sind, nicht erbracht worden.« (Brecht, Bd. 9, S. 143). b.
Überlegungen zum Nachweis der Einteilung des Wissens und seines Zugrundeliegenden
Aus der Kritik vor allem des Radikalen Konstruktivismus ergibt sich die Annahme, daß der Hervorbringung des Wissens etwas zugrunde A
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Wissen und Zugrundeliegendes
liegt, das der Hervorbringung des Wissens vorausgeht. Wenn Wissen aus der Kommunikation eines Subjektes mit seiner Umwelt und aus Gehirnprozessen, die aus der Kommunikation entstehen, erklärt wird, dann soll Zugrundeliegendes dasjenige genannt werden, was den Gehirnprozessen vorausgehend Einfluß auf die Herausbildung eines Wissen ausübt: Es sind die Reize und ihre Quellen. Mit dem Begriff Hirnprozeß wird die Verarbeitung neuronaler Impulse im Gehirn beschrieben. Auslöser der Prozesse sind Reize aus dem Austausch mit der Umwelt. Seit Jahrzehnten erforschen die Neurowissenschaften die neurobiologischen Grundlagen mentaler Prozesse. Ziel dieser Forschungen ist es, die biologische Basis der geistigen Vorgänge zu verstehen, durch die wir wahrnehmen, vorstellen, handeln, lernen und uns erinnern. 2 Bisherige Ergebnisse aus den Untersuchungen werden herangezogen, um zu zeigen, daß sich erstens Wissen einteilen läßt in Wahrnehmungswissen, Emotionswissen und Reflexionswissen; und daß sich zweitens aus den Ergebnissen ein dem Wissen Zugrundeliegendes und dessen differenzierte Bestimmungen nachweisen läßt. Dem Nachweis dienen sowohl die Beobachtungsergebnisse aus den Hirnprozessen als auch die Beobachtungsergebnisse über ihre auslösenden Reize. Die Ergebnisse werden getrennt betrachtet bezogen auf Untersuchungen der Sinnesorgane, der Topographie des Gehirns und der neuronalen Prozesse. Zwischen den Reizen aus der Umwelt und ihrer Bedeutung, hervorgehend aus der Bearbeitung in den Hirnprozessen, ist dabei deutlich zu unterscheiden (Roth, 1997, S. 107 f.). Es bleibt darauf hinzuweisen, daß es hier nicht auf ein Zustandekommen von Bedeutungen ankommt, sondern auf die differenzierten neurobiologischen Reaktionen ausgelöst durch Reize. Ein dem Wissen Zugrundeliegendes, bestehend aus den differenzierten Reizen, wird als eine Außenwelt erwiesen, wie sie sich im Wahrnehmungswissen zeigt und wie sie in einem Reflexionswissen aus den neuronalen Zusammenhängen erschließbar ist.
Vgl. Kandel, 1995, Vorwort zur Originalausgabe VIII; zum Vorstellen vgl. Singer, 1999, S. 276: Ein mit Hilfe der Kernspintomographie hergestelltes Bild zeigt die unterschiedlichen durch Wahrnehmen bzw. Vorstellen aktivierten Gehirnregionen.
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Wahrnehmungswissen und Zugrundeliegendes
VII. Wahrnehmungswissen und Zugrundeliegendes a.
Die Sinnesorgane
Die Sinnesorgane nehmen in dem Wahrnehmungsprozeß eine Mittlerfunktion zwischen Umwelt und Gehirn ein. Umwelt zeigt sich in Reizen, die in den Sinnesorganen eine Reaktion auslösen und als Signale weitergeleitet werden. 3 Das Gehirn gehört zum Nervensystem als dessen zentraler Teil und ist mit fast jedem Winkel des Körpers verknüpft. Es besteht aus einer Vielzahl von Nervenkörpern und ihren Verbindungen; es ist anatomisch unterteilt in mehrere Regionen mit unterschiedlichen Funktionen. In seinen neuronalen Verschaltungen werden die Reize aus den Sinnesorganen zu Wahrnehmungen verarbeitet. Wahrnehmungen entstehen unter Einwirkung der Reize aus der Umwelt, sie wirken umgekehrt aber auch auf die Umwelt ein. 4 Zwischen Sinnesorganen und Gehirn herrscht eine Arbeitsteilung: Die Sinnesorgane übersetzen die Umweltreize in die Sprache des Gehirns; die Sprache des Gehirns sind neuronale Erregungszustände. Die Sinnesorgane spezifiziert Roth entsprechend ihrer Impulserzeugung in die Sinne mechanischer Impulserzeugung, das sind Hör-, Tast-, Schwere-, Dreh-, Muskelstellungs- und Gelenksinn; in die elektrischen Sinne, die durch Elektrorezeption eine Elektroortung hervorrufen; in chemische Sinne, das sind der Geruch- und Geschmackssinn; in Lichtsinn, Temperatur- und Magnetsinn (Roth, 1997, S. 90 f.). Aus der Sicht der Biologie gibt es in der Kommunikation des Subjektes mit der Umwelt Merkmale, die auf alle Sinnesorgane in gleicher Weise zutreffen, und solche, die ihre unterschiedlichen Fähigkeiten kennzeichnen. Gemeinsam ist den Sinnesorganen, daß sie sensorische Informationen aus der Umwelt nach einem für alle gleichen Mechanismus verarbeiten: Sie wandeln die Energieart des Stimulus in die einheitliche bioelektrische Sprache des Gehirns um; sie 3 Mit dem Begriff Reiz werden sensorische Informationen aus der Umwelt bezeichnet, die in verschiedenen Energieformen auftreten. Signale werden die von den Sinnesorganen erzeugten Erregungszustände im Nervensystem genannt; vgl. Roth, 1997, S. 92 ff.; Ploog, 1999, S. 541) spricht auch bei einer Kommunikation zwischen einem Individuum als Sender und einem als Empfänger von sozialen Signalen. 4 Ausführliche Beschreibungen des Gehirns und seiner Verarbeitungsprozesse finden sich bei Damasio, 1994; Roth, 1997; Elsner, 2000; Singer, 1999 und Kandel, 1996.
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Wissen und Zugrundeliegendes
müssen die Schlüsselmerkmale eines Reizes weitergeben, und es muß die sensorische Mitteilung abgestimmt werden, um Unterscheidungskapazitäten zu erreichen. 5 Sie modellieren dadurch die Aktivität des Nervensystems (Singer, 1999, S. 6). Nicht jeder Reiz kann ein Sinnesorgan aktivieren, sondern nur solche, die innerhalb eines bestimmten Feldes des Sinnesrezeptors liegen. Die rezeptiven Felder begrenzen eine Kommunikation des Gehirns mit der Umwelt, d. h. es werden nur solche Reize zu einer Wahrnehmung verarbeitet, die den Sensibilitäten der rezeptiven Felder genügen. Die Fähigkeit zur Wahrnehmung hängt vom Bau des Sinnesorgans ab. 6 Die Sinnesorgane unterscheiden sich durch ihre Fähigkeit, unterschiedliche Energieformen wie Lichtenergie, mechanische, thermische oder chemische Energie aufzunehmen und sie in verschiedene Sinnesmodalitäten umzuwandeln, was ihre Spezialisierung ausmacht. 7 Mit Modalitäten werden die wichtigsten Merkmale der Sinneswahrnehmung beschrieben. Sie umfassen: die Sinnesmodalität, das ist die Art des Sinnes; die Intensität, die sich in der Reizstärke niederschlägt; die Dauer, sie sich aus der Zeit und Stärke des Reizes ergibt und die Lokalisation, die bestimmt, wie gut zwischen zwei nah beieinanderliegenden Reizen unterschieden werden kann. 8 Die Verarbeitung eines Reizes aus der Umwelt beginnt durch dessen Erregung des Sinnesorgans und wird fortgesetzt durch die Weitergabe der Impulse an die beiden getrennten Bereiche, den soKandel, 1996, S. 382; zur Umwandlung verschiedener Umweltereignisse in die bioelektrische Sprache des Gehirns vgl. Roth, 1987, S. 232. 6 Roth, 1978, S. 70, beschreibt die Unterschiede des visuellen Systems bei Wirbeltieren. 7 Kandel, 1996, S. 378 f., zeigt in einer Übersicht den Zusammenhang von Reiz, Rezeptor und Modalität: Modalität Reiz Rezeptortyp Sehen Licht Photorezeptor Hören Schallwellen Mechanorezeptor Gleichgewicht Kopfbewegung Mechanorezeptor Fühlen mechanisch Mechanorezeptor thermisch Thermorezeptor noxisch Nociceptor chemisch Chemorezeptor Schmecken chemisch Chemorezeptor Riechen chemisch Chemorezeptor 8 Eine ausführliche Darstellung der Spezialisierung der Sinnesorgane findet sich bei Kandel, S. 375 ff.; Roth, 1987, S. 234, berichtet, daß der Bau der Sinnesorgane die Umsetzung verschiedener Umweltereignisse in die Sprache des Gehirns ermögliche. 5
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Wahrnehmungswissen und Zugrundeliegendes
matosensiblen Komplex, zuständig für ein Wahrnehmungswissen, und den motorischen Komplex, zuständig für Körperreaktionen (Damasio, S. 308). Da die unterschiedlichen Energieformen der Sinnesorgane in eine einheitliche Sprache der neuronalen Erregungszustände des Gehirns umgewandelt werden, bleibt zu fragen, wie die Differenzierungen der Umweltinformationen trotz einheitlicher Sprache erhalten bleiben und in der Verarbeitung zur einer Wahrnehmung wirksam werden. Möglich wird die Erhaltung und Weitergabe der Differenzierungen aus den Sinnesorganen durch ihre Verbindung mit bestimmten Gehirnregionen entsprechend einer Topographie des Gehirns. Die Verknüpfungen verlaufen über mehrere voneinander getrennte, parallele Bahnen, wovon jede eine bestimmte Sinnesmodalität weitergibt. 9 Die Signale aktivieren über sensorische Bahnen bestimmte rezeptive Gebiete; die Anordnung der Reize benachbarter rezeptiver Gebiete wird in der Weitergabe bis in die höheren Verarbeitungsebenen im Zentralnervensystem beibehalten. 10 Vereinfacht gesagt, wird die differenzierte Ordnung der Reize aus den Sinnesorganen an das Gehirn weitergegeben. Obgleich jedes sensorische System durch die Verbindungen von den Sinnesorganen zum Gehirn seine Informationen im Gehirn repräsentiert, ist nicht der Rückschluß erlaubt, hier würden Wahrnehmungsgegenstände der Außenwelt übertragen. So ein Nachweis läßt sich nirgends finden. 11 Aus den Untersuchungen ergeben sich Aktivitätszustände des Gehirns, die durch Informationen aus den Sinnesorganen nur moduliert werden. Roth betont, daß eine Ausdifferenzierung der Geschehnisse der Außenwelt zwar durch die modalitätsspezifischen Unterschiede deutlich würden; daß aber die unterschiedlichen Empfindungsqualitäten aus Riechen, Sehen, Hören usw. nichts mit den Geschehnissen der Außenwelt zu tun hätten, sondern reine Konstrukte seien (Roth, 1997, S. 318). Damasio nennt 9 Kandel, 1996, S. 404, beschreibt in einer anschaulichen Übersicht die drei wichtigsten Bahnen des visuellen Systems, von denen jede eine Art von visueller Information übermittelt. 10 Kandel, S. 382 f.; für das visuelle System vgl. seine Darstellung, S. 404. 11 Eine ausführliche Darstellung des Tastsinns und seiner Repräsentation im Gehirn beschreibt Kandel, 1996, S. 332; hinzuweisen ist hier darauf, daß Umwelt und Körper als Quelle der Reize des Tastsinns nicht auf gleiche Weise im Gehirn repräsentiert werden; Kandel rekonstruiert eine vollständige sensorische Repräsentation der gesamten Körperfläche auf der menschlichen Großhirnrinde. Empfindungen an den Oberflächen unterschiedlicher Gliedmaßen bis hin zu einzelnen Fingern und Teilen des Kopfes werden auf die Großhirnrinde projiziert.
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es dagegen eine wirksame Lösung der Natur: die Außenwelt durch die Veränderungen zu repräsentieren, die sie im Körper hervorruft (Damasio, S. 306). Was läßt sich aus den allgemeinen Merkmalen der Sinnesorgane und ihren Spezifizierungen folgern? Auch wenn der Wahrnehmungsgegenstand aus einem Prozeß im Gehirn zustande kommt, sind die Reize von außen unstrittig. Da es Reize gibt, die auch unstrittigerweise aus einer Kommunikation mit der Umwelt hervorgehen, wird man auf deren Quellen in der Umwelt schließen dürfen; ansonsten bedürfte das Sinnesorgan keiner Kommunikation mit der Umwelt, was Wahrnehmung zur Beliebigkeit werden ließe, was sie aber, wie die tägliche Erfahrung zeigt, nicht ist. Auch wenn zwischen den Zutaten von außen und den Zutaten des Gehirns nicht unterschieden werden kann, so kann man trotzdem auf Differenzierungen der Reize verweisen; sie werden deutlich in Gestalt der unterschiedlichen Sinnesorgane und der verschiedenen Energieformen, die sie zu Signalen verarbeiten. Intensität, Dauer und Lokalisation der Reize sind Hinweise auf Veränderungen in der Umwelt, die nicht dem Willen des Subjekts unterworfen sind. Selbst der Einwand, all diese Begrifflichkeiten seien selbst schon Produkte des Gehirns, kann nicht widerlegen, daß es bestimmte Reize der Umwelt sind, die eine entsprechende Herausarbeitung des Wahrnehmungswissens mitprägen. Eine ausführliche Behandlung des Einwandes und seiner Widerlegung findet sich am Ende des Abschnittes über Reflexionswissen, weil es sich hier um Reflexionswissen handelt. b.
Topographie des Gehirns
Mit Topographie des Gehirns wird eine Spezialisierung funktionaler Areale des Gehirns auf bestimmte Aufgaben beschrieben. 12 Es ist ein Prinzip des Verarbeitungsortes. Es ist verhältnismäßig gut erforscht; dagegen sind die sehr komplexen Prozesse, die in den verschalteten Hirnbereichen während geistiger Prozesse stattfinden, weniger gut bekannt. Die Frage nach einem Bewußtsein wie auch die nach dem Roth, 1997, S. 110 f. u. 1987, S. 234, erläutert, wie das Gehirn nach einem topologischen Prinzip die verschiedenen Umweltereignisse in Gestalt unterschiedlicher Energieformen verarbeitet.
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Zustandekommen von Bedeutungen, von Erinnerung und Lernvorgängen zeigen erst Anfangsergebnisse. 13 Bisher bekannte funktionale Areale in dieser topographischen Ordnung sind: der visuelle Cortex, der auditorische Cortex, ein Areal für Sprachfunktionen; ein Areal für kognitives Verhalten und Bewegungsplanung; ein Areal für Gefühle und Gedächtnis im limbischen Cortex; ein somato-sensorisches Rindenfeld, das der Körperempfindung dient. 14 Innerhalb der Areale gibt es weitere Spezialisierungen wie z. B. im visuellen Cortex ein Areal für räumliche Lokalisation, ein anderes für Bewegung, Richtung und Form visueller Objekte (Kandel, S. 344). Das auditorische System kann nicht nur Töne zwischen 20 bis 20000 Hertz hören, sondern auch Geräusche im Raum orten mit einer räumlichen Auflösung von bis zu einem bestimmten Winkelgrad (Kandel, S. 391). Friederici lokalisierte bestimmte Regionen in der Sprachverarbeitung, unterschieden nach syntaktischen und semantischen Prozessen (Friederici, S. 74 ff.). Die räumliche Anordnung der Rezeptoren der Sinnesorgane wie z. B. die der Retina, des Innenohres oder der Haut werden in Punkt-zu-Punkt-Verschaltungen bzw. in topographischen Verschaltungsmustern in den Sinnesbahnen des gesamten Zentralnervensystems beibehalten. 15 Festzuhalten bleibt, daß der Gehirnort die Modalität der Wahrnehmung bestimmt und nicht ein neuronaler Code (Roth, 1997, S. 100). Als Beweis für das Ortsprinzip des Gehirns zur Erzeugung von Wahrnehmungen haben sich mehrere Methoden erfolgreich gezeigt, wobei eine Reihe von Untersuchungsergebnissen aus Tierversuchen stammen; 16 eine Übertragung solcher Befunde auf den Menschen sind nur berechtigt, wenn sie dort durch geeignete, z. B. folgende Methoden erneut nachgewiesen werden: Erstens sind es Untersuchungen nach Hirnverletzungen; durch Gierer, 1989, S. 78 f., bezweifelt, daß physikalisch beschreibbare Zustände im Gehirn das Bewußtsein überhaupt erklären können; vgl. dazu Lanz, 1989, S. 144 f.; Roth, 1997, S. 231 ff., diskutiert verschiedene Hypothesen zu dem Zusammenhang von Hirnprozessen und Bewußtsein. 14 Vgl. Roth, 1997, S. 33 ff.; Kandel, 1996, S. 15 u. 399: Dort findet sich eine sehr ausführliche Darstellung der Areale, die für das Sehen zuständig sind; vgl. auch: Singer, 1999, S. 268; Engel, 1998, S. 164; Pöppel, 1989, S. 24; Friederici, 2000, S. 72 f. 15 Vgl. Kandel, 1996, S. 45, 87, der betont, daß die topographische Organisation der eingehenden Reize überall im Gehirn beibehalten wird. 16 Roth, 2000, S. 174, beschreibt, daß höhere kognitive Funktionen wie Konzeptlernen, Wissensrepräsentation, analoges Denken und Ausbildung abstrakter Repräsentationen auch bei Vögeln und Säugetieren zu finden sind. 13
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sie wird oft das Gehirn für bestimmte Reize unzugänglich. 17 Aus klinischen Befunden gibt Kandel eine ausführliche Übersicht über den Zusammenhang bestimmter Agnosien der auftretenden Störungen mit dem wahrscheinlichen Läsionsort. 18 Zweitens sind es Untersuchungen von künstlich erzeugten Wahrnehmungen: Mit Hilfe elektrischer Stimulation kann man Wahrnehmungsinhalte künstlich hervorrufen wie z. B. Farb- und Bewegungshalluzinationen. Roth erläutert, wie man mit demselben künstlichen elektrischen Reiz in unterschiedlichen Gebieten des Gehirns entsprechend unterschiedliche sensorische Halluzinationen hervorrufen könne. Versuchspersonen sahen z. B. einfache, meist farbige Gegenstände, die sich in verschiedene Richtungen bewegten, sie hören nur einfache Laute oder hatten Körperempfindungen wie Jukken und Kribbeln. Allerdings wurden diese Halluzinationen von den Versuchspersonen nicht mit natürlichen Reizzuständen verwechselt. 19 Drittens sind es Abbildbarkeiten der Hirnfunktionen, die mittels unterschiedlicher Verfahren meßbar und sichtbar gemacht werden; eines der bekanntesten ist die Positronen-Emissions-Tomographie (PET), ein bildgebendes Verfahren, das lokale Veränderungen der Gehirndurchblutung und des Gehirnnährstoffwechsels, die geistige Aktivitäten begleiten, sichtbar macht. 20 Kandel erläutert anhand von PET-Aufnahmen, wie visuelle Reize von unterschiedlicher Komplexität die entsprechenden unterschiedlichen Hirngebiete aktivieren; er zeigt auch die im Hirn einer Versuchsperson sichtbar gePöppel, 1989, S. 20, schreibt, aus zahlreichen Studien über Ausfälle nach örtlichen Hirnverletzungen ließe sich über die Funktionen der Reizaufnahme ableiten, daß diese im Gehirn offenbar lokal repräsentiert seien. 18 Kandel, 1996, S. 405, zeigt in einer Übersicht die Zuordnung visueller Agnosien für Form, Muster, Farbe und Bewegung zu bestimmten unterschiedlichen Arealen des Gehirns. 19 Roth, 1987, S. 233 und 1997, S. 111; Kandel, 1996, S. 361, beschreibt die Lokalisierung bestimmter Funktionen anhand von Untersuchungen über beide Hirnhälften, die möglich wurden, nachdem bei Epilepsiepatienten wichtige Verbindungsbahnen durchtrennt worden waren. 20 Vgl. Kandel, 1996, S. 17; Roth, 1997, S. 224. Zur Beobachtung und Messung von Reaktionen des Gehirns sind unterschiedliche Verfahren entwickelt worden: 1. die Elektroencephalographie und 2. die Magnetencephalographie (vgl. Friederici, S. 74); als bildgebende Verfahren 3. die Positronen-Emissions-Tomographie und 4. die Kernspintomographie (vgl. Friederici, 2000, S. 72, und Frahm, 2000, S. 54 ff.), deren Vor- und Nachteile die genannten Verfasser behandeln. 17
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machten Aktivitätsmuster, die durch auditorische Stimulationen bei der Versuchsperson, der man eine Geschichte vorlas und ihr die Aufgabe stellte, sich bestimmte Sätze zu merken, entstanden (Kandel, S. 78 ff.). Für das visuelle System haben Forschungsergebnisse gezeigt, daß eine Informationsverarbeitung auf drei getrennten Bahnen geschieht: eine für Farbe und Form, eine zweite für Form, Umrisse und Tiefe und eine dritte für Bewegung und räumliche Beziehung. Die erste und zweite Bahn enden im inferior-temporalen Cortex. Die dritte für die räumliche Position eines Objektes wird von einem dritten System bearbeitet, das im posterior-parietalen Cortex endet (Kandel, S. 399 f. u. 410). Wenn die Spezifizierung der Sinnesorgane bis in das Gehirn in Gestalt des Ortsprinzip durchgehalten wird und die Verarbeitung der Sinnesimpulse im Gehirn im Zusammenwirken der Ortszustände zur Konstruktion des Wahrnehmungsobjektes führt, dann ist ein Nachweis erbracht, daß dem im Gehirn hervorgebrachten Wahrnehmungsobjekt etwas zugrunde liegt, das auf die Reize aus der Umwelt zurückgeht. Das Zugrundeliegende zeigt sich in Einflüssen auf die Wahrnehmung, die den Hirnprozessen vorausgehen. c.
Neuronale Prozesse
Die Verarbeitung der Reize in den verschiedenen Rezeptortypen der Sinnesorgane besteht aus der Umwandlung der unterschiedlichen physikalischen und chemischen Umweltreize in neuroelektrische und neurochemische Signale, die spezifische Reaktionen der Zellen auslösen. 21 Die Verarbeitung der Signale aus den Sinnesorganen leisten in den Hirnregionen die neuronalen Prozesse, d. h. nach dem lokalen Prinzip des Gehirns gibt es neuronale Antworten in den sensorischen Arealen. Je nach Bau und Funktion sind es unterschiedliche Neurone (Roth, 1997, S. 103). Die neuronalen Prozesse beschreiben die Vorgänge in den Nervenzellen – den Neuronen – die dazu beitragen, daß aus den Signalen der Sinne Wahrnehmungen hervorgehen. Zur Verarbeitung der sensorischen Informationen in den Neuronen
Ausführliche Beschreibungen der neuronalen Vorgänge finden sich bei Roth, 1997, S. 92 f.; Kandel, 1996, S. 32; Damasio, 1997, S. 52 ff.
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gehört auch eine Programmierung von Reaktionen, die dem Lernen und Gedächtnis dient (Kandel, S. 24). Auch wenn Singer meint, das Wissen von der Welt sei in der neuronalen Verschaltung der Nervenzellen niedergelegt, bleibt darauf hinzuweisen, daß die Zusammenhänge zwischen neuronalen Prozessen und der Entstehung von Wahrnehmungsobjekten bisher nicht restlos geklärt sind (Singer, 1999, S. 268 u. 274). Es gibt jedoch eine Reihe von Beobachtungsergebnissen, die zum Verständnis der Konstituierung des Wahrnehmungsobjektes beitragen: Es gibt Neuronen, die auf die Erkennung bestimmter Eigenschaften spezialisiert sind, wie man z. B. solche gefunden hat, die an der Erkennung von bestimmten Eigenschaften der Gesichter beteiligt sind (Roth, 1997, S. 173). Auch Singer berichtet von einzelnen Nervenzellen, die auf bestimmte Konstellationen von Merkmalen der Gesichter spezialisiert sind; diese Gesichterzellen sind Nervenzellen, die selektiv auf Gesichter ansprechen. Beobachtet wurden auch solche, die auf die Erkennung einer Konturorientierung spezialisiert sind. 22 Es hat sich auch gezeigt, daß die vollständige Erkennung nicht einzelne Neurone leisten, sondern Nervenzellenverbände. 23 Singer weist darauf hin, daß nicht für jedes Wahrnehmungsobjekt einschließlich seiner verschiedenen Erscheinungen eine Nervenzelle reserviert sei; das hätte eine unendliche Anzahl von Nervenzellen zur Folge. Zur Verarbeitung von Informationen aus den Sinnessystemen favorisiert er folgende Hypothese: Die Informationen repräsentieren nicht hochspezialisierte einzelne Nervenzellen, sondern eine ganze Gruppe von Zellen, wobei jede Zelle nur Teilmerkmale darstellt wie z. B. Form-, Texturmerkmale, Angaben über Ort, Größe und Lage, die in ihrer Gesamtheit erst eine vollständige Beschreibung des Objektes ergeben. 24 Und Kandel schildert, wie sich in der Verarbeitung Singer, 1999, S. 272; Engel/König, 1998, S. 159, beschreiben Reaktionen bestimmter visueller Neurone auf ganz bestimmte Ausprägungen von horizontalen Konturorientierungen; s. dazu auch ihre Skizzen 1 u. 2, S. 161 f.; Roth, 1997, S. 137 ff., diskutiert Modellversuche, die zeigen, welche Leistungen bestimmte Neurone in der Retina und im Tectum unterschieden nach Typen in der Beute-Freund-Erkennung einer Erdkröte leisten. 23 Vgl. Engel/König, 1998, S. 167; Roth, 1997, S. 172; Singer, 1999, S. 272. 24 Singer, 1999, S. 272; Roth, 1997, S. 148 f.) kommt auch zu dem Ergebnis, daß es einzelne Neurone geben mag, die auf bestimmte Merkmale reagieren; daß es aber erst eine Population von Neuronen sei, deren Kombination visuelle Objekte charakterisieren. 22
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der Reize komplizierte Verschaltungsprozesse neuronaler Gruppierungen auf verschiedenen Ebenen auswirken (Kandel, S. 403). 25 Ähnlich wie die verschiedene Verarbeitungsorte differenzierter Informationen aus der Umwelt gemäß des topographischen Prinzips im Gehirn verweisen die neuronalen Prozesse auf weitergehende Differenzierungen der Informationen aus der Umwelt. Es sind Eigenschaften der Umweltreize, die Roth einteilt in die Modalität des Reizes, wie ein visueller, auditorischer, somatosensorischer usw. Reiz; die Qualität, das sind bei visuellen Reizen z. B. Farbe und Helligkeit, bei auditorischen Reizen Lautstärke, Tonhöhe; die Intensität wie dunkel oder hell, laut oder leise, stark oder schwach; und schließlich die Zeitstruktur eines Reizes, ob er kurz oder lang andauert, periodisch oder aperiodisch ist (Roth, 1997, S. 108). Es leuchtet ein, von den Modalitäten der Sinneswahrnehmungen auf die Modalitäten der Umweltreize zu schließen, weil letztere die ersteren bestimmen. Gefunden wurden auch Klassifizierungen von Merkmalen als determinierte Antworteigenschaften von Neuronen in der Sehrinde. Solche Merkmalsklassen umfassen die Orientierung und Richtung von Kontrastgrenzen, von Gradienten und Leuchtdichte, von Bewegungsgeschwindigkeit und -richtung, von stationären Konturgrenzen und die Wellenlänge des einfallenden Lichtes. 26 Die neuronale Architektur des somatosensorischen Systems erlaubt, verschiedene Reizarten auch von unterschiedlichen Energien in der Tastempfindung zu komplexen Sinneseindrücken im Gehirn zu verarbeiten, so z. B. zur Herausbildung einer dreidimensionalen Form eines Gegenstandes (Kandel, S. 390). Das auditorische System ermöglicht durch eine mechanoelektrische Transduktion der Reize im Innenohr und in Zusammenarbeit mit den neuronalen Systemen des Gehirns Druckwellen in Geräusche umzuwandeln und die Quelle der Geräusche zu lokalisieren. Roth meint, die Einwirkungen von außen über die Signale erlaubten keine Rückschlüsse auf eine Außenwelt, weil die UmweltDamasio, 1997, S. 149, spricht von einer auffallenden Übereinstimmung zwischen der Form des Reizes und der Form der neuronalen Aktivitätsmuster; als Beispiel solcher komplizierten Verschaltungsmuster nennt Singer, 2000, S. 195 ff., das Bewußtsein von Wahrnehmung, für dessen Erklärung er die Iteration in der wiederholten Anwendung durch Repräsentation auf sich selbst anbietet, wobei er solche Areale, die nur bei Wahrnehmung realer Inhalte aktiviert werden, unterscheidet von solchen, die nur bei Vorstellungen wirksam werden. 26 Kandel, 1996, S. 438 ff.; Singer, 1989, S. 55. 25
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ereignisse Signale und keine Objekte seien; 27 Rückschlüsse auf reale Einwirkungen von außen seien nicht eindeutig; wir könnten ein Rot unter vielen Wellenbedingungen wahrnehmen (Roth, 1997, S. 360). Dieses mag zutreffen, sofern man den Reizen und ihren Eigenschaften bestimmte Objekte der Außenwelt zuordnet oder auf eine Außenwelt schließt, die in physikalischen Begriffen beschrieben wird. Unstrittig sind die Einflüsse aus Umweltreizen, die sowohl als solche als auch deren Spezialisierung durch einzelne Rezeptoren in den Sinnesorganen, durch spezialisierte Neurone und Neuronenverbände im Gehirn und durch den topographischen Ort im Gehirn nachgewiesen wurde. d.
Zugrundeliegendes als Quelle der Umweltreize
Umweltreize, auch als Umweltereignisse bezeichnet, hängen zusammen mit einer auslösenden Quelle ähnlich den künstlich erzeugten Reizen, deren Quelle z. B. eine Stimulationselektrode sein kann. Mit Quelle wird dasjenige in der Umwelt bezeichnet, das in der Kommunikation mit einem Subjekt zu Reizen bestimmter Eigenschaften führt. Eigenschaften der Umweltreize wie Modalität, Qualität, Intensität, Zeitstruktur und Ort des Reizes gehen aus ihren Quelle hervor. Die Quellen lassen sich aus den Reizen nur indirekt erschließen, es sei denn, daß man bemerkt, daß sie sich im eigenen Körper oder im eigenen Gedächtnis befindet. 28 Umgekehrt ist ein Reiz ohne Quelle unvorstellbar. Gegenüber der Behauptung, alle Wirklichkeit sei ein subjektives Konstrukt, hat sich jetzt gezeigt, daß der Konstruktion etwas vorausgeht: Das sind das Gehirn, die Sinnesorgane, der Leib, das autonome Selbst und die Reize. Die Theorien, die Wahrnehmung aus einem Prozeß ihres Zustandekommens erklären wie der Radikale Konstruktivismus und die Neurowissenschaften, mußten diese Voraussetzungen zugestehen. Was von den Konstruktivisten und den Neurowissenschaftlern als Zutaten aus der Umwelt, als Widerstand auf der Suche nach einem Wahrnehmungsgegenstand oder als Umweltinformation genannt wurde, kann mit Hilfe der Spezifizierung der Sinnessysteme, 27 28
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Roth, 1997, S. 148, verwendet den Begriff Signal im Sinne von Reiz. Vgl. Roth, 1997, S. 332: Er unterscheidet Außenwelt, Körper und Mentales.
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aus der Topographie des Gehirns und aus der Spezifizierung der neuronalen Prozesse als Differenzierung der Reizquellen der Umwelt nachgewiesen werden. Ohne daß für alle Sinnensysteme schon eine umfassende Differenzierungsübersicht vorliegt, können aus den inzwischen bekannten Klassifizierungen vor allem des gut erforschten visuellen, aber auch aus dem auditorischen System differenzierte Reizquellen der Umwelt nachgewiesen werden: im visuellen System für Farbe, Form, Umrisse, Tiefe, Bewegungsgeschwindigkeit und -richtung, räumliche Beziehung, Kontrastgrenzen, Leuchtdichte, Wellenlänge und Gesichtermerkmale; im auditorischen System für Druckwellen unterschiedlicher Frequenzen und räumliche Lokalisierung. Hinzu kommen die Differenzierungen des Tastsinns und seiner Lokalisierungen im Gehirn. Eine einfache Überlegung kann die Bedeutung der Reizquelle als Zugrundeliegendes der Wahrnehmung deutlich machen: Wenn Wahrnehmung betrachtet wird unter dem Zweck des Überlebens und die Wahrnehmungswelt einschließlich ihrer Gefahren nur ein subjektives Konstrukt wäre, ohne die Quelle der Gefahr in der Umwelt anzuzeigen, dann wäre, wenn das Subjekt von seinem Feind gefressen wird, das Wahrnehmungskonzept widerlegt. Die Quelle der Gefahr ebenso wie die Quelle der Nahrung in der Umwelt und andere werden aber von vielen Lebewesen durch einen Reflex wahrgenommen. Erste Überlegungen zu einer möglichen Verallgemeinerung der Wahrnehmungsergebnisse hatten auf Begriffe wie Konstanz, Gleichheit und Invarianz verwiesen (Kap.IV. b.). Es hatte sich gezeigt, daß einer Wahrnehmung wie z. B. dem freien Fall eines Steines etwas zugrunde liegt. Die empirische Erfahrung lehrt, daß sich eine Beobachtung unter gleichen Bedingungen wiederholen läßt, für den gleichen wie für einen anderen Beobachter. Üblicherweise wird eine vorsichtige Annäherung an eine Allgemeingültigkeit der Einzelbeobachtung aus einer Induktion hergeleitet. Eine Rechtfertigung der Konstanz einer Erfahrung bietet jetzt das Zugrundeliegende. Dieses könnte im Verbund mit gleichbleibenden subjektiven Bedingungen als Quelle die Konstanz des Wahrgenommen erklären. Wenn die Wahrnehmung nur von subjektiven Bedingungen abhängig wäre, sich aber ein gleiches Ergebnis bei verschiedenen Beobachtern zeigte, wie sollte das erklärt werden können? Und wie sollte man sich die Wahrnehmung eines Gegenstandes bei einer Betrachtung aus unterschiedlichen Perspektiven als denselben erklären können, obgleich A
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jedesmal eine verändertes Wahrnehmungsergebnis auftritt, wie z. B. bei einem Kreis aus der Schrägsicht die unterschiedlichen Ellipsen, und doch wird er als Kreis erkannt. Oder wieso wandelt sich eine Speckschwarte zu einer Tonscherbe und bleibt nicht eine Speckschwarte (Schmitz, 1978, S. 141)? Der Charakter des Gegenstandes hat zwar gewechselt, ist aber nicht in unser Belieben gestellt. Auch wechselnde subjektive Bedingungen wie z. B. die Benutzung einer Brille oder Einschränkungen des organischen Sinnesvermögens führen nicht zu prinzipiell anderen Wahrnehmungsergebnissen, im Gegenteil zu Undeutlichkeiten, die als Undeutlichkeiten bemerkt werden. Sie können doch nur bemerkt werden, weil der Wahrnehmende nicht nur seine subjektiven Bedingungen für maßgeblich hält, sondern darüber hinausgehende einbezieht. Das nachgewiesene Zugrundeliegende erscheint geeignet, Konstanz zu sichern. 29 Hinzuweisen bleibt noch darauf, daß die neuronalen Prozesse nicht von vornherein und endgültig determiniert, sondern durch Lernfähigkeit veränderbar sind. Die Herausbildung neuronaler Verschaltungsmuster im Zusammenhang mit der Entwicklung des kindlichen Gehirns beschreibt Hüther: Die vom assoziativen Cortex generierten Erregungsmuster würden in immer stärkerem Maße zu unseren Abbildern der Außenwelt geformt und stabilisieren die bis zu diesem Zeitpunkt bereits entwickelten Verhaltensmuster (Hüther, S. 111 f.). Hinzu kommen soziale Verhältnisse und all das, was sich in onto- und phylogenetischer Entwicklung herausgebildet hat. 30 Jedes Individuum und jede Art bildet seinen Wahrnehmungsgegenstand heraus. Man wird wegen der individuellen Einflüsse nicht auf eine für alle gleichermaßen entstehende Wahrnehmungswelt schließen dürfen; man wird aber dort, wo Wahrnehmungen entstehen, auf Umweltreize hinweisen dürfen, die nicht irgendeine Wahrnehmung ermöglichen, sondern eine den Reizen entsprechende. Wie gelingt die Herausbildung eines Wahrnehmungsgegenstandes aus einer Vielzahl serieller oder parallel verlaufender neuronaler Prozesse? Für ein einzelnes Sinnesorgan gibt es dazu Erklärungen: Kandel erläutert z. B. die neuronale Architektur des somatosensorischen Systems, die erlaube, verschiedene Reizarten auch von unterschiedlichen Energien im Gehirn zu komplexen SinVgl. Mulligan, 1997, S. 137 –150, erklärt die Invarianz von Wahrnehmungen trotz wechselnder Ausdrucksformen und Anzeichen durch Konstanzphänomene. 30 Vgl. Ploog, 1989, S. 1 ff.; Singer, 1989, S. 45 ff. 29
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neseindrücken zu verarbeiten, so z. B. zur Herausbildung einer dreidimensionalen Form eines Gegenstandes (Kandel, S. 390). Nur wenige Untersuchungsergebnisse fanden sich, die erklären, wie aus der Vielzahl von Signalen aus unterschiedlichen Sinnesorganen eine gesamtheitliche Wahrnehmung entsteht. Schmitz hatte die in sich geschlossene Gesamtheit dadurch erklärt, daß sie als das Wesen der Dinge einem einzigartigen Erwartungszusammenhang Erfüllung gibt (Schmitz, 1978, S. 116). Die Quelle der Gesamtheit bleibt in dieser Erklärung im Dunkeln; warum erfüllt gerade diese Gesamtheit und nicht eine andere die Erwartung? In der Sprache einer neurobiologischen Prozeßbeschreibung gibt es neuronale Reaktionskonstellationen, die eine Einheit wie z. B. ein Gesicht repräsentieren. Reaktionskonstellationen bedürfen aber einer Quelle. Ein Hinweis auf eine Erklärung einer Einheit könnte aus den Reizquellen der Umwelt kommen: Wo aus einer Quelle gleichzeitig Reize von unterschiedlichen Sinnesorganen wie z. B. den Augen und den Ohren aufgenommen werden, wird die Einheit der Quelle selbst zum Grund der Herausbildung des einen Wahrnehmungsgegenstandes aus unterschiedlichen Signalen. Dazu gibt es bisher keine Untersuchungsergebnisse. Vorstellbar sind Forschungen, die diesem Hinweis nachgehen und vielleicht bestätigen. e.
Wahrnehmung: ein schöpferischer Prozeß
Trotz des gezeigten Zusammenhangs von Wahrnehmungsmerkmalen und Umweltreizen kann nicht bewiesen werden, darf nicht der Eindruck entstehen, daß das Wahrnehmungsgeschehen eine Außenwelt spiegele. Wahrnehmung bildet nicht die Umweltereignisse ab, sondern sie konstruiert sie. Sie ist ein schöpferischer Prozeß eines Individuums, das Informationen aus der Umwelt verarbeitet (Roth, 1997, S. 125). Die Konstruktion des Wahrgenommenen aus einem schöpferischen Prozeß umfaßt individuelle Einflüsse und die aus den Umweltreizen. Singer beschreibt diesen Prozeß so: Wahrnehmungsphysiologische Untersuchungen zeigen, »daß Wahrnehmung nicht als passive Abbildung von Wirklichkeit verstanden werden darf, sondern als das Ergebnis eines außerordentlich aktiven, konstruktivistischen Prozesses gesehen werden muß, bei dem das Gehirn die Initiative hat. Das Gehirn bildet ständig Hypothesen darüber, wie die Welt sein sollte, A
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und vergleicht die Signale von den Sinnesorganen mit diesen Hypothesen. Finden sich die Voraussetzungen bestätigt, erfolgt Wahrnehmung nach sehr kurzen Verarbeitungszeiten. Treffen sie nicht zu, muß das Gehirn seine Hypothesen korrigieren, was die Reaktionszeit verlängert.« (Singer, 2000, S. 200). An dem schöpferischen Konstruktionsprozeß sind sowohl Reize der Umwelt als auch Einflüsse des Individuums und Art der Lebewesen je nach deren Ausstattung wie Art und Bau der Sinnesorgane und die Entwicklung des Gehirns und Nervensystems beteiligt. Entgegen der Auffassung Roths, man könne zwischen den Zutaten von außen und denen des Gehirns nicht unterscheiden, gibt es doch Hinweise auf spezifizierte Reize der Umwelt, die erfüllt sein müssen, um eine Wahrnehmung hervorzubringen. Roth hatte aber darauf hingewiesen, daß Wahrnehmungen kein willkürliches Produkt und nicht dem subjektiven Willen unterworfen seien (Roth, 1997, S. 125). Differenzierte Umweltreize führen zu bestimmten Wahrnehmungen; sie gehen einer Verarbeitung im Gehirn voraus und bilden ein Zugrundeliegendes. Das Zugrundeliegende ist für ein Wahrnehmungswissen eine unverzichtbare Voraussetzung. Man kann aus den neuronalen Prozessen schließen, daß es Differenzierungen der Reizquellen aus der Umwelt gibt, die in konstanter Weise auf bestimmte Wahrnehmungsgestaltung Einfluß nehmen. Über ein Zugrundeliegendes lassen sich zwar keine abbildbaren Eigenschaften aussagen, die empirisch nachprüfbar wären; aber es lassen sich differenzierte Quellen als notwendige Bedingungen für eine Wahrnehmungsgestaltung erweisen. An die Stelle einer in physikalischen Begriffen beschriebenen Außenwelt, die nicht zu erweisen ist, treten die nachgewiesenen differenzierten Reizquellen der Umwelt. Differenzierte Reizquellen führen zu bestimmten Wahrnehmungen; sie gehen einer Verarbeitung der Umweltreize im Gehirn voraus und bilden ein Zugrundeliegendes des aus dem Gehirn hervorgehenden Wahrnehmungswissens. Das Zugrundeliegende ist für ein Wahrnehmungswissen eine notwendige Bedingung, aber keine hinreichende. Die Annahme eines Zugrundeliegenden bedeutet noch nicht, daß eine Wahrnehmung entsteht, da ihre Entstehung auch abhängig ist von der individuellen Ausstattung eines Subjektes. Die individuelle Ausstattung ist nach vielfältigen Gesichtspunkten zu unterscheiden: nach Art und Bau der Sinnesorgane entsprechend der Art Lebewesen, aber auch nach Alter und Erfahrung des Indivi72
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duums. Die Konstruktion vollzieht sich nach Kriterien, die teils angeboren, teils frühkindlich erworben wurden oder auf späterer Erfahrung beruhen (Roth, 1997, S. 125). Es ist leicht einzusehen, daß nicht jeder Mensch, besonders aber nicht jedes Lebewesen eine Wahrnehmung hervorbringt, die bei einem anderen Individuum entstanden ist. Das Zugrundeliegende bedarf nicht nur eines subjektiven Verarbeitungsprozesses, um als Wahrgenommenes nachgewiesen zu werden, so wie die Farbe des Lichtes bedarf, um gesehen zu werden – eine rote Farbe ist in einem dunklen Raum nicht wahrnehmbar, wohl aber, wenn das Licht hinzutritt (Schmitz, 1978, S. 170) –, sondern es bedarf auch einer den Umweltreizen entsprechenden individuellen Ausstattung des Subjektes.
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VIII. Emotionswissen und Zugrundeliegendes a.
Vom Einfluß der Gefühle auf ein Wissen
Bisher hatte sich ein Wahrnehmungswissen aus der neuronalen Verarbeitung der Sinnesreize ergeben, wobei sich zeigte, daß ein Reiz aus der Umwelt der Herausbildung einer Wahrnehmung vorausgeht und ihr Zugrundeliegendes bildet. Wie verhält es sich mit den Emotionen? Sie sind zwar mit den Wahrnehmungen eng verknüpft, wie sich leicht an Wahrnehmungen des täglichen Lebens zeigen läßt; kann man trotzdem von einem Emotionswissen sprechen, vergleichbar dem Wahrnehmungswissen, und liegt diesem ebenso in der Umwelt etwas zugrunde? Mit Emotionen werden Zustände wie Lust, gehobene Stimmung, Euphorie, Ekstase ebenso wie Unlust, Traurigkeit, Verzweiflung, Depression, Furcht, Angst, Ärger, Feindseligkeit und Gelassenheit bezeichnet. Neben dem Begriff der Emotionen wird auch von Gefühlen, Empfindungen und Gemütsbewegungen gesprochen, bisweilen wird zwischen ihnen unterschieden. Kandel meint, in den Emotionen äußere sich ein Erleben von Gefühlen, die gleichzeitig in Körperreaktionen ihren Ausdruck fänden (Kandel, S. 609). Damasio unterscheidet in den emotionalen Prozessen Gefühl von Empfindung: Den Begriff Gefühl ordnet er der Bewertung der Reize zu, die sich in körperlichen Reaktionen auswirken, wie jemand, der angesichts eines bellenden Hundes eine Gänsehaut spürt, Angst empfindet und sich der Angst bewußt wird. Empfindungen dagegen nennt er den Anblick der körperlichen Reaktion wie hier der Gänsehaut. Da Damasio die emotionale Beziehung zwischen körperlichen Reaktionen und den kognitiven Bewertungsprozessen untersucht, mag diese Unterscheidung für ihn sinnvoll sein. Nozick hatte zwischen Emotionen und Gefühlen unterschieden. Gefühl ist bei ihm Ausdruck der inneren Erfahrung eines Subjekts, während er Emotionen einem kognitiven Prozeß zuordnet, in dem ein Subjekt den Wert einer Sache ergründet, der einen daraus erwachsenden psychischen Zustand wie Stolz rechtfertigt (Nozick, S. 96 ff.). Ploog schließlich nennt sie ein Signalsystem, unabhängig von der Sprache (Ploog, 1980, S. 8). In den Begriff seien auch Affekte als meist kurz andauernde Gemütsbewegungen eingeschlossen (Ploog, 1999, S. 526). Ob man innerhalb der emotionalen Reaktionen einer Unterscheidung zwischen Gefühl und Empfindung zustimmt, ob man 74
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einer Trennung der Gefühle von den Emotionen folgt oder ob man keinen Unterschied in den Reaktionen macht: Unstrittig ist, daß ein Reiz bzw. ein Umweltereignis als Auslöser erforderlich ist. Unstrittig ist auch, daß ein Zusammenhang besteht zwischen Reizaufnahme und Reizreaktionen im Körper und in kognitiven Prozessen des Gehirns und einer Reizbewertung nach Reaktionsmustern bewußt oder unbewußt, angeboren oder erlernt. 31 Die von einem Reiz ausgelösten Emotionen und die Körperreaktionen sind eng verknüpft, wenn auch strittig ist, ob erst die Gefühle und dann die Körperreaktionen auftreten oder umgekehrt. Möglicherweise gibt es gar keine Grenze zwischen beiden Reaktionen (Ploog, 1999, S. 527 f.). Da bisher keine exakte Definition der Emotionen von Neurobiologen vorgelegt worden ist, soll die folgende Beschreibung genügen: Es sind Gefühle und Stimmungen, ausgedrückt in Reaktionen und Verhalten des Körpers. 32 Sind Emotionen von Motivationen zu unterscheiden? Kandel nennt dafür ein Kriterium: Emotionen seien das, was eine Person wisse: Zu solchen kognitiven Aspekten rechnet er Wahrnehmungen, aber auch Vorstellungen, Empfindungen und Gefühle. Motivationen zeigten dagegen, was eine Person brauche; er verweist auf Triebe individueller Bedürftigkeit wie Hunger, Durst oder Sexualität (Kandel, S. 626). Eine Unterscheidung nach diesen Kriterien des Wissens und Brauchens mag bezweifelt werden, weil sie sich überschneiden: Es gibt Emotionen, die ein Brauchen ausdrücken wie z. B. das Isolationspiepen des Totenkopfäffchens, das die Sehnsucht nach seiner Gemeinschaft mit den anderen vermittelt. Dort, wo Emotionen zum Motiv einer Handlungsentscheidung werden, lassen sie sich nicht von Motivationen unterscheiden. Umgekehrt gibt es Motivationen, die man weiß, wie Hunger- oder Durstgefühle. Sinnvoll erscheint dagegen eine Unterscheidung zwischen Emotionen und Trieben. 33 Triebe lassen sich als angeborene GrundverfasErläuterungen zu den komplizierten Vernetzungen der Gehirnregionen und des Nervensystems finden sich bei Kandel, 1996, S. 621, für die Hörbahnen und Emotionen; bei Damasio, 1997, S. 184 u. 190, für Gefühle und Empfindungen. 32 Vgl. auch Kandel, 1996, S. 608; Damasio, 1997, S. 193, beschreibt Gefühle als eine Zusammensetzung aus geistigem Bewertungsprozeß und Körperzustand. 33 Damasio, S. 162 ff., sieht Triebe und Instinkte durch angeborene Schaltkreise repräsentiert; die durch sie bewirkten biologischen Verhaltensweisen seien durch zusätzliche Kontrollschichten vor allem bei menschlichen Gesellschaften zu Wandel und Anpassung in der Lage. 31
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sung für biologische Bedürfnisse bei Lebewesen beschreiben, die eine Empfänglichkeit für entsprechende Reize steigern; Emotionen dagegen als Zustände, die auf Reize zurückgehen. Bei Ploog findet sich diese Unterscheidung; er rechnet beide zu einem primären Motivationssystem und gibt den Emotionen den bestimmenden Vorrang. Als Beispiel nennt er Hunger, der bei Angst vergeht, und Durst, der bei Ekel vor stinkendem Wasser verschwindet (Ploog, 1999, S. 527). Ob den Emotionen dieser Vorrang zukommt, mag bezweifelt werden. Es gibt Fälle, in denen der Trieb sich als überlegen zeigt, wie z. B. bei Hunger in einer lebensbedrohenden Lage, in der er den Ekel vor einer Nahrung überlagert. In dem hier behandelten Zusammenhang bleibt unter Einbeziehung der Triebe als Grundverfassung entscheidend nachzuweisen, inwiefern Emotionen von Reizen der Umwelt hervorgerufen werden. Nachzuweisen wird sein, daß es sich bei Trieben und Emotionen um Zustände handelt, die aus ihnen eigentümlichen, von der Wahrnehmung unterschiedenen Prozessen hervorgehen. Ein historischer Rückblick zeigt, daß Erkenntnis wiederholt unter Beteiligung der Gefühle erklärt worden ist. 34 Scheler hatte in einer Kritik an der überlieferten Auffassung der Gefühle Entwürfe, in denen den Gefühlen eine erkenntnisgewährende Leistung zugestanden worden war, von solchen unterschieden, die einen Erkenntniszugang zur Welt und zum Sein durch Gefühle leugneten, weil sie bloß Subjektives erschließen. 35 Giambattista Vico rechnet zur ersten Gruppe. Er hat eine Erkenntnis der Natur und Geschichte aus der Entstehung der Sprache untersucht und den Anteil gezeigt, den Emotionen an der Begriffsbildung haben. Er nennt die Ursprünge der Begriffe poetische – im Unterschied zu rational begründeten – weil sie aus der Wahrnehmung der Menschen verbunden mit ihren Empfindungen, Leidenschaften und Affekten wie Angst, Furcht und Bewunderung hervorgegangen seien (Vico, 1990, S. 170 ff.). Viele Mythen machten deutlich, daß in mythischer Zeit beobachtetes Geschehen einem göttlichen Charakter zugeordnet wurde. Beispielsweise haben die Menschen Blitz und Donner wegen ihres Schreckens Bei Roth, 2001, S. 257 ff., findet sich ein philosophiegeschichtlicher Überblick über den Erkenntniswert der Emotionen. 35 Coriando, S. 17 ff., hat Schelers Auffassung der Gefühle ausführlich untersucht und sie zum Leitfaden einer Affektenlehre gewählt, die Individuum und Welt durch das Emotionale verbunden sieht. 34
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vor einer gegenwärtigen Macht mit dem Wirken Jupiters erklärt; der göttliche Charakter des Namens wurde zum phantastischen Allgemeinbegriff. 36 Dieser entstand aus einer Verbundenheit der Wahrnehmung, hier von Blitz und Donner, mit den durch diese hervorgerufenen Gefühlen des Schreckens. So ein Urteil ohne Reflexion – wie Vico es nannte – entspringt einem sensus communis, aus einem allen Menschen gemeinsamen Sinn (Vico, 1990, S. 93). Vico begründete diese Art der Begriffsbildung aus dem Nachweis eines Gemeinsinns unter Einwirkung der Gefühle, wie er aus den Wortbildungen frühgeschichtlicher Perioden bei allen Völkern in allen Regionen auf gleiche Weise sichtbar hervortrete. Auch wenn die ethnologischen Beweise nicht immer ganz zu überzeugen vermögen, so ist doch Vicos Vorstellung, Gefühle der Menschen in eine Erkenntnis der Welt einzubeziehen, einleuchtend. 37 Auf die Bedeutung der Gefühle für die Erkenntnis hat in der Mitte des 20. Jahrhunderts Vinding Kruse hingewiesen (Kruse, 1960, hier besonders Kap.10). Er bezeichnet die Gefühle als Grundlage und Wertungsinstanz aller Erkenntnis. Alle Erkenntnisfaktoren wie Gleichheit, Verschiedenheit, Kausalzusammenhang und Gesetzmäßigkeit seien letztlich nur durch Gefühle zu rechtfertigen. Weder Einflüsse aus der Umwelt noch subjektive Formen des Verstandes übten den entscheidenden Einfluß aus, sondern Gefühle. Er rechtfertigt seinen Entwurf aus der Bewährung der Erkenntnis der Menschen in ihrem Streben nach Zufriedenheit. Diese psychologische Erkenntnislehre erinnert als Vorläufer an den späteren Radikalen Konstruktivismus; dort entstand Wissen aus einem Vortasten durch Umgehung der Hindernisse der Umwelt; hier ist es ein Vortasten des Organismus hin zu dem Verhalten, das seine Bedürfnisse am besten befriedigt. Unstrittig scheint mir zu sein, daß Gefühle eine entscheidende Rolle im Zusammenhang mit einer Erkenntnis spielen; strittig ist dagegen, welche Rolle ihnen bisher zugestanden wurde. Kruses Aussage, daß ein Gefühl der »Befriedigung der eigenen Bedürfnisse« die entscheidende Grundlage für Erkenntnis sei, sagt in dieser allgemeinen Form kaum etwas aus, weil dieses Gefühl als Grundlage Vico, 1990, S. 176 u. 209; vgl. auch Hübner, 1985: Er gibt einen sehr ausführlichen Überblick über die Mythosdeutung. 37 Vgl. Kolster, 1990, S. 100 ff.: Dort findet sich eine Betrachtung des sensus communis und ein Verweis auf dessen erste Wurzeln bei Cicero; er hat menschliches Wissen vom sittlich Guten und Schlechten der Natur zugeschrieben, die uns Begriffe der Tugenden und der Laster in den Geist gelegt habe (Cicero, De legibus, lib. I, S. 44 f.). 36
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für jede Handlungsentscheidung gelten kann und keine Aussage erlaubt über die besondere Rolle und differenzierte Art der Gefühle in ihrer Auswirkung auf eine Erkenntnis. Solange Gefühle nicht selber in ihren möglichen Abhängigkeiten durch sie bestimmende Faktoren erschlossen und ihre differenzierten Einflüsse untersucht werden, ist ein Verweis auf ihre allgemeine Grundlage für Handlungsentscheidungen von geringer Bedeutung. Kruses Untersuchung kann nicht erklären, welches Gefühl bei mehreren miteinander konkurrierenden Gefühlen entscheiden soll, wie z. B. bei der Entscheidung über eine Embryonenforschung: Soll man dem Mitleid mit Kranken folgen, denen vielleicht eines Tages geholfen werden kann oder dem Gefühl der Achtung vor dem entstehenden menschlichen Leben? Da Kruses Entwurf keine Möglichkeit bietet zu prüfen, ob die Gefühle selber einem prägendem Einfluß unterliegen wie z. B. dem aus einer Umwelt, bilden sie allein keine überzeugende Rechtfertigungsinstanz für Handlungsentscheidungen. Der Einfluß der Gefühle auf unser Wissen taucht heute in neurobiologischen Beschreibungen der Wahrnehmung und deren Bewertung auf: Zu klären bleibt, ob es gelingt, solche Gefühle für alle Menschen in gleicher Weise wirksam nachzuweisen und zu zeigen, welchen Ort sie in der Herausbildung unseres Wissens einnehmen. Emotionen sind unter verschiedenen wissenschaftlichen Ansätzen betrachtet worden wie unter einem psychologischen, einem psychiatrischen und einem neurobiologischen. Einer psychologischen oder psychiatrischen Sichtweise kommt es auf das subjektive Konstrukt des Erlebnisses an, einbezogen sind dabei neurobiologische Grundlagen. 38 Die Neurobiologie dagegen untersucht die Beziehungen zwischen Emotionen und physiologischen Zuständen. Sie eröffnen die Möglichkeit, zu erforschen, welche biologische Bedeutung den Emotionen zukommt, ob sich Emotions- von Wahrnehmungswissen unterscheiden lassen und den Emotionen dem Wahrnehmungswissen vergleichbare Umweltreize vorausgehen. Als Voraussetzung einer Untersuchung bleibt zu fragen, ob Emotionen überhaupt sprachlich erfaßt werden können. Denkt man an Redewendungen wie z. B. unbeschreibliche Angst oder unsagbarer Schmerz, dann wird eine Unzulänglichkeit sprachlicher Beschreibung deutlich. Ein anderes Beispiel kommt aus der Musik, deren Beschreibungsversuche in Kritiken von Konzerten oft zu emotionalen 38
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Vgl. Helmchen, Henn, Lauter, Satorius, 1999.
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Wortschöpfungen führen, weil es einerseits schwierig ist, die erlebten, aus der Musik entstandenen Emotionen zu beschreiben, und weil anderseits die Emotionen selber zu Sprachschöpfungen anregen, die in anderen Bereichen unangebracht wirken. Emotionen lassen sich nicht immer sprachlich leicht erschließen. Ähnlich verhält es sich auch mit der sprachlichen Erfassung von Wahrnehmungen, wie die Redeweise von dem unsagbaren Erlebnis zeigt; Wahrnehmungen wie Emotionen bedürfen keiner Sprache, weil sie eine eigene Evidenz entfalten. 39 Dann aber, wenn sich ein Subjekt seiner Gefühle bewußt wird, eröffnet sich die Möglichkeit, sie sprachlich zu erfassen und über sie Reflexionen anzustellen. b.
Lokalisation und Spezifizierung der Emotionen im Gehirn und ihre Reizquellen
Unstrittig geht aus allen Untersuchungen hervor, daß Emotionen unsere Wahrnehmungen bewerten, und zwar hinsichtlich einer Selbsterhaltung des Subjekts. Ihnen kommt in der Kommunikation mit der Umwelt die unverzichtbare Aufgabe zu, das Subjekt über die Einflüsse aus der Umwelt zu informieren, die einerseits seiner Lebenserhaltung und Entwicklung dienen und die andererseits das Subjekt vor Gefahren schützen. Emotionen ermöglichen, sich ihrer bewußt zu werden und ihren Auswirkungen in Handlungen und Verhalten und deren Planungen Rechnung zu tragen. Ein Überleben wie auch eine sinnvolle Zukunftsgestaltung sind ohne Emotionen undenkbar. Diese noch sehr allgemeinen Aussagen lassen sich aus einer Fülle von Untersuchungsergebnissen und Experimenten nicht nur nachweisen, sondern in einer differenzierten Weise beschreiben. Es gibt eine zweifache Auswirkung emotionaler Reize: auf den Körper und auf kognitive Prozesse des Gehirns. Die Körperreaktionen wie Schweißausbruch, Erröten oder Herzklopfen sind Reaktionen des autonomen Nervensystems; parallel zu den autonomen Reaktionen des Körpers gibt es abhängig von der biologischen Ausstattung eine Verarbeitung der Reize im frontalen Cortex. Die Verarbeitung emotionaler Reize geschieht im limbischen System, im Hypothalamus und im Hirnstamm; das ist eine subcorticale Region. 40 39 40
Vgl. Schantz, 1998. Vgl. Kandel, 1996, Glossar S. 725: Das limbische System ist keine regional exakt A
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Durch das limbische System werden einerseits körperliche Reaktionen des autonomen Nervensystems ausgelöst, andererseits wirken vom limbischen System ausgehende Erregungszustände auf den frontalen und limbischen Cortex ein, die sich auf Verhalten und Handeln auswirken. 41 Emotionen zeigen sich also auf zweierlei Art: durch Reiz bedingte körperliche Erregungszustände, wie z. B. Herzklopfen, und durch ein Bewußtwerden des Reizzustandes im Zusammenhang mit einer Wahrnehmung, wie z. B. sich des Erlebens von Angst bei einer Wahrnehmung von Dunkelheit bewußt zu werden. Zu den Reaktionen des autonomen Nervensystems gehören z. B. bei einem Gefühl der Angst: Herzklopfen, trockener Mund, Magenstörungen usw. 42 Kandel weist darauf hin, daß ein Tier, dessen sympathisches Nervensystem, das für Kampf- und Fluchtreaktionen zuständig ist, experimentell ausgeschaltet ist, so daß emotionale Reize nicht bestimmte körperliche Reaktionen auslösen können, nur solange überlebt, wie es einen geschützten Zufluchtsort hat und warm gehalten wird (Kandel, S. 612). Zu den emotionalen Reaktionen, die zugleich im frontalen Cortex verarbeitet werden und auf die Kognition 43 Einfluß ausüben, rechnen begleitende Gefühle für Handlungsplanung wie z. B. Lust oder Unlust (Roth, 1997, S. 212). Das komplizierte Zusammenwirken der Hirnregionen bei autonomen und kognitiven Reaktionen versuchen unterschiedliche Theorien zu erklären: Es gibt diejenigen, die von Reaktionen des autonomen Nervensystems ausgehen, die ihrerseits in kognitiven Prozessen zum Bewußtsein gelangen; 44 andere Vorstellungen orientieren sich an Hinweisen, daß Emotionen den physikalischen Reaktionen des autonomen Nervensystems vorausgehen; eine weitere Theorie stützt sich auf die Vorstellung, daß Emotionen aus einem dynamischen Prozeß zwischen biologischen und kognitiven Faktoren entstünden abgegrenzte Region, sondern besteht aus verschiedenen Teilen u. a. dem Hippocampus, dem Hypothalamus und der für die emotionalen Reaktionen wichtigen Amygdala; eine übersichtliche Darstellung befindet sich auf S. 612; vgl. auch Singer, 1999, S. 277. 41 Kandel, 1996, S. 623; vgl. auch Roth, 1997, S. 306; Ploog, 1999, S. 543: Er nennt die Amygdala einen Knotenpunkt in der Anatomie der Emotionen. 42 Kandel, 1996, S. 609, faßt in einer Tabelle Kriterien zur Kennzeichnung von Angst beim Menschen zusammen. 43 Roth, 1997, S. 26 ff., beschreibt Kognition mit Orientierung eines Organismus in seiner Umwelt, worunter Vorgänge wie Wahrnehmen, Denken, Verstehen und Urteilen fallen. Vgl. auch Kandel, 1996, S. 608 f. u. 618. 44 Vgl. Pöppel, 1989, S. 17 ff., zur neurophysiologischen Beschreibung des Zustands bewußt.
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(Singer, 1999, S. 527). Kandel spricht von einer reziproken Kommunikation der beiden Hirnregionen, des Hypothalamus, der an den Emotionen mitwirkt und den höheren cortikalen Zentren, die kognitive Leistungen hervorbringen, was bedeutet, daß die Emotionen auf die Kognition Einfluß ausüben. Trotz der Unterschiede in den Erklärungen ist folgender Zusammenhang unstrittig: Sinnesinformationen folgen im Gehirn zwei Wegen. Einer führt vom Sinnesorgan zur spezifischen Hirnregion, wo eine Verarbeitung zu Wahrnehmungen stattfindet; ein zweiter Weg führt vom Sinnesorgan in das limbische System, wo einerseits autonome Reize ausgelöst werden und andererseits eine Rückmeldung an die kognitive Region der Sinnesreizverarbeitung erfolgt. Durch diese »Interaktion zwischen peripheren und zentralen Faktoren« (Kandel, S. 609) werden emotionale Einflüsse auf die Kognition wirksam, aus dem ein bewußtes emotionales Erlebnis entsteht. 45 Ähnlich wie bei dem Wahrnehmungswissen gibt es auch bei den Emotionen unterschiedliche lokale Repräsentationen und spezifische neuronale Entladungsmuster; 46 Lust und Schmerz z. B. – die Grundlagen menschlichen Erlebens und Verhaltens – sind an unterschiedlichen Orten lokalisiert. Pöppel spricht von einem Vergnügungsviertel und einem Schmerzgetto im Gehirn. 47 Den Nachweis lokaler Repräsentation liefern auch hier medizinische Befunde wie operative Eingriffe und Hirnverletzungen, aber auch Experimente mit künstlichen Reizen. Ploog berichtet über operative Eingriffe bei Affen: Bei einer Entfernung der Amygdala trat eine drastische Verhaltensänderung ein; die zuvor wilden Tiere wurden zahm und zeigten eine Verflachung des Gefühlslebens (Ploog, 1999, S. 618). Kandel beschreibt Läsionen des orbifrontalen Cortex und ihre Folgen, nämlich Veränderungen emotionaler Reaktionen. Primaten mit solchen Schädigungen zeigten eine Verminderung des normalen Gefühlsausdrucks und der Aggressivität; bei Tieren ist in solchen Fällen eine UnfähigKandel, 1996, S. 620 f., zeigt eine schematische Übersicht über die Bahnen, die an der Verarbeitung emotionaler Informationen beteiligt sind; Ploog, 1999, S. 529, gibt einen Überblick über die Sequenz neuronaler Ereignisse beim mimischen Feedback, der die Verbindung von Neocortex und limbischem System zeigt. 46 Ploog, 1989, S. 22; 1999, S. 533; Kandel, 1996, S. 565. 47 Pöppel, 1982, S. 198 f., erläutert, im Gehirn von Ratten sei ein empirischer Nachweis des Lustzentrums und eines Zentrums des Schmerzes/der Unlust gelungen; das Ergebnis sei auf Menschen übertragbar, wie Versuche gezeigt hätten; auch Pöppel, 1989, S. 22, bestätigt ein Lustzentrum; ebenso Kandel, 1996, S. 622. 45
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keit von Wut und Ärger aufgetreten (Kandel, 1999, S. 623). Zu den künstlich erzeugten Emotionen zählen Experimente mit elektrischer Stimulation. Bei Katzen lösen Stimulationen des Hypothalamus autonome und somatische Reaktionen aus, die für Ärger charakteristisch sind. Beim Menschen erzeugen eine elektrische Stimulation der Amygdala unterschiedliche Gefühle; eine Auflistung von Aussagen der Patienten nach Reizaufnahme umfaßt: Schmerzen, Schwäche, warmes Gefühl, hoffnungsvoll, entspannt, tiefe Gedanken, Vertrauen in die Zukunft (Pöppel, 1982, S. 200). Allgemein rufen Läsionen und elektrische Stimulation der Amygdala eine Vielfalt autonomer Reaktionen und emotionaler Verhaltensweisen hervor (Kandel, 1996, S. 617 f.) Lassen sich Emotionen so voneinander unterscheiden, daß von ihren differenzierten Ausprägungen ein Rückschluß auf ihre Quellen in der Umwelt möglich wird? Man findet zunächst Unterscheidungen zwischen fundamentalen primären Emotionen und sekundären; fundamental werden solche bezeichnet, die eine spezifische subjektive Qualität aufweisen und für deren jede ein spezifisches neuronales Entladungsmuster angenommen wird, das sie zur Geltung bringt. Es werden unterschiedlich viele fundamentale Emotionen genannt, z. B. eine Aufzählung von vieren: Erwartung, Wut, Angst und Panik; an anderer Stelle sind es acht: Interesse, Überraschung und Freude als positive Emotionen, sowie Ärger, Angst, Scham, Ekel und Wut als negative Emotionen; aus Untersuchungen des psychiatrischen Bereiches werden sieben genannt: Überraschung, Ärger/Wut, Angst, Freude, Traurigkeit, Abscheu und Verachtung; später traten noch Neugier und Anerkennung hinzu (Ploog, 1999, S. 533). Auf den Einwand, daß sich menschliche Gefühle nicht in den aufgezählten fundamentalen Emotionen erschöpfen, nahm man zusätzlich sekundäre Emotionen an, die aus Mischungen der primären Emotionen hervorgehen. Während Ekman sogar fünfzehn Emotionen unterteilt in: Glück/Vergnügen, Ärger, Verachtung, Zufriedenheit, Ekel, Verlegenheit, Aufgeregtheit, Furcht, Schuldgefühl, Stolz, Erleichterung, Trauer, Befriedigung, Sinneslust und Scham, ohne primäre und sekundäre zu unterscheiden, bezweifelt Ploog, daß eine Einteilung in primäre und sekundäre Emotionen überhaupt dem heutigen neurobiologischen Systemverständnis entspreche. Er hält ein Muster der Verästelung für angemessener, durch das für Emotionen spezifische zerebrale Repräsentanz an einem Ort herausgebildet wird (Ploog, S. 535). Diese Auffassung würde für eine große unbeschränkte Viel82
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falt der Emotionen sprechen, die ein Nebeneinander, Überlagerungen und Mischungen zuläßt. Hinsichtlich ihrer Repräsentanz im Gehirn würde das bedeuten, daß die spezifischen Neuronen ebenfalls nicht einer abgegrenzten Einteilung gegeneinander unterliegen, sondern eine Vielfalt bilden, ähnlich den Wahrnehmungsprozessen, bei denen sich als unwahrscheinlich herausgestellt hat, daß jedem Merkmal ein Neuron entspricht. Statt dessen nimmt man Neuronenpopulationen an, die eine Vielfalt von Reizen repräsentieren können. Auch wenn man einerseits keine Zuordnung von Neuronen zu bestimmten Emotionen durchgehend nachweisen kann, wird andererseits nicht bestritten, daß differenzierte Reize ihnen zugeordnete zerebrale Prozesse bewirken, die bestimmte Emotionen repräsentieren. 48 Eine weitergehende Spezifizierung von Emotionen lassen ihre emotionalen Reizquellen deutlich hervortreten, besonders am Beispiel des gut erforschten visuellen Systems, das zugleich den Zusammenhang von visueller Wahrnehmung und Emotionen zeigt. Als geeignet erweisen sich Ausdrucksbewegungen von Gesichtern, weil sie einen Zusammenhang von Wahrnehmung und emotionalen Prozessen veranschaulichen: Da ist aufgrund eines Reizes ein autonomes emotionales Reaktionsmuster, dem eine mimische Ausdruckweise zugeordnet wird; die mimische Ausdrucksbewegung erzeugt durch Rückkopplung ins Bewußtsein eine subjektive Emotion; und schließlich induziert eine einfühlende Betrachtung unterschiedlicher Gesichtsausdrücke entsprechende Emotionen bei dem Betrachter. 49 Die Beziehung zwischen mimischen Ausdrucksbewegungen und neuronalen Programmen ist so eng, daß sie sich gegenseitig erzeugen können: Neuronale Programme aktivieren mimischen Ausdruck, und umgekehrt aktivieren Ausdrucksbewegungen das zentral-nervöse Erregungsmuster. 50 Ploog folgert aus der Beziehung von Ausdrucksbewegungen und Emotionen, daß in subcortikalen Zentren »emotionsspezifische Programme, unterschiedlich für jede Emotion, lokalisiert« (Ploog, 1999, S. 528) sind. Allgemeiner ausgedrückt: Für jede
Vgl. Damasio, 1997, S. 176 f.: Er erläutert, daß neurobiologische Grundvorgänge partielle Erklärungen für Gefühle liefern können. 49 Ploog, 1999, S. 528, beschreibt, wie sich mit der funktionellen Magnetresonanztomographie ein Zusammenhang zwischen subjektiv erlebten Emotionen und mimischen Ausdrucksbewegungen zeigen läßt. 50 Ploog, 1999, S. 529, zeigt hier eine Übersicht über die Sequenz neuronaler Ereignisse beim mimischen Feedback. 48
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Emotion wird ein spezifisches neuronales Entladungsmuster angenommen, das die Emotion ins Bewußtsein bringen kann. 51 Aus diesen Beobachtungen läßt sich erkennen, daß einer spezifischen Emotion ein »Programm« im subcortikalen Zentrum entspricht und daß die durch diese Programme aktivierten Ausdrucksbewegungen in einem Gesicht durch einfühlende Betrachtung von einem Beobachter nachempfunden werden können. Dem Betrachter eines Gesichtsausdrucks der Furcht steht es nicht frei, diesen als Freude zu erkennen, sondern eben als Furcht.52 Ein angeblicktes Gesicht wird zur differenzierten Reizquelle der Umwelt, sowohl für dessen Wahrnehmung als auch für die Nachempfindung dessen emotionalen Ausdrucks. Nebeneinander, Überlagerung und Mischung von Emotionen wird an Abbildungen von Gesichtern deutlich, in deren Ausdrucksbewegungen eine oder mehrere Emotionen gleichzeitig repräsentiert sind, wie entweder nur Überraschung oder nur Furcht; oder es sind Überraschung durch den Mund und Furcht durch Augen und Stirn überlagert (Ploog, 1999, S. 534). Emotionen können einander überlagern, aber auch sich ausschließen, wie das Beispiel der verlockenden Nahrung zeigte; diese erzeugte Lust, sie zu essen, und überlagerte zugleich einen Ekel, den der Zustand der Nahrung erregte und der davon abhielt, sie zu essen. Emotionen können miteinander konkurrieren, und je nach Bewertung der Wahrnehmung wird eine dominieren. Unentschieden zeigt sich eine Emotion, die in den Redewendungen zum Ausdruck kommt: Man weiß nicht, ob man weinen oder lachen soll. Emotionen spielen in dem Wissen von einem Gegenstand – wie hier bereits angedeutet – eine wichtige Rolle; sie wirken sich auf Handeln und Verhalten aus. Wenn Emotionen Wahrnehmungen bewerten, läßt sich dann etwas über die Wahrnehmungsgegenstände aussagen, die bewertet werden? Prüfen und beantworten läßt sich die Frage nur aus der Erfahrung, weil nur aus dem Einzelfall hervorgeht, ob mit einer Wahrnehmung Emotionen verbunden sind. In bezug auf ein Wissen aus der Kommunikation eines Subjektes mit seiner Umwelt können unPloog, 1999, S. 533, und Kandel, 1996, S. 608, verweisen darauf, daß Emotionen durch besondere neuronale Schaltkreise kontrolliert werden. 52 Sartre, 1962, S. 338–397, erläutert in seiner Analyse des Blicks, daß man am Blick des anderen dessen Subjektivität, die ihn von anderen Körpern im Raum unterscheidet, erkennt; s. auch Kather, S. 251. 51
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ter den Gegenständen aus der Wahrnehmung diejenigen einer belebten von denjenigen einer unbelebten Natur unterschieden werden, einschließlich denjenigen aus Handeln und Verhalten. Wahrnehmungen aus der belebten Natur präsentieren einen Organismus und seine Teile. Emotionen für diese Art der Wahrnehmungen können sich sowohl auf den Organismus als ganzen beziehen wie auf seine Teile. Ein Bezug auf den Organismus als ganzen ist der Fall z. B. bei dem Ausdruck eines Auges, der eine emotionale Bewertung hervorruft; er ginge verloren, wenn er nicht den Ausdruck des Gesichtes, d. h. den eines Lebewesens repräsentierte. Nur ein Auge für sich, herausgelöst aus seinem Gesicht, verliert seinen Ausdruck. Bei Menschen, die kein Blut sehen können und dessen Anblick ihnen einen Schauder oder ähnliche Emotionen erzeugt, beziehen sich nur auf einen Teil des Organismus. Wahrnehmungen einer unbelebten Natur rufen ebenfalls Emotionen hervor, wie z. B. die Wahrnehmung eines Himmelskörpers oder eine Bergwelt, die Gefühle der Bewunderung und Erhabenheit auslösen. In beiden Bereichen sind es aber auch Wahrnehmungen von Veränderungen der Gegenstände durch Handeln und Verhalten, die Emotionen erzeugen. Es können solche sein, deren Produkt Emotionen weckt, und andere, bei denen die Handlung selbst emotional bewertet wird. Es müssen nicht in allen Wahrnehmungen Emotionen auftreten, aber wenn sie auftreten, beziehen sie sich auf eine bestimmte Wahrnehmung. Wahrnehmungen ohne Emotionen können auftreten, wenn die Wahrnehmung keiner Bewertung für das wahrnehmende Subjekt bedarf, wenn es für das Subjekt unerheblich ist, ob sie auftritt oder nicht. Man sieht z. B. einen Stein irgendwo liegen. Seine Wahrnehmung könnte ohne Bedeutung bleiben. Wenn aber jemand nach einem Stein sucht, wird seine Wahrnehmung Freude auslösen können. Gibt es Emotionen ohne Wahrnehmung? Es kommt vor, daß jemand Angst oder ungute Gefühle empfindet, ohne sie auf eine bestimmte Wahrnehmung zu beziehen. Sie können dann Anlaß sein, nach ihren Auslösern zu suchen. c.
Emotionen: eine Art des Wissens
Emotionen zeigten sich sowohl in zerebralen Reaktionen, die zu ihrem Wissen führen, als auch in denen des autonomen Nervensystems, die sich in körperlichen Reaktionen auswirken, wobei sich A
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beide Reaktionen als eng miteinander zusammenhängend erweisen, ohne bisher sagen zu können, ob der einen oder der anderen ein zeitlicher oder dominierender Vorrang zukommt. Durch die Emotion erhält der Wahrnehmungsgegenstand eine auf das Subjekt bezogene individuelle Einschätzung. Die Bewertung muß nicht an ein Bewußtsein geknüpft sein, sondern sie kann als »prototypische Verhaltenssequenz« (Ploog, 1999, S. 531) evolutionsgeschichtlich herausgebildet worden sein. Prototypische Bewertungen der Wahrnehmungen, wie sie sich nicht nur bei Primaten zeigen, hat Ploog in folgender Tabelle dargestellt (Ploog, 1999, S. 532): z. B. Auslösender Reiz
angenommene Emotionen, Bedeutung die Verhalten begleiten
Drohende Gefahr Verlust eines Nahestehenden
Verlassensein
Abscheulicher Gift Gegenstand Unerwartetes Objekt
Verhalten
Wirkung
Angst
Wegrennen
Schutz
Traurigkeit
Weinen
Reintegration
Abscheu, Ekel Erbrechen
»Was ist das«? Überraschung Innehalten
Ablehnung Orientierung
Durch die Prozesse der Emotionen wird der Organismus sowohl über körperinterne Vorgänge als auch über die Umwelt unterrichtet, die beide für seine Fitneß und für sein Handeln und Verhalten wichtig sind; z. B. werden Gefühle des Anerkanntwerdens, des Geliebtwerdens, des Liebens, des Glücks, des Triumphes und der Macht einen Menschen in seiner Zielsetzung bestärken; dagegen werden die eine Wahrnehmung begleitenden Gefühle der Enttäuschung, der Traurigkeit, der Angst, der Machtlosigkeit, des Ärgers und der Abscheu eine Änderung eines Verhaltens veranlassen. 53 Bewertungen lassen sich nicht von Emotionen trennen. Aber lassen sich Gefühle von Bewertungen abkoppeln und dann auch von Emotionen unterscheiden? Nozick war der Meinung; er macht diesen 53
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Vgl. Ploog, 1999, S. 540; er behandelt dort die Macht der Emotionen.
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Unterschied und meint, daß Gefühle mit dem Bewertungsprozeß nichts zu tun hätten; sie würden diesen nur als Ergänzung verstärken. Nozick ordnet die Gefühle dem Körperlichen und die zu den Emotionen gehörigen Bewertungen dem Geistigen zu (S. 100). Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften zeigen aber komplizierte Zusammenhänge zwischen den autonomen körperlichen Reaktionen und den kognitiven Prozessen. Bisher ließen sich keine Hinweise finden, die eine Unabhängigkeit der körperlichen Befunde von emotionalen Zuständen zeigen. Auch körperliche Gefühle ohne irgendeinen bewertenden Bezug finden keine Bestätigung. Nozicks Beispiel der angenehmen Gefühle beim Sonnenbaden oder Schwimmen sind nicht frei von Bewertungen: Beim Sonnenbaden ist es die als angenehm bewertete Wahrnehmung der Sonne; beim Schwimmen ist es die als angenehm bewertete Wahrnehmung der beinahen Schwerelosigkeit oder des erfrischenden Wassers. Da ein Subjekt durch Emotionen, die aus seiner Kommunikation mit der Umwelt hervorgehen, über körperinterne Vorgänge ebenso wie über die Umwelt unterrichtet wird, kann man von einem Emotionswissen sprechen. Läßt sich ein Emotionswissen von einem Wahrnehmungswissen unterscheiden? Die Lokalisation der Verarbeitung emotionaler Reize beweist eine Unterscheidung zwischen Wahrnehmungs- und Emotionswissen. Ein Tierexperiment zeigt die getrennten Verarbeitungsorte bei einer Katze: Trotz einer Entfernung der Großhirnrinde, dem Ort kognitiver Verarbeitung der Sinnesreize, zeigten Katzen emotionale Reaktionen; umgekehrt gingen bei der Entfernung des Hypothalamus, einem Teil des limbischen Systems, die Emotionen verloren. 54 Wahrnehmungswissen läßt sich von Emotionswissen durch den Verarbeitungsort unterscheiden. Damasio berichtet von einer Möglichkeit, den für ein Gefühl charakteristischen Körperzustand, hervorgerufen von dem autonomen Nervensystem, meßbar zu machen. Es handelt sich um eine Hautleitfähigkeitsreaktion, wie sie auch bei Lügendetektoren verwendet wird. Sie beruht auf dem Nachweis bestimmter Hautreaktionen, die bei äußeren Reizen als körperliche Merkmale von Emotionen auftreten (Damasio, S. 281 ff.). Wenn sich ein Körper durch Vgl. Kandel, 1996, S. 623; Pöppel, 1989, S. 22, behandelt die Auswirkungen von künstlich erzeugten emotionalen Reizen in Tierversuchen; Berichte nach analogen Reizungen bei Menschen ließen annehmen, daß es ein Bewertungszentrum für Lust beim Menschen gebe.
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einen Wahrnehmungsinhalt zu verändern beginnt und ein bestimmtes Gefühl eintritt, läßt sich an der Hautoberfläche die Reaktion eines veränderten elektrischen Hautwiderstandes messen, der sich aus einer Flüssigkeitsabsonderung ergibt. Auf einen bestimmten Wahrnehmungsinhalt bezogen, z. B. Bilder mit schrecklichen Szenen von körperlichen Schmerzen, läßt sich die emotionale Reaktion des Körpers nachweisen, und zwar bei mehreren Versuchspersonen von gleicher Intensität. Umgekehrt konnten Patienten mit einer Hirnverletzung der Stirnlappen die Bilder zwar beschreiben, zeigten aber keine Hautleitfähigkeitsreaktion; ihnen fehlte die Körperreaktion, hervorgerufen von Gefühlen. Ein Bildinhalt läßt sich wahrnehmen; unabhängig davon läßt sich der Bildinhalt bewerten, was zeigt, daß Wahrnehmungs- und Emotionswissen ein Wissen unterschiedlicher Art ist. Berühmt sind die Untersuchungsergebnisse nach einer Hirnverletzung, die Damasio ausführlich am Beispiel des Patienten Gage schildert. Dieser hatte durch einen Unfall einen Teil seines Gehirns verloren. Er war trotzdem zu Wahrnehmungen in der Lage, aber nicht mehr zu ihrer emotionalen Bewertung im Vergleich zu gesunden Versuchspersonen. Aus den Verletzungen rekonstruierte Damasio die für Emotionen einerseits und für Wahrnehmungen andererseits zuständigen Hirnbereiche. Seine fehlenden Emotionen zeigen deutlich, welche Auswirkungen daraus folgen; Gage konnte keine sinnvollen Handlungsstrategien für die Zukunft entwickeln (Damasio, S. 25 ff.). Einerseits ist Emotionswissen eine eigene Art des Wissens, andererseits hat es sich als eng verknüpft mit dem Wahrnehmungswissen erwiesen. Einen Hinweis auf die enge Verknüpfung der Emotions- und Wahrnehmungsreize ging aus den neuronalen Prozessen hervor, in denen Reize der Wahrnehmung und der Emotion gleichzeitig, aber in parallelen neuronalen Verschaltungen verarbeitet wurden. Aus dem Experiment der Betrachtung schrecklicher Bilder und des daraus hervorgegangenen getrennten Wissens aus Wahrnehmung bzw. ihrer emotionalen Bewertung läßt sich auch zeigen, wie eng beide Arten des Wissens miteinander verbunden sind. Die Reize der Wahrnehmung und der Emotionen gingen aus einer Bildbetrachtung hervor, d. h. sie gehen einerseits auf ein gemeinsames Umweltereignis zurück und verweisen andererseits auf getrennte Verarbeitungsorte und auf getrennte Reize und deren Quellen. Klar wird auch, daß es Reizquellen der Umwelt sind. Damasio vermutet, daß 88
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Außenwelt durch Veränderung repräsentiert wird, die sie als Körperreaktionen und als neuronale Prozesse hervorruft (Damasio, S. 306). Blickt man auf folgendes Beispiel: Das eigene Haus brennt; diese Wahrnehmung ruft sowohl ein bewußtes emotionales Erleben einer Furcht hervor – das brennende Haus wird als Gefahr erkannt –, und zugleich treten Auswirkungen auf z. B. das Herz durch einen erhöhtem Herzschlag, auf die Lunge durch verstärkte Atmung usw. auf (Kandel, 1996, S. 608). Es gibt die kognitive Wahrnehmung des brennenden Hauses und zugleich die emotionalen Reaktionen einerseits der Körperorgane und andererseits der zerebralen Verarbeitung wie Angst, Bestürzung, vielleicht auch die blitzschnelle Überlegung, was zu tun sei. Kognition und Emotion wirken zusammen. Die Wahrnehmung des »brennenden eigenen Hauses« erhält durch die emotionale Bewertung eine subjektive Beziehung zum Wahrnehmenden; das brennende Haus läßt ihn nicht unberührt. Emotionen vermitteln eine Bewertung des Wahrgenommenen. Ob jeder Kontakt mit der Umwelt von einer emotionalen Bewertung begleitet ist, wie Pöppel meint (Pöppel, 1989, S. 22), mag bezweifelt werden; es sei denn, daß man wegen einer ausbleibenden Bewertung eines Wahrgenommenen zum Ausdruck bringt, daß man es für wertlos hält. Aber dort, wo eine Bewertung stattfindet, führt sie zu Konsequenzen. 55 Ein eßbarer Gegenstand wird erst dadurch, daß er von einer Emotion der Lust begleitet ist, zum verlockenden Ziel seiner Verspeisung. Oder die Wahrnehmung eines Feindes z. B. erregt Furcht, wobei in der sprachlichen Benennung der Wahrnehmung mit »Feind« bereits diese Furcht zum Ausdruck kommt. Würde ein Feind nicht als drohende Gefahr erkannt, wäre die Überlebenschance gering. Solche Beispiele zeigen, daß die Emotionen eine wichtige Rolle im Zusammenhang mit Kognitionen spielen. Manchmal eröffnet überhaupt erst eine Emotion die Bedeutung einer Wahrnehmung. Saint-Exupéry schreibt: »Man sieht nur mit dem Herzen gut, denn das Wesentliche ist den Augen unsichtbar.« 56 Das Auge mag einen Gegenstand wahrnehmen; aber erst durch die damit verbundene Emotion wird er in seiner Einzigartigkeit erkannt werden können. Roth, 1997, S. 178, hält die Emotion als Bewertung einer Wahrnehmung für lebenswichtig; Uexküll, 1996, S. 17, erläutert, daß menschliche Erfahrung neben Kognition einen emotionalen Aspekt hat. 56 Saint-Exupéry, 1978, XXI: Es ist das Geheimnis, das der Fuchs dem kleinen Prinzen verrät, um ihm zu erklären, wie man die Dinge der Welt erkennt. 55
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Saint-Exupéry hat in seiner Erklärung der Welt dem Zugang durch Emotionen sogar den Vorrang vor einer visuellen Wahrnehmung eingeräumt. Ob das zutrifft, mag strittig sein; sicherlich gilt es dort, wo erst eine emotionale Bewertung eine Vollständigkeit des Wissens eines Wahrnehmungsgegenstandes erschließt. Auch künstlich hergestellte Werke verknüpfen Wahrnehmung und Emotionen: die Fotografie eines Kindes z. B., das zwar als Kind erkannt wird; wenn aber dessen hungernde Hilflosigkeit aus seinem Gesichts- und Körperausdruck nicht nachempfunden würde, bliebe es unvollständig erkannt. Die hervorgerufenen Emotionen bewerten das wahrgenommene Kind, weil sein Ausdruck Mitleid und Hilfsbedürftigkeit weckt und zu Handlungsüberlegungen anregen kann. Auch eine Betrachtung von Picassos Bild »Guernica« bliebe ohne seine emotionalen Impulse eine zusammenhanglose Gestaltung von menschlichen und tierischen Verhaltensdarstellungen; eine nur sinnliche Wahrnehmung des Kunstwerkes könnte nicht das Leid und die Verzweiflung erfassen, die es zum Ausdruck bringen möchte. Allerdings treten für den empfänglichen Betrachter die emotionalen Reize des Bildes so deutlich hervor, daß er sich ihnen kaum entziehen kann; Wahrnehmung erhält ihren Ausdruck durch die mit ihr verbundenen Emotionen. Bisher hatte sich gezeigt, daß Emotionen körperlich erfahrbare Reaktionen und zugleich unter Beteiligung des Gehirns erlebbare Gefühle sind. Sie bedürfen keiner Theorie, um erfahrbar zu sein. Ploog hat darauf hingewiesen, daß Emotionen für ein Individuum nicht erlernbar, sondern angeboren sind; was erlernt und im Gedächtnis gespeichert werden kann, das sind die Gegenstände, Ereignisse, Personen und sozialen Konstellationen, die bestimmte Emotionen ausgelöst haben (Ploog, 1999, S. 548). Emotionen erweisen sich dort, wo die individuelle Ausstattung eines Subjektes sie ermöglicht, als ein Bewertungsraster für Wahrnehmungen, das jeder Reflexion vorausgeht. Sich ihrer bewußt zu werden, ermöglicht Handlungsstrategien, um ihnen nicht nur blindlings zu folgen, sondern ihre Ergebnisse zu reflektieren. Davon wird später die Rede sein. Jetzt sollen die Quellen ihrer Reize in der Umwelt betrachtet werden. Ein Zugrundeliegendes, wie es als Quelle der Reize für ein Wahrnehmungswissen deutlich wurde, ist auch für die Reize der Emotionen zu zeigen. Entsprechend einem Wahrnehmungswissen, das Damasio aus einer Unterscheidung von Wahrnehmungsbildern, deren Reize aus der Umwelt stammen, und Erinnerungsbildern, die 90
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im Gedächtnis gespeichert sind, erklärt, unterscheidet er in den Emotionen solche, die auf Reize der Umwelt zurückgehen, von denen, die »gänzlich aus dem Innern des Gehirns gelenkt sind, durch einen stummen Denkprozeß« (Damasio, S. 141). Als Beispiel sei die Erinnerung an eine Musik genannt, die wir mögen, oder an eine Speise, die Ekel hervorruft. Aus der Erinnerung stammende Emotionen können Handeln und Verhalten beeinflussen, wie hier in ein Konzert zu gehen, in dem die erinnerte Musik zu hören ist, oder eine Speise zu meiden, die mit der Erinnerung an den Ekel verbunden ist. Eine emotionale Verarbeitung bedarf der ihr entsprechenden spezifischen Reizquelle, die auf ein Zugrundeliegendes verweist. Bei Reizquellen außerhalb des Gehirns denkt Damasio an Objekte und Situationen wie z. B. Reizmerkmale in der Umwelt oder des Körpers (Damasio, S. 183). In welcher Weise Emotionswissen von der Quelle außerhalb des Gehirns abhängt, geht aus Damasios Behandlung echter und unechter Gefühle hervor (Damasio, S. 197): In Bildern eines lächelnden Gesichtsausdruckes ist deutlich das echte, ungekünstelte Lächeln mit den ihm verbundenen emotionalen Reizen zu unterscheiden von einem gekünstelten Lächeln in bewußter Kontrolle der Gesichtsmuskulatur. 57 Wenn das Bild des Gesichts selbst zur Reizquelle eines Betrachters wird, weckt dessen echtes Lächeln eine andere Bewertung bei dem Betrachter als das gekünstelte; es macht den Einfluß klar, den ein Reiz außerhalb des Gehirns auf dessen hervorgebrachte Emotionen ausübt. Über eine Quelle der Umwelt lassen wir uns nicht durch Nachahmung täuschen: Gibt es keine Quelle der Umwelt, die ein echtes Lächeln hervorruft, sondern wird dieses vorgetäuscht, entstehen bei dem Beobachter andere Hirnwellen als bei einem echten Lächeln. Den engen Zusammenhang von Körperreaktionen und Gefühlen, abhängig von einer äußeren Quelle hat Damasio bei Schauspielern beobachtet, wenn sie Körperreaktion und Gefühl vortäuschen müssen (Damasio, S. 205). Eingeübte Techniken, Begabung und Reife eines Schauspielers erlauben erst, ein vorgetäuschtes Gefühl beinahe echt wirken zu lassen, wobei Schauspieler sogar von einer Verschmelzung vorgetäuschter mit echten Gefühlen berichten. Warum kann man durch Selbstkitzeln kein Lachen hervorrufen, was doch möglich sein müßte, wenn Emotionen subjektive KonstrukDamasio, 1997, S. 197, berichtet, daß Charles Darwin (1986) auf diesen Unterschied echter und vorgetäuschter Gefühle hingewiesen hat.
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te wären. Eine Untersuchung hat gezeigt, daß Selbstkitzeln einen neuronalen Prozeß auslöst, der die Emotion des Lachens verhindert. Diese Beobachtung verweist auf eine Reizquelle der Umwelt, auf ein der Emotion Zugrundeliegendes. 58 Aus den Beobachtungen bei Patienten mit Hirnverletzungen war zu sehen, daß Wahrnehmungsund Emotionswissen einerseits auf ein gemeinsames Zugrundeliegendes zurückgehen, andererseits aber in getrennten Hirnprozessen entstehen. 59 Die getrennte Verarbeitung ist auch aus einer Darstellung der Bahnen auditorischer Informationen zu sehen, die zugleich an der Verarbeitung emotionaler Information beteiligt sind. Es gibt sowohl Hörbahnen, die unmittelbar in die Region des Gehirns führen (auditorischer Cortex), in der die Signale zu Tönen verarbeitet werden, wie auch parallele Hörbahnen, die Signale mit der Region der Emotionen verschalten (Kandel, S. 620 f.). Hörsignale transportieren beide Informationen. Daraus ergibt sich, daß die auditorischen und die emotionalen Reize auf eine Reizquelle zurückgehen, von der beide Informationen ausgehen, also etwas zugrunde liegt, was auf das Spezifische des Tons und der Emotion Einfluß nimmt. Auf ein gemeinsames Zugrundeliegendes weist auch ein wahrgenommenes Gesicht hin, das von einem unterschiedlichen emotionalen Ausdruck geprägt sein kann; die Reizquellen für Wahrnehmung und Emotion sind zwar verschiedene, gehen aber auf das eine Gesicht zurück. Die Bewertungen, die Emotionen über einen Wahrnehmungsgegenstand vermitteln, gehören zu einem Wissen über diesen Gegenstand. Wahrnehmungswissen und Emotionswissen zusammen führen erst zu einem vollständigen Wissen – ob bewußt oder unbewußt. Eine Erkenntnis von einem Gegenstand, die sich auf Wahrnehmungswissen beschränkt und ein Emotionswissen über ihn vermeidet oder unterdrückt, kann zu einer Verhaltensstörung führen, was zeigt, daß dem Emotionswissen ein unverzichtbarer Beitrag in der Erkenntnis zukommt. 60 Beide Wissensarten sind zwar durch ihre Lokalisation und durch ihre neuronalen Prozesse voneinander unterschieden, treten aber meist miteinander verbunden auf. Die Beobachtung, daß die Prozesse Blakemore vom University College London berichtet über entsprechende Forschungsergebnisse (Frankfurter Allgemeine Zeitung, S. 13 vom 13. 9. 2000). 59 Vgl. Damasio, 1997, S. 277 ff.: Er beschreibt Beobachtungen zu »Wissen aber nicht empfinden«. 60 Zu den Verhaltensstörungen bei unterbundenem Emotionswissen vgl. Kandel, 1996, S. 612 u. 618. 58
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nicht einer willentlichen Steuerung unterliegen, bestätigt ein auf ihren Gegenstand bezogenes, zusammengehöriges Wissen. Ausnahmen ihrer Koppelung treten in den Fällen auf, in denen durch Hirnverletzungen oder durch künstliche Stimulation Wahrnehmungswissen ohne Emotionswissen erzeugt wird und umgekehrt. Es gibt aber auch die Fälle, in denen die mit der Wahrnehmung verknüpften Emotionen ausgeschlossen bleiben, weil sie als dort nicht hingehörig betrachtet werden. Das ist bei einem Reflexionswissen der Fall, wenn nach Aspekten eines Wahrnehmungsgegenstandes gefragt wird und weiteres Wissen aus der Wahrnehmung und den Emotionen über diesen unbeachtet bleibt oder wegpräpariert wird. Der Entschluß zu einer Operation bei einem sehr alten Menschen z. B., der nur die Behandlung eines bestimmten Organs im Auge hat und anderes Wissen über den Patienten, wie über sein Alter, über seinen Zustand, vielleicht auch über dessen mangelnde Bereitschaft zu einer Operation unberücksichtigt ließe, ginge von einem unvollständigen Wissen aus. Daß ein Emotionswissen gekoppelt mit Wahrnehmungswissen eine unverzichtbare Rolle spielt, ist wiederholt gezeigt worden. Daß es dagegen in einem Reflexionswissen zu Recht unbeachtet gelassen wird, ist bisher nicht begründet worden. Da die Quellen seiner Reize gleichberechtigt mit denen des Wahrnehmungswissens auftreten, erscheint es unbegründet, Emotionswissen aus einer Erkenntnis auszuschließen. Das von Forschern präsentierte Bild einer Maus mit einem auf ihrem Rücken gezüchteten menschlichen Ohr mag aus der Reflexion über ein Wahrnehmungswissen betrachtet Möglichkeiten der Organzüchtung eröffnen; nimmt man das Emotionswissen wie z. B. einen Schauder, der aus ihrem Anblick entsteht und zu einem vollständigen Wissen über diese Maus dazugehört, hinzu, kann die emotionale Bewertung der Wahrnehmung zu einem veränderten Forschungshandeln Anlaß sein. d.
Emotionale Kommunikation
Bei der Kommunikation von Artgenossen übernimmt der Ausdruck von Emotionen häufig die Funktion einer Mitteilung. Ploog spricht dabei von Senden und Erkennen sozialer emotionaler Signale (Ploog, 1999, S. 541). Ein erster Kontakt nichtsprachlicher Kommunikation zwischen Partnern zeigt sich in dem Angeblicktwerden. Die Blickrichtung signalisiert, wer gemeint ist, während der Gesichtsausdruck A
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die Verhaltensbereitschaft des Senders übermittelt. Der hergestellte Kontakt schafft die reziproke Schleife zwischen Sender und Empfänger. 61 Die Kommunikation erfolgt durch Mimik, Stimme und Körperhaltung. Übermittelt werden z. B. bei Tieren Alarm- und Drohsignale (Ploog, 1999, S. 536). Ein Beispiel ist das »Isolationspiepen« des Totenkopfäffchens. Dieses drückt, wenn es von seiner Gruppe isoliert wird, die Emotion seines Trennungsschmerzes durch ein Piepen aus, das ein Signal an die Gruppe zur Reintegration des isolierten Tieres ist. 62 Das Beispiel der emotionalen Kommunikation macht deutlich, daß das Totenkopfäffchen seinem Trennungsschmerz durch das Piepen emotionalen Ausdruck verleiht und daß dieses Signal von den Artgenossen der Gruppe verstanden und beantwortet wird. Das Isolationspiepen des Totenkopfäffchens ist eine emotionale Information, die den Organismus über »die Bedeutung der aktuellen Außenwelt unterrichtet« (Ploog, 1999, S. 540). Wie ist es denkbar, daß der Artgenosse solche Signale versteht? Bei Untersuchungen zum Erkennen sozialer Signale wurde festgestellt, daß z. B. bei schizophrenen Patienten Störungen in der Wahrnehmung emotionaler Gesichtsausdrücke auftraten: Sie konnten Ärger nicht von Furcht unterscheiden und waren unfähig, den Ausdruck des Abscheus zu erkennen. Die Autoren erwogen, ob bestimmte Emotionen ihnen zugeordnete neuronale Substrate haben, die bei beiden Individuen, die miteinander kommunizieren, auftreten. Ploog ist sich dessen als Ergebnis weiterer Untersuchungen gewiß (Ploog, 1999, S. 542 f.). Diese den Emotionen entsprechenden biologischen Hirnprozesse können erklären, daß Artgenossen untereinander emotionale Signale erkennen. Emotionen wie Liebe und Akzeptanz sind sogar für soziale Systeme unverzichtbar (Hoffmann, S. 217). Das nichtsprachliche emotionale Verstehen eines Artgenossen, wie es bei den Totenkopfäffchen gezeigt wurde, wird bei den Menschen mit Empathie bezeichnet. Empathie drückt die Fähigkeit aus, sich in einen Kommunikationspartner hineinzuversetzen; Ploog beschreibt sie als Kommunikation eines emotionalen Zustandes (Ploog, 1999, S. 541). Die Gefühle des anderen kann ich dadurch verstehen, daß ich solche Gefühle selbst erlebt habe (Ploog, 1999, S. 548). Obgleich ich nie gewiß sein kann, ob meine Mitfreude oder Mittrauer Ploog, 1999, S. 542, diskutiert hier Experimentergebnisse zum Angeblicktwerden. Ebd., S. 538 f., weist er darauf hin, daß das Isolationspiepen und andere Vokalisationen geeignet sind, Funktion und Zweck des Verhaltens aufzudecken.
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der des anderen gleicht, gibt es genetische und neuronale Merkmale, die eine Empathie kennzeichnen und sie nicht nur subjektiver Konstruktion überlassen. Zu den genetischen Merkmalen erläutert Ploog Experimente zur Bindung und Trennung; besonders die Emotion der Trauer zeige entsprechend der Nähe der Verwandtschaft zum Verstorbenen eine genetisch bedingte Differenz der Intensität. 63 Empathie vermittelt emotionale Inhalte. Am Beispiel depressiver Patienten läßt sich erkennen, daß depressive Affekte eines Menschen Signale zu Hilfeleistungen sind und empathische Reaktionen bei den Mitmenschen hervorrufen. Da die Wahrscheinlichkeit steigt, daß ein depressiver Zustand in Situationen wie zu hohen Lebensanforderungen, bei starken materiellen Einbußen, beim Verlust von geliebten Menschen, bei Ehescheidungen oder bei Verlust von gesellschaftlichem Ansehen entsteht, erzeugt dieser bei den Mitmenschen empathische Reaktionen wie temporären Dispens von materiellen und sozialen Leistungsforderungen oder Belassen des Menschen in seiner sozialen Ordnung und in seinen Familienbanden (Ploog, 1999, S. 543). Deutlich wird an diesem Beispiel, daß die Reize, die empathische Reaktionen auslösen, Inhalte vermitteln und eine Antwort auf die auslösende Ursache bewirken. Empathie als eine Form sozialer Kommunikation verweist auf den anderen als Quelle des eigenen Mitgefühls. Sie ist nicht nur gegenüber Menschen, sondern auch zwischen Mensch und Tier gegeben. Bei einem Tier z. B., das zu experimentellen Zwecken einer Versuchsanordnung ausgesetzt wird, die bei ihm Angst und Schrecken hervorruft, wird sich dessen emotionaler Ausdruck in der Beobachtung durch einen Menschen niederschlagen. Ein Wissen über dieses Tier bliebe unvollständig, wenn dessen emotionale Zustände beim Beobachter ausgeblendet oder unterdrückt würden. e.
Handeln und Verhalten aus emotionaler Bewertung
Ein Gefühl kann angeborene Reaktionen auslösen wie Flucht oder Angriff. Durch Konditionierung können emotionale Einflüsse auf ein bestimmtes Verhalten eingeübt werden wie z. B. durch Belohnung oder Strafe. Sich eines Körperzustands als Folge einer Emotion bewußt zu werden und ihn in Beziehung zu einer auslösenden Wahr63
Zu den genetischen Dispositionen vgl. Ploog, 1999, S. 540. A
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nehmung zu setzen, ist ein weiterer Schritt, der eine Denkleistung erfordert. Es ist ein Bewußtwerden der Beziehung, das Handlungsund Verhaltenstrategien, die über den Moment hinaus in die Zukunft gerichtet sind, ermöglicht (Damasio, S. 218, 185). Wo eine Grenze zwischen Konditionierung und Bewußtwerden der Beziehung verläuft, kann hier nicht entschieden werden. Aber dort, wo sich ein Subjekt seiner Gefühle bewußt wird, gewinnt es Flexibilität für Handeln und Verhalten. Eine Speicherung des bewertenden Emotionswissens im Gedächtnis wirkt sich auf eine Beurteilung von Handlungsentscheidungen für die Zukunft aus. In einem Glücksspielexperiment, in dem Versuchspersonen bei entsprechenden Handlungen eine Belohnung oder Bestrafung erhielten, zeigte sich, daß normale Versuchspersonen durch Überlegung nach kurzer Zeit in der Lage sind, vorteilhaftes oder nachteiliges Verhalten vorherzusagen; sie zeigten sich zu einem in die Zukunft gerichteten vorteilhaften Handeln befähigt (Damasio, S. 295). Dagegen konnten hirngeschädigte Patienten solche Entscheidungen nicht sinnvoll treffen, weil sie zu keinen Emotionen fähig waren. Die von Emotionen beeinflußten Denkprozesse sind an Wahrnehmungswissen gebunden. 64 Emotionen vermitteln Signale zum Handeln und Verhalten. Das limbische System spielt dabei eine wichtige Rolle, wie die Reaktionen bei schizophrenen Menschen deutlich gemacht haben. Ähnliches bestätigt ein Experiment mit zuvor wilden Affen. Nachdem ihnen Teile des limbischen Systems entfernt worden waren, verflachte ihr Gefühlsleben bis hin zur Unfähigkeit, Furcht zu empfinden: Sie nahmen eine Schlange in den Mund (Kandel, S. 618). Die Emotionen üben wie beim Handeln auch Einfluß auf die Intentionen eines Verhaltens aus. Eine Emotion, die ein bestimmtes Gefühl ausdrückt, gibt das Signal zu einem Verhalten mit einer bestimmten Funktion: Der emotionale Ausdruck Angst signalisiert sich zurückzuziehen bzw. zu entkommen und dient dem Schutz. Oder Ärger und Wut über einen Angreifer lösen z. B. Beißen aus, um den Angreifer unschädlich zu machen. 65 An Handlungen sind alle drei Reaktionssysteme des Gehirns Damasio, 1997, S. 152 f., meint, Denken vollziehe sich in Bildern, wobei sich die Bilder auf Wahrnehmungen stützen. 65 Vgl. eine Zusammenstellung der Ausdrucksweisen emotionaler Zustände bei Ploog, 1999, S. 530. 64
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beteiligt: Das sensorische System liefert Informationen, das motorische steuert Körperbewegungen, und das limbische System ist für Motivation zuständig und für die Entscheidung über Auslösen und Beendigung einer Handlung ( Kandel, 1996, S. 89, 565, 626). Roth weist darauf hin, daß der unmittelbare Anstoß, etwas zu tun, nicht von einem bewußten Vorsatz kommt, sondern aus den ›Abgründen‹ des limbischen Systems. Aus bewußter Handlungsplanung folgt noch nicht automatisch eine Handlung. Es nimmt sich z. B. jemand vor, aus Gewichtsgründen weniger zu essen und erliegt trotzdem häufigen Verlockungen der Speisen. Auf eine bewußte Handlungsplanung, für die ein Zentrum im präfrontalen Cortex zuständig ist, nimmt das limbische System Einfluß, und zwar durch sein Bewertungssystem und das Gedächtnis. 66 Aus den Untersuchungen der Emotionen ergibt sich zusammenfassend: Emotionen vermitteln Wissen, Emotionswissen ist ein vom Wahrnehmungswissen verschiedenes, das ein Wahrnehmungswissen über einen Gegenstand ergänzt und dieses bewertet. Emotionswissen ist kein beliebiges Konstrukt, sondern ihm liegen Umweltreize zugrunde. Emotionen informieren über die Umwelt und nehmen Einfluß auf Handeln und Verhalten. Im späteren Kapitel wird der Frage nachgegangen, ob sich aus den Einflüssen der Emotionen eine Ethik herleiten läßt, d. h. Kriterien für ein Handeln und Verhalten sichtbar gemacht werden können, die Geltung beanspruchen.
Roth, 1997, S. 305 ff., setzt sich ausführlich mit dem Willensakt und den zuständigen Hirnprozessen auseinander; in einer schematischen Skizze erläutert er das Zusammenwirken des limbischen Systems mit dem sensorischen und dem motorischen System des Gehirns; vgl. auch Pöppel, 1989, S. 24 f., zu den Einflüssen der Emotionen auf Gedächtnis und Lernen; vgl. Spitzer, 2000.
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IX. Reflexionswissen und Zugrundeliegendes a.
Reflexion: eine Art des Wissens
Aus historischer Sicht wurden mit dem Begriff Reflexion bis in die Gegenwart hinein zwei unterschiedliche Inhalte verbunden: Einmal ist es ein Rückgang auf die menschliche Geistestätigkeit hinsichtlich einer gesicherten Erkenntnis, und das anderemal ist es die nachdenkende Betrachtung eines Erfahrungsgegenstandes. Im ersten Sinn zeigt ein Rückgang auf die menschliche Geistestätigkeit sehr unterschiedliche Ausprägungen einer Selbstvergewisserung der Erkenntnis: Es ist eine logische Geistestätigkeit bei Leibniz, eine transzendentale bei Kant, eine absolute bei Fichte und eine empirische bei Jacobi (Zahn, Bd. 8, S. 396–405). Sowohl Kant wie auch Fichte bezogen Reflexion auf ein Wissen überhaupt, ohne eine Unterscheidung unterschiedlicher Arten zu machen. Kant wollte durch Reflexion, die er Überlegung nannte, die subjektiven Bedingungen der Begriffsbildung ausfindig machen (KrdrV B 317). Insofern kann es bei ihm ein Wissen unabhängig von Reflexion nicht geben. Fichte bezeichnet mit Reflexion eine Tätigkeit des absoluten Ich, eine auf sich selbst zurückgehende und sich selbst bestimmende Tätigkeit des Ich (Fichte, 1965, S. 407). Sie ist aber auch die Tätigkeit, die das im Ich Verbundene trennt und in eine Form des Wissens aufnimmt (ebd., S. 142). Reflexion ist so das »für sich Seyn des Wissens« (Fichte, 1983, S. 158). Bei Kant wie bei Fichte bezieht sich das Subjekt objektivierend auf sich selbst, um die Bedingungen des Wissens zu erforschen. In seiner Bezogenheit auf das Subjekt meint Reflexion eine Untersuchung des Wissens überhaupt, ohne verschiedene Arten des Wissens zu unterscheiden. Bei der Reflexion bezogen auf den Erfahrungsgegenstand geht es um ein forschendes Wissen über diesen. Sie wird verstanden als eine Quelle des Wissens aus geistiger Tätigkeit, das von einem Wissen aus sinnlicher Tätigkeit unterschieden wird. Eine solche Unterscheidung in der Erkenntnis des Seienden zeigt sich bei Aristoteles, die er aus den verschiedenen Seelenvermögen des Menschen erklärt: Es gibt eine Erkenntnis aus sinnlicher Wahrnehmung und eine aus Denken und Überlegen, die er ausdrücklich voneinander trennt (Von der Seele, 414 a 24 und 426 b 30 – 427 a 23). Daß diese Unterscheidung nicht mehr sinnvoll ist, hatte sich bereits in dem Hervorbringen eines Wahrnehmungswissens gezeigt, das sich nicht nur auf eine Ak98
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tivität der Sinnesorgane beschränkt, sondern geistige Aktivitäten einschließt. Locke, der ebenfalls eine Trennung zwischen einem Wissen aus der »sensation« und einem aus der »reflection« beschreibt, rechnete beide Arten des Wissens zur Wahrnehmung: sensation zu einem aus äußerer, sinnlicher Wahrnehmung und reflection zu einem aus innerer Wahrnehmung, der Tätigkeiten unseres Geistes, wobei er Wahrnehmung anders definiert (Locke 1981 II, 1 § 4). Auch hier werden wie bei Aristoteles die sinnliche Tätigkeit und die des Geistes getrennt. Bei Hegel wird etwas Neues sichtbar: Es geht nicht nur um ein Wissen aus Anschauung, unterschieden von einem aus Reflexion, sondern er hebt auch eigentümliche Besonderheiten der beiden Arten des Wissens hervor: Die Anschauung habe das Ganze des Gegenstandes vor sich, die Reflexion fasse dagegen verschiedene Seiten auf, erkenne Mannigfaltigkeit, dabei aber nicht deren Einheit, die das Ganze festhält wie die Anschauung (Hegel, 1928, Bd. 15, S. 39). Dieses Merkmal einer Reflexion wird in der späteren Betrachtung der Wissenschaften noch eine Rolle spielen. Gegenwärtige Entwicklungen der Erkenntnistheorien zeigen eine Beibehaltung der Unterscheidung zwischen Wahrnehmungswissen und Reflexionswissen, so bei dem Realisten Strawson, bei den Phänomenalisten wie Merleau-Ponty und Schmitz und bei Konstruktivisten wie Glasersfeld. Letzterer spricht von einer Reflexion der Erfahrung als Operationen des Geistes; er erläutert deren Abstrahierung und Verallgemeinerung durch zwei Merkmale: empirisch wiederkehrende Vorkommnisse und eine konstruktive Herausbildung von Erfahrungselementen (s. Abschn. III c). Berücksicht man, daß sich Erfahrung auf Wahrnehmungswissen stützt, dann wird hier nicht nur eine Unterscheidung des Wahrnehmungswissens von einem Reflexionswissen deutlich, sondern in dem Konstruktionsprozeß auch eine Gegenüberstellung von Einzelnem aus dem Wahrnehmungswissen und Allgemeinem aus der Reflexion. 67 Habermas erweitert dieses Verständnis von Reflexion; er befreit das Subjekt aus seiner Vereinzelung und verweist auf den Austausch mit dem andeAuch Schmitz, 1978, S. 62, 227, setzt sich mit dem Phänomen Wahrnehmung auseinander; Unterscheidungen der beiden Arten des Wissens finden sich auch bei MerleauPonty, 1965, S. 44; bei den Konstruktivisten: Maturana, 1982, S. 54; Janich, 1996, S. 172; Glasersfeld, 1996, S. 153.
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ren; »an die Stelle dieser vorsprachlich-einsamen Reflexion tritt die ins kommunikative Handeln eingebaute Schichtung von Diskurs und Handeln.« (Habermas, 1985, S. 375). Reflexionswissen verweist hier auf eine veränderte Begründungsstruktur, auf die es in diesem Zusammenhang aber nicht ankommt. Klar wird in den Entwürfen zur Reflexion, daß eine Unterscheidung von Einzelnem aus der Erfahrung und Allgemeinem aus der Abstrahierung auf eine gemeinsame Grundlage des Wahrnehmungswissens zurückgehen. Reflexion ohne ein vorausgesetztes Wahrnehmungswissen ist undenkbar, wobei selbst solche Begriffe wie Ideen leer blieben, wenn sie nichts an Wahrnehmungswissen enthielten. Auf der Grundlage dieser Überlegungen wird Reflexion beschrieben als nachdenkende Betrachtung eines Gegenstandes aus der Wahrnehmung. Einbezogen in die Betrachtung sind Emotionen, da sie mit Wahrnehmungen verbunden sind, und Reflexionen, weil sie sich auf Wahrnehmungswissen stützen. Ähnlich wie Wahrnehmungs- und Emotionswissen läßt sich Reflexionswissen als die dritte eigenständige Art des Wissens aus den Neurowissenschaften nachweisen. Informationsverarbeitung setzt eine geeignete Verknüpfung der einzelnen Großhirnbereiche voraus. Kandel verweist auf Experimente, die mit Hilfe besonderer Techniken die Hirnbereiche sichtbar machen, die an der Erkennung geschriebener und gesprochener Wörter beteiligt sind. Lesen und Hören, Sprechen und Denken eines Wortes aktivieren jeweils nach Lage und Umfang unterschiedliche Bereiche. Aus Abbildungen nach der PET-Methode (Positronen-Emissions-Tomographie) 68 treten vier Hirnbereiche deutlich sichtbar hervor, die durch die vier Tätigkeiten Sehen, Hören, Sprechen und Denken eines Wortes aktiviert werden. Kandel berichtet, daß das Lesen eines einzelnen Wortes eine Aktivität im primären visuellen Cortex hervorruft; das Hören aktiviert eine völlig andere Gruppe von Arealen; das Artikulieren eines Wortes aktiviert zusätzlich das motorische Sprachzentrum; Denkvorgänge wie das Analysieren der Bedeutung eines Wortes aktivieren den frontalen Cortex. Hierzu waren die Versuchspersonen aufgefordert Das Verfahren mißt Veränderungen des regionalen Blutflusses im Gehirn als Funktion kognitiver Prozesse. Es gibt inzwischen modernere Verfahren wie z. B. die Magnetresonanz-Tomographie; sie beruht auf der Anwendung von Radiofrequenzsignalen und Magnetfeldern, die bei einer vorausgegangenen Denkleistung Änderungen im Hirngewebe sichtbar machen; vgl. Frahm, S. 55 ff.
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worden, auf das Wort »Gehirn« mit einem passenden Verb zu antworten. Die Suche nach diesem Wort hat weder etwas zu tun mit Wahrnehmung noch mit Emotion, sondern mit einer nachdenkenden Betrachtung des Wortes »Gehirn« und darüber, was es vermittelt. Auffallend groß und deutlich unterschieden ist der während des Denkens aktivierte Bereich im frontalen Cortex (Kandel, S. 17, Abb. 1.9 A–D). 69 Es sind nicht nur unterschiedliche Gehirnorte, sondern auch neuronale Prozesse, durch die ein Wissen aus Reflexion unterscheidbar wird von einem Wissen aus Wahrnehmung bzw. Emotion. Kandel erläutert am Beispiel der visuellen Wahrnehmung die Abstraktionsfähigkeit auf einer jeweils höheren Stufe der neuronalen Verschaltungen (Kandel, 1995, S. 444). Köck weist darauf hin, daß das Nervensystem eine Zusammenschaltung organismischer Teilsysteme und dadurch einen Prozeß der Bildung übergeordneter Klassen von Klassen von Interaktionen und damit »die interne Kurzschließung von ursprünglich umweltbedingten und umweltabhängigen Interaktionen: ›Bewußtsein‹ bzw. ›Denken‹ ermögliche (Köck, 1987, S. 364). Denken ist hier mit Reflexion gleichzusetzen. Reflexionswissen wird auch neurologisch unterscheidbar. Die Einteilung in die drei Arten des Wissens ist selbst das Ergebnis einer Reflexion. In der Begründung der Einteilung handelt es sich aber um keinen Zirkel, weil sie sich auf ein Wahrnehmungswissen aus den neurowissenschaftlichen Experimenten stützt, das als Bestätigungsinstanz keiner Theorie bedarf. Die Unterscheidung der Wissensarten mit Hilfe der Ergebnisse aus den Neurowissenschaften erklärt nicht das Wissen, sondern nennt seine notwendigen Bedingungen. Eine eingehendere Behandlung dieser Frage erfolgt im XI. Kapitel. Reflexionswissen bedarf immer der Sprache. Sie ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für ein Reflexionswissen. Sprache fördert zwar geistige Leistungen, begriffliches Denken und Abstraktion 70 , sie läßt aber keine Unterscheidung zwischen Wahrnehmungs- und Reflexionswissen zu, weil sie in beiden Arten des Wissens vorkommt: Im Wahrnehmungswissen wird sie nicht
Vgl. auch Roth, 1997, S. 224. Maturana, 1987, S. 300, meint, Sprache sei die Möglichkeit zur Reflexion; die Bedeutung der Sprache behandeln Roth, 1997, S. 77, und Kandel, 1995, S. 649.
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zwingend, aber normalerweise verwendet, im Reflexionswissen dagegen immer. b.
Reflexion des Wissens
Reflexion ist eine geistige Tätigkeit, die nicht immer dem Willen unterliegt, sondern häufig unabhängig von einem Willensakt stattfindet. Man beobachtet z. B., daß einem Gedanken im Kopf herumgehen und man an etwas denkt, obgleich man es nicht will; man möchte manchmal etwas denken und findet nach kurzer Zeit, daß die Gedanken anderen, unbeabsichtigten Wegen folgen. Reflexion ist nicht immer vom Willen beherrschbar. Sie ereignet sich wie Atmen oder Fühlen. Willentlich dagegen kann sie aus vielerlei Motiven entstehen wie z. B. aus Neugierde, um Zusammenhänge herauszufinden; aus Ungewißheit über dasjenige, was man tun soll; aus Motiven der Selbsterhaltung in Not und Gefahr, ähnlich wie es sich bei den Wahrnehmungen und Emotionen zeigte. Reflexion setzt ein Vorwissen voraus. Bei der Reflexion im Sinne der Rückbeugung auf die Geistestätigkeit hinsichtlich einer Gewißheit der Erkenntnis ist es das Wissen, über das Gewißheit erlangt werden soll. Und bei der Reflexion im Sinne einer nachdenkenden Betrachtung ist es ein Wissen, das betrachtet wird. In dem oben erwähnten PET-Bild tritt als Vorwissen das Wort Gehirn auf; die Reflexion befaßt sich mit dem dazu passenden Verb. Zum Vorwissen kann das aus allen drei Arten gehören. Die Naturwissenschaft betrachtet Wahrnehmungswissen; die Psychatrie befaßt sich u. a. mit den Emotionen; Reflexion kann aber auch das Reflexionswissen selbst zum Gegenstand der Betrachtung machen, wie es z. B. in der Wissenschaftstheorie geschieht. Reflexion bedarf des Bewußtseins. 71 Während ein Wissen aus der Wahrnehmung und aus den Emotionen unmittelbar präsent ist, distanziert sich ein Subjekt durch eine Reflexion von dem Vorwissen. Erst eine Distanzierung ermöglicht eine Befragung des Gegenstandes aus dem Vorwissen bzw. dessen Betrachtung unter bestimmten Hinsichten. Aus einer Reflexion kann das Wissen von einem Einzelnen hervorgehen, wie z. B. bei Dörner, 2000, S. 147 ff., beschreibt eine Beziehung zwischen Reflexion und Bewußtsein; er nennt es die Fähigkeit eines Systems, seine eigenen inneren Abläufe zu betrachten und zu bewerten.
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der Frage nach den Ursachen eines bestimmten Ereignisses; oder Reflexion abstrahiert von dem einzelnen Gegenstand insofern, als sie nach allgemein gültigen Aussagen fragt, die auf diesen Gegenstand zutreffen, wann und wo er auch immer wiederholt auftritt. Beide Betrachtungen fragen nach Erklärungen und nach Beziehungen zu anderen Wahrnehmungsgegenständen; dabei kann es ein Ziel sein, Wahrnehmungswissen zusammenzuordnen, zu zerlegen, zu präparieren, Zwecken zu unterworfen oder einzelnes auf seine Wiederholbarkeit in der Wahrnehmung zu prüfen. Die Reflexion bringt der Wahrnehmung unzugängliche Erkenntnisse hervor, deren Ergebnisse sich in Begriffen, Aussagen und Theorien oder in einer Geschichte, die erzählt wird, zeigen. Eine systematische Art der Reflexion nach bestimmten Kriterien findet sich in den Wissenschaften, deren wichtigstes Kriterium eine Begründung des Wissens verlangt, ob empirisch oder unter Verweis auf anderes Wissen wie in den Geisteswissenschaften 72 ; eine Begründung stützt sich immer auf ein Allgemeines aus der Wahrnehmung, auch in den Geisteswissenschaften. 73 Ähnlich wie bei der Reflexion eines Wissens aus der Wahrnehmung verhält es sich mit einer Reflexion eines Wissens aus Emotionen. Das Vorwissen umfaßt Gefühle wie z. B. Angst. Eine Reflexion kann Angst im Zusammenhang mit bestimmten Ereignissen erschließen; ein Vorwissen kann aus emotionalen Reaktionen bestehen, die durch eine Reflexion erklärt werden; Reflexion kann auch zu einer kritischen Betrachtung von emotional ausgelöstem Verhalten oder Handlungen veranlassen. Sie ermöglicht, z. B. einer emotionalen Bewertung und ihren Einflüssen auf ein Handeln nicht blindlings zu folgen, sondern dieses Wissen selbst zu befragen. Wer z. B. so starke Flugangst hat, daß er jeden Flug vermeiden möchte, kann durch Überlegungen hinsichtlich der Ursachen dieser Angst und durch eine Abschätzung der mit dem Flug verbundenen Gefahren besser mit ihr umgehen und vielleicht doch einen Flug wagen. Anstatt Emotionen aus dem Wissen zu verbannen, wie es in einer objektivistisch geprägten Naturwissenschaft geschieht, ist ihre EinAnstelle des Begriffs der Geisteswissenschaften findet sich heute oft der Begriff Kulturwissenschaften, entstanden aus einer Erweiterung der ursprünglichen Geisteswissenschaften um neue Bereiche wie Politische Ökonomie, Politikwissenschaft und Soziologie. 73 Hübner, 1978, S. 308 ff., beschreibt den Charakter des Allgemeinen zur Erklärung des Einzelnen sowohl in den Natur- wie in den Geisteswissenschaften. 72
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beziehung verbunden mit ihrer Reflexion einer Erkenntnis angemessener. 74 Reflexionswissen kann selbst zum Gegenstand einer Reflexion werden, um z. B. ihre Ergebnisse in größere Zusammenhänge einzuordnen oder um nach einer gemeinsamen Erklärung zu suchen wie z. B. über Himmelskörperbewegungen und über Massenanziehung. Es können aber auch umgekehrt zwei allgemeine Aussagen aus Gründen ihrer Unvereinbarkeit zu Reflexionen führen, die nach ihrer Verträglichkeit miteinander suchen, wie z. B. in der Quantenphysik die Diskrepanz zwischen der empirischen Unbestimmtheit eines Quantenzustands und einer empirisch strukturierten, wahrgenommenen Wirklichkeit. Wird nicht ein einzelner Gegenstand aus der Wahrnehmung oder Emotion betrachtet, sondern von diesen abstrahiert und nach der Möglichkeit von wissenschaftlichem Wissen überhaupt gefragt, handelt es sich um eine Reflexion eines Reflexionswissens. Reflexion wirkt hier wie ein Filtervorgang, in dem das Einzelne der jeweils niedrigeren Abstrahierungsstufe zugunsten eines höheren Allgemeinen herausgefiltert wird. Eine Reflexion eines Reflexionswissens, die nach dessen Rechtfertigung überhaupt fragt, findet sich in der Wissenschaftstheorie: Wenn man von dem Wissen einer bestimmten historischen Situation abstrahierend fragt, wie man Geschichte wissen kann und wie dieses Wissen gerechtfertigt werden kann, entstehen aus solchen Reflexionen erkenntnistheoretische Überlegungen zu einer Geschichtswissenschaft. Hierher gehören auch Fragen, die entstehen, wenn Denken sich selbst zum Gegenstand des Denkens macht und nach seinen Gesetzmäßigkeiten fragt. c.
Zugrundeliegendes des Reflexionswissens
Reflexionswissen bezieht sich auf ein Vorwissen. Sofern dieses ein Wahrnehmungswissen oder ein Emotionswissen ist, geht deren Zugrundeliegendes in das Reflexionswissen ein wie z. B. in den Naturwissenschaften, deren empirische Rechtfertigung von einem Zugrundeliegenden mitbestimmt wird; ebenso auch in den Geistes-
Zu einer Kritik an einer Naturwissenschaft, die das Subjektive der Emotionen aus ihrem Erkenntnisideal ausschließt, vgl. Schrödinger, 1989, S. 96 u. Kather S. 266 ff.
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wissenschaften, deren Aussagen sich auf Quellen berufen, deren Wahrnehmungswissen auf ein Zugrundeliegendes verweist. Ist aber in jedem Reflexionswissen der Einfluß aus einem Zugrundeliegenden vorhanden? Eine für jede Reflexion erforderliche Sprache verweist darauf. Reflexionswissen kann im Unterschied zum Wahrnehmungswissen nicht auf Sprache verzichten. Wie anders sollte man sich aber eine Verständigungsmöglichkeit und eine Konstanz einer Sprache und Begriffsbildung vorstellen können, wenn nicht auf eine für alle Sprachteilnehmer gemeinsame Instanz verwiesen werden könnte, die im Erlernen einer Sprache eine Rolle spielt; bei dieser Instanz handelt es sich um ein Wahrnehmungswissen. Daß Sprache aus neurowissenschaftlicher Perspektive gesehen die verschiedenen sensorischen Bereiche des Gehirns aktiviert, darauf wurde im vorigen Abschnitt hingewiesen. Auf eine davon unterschiedene Zuordnung von Bedeutungen zu Wörtern versuchen Sprachtheorien zu erklären, von denen keine auf Wahrnehmungsbzw. Emotionswissen wissen verzichten kann. Deutlich wird ein Einfluß der Wahrnehmungen aus den Überlegungen zu einer Begriffsbildung. Begriffe bedürfen einer Anschauung, um einen Inhalt vermitteln zu können. Einleuchtend zeigt Kant in seiner Herleitung der synthetischen Urteile a priori diese notwendige Verknüpfung eines Begriffes mit der Anschauung; andernfalls würde der Begriff leer bleiben. Anschauung ist dabei der Teil, der nicht aus dem Begriff analytisch hergeleitet werden kann, sondern der aus der Sinnlichkeit – der Fähigkeit, Vorstellungen von den Gegenständen zu bekommen – hinzukommen muß (KrdrV B16–17). Das, was Kant Sinnlichkeit nannte, ist in dem hier verwendeten Begriff des Wahrnehmungswissens enthalten. 75 Nicht anders kommt es in Theorien der analytischen Sprachphilosophie und des kritischen Rationalismus zum Ausdruck, die Sprache als Erkenntnisinstanz bestimmen, dabei aber nicht auf einen Erfahrungsanteil verzichten können (Stegmüller, S. 15 ff.). Ähnlich läßt sich für ein Zugrundeliegendes aus den EmoDer in dieser Arbeit auf die Neurowissenschaften gestützte Begriff der Wahrnehmung macht keine Unterscheidung zwischen Erfahrung und Anschauung erforderlich, weil ein Wissen aus beiden Begriffen auf Wahrgenommenes zurückgeht, um das es hier geht; vgl. auch Patzig, 2000, S. 13: Er meint, daß man bei der Begriffsbildung nicht auf die Kenntnis von Erfahrungsgegenständen angewiesen sei, wie folgendes Bespiel eines Begriffes zeige: Die durchschnittliche Familie hat 1,8 Kinder. Es bedarf aber auch für diesen Begriff einer Wahrnehmungsgrundlage, nämlich derjenigen, die der Ausdruck 1,8 vermittelt.
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tionen zeigen, wie dieses über die Sprache in ein Reflexionswissen eingeht. Überlegungen über eine Angst z. B. machen nur Sinn, wenn man mit dem Begriff Angst die entsprechende Empfindung verbinden kann. Aus dem Sprachargument folgt, daß ein Zugrundeliegendes aus dem Wahrnehmungs- bzw. dem Emotionswissen in das Reflexionswissen eingeht und Einfluß ausübt. Gelten der Einfluß aus einem Vorwissen aus der Wahrnehmung bzw. der Emotion auch für Begriffe der Mathematik, der Logik oder der Philosophie, wo empirische Erfahrung ausgeschlossen wird, um die notwendige Geltung einer Aussage zu rechtfertigen? Nimmt man aus der Mathematik den Begriff der Geraden, ist dieser frei von Wahrnehmung? Geht man davon aus, daß die Gerade definiert wird als die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten, dann finden sich in ihr die Begriffe kurz, Verbindung und Punkt. In dem Begriff kurz steckt aber Wahrgenommenes: Was sollte man sich unter kurz vorstellen, wenn man nicht aus einem Vergleich von zwei Gegenständen durch Hinsehen bzw. aus dem Gedächtnis einen Ausdehnungsunterschied vor Augen hätte und dadurch den einen als den kürzeren im Vergleich zum anderen sehen oder erinnern könnte. Auch der Begriff der Geraden enthält Wahrnehmungswissen zu seiner Rechtfertigung. Ähnliches gilt für eine Zahl. Wie sollte man sie inhaltlich verstehen können, wenn nicht eine bestimmte Erfahrung mit ihr verbunden wäre. Ein Begriff muß aber, um für eine Erfahrung tauglich zu sein, selbst einen aus der Wahrnehmung stammenden Gehalt haben. 76 Wo aber auf Wahrnehmung verwiesen wird, ist deren Zugrundeliegendes einbezogen. Ähnliche Überlegungen lassen sich für einen philosophischen Begriff wie z. B. den der Vernunft anstellen. Seine unterschiedlichen Bestimmungen wie Einsicht, Denkkraft, Klugheit (Aristoteles), Gesetzmäßigkeiten der Natur (Stoa), Prinzipien der Erkenntnis (Kant) oder Weltprinzip (Hegel) werden von ihren Autoren sprachlich erläutert, interpretiert, kritisiert und angewendet; über eine sprachliche Beschreibung enthält auch er Wahrnehmungswissen.
Vgl. zu den Problemen der Begriffsbildung Stegmüller, 1970, S. 15 ff.: Er erläutert den Erfahrungsgehalt in der wissenschaftlichen Begriffsbildung.
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d.
Das Eigentümliche des Reflexionswissens
Eine Unterscheidung zwischen Wahrnehmungs- und Reflexionswissen ergibt sich nicht nur aus den Hirnprozessen, sondern auch aus der Eigentümlichkeit des Gewußten. Ein bekanntes Beispiel findet sich in Augustins Confessiones, wo es heißt: »Quid est ergo tempus? Si nemo ex me quaerat, scio; si quaerenti explicare velim, nescio. 77 Das Zitat zeigt nicht nur die zwei Möglichkeiten des Wissens, nämlich das der unreflektierten Wahrnehmung und das andere als Ergebnis einer Frage, die zur Reflexion veranlaßt, sondern auch, daß ein Wissen aus der Wahrnehmung nicht so einfach durch Reflexion mit Hilfe von Begriffen zu erfassen ist. Daß Begriffe nicht all das zum Ausdruck bringen können, was die Wahrnehmung präsentiert, ist dasjenige, was Augustins Nichtwissen ausmacht. Wie ein Begriff beschaffen sein muß, um eine Erklärung leisten zu können, und woher man überhaupt wissen kann, daß diese und jene Begriffe und Aussagen das Wahrnehmungswissen erklären können, ist von der Wissenschaftstheorie immer wieder untersucht worden. 78 Das aus der Wahrnehmung Gewußte und das aus der Reflexion Gewußte zeigen sich als Verschiedenes, wobei sich Reflexionswissen auf Wahrnehmungswissen stützt. Wissen aus der Wahrnehmung präsentiert den Gegenstand in einer Vielfalt im Unterschied zu einem Wissen aus der Reflexion, das aus bestimmten Hinsichten auf den Gegenstand hervorgeht. Der Wahrnehmungsgegenstand wird vorausgesetzt. Eine Frage wie »Hast du den Stern gesehen?« reflektiert dessen Existenz. Sie ist Voraussetzung zu weiteren Reflexionen über ihn und wird durch ein Hinsehen geklärt werden können. Andere Fragen sind dagegen nicht durch die Wahrnehmung allein zu klären, wie z. B. »Wie weit ist der Stern entfernt?« Antworten auf solche Fragen gehen über ein Wahrnehmungswissen hinaus; ihre Beantwortung erfordert eine Beziehung zu anderen Wahrnehmungen wie z. B. zu einem Entfernungsmaßstab; dieser mag aus einem Vergleich mit einer anderen
Augustinus, Confessiones, XI. Buch, 14, 17, S. 628 f.: Was ist also Zeit; wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich einem Fragenden es erklären, weiß ich es nicht. 78 Deppert, 1981, untersucht die metaphysischen Annahmen der wissenschaftstheoretischen Entwürfe des logischen Positivismus, des kritischen Rationalismus und des Konstruktivismus. 77
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Entfernung entnommen werden. Die Herstellung solcher Beziehungen ist eine Leistung, die über die Wahrnehmung hinausgeht. Reflexionswissen ist nicht nur durch die Hinsicht gekennzeichnet, unter der ein Wahrnehmungsgegenstand reflektiert wird, sondern auch durch den verwendeten Erklärungszusammenhang. Dieser könnte auch als Weltbild bezeichnet werden, aus dem ein Allgemeines zur Erklärung des Wahrnehmungswissens herausgebildet wird. 79 So ein Erklärungszusammenhang kann aus rationalen Begriffen wie in der Naturwissenschaft bestehen; auf die Besonderheiten dieser Art der Erklärung wird im Kapitel XII über wissenschaftliches Wissen eingegangen. Einen anderen Erklärungszusammenhang kann die Kunst bilden. Ein frühes Beispiel dafür ist die Poetik des Aristoteles, in der er ein Allgemeines der Dichtkunst beschreibt, das Ereignisse deutet (Aristoteles, 1983, 1448 a 27 ff.). Die Dichtkunst soll die Wirklichkeit durch allgemeine Handlungen oder Charaktere so nachahmen, daß sie Einsicht in Tugenden oder schicksalhafte Begebenheiten vermitteln könne. Der von einer Poetik vermittelte allgemeine Charakter kann nicht nur Ereignisse deuten, sondern eröffnet eine erklärende Perspektive für Naturerfahrungen, die einer naturwissenschaftlichen Erklärung unzugänglich sind (Whitehead, 1984, S. 93–115, bes. 107). Auch Malerei deutet Wahrgenommenes und Emotionales aus dem Erleben der Menschen. Picassos Gemälde »Guernica« reflektiert eindringlich die Verzweiflung über das erlebte Kriegsgeschehen um den Ort Guernica aus dem Jahr 1937. Picassos Hinsicht verkörpert Schrecken, Ohnmacht und Entsetzen aus dem Erlebten, die im Betrachter Emotionen wecken. Ein Künstler nutzt bisweilen Symbole und Metaphern, um das Denken in eine bestimmte Richtung zu lenken. Danto erläutert am Beispiel der Pop-art, wie Kunstwerke Werte repräsentieren, die Menschen etwas bedeuten, und nennt z. B. Wärme, Nahrung, Ordnung und Zuverlässigkeit. Kunstwerke sind für ihn symbolische Ausdrucksformen, weil sie ihre Bedeutung verkörpern 80 . Die Beispiele zeigen, wie aus bestimmten Hinsichten durch Cassirer, 1987, beschreibt die Abhängigkeit dessen, was man weiß, von symbolischen Formen des Wissens: Mathematik, Sprache, Kunst und Religion sind jeweils nur mögliche Formen der Erkenntnis; so auch die Wissenschaft. 80 Danto, 1996, S. 56: Er hat über die Pop-art aus den 60er Jahren geschrieben: »Kunstwerke übernehmen die Deutung von Erscheinungen des täglichen Lebens. Die aufgestapelten Suppendosen von Cambell veranschaulichen urmenschliche Werte wie Wärme, Nahrung, Ordnung und Zuverlässigkeit. 79
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die Reflexionen ein Allgemeines in der Poetik als Charakter, in der Malerei als Gefühle und Werte ausgedrückt wird. Ein anderer Erklärungszusammenhang ist eine Religion. Eine Erklärung der Wahrnehmungen aus Mythen besaß für die Menschen im Altertum eine ähnliche Erklärungskraft wie für uns eine Erklärung aus Begriffen. Hübner zeigt am Beispiel des Denk- und Erfahrungssystems des griechischen Mythos, daß unser auf Begriffsbildung gestütztes wissenschaftliches Erklärungssystem weder rationaler noch vernünftiger genannt werden kann als die Erklärungen, die mythische Göttergeschichten geben (Hübner, 1985, S. 287 ff.). Religionen der Gegenwart bilden für viele Gläubige eine Grundlage der Erklärung und Ausgestaltung von Recht und Staat ebenso wie für Handeln und Verhalten. Es finden sich auch unterschiedliche Erklärungszusammenhänge miteinander verbunden: Sowohl Descartes als auch Leibniz haben z. B. göttliche Allmacht mit rationalen Begriffen zu einem System zusammengefügt. Einstein, der keinen Beweis für den Entwurf seiner Änderung der Raum-Zeitstruktur in der Relativitätstheorie vorlegen konnte, begründete sie theologisch: »Ich glaube an Spinozas Gott, der sich in der gesetzlichen Harmonie des Seienden offenbart.«(Hoffmann, S. 114). Bei Vico findet sich eine Verbindung physikalischer Begriffe mit der Dichtkunst: Er berichtet aus seinen sprachlichen Untersuchungen, daß die Physik bloße Namen definiere, die eine Poetik zur Vermittlung des Wahrscheinlichen verwendete (Vico, 1990, S. 391 ff. u. 1979, S. 43). Es gibt Beispiele, in denen ein gleicher Wahrnehmungsgegenstand aus unterschiedlichen Zusammenhängen erklärt wird, z. B. wird der Rhein musikalisch in vielerlei Liedern beschrieben, eine religiöse bzw. mythische Erklärung findet sich bei Hölderlin, und schließlich eine naturwissenschaftliche Erklärung bei Geologen. Reflektiert ist in allen Erklärungszusammenhängen der gleiche Wahrnehmungsgegenstand, dem etwas zugrunde liegt, das über die Wahrnehmung in die unterschiedlichen Erklärungszusammenhänge einfließt und diese mit prägt. e.
Reflexion und Abstraktion
Dort, wo Reflexionswissen nach allgemeinen Erklärungen sucht, abstrahiert es vom Einzelnen aus dem Wahrnehmungswissen. Die einA
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fachste Art der Abstraktion tritt auf, wo Wahrnehmungsgegenstände unter einem Begriff zusammengeordnet werden. Ein Wahrnehmungsgegenstand ist ein Einzelnes, das aus einem Wahrnehmungsprozeß hervorgeht und einen unmittelbaren, gegenwärtigen Gegenstand, der räumlich und zeitlich bestimmt auftritt, präsentiert; er kann entweder wiederholt hervorgebracht werden oder tritt in einzelnen Exemplaren auf. Eine Benennung der einzelnen Wahrnehmungsgegenstände mit einem sprachlichen Ausdruck ist eine erste Zusammenordnung der Einzelnen unter ein sprachliches Allgemeines. Der Vorgang der Zuordnung des Einzelnen unter einen allgemeinen Begriff geschieht unter Auswahl bestimmter Merkmale. Von allem übrigen aus dem Wahrnehmungswissen des Gegenstandes wird abstrahiert. Heisenberg beschreibt den Vorgang so: »Abstraktion bezeichnet die Möglichkeit, einen Gegenstand oder eine Gruppe von Gegenständen unter einem Gesichtspunktspunkt unter Absehung aller anderen Gegenstandseigenschaften zu betrachten […]. Da völlige Gleichheit aber in den Erscheinungen praktisch nie vorkommt, entsteht die Gleichartigkeit nur durch den Vorgang der Abstraktion, durch das Herausheben eines Merkmals unter Weglassung aller anderen« (Heisenberg, 1984/85, S. 303 f.). Die Abstraktion erlaubt, zu einer Bestimmung und damit zur einer Erklärung eines Einzelnen durch dessen Zuordnung zu einem Allgemeinen ebenso beizutragen wie Voraussagen zu machen. Die Abstraktion ermöglicht, aus bestimmten Hinsichten Zusammenhänge zwischen unterschiedlichem Allgemeinen herzustellen, darüber Aussagen zu entwerfen und Theorien durch Verknüpfung von Aussagen zu formulieren. Durch eine Abstraktion entstehen zwei Probleme, die in Heisenbergs Zitat anklingen: Es ist erstens die mit der Hervorhebung eines Merkmals verknüpfte Weglassung aller anderen Merkmale aus dem Wahrnehmungswissen. Wenn man den Begriff »Rabe« z. B. durch das Merkmal schwarz festlegt, spielt es keine Rolle, ob er jung oder alt, krank oder gesund, männlichen oder weiblichen Geschlechtes ist. Ein Allgemeines ist zwar in der Lage, ein Einzelnes mit anderem Einzelnen zusammenzuordnen; es ist aber nicht mehr in der Lage, ein Einzelnes in all seinen individuellen einmaligen Ausprägungen zu erfassen. Abstraktion bedeutet, das Einzelne in seiner Individualität zu vernachlässigen zugunsten gemeinsamer Merkmale mit anderen Einzelnen. Eine ähnliche Einengung eines Vorwissens tritt auf, wenn zwei 110
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Begriffe in einem Reflexionswissen verbunden werden wie z. B. in der Aussage: Das Totenkopfäffchen erzeugt piepende Laute. Hier werden zwei verschiedene Allgemeinbegriffe »Totenkopfäffchen« und »piepende Laute« miteinander verknüpft; andere Eigentümlichkeiten des Totenkopfäffchens und des Piepens, die in einem Wahrnehmungswissen unmittelbar präsent sind, werden weggelassen, wie z. B. das Alter und der Zustand des Äffchens, der Ausdruck der Angst, Lautstärke, Tonhöhe usw. Selbst wenn man versuchte, alle Eigenschaften des Wahrnehmungsgegenstandes zu berücksichtigen, liegt der Zweifel nahe, ob ein Wahrnehmungsgegenstand überhaupt durch eine endliche Anzahl von Hinsichten vollständig erfaßbar sein könnte, wie es sich z. B. Plancks idealer Geist vorstellt (Planck, 1958, S. 237 f.). 81 Ein anderes Problem der Abstraktion ist das der Festlegung der Begrifflichkeiten, unter denen Einzelnes geordnet werden soll. Einen Begriff so zu bestimmen, daß seine Geltung verbindlich und gewiß ist, verlangt weitere Begrifflichkeiten, verknüpft mit Wahrnehmungswissen, das aber wegen seiner subjektiven Perspektive vermieden werden sollte. Um dabei einem unendlichen Regreß zu entkommen, hat es in der Wissenschaftstheorie zahlreiche Entwürfe gegeben, wie die der Konstruktivisten, der logischen Empiristen und der kritischen Rationalisten. Es hat sich aber der subjektive Anteil aus der Wahrnehmung in einem Begriff und der aus der Sprache trotz vieler Bemühungen nicht auf eine ausschließlich objektive Bestimmung zurückdrängen lassen. Insofern bleibt die Begrifflichkeit aus der Reflexion eine Mischung aus objektiver Bestimmung und subjektiver Wahrnehmung. 82 Das dabei zutage tretende Problem ist, Hegel, 1968 b, S. 375, nennt als Kennzeichen einer Reflexionsphilosophie das Isolieren und Fixieren des Besonderen mittels starrer Verstandesbegriffe, durch welche nie der lebendige Zusammenhang des Ganzen oder das Übergehen des Einen in das Andere erfaßt wird; und an anderer Stelle (Hegel, 1928, S. 39) beschreibt er die Differenz zwischen Anschauung und Verstand: »Unsre Anschauung hat das Ganze des Gegenstandes vor sich, unsre Reflexion unterscheidet, faßt verschiedene Seiten auf, erkennt eine Mannigfaltigkeit in ihnen und entzweit. Bei diesen Unterschieden hält die Reflexion die Einheit derselben nicht fest, vergißt einmal das Ganze, das andere Mal die Unterschiede und wenn sie Beides vor sich hat, so trennt sie doch von dem Gegenstande die Eigenschaften und stellt Beides so, daß das, worin Beide Eins sind, ein Drittes wird, das von dem Gegenstande und den Eigenschaften verschieden ist.« 82 Merleau-Ponty, 1965, S. 44, nennt den Empirismus eine verarmte Wahrnehmung gegenüber dem sinnlichen Anblick, weil sich dessen Perspektiven und Assoziationen auf den inneren Charakter der Gegenstände stützten. 81
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daß sich Wahrnehmungswissen nicht auf Reflexionswissen reduzieren und daß sich eine rational herleitbare Gewißheit nicht erreichen läßt. Dieses Gewißheitsproblem hat aber dort seine Schärfe verloren, wo es auf der Suche nach wissenschaftlichen Problemlösungen weniger um eine wissenschaftstheoretische Gewißheit geht als mehr um die Fruchtbarkeit ihrer Forschungserfolge. Reflexionswissen bezogen auf ein Vorwissen aus der Wahrnehmung erfaßt nicht die Vielfalt der Wahrnehmung, kann aber Zusammenhänge erschließen, die der Wahrnehmung verschlossen sind. Beide Arten des Wissens als Ergebnis einer Kommunikation mit der Umwelt bleiben aufeinander bezogen, zeigen aber deutliche Unterschiede. 83 Die Differenz zwischen Wahrnehmungs- und Reflexionswissen kann bis zu einer Unvereinbarkeit miteinander reichen, wie das Dekohärenzproblem in der Physik zeigt: Das Reflexionswissen der Quantenphysik beschreibt die Wirklichkeit durch Quantenzustände, die empirisch unbestimmt sind; ein Wahrnehmungswissen zeigt dagegen eine strukturierte Wirklichkeit, so daß zwischen beiden unentschieden ist, ob die Wirklichkeit bestimmt oder unbestimmt ist (Giulini, 1996). Zur Überwindung der Dekohärenz der Wirklichkeitsbeschreibung sind mehrere Theorien entwickelt worden wie eine Mehrweltentheorie und ein Kollapsmodell, die beide zwar eine Erklärung leisten können, aber dabei von Annahmen ausgehen, die selber erklärungsbedürftig sind. Die Dekohärenz könnte dadurch lösbar werden, daß dem Reflexionswissen der Quantenzustände nicht allein die Beschreibung der Wirklichkeit überlassen wird, sondern man Hinweise zu zeigen versucht, warum unter den präparierten Untersuchungsbedingungen eine andere Wirklichkeitsbeschreibung entsteht als aus dem Wahrnehmungswissen.
Im Kap. XIII wird in einer Kritik wissenschaftlichen Wissens dessen Unterschied zu einem Wissen aus Wahrnehmung behandelt.
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Beziehungen zwischen den Arten des Wissens
X. Beziehungen zwischen den Arten des Wissens a.
Eigentümlichkeiten des Wissens und ihre Zuordnung zueinander
Aus unterschiedlichen Reizen der Umwelt, getrennten neuronalen Prozessen und aus einer Verarbeitung der Signale an verschiedenen Gehirnorten wurden drei Arten des Wissens hergeleitet. Es ist ein Wissen, das einerseits ihm Eigentümliches repräsentiert, anderseits untereinander verknüpft ist und von einem ihnen gemeinsam Zugrundeliegenden beeinflußt wird. Das dem jeweiligen Wissen Eigentümliche ist bei dem Wahrnehmungswissen die aus der Kommunikation des Subjektes mit der Umwelt hervorgehende Orientierung als unmittelbar präsentes Einzelnes, das vor allem seiner Selbsterhaltung dient; es vermittelt Vielfalt und Ganzheit seiner Gegenstände. Das dem Wissen aus Emotionen Eigentümliche ist die Bewertungsinstanz für ein Wahrnehmungswissen, die unverzichtbar für das Überleben ist; als das Eigentümliche des Reflexionswissens erwies sich, allgemein gültige Aussagen und Zusammenhänge von Aussagen über Wahrgenommenes und Emotionen herzustellen; es eröffnet Beziehungen zu anderem Wahrnehmungswissen, fördert gegenseitige Einflüsse zutage, erlaubt gezielte Zwecke zu verfolgen und kann Zusammenhänge aufdecken, die einem Wahrnehmungs- und Emotionswissen verborgen bleiben. Meyer-Abich hat diesen Zusammenhang – in Anlehnung an Kant – so ausgedrückt: »Vernunft ohne Sinnen- und Gefühlsgehalt ist leer, Sinne und Gefühle ohne Vernunft sind blind. Die Vernunft denkt Sinnen- und Gefühlsgegebenes, dieses ist ihr Inhalt; darin kann sie einseitig werden, wenn sie sich nur von verborgenen Gefühlen leiten läßt […]. Umgekehrt aber sind Sinne und Gefühle bei weitem nicht alles, denn sie müssen von der Vernunft ausgesetzt und bedacht werden.« (Meyer-Abich, S. 131). Obgleich Sinne, Gefühle und Denken als unterschiedliche und wichtige Quellen des Wissens hier betont werden, erhalten sie in MeyerAbichs Aussage noch keinen selbständigen Rang eines Wissens, auf den es aber ankommt, um die Verarbeitung der Reize aus differenzierten Quellen der Umwelt sichtbar werden zu lassen. Zur Geltung kommt aber in Meyer-Abichs Betrachtung die Zusammengehörigkeit von Wahrnehmung, Fühlen und Denken, um aus ihren Eigentümlichkeiten eine unbeschränkte Kenntnis über die Wirklichkeit zu ermöglichen. A
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Wahrnehmungs- und Emotionswissen können für sich allein auftreten; eine Beziehung zwischen ihnen ergibt sich, wenn eine Bewertung des Wahrnehmungswissens erfolgt. Ihre Beziehung zu einem Reflexionswissen erwies sich als dessen unverzichtbare Grundlage. Nur ein Reflexionswissen kann sich auf sich selbst beziehen. Wenn die Arten des Wissens in Beziehung zueinander treten, bleibt zu klären, wie sie miteinander verbunden sind und ob z. B. einer Art ein Vorrang vor einer anderen zukommt. Zwischen Wahrnehmungswissen und Reflexionswissen gibt es mehrere Möglichkeiten einer Beziehung wie als erstes die Vorstellung, daß Wahrnehmungswissen auf ein Reflexionswissen rückführbar ist. Da Reflexionswissen eines Wahrnehmungswissens bedarf und nicht umgekehrt, kann letzteres nicht auf ersteres zurückgeführt werden; diese Art der Beziehung ist ausgeschlossen. Eine zweite Möglichkeit wäre, daß es zwei verschiedene Beschreibungen eines gleichen Ereignisses sind. Dieser Auffassung ist Tye (Tye, 1999): Zwischen Wissen aus der Wahrnehmung, das er Erlebnis nennt, und dessen neurologischer Beschreibung gebe es keine Erklärungslücke. Das Wahrnehmungswissen, das zu einem »phänomenalen Begriff« führe, wie z. B. Schmerzen haben, bedürfe keiner Theorie über Schmerzen um festzustellen, ob man welche hat. Empfindung und Gehirnzustand seien zwei verschiedene Beschreibungen des gleichen Phänomens; ihre Beziehung zueinander ergebe sich aus einer empirischen Zuordnung: Ein bestimmter Gehirnzustand habe sich als der beste Kandidat zur Identifikation mit der Empfindung erwiesen. Eine Erklärungslücke zwischen beiden gebe es nicht. Aber stimmt das? Wahrnehmungswissen, wie z. B. eine Empfindung haben, ist ein unmittelbares; ein Wissen über den dazugehörigen neuronalen Prozeß ist ein Reflexionswissen. Woher weiß aber Tye, daß die gefundene neuronale Gesetzmäßigkeit keine Lücke läßt zum Wahrnehmungswissen? Erklärendes Wissen geht aus einem Wahrnehmungswissen dadurch hervor, daß ein bestimmter Aspekt ausgewählt und gegenüber dem verbleibenden Wahrnehmungswissen hervorgehoben wird. Insofern kommt im erklärenden Wissen immer nur der befragte Aspekt eines Wahrnehmungswissens zur Geltung. Wenn man nach einem anderen Aspekt fragt oder andere Begrifflichkeiten wählt, kann neues erklärendes Wissen entstehen. Nach einer Erklärungslücke zwischen Wahrnehmungs- und erklärendem Wissen zu fragen, macht keinen Sinn, weil nicht klar ist, woran eine Lükke gemessen werden sollte. Ein Wissen aus Wahrnehmung läßt ein 114
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Beziehungen zwischen den Arten des Wissens
fortschreitendes vielfältiges Erklärungswissen zu, ohne daß dessen Begrenzung absehbar wäre; das Gefühl des Schmerzes führt hier in diesem Beispiel zu einem erklärenden Wissen neuronaler Prozesse, die weiter untersucht werden könnten, ohne an ein Ende weiterer erklärender Erkenntnisse zu gelangen. Es gibt also weiter Unerklärtes, das nach Erklärung verlangt. Ein dritte Möglichkeit ist die einer logischen Beziehung. Eine Beschreibung ist das Wahrnehmungswissen wie Schmerz empfinden; die zweite Beschreibung ist die des neuronalen Zustands bei Schmerzen. Zu prüfen ist, in welcher logischen Beziehung die Theorie »neuronalen Zustands« zu der Wahrnehmung »Schmerz empfinden« steht: Erstens: Die Theorie ist eine hinreichende, aber keine notwendige Bedingung für Schmerzempfinden: Theorie
Wahrnehmungswissen
hinreichende Bedingung
(W)
! Implikation
(F)
(F) stimmt; weil keine Rechtfertigung möglich
notwendige Bedingung
(F)
Replikation
(W)
(F) stimmt nicht, Schmerzen ohne Theorie möglich
Zweitens: Umgekehrt sind Schmerzen eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Theorie: Schmerz empfinden
Beschreibung als Neuronaler Zustand
Notwendige Bedingung
(F)
! Replikation
(W)
(F) stimmt; weil Rechtfertigung nicht möglich
Hinreichende Bedingung
(W)
Implikation
(F)
(F) stimmt nicht, weil Schmerzen ohne Theorie möglich A
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Wissen und Zugrundeliegendes
Aus dem logischen Beziehungszusammenhang von Wahrnehmungsund Reflexionswissen wird deutlich: Wenn es ein Wahrnehmungswissen gibt, kann eine erklärende Theorie wahr oder falsch sein. Wenn es kein Wahrnehmungswissen gibt, gibt es auch keine gültige Theorie. Dadurch, daß Wahrnehmungswissen keine hinreichende Bedingung für Reflexionswissen ist, zeigt sich, daß es verschiedene Theorien hinsichtlich eines Wahrnehmungswissens geben kann, sowohl hinsichtlich des befragten Aspektes als auch hinsichtlich eines erklärenden Zusammenhangs. Wahrnehmungswissen und erklärendes Wissen sind nicht einfach zwei verschiedene Beschreibungen eines gleichen phänomenalen Ereignisses, wie Tye meint, sondern die Theorie setzt die Wahrnehmung voraus. In gleicher Weise läßt sich die Beziehung zwischen Emotionswissen und Reflexionswissen beantworten, weil Emotionswissen, an die Stelle von Wahrnehmungswissen gesetzt, zu einem gleichen Ergebnis führt wie zwischen Wahrnehmungs- und Reflexionswissen. Wissen ist verbunden mit der Frage nach seiner Wahrheit und Gewißheit. Den drei Arten des Wissens entsprechend bietet sich hier eine Unterscheidung hinsichtlich ihres Geltungsanspruches an: Ein Wissen aus Wahrnehmung und Emotionen wird durch eine Gewißheit charakterisiert, weil es ein unreflektiertes, unmittelbares Wissen präsentiert, ein Wissen aus der Reflexion durch Wahrheit, weil es auf Aussagen beruht, die einer Begründung bedürfen. Eine Unterscheidung zwischen einem Geltungsanspruch des Wissens aus Emotionen und dem aus der Reflexion führte dazu, daß in der Mitte des 20. Jahrhunderts ein ethischer Nonkognitivismus entstanden ist, der Emotionen zwar als eine Sphäre der Werte anerkennt, ihre Geltung aber nicht als Urteile akzeptiert, weil sie nicht als wahr oder falsch erweisbar sind. Sie sind einer rationalen Überprüfung unzugänglich und fallen deshalb in eine Kategorie außerhalb der Wahrheit. Auch Begründungsversuche aus der Sprache haben ethischen Werturteilen zwar die Geltung eines Aufforderungscharakters zugestanden, ihnen aber keine kognitive oder rationale Argumentation einer Geltung eröffnet. In diesem als Mangel beschriebenen Charakter emotionaler Bewertungen zeigt sich, daß Emotionen keine eigene Wissensbegründung, sondern nur eine aus der Reflexion entliehene zugestanden wurde. Auch Wahrnehmungswissen kann nicht durch rationale Überprüfung als wahr oder falsch erwiesen werden, sondern sogar zu den 116
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Beziehungen zwischen den Arten des Wissens
bekannten Täuschungen führen. 84 Das Beispiel der Tonscherbe in Schmitz’ Untersuchungen hat so eine Wahrnehmungstäuschung deutlich gemacht (Schmitz, 1978, S. 141). Das Wahrgenommene hat bei näherem Hinsehen zwar seinen Charakter verändert; die Änderung des Charakters war aber nicht in das Belieben des Subjekts gestellt. Der Charakter verweist auf ein Zugrundeliegendes, das einen Irrtum zwar nicht ausschließt, das aber auch keine Gewißheit hinsichtlich einer beliebigen Wahrnehmung erlaubt. Auch Einflüsse aus subjektiven Bedingungen können zu Veränderungen des Wahrgenommenen führen; biologische Ausstattung, Erfahrung, Gedächtnis, Lernfähigkeiten usw. können die Gewißheit der Wahrnehmung beeinträchtigen, wie z. B. Farbenblindheit, Gehörbeeinträchtigung usw. zeigen. Roth hatte bereits darauf hingewiesen, daß zwischen den Zutaten von außen und denen des Gehirns nicht zu unterscheiden ist; was sich aber zeigen läßt, ist, daß eine Gewißheit eines Wahrnehmungswissens nicht gegen den Einfluß des Zugrundeliegenden möglich ist, bzw. daß dort, wo dieses wie bei der Farbenblindheit auftritt, ein Mangel in den subjektiven Wahrnehmungsvermögen als Ursache hervortritt. Ähnlich verhält es sich bei einem Wissen aus Emotionen, weil ihre Reize aus der Umwelt ähnlich denen der Wahrnehmung verarbeitet werden und einerseits ähnlichen Täuschungsmöglichkeiten unterliegen, andererseits aber auch auf ein Zugrundeliegendes verweisen, das keine beliebigen Emotionen erlaubt. Reflexionswissen geht auf ein Urteil zurück, das wahr oder falsch sein kann und das einer Rechtfertigung des Wissens durch begründende Argumente bedarf. Diese werden auf ein Allgemeines, auf einen Bezug zu anderem Wahrnehmungswissen oder auf nicht hintergehbare Axiome verweisen. Ein Zweifel an der Wahrheit des Reflexionswissens kann sowohl aus der Zuordnung zu einem Allgemeinen, aus den Verknüpfungen von Wahrnehmungs- und Reflexionswissen oder aus Täuschungen des vorhergehenden Wahrnehmungswissen entstehen. Während eine Gewißheit des Wahrnehmungswissens nur durch Wiederholung des Wahrnehmungsprozesses ihre Geltung rechtfertigen kann, ist der Wahrheitsanspruch eines Reflexionswissens aus der Gewißheit des enthaltenen Wahrnehmungswissens verbunden mit einer Überprüfbarkeit von dessen Verallgemeinerungen Eine eindrucksvolle Schilderung, wie ein Vertrauen auf die Sinne ins Wanken geriet und sich als eine trügerische Gewißheit entpuppte, aus der ein grundsätzlicher Zweifel erwuchs, enthält Descartes’ 6. Meditation.
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und ihren Verknüpfungen zu Aussagen zu rechtfertigen. Die Überprüfbarkeit wird sich an der behandelten Gewißheit aus der Wahrnehmung selbst orientieren können und an möglichen Fehlern ihrer Verknüpfung. b.
Systematischer Zusammenhang der drei Arten des Wissens durch das Zugrundeliegende
Was läßt sich über das dem Wahrnehmungs- und Emotionswissen Zugrundeliegende aussagen? Gezeigt hat sich aus der Modalität der Sinnesorgane, aus der Topographie des Gehirns und aus den neuronalen Prozessen, daß ein Zugrundeliegendes Einfluß auf die Herausbildung des Wissens ausübt. Hinweise auf differenzierte Reizquellen der Umwelt haben die oben behandelten Erkenntnisse aus der Neurowissenschaft deutlich machen können. Ohne daß für alle Sinnessysteme schon eine umfassende Differenzierungsübersicht vorliegt, kann aus den inzwischen bekannten Erkenntnissen vor allem des gut erforschten visuellen Systems, aber auch aus dem auditorischen deutlich gemacht werden: Es gibt im visuellen System unterschiedliche Reizquellen der Umwelt für Farbe, Form, Umrisse, Tiefe, Bewegungsgeschwindigkeit und -richtung, räumliche Beziehung, Kontrastgrenzen, Leuchtdichte, Wellenlänge und Gesichtermerkmale; im auditorischen System für Druckwellen unterschiedlicher Frequenzen und räumliche Lokalisierung. Hinzu kommen die Differenzierungen des Tastsinns und seiner Lokalisierungen im Gehirn. Beschreibt man das Zugrundeliegende als Reizquellen der Umwelt, dann kann man von einem herausgebildeten Wahrnehmungs- oder Emotionswissen auf dessen differenziertes Zugrundeliegendes schließen. Damit ist nicht ein Zugrundeliegendes als eine ontologische Welt bewiesen, aber es sind differenzierte Einflüsse eines Zugrundeliegenden nachgewiesen worden, die in der Herausbildung eines Wissens zur Geltung kommen und die ein beliebiges Ergebnis verhindern. Der Unterschied zwischen einem Zugrundeliegenden als ontologischer Welt und als Einflüsse der Umwelt ergibt sich aus den Beweismöglichkeiten: Eine bewußtseinsunabhängige Welt läßt sich nicht beweisen; nicht in das Belieben gestellte Einflüsse aus der Umwelt lassen sich beweisen. Deshalb konnten die Radikalen Konstruktivisten zu Recht die Annahme einer abbildbaren Außenwelt bestreiten; was sie aber nicht bestreiten können, ist eine Umwelt dif118
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Beziehungen zwischen den Arten des Wissens
ferenzierter Reizquellen, die erst eine wahrgenommene Welt ermöglichen und zwar eine Welt, die insofern den Reizquellen entsprechen muß, als sie nicht gegen oder ohne diese hervorgebracht werden kann. Wahrgenommenes präsentiert sich einerseits als Einheit, wie z. B. ein bestimmter Ton, dem eine Vielzahl von Reizen und Signalen unterschieden nach Modalität, Intensität, Dauer und Lokalisation zugrunde liegen, aus denen das Gehirn unter Zuhilfenahme von Subsystemen und komplizierten Verschaltungen die Einheit der Wahrnehmung errechnet. Roth beschreibt diesen Vorgang so: »Die Komplexität der Umwelt wird ›vernichtet‹ durch ihre Zerlegung in Erregungszustände von Sinnesrezeptoren. Aus diesen muß das Gehirn wiederum durch eine Vielzahl von Mechanismen die Komplexität der Umwelt, soweit sie für das Überleben relevant ist, erschließen« (Roth, 1997, S. 115). Roth bestätigt hier etwas Differenziertes in der Umwelt, das er aber nicht weiter untersucht. Warum entsteht aus der Erschließung der Reize gerade diese Einheit Ton und nicht irgendeine andere? Komplizierter wird die Erschließung der Einheit aus unterschiedlichen Modalitäten und eine aus verschiedenen Modalitäten, verbunden mit emotionalen Reizen. Aus dem Versuchsergebnis einer Konditionierung durch eine Reizkombination aus Ton und Schmerz geht hervor, daß nach einigen Wiederholungen der Ton allein genügte, den Ton zugleich als schmerzhaft wahrzunehmen (Kandel, S. 621). Es zeigt einerseits die Bedeutung der Lernfähigkeit und des Gedächtnisses, die zu dieser Einheit der Wahrnehmung führten, andererseits entstand diese Einheit aus einer künstlichen Einheit der Reizkombination. Der Einheit der Wahrnehmung lag eine Einheit der Umweltreize zugrunde. Die Testperson hatte nicht die Möglichkeit, nur den Ton wahrzunehmen oder nur den Schmerz zu empfinden. Ähnlich zeigte sich bei einer Wahrnehmung eines lachenden Gesichtes, die visuelle, auditive und emotionale Reize vereint, daß sie beeinflußt ist von einer Einheit der Umweltreize, die nicht erlaubt, ein beliebiges Gesicht zu sehen, einen beliebigen Ton zu hören, ein beliebig Anderes zu sehen und eine beliebige Emotion zu empfinden. Die Einheit der Reize umfaßt sowohl unterschiedliche Reize der Sinne wie auch deren Ergänzung durch emotionale Reize. Das Zugrundeliegende nimmt Einfluß auf die Einheit der Wahrnehmung nicht nur in der Weise, daß Reize zusammen kombiniert werden, sondern auch dadurch, daß überhaupt etwas im Gehirn zu einer Einheit zusammengesetzt werden A
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kann. Was Wahrnehmungswissen als Einheit eines Wahrnehmungsgegenstandes der Umwelt präsentiert, fällt einem Reflexionswissen als Einheit zu begründen schwer, es sei denn wie hier auf indirekte Weise. Ein Grund dafür könnte der sein, daß sich Wahrnehmungswissen nicht auf Reflexionswissen reduzieren läßt. Einem Reflexionswissen fällt es nicht nur schwer, die Einheit der Wahrnehmung zu erfassen, sondern es gelingt auch nicht, das ganze Wissen des Wahrnehmungsgegenstandes zu erfassen. Was aus unterschiedlichen Modalitäten und aus unterschiedlichen Reizquellen im Gehirn zu einer Vielfalt und Einheit eines Wahrnehmungswissen herausgearbeitet wird, führt in einer Reflexion zu einem unvollständigen Wissen des Ganzen, weil sie nur einen Aspektes hervorhebt, während das Wissen aus den anderen Quellen vernachlässigt wird. Kommt es einem Forscher bei der Untersuchung eines Gesichtes nur auf dessen physiologische Proportionen für Rassenstudien an, wird er emotionales Wissen des Gesichtsausdrucks unberücksichtigt lassen und deshalb dieses besondere Gesicht nur unvollständig erkennen. Kommt einer der drei Arten des Wissens gegenüber den anderen ein bevorzugter Rang zu? Man könnte vermuten, daß einem Reflexionswissen ein Vorrang einzuräumen ist, weil die Wissenschaft, die diese Wissensart verkörpert, den Ruf hat, die höchste Einsicht zu vermitteln. Bedenkt man aber, daß ein Reflexionswissen nicht nur ein Wahrnehmungswissen voraussetzt, sondern selbst nur aspekthafte Sichtweisen hervorbringt und vieles wegen der Präparation und Abstraktion nicht zur Geltung kommt, so wird man dem Wahrnehmungswissen eine unverzichtbare Grundlagenbedeutung beimessen müssen, dem Reflexionswissen dagegen eine Bedeutung aus seiner Spezifizierung unter Zwecken. 85 Das Emotionswissen aber vermittelt unverzichtbare Bewertungen hinsichtlich seiner Wirkungen auf unser Handeln und Verhalten. Insofern wird man von keiner Wissensart sagen können, daß ihr ein höherer Rang einzuräumen sei als einer anderen. Sie stehen hinsichtlich ihrer jeweils eigentümlichen Bedeutung für unser Leben gleichrangig nebeneinander. Schantz, 1998, sieht in dem Streit über die Rechtfertigung des Wissens zwischen Kohärentisten und Empiristen die Gefahr, daß sich das Denken zu weit von der wirklichen Welt entfernt; er plädiert für die Rehabilitation eines vollblütigen Begriffs der sinnlichen Erfahrung; unsere Überzeugungen müßten unter der strengen Kontrolle des Zeugnisses der Sinne bleiben.
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Beziehungen zwischen den Arten des Wissens
Wenn z. B. ein Mensch unter einem bestimmten Aspekt forscht, wie z. B. unter dem der Organzüchtung, und es ihm gelingt, einer Maus ein menschliches Ohr auf dem Rücken wachsen zu lassen, mag für die Organzüchtung ein wichtiges Reflexionswissen gewonnen worden sein, bezüglich eines vollständigen Wissens über diese Maus kommt aber ein Wissen aus Emotionen hinzu, das abstoßende Reaktionen bewirken und ein weiteres forschendes Handeln in Frage stellen kann. Wenn Reflexionswissen aus unterschiedlichen, miteinander unvergleichlichen Erklärungszusammenhängen herausgebildet werden kann, entsteht die Frage, ob es ein Kriterium gibt, zu zeigen, daß sich die Erklärungszusammenhänge auf ein ihnen Gemeinsames beziehen oder ob sie ihnen eigentümliche Welten hervorbringen, die nichts Gemeinsames verbindet. Versuche, ein solches Gemeinsames herauszuarbeiten, finden sich bei verschiedenen Autoren: Audretsch hat Philosophie, Religion und Wissenschaft als verschiedene Sichtweisen der Welt bezeichnet (Audretsch/Mainzer, S. 9), wobei ungeklärt bleibt, was Welt heißen soll. Whitehead hat ästhetische, moralische, religiöse und naturwissenschaftliche Betrachtungsweisen unterschieden und sie aus einem Begriff von Wirklichkeit erklärt, den er durch eine Kategorie des »wirklichen Einzelwesens« erschließt. 86 Seine Erklärung führt aber zu einer Diskrepanz: Einerseits nimmt Whitehead die Außenwelt zwar als etwas Vorgegebenes an, aber nur als eine in das Subjekt hineinwirkende Information und nicht als Wirklichkeit (1971, S. 14 f.); andererseits beschreibt er »wirkliche Einzelwesen« als letzte Bausteine der Wirklichkeit, wobei sein Einzelwesen ein Geschöpf ist, das durch eine subjektive Form – dazu gehören Gefühle, Wertungen, Zwecksetzungen, Bewußtsein – geprägt wird (1984 b, S. 59, 97). Wenn nun ein solches Einzelwesen ein anderes Einzelwesen als Information aus seiner Umwelt aufnimmt, folgt, daß dieses andere Einzelwesen für das erste eine der Information vorausgehende Wirklichkeit der Außenwelt repräsentiert. Gesteht man aber eine vorgegebene Wirklichkeit zu, dann ergibt sich aus Whiteheads Prozeßgedanken zur Erklärung der Wirklichkeit: Das wirkliche Einzelwesen erklärt eine Wirklichkeit, die es selbst voraussetzt. Seine Erklärungsleistung ist deshalb gering. Whitehead, 1984 b, S. 57; Kather, S. 404, hat sich mit der Naturphilosophie Whiteheads ausführlich auseinandergesetzt.
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Heisenberg hat Wirklichkeit aus einer objektiven und einer subjektiven Welt zusammengesetzt, wobei objektiv dasjenige ist, was einem Objekt wie in der Naturwissenschaft zugeschrieben wird, und subjektiv dasjenige, was von einem Subjekt eingebracht wird, wie Religion: Es sind zwei Pole der Wirklichkeit, die den Beobachter und Beobachtetes verbindet. 87 In den Auseinandersetzungen mit den Wahrnehmungstheorien, die diese aus einer Kommunikation eines Subjektes mit seiner Umwelt erklären, hatte sich aber gezeigt, daß es nicht mehr möglich ist, ein Objekt losgelöst von einem Subjekt anzunehmen. Ein Kriterium für ein Gemeinsames aus den verschiedenen Erklärungszusammenhängen ergibt sich aus dem Wahrnehmungswissen, das der Reflexion vorausgeht: Sein Zugrundeliegendes verbindet ein aus unterschiedlichen Zusammenhängen hervorgehendes Reflexionswissen über dieses Wahrgenommene. Ein Reflexionswissen über den Rhein z. B. aus naturwissenschaftlichem, künstlerischem oder mythischem Erklärungszusammenhang wird sich auf ein Wahrnehmungswissen dieses Flusses beziehen, dessen Hervorbringung ein ihm Eigentümliches in den Reizquellen zugrunde liegt. Das Zugrundeliegende beeinflußt alle drei Arten des Wissens und ermöglicht ein Wissen von der Welt. Auch wenn wir erst aus einer Kommunikation von ihm wissen, bringen wir es in seinen differenzierten Einflüssen nicht hervor, sondern umgekehrt bewirken diese die Herausbildung eines Wissens von der Welt. Ein Kommunikationsergebnis bestätigt seine Existenz; umgekehrt verweist unter gleichen Kommunikationsbedingungen ein ausbleibendes Ergebnis auf fehlende Reize. Das Zugrundeliegende geht der Kommunikation voraus und existiert unabhängig von dieser.
Heisenberg, 1989, S. 35, 37; vgl. Kather, S. 183 ff., sie setzt sich mit Heisenbergs Sichtweisen der Welt auseinander.
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Begrndungszusammenhang und Rechtfertigung
XI. Begrndungszusammenhang und Rechtfertigung a.
Begründungszusammenhang
Zu begründen waren eine neue Einteilung des Wissens in die drei genannten Arten und ein dem Wissen Zugrundeliegendes, das die Herausbildung unseres Wissen beeinflußt. Die Einteilung des Wissens hatte sich aus den Erkenntnissen der Neurowissenschaften zeigen lassen. Das Zugrundeliegende, das sich als Einfluß aus der Umwelt auf die Hervorbringung des Wissens auswirkt und nicht in das Belieben des Subjekts gestellt ist, wurde begründet aus den Verarbeitungsprozessen der Reize, aus der Topographie und den neuronalen Prozessen im Gehirn. Es hatte sich gezeigt, daß einer Verarbeitung von Signalen im Gehirn die Reize vorausgehen, d. h. daß sie selber nicht aus dem Gehirn stammen. Da es unstrittigerweise überhaupt Reize gibt, die sich auch unstrittigerweise in einer Kommunikation eines Subjektes mit Umwelt auswirken, und da deutlich wurde, daß es ohne diese Reize zu keiner entsprechenden Wahrnehmung kommt, wird man auf deren Quellen in der Umwelt schließen dürfen; ansonsten gäbe es für ein Sinnesorgan keine Reizaufnahme, was Wahrnehmung zur Beliebigkeit werden ließe; die tägliche Erfahrung zeigt aber, daß sie das nicht ist. Ähnliches ergibt sich für die Spezialisierung der Sinnesorgane: Sie sind auf unterschiedliche Energieformen für ihre Reize spezialisiert; wie sollte man die unterschiedlichen Energieformen der Reize erklären, wenn sie nicht auf unterschiedliche Quellen der Umwelt zurückgingen? Während die Arten des Wissens aus empirischen Erkenntnissen der Neurowissenschaft erwiesen werden konnten, ist der Begründungszusammenhang für ein Zugrundeliegendes ein indirekter. Das Zugrundeliegende kann für sich nicht wahrgenommen werden. Die indirekte Herleitung stützt sich auf Beobachtungen der Voraussetzungen des Wahrnehmungsprozesses; liegt ein Reiz vor, erfolgt eine Verarbeitung zu einer Wahrnehmung; entfällt der Reiz und bleiben alle anderen Voraussetzungen unverändert, dann entsteht keine Wahrnehmung. Eine indirekte Herleitung läßt sich für Quellen zeigen, die sich auf die Modalität, die Intensität, die Lokalität, Dauer und Stärke auswirken. Aus der indirekten Herleitung entsteht eine Ansammlung von Quellen bestimmter Umweltreize, wie sie auf eine Wahrnehmung Einfluß nehmen. Die indirekte Herleitung erweist die Reizquellen als notwendige Bedingung der WahrnehmungsentA
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Wissen und Zugrundeliegendes
stehung; sie gilt in Prozessen der Wahrnehmung wie der Emotion, für Reize der Umwelt ebenso wie für künstlich stimulierte. b.
Rechtfertigung der empirischen Methode
Die Untersuchungen erfolgen auf einer Reflexionsebene; sie stützen sich aber auf ein Wahrnehmungswissen. Wo tritt dieses in Erscheinung? Es zeigt sich in den empirischen Untersuchungen, die einer Bestätigung aus der Erfahrung bedürfen. Es ist z. B. die visuelle Ablesung auf der Skala eines Meßgerätes. Die Messung bedarf zwar einer Theorie, aber ob ein von ihr erwartetes Ergebnis bestätigt wird oder nicht, ist nur von der Wahrnehmung zu leisten. Ist es berechtigt, aus empirischen Untersuchungen der Neurowissenschaften allgemeine Grundlagen des Wissens zu begründen? Man könnte einen Zirkel vermuten, weil ein Wissen vorausgesetzt wird, um Wissen zu begründen. Das wäre auf der Reflexionsebene ein berechtigter Einwand. Das Entscheidende in dem Begründungszusammenhang aus den Neurowissenschaften ist aber, daß keine Theorie über ein Wahrnehmungs-, Emotions- oder Reflexionswissen hergeleitet wird, sondern nur ihre Bedingungen durch Wahrnehmungswissen sichtbar gemacht werden; d. h. bestimmte Beobachtungen in Gehirnprozessen werden durch Wahrnehmung bestätigt oder nicht bestätigt. Dabei tritt kein Zirkel auf. Die sichtbar gemachten notwendigen Bedingungen aus der Wahrnehmung verlangen nur, daß kein Wissen ohne sie möglich ist. Notwendige Bedingungen des Wissens aus empirischen Befunden zu rechtfertigen, ist zirkelfrei, weil sie sich nicht auf ein Reflexionswissen stützen, sondern auf ein Wahrnehmungswissen. Das gilt auch für das Wahrnehmungswissen selbst; während Aussagen über seine Bedingungen zu eine Reflexionsebene gehören, erfolgt deren Bestätigung durch das Wahrnehmungswissen selbst. Die empirische Methode stützt sich auf Einzelbefunde; was berechtigt zu ihrer Verallgemeinerung, wie sie hier geschieht? Wird hier eine Geltung von Gesetzmäßigkeiten vorausgesetzt? Eine Rechtfertigung eines Allgemeinen aus dem einzelnen Wahrnehmungswissen ergibt sich aus dessen Konstanz. Diese wird in jedem einzelnen wiederholten Wahrnehmungsprozeß insofern sichtbar, als nicht irgendeine unterschiedliche Wahrnehmung entsteht und sie sich nicht als eine in das Belieben des Subjekts gestellte erweist. Eine Verallgemeinerung von Einzelwahrnehmungen durch deren Kon124
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Begrndungszusammenhang und Rechtfertigung
stanz wird nicht durch ein Reflexionswissen gerechtfertigt, sondern durch den Wahrnehmungsprozeß selbst. Um eine Konstanz zu entdecken, bedarf es keiner Theorie. Erst auf einer Reflexionsebene erweist sie sich als dasjenige, was zur Formulierung einer Gesetzmäßigkeit beiträgt. Kritisch anzumerken bleibt: Die Rückbindung von Wahrnehmung-, Emotions- und Reflexionswissen an ein Zugrundeliegendes ist eine Erklärung auf der Reflexionsebene. Für Erklärung des Wissens mit Hilfe des Zugrundeliegenden treffen alle oben behandelten Merkmale des Reflexionswissens zu: Es ist die Betrachtung eines besonderen Aspektes; denkbar sind andere Aspekte zur Erklärung des Wissens, in denen ein Zugrundeliegendes nicht vorkommt. Allerdings wird es schwer fallen, die Rückbindung des Wahrnehmungswissens an ein Zugrundeliegendes – auch wenn es in einer Erklärung nicht vorkommt – auszuschließen.
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D. Kritische Betrachtung wissenschaftlichen Wissens
XII. Wissenschaften a.
Wissen in den Wissenschaften
Nach den Untersuchungen der Arten des Wissens bleibt zu fragen, wie sich ihre Unterschiede auf das auswirken, was wir Wissenschaft nennen. Alltagswissen vermittelt Orientierungen in meist unreflektierten Handlungs- und Sachzusammenhängen, in die man hineingewachsen ist und die sich im Sinne einer Lebens- und Überlebensorientierung bewährt haben. Wird solches Alltagswissen befragt hinsichtlich seiner Geltung, weitergehender Erklärungen oder hinsichtlich seiner Zusammenhänge, entsteht ein Wissen auf einer Metaebene; ist das Ziel eine systematische Untersuchung eines befragten Gegenstandes, führt es zu einem Wissen, das wissenschaftliches Wissen genannt wird. Die systematischen Anforderungen an ein solches Wissen haben sich im Laufe einer historischen Entwicklung verändert. Trotz der Veränderungen hat es aber bestimmte Erwartungen gegeben, die es erfüllen sollte: Dazu gehören Erklärungskraft, Gewißheit, Allgemeinheit, insofern es für alle fragenden Subjekte und für alle wiederholt befragten Gegenstände gilt und dazu gehört, Erklärungen zu geben und, wenn möglich, Voraussagen über den Gegenstand machen zu können. Wissenschaftliches Wissen ist selbst – wie auch hier – zum Gegenstand von Untersuchungen gemacht worden, zusammengefaßt unter dem Begriff der Wissenschaftstheorie. Diskutiert worden ist immer wieder, wie ein Wissen verfaßt sein muß, um als wissenschaftliches Wissen anerkannt zu werden; sollen Religion, Künste oder über Erfahrung hinausweisende Metaphysik in einer Wissenschaft zugelassen sein; sollen Vermögen wie Phantasie und Einbildungskraft, Begründungselemente wie Ähnlichkeit und Wahrscheinlichkeit anerkannt werden; was soll als Wahrheit gelten und welche Methoden sollen erlaubt sein? In einem Blick auf A
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Kritische Betrachtung
die Geschichte der Wissenschaft wird auf diese Verfaßtheit der Wissenschaft eingegangen. Ein zentrales Merkmal wissenschaftlichen Wissens ist die Begründungspflicht seiner Aussagen, die wahr oder falsch sein können. Begründungen sind ihrerseits von bestimmten Merkmalen abhängig: Das ist erstens der Verweis auf die Instanz der Erfahrung; allerdings bedürfen nicht alle Wissenschaftsbereiche, wie z. B. die Mathematik, dieser Instanz. Erfahrung beruht auf Wahrnehmungswissen; nicht entschieden ist aber, was man der Erfahrung bezüglich einer Begründung des Wissens überläßt und was nicht; soll z. B. Erfahrung nur im Rahmen ihrer vorausgehenden Begrifflichkeit eine Rolle spielen, wie es die Rationalisten verlangen, oder soll die Erfahrung ihrerseits erst die Herausbildung von Begriffen ermöglichen, wie es z. B. die Empiristen meinten. Unterschiedliche Auffassungen über die Rolle der Erfahrung als Rechtfertigungsinstanz – festgelegt in bestimmten Festsetzungen – haben zu unterschiedlichen Ausprägungen der Wissenschaft geführt (Hübner, 1978, S. 52, 86 f.). Zu dem Begründungsproblem gehört, daß die in den Begründungen verwendeten Begriffe und Aussagen wiederum zu begründen sind – bis hin zu einer Frage nach der Letztbegründung, die immer wieder diskutiert worden ist, um den Wissenschaften ein unbezweifelbares Fundament zu verschaffen. 1 Ob eine Letztbegründung möglich sein kann, erscheint aber eher zweifelhaft, wenn man die Bedingungen des Wissens und ihre Auswirkungen in den Wissenschaften betrachtet. Weder die subjektiven Bedingungen noch ein Zugrundeliegendes sind durch ein Reflexionswissen vollständig erfaßbar. Da ist die Sprache und Begriffsbildung, die in den Begründungszusammenhängen der Wissenschaft eine zentrale Rolle spielt. Sprache, die jeder Wissenschaft vorausgehen muß, läßt sich vor allem nicht in ihrer Semantik auf einen rationalen Zusammenhang zurückführen, wie es Anhänger der Analytischen Philosophie meinten. In die Sprache geht Wahrnehmungswissen ein, wie jedes Erlernen einer Sprache deutlich macht. Und dieses Wahrnehmungswissen läßt sich nicht in einem vollständig fixierten Sprachkonstrukt erfassen, weil das wiederum Sprache voraussetzt. Der Verweis auf diese wenigen zentralen Aspekte zeigt, daß wisHösle, 1990, S. 142 ff., hat die Frage nach einer Letztbegründung historisch aufgearbeitet und den Entwurf einer reflexiven Letztbegründung vorgelegt.
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Wissenschaften
senschaftliches Wissen nicht durch eine stets gleiche Verfaßtheit bestimmt ist. Das Begründungsproblem wissenschaftlichen Wissens verweist sowohl hinsichtlich unmittelbarer Begründung durch empirische Rechtfertigung als auch hinsichtlich seiner unverzichtbaren Voraussetzungen aus der Sprache auf ein rational nicht zusammenhängendes Unternehmen. Wissenschaft ist zwar ein rationales Unternehmen, aber nur innerhalb seiner Voraussetzungen. Verändert man die Voraussetzungen, dann entstehen zwischen den von den Voraussetzungen geprägten Wissenschaftssystemen Lücken, sogenannte Rationalitätslücken. 2 Wissenschaft ist kein Aussagensystem, in dem die folgenden aus vorhergehenden Aussagen immer hergeleitet werden können, weil wissenschaftliches Wissen durch seine Festsetzungen und durch bestimmte Zweck- und Weltbildvorstellungen geprägt ist, die ihrerseits historischen Entwicklungen unterliegen und keine rationale Rekonstruktion zulassen. Die Rationalitätslücke verweist auf eine Geschichtlichkeit der Wissenschaft (Kuhn, 1976, S. 19 u. Hübner, 1978, S. 62). Es hat viele Bemühungen gegeben, die Rationalitätslücke der Wissenschaften zu überwinden, um sie von dem Makel der Vagheit ihrer Zusammenhänge zu befreien. Interessant ist der Entwurf eines Begründungsfundaments aus sprachlicher Kommunikation, auf das Baumgartner unter Berufung auf Apel und Habermas verweist (Baumgartner, S. 1760). Einer Kommunikation – hier ist die einer Gesprächssituation gemeint – wird die Rolle einer Begründungsinstanz zugewiesen. Ihre Begründung orientiert sich an einem Konsens der Gesprächspartner, sagt aber nichts über das Verhältnis ihrer Aussagen zu dem aus, was ihr Inhalt repräsentiert. Kommunikation bedarf des Wahrnehmungswissens, so wie es später allgemeiner die Radikalen Konstruktivisten aus einer biologischen Kommunikation eines Subjektes mit seiner Umwelt hervorgehend beschrieben haben. Es ist die Frage, ob die Kommunikation eines Subjekts mit seiner Umwelt, wie sie die Neurowissenschaft verwendet, ein Fundament zur Überwindung der Rationalitätslücke bilden kann. Es wird auch zu untersuchen sein, in welcher Weise die aus der Kommunikation begründeten Arten des Wissens eine Wissenschaft prägen und ob sie ihnen eine Grundlage verschaffen werden können, die einen Begründungszusammenhang innerhalb der Wissenschaft herstellen und eine ihnen gemeinsame Bewertungsinstanz ermöglichen kann. 2
Vgl. zur Rationalitätslücke in den Wissenschaften Kolster, 1990, S. 161 ff. A
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Kritische Betrachtung
b.
Die Arten des Wissens in den Wissenschaften
Entsprechend der in diesen Untersuchungen verwendeten Begrifflichkeiten über das Wissen ist zunächst zu klären, in welcher Weise wissenschaftliches Wissen den drei Arten des Wissens zuzuordnen ist bzw. wie sich diese Arten in der Wissenschaft niederschlagen. Da wissenschaftliches Wissen als Ergebnis aus nachdenkender Betrachtung eines Gegenstandes hervorgeht, gehört es zur Art des Reflexionswissens. 3 Es ist von dessen Merkmalen geprägt wie die Eigentümlichkeiten des Gewußten, die Erklärungszusammenhänge, die Abstraktion, eine Differenz zum Wahrnehmungswissen und die Einflüsse eines Zugrundeliegenden. Aus der Beziehung zwischen Wahrnehmungs- und Reflexionswissen hatten sich Merkmale ergeben, die auf das wissenschaftliche Wissen übertragbar sind. Wissenschaft bedarf der Wahrnehmung, aber Wahrnehmung nicht der Wissenschaft. Erinnert wird an Tyes Beispiele: Man brauche keine wissenschaftliche Theorie über Schmerzen, um festzustellen, ob man welche hat; oder wer noch nie den Geruch eines Stinktiers wahrgenommen hat, dem wird auch eine Theorie nicht beibringen können, wie es riecht. 4 Umgekehrt ist aber Wahrnehmungswissen die Grundlage wissenschaftlichen Wissens. Zwischen Wahrnehmungs- und wissenschaftlichem Wissen gibt es eine Differenz; Wahrnehmungswissen vermittelt das Ganze ihres Gegenstandes, während sich Wissenschaft Aspekten zuwendet und infolgedessen nicht das Ganze des Wahrnehmungsgegenstandes erfaßt. Betrachtet man z. B. sinnliche Wahrnehmung aus der Sicht einer Naturwissenschaft, wie es die Wahrnehmungstheorien tun – dann zeigt sich, daß die Sinneswahrnehmung zwar die Naturwissenschaft als Rechtfertigungsinstanz ermöglicht, daß aber die Naturwissenschaft die Sinneswahrnehmung nur unter Aspekten beschreiben kann; im Konstruktivismus ist es der Aspekt der Prozesse aus der Kommunikation und der im Gehirn. Schrödinger hat diese Differenz so beschrieben: »Es handelt sich um die wunderliche Tatsache, daß einerseits unser gesamtes Wissen über die uns umgebende Welt, ob Eine Zuordnung des wissenschaftlichen Wissens zu einem Reflexionswissen wird hier nicht in einem transzendentalen Sinn verstanden, wie es bei Apel geschieht, um aus einer transzendentalen Reflexion eine Letztbegründung herleiten zu können (Apel, 1973). 4 Tye, 1999, spricht von phänomenalen Begriffen, die man nur aus der Erfahrung bekommt. 3
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Wissenschaften
es nun im Alltagsleben oder durch höchst sorgfältig geplante und mühsame Laboratoriumsversuche erworben ist, ganz und gar auf unmittelbarer Sinnesempfindung beruht, während andererseits dieses Wissen nicht imstande ist, uns die Beziehungen der Sinnesempfindungen zur Außenwelt zu enthüllen.« (Schrödinger, 1989 a, S. 125). Die Neurowissenschaften haben in ihren Untersuchungen der sinnlichen Wahrnehmung zwar eine Menge Erkenntnisse zutage gefördert, aber es hatte sich auch gezeigt, daß eine Erklärung aus der Perspektive eines Prozesses »Wirklichkeit« und »Realität« des Gehirns nicht zusammenführen kann. Ungeklärt ist bis heute auch die Frage, ob die Naturwissenschaft geeignet ist, den Übergang von neuronalen Prozessen zu Bedeutungen zu erklären, d. h. ob Bewußtseinsinhalte und Erlebnisse auf neurowissenschaftliche Prozesse rückführbar sind. Wahrnehmungswissen ist unverzichtbare Voraussetzung eines wissenschaftlichen Wissens. Da aber wissenschaftliches Wissen wegen seines Reflexionscharakters nur Ausschnitte erfaßt, vermitteln beide Arten bezogen auf einen Gegenstand unterschiedliches Wissen, wobei das Wahrnehmungswissen reichhaltiger ist, das Reflexionswissen eine größere Erklärungskraft besitzt. Wie schlägt sich Emotionswissen in den Wissenschaften nieder? Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten der Einflußnahme. Die erste und naheliegendste ist gegeben, wenn Emotionswissen zum Gegenstand der wissenschaftlichen Betrachtung gemacht wird, wie z. B. in der Erforschung von Trauer oder Empathie (Ploog, 1999, S. 540 ff.). Ein besonderer Fall dieser Möglichkeit tritt ein, wenn dem Emotionswissen durch eine wissenschaftliche Betrachtung seine unmittelbar präsente Bewertungskraft genommen wird. »Wo es vernichtend brennt, ist der Notruf kein Gegenstand linguistischer Analyse; und wo er linguistisch bestimmbar wird, brennt es nicht.« (WuchererHuldenfeld, Bd. 1, S. 57). Das Wahrnehmungswissen aus den akustischen Signalen erhält erst aus dem bewertenden Emotionswissen der Not seine entscheidende Prägung, die das Gefühl der Angst des Rufers und dessen Hilfsbedürftigkeit ausdrückt und dem Hörer des Notrufs durch Empathie die Angst übermittelt. Wenn dieses Emotionswissen zum Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung gemacht wird, verliert es seine unmittelbar präsente bewertende Kraft. Eine Reflexion mag den Notruf durch erläuternde, allgemein zutreffende Aussage erklären können; für das den Notruf unmittelbar wahrnehmende Individuum spielen diese Aussagen keine Rolle, für dieses tritt eine Evidenz sinnlicher Wahrnehmung und Emotion hervor. A
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Kritische Betrachtung
Eine zweite Möglichkeit der Einflußnahme zeigt sich dort, wo Emotionswissen als Ergänzung eines wissenschaftlichen Wissens eine bewertende Rolle spielt. Erinnert wird an das Beispiel der Maus mit einem auf ihrem Rücken gezüchteten menschlichen Ohr. Wenn diese Erkenntnisse einer Organzüchtung durch die bewertenden Gefühle ergänzt werden, könnte sie so etwas wie Abscheu und Ablehnung des Mißbrauchs einer Kreatur begleiten. Bisher hat sich wissenschaftliches Wissen einem solchen ergänzenden Emotionswissen nicht geöffnet und als gleichberechtigten Bestandteil zugelassen. Was z. B. gehört zu einem Wissen über einen menschlichen Embryo? Sicher ein Wissen aus der Wahrnehmung; sicher auch Erkenntnisse eines Reflexionswissens über Zellteilung und Reife; was aber ist mit einem Emotionswissen aus der Bewertung dieses Wahrnehmungswissens wie Achtung vor einem werdenden Menschen? Denkbar ist, daß es präsent ist und wissenschaftliches Handeln als dringlich bewertet, wie z. B. bei einer ärztlichen Untersuchung des Embryos; es könnte auch sein, daß es keine Rolle spielt, wenn es um belanglose Beobachtungen geht. Denkbar ist aber auch, daß Emotionswissen zu einer ablehnenden Bewertung des wissenschaftlichen Handelns führt wie z. B. bei Versuchen durch Zellbiologen, die nicht um des Individuums willen, sondern um der allgemeinen Erkenntnis willen stattfinden. c.
Geschichtlichkeit der Wissenschaften
Entsprechend den Aussagen über das Reflexionswissen vermittelt Wissenschaft ein Wissen über die Gegenstände, wie sie betrachtet werden. Nicht nur die Wahl der Perspektive auf den Gegenstand, sondern auch Vorstellungen darüber, was man unter Wissenschaft versteht und wie sie bestimmt sein soll, kennzeichnen ihr Wissen. Ihre Bestimmungen sind aus historischen Situationen entstanden; das macht ihre Geschichtlichkeit aus (Hübner, 1979, S. 193 ff.). Während sich eine systematische Betrachtung mit den Aspekten einer Struktur der Wissenschaften, mit ihrer Begründbarkeit, ihrem Gewißheitsanspruch und mit ihrer Methodik befaßt, wird die Geschichtlichkeit der Wissenschaft dadurch deutlich, daß z. B. ihre bereits erwähnte Rationalitätslücke hervortritt. Gemeint ist damit, daß sich physikalische Theorien, die im Laufe der Jahrhunderte entwikkelt worden sind, um bestimmte Phänomene zu beschreiben, nicht 132
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nach rationalen Kriterien aus den vorangegangenen Theorien herleiten lassen. Es entstanden neue Vorstellungen über das, was überhaupt als Wissenschaft gelten soll, wie z. B. ob Metaphysik und Religion zu einer Wissenschaft gehören. Thomas Hobbes sagte nein; Giambattista Vico sagte ja. Neue metaphysische Fragehorizonte veränderten das Wissenschaftsverständnis, wie die Wende vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild zeigt. Es waren auch immer wieder neu entstehende Begrifflichkeiten wie z. B. in der Physik die Begriffe Masse, Kraft und Geschwindigkeit. Theorieentwürfe haben sich nicht nur durch veränderte Begrifflichkeiten, sondern auch vor dem Hintergrund ihrer sich wandelnden Weltbilder so entwickelt, daß sie miteinander inkommensurabel geworden sind. 5 Unter dem Aspekt der Geschichtlichkeit der Wissenschaft gewinnen die aus einem historischen Umfeld hervorgegangenen Eigentümlichkeiten der Wissenschaft eine eigenständige Prägung und nehmen oft keinen oder nur einen vagen Bezug auf vorausgegangene Entwicklungen. Eine dieser Entwicklungen betrifft die Auseinanderentwicklung der beiden großen Bereiche der Wissenschaft: die Naturwissenschaft und die Geisteswissenschaft. Sie hat deshalb eine Bedeutung erlangt, weil sie zu einer tiefgreifenden Spaltung der Wissenschaft geführt hat. Bei Platon gingen ein Wissen über die Natur und ein Wissen über die Tugend auf ein ihnen gemeinsames Gutes zurück: Das Wissen von den sichtbaren und den denkbaren Dingen, ob Farbe, Schönheit oder Tugend, wurde durch ihre Teilhabe an der Ideenwelt erklärt, und erkennbar wurden sie im Lichte der Idee des Guten. Eine Unterteilung des Wissens in theoretisches und praktisches Wissen machte dagegen Aristoteles. Er unterschied ein wissenschaftliches Wissen von einem Handeln und dessen Wissen, weil er Gegenstände wissenschaftlicher Erkenntnis, die den Charakter der Notwendigkeit an sich haben – sie sind ungeworden und ewig –, von denen absonderte, die einer Veränderung aus einem Handeln unterliegen. 6 Das Handeln hat er wiederum unterteilt in ein hervorbringendes Handeln (poiesis), dessen Ziel außerhalb der Tätigkeit liegt, und in 5 Vgl. Hübner, 1979, Kap.IX, beschreibt die Geschichtlichkeit der Wissenschaft eindrucksvoll am Beispiel des Übergangs von den Stoßgesetzen Descartes’ zu denen von Huygens. 6 Aristoteles, Nik. Ethik, sechstes Buch, führt die Einteilung zurück auf die Unterteilung der Seele in einen Teil, der als rationales Seelenelement jene Formen des Seienden betrachtet, deren Seinsgrund keine Veränderung zuläßt, und in den anderen Teil, mit dem wir veränderliches Sein betrachten.
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Kritische Betrachtung
Handeln (praxis), dessen Ziel das Handeln selber ist (Nik. Ethik, 1. Buch, 1). Das letztere kann aus Leidenschaft geschehen oder, wenn es eine Tugend ist, aus der Fähigkeit, sich zu den Leidenschaften zu verhalten, orientiert an erstrebenswerten Kriterien (Zweites Buch, 5). Worauf es hier ankommt, ist die Unterscheidung zwischen einem wissenschaftlichen Wissen und einer Einsicht in richtiges Handeln (Sechstes Buch). Beide Teile des Wissens entwickeln sich nicht auf getrennten Wegen, sondern blieben in einer gemeinsamen Grundlage aufeinander bezogen: Das ist das Göttliche. Wissenschaftliches Wissen vom Unveränderlichen führt Aristoteles auf den unbewegten Beweger zurück; Gott kommt ununterbrochenes, fortdauerndes und ewiges Leben zu (Met. XII, 1072 b); das Wissen vom Veränderlichen ist die sittliche Einsicht, die sich an dem höchsten Wert einer Glückseligkeit orientiert; Glückseligkeit nennt er eine betrachtende Tätigkeit, die, wenn sie dem Wirken der Gottheit am nächsten kommt, die seligste sein wird. Richtig und wertvoll zu handeln heißt, das zu tun, was den Göttern nahe steht; und wer das tut, dem werden sie es mit Gutem vergelten (Zehntes Buch). Es reicht nicht aus, von den ethischen Werten nur zu wissen, sondern man muß versuchen, sie in die Tat umzusetzen. 7 Theoretisches Wissen und Handeln bleibt im Göttlichen verbunden. Thomas von Aquin hatte Vernunfterkenntnis und Tugendlehre noch aus dem Glauben an den christlichen Gott und dessen Werke miteinander verbunden: Das Handeln orientiere sich an der Liebe zu Gott, die eine Vernunfterkenntnis überragt (Thomas, Sum. Theol. I, II). Im ausgehenden Mittelalter wird dann in der Wissenschaft eine Bewegung deutlich, die schließlich zum Verlust eines Gemeinsamen führt, das wissenschaftliches Wissen und ethische Einsicht verbunden hatte. Einen ersten Schritt in Richtung einer Mathematisierung des Wissens über die Natur unternahm Robert Grosseteste; er hat aus theologischen Motiven mathematische Methoden in die Naturwissenschaft eingeführt: Gott sei Licht, und jeder natürliche Körper trage die leuchtende Natur des Himmels an sich: Licht aber verhalte sich nach den Gesetzen der Optik, die durch Linien, Winkel und FiAristoteles, Nik. Ethik, Zehntes Buch, 1179 a 4–26, unterscheidet Menschen, die nach Äußerem urteilen und dann glücklich werden, wenn sie, ohne reich zu sein, das tun, was nach ihrer Anschauung das Edelste ist; ob es dieses ist, entscheidet die Wirklichkeit des Lebens; er unterscheidet sie von den Menschen, die durch ein aktives Leben des Geistes den höchsten Wert des Handelns erkennen, der den Göttern am verwandtesten ist.
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guren angegeben sind. Die Struktur der Welt ist deshalb mathematisch, weil lichthaft (Grosseteste, S. 113–123) 8 . Galilei folgte diesem Weg einer Mathematisierung der Natur, die schließlich den christlichen Glauben aus der Wissenschaft verdrängt und zu einem Vorrang einer berechenbaren Naturwissenschaft führt. Galilei wollte sich nicht mehr allein auf Sinneserkenntnis verlassen, weil er überzeugt war, daß die Struktur der Natur eine mathematische sei. Er rückte theoretische Entwürfe in den Vordergrund, deren mathematisch gefaßte Aussagen natürliches Geschehen exakter beschreiben; er verwendet z. B. einen erdachten Begriff der gleichförmigen Bewegung, der so nicht erfahrbar, aber in der Lage ist, bestimme Phänomene zu erklären (Galilei, 1964, Über Bewegung). Die Sinneserkenntnis trat hinter die theoretischen Konzepte zurück und erhielt die nachgeordnete Aufgabe, theoretische Erklärungen durch Beobachtung zu rechtfertigen. Der Charakter des Allgemeinen hatte sich geändert: An die Stelle transzendenter Vorstellungen wie Ideen, Formen und göttliches Wirken traten erdachte Verknüpfungen profaner Begriffe in Gestalt mathematischer Entwürfe. So konnte Galilei sagen, daß das Buch der Natur in der »Sprache der Mathematik« geschrieben sei (Galilei, 1953, Il Saggiatore, 6, S. 121). Das Wissen hatte sich sowohl im Charakter des Allgemeinen als auch im Erfahrungsbegriff verändert. Die neue Vorstellung von einer Wissenschaft, die davon ausging, daß die Natur durch ein allgemeines und notwendiges Gesetz bestimmt sei, hat der Erfahrung eine untergeordnete Rolle zugewiesen, nämlich das zu bestätigen, was das mathematische Gedankenexperiment vorgab. Die Erfahrung im aristotelischen Sinn, die von dem sinnlich erfahrbaren Einzelnen ausging, mußte hinter ein begriffliches Allgemeines zurücktreten, das nach einer Bestätigung durch die Erfahrung fragte. 9 Eine Fortsetzung dieser Entwicklung findet sich bei Thomas Hobbes, der Naturwissenschaft unter dem Zweck einer Instrumentalisierung betrachtete. Wissenschaft wird zum Instrument einer die Natur beherrschenden Macht, die dem Wohl der Menschen dienen soll (Hobbes, 1915 I 6). Die Natur wird des Irrtums unfähig (Hobbes, 1965, S. 26), weil wissenschaftliches Wissen in den Dienst des Er8 Mackenzie hat sich mit Grossetestes Charakter des Lichts aus theologischer und physikalischer Perspektive auseinandergesetzt. 9 Petersen, 1996, hat das unterschiedliche Verständnis der Erfahrung bei Aristoteles und Galilei behandelt.
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schaffens gestellt wird. Hobbes hat alles aus der Wissenschaft verbannt, was sich einer Gewißheit verschaffenden rationalen Methode entzieht: Das sind Theologie und die Metaphysik (Hobbes, 1915, I, 8; 1965, S. 62). Die Beschränkung auf das, was als Wissenschaft gelten soll, kündigt einen neuen Weg der Rationalität an. Aussagen müssen mit dem Verstand für jedermann nachvollziehbar sein. Auch eine Ethik hat Hobbes einem Zweck unterworfen: Sie soll ähnlich der Naturwissenschaft als Instrument der Macht dem Wohl der Menschen dienen (Hobbes, 1965, S. 36). Die gemeinsame Grundlage von Naturwissenschaft und Ethik ist hier nur noch ein methodisches Moment. Was in diesem Entwurf – wie später auch bei Descartes – ausgeklammert bleibt, hat Vico in seiner Topik kritisch betrachtet und angemahnt: Es ist die Phantasie, die Poetik, das Ingenium und ein sensus communis, alles Momente, die helfen könnten, den Reichtum und die Vielgestaltigkeit einer Natur und auch des menschlichen Handelns wissenschaftlich zu erschließen (Vico, 1984, S. 27 ff.). Aber seine Auffassung setzte sich nicht durch. Von den beiden Zweigen der Wissenschaft hatte die Naturwissenschaft nicht nur den Vorrang erhalten, sondern die Kriterien, die sie als Wissenschaft ausweisen, vor allem das der Rationalität, wurden auch für den anderen Zweig, für die ethische Einsicht geltend gemacht. Ein anderes dieser Kriterien war die Beschränkung der Naturwissenschaft auf eine Objektivierung, die im Rahmen des Positivismus des 19. Jahrhunderts besonders von Mach vertreten wurde. Für ihn sind die Elemente des Psychischen und des Physischen die gleichen, die eine Wahrnehmung des Baumes ausmachen; es sind dieselben Elemente, welche das Ich und die Außenwelt erklären. 10 Es erübrigte sich, zwischen Subjekt und Objekt zu unterscheiden. Eine andere Möglichkeit zur Erfüllung der Forderung, Wissenschaft müsse objektivieren, war, das Subjekt auszuschließen. Der Beobachter sieht von sich selbst und dem Akt der Beobachtung ab und betrachtet nur die Dinge um sich herum. Schrödinger hat in einer kritischen Betrachtung dieser Entwicklung zur Objektivierung geschrieben: Wir schließen das »Subjekt der Erkenntnis aus dem Bereich dessen, was wir an der Natur verstehen wollen, aus. Wir treten mit unserer Person zurück in die Rolle des Zuschauers, der nicht zur Welt gehört, welch letztere eben dadurch zu einer objektiven Welt
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Zitiert nach Schrödinger, 1989 b, S. 63; vgl. bei Kather, S. 267.
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wird.« (Schrödinger, 1989 a, S. 58). 11 Wo das geschieht, bleibt das wahrnehmende, denkende und fühlende Ich ausgeschlossen; es kann nicht thematisiert werden, weil man meinte, daß es nicht objektivierbar sei. Deshalb blieb unberücksichtigt, was zu einer Natur hinzugehört, wie Erleben, Mitgefühl und alles, was eine Bedeutung in bezug auf das anschauende, wahrnehmende und fühlende Wesen hat; dazu gehören auch sittliche und ästhetische Werte (Schrödinger, 1989 a, S. 96). Schrödinger hat diesen Reduktionismus dadurch zu überwinden versucht, daß er darauf hinwies, daß es nicht nur auf Wahrnehmungselemente und Denkinhalte ankomme, sondern auch auf den Wahrnehmenden und Denkenden.(Schrödinger, 1989 b, S. 60 f.). Allerdings konnte trotz dieser Hinweise nicht gezeigt werden, welchen Ort in einer Systematik der Wissenschaft diese subjektiven Elemente einnehmen. So blieben Schrödingers Forderungen mehr Aufrufe als selbst einer wissenschaftlichen Einsicht zugänglich. Die Rationalisierung, die Einmaliges ausschloß, und die Objektivierung, die Subjektives verdrängte, hatten zu einer Entwicklung geführt, die eine Naturwissenschaft beförderte. Das Veränderliche aus einem Handeln, Verhalten und Erleben der Menschen, von dem nicht erwartet werden kann, daß es einer Naturgesetzmäßigkeit folgt, blieb einer Wissenschaft unzugänglich. Es bedurfte einer eigenen neuen Methode, die nicht von einer Notwendigkeit durch Gesetze geprägt ist, sondern das Veränderliche erfassen kann. Es ist eine Methode des Verstehens – die Hermeneutik-, die vor allem von Dilthey in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt wurde, und deren Ergebnisse er unter dem Begriff der Geisteswissenschaft zusammenfaßte. Sie ermöglichte, alle Lebensbereiche des Menschen, die aus dem Handeln, dem Verhalten und Erleben entstehen, und vor allem geschichtliche und gesellschaftliche Zusammenhänge zu erklären. Diese werden anders als die Gegenstände der Naturwissenschaft aus ihrem Schöpfungsakt verständlich, weil – wie Vico meinte – der menschliche Geist das, was er erschaffen hat, auch verstehen kann (Vico, 1979, S. 35 ff.). 12 Die Besonderheit der Hermeneutik ist, Kather, S. 258, behandelt das Problem der Objektivierung als Methode der Physik aus historischer Perspektive. 12 Diese erkenntnistheoretische Position wurde schon im 18. Jahrhundert von Vico in seinem Axiom des »verum et factum convertuntur« entwickelt, geriet aber bis zu einer Wiederentdeckung zum 20. Jahrhundert in Vergessenheit. Vgl. Kolster, 1990, wo Vicos kontruktivistische Erkenntnistheorie ausführlich behandelt wird. 11
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Kritische Betrachtung
daß sie Neues aus zuvor Erkanntem erklärt. Das bedeutet, daß sie zwar erklären, aber nicht wie in der Naturwissenschaft durch Gesetzmäßigkeiten etwas voraussagen kann. Das zuvor durch die Rationalisierung ausgeschlossene Subjektive wurde durch Diltheys Entwurf einer Wissenschaft zugänglich gemacht, allerdings mit der Folge, daß Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften wegen der unterschiedlichen Begründungssystematik und Methode sich nicht mehr auf ein gemeinsames erklärendes Allgemeines berufen konnten, was zu einer Kluft zwischen beiden führte. Das durch die Objektivierung ausgeschlossene Subjektive des Wissens wurde von den Geisteswissenschaften erfaßt. Die Folgen dieser Trennung, die in einem späteren Abschnitt behandelt werden, haben zu einer Verunsicherung der Menschen insofern beigetragen, als sie aus den Ergebnissen der Naturwissenschaft keine Kriterien für eine Bewertung und für einen Umgang mit ihren Ergebnissen gewinnen konnten. Errungenschaften der Naturwissenschaft und eine Einsicht, was man damit tun dürfe, blieben unvermittelt nebeneinander stehen. Es hat verschiedene Versuche gegeben, die entstandene Kluft zu überwinden (Kolster, 1990, S. 6–13). Es ist aber bisher nicht gelungen, naturwissenschaftliche Erklärungen ebenso wie ein Wissen des Einmaligen, des Veränderlichen und eine Ethik aus einer allen gemeinsamen Erkenntnisbegründung herzuleiten. d.
Systematisches der Wissenschaften
Systematisches kennzeichnet eine Verfaßtheit der Wissenschaft. Aus der historischen Entwicklung hat sich eine unterschiedliche Systematik für die Natur- und die Geisteswissenschaft ergeben. Dazu gehören ihre Gegenstände, ihre Begründungsgrundlagen und Methoden. Kennzeichnend für eine Systematik der Naturwissenschaft ist die Gesetzesartigkeit ihrer Aussagen, die Abstrahierung vom Einzelnen, eine Eingrenzung auf Objektivierbares ihrer Gegenstände und bestimmte Methoden, die eine Beziehung zwischen Theorie und Bestätigung der Theorien so herstellen, daß eine allgemeine Geltung ihrer Aussagen erreicht wird. In der allgemeinen Behandlung des Reflexionswissens hatte sich gezeigt, daß es bestimmte Aspekte zur Geltung bringt, d. h. Aspekte des Wahrnehmungsgegenstandes, auf den es sich bezieht. Im Unter138
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schied zur Geschichtlichkeit der Wissenschaft ist der Aspektcharakter ein Merkmal, das für alle historisch unterschiedlichen Wissenschaftsausformungen gezeigt werden kann. Der Aspektcharakter wird deutlich in der Fragestellung, die untersucht und beantwortet soll. Sie hebt den gefragten Aspekt des Wahrnehmungsgegenstandes hervor. Die Frage selber setzt sich aus bestimmten Begrifflichkeiten zusammen, die den gefragten Aspekt kennzeichnen (vgl. Einstein, 1979, S. 66). Der Aspektcharakter gilt sowohl in der Natur- wie in der Geisteswissenschaft; allerdings mit dem oben erwähnten Unterschied, daß er in den Ergebnissen der Geisteswissenschaften keine Verallgemeinerung erlaubt. Ein historischer Gegenstand wie z. B. das Römische Reich kann nicht nur aus unterschiedlichen Fragestellungen betrachtet werden, sondern auch innerhalb einer Frage mit Hilfe bestimmter Theorien, die es zu rechtfertigen gilt. Wählt man die Frage nach den Gründen des Untergangs des Römischen Reiches, so sind dazu verschiedene Theorien entworfen worden, die dieses Phänomen aus unterschiedlichen Annahmen, die den Theorien zugrunde gelegt werden, zu erklären versuchen und den jeweiligen Aspekt ihrer Theorie hervorheben (Hübner, 1978, S. 308 ff., bes. S. 354 ff.). Deutlicher wird in den Naturwissenschaften der Aspektcharakter, wo er in den Merkmalen eines Reduktionismus, einer Präparation, einer Abstraktion und den Grenzen der Naturbeschreibung zum Ausdruck kommt. 13 Der Reduktionist möchte Mensch und Natur vollständig durch die Naturwissenschaft beschreiben; d. h. es gibt keine Erfahrungen, die sich nicht wissenschaftlich vollständig erklären lassen. 14 Auch Subjektives wie Gefühlszustände, Gedanken und Erlebnisse ebenso wie Bewußtseinserscheinungen sollen auf physiologische Prozesse rückführbar sein. Kanitscheider, der einen radikalen Reduktionismus vertritt, beschreibt z. B. die Zuneigung zweier Menschen zueinander als ein psychoneuroendokrines Phänomen, bei dem endogene Wirkstoffe auf männlicher wie weiblicher Seite eine Steuerfunktion auf das ausüben, was die Betroffenen als Liebe empfinden (Kanitscheider, 1993, S. 3 ff.). Auf die Frage, warum gerade bei der Begegnung zweier bestimmter Menschen diese physiologischen ProAusführlich hat Kather die Aspekthaftigkeit und die Idealisierung der Naturwissenschaft an den Beispielen aus Texten von Whitehead, Schrödinger, Einstein und Heisenberg behandelt. 14 Vgl. zum Reduktionismus: Kather, S. 239 ff.; und Ströker, 1990, S. 41. 13
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zesse einsetzen und bei anderen nicht, gibt diese Theorie keine Antwort; ebenso wenig darauf, warum bei einer Begegnung dieser physiologische Prozeß einsetzt und nicht ein anderer wie Antipathie oder Haß. Es hängt wohl von der augenblicklichen Situation wie von den Individuen ab, ob der eine oder ein anderer Prozeß eintritt, ob er immer in der gleichen Weise entsteht, wenn sich die beiden Menschen begegnen, oder zu unterschiedlichen Zeitpunkten in unterschiedlicher Weise. Emotionen, die in einer Wahrnehmung während einer Begegnung entstehen und sie begleiten, bewerten die Wahrnehmung des anderen, und erst aus diesem Bewertungsergebnis entsteht ein die Emotion der Liebe begleitender physiologischer Prozeß. Die Gesetzmäßigkeit des physiologischen Prozesses allein wird die jeweils unterschiedliche Begegnungssituation nicht abbilden können. 15 Liebe läßt sich nicht auf einen chemischen Prozeß reduzieren, weil dieser keine hinreichende Bedingung für Liebe ist, denn der Prozeß könnte künstlich ausgelöst sein. Er ist aber eine notwendige Bedingung für Liebe, wie Damasios Beobachtungen bei Hirnverletzten zeigten; wenn solche Prozesse wegen Verletzungen nicht möglich sind, fehlen Emotionen. Umgekehrt ist Liebe keine hinreichende Bedingung für diesen Prozeß, weil es auch andere Theorien über Liebe gibt, wie z. B. die der Empathie, und sie ist auch keine notwendige Bedingung, wie künstliche Stimulationen zeigen. Die logische Beziehung zeigt nur, daß eine wahrgenommene Liebe nicht ohne den chemischen Prozeß möglich ist. Es könnten aber ergänzende und ganz andere Theorien geben, so daß die genannte nur einen Aspekt darstellt. Reduktion auf eine Theorie vermittelt ein unvollständiges Wissen des wahrgenommenen Phänomens. In welchem Umfang Gesetzmäßigkeiten der Physik ein Wahrnehmungswissen der Natur erfassen, erläutert Ludwig anhand des Begriffs der Präparation physikalischer Erkenntnis. Diese sei ein Ergebnis aus dem Zusammenwirken von erdachten, ausgewählten Theorien und Versuchsanordnungen, die in dem Naturgeschehen Bestätigung oder Ablehnung fänden. Sie kommen zustande durch präparierte Systeme; diese sind gekennzeichnet durch die ZielsetHeisenberg, 1984/85, Bd. I. S. 276, wendet sich gegen die Vorstellung der Abbildbarkeit der Erkenntnisakte auf Gehirnprozesse; er meint, daß die Gedankenkette auch bei mehrfacher Wiederholung nicht genau der vorausgegangenen Gesamtsituation des Individuums entspricht, wie es bei gleichbleibenden physikalisch-chemischen Gesetzmäßigkeiten zum Ausdruck kommt.
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zung, Auswahl von Größen, Eliminierung störender Einflüsse und Einschränkungen auf Erfahrungsbereiche. In der Auseinandersetzung über die Frage des Determinismus bzw. Indeterminismus in der Natur zeigt er, daß jede deterministische Theorie wegen der Präparation einen großen indeterministischen Bereich enthält wie die Entscheidungen über eine Auswahl eines geeigneten Präparierverfahrens und gekennzeichnet ist durch die Auswahl bestimmter aus vielen möglichen Anfangswerten von Ort und Geschwindigkeit in der Newtonschen Mechanik. Eine Wahl der Präparierverfahren bleibt vollkommen unbestimmt und ist weitgehend frei verfügbar (Ludwig, 1990, S. 60). Eine Bestätigung von Gesetzmäßigkeiten durch die Natur ist unstrittig; die Präparation macht aber deutlich, daß Wahrnehmungswissen sich nicht vollständig erfassen läßt. Merkmale einer Präparation der physikalischen Erkenntnis, durch die bestimmt wird, was hervorgehoben und was als störend weggelassen werden soll, hat Hübner systematisiert. Er untersucht die Bedingungen, die in einem Auswahl- und Entscheidungsverfahren festgelegt werden, unter denen eine naturwissenschaftliche Fragestellung untersucht werden soll. Hübner hat diese Bedingungen in einem Kategoriensystem geordnet, mit dessen Hilfe er zeigen kann, daß in den Naturwissenschaften jede aus der Erfahrung gerechtfertigte Erkenntnis an solche Voraussetzungen gebunden ist. Um die experimentellen Ergebnisse in einer allgemeinen Aussage zusammenfassen zu können, sind auch hier Auswahlkriterien festzulegen, wie z. B. innerhalb welcher Toleranzen Meßergebnisse gelten sollen, welche zu vernachlässigen sind oder wann eine Theorie als widerlegt gelten soll. Die Voraussetzungen lassen sich ändern, die unter ihrer Annahme entstehende experimentelle Erfahrung nicht (Hübner, 1979, S. 86 f.). Einzelergebnisse wird man nur durch eine Idealisierung zu einer allgemeinen Aussage zusammenfügen und umgekehrt eine Theorie nur durch sie an experimentelle Ergebnisse anpassen können. Eine Idealisierung muß von abweichenden Einzelerscheinungen abstrahieren. 16 Ein weiteres Merkmal der Wissenschaft, das unter dem Aspektcharakter eine Beschränkung des Wahrnehmungswissens zeigt, ist die Abstraktion, die Hervorhebung von Allgemeinem unter Vernachlässigung von Eigenschaften des Einzelnen; sie wurde bereits ausführlich behandelt (s. Abschn. IX.e.). Kemmerling weist darauf 16
Eine ausführliche Betrachtung der Idealisierung findet sich bei Kather, S. 184 f. A
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hin, daß wir dann, wenn wir einen Menschen ausschließlich als ein komplexes Zellgebilde betrachten, mannigfache Aspekte dessen ausblenden, was zu ihm als Mensch hinzugehört; Abstraktionen sind vernünftig, aber sie sträuben sich dagegen, einen Menschen ausschließlich als ein Zellgebilde zu behandeln, weil er dann nicht mehr als ein Mensch behandelt würde (Kemmerling, 2000, S. 236). Wahrnehmungsgegenstände sind der Naturwissenschaft nur unvollständig, manche gar nicht zugänglich. Schrödingers Beispiel der Betrachtung eines Auges läßt die Unvollständigkeit naturwissenschaftlicher Beschreibung sowohl hinsichtlich der Aspekthaftigkeit als auch hinsichtlich solcher Merkmale deutlich werden, die von der Naturwissenschaft nicht erfaßt werden können. Der Physiker betrachtet das Auge als rezeptives Sinnesorgan, das Reize aus dem Lichteinfall aufnimmt und diese in elektrische und chemische Impulse umgewandelt, die zu entsprechenden Nervenreaktionen im Gehirn führen. An dieser Beschreibung fehlt, daß das Auge nicht nur ein rezeptives Sinnesorgan ist, sondern etwas von ihm ausgeht: Freude oder Trauer, ein Leuchten in Kinderaugen, mit denen ein Kind dich anstrahlt, dem du ein Spielzeug gebracht hast. Die Strahlen, die von den Augen ausgehen, erfaßt der Physiker nicht (Schrödinger, 1989 a, S. 67 f.). Die Grenzen einer Naturwissenschaft ergeben sich auch aus ihrer Methode. Physik untersucht prinzipiell wiederholbare Vorgänge. Diese Methode erfaßt nur das Allgemeine und nicht das Einmalige und Besondere. Subjektives wie Schönheit der Natur, Bedeutungen und Werte für den Menschen bleiben ihr verschlossen. Ihre Methode erlaubt darüber hinaus nur das zu erfassen, was quantifizierbar ist wie bestimmte Eigenschaften, z. B. Größe, Masse oder Impuls. Erleben, Kreativität oder Zielbestimmtheit der Natur bleibt ihr unzugänglich. 17 Und da die naturwissenschaftliche Methode Einsichten in tatsächliche Zusammenhänge erschließt, kann sie keine Wege eröffnen von dem, was ist, zu dem, was sein soll. 18 Der historische Überblick über die Wissenschaftsgeschichte hatte gezeigt, daß eine Entwicklung zu einem Vorrang der Naturwissenschaft geführt hat und daß Nicht-Objektivierbares aus der Wissenschaft ausgeschlossen bleibt. Nach ersten Ansätzen durch Vico hat Kather, S. 376 f., behandelt das enge Verhältnis von Theorie und physikalischer Methode an einem Beispiel Whiteheads. 18 Vgl. Einstein, 1979, S. 37 f.; s. auch Whitehead, 1984 a, S. 227 ff., Kather, S. 374 f. 17
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Dilthey Ende des 19. Jahrhunderts dieses Ausgeschlossene einer Wissenschaft zugänglich gemacht. Es ist das Veränderliche aus den Schöpfungen des Geistes wie Kunst, Religion, Geschichte, Politik und Gesellschaft. Für diesen Bereich eines Wissens entstand der Name Geisteswissenschaften, die Dilthey so beschrieben hat: »Das Ganze der Wissenschaften, welche die geschichtlich gesellschaftliche Wirklichkeit zu ihrem Gegenstand haben, […]« (Dilthey, 1959, S. 4). Zu den Merkmalen des Systems der Geisteswissenschaften gehören bestimmte Gegenstände, über die Dilthey sagt: »So sondert er von dem Reiche der Natur ein Reich der Geschichte, in welchem mitten in den Zusammenhang einer objektiven Notwendigkeit, welche Natur ist, Freiheit an unzähligen Punkten dieses Ganzen aufblitzt.«(Dilthey, 1959, S. 6). Dilthey nennt es Freiheit, die zu dem Veränderlichen der Gegenstände führt. Veränderliches aus menschlichen Handlungen hängt mit einer Bewertung durch das Subjekt zusammen. 19 Ein weiteres Merkmal ist die Erklärung eines Einmaligen aus seinen Zusammenhängen; einmalig ist es wegen der Möglichkeit seiner Veränderung. Einmaliges erlaubt keine Vorhersage. Eine Erklärung des Einmaligen benötigt aber auch ein Allgemeines, z. B. wie es in der Sprache, in Regeln des Menschen untereinander und in akzeptierten Bewertungen enthalten ist. Dieses Allgemeine hat keinen Gesetzescharakter, sondern Hübner nannte es Regeln, die in einer historischen Situation entstanden und einem Wandel unterworfen sind. 20 Schließlich ist ein wesentliches Merkmal die Methode; sie wird hermeneutische Methode genannt und soll ermöglichen, das Einmalige aus seinen Bedingungen und Zusammenhängen zu verstehen. Sie setzt durch die verwendeten allgemeinen Regeln Bekanntes voraus, um mit dessen Hilfe Neues zu erschließen. Die Systematik der Geisteswissenschaften ermöglicht, auch das Subjektive der Gefühle und des Erlebens in einem methodischen Wissen zu erfassen. Aus den unterschiedlichen Merkmalen des Systematischen beider Wissenschaftsbereiche wird deutlich, daß sie ihre Gegenstände aus keinen gemeinsamen Grundlagen erklären. Die Gestaltung der Systematik der beiden Wissenschaftsbereiche ist selbst historisch entstanden. Sie ist eine gewordene; wenn eine Marquard, 1986, S. 104, 107, stellt den gegenwärtigen experimentellen Naturwissenschaften die erzählenden Wissenschaften gegenüber. 20 Hübner, 1978, S. 308 ff., erläutert die Regeln als das Allgemeine aus allen Bereichen des Lebens, die eine Erklärung der Gegenstände der Geisteswissenschaften leisten. 19
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veränderte Situation Anlaß gibt, könnte sie sich verändern. Betrachtet man Wissen als das Ergebnis einer Kommunikation eines Subjektes mit seiner Umwelt, dann ist nicht einzusehen, daß ein Reflexionswissen über ein Wahrgenommenes nur gemäß den Merkmalen jeweils der einen oder der anderen Systematik erfolgt und nicht aus einer Verknüpfung beider Systematiken hervorgehen kann. Die Beispiele des Wissens aus der Betrachtung eines Gesichtes, der Augen oder der Maus mit dem menschlichen Ohr auf dem Rücken geben Anlaß, das Systematische aus beiden Bereichen zu verbinden. Es ist kein zwingendes Argument zu sehen, daß eine Wissenschaft, entstanden aus einer Systematik, zugleich die andere ausschließen muß. Die Betrachtung eines Wahrgenommen mit Hilfe eines abstrahierenden Allgemeinen und ergänzt durch das Wissen des Einmaligen aus der Wahrnehmung bzw. Emotion führt zu vollständigerem Wissen des Wahrgenommenen. d.
Folgen einer Trennung der Wissenschaftsbereiche
Aus dem Bereich der Geisteswissenschaften ist es besonders die Ethik, die in aktuellen Forschungsvorhaben die Kluft zwischen Natur- und Geisteswissenschaften deutlich werden läßt. Naturwissenschaften können ihre Gegenstände nur unvollständig oder gar nicht erfassen. Rousseau hat die Gefahr aus einer Trennung naturwissenschaftlichen Wissens von einer Ethik im medizinischen Handeln frühzeitig gesehen. Er warnte, durch immer genauere Einzelforschungen eine theoretische Neugier zu befriedigen und eine Wissenschaft ohne Sittlichkeit betreiben zu wollen. Wenn die Medizin versuche, um jeden Preis ein Leben zu retten, so ständen die gewonnen Lebenswochen in keinem Verhältnis zu dem Verlust an Übereinstimmung mit der Natur. 21 Rousseau beruft sich auf eine Naturvorstellung, in der jedes Ding und jedes Lebewesen eine Natur eines Einmaligen verkörpert. Naturwissenschaft kann Fragen nach den Kriterien ihres Handelns nicht mehr beantworten. Wegen ihres Verlustes einer gemeinsamen systematischen Grundlage mit einer Ethik ist sie nicht mehr Neumann untersucht Rousseaus Kritik an medizinischem Handeln und dessen ethische Begründung. Er stützt sich auf Rousseaus Ersten Diskurs aus dessen Schriften zur Kulturkritik, Hamburg, 1978.
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in der Lage, ihr forschendes und anwendendes Handeln aus eigenen Kriterien zu bewerten. Aus ihrer zunehmenden Beherrschung aller Lebensbereiche ist Unsicherheit und Unbehagen entstanden, das sich in ablehnenden Reaktionen auf Forschungsergebnisse, auf ihre Anwendung und ihre Folgen zeigt und einen deutlichen Niederschlag in den Auseinandersetzungen um strittige Forschungsvorhaben gefunden hat. Beide Bereiche der Wissenschaft stehen sich unversöhnlich gegenüber und treten bisweilen in Konkurrenz zueinander auf. Auf Seiten der Naturwissenschaften sind zu dem Forscherdrang und dem Ehrgeiz, zur Spitzengruppe der Welt in den Forschungsbereichen zu gehören, wirtschaftliche Interessen hinzugetreten, wie z. B. in den Biowissenschaften, die auf Patente und auf Gewinn setzen. Auf Seiten der Ethik sind es Einwände, die auf die Gefahren eines ungezügelten Forscherdranges hinweisen. Es gibt Beispiele aus den Biowissenschaften und der Medizin, die Emotionen wecken und ein Unbehagen hervorrufen, die auf eine Unterlassung bestimmter Forschungen drängen. In England wurden im August 1996 ca. 3000 künstlich befruchtete, eingefrorene Embryonen nach geltendem Recht vernichtet, weil sie für eine Austragung nicht benötigt wurden, die Eltern sie nicht haben wollten und ihre Aufbewahrungsfrist auf drei Jahre begrenzt war. Es sind Forschungsaktivitäten im Bereich der Gentechnik, deren emotionale Bewertung zu strittigen Auffassungen führen. Soll eine Embryonenforschung zugelassen werden, durch die einerseits eine Behebung von Erbkrankheiten in Aussicht gestellt wird und die andererseits auf eine verbrauchende Embryonenforschung angewiesen wäre? Wenn ein menschlicher Embryo als schützenswertes Menschenleben anerkannt wird, so verbietet sich eine solche Forschung. Ist aber ein Embryo ein Mensch oder wann beginnt ein Mensch ein Mensch zu sein: mit der Befruchtung der Eizelle, mit der Geburt oder in einem Zwischenstadium? Wird man Menschsein einem bestimmten biologischen Entwicklungsstadium, also ab einem bestimmten Zeitpunkt der Leibesfrucht zuschreiben können? Es sind bisher strittige Fragen geblieben. Eine andere Frage ist, ob es erlaubt sein soll, aus vorgeburtlichen Untersuchungen eines Embryos bestimmte Hinweise zu erforschen, die einer gewünschte Konstitution eines Embryos entsprechen; und was geschieht, wenn ein Embryo die Erwartungen nicht erfüllt und eine Behinderung zu erwarten ist? Oder nach welcher Todesdefinition sollen im Bereich der Organtransplantation Organentnahmen A
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an Sterbenden bzw. Gestorbenen zugelassen werden, die anderen Patienten das Leben retten können; es ist die Frage, wann ist ein Mensch tot? Am Beispiel des Sterbens lassen sich die Unzulänglichkeiten einer Todesbestimmung durch physikalische Aussagen zeigen: Eine in der Medizin verwendete Todesdefinition ist gekennzeichnet durch eine erloschene Hirnstromtätigkeit, die das Ende einer entscheidenden Lebensfunktion markiert. Unberücksichtigt bleiben dabei andere Lebensfunktionen wie z. B. Atmung, Körperwärme, Verdauung, schließlich sogar lebensspendende Funktionen für ein noch nicht geborenes Kind. Diese auf einen physikalischen Meßvorgang reduzierte Todesdefinition gilt medizinisch durch Verabredung. Trotz einer konsens- und mehrheitsfähigen Verbindlichkeit bleibt sie aufgrund einer Reihe von Einwendungen strittig. Geht man davon aus, daß Sterben ein langandauerndes Geschehen sein kann, begleitet von vielen, nicht immer erklärbaren Erscheinungen, dann bereitet eine solche physikalische Messung als Bestimmung des Lebensendes nicht nur allgemeines Unbehagen, sondern auch eines über die Festsetzung verbindlicher Meßwerte. Wie oft sollen die Messungen wiederholt werden; gibt es eine ausreichende Meßgenauigkeit; können sich schwächer gewordene Impulse wieder verstärken? Nicht mehr meßbare Gehirnströme entsprechen nicht der Gesamtverfassung eines Körpers, wenn er tot ist. Körperfunktionen wie z. B. Herzschlag, Darmfunktion, Schwitzen treten auch dann noch auf, wenn Gehirnströme erloschen sind. Alle diese physikalischen Fragen berühren Aspekte eines Sterbenden, aber können sie ein Lebensende wirklich bestimmen? Erinnert sei hier an die Vorgänge um das ungeborene Erlanger Baby, dessen Mutter in ihrer Schwangerschaft verunglückte und für tot erklärt wurde. Die gleichen Wissenschaftler haben sie kurz darauf für lebend erklärt, als sich herausstellte, daß ihr ungeborenes Baby zu retten sei (Frühwald, 1994, S. 13 f.). Hier zeigen sich die Grenzen und das Unbehagen bei der Anwendung dieser Todesbestimmung, die noch an Bedeutung gewinnt, wenn es um einen Zeitpunkt der Organentnahme zu Transplantationszwecken geht. Die Gehirnfunktion mag für die Lebensfähigkeit eine entscheidende Rolle spielen, warum aber werden den Hirntoten die Organe bisweilen unter Narkose entnommen? Können sie Schmerz empfinden? Was ist mit dem Unterbewußtsein sterbender Menschen, wann ist das erloschen? Die Hirntoddefinition reduziert das Menschliche auf bestimmte physikalische Qualitäten. 146
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Wissenschaften
Ist es berechtigt, die Ethik trotz historisch entstandener Trennung von den Naturwissenschaften ganz aus diesen zu verbannen? Zustimmung findet diese Auffassung z. B. bei Vertretern, die Grundlagenforschung von einer angewandten Naturwissenschaft unterscheiden und die Grundlagenforschung für wertfrei halten. Erst die Anwendung der Ergebnisse der Grundlagenforschung führe zu ethischer Reflexion (Staudinger, 1984, S. 39 f.). Diese Beurteilung berücksichtigt nicht, daß Grundlagenforschung nicht mehr generell von angewandter Forschung getrennt werden kann; sie berücksichtigt auch nicht, daß bereits in der Grundlagenforschung medizinischer Bereiche ethische Probleme auftreten, wie in der Embryonenforschung. Die Moral der Vertreter der Wertfreiheit der Grundlagenforschung ist die Abstinenz von Moral (Ströker, 1984, S. 49). Eine ähnliche Auffassung findet sich in neueren sozialwissenschaftlichen Theorien. Bei Luhmann taucht eine generelle Warnung vor Moral auf, weil sie nicht mehr tauge, in einer ausdifferenzierten funktionalen Gesellschaft die Koordination der Einzelbeiträge zu den großen Funktionsbereichen zu erreichen. Moral nennt er einen Störfaktor, jedenfalls eine Attitüde, die nicht ohne Mißtrauen beobachtet und in Schranken gehalten werden sollte (Luhmann, Soziale Systeme, S. 325). 22 Aus den Versuchen, Ethik aus den Naturwissenschaften zu verbannen, entsteht ein Unbehagen, ebenso wie aus den unzureichenden Begründungen, die ihren Ausschluß zu rechtfertigen sich bemühen. Der Versuch einer Vereinnahmung der Ethik durch die Naturwissenschaft geht aus der Untersuchung des Instituts für Humangenetik der Universität Nijmwegen hervor: Straffällig gewordene männliche Mitglieder einer Familie zeigten ein mutiertes Gen auf den X-Chromosomen (Science, Bd. 262, S. 578), was darauf hindeuten soll, daß Straffälligkeit genetisch bedingt sei. Zweifel an der Beziehung zwischen genetischer Analyse und Straffälligkeit äußert Müller-Hill: Naturwissenschaft, die versuche, Gewalttätigkeit natürlich zu erklären und damit den Menschen von der Verantwortung für das eigene Tun zu befreien, zerstöre Moral, Recht und Tradition (FAZ v. 30. 3. 1994, N 4). Es gibt umgekehrt den Versuch, eine Ethik mit NaturwissenBayertz, S. 25 f., hat in seiner Philosophie der praktischen Ethik diesen Befund Luhmanns zurückgewiesen.
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Kritische Betrachtung
schaft so zu verknüpfen, daß ihre Kluft zu verschwinden scheint. Es ist der Entwurf einer angewandten Ethik, die sich an dem Einzelfall orientieren will und Prinzipien nur im Rahmen der Einzelfallbeurteilung zuläßt, sich also nicht mehr als Theorie versteht, sondern nach der Praxis fragt. Die Einzelfallbeurteilung läßt die Trennung zwischen Naturwissenschaft und Ethik scheinbar verschwinden. Ethik braucht naturwissenschaftliche Machbarkeiten nicht als unversöhnliche Konkurrenz zu sehen, da sie sich auf eine Einzelfallentscheidung berufen kann. Nun zeigt sich aber, daß auch die angewandte Ethik nicht auf Prinzipien verzichten kann (Bayertz, S. 34 ff.). Sie mag im Einzelfall in der unausweichlichen Entscheidung am Krankenbett helfen; wo aber über allgemeine Handlungsweisen der Forschung zu entscheiden ist, die auch in Zukunft gelten sollen, ist der Konflikt durch Einzelfallentscheidungen nicht lösbar. Wo nämlich bleibt der Einzelfall, wenn man fragt, ob verbrauchende Forschung an menschlichen Embryonen erlaubt sein soll? Der Konflikt zwischen naturwissenschaftlichem Bedürfnis und moralischer Bewertung tritt dann erneut auf. Andere verstehen Ethik als Ergänzung zu naturwissenschaftlichem Wissen. Ihnen erscheint eine Naturwissenschaft ohne ethische Ergänzung als unvollständiges Wissen. Ohne diese Unvollständigkeit systematisch zu beschreiben und zu zeigen, worin sie bestehe, herrscht das Bedürfnis einer Bewertung vor, die Naturwissenschaft selbst nicht leisten kann. 23 Kriterien, Ziele und Methoden der Bewertung bleiben aber offen; unter ihrer Vielfalt besteht Konkurrenz, sie lassen sich weder aus dem naturwissenschaftlichen Wissen herleiten noch mit diesem vermitteln. Das Dilemma, das auch die genannten Versuche einer Verknüpfung nicht beseitigen können, führt dazu, ethische Entscheidungen entweder dem einzelnen Wissenschaftler zu überlassen, oder diese in grundsätzlichen Anwendungsfragen wissenschaftlichen Institutionen zu übertragen. 24 Sie werden aus der naturwissenschaftlichen Wissensbegründung herausgelöst und auf Gremien, Kommissionen und Personen in Gestalt ihrer Mitglieder verlagert. Kriterien der EntMittelstraß, 1991, spricht von einer Leonardowelt, die eines Ethikgebots bedarf; Bayertz, 1991, S. 26, betont nicht nur das fachliche, sondern auch das öffentliche Interesse an einer Moral. 24 In einer Denkschrift der Deutschen Forschungsgemeinschaft (1996) findet sich diese Auffassung. 23
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scheidung sind dann jedem Stimmberechtigten überlassen; als Kriterien werden auch politische und gesellschaftliche Orientierungen geltend gemacht, wie z. B. Freiheit der Forschung, wissenschaftlicher Fortschritt und wissenschaftliche Wettbewerbsfähigkeit. 25 Strittige Entscheidungen werden in Ethikkommissionen, in Beiräten oder in gesetzlichen Regelungen durch Mehrheiten entschieden. Beide Wissensbereiche bleiben dabei unvermittelt nebeneinander stehen. Begründungen aus naturwissenschaftlicher Perspektive und solche aus ethischen Überlegungen beanspruchen jeweils ihren Vorrang. Ihre Begründungen gehen eigene Wege und stützen sich auf keinen gemeinsamen systematischen Verknüpfungspunkt. Ein naturwissenschaftliches Wissen, das selbst keine Möglichkeit zu einer Einsicht eröffnet, zu prüfen, ob man nach ihm handeln soll – sowohl forschend wie anwendend – schafft Mißtrauen, Unsicherheit und die Suche nach Lösungen. Solange naturwissenschaftliche Wissensbegründungen und ethische Orientierungen unvermittelt miteinander konkurrieren, wird das Dilemma schwer lösbar sein. Eine Möglichkeit, die Kluft zwischen beiden zu überwinden, zeichnet sich ab durch eine für beide gemeinsame Grundlage ihrer Wissensbegründung, wie sie aus einer Einteilung des Wissens, einer Beziehung der Arten des Wissens zueinander und aus ihrem gemeinsamen Zugrundeliegenden sichtbar geworden ist.
Vgl. Deutsche Forschungsgemeinschaft: Stellungnahme zur Freigabe der Embryonenforschung, Mai 2001.
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Kritische Betrachtung
XIII. ffnen des wissenschaftlichen Wissens fr das Einmalige seiner Gegenstnde a.
Wahrnehmungswissen als gemeinsame Grundlage
Die Spaltung der Wissenschaften in Natur- und Geisteswissenschaften geht zurück auf eine Unüberbrückbarkeit zwischen einem durch Rationalisierung und Objektivierung herausgefilterten Wissen und einem Wissen des Einmaligen und Besonderen, das aus einer eigenen Systematik wissenschaftlich zugänglich gemacht wird. Das Einmalige und Besondere bezieht sich sowohl auf den Gegenstand des Wissens als auch auf das wahrnehmende Subjekt. Beim Gegenstand schlägt es sich in der Vielfalt aus dessen Wahrnehmung nieder, die einem Reflexionswissen verschlossen bleibt, weil dieses nur Aspekte erfaßt; beim Subjekt trat es in dessen Gefühlen und Erlebnissen in Erscheinung. Beide Arten, naturwissenschaftliches Wissen eines Allgemeinen und geisteswissenschaftliches Wissen des Einmaligen gehen auf Wahrnehmungswissen zurück: Das naturwissenschaftliche deshalb, weil es aus der Reflexion eines Wahrnehmungsgegenstandes hervorgeht und sich auf diesen als Rechtfertigungsinstanz beruft; Einmaliges ist das Wahrgenommene selbst und schließt die Emotionen ein, die ein Wissen dieses Wahrgenommenen begleiten können. Die in der Wissenschaft gebräuchlichen beiden Begriffspaare: Objektives – Subjektives und Allgemeines – Einzelnes bedürfen einer Betrachtung. Für das erste Paar bezeichnet Objektives das Ergebnis eines Erkenntnisvorgangs, das für jedes Subjekt unabhängig von dessen subjektiven Anteilen an der Erkenntnis gelten soll. Objektiviertes will das hervorheben, was einem Wissen von einem Gegenstand, das von einzelnen Subjekten hervorgebracht wird, gemeinsam ist. Durch eine Objektivierung soll der subjektive Anteil des Wissens ausgeschlossen bleiben. Aus der Sicht des Wissens als Ergebnis eines Kommunikationsprozesses kann durch eine Objektivierung bestenfalls das in den Blick genommen werden, was auf die einem Wissen vorausgehenden Reize der Umwelt zurückgeht. Da dieser Anteil, bezogen auf einen Gegenstand, sich als untrennbar von dem Anteil des Subjektiven erwiesen hat, wird Objektiviertes nur als dasjenige bezeichnet werden können, auf das als notwendige Bedingung eines Reflexionswissens nicht verzichtet werden kann; als die notwendige Bedingung hatte sich das Zugrundelie150
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gende herausgestellt. Betrachtet z. B. ein Subjekt ein Gesicht, so wird man dasjenige als ein Objektivierbares bezeichnen können, was als Informationen aus den Reizquellen der Umwelt von den einzelnen Subjekten zur Gesichtswahrnehmung verarbeitet wird und ohne die eine Gesichterwahrnehmung nicht zustande kommt. Als Kriterium für ein ausgezeichnetes Wissen, wie es das wissenschaftliche zu sein beansprucht, erweist sich das Objektivierte als ungeeignet, weil es von subjektiven Anteilen nicht zu trennen ist. Aus dem zweiten Begriffspaar soll ein Allgemeines dasjenige zur Geltung bringen, was vielen einzelnen Gegenständen gemeinsam ist bzw. sich bei einer Wiederholung der Wahrnehmung als unveränderlich erweist. Allgemeines umfaßt ein Wissen bestimmter Aspekte eines Wahrgenommenen, das von der Vielfalt der einzelnen Wahrnehmungen abstrahiert. Aus der Sicht des Wissens als Ergebnis einer Kommunikation erfaßt ein Allgemeines den gefragten Aspekt aus wiederholten Wahrnehmungen, wenn er sich als konstant erweist. Begründbar wird ein Allgemeines aus bestimmten, einem Wahrnehmungswissen vorausgehenden Umweltreizen, auf die nicht nur nicht verzichtet werden kann, sondern die eine Stabilität und Konstanz des Wahrgenommenen erklären können. In dieser Argumentation scheint es sich um einen Zirkel zu handeln: Weil sich Konstanz der Wahrnehmungen zeigte, wurde auf unverzichtbare Reizquellen der Außenwelt geschlossen; jetzt werden die Reizquellen vorausgesetzt und von diesen auf die Konstanz und das Allgemeine der Wahrnehmung geschlossen. Auf der Reflexionsebene handelt es sich um einen Zirkelschluß. Da aber auf der Ebene des Wahrnehmungswissens gezeigt werden konnte, daß Reizquellen als notwendige Bedingung der Wahrnehmung vorhanden sein müssen und daß Stabilität auf ihren unverzichtbaren Einfluß zurückgeht, ist der Wahrnehmungszusammenhang zwischen Reizquellen und Verarbeitung die Begründungsgrundlage, die auf der Reflexionsebene als Zirkel erscheint. In dem Begriffspaar ›Allgemeines – Einzelnes‹ ist eine Abgrenzung beider Begriffe gegeneinander möglich, weil ein Allgemeines aus einem Reflexionswissen hervorgeht, das zwar Wahrnehmungswissen enthält, aber nicht aus der Wahrnehmung gewußt werden kann. Einzelnes dagegen geht aus Wahrnehmungs- und Emotionswissen hervor, kann aber auch, wie im Fall der Geisteswissenschaften, als Einzelnes aus einem Reflexionswissen entstehen. Das Allgemeine ist ein wichtiger Teil des Wissens über den WahrnehmungsgegenA
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Kritische Betrachtung
stand; aber es ist nur ein Teil, der einer Ergänzung durch das Wahrnehmungswissen und das Emotionswissen bedarf um der Vollständigkeit des Wissens willen, das erst aus der gegenseitigen Ergänzung aller drei Arten erreicht wird. Es bleibt deutlich zu machen, was die drei Arten des Wissens systematisch miteinander verbindet und eine Vollständigkeit des Wissens begründen kann.
b.
Systematische Verknüpfung eines Wissens des Allgemeinen mit dem Wissen vom Einzelnen
Einzelnes und Allgemeines beziehen sich auf eine gemeinsame Grundlage der Wahrnehmung. Wahrnehmung ging aus einem schöpferischen Akt des Subjektes hervor; das Subjekt ist ihr gemeinsamer Erzeuger. Ihre gemeinsame Grundlage ist das Zugrundeliegende als ihre notwendige Bedingung ihrer Herausbildung; ohne das Zugrundeliegende kann weder die bestimmte Wahrnehmung noch ein allgemein Erklärendes entstehen. Man nimmt z. B. viele Gesichter wahr, gleiche im Wiederholungsfall, verschiedene zugleich und nacheinander. Wie ist es denkbar, daß die Wahrnehmung immer Gesichter hervorbringt, daß es im Wiederholungsfall gleiche sind oder daß es unterschiedliche sind, die in einigen Merkmalen gleich, in anderen ungleich sind? Aus den neuronalen Prozessen war zu entnehmen: Es gibt merkmalsspezifische Neurone wie z. B. Gesichterzellen, die Gesichter unterscheiden, zwar keine individuellen, aber verschiedenartige wie Menschen- und Affengesichter. Ein anderer wichtiger Teil der neuronalen Prozesse ist ihre Verschaltung merkmalspezifischer Neuronen zu einer Matrix von Merkmalen, die geeignete Konstellationen zusammenbindet; ihre Gesamtheit stellt einen bestimmten Inhalt dar. Singer erläutert die komplizierten Prozesse mit der Hypothese der Codierungsstrategie und einer Synchronisationshypothese, die eine Weiterverarbeitung von ausgewählten neuronalen Aktivitäten aus einer Vielzahl beschreibt. Mit Hilfe dieser neuronalen Prozesse ist es möglich, sowohl die Konstanz von Einzelnem als auch Allgemeines, das nur bestimmte Merkmale erfaßt, durch entsprechende neuronale Zusammenbindungen und deren Weiterverarbeitung zu erklären. Die zusammengebundenen Merkmale verweisen auf entsprechende Reize und damit auf ein Zugrundeliegendes für die 152
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Gesichterwahrnehmung. 26 Einmaliges und Allgemeines ergänzen einander, weil sie in dem gemeinsamen Zugrundeliegenden ihrer Reize systematisch miteinander verbunden sind. Hinzu kommt zu dem Einmaligen aus der Wahrnehmung das Emotionale, das mit dem Einmaligen unauflöslich verbunden ist, weil es aus dem gleichen Zugrundeliegenden hervorgeht, das auch das Wahrnehmungswissen prägt. Neben dem Reflexionswissen über ein Wahrgenommenes bleibt dieses als Einmaliges selbst präsent ebenso wie sein Bewertendes aus den Emotionen. Das oben behandelte Beispiel eines Gesichtes kann deutlich machen: Das Allgemeine eines Gesichtes abstrahiert von der individuellen Ausprägung und von momentanen Ausdrücken; das Allgemeine kann z. B. Merkmale der Rassen erfassen. Das Einzelne ist das individuelle Gesicht einer Person, das man wahrnimmt; seine Beschreibung würde sich auf ein Allgemeines stützen müssen. Ein Einzelnes ist auch der Gesichtsausdruck, der Emotionen vermitteln und Handeln und Verhalten des Betrachters beeinflussen kann. Dem Allgemeinen und dem Einzelnen liegt etwas ihnen Gemeinsames zugrunde. Aus der Einteilung des Wissens, der Gleichrangigkeit der Arten und ihrer Rückbindung an ein gemeinsames Zugrundeliegendes ergibt sich folgende Systematik:
EMOTION
~| | | | | | | | | | | | | | | |!
REFLEXION
ZUGRUNDELIEGENDES
Einzelnes Bewertung
WAHRNEHMUNG
~| | | | | | | | | | | | | | | |!
EMOTION
SUBJEKT
WAHRNEHMUNG
Allgemeines Naturwissenschaft, Geistesw./Ethik
UMWELT
Einzelnes Bewertung
Vgl. Singer, 1999, S. 272 f.: Er beschreibt die komplizierten neuronalen Prozesse als Hypothesen, die mit den bisherigen experimentellen Ergebnissen kompatibel seien.
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Kritische Betrachtung
Eine Skizze erläutert die Systematik des Wissens: Der waagerechte Strich markiert die Unterscheidung von Subjekt und Umwelt; die doppelten senkrechten Striche stellen die Kommunikation zwischen Subjekt und Umwelt dar, aus der Wahrgenommenes und Emotionen hervorgehen. Wahrgenommenes und Emotion sind ein Einzelnes, hier aus zwei unterschiedlichen Wahrnehmungsprozessen dargestellt in je einem großen Kasten, der die mit dem Wahrgenommenen einhergehenden Emotionen einschließt. Weil Einzelnes aus einem bestimmten Aspekt reflektiert wird, erfaßt das Reflexionswissen nicht das Einzelne in vollem Umfang, sondern eine Hinsicht, hier dargestellt durch ein Hineinragen der Reflexion in das jeweils Einzelne. Reflexion bedarf des Wahrnehmungswissens; dieses wie das Emotionswissen gründen auf einem Zugrundeliegenden, das deshalb allen drei Arten die gemeinsame Grundlage ist. Das Allgemeine aus der Reflexion führt je nach verwendeter Systematik zu naturwissenschaftlichem Wissen oder zu geisteswissenschaftlichem Wissen einschließlich einer Ethik. In all diesen Überlegungen bleibt zu betonen: Wahrnehmung bedarf keiner Theorie oder Erklärungen. Wer von den hier dargestellten Zusammenhängen nichts weiß, nimmt trotzdem wahr, denkt und fühlt. In der dargestellten Systematik soll nur klargemacht werden, daß ein Reflexionswissen das ihm vorausgehende Wahrnehmungswissen nicht verdrängt, sondern daß dieses seine eigenständige Geltung behält und daß Emotionen einen unverzichtbaren Beitrag zum Wissen leisten, der ebenfalls von einem Reflexionswissen nicht verdrängt werden kann. Aus der Systematik des Wissens ergeben sich zwei Konsequenzen: die Überwindung der Spaltung der Wissenschaften und eine Perspektive auf eine Vollständigkeit des Wissens. Das aus der Reflexion hervorgehende Allgemeine der Naturwissenschaft und das aus der Reflexion hervorgehende erklärende Wissen des Einmaligen der Geisteswissenschaft sind in dem gemeinsam Zugrundeliegenden systematisch verbunden. Die reflexive Betrachtung ihres gemeinsamen Wahrnehmungswissens geschieht aus unterschiedlicher Perspektive nach unterschiedlicher Systematik. Eine Musik läßt sich nach physikalischen Gesetzmäßigkeiten, gleichzeitig aus historischem Aspekt in ihrer Einmaligkeit betrachten. Physikalisch können Schwingungsverhältnisse in harmonischen Klängen untersucht werden. Historisch läßt sich die Entstehung eines Werkes und Einflüsse auf dieses aus zeitgenössischen Entwicklungen er154
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schließen. Die Kluft zwischen Natur- und Geisteswissenschaft war entstanden aus unterschiedlichen Hinsichten und unterschiedlicher Systematik des Wissens; sie wird überwunden durch ihren Bezug auf das beiden gemeinsame Wahrnehmungswissen, geprägt von dessen Zugrundeliegendem. Gesetzmäßigkeit und Einmaliges ergänzen sich in wissenschaftlichem Wissen über den Wahrnehmungsgegenstand. Aus der Reflexion der Emotionen, die zu einer Bewertung eines Wahrgenommenen führen und dadurch Handeln beeinflussen, kann eine Theorie der Bewertung hervorgehen und zu einer Ethik führen, wie im nächsten Kapitel gezeigt wird. Die andere Konsequenz aus der Systematik ermöglicht den Blick auf eine Vollständigkeit des Wissens aus den drei sich gegenseitig ergänzenden Arten. Ein Auge läßt sich wahrnehmen, sein Ausdruck eines Gefühls empfinden und nach optischen Gesetzmäßigkeiten betrachten. Dieses Beispiel macht deutlich, daß keiner der drei Arten des Wissens ein Vorrang zukommt und daß eine Bevorzugung einer Art zu einer Beschränkung des Wissens aus den anderen Arten führt. Eine Bevorzugung z. B. des Reflexionswissens bedarf der Rechtfertigung, wenn gleichzeitig anderes Wahrnehmungs- und Emotionswissen vernachlässigt wird. Das Reflexionswissen einer Krankheit und ihrer möglichen Therapie bedarf der Ergänzung durch das Wahrnehmungswissen über den Patienten, der vielleicht alt ist und in seinen Äußerungen zeigt, lieber in Frieden sterben als sich einer quälenden Therapie aussetzen zu wollen. Erst Wahrnehmungswissen und Emotionswissen vervollständigen ein Wissen, das eine Entscheidung, ob eine Therapie begonnen werden soll oder nicht, begründen hilft. Das Wahrnehmungswissen, das Emotionswissen und das Reflexionswissen ergänzen sich hinsichtlich ihres Eigentümlichen, das sie vermitteln. Wahrnehmungswissen eröffnet eine Vielfalt von Merkmalen des Wahrnehmungsgegenstandes. Das Emotionswissen prägt die Aspekte des Erlebens und der Gefühle, die sich auf eine Bewertung des Wahrgenommenen durch das Subjekt auswirken und auf dessen Handeln und Verhalten Einfluß nehmen. Das Reflexionswissen schließlich hebt Aspekte bezüglich des Wahrgenommenen hervor, stellt Zusammenhänge mit anderem Wahrgenommenen her und führt zu einem entsprechend der Fragestellung spezialisierten Wissen über das Wahrgenommene. Weder Einzelnes noch Allgemeines beschreiben allein und ausreichend die Umwelt, weil Einzelnes keine Zusammenhänge und Erklärungen erschließt und Allgemeines nur Aspekte betrachtet und all das vernachlässigt, wovon es ein A
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Kritische Betrachtung
Aspekt ist. Dieser Gedanke ist insofern nicht neu, als Aristoteles auf der Suche nach Erkenntnis und Wahrheit eine Verknüpfung des Allgemeinen mit dem Einzelnen für den richtigen Weg hält. Er verbindet in der Nikomachischen Ethik Weisheit, die das Allgemeine zu erkennen trachtet, mit Klugheit, die das Einzelne erfaßt und sich auf Wahrnehmung stützt. Er erläutert, warum Ethik nicht allein eine Sache vom Wissen des Allgemeinen sein könne: weil sie das Veränderliche des Handelns, das Einzelne nicht erfasse. Deshalb verbindet er die Weisheit, die das allgemeine Ziel des Handelns auswählt, mit der Klugheit, die den richtigen Weg in der einzelnen Situation überlegt (Aristoteles, 1969, 6. Buch 1141 b 14–1142 a 30). Was Aristoteles nur für die Erkenntnis eines richtigen Handelns zusammenfügt, erweist sich für ein Wissen nach allen drei Arten. Vor dem Hintergrund eines Wahrnehmungs- und Emotionswissens läßt sich ein Reflexionswissen relativieren und aus Emotionen bewerten. Sieht man jetzt noch einmal auf die Beispiele aus der naturwissenschaftlichen Forschung, deren Ergebnisse ein Unbehagen hervorriefen, weil sie die Frage nach einem Handeln auf der Grundlage ihrer Ergebnisse nicht beantworten konnten, eröffnet sich ein Weg: Das naturwissenschaftliche Wissen ist nur ein Teil des Wissens über den Wahrnehmungsgegenstand; dessen Ergänzung aus den Emotionen, das zum Wissen über den Wahrnehmungsgegenstand hinzugehört, gibt die Möglichkeit zu einer Bewertung hinsichtlich des Handelns und Verhaltens.
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E. Ethik
XIV. Ethik aus Emotionen a.
Zum Begriff einer Ethik
Bisher wurden Emotionen als eine Bewertungsreaktion der Wahrnehmungen beschrieben. Ergebnisse aus der Kommunikation eines Individuums mit seiner Umwelt führten zu einem Wahrnehmungswissen, das von dem Individuum gleichzeitig bewertet wird. Die Bewertung orientiert sich an dessen Selbsterhaltung und Lebensbedürfnissen. Es kann sein, daß eine Bewertung nicht zur Geltung kommt, weil ihr Ergebnis für das Individuum keine Bedeutung hat; unvorstellbar ist aber, daß keine Bewertung stattfindet, obwohl ihre Information über Bedürfnisse und Gefahren der Umwelt für das Individuum lebensnotwendig sind. Solche Fälle führen, wie Beobachtungen zeigen, zur Lebensuntüchtigkeit. Wahrnehmungen bedürfen der emotionalen Bewertung, die wie die Wahrnehmungen den Einflüssen aus Reizquellen der Umwelt unterliegen. Zu Gegenständen der Wahrnehmung, die emotional bewertet werden, rechnen auch solche aus der Umwelt, Reaktionen und Handlungen von Individuen und eigene wie z. B. dann, wenn ein Mensch auf einen Reiz reagiert und sich anschließend über seine Reaktion ärgert, weil er sie besser vermieden hätte. Bewertungen von Reaktionen und Handlungen sind für das Individuum ebenso überlebenswichtig wie die Bewertung von Wahrnehmungen, die zu den Reaktionen oder Handlungen geführt haben, weil sie Lernprozesse und Erfahrungen über erfolgreiches Handeln ermöglichen. Die Bewertung von ausgelösten Aktivitäten aus singulären Situationen können im Gedächtnis gespeichert werden, zu erlernten Verhaltensmustern führen und zu einer Bewertung ähnlicher Situationen in der Zukunft eine Orientierung geben. Können Ergebnisse solcher Lernprozesse bereits als eine Ethik verstanden werden, die dann auch Tieren zukäme? Um von einer Ethik sprechen zu können, muß zu der emotionalen Bewertung eine Reflexion hinzutreten. Reaktionen und Handlungen aus emotionalen BeA
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Ethik
wertungen können zum Anlaß nachdenkender Betrachtung gemacht werden, um zu überlegen, ob z. B. eine Erste Person einer aus den Emotionen hervorgehenden Reaktion folgen soll oder nicht; um Einflüsse auf die Handlungsentscheidungen zu erkennen; um zu überlegen, welche Erfahrungen aus der Bewertung einer Situation für zukünftiges Verhalten gelten sollen oder welche Zielsetzungen für zukünftiges Handeln auszuwählen sind. Eine Reflexion kann über die Erste Person hinaus auch auf eine Verallgemeinerung erweitern und fragen, ob bestimmte emotionale Bewertungen eines Handelns oder Verhaltens auch für andere zutrifft. Obgleich nicht nur Menschen, sondern auch Tiere ihre Wahrnehmungen emotional bewerten, werden die Bewertungen nur bei Menschen zu einer Ethik führen, weil sie zu Reflexionen fähig sind. Es mag bei höheren Tierarten Ansätze solcher Reflexionsfähigkeit geben, auf die es hier aber nicht ankommt. Aus diesen ersten Überlegungen ergeben sich die Grundlagen einer Ethik: Es sind emotionale Reaktionen, die auf eine Kommunikation mit der Umwelt zurückgehen und die betrachtet werden hinsichtlich Handlungs- und Verhaltensentscheidungen; sie führen zu einem Reflexionswissen. b.
Normen
Eine Ethik aus Emotionen entwirft keine Normen, an denen Handeln und Verhalten gemessen werden könnten, wie es wiederholt versucht worden ist 1 ; auch in der gegenwärtigen Situation gibt es eine Suche nach Normen, weil in der Biologie, in der Medizin und in der Biochemie Forschungsperspektiven und Anwendungen von Forschungsergebnissen möglich geworden sind, die zu einer ungelösten Spannung zwischen Machbarkeiten und Akzeptanz der Machbarkeiten führen. 2 Zur Lösung der Spannung sind eine Reihe von EthikentwürEinen systematischen Überblick über Ethikentwürfe enthält Pieper, S. 115–137; sie unterscheidet Argumentationen im Rückgang auf allgemeine Normen, auf Gefühle, auf Folgen einer Handlung, auf einen moralischen Kodex einer Gruppe, auf moralische Kompetenz und auf das Gewissen als sittlicher Leitinstanz; sie verweist auf unterschiedliche Methoden wie logische, diskursive, dialektische, transzendentale, sprachanalytische und hermeneutische. 2 Aus der Fülle der Literatur zu diesem Thema soll auf zwei Veröffentlichungen hingewiesen werden, die eine Reihe von Beispielen umstrittener Forschungsmöglichkeiten 1
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Ethik aus Emotionen
fen und Normenvorschläge vorgelegt worden. Sie lassen sich unterteilen in solche, die ausgewählte Normen als Grundlage zu rechtfertigen versuchen, und in solche, die ethische Orientierung für begrenzte Anwendungsbereiche entwerfen. Zu zweiten Gruppe gehören Medizinethik, Bioethik, Wissenschaftsethik, Wirtschaftsethik, Technik- und Umweltethik und Ökologische Ethik. Jede versucht, für einen speziellen Wissenschaftsbereich moralische Prinzipien zur Geltung zu bringen. 3 Eine ökologische Ethik z. B. entstand, um die in der Neuzeit aus den moralischen Diskursen ausgegrenzte ethisch neutralisierte äußere Natur in die Zuständigkeit der Moral zurückzuholen. 4 Die Entwürfe gehen davon aus, daß Orientierungen für Handlungsentscheidungen am besten in den eigentümlichen Anwendungsbereichen gefunden werden können; aus der Sache selbst, wie z. B. ein Arzt am ehesten weiß, wann lebensverlängernde Maßnahmen geboten erscheinen und wann nicht. In einigen Hinsichten mag eine solche Fachkompetenzzuweisung für ethische Orientierungen zutreffen, in anderer Hinsicht aber auch nicht, wie die vielen strittigen Auseinandersetzungen unter Ärzten in den Fragen der Todesdefinition, der Organentnahme und -transplantation, der Präimplantationsdiagnostik und der Embryonenforschung zeigen. Zur ersten Gruppe gehören die Ethikentwürfe, die sich auf Normen oder Prinzipien stützen. Dazu zählen Vernunftethik, Verantwortungsethik, Konsensethik, Diskursethik, Gesinnungsethik, Auswegeethik oder ein standesrechtliches Berufsethos. 5 Jeder der Entwürfe bedürfte einer gründlichen Diskussion, um seine eigentümliche Orientierungskraft zu prüfen. Generell bleibt aber den Entwürfen eine Kritik nicht erspart, die sich vor allem auf drei Punkte richtet: Erstens ist es die strittige Anwendung einer Norm in einzelnen Entscheidungssituationen. Am Beispiel der Präimplantationsdiagnoenthalten: Irrgang, 1997, und auf eine Sammelveröffentlichung von Johannes Reiter, Ludwig Siep und Kurt Bayertz, 1999. 3 Vgl. Hösle, 1990, S. 133 ff.: Er diskutiert solche Ethikausformungen; Lenk, 1992, gibt einen umfassenden Literaturbericht. Die Diskussion über Embryonenforschung, Präimplantationsdiagnostik, Klonen, Todeskriterien sind in einer Vielzahl von Veröffentlichungen in den Medien behandelt worden. Wegen der Aktualität der Fragen, wegen des Unbehagens über die naturwissenschaftlichen Handlungsmöglichkeiten und wegen ihrer Dringlichkeit findet die strittige wissenschaftliche Auseinandersetzung oft in den öffentlichen Medien statt. 4 Vgl. Kersting, 2001. 5 Lenk u. a., 1984, behandelt hier gegenwärtige ethische Grundpositionen. A
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Ethik
stik läßt sich zeigen, daß das Prinzip Verantwortung sowohl ihre Befürworter in Anspruch nehmen gegenüber betroffenen Eltern, die ihren Kindern z. B. einen Gendefekt ersparen wollen, als auch die Gegner, die eine Verantwortung für ungeborenes menschliches Leben reklamieren und dessen Schutz nicht bestimmten Auswahlkriterien überlassen wollen. Zweitens gibt es Interpretationsprobleme und Uneinigkeit über Grundbegriffe, die in den Prinzipien verwendet werden, wie z. B. die Begriffe Menschsein, Leid, Krankheit und Natur. Selbst ein Begriff wie Menschenwürde, der trotz mancher Ungeklärtheit allgemein akzeptiert wird, ist in seiner Anwendung strittig, nämlich dort, wo es um eine Bestimmung des Menscheins geht. Ist ein ungeborener Embryo ein Zellhaufen oder ein Mensch, dem die anerkannte Würde zukommt, oder wird einem Embryo das Menschsein und die Würde erst ab einem bestimmten Zeitpunkt zugesprochen? 6 Der Begriff der Menschenwürde hat die Frage nicht lösen können, ob verbrauchende Embryonenforschung erlaubt sein soll oder nicht. Die strittige Diskussion über eine gesetzliche Regelung des Embryonenschutzes zeigt die unversöhnlichen Auffassungen, die weder im Diskurs noch im Konsens zu lösen sind, sondern nur über parlamentarische Mehrheiten. Ein dritter Punkt der Kritik an gegenwärtigen Ethikentwürfen, die sich auf bestimmte Prinzipien berufen, ist eine Konkurrenz gleich gut begründeter Prinzipien wie z. B. zwischen den kategorischen einer Moral und den pragmatischen des Überlebens, oder zwischen nur kategorischen wie Hilfe für Kranke oder Schutz des Embryos; strittig sind auch allgemein akzeptierte miteinander konkurrierende Grundrechtspositionen wie z. B. das Recht auf Leben und das Recht auf Wissen und Forschen, die mancher miteinander zu verrechnen versucht.7 Weder ein Beklagen eines Werteverfalls der Normen und Prinzipien noch der Verweis auf einen Wertepluralismus lösen die Orientierungsprobleme für Handlungsentscheidungen in den Wissenschaftsbereichen. Die unterschiedlichen Ausformungen einer Ethik Schmoll, 2001, hat in einem Aufsatz die Zuschreibungen Menschsein zu unterschiedlichen Zeitpunkten seiner Entwicklung und ihre Begründungen eindrucksvoll dargestellt. 7 Hubig, S. 66 ff., hat sich ausführlich mit Interpretationsproblemen und konkurrierenden Prinzipien auseinandergesetzt. 6
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Ethik aus Emotionen
zeigen, daß auf der Suche nach Grundlagen keine gefunden wurden, die allgemeine Geltung beanspruchen können. Normen aus überlieferten Weltbildern der Religion, des Humanismus, des Liberalismus u. ä. werden nicht mehr ungeprüft akzeptiert, und was akzeptiert wird, ist oft umstritten. 8 An die Stelle eines verbindlichen Weltbildes ist, wie in der politischen Theorie, die Geltung durch eine Akzeptanz der Individuen getreten. Gegenwärtigen Entwürfen der Spezialethiken ist es nicht gelungen, eine vergleichbare Geltung und Verbindlichkeit herzustellen, wie sie für das Wissen gilt, das sie bewerten; den Verlockungen der Forschung und den Anwendungsmöglichkeiten ihrer Ergebnisse steht die ethische Position als Empfehlung unvermittelt gegenüber. Erst wenn es gelingt, naturwissenschaftliches und ethisches Wissen aus einer gemeinsamen Wurzel zu begründen, wird diese Kluft überwunden werden können und ethische Bewertungen mit gleichem Geltungsanspruch auftreten können wie das naturwissenschaftliche Wissen. Die Frage ist deshalb, ob es jenseits solcher strittigen Grundlagen und Prinzipien prägende Einflüsse auf ethische Grundorientierungen gibt, wie z. B. aus den Emotionen. Die Ergebnisse der Neurowissenschaft bieten eine Möglichkeit. Der Lösungsweg verlangt, einen systematischen Zusammenhang von Emotionswissen und naturwissenschaftlichem Wissen herzustellen. Für ein Emotionswissen wird zu zeigen sein, ob es möglich ist, Kriterien herzuleiten, nach denen Wahrnehmungswissen bewertet wird. Emotionswissen, das selbst zum Gegenstand von Reflexionswissen gemacht wird, erlaubt eine Befragung hinsichtlich der Geltung seiner Bewertungen. c.
Ethik aus emotionaler Bewertung
Eine Ethik entsteht aus dem Reflexionswissen über emotionale Bewertungen aus der Kommunikation eines Individuums mit seiner Umwelt. Eine solche Ethik setzt voraus, daß Emotionen als Quelle des Wissens für Orientierungen des Handelns und Verhaltens akzeptiert werden. Sie gelten aber bisher oft als Einflüsse auf unsere Urteilsfindung, die als störend angesehen werden und die man verban8 Vgl. Honneth, 1995,: enthält eine Debatte zwischen Kommunitaristen und Liberalisten über moralische Grundlagen moderner Gesellschaften.
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nen möchte (Damasio, 1997, S. 86). Man sollte sie möglichst zu vermeiden suchen; das Emotionale sollte in einen persönlichen Bereich zurückgedrängt bleiben, damit es nicht auf Irrwege führt. Bevorzugt werden dagegen Vernunft und rationale Begründungsstrategien, die für jedermann nachvollziehbar sind. Ein zweiter Grund für ein Mißtrauen gegen Emotionen hängt damit zusammen, daß sie etwas Individuelles sind, daß sie aus einer bestimmten Situation hervorgehen und zu Handlungen des Augenblicks veranlassen. Die Gründe für eine Zurückdrängung der Emotionen sind bedenkenswert, wenn ihre Bewertungen nicht reflektiert werden, wenn sie ungeprüft zur Entscheidungsgrundlage gemacht werden. Ein generelles Mißtrauen gegen Emotionen übersieht aber, daß sie als unser Bewertungssystem in der Kommunikation mit der Umwelt unverzichtbar sind und auf sie alle Orientierungen, auch für langfristige Zielsetzungen, zurückgehen. Am Beispiel einiger historischer Entwürfe über eine Bewertung von Handeln aus Gefühlen läßt sich zeigen, daß es meist dazu eine Auseinandersetzung mit den Gefühlen gegeben hat; entweder sollten nur sie als Grundlage gelten, manchmal ergänzt durch Vernunft, oder sie wurden zugunsten der Vernunft ganz ausgeschlossen. Aristoteles macht Gefühle zur Grundlage seiner Nikomachischen Ethik. Es sind einerseits die Leidenschaften wie Begierde, Zorn, Angst und Mut, die als Bestandteil der Seele unsere Handlungen beeinflussen. Andererseits bedürfen sie aber einer Bewertung und Entscheidung durch die Vernunft, um mit ihnen umzugehen, wobei die richtige Entscheidung erst durch die begleitenden Gefühle der Lust und Unlust tugendhaft werden (Aristoteles, Nikomachische Ethik, Erstes und Zweites Buch). In der aristotelischen Ethik spielen die Gefühle für die Bewertung der Entscheidung zu tugendhaftem Handeln eine Rolle, aber nicht in Verbindung mit einem wissenschaftlichen Wissen. Aristoteles’ damalige Trennung zwischen einem wissenschaftlichen Wissen des Unveränderlichen und einer tugendhaften Einsicht in das Veränderliche der Handlungen ist heute nicht mehr durchzuhalten, wie z. B. in der Embryonenforschung, in der wissenschaftliches Wissen einer Bewertung bedarf. Eine Verbindung von Wissenschaft und Ethik, die Aristoteles trennte, ist heute unser Problem. Hutcheson hat von einem von Gott den Menschen eingepflanzten Sinn gesprochen, der in ihrem Fühlen unmittelbar gegenwärtig sei und der als eine Macht die Menschen zur Tugend aus angeborener Schönheit und Würde lenkt (Hutcheson, 1969, S. 24 f. u. 107). In der 162
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Ethik aus Emotionen
gegenwärtigen Ethikdebatte über naturwissenschaftliche Forschungen sind Bewertungen aus christlicher Religion wiederholt vorgetragen worden, aber sowohl von Gegnern wie Befürwortern bestimmter Forschungsprojekte in Anspruch genommen worden. Hinzu kommt, daß Bewertungen aus religiöser Begründung nicht von allen als verbindliche Orientierungen akzeptiert werden. Benedictus de Spinoza verbindet Leidenschaften und Vernunft; für ihn spielen Affekte und Triebe eine wichtige Rolle, aber nur in Verbindung mit einer Vernunft. Der Mensch ist immer Leidenschaften unterworfen; nur ihre Beherrschung sichere ihm die Freiheit. Durch die Vernunft möchte er eine Ethik aus der Knechtschaft der Affekte befreien. Die Vernunft erhält den Vorrang. Es hat sich aber in der Auseinandersetzung mit Normen und Prinzipien als Grundlage einer ethischen Orientierung für naturwissenschaftliches Handeln gezeigt, daß Vernunft allein die Orientierungsfragen nicht lösen kann. Auch David Hume hat seinen Ethikentwurf auf Gefühle gegründet; Geschmack, Gefühl und Herz setzt er als Kriterien der Tugend ein, weil durch sie soziale Handlungen nach ihrer Nützlichkeit beurteilt werden können. Was das Gefühl sagt, soll als Norm gelten. Er schließt rationale Herleitungsmomente für eine Ethik aus, weil Prinzipien der menschlichen Natur nicht angepaßt seien (Hume, S. 265, 171, 172, 267). Es ist aber leicht einzusehen, daß ein Gefühl allein als Norm nicht ausreicht, weil dann jede Handlung aus Leidenschaft gerechtfertigt werden könnte, auch wenn sie dem Individuum oder dem anderen Schaden zufügt, der sich unter Inanspruchnahme einer reflektierenden Besonnenheit vermeiden ließe. Sinnvoll erscheint es dagegen, Gefühl und Rationalität in einer Ethik miteinander zu verbinden. Kant hatte dagegen Gefühle aus einer Ethik ganz ausgeschlossen, weil eine notwendige Geltung des sittlichen Gesetzes nicht aus der sinnlichen Natur hergeleitet werden könne; ein Geschmacksurteil rechnet er nicht zu einer Erkenntnis, weil es sich auf das Subjekt und nicht auf ein Objekt beziehe (KrdU B 3, 4). Um einer notwendigen Geltung des moralischen Gesetzes willen müssen die Gefühle als subjektive Bewertungen unberücksichtigt bleiben. Die bisherigen Befunde über die Emotionen in ihrer bewertenden Funktion für ein Wahrnehmungswissen sprechen gegen Kants Vorstellungen. Es bleibt eine allgemeine Geltung emotionaler Bewertungen zu zeigen, aber nicht mit einer Notwendigkeit, wie sie Kant verlangt A
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hat, weil diese die Erfahrung ausschließen würde, auf die es hier ja ankommt. Scheler hat dagegen eine Ethik auf der Grundlage der Gefühle formuliert und mit einer Kritik an Kants Ethik verbunden, weil sie ganz auf Formalismus setze und eine materielle Ethik verwerfe. Scheler stellt eine auf Gefühlen beruhende Bewertung in den Mittelpunkt seiner Ethik. Er betont die Unabhängigkeit der Werte von ihren Gegenständen; er versteht sie phänomenologisch, wobei nicht klar wird, wonach sich der Wert eines Gegenstandes für einen Menschen richtet. Er stellt auch keinen Zusammenhang zwischen Ethik und Naturwissenschaft her, obgleich er beklagt, daß die Naturwissenschaft versuche, sich von Werten abzusetzen (Scheler, 1921, II., V.). Einen interessanten Entwurf bietet Nozicks Theorie der Werte, auf die oben hingewiesen wurde. In dieser hatte er erstens Gefühle von Emotionen getrennt und zweitens den Werten aus einer Bewertung durch Gefühle eine eigene Natur zugeschrieben. Seine erste Annahme wird aus den Erkenntnissen der Neurowissenschaften nicht bestätigt, wohl aber wird es für seine zweite möglich sein. Für Nozick ist ein Wert nicht Sache subjektiver Vorliebe, weil er mehr sei als eine Ansichtssache; ihm komme Objektivität zu. Emotionen würden solche Werte kognitiv verarbeiten; sie seien deshalb Antworten auf Werte, wie Sätze die Abbilder von Tatschen sind, die sie benennen (Nozick, 1991, S. 96–104). Nozick hat diesen Gedanken nicht begründen können, was aber durch die Neurowissenschaften möglich wird, allerdings ohne Gefühle von Emotionen zu trennen. Damasio fand durch verschiedene Experimente bestätigt, daß Wissen einschließlich eines Wissens von Werten zwar ohne Emotionen möglich ist, daß aber den Personen, die zu keinen Emotionen fähig waren, positive und negative Erfahrungen als Orientierung für zukünftige Entscheidungen verloren gegangen waren. In einem Glücksspielexperiment war den Versuchspersonen der Wert ihrer Spielgegenstände nicht überlassen, sondern durch Spielregeln festgelegt, den Spielern aber nicht bekannt gegeben worden. Während gesunde Versuchspersonen die Werte erfassen und für zukünftige Entscheidungen berücksichtigen konnten, hat Damasio bei hirngeschädigten Versuchspersonen, die zu keinen Gefühlen mehr fähig waren, beobachtet, daß sie ertragreiche oder verlustbringende Folgen einer Handlung nicht für zukünftige Handlungsentscheidungen auswerten konnten (Damasio, S. 287 ff.). Werte erwiesen sich mit Emotionen 164
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Ethik aus Emotionen
verbunden, von den gesunden Versuchspersonen erfaßbar und nicht in einer Beliebigkeit erfahrbar. Zu klären bleibt, ob auch Werte, die nicht durch künstliche Regeln festgelegt wurden, für verschiedene Personen in gleicher Einschätzung und nicht in ihr Belieben gestellt erfahrbar sind. Emotionen sind als Grundlage einer Ethik geeignet, weil sie einem Individuum eine Orientierung für dessen Handeln und Verhalten ermöglichen. Emotionen werden als biologische Prozesse beschrieben. Ist es berechtigt, eine anspruchsvolle, an erhabene Werte appellierende Ethik auf biologische Prozesse der Emotionen zu reduzieren? Wenn wie hier versucht wird, Ethik aus Emotionen zu erklären, so schmälert das keine Ethik und verlagert sie auch nicht in das naturwissenschaftliche Wissen, weil die biologischen Erklärungen nicht beanspruchen können, daß ein Emotionswissen auf sie reduziert werden kann. Man kann aber zeigen, daß biologische Gesetzmäßigkeiten eine notwendige Bedingung für die Zusammenhänge zwischen Gefühl, Körper, Umwelt und Handlungsorientierung sind. 9 Die Position von Kanitscheider, der ethisches Verhalten auf biochemische Zusammenhänge reduziert, ist eine zu enge Sichtweise, die weder den erkenntnistheoretischen Einschränkungen eines Reflexionswissens gerecht wird noch erklären kann, warum die durch biochemische Prozesse experimentell herbeigeführten Emotionen als künstliche empfunden werden. Ein Zusammenhang zwischen biologischen Prozessen, Bewertungen und Werten kann aber dadurch hergestellt werden, daß sich zeigen läßt, daß differenzierte biologische Prozesse eine notwendige Bedingung für entsprechende differenzierte emotionale Bewertungen sind. Und notwendige Bedingung zu sein heißt, daß bestimmte biologische Zusammenhänge erfüllt sein müssen, wenn bestimmte Bewertungen auftreten. Genauso wenig wie eine biologisch beschriebene Ethik deren Erhabenheit herabsetzt, kann bestritten werden, daß eine Einsicht in moralisches Verhalten einhergeht mit biologischen Prozessen. Damasio verweist auf die enge Beziehung zwischen Moral und biologischen Prozessen und ist der Meinung, daß sich für 9 Vgl. Damasio, 1997, S. 176, weist darauf hin, daß aus den biologischen Erkenntnissen über Emotionen nicht folgt, daß Liebe, Großzügigkeit, Freundlichkeit, Mitleid, Ehrlichkeit und andere löbliche Eigenschaften des Menschen lediglich das Ergebnis neurobiologischer Regulationsprozesse seien; es zeige lediglich, daß es hinter solchen Gefühlen biologische Mechanismen gäbe.
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moralische Vorschriften und soziale Konventionen überzeugende Verbindungen zu einfachen Zielen sowie Trieben und Instinkten herstellen lassen (Damasio, S. 175). Emotionen dienen der Bewertung der Wahrnehmung, also der Beurteilung der Ergebnisse aus einer Kommunikation eines Individuums mit seiner Umwelt; sie vermitteln wichtige Informationen. Liebe und Akzeptanz sind z. B. unverzichtbar für soziale Systeme; die Unfähigkeit, Furcht zu empfinden, führt zur Lebensuntüchtigkeit. Allgemeiner ausgedrückt: Wer nicht fühlt, kann auch nicht vernünftig handeln und entscheiden (Roth, 1997, S. 212 u. 299). Sie dienen der Erhaltung des Individuums als Mittler zwischen ihm und der Außenwelt (Uexküll, 1996, S. 46). In den emotionalen Prozessen wird der Organismus sowohl über körperinterne Vorgänge als auch über die Bedeutung der aktuellen Außenwelt unterrichtet und bekommt eine Meldung über die Zweckmäßigkeit seines Verhaltens (Ploog, 1999, S. 540). Es erscheint deshalb aus der Perspektive der Kommunikation eines Subjektes mit seiner Umwelt berechtigt, einem Zusammenhang zwischen biologischen Prozessen und Emotionen als Bewertungsinstanz zur Durchsetzung von Lebensinteressen nachzugehen.
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Bewertungen und Werte
XV. Bewertungen und Werte a.
Einteilung der Bewertungen
Bewertungen lassen sich einteilen in solche aus primären und aus sekundären Emotionen, die im Kapitel über die Emotionen behandelt wurden (s. Abschn. VIII. b.). Beide gehören zu den angeborenen Emotionen, von denen sich die erworbenen unterscheiden lassen. Entsprechend dieser Einteilung geht aus den Emotionen hinsichtlich ihrer Bewertung von Wahrnehmungen angeborenes oder erworbenes Wissen hervor. Beide Möglichkeiten sind im Gehirn in Aktivitätsmustern repräsentiert und werden durch Reize aktiviert. Angeborenes Wissen beruht auf dispositionellen Repräsentationen im Gehirn zuständig für grundlegende biologische Regulationen. Damasio nennt angeborene, nicht bewußte präorganisierte Reaktionen auf Reizmerkmale durch ein Objekt diejenigen, deren unbewußte Verarbeitung im Gehirn eine automatische Reaktion zur Folge hat. Im autonomen neuronalen System zeigen sich zwei Untersysteme: das eine, das Emotionen für Kampf und Flucht auslöst, das andere für Ruhe und Verdauen (Kandel, S. 612). Andere Bewertungspaare werden erwähnt: Schmerz vermeiden und Lust suchen (Damasio, S. 245), bei Tieren erwähnt Kandel die Fähigkeit zu vermehrten Kontakten mit der Umwelt bei positiven Stimuli wie Sexualität, Nahrung und Wasser und zu verminderten Kontakten bei untauglichen oder gefährlichen Stimuli (Kandel, S. 622). Solche einfachen Paarungen bestätigen hinsichtlich der Regulationsfähigkeit der unverzichtbaren Emotionen eine erste Einteilung der Bewertungen. Grundlegende Gefühle für angeborene Bewertungen bezeichnet Damasio als primäre oder auch Universalgefühle; zu ihnen rechnet er die fünf verbreitetsten Gefühle: Glück, Traurigkeit, Wut, Furcht und Ekel (Damasio, S. 206). Sie bewirken emotionale Verhaltensweisen, wie z. B. bei einem Küken im Nest, das mit Entsetzen und Verstecken des Kopfes auf ein Objekt mit weitgespannten Flügeln reagiert, das das Küken mit einer gewissen Geschwindigkeit überfliegt; es muß für diese angeborene Reaktion nicht wissen, daß es sich um einen Adler handelt. In ihrer Bewertungsfunktion lassen sich Gefühle als förderlich oder hinderlich für die Lebensfunktionen ordnen: Pöppel hatte Lust und Schmerz als Grundlage menschlichen Lebens und Verhaltens A
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bezeichnet (Pöppel, 1982, S. 283). Ploog unterscheidet die angenehmen von unangenehmen Emotionen: »Unangenehme Emotionen bewirken eine Veränderung des auf ein Ziel gerichteten Verhaltens, angenehme Emotionen bestärken den Organismus in seiner Zielverfolgung« (Ploog, 1999, S. 540). Pöppel spricht von Wertgefühlen, zu denen er auch Lust und Schmerz rechnet, weil sie eine Rangordnung von Werten ermöglichten (Pöppel, 1982, S. 287). Damasio nennt es ein Präferenzsystem mit der Tendenz, Schmerzen zu meiden und potentielle Lust zu suchen (S. 245). Auch Roth nennt als Grundkriterien Lust und Unlust; davon seien die weiteren Kriterien abgeleitet, wobei das Gedächtnis eine unverzichtbare Rolle spielt (Roth, 1997, S. 209). Verallgemeinert ausgedrückt sind angeborene Reaktionsmuster sowohl angenehme Emotionen, die eine Zielverfolgung bestärken, als auch unangenehme, die Veränderungen des Verhaltens bewirken (Pöppel, 1999, S. 540). Sich eines solchen primären Gefühls bewußt werden zu können, wie es mindestens bei Menschen der Fall ist, z. B. der Angst angesichts eines Tieres, eines Gegenstandes oder einer Situation, hat den Vorteil, eigene spezifische Erfahrungen über den auslösenden Gegenstand zu sammeln, zu bewerten und vorauszudenken, um in einer ähnlichen Situation angemessen reagieren zu können (Damasio, S. 185). Erworbenes Wissen ist gegenüber angeborenem ein Wissen aus persönlicher Erfahrung. Die primären Gefühle reichen nicht aus, sobald wir systematische Verknüpfungen zwischen Kategorien von Objekten und Situationen mit primären Gefühlen herstellen, also einen persönlichen Erfahrungshorizont herausbilden, weil dann weitere Abstufungen der primären Gefühle erforderlich werden. Damasio stützt die Einteilung in primäre und sekundäre Gefühle auf Beobachtung von Hirnverletzten: Bei präfrontalen Schädigungen verfügen Patienten zwar über primäre Gefühle, die ein intaktes Affektleben ermöglichen; sie sind aber nicht in der Lage, zu Vorstellungsbildern, die durch bestimmte Kategorien und Reize heraufbeschworen werden, die entsprechenden Gefühle zu erzeugen. Diese zweite von der Erfahrung beeinflußte Art der Gefühle ermöglicht Abstufungen der Universalgefühle wie z. B. Euphorie und Ekstase als Abstufungen des Glücks; Melancholie und Wehmut als Schattierungen der Traurigkeit; Panik und Schüchternheit als Differenzierungen der Furcht. Allerdings sind die so erworbenen sekundären Gefühle auf die primären angewiesen, um entstehen zu können. Es sind erworbene und 168
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dispositionelle Repräsentationen, in denen gespeichert ist, welche Situationen aus der persönlichen Erfahrung mit welchen emotionalen Reaktionen verknüpft waren (Damasio, S. 189 ff.). Erworbenes Wissen ist das der sekundären Gefühle, das aus persönlichen Erfahrungen hervorgeht und dem Subjekt als Bewertungsinstanz in einer Entscheidungssituation dient. Subjektiv geprägt ist das Wissen durch die erlebte Situation auf der Grundlage der primären Gefühle; als in der Erinnerung gespeicherte Bewertungsinstanz steht es für gleiche und ähnliche Situationen zur Verfügung. Emotionale Bewertungen des erworbenen Wissen entstehen auf der Grundlage angeborenen Wissens, geprägt von individueller Erfahrung, ergänzt von Denkprozessen und herausgebildet unter den Einflüssen einer Kultur. Damasio unterscheidet in dem erworbenen Wissen zwischen einem internen Präferenzsystem und den Einwirkungen aus äußeren Umständen wie der physischen Welt sowie sozialen Konventionen und Regeln (Damasio, S. 243 f.). Daß die Erziehung der Eltern, aber auch die soziale und historische Situation als prägende Einflüsse bei dieser Herausbildung eine große Rolle spielen, ist bekannt. Ob man aber diese Einflüsse von einem individuellen Präferenzsystem unterscheiden kann, mag bezweifelt werden, weil auch eine physische und soziale Welt immer schon individuelle Wahrnehmungs- und Bewertungsprodukte eines Individuums sind. 10 Eine dritte Art nennt Damasio Hintergrundempfindungen, die eine körperliche Grundausstattung beschreiben, die über längere Zeit unseren körperlichen Zustand unabhängig von wechselnden Veränderungen in der Umwelt bestimmt. Die Hintergrundempfindung wird von den oben beschriebenen Gefühlen in konkreten Situationen überlagert (Damasio, S. 207 ff.). Unabhängig von einer kritischen Betrachtung dieser und ähnlicher Einteilungen bleibt hier festzuhalten, daß man emotionale Bewertungszustände in Abstufungen mit persönlicher Erfahrung verknüpft erwerben, speichern und in zukünftigen Situationen einsetzen kann. Angeborene und erworbene emotionale Bewertungen lassen sich in ihrer Bewertungsfunktion unterteilen in unreflektierte und reflektierte Bewertungen.
Damasio, 1997, S. 277 ff., hat für die Einflüsse des erworbenen Wissens auf Entscheidungen eine Theorie der »Somatischen Marker« entworfen, mit deren Hilfe er Entscheidungssituationen sehr ausführlich behandelt.
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Reflektieren der Bewertungen
Eine kognitive Verarbeitung erlaubt, sobald man sich ihrer bewußt ist, eine Distanzierung gegenüber beiden Arten emotionaler Reaktionen und ermöglicht, mit den Reaktionen – wie z. B. vor bestimmten Handlungen zu warnen – umzugehen und auf bestimmte Handlungsplanungen Einfluß auszuüben. 11 Sich eines Körperzustands als Folge einer Emotion bewußt zu werden und ihn in Beziehung zu einer auslösenden Wahrnehmung zu setzen, ist ein Schritt, der eine Denkleistung erfordert. Es ist ein Bewußtwerden der Beziehung, das Handlungs- und Verhaltensstrategien, die über den Moment hinaus in die Zukunft gerichtet sind, ermöglicht (Damasio, S. 218, 185). Wenn Damasio davon spricht, daß sich Denken in »Bildern« vollziehe, so verweist er auf Wahrnehmungswissen und auf damit verbundene Emotionen (S. 152 f.). Allerdings können auch emotionale Einflüsse auf ein bestimmtes Verhalten durch Konditionierung eingeübt werden wie z. B. durch Belohnung oder Strafe. Wo eine Grenze zwischen Konditionierung und Bewußtwerden der Beziehung verläuft, kann hier nicht entschieden werden. Aber dort, wo sich ein Subjekt seiner Gefühle bewußt wird, gewinnt es Flexibilität für Handeln und Verhalten. Eine Speicherung des bewertenden Emotionswissens im Gedächtnis wirkt sich auf eine Beurteilung von Handlungen in der Zukunft aus. In dem oben erwähnten Glückspielexperiment, in dem Versuchspersonen bei entsprechenden Handlungen eine Belohnung erhielten oder Bestrafung hinnehmen mußten, zeigte sich, daß normale Versuchspersonen durch Überlegung nach kurzer Zeit in der Lage sind, vorteilhaftes oder nachteiliges Verhalten vorherzusagen; sie zeigten sich zu einem in die Zukunft gerichteten vorteilhaften Handeln befähigt (Damasio, S. 295). Die von Emotionen beeinflußten Denkprozesse sind an Wahrnehmungswissen gebunden. Eine Reflexion der Emotionen erlaubt, Bewertungen aus Emotionen kritisch zu betrachten und die Wahl einer Entscheidung auf der Grundlage emotionaler Erfahrungen rational abzuwägen. Die Unverzichtbarkeit der Gefühle im Zusammenhang mit rationalen Entscheidungsprozessen einerseits, aber auch ihre Nachteile aus mangelnder Reflexion andererseits hat Damasio in verschiedenen Alltagssituationen untersucht. Er verwendet für seine Untersuchungen eine Theorie der »Somatischen Marker«, die, noch bevor logische 11
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Vgl. Damasio, 1997, S. 162 ff. und Roth, 1997, S. 212.
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Überlegungen zur Lösung eines Problems wirksam werden, wie ein automatisches Warnsignal vor Verlusten dadurch schützen, daß die Vorstellung eines unerwünschten Ergebnisses ein unangenehmes Gefühl auslöst (Damasio, S. 237). Er schildert anhand von Beispielen die Hilfe der Gefühle in Entscheidungssituationen in Verbindung mit rationalen Erwägungen. Er verweist aber auch auf katastrophale Folgen von einem Zuviel oder Zuwenig an Emotionen (Damasio, S. 261 ff.). Das oben erwähnte Beispiel einer Angst vor dem Fliegen zeigte, daß sie ohne eine reflexive Auseinandersetzung zu unzulänglichen Ratgebern werden können. Eine nachdenkende Auseinandersetzung mit der Flugangst und ihrer Quelle macht deutlich, daß ein Vergleich des Unfallrisikos zwischen Fliegen und Autofahren zugunsten des Fliegens ausgeht und es sich als weniger gefährlich erweist. Im Bereich des erworbenen Wissens sind Überlagerungen von unterschiedlichen Bewertungsreaktionen denkbar, etwa weil die aus der Situation hervorgehenden Reize nicht eindeutig sind, es zu Veränderungen von gespeichertem erworbenem Wissen kommt oder unterschiedliche Bezugssysteme für die Bewertung konkurrieren wie z. B. bei einem Piloten, der bei schlechtem Wetter landen soll und seine Entscheidung zwischen den Bezugssystemen der technischen Machbarkeit, der Verantwortung für die Passagiere und einer persönlichen Betroffenheit für sich und seine Familie abzuwägen hat (Damasio, S. 265 f.). Eine emotionale Bewertung aus den verschiedenen Bezugssystemen bietet ihm keine Patentlösung, macht aber deutlich, zwischen welchen konkurrierenden Bewertungen er überhaupt zu wählen hat. Bei der Betrachtung des Einflusses von Emotionen auf Entscheidungen geht es nicht um den Geltungsanspruch von irgendwelchen Normen, die auf bestimmte Situationen angewendet werden, sondern um einzelne wahrgenommene Situationen, in denen hervorgetretene Emotionen in einem Reflexionsprozeß abgewogen werden. Umgekehrt leisten emotionale Bewertungen eine unverzichtbare Hilfe in Denkprozessen. Einleuchtend sind Damasios Hinweise auf Tversy und Kahnemann, deren Arbeit zeige, daß unsere Denkstrategien häufig zu unzulänglich sind, um einer Ungewißheit und Komplexität persönlicher und sozialer Zusammenhänge gewachsen zu sein. Die schwachen Werkzeuge der Rationalität sind auf emotionale Hilfe angewiesen (Damasio, S. 261). Handlungsstrategien werden möglich, wenn Emotionen nicht zu automatischen Reaktionen führen, sondern dadurch, daß man sich A
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ihrer bewußt wird, um die Reaktionsmöglichkeiten betrachten und Handlungsalternativen prüfen zu können. Für die Prüfung bedarf es einer Bewertungsinstanz; verfügbar wird sie durch angeborenes und erworbenes Wissen. Lassen sich ethische Orientierungen auf solche einfachen primären Gefühle zurückführen? Damasio sagt ja, weil er meint, daß ein Erreichen ehrenwerter sozialer Ziele immer auch von dem Überleben und der Qualität des Überlebens bestimmt ist (Damasio, S. 175 f.). Eine Bestätigung dafür findet man in der politischen Philosophie: Entwürfe der Neuzeit zu politischen Ordnungen haben gezeigt, daß auch die unterschiedlichsten Vorstellungen über Staat und Gesellschaft auf einfachen gemeinsamen grundlegenden Positionen gründeten, die unstrittig waren wie z. B. auf der Anerkennung von Lebensrechten und eines Gewaltmonopols; die Verfasser orientierten ihre Ordnungsvorstellungen an einfachen Bedürfnissen des Überlebens und des Schutzes. Beispiele finden sich in den Vertragstheorien von Hobbes, Nozick, Buchanan und anderen. John Rawls stützt seine Theorie der Gerechtigkeit auf Emotionen wie das Selbstwertgefühl oder die Selbstachtung; er meint, alle Individuen, die ein politisches System auswählen sollen, werden dasjenige bevorzugen, das durch ein geeignetes System der Gerechtigkeit in einer Gesellschaft diese grundlegend akzeptierten Emotionen fördert und stärkt (Rawls, S. 204 f.). Reflektieren einer Bewertung führt zu einem Urteil. Und ein Urteil bedarf der Begründung, wenn es überzeugen soll. Und die Gründe bedürfen einer Akzeptanz. Da eine Reflexion einer Bewertung sich wiederum auf Emotionen stützt, werden die Gründe dann überzeugen, wenn deren emotionale Bewertung von einem Individuum auf der Grundlage dessen angeborenen und erworbenen Wissens akzeptiert wird; wenn nicht, wird eine Reflexion von neuem beginnen können. Entscheidend ist die subjektive Bewertung durch das Individuum. Das heißt nicht, daß es sich um egoistische Bewertungen handeln wird. Wenn z. B. eine Erste Person die Hilfsbedürftigkeit eines anderen empfindet, in einer Reflexion aber zu dem Entschluß gelangt, nicht zu helfen, wird dieser Entschluß wiederum einer emotionalen Bewertung durch die Erste Person oder durch andere ausgesetzt sein. Bei der Ersten Person könnte es ein Gefühl der Unzufriedenheit auslösen; bei den anderen ein Gefühl der Verachtung; oder umgekehrt wird eine Zufriedenheit und Anerkennung durch andere entstehen können, wenn selbstlose Hilfe geleistet worden ist. Wer nur nach egoistischen Gründen bewerten würde, dem könnte es 172
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Bewertungen und Werte
als Folge an der Anerkennung durch seine Mitmenschen mangeln, die aber eine Grundlage der Zufriedenheit ist. Ein Bezug der Gründe aus der Reflexion der emotionalen Bewertung auf die Erste Person muß nicht auf einen Egoismus hinweisen, sondern wird gerade durch den Bezug auf sie selbst eine Hinwendung zum anderen begründen. Nicht in jeder Entscheidungssituation führt die Bewertung zu einem eindeutigen Urteil; verbliebene Bedenken werden erst durch eine Bewertung der weiteren Folgen eine Bestätigung finden oder eine Korrektur notwendig erscheinen lassen. Wenn sich herausstellen sollte, daß sich eine Bewertung oder die »somatischen Marker« als nachteilig erweisen, bleibt wenigstens die Möglichkeit, das erworbene Wissen um diese Erfahrung zu bereichern. Wenn sich aber die emotionale Bewertung und deren Reflexion an einem auf das Subjekt bezogenen Ergebnis orientiert, kann man dann noch von Werten sprechen, die in einer Ethik über ein Subjekt hinausreichen und auch für andere gelten? c.
Werte
Durch eine emotionale Bewertung erhält eine Wahrnehmung einen Wert für ein Subjekt, der aus dessen Kommunikation mit seiner Umwelt hervorgeht. Der Wert ist keine abstrahierte Norm, sondern eine an eine Einzelsituation gebundene Einschätzung. Eine Unterscheidung zwischen einer wertfreien Wirklichkeit und einem Reich der Werte macht keinen Sinn, weil sich ein Wert auf eine Umwelt bezieht und eine Wirklichkeit ohne Umwelt keinen Sinn macht. Kraft spricht von Werten als Abstraktion aus überindividuellen Wertungen (Kraft, S. 62 f.). Ungeklärt ist, worauf sich die Abstraktion bezieht; wenn sie sich auf das Individuum bezieht, verlöre ein Wert das, was ihn zu einem Wert macht; wenn sich die Abstraktion auf bestimmte Wahrnehmungen bezieht, dann ginge deren Bezug verloren. Auch eine Unterscheidung zwischen evaluativen Fragen wie »was ist gut für mich« und normativ ethischen Fragen nach einem moralischen Richtigen wie »was soll ich tun« unterstellt, daß ein Evaluiertes etwas anderes ist als normativ Ethisches. Daß aber normativ Ethisches losgelöst von einen Bezug auf die Erste Person die ethischen Probleme nicht lösen kann, wurde gezeigt. Der Wert ist an Wahrgenommenes gebunden und bezieht sich auf ein Individuum. Werte, als Begriffe von ihrer Wahrnehmung gelöst, verlieren ihre A
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Ethik
Bedeutung hinsichtlich der Einschätzung des Lebens und des Wohlfühlens eines Individuums in seiner Umwelt. Ein Wert aus der emotionalen Bewertung einer Wahrnehmung bedarf keiner Begründung, weil er Bedingung des Lebens und Überlebens ist; er bedarf keiner Interpretation und keiner Anwendungsbegründung. Wenn ein Wert nicht nur in einer singulären Bewertungssituation, sondern auch für zukünftige gelten soll, und wenn er nicht für ein vereinzeltes Individuum, sondern auch für andere gelten soll, dann bedarf er einer Reflexion und einer Begründung. Subjektivisten und Objektivisten haben darüber gestritten, ob Werte subjektive oder objektive seien. Den Subjektivisten, die ein vom Subjekt unabhängiges Kriterium der Bewertung zurückweisen und meinen, das betroffene Subjekt entscheide über die Bewertung, ist entgegenzuhalten, daß die Verarbeitung der Reize zwar eine subjektive ist, daß aber in der Verarbeitung Einflüsse aus der Umwelt wirksam sind, die nicht in das Belieben des Subjekts gestellt sind. Objektivisten, die für solche vom Subjekt unabhängigen Kriterien eintreten und zur Begründung auf einen interkulturellen Konsens verweisen, ist zu entgegnen, daß ihre Kriterien wie z. B. Sterblichkeit, Körperlichkeit, Kognition oder eine allen Menschen gemeinsame Menschlichkeit in Probleme der begrifflichen Interpretation und Anwendung geraten, die oben im Hinblick auf Normen geschildert wurden. 12 Nozick, darauf wurde oben hingewiesen, argumentiert für eine Abbildtheorie und meint, daß Emotionen passende Antworten auf Werte und daß sie deren psychophysische Nachbildungen seien; mit Wert bezeichnet er nicht unsere subjektive Erfahrung, sondern eine Qualität, die ein Etwas hat, um deretwillen es wertvoll ist; Werte verfügten über eine eigene Natur (S. 101 ff.). Sein Argument der Qualität, die einem Etwas zukommt, ist nicht von der Hand zu weisen. Die Radikalen Konstruktivisten haben zwar gezeigt, daß wir Eigenschaften von Gegenständen nicht als abgebildet verstehen können, weil wir zu demjenigen, was abgebildet würde, keinen Zugang haben. Trotz dieses Einwandes können auch die Konstruktivisten nicht bestreiten, daß Werte nicht unserer Beliebigkeit und Willkür überlassen sind. Eine als ekelhaft empfundene Speise kann man nicht beliebig als wohl-
Zur Auseinandersetzung zwischen den Subjektivisten und Objektivisten vgl. Steinfath, 1998, in dessen Sammelband zur Frage »was ist ein gutes Leben« beide Positionen zu Wort kommen.
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Bewertungen und Werte
schmeckend bewerten. Aus der Perspektive eines Zugrundeliegenden läßt sich dagegen zeigen, daß es sowohl auf Umweltreize zurückgehende Einflüsse sind wie auch deren subjektive Verarbeitung, die zur Herausbildung einer Bewertung beitragen. Dadurch kommt einer Bewertung einerseits Subjektives zu und andererseits ein dem Wissen vorausgehender Einfluß. Eine Verallgemeinerung der aus einer emotionalen Bewertung hervorgehenden Werte stützt sich auf die Einflüsse eines Zugrundeliegenden und auf die Bewertungsorientierungen des Subjektes. Die Einflüsse des Zugrundeliegenden, die einer emotionalen Bewertung vorausgehen, lassen keine Beliebigkeit zu; sie haben sich als Beitrag zu einer Konstanz empirischer Ergebnisse für verschiedene Individuen in wiederholten Einzelbewertungen erwiesen. Ihre Verarbeitung unterliegt zwar individuell unterschiedlich ausgeprägten Bedingungen wie Ausstattung und Zustand der Sinnesorgane; es hat sich aber auch gezeigt, daß die Bewertungsorientierung bei den einzelnen Individuen eine gleiche ist wie z. B. eine Orientierung an der Selbsterhaltung, an einer Förderung lusterzeugender Gegenstände und Handlungen, an sozialer Geborgenheit in der Gruppe wie auch an Vermeidung schmerzverursachender Aktivitäten. Für Werte des Wohlbefindens, des Vergnügens oder einer von Geschmack geprägten Lust, die über die Grundbedürfnisse hinausgehen und denen keine selbsterhaltende Funktion zukommt, wird eine Allgemeingültigkeit weniger streng zu zeigen sein: Beispiele dafür sind individuell unterschiedliche Freude bei der Betrachtung bestimmter Kunstwerke, die Lust bei dem Verzehr erlesener Speisen oder die Liebe eines ausgewählten Partners. Da auch bei dieser Art von Bewertungen die angeborenen Reaktionsmuster als Grundlage dienen, werden sie wenigstens insofern Allgemeingeltung beanspruchen können als sie nicht gegen ein Überlebensinteresse gerichtet Geltung finden können. Eine von den Kulturen unabhängige Bestätigung der allgemeinen Geltung der Bewertung von Wahrnehmungen zeigen Ekmans Untersuchungen. Für mindestens sechs Zustände, die durch einen Gesichtsausdruck charakterisierbar sind, wie Glück, Überraschung, Furcht, Verachtung, Trauer und Ärger hat er nachgewiesen, daß sie von einer überwiegenden Mehrheit aller Menschen bei 21 Völkern der Erde spontan richtig gedeutet wurden (Ekman, S. 1999). Während die Einflüsse eines den Emotionen Zugrundeliegenden in differenzierter Weise für die Herausbildung von Werten geA
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zeigt werden konnten, sind die Bewertungsorientierungen in der subjektiven Verarbeitung dagegen bisher erst in einer groben Differenzierung erforscht worden. Auch wenn die empirische Basis für eine Verallgemeinerung der Bewertungen noch schmal ist, läßt sie aber eine Verallgemeinerung zu, die zeigt, daß in einer Kommunikation mit der Umwelt erstens den Individuen keine beliebige Werteherausbildung möglich ist; daß zweitens gleiche emotionale Reize gleiche emotionale Bewertungen hervorbringen und daß drittens keine Bewertungen gegen die Orientierungen der Selbsterhaltung und des Wohlbefindens erfolgen. Als Werte einschließlich einer Konstanz und Verallgemeinerung haben sich aus den Untersuchungen bisher gezeigt: Selbsterhaltung, Schutzbedürfnis, Selbstwertgefühl, Anerkennung, Zufriedenheit, Liebe, Geborgenheit, Gewaltmonopol, Empathie hinsichtlich Mitleid und Hilfsbereitschaft, soziale Einbindung. Unterschiede bezüglich des Wertes einer Wahrnehmung treten auf, wo die Werte auf verschiedenen Wegen zu erreichen versucht werden. Ein Ultraliberalist wird versuchen, alle Bewertungen nur auf seine eigenen grundlegenden Bedürfnisse zu beziehen; ein Kommunitarist wird in seine Bewertung eher die Gemeinschaft einbeziehen, weil er meint, seine Lebensvorstellungen nur in einer Gemeinschaft verwirklichen zu können. Ein einzelner Wert wird seine Geltung verlieren können, wenn eine Konkurrenz zu anderen Werten der Wahrnehmung auftritt. Ein Mensch nimmt z. B. seinen Tod um eines anderen Wertes willen in Kauf, wie es bei den Widerstandskämpfern im Dritten Reich geschehen ist. 13 Dieses Beispiel spricht nicht gegen eine Bewertungsorientierung der Selbsterhaltung, weil der Tod um des Lebens und der Achtung des Lebens der anderen willen zum Maßstab gewählt worden ist. Problematisch wird es bei Selbstmordattentätern, die das Leben anderer Unschuldiger zerstören um bestimmter politischer Ziele willen, oft verbunden mit einer religiösen Verheißung. Wertvorstellungen dieser Art sind mit denen aus emotionaler Bewertung unvereinbar, weil sie das Leben Unschuldiger als Mittel zum Zweck einsetzen, was Abscheu erzeugt. Auch wenn solche Handlungsüber-
Reich, S. 56 ff., hat die Motivationen von einem Teil der Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus untersucht und dargestellt, daß es oft die emotionalen Bewertungen einzelner Erlebnisse waren, die den Entschluß zum Widerstand auslösten.
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Bewertungen und Werte
zeugungen kurzfristig eine Gefolgschaft finden, werden sie sich langfristig nicht durchsetzen, weil sie gegen das Leben verstoßen. 14 Zu betonen bleibt, daß sich die Werte zwar auf das Subjekt beziehen, das die Wahrnehmungen bewertet, und daß eine Reihe von Werten um der eigenen Person willen dessen Handlungen und Verhalten bestimmen. Es hatte sich aber auch ein Bezug auf den anderen und auf die Gemeinschaft gezeigt. Ein solcher Altruismus muß nicht aus Selbstlosigkeit geschehen. Fürsorge für Kinder, Hilfe für Hilfsbedürftige angesichts ihrer Notlage, Spenden für einen anderen verschaffen Handelnden auch Selbstachtung, Zufriedenheit und erspart die Scham, nicht altruistisch gehandelt zu haben. 15 Auf den anderen verweist auch die Empathie, auf die mehrfach schon hingewiesen wurde. Der Begriff der Empathie beschreibt bei Menschen die Kommunikation eines emotionalen Zustandes unter Menschen. Am Beispiel der Gesichtererkennung werden Emotionen aus sozialen Signalen deutlich. Ein Betrachter ist in der Lage, Ärger, Furcht oder Angst im Gesichtsaudruck des Betrachteten wahrzunehmen; nichtsprachlich werden Emotionen des anderen verstanden und können den Betrachter zu Reaktionen des Handelns und Verhaltens veranlassen, wie z. B. Ausdruck der Angst oder der Trauer im Gesichtsausdruck des anderen den Betrachter zur Hilfeleistung veranlassen (Ploog, 1999, S. 540 ff.). Ob eine Hilfe tatsächlich erfolgt, mag einer weiteren Reflexion überlassen sein; Empathie zeigt aber, daß eine Ethik aus Emotionen soziales Handeln und Verhalten begründen kann. Nicht nur in bezug auf den anderen, sondern auch auf eine Gemeinschaft zu handeln und sich zu verhalten, veranlassen emotionale Reize. Zeugnisse vieler Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus belegen, daß die Beobachtung von Erschießungen Unschuldiger und andere Greueltaten bei ihnen Entsetzen und Abscheu hervorriefen, die sie zum Widerstand veranlaßten, um der Gemeinschaft, des Volkes und des Landes willen. 16 Wie ist es aber in einer Gesellschaft denkbar, daß sich entgegen der hier beschriebenen Werte oft Kulturen durchgesetzt haben, die Leben mißachteten wie im Deutschland der Nationalsozialisten, in Unter den palästinensischen Gruppierungen, die bisher die Selbstmordattentäter unterstützten, gibt es Stimmen, die davon abraten, weil sie ihrer Sache eher schaden als nützen. 15 Vgl. den Exkurs über Altruismus bei Damasio, 1997, S. 240 ff. 16 Reich, 1994, S. 56 ff.: Hier finden sich ausführliche Schilderungen der Motive zum Widerstand. 14
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der Sowjetunion, in China während der Kulturrevolution, im PolPot-Regime in Kambodscha, im Milosevic-Regime in Jugoslawien usw. Betrachtet man das historische Ende der Entwicklung dieser Beispiele, so zeigt sich in allen Fällen, daß die Verletzungen des Denkund Bewertungssystems auf Dauer keinen Bestand hatten. Die im Namen einer Gemeinschaft verfolgten Bewertungen bedürfen offenbar langfristig doch einer an den o. g. Werten orientierten Ordnung. Unterdrückung von Mitmenschen, Selektion und Ermordung der Gegner entspricht nicht den fundamentalen Bedürfnissen der Menschen und kann sich in der Gemeinschaft nicht auf Dauer durchsetzen. Ob solche Systeme von innen oder von außen gestürzt wurden, ist unerheblich, denn es geschah aus den gleichen fundamentalen Lebensbedürfnissen, die sich auf angeborene primäre Gefühle stützen. Ergänzend zu den hier genannten Werten sind weitere Untersuchungen denkbar, die weitere Werte aus anderen Hinsichten auf emotionale Bewertungen erweisen können. Zusammenfassend läßt sich aber sagen, daß aus der Kommunikation mit der Umwelt keine den Wahrnehmungen vorausgehende Normenwelt nachweisbar ist, wohl aber dem Wissen vorausgehende Einflüsse auf den Wert einer Wahrnehmung. Deren Wert ist in ihrem Zugrundeliegenden verankert und verhindert Relativismus der Werte von Wahrnehmungen.
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Handlungsentscheidungen
XVI. Handlungsentscheidungen a.
Freiheit
Emotionen, die mit einer Wahrnehmung verbunden sind, können wir nicht wählen; wenn Emotionen aber einen wesentlichen Einfluß auf unser Handeln ausüben, kann es dann noch eine Freiheit des Handelns geben? Es geht hier nicht um eine Untersuchung des Freiheitsbegriffs selbst, sondern um die Frage, in welcher Weise neurologische Zusammenhänge eine Freiheit des Handelns ermöglichen oder einschränken. Ethik verlangt eine Freiheit der Ersten Person, die sich als selbstursächlich für ihre Handlungen versteht. Wenn die Freiheit nicht möglich sein kann, könnte sich eine Person nicht für ihre Handlung und ihre Folgen verantwortlich fühlen. Aus den bisherigen Erörterungen konnte der Eindruck entstehen, daß emotionale Bewertungen, weil sie durch Reize und deren neurologische Verarbeitung festgelegt sind, keinen Raum für Freiheit lassen, die aber erforderlich ist, wenn man von einer Ethik sprechen möchte; es müssen Handlungsalternativen erkannt, eine Handlung und ein Ziel gewählt und ein Vollzug der Handlung möglich werden können. Bezogen auf emotionale Bewertungen ist die Möglichkeit zu einer Wahl aus verschiedenen Bewertungen erforderlich, und es ist eine Entscheidungsfreiheit notwendig, sich für die am besten bewertete Handlung aus den Möglichkeiten zu entscheiden. Erlauben neuronale Prozesse so eine Freiheit für eine Ethik aus Emotionen? Es gibt diejenigen, die eine solche Freiheit für eine Illusion halten. Sie zeigen in Versuchsergebnissen, daß wir nicht tun, was wir wollen, sondern wollen, was wir tun. Die Vorstellung, erst komme der Gedanke und dann die Handlung, erwiese sich als genau umgekehrt, wie folgendes Experiment zeige: Testpersonen wurden aufgefordert, zu einem selbstgewählten Zeitpunkt einfache Handlungen auszuführen wie z. B. einen Knopf zu drücken. Die dabei gemessenen elektrischen Aktivitäten im Gehirn, die solche Handlungen vorbereiten, bilden sich heraus, bevor der eigene Gedanke zu handeln bewußt wird. Beabsichtigte Bewegungen der Versuchspersonen werden von diesen erst wahrgenommen, nachdem sie sie schon Sekundenbruchteile zuvor ausgeführt hatten. 17 Beweisen diese Ergebnisse, daß Freiheit eine Fiktion ist? 17
Krischke, 1997, 2000a und 2000b. A
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In den Versuchen geht es um die zeitlichen Differenzen zwischen Bewußtsein und Handlung. Auch wenn eine Handlung vor ihrem Bewußtsein vollzogen ist, heißt das noch nicht, daß Freiheit eine Illusion ist. In dem Versuch wurde nur zwischen Handlung und ihrem Bewußtsein unterschieden. Bezogen auf eine emotionale Bewertung als Grundlage einer Handlung läßt sich aber eine der Handlung vorausgehende Reflexion der Bewertung unterscheiden von der Entscheidung zur Handlung. Wer z. B. ein hilfloses Kind sieht, das Emotionen der Hilfsbedürftigkeit weckt, kann darüber nachdenken, ob seine Hilfe geeignet ist oder besser die eines anderen; er kann sich fragen, wie er helfen will und wann. Nach diesen Überlegungen wird er eine Möglichkeit auswählen und sich für diese entscheiden können. Es ist schwer einzusehen, daß Reflexion, Abwägung der Möglichkeiten, Auswahl und Entscheidung durch neuronale Prozesse bestimmt sind, die die Möglichkeit der Wahl und die Freiheit der Entscheidung zur Illusion machen. Sicher werden die einzelnen Schritte von neuronalen Prozessen begleitet. Daß aber der Reflexion neuronale Prozesse vorausgehen und Wahlmöglichkeiten und Entscheidung bestimmen, zeigt weder das Experiment noch ist es vorstellbar, weil die mit ihnen einhergehenden Emotionen und deren Bewertung selber Gegenstand der Wahl und Entscheidung sind. Bei Handlungen ohne Reflexion mag die Freiheit eine Illusion sein; sobald eine Reflexion hinzukommt, behält sie eine Chance. Freiheit wird nicht verstanden als eine völlige Autonomie gegenüber fremden Einflüssen auf die eigene Entscheidung, sondern als eine Möglichkeit, unter Anerkennung der Einflüsse aus emotionaler Bewertung die eigene Entscheidung durch ein eigenes Urteil zu verändern. Bezugspunkt der Freiheit ist das Urteil über die emotionale Bewertung. Eine Abhängigkeit von der emotionalen Bewertung ließe keine Freiheit zu. 18 Emotionen ohne Freiheit führen zu einem ReizReaktionsschema; Freiheit ohne Emotionen verliert ihren Sinn, weil man nicht mehr weiß, woran sich ein Urteil orientieren soll. Eine Bindung der Freiheit an die Emotionen kann dagegen erklären, warum nicht jeder Mensch einem als allgemein erstrebenswert geltenden Handlungsziel folgt. Freiheit verlangt, daß das Handlungsziel dem betroffenen Einzelnen emotional erstrebenswert erscheint. Ohne emotionalen Antrieb wird eine Freiheit der Wahl und des VollVgl. Geyer (2001), der anhand der Beispiele von Habermas (2001) und Bieri (2001) den Einfluß der Gentechnik auf die Freiheit untersucht.
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Handlungsentscheidungen
zugs nicht zur Geltung kommen können. Wenn von einem Raucher das Nichtrauchen nicht emotional als angenehmer bewertet wird, wird er sich kaum zum Nichtrauchen entschließen und es vollziehen. Eine Freiheit, begründet aus der Reflexion emotionaler Bewertung und deren Einflußnahme auf eine Wahl und Entscheidung zu Handlungen, wird man nicht bestreiten können, wenn man die Grenzen einbezieht, die eine Reflexion über die Freiheit des Handelns auch sichtbar macht. Die Grenzen der Freiheit eines Vollzuges sind gegeben durch die biologische Konstitution: Man kann sich wünschen, zu fliegen wie ein Vogel, aber es ist unmöglich. Reflexion der Emotionen, die Freiheit ermöglicht, kann auch selbst zum Anlaß emotionaler Bewertung werden und Freiheit der Reflexion in Frage stellen. In einer Diskussion über aktive Sterbehilfe trafen Befürworter und Gegner aufeinander, wobei die Gegner – in diesem Fall war es eine Gruppe Behinderter – den Befürwortern der aktiven Sterbehilfe, insbesondere der Früheuthanasie, nicht das Rederecht zugestehen wollten (Birnbacher, 2000). Ein Befürworter argumentiert für ein Rederecht der Befürworter wie der Gegner; er beruft sich auf Denken, um unser moralisches Normensystem hinsichtlich seiner Verbesserung unter Rationalitätsgesichtspunkten zu überprüfen. Er räumt zwar ein, daß es mit konsequentem Denken allein nicht getan sei, aber ohne Denken gehe es nicht. Ein Gegner der aktiven Sterbehilfe trat für Vorbehalte gegenüber einem Rederecht ein und verwies auf Beispiele wie Verleumdung und Meineid und damit auf Fälle, in denen die Rechte anderer verletzt würden und deshalb Aussagen moralisch unerlaubt seien. Am Beispiel der Folterung Unschuldiger erläuterte er, daß es moralische Bewertungen gebe, die diskussionsunwürdig seien; wer sie zuließe, zeige Spuren eines verdorbenen Charakters. Hier ging es nicht nur darum, aktive Sterbehilfe zu diskutieren, sondern um die Frage der Toleranz, ob man ihren Befürwortern überhaupt das Rederecht gewähren soll. Die Reflexion der Bewertung war selber zum Problem geworden. Reflexionswissen allein reichte hier nicht aus, um die Kontroverse aufzulösen und durch Begründungen für alle verbindliche Wertorientierungen herbeizuführen. Ist das Dilemma lösbar? Das Beispiel zeigt, daß eine so plausibel erscheinende Norm wie Toleranz nicht jedem Einzelfall gerecht werden kann. Das Problem war nicht die Toleranz, sondern ihre Verallgemeinerung. Eine Ethik aus emotionaler Bewertung kann deutlich machen, daß eine Diskussion über Früheuthanasie bei Behinderten ablehnende Emotionen auslösen und zu A
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einem Handeln veranlassen kann, eine solche Diskussion zu verhindern, weil sie ihr Lebensrecht bedroht sehen. Auch eine Reflexion ihrer Ablehnung würde an ihrer emotionalen Bewertung nichts ändern können. Es wird deshalb einsehbar, daß weder Toleranz noch Redefreiheit auf jeden Einzelfall zutreffende Orientierungen sind, die Geltung beanspruchen können. Entscheidend bleibt zu sehen, daß Freiheit mit emotionaler Bewertung unverzichtbar verbunden ist. Eine Lösung hätte sein können, die unterschiedlichen emotionalen Bewertungen zum Gegenstand der Reflexion zu machen. Ob sich daraus ein gegenseitiges Verständnis entwickeln und zu einer Diskussion führen kann, wird der Einzelfall ergeben müssen. b.
Wille
Eng mit der Freiheit hängt ein Wille zu handeln zusammen. Während die Freiheit die Auswahlentscheidung ermöglicht, bringt der Wille zum Ausdruck, der Auswahlentscheidung entsprechend zu handeln. Sind es neuronale Prozesse, die einen Willen zur Illusion werden lassen, ähnlich wie es für die Freiheit behauptet wurde? Zunächst hatte sich bezüglich der auslösenden Reize gezeigt, daß diese keine Beliebigkeit der Emotionen erlauben, sondern daß Emotionen von den Reizen der Umwelt mitbestimmt werden. Herausgestellt hatte sich auch, daß Emotionen nicht dem Willen unterworfen sind, worauf bereits Darwin verwiesen hat; ein Individuum kann sie nicht nach eigenem Gutdünken steuern. Wenn wir auf der Grundlage einer Kommunikation mit Umwelt einschließlich ihrer emotionalen Reize, d. h. aus einer Verarbeitung ihrer Reize handeln, ist dann trotzdem ein Wille möglich? Aus den Ausführungen Roths und den Versuchen Libets ergibt sich kein eindeutiges Bild für oder gegen einen Willen, da einerseits offenbar neuronale Prozesse einen Willensakt dominieren und andererseits ein Willensakt gezeigt werden kann, der neuronale Prozesse als Antrieb und Steuerung stoppen kann. Roth sieht in den neuronalen Prozessen, die einer Handlung vorausgehen, einen Vorsprung cortikaler z. T. sogar unbewußter neuronaler Aktivitäten, die von dem Gefühl eines Willensentschlusses begleitet würden; das Gefühl, etwas zu wollen, träte nach der neuronalen Aktivität, dem sogenannten Bereitschaftspotential auf, das eine Handlung lenkt oder blockiert (Roth, 1997, S. 303 ff.). Libet dagegen meint, daß es einen cortikalen 182
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Handlungsentscheidungen
Willen gibt, der eine aufkommende Bereitschaft zu einer bestimmten Handlung lenken und sogar blockieren kann. Libets Zweifel an einer Illusion deutet auf eine mögliche Reflexion der Absicht: Er unterscheidet Absicht und Handlung und meint, die Absicht, den Knopf zu bedienen, führe nicht notwendig zur Handlung; man könne sich noch entscheiden, ob man den Knopf bedient oder nicht (Libet, 1999). Nicht allein die Beziehung zwischen Willensakt und neuronalen Prozessen scheint entscheidend zu sein, sondern die Möglichkeit der Reflexion. Der Wille, einer verlockenden Bewertung nachzugehen, zeigt sich oft ohne eine Reflexion, wie z. B. bei einem Kind zu beobachten ist, das einen bestimmten Gegenstand haben möchte. In diesem Fall mag Roths Erklärung zutreffen, daß neuronale Aktivitäten dem Gefühl, etwas zu wollen, vorausgehen. Eine Willensbildung ist aber dann ein von der zugrundeliegenden emotionalen Bewertung unterschiedener Akt, wenn eine Reflexion dazwischengeschaltet ist, die erwägt, ob man eine Auswahlentscheidung auch in die Tat umsetzen will: ob überhaupt und Einzelheiten des wie, wann, unter welchen Umständen usw. Nach dieser Reflexion erfolgt eine Willensentscheidung. Wie bei der Freiheit macht eine der Willensentscheidung vorausgehende Reflexion deutlich, daß es nicht neuronale Prozesse sein können, die den Willen zu einer Illusion machen. Im Gegenteil sind es auch hier die an neuronale Prozesse gebundenen Bewertungen, die erneut z. B. an erlerntem Wissen überprüft werden. Daß bei der Willensbildung neuronale Prozesse auftreten, leuchtet ein; daß sie aber Entscheidungen, die sich aus Reflexionen ergeben, bestimmen, überzeugt nicht, wenigstens nicht soweit, daß alternative Willensentscheidungen aus anderen neuronalen Aktivitäten keinen Platz hätten. c.
Vernunft
Mit dem Begriff Vernunft werden hier Vermögen des Denkens, d. h. der Reflexion und der Rationalität beschrieben. Vernunft und Denken einerseits, Emotionen andererseits lassen sich gegeneinander abgrenzen, wie es sich bei den neuronalen Prozessen gezeigt hatte. Das schließt nicht aus, daß an Denkprozessen auch Emotionen beteiligt sind, besonders wo es um Handlungsentscheidungen geht. Damasio kam es in seinem Buch »Descartes’ Irrtum« darauf an, zu zeigen, daß A
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dessen berühmte These über die Trennung von Geist und Körper nicht zutreffe; mit Körper meint Damasio die mit den Emotionen einhergehenden körperlichen Erscheinungen. Er verweist darauf, daß Empfindungen in den Vernunftprozessen eine Rolle spielen und daß wir umgekehrt Vernunft vor abnormen Einflüssen aus den Empfindungen schützen können, denen Planungs- und Entscheidungsprozesse ausgesetzt sind (Damasio, S. 326 f.). Es sind Gefühle im Bauch oder auch »ungute Gefühle«, die eine Überzeugungskraft rationaler Argumente schmälern. Vernunft und Emotionen ergänzen sich in zweierlei Hinsicht. Erstens ist es eine Verbindung zwischen Allgemeinem und Einzelnem. Vernunft und rationale Einsicht appellieren an eine allgemeine Geltung ihrer Aussagen, ohne den Einzelfall zu berücksichtigen. Die emotionale Bewertung entsteht aus dem Einzelfall; Einsichten aus weiteren Zusammenhängen erschließen ihr erst die Reflexion. Die Handlungsentscheidung wird im Einzelfall getroffen; allgemeine Erkenntnisse werden den Erwägungen hilfreich sein. Die Handlungsentscheidung bedarf aber einer emotionalen Bewertung, damit sie im Einzelfall für das Subjekt attraktiv ist und von ihm gewollt wird. Ein Schlemmer, der gerne ißt, weil ihn die Speisen locken, mag einem ärztlichen Rat folgend zu der Einsicht gelangen, daß zu viel Essen der Gesundheit schade; er mag auch das Ziel verfolgen wollen, täglich nur eine bestimmte Kalorienmenge zu sich zu nehmen. Die allgemeinen Einsichten zu befolgen und erneuten Verlockungen widerstehen zu können wird schwer, wenn nicht eine emotionale Bewertung den Verzicht attraktiv macht wie z. B. die Erleichterung aus der Erfahrung, daß gesundheitliche Beschwerden ausbleiben. Ein starker Wille, unterschieden von einer bloßen Absicht, beruht auf spezifischen Belohnungserfahrungen über längere Zeiten hinweg gesammelt, die das Erreichen bestimmter Ziele als lustvoll erscheinen lassen (Roth, 1997, S. 311). Oft zeigen sich Emotionen einflußreicher auf Entscheidungen als rationale Gründe. Weit in die Zukunft reichende Entscheidungen eines Menschen werden bisweilen wesentlich, manchmal ausschließlich von Emotionen beeinflußt, wie z. B. die Auswahl seines Ehepartners oder die Wahl des Berufes. Wenn jemand von einer Vernunftehe spricht, dann verweist er mehr auf rationale Gründe für eine Ehe, vielleicht unter Verzicht auf die fundamentale emotionale Bindung der Liebe. Die Entscheidung für einen bestimmten Beruf trifft mancher sogar gegen rationale Gründe, z. B. hinsichtlich späterer Er184
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werbsaussichten; das ist besonders deutlich bei Künstlern. Auch in den Entscheidungen des täglichen Lebens meldet sich in den Vorstellungen dieser oder jener Entscheidungsmöglichkeit ein angenehmes oder ein unangenehmes Gefühl. Emotionen und Vernunft ergänzen sich in einer zweiten Hinsicht. »Das Herz hat seine Gründe, die die Vernunft nicht kennt« (Pascal, S. 174). Pascal spricht von den zwei Quellen, aus denen uns Einsichten und Bewertungen möglich sind; es ist die Vernunft und das Herz. Pascal meinte mit der Quelle des Herzens diejenige, die Erkenntnis aus der Religion erschließt, die einer Vernunft allein verborgen bliebe. Die Quelle des Herzens zu Einsichten, die häufig Grundlage von Entscheidungen sein kann, ist wohl jedem bekannt und entspricht allgemeiner formuliert einer Quelle aus den Emotionen. Als Beispiel einer Einsicht aus den Quellen der Vernunft und Emotionen sei noch einmal an die von amerikanischen Forschern präsentierte Maus erinnert, auf deren Rücken ein menschliches Ohr gezüchtet war. Der Naturwissenschaft war es gelungen, ein menschliches Organ aus einem tierischen Körper wachsen zu lassen mit der Absicht, eine Organzüchtung zu Transplantationszwecken zu fördern. Was eine Vernunft als einen Fortschritt des Wissens vermitteln mag, ruft zugleich Gefühle hervor, die zum Nachdenken über Gründe solchen Forschungshandelns veranlassen. Es können unterschiedliche Emotionen präsent sein. Bei den mit der Organzüchtung befaßten Forschern mag das Gelingen einer solchen Züchtung Freude und Stolz hervorrufen; bei einem auf eine Organtransplantation wartenden Patienten mag es Zuversicht sein; bei einem unbefangenen Betrachter vielleicht Abscheu gegenüber solchen Züchtungen hervorrufen. Vernunft und Emotionen werden beide wichtige Quellen sein, wenn es darum geht, zu entscheiden, ob ein Handeln, das zu einer entstellenden Naturnutzung führt, erlaubt sein soll oder nicht. In welcher Weise Verstand und Vernunft von Gefühlen geleitet werden, zeigt Meyer-Abich an Beispielen: In der Rüstungstechnik seien es die Angstgefühle, deretwegen sich die Völker voreinander mit immer vernichtenderen Systemen bewaffnen; aus dem Alltagsleben verweist er auf den Autoverkehr, dessen Debatte um die Geschwindigkeitsbegrenzung das Argument der freien Fahrt für freie Bürger an die Gefühle der Freiheit appelliere (Meyer-Abich, S. 126 ff.). Schließlich kann auf die Gerechtigkeitstheorie von John Rawls verwiesen werden, der sein vertragstheoretisches BegrünA
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dungskonzept auf Vernunft und Rationalität der Menschen aufbaut, das aber zugleich einen Gerechtigkeitssinn der Bürger voraussetzt, ohne den die Theorie ihr Fundament verlöre. In allen Beispielen geht es nicht um Vernunft oder Gefühl, sondern um die Verknüpfung der Vernunft mit dem Gefühl, wobei das Gefühl als wirksame und tragfähige Grundlage in unseren Handlungsentscheidungen zur Geltung kommt. Wenn sowohl Emotionen wie auch Vernunft Einfluß auf unsere Handlungsentscheidungen ausüben, kommt dann einem von beiden der Vorrang zu? Aus Sicht der Neurowissenschaften betont Roth, daß Emotionen die Vernunft dominieren. Er meint, das sei auch biologisch sinnvoll, weil die Emotionen dafür sorgen, daß wir dasjenige tun, was sich in unserer gesamten Erfahrung bewährt hat, und das lassen, was sich nicht bewährt hat. Ebenso wie Damasio verweist er auf Untersuchungen bei Patienten mit einer Schädigung im Stirnlappen und in Zentren des limbischen Systems, die sich nicht nur gefühlskalt, sondern auch unvernünftig verhielten. (Roth 2000 b)
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Ethik und Wissenschaft
XVII. Ethik und Wissenschaft a.
Naturwissenschaft und Bewertung
Ein Zusammenhang zwischen Reflexionswissen und Emotionswissen konnte aus ihrem gemeinsamen Zugrundeliegenden nachgewiesen werden. Jetzt soll untersucht werden, wie sich dieser Zusammenhang zwischen dem besonderen Reflexionswissen der Wissenschaft, insbesondere der Naturwissenschaft, und einem Emotionswissen auswirkt. Der eine Teil der Wissenschaft, der unter dem Begriff der Geisteswissenschaft zusammengefaßt ist, enthält bereits Bewertungen, weil ein Wissen des Veränderlichen aus den Schöpfungen des Geistes alle denkbaren Aspekte umfaßt, um das Einmalige zu erklären; zu den Aspekten gehört auch Emotionales, wie es sich in einem Wissen der Kunst, der Geschichte, der Religion und der Politik niederschlägt. Anders steht es bei den Naturwissenschaften, weil hier Unveränderliches aus der Umwelt betrachtet wird; subjektive Einflüsse des Betrachters blieben bisher ausgeschlossen, weil Naturwissenschaft objektivierbar sein sollte. Läßt sich aber auch für die Naturwissenschaft ein Zusammenhang mit einem Emotionswissen erschließen, um eine Möglichkeit zur Bewertung der Naturwissenschaft zu schaffen? Ein Zusammenhang von Naturwissenschaft und Emotionen als Grundlage einer Ethik ist heute ein ungelöstes Problem, weil einerseits die bisherigen Vorstellungen von einer Naturwissenschaft den subjektiven Einflüssen aus Emotionen keinen Platz einräumten, andererseits naturwissenschaftliche Ergebnisse und Machbarkeiten ein Unbehagen hervorrufen, das nach einer Bewertung der Naturwissenschaft verlangt. Die alte aristotelische Vorstellung, daß man hervorbringendes Handeln vom Handeln selbst unterscheiden könne und nur dem Handeln selbst eine ethische Bewertung zukäme, ist überholt, wie das Beispiel der Embryonenforschung zeigt: Die Hervorbringung embryonaler Zellverbände durch naturwissenschaftliches Handeln und das Handeln selbst, das nach einer Bewertung verlangt, lassen sich nicht mehr voneinander trennen. Die Annahme einer Wertfreiheit der Wissenschaft wird wohl heute nicht mehr überzeugend behauptet werden können angesichts des Unbehagens vieler wissenschaftlicher Machbarkeiten wie in der Medizin und der Biochemie. Eine Ethik für Wissenschaft, was könnte das aber sein? Eine Ethik von Wissenschaftlern in ihrer Eigenschaft A
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Ethik
als Wissenschaftler, eine Ethik für Wissenschaftler, eine Theorie der moralischen Regeln für wissenschaftliche Arbeit oder eine Ethik, die der Wissenschaft als solcher innewohnt? 19 Ob solche Unterscheidungen weiterhelfen, wird bezweifelt, da sie den Begriff Wissenschaft verwenden, der selber einer Klärung bedarf. Mittelstraß lehnt eine spezielle Ethik der Naturwissenschaft ab, weil er meint, daß Ethik ein allgemeines Prinzip sei, das nicht nur für Spezialgebiete gelte; Ethik sei kein Kochbuch mit Anwendungsrezepten für Gaumenfragen (S. 142). Ethik der Naturwissenschaft müsse sich an einer Ethik für alle orientieren, die er eine »Bürgerethik« nennt. Die Forderung erscheint berechtigt zu sein, weil eine Ethik, auch die der Naturwissenschaft, alle angeht: Wissenschaftler ebenso wie Politiker, die Geldmittel bereitstellen, aber auch Bürger, die von der Anwendung betroffen sind und schließlich eine Öffentlichkeit, die solche Forschungen akzeptiert oder nicht. Allerdings kritisiert Hubig zu Recht die unbeantwortete Frage nach Geltung einer Bürgerethik. Wenn Bürgerethik hieße, daß sie aus einem Konsens einer Mehrheit entstehe, die Minderheiten nicht berücksichtige, lehne er sie ab, weil sie zu unrevidierbaren Entscheidungen führe und eine unzumutbare Unterwerfung einer Minderheit verlange (Hubig, S. 21 ff.). In dieser Kritik zeigt sich erneut die schon behandelte Geltungsfrage. Als Grundlage einer solchen Bürgerethik plädiert Mittelstraß für ein formales Prinzip, das dem Kantschen Kategorischen Imperativ vergleichbar sein könnte (Mittelstraß, S. 142 f.). Er nennt in Anlehnung an Hans Jonas das Prinzip Verantwortung. Und er ergänzt, wenn man den Verantwortungsbegriff auf die ganze Menschheit erweitere, wie z. B. bei nuklearen Entsorgungsproblemen, verlören ethische Orientierungen ihre emotionale Basis; Gefühle gegenüber abstrakten Größen gäbe es nicht (S. 145). Diese Position, die Ethik in einer formalen Allgemeinheit hält, kann die Probleme, die aus ethisch umstrittenen Bewertungen gegenwärtiger naturwissenschaftlicher Machbarkeiten entstehen, nicht lösen. Was aus einer Verantwortung oder aus einer praktischen Vernunft folgt, zeigen die gegensätzlichen Auffassungen über Embryonenforschung, die beide an Vernunft und Verantwortung appellieren: Aus Verantwortung gegenüber dem embryonalen menschlichen Wesen lehnen die einen diese Forschung ab; aus Verantwortung gegenüber Kranken verlangen die anderen, diese Forschung mit ihren möglichen Heilungsper19
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Vgl. Krüger, der Möglichkeiten dieser Unterscheidungen untersucht.
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Ethik und Wissenschaft
spektiven weiterzuführen. Ethiktheorien ist es bisher nicht gelungen, Normen für die Bewertung eines Handelns aus einem Wissen der Naturwissenschaften zu finden, die ebenso wie das naturwissenschaftliche Wissen aus einer beiden gemeinsamen Grundlage herzuleiten sind. Es ist gefragt worden, ob naturwissenschaftliches Wissen selbst schon Maßstab dessen sei, was wir tun dürfen; in diesem Fall würde das Wissen selbst zum Kriterium seiner Anwendung. Diese Position zeigt sich z. B. bei Naturwissenschaftlern, die ihr Wissen in den Dienst am Menschen stellen, also in allen Anwendungsbereichen der Medizin. Jede gefundene Erkenntnis oder Forschung, die Leiden lindern oder heilen könne, bilde selbst einen ethischen Wert und berechtige und verpflichte zu ihrer Anwendung. Wer könne mit welchem Recht solche Heilungschancen verbieten? Aber stimmt das? Werden nicht unter diesem Zweck an anderer Stelle Ansprüche des Menschen auf Leben und Gesundheit zugleich verletzt, wie z. B. in den Versuchen einer Organzüchtung aus menschlichen Embryonen oder gegenüber Sterbenden, denen Organe entnommen werden sollen? Wenn dieser Grundsatz gelten soll, ist entscheidend, was man unter naturwissenschaftlichem Wissen versteht. b.
Systematische Begründung einer Bewertung der Naturwissenschaft
In der Naturwissenschaft geht es um ein Wissen des Unveränderlichen, um Gesetzmäßigkeiten. Naturwissenschaft sucht nach Zusammenhängen von Gesetzmäßigkeiten in der Natur. Wissenschaftstheoretisch ist dabei ungeklärt, ob Gesetze Bestandteil der Natur sind und mit Notwendigkeit gelten. Man nimmt heute an, daß sie ein gedankliches Konstrukt sind; abhängig von bestimmten angenommenen Voraussetzungen bringen sie wiederholbare Regelmäßigkeiten in den Wahrnehmungen zum Ausdruck. 20 Unabhängig von ihrem wissenschaftstheoretischen Geltungsanspruch haben sie sich in einem Wissen über die Natur bewährt. Deshalb fragt die Forschung häufig weniger nach der wissenschaftstheoretischen Geltung Aus der Fülle der dazu erschienenen Literatur soll hier auf Hübner verwiesen werden, der den Naturgesetzbegriff in seiner Abhängigkeit von den vorausgesetzten Annahmen aufgearbeitet hat.
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ihrer Ergebnisse als mehr nach ihrer Fruchtbarkeit für Forschungsvorhaben. In dieser Arbeit wird den wissenschaftstheoretischen Untersuchungen der Naturgesetze deshalb nicht weiter nachgegangen, weil es hier um eine Bewertung naturwissenschaftlichen Handelns geht, das sich an experimenteller Erfahrung orientiert und nicht nach wissenschaftstheoretischer Geltung von Gesetzmäßigkeiten fragt. Im Kap.XII. wurde daraufhin hingewiesen, daß eine Konstanz des Allgemeinen, wie es Gesetzmäßigkeiten verkörpern, anzunehmen berechtigt ist, weil sie in der Wahrnehmung durch Regelmäßigkeit der Reize aus der Umwelt präsentiert wird. Insofern ist zu vermuten, daß Regelmäßigkeiten der Umwelt einem Wahrnehmungswissen vorausgehen. In der Naturwissenschaft besteht die Versuchung, gefundene Zusammenhänge unbewertet zu akzeptieren, weil sie als vermeintliche Naturgegebenheiten den Eindruck des Unverdächtigen erwekken. Tatsächlich handelt es sich aber um ein präpariertes Wissen, das sich auf umfassendere Grundlagen aus der Wahrnehmung bezieht, das seinerseits einer Bewertung durch begleitende Emotionen ausgesetzt sein kann. Naturwissenschaftliches Wissen ist Wissen eines Aspektes eines Wahrnehmungswissens. Zur Erinnerung sei noch einmal darauf verwiesen, wie naturwissenschaftliches Wissen entsteht: Ausgehend von einem einzelnen Wahrgenommenen betrachtet naturwissenschaftliche Forschung einer Frage folgend einen bestimmten Aspekt. Dabei wird der besondere Aspekt von dem Einzelnen abstrahiert, hinsichtlich einer experimentellen Wiederholbarkeit so weit erforderlich präpariert und die Antwort auf die Frage als Aussage in wiederholten Experimenten nachgewiesen, die ein Allgemeines als gesetzmäßigen Zusammenhang ausdrückt. Diese Gesetzmäßigkeit trifft auf jedes wiederholte Einzelne zu. Von dem anfangs Wahrgenommen – z. B. einem Organismus – werden alle anderen wahrgenommenen Einzelheiten ebenso ausgeschlossen wie individuelle Reaktionen des Forschers, z. B. dessen Emotionen bei der Arbeit an dem Experiment. Herausgehoben wird nur der gefragte Zusammenhang. Systematisch betrachtet ist die Grundlage der Naturwissenschaft ein Einzelnes aus dem Wahrnehmungswissen. Das Reflexionswissen eines Aspektes erschließt eine allgemeine Aussage über das Einzelne. Aus der Geltung ihres experimentellen Nachweises folgt, daß die erschlossene Aussage eine notwendige Bedingung des Einzelnen ist. Das Einzelne läßt sich aber nicht auf Reflexionswissen über 190
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das Einzelne reduzieren, weil jedes Reflexionswissen das Einzelne voraussetzt. Beide Arten des Wissens ergänzen sich: Das Wahrgenommene ermöglicht eine Reflexion; die Reflexion erschließt einen Zusammenhang, der der Wahrnehmung allein verborgen bliebe. 21 Unstrittig ist, daß eine gefundene allgemeine Naturgesetzmäßigkeit an das Einzelne aus der Wahrnehmung gebunden ist, weil sie sich aus dem Einzelnen empirisch rechtfertigt. Insofern sagt eine Gesetzmäßigkeit immer etwas über ein Einzelnes aus. Einzelnes aus der Wahrnehmung und Gesetzmäßigkeit als Allgemeines aus der Reflexion sind durch ihren gegenseitigen Bezug miteinander verbunden. Ist es gerechtfertigt, das Reflexionswissen herauszulösen, sich nur an ihm zu orientieren und das Wissen zu vernachlässigen, in das es eingebettet ist, wie es die bisherige Naturwissenschaft tut? Zu einem Wissen des Einzelnen aus der Wahrnehmung und Wissen aus der Reflexion seiner ausgewählten Aspekte tritt ein Wissen aus der Emotion, das mit der Wahrnehmung verbunden dessen Bewertung ermöglicht. Wir wirkt sich dieses bewertende Emotionswissen auf das naturwissenschaftliche Reflexionswissen aus? Eine emotionale Bewertung kann das Wissen aus der Wahrnehmung und der Reflexion einfach ergänzen, wie z. B. bei der wahrgenommenen Sonne, die emotional Wohlfühlen und Freude hervorrufen kann und ein naturwissenschaftliches Wissen Erkenntnisse über ihre Gravitationskräfte oder ihre Spektralanalyse ergänzt. In dem Beispiel der Wahrnehmung eines Menschen kann der naturwissenschaftliche Befund einer Krankheitsveranlagung emotional Sorge und Angst auslösen. Eine andere Möglichkeit der Auswirkung emotionaler Bewertung zeigt sich, wenn das Wahrnehmungswissen naturwissenschaftliches forschendes Handeln betrifft. Dieses Handeln sucht nach Gesetzmäßigkeiten und Zusammenhängen und wendet gefundene Gesetzmäßigkeiten an. Forschendes Handeln setzt Wahrgenommenes voraus und greift in dieses dadurch ein, daß es gefragte Aspekte von diesem abstrahiert und präpariert. Forschungshandeln kann Der Zusammenhang zwischen Allgemeinem und Einzelnem ist als zentrales Thema der Wissenschaftstheorie immer wieder behandelt worden. Hier genügt es, darauf zu verweisen, daß das Allgemeine, das eine Naturwissenschaft beschreibt, und das Einzelne aus dem Wahrnehmungswissen durch die Wahrnehmung verbunden sind, weil sich naturwissenschaftliches Allgemeines experimentell auf Wahrnehmungswissen stützt.
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sowohl in bezug auf belebte wie auf unbelebte Natur zu einer emotionalen Bewertung führen. Eine begleitende positive emotionale Bewertung wird Zustimmung erzeugen und seine Fortsetzung unterstützen. Das kann der Fall sein, wenn es mit adulten Stammzellen gelänge, Organe zu züchten, weil kein werdendes Leben geopfert werden müßte. Aber es kann auch von negativen Bewertungen begleitet sein, die forschendes Handeln fragwürdig werden lassen. In der belebten Natur z. B. können Experimente mit Tieren, wenn sie Schmerzen, körperliche Torturen, Verunstaltungen oder deren Tötung einschließen, zu Mitleid mit deren Qualen, Abscheu vor Mißachtung des Lebens und zu einer Ablehnung der Forschung führen. In der unbelebten Natur können es z. B. Kernkraftexperimente sein, die Angst erzeugen und eine ablehnende Bewertung entstehen lassen. Es kommt auf den Einzelfall an, der eine emotionale Bewertung erzeugt, weil es ein Einzelnes ist, das aus der Wahrnehmung bewertet wird. Kann sich ein forschendes Handeln der emotionalen Bewertung entziehen? Man kann es vielleicht unterdrücken, ausblenden oder durch Gewohnheit nicht zur Geltung kommen lassen. Ein derartiger Umgang führt erneut zu emotionaler Bewertung. Eine Unterdrükkung oder Abstumpfung kann Unbehagen erzeugen und zu Änderungen des Handelns veranlassen. Ausblenden bzw. unterdrücken läßt sich das Emotionswissen nicht; vielleicht bei den Akteuren, nicht aber bei den miterlebenden Menschen. Am Beispiel der verbrauchenden Embryonenforschung wurde deutlich, daß trotz Befürwortung vieler aktiver Forscher eine aufmerksame Öffentlichkeit nicht einfach bereit war, die Forschungen zu akzeptieren. Die Handlungen, bei denen es nicht um die Forschung, sondern um die Anwendung gefundener Gesetzmäßigkeiten geht, unterliegen ebenfalls einer emotionalen Bewertung, wobei fraglich bleibt, ob sich Forschung und Anwendung strikt trennen lassen. Im Falle einer Anwendung bereits bekannter Gesetzmäßigkeiten geht es darum, den zuvor aus einem Einzelnem abstrahierten Aspekt, der zur Erforschung einer Gesetzmäßigkeit geführt hat, auf dieses Einzelne anzuwenden. Die Vielfalt des Wissens über das Einzelne aus der Wahrnehmung, von dem zuvor abstrahiert wurde, kommt bei einer Anwendung erneut zur Geltung. Am Beispiel der In-Vitro-Fertilisation lassen sich diese Vielfalt des Wahrgenommenen und ihre Einflüsse erklären: Trotz des Wissens über die Vorgänge einer Eizellbefruchtung ist ein Erfolg in einer künstlichen Anwendung keines192
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wegs sicher, weil deren Entwicklung in jedem Einzelfall unvorhersehbaren Einflüssen ausgesetzt ist. Es bedarf oft vieler Wiederholungen. Um die Erfolgschancen zu erhöhen, werden deshalb bei einer In-Vitro-Fertilisation mehrere Zellen befruchtet. Was soll aber mit den überzähligen befruchteten Eizellen geschehen, die später nicht eingepflanzt werden und übrig sind? Ihre Entsorgung weckt Ablehnung. Ein anderes Beispiel ist die Anwendung von Therapieverfahren bei kranken Patienten. Betrachtet der Arzt das Gesamtwissen um den Patienten, also dessen Alter, seine körperliche Konstitution, seinen Willen, die Krankheit zu überwinden und das schwer erträgliche Therapieverfahren zu akzeptieren, vielleicht auch dessen Bitte, von einer Behandlung abzusehen und lieber in Frieden sterben zu dürfen, dann können sich aus diesem Wahrnehmungswissen emotionale Bewertungen ergeben, die von der Anwendung einer Therapie Abstand nehmen lassen; eine trotz allem erfolgte Anwendungshandlung könnte sogar selbst einer emotionalen Bewertung aussetzt sein und als unangemessen, herzlos und ablehnend beurteilt werden. Auch die Aussicht, ob eine bestimmte Medizin hilft, eine Chemo- oder Bestrahlungstherapie bei krebskranken Patienten zum Erfolg führt, hängt von Einflüssen des Organismus im Einzelfall ab; ein ausschließlich naturwissenschaftliches Wissen könnte die Frage nicht beantworten. Erst der Einzelfall ermöglicht vollständiges Wissen, wenn das Wahrnehmungswissen hinzutritt, ergänzt von dem aus Emotionen. Alle Beispiele zeigen, daß gefundene Gesetzmäßigkeiten zwar Handlungsmöglichkeiten eröffnen, die ihrerseits aber einer emotionalen Bewertung ausgesetzt sind, die sich aus dem Wahrnehmungswissen des Einzelfalls und den damit verbundenen Emotionen ergeben. Es kann sein, daß ebenso wie bei Handlungen überhaupt auch bei naturwissenschaftlichem Handeln unterschiedliche oder strittige emotionale Bewertungen auftreten. Die erwähnte Präimplantationsdiagnostik gab ein Beispiel dafür. Konkurrierende und strittige emotionale Bewertungen veranlassen zu ihrer nachdenkenden Betrachtung. Woran orientiert sich ein Abwägungsprozeß zwischen unterschiedlichen Bewertungen? Man wird auf Erfahrungen und deren Bewertung zurückgreifen, auf erworbenes emotionales Wissen. Aus einem Abwägungsprozeß wird oft nur ein vorläufiges Urteil zugunsten einer Bewertung hervorgehen; weil gewichtige emotionale Einwände wirksam bleiben, geht der Abwägungsprozeß weiter, bei einzelnen Menschen und in der Öffentlichkeit in der Herausbildung A
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eines Meinungsbildes. Es ist kein Prozeß, der mit einer Entscheidung zugunsten einer Bewertung zu Ende ist, sondern solange strittige emotionale Bewertungen wirksam bleiben, findet er seine Fortsetzung. Ein Beispiel ist die Abtreibungsproblematik, die über Jahre bis heute nur unzureichend gelöst werden konnte. Ein anderes Beispiel für konkurrierende Bewertungen ist die mehrfach erwähnte embryonale Stammzellenforschung. Aus einem Mitgefühl mit kranken Patienten entsteht die Handlungsentscheidung zum Heilen. Für ein schrankenloses Heilen wird eine Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen verlangt, sogar als Pflicht betrachtet. Diese Position beruft sich auf Emotionen aus der einer Hilfeleistung; eine dafür erforderliche Forschung wird einem allgemeinen Heilungszweck unterworfen. Eine konkurrierende Emotion bezieht sich auf den Schutz des Lebens des einzelnen Embryos. Wie aber sollen zwei gegenteilige emotionale Bewertungen gegeneinander abgewogen werden; welcher kommt ein höherer Rang zu; ist die Opferung des Lebens zur Rettung eines anderen Lebens gerechtfertigt? Da eine Euthanasie unstrittig ist und einhellig abgelehnt wird, verlagert sich die Abwägung auf die Frage, ob eine embryonale Stammzelle ein Mensch ist, dem die Menschenwürde und Schutz zukommt oder nicht. Daraus folgt die weitergehende Frage, ob Menschsein eine Frage der Zuordnung zu einer Leibesfrucht ist. Heike Schmoll hat in einem Aufsatz (Schmoll, 2001) einige unterschiedliche Zuschreibungen und ihre Begründungen eindrucksvoll dargestellt. Die Zeitpunkte der Zuerkennung des Menschseins reichen aus historischer Perspektive von der Beseelung des Embryos mit der Geburt (so bei Platon) bis zu der Auffassung in der Mitte des 20. Jahrhunderts, Menschsein träte mit der Befruchtung der Eizelle ein, denn mit der Befruchtung begänne eine Entwicklung des Menschen und nicht eine Entwicklung zum Menschen (Guardini und Spaemann). Aus heutiger Sicht erscheint jeder Zuschreibungszeitpunkt des Menschseins als ein willkürlich gewählter. Man stelle sich einmal eine befruchtete Eizelle in einer Petrischale vor, so daß die Stadien ihrer Zellteilung sichtbar mitverfolgt werden können. Und plötzlich zu irgendeinem Zeitpunkt solle dem Embryo das Menschsein zukommen, ohne daß in der Petrischale etwas hinzugekommen ist. Wie könnte das begründbar sein? Allerdings war der Anlaß dieser unterschiedlichen Zuschreibungen des Menschseins immer eine Auseinandersetzung über die Abtreibung. Heute steht im Mittelpunkt der Beurteilung einer For194
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schung an menschlichen embryonalen Stammzellen nicht mehr wie damals das sich entwickelnde Einzelwesen, sondern ein Zweck, nämlich der forschender Erkenntnis. Es geht nicht um ein Individuum, sondern von diesem Einzelnen abstrahierend um die Frage, ob bzw. bis zu welchem Zeitpunkt Embryonen als Experimentiermaterial eingestuft werden können. Es geht um eine Abgrenzung zwischen embryonalem Forschungsmaterial und Menschsein. Die Abgrenzung stützt sich auf ein Wissen aus der Reflexion über Embryonen. In der Reflexion über diese Abgrenzung verschwindet das Individuum als Leibesfrucht; hervor tritt eine verallgemeinerbare Erkenntnis. Ob diese aber all das repräsentieren kann, was dem Betrachter in einem Embryo als Individuum gegenübertritt, mag bezweifelt werden. Reflexionswissen über embryonale Stammzellen betrachtet den Aspekt, der eine Verwendung bestimmter Gewebe herauspräpariert; unbeachtet bleibt alles Wegpräparierte. Wegpräpariert ist vieles, was zur embryonalen Stammzelle in ihrer Ganzheit gehört und wovon wir ein Wissen aus Wahrnehmung, aus Emotionen und auch aus Reflexion unter anderen Aspekten haben wie z. B.: Eine embryonale Stammzelle verkörpert eine Individualität aus dem Erbgut der Eltern; sie ist Ursprung menschlichen Lebens; wegpräpariert wird ihr die zugehörige Einmaligkeit als Individuum ebenso wie die Fähigkeit zu anderen als hier gefragten Entwicklungen. Eine vollständige Erkenntnis eines Embryos aus allen drei Arten des Wissens vermittelt mehr als nur der ausgewählte Aspekt der Organzüchtung. Embryonale Stammzellen, die man wahrnehmen kann, sind selbst schon Produkt eines präparierenden forschenden Handelns durch eine In-Vitro-Fertilisation. Wenn man sie sieht, erscheinen sie wie ein Zellhaufen. Aber das Wissen, was sie zur Stammzelle macht, nämlich die befruchtete menschliche Eizelle, weckt Emotionen wie Achtung vor dem keimenden menschlichen Leben und vor der heranwachsenden Entstehung eines bestimmten Menschen. Die Vorstellung, an der embryonalen Stammzelle herumzupräparieren, sie nur als materiellen Forschungsgegenstand zu behandeln, erzeugt Unbehagen, vielleicht auch Ablehnung, weil sie das Leben und die menschliche Individualität dieses Keimes mißachtet. Aus Wahrnehmungs- und Emotionswissen zusammen entsteht Wissen über ein einzelnes Exemplar. Wissenschaftliche Betrachtung als Abstrahierung vom einzelnen Exemplar verallgemeinert eine Erkenntnis, und das Individuelle tritt hinter diese zurück. Wird aber bei der Beantwortung der Frage, ob an Embryonen geforscht werden A
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darf, das Individuelle des Embryos aus den anderen Quellen des Wissens nicht einfach außer acht gelassen, bleibt es fraglich, ob man langfristig gegen die Bewertung aus dem Emotionswissen handeln kann, gegen ein Emotionswissen, das nicht dem Willen hinsichtlich seiner Ausformung unterliegt. Es bleibt dann auch fraglich, ob eine Zerstörung seines individuellen Lebens durch verbrauchende Embryonenforschung gegen eine Hilfe an ein anderes krankes Individuum aufgerechnet werden kann, wie es oft zur Rechtfertigung solcher Forschung geschieht. Betrachtet man die Wissenschaft nicht nur als einen Präparationsprozeß, sondern ergänzt das Reflexionswissen um das Emotionswissen, das zu einer embryonale Stammzelle hinzugehört, dann folgt, daß ein Forschungshandeln zur Herauspräparation von bestimmtem Gewebe nur dann Bestand haben kann, wenn dieses mit den damit verbundenen Emotionen verträglich bleibt, d. h. wenn das Wegpräparierte nicht das menschliche Leben selber ist. Es ist hier ein Weg entworfen worden, der zu einem vollständigeren Wissen über einen Embryo führt und diesem eher gerecht wird als der, der nur nach verallgemeinerten Aspekten eines Embryos fragt und nicht all das erfassen kann, was ein Wissen aus Wahrnehmung und Emotion über einen Embryo vermittelt, weil nur dieses ihn als Individuum und in seiner Vielfalt zeigen kann. Und wer will behaupten, daß einem Reflexionswissen ein Vorrang vor dem Wahrnehmungs- und Emotionswissen zukomme, um verbrauchende Embryonenforschung rechtfertigen zu können? Ein anderes Beispiel aus der unbelebten Natur ist die Anwendung atomarer Kernkraft zur Energiegewinnung. Ein das Leben angenehm machender hoher Energiebedarf kann auf eine die Umwelt wenig belastende Weise zur Verfügung gestellt werden. Unbehagen erzeugen die mit den Kernreaktoren verbundenen Unfallgefahren und vor allem die Entsorgung des atomaren Mülls, von dem über lange Zeiten Verstrahlungsgefahren ausgehen. Der Abwägungsprozeß führt zu vorläufigen Handlungsentscheidungen wie einer zeitlich befristeten Nutzung, der Abschaltung besonders gefährdeter Atomkraftwerke, aber auch zum Bau neuer. Die strittige Reflexion geht weiter, bis brauchbare Alternativen der Energiegewinnung zur Verfügung stehen. Die emotionale Bewertung nimmt hier nicht Bezug auf einen Gegenstand der Natur, sondern auf ein Handeln im Umgang mit unbelebter Natur. Es ist forschendes Handeln selbst, das man wahrnimmt und emotional bewertet und das nicht wertfrei auf die Ergebnisse seines Reflexionswissens verweisen kann. 196
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Schlußbetrachtung zum Wissen und Bewerten
Die hier behandelten Überlegungen lassen sich zusammenfassen: Wissen wird verstanden als ein von einem Individuum hervorgebrachtes Ergebnis aus seiner Kommunikation mit der Umwelt. Dieser Wissensbegriff erfaßt Wissen als einen Prozeß, wie er im Konstruktivismus entworfen wird. Es ist nicht erforderlich, die Außenwelt zu leugnen, wie es die Konstruktivisten tun, sondern die Ergebnisse der Neurowissenschaften erlauben zu zeigen, daß es eine Außenwelt gibt, die unser Wissen beeinflußt. Repräsentiert wird sie durch die Reizquellen der Umwelt, die als ein dem hervorgebrachten Wissen Zugrundeliegendes dieses charakterisieren. Wenn Wissen aus der Kommunikation mit der Umwelt als Wahrnehmungs-, Emotions- und Reflexionswissen hervorgeht und alle drei Arten des Wissens aus ihnen gemeinsamen Quellen der Umwelt hervorgehen, dann ist es sinnvoll, in das Wissen über ihren Gegenstand dasjenige aus allen drei Quellen einzubeziehen. Es führt zu einer unzureichenden Verengung eines Wissens, wenn nur ein Reflexionswissen hervorgehoben und das Wissen aus der Wahrnehmung und Emotion außer acht gelassen wird. Auch in einem wissenschaftlichen Wissen behalten die beiden Arten ihre Berechtigung und ihren unverzichtbaren Beitrag zu einem vollständigen Wissen. Die Vielfalt des Wissens aus der Wahrnehmung, die Einblicke in Zusammenhänge aus der Reflexion und der subjektive Aspekt aus den Emotionen bleiben in das Wissen eingebunden. Ein Wissensbegriff, begründet aus der Kommunikation eines Subjektes mit seiner Umwelt ist geeignet, die Kluft zwischen Natur- und Geisteswissenschaften zu überwinden, weil Einzelnes aus der Wahrnehmung und Allgemeines aus der Reflexion zusammengebunden bleibt. Einzelnes, wie es die Geisteswissenschaften erfassen, und Allgemeines aus den Geistes- und den Naturwissenschaften bleiben durch ihr gemeinsames Wahrnehmungswissen verbunden; unterschieden bleiben Geistes- und Naturwissenschaften durch die eigentümlichen Aspekte ihrer Fragen an den Wahrnehmungsgegenstand. Wissen aus den Emotionen, welches das Wahrnehmungswissen und das aus ihm hervorgehende Reflexionswissen bewertet, führt zu einer Ethik, die naturwissenschaftliches Wissen und dessen emotionale Bewertung aus einer ihnen gemeinsamen Begründungsgrundlage herleitet. Die Bewertung befreit von aufgedrängten Normen und bildet eigene Werte heraus. Die Ethik ermöglicht HandlungsentA
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scheidungen bezogen auf die Erste Person, auf den Anderen, auf die Gemeinschaft und auf die Umwelt. Ihre Grundlage – die Emotionen – hat Goethe einmal so charakterisiert: »Das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil.« 22 Bis hierher ist das erkenntnistheoretische Fundament einer Ethik aus emotionaler Bewertung dargelegt worden. Nur am Schluß wurde ihre Anwendung am Beispiel der embryonalen Stammzellforschung demonstriert. Was jetzt folgen muß, ist eine allgemeine Entfaltung ihrer Anwendung, um herauszufinden, ob und wie sie die vielfältigen Fragen nach ethischer Orientierung in unserer Lebenswelt beantworten kann; ob sie in der Lage ist, grundlegende Orientierungen individuellen und politischen Handelns zu ermöglichen bis hin zu der Frage, wie sie sich zu Ideen und Idealen verhält, die in einer Ethik oft eine Rolle gespielt haben. Die Untersuchung der Anwendungsfragen folgt in einem zweiten Band, der eine Ethik aus emotionaler Bewertung entwickeln wird.
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Namensregister
Apel, K.-O. 129, 130 Aristoteles 26, 55, 56, 98, 106, 108, 133 f., 156, 162 Audretsch, J. 121 Augustinus 107 Baumgartner, H. M. 129 Bayertz, K. 147, 148 Berkeley, G. 28 Birnbacher, D. 181 Blakemore, S.-J. 92 Brecht, B. 57 Brunswik, E. 35 Buchanan J. M.172 Carnap, R. 31 Cassirer, E. 108 Coriando, P.-L. 76 Damasio, A. 59, 62, 65, 67, 74, 75, 83, 88–92, 96, 162, 164–172, 177, 184, 186 Danto, A. 108 Darwin, Ch. 91, 182 Deppert, W. 107 Descartes, R. 22, 27, 109, 117 Deutsche Forschungsgemeinschaft 148, 149 Dilthey, W. 30, 137, 138, 143 Dörner, D. 102 Einstein, A. 109, 139, 142 Ekman, P. 82, 175 Elsner, N. 59 Engel, A. 63, 66 Feyerabend P. K. 48 Fichte, J. G. 98 Foerster, H. von 43, 47, 52 Fram, J. 64, 100
Friederici, A. D. 63, 64 Frühwald, W. 146 Galilei, G. 27, 135 Geyer, Ch. 180 Gibson, J. 33 Giulini, D. 112 Glasersfeld, E. von 23, 24, 33, 41, 42, 44–51, 99 Goethe, J. W. von 198 Gold, P. 17 Grosseteste, R. 134 f. Habermas, J. 99 f., 129 Hegel, G. W. F. 99, 106, 111 Heidegger, M. 29 Heisenberg, M. 46 Heisenberg, W. 110, 121, 139, 140 Hobbes, Th. 22, 39, 133, 135 f., 172 Hoffmann, B. 94, 109 Hoffmann, U. 43 Hölderlin, F. 109 Honneth, A. 161 Hösle, V. 128, 159 Hubig, Ch. 160, 188 Hübner, K. 77 103, 109, 128, 129, 132, 133, 139, 141, 143, 189 Hume, D. 28, 163 Hutcheson, Fr. 162 Hüther, G. 70 Irrgang, B. 159 Jacobi, G. 98 Janich, P. 23, 41, 42, 43, 50, 51, 99 Jonas, H. 188 Kahnemann 171 Kandel, E. 21, 24, 58, 59, 60–67, 71, 74, A
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Namensregister 75, 79, 80–84, 87, 92, 97, 100, 101, 119, 167 Kanitscheider, B. 22, 139, 165 Kant, I. 20, 21, 28, 29, 31, 55, 56, 98, 105, 106, 113, 163 Kather, R. 84, 104, 121, 136, 137, 139, 141, 142 Kemmerling, A. 141 f. Kersting, W. 159 Kolster, W. 27, 77, 129, 137 Köck, W. 19, 42, 43, 101 Kraft, V. 173 Krüger, L. 188 Kruse, Fr. V. 77, 78 Kuhn, Th. 129 Lanz, P. 63 Leibniz, G. W. 27, 98, 109 Lenk, H. 159 Libet, B. 182 f. Locke, J. 99 Ludwig, G. 140 f. Luhmann, N. 147 Mach, E. 136 Mackenzie, I. 135 Marquard, O. 143 Maturana, H. R. 17, 18, 23, 42, 44, 46, 48, 101 Merleau-Ponty, M. 23, 35–38, 99, 112 Metzger, W. 34 Meyer-Abich, K. M. 113, 185 f. Mieth, D.10 Mittelstraß, J. 18, 148, 188 Mohr, G. 33 Moore, G. R. 31 Müller-Hill, B. 147 Mulligan, K. 20, 35, 43, 70 Neumann, J. N. 144 Nietzsche, F. 30 Nozick, R. 74, 86, 164, 172, 174 Nüse, R. 50, 51, 52 Pascal, B. 185 Patzig, G. 105, 181 Petersen, Th. 135 Picasso, P. R. 90
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Pieper, A. 158 Planck, M. 111 Platon 133 Ploog, D. 23, 59, 70, 74, 75, 80–86, 90, 93- 96, 131, 166, 168, 177 Pöppel, E. 63, 64, 80, 81, 82, 87, 167 f. Popper, K. R. 48 Quine 31 Rawls, J. 172, 186 Reich, I. 176 Reiter, J. 159 Roth, G. 19, 23, 32, 34, 39, 41–51, 59– 68, 71–73, 76, 89, 97, 101, 117, 119, 166, 168, 170, 182 f., 186 Rousseau, J. J. 144 Saint-Exupéry, A. de 89 f. Sartre, J. P. 84 Schantz, R. 20, 22, 79, 120 Scheler, M. 76, 164 Schmidt, S. J. 40, 41, 44 Schmitz, H. 23, 33–38, 56, 70, 71, 73, 99, 117 Schmoll, H. 160, 194 Schopenhauer, A. 29, 30 Schrödinger, E. 23, 104, 130 f., 136 f., 139, 142 Schwartz, R. 55 Siep, L. 10 Singer, R. 43, 58, 59, 60, 66, 67, 70, 71, 72, 80, 81, 152 f. Spinoza 109, 163 Spitzer, M. 97 Staudinger, H. J. 147 Stegmüller, W. 105, 106 Steinfath, H. 174 Störig, H. J. 28 Strawson, P. 21, 24, 28, 31, 99 Ströker, E. 139, 147 Stroud 28, 31 Thomas von Aquin 134 Tversy 171 Tye, M. 114 f., 130 Uexküll, T. 18, 23, 47, 89, 166
ALBER PHILOSOPHIE
Wedig Kolster https://doi.org/10.5771/9783495997208 .
Namensregister Vico, G. 22, 27, 39, 76, 77, 109, 133, 136, 137, 142 Viertel, W. 55 Wallner, F. 43 Watzlawick, P. 40, 43
Whitehead, A. N. 108, 121, 139, 142 Wittgenstein, L. 31 Wucherer-Huldenfeld, A. K. 131 Zahn, L. 98
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Verzeichnis der Schlsselbegriffe
Abstraktion 110 Außenwelt 53 Auditorisches System 63 Autopoietisches System 18
Modalität 60
Beobachter 46 Bewertung 86 f., 157 Bildgebende Verfahren 64, 100 Embryo 10, 16 Embryonenforschung 78 Emotion 76 Emotionales Wissen (angeborenes und erworbenes) 167 f. Ethik 158 Empathie 94 Freiheit 179 Geisteswissenschaften 137 f. Gewißheit 116 f. Hirnregion 23, 24, 65 Hirnprozeß 58, 65
Neuron 65 f. Neurowissenschaft 58 Neuronale Prozesse 65 ff. Notwendige Bedingung 53, 115, 140 Passen 46 Prozeß 71 ff. Quellen 68 ff. Radikaler Konstruktivismus 39 ff. Reflexion 100 Reize 59 Signal 59 soziale Kommunikation 15 f., 39, 70 Subjekt 18 Topographie des Gehirns 62 ff. Umwelt 18, 68 ff.
Information 61 Innenwelt 32 Interaktion 19 Klon 9 f. Konstanz 69 Kommunikation 19 Kognitionswissenschaft 17 Kognition 80 Lebendes System 19 Limbisches System 79 f.
Vernunft 183 f. Visuelles System 65–69 Wahrnehmung 21 f., 71 ff., 105 Wahrheit 116 f. Wert 173, 176 Wille 182 Wirklichkeit 41 Wissen 17 ff., 153 Zugrundeliegendes 55 f.
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