Wir Untertanen : Ein deutsches Anti-Geschichstbuch 3570022595

Noch immer stehen in unseren Geschichtsbüchern die Taten und Untaten der Kaiser und Fürsten im Vordergrund - bilden sie

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German Pages [499] Year 1974

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Wir Untertanen : Ein deutsches Anti-Geschichstbuch
 3570022595

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(.Bertelsmann

B ernt Engelmann

Wir Untertanen Ein Deutsches Anti-Geschichtsbuch



C. Bertelsmann Verlag

© 1974 Verlagsgruppe Bertelsmann GmbH/ C. Bertelsmann Verlag München, Gütersloh, Wien Gesamtherstellung bei Druck- und Verlagsanstalt Welsermühl, Wels ISBN 3-570-02259-5 Printed in Austria

Schutzumschlaggestaltung Franz Wölzenmüller

FÜR PETRA, THOMAS, SABINE UND KATRIN - DAMIT IHNEN DIE WAHREN HELDEN DER DEUTSCHEN GESCHICHTE, DIE MÄNNER UND FRAUEN, DIE FÜR RECHT UND FREI­ HEIT KÄMPFTEN - VON JOSS FRITZ UND JÄCKLEIN ROHR­ BACH UBER R'OBERT BLUM UND JOHANN JACOBY BIS ZU AUGUST BEBEL UND ROSA LUXEMBURG -, KEINE UNBEKANNTEN BLEIBEN

Inhalt

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1. Eine neue Perspektive oder wie Geschichte interessant werden kann 11

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2. Ging unser Mittelalter schon zu Ende?

3. Die gescheiterte Revolution 4. Funken in der Asche

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5. Als man die Herren vom Hinz-Konzern aus derti Fenster warf ... 133 6. Die Nacht der 1001 Tyrannen 7. Feuer am Horizont

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8. Fehlstart in die Neuzeit und zurück zum Zopf 207

9. Das Bürgertum beginnt aufzumucken

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10. Die braven Bürger und der Ludergeruch der Revolution 274 11. Mit Eisen, Blut und Schwindel zum Zweiten Deutschen Reich 329 12. Die Diktatur des »Eisernen« Junkers 13. ... herrlichen Zeiten »per Blutbad« — entgegen

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14. Die mörderischsten Lügen der deutschen Geschichte 437

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Fragen eines lesenden Arbeiters ,

Wer baute das siebentorige Theben? In den Büchern stehen die Namen von Königen. Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt? Und das mehrmals zerstörte Babylon Wer baute es so viele Male auf? In welchen Häusern Des goldstrahlenden Lima wohnten die Bauleute? Wohin gingen an dem Abend, wo die Chinesische Mauer fertig war, Die Maurer? Das große Rom Ist voll von Triumphbögen. Wer errichtete sie? Uber wen Triumphierten die Cäsaren? Hatte das vielbesungene Byzanz Nur Paläste für seine Bewohner? Selbst in dem sagenhaften Atlantis Brüllten in der Nacht, wo das Meer es verschlang, Die Ersaufenden nach ihren Sklaven. Der junge Alexander eroberte Indien. Er allein? Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich? Philipp von Spanien weinte, als seine Flotte Untergegangen war. Weinte sonst niemand? Friedrich der Zweite siegte im Siebenjährigen Krieg. Wer siegte außer ihm? Jede Seite ein Sieg. Wer kochte den Siegesschmaus? Alle zehn Jahre ein großer Mann. Wer bezahlte die Spesen? So viele Berichte. So viele Fragen. Bert Brecht

1. Eine neue Perspektive oder wie Geschichte interessant werden kann

»Geschichte ist doof«, meint Karin. Und das finden auch Sa­ bine, Klaus, Peter und Monika. Sie wohnen zwar in verschie­ denen Städten der Bundesrepublik Deutschland; sie besuchen Schulen unterschiedlichen Typs; sie stimmen in vielen ande­ ren Fragen ganz und gar nicht überein. Aber, was Geschichte betrifft, so sind sie völlig einer Meinung: Sie finden sie lang­ weilig, uninteressant, überflüssig und nennen sie deshalb schlicht doof. Allerdings gilt ihr abfälliges Urteil - wie sich dann ergab - nicht eigentlich der Geschichte, sondern der Art und Weise, in der man sie ihnen beizubringen versucht hat. »Immer nijr Kaiser und Könige, die von dann bis dann regiert haben und nur Kriege führten und Schlachten schlugen - wen interessiert das schon?«, erklärte dazu Sabine. »Wenn es we­ nigstens dufte Typen gewesen wären«, fügte Monika hinzu, »Leute, die einem imponieren könnten ...« Einige Vorschläge, die eine oder andere Gestalt der deut­ schen Geschichte betreffend- zum Beispiel Joß Fritz, Johann Jacoby, August Bebel - ergaben, daß diese Namen weder Sa­ bine noch Klaus, noch Peter, noch Monika oder Karin etwas sagten. Und umgekehrt zeigte sich, daß ihnen Martin Luther wohl als der große deutsche Reformator, Bibelübersetzer

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und Kirchenlieddichter sowie als mutiger Mann - »Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen.« — bekannt war, nicht aber Luthers Rolle in der ersten großen deutschen Revolution, von der sie ebenfalls nichts wußten. Erst als ih­ nen klar wurde, daß damit »die Bauernkriege« gemeint wa­ ren, fiel Peter ein, daß Luther den Ausschreitungen der Bau­ ern furchtlos entgegengetreten sei. »Aber was soll das?« be­ eilte er sich, hinzuzufügen. »Das kann doch heute keinen mehr vom Stuhl reißen - nicht mal den Landwirtschaftsmini­ ster!« Das gab den Anstoß zu diesem Buch. Es soll - um Irrtü­ mern vorzubeugen - nicht einfach der Vielzahl bereits vor­ handener Geschichtsbücher nur ein weiteres hinzufügen. Vielmehr ist es sein Zweck, die geschichtliche Vergangen­ heit - und zwar naheliegenderweise hauptsächlich unsere, also die deutsche Vergangenheit - einmal ganz anders darzu­ stellen, als dies bislang üblich war und ist, sie von ihrem Pomp und Staub zu befreien und im besten Sinn des Wortes interessant zu machen. Warum? Es gibt dafür ein paar gute Gründe, die jeden angehen. Beispielsweise diesen: »■Wer sich an die Vergangenheit nicht erinnern kann, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.« Diese Feststellung stammt von dem großen amerikanischen Philosophen und Romancier George Santayana. Sie gilt, mehr noch als für den einzelnen Menschen, auch für Völker und Nationen. Der Gedanke, unsere Vergangenheit wiederholen zu müs­ sen, ist für uns Deutsche besonders erschreckend! Wenn wir uns nicht erinnern (und deshalb aus begangenen Fehlern nichts lernen) können, müßten wir und unsere Nachkommen alles noch einmal durchmachen: den Wahnsinn der HitlerZeit samt dem Massenmord an einer mißliebigen Minderheit und allen Schrecken eines von Anfang an aussichtslosen Krie­ ges gegen die halbe Welt; den mit Millionen Toten und Abermillionen Krüppeln bezahlten frisch-fröhlichen Hurra-Pa­ triotismus von 1914; die völlige Rechtlosigkeit, nicht nur aller

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Frauen und beinahe sämtlicher Jugendlicher, sondern auch der meisten Männer, gegepüber jedweder Obrigkeit »von Gottes Gnaden«, zu der auch der Fabrikherr, die »gnädige Frau«, der Herr Unteroffizier und der Meister gehörten; den Kadaver-Gehorsam, die Prügelstrafe, die ständige Bevor­ mundung durch geistliche und weltliche Uniformierte. Und so weiter und weiter zurück bis ins finstere Mittelalter . . . Diese Vorstellung ist entsetzlich. Aber können wir, die heutigen Bürger der Bundesrepu­ blik, die wir die große Mehrheit der Deutschen des zwanzig­ sten Jahrhunderts sind, uns der deutschen Geschichte erin­ nern? Zunächst ist man geneigt, diese Frage erleichtert zu be­ jahen, natürlich mit Einschränkungen: Wir, die heute Leben­ den, haben die historische Vergangenheit unseres Volkes ja nur in ihren allerjüngsten Teilen selbst erlebt. Wir sind des­ halb im Wesentlichen auf das angewiesen, was uns andere da­ von vermitteln konnten. Unser Geschichtsbild wurde ge­ prägt vom Unterricht in der Schule, von historischen Roma­ nen, Theaterstücken, Filmen oder Fernsehspielen, auch von dem einen oder anderen Sachbuch, vielleicht von älteren Ver­ wandten oder Freunden, die dieses oder jenes noch selbst miterlebt oder sich besonders damit beschäftigt haben, viel­ leicht auch von Künstlern, die sich bemühten, bestimmte ge­ schichtliche Ereignisse oder Gestalten mit ihren jeweiligen Mitteln zt| verewigen. Natürlich kennt niemand, auch nicht der beste Fachgelehr­ te, die gesamte deutsche Geschichte in allen Einzelheiten. Unser Wissen beschränkt sich im ganzen gesehen auf das, was sich von den - teilweise recht lückenhaften - Überlieferungen aus mehreren Jahrtausenden durch intensive Forschungen einigermaßen erhärten ließ. Für die meisten Bundesbürger unserer Tage ist die deutsche Geschichte nur das, was sie in fünfzig, hundert oder mehr Schulstunden davon erfahren haben und später durch allerlei Einzelheiten aus Romanen, Gemälden, Filmen oder Illu-

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striertenberichten ergänzen konnten. Die Auswahl dessen, was unser Geschichtsbild geformt hat, wurde meist von ande­ ren bestimmt, die sie für uns trafen, und vom zufällig Ange­ botenen. Außerdem gibt es zwischen den Geschichtsbildern der ein­ zelnen Mitglieder unserer Gesellschaft sehr beträchtliche Un­ terschiede, was die Deutlichkeit, den Umfang und die zumin­ dest zeitlich ungefähr richtige Einordnung der Geschehnisse betrifft. Diese Unterschiede sind vor allem dadurch bedingt, daß der eine mehr Bildungsmöglichkeiten gehabt (und diese mehr oder weniger wahrgenommen) hat als der andere. Dagegen ist die Perspektive, also die Blickrichtung, aus der heraus unser jeweiliges Geschichtsbild entstanden ist, bei al­ len ziemlich gleich. Das war schon immer so, seit es Schulen in Deutschland gibt, und es ist auch heute noch so: Der Hauptschüler Franz, Sohn eines Waldarbeiters; sein Klassen­ kamerad Wolfgang, Erbe des Schloßguts, zu dem der Wald gehört, wo Franzens Vater als Holzfäller sein Brot verdient; die Berufsschülerin Doris, die Friseuse wird und deren Vater Maschinenschlosser ist; die Gymnasiasten Markus, Peter und Michael, Söhne von Akademikern und höheren Beamten; die Studentin Karin, Tochter eines Großindustriellen; Erbprinz Kraft-Eberhard, dessen Familie Ländereien im Umfang meh­ rerer Landkreise besitzt, dazu Schlösser, Kunstschätze, Brauereien und Aktienpakete der die Region beherrschenden Bank; Maria, ledige Tochter einer Kellnerin und Absolventin einer oberpfälzischen Dorfschule; der Postamtmannssohn Fritz, Realschüler in der Kreisstadt; Sabine, großstädtische Bäckermeisterstochter und Oberrealschülerin oder KnutAsgard, der als Sohn eines Kaffeeimporteurs und Konsuls an einem altehrwürdigen hansestädtischen Gymnasium seine Reifeprüfung ablegt - sie alle, ob Dorfschülerin oder, wie der Erbprinz, Zögling eines exklusiven Internats, erhalten einen, zwar unterschiedlich intensiven, aber von der Betrachtungs­ weise her durchaus gleichen Geschichtsunterricht.

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Das scheint auf den ersten Blick nicht nur gut und richtig zu sein, sondern geradezu selbstverständlich. Warum sollten Heinrich der Löwe, Karl V., die Fugger,'Ulrich von Hutten, Wallenstein, Friedrich der Große, der Freiherr vom Stein oder auch Bismarck, Ludendorff und Hitler für Bankiers­ töchter, Erbprinzen und Großindustriellensöhne andere Be­ deutungen haben als für die Kinder von Waldarbeitern, Kell­ nerinnen oder Maschinenschlossern? Unterstellen wir einmal, es gebe darauf keine vernünftige Antwort. Dann müßte es aber dennoch erlaubt sein zu fra­ gen: Wessen Geschichtsauffassung ist dies eigentlich, die uns da — offenbar so selbstverständlich für alle gleich — vermittelt wird oder werden soll? Und.was ist der Sinn und Zweck die­ ser Geschichtsdarstellung und ihrer Einheitlichkeit? Gehen wir noch einen Schritt weiter und fragen wir, was denn Geschichte überhaupt ist und sein soll. Darauf gibt uns der schweizerische Kulturhistoriker Jacob Burckhardt eine schlichte und klare Antwort: »Geschichte ist, was ein 'Zeital­ ter an dem anderen interessiert.« Das setzt nun allerdings etwas voraus, nämlich, daß wir, für die die mehr oder weniger weit zurückliegenden Epochen zur begriffenen Geschichte werden sollen, aus der sich dann nützliche Lehren für die Gegenwart und die Zukunft ziehen lassen, auch tatsächlich wissen, was uns davon interessiert, das heißt: Was * unseren Interessen entspricht. Dazu müßten die meisten von uns jedoch erst einmal klar erkennen, in welcher Interessenlage sie sich befinden. Sodann müßten sie imstande sein, aus dieser Erkenntnis Folgerungen zu ziehen. Sie hätten sich vor allem darüber klar zu werden, daß sich ihre eigene Lage von der Situation anderer teils gar nicht, teils aber - und zwar in sehr wichtigen Punkten außerordentlich stark unterscheidet. Daraus folgt, daß sie selbst, wahrscheinlich gemeinsam mit vielen anderen, ganz bestimmte Interessen haben. Doch diese brauchen nicht unbedingt übereinzustimmen mit den Inter15

essen derer, die die Auswahl der geschichtlichen Betrach­ tungsweise für alle getroffen haben, und zwar von ihrer wah­ ren oder vermeintlichen eigenen Interessenlage her. Es könnte dann durchaus sein, daß sich ein solches »allge­ meines«, in Wahrheit von wenigen für alle geschaffenes Geschichtsbild bei genauerem Hinsehen als etwas heraus­ stellt, das von einer der unseren genau entgegengesetzten In­ teressenlage ausgeht. Dann aber wäre das von den Lehrern an die Schüler, von Büchern, Theaterstücken, Kino- und Fernsehfilmen oder von bildenden Künstlern an das Publikum vermittelte Ge­ schichtsbild in Wahrheit für uns, die es sich zu eigen machen sollen, eindeutig uninteressant. Ja, im Burckhardtschen Sin­ ne handelte es sich dann gar nicht mehr um Geschichte, je­ denfalls nicht um unsere. Nehmen wir ein krasses Beispiel und versuchen wir uns einmal vorzustellen, wir seien keine Mitteleuropäer der Ge­ genwart, sondern Afrikaner eines späteren Jahrhunderts, sa­ gen wir: Bürger des westafrikanischen Freistaats Sierra Leone des Jahres 2074, und an den Schulen unseres Landes lehrte man uns oder unsere (schwarzhäutigen) Kinder die Geschich­ te Sierra Leones, wobei die Lage im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts etwa so beschrieben würde: »Es war eine für unser Land überaus glückliche Zeit des wachsenden Wohlstands und des dauerhaften Friedens. Es herrschten Gesetz und Ordnung, Gottesfurcht und Sittsam­ keit. Die Wirtschaft blühte wie nie zuvor. Anbau und Aus­ fuhr von Kakao, Elfenbein, Erdnüssen und Ingwer nahmen gewaltig zu. Der Palmkern-Export erreichte eine Rekordhö­ he. Man entdeckte Diamanten- und Chromerz-Vorkommen, und deren intensive Ausbeutung brachte so viel Reichtum ins Land, daß auch einfache Beamte, Geistliche, Techniker und Unteroffiziere ein sehr gutes Auskommen hatten. Sie konn­ ten sich komfortable Wohnungen, Hausangestellte, beste ärztliche Versorgung und gute Schulen für ihre Kinder leisten.

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Man trieb viel Sport, vor allem Tennis, Golf, Cricket und Polo. In Clubs und Privathjiusern pflegte man Geselligkeit und suchte Zerstreuung bei Musik, Tanz, Kartenspiel und Laientheateraufführungen. Dabei hielt man, auch bei größter Hitze, stets auf korrekte Kleidung: Die Herren trugen abends Smoking, Frack oder Ausgehuniform; die Damen zeigten sich in langen, hinten über den Boden schleppenden, in der Taille enggeschnürten Kleidern aus Seide oder Samt, ge­ schmückt mit vielen Spitzen, Rüschen und Bändern. Und man gedachte, sobald das Beisammensein dem Ende zuging und der letzte Walzer verklungen war, stets mit dem stehend gesungenen Lied »Gott schütze unsere Königin!« der fernen Herrscherin, unserer seit 1837 regierenden Landesmutter Victoria, einer Enkelin Georgs III. aus dem Hause Hanno­ ver, die bis zu ihrem tief betrauerten Tode im Jahre 1901 un­ ser von allen hochverehrtes Staatsoberhaupt war. Der Köni­ gin zur Seite stand der stille und bescheidene, um die Londo­ ner Weltausstellung von 1851 hochverdiente Prinzgemahl Al­ bert aus dem Hause Sachsen-Coburg und Gotha, geboren 1819, gestorben 1861. In dieser glänzenden, nach der Königin »viktorianisch« ge­ nannten Epoche kostete in unserer Hauptstadt Freetown das Pfund Tee nur fünfeinhalb Pence, ein Pfund Orangenmarme­ lade vier Pence, die Flasche Gin zwei Schillinge, ein Stück gute Toilet|eseife dreieinhalb Pence, eine seidene SmokingSchleife einen Schilling und sechs Pence, das Abonnement einer (mit mindestens vierzehn Tagen Verspätung eintreffen­ den) Londoner Tageszeitung, gleich ob konservativer oder gemäßigt liberaler Richtung, monatlich zwei Schillinge. Obwohl niemand körperliche oder schmutzige Arbeit tat, nahmen alle, arm oder reich, täglich mindestens ein Brause­ oder Wannenbad. Man war hygienisch, aber auch fromm. Der Sonntag war dem Kirchgang, der Andacht, ernster Lektüre und der klassischen Musik gewidmet. Wohltätigkeit, Sitte und Anstand, zumindest deren äußerer Anschein, waren un­

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erläßliche Voraussetzungen für einen gesellschaftlichen Er­ folg. Daneben legte man großen Wert auf standesgemäßes Auftreten und auf Bequemlichkeit. Man genoß alle Vorzüge der hochentwickelten Zivilisation und fortgeschrittenen Technik, hatte ausgeprägte Ehr- und Gerechtigkeitsbegriffe und erfreute sich höchsten Ansehens bei allen Nachbarn . . .« Ein solcher Geschichtsunterricht müßte den Bewohnern von Sierra Leone des Jahres 2074 geradezu absurd erscheinen. Denn im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts, von dem die Rede war, lebten von den - damals noch nicht gezählten, nur grob geschätzten - rund zwei Millionen Einwohnern dieses westafrikanischen Landes allerhöchstens 0,02 Prozent etwa so, wie beschrieben. Dagegen kannten 99,98 Prozent der Landeskinder weder Hygiene noch andere Vorzüge der Zivilisation, sie spielten niemals Tennis oder gar Polo, waren an Tee, Orangenmarme­ lade und Smoking-Schleifen kaum interessiert und konnten, obwohl auch ihnen die körperliche Schwerarbeit in glühender Hitze verhaßt war, sich dieser leider nicht entziehen. Und selbst ein kostenloser Bezug der Londoner Times oder des Daily Telegraph hätte ihnen wenig genutzt; sie waren näm­ lich fast ausnahmslos Analphabeten, zudem der englischen Sprache gar nicht oder nur sehr beschränkt mächtig. Die Masse der Bevölkerung von Sierra Leone lebte damals in unbeschreiblicher Armut, litt unter Hunger und Seuchen, hatte eine durchschnittliche Lebenserwartung von weniger als 27 Jahren, wurde entsetzlich ausgebeutet und war nahezu rechtlos. Die kargen Mahlzeiten nahmen selbst die Häuptlin­ ge nicht im Frack oder in Ausgehuniform ein, und auch deren Frauen trugen keine seidenen Schleppkleider mit enggeschnürten Taillen, sondern höchstens ein paar Lumpen. Die gerechte Ordnung, die damals in Sierra Leone herrsch­ te, bestand im Wesentlichen darin, daß in sehr regelmäßigen Abständen ein weißer Kolonialoffizier mit sechs Haussa-Soldaten in den Dörfern erschien und im Schutz der Schnellfeu­ 18

ergeschütze eines am nahen Flußufer vor Anker liegenden Kanonenboots die enorm hpch festgesetzten Steuern ein­ trieb. Säumigen Zahlern ließ der weiße Herr eine Hand oder einen Fuß abschlagen. Ihm unfähig dünkenden Häuptlingen drohte Absetzung und Verschickung in ein Bergwerk, wo sie als Kettensträflinge Zwangsarbeit zu verrichten hatten. Auf­ sässige wurden öffentlich ausgepeitscht, Aufrührer niederge­ schossen oder am nächsten Baum aufgeknüpft. Eine ärztliche Versorgung der eingeborenen Bevölkerung gab es so gut wie gar nicht; weniger als 0,1 Prozent der schwarzen Kinder er­ hielten etwas Elementarunterricht, vornehmlich aus der Bibel und dem Gesangbuch - kurz, die gesamte Schilderung der Zustände in. Sierra Leone gegen Ende des vorigen Jahrhun­ derts, die hier als Beispiel für einen möglichen Geschichts­ buch-Text des Jahres 2074 gegeben wurde, ist zwar insofern historisch richtig, als es tatsächlich damals unter den etwa zwei Millionen Landesbewohnern ein paar Leute gegeben hat, die so, wie beschrieben, gelebt haben. Aber die Darstel­ lung bezog sich eben nur auf diese knapp vierhundert Weißen und ihre speziellen Interessen. Dergleichen im Jahre 2074 al­ len Bürgern des dann seit mehr als einem Jahrhundert vom Joch des Kolonialismus befreiten Landes Sierra Leone als de­ ren geschichtliche Vergangenheit aufzutischen, wäre wahr­ lich unsinnig und eine dreiste Zumutung. Natürlich^ müßte auch eine die tatsächliche Interessenlage der eingeborenen Bevölkerung von Sierra Leone gewissen­ haft wahrende Geschichtsschreibung beinahe alle zuvor aus der Kolonialherren-Perspektive geschilderten Umstände und Verhältnisse berücksichtigen. Die winzige weiße Minderheit übte ja in jener Zeit die alleinige Macht im Lande aus und dik­ tierte den Ablauf der Geschichte. Und man kann deshalb das Vorhandensein der weißen Herren nicht mit Schweigen über­ gehen. Nur müßte man dann die Tatsachen auch für die Masse der Bevölkerung von Sierra Leone wirklich interessant, das heißt: 19

ihren Interessen entsprechend — und nicht völlig widerspre­ chend - berichten, etwa so: »Die seit etwa 1830 von der Küste her immer weiter ins Land eingedrungenen europäischen Kolonialherren nahmen uns nach und nach alles: Feldfrüchte und Vieh, Kokosnüsse und Elfenbein, Land und Bodenschätze, aber auch unsere Kultur und unsere Freiheit. Durch List und Gewalt, vor al­ lem durch ihre den unseren weit überlegenen Waffen, zwan­ gen sie uns, für sie zu schuften, während sie selbst keinerlei körperliche Arbeit taten, diese vielmehr verachteten und sich statt dessen bei Sport, Musik und Kartenspiel vergnügten. Sie taten sich viel zugute auf das, was sie ihre Gesittung und ihre Moral, ihre Ehre, ihre Fairneß und ihre christliche Fröm­ migkeit nannten. Doch in Wirklichkeit waren sie die brutal­ sten, skrupellosesten Ausbeuter und die habgierigsten Ha­ lunken, die man sich denken kann. Es wäre falsch, wollte man behaupten, daß sie uns wie Tie­ re behandelt hätten. Denn ihre Hunde und Pferde fütterten sie reichlich und pflegten sie gut, ja, oft sogar liebevoll. Uns dagegen ließen sie mitleidlos hungern, auf Plantagen, beim Eisenbahnbau und in Bergwerken zu Tode schuften und elend verrecken. Sie kannten auch mit Frauen und Kindern, Alten und Kranken keinerlei Erbarmen . . .«

Soweit das - vielleicht doch nicht gar so absurde - willkürlich gewählte Beispiel aus Sierra Leone. Läßt es sich auf die deut­ sche Geschichte und deren bei uns übliche Darstellung ganz oder teilweise übertragen? Man ist zunächst geneigt, eine solche Frage mit Entrüstung zu verneinen. Schließlich ist es ja mehr als anderthalb Jahrtau­ sende her, daß es in Deutschland fremde Kolonialherren ge­ geben hat. Und diese, die Römer, brachten uns, wie wir in der Schule gelernt haben, ihre hohe Kultur und Zivilisation, ihr Recht und das damit abgesicherte System einer glänzend funktionierenden Gesellschaft. Deren Hauptmerkmal war al20

lerdings die Ausbeutung von sehr zahlreichen Unfreien, so­ genannten Sklaven, teils durch deren private Eigentümer, teils durch den Staat. Der Sklave war für die Römer ein bloßes Nutztier, eine rechtlose Sache, die sich von anderen Dingen, die man nach Gutdünken verwenden, kaufen, verkaufen, pflegen oder ver­ kommen lassen konnte, nur dadurch ein wenig unterschied, daß diese lebendige, »Sklave« oder »Sklavin« genannte Sache zu sprechen fähig war. Man unterschied deshalb zwischen stummen Werkzeugen wie Hacken oder Sicheln, halbstum­ men wie Ochsen oder Schafen sowie sprechenden Werkzeu­ gen, also Sklaven, die zwar äußerlich Menschen zu sein schie­ nen und deshalb geschoren, gebrandmarkt und mit metalle­ nen Halsbändern, auf denen der Name des Eigentümers stand, versehen werden mußten. Aber juristisch war es ziem­ lich einerlei, ob es sich um eine Schaufel, ein Schaf oder einen Sklaven handelte. Diese Rechtsauffassung der Römer war den Bewohnern Germaniens völlig fremd und zunächst unbegreiflich gewe­ sen, doch die römischen Kolonialherren brachten den Ger­ manen sehr schnell bei, sich mit diesen Notwendigkeiten ab­ zufinden. Und notwendig war die Sklavenhaltung. Ohne Massen von Sklaven wären die gewaltigen zivilisatorischen Leistungen des von Rom aus regierten Weltreichs überhaupt nicht möglich gewesen. Anderseits war es, wie wir gelernt ha­ ben, eine wichtige und gute Sache, daß uns die Römer ihre Gesittung beibrachten, dazu ihre Gesetze und deren - im Grunde noch heute gültigen - Eigentumsbegriffe sowie ihr solides, ja geradezu bewunderungswürdiges Verwaltungs­ und Wirtschaftssystem. Und so muß wohl auch die für das Ganze unentbehrliche Sklavenhaltung der Antike eine durch­ aus zu rechtfertigende, gute und nützliche Sache gewesen sein - natürlich weniger vom Standpunkt der Sklaven aus ge­ sehen, als vielmehr von dem der Sklavenhalter und ihres Staates.

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Was aber geht uns der Sklavenstandpunkt an? Selbst wenn wir heute die Dinge etwas anders beurteilen als die Menschen damals, so ist nicht zu übersehen, daß die Skla­ ven im antiken Rom keine hochkultivierten und -zivilisierten Damen und Herren waren. Es handelte sich wohl zunächst um eingefangene und gezähmte Halbwilde, ferner um Men­ schen aus den untersten Volksschichten, einstige Kleinbau­ ern, Handwerker und Tagelöhner, denen die Schulden über den Kopf gewachsen waren, so daß man sie ihren Gläubigern zum Eigentum gab, damit diese sich einigermaßen schadlos halten konnten. Oder es waren Kinder von Sklaven, die na­ türlich dann dem Eigentümer ihrer Mutter gehörten. Im Laufe der Zeit vermehrte sich das Heer der Sklaven ge­ waltig, weniger durch Geburtenüberschüsse, denn die waren unter den gegebenen Verhältnissen nur schwer zu erzielen, als vielmehr durch immer neue, von den römischen Legionen unterworfene Völkerschaften, die, wenn sie allzu energischen Widerstand geleistet hatten, zu Sklaven erklärt und von den Behörden an den Meistbietenden verkauft wurden. So bekam man zu den »niederen« Sklaven auch solche von hoher Kultur und Bildung. Bald wurden nahezu alle mit etwas Mühe ver­ bundenen Tätigkeiten von Sklaven verrichtet: Sie bestellten nicht nur die Äcker, Weinberge und Gärten, weideten das Vieh, förderten das Erz, brachen die Steine, fällten das Holz, bauten die Städte, Tempel, Straßen und Wasserleitungen, trugen die Lasten und ruderten die Boote; sie waren auch die Schreiber und Rechnungsführer, die Architekten, Ärzte, Bildhauer und Schauspieler, ja die Erzieher der Kinder ihrer Eigentümer und die Manager der Unternehmen, die ihre sich ganz dem Luxus und Lebensgenuß hingebenden Herren so reich und mächtig machten. Spätestens an diesem Punkt unserer Überlegungen müssen uns nun allerdings doch Zweifel befallen, ob uns der Sklaven­ standpunkt tatsächlich nichts angeht; ob das Geschichtsbild, das uns vermittelt worden ist, und die Darstellungsweise, de22

ren wir uns gerade bedient haben, auch wirklich,die für uns richtigen sind. / Im antiken Rom sollen rund anderthalb Millionen Men­ schen gelebt haben, davon mindestens neunhunderttausend als Sklaven. Auch von den übrigen sechshunderttausend wa­ ren viele nur Freigelassene, einfache Tagelöhner, kleine Handwerker oder Hausierer sowie in nicht geringer Zahl Fremde ohne Bürgerrecht. Dagegen gab es nur einige Dut­ zend Familien, die man als Sklavenhalter großen Stils be­ zeichnen konnte. Dieses Mißverhältnis war in den römischen Provinzen noch ausgeprägter, und deshalb ist die Wahr­ scheinlichkeit, daß unsere eigenen Vorfahren keine »spre­ chenden Werkzeuge« ausgebeutet, sondern selbst metallene Sklavenhalsbänder getragen haben, ungleich größer als die, daß sie zu den zufriedenen Nutznießern des Systems zählten. Es könnte also durchaus sein, daß wir uns versehentlich, richtiger wohl: weil es uns nicht anders beigebracht worden ist, ein Geschichtsbild zu eigen gemacht haben, das auf der einstigen Interessenlage einer winzigen Minderheit von rück­ sichtslosen Ausbeutern beruht, mit denen uns zu identifizie­ ren wir keinerlei Anlaß haben. Das wäre dann tatsächlich so, als wenn die Afrikaner in Sierra Leone oder anderswo noch in tausend Jahren die »Segnungen« ihrer brutalen Unterjochung und Ausplünderung durch die weißen Kolonialherren als be­ glückende ^Begegnung mit der abendländischen Zivilisation preisen würden ...! Nein, unternehmen wir lieber einen neuen, besser angeleg­ ten Versuch, der Frage auf den Grund zu gehen, ob sich für die irritierenden Lehren, die wir aus dem im fernen Sierra Leone angesiedelten Beispiel ziehen konnten, Möglichkeiten der Anwendung auf unsere deutsche Geschichte und ihre üb­ liche, schon traditionelle Darstellung finden lassen. Begeben wir uns dazu in eine uns ziemlich gut bekannte, weil noch nicht weit zurückliegende Epoche, in einen besonders reiz­ vollen Abschnitt der neueren deutschen Geschichte, nämlich

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ins Rokoko, das man uns in aller Regel etwa so darzustellen pflegt: »Welch eine heitere, leichtlebige und kunstsinnige Zeit! In ganz Deutschland wie auch im übrigen Europa nahm man sich den unerhört verfeinerten Lebensstil zum Vorbild, der am französischen Hof damals üblich war. So präsentierte sich nun alle Welt mit wohlfrisierten, weißgepuderten Perücken, die bei den Damen zudem hochgetürmt und mit eingeflochte­ nen Bändern, Blüten und Juwelen reich geschmückt waren. Während die Herren goldbestickte, mit kostbaren Spitzen verzierte Samtröcke, Seidenbrokat-Westen, Kniehosen, weißseidene Strümpfe und Schnallenschuhe, dazu Zierdegen und mit Federbüschen geschmückte Dreispitze bevorzugten, zeigte sich das zarte Geschlecht gern tief dekolletiert, liebte enggeschnürte Taillen und riesige Reifröcke, dazu kostbare Fächer und Schönheitspflästerchen. Man suchte den raffinierten Genuß, trieb ungehemmte Verschwendung, förderte dabei die Künste und Kunsthand­ werke, die zu hoher Blüte kamen und neue, sehr verspielt wirkende Ausdrucksformen fanden. Die französische Sprache und die feinen Sitten des Hofes von Versailles eroberten sich ganz Deutschland. Alle waren bemüht, ebenso graziös, geistreich und galant, dazu ein we­ nig frivol, aber auch so aufgeklärt und tolerant zu sein wie die Höflinge Ludwigs XV. In den rund sechs Jahrzehnten des Rokoko - etwa von 1733 bis 1793 - ging es in Deutschland verhältnismäßig friedlich zu. Mitunter gab es einen Krieg, meist von Preußen ausge­ hend, das in dieser Epoche zum beherrschenden Faktor in Deutschland und zu einer Großmacht des europäischen Kon­ tinents aufstieg. Preußens König während der ganzen Rokoko-Zeit war Friedrich II., genannt der Große. Dieser Hohenzoller war nicht nur die dominierende Gestalt seiner Epoche, sondern wurde darüber hinaus zur Symbol- und Idealfigur der ganzen 24

neueren deutschen Geschichte bis hin zur nationalen Eini­ gung, der Reichsgründung/von 1871, als sich Kaiser Wil­ helm I. und Bismarck auf ihn beriefen, ja bis zum »Tag von Potsdam< im Jahre 1933, als Hindenburg und Hitler sich am Grabe Friedrichs des Großen feierlich die Hand zum Bündnis reichten. Der große Friedrich war ein glänzender Feldherr, der seine Soldaten zu begeistern und zu den größten Heldentaten an­ zuspornen verstand. Seine preußischen Grenadiere, die mit bewunderungswürdiger Disziplin, begleitet von mitreißen­ der Marschmusik, in die Schlacht zogen, todesmutig kämpf­ ten und nach gewonnener Schlacht fromm niederknieten und mit Inbrunst >Nun danket alle Gott!< sangen, hoben das An­ sehen Preußens - und damit ganz Deutschlands - ins Uner­ meßliche. Andere preußische Tugenden, die unter dem >Alten Fritz» Mbrn-^fü^rUfnuiyjiit- ÄJlrn T'it 0-cHmf.rn * ^ar qui/bic har« Öf-P'cc 3'tacb X'uf»ur(t) errrf m.u»>< %ut, « */ -lunt-t r ft.n 4.1 mm-., %1i» ebut »«. ►. per qurali rrnct »Ar qcFj.hu tlmrr fcn.fr fj-Jrk rftf M|(if ^.,t.inhSchuldig!< spricht, / dann stehn wir wieder zusammen!« sowie einen Aufruf an die Arbeiter Kölns, sich nicht zu erheben: »Wir warnen Euch ... Nach der militäri­ schen Lage Kölns wäret Ihr rettungslos verloren. Ihr habt in Elberfeld gesehen, wie die Bourgeoisie die Arbeiter ins Feuer schickt und sie hinterher aufs Niederträchtigste verrät ...« Marx ging von Köln nach Paris, um dort Hilfe für die noch im vollen Aufstand befindliche Pfalz zu organisieren, wäh­ rend Friedrich Engels, der sich zuvor schon an den Barrika­ denkämpfen in Elberfeld beteiligt hatte, ein Kommando in der pfälzischen Revolutionsarmee übernahm. In der Pfalz und auch in Baden war unterdessen eine neue, für die Fürsten sehr gefährliche und für die Revolution hoff­ nungsvolle Lage entstanden: Die badischen und pfälzischen Truppen hatten ihren Offizieren den Gehorsam verweigert und waren großenteils zu den Aufständischen übergegangen! Das war bis dahin ohne Beispiel in der deutschen Geschich­ te, denn mit unmenschlichem Drill, barbarischen Strafen so­ wie mit geschickter Auswahl von Knechtsnaturen für die Un­ terführerstellen war es den adligen Offizieren bislang noch immer gelungen, mit den aus dem Volk stammenden Soldaten gegen deren rebellierende Brüder erfolgreich zu kämpfen. Jetzt aber gab es für die Reaktion, zumindest in Baden und in der Rheinpfalz, kein eigenes Machtinstrument mehr.

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Noch wenige Wochen zuvor hatte der Großherzog von Mecklenburg dem Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV. ein vom Hofdichter Merkel verfaßtes »Werk« übersandt und dazu bemerkt, daß nach seiner Ansicht »Goethe nie Besseres« gelungen sei: »Also heulen durch das Land / die unsaubern Geister, / bis das Kreuz mit fester Hand / drüber schlägt der Meister. / Bei dem ersten Trommelklang / fahren sie davon mit Stank! / Gegen Demokraten / helfen nur Soldaten!« Aber nun stand die Pfalz in Aufruhr, war der Großherzog von Baden mit seinem Hof ins Elsaß geflüchtet, und es gab keine pfälzischen oder badischen Soldaten mehr, die gegen Demokraten mit Kartätschen hätten helfen können. Im Ge­ genteil, der Großteil der Truppen war bereit, für die Revolu­ tion zu kämpfen und bot sich der Nationalversammlung in Frankfurt als deren bewaffnete Streitmacht an. Aber die Ab­ geordneten, auch viele der Linken, lehnten diese letzte Chan­ ce, die beschlossene Verfassung durchzusetzen, entrüstet ab. Sie wollten keine »Meuterer«, nicht einmal zum eigenen Schutz, obwohl ein preußisches Heer unter dem Kommando des »Kartätschenprinzen« Wilhelm bereits auf dem Marsch nach Frankfurt war. Die Anzahl der Abgeordneten in der Paulskirche war mächtig zusammengeschrumpft; die meisten der Rechten wa­ ren abgereist, so daß die Linke nun sogar die Mehrheit hatte. Als aber am 7. Mai einige entschiedene Republikaner den An­ trag stellten, die Volkserhebungen für die Reichsverfassung zu unterstützen, »sämtliche deutsche Truppen unter den Be­ fehl eines von der Zentralgewalt« sprich: Nationalversamm­ lung »zu ernennenden Feldherrn zu stellen und sie auf die Verfassung zu vereidigen«, da zuckten die bürgerlichen Ab­ geordneten vor »soviel Tollheit«, wie sie es nannten, er­ schrocken zurück; einige legten ihr Mandat nieder. Und als am 10. Mai endlich mit 188 gegen 147 Stimmen beschlossen wurde, daß »dem schweren Bruche des Reichsfriedens, wel­ chen die preußische Regierung durch unbefugtes Einschrei­ 323

ten im Königreiche Sachsen sich hat zuschulden kommen las­ sen, durch alle zu Gebote, stehenden Mittel entgegenzutre­ ten« sei, schieden weitere liberale Abgeordnete aus dem Par­ lament aus. Am Ende blieb nur noch die entschieden demo­ kratische Linke übrig, und diese hätte immer noch etwas be­ wirken und die Aufständischen führen können, wenn sie Wil­ helm Wolff gefolgt wäre, der vor der Versammlung erklärte: »Wenn Sie irgend und überhaupt noch einen Einfluß auf das Volk haben wollen, müssen Sie nicht zum Volk in der Weise, wie es ... geschieht, sprechen. Sie dürfen da nicht von Ge­ setzlichkeit, von gesetzlichem Boden und dergleichen spre­ chen, sondern von Ungesetzlichkeiten, in derselben Weise wie die Regierungen ...« Aber diese Sprache mochten die Herren Abgeordneten nicht hören; der Präsident entzog Wolff das Wort, und dann fuhren wieder ein paar gemäßigt linke Abgeordnete nach Hause. Am 30. Mai 1849 zählte die Nationalversammlung nur noch 130 Mitglieder, und diese beschlossen, ihre Tagungen von Frankfurt nach Stuttgart zu verlegen, denn die Mainme­ tropole war von rund sechzigtausend Mann preußischen Truppen umzingelt, die jeden Augenblick einmarschieren konnten, während in der württembergischen Hauptstadt noch eine gemäßigt liberale Regierung amtierte, die dem »Rumpfparlament« Schutz vor den Preußen, aber auch vor dem empörten Volk gewähren konnte. In Stuttgart wurden dann noch viele schöne und lange Reden gehalten, am Ende auch der »Reichsverweser«, Erzherzog Johann von Öster­ reich, für abgesetzt erklärt, woraufhin dieser, gemeinsam mit dem preußischen Bevollmächtigten, bei der württembergi­ schen Regierung vorstellig wurde, sie möge »dem demokrati­ schen Possenspiel ein Ende« machen. Und so geschah es: Am 18. Juni wurde das »Rumpfparlament« von württembergi­ schen Soldaten auseinandergejagt, das Mobiliar des Sitzungs­ saals befehlsgemäß in Trümmer geschlagen, die Abgeordne­ ten samt den Zuhörern mit Lanzen und Säbeln ange324

griffen und durch die Straßen gehetzt. Der erste Versuch, in Deutschland parlamentarische Demokratie zu üben, wurde von einer bürgerlich-liberalek Regierung auf Betreiben preu­ ßischer Junker und österreichischer Aristokraten auf eine ge­ radezu jämmerliche Weise beendet. Währenddessen entschied sich das Schicksal der Revolu­ tion in der Pfalz und in Baden. Die Bürgerlichen, die — in Ba­ den mit einer provisorischen Regierung unter Führung des Rechtsanwalts Lorenz Brentano - im Bunde mit der alten Be­ amtenschaft bemüht waren, schnellstens wieder »Ruhe und Ordnung« herzustellen, versuchten der Revolution dadurch Herr zu werden, daß sie den Truppen und Freikorps Sold, Verpflegung, Waffen und Munition verweigerten. Trotz die­ ser schweren Hemmnisse und des Mangels an erfahrener Führung schlugen sich die Streitkräfte der Revolution mit großer Tapferkeit und anfangs auch erfolgreich mit den an Zahl und Bewaffnung weit überlegenen preußischen Truppen im Raum Marfnheim-Heidelberg sowie zwischen Worms und Kaiserslautern. Am 13. Juni 1849 konnte das pfälzische Frei­ korps Willich, in dem Friedrich Engels als Adjutant mit­ kämpfte, gegen beinahe zehnfache Übermacht einen Sieg er­ ringen und ein preußisches Regiment in die Flucht schlagen. In dem kriegserfahrenen polnischen General Mieroslawski, der in Baden Mitte Juni den Oberbefehl übernahm, und in Johann Philipp Becker, den Engels »den einzigen deut­ schen Revcftutionsgeneral« nannte, weil er es verstanden hat­ te, aus Arbeitern und Handwerksgesellen diszipliniert kämp­ fende »Volkswehren« zu bilden, fand die Revolutionsarmee, wenn auch entschieden zu spät, tüchtige Führer. Sie brachten den preußischen Vormarsch Mitte Juni zum Stehen, obwohl der Feind in erdrückender Überzahl war. Vom 20. bis 22. Juni tobte die Schlacht bei Waghäusel, in der Prinz Wil­ helm von Preußen vergeblich versuchte, die badisch-pfälzi­ sche Volksarmee einzukreisen. Die Revolutionäre zogen sich geordnet auf die Murglinie zurück, von Volks wehr-Abtei325

lungen so geschickt und erfolgreich gedeckt, daß selbst die hochmütigen preußischen Kommandanten dieser militäri­ schen Leistung Respekt zollen mußten. Die Murglinie mit der starken Festung Rastatt im Mittel­ punkt bildete Ende Juni 1849 das letzte Bollwerk der deut­ schen Revolution; nirgendwo sonst wurde noch gekämpft, und auch in Ungarn, auf das die pfälzisch-badischen Aufstän­ dischen große Hoffnungen gesetzt hatten, war Kirchhofsru­ he eingekehrt, nachdem den dort gegen die Heere des Fürsten Windischgrätz erfolgreich kämpfenden Revolutionären ein starkes russisches Hilfskorps in den Rücken gefallen war. »Alle Nachrichten stimmen darin überein«, schrieb die Neue Deutsche Zeitung vom 1. Juli 1849, daß das Volksheer und namentlich die badischen Soldaten desselben bis zum letzten Atemzug kämpfen würden. Die Artillerie ist vortreff­ lich und besonders entschlossen. Der Prinz von Preußen schätzt die Widerstandsfähigkeit und Widerstandslust augen­ scheinlich sehr hoch und bleibt deshalb ruhig in Karlsruhe, bis das bereits abgegangene Belagerungsgeschütz von Ko­ blenz und Verstärkung von Truppen aus Sachsen eingetroffen ist.« An der Murglinie standen etwa 14000 Verteidiger. Sie schlugen zwei preußische Armeekorps in einer Gesamtstärke von mehr als 40000 Mann zurück und wären sicher nun zum erfolgreichen Gegenangriff übergegangen, hätte die liberale württembergische Regierung nicht die von ihr erklärte Neu­ tralität gebrochen und mit einem Heer von 20 000 Mann einen Überraschungsangriff in die Flanke der Volksarmee führen lassen. Das Revolutionsheer brach auseinander. Etwa 8000 Mann konnten, gedeckt von Freikorps und Volkswehren, über den südlichen Schwarzwald entweichen und in der Schweiz Rettung finden; etwa 5600 Revolutionäre wurden in der Festung Rastatt eingeschlossen, ohne Aussicht, gegen die mehr als zehnfache Übermacht der Belagerer noch etwas aus­ richten zu können. Dennoch lehnten sie alle Aufforderungen

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des »Kartätschenprinzen«, sich zu ergeben, mit Entschieden­ heit ab. Doch nach dreiwöchiger Belagerung mit schwerem Geschütz, dazu ständig Bedrängt von der verängstigten Rastatter Bürgerschaft, mußten die Verteidiger am 23. Juli 1849 aufgeben und bedingungslos kapitulieren.

Ausmarsch der Hanauer Turner zum Badisihen Aufstand (1849).

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Die preußischen Sieger kannten keine Großmut; ihre Ra­ che war fürchterlich. In der eroberten Festung, wie schon zu­ vor in der Pfalz und in Nordbaden, wüteten die Standgerich­ te. Viele hundert Revolutionäre starben unter den Salven der Erschießungskommandos oder in den feuchten Kasematten, wo man sie an Hunger und Typhus zugrunde gehen ließ. Von den Überlebenden wurden die meisten zu langen Zuchthaus­ strafen verurteilt oder preußischen Strafkompanien zugeteilt. Friedrich Engels, der mit seinem Bataillon in die Schweiz hatte entkommen können, schrieb: »Das deutsche Volk ... wird die großen Herren nicht vergessen, die diese Infamien befohlen haben, aber auch nicht die Verräter, die sie durch ihre Feigheit verschuldeten: die Brentanos von Karlsruhe und Frankfurt...« Doch er irrte sich: Das offizielle Deutschland, vom Bismarck-Reich bis zur heutigen Bundesrepublik, be­ wahrte den Männern der Paulskirche in Reden und Schul­ buchtexten ein ehrenvolles Andenken; die Helden des pfäl­ zisch-badischen Volkskampfes aber sind nahezu vergessen. Und der infamste und brutalste der großen Herren, der »Kartätschen-Prinz« Wilhelm von Preußen, der zudem ein unge­ bildeter und engstirniger Gamaschenknopf war, wurde nicht nur Deutschlands erstes Staatsoberhaupt und vielbejubelter »Heldenkaiser«; er reitet noch heute, in Bronze gegossen, auf vielen hundert Denkmälern, die seine Untertanen ihm errich­ tet haben, und es gibt kaum eine westdeutsche Stadt, in der nicht ein Straßenname an ihn, den »Kartätschenprinzen« Wilhelm, erinnert.

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11. Mit Eisen, Blut und Schwindel zum Zweiten Deutschen Reich

Das Scheitern der Revolution von 1848/49 hatte in ganz Eu­ ropa, besonders aber in Preußen und im österreichischen Vielvölkerstaat, ein Wiedererstarken aller reaktionären Kräf­ te zur Folge. Es gelang diesen, wie Marx es formuliert hat, die politische Entwicklung »in eine frühere Zeit zurückzuwerfen - nicht hinter 1848, nicht hinter 1815, sondern sogar hinter 1807 zurück«, das heißt in die Zeit des absolutistischen Kö­ nigtums und der feudalistischen Adelsherrschaft vor den Stein-Hardenbergschen Reformversuchen. Im Königreich Preußen gab es zwar die von Friedrich WilhelmlV. »gewährte« Verfassung, die einen aus zwei Kam­ mern bestdhenden, gewählten Landtag vorsah. Aber - wie es der führende preußische, stockkonservative Verfassungs­ rechtler Julius Stahl offen aussprach - man konnte sagen, die preußische Verfassung »ist in vieler Hinsicht nur dadurch eine Möglichkeit, daß sie keine Wirklichkeit ist«. Was die preußische Verfassung so unwirklich machte, war vor allem das Wahlrecht, das eine Einteilung der Urwähler das waren alle unbescholtenen, fest ansässigen männlichen Steuerzahler über 24 Jahre - in Steuerklassen vorsah. Diejeni­ gen, die in einem Bezirk die meisten Steuern zahlten- und das 329

war oft nur ein einzelner Gutsbesitzer, Fabrikant oder Ban­ kier-, bildeten die ersten Klasse; die übrigen Wohlhabenden, meist auch nur ganz wenige Personen, wählten als zweite Klasse, und der große Rest, die Masse der Kleinbauern, Lohnempfänger und die untersten Schichten des Mittel­ stands, stellte die dritte Klasse. Jede dieser drei Klassen wähl­ te in nicht geheimer, öffentlicher Wahl ein Drittel der Wahl­ männer eines Bezirks, und diese bestimmten dann den Abge­ ordneten. Dazu kam eine die Städte stark benachteiligende Einteilung der Wahlkreise, die dort, wo man Opposition vermutete, ge­ radezu groteske Formen annahm. So mußten etwa die Bürger von Trier ihre Stimme in einem vier Wegstunden entfernten Dorf abgeben, was zur Folge hatte, daß die Wahlbeteiligung in der dritten Klasse auf 12,5 Prozent sank und die Wahlstim­ men der städtischen Unterschicht das Ergebnis kaum noch beeinflussen konnten. Außerdem wurde überall, auf dem Lande wie in den Städten, Druck auf die Wähler ausgeübt: Freiheitlich gesinnten kleinen Ladenbesitzern und anderen Gewerbetreibenden drohte der Landrat offen mit Konzes­ sionsentzug für den Fall einer nicht regierungstreuen Stimm­ abgabe; Staatsbedienstete mußten - die Wahl war ja öffent­ lich! - mit Schikanen und sogar mit Entlassung rechnen, falls sie oppositionell wählten, und auf den Gütern ließ der In­ spektor die Wahlberechtigten in Reih’ und Glied antreten und geschlossen für den Gutsherrn als ihren Wahlmann stim­ men. In den so gewählten Landtagen, in denen die preußische Regierung nur noch einen »Mechanismus zum Geldma­ chen«, das heißt: zur Steuerbewilligung, sah, war die Oppo­ sition natürlich stets in der Minderheit. Zudem hatte das Par­ lament ja ohnehin nur wenige Rechte gegenüber Regierung und König; es konnte kein Gesetz beschließen, das dem Kö­ nig mißfiel, erst recht keinen Minister stürzen. Und schließ­ lich waren Beschlüsse der von allen drei Steuerklassen ge-

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wählten Zweiten Kammer nur gültig, wenn sie die Zustim­ mung der Ersten Kammer fanden, die allein von d'en Höchst­ besteuerten gewählt wurde? (Von 1854 an wurde die Erste Kammer gar nicht mehr gewählt, sondern als sogenanntes »Herrenhaus« von Vertretern des Hochadels gebildet, deren Sitze in den jeweiligen Familien vererbt wurden; hinzu ka­ men noch etliche vom König ernannte Mitglieder des Herren­ hauses, einige Oberbürgermeister und Universitätsrektoren sowie alle männlichen Erwachsenen der in Preußen regieren­ den Familie Hohenzollern. Bei diesem »parlamentarischen« System - dem vom König beherrschten Herrenhaus als Erster Kammer und dem nach völlig undemokratischen Grundsät­ zen und dem Drei-Klassen-Wahlrecht zusammengestellten übrigen Landtag - blieb es im Königreich Preußen bis 1918!) Beherrscht wurde das preußische Parlament von Junkern und hohen Beamten, vom Landrat aufwärts, und nur deshalb schaffte man die Verfassung nicht gänzlich ab. Die im Land­ tag geduldeteOpposition bestand aus einigen meist großbür­ gerlichen Liberalen sowie den Vertretern der katholischen Minderheit, Konservativen aus den Polen entrissenen Pro­ vinzen sowie aus dem Rheinland und Westfalen. Daß die Katholiken in Opposition zur preußischen Regie­ rung standen, obwohl sie durchweg antiliberal und erst recht antirevolutionär gesinnt waren, hing nicht zuletzt damit zu­ sammen, daß nach dem Sieg des Rückschritts in Preußen nicht nurkine rücksichtslose Verfolgung aller demokrati­ schen Kräfte einsetzte, sondern auch eine Welle protestanti­ scher Frömmelei. Die lutherische Kirche wurde vom preußischen Junkertum und von der reaktionären Bürokratie zum wichtigsten Seelen­ massage-Werkzeug des Staates gemacht, und dabei wurden natürlich auch die katholischen Interessen in Mitleidenschaft gezogen. Im Staatsdienst forderte man von den Beamten strenge, durch regelmäßige Teilnahme an Gottesdiensten und kirchlichen Veranstaltungen unter Beweis gestellte »Recht-

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gläubigkeit«, was zu viel Heuchelei und Scheinheiligkeit führte. An den preußischen Schulen wurde der evangelische Religionsunterricht zum wichtigsten Fach erklärt; die Be­ handlung der deutschen Klassiker wurde ersetzt durch Aus­ wendiglernen von Bibeltexten, Katechismus und Kirchenlie­ dern, und dies mit dem offen erklärten Ziel, aus »entwurzel­ ten Freigeistern« wieder »der Obrigkeit untertane« Staats­ bürger zu machen. Der konfessionelle Gegensatz, der nun wieder aufbrach, wurde noch verstärkt durch die Konflikte zwischen dem pro­ testantischen Preußen und dem katholischen Vielvölkerstaat der österreichischen Habsburger um die Vorherrschaft in Deutschland, die sich nach dem Sieg der Reaktion in beiden Staaten erheblich verschärften. Preußen wollte die Gelegen­ heit, die ihm das Eingreifen seiner Truppen bei der Nieder­ schlagung des badisch-pfälzischen Aufstands bot, dazu be­ nutzen, seinen Herrschaftsbereich auszudehnen, vor allem wollte es — natürlich auf Kosten der dazwischenliegenden Kleinstaaten-sein eigenes Gebiet zu einem einheitlichen, ab­ gerundeten Ganzen machen. (Bis 1866 bestand das König­ reich Preußen aus einem Ostteil, der von der Mark Branden­ burg, Pommern, West- und Ostpreußen, dem Großherzog­ tum Posen, Schlesien und der Provinz Sachsen gebildet wur­ de und von Memel, Thorn und Ratibor bis tief nach Mittel­ deutschland hineinreichte, und einem Westteil, der sich aus dem Münsterland, dem südlichen Westfalen, der Rheinpro­ vinz und dem Saarland zusammensetzte; zwischen dem Ostund dem Westteil des Königreichs gab es keine gemeinsame Grenze und nur sogenannte »Vertragsstraßen« für Truppen­ verschiebungen quer durch das Königreich Hannover und das Kurfürstentum Hessen.) Das habsburgische Österreich, im Bunde mit dem Zaren von Rußland, dem an einem allzu starken Preußen ebenfalls nicht gelegen war, verstand es geschickt, die Erfüllung der Wünsche Berlins nach Macht- und Gebietserweiterung zu

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verhindern, und es wäre darüber beinahe zum Krieg zwi­ schen den beiden deutschen Großmächten gekommen. Auch der Vertrag von Olfnütz vom Npvember 1850, von den Ultrareaktionären in Preußen mit dem »Kartätschenprin­ zen« Wilhelm an der Spitze als »Schande von Olmütz« be­ zeichnet, weil darin die friedliche Regelung aller Konflikte auf eine für die Berliner Regierung angeblich demütigende Weise geregelt wurde, beendete keineswegs die herrschenden Spannungen zwischen den Reaktionären in Wien und in Preußen. Und der auf Druck Österreichs hin wieder ins Le­ ben gerufene »Deutsche Bund« mit einer ständigen, »Bun­ destag« genannten Botschafterkonferenz in Frankfurt am Main, konnte ebenfalls nur in einem Punkte Eintracht zwi­ schen den Regierungen der großen und kleinen deutschen Staaten erzielen, nämlich wenn es darum ging, zuvor unter revolutionärem Druck »gewährte« Rechte des Volkes wieder abzubauen, Verfassungen aufzuheben, Adelsvorrechte wie­ derherzustellen und dagegen opponierende Demokraten bru­ tal zu verfolgen. Diese Triumphe der Reaktion hatten, neben anderem, zur Folge, daß nicht nur verbannte oder von Verhaftung unmit­ telbar bedrohte Demokraten zu Tausenden aus Deutschland flüchteten, sondern daß auch nicht direkt von polizeilichen Zwangsmaßnahmen Betroffene aus Deutschland auswander­ ten, meist nach Nordamerika. Das volle Ausmaß dieser Massen-Emigrhtion ist statistisch nur sehr unvollkommen erfaßt worden und läßt sich nur ungefähr errechnen anhand der Pas­ sagierlisten der Schiffahrtsgesellschaften und der von den Einwanderungsländern ermittelten Zahlen. Immerhin kann man sagen, daß bis 1871 etwa drei Millionen Deutsche oder rund 7,5 Prozent der Bevölkerung des Jahres 1860 die Wag­ nisse der Gründung einer neuen Existenz in fremdem Land dem Verbleiben in der unter reaktionärem Druck stehenden Heimat vorzogen. Und diese starke Abwanderung fort­ schrittlich und freiheitlich gesinnter, entschlossener und zu 333

Wagnissen bereiter Menschen hat sicherlich in erheblichem Maße dazu beigetragen, daß sich Untertanengeist und Rück­ schrittlichkeit noch mehr ausbreiten und noch fester Fuß fas­ sen konnten. Es lohnt kaum, sich mit den feinen Unterschieden reaktio­ närer Willkür in den einzelnen deutschen Staaten näher zu be­ fassen; allenfalls verdient einiges Erwähnung, was für die weitere geschichtliche Entwicklung von Bedeutung ist: So führte eine Einmischung des »Deutschen Bundes« in die in­ neren Angelegenheiten des Kurfürstentums Hessen und des Königreichs Hannover zur Aufhebung der gemäßigt libera­ len Verfassungen in diesen Ländern. Dies wiederum hatte zur Folge, daß die Regierungen in Hannover und Kassel in noch stärkerem Maße auf militärische Hilfe von Seiten Preußens oder Österreichs angewiesen blieben als andere Ländchen. Ebenfalls von Berlin abhängig waren die mecklenburgischen Großherzogtümer, wo auf Verlangen der Junker und mit preußischer Hilfe die feudalistischen Verhältnisse der Zeit vor 1755 wiederhergestellt worden waren. Denn nur die stän­ dige Drohung eines Einmarsches preußischer Regimenter konnte ein so ultrareaktionäres Regime aufrechterhalten. Mecklenburg blieb bis ins 20. Jahrhundert hinein von Preu­ ßen abhängig und zugleich das rückschrittlichste Land Mittel­ europas. Nur der Kuriosität halber sei angemerkt, daß es dort, zum Beispiel im Schloß zu Schwerin, noch bis 1918 von Menschenkraft betriebene Tretmühlen gab ... Aber auch in allen übrigen deutschen Staaten feierte der Rückschritt wahre Triumphe. Um alles politische Leben aus­ zutilgen, faßte der »Bundestag« 1854 noch einige Beschlüsse, die die polizeilichen Unterdrückungsmaßnahmen in den Ein­ zelstaaten vereinheitlichen und wirksam ergänzen sollten. Als nächstes wurde die Vereinsgesetzgebung verschärft: Da­ nach waren alle politischen Vereine des Bürgertums polizei­ lich zu überwachen; die einzelnen Klubs und Gesellschaften durften untereinander keinerlei Verbindung halten; Jugend334

liehen war die Mitgliedschaft untersagt; jede Versammlung bedurfte polizeilicher Genehmigung und Überwachung, und der anwesende Polizist konnte sie nach eigenem Ermessen je­ derzeit auflösen. Vereinigungen der Arbeiterschaft, soweit sie noch bestanden, wurden samt und sonders verboten, und zwischen den Polizeien der deutschen Länder wurden Schwarze Listen ausgetauscht, die Tausende von Namen aller im Verdacht demokratischer Gesinnung stehenden Personen enthielten. War man sich hinsichtlich der konterrevolutionären Maß­ nahmen auch völlig einig, so konnte diese Harmonie doch nicht darüber hinwegtäuschen, daß gleichzeitig ein Macht­ kampf zwischen dem protestantisch-junkerlichen Preußen und dem katholisch-konservativen Österreich im Gange war. Ein Großteil dieses Machtkampfes spielte sich auf der diplo­ matischen Bühne ab, und zwar in der ständigen Botschafter­ konferenz des »Deutschen Bundes«, dem Frankfurter »Bun­ destag«; daneben benutzten die beiden Mächte einzelne Gruppen im Lager des Gegners als ihre Werkzeuge, so Öster­ reich die katholischen Parteien in Preußen und in anderen deutschen Staaten, Preußen hingegen die gemäßigt liberalen Fraktionen und Zeitungen Süddeutschlands. Botschafter des Königs von Preußen beim Frankfurter »Bundestag« war von 1851 an ein preußischer Junker, der sich schon vor den revolutionären Ereignissen von 1848/49 politisch betätigt und im Landtag als Abgeordneter dem reak­ tionären Flügel angeschlossen hatte. Auch nach den Märzer­ eignissen war dieser Mann, der im Landtag offen erklärt hat­ te: »Ich bin ein Junker und will meinen Vorteil davon ha­ ben!«, entschieden gegen jegliche Zugeständnisse an das Volk und für ein unumschränktes Königtum eingetreten. Für die Frankfurter Nationalversammlung hatte er nur Verachtung übrig gehabt. »Nicht durch Reden und Parlamentsbeschlüs­ se«, so erklärte er später einmal rückblickend, »werden die großen Fragen der Zeit entschieden - das ist der große Fehler

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von 1848 und 1849 gewesen sondern durch Eisen und Blut.« Zwar stimmte er in diesem einen Punkt weitgehend überein mit Männern wie Karl Marx und Friedrich Engels, aber er wollte etwas deren Vorstellungen völlig Entgegenge­ setztes, nämlich die Diktatur, beileibe nicht des Proletariats, sondern seiner Klasse, des preußischen Landadels, mit dem König als Symbolfigur und den Bajonetten gutgedrillter Gar­ deregimenter als einzigem Mittel der Verständigung mit dem Volk, falls dieses mitzureden versuchen sollte. Dabei hatte dieser mütterlicherseits aus dem gebildeten Bürgertum stammende Mann, der seinen Standesgenossen an Intelligenz, Wissen und Witz weit überlegen war, auch für seine eigene Klasse wenig übrig. »Mein Umgang besteht in Hunden, Pferden und Landjunkern«, hatte er 1845 an einen Freund geschrieben, »und bei den letzteren erfreue ich mich einigen Ansehns, weil ich Geschriebenes mit Leichtigkeit le­ sen kann, mich zu jeder Zeit wie ein Mensch kleide, und dabei ein Stück Wild mit der Akkuratesse eines Metzgers zerwirke, ruhig und dreist reite, ganz schwere Zigarren rauche und mei­ ne Gäste mit freundlicher Kaltblütigkeit unter den Tisch trin­ ke ...« Am liebsten hätte er Preußen selbst und allein regiert, und das war ihm dann auch vergönnt- für lange, entscheiden­ de Jahrzehnte. Der Name dieses für die preußische und damit auch für die deutsche Geschichte von 1862 an entscheidend wichtigen, aber auch schon zuvor nicht unwichtigen Mannes ist Otto von Bismarck. Als preußischer Bundestagsgesandter in den Jahren 1851 bis 1859 führte Bismarck in Frankfurt einen zähen Kleinkrieg um die Gleichberechtigung Preußens mit den den Vorsitz führenden Österreichern und gegen jede Bevormundung durch die Herren aus Wien. Zugleich erkannte er die Mög­ lichkeiten eines Bündnisses zwischen Konservativen seines Schlages und den großbürgerlichen Liberalen, denen ja auch an der Aufrechterhaltung von »Ruhe und Ordnung«, vor al­ lem aber an der Sicherung der Besitzverhältnisse lag. Er sah

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auch die wachsende Bedeutung des bürgerlichen Großkapi­ tals und die Fortschritte auf dem Gebiet der Industrie, des Verkehrs und des Handels. Et] bemerkte die Verschärfung des Gegensatzes zwischen dem immer wohlhabenderen Teil des Großbürgertums und den allmählich ins Proletariat absin­ kenden kleinen Handwerkern. Und er zog aus alledem für sich die Lehre: »Wir müssen mit den Realitäten wirtschaften und nicht mit Fiktionen«, wobei er zu den letzteren, den blo­ ßen Wunschbildern, die von vielen Junkern angestrebte Rückkehr zu den gesellschaftlichen Verhältnissen zur Zeit des »Soldatenkönigs« rechnete, als jeder Adlige jeden Bürger nicht nur verachten, sondern auch ungestraft mißhandeln konnte; als es noch so gut wie keine Industrie und nur ganz geringe Kapitalansammlungen in Preußen und den übrigen deutschen Staaten gab; und als die Landwirtschaft der adligen Gutsherren die fast ausschließliche Grundlage des Wirt­ schaftslebens bildete, infolgedessen auch mit allen Mitteln ge­ schützt und gefördert werden mußte. Dies alles hatte sich durch die stürmische Industrialisierung seit etwa 1835 gründlich verändert. Dem Rückschritt der Po­ litik stand ein noch nie erlebter Fortschritt der Technik und der davon profitierenden Industrie gegenüber. Und vor allem konnte man sich bereits - mit dem Beispiel Englands vor Augen - deutlich ausmalen, wohin die Entwicklung bald auch in Deutschland führen würde: Da war zunächst der rasch wachsende Bedarf an Steinkoh­ le, vor allem für die Eisenbahnen, Dampfschiffe und -maschinen, Kokshochöfen und Gasfabriken. 1848 lag die Steinkoh­ lenförderung im Gebiet des von Preußen beherrschten Zoll­ vereins bei rund 4,5 Millionen Tonnen; 1860 waren es bereits über 12 Millionen Tonnen, und bis 1871 sollte die Förderung auf knapp 30 Millionen Tonnen steigen. Ähnlich war es mit der Förderung von Eisenerz, die sich von 0,7 Millionen Ton­ nen im Jahre 1848 auf über 2 Millionen Tonnen im Jahre 1857 erhöhte und bis 1869 auf mehr als 3 Millionen Tonnen an337

stieg. Die Stahlerzeugung machte weit langsamere Fortschrit­ te, aber auch hier wurde Englands Vorsprung, zumindest mengenmäßig, immer geringer. Im Maschinenbau schließlich stieg die Anzahl der Betriebe in Preußen von 188 im Jahre 1849 auf 314 im Jahre 1861. Es waren allerdings noch sehr kleine Betriebe; die durchschnittliche Anzahl der Beschäftig­ ten lag 1849 erst bei 33, 1861 bei 66. Und die Grenzen zwi­ schen Industrie- und Handwerksbetrieben waren fließend: Es gab immer mehr Meister, die acht, zehn und noch mehr Gesellen beschäftigten, während sich die Masse der kleinen Handwerksmeister, zumeist in den Kleinstädten, ohne oder mit einem Gehilfen mühsam durchschlug, daneben noch ein winziges Ladengeschäft sowie etwas Landwirtschaft betrieb. In der Landwirtschaft, wo bis 1871 noch immer knapp zwei Drittel der Gesamtbevölkerung Deutschlands Beschäf­ tigung fanden, vollzog sich der Übergang von der feudalisti­ schen zur kapitalistischen Ausbeutung auf eine für die Men­ schen besonders schmerzhafte Weise. Zwar konnten die Bau­ ern von etwa 1850 fast in allen deutschen Staaten die Hörig­ keit abschütteln und sich von den Frondiensten freikaufen. Doch das bedeutete im Ergebnis nur, daß sie Land verkaufen und sich zugleich hoch verschulden mußten. Sie gerieten da­ bei von einer Abhängigkeit in die andere. Viele mußten zu­ sätzliche Lohnarbeit annehmen - entweder bei den Gutsher­ ren, im Straßen- und Eisenbahnbau oder in nahen Industrie­ betrieben. Sie sanken, auch da, wo sie nicht in die Städte ab­ wanderten, rasch ab in jene Schicht der Besitzlosen, die man als Proletariat zu bezeichnen begann. Die Stellung der zu Agrarkapitalisten gewordenen Junker verstärkte sich dage­ gen noch, je mehr sie neben der im großen Stil betriebenen Landwirtschaft auch noch in die Industrieproduktion einstie­ gen. Das war vor allem in Schlesien, im Rheinland und in Westfalen häufig der Fall, wogegen sich der süddeutsche Landadel mehr und mehr in die Hauptstädte zurückzog und dort von den Erträgen seiner verpachteten Ländereien lebte.

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Überall in Deutschland nahm die Anzahl der sehr reichen Leute sprunghaft zu. In Preußen, beispielsweise, stieg die Anzahl derer, die ein Jahreseinkommen zwischen 20000 und 40000 Talern hatten, von 1852 bis 1867 um weit mehr als das Doppelte an, vor allem in Berlin, Aachen, Köln, Düsseldorf, Breslau und in Oberschlesien. Dennoch waren es im Verhält­ nis zur Gesamtbevölkerung nur sehr wenige, die von dem wachsenden Wohlstand profitierten: Man schätzt, daß bis 1870 in ganz Deutschland weniger als 20000 Personen — bei einer Gesamtbevölkerung von fast 50 Millionen! - ein Jahres­ einkommen von mehr als 3000 Talern hatten. Dem Reichtum des Großbürgertums und der adligen Großgrundbesitzer stand ein Elend der breiten Masse des Volkes gegenüber, das von Jahr zu Jahr zunahm, weil die Preise steil anstiegen, zumal die für Grundnahrungsmittel, wie beispielsweise in Berlin der Preis des Roggenbrots von 1851 bis 1855 um über 60 Prozent. Die Einkommen der Ar­ beiter, von ihjer Kaufkraft her gesehen, nahmen von 1851 an sogar ständig ab, und zu diesem Sinken der Reallöhne trugen auch und gerade die reaktionären Unterdrückungsmaßnah­ men bei. Da den Arbeitern jede gewerkschaftliche Organisa­ tion, jede Lohnabsprache und erst recht jeder Streik bei schwersten Strafen verboten war, konnten sie den kräftigen Konjunkturaufschwung nicht für sich ausnutzen, sondern waren davon sogar aufs schwerste betroffen. Die Masse der Lohnarbeiter lebte am Rand des Existenzminimums, zum Teil sogar darunter. Weniger sanft ausgedrückt: Die Menschen schufteten und mußten trotzdem hungern. Arbeitszeiten bis zu 16 Stunden und eine blühende Wirtschaft konnten de­ nen, die mit ihrem Schweiß diese Blüte hervorbrachten, nur ein Leben sichern, das kaum besser war als das des Viehs und oftmals weit schlechter. Für ein Dienstpferd war im Haushalt deutscher Staaten damals ein jährlicher Unterhalt von hun­ dert Talern vorgesehen; für Postpferde wurden oft sogar über 200 Taler gezahlt, »im ganzen also mehr, als ein freier Arbei-

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ter nebst Familie in der Regel zu verdienen imstande ist«, wie ein bürgerlicher Statistiker in einer zeitgenössischen Schrift sachlich feststellte. Das halbverhungerte Industrie- und Landproletariat war besonders anfällig für die »Schwind­ sucht« genannte Tuberkulose: In Berlin starb jeder dritte Ta­ gelöhner daran; bei den Webern waren es fast 70 Prozent. Zum Elend und zum Hunger kamen auch noch Demüti­ gungen schlimmster Art, besonders für die Landarbeiter und das städtische Gesinde. Die im Revolutionsjahr 1848 gelokkerte preußische Gesindeordnung, die der Herrschaft ein körperliches Züchtigungsrecht einräumte, wurde nach dem Sieg der Reaktion wieder verschärft und blieb bis 1918 in Kraft. In Mecklenburg wurde nach 1850 die Prügelstrafe wie­ dereingeführt, und auch in anderen rückständigen deutschen Staaten übernahm der Landadel wieder die Polizeigewalt und mißbrauchte sie zur Unterdrückung der arbeitenden BevölDas wichtigste Mittel, die Massen in Schach zu halten und die Söhne des Volkes zu bedingungslosem Gehorsam und knechtischer Unterwürfigkeit zu erziehen, blieb jedoch das Militär. Besonders im Königreich Preußen waren deshalb die Führer der Reaktion bestrebt, die Armee noch größer und schlagkräftiger zu machen, und sie setzten dabei ihre Hoff­ nungen auf den Bruder des Königs, den »Kartätschenprin­ zen« Wilhelm, der 1857 zunächst als Stellvertreter des unheil­ bar geisteskranken Königs, seit 1858 als Regent die Regie­ rungsgeschäfte übernommen hatte. Da man für eine umfas­ sende Heeresverstärkung und -modernisierung eine Menge Geld brauchte und für dessen Bewilligung die Unterstützung der Liberalen und der hinter diesen stehenden Industriellen und Großkaufleute benötigte, kam man sogleich nach der Einsetzung des Regenten dem Großbürgertum mit einem po­ litischen Kurs- und Regierungswechsel entgegen: Die ultra­ reaktionären Minister wurden entlassen und durch gemäßigt Liberale ersetzt, und zugleich wurde dem liberalen Bürger­

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tum einige Hoffnung gemacht, man werde ihm in seinen For­ derungen ein wenig entgegenkommen. Diese liberalen Wünsche, Üie ohne großen Nachdruck vor­ gebracht worden waren, umfaßten folgende Kernpunkte: Aufhebung der Grundsteuerfreiheit und der gutsherrlichen Polizeigewalt der Junker; Freiheit der Wissenschaft und ihrer Lehre; Verminderung des vorherrschenden Einflusses der lutherischen Landeskirche, vor allem im Schulwesen; Siche­ rung der bürgerlichen Rechte in der städtischen Verwaltung, der Justiz und bei den Wahlen; eine freie bürgerliche Presse; die Möglichkeit, verfassungswidrig regierende Minister vor Gericht zu stellen, um zu erreichen, daß künftig nicht mehr im Widerspruch zur Verfassung regiert werden könne. Mit diesem Programm, worin von der nationalen Einigung nicht mehr die Rede war, hatten die Liberalen im Herbst 1858 einen beachtlichen Wahlsieg errungen und beherrschten, zu­ sammen mit einigen gemäßigt Konservativen, den preußi­ schen Landtag. So erschien es ihnen nur natürlich, daß der neue Regent den Tatsachen Rechnung trug und ein gemäßigt liberales Kabinett ernannte; sie priesen ihn dafür als »weise und modern« und sprachen vom Beginn einer »Neuen Ära«. Was sie dabei übersahen, war der Umstand, daß sich an den wahren Machtverhältnissen im Lande gar nichts geändert hat­ te; daß sie lediglich dazu ausersehen waren, einige kostspieli­ ge Armeereformen durchzuführen. Die Pläne dafür waren schon fertig; ihr geistiger Vater, der erzkonservative General von Roon, löste schon wenige Monate nach Beginn der »Neuen Ära« den liberalen Kriegsminister ab, und Anfang 1860 legte er dem Landtag den Entwurf eines neuen Heeresgesetzes vor. Dessen Kernpunkte waren: Verlängerung der Militärdienstzeit von bisher zwei Jahren auf drei Jahre; eine beträchtliche Vergrößerung des stehenden Heeres; des­ sen Umrüstung auf Waffen mit weit größerer Feuergeschwin­ digkeit und die Herauslösung der - von meist bürgerlichen Offizieren kommandierten - Landwehr aus der regulären 341

Feldarmee. Die Kosten dafür wurden mit zunächst 7 Millio­ nen und für die folgenden Jahre mit 9,5 Millionen Talern ver­ anschlagt. Diese Wünsche der Regierung entsprachen keineswegs den liberalen Vorstellungen, denn ihre Verwirklichung hätte nur eine Stärkung des preußischen Militarismus und der junkerli­ chen Offiziere auf Kosten des Bürgertums bedeutet. Aber an­ statt dies auszusprechen, die Vorlage abzulehnen oder sich die Zustimmung mit der Erfüllung einiger liberaler Grund­ forderungen abkaufen zu lassen, begnügte sich die Landtags­ mehrheit mit einigen Nörgeleien darüber, daß die Vorlage zu kostspielig sei. Daraufhin zog die Regierung sie zurück, ließ sich aber sogleich »für die fernere Kriegsbereitschaft« eine außerordentliche einmalige Ausgabe von 9 Millionen Talern bewilligen, mit deren Hilfe sie unter Umgehung einer Parla­ mentsdebatte noch im Jahre 1860 die große Heeresreform durchführte. Im Januar 1861, nachdem Friedrich Wilhelm IV. gestorben und der »Kartätschenprinz«-Regent als Wilhelm I. König von Preußen geworden war, hatte er 81 Infanterieregimenter (anstatt 45), 48 Kavallerieregimenter (zuvor 38) und 18 Artil­ lerieregimenter (früher 9) zu seiner Verfügung. Das so vor vollendete Tatsachen gestellte Parlament bewilligte abermals die Kosten, wenn auch nur noch mit knapper Mehrheit. Der linke Flügel der Liberalen, der sich bald darauf als Fortschritts­ partei selbständig machte, hatte gegen den Militärhaushalt ge­ stimmt. Und in den Landtagswahlen vom Dezember 1861 zeigte sich, wie die Stimmung im Volke war: Die neue Fort­ schrittspartei erhielt 109 Sitze, die rechten Liberalen behiel­ ten nur noch 95, und die Konservativen konnten lediglich 15 Sitze behaupten. Doch anstatt nun, wie es die Wahlsieger sich erhofft hatten, ein linksliberales Kabinett zu ernennen und vor allem den Kriegsminister Roon zu entlassen, löste Wil­ helm I. den neuen Landtag schon nach wenigen Wochen wie­ der auf, entließ seine gemäßigt liberalen Minister, die ihre 342

Schuldigkeit ja getan hatten, ersetzte sie durch stramm kon­ servative Junker und setzte Neuwahlen für den Mai des dar­ auffolgenden Jahres 1862 ad. t Dieser Wahlkampf wurde von Seiten der Regierung in einer Weise geführt, die helle Empörung hervorrief. Der Druck, der auf die Staatsbediensteten und - von Seiten der Unterneh­ mer- auf die Arbeiterschaft ausgeübt wurde, war ungeheuer. In manchen Industriezentren, beispielsweise in Saarbrücken und Umgebung, erklärten die Werksleitungen der von der Aufrüstung enorm profitierenden Unternehmen offen, wer bei der - ja nicht geheimen - Wahl nicht konservativ abstim­ me, werde auf der Stelle entlassen. Um so überraschender war das Wahlergebnis: Die Opposi­ tion erhielt mehr als zwei Drittel aller Landtagssitze; die Konservativen sanken mit nur noch zehn Mandaten zur Be­ deutungslosigkeit herab. Und als nach der Sommerpause, die mit fruchtlosen Verhandlungen zwischen Regierung und Op­ position angefüllt war, der neugewählte Landtag zusammen­ trat, strich er sämtliche Ausgaben für die Heeresreform, und dies mit einer Mehrheit von 308 gegen 11 Stimmen. Damit waren die Regierung, das Königtum und das von den Junkern und Großbürgern befürwortete rückschrittliche Regime in eine ernste Krise geraten. Sie hatten nur noch die Wahl, entweder gegen fast das gesamte Parlament, die über­ wältigende Mehrheit des Volkes und die diesem selbst »gnädigst gewährte« Verfassung zu regieren und damit die Gefahr eines neuen Aufstands der Massen heraufzubeschwören oder nachzugeben, was nach Ansicht vieler Konservativer bedeu­ tet hätte, »den letzten Damm einzureißen, der uns vom de­ mokratischen Chaos und der Herrschaft des Pöbels noch trennt«. König Wilhelm I. bereitete bereits seine Abdankung vor. Der Kronprinz, dem liberale Neigungen nachgesagt wurden und der von seiner Frau, einer englischen Prinzessin, gegen die reaktionäre Politik der Junker und Militärs und für einen

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bürgerlichen Parlamentarismus britischer Art beeinflußt worden war, hielt sich schon, telegrafisch nach Berlin geru­ fen, bereit für einen Thronwechsel, und dieser hätte vielleicht das Ende des preußischen Militarismus und der Vorherr­ schaft des Junkertums bedeutet. Aber die reaktionären Militärs um den Kriegsminister von Roon hielten noch einige Trümpfe in der Hand: Sie legten dem König ihre seit dem Vorjahr fertigen Pläne für einen mili­ tärischen Staatsstreich vor, und zugleich boten sie ihm als Kompromiß zwischen diesem letzten Mittel und der Aufgabe aller konservativen Ziele noch einen Ausweg an: die Berufung eines »starken Mannes« mit dem nötigen diplomatischen Ge­ schick, der das Parlament ohne Staatsstreich und Gewaltan­ wendung ausschalten sollte. Dieser Retter in der Not war der Gesandte von Bismarck, der längst nicht mehr Preußens Vertreter beim Frankfurter »Bundestag«, sondern nach einigen Jahren, die er als Mis­ sionschef am russischen Zarenhof in St. Petersburg, dem heu­ tigen Leningrad, verbracht hatte, inzwischen Gesandter in Paris geworden war. Von General von Roon herbeitelegra­ fiert, war er bereits in Berlin eingetroffen. Einen Tag nach der für die preußischen Reaktionäre so katastrophalen Landtags­ abstimmung wurde Bismarck von Wilhelm I. zum Minister­ präsidenten ernannt, nachdem er sich bereit erklärt hatte, auch ohne Geldbewilligung durch das Parlament die Heeresreform durchzuführen, bei der es jetzt vor allem um eine Um­ rüstung auf moderne Waffen ging. Bismarcks Ziel, durch eine »Revolution von oben« einer Volkserhebung zuvorzukommen, lag zu diesem Zeitpunkt noch in weiter Ferne. Zunächst galt es, gestützt auf das schlagkräftige preußische Heer, die Liberalen wieder in ihre Schranken zu weisen und zugleich ihre wichtigsten Förderer für die Regierungspolitik zu gewinnen. Die Regierung des »starken Mannes« begann dementsprechend mit antidemo­ kratischen Polizeimaßnahmen, Maßregelungen von über tau344

send höheren Beamten und Richtern, die der liberalen Oppo­ sition angehörten, sowie mit einem Abkommeh, das Bis­ marck im Februar 1863 mit dem zaristischen Rußland schloß. Danach durften preußische Truppen nach Russisch-Polen und russische Heeresverbände in die preußischen Ostprovin­ zen einmarschieren, wenn die Bekämpfung von Aufständen dies nötig machen sollte. Durch dieses Bündnis gelang es den beiden reaktionären Mächten, den 1863 wieder aufflammen­ den Kampf des polnischen Volkes um seine nationale Unab­ hängigkeit rasch zu unterdrücken. Zugleich verbesserte sich damit das Verhältnis Preußens zu Rußland, während sich die russisch-österreichischen Gegensätze verschärften. Der Konflikt mit Österreich wurde von Bismarck ange­ strebt und schließlich auch mit den raffiniertesten Mitteln herbeigeführt. Die Gründe hierfür lagen vor allem darin, daß im deutschen Volk der Wunsch nach nationaler Einigung so stark geworden war, daß es nicht mehr tunlich schien, sich der Massenbewegung entgegenzustellen. Es war - von Bis­ marcks preußisch-reaktionärem Standpunkt aus - weit bes­ ser, die Stimmung im Volk auszunutzen und die Ziele der Be­ wegung teilweise und scheinbar zu erfüllen, während man in Wahrheit nur preußische Macht- und Eroberungspolitik be­ trieb. Als im Sommer 1863 die österreichische Regierung einen Vorstoß unternahm, um den »Deutschen (Fürsten-)Bund« zu reformieren und zu festigen, blieb Preußen der Konferenz fern, so daß sie ohne Ergebnis bald wieder auseinandergehen mußte. Nachdem er so eine diplomatische Niederlage Öster­ reichs herbeigeführt hatte, trat Bismarck mit einem eigenen Vorschlag an die Öffentlichkeit, der geeignet war, im libera­ len Lager Verwirrung zu stiften. Denn überraschenderweise forderte ausgerechnet Preußens erzreaktionärer, das eigene Parlament ständig mißachtender »starker Mann« eine Bun­ desreform mit einem in ganz Deutschland aufgrund des allge­ meinen Wahlrechts vom Volk gewählten Bundesparlament!

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Natürlich stieß dieses Projekt - und so war es auch gemeint - auf schärfste Ablehnung durch die Wiener Regierung. Aber nun stand Österreich vor den Deutschen als diejenige Macht da, die sich der nationalen Einigung, wenn sie vom Volk rmtgetragen werden sollte, am heftigsten widersetzte. Etwa zur gleichen Zeit hatte Dänemark wegen der herr­ schenden Spannungen zwischen den großen Mächten den Augenblick für günstig befunden, Deutschland die schles­ wig-holsteinischen Herzogtümer endgültig zu entreißen. Dies rief eine heftige Aktivität des liberalen Bürgertums her­ vor, doch vor einem Volkskrieg zur Befreiung SchleswigHolsteins, wie die Massen ihn führen wollten, schreckten Bürger und Fürsten gleichermaßen zurück. So konnten Preu­ ßen und Österreich gemeinsam der Volksbewegung zuvor­ kommen und selbst den Krieg gegen Dänemark beginnen. Daß sie sich trotz ihrer eigenen Konflikte in der schleswigholsteinischen Frage zusammenfanden, geschah nur, weil beide Mächte fürchteten, die eine könnte der anderen in der öffentlichen Meinung den Rang ablaufen. Und daß sie sich überhaupt zu militärischem Vorgehen aufrafften, geschah wie Bismarck dem englischen Botschafter versicherte - nur weil sie »zwischen der Invasion in Schleswig und der Revolu­ tion in Deutschland wählen« mußten. Dänemark wurde im Frühjahr 1864 von Österreich und Preußen gemeinsam besiegt und mußte die Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg an die Sieger abtreten. Die zwischen Wien und Berlin getroffene Regelung, wonach die Dänemark abgenommenen Gebiete den Eroberern vor­ läufig gemeinsam gehören, Schleswig von Preußen, Holstein von Österreich verwaltet werden sollte, barg bereits den Keim zu neuen Konflikten zwischen den beiden rivalisieren­ den Mächten. Dies um so mehr, als sich Preußen das Recht si­ cherte, im österreichischen Verwaltungsgebiet Befestigungen und Marinestationen anzulegen, außerdem das kleine Lauen­ burg den Österreichern für 1,8 Millionen Taler abkaufte.

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Noch bevor es zu dieser überraschenden, niemand außer Bismarck recht befriedigenden Lösung kam, hatfe Preußen jedoch noch einen anderen,^ das liberale .Bürgertum begei­ sternden Erfolg auf handelspolitischem Gebiet errungen: Es war Bismarck gelungen, den deutschen Zollverein kräftig zu erweitern und sogar das rückständige Kurhessen zum An­ schluß zu bewegen. (Dazu mußten der Kurfürst, dessen Mä­ tresse und eine Anzahl hessischer Hofschranzen mit sehr be­ trächtlichen Summen bestochen werden, doch davon erfuhr die Öffentlichkeit nichts, und zudem zählte, wie stets in der Politik, nur das Ergebnis.) Im April 1865 schloß dieser von Preußen angeführte, fast alle deutschen Kleinstaaten - außer Mecklenburg, Lübeck und Hamburg - umfassende Zollver­ ein einen Handelsvertrag mit Österreich, und damit war die wirtschaftliche Ausschließung des Habsburgerreiches aus Deutschland endgültig vollzogen, Preußens Vorherrschaft weiter verstärkt und der Konflikt zwischen Wien und Berlin noch verschärft. Ein Krieg zwischen Österreich und Preußen lag schon in der Luft. An einer solchen militärischen Auseinandersetzung zwi­ schen den beiden deutschen Führungsmächten waren die üb­ rigen europäischen Regierungen mehr oder minder stark in­ teressiert: Das russische Zarenreich, das während des polni­ schen Aufstands nur von Preußen unterstützt, von Frank­ reich, England und Österreich dagegen unter diplomatischen Druck gesetzt worden war, hatte zwar - wie alle anderen Mächte-viel gegen die nationale Einigung Deutschlands, erst recht gegen jedes Aufkommen von Demokratie, bekundete aber Bismarck gegenüber für den Fall eines preußischen Krie­ ges mit Österreich wohlwollende Neutralität. Der Zar ver­ sprach sich von einer solchen Auseinandersetzung eine Schwächung beider deutschen Mächte und von dieser eine Stärkung des russischen Einflusses in Südosteuropa. Frankreich, wo schon 1851 die Republik durch einen Staatsstreich in eine Militärdiktatur unter dem zum Kaiser ge­

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wählten Neffen Napoleons I., der sich Napoleon III. nannte, umgewandelt worden war, hatte einerseits ein natürliches In­ teresse an der Aufrechterhaltung der deutschen Klein- und Vielstaaterei und wollte auch Preußen nicht allzu stark wer­ den lassen; andererseits stand es in einem Konflikt mit Öster­ reich wegen Italien. Denn die italienische Einigungsbewe­ gung, von der die österreichisch besetzten Teile Oberitaliens bedroht waren, erfreute sich der kräftigen Unterstützung Napoléons III. Schon im ersten Ansturm waren, von den deutschen Demokraten neidvoll beobachtet, fast alle italieni­ schen Zwergstaaten von der Landkarte verschwunden und ihre Fürsten verjagt worden. Im Jahre 1859 hatte sich das neue Königreich Italien auch die bis dahin unter österreichi­ scher Herrschaft stehende Lombardei einverleiben können, so daß seitdem nur noch Venetien von Wien gehalten wurde. Gegen das Versprechen, im Fall eines Sieges der preußi­ schen Truppen über die Österreicher die Befreiung auch die­ ser Provinz zu erzwingen, sicherte sich Bismarck Italien als Bundesgenossen und das Wohlwollen Napoléons III. Außer­ dem stellte Preußen den Italienern 120 Millionen Franken zur Verfügung. Damit sollte die italienische Armee aufgerüstet werden und innerhalb der nächsten drei Monate bereit ste­ hen, bei Ausbruch eines Kriegs zwischen Preußen und Öster­ reich sofort die habsburgische Südflanke anzugreifen. (Insge­ heim verhandelte Bismarck auch mit revolutionären Grup­ pen, die im Fall eines preußischen Angriffs auf Österreich Aufstände in Ungarn, Dalmatien und Slowenien entfachen sollten, doch diese Pläne ließen sich nicht verwirklichen.) Trotz des geheimen Bündnisses mit Italien, das von Napo­ léon III. sehr begrüßt wurde, konnte Preußen nicht sicher sein, daß sich Frankreich auch wirklich neutral verhielte. Die Pariser Regierung, die auf eine sehr langwierige kriegerische Auseinandersetzung in Deutschland hoffte, bei der sie dann am Ende die Schiedsrichterrolle zu übernehmen und dafür eine französische Gebietserweiterung am Rhein einzuhan348

dein gedachte, machte abwechselnd Preußen und Österreich Bündnisangebote, die weder von Bismarck noch vom Wiener Kabinett strikt abgelehnt wurden. England verhielt sich ab­ wartend; da es über keine größeren Landstreitkräfte verfügte, brauchte Bismarck eine direkte Einmischung Londons nicht zu befürchten. Neben diesen diplomatischen Vorbereitungen, die Preu­ ßen eine günstige Ausgangslage verschafften, galt es auch fi­ nanzielle Vorkehrungen für den geplanten Krieg zu treffen. Schon 1864 hatte die Firma Fried. Krupp in Essen, Preußens wichtigste »Waffenschmiede«, der Regierung in Berlin unter ausdrücklichem Hinweis auf die Weigerung der liberalen Landtagsmehrheit, Mittel für das Heer zu bewilligen, einen langfristigen Kredit von 2 Millionen Talern angeboten; jetzt machte Bismarck von diesem Angebot sowie von einer ähnli­ chen Offerte des saarländischen Stahlindustriellen Stumm gern Gebrauch. Er ließ auch für 13 Millionen Taler Eisen­ bahnaktien aus preußischem Staatsbesitz heimlich verkaufen, außerdem für rund 40 Millionen Taler Staatsschuldverschrei­ bungen ausgeben, ohne die dafür eigentlich nötige Genehmi­ gung durch das Parlament einzuholen. Mit alledem hatte er genügend Geld für den bevorstehenden Krieg mit Österreich. Nun brauchte Bismarck nur noch einen Anlaß, um loszu­ schlagen, sowie eine ihm einigermaßen günstige öffentliche Meinung in Deutschland. Er verwirrte zunächst die Liberalen und täuscht^ zugleich die politisch noch weitgehend unerfah­ rene Masse des Volkes, indem er Anfang April 1866 auf der Frankfurter Botschafterkonferenz des »Deutschen (Fürsten-) Bundes« seinen bereits im Jahre 1863 gemachten Vorschlag wieder aufgriff und erneut den Antrag einbrachte, ein frei nach den Grundsätzen des allgemeinen, gleichen und direk­ ten Wahlrechts gewähltes gesamtdeutsches Parlament einzu­ berufen, das »die Vorlagen der deutschen Regierungen über eine Reform der Bundesverfassung entgegennehmen und be­ raten« sollte. 349

In den folgenden Wochen machte Bismarck den deutschen Kleinstaaten auf jede nur mögliche Weise klar, daß Wien bei der Erörterung innerdeutscher Fragen nicht mehr mitzure­ den habe. Dadurch und durch militärische Maßnahmen in Holstein reizte er Österreich so weit, daß es in Frankfurt die Mobilmachung der Truppen des »Deutschen Bundes« gegen Preußen beantragte. Damit hatten, ganz wie Bismarck es wünschte, die Österreicher die Feindseligkeiten eröffnet; Preußen konnte den Angegriffenen spielen und vier Tage nach dem österreichischen Mobilmachungsantrag, am 15. Juni 1866, den sorgfältig vorbereiteten Krieg beginnen. Auf Seiten Österreichs standen Sachsen, Hannover, Bay­ ern, Württemberg, Baden, Kurhessen, Nassau, Frankfurt und etliche Fürstentümer, während Preußen nur ein paar thü­ ringische und norddeutsche Kleinstaaten als Verbündete hat­ te. Da zudem im Rheinland die Stimmung der Bevölkerung gegen den »Bruderkrieg«, und ganz allgemein in Preußen eine feindselige Haltung gegen das reaktionäre Bismarck-Regime vorhanden war, rechnete man in Deutschland wie überall in Europa mit einer Niederlage der preußischen Truppen, zu­ mal dessen Gegner zahlenmäßig überlegen und gut gerüstet waren: Die mit Österreich verbündeten deutschen Staaten konnten rund 120000 Soldaten aufbieten; die österreichische Hauptarmee in Böhmen war etwa 250000 Mann stark, Preu­ ßen standen dagegen nur etwa 280000 Mann zur Verfügung. Die Wirklichkeit sah indessen ganz anders aus: Hannover, Kurhessen und Sachsen wurden von den Preußen blitzschnell besetzt; der korrupte Kurfürst von Hessen wurde gefangen­ genommen, sein Heer flüchtete nach Bayern, und bereits vierzehn Tage nach Kriegsausbruch waren die militärischen Aktionen an der preußischen Westfront abgeschlossen. We­ nige Tage später, am 3. Juli 1866, wurde die österreichische Hauptarmee von drei getrennt heranmarschierenden preußi­ schen Heersäulen, die sich bei Königgrätz vereinten, so ver­ nichtend geschlagen, daß der Krieg als beendet angesehen

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werden konnte. Achtzehn Tage hatten genügt, Preußen zur beherrschenden Vormacht in Deutschland zu machen und Österreich aus den deutscher! Angelegenheiten endgültig aus­ zuschalten. Als Beute dieses Feldzugs fielen Schleswig-Holstein, das Königreich Hannover, Kurhessen, Nassau und die bis dahin Freie Stadt Frankfurt an Preußen; Österreich mußte Venetien an Italien abtreten und eine hohe Kriegsentschädigung zah­ len, und die süddeutschen Staaten - Bayern, Württemberg und Baden - waren gezwungen, sich in Geheimverträgen zu verpflichten, in jedem künftigen Krieg ihre gesamten Trup­ pen Preußen zur Verfügung zu stellen. Mit einem Schlage hatte Bismarck sein eigenes Herrschafts­ gebiet, das Königreich Preußin, das bislang in einen Ost- und einen Westteil zerrissen gewesen war, zu einem mächtigen Länderblock gemacht, der von der holländisch-belgisch­ französischen Grenze im Westen bis weit nach Polen und Li­ tauen hinein reichte. In diesem Block wirkten die wenigen nicht-preußischen Gebiete - die Hansestädte Hamburg, Bre­ men und Lübeck, die thüringischen, sächsischen und lippischen Zwergstaaten oder auch Ländchen wie Oldenburg und Braunschweig - wie bloße Einsprengsel, das Königreich Sachsen und die mecklenburgischen Großherzogtümer wie kleine Aussparungen am Rande. Das hochgerüstete, von Jun­ kern und Militärs geführte Preußen war in Deutschland zu ei­ nem Riesen unter Zwergen geworden. Aber es war damit noch nicht zufrieden. Bereits im August 1866, nur wenige Wochen nach dem Sieg über Österreich bei Königgrätz, ließ Bismarck den von ihm für aufgelöst erklärten »Deutschen Bund« in neuer Form auf­ erstehen. Am 18. August vereinte er das Königreich Preußen, das Dänemark abgenommene Herzogtum Lauenburg, die drei norddeutschen Hansestädte, Oldenburg, Braunschweig, Anhalt, zwei der sächsischen Herzogtümer und sechs der souveränen Zwergfürstentümer zu einem »Norddeutscher 351

Bund« genannten Bundesstaat, dem bis Ende Oktober des­ selben Jahres unter mehr oder weniger sanftem Druck und meist zähneknirschend die beiden mecklenburgischen Groß­ herzogtümer, die nördlichen Provinzen des Großherzog­ tums Hessen-Darmstadt, das winzige Fürstentum Reuß älte­ re Linie, Sachsen-Meiningen und schließlich sehr widerstre­ bend auch das Königreich Sachsen beitraten - zusammen 2P/2 selbständige deutsche Staaten mit zusammen knapp dreißig Millionen Einwohnern, wovon etwas mehr als zwei Drittel Untertanen des Königs von Preußen waren, der-wie hätte es anders sein können? - mit dem für das Haus Hohenzollern erblichen Präsidentenamt im »Norddeutschen Bund« betraut wurde. Mit dieser Präsidentschaft erhielt der Preußenkönig den Oberbefehl über alle Streitkräfte im Bund, die alleinige Ent­ scheidung über Krieg und Frieden sowie das Recht, den die Regierungsgeschäfte führenden Kanzler zu ernennen, der auch die Außenpolitik allein bestimmte. Damit war klar, daß nicht die vom Volk ersehnte deutsche Einigung, sondern die Herrschaft Preußens über eine Anzahl nur noch schein-sou­ veräner Vasallenstaaten erreicht worden war. Und daran än­ derte es wenig, daß Bismarck, um damit das liberale Bürger­ tum für seine »Blut-und-Eisen«-Politik zu gewinnen, dem »Norddeutschen Bund« eine direkt- aber nicht geheim! - ge­ wählte Volksvertretung gewährte, die im Vorgriff auf die weiteren Pläne Bismarcks bereits »Reichstag« genannt wur­ de. Die Mitwirkungsmöglichkeiten dieses Parlaments an den Staatsgeschäften beschränkte sich - damit sollten die liberalen Großbürger geködert werden - auf das Gebiet der Wirt­ schaft. Im übrigen traf zu, was ein süddeutscher Demokrat damals schrieb: »Die Verfassung des Norddeutschen Bundes hat drei Paragraphen. Der eine heißt Steuerzahlen, der zweite Soldatwerden, der dritte Maulhalten.« Während außenpolitisch und militärisch die Führung allein bei Preußen lag, blieben die Mitglieds-Ländchen des »Nord352

deutschen Bundes« weiterhin völlig selbständig in bezug auf ihre innere Verwaltung, Justiz, Polizei, Kirchenangelegen­ heiten, Schulen und ständischen Ordnungen, und damit be­ ruhigten sich sowohl die kleinen Landesfürsten, denen die Verjagung des Königs von Hannover und erst recht die Ab­ setzung und Gefangennahme des Kurfürsten von Hessen ei­ nen furchtbaren Schreck eingeflößt hatte, als auch die preußi­ schen Junker, die von nationaler Einigung gar nichts hielten, weil sie um ihre Vorrechte bangten. Die preußischen Landtags wählen vom Sommer 1866 be­ scherten unter dem Eindruck des siegreichen Krieges den preußischen Konservativen, die zuvor nur noch 38 Sitze ge­ habt hatten, nicht weniger als 123 Mandate. Die oppositio­ nelle Fortschrittspartei verlor 60 Sitze und stellte nur noch 83 (vorher 143) Abgeordnete. Und die rechten, das Großbür­ gertum vertretenden Liberalen bildeten fortan mit 65 (vorher 110) Abgeordneten das Zünglein an der Waage. Vierzehn Tage nach dem vollständigen Sieg Preußens über Österreich und seine deutschen Verbündeten nahm Bismarck Kontakt mit den Führern des liberalen Bürgertums, auch in den außerpreußischen Staaten, auf. Es ging ihm darum, Frie­ den zu schließen zwischen seiner die Rechte des Parlaments mißachtenden Diktatur und den Repräsentanten des Kapitals und der Industrie. Man einigte sich rasch: Die preußische Re­ gierung legte dem neugewählten Landtag einen Gesetzent­ wurf vor, djer die von Bismarck rechtswidrig geschaffenen, aber vollendeten Tatsachen nachträglich guthieß. Als eine breite Landtagsmehrheit für diese seltsame Vorlage stimmte, war das Bündnis besiegelt zwischen Bismarck, den Militärs und Teilen des preußischen Adels auf der einen Seite und den entscheidenden großbürgerlichen Kräften auf der anderen. Das Großbürgertum verzichtete damit auf den Kampf um Demokratie zugunsten der »Revolution von oben«; die na­ tionalstaatliche Einigung Deutschlands wurde nun nicht mehr durch und für das Volk erstellt, sondern durch preußi-

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sehe Bajonette und für die Vorherrschaft des preußischen Unterdrückungs- und Ausbeutungsapparats im ganzen Reich. Zwar blieben die stockreaktionären Teile des ostelbischen Landjunkertums diesem Bündnis ebenso fern wie auch viele der von ihm noch immer verachteten Bürger, denn nicht alle liberal gesinnten Mittelständler wollten ihre demokratischen Ideale sogleich über Bord werfen. Aber an Widerstand dach­ ten weder die einen noch die anderen. »Sämtlichen in Deutschland herrschenden Klassen«, bemerkte dazu Fried­ rich Engels voll Bitterkeit, »Junkern wie Bourgeoisie, ist der letzte Rest an Energie so sehr abhanden gekommen, es ist im gebildetem Deutschland so sehr Sitte geworden, keinen Wil­ len zu haben, daß der einzige Mann unter ihnen, der wirklich noch einen Willen hat, eben dadurch zu ihrem größten Mann und zum Tyrannen über sie alle geworden ist.« Diesem Urteil über Bismarck ist nur noch hinzuzufügen, daß er neben Willen und Intelligenz auch einen sonst im Jun­ kertum nicht vorhandenen Sinn für die Stimmungen und Sehnsüchte der Volksmassen hatte. Und er verstand es, seine eigenen Pläne so zu verwirklichen, daß sie äußerlich den Wünschen des Volkes weitgehend zu entsprechen schienen, während sie in Wahrheit genau entgegengesetzte Ziele ver­ folgten. Erst wenn der Widerspruch offenbar wurde, wenn alle Tarnung und Geschmeidigkeit nichts mehr nützte, setzte er — und dann mit aller Brutalität - seine überlegenen Macht­ mittel ein. Indessen war vorerst die Masse des Volks noch gar nicht imstande, in die politische Entwicklung einzugreifen. Viele hatten den Verrat des liberalen Besitzbürgertums an der Re­ volution von 1848/49 überhaupt noch nicht recht begriffen. Und um die von den Bürgern im Stich gelassene demokrati­ sche Umgestaltung ganz Deutschlands allein weiterzuführen, dazu fehlten den meisten Arbeitern, Bauern und Handwerks­ gesellen, erst recht dem proletarisierten Kleinbürgertum und 354

dem Millionenheer der Dienstboten, noch die politische Rei­ fe und der nötige organisatorische Zusammenhalt. Immerhin gab es zu Beginh der sechziger Jahre die ersten Ansätze eines Neubeginns der von der Reaktion zerschlage­ nen Arbeiterbewegung. Da gab es »Arbeiterbildungsverei­ ne«, meist von liberalen Bürgern gegründet, um das von den Schulen und Kirchen bewußt Versäumte nachzuholen und den untersten Volksschichten, anstatt nur Frömmelei und Untertanengeist, auch ein Mindestmaß an Wissen und Bil­ dung zu vermitteln. In diesen Vereinen wurden die Arbeiter jedoch von der Politik ferngehalten; sie sollten nur gute Stamm- und Facharbeiter, allenfalls noch Wähler der Partei ihrer Arbeitgeber werden. Doch wie es nun einmal so ist, wenn man Unwissenden Kenntnisse (und Erkenntnisse) verschafft: die »Arbeiterbil­ dungsvereine« begannen sich immer mehr für Politik zu in­ teressieren, und sie entglitten bald der bürgerlichen Aufsicht und Gängelei «.Einige der schon politisch bewußteren Arbei­ ter suchten nach Möglichkeiten einer selbständigen Organi­ sation, und sie wandten sich Anfang 1863 an einen der Män­ ner, die 1848 das Volk zur bewaffneten Erhebung aufgerufen hatten, einer der Mitarbeiter der Neuen Rheinischen Zeitung gewesen und wegen Aufreizung gegen die Staatsgewalt zu ei­ ner Gefängnisstrafe verurteilt worden war. Der Mann ihrer Wahl hieß Ferdinand Lassalle. Er stammte wie Karl Marx aus einer jüdischen Bürgerfamilie und hatte ebenfalls studiert, lebte aber nicht im Exil und war gerade mit einer Rede her­ vorgetreten, die ihm eine Anklage wegen Aufreizung zum Klassenhaß eingetragen hatte. Im Februar 1863 entwarf er ein Programm für einen allge­ meinen deutschen Arbeiterkongreß, verlangte darin die Be­ teiligung der Arbeiter an der Produktion, den Aufbau von Arbeiterproduktionsgenossenschaften mit staatlicher Kredit­ hilfe, die Abschaffung des Dreiklassenwahlrechts und weite­ re Reformen. Dieses - verglichen mit den Erkenntnissen und

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Lehren von Marx und Engels sehr zahme, den Klassenkampf kaum andeutende und den vorhandenen Staat bereitwillig an­ erkennende— Lassallesche Programm wurde von dem im Mai 1863 in Leipzig stattfindenden Arbeiterkongreß angenom­ men, und Lassalle wurde zum Präsidenten des »Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins« (ADAV) gewählt, der ersten Parteibildung der Sozialdemokratie in Deutschland. Diese nichtrevolutionäre, zum Bündnis mit dem reaktio­ nären Kanzler Bismarck gegen das liberale Bürgertum bereite Organisation war auch willens, die gewaltsame, undemokra­ tische »Einigung« Kleindeutschlands ohne Österreich hinzu­ nehmen, die in Wahrheit nur eine Macht- und Gebietserwei­ terung des reaktionären Preußens war. Kurz, es war ein Fehl­ start der Arbeiterbewegung, was Marx und Engels auch so­ gleich erkannten. Und hinzu kam, daß der hochbegabte Füh­ rer, Ferdinand Lassalle, bald ein Opfer seiner persönlichen Schwächen und Eitelkeiten wurde: Er duellierte sich wegen einer Liebesaffäre und fand dabei am 31. August 1864 den Tod. Bei allen Fehlern, die er hatte und beging, blieb ihm das Verdienst, den deutschen Arbeitern ihre »verdammte Be­ dürfnislosigkeit« vorgehalten zu haben, die es zu überwinden gälte. Auch trug sein ADAV, selbst wenn er es vielleicht gar nicht wollte, erheblich dazu bei, daß sich in der deutschen Arbeiterschaft ein Klassenbewußtsein zu bilden begann. Da­ für sorgte schon das von Georg Herwegh gedichtete Bundes­ lied, das weite Verbreitung fand und dessen Zeilen »Alle Rä­ der stehen still, wenn dein starker Arm es will« zur zünden­ den Losung der deutschen Gewerkschaftsbewegung wurde. Das Jahr 1865 stand für die deutschen Arbeiter ganz im Zeichen des Kampfes für ihr Recht auf Streik und Zusam­ menschluß. Beides galt als ungesetzlich; die Arbeiter sollten sich nicht organisieren oder gar zur Erzwingung höherer Löhne und besserer Arbeitsbedingungen gemeinsam die Ar­ beit niederlegen dürfen. Doch im Verlauf des Jahres 1865 kam es in vielen deutschen Industriestädten zu Streikbewe-

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gungen, deren Vorbereitung und Durchführung großen Mut erforderte. Die Unternehmer waren ihren Arbeitern nicht nur wirtschaftlich haushoch tibdrlegen, sie hatten auch Poli­ zei, Militär und Justiz auf ihrer Seite und es gab vor allem auch noch keine Gewerkschaften, die den Ausfall des ohne­ hin kargen Lohns durch Streikgelder hätten ausgleichen kön­ nen. Doch gerade aus diesen Erfahrungen heraus schlossen sich Ende Dezember 1865 die Zigarrenarbeiter, die schon 1848 große Solidarität bewiesen hatten, zur ersten gesamt­ deutschen Gewerkschaft zusammen. Ihrem Beispiel folgten Anfang 1866 die Buchdrucker, und es dauerte nicht lange, bis die deutsche Arbeiterbewegung auch Anschluß an die soziali­ stische Internationale Arbeiter-Vereinigung, kurz »Interna­ tionale« genannt, gefunden hatte. Diese war am 28. Septem­ ber 1864 in London gegründet worden. Der Anstoß dazu war von der englischen Arbeiterschaft ausgegangen, aber der füh­ rende Kopf dieses neuen internationalen Kampfbundes war und blieb Karl Marx. In Deutschland schlossen sich 1868 auf dem 5. Vereinstag des Verbands deutscher Arbeitervereine in Nürnberg die dort vertretenen 93 Vereine mit überwältigender Mehrheit dieser ersten Internationale an. Die Männer, die dies bewirkten und es zugleich zur »Pflicht der Arbeiter« erklärten, »nachdrück­ lich und unausgesetzt mit allen Mitteln« den Militarismus und vor allem den preußischen Militär- und Junkerstaat zu bekämpfen) eine Revolution anzustreben und mit ihr eine großdeutsche, freiheitliche und demokratische Republik zu schaffen, waren August Bebel und Wilhelm Liebknecht; sie sorgten dafür, daß sich die Arbeiterschaft von den Parteien des demokratischen Kleinbürgertums löste und eine eigene Partei gründete: die Sozialdemokratische Arbeiterpartei. Das geschah auf dem deutschen Arbeiterkongreß, der im August 1869 in Eisenach tagte. Zu dieser Zeit waren sowohl Lieb­ knecht wie Bebel bereits Abgeordnete des Parlaments des »Norddeutschen Bundes«, des sogenannten »Reichstags«.

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Im Programm der neuen Arbeiterpartei, das Bebel ausgear­ beitet hatte, hieß es: »Die heutigen politischen und sozialen Zustände sind im höchsten Maße ungerecht ... Der Kampf für die Befreiung der arbeitenden Klassen ist nicht ein Kampf für Klassenprivilegien und Vorrechte, sondern für gleiche Rechte und gleiche Pflichten und für die Abschaffung aller Klassenherrschaft...« Weiter hieß es, daß die wirtschaftliche Abhängigkeit der Arbeiter von den Kapitalisten »die Grund­ lage der Knechtschaft in jeder Form« bilde. Die politische Freiheit wurde zur Vorbedingung für die wirtschaftliche Be­ freiung der arbeitenden Klassen erklärt, die Partei zu einem Zweig der von Marx geführten Internationale. August Bebel, der dieses Programm ausgearbeitet hatte, war damals erst 29 Jahre alt. Er war 1840 in Köln als Sohn ei­ nes preußischen Unteroffiziers zur Welt gekommen, war mit 13 Jahren Vollwaise geworden und hatte das Drechslerhand­ werk erlernt. Als Handwerksgeselle hatte er Süddeutschland und Österreich durchwandert und in Leipzig Anschluß an die Arbeiterbewegung gefunden, deren Führer er bis zu seinem Tode im Jahre 1913 blieb. Wilhelm Liebknecht, Bebels um 14 Jahre älterer Kampfge­ fährte, stammte aus einer Beamten- und Gelehrtenfamilie. Wegen Teilnahme an den Kämpfen in Baden und in der Pfalz mußte er 1849 aus Deutschland fliehen, zunächst in die Schweiz und, nachdem er dort ausgewiesen worden war, nach London. Dort zählte er bald zu den Freunden und An­ hängern von Marx und Engels. 1862 kehrte er nach Deutsch­ land zurück und betätigte sich hier als unermüdlicher Organi­ sator. Nachdem er 1865 von der preußischen Polizei verhaftet und aus dem Königreich verbannt worden war, hatte auch er sich in Leipzig niedergelassen, wo er die Arbeiterzeitung Volksstaat leitete. Wilhelm Liebknecht und in noch stärkerem Maße August Bebel standen bei der sich ihrer Interessenlage gerade erst be­ wußt werdenden deutschen Arbeiterschaft in hohem Anse­

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hen. Aber ihre Partei war noch weit davon entfernt, eine Mas­ senbewegung zu sein. Hatte der Lassallesche ADAV etwa zweitausend Mitglieder, so ¿tieg deren Zahl 1867 auf 3400, 1868 auf 7274; die 93 Arbeitervereine, die 1868 ihre Delegier­ ten nach Nürnberg entsandten und sich dort der Internatio­ nale anschlossen, hatten zusammen etwa 13000 Mitglieder. Und 1869, bei der Gründung der Sozialdemokratischen Ar­ beiterpartei in Eisenach, vertraten 262 Delegierte zusammen wenig mehr als zehntausend Arbeiter. Das war zugleich sehr viel und sehr wenig. Sehr wenig, wenn man in Betracht zieht, daß Deutschland — ohne Öster­ reich - damals rund vierzig Millionen Einwohner hatte, da­ von etwa sieben Millionen Wahlberechtigte, denn die Frauen waren politisch noch völlig rechtlos. Anderseits waren 10000 in einer eigenen Partei politisch organisierte Arbeiter schon sehr viel, wenn man bedenkt, daß in weiten Gebieten Deutschlands eine Mitgliederwerbung kaum möglich war, weil die Macht des Landadels, der Kirchen oder auch einzel­ ner Industrieller ausreichte, jede Agitation zu unterbinden; daß der ganze Unterdrückungsapparat der Staaten, vor allem Preußens, gegen die neue Arbeiterpartei eingesetzt wurde, und zwar mit aller Brutalität, und daß schließlich hinter den 10000 Männern, die sich offen zum Sozialismus bekannten, die fünf- bis zehnfache Anzahl von heimlichen Sympathisan­ ten stand. Hinzu khm noch ein weiterer Umstand: Nach dem raschen Sieg Preußens über Österreich und seine deutschen Verbün­ deten, der dem Frankreich Napoleons III. die Chance einer Einmischung und der dabei erhofften Gebietserweiterung ans linke Rheinufer genommen hatte, war mit einem Krieg des er­ folgsbedürftigen Franzosenkaisers gegen den »Norddeut­ schen Bund« zu rechnen. Bismarck suchte diesen Konflikt; er wollte ihn zur Ausdehnung der preußischen Vorherrschaft auf das restliche Deutschland benützen. Aber er war bemüht, den Krieg mit Frankreich so herbeizuführen, daß 359

die Franzosen als Angreifer und Todfeinde der deutschen nationalen Einigung erscheinen mußten. Das war nicht schwer, denn Napoléon III. war wirklich kriegslüstern, schürte alle anti-preußischen und auf die Erhaltung der deut­ schen Viel- und Kleinstaaterei gerichteten Bestrebungen und brachte es auf diese Weise fertig, daß selbst die Mehrzahl der eingefleischten Preußenfeinde die bevorstehende Auseinan­ dersetzung mit der französischen Militärdiktatur als einen patriotischen Verteidigungskrieg ansah, ganz so, wie es Bis­ marck wünschte. Im Sommer 1870 war es dann soweit. Mit raffinierten Tricks und der Verfälschung eines Telegramms, der soge­ nannten »Emser Depesche«, gelang es Bismarck, Napo­ léon III. zur voreiligen Kriegserklärung zu zwingen. Noch ehe die weit besser bewaffnete, wenn auch zahlenmäßig etwas schwächere französische Armee ihren Aufmarsch beendet hatte und, wie geplant, zum Main hin vorstoßen konnte, um Süddeutschland vom »Norddeutschen Bund« abzuschneiden und womöglich als Verbündeten gegen Preußen zu gewin­ nen, fielen die deutschen Truppen ins Elsaß ein, stürmten mit einem Höchstmaß an Begeisterung und Opferbereitschaft eine französische Stellung nach der anderen und brachten den Armeen Napoléons III. vernichtende Niederlagen bei. Am 2. September 1870, weniger als einen Monat nach Kriegsbe­ ginn, mußten die bei Sedan eingeschlossenen Reste der kai­ serlichen Armee kapitulieren. Etwa hunderttausend Gefan­ gene, unter ihnen Napoléon III., fielen den Deutschen in die Hände. Damit war das Schicksal des »zweiten Kaiserreiches« besie­ gelt. Am 4. September erhob sich die Bevölkerung von Paris und rief die Republik aus. Und damit entfiel für die Deut­ schen jeder Grund zur Weiterführung des Krieges. Aber die preußischen Militärs und die Industriellen an Rhein, Ruhr und Saar waren gerade erst auf den Geschmack gekommen, und auch die große Mehrheit des deutschen Bür­

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gertums wurde nun von einem Hurra-Patriotismus schlimm­ ster Art befallen. Gerade das Kleinbürgertum, das, wie Karl Marx damals schrieb, in seinfen »Kämpfen,für die bürgerliche Freiheit von 1864 bis 1870 ein nie dagewesenes Schauspiel von Unschlüssigkeit, Unfähigkeit und Feigheit gegeben hat«, war entzückt, »die europäische Bühne als brüllender Löwe des deutschen Patriotismus zu beschreiten«. Die StammtischStrategen forderten die Eroberung von Paris, die Abtretung weiter Teile Ostfrankreichs, vor allem Elsaß-Lothringens, und gewaltige Kriegsentschädigungen. Dagegen veröffentlichte die sozialdemokratische Parteilei­ tung bereits am 3.September 1870 einen Aufruf »An alle deutschen Arbeiter«, worin ein ehrenvoller Friede mit der französischen Republik und der Verzicht auf Eroberungen gefordert wurde. Die Antwort der Militärs war die Verhaf­ tung aller führenden Sozialdemokraten, deren man habhaft werden konnte; sie wurden am 9. September in Ketten auf die ostpreußisch&Festung Lötzen gebracht. Dort trafen sie einen Mitgefangenen, der schon bei Kriegsausbruch »vorbeugend« in Festungshaft genommen worden war: den inzwischen 65jährigen Dr. Johann Jacoby aus Königsberg. Jacoby, dessen 1841 veröffentlichte Schrift, Vier Fragen, beantwortet von einem Ostpreußen, ganz Deutschland auf­ gerüttelthatte; der im November 1848 nach dem Sieg der Re­ aktion vom Volk als Held gefeiert worden war, weil er Fried­ rich Wilhekn IV. unerschrocken zugerufen hatte: »Das eben ist das Unglück der Könige, daß sie die Wahrheit nicht hören wollen!«, war seit 1866 ein einsamer, von seinen bürgerlichen Freunden verlassener Mann. Er hatte es gewagt, die »Eini­ gung« Deutschlands durch den preußischen Militär- und Junkerstaat als »das Grab der Freiheit« zu bezeichnen. Auf freiem Fuß waren im Herbst 1870 von allen Führern der sozialistischen Arbeiterbewegung nur noch Bebel und Liebknecht, die sich als Abgeordnete im »Reichstag« des »Norddeutschen Bundes« für einen sofortigen Friedens­ 361

Schluß mit der französischen Republik und gegen jede weitere Geldbewilligung einsetzten. Auf Betreiben Bismarcks nahm die sächsische Regierung auch die beiden Parlamentarier »we­ gen Verdachts auf Landesverrat« noch vor Jahresende 1870 in Haft. Der Krieg ging unterdessen weiter; er war für die Franzo­ sen nun zum nationalen Verteidigungskampf des ganzen Vol­ kes geworden. Doch je erbitterter sich Frankreich wehrte, desto rücksichtsloser wurde die deutsche Kriegsführung. Bis­ marck forderte, »daß weniger Gefangene gemacht und mehr die Vernichtung des Feindes ... ins Auge gefaßt« würde. Und während nun Dörfer niedergebrannt, Gefangene und Geiseln erschossen wurden, während Paris bereits eingeschlossen war und durch Bombardement und Hunger zur Aufgabe des letz­ ten Widerstands gebracht werden sollte, ging Bismarck dar­ an, seine Pläne zu verwirklichen und ein Deutsches Reich un­ ter Führung Preußens entstehen zu lassen. Vier Faktoren mußte er dabei berücksichtigen: Die Abnei­ gung aller anderen europäischen Mächte gegen ein übermäch­ tiges, ganz Deutschland beherrschendes Preußen zwang ihn zu größter Eile; die Abneigung des preußischen Königs Wil­ helm gegen jedweden Anschein von Demokratie erforderte es, daß die Fürsten selbst den Preußenkönig zu ihrem Kaiser ausriefen; der erbitterte Widerstand der drei noch souveränen süddeutschen Landesherren mußte deshalb rasch und end­ gültig gebrochen werden, ohne daß ein Zwang erkennbar wurde, und schließlich war es nötig, den sinnlosen Krieg wei­ terzuführen, bis die »nationale Einigung« unter Dach und Fach war, denn der im Bürgertum entfesselte Hurra-Patrio­ tismus hätte sonst abflauen und einer nüchterneren Beurtei­ lung Platz machen können. Bismarck löste dieses schwierige Problem auf außerordentlich geschickte Weise, indem er Mit­ tel anwandte, die in den Geschichtsbüchern schamhaft ver­ schwiegen werden und die in ihrem vollen Umfang noch heute nicht bekannt, sondern nur zu ahnen sind.

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Die wesentlichste Einzelmaßnahme Bismarcks war die massive Bestechung des mächtigsten der drei süddeutschen Fürsten, des Bayernkönigs ¿udwig II., der insgesamt etwa sieben Millionen Goldmark dafür erhielt, daß er in einem von Bismarck aufgesetzten Brief an den Preußenkönig diesen »im Namen aller deutschen Fürsten« darum bat, ihr Kaiser zu werden. Aber außer dem sehr geldbedürftigen, zudem von fortgeschrittener Geisteskrankheit befallenen Wittelsbacher waren noch zahlreiche andere hochgestellte und einflußreiche Personen gefügig zu machen, teils mit hohen Bestechungs­ summen, teils durch Gespräche, die den Straftatbestand der Nötigung erfüllten. Es entbehrt nicht der Ironie, daß die Mil­ lionensummen, die Bismarck so freigebig in die Taschen vor allem bayerischer und württembergischer Herren fließen ließ, aus dem beschlagnahmten Vermögen zweier Verbünde­ ter der süddeutschen Herrscher stammten: aus dem »Weifen­ schatz« des verjagten Königs von Hannover und aus den einst durch schamlosen Verkauf ihrer Untertanen als Kano­ nenfutter an die Engländer gebildeten - Privatvermögen der hessischen Kurfürsten. Nach einem Kuhhandel um ein paar belanglose Symbole der Souveränität, mit denen die - nunmehr entmachteten Herrscher von Bayern, Württemberg und Baden das Gesicht zu wahren versuchten, und um Titel, Wappen und Standarte des künftigen Kaisers, dem diese Äußerlichkeiten wichtiger waren als illes andere, kam endlich am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal des französischen Königsschlosses zu Versailles die Proklamation des einstigen »Kartätschenprinzen« zum »Deutschen Kaiser« zustande. Auch der »Reichstag« des — nun zum »Deutschen Reich« erweiterten »Norddeutschen Bundes« durfte dabei ein Wörtchen mitreden. Man gestattete dem Parlament, eine Abordnung von dreißig Volksvertretern zu wählen, die nach Versailles reisen und dem Preußenkönig die »untertänigste Bitte« des Reichstags übermitteln soll­ ten, »dal? es Eurer Majestät gefallen möge, durch Annah-

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me der deutschen Kaiserkrone das Einigungswerk zu errei­ chen«. , Wilhelm Liebknecht, wieder aus der Haft entlassen, hatte dieses preußische »Einigungswerk« zuvor in der Parlaments­ debatte als »eine fürstliche Versicherungsanstalt gegen die Demokratie« bezeichnet und mit beißendem Spott hinzuge­ fügt: »Die Krönung des neuen Kaisers, meine Herren, um ihr eine würdige, symbolische Bedeutung zu geben, sie wäre vor­ zunehmen da draußen auf dem Gendarmenmarkt. Das ist der passende Ort für die Krönung des modernen Kaisers, denn dieses Kaisertum kann in der Tat nur durch Gendarmen auf­ rechterhalten werden.« Die Reichstagsabordnung aber reiste, vom liberalen Bür­ gertum bejubelt, nach Versailles, wo man sie erst einmal zwei Tage lang warten ließ. Dann erst wurden - um es in den Wor­ ten des Flügeladjutanten Seiner Majestät auszudrücken, der damit aussprach, welche Meinung die Herrschenden in Preu­ ßen von Volksvertretern und erst recht vom Volk hatten »die dreißig Kerle zum Dienermachen« vorgelassen.

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12. Die Diktatur des »Eisernen« Junkers

Das neue deutsche Kaiserreich, wie es Bismarck 1871 seinen eigenen und den königlich preußischen Bedürfnissen entspre­ chend geschaffen hatte, wat eine auf dem Bündnis zwischen Adel und Großbürgertum beruhende Militärdiktatur, die fast ein halbes Jahrhundert lang, bis zum November 1918, Be­ stand hatte. 1871 lebten in den Grenzen des neuen Deutschen Reiches etwa 41 Millionen Menschen; 1900 waren es bereits 56 Millio­ nen, und wenn man die Einwohner der von 1884 an »erwor­ benen« deutschen Kolonien und »Schutzgebiete« hinzurech­ net, so hatte der Preußenkönig um die Jahrhundertwende rund 68 Millionen Untertanen. Rund zwei Drittel des Reichsgebiets - ohne die Kolonien, aber mit Elsaß-Lothringen, das Frankreich nach der militäri­ schen Niederlage von 1870/71 an Deutschland hatte abtreten müssen - wurden von dem um Schleswig-Holstein, Lauen­ burg, Hannover, Kurhessen, Nassau und die Stadt Frankfurt mächtig vergrößerten Königreich Preußen eingenommen, und in Preußen lebten auch zwei Drittel der Reichsbürger. Das nichtpreußische Drittel Deutschlands wurde von den Königreichen Bayern, Sachsen und Württemberg, den Groß­ 365

Herzogtümern Baden, Hessen-Darmstadt, MecklenburgSchwerin, Sachsen-Weimar, Mecklenburg-Strelitz und Ol­ denburg, den Herzogtümern Braunschweig, Sachsen-Mei­ ningen, Sachsen-Altenburg, Sachsen-Coburg-Gotha und Anhalt, den Fürstentümern Schwarzburg-Sondershausen, Schwarzburg-Rudolstadt, Waldeck, Reuß älterer und jünge­ rer Linie, Schaumburg-Lippe und Lippe-Detmold, den Frei­ en Städten Hamburg, Bremen und Lübeck sowie dem »Reichsland« Elsaß-Lothringen gebildet. Der größte nicht­ preußische Staat im Reich war das Königreich Bayern mit (1900) rund 6 Millionen Einwohnern, der kleinste das Fürstentum Schaumburg-Lippe mit 43000 »Seelen« genann­ ten Staatsbürgern. Dem Preußenkönig unterstanden als Deutschem Kaiser im Frieden die gesamte Kriegsmarine und alle, fast eine halbe Million Mann starken Landstreitkräfte der Bundesstaaten, ausgenommen die bayerischen, württembergischen und sächsischen Truppen; im Krieg, über dessen Erklärung der Kaiser allein zu befinden hatte, unterstanden ihm auch diese. Die Außenpolitik sowie die Verwaltung Elsaß-Lothringens, später auch die aller Kolonien und »Schutzgebiete«, war Sache der Reichsregierung, und diese war auch allein zu­ ständig für die Fragen der Staatsbürgerschaft, Freizügigkeit, Paß- und Fremdenpolizei, Zoll- und Handelsgesetzgebung, Maße, Münzen und Gewichte, Ausgabe von Papiergeld, Seeund Binnenschiffahrt, Banken- und Versicherungsaufsicht, Presse und Vereinswesen, Gesetzgebung auf dem Gebiet des bürgerlichen und des Strafrechts sowie - ausgenommen in Bayern und Württemberg, wo Sonderrechte bestanden Post, Telegrafie und Eisenbahnen. Diese so außerordentlich mächtige Reichsregierung be­ stand aus einem einzigen verantwortlichen Minister, dem Reichskanzler, der - so bestimmte es die Reichsverfassungzugleich Vorsitzender des sogenannten Bundesrats, der ober­ sten Instanz im Deutschen Reich, war. In diesem Bundesrat,

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in dem — so Bismarck - »die Souveränität der verbündeten Fürsten und Regierungen ihren unbestrittenen Ausdruck« finden sollte, saßen die Bevollmächtigten gller Landesfürsten und Freien Städte. Preußen hatte 17 Vertreter, Bayern sechs, Württemberg und Sachsen je vier, Baden und Hessen je drei, Braunschweig und Mecklenburg-Schwerin je zwei und alle übrigen Mitgliedstaaten je einen. Die scheinbare Bescheidenheit Preußens, das ja eigentlich seiner Größe und Bevölkerung nach zwei Drittel der insge­ samt 58 Bundesratsmitglieder hätte stellen können, wurde durch die Geschäftsordnung ins genaue Gegenteil verkehrt: Die Stimmen Preußens konnten jede Verfassungsänderung und jedes Gesetz verhindern, und umgekehrt waren sie aus­ schlaggebend in allen »die Aufrechterhaltung der bestehen­ den Zustände« betreffenden Fragen sowie auf dem Gebiet des Militärwesens, der Zölle und der Verbrauchssteuern. Da­ durch sank der Bundesrat zu völliger Bedeutungslosigkeit herab; sein President konnte als Reichskanzler schalten und walten, wie es ihm beliebte, und als Führer der preußischen Stimmen im Bundesrat seine Politik jederzeit durchsetzen. Mit der zweiten Kontrollinstanz, dem Reichstag, war es nicht viel anders. Diese aus — angeblich — allgemeinen, freien und sogar geheimen Wahlen hervorgegangene Volksvertre­ tung sollte die Sehnsüchte der deutschen Bürger nach Demo­ kratie stillen. Aber dieser Reichstag, der von den Reaktionä­ ren bereits pls ein unerhörtes »Zugeständnis an den Pöbel« angesehen wurde, war in Wirklichkeit nur ein Scheinparla­ ment. Das fing schon beim Wahlverfahren an: Zwar war das gan­ ze Deutsche Reich in 397 (bis 1874 ohne Elsaß-Lothringen nur 382) Wahlkreise eingeteilt, in denen durch Mehrheitsent­ scheidung der Wähler je ein Reichstagsabgeordneter zum Vertreter von durchschnittlich 100000 Einwohnern zu wäh­ len war. Aber schon die Wahlkreiseinteilung benachteiligte die erfahrungsgemäß fortschrittlicher wählenden Ballungs-

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gebiete gegenüber dünnbesiedelten, rückständigen und von den Reaktionären beherrschten Gegenden. Und während der nächsten Jahrzehnte blieb es bei dieser Einteilung, die von Wahl zu Wahl ungerechter wurde, weil die rasch wachsenden Großstädte und Industriegebiete dabei gegenüber dem fla­ chen Land immer mehr ins Hintertreffen gerieten. So waren im Jahre 1900 die rund 770000 Einwohner Ham­ burgs von drei, die 1,9 Millionen Berliner von sechs und die etwa 450000 Menschen im Raum Bochum/Dortmund von zwei, zusammen also 3,12 Millionen Bewohner von Indu­ strie- und Ballungszentren von insgesamt 11 Abgeordneten im Reichstag vertreten, so daß dort auf je 285000 Einwohner ein Volksvertreter kam. Dagegen hatten die rund 700000 Un­ tertanen der mecklenburgischen Großherzöge sieben Reichs­ tagsabgeordnete, die zusammen knapp hunderttausend Ein­ wohner von Lippe-Detmold und Waldeck zwei und die 46000 Einwohner des pommerischen Landeskreises Köslin einen Abgeordneten. Und dieses Mißverhältnis sollte sich, wie wir sehen werden, bis 1918 noch steigern. Auch konnten in den einzelnen Wahlkreisen keineswegs alle Erwachsenen (ausgenommen Entmündigte und solche, denen die bürgerlichen Ehrenrechte gerichtlich aberkannt worden waren) zur Urne gehen. Von den fast zwei Millionen Berlinern des Jahres 1900 waren beispielsweise weniger als 400000 wahlberechtigt, denn von der Wahl waren Frauen gänzlich, Männer dann ausgeschlossen, wenn sie noch nicht das 25.Lebensjahr vollendet hatten. Ebenfalls ohne Wahl­ recht waren Soldaten, Inhaber in Konkurs gegangener Hand­ werks- oder Gewerbebetriebe, »Almosenempfänger« - wie man die 14000 Familienväter nannte, die im Wahljahr Zu­ schüsse aus öffentlichen Mitteln erhalten hatten - und die etwa 65000 in Berlin ansässig gewordenen Reichsbürger mit noch anderer als preußischer Staatsangehörigkeit. Mit allen diesen Einschränkungen der Gleichheit und All­ gemeinheit des Wahlrechts war dafür gesorgt, daß die Masse 368

des Volkes, vor allem die Industriearbeiterschaft, im Reichs­ tag stark unterrepräsentiert blieb, Adel und Besitzbürgertum stets die Oberhand behielten ünd'keine oppositionelle Mehr­ heit aufkommen konnte. Doch auch im unwahrscheinlichen Fall eines überwältigenden Wahlsiegs regierungsfeindlicher Kräfte hätten diese niemals den Kanzler zu stürzen vermocht: Es gab keine Verantwortlichkeit des Regierungschefs gegen­ über dem Parlament. Das also war die VerfassungsWirklichkeit in jenem Deut­ schen Reich, das sich - der für diese Leistung mit der Erhe­ bung in den Fürstenstand belohnte — Bismarck maßgeschnei­ dert hatte. Sie ließ sich auf die kurze Formel bringen: In Deutschland herrscht Preußen, in Preußen Fürst Bismarck. Und mit dieser Regelung war die Masse des liberalen Bürger­ tums ebenso zufrieden wie die Mehrheit des konservativen Adels. Das preußische Junkertum behielt seine beherrschende Stellung im Offizierskorps der Armee, in der inneren Verwal­ tung sowie in den Kreistagen und -ausschüssen, aber auch im preußischen Landtag. Die Hocharistokratie, zumal die au­ ßerpreußische und katholische, wurde von Bismarck mit ho­ hen und repräsentativen Ämtern getröstet - so beispielsweise Fürst Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst mit dem Bot­ schafterposten in Paris, später mit dem Amt des Reichsstatt­ halters in Elsaß-Lothringen; Prinz Heinrich VII. Reuß durfte das Reich inj St.Petersburg vertreten; der hannoveranische Graf zu Münster wurde Botschafter in London, und Prinz Gustav zu Ysenburg und Büdingen wurde außerordentlicher Gesandter und bevollmächtigter Minister in Madrid -; andere trösteten sich selbst: Sie legten die in den Zeiten ihrer Souve­ ränität angehäuftenReichtümer nicht mehr nur in Länderei­ en, Kunstschätzen oder Juwelen an, sondern beteiligten sich nun auch an bürgerlichen Unternehmungen wie Banken- und Versicherungsgründungen, Eisenbahnbau oder der Schaf­ fung neuer Industrien. So wurden zum Beispiel die Fürsten 369

zu Oettingen-Wallerstein, von Thurn und Taxis, zu Castell und zu Löwenstein-Wertheim Großaktionäre der Bayeri­ schen Vereinsbank (und sind es, nebenbei bemerkt, bis heute geblieben); oberschlesische Magnaten wie die Fürsten von Henckel-Donnersmarck oder die Grafen Schaffgotsch grün­ deten eigene Industriekonzerne, und wieder andere gingen sogar in die Politik. Unter den 397 Reichstagsabgeordneten einer einzigen Legislaturperiode des Bismarckreichs befan­ den sich: ein Herzog, sechs Fürsten, zwei Erbprinzen, fünf­ zehn Grafen und einundzwanzig weitere Hocharistokraten, vor allem in der Fraktion des katholischen Zentrums und bei den Konservativen. In der Gesellschaft des Bismarck-Reiches gaben Adel und Militär den Ton an; der jüngste Leutnant, zumal wenn er ein von vor dem Namen hatte und einem vornehmen Kavallerie­ oder Gardeinfanterieregiment angehörte, nahm in der gesell­ schaftlichen Rangordnung einen höheren Platz ein als ein bürgerlicher Universitätsprofessor von Weltruf. Das ganze Streben des wohlhabenden Bürgertums war darauf gerichtet, die Söhne zumindest Reserveoffizier werden zu lassen, die Töchter reich auszustatten und an einen - womöglich adligen - Offizier zu verheiraten oder gar selbst durch »allerhöchste Gnade« des Landesherrn »hoffähig« zu werden. Das ganze letzte Drittel des 19. Jahrhunderts, von den be­ schönigend als »Einigungskriege« bezeichneten preußischen Eroberungen der Jahre 1864/66 an, war in Deutschland eine Zeit des kriegslüsternen Säbelrasselns und des wildesten Na­ tionalismus. Hatte schon der preußische Reaktionär Marcus von Niebuhr im Mai 1849 - in einem bislang unveröffentlich­ ten Brief an seine Frau - voller Begeisterung geschrieben: »Unsere Rüstungen sind wirklich ungeheuer, und ich glaube auch, daß man nicht genug mit imposanter Macht auftreten kann ... Jetzt muß man sich auch gar nichts mehr gefallen las­ sen, und darum würde ich, so wie die Pfalz unterworfen ist, in die Schweiz einrücken ... und das freche Genf züchtigen«,

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so glaubte man auch jetzt, wo Preußen-Deutschland militä­ risch noch weit stärker geworden war, sich selbst,'dem Volk und allen Nachbarn immerfoft die Überlegenheit seiner Waf­ fen beweisen zu müssen. Nach dem Sieg über Frankreich von 1871 wurde mehr als die Hälfte der fünf Milliarden Goldfranken, die das französi­ sche Volk dem Deutschen Reich als »Kriegsentschädigung« zu zahlen hatte, für zusätzliche Rüstungen ausgegeben. Die Dienstzeit der Soldaten, die Gesamtstärke der Truppen und den Anteil der Militärausgaben am Staatshaushalt - Jahr für Jahr rund siebzig Prozent! - legte Bismarck im Einverneh­ men mit dem Generalstab von vornherein so fest, daß das in der Verfassung dem Reichstag zugestandene Bewilligungs­ recht zu einer bloßen Anerkennung vollendeter Tatsachen verkümmerte. Gleichzeitig begann ein Trommelfeuer militaristischer Propaganda, geschürt von einigen mit Geld aus Bismarcks »Weifenfonds« bestochenen Zeitungsschreibern, aber auch von Hochschullehrern wie dem Geschichtswissenschaftler Heinrich von Treitschke, der schon Ende 1870 erklärt hatte: »Ist diese Zeit von Eisen, so bleibt es auch eine Notwendig­ keit für die Gesittung der Welt, daß eine Nation bestehe, die neben dem Idealismus der Wissenschaft zugleich den Idealis­ mus des Krieges behüte, ... und dies ist Deutschlands herr­ lichster Beruf.« So wie Treitschke es sang, so zwitscherten es Tausende vpn Deutsch-, Geschichts-, Turn- und Religions­ lehrern in den Schulen, so paukten es Unteroffiziere den Re­ kruten ein, und so trommelten es die überall im Reich gegrün­ deten Kriegervereine durch die Städte und Dörfer. Höhe­ punkte dieses militaristischen Rausches bildeten alljährlich die Feiern zum Gedenken an den Sieg bei Sedan und andere Schlachten, aber auch Kaisers Geburtstag. Daß es dennoch jahrzehntelang nicht zum Krieg mit Frankreich oder anderen Nachbarn kam, lag nur an der ge­ meinsamen Wachsamkeit Rußlands, Österreichs und Eng­ 371

lands. Diese Mächte waren nicht bereit, ein weiteres Erstar­ ken Preußen-Deutschlands zu dulden, und sie zügelten auch die Rachegelüste der französischen Militärs. Ein Ventil für den in Deutschland herrschenden nationali­ stischen Überdruck und die Angriffslust der Militärs, die üb­ rigens von einigen Rüstungsindustriellen noch mit Hilfe auf­ gekaufter Zeitungen und finanziell unterstützter Vereine kräftig gesteigert wurden, fand sich von etwa 1880 an in Übersee. Hamburger Großkaufleute, vor allem das ÜberseeHandelshaus Woermann, sowie eine Großbank - die später in der Deutschen Bank aufgegangene Disconto-Gesellschaft - streckten zu dieser Zeit bereits Fühler aus, wo und wie sich in unterentwickelten Gebieten Afrikas und Asiens koloniale Ausbeutung betreiben ließe. Afrikaforscher wie Gustav Nachtigal oder auch Karl Peters, wegen seiner Grausamkei­ ten gegenüber den Eingeborenen »Hängepeters« genannt, wurden ausgeschickt. Mit List, Betrug, Alkohol und Gewalt wurden nach und nach eine ganze Reihe von sogenannten Kolonien und »Schutzgebieten« erworben, in denen dann die kaiserliche Reichsregierung die Herrschaft übernahm. Gegen Ende des Jahrhunderts hieß es darüber in einem amtlichen Bericht: »Erst 1884 trat Deutschland durch ausge­ dehnte Erwerbungen in Afrika und Ozeanien entschieden in die Reihen der Kolonialmächte ein, so daß sein Kolonialbe­ sitz der Ausdehnung nach unter den zehn in Frage kommen­ den Staaten heute die dritte Stelle (nach England und Frank­ reich) einnimmt. Derselbe umfaßt 2,597 Millionen Quadrat­ kilometer« - das war ziemlich genau fünfmal die Fläche des Deutschen Reiches - »mit 11,864 Millionen Einwohnern ... Gegenwärtig setzen sich die deutschen Schutzgebiete aus fol­ genden Teilen zusammen:

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km2

Bewohner »

Auf 1 km2

87200 493600 830960 941100

2000000 3500000 200000 6164000

23 7 0,2 6

181650

110000

0,6

57100 ' 1450 626 405 2588

250000 39000 1938 15000 32815

4 27 3 4 12

501

84000

168

2597180

12396753

4

1

In Afrika Togo Kamerun Deutsch-Südwestafrika Deutsch-Ostafrika

In Ozeanien Kaiser-Wilhelms-Land Bismarck-Archipel und Salomoninseln Karolinen • Marianen Marshall-Inseln Samoa In Asien Pachtgebiet von Kiautschou Zusammen



Sämtliche afrikanischen Besitzungen sowie die Marshall­ inseln mit Nawodo stehen unmittelbar unter dem Reich und werden durch dessen Kommissare oder Gouverneure verwal­ tet. Auch trägt das Reich die für Verwaltung, Schutztruppe u.a. durch die Einnahmen nicht gedeckten Kosten.« Tatsächlich mußten diese Kolonien zu Lasten der Steuer­ zahler mit sehr erheblichen jährlichen Zuschüssen bedacht werden; ungeheuere Gewinne daraus zogen hingegen einige wenige großbürgerliche Geschäftsleute und Reeder sowie 373

eine Reihe von Hocharistokraten, die - als Aktionäre von Handels- und Plantagengesellschaften - ein neues, lohnendes Feld zur Wiederanwendung feudalherrlicher Unterdrükkungs-, Folter- und Fronmethoden fanden*. Es gab indessen noch andere, innenpolitische Gründe für den plötzlich erwachenden Kolonialeifer der Großbürger, Junker und Hocharistokraten. Sie kamen in einem Brief zum Ausdruck, den der Präsident des Deutschen Kolonialvereins, Fürst Hermann zu Hohenlohe-Langenburg, am 29. Septem­ ber 1882 an den saarländischen Rüstungsindustriellen Karl Ferdinand Stumm schrieb: »Nach meiner Überzeugung wäre eine entsprechende Kolonisation der beste Ableiter für die so­ zialdemokratische Gefahr, die uns bedroht.« Was er damit meinte, hat der SPD-Reichstagsabgeordnete Wilhelm Liebknecht drei Jahre später im Parlament sehr viel deutlicher ausgesprochen, als er erklärte, indem die herr­ schenden Klassen »vor die Augen des Volkes eine Art Fata Morgana auf dem Sande und auf den Sümpfen Afrikas« zau­ bern, wollen sie die soziale Frage einfach exportieren und die Arbeiterschaft vom Klassenkampf ablenken. Die letzten beiden Zitate werfen die Frage auf, ob es denn im neuen, von Militär, Gendarmerie und Polizei beherrschten Reich tatsächlich eine »soziale Frage« und eine »sozialdemo­ kratische Gefahr« gab. Eine soziale Frage gab es in der Tat, und sie verschärfte sich in den Jahren nach 1871 ständig dadurch, daß immer neue Massen von Landarbeitern und Kleinbauern in die Großstäd­ te und Industriegebiete abwanderten. Die dadurch auf den Rittergütern fehlenden Arbeitskräfte wurden durch Erntear* Vgl. hierzu: Bernt Engelmann, Das Reich zerfiel, die Reichen blieben, Hamburg, 1972, Seiten 270 ff., vor allem aber Gert v. Paczensky, Die Wei­ ßen kommen, Hamburg, 1970, das einzige in der Bundesrepublik erschiene­ ne Werk, das die Ausbeutungsmethoden in den ehemaligen deutschen Kolo­ nien vollständig und schonungslos enthüllt.

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beiter aus Russisch-Polen, die für niedrigste Löhne zu arbei­ ten bereit waren, schnell ersetzt. Und das dadurch sinkende Lohnniveau in der Landwirtschaft verstärkte die Abwanderung der Eingesessenen in die Städte, wo sie nun ihrerseits die Löhne drückten und wo, wegen des sprunghaft ansteigenden Bedarfs an großstädtischem Wohnraum, die Mietpreise em­ porschnellten. Die Folge war eine Wohnungsnot größten Ausmaßes, besonders in Berlin, wo zwei Drittel der Einwoh­ nerschaft, mehr als 600000 Menschen, in »Wohnungen« mit höchstens zwei beheizbaren Zimmern lebten. Weitere 162000 Berliner hausten in sogenannten »Wohnküchen nebst Schlafstube«, und zwar im Durchschnitt zu sieben Personen je Kleinstwohnung. Weitere 90000 waren »Schlafburschen« oder »Schlafmädchen« einer Arbeiterfamilie, das heißt, sie hatten den Schlafplatz eines Berufstätigen während dessen Arbeitszeit gemietet. In manchen Hauskomplexen am Berli­ ner Wedding hausten mehr als tausend Personen, in der Mehrzahl zusammengepfercht in fünfstöckigen »Mietskaser­ nen« mit vollständig umbauten, lüft- und lichtlosen Hinter­ höfen und unbeschreiblichen sanitären Verhältnissen. Auf den sogenannten Schlächterwiesen vor dem Cottbuser Tor, auf dem Rixdorfer Feld sowie vor dem Frankfurter und dem Landsberger Tor entstanden Obdachlosen-Siedlungen von Familien, die, weil sie die steil angestiegenen Mieten nicht mehr hatten aufbringen können, von den Hausherren auf die Straße gesetzt worden waren. Diese Elendsquartiere, nach den Worten des Direktors des preußischen Statistischen Büros »eine bunte Reihe der jammervollsten Hütten aus den wertlosesten Ausschußbrettern und Abbruchsgegenständen zusammengenagelt«, beherbergten zeitweise mehr als 200 000 Menschen. Jedesmal, wenn die Mieten erhöht und Familien aus ihren Wohnungen hinausgeworfen wurden, kam es zu Tumulten, bei denen die Polizei nur mit Mühe »Herr der Lage« werden konnte. Als Anfang 1873 mitten im Winter einige der »ord-

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nungswidrig« errichteten Obdachlosenbaracken auf polizei­ lichen Befehl niedergerissen werden mußten, leisteten die Be­ wohner »Widerstand gegen die Staatsgewalt«; siebenund­ dreißig von ihnen wurden deshalb vor Gericht gestellt und zu insgesamt 47 Jahren Zuchthaus verurteilt. »Wir dürfen feier­ lich und offiziell erklären«, so erläuterte der Gerichtspräsi­ dent nach der Verhandlung dieses - wie er fand - sehr milde Urteil, »daß die sozialistische Partei ihre Hand bei dem Kra­ wall nicht im Spiele hatte. Aber bedenken Sie, was daraus hät­ te entstehen können, wenn zufälligerweise zu jener Zeit ein größerer Streik ausgebrochen wäre oder wenn einige soziali­ stische Führer sich der Sache bemächtigt hätten ...« Streiks kamen in den - von den traditionellen Geschichts­ büchern als eine friedliche und glückliche Zeit gepriesenen, angeblich »goldenen« - Jahren der Bismarck-Diktatur außer­ ordentlich häufig vor, obwohl die Polizei, manchmal auch das Militär, gegen Organisatoren und Streikposten mit äußer­ ster Brutalität vorging. Als beispielsweise im Juni 1871 die etwa dreitausend Bergleute der staatlichen Zechen in Königs­ hütte die Arbeit niederlegten und, als man ihre Anführer ver­ haftete, diese aus dem Gefängnis befreiten, wurde ein gerade aus dem Krieg heimgekehrtes Bataillon gegen sie eingesetzt. Es hauste »wie in Feindesland«; auf Seiten der Arbeiterschaft gab es sieben Tote und zwanzig Schwerverwundete. Gegen 117 Arbeiter wurde sodann ein Strafverfahren durchgeführt, das mit der Verurteilung von fünfundneunzig Angeklagten zu Zuchthausstrafen von zusammen mehr als tausend Jahren endete. Im Sommer 1872 brach ein Streik im Essener und Ober­ hausen-Mülheimer Steinkohlenrevier aus, an dem sich rund zwanzigtausend Bergleute beteiligten. Dieser Ausstand dau­ erte sechs Wochen, brachte den Arbeitern aber keinen Erfolg. Ein starkes Aufgebot an Gendarmerie erstickte schließlich die durch Mangel an Unterstützungsgeldern schon sehr ge­ schwächte Streikbewegung.

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Diese und sehr zahlreiche weitere Arbeitskämpfe der sieb­ ziger und achtziger Jahre führten immer größere Scharen von Lohnarbeitern zu der Erkenntnis', daß sie ihr Los nur mit Hil­ fe starker Gewerkschaften zu bessern imstande sein würden, und die Anzahl der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter nahm kräftig zu. Auch die Politisierung des Industrieproleta­ riats machte große Fortschritte; immer mehr erkannten, daß die Spaltung der Arbeiterbewegung in eine Partei der Anhän­ ger Lassallescher Ideen, den ADAV, und die Sozialdemokra­ tische Arbeiterpartei marxistischer Prägung unter Führung von Bebel und Liebknecht die Kampf- und Schlagkraft gegen das Ausbeutertum und den Militarismus sehr verminderte. So kam es während eines Massenstreiks der Chemnitzer Metall­ arbeiter im April 1871, bei dem mehr als 18000 Arbeiter für die Einführung der Sechzigstundenwoche demonstrierten, zu einem Anschluß aller ADAV-Anhänger an die Sozialde­ mokratische Partei. Der Erfolg dieses Zusammenschlusses war, daß die Unternehmerschaft nachgab und die wöchentli­ che Arbeitszeit in den Maschinenbau-Fabriken von 72 auf 62 Stunden herabsetzte. In den folgenden Jahren gab es auch an­ derwärts solche Zusammenschlüsse oder Kampfbündnisse, und nachdem bei den Reichstagswahlen vom Januar 1874 der ADAV 180000 Stimmen und drei Abgeordnetenmandate, die Sozialdemokratische Arbeiterpartei mit nur 171000 Stimmen sogar sechs Sitze hatte erringen können, begannen die Füh­ rungen beidter Parteien, die Verschmelzung zu einer großen Organisation ins Auge zu fassen. Beschleunigt wurde dieser Prozeß durch die Stimmung in der Mitgliederschaft, zumal der des ADAV, aber auch durch eine Verfolgungswelle, die schon vor den Wahlen begonnen hatte und den ADAV weit härter traf als die an Polizeischikanen, Haussuchungen, Raz­ zien, Verbote und Verhaftungen gewöhnten und darauf ein­ gestellten Sozialdemokraten um Bebel und Liebknecht. In den ersten sieben Monaten des Jahres 1874 wurden allein in Preußen 87 führende ADAV-Mitglieder zu insgesamt

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212 Monaten Gefängnis verurteilt; die Berliner ADAV-Zentrale wurde polizeilich geschlpssen. Unter dem Eindruck dieser Verfolgungen gab die ADAVFührung ihre bis dahin gezeigte Ablehnung eines Zusammen­ gehens mit den Linken auf. Im Mai 1875, nach langen und in Anbetracht der heftigen Verfolgung durch Polizei und Staats­ anwaltschaften sehr schwierigen Vorverhandlungen, kamen die Delegierten beider Gruppen in Gotha zusammen und be­ schlossen dort einstimmig die Verschmelzung ihrer Organi­ sationen zur Sozialistischen Arbeiter-Partei Deutschlands (SAPD). Das sogenannte Gothaer Programm, auf das man sich ei­ nigte, war ein - von Marx und Engels in seinen Schwächen so­ fort erkannter und kritisierter - Kompromiß. Die Linken um Bebel und Liebknecht hatten den Anhängern Lassalles aller­ lei theoretische Zugeständnisse gemacht, von deren Unhalt­ barkeit sie selbst überzeugt waren. Aber in weit stärkerem Maße nachgegeben hatten die Rechten, denn das Gothaer Programm proklamierte - im Gegensatz zu den Lehren Las­ salles- den gemeinsamen internationalen Kampf des Proleta­ riats und die Befreiung der Arbeiterklasse durch Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln. Es forderte ferner allgemeines, gleiches, geheimes und unmittelbares Wahl- und Stimmrecht, die volle politische Gleichberechti­ gung der Frau, den Ersatz des stehenden Heeres durch Volks­ wehren mit selbstgewählten Offizieren sowie den gesetzli­ chen Schutz der Lohnarbeiterschaft gegen Ausbeutung und unmenschliche Arbeitsbedingungen. Zur Gewerkschaftsfrage hieß es im Gothaer Programm so­ gar, »daß die Organisation der Gewerkschaften, solange die Lohnarbeit besteht, notwendig ist und die Sache der Arbeiter fördert, soweit es unter den wirtschaftlichen Verhältnissen der heutigen Gesellschaft möglich ist«. Damit war eine von Marx und Engels heftig bekämpfte Hauptthese Lassalles, der ein »ehernes Lohngesetz« und die Unnötigkeit gewerkschaft378

liehen Kampfes behauptet hatte, zur allgemeinen Erleichte­ rung aus dem Programm verbannt. < Ebenfalls beseitigt wurde die von Lassalle eingeführte, fast diktatorische »Leitung von oben«; statt dessen einigte man sich auf eine straffe, zentral gelenkte Parteiorganisation, bei der die Meinungsbildung und die Kontrolle der gewählten Führung auf demokratische Weise von unten nach oben vor sich gehen sollte. Die neue Partei, die zur Zeit des Gothaer Kongresses knapp 34000 Mitglieder zählte und deren Anzahl bis zum Jahresende 1875 auf etwa 38000 steigern konnte, errang bei den Reichstagswahlen vom Januar 1877 einen überraschen­ den Erfolg: Mit rund einer halben Million Stimmen - das wa­ ren fast zehn Prozent - wurde'die Sozialistische Arbeiter-Par­ tei die viertstärkste politische Gruppe im Reich. War August Bebel noch der einzige sozialdemokratische Abgeordnete des Reichstags von 1871 gewesen, so gab es nun zwölf Sozialis-ten im Parlament - das war einerseits ein be­ achtlicher Fortschritt, anderseits bitter wenig. Denn mit fast derselben Anzahl von Wählerstimmen hatten die anderen großen Parteien- insbesondere die Konservativen, die Natio­ nalliberalen und das katholische Zentrum - durchweg dreibis viermal so viele Kandidaten in den Reichstag bringen kön­ nen! Die ungerechte Verteilung der Mandate lag an der für Parteien, die sich auf das Industrieproletariat stützten, äu­ ßerst ungünstigen Wahlkreiseinteilung sowie am Wahlsy­ stem, und in den folgenden Jahrzehnten sollte sich dies in noch weit stärkerem Maße zum Nachteil der Linken auswir­ ken. Indessen waren auch schon diese zwölf Sozialisten im Reichstag für Bismarck mehr als ein bloßes Ärgernis. Im Bunde mit Großindustriellen, Stahlwerks- und Zechenbesit­ zern, schlesischen Magnaten, ostelbischen Junkern und süd­ deutschen Hocharistokraten bereitete der Kanzler nämlich gerade eine Schutzzollpolitik vor, die bei den Liberalen, vor 379

allem im mittelständischen Bürgertum, auf ebenso heftigen Widerstand stoßen mußte wie bei der Arbeiterschaft. Zwölf sozialistische Abgeordnete im Reichstag bedeuteten bei die­ ser Lage nicht nur eine zahlenmäßige Verstärkung der Oppo­ sition, sondern - da es sich um die härtesten Kritiker und ent­ schiedensten Gegner der Bismarck-Diktatur handelte - deren dem Kanzler höchst unerwünschte Verschärfung und Aus­ weitung. Unter diesen Umständen kam es Bismarck sehr gelegen, daß im Frühjahr 1878 zwei Attentate auf Kaiser Wilhelm ver­ übt wurden. Am 11. Mai gab ein Klempnergeselle in Berlin zwei Revolverschüsse auf den Kaiser ab, von denen keiner traf; der Attentäter wurde sofort ergriffen und wenig später zum Tode verurteilt und hingerichtet. Das von Bismarck zehn Tage nach diesem Anschlag im Reichstag eingebrachte »Ausnahmegesetz zur Bekämpfung sozialistischer Umtrie­ be« wurde indessen von der liberalen Mehrheit abgelehnt weniger den von noch stärkerer Verfolgung bedrohten So­ zialdemokraten zuliebe als Bismarck zum Trotz und aus be­ gründeter Sorge, daß die Liberalen die nächsten Opfer sein könnten. Übrigens, der jugendliche Attentäter war nur für kurze Zeit Mitglied der SAPD in Sachsen gewesen und aus der Partei wegen Disziplin- und »sittlicher Haltlosigkeit« ausgeschlossen worden. Nur eine Woche nach dem vorläufigen Scheitern der von Bismarck geplanten Ausnahmegesetze, am 2. Juni 1878, ver­ übte ein Dr. Karl Nobiling, angeblicher Sozialist, wenngleich niemals Mitglied einer Partei, ebenfalls einen Mordanschlag auf Kaiser Wilhelm, schoß eine Schrotladung auf den in offe­ ner Kutsche vorüberfahrenden einstigen »Kartätschenprin­ zen«, verletzte ihn nicht sonderlich schwer und beging nach dieser Tat Selbstmord. Als Bismarck von diesem zweiten At­ tentat erfuhr, rief er mit mühsam unterdrückter Freude aus: »Jetzt lösen wir den Reichstag auf!« Erst dann erkundigte er sich nach dem Befinden des Kaisers.

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Der Reichstag wurde tatsächlich wenige Tage später aufge­ löst, und dann begann ein Wahlkampf, der ganz im Zeichen übelster Stimmungsmache ge^en »die Kaisprmörder und ihre liberalen Helfershelfer« stand. Bis dahin nie gekannte finan­ zielle Unterstützung wurde allen Kandidaten der »Ord­ nungs-Parteien« zuteil, und in den Industrierevieren drohten die Unternehmer, jeden auf der Stelle zu entlassen, der die So­ zialisten zu unterstützen wage. Das Wahlergebnis fiel indessen nicht ganz so aus, wie es sich Bismarck und seine politischen Freunde erhofft hatten: Die Sozialisten verloren rund 50000 (oder 11 Prozent) ihrer Wähler und büßten drei ihrer bisher zwölf Mandate ein; auch die Liberalen aller Richtungen hatten erhebliche Stimmenund noch größere Mandatsvefluste. Die Konservativen ver­ buchten beachtliche, aber die Mehrheitsverhältnisse nicht entscheidend verändernde Gewinne; stärkste Parteien im Reichstag blieben das katholische Zentrum mit unverändert 93 Mandaten und die Nationalliberalen, deren Fraktionsstär­ ke von 128 auf 98 Abgeordnete zurückgegangen war. Dennoch gelang es Bismarck nun, das »Sozialistengesetz« durchzubringen; es wurde am 19. Oktober 1878 vom Reichs­ tag verabschiedet und trat bereits drei Tage später durch Ver­ kündung im Reichsgesetzblatt in Kraft. Paragraph 1 des »Ge­ setzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozial­ demokratie« bestimmte: »Vereine,! welche durch sozialdemokratische, sozialisti­ sche oder kommunistische Bestrebungen den Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung bezwecken, sind zu verbieten. Dasselbe gilt von Vereinen, in welchen so­ zialdemokratische, sozialistische oder kommunistische auf den Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsord­ nung gerichtete Bestrebungen in einer den öffentlichen Frie­ den, insbesondere die Eintracht der Bevölkerungsklassen ge­ fährdenden Weise zu Tage treten. Den Vereinen stehen gleich Verbindungen jeder Art.« 381

Mit dem letzten Satz wurde den Behörden die Möglichkeit gegeben, auch alle Gewerkschaftsorganisationen aufzulösen und ihre Kassen, soweit sie nicht vorher in Sicherheit ge­ bracht worden waren, zu beschlagnahmen. Das sollte vor al­ lem die Arbeiter an Streiks hindern, denn ohne Unterstüt­ zung aus den Streikkassen waren längere Arbeitskämpfe kaum durchzuführen. Zugleich mit dem Verbot und der Auflösung aller Parteiund Gewerkschaftsorganisationen, einem allgemeinen Ver­ bot von Versammlungen, in denen sozialistische Gedanken Verbreitung finden sollten, sowie von Druckschriften aller Art, wenn sie nach Meinung der Behörden Sympathien für den Sozialismus erkennen ließen, wurde in allen »gefährde­ ten« Bezirken der sogenannte »kleine Belagerungszustand« verhängt. Das gab der örtlichen Polizei das Recht, verdächti­ ge Personen aus dem betreffenden Bezirk auszuweisen. Und schließlich wurden auch die Genossenschaftsdruckereien, die sich die Arbeiter in vielen Städten aus ihren eigenen kleinen Ersparnissen unter großen Opfern geschaffen hatten, samt und sonders geschlossen, die Maschinen und Satzkästen be­ schlagnahmt oder zerstört. Durch alle diese Maßnahmen wurde die deutsche Arbeiter­ bewegung sehr schwer getroffen. Was ihr an Möglichkeiten des offenen Kampfes verblieb, beschränkte sich auf die Arbeit ihrer Abgeordneten im Reichstag sowie in den Stadt-, Kreisund Landesparlamenten. Und auch dort hatten die Soziali­ sten jetzt einen noch schwereren Stand. Für Bismarck aber schufen die »Sozialistengesetze« eine der wichtigsten Voraussetzungen für das von ihm angestrebte Bündnis zwischen den Handel und Industrie beherrschenden bürgerlichen Großkapitalisten und den alten Mächten des Hochadels und des Junkertums. Und schon acht Monate nach dem Schlag gegen die Arbeiterbewegung kam als erste Frucht dieses Bündnisses die Schutzzollgesetzgebung zu­ stande, durch die - wie Friedrich Engels es formulierte - ein

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»großer Raubzug der Junker und Großindustriellen« ermög­ licht wurde. ' Der von der Regierung mit! den Interessengruppen ausge­ handelte und vom Reichstag im Juli 1879 verabschiedete neue Zolltarif bestand im wesentlichen aus einer Reihe von hohen

Segensreiche. Folgen des Schulxxollsysleins.

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Angriff gegen die Anhänger der Schutzzollpolitik (anonyme Lithographie).

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Schutzzöllen auf Eisen, Holz, Getreide und Vieh sowie von Finanzzöllen auf Kaffee, J?ee und andere Genußmittel. Mit den Schutzzöllen sollte die Einfuhr solcher Waren gedrosselt werden, die im Ausland billiger erzeugt wurden als in Deutschland; sie bewirkten, daß die inländischen Erzeugnis­ se von Industrie und Landwirtschaft nun auf dem deutschen Markt erheblich teuerer werden konnten, ohne daß die Pro­ duzenten die ausländische Konkurrenz zu fürchten brauch­ ten; ihre Gewinne stiegen kräftig an, ebenso die Zoll- und Steuereinnahmen des Reichs. Die Finanzzölle bewirkten ebenfalls Mehreinnahmen der Staatskasse und eine Erhöhung der Inlandspreise für impor­ tierte Genußmittel, und sie wurden begleitet von einer star­ ken Erhöhung der indirekten, vor allem die breiten Massen treffenden Steuern für Salz und Zucker. Mit den sehr be­ trächtlichen Mehreinnahmen an Zöllen und Steuern aber schuf sich das Reich, das heißt: die preußische Staatsführung unter Bismarck, die finanziellen Voraussetzungen für eine weitere Aufrüstung. Damit waren nicht nur die Militärs zu­ frieden sowie alle an einer Verstärkung des Unterdrückungs­ apparats interessierten Kreise, sondern auch alle Hersteller von Rüstungsgütern. So brachten die Jahre 1878/79 den in Deutschland herr­ schenden Klassen viele Geschenke, den auf freien Handel ein­ geschworenen liberalen Gegnern der Schutzpolitik eine ver­ nichtende Niederlage und der jungen deutschen Arbeiterbe­ wegung durch die »Sozialistengesetze« eine zunächst völlige Lähmung und weitgehende Zerschlagung ihrer Organisatio­ nen, dazu die Verfemung als »Kaisermörder« und »Vater­ landsfeinde«. Die preußische Militärdiktatur des Kanzlers Bismarck hatte, so schien es, auf der ganzen Linie gesiegt, zu­ dem einen wichtigen außenpolitischen Erfolg errungen: ein Bündnis mit Österreich, durch das Bismarck das europäische Kräfteverhältnis weiter zugunsten Preußen-Deutschlands zu verschieben gedachte.

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Die sozialdemokratische Arbeiterpartei erholte sich indes­ sen weit rascher und besser von dem schweren Schlag, als es die Reaktionäre für möglich gehalten hatten. Nachdem sich die erste Verwirrung gelegt und der besonnene Bebel die Oberhand über alle jene behalten hatte, die entweder zum Verzicht auf alle revolutionären Ziele und zur Unterwerfung bereit gewesen oder umgekehrt für Gewaltaktionen aus dem Untergrund eingetreten waren, nahm die Partei den Kampf gegen die »Sozialistengesetze« in sehr wirksamer Weise auf. Zunächst wurde eine große Unterstützungsaktion für Aus­ gewiesene und Verhaftete eingeleitet, was der Partei wieder Zusammenhalt gab und zugleich einen halb geheimen, illega­ len, halb legalen, unter der Tarnung von Gesangs-, Turn- und Wohltätigkeitsvereinen vor sich gehenden Wiederaufbau ih­ rer zerschlagenen Organisationen ermöglichte. Sodann wurde mit Hilfe der Internationale und unter An­ leitung von Karl Marx und Friedrich Engels ein neues Zen­ tralorgan geschaffen: Bereits Ende September 1879 erschien in Zürich Der Sozialdemokrat, und bald fand man auch Mit­ tel und Wege, diese Wochenzeitung von der Schweiz aus ins Deutsche Reich zu schmuggeln und dort in immer mehr Ex­ emplaren zu verbreiten. Das geheime Vertriebsnetz, von den deutschen Arbeitern voller Stolz »die rote Feldpost« genannt, funktionierte glänzend. Nur sehr selten gelang es der Polizei, einzelne Zeitungspakete abzufangen. Im Laufe der Jahre-die »Sozialistengesetze« blieben bis 1890, also zwölf Jahre lang, in Kraft - steigerte sich die Woche um Woche in ganz Deutschland verbreitete Auflage der verbotenen und verfolg­ ten Zeitung auf über zehntausend Exemplare. Welche Risiken nicht allein »die rote Feldpost«, sondern auch jeder einzelne Leser des Sozialdemokrat einging, läßt sich aus zwei Berichten entnehmen. Der erste betrifft den »Vertrieb« des Blattes: »Das erste Mal«, als die Zeitungspake­ te in einem Ruderboot vom schweizerischen Ufer des Boden­ sees aus auf die badische Seite geschafft und an einer günstigen

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Stelle ausgeladen worden waren, »ging es auch gut ab. Als aber das zweitemal die Ballen schon am Lande lagen, erscholl von links und rechts aus dem Weidengebüsch ein fürchterli­ ches Geschrei. Von beiden Seiten stürmten Grenzjäger her­ vor. Wir erreichten noch die Gondel und ruderten davon. Aber die >Ware< mußten wir zurücklassen. Die Grenzer hat­ ten auch einen Kahn in Bereitschaft. Sie bestiegen ihn und folgten uns nach. Doch erst in der Nähe des Schweizer Ufers holten sie uns ein. Gesetzlich konnten sie uns hier nichts mehr machen ... Wir nahmen die Ruder hoch und erklärten den Herren: >Wenn ihr nicht umkehrt, dann stoßen wir euren Kahn um!< Sie gehorchten, fuhren langsam zurück und woll­ ten nun die >Ware< kapern. Doch, o wehe, es war nichts mehr da. Unsere Posten hatten mittlerweile ... die Ballen gebor­ gen.« Der zweite Bericht - er stammt aus einer katholischen Kir­ chenzeitung des Bistums Trier-handelt von den furchtbaren Folgen, die die bloße Lektüre eines Artikels von Karl Marx im Sozialdemokrat für einen jungen Mann »aus gutem Hause, einzigen Sohn und Ernährer der Stellmacherswitwe S.«, hat­ te: »Baptist S. hatte an der Feier der ersten hl. Kommunion des Patenkindes seiner Mutter in Luxemburg teilgenommen. Bei der Rückfahrt am Sonntagabend wurde ihm von einem, wie er aussagte, »besseren Herrn< ein Paket mit der Bitte über­ reicht, es nach Neunkirchen mitzunehmen; dort würde es die angebliche Nichte des Unbekannten, für die es bestimmt, im Laufe des Montags abholen. Ob nun die Verschnürung des Pakets sich unterwegs lockerte oder ob Baptist S. seine Neu­ gierde nicht zu zügeln vermochte, steht dahin. Jedenfalls ent­ deckte er, daß es sich bei dem Inhalt um verbotene socialistische Schriften handelte.« Anstatt nun das Paket schleunigst bei der Polizei abzuliefern, beging Baptist S., »Handlungsge­ hilfe im Kontor der Stumm’schen Eisenwerke«, die »Sünde und grobe Ungesetzlichkeit«, die »umstürzlerischen Hetz­ schriften« einfach im Abteil liegen zu lassen. Ein Exemplar

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nahm er jedoch mit und wurde dabei ertappt, als er in einer dunklen Ecke eines Gasthauses in Neunkirchen den Leitarti­ kel, verfaßt von dem »sattsam bekannten Revolutionär Dr.Karl Marx« zu lesen begonnen hatte. Er beging nun eine weitere »Sünde«, indem er seinem Entdecker, einem Postbe­ amten, seine ganzen Ersparnisse, 20 Mark, als Schweigegeld bot, dazu weitere 20 Mark, die er sich aber erst noch verschaf­ fen müßte. Der Postbeamte ging zum Schein auf den Handel ein, erstattete aber am nächsten Morgen Anzeige bei der Gen­ darmerie, die »pflichtgemäß« nicht nur die Staatsanwalt­ schaft, sondern auch die Personalabteilung der Stumm’schen Eisenwerke verständigte. Baptist S. wurde fristlos entlassen; sein Lohn für den fast vollendeten Monat wurde einbehalten. Am Werkst'or wurde er verhaftet und kam wegen »Verbrei­ tung staatsgefährdender Schriften, versuchter Beamtenbeste­ chung, Verdachts auf Unterschlagung und Geheimbündelei« ins Saarbrückener Untersuchungsgefängnis. Nachdem ihm bei einem Verhör eröffnet worden war, daß man seine Mutter noch am Tag seiner Verhaftung gezwungen hatte, die Werks­ wohnung sofort zu räumen, erhängte sich Baptist S. in der folgenden Nacht in seiner Zelle und beging so, wie das Kir­ chenblatt mit erkennbarer Genugtuung feststellte, »eine wei­ tere Todsünde«, womit bewiesen war, daß schon die kleinste Infizierung mit dem marxistischen »Gift des Socialismus« nicht nur das irdische Leben, sondern auch das Seelenheil ko­ sten konnt^. Indessen konnten die »Sozialistengesetze« die deutsche Arbeiterbewegung nur vorübergehend hemmen: Bei den Reichstagswahlen von 1884 errangen die Sozialdemokraten mit 550000 für sie abgegebenen Wählerstimmen 24 Mandate, doppelt so viele wie vor Verabschiedung der Ausnahmegeset­ ze. Dieser Erfolg war besonders bemerkenswert, weil die Bismarcksche Militärdiktatur in diesem Wahlkampf nicht nur mit Unterdrückungsmaßnahmen gearbeitet hatte, sondern auch mit Lockungen: Sie erfüllte einige wichtige Forderun-

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■-Bismarck ohne Maske- (Karikatur aus Der wahre Jakob/

gen der Arbeiterschaft wenigstens teilweise mit dem 1883 ver­ abschiedeten Gesetz über die Krankenversicherung, das den Industrie-, nicht indessen den Landarbeitern, im Krankheits­ fall kostenlose Behandlung und eine finanzielle Unterstüt­ zung bescherte. Zwei Drittel der Versicherungsbeiträge muß­ ten die Unternehmer zahlen, ein Drittel die Arbeiter selbst. 388

Im Jahr darauf, 1884, folgte das Gesetz über die Unfallver­ sicherung der Arbeiter. Es sicherte den Opfern von Arbeits­ unfällen von der 13. Krank£nwoche an ejne kleine Unterstüt­ zung, den dauernd arbeitsunfähig Gewordenen eine beschei­ dene Rente. In Aussicht genommen und 1889 auch erfüllt wurde die sozialdemokratische und gewerkschaftliche For­ derung nach einer gesetzlichen Alters- und Invalidenversi­ cherung. Allerdings wurde hierbei die Beitragszahlung je zur Hälfte den Arbeitern und der Unternehmerschaft aufgebür­ det. Das Rentenalter war mit 70 Jahren sehr hoch angesetzt, die Rente dagegen sehr niedrig: Wer während dreißig Jahren regelmäßig Beitrag bezahlt hatte, konnte vom 70. Lebensjahr an eine Rente von mindestens 8,50 Mark, höchstens 15,95 Mark monatlich beziehen, und das war allenfalls eine spürba­ re Beihilfe, keineswegs die Sicherung auch nur des Existenz­ minimums. Gleichzeitig mit diesen ersten Sozialgesetzen, die nach Bis­ marcks eigenem Eingeständnis nie zustande gekommen wä­ ren, wenn es keine Sozialdemokratie gegeben hätte, wurden die »Sozialistengesetze« ständig verlängert und verschärft. Doch die Bismarcksche Politik »mit Zuckerbrot und Peit­ sche« erzielte in der Bekämpfung der Sozialdemokratie nur Scheinerfolge. Zwar verringerten sich die von der Partei bei den Reichstagswahlen des Jahres 1887 errungenen Mandate von 24 auf nur noch elf, aber das war nur die Folge der sich immer nächteiliger für die Sozialisten auswirkenden Wahl­ kreiseinteilung und des ganzen Wahlsystems. Denn bei der für sie an Reichstagssitzen so verlustreichen Wahl konnten die Sozialdemokraten etwa 220000 Stimmen mehr gewinnen als 1884, das entsprach einem Stimmenzuwachs von annä­ hernd vierzig Prozent. Die Jahre 1886/87 standen für die deutsche Arbeiterbewe­ gung ganz im Zeichen des Kampfes gegen den Militarismus. August Bebels Wort, daß man der Bismarck-Diktatur »kei­ nen Mann und keinen Groschen« bewilligen dürfe, wurde im

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Herbst 1886 von neuem aktuell, denn die Regierung verlangte die Verstärkung des Heeres um zehn Prozent, berief 80000 Reservisten zu Übungen in Elsaß-Lothringen ein und malte das Gespenst eines unmittelbar bevorstehenden Krieges an die Wand. In Wirklichkeit sollte die Vermehrung der Trup­ penstärke nur der weiteren Einschüchterung der Massen die­ nen, und das Kriegsgeschrei war nur ein Wahlpropaganda­ trick Bismarcks, mit dem er eine ihm gefügige Reichstags­ mehrheit zustande zu bringen hoffte. »Je mehr ich über die Kriegsgefahren nachdenke, die der Kanzler für gut befindet, jetzt vorzuführen«, vermerkte Graf Waldersee, damals stell­ vertretender Generalstabschef, in seinem Tagebuch, »desto fester wird meine Ansicht, daß alles Komödie ist.« Die außenpolitischen Gefahren, die mit dieser »Komödie« hervorgerufen wurden, nahm Bismarck bewußt in Kauf. Da­ gegen hieß es im Wahlaufruf der Sozialdemokraten: »Protest gegen die Reaktion in der äußeren Politik, das ist die Devise des Wahlkampfes ... Mit dem Militarismus, welcher ein not­ wendiger Auswuchs des herrschenden Staats- und Gesell­ schaftssystems ist, gibt es für die Sozialdemokratie ebenso­ wenig eine Aussöhnung wie mit diesem System selbst.« Natürlich verschaffte sich Bismarck dennoch, was er woll­ te: Noch mit den Stimmen der Mehrheit des alten Reichstags wurde die Verstärkung des Heeres beschlossen, und schon Ende 1887 folgte eine weitere Militärvorlage; damit wurde die Dienstzeit verlängert und die Gesamtstärke der preußischdeutschen Truppen im Fall einer Mobilmachung auf rund 2,7 Millionen Mann erhöht. Die Rüstungsindustrie, zumal die Herren Krupp und Stumm als wichtigste Waffenproduzenten, konnten mit die­ ser Entwicklung sehr zufrieden sein, ebenso die Zechenbesit­ zer, die die Stahlwerke mit Kohle belieferten. Dagegen gärte es bei den Bergarbeitern, besonders denen des Ruhrgebiets, die nicht länger bereit waren, sich für Hungerlöhne in Zehnund Elfstundenschichten zu Tode zu schuften.

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Während im sächsischen Kohlenrevier der sozialdemokra­ tische Einfluß auf die Arbeiterschaft recht stark war, hatte die Partei im Ruhrgebiet erst vef-hältnismäßig wenige Anhänger, denn die Bergleute an der Ruhr waren überwiegend katho­ lisch und von kirchlicher Seite her leicht beeinflußbar. Es war deshalb für die Sozialdemokraten eine Überraschung, als An­ fang 1889 im Raum Bochum ein Bergarbeiterstreik begann, der sich so rasch und gewaltig ausdehnte, daß er zur größten deutschen Streikbewegung des 19. Jahrhunderts wurde. Wenige Wochen zuvor, am zehnten Jahrestag der »Soziali­ stengesetze«, hatten die deutschen Sozialdemokraten dieses Jubiläum auf ihre Weise »gefeiert«, unter anderem dadurch, daß sie über Nacht überall in Deutschland an Türmen, Fa­ brikschornsteinen und sogar auf zahlreichen Gebäuden der Polizei rote Fahnen gehißt hatten; im Ruhrgebiet war es in­ dessen nur ganz vereinzelt zu solchen Bekundungen des Fort­ bestands der Arbeiterbewegung gekommen. Um so erstaun­ licher war esrals nun an der Ruhr der Bergarbeiterstreik be­ gann, daß sich die wenig organisierten Kumpel außerordent­ lich mutig und diszipliniert verhielten. Der sofortige Einsatz preußischer Truppen, bei dem es in Bochum und Bottrop auf Seiten der Arbeiter sechs Tote und zehn Schwerverwundete gab, bewirkte nur, daß sich die Streikbewegung nun auf das ganze Revier ausdehnte. Die Sozialdemokratie unter Führung August Bebels orga­ nisierte sogleich eine umfangreiche Unterstützungsaktion für die Streikenden und ihre Familien. Überall in Deutschland, aber auch im Ausland, sogar in Nordamerika, wurden Geld und Lebensmittel gesammelt. Um dem Streik ihrer Kollegen an der Ruhr größeren Nachdruck zu verleihen, legten auch die schlesischen, sächsischen und saarländischen Bergleute die Arbeit nieder. Anfang Mai standen rund hundertfünfzig­ tausend Bergarbeiter im Streik, davon fast neunzigtausend an der Ruhr. Der Ausstand dauerte bis zum 6. Juni 1889. Gleichzeitig streikten auch rund 20000 Berliner Maurer. 391

Die Ergebnisse des großen Bergarbeiterstreiks waren, soweit sie die Erfüllung der Forderungen nach Lohnerhö­ hung und Arbeitszeitverkürzung betrafen, sehr mager. Dage­ gen waren die politischen Auswirkungen des Streiks außeror­ dentlich groß. Die Ruhrkumpel waren endlich erwacht und sich ihrer Stärke bewußt geworden; gerade diejenigen, die wie Friedrich Engels schrieb - »bis jetzt gute Untertanen, pa­ triotisch, gehorsam und religiös«, auch »die besten Soldaten für die Infanterie des 7. Armeekorps« gewesen waren, wur­ den durch das Streikerlebnis und die Beweise nationaler wie internationaler Solidarität zu klassenbewußten Gewerkschaf­ tern und Sozialdemokraten. Umgekehrt erlitt Bismarck durch den großen Bergarbeiter­ streik des Frühjahrs 1889 eine entscheidende innenpolitische Niederlage, die nicht wenig zu seinem Sturz beigetragen ha­ ben dürfte. Dazu kam, daß der Reichstag, dem Ende Oktober 1889 ein leicht veränderter Entwurf des »Sozialistengesetzes« von Bismarck vorgelegt worden war, diesen verwarf und das Ausnahmegesetz nicht mehr verlängerte; den einen war es zu rigoros, den anderen nicht brutal genug gewesen - jedenfalls behielt dieses schärfste Kampfinstrument gegen die Sozialde­ mokratie nur noch Gültigkeit bis Ende 1890. Und schließlich brachten die Reichstagswahlen vom 20. Februar 1890 dem Fürsten Bismarck eine dritte, geradezu vernichtende Nieder­ lage: Die ihn bislang unterstützenden Parteien verloren die Mehrheit, die Sozialdemokraten errangen nahezu 1,5 Millio­ nen Stimmen und damit immerhin 35 Reichstagssitze (woge­ gen das katholische Zentrum mit 1,3 Millionen Wählerstim­ men 106 Mandate erhielt, die Konservativen mit 1 Million Stimmen 73 Mandate). Disziplin, Geschlossenheit und revo­ lutionärer Kampfgeist hatten die verfemte Arbeiterpartei zur politischen Gruppe mit den meisten Wählern werden lassen. Genau einen Monat nach diesem triumphalen Wahlerfolg der von ihm zwanzig Jahre lang verfolgten Sozialdemokraten endete Bismarcks Kanzlerschaft. Er wurde vom Kaiser ent392

lassen, nicht mehr von Wilhelm I., dem einstigen »Kartät­ schenprinzen«, der oft geseufzt hatte, es sei schwer, »unter einem Kanzler« wie dem seinen zu regieren, und der 1888 fast dreiundneunzigjährig gestorben war, sondern von dessen

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Karikatur aus dem Kladderadatsch.

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Enkel, dem 29 Jahre alten Wilhelm II. (Dessen Vater, der schwerkranke Friedrich III. von Preußen, war nur für 99 Tage, vom 9. März bis zum 15. Juni 1888, Deutscher Kaiser.) Der dreiundsiebzigjährige Bismarck, der fast drei Jahr­ zehnte lang die Geschicke Preußens und des von Preußen be­ herrschten Reichs allein und diktatorisch gelenkt, drei Kriege geführt und Preußen-Deutschland zur stärksten Militär­ macht und zum Hort der Reaktion in Mitteleuropa gemacht hatte, brauchte nach seiner Entlassung nicht zu fürchten, mit 15,95 Mark Altersrente auskommen zu müssen; er, der als hochverschuldeter Krautjunker seine Karriere begonnen hat­ te, war nun einer der reichsten Männer in Deutschland. (Al­ lein seine Besitzung Friedrichsruh bei Hamburg nebst dem Sachsenwald, ein Beutestück aus dem deutsch-dänischen Krieg von 1864, das ersieh von Wilhelm I. hatte schenken las­ sen, macht den Enkel des »Eisernen Kanzlers«, den langjähri­ gen CDU-Bundestagsabgeordneten Otto 3. Fürsten von Bismarck, noch heute zum DM-Multimilliardär!) Bismarck brauchte auch keine Angst davor zu haben, nun etwa - wie der vom Kirchenblatt des Bistums Trier beschrie­ bene »Sünder« Baptist S. - wegen Unterschlagung, Beste­ chung und anderer Delikte, deren er sich während seiner Amtszeit schuldig gemacht hatte, angeklagt und in Untersu­ chungshaft genommen zu werden. Dabei gab es schwere Ver­ dachtsgründe mehr als genug: Der Reichskanzler, der ja zu­ gleich preußischer Ministerpräsident gewesen war, hatte sich beispielsweise bei der Gründung der Preußischen Centralbodencreditbank mit einer sehr beträchtlichen, ihm von seinem Privatbankier geborgten Summe beteiligt, dann kraft seiner Autorität dieser neuen Bank so immense, zum Teil sogar ge­ setzwidrige Vorteile verschafft, daß ihre Aktien im Kurs steil anstiegen, wodurch der Kanzler-Aktionär etliche hundert­ tausend Goldmark Gewinn erzielen konnte. Er hatte viele Jahre lang das preußische Finanzamt um alle fälligen Steuern betrogen, sanfte Mahnungen unbeachtet gelassen, dafür aber

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einem seiner Pächter, einem Papierfabrikanten, gewaltige Staatsaufträge zugeschanzt, wobei dessen große Gewinne mittelbar auch Bismarck zugüte gekommen waren, denn die­ ser hatte die Pacht entsprechend erhöht. Schließlich, um ein letztes von vielen möglichen Beispielen zu nennen, eins, das auch den größten Verehrern des »Eiser­ nen Kanzlers« Schwierigkeiten bei der Erfindung von Ent­ schuldigungsgründen bereitet hat, nahm Bismarck bei seiner Entlassung im März 1890 einen Betrag von 231000 Gold­ mark, die ihm als Reichskanzler aus dem »Weifenfonds« für das einige Tage später ablaufende Haushaltsjahr noch zur Verfügung gestanden hatten, kurzerhand ins Privatleben mit. Während jeder Geldbriefträger, in dessen Kasse man bei einer überraschenden Kontrolle einen Fehlbetrag von wenigen Mark feststellte, dafür nicht nur haftbar gemacht worden wäre, sondern mit Disziplinär- und Strafverfahren, schimpf­ licher Entlassung und Aberkennung der Pensionsan­ sprüche zu redinen gehabt hätte, geschah dem Exkanzler gar nichts. Ja man wagte nicht mal, ihn um Auskunft darüber zu bitten, was er mit dem in der Staatskasse fehlenden Betrag, der etwa dem Jahreseinkommen von zwölfhundert Alters­ rentnern aus dem Arbeiterstand entsprach, angefangen hätte. Dazu waren die preußischen Beamten viel zu respektvoll und unterwürfig, die Machthaber zu sehr geneigt, bei einem der Ihren nahezu alles zu verzeihen. Die Bürger im Deutschen Reich, die fast drei Jahrzehnte lang die Tyrannei des »Eisernen Kanzlers« ertragen und so manche Mißachtung ihrer mühsam erkämpften Rechte hin­ zunehmen hatten, auch die »Muß-Preußen« im Rheinland oder Hannover, die im sogenannten »Kulturkampf« zu Be­ ginn der Bismarck-Ära schikanierten und verfolgten Katholi­ ken und sogar die um ihre Ideale betrogenen Altliberalen wie Konservativen Süddeutschlands — sie alle wurden nun, da »der Alte vom Sachsenwald« entlassen worden war, in über­ wältigender Mehrheit zu glühenden Verehrern dieses Ver395

ächters von Parlament, Demokratie und bürgerlicher Frei­ heit. i Als brave Untertanen errichteten sie ihm überall in den Städten des Reiches pompöse Denkmäler, darunter so gigan­ tische wie das steinerne Standbild am Hamburger Elbufer. Noch heute gibt es kaum eine größere Ortschaft in der Bun­ desrepublik, wo nicht eine Hauptstraße oder Allee, ein Platz oder eine Anlage dem Mann zu Ehren so benannt ist und bleibt, von dem Theodor Fontane, ursprünglich einer seiner größten Bewunderer, einmal gesagt hat: »Eines war ihm ver­ sagt geblieben: Edelmut. Das Gegenteil davon, das zuletzt die Form kleinlichster Gehässigkeit annahm, zieht sich durch sein ganzes Leben.« Vielleicht kannte Fontane nicht mal das ganze Ausmaß Bismarckscher Gehässigkeit, auch schon in den »besten Jahren« des Kanzlers: Zu Beginn der Sozialisten­ verfolgung, 1878, wurde ein Sägewerksarbeiter der Bismarckschen Gutsverwaltung in Friedrichsruh, der im Ver­ dacht stand, Sozialdemokrat zu sein, wohl um dem hohen Chef Diensteifer zu beweisen, von den preußischen Behör­ den aus der Gemeinde ausgewiesen. Der Mann konnte ander­ wärts keine Arbeit mehr finden, geriet in Not und machte nun seinen gesetzlichen Anspruch auf Armenunterstützung geltend. Für deren Auszahlung war seine Heimatbehörde, die Bismarcksche Gutsverwaltung, zuständig. Der millio­ nenschwere Gutsherr und allmächtige Reichskanzler dachte aber nicht daran, seinen gesetzlichen und moralischen Pflich­ ten nachzukommen. Obwohl es sich nur um winzige Beträge handelte, untersagte er jede Zahlung und ließ sich eine bereits überwiesene Rate - weniger als acht Mark - zurückerstatten. Dennoch - als im Jahre 1950 die Bürger der Bundesrepu­ blik von Meinungsforschern gefragt wurden: »Welcher große Deutsche hat nach Ihrer Ansicht am meisten für Deutschland getan?«, da errang ohne ernsthafte Konkurrenz den ersten Platz: Fürst Otto von Bismarck. Für ihn entschieden sich 41 Prozent der Befragten, darunter viele Sozialdemokraten.

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13. ... herrlichen Zeiten »per Blutbad« - entgegen

»Rekruten Meiner Garde! Ihr habt jetzt vor dem geweihten Diener Gottes und angesichts dieses Altars Mir Treue ge­ schworen. Ihr seid noch zu jung, um die wahre Bedeutung des eben Gesprochenen zu verstehen; aber befleißigt euch zu­ nächst, daß ihr die gegebenen Vorschriften und Lehren im­ mer befolgt. Ihr habt Mir Treue geschworen, das - Kinder Meiner Garde - heißt, ihr seid jetzt Meine Soldaten, ihr habt euch Mir mit Leib und Seele ergeben. Es gibt für euch nur ei­ nen Feind, und der ist Mein Feind. Bei den jetzigen sozialisti­ schen Umtrieben kann es vorkommen, daß Ich euch befehle, eure eigenen Verwandten, Brüder, ja Eltern niederzuschie­ ßen - was ja Ijott verhüten möge -, aber dann müßt ihr Meine Befehle ohne Murren befolgen!« Dieser Auszug aus einer Ansprache Wilhelms II. anläßlich einer Rekrutenvereidigung der Potsdamer Garderegimenter am 23. November 1891 fand im ganzen Deutschen Reich viel Beachtung. Den einen, den Offizieren, Rittergutsbesitzern, Landräten, Staatsanwälten, Richtern, Polizeipräsidenten, Zuchthausdirektoren, Bischöfen, Rüstungsfabrikanten, Korpsstudenten und Bergassessoren nebst Familien, waren die »schneidigen« Worte Seiner Majestät aus dem Herzen ge-

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sprochen. Es galt, so fanden sie, »dem Pack« — so nannten sie die Masse des deutschen Volkes — zu zeigen, daß es zu »parie­ ren« hätte, ihm wieder Ehrfurcht einzuflößen vor Thron und Altar und es mit eiserner Faust niederzuhalten. Den anderen, den »aufgeklärten«, wohlhabenden und ge­ bildeten Bürgern mit gemäßigt liberalen Ansichten, jagten die Kaiserworte Schauer über den Rücken, doch nicht des Ab­ scheus, sondern des Respekts. Und selbst da, wo aus sehr freisinnigem Munde ein Wort des Unmuts gemurmelt wurde ob soviel Selbstherrlichkeit, Demokratieverachtung und un­ verhüllter Brutalität, da mischten sich in die Gefühle ge­ kränkten Bürgerstolzes auch die der eigenen Ohnmacht, der leisen Angst, nicht vor den Bajonetten der kaiserlichen Gar­ den, sondern vor ihrer möglichen Unzulänglichkeit im Falle einer Explosion des Volkszorns, und sogar ein wenig Hoff­ nung, das Militär möge sich im Falle einer Revolution stärker erweisen als »die Straße«. Angst vor seinem Volk und Vertrauen nur zur Gewalt der Waffen seiner Garden hatte zweifellos auch Wilhelm II., der den Deutschen bei seinem Regierungsantritt versprochen hatte, sie »herrlichen Zeiten« entgegenzuführen. Und er gab dies in seinen Reden immer wieder, wenngleich durch Ange­ berei und wüste Drohungen verdeckt, zu erkennen, etwa wenn er- wie bei der Einweihung der mit Schießscharten ver­ sehenen neuen Berliner Kaserne des Kaiser-Alexander-Garde-Grenadierregiments am 28. März 1901 - den Soldaten zu­ rief: »Alexandriner!... Wie eine feste Burg ragt eure neue Ka­ serne in der nächsten Nähe Meines Schlosses auf, das ihr in er­ ster Linie zu schützen stets bereit sein werdet. Ihr seid beru­ fen, gewissermaßen als Leibwache, Tag und Nacht bereit zu sein, um für den König und sein Haus, wenn’s gilt, Leben und Blut in die Schanze zu schlagen ... Und wenn es jemals wieder dieser Stadt Berlin einfallen sollte, sich wie damals, im Jahre 1848, gegen ihren Herrscherin frecher Unbotmäßigkeit zu erheben, dann seid ihr, Meine Grenadiere, dazu berufen, 398

t een f ffbötrr)

Karikatur aus dem Simplicissimus (1899). „Jotjann, örrfudj mai bad Baffer, ab ed her (Saut Hufen hnn."

die Ungehörigkeit des Volks gegen seinen Königmit der Waf­ fe in der Hand zurückzuweisen und mit der Spitze eurer Bajonette die Frechen und Unbotmäßigen zu Paaren zu treiben ...« Das waren die Töne, die Wilhelm II. liebte, der Mann, der seit 1888 an der Spitze jenes Reiches stand, das sich die Deut­ schen angeblich erträumt hatten. Aber war dieses Deutsche Reich tatsächlich die Erfüllung des deutschen Traums von 1815 und 1848/49? Vereinte es alle Deutschen? Hatte es ihnen die Freiheit und die Menschenwürde gebracht? War die Kleinstaaterei beseitigt und die Schar der Inhaber von Thro­ nen und Thrönchen endlich verjagt worden? Gab es Gerech­ tigkeit und Wohlstand für alle, dazu Freundschaft mit den Nachbarvölkern? In Europa lebten um 1900 etwa 75 Millionen Menschen, die sich als Deutsche fühlten, doch davon nur rund 50 Millio­ nen innerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches, die übri­ gen größtenteils im österreichisch-ungarischen Vielvölker­ staat. Umgekehrt waren von den etwa 72 Millionen Unterta­ nen Kaiser Wilhelms II. ebenfalls nur rund 50 Millionen, die sich als Deutsche fühlten, und wenn man die etwa zwölf Mil­ lionen Afrikaner, Chinesen, Malayen, Polynesier und Papua der kaiserlich deutschen Kolonien und »Schutzgebiete« hier unberücksichtigt läßt, so gab es 1900 innerhalb der europä­ ischen Grenzen des Deutschen Reichs unter knapp 57 Millio­ nen Einwohnern immer noch weit über fünf Millionen - oder fast zehn Prozent - Nichtdeutsche. Nach der amtlichen Statistik von 1900 lebten allein in den preußischen Provinzen östlich der Oder 3,24 Millionen Men­ schen polnischer Muttersprache, davon 3,09 Millionen, die kein Deutsch verstanden. Dazu kamen weitere 500000 Ange­ hörige slawischer Völker - mehr als 150000 Masuren, rund 120000 Wenden, über 100000 Kassuben und fast 70000 Slo­ waken -, von denen nur ein geringer Prozentsatz einige Deutschkenntnisse hatte, sowie 115000 Litauer.

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Nun muß man aber noch bedenken, daß sich viele Slawen, vor allem zahlreiche Polen, nach mehr als hundertjähriger Unterdrückung ihrer Naticin begreiflicherweise scheuten, den preußischen Behörden gegenüber eine andere Mutter­ sprache als Deutsch geltend zu machen; sie befürchteten da­ von - und leider zu Recht - erhebliche Nachteile für sich und ihre Angehörigen. So darf man annehmen, daß noch weit mehr preußische Untertanen, wenn sie sich hätten frei ent­ scheiden können, als Nichtdeutsche in die Statistik eingegan­ gen wären. Eine weitere starke Minderheit im preußischen Teil des Deutschen Reiches bildeten die etwa 150000 Dänen im Nor­ den der 1864 erbeuteten Provinz Schleswig-Holstein, und in dem unter deutscher Statthalterschaft stehenden »Reichs­ land« Elsaß-Lothringen bekannten sich bei der Volkszählung von 1900 rund 220000 Einwohner als Franzosen ohne deut­ sche Sprachkenntnisse. Aber auch die meisten der übrigen 1,5 Millionen deutschsprachigen Elsässer und Lothringer fühlten sich nach dreißig Jahren deutscher Verwaltung gleichfalls als Zwangsbürger des Reiches. Sie erstrebten teils die Selbstän­ digkeit ihrer Heimat, teils - unter Wahrung ihrer besonderen Interessen - die Rückkehr der Provinzen zu Frankreich. Wäre es nach dem Selbstbestimmungsrecht der Völker ge­ gangen, so hätten sich wahrscheinlich fünf bis sechs Millio­ nen Einwohner des Deutschen Reichs von 1900 für eine ande­ re staatlich^ Organisation entschieden. Und umgekehrt wä­ ren von den rund 26 Millionen Untertanen der österreichi­ schen Habsburger über 9 Millionen Deutsche im Alpenraum, im Donautal und im Gebiet der Sudeten wohl lieber Bürger eines einheitlichen deutschen Staates geworden. So beantwortet sich die Frage, ob das Reich Kaiser Wil­ helms II. alle Deutschen vereinte und so die Sehnsucht des Volks nach nationaler Einigung erfüllte, eigentlich von selbst: Es konnte keine Rede davon sein, und es bestand auch keine Aussicht auf eine baldige Änderung dieses unbefriedigenden 401

Zustands. Die Herrschenden im Deutschen Reich waren, wie seit eh und je, an einem einheitlichen Staat rein deutscher Na­ tion überhaupt nicht interessiert. Den preußischen Junkern und Militärs lag die Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft über weite Teile Polens ebenso am Herzen wie die Vormachtstel­ lung in Deutschland. Ihr Ziel, einen möglichst großen Teil der deutschen Zwergstaaten in Preußen aufgehen zu lassen, und den Rest, bis auf Österreich, in Abhängigkeit zu halten, hatten sie erreicht. Das deutsche Bürgertum, das die Idee der nationalen Einigung hervorgebracht und jahrzehntelang vor­ nehmlich getragen hatte, war großenteils zum Verräter der ei­ genen Ideale geworden. Die wirtschaftlich Stärksten hatten sich mit den Junkern und Militärs verbündet und betrieben die Ausbeutung des Volkes auf kapitalistische Weise, oft noch rücksichtsloser und grausamer als einst die Feudalher­ ren. Das Kleinbürgertum, soweit es nicht schon ins Proleta­ riat abgesunken war, berauschte sich an der wachsenden mili­ tärischen Stärke des Kaiserreichs, am Glanz des Hofes, am »Kolonialgedanken« und am Größenwahn wilhelminischer Außenpolitik, die »am deutschen Wesen die Welt genesen« lassen wollte, sowie an der strammen, polizeistaatlichen Ord­ nung, die ihm Schutz vor der »roten Gefahr« zu gewähren versprach. Nur ein Teil des gebildeten Mittelstands besaß ge­ nügend politischen Instinkt, um die rasch zunehmende Be­ drohung des Friedens wie der bürgerlichen Freiheiten zu er­ kennen und stellte sich ihr mit unzureichenden Kräften ent­ gegen, wobei man freilich ein Bündnis mit den Sozialisten weit von sich wies. Die Masse des Volks - ausgenommen die organisierte Indu­ striearbeiterschaft, die den Nationalismus schon fast über­ wunden hatte und in den von Marx und Engels entwickelten Begriffen des internationalen Klassenkampfes zu denken be­ gann - ließ sich von Parademärschen und Hurrageschrei dar­ über hinwegtäuschen, daß das endlich - wenn auch nur teil­ weise - geeinte Vaterland wahrlich nicht das Reich war, für

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das die Väter auf den Barrikaden der Revolution von 1848/49 gekämpft hatten: Es gab nacji wie vor — neben der mit der erb­ lichen Kaiserwürde ausgestatteten Familie des verstorbenen »Kartätschenprinzen«, den Hohenzollern, noch 21 regieren­ de Fürstenhäuser im Deutschen Reich. Sie lebten wie die Ma­ den im Speck und trieben auf Kosten des Volkes einen Auf­ wand, der im umgekehrten Verhältnis zu ihrer völligen Nutz­ losigkeit stand. Es gab nirgendwo wirkliche Demokratie. In den preußischen zwei Dritteln des Reiches sorgte das Drei­ klassenwahlrecht für krasse Ungleichheit zugunsten der Herrschenden und Besitzenden; in den meisten anderen Bun­ desländern war es ähnlich, wenn auch nicht so ins Auge sprin­ gend wie in Preußen. In den mecklenburgischen Großher­ zogtümern gab es »Verfassungen«, die aus dem Jahre 1755 stammten und bis 1918 galten, fast die Hälfte der Bevölke­ rung ohne jedes Wahlrecht ließen und in der Praxis nichts an­ deres bewirkten als die Verewigung der Tyrannei einiger Jun­ ker über die * Masse abhängiger Bauern und Landarbeiter. Und selbst in den Hansestädten stand die Demokratie nur auf dem Papier: In Hamburg beispielsweise wurden die 160 Ab­ geordneten des »Bürgerschaft« genannten Parlaments auf­ grund einer »Modernisierung« des Wahlrechts im Jahre 1906 so gewählt, daß sich niemals eine andere als groß- und besitz­ bürgerliche Mehrheit bilden konnte. 40 Abgeordnete wurden allein von den Eigentümern von Haus- und Grundbesitz der gewählt, * Innenstadt weitere 40 von den »Notabein«, zu de­ nen die Mitglieder von Handelskammer und Börse gehörten; die andere Hälfte der Bürgerschaft durften die Kleinbürger wählen, streng getrennt nach Steuerklassen, wobei die Wohl­ habenderen doppelt so viele Abgeordnete stellten wie die mit geringerem Einkommen, und die Industrie- und Hafenarbei­ terschaft war durch allerlei Tricks nahezu gänzlich von der Teilnahme an den Wahlen ausgeschlossen. So also stand es um die politischen Rechte der Deutschen, aber auch sonst konnte von staatsbürgerlicher Gleichstellung 403

keine Rede sein: Es war für einen Jungen aus einer Arbei­ ter-, Kleinbauern- oder unbemittelten Handwerkerfamilie schon aus wirtschaftlichen Gründen nur in seltenen Ausnah­ mefällen - zum Beispiel mit einem kirchlichen oder landes­ fürstlichen Stipendium, das ihn in Abhängigkeit von seinen Förderern brachte - möglich, mehr als Volksschulbildung zu erwerben. Hinzu kam ein von Vorurteilen und Kastengeist geprägtes Auslesesystem der Schulen, das Kleinbürger-, und erst recht Arbeiterkindern, kaum Chancen gab, die unerläßli­ chen Voraussetzungen für ein späteres berufliches und gesell­ schaftliches Fortkommen zu erfüllen. Ein weiterer Schutzwall des die Masse des Volks in Unter­ drückung und Ausbeutung haltenden Herrschaftssystems war der Militärdienst. Nur wer eine höhere Schule besucht und dort das Zeugnis der »mittleren Reife« erworben hatte, konnte als »Einjährig-Freiwilliger« eine auf zwölf Monate verkürzte Dienstzeit in einer selbstgewählten Garnison und mit Vorzugsbehandlung ableisten, rasch befördert und in kurzer Zeit Reserveoffizier werden. In aller Regel hatten nur Reserveoffiziere Aussicht auf eine leitende Stellung in der In­ dustrie, einen guten Posten im höheren Staatsdienst oder auch Einheirat in eine wohlhabende Kaufmannsfamilie. Die Aufnahme in den höheren Staatsdienst wurde noch da­ durch erschwert, daß ein Universitätsstudium verlangt wur­ de, außerdem alle Behördenchefs diejenigen Bewerber bevor­ zugten, die als Studenten einer - meist »schlagenden«, das heißt: Zweikämpfe mit scharfer Klinge ausfechtenden - Ver­ bindung beigetreten waren, womöglich derjenigen, deren »Alter Herr« sie selber waren. Und Aussicht, einmal in Schlüsselstellungen, etwa in Mini­ sterien oder im diplomatischen Dienst, aufzurücken, hatten ohnehin nur diejenigen jungen Leute, deren familiärer und wirtschaftlicher Hintergrund, Regiments- und Korpszuge­ hörigkeit sowie Denk- und Handlungsweise haargenau dem entsprach, was die Herrschenden für gut befanden.

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Die breite Masse des Volks war im Kaiserreich aber nicht nur ausgeschlossen von allen Bildungs- und beruflichen Auf­ stiegschancen, erst recht vdn jeder leitenden, einflußreichen oder auch nur mit höherem Ansehen verbundenen Stellung; sie war auch verachtet, und man zeigte ihr diese Verachtung bei jeder Gelegenheit und in einer Weise, bei der die Men­ schenwürde mit Füßen getreten wurde. Während Gutsherren und Fabrikanten ihre Arbeiter, Offi­ ziere ihre »gewöhnlichen«, nicht einjährig-freiwilligen Mannschaften, Herrschaften ihre Dienstboten und Polizei­ beamte ihre Arrestanten, sofern sie nicht »von Stand« waren, ohne weiteres duzten, ließen sie sich umgekehrt in der dritten Person- »Haben Herr Direktor noch einen Wunsch?«, »Ge­ statten Herr Leutnant, daß ich Herrn Leutnant jetzt das Frühstück serviere?« und »Wie gnädige Frau wünschen« sowie mit allen Gehorsam und Unterwerfung ausdrückenden Beiworten anreden. Ohrfeigen, Fußtritte und Schläge mit der Reitpeitsche-hatten nicht nur alle zu erdulden, für die die Ge­ sindeordnung galt, sondern auch Landarbeiter, Soldaten, Lehrlinge und nicht selten sogar unbescholtene Bürger, wenn sie auf einer Polizeiwache gegen ihre ungerechtfertigte Fest­ nahme aufbegehrten, erst recht jeder »schlechtgekleidete« Verdächtige, zumal wenn er arbeits- und obdachlos war und gebettelt hatte. Die Polizisten und Gendarmen waren durchweg ehemalige Unteroffitiere, die zwölf Jahre und länger Rekruten gedrillt hatten. Die Kommissare, Polizeidirektoren und -präsidenten waren fast ausschließlich Adlige und Reserveoffiziere. Ähn­ lich war es beim Justizdienst, wo sich Staatsanwälte und Richter gegenüber Beschuldigten aus dem Arbeiterstand im Klassenkampf von oben übten und an »Schneidigkeit« und Brutalität gegenseitig zu übertreffen suchten. Die unteren Ju­ stizbeamten, ehemalige Unteroffiziere und Feldwebel, schlu­ gen gegenüber dem Publikum ihren altgewohnten Kasernen­ hofton an und bedienten sich bei den ihnen anvertrauten

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Karikatur aus dem Simplicissimus (1904)

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Häftlingen der gleichen schikanösen Methoden wie einst bei ihren Rekruten. < Erziehung zu Kadavergehorsam, vollständiger Unterwer­ fung und Untertanengeist wurde überall im Reich gepredigt, gelehrt und eingebläut, und wie weit der Militarismus die Köpfe der Menschen bereits vernebelt hatte, läßt ein Zitat aus dem Reichstagsprotokoll von 1907 erkennen. August Bebel, der damals siebenundsechzigjährige Führer der Sozialisten, hatte scharfe Kritik am Kasernenhofdrill und besonders an dem bis zum Überdruß exerzierten, ebenso sinnlosen wie an­ strengenden Parademarsch geübt. Daraufhin gab ihm der Führer der Konservativen, der Junker und Rittergutsbesitzer Elard von Oldenburg-Januschau - dem wir noch in ganz an­ derem Zusammenhang begegnen werden - unter dem Beifall und Jubel der Rechten folgende Antwort: »Herr Abgeordneter Bebel, ich habe die Überzeugung, wenn Ihnen rechtzeitig von einem schneidigen Rekrutenun­ teroffizier ein gediegener langsamer Schritt in den Leib ge­ pumpt worden wäre, würden Sie wissen, was für Vorzüge ein guter Parademarsch hat. Es ist durchaus notwendig, daß nach einer anstrengenden Übung der Mann gezwungen wird, sich noch einmal zusammenzunehmen, und außerdem ist es eine Notwendigkeit, daß das deutsche Militär sich auch anständig präsentiert, ganz abgesehen davon, daß der Parademarsch ein eminentes Mittel der Disziplin ist.« Es gab iin Deutschen Reich Kaiser Wilhelms II. viele »Mit­ tel der Disziplin«, und dies war auch - vom Standpunkt der, herrschenden Klassen aus gesehen - dringend nötig. Denn während die Wirtschaft des Landes, vor allem der Steinkoh­ lenbergbau, die Eisen- und Stahlerzeugung, die chemische Industrie und der Eisenbahnverkehr, einen gewaltigen, noch Jahrzehnte zuvor von niemandem für möglich gehaltenen Aufschwung genommen hatte, der Reichtum der Unterneh­ mer, Bankiers und Großaktionäre ins Gigantische angestie­ gen war und auch die Fürsten mit dem Kaiser an der Spitze 407

dabei kräftig mitverdient hatten, waren der Lebensstandard und die Arbeitsbedingungen des zu einem Millionenheer an­ gewachsenen Industrieproletariats kaum besser, in vieler Hinsicht sogar noch schlechter geworden als zu Beginn der Industrialisierung in den dreißiger und vierziger Jahren. Bei im Durchschnitt elfeinhalbstündiger Arbeitszeit an sechs Tagen der Woche, ohne mehr als zwei, drei - meist un­ bezahlte - Urlaubstage im Jahr und ständig bedroht von Ent­ lassung und Arbeitslosigkeit, vegetierten die Arbeiterfamili­ en stets am Rande des Existenzminimums. Nur in den selten­ sten Fällen reichte der Lohn des Mannes aus, die Seinen dürf­ tig zu ernähren. Fast in allen Arbeiterhaushalten mußten nicht nur die Ehefrau - meist als Wäscherinnen, Aufwarte­ frauen, Putzhilfen oder auch als Fabrikarbeiterinnen -, son­ dern auch die noch schulpflichtigen Kinder mitverdienen. Die Wohnverhältnisse aber waren katastrophal. »Die Wohnungen der arbeitenden Klassen sind meistens in Kellern und Hinterhäusern gelegen«, heißt es in einem Be­ richt, den der Amtsarzt eines großstädtischen Wohnbezirks der preußischen Provinz Sachsen seiner vorgesetzten Behör­ de erstattete. »Die geringe Menge frischer Luft, welche die engen, vierseitig umbauten Hinterhöfe zulassen, wird durch die Ausdünstungen der Abtritte vollends verunreinigt... An den Wänden und Türen läuft gewöhnlich das Wasser herun­ ter. Oft teilen sich drei bis fünf Dutzend Menschen in die Be­ nutzung einer Wasserstelle, eines Ausgusses und eines Ab­ orts«, die stets außerhalb der Wohnungen, meist im Treppen­ haus oder im Hof, gelegen waren. »Alles ist unbeschreiblich schmutzig und verkommen; es wimmelt von Ungeziefer ... Jede Wohnung kostet 20 bis 25 Taler Miete. Wegen dieser ho­ hen Mietpreise sind die Leute genötigt, zahlreiche Schlafbur­ schen aufzunehmen. Es herrscht dadurch, wie nicht anders zu erwarten, wüste Liederlichkeit... Der Gesundheitszustand, besonders der kleinen Kinder, ist besorgniserregend schlecht.«

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Tatsächlich starben gegen Ende des 19. Jahrhunderts in den Industriegebieten Deutschlands zwei Drittel allet Arbeiter­ kinder noch vor ihrem 15. Geburtstag! Dagegen starb in den­ selben Gemeinden bei den sogenannten »höheren Ständen« im Durchschnitt nur eins von sieben Kindern in den ersten 14 Lebensjahren. Nahezu alle Arbeiterkinder waren unterer­ nährt, litten an Rachitis und anderen Mangelkrankheiten, und ein erschreckend hoher Prozentsatz war tuberkulose­ krank. Daß auch das Landarbeiter-Proletariat in menschenun­ würdigen Behausungen vegetieren mußte, dafür gibt es einen hinsichtlich sozialistischer Neigungen gänzlich unverdächti­ gen Zeugen: Kaiser Wilhelm II. Bei einem Besuch seiner in der Nähe von Elbing gelegenen, als »landwirtschaftlicher Musterbetrieb« gepriesenen Besitzung Kadinen meinte er, der reichste Großgrundbesitzer Preußens, etwas betroffen: »Der schöne Viehstall ist ja ein wahrer Palast den Arbeiter­ wohnungen gegenüber!« Doch er sah diesen Zustand offen­ bar als gottgegeben an, denn er unternahm nichts, ihn zu än­ dern. Andere Großunternehmer, besonders die Rüstungsindu­ striellen, nutzten das Wohnungselend des Proletariats dazu aus, ihre ergebensten und fleißigsten Arbeiter in noch größere Abhängigkeit zu bringen. Sie bauten Werkswohnungen für Verheiratete und machten das Mietverhältnis zum Bestandteil der Arbeitkverträge. Dafür boten sie bei etwas geringeren Mietpreisen bessere Wohnungen als die üblichen Mietskaser­ nen. Das verlockende Angebot war vornehmlich als Fessel gedacht: Wer es annahm, konnte an Streiks oder anderen ge­ werkschaftlichen Aktionen nicht mehr teilnehmen; er riskier­ te sonst, mit dem Arbeitsplatz auch die Wohnung zu verlie­ ren. »Der Mieter übernimmt für sich und seine bei ihm woh­ nenden, dem Bergmannsstande angehörenden Söhne die Ver­ pflichtung, während der Dauer des Mietvertrages auf der

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Zeche >Preußen< zu arbeiten«, heißt es beispielsweise in einem solchen Werkwohnungsvertrag jener Zeit, »und zwar für den dortselbst üblichen Schichtlohn oder Gedingesatz. Er ver­ zichtet also für sich und erwähnte Söhne ausdrücklich auf das Recht, während dieser Periode die Arbeit zu kündigen ... Sollte der Mieter diesen Verpflichtungen nicht nachkommen oder er selbst oder einer seiner dem Bergmannsstande ange­ hörenden Söhne willkürlich drei oder mehr aufeinanderfol­ gende Schichten von der Arbeit ausbleiben, so ist die Vermie­ terin berechtigt, den Mietvertrag aufzuheben und die Woh­ nung sofort räumen zu lassen, unbeschadet aller Ansprüche, insbesondere auf den vollen Mietzins bis zum Ablauf der Kündigungsfrist ...« Wer streikte, der flog aus der Woh­ nung, und zwar auf der Stelle, auch wenn seine Frau krank oder hochschwanger war, der Vater im Sterben lag oder eine Schar von kleinen Kindern die Suche nach einer neuen Woh­ nung stark erschwerte, und überdies für die geräumte Woh­ nung noch für ein Vierteljahr Miete bezahlt werden mußte, während die noch nicht ausbezahlten Lohnansprüche verfie­ len. Mit solchen Mitteln behielt die Unternehmerseite natür­ lich leicht die Oberhand. Klassenbewußte und gewerkschaftlich geschulte Arbeiter verzichteten deshalb, wenn auch schweren Herzens, auf die billigeren und besseren Werkswohnungen. Sie wußten: Das einzige Kampfmittel gegen die unmenschliche Ausbeutung war der Streik, und der war - auch ohne die zusätzliche Bela­ stung eines Werkwohnungsvertrags mit allen seinen Tückenschwer genug zu führen. Streik bedeutete für die Arbeiter­ schaft jedesmal einen Dreifrontenkrieg: einmal gegen die oh­ nehin wirtschaftlich weit stärkeren Unternehmer und deren Hilfstruppen, oft mehrere tausend Mann starke »fliegende Kolonnen« von Spitzeln, Provokateuren und brutalen Schlä­ gern, die schon bei drohender Streikgefahr über besondere Vermittler von weither heranbeordert und in die Großbetrie­ be eingeschleust wurden; zum anderen gegen die übermäch410

tige Staatsgewalt, die jede Versammlung polizeilich auflöste, Streikbrecher schützte, auch wenn sie gewalttätig wurden, die Streikposten der Arbeiterschaft dagegen, auch wenn sie sich korrekt und diszipliniert verhielten, im Schnellverfahren aburteilte und ins Gefängnis sperrte, mühsam zusammenge­ sparte Streikkassen beschlagnahmte und, wenn alles nichts nützte, durch Großeinsatz von Gendarmerie und Militär die »Ordnung« wiederherstellte. Die dritte Streikfront aber war daheim, der Kampf gegen den Hunger, den jeder längere Streik für die Arbeiter und ihre Familien mit sich brachte, mit weinenden Kindern und einer verzweifelten Frau ... Die einzige Möglichkeit, einen solchen Dreifrontenkrieg durchzustehen, war eine straffe, die Arbeiterschaft aller Re­ gionen und Industriezweige umfassende, finanzstarke Ge­ werkschaftsorganisation, die auch auf internationale Solida­ rität rechnen konnte und im engen Bündnis mit der sozialde­ mokratischen Partei stand. Zwischen 1890, als erst 227000 deutsche Arbeiter gewerkschaftlich organisiert waren, und 1900, als sich die Anzahl der Gewerkschaftsmitglieder bereits auf fast 700 000 erhöht und damit mehr als verdreifacht hatte, entstand diese Dachorganisation, zunächst unter dem Namen »Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands« und unter dem Vorsitz des späteren sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Carl Legien. Im Jahre 1914 hatte dieser Bund, der- zum Unterschied von anderen, von Unter­ nehmern odfcr Kirchen abhängigen Verbänden-freigewerk ­ schaftlich genannt wurde, schon über zwei Millionen Mit­ glieder, verfügte über jährliche Mittel von mehr als 10 Millio­ nen Mark und war zur schlagkräftigsten Organisation der so­ zialistischen Arbeiterbewegung geworden. Aber bis dahin war es ein weiter und dornenreicher Weg. Schritt für Schritt ging es vorwärts, aber jede kleine Verbesse­ rung der Arbeitsbedingungen, jede Lohnerhöhung, jede Ar­ beitszeitverkürzung, jede leichte Verbesserung des Jugend-, Mutter-, Unfall- oder Kündigungsschutzes und vor allem das 411

Recht auf Abschluß von Tarifverträgen mußte erst mühsam erkämpft werden - gegen den Widerstand der Regierungen, der Reichstagsmehrheit, des Militärs und der Polizei, der Kir­ chen und Parteien, der Unternehmerschaft und ihrer Hilfsor­ ganisationen, nicht zuletzt auch gegen die öffentliche Mei­ nung, die erst allmählich zur Anerkennung der Tatsachen ge­ bracht werden konnte, daß die Masse der wirtschaftlich Schwächsten nur durch gewerkschaftliche Organisation ein halbwegs menschenwürdiges Dasein zu erkämpfen imstande war. Wie das Bürgertum, wie selbst »aufgeklärte«, den Ar­ beitern, wie es hieß, »wohlgesonnene« Gebildete um 1890 über die Gewerkschaften dachten, läßt sich aus einem Brief entnehmen, den ein in der evangelischen Kirche sehr aktiver, gemäßigt liberaler westdeutscher Fabrikant damals an einen Freund schrieb: »So nützlich es mir erscheint«, hieß es am Schluß dieses Briefes, »daß sich die Lohnarbeiter und ihre Fa­ milien zu wohlgesitteter Geselligkeit, zu gemeinsamem Ge­ sang oder zur Förderung ihrer Frömmigkeit und Bildung zu­ sammenschließen, wohl auch zur gegenseitigen Unterstüt­ zung in unverschuldeten Nothfällen, so schädlich für sie selbst wie für uns alle will es mir dünken, wenn solche Verei­ ne den ihnen von Sitte und Gesetz gezogenen Rahmen über­ schreiten, eine wilde Agitation dulden und am Ende gar sich anheischig machen, mit dem Brotherrn über Löhnung und sonstige, in dessen alleinige Competenz gestellte Fragen zu verhandeln. Dergleichen öffnet ja der Willkür Thür und Thor und müßte auch den braven Arbeiter, zu dessen Wohle es doch angeblich geschehen soll, mißtrauisch stimmen ...« Indessen wurden die deutschen Arbeiter und bald auch die Arbeiterinnen sich ihrer Lage und der einzigen Möglichkeit, der völligen Verelendung zu entrinnen, in rasch zunehmen­ dem Maße bewußt. Und jeder Streik, auch wenn er am Ende erfolglos zusammenbrach, trug zur Bewußtseinsbildung des Proletariats, auch der nicht unmittelbar Beteiligten, in sehr starkem Umfang bei, brachte den Gewerkschaften neue Er-

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fahrungen, stärkte die Solidarität und verhalf der Arbeiterbe­ wegung im Ganzen zu wachsendem Ansehen. So setzten beispielsweise 'die Konfektionsarbeiterinnen und -arbeiter Anfang 1896 nicht nur die Unternehmer, die Behörden und die Bürgerschaft, sondern auch ihre Kollegin­ nen und Kollegen in anderen, besser organisierten Branchen in Staunen, das sich bald in Respekt verwandelte, als sie plötzlich in einen Massenstreik traten. Bis dahin hatte es selbst unter führenden Gewerkschaftern als aussichtsloses Unterfangen gegolten, die weit verstreuten Heimarbeiterin­ nen der Konfektionsindustrie, die vereinzelt, teilnahmslos, aufs Barbarischste ausgebeutet und völlig unorganisiert und verelendet waren, für die Gewerkschaftsbewegung zu gewin­ nen. Nun zeigten mehr als 10000 Frauen zum ersten Mal in der deutschen Geschichte, daß sie ebensoviel Kampfgeist, So­ lidarität und Klassenbewußtsein hatten wie ihre männlichen Kollegen. Von ähnlich großer Bedeutung war der Streik der Hambur­ ger Hafenarbeiter, der im November 1896 begann und bis zum 6. Februar 1897 dauerte. Obwohl sie bei Beginn dieses Streiks nur sehr schwach organisiert waren, legten mit selte­ ner Einmütigkeit binnen kürzester Frist mehr als 18000 Ha­ fenarbeiter die Arbeit nieder, nachdem ihre Forderungen 1,50 Mark mehr Wochenlohn und Begrenzung der Arbeits­ zeit auf täglich 12 Stunden - von den Unternehmern unter Führung de^ Werftbesitzers Blohm rundweg abgelehnt wor­ den waren. (Der Monatslohn eines Hafenarbeiters lag damals im Durchschnitt bei brutto 61 Mark; das entsprach an Kauf­ kraft etwa 320 DM heutiger Währung und lag unter dem Exi­ stenzminimum, wobei noch zu bedenken ist, daß die Männer dafür 13 bis 14 Stunden täglich zu schuften hatten!) Hinter den streikenden Hafenarbeitern der Hansestadt stand zur Überraschung der Behörden die gesamte organi­ sierte Arbeiterschaft des Reiches und füllte die magere Streik­ kasse mit der für damalige Verhältnisse enormen Summe von

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über 1,6 Millionen Mark, die pfennig- und groschenweise gesammelt worden war. Angesichts der so gestärkten Streik­ front ging der Hamburger Senat zu Gewaltmaßnahmen über: Am 21. Dezember wurden alle Streikposten verhaftet, das Betreten des Hafengeländes verboten, Geldsammlungen un­ tersagt und alle schon gespendeten Beträge, deren man hab­ haft werden konnte, kurzerhand beschlagnahmt. Als auch dies nichts nützte, wurde am 12. Januar 1897 der Belage­ rungszustand verhängt. Das preußische II. Armeekorps un­ ter dem Kommando des erzreaktionären Grafen Waldersee, das rund um Hamburg stationiert war, wurde mobilisiert. Und Wilhelm II. telegrafierte an General Graf Waldersee: »Sollte es mir zu bunt werden, so müssen Sie heran. Ich weiß, wenn es zum Schießen kommen muß, so werden Sie es gründ­ lich tun.« Unter diesem Druck mußten die Hafenarbeiter, die noch am 30. Januar mit großer Mehrheit die Fortführung des Streiks beschlossen hatten, ihn am 6. Februar abbrechen. Sie erklärten sich für »geschlagen, aber nicht besiegt«. Und tat­ sächlich stieg in den folgenden Wochen die Mitgliederzahl der Hamburger Hafenarbeitergewerkschaft von 5370 auf über 11000; das sozialdemokratische Hamburger Echo konnte seine Auflage kräftig steigern, und die Unternehmer waren, um einen neuen Streikausbruch zu verhindern, schon bald zu erheblichen Lohnerhöhungen gezwungen. Von politisch noch größerer Bedeutung war der Streik der Textilarbeiter von Crimmitschau in Sachsen, der am 22. Au­ gust 1903 begann, als zunächst 600 Spinnereiarbeiter die Ar­ beit niederlegten, weil ihre Forderung nach Verkürzung der täglichen Arbeitszeit auf zehn Stunden sowie nach einer Lohnerhöhung um zehn Prozent vom Fabrikanten abgelehnt worden waren. Als der Unternehmer von seinem Verband Unterstützung zugesagt bekam, mit unbefristeter Aussper­ rung drohte und Gendarmerie anforderte, traten bis Ende August auch die anderen, rund 9000 Textilarbeiter des knapp 23000 Einwohner zählenden Städtchens in den Streik. 414

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,,T>« Wirft uiGefallenVerwundetVermißt« ...« Soweit die deutschen Soldaten an der Westfront britischen Einheiten gegenüberlagen, hatten alle Granaten, mit denen sie beschossen wurden, Spezialzünder mit der Markierung

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»KPZ 96/04«. Das bedeutete »Krupp-Patent-Zünder« und brachte der Firma Fried. Krupp in Essen nach dem Kriege sehr viel Geld ein, denn die Herren von der englischen Rü­ stungsindustrie waren korrekte Kaufleute. Sie zahlten ver­ tragsgemäß an Krupp je Zünder 1 Schilling und 3 Pence, und da niemand mehr sagen konnte,wie viele Zünder hergestellt und zur Explosion gebracht worden waren, ging man bei der Berechnung einfach von der Anzahl der vor britischen Front­ abschnitten gefallenen deutschen Soldaten aus. So hatte ihr Tod am Ende doch noch einen Sinn bekommen, zumindest für Krupp in Essen. Übrigens, auch die Panzerplatten und Geschütze der mächtigen russischen Festungen in Ostpolen stammten aus dem Hause Krupp, wie die Soldaten, die sie stürmten, verbit­ tert feststellen mußten. Aber es wäre falsch, nun anzuneh­ men, diese und andere Geschäfte mit dem Feind wären für Krupp besonders gewinnbringend gewesen; die »vaterländi­ sche Anstalt« in Essen verdiente ungleich mehr an der Flut von Aufträgen, die das Deutsche Reich und sein österreichi­ scher Verbündeter ihr erteilten. Da in Wien kaum noch Geld für Waffenkäufe vorhanden war, nahm die Familie Krupp da­ mals auch andere Werte in Zahlung, beispielsweise ein kleines Fürstentum nebst schönem Schloß, 170 Millionen Quadrat­ meter groß und Blühnbach geheißen, dessen 150 Kilometer lange asphaltierte Privatstraßen der Vorbesitzer, Österreichs in Sarajewo 1914 ermordeter Thronfolger Franz Ferdinand, für sich kostenlos von wehrdienstpflichtigen Pionieren hatte anlegen lassen . * Anstelle von Franz Ferdinand war dessen Neffe Karl Ende 1916 Nachfolger des im Alter von 86 Jahren verstorbenen Kaisers Franz Joseph geworden und hatte als Karl I. den Thron des vor dem vollständigen Zusammenbruch stehenden * Die zu Schloß Blühnbach gehörenden Ländereien wurden 1973 von dem Krupp-Erben Arndt von Bohlen und Halbach - angeblich für etwa 70 Millio­ nen DM — an den österreichischen Staat verkauft.

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Habsburgerreiches bestiegen. Österreich, das nicht einmal das kleine Serbien, geschweige denn Rußland zu besiegen vermochte, war seit Mai 1915 auch noch mit Italien und seit August 1916 mit Rumänien im Krieg. Das österreichische Oberkommando hatte deshalb seine besten Regimenter von der Ostfront abgezogen und in Südtirol und am Isonzo eine Offensive gegen die Italiener eingeleitet. Daraufhin waren die Russen zu einem Großangriff auf Galizien übergegangen, was zum Zusammenbruch der dortigen österreichischen Front führte. Ganze Divisionen liefen einfach davon oder er­ gaben sich kampflos. Mehr als zweihunderttausend österrei­ chische Gefangene brachten die Kosaken innerhalb von drei Tagen ein. Eine deutsche Armee mußte eingesetzt werden, um den Rückzug zum Stehen zu bringen. Unter dem Eindruck der schon in vollem Gange befindli­ chen Auflösung seines Reiches machte der neue Kaiser Karlohne Wissen seiner deutschen Verbündeten, die zur selben Zeit Deutschlands Kriegsziele festlegten - einen Versuch, mit den Franzosen über die Beendigung des Kriegs zu verhan­ deln. Im April 1917 ließ er Poincare ein Angebot machen, das bezeichnenderweise fast ganz auf Kosten anderer, nicht Österreichs, gehen sollte: Elsaß-Lothringen, hieß es, müsse Frankreich zurückgegeben, Belgien wiederhergestellt und reich entschädigt werden; Serbien sollte sich österreichi­ schem Schutz anvertrauen und ein Stück von Montenegro (heute Albanien) bekommen, Italien dagegen leer ausgehen, allenfalls Österreich das - bereits von den Italienern eroberte - Gebiet von Trient abkaufen dürfen, wofür der Kaiser dann mit Schlesien getröstet werden wollte ... Man sieht, der neue Herrscher Österreich-Ungarns war nicht weniger verblendet als sein seit 28 Jahren die Reichs­ deutschen regierender Kollege Wilhelm II. Der hatte fast zur gleichen Zeit, am 7. April 1917, seinen »lieben Untertanen« eine Osterbotschaft zukommen lassen, worin er ihnen - die Untertanen vernahmen es ohne merkliche Anteilnahme- eine

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Reform des preußischen Dreiklassen-Wahlrechts verhieß. (Es kam dann nicht einmal ¿u dieser Reform; die preußischen Junker ließen von ihren Vorrechten nicht ab, und Elard von Oldenburg-Januschau, ihr erzreaktionärer Anführer, gab ih­ rer aller Meinung Ausdruck, als er erklärte, man sollte dem Volk eine Verfassung »einbrennen, daß ihm Eiören und Se­ hen vergeht«. Graf Roon meinte im Landtag: »Der preußi­ sche Staat darf nicht durch ein demokratisches Wahlrecht rui­ niert werden!«, und General von Kleist rief in derselben De­ batte aus: »Das Bürgertum hat durch das allgemeine und glei­ che Wahlrecht für den Reichstag schon den Höhepunkt poli­ tischer Glückseligkeit erreicht. Es würde ein Übermaß von Glückseligkeit bedeuten, das den Neid der Götter herausfor­ dern müßte, wenn man dem Volke in die linke Hand auch noch das allgemeine und gleiche Wahlrecht für den Landtag drücken wollte. Auf diesem Wege würden wir bald zur Repu­ blik kommen!«) Was Wilhelm II. zu seinen übereilten Versprechungen be­ wogen hatte, waren innenpolitische Vorgänge, die nicht die sehr beschäftigten hohen Militärs, wohl aber die Reichsregie­ rung in Berlin mit großer Sorge erfüllten. Es mehrten sich die Streiks und Friedensdemonstrationen der hungernden und ausgebeuteten Arbeiterschaft in den deutschen Rüstungsbe­ trieben: Hatte es von August bis Dezember 1914 so gut wie keine Arbeitsniederlegungen gegeben, so war 1915 schon über 140mal gestreikt worden, und insgesamt 13000 Frauen und Männer hatten sich daran beteiligt. 1916 waren bereits 240 Streiks mit insgesamt 125000 Teilnehmern zu verzeich­ nen gewesen, und bis zum April 1917 registrierten die Behör­ den schon mehr Arbeitseinstellungen als im ganzen Vorjahr mit nun schon mindestens 400000 daran Beteiligten. Und was - für die Regierung — das Schlimmste war: Gewerk­ schaftsführung und SPD-Parteivorstand schienen nicht mehr in der Lage zu sein, die Anti-Kriegsbewegung zu zügeln, die die Arbeiterschaft erfaßt hatte. 450

Begonnen hatte der Autoritätsschwund der SPD-Führung mit einer Ein-Mann-Demon$tration. Bereits am 2. Dezember 1914 hatte es ein prominenter Reichstagsäbgeordneter, Karl Liebknecht, gewagt, sich über alle Parteidisziplin hinwegzu­ setzen und auch nicht dem Fraktionszwang zu beugen. Als an diesem Tage der Reichstag zur Schlußabstimmung über die zweite Kriegskreditvorlage zusammentrat, stimmte Lieb­ knecht als einziger Abgeordneter gegen die Kredite und gab dazu eine Erklärung ab, in der es hieß: »Dieser Krieg, den keines der beteiligten Völker selbst gewollt hat, ist nicht für die Wohlfahrt des deutschen oder eines anderen Volkes ent­ brannt. Es handelt sich um einen imperialistischen Krieg, ei­ nen Krieg um die kapitalistische Beherrschung des Welt­ markts, um die politische Beherrschung wichtiger Siedlungs­ gebiete für das Industrie- und Bankkapital ... Der Krieg ist kein deutscher Verteidigungskrieg. Sein geschichtlicher Cha­ rakter und bisheriger Verlauf verbieten, einer kapitalistischen Regierung zu vertrauen, * daß der Zweck, für den sie die Kre­ dite fordert, die Verteidigung des Vaterlands sei.« Die Empörung im Reichstag, von der äußersten Rechten bis weit in die sozialdemokratische Fraktion hinein, war un­ geheuer. Liebknechts Rede wurde nicht ins Protokoll aufge­ nommen, er selbst als »Schipper«, das heißt: als Soldat ohne Waffe, der Gräben auszuheben hatte, zum Militär eingezo­ gen. Er erhielt Urlaub nur zur Teilnahme an den Reichstags­ sitzungen, 'und es wurde ihm verboten, sich außerhalb des

Parlaments politisch zu betätigen. Er und seine Freunde ar­ beiteten indessen insgeheim weiter. Liebknecht, der wegen seiner der Regierung - aber auch dem um ein friedliches Hin­ einwachsen der SPD in die bürgerliche Gesellschaft bemüh­ ten Parteivorstand - peinlichen Anfragen Berühmtheit er­ langte, wurde Anfang 1916 aus der sozialdemokratischen Fraktion ausgeschlossen. Am l.Mai 1916 organisierte er eine Friedensdemonstration auf dem Potsdamer Platz, an der sich rund zehntausend Männer und Frauen beteiligten. Er wurde 451

daraufhin verhaftet und zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. Es kam deshalb zu Proteststreiks, an denen sich allein in Ber­ lin fast 60000 Arbeiterinnen und Arbeiter beteiligten. Wenige Wochen vor der von Liebknecht organisierten Maikundgebung war es zu einer heftigen Auseinanderset­ zung innerhalb der SPD-Reichstagsfraktion gekommen, als eine Gruppe von Abgeordneten unter Führung von Hugo Haase die Zustimmung zu weiteren Kriegskrediten verwei­ gerte, daraufhin aus der Fraktion ausgeschlossen wurde und fortan als »Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft« für einen raschen Frieden ohne Eroberungen eintrat. Die geistige Führung der SPD-Opposition gegen die »An­ biederungspolitik« der Parteimehrheit unter Ebert lag indes­ sen nicht bei einem Mitglied der Reichstagsfraktion, sondern bei einer Insassin des »Königlich preußischen Weibergefäng­ nisses zu Berlin, Barnimstraße«, Rosa Luxemburg. Ihr dort verfaßter, herausgeschmuggelter und im Frühjahr 1916 in Zürich unter dem Decknamen »Junius« erschienener Artikel mit dem Titel »Die Krise der Sozialdemokratie« war die klar­ ste Analyse und die entschiedenste Abrechnung mit der deut­ schen Führungsschicht und ihren Helfern aus der Arbeiterbe­ wegung, die während des ganzen Krieges geschrieben wurde. »Städte werden zu Schutthaufen, Dörfer zu Friedhöfen, Län­ der zu Wüsteneien, Bevölkerungen zu Bettlerhaufen, Kir­ chen zu Pferdeställen«, hieß es darin zur Kennzeichnung des­ sen, was man 1914 in Deutschland einen »frischfröhlichen Krieg« genannt hatte. Und an anderer Stelle: »Geschändet, entehrt, im Blute watend, von Schmutz triefend-so steht die bürgerliche Gesellschaft da. Nicht wenn sie, geleckt und sitt­ sam, Kultur, Philosophie und Ethik, Ordnung, Frieden und Rechtsstaat mimt - als reißende Bestie, als Hexensabbat der Anarchie, als Pesthauch für Kultur und Menschheit - so zeigt sie sich in ihrer wahren, nackten Gestalt.« Sie zitierte dann zahlreiche führende Sozialdemokraten, die in den Jahren vor 1914 einen solchen Krieg als Ergebnis

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der kapitalistischen und imperialistischen Interessenpolitik vorausgesagt hatten, und sie kam zu dem Schluß: »Der am 4. August (1914) offiziell begonnene Weltkrieg war derselbe, auf den die deutsche und die internationale imperialistische Politik seit Jahrzehnten unermüdlich hinarbeitete, derselbe, dessen Nahen die deutsche Sozialdemokratie ebenso uner­ müdlich seit einem Jahrzehnt fast jedes Jahr prophezeite, der­ selbe, den die sozialdemokratischen Parlamentarier, Zeitun­ gen und Broschüren tausendmal als ein frivoles imperialisti­ sches Verbrechen brandmarkten, das weder mit Kultur noch mit nationalen Interessen etwas zu tun hätte, vielmehr das di­ rekte Gegenteil von beiden wäre.« Doch »indem sie durch den Burgfrieden dem Militarismus Ruhe im Rücken sicherte, erlaubte ihm die Sozialdemokratie, ohne jede Rücksicht auf andere Interessen als die der herrschenden Klasse, seinen Bahnen'zu folgen, entfesselte sie seine ungezügelten inneren impenälistischen Tendenzen, die gerade nach Annexion stre­ ben und zu Annexionen führen müssen«. Auf diese Weise, erklärte Rosa Luxemburg, trage die Sozialdemokratie nur zur Verlängerung des Krieges bei, verletze ihre Pflichten als revo­ lutionäre Partei des Proletariats und stärkste Gruppe in der internationalen Arbeiterbewegung, mißachte auch die natio­ nalen Interessen, die man - so Engels - »nur sichern könnte durch Anwendung der revolutionären Maßregeln«. Und mit dieser vorsichtigen Andeutung dessen, was allein noch helfen könnte, schloß der Artikel. Indessen zogen zunächst nicht die deutschen, sondern die russischen Sozialdemokraten die von Rosa Luxemburg gefor­ derten Konsequenzen. Am 12. März 1917 brach in den Groß­ städten des Zarenreichs die Revolution aus; bereits am 14. März dankte der Zar ab, eine Woche später wurde er ver­ haftet; eine liberale Regierung unter dem Fürsten Lwow ver­ sprach dem Volk die Schaffung gerechter und freiheitlicher Verhältnisse, zugleich aber auch die Fortsetzung des Krieges bis zu einem ehrenhaften Frieden.

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Für die deutsche Führung schien die Revolution in Ruß­ land ein Geschenk des Himmels zu sein: Endlich bot sich die Möglichkeit, zumindest an einer Front zu siegen, denn natür­ lich mußten sich die Unruhen im Hinterland auf die russi­ schen Soldaten auswirken und deren Kampfgeist weiter ver­ mindern. Um dem ein wenig nachzuhelfen, faßte die deut­ sche OHL, deren Führung auf das Gespann HindenburgLudendorff übergegangen war, im April 1917 den - wie die Exzellenzen fanden - »ganz kolossalen« Entschluß, den Zu­ sammenbruch des einstigen Zarenreiches dadurch zu be­ schleunigen, daß sie die Führer des marxistisch-revolutionä­ ren Teils der russischen Sozialdemokratie aus deren schwei­ zerischem Exil quer durch das von Deutschland beherrschte Gebiet heimlich nach St. Petersburg fahren ließ - in einem, wie sich fast von selbst versteht, gut bewachten, verschlosse­ nen und versiegelten Eisenbahnwaggon sowie gegen das Ver­ sprechen, in Rußland sofort und »mit allen Mitteln« auf die Beendigung des Kriegs mit Deutschland und Österreich hin­ zuwirken. Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, der unbestritte­ ne Führer der Bolschewiki - das bedeutete: Mehrheitsgrup­ pe, denn der revolutionäre Teil der russischen Sozialdemo­ kraten hatte bei den innerparteilichen Auseinandersetzungen die Mehrheit der Delegierten gestellt -, kehrte so nach fünf­ zehnjährigem Exil mit kaiserlich deutscher Hilfe in sein Hei­ matland zurück. Am 16. April 1917 traf er in St. Petersburg ein, wo er bald die Führung der revolutionären Bewegung an sich riß. Am selben Tag begann auch in Deutschland eine revolutio­ näre Lage heranzureifen. Hervorgerufen durch drastische Kürzungen der ohnehin kärglichen Lebensmittelzuteilun­ gen, traten an diesem Tage große Teile der deutschen Rü­ stungsarbeiter in den Streik. Allein in Berlin legten mehr als dreihunderttausend Männer und Frauen die Arbeit nieder. Ihre Forderungen waren: eine sofortige Erklärung für einen

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Frieden ohne Ansprüche auf fremdes Gebiet; Aufhebung des Belagerungszustands und der Zensur; Freilassung'aller politi­ schen Gefangenen; bessere ^Versorgung .mit Lebensmitteln und ein demokratisches Wahlrecht in allen Bundesstaaten. Es gelang zwar der Regierung, nicht zuletzt mit Hilfe der SPD- und Gewerkschaftsführung, den Streik binnen weniger Tage zu beenden, teils durch höhere Fleisch-, Brot- und Kar­ toffelzuteilungen, teils durch Unterstellung der Arbeiter un­ ter die Befehlsgewalt der örtlichen Militärkommandanten. Aber der Massenstreik bewirkte doch eine starke Politisie­ rung der Arbeiterschaft und machte auf die herrschende Klas­ se tiefen Eindruck. Ebenfalls im April 1917 kam es in Gotha zur Gründung einer Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutsch­ lands (USPD), die sich von der Mutterpartei, die unter der Führung Eberts die Kriegspolitik weiter unterstützte, organi­ satorisch trennte. Der neuen USPD, deren Führung Hugo Haase übernahm, unterstützt von einer ganzen Reihe promi­ nenter Reichstagsabgeordneter, aber auch von Karl Kautsky, dem einflußreichsten Theoretiker der alten SPD, schlossen sich - mit einigen ideologischen Vorbehalten - die in der so­ genannten Spartakus-Gruppe * vereinigten Linken um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht an. Für die Rest-SPD, die sich, weil ihr die Mehrheit der sozialdemokratischen Reichs­ tagsfraktion treu geblieben war, als Partei der Mehrheitsso­ zialisten bezeichnen konnte, war dies ein schwerer Schlag. Doch die alte Führung setzte ihren Kurs unbeirrt fort. Sie be­ nutzte die immer noch große Macht, die ihr verblieben war, Spartakus war der Anführer eines großen Aufstands der Sklaven gegen die Römer, der im Jahr 73 v.Chr. begann, nachdem es Spartakus gelungen war, mit 70 anderen Sklaven aus Capua zu entfliehen. Binnen weniger Mona­ te sammelte er mehr als 60000 Mann um sich, besiegte mehrmals römische Heere und fiel in der Entscheidungsschlacht in Lukanien. Die »Spartakus-Gruppe« des Jahres 1917 erhielt ihren Namen von illega­ len Flugblättern, die Karl Liebknecht vom Januar 1916 an unter dem Namen »Spartakusbriefe« herausgab.

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nicht einmal dazu, jetzt stärkeren Einfluß auf das Gerangel zu nehmen, das im Frühsommer 1917 zwischen dem Kanzler Bethmann Hollweg, der Reichstagsopposition und Luden­ dorff begann. Und dabei hätte die SPD-Führung mit der blo­ ßen Drohung, den Widerstand gegen den Krieg auszurufen, eine Politik erzwingen können, die Deutschland vor dem Äußersten bewahrt hätte. Die »Mehrheitssozialisten« im Reichstag begnügten sich indessen damit, im Bündnis mit dem Zentrum und den Linksliberalen den Reichskanzler Bethmann Hollweg stürzen zu helfen. Sie überließen die Führung dem Zentrumspolitiker Matthias Erzberger, der wie damals auch Gustav Stresemann, der Führer der Natio­ nalliberalen - die ausschweifende Kriegszielpolitik der Groß­ industrie und der Obersten Heeresleitung voll und ganz un­ terstützte. Dieses Zweckbündnis des Sommers 1917, bei dem schon die Weichen für die Zeit nach dem Kriege gestellt wur­ den, als die »Weimarer Koalition« aus SPD, Zentrum und Demokraten die Führung in Deutschland übernahm, war das Ergebnis einer großangelegten Intrige, bei der die Mehrheit der beteiligten Reichstagsabgeordneten die mißbrauchten Tölpel waren, die - ohne sich dessen bewußt zu werden - ge­ nau das taten, was Ludendorff wollte: die völlige Entmach­ tung der Zivilisten einschließlich Kanzler und Kaiser durch eine Diktatur der Militärs, was praktisch hinauslief auf eine Alleinherrschaft Ludendorffs mit dem Feldmarschall Hin­ denburg als Aushängeschild. Reichskanzler Bethmann Hollweg war den Militärs lästig geworden, weil er im Sommer 1917 einen Verständigungs­ frieden anstrebte, und zwar aus der Erkenntnis heraus, daß a) der Schützengrabenkrieg an der Westfront militärisch nicht zu gewinnen sei, b) das Übergewicht der westlichen Kriegs­ gegner durch den Kriegseintritt Amerikas binnen weniger Monate gewaltig zunehmen würde, c) die Lage an der Ost­ front sich wegen der Revolution in Rußland günstiger ent­ wickelt hätte, als zu hoffen gewesen war, und d) der auf 456

Drängen der OHL begonnene uneingeschränkte U-BootKrieg zwar, wie vorausgesehen, die USA an die Seite Eng­ lands und Frankreichs gebraiht hatte, aber sein Ziel, die Blokkade Deutschlands zu brechen und Großbritannien durch Aushungerung in die Knie zu zwingen, nicht erreichen konn­ te. Denn - wie der Kanzler wußte, aber nicht offen ausspre­ chen durfte - für ein Gelingen des U-Boot-Kriegs, von dem man die entscheidende Wende des großen Ringens erwartete, fehlte es an der wichtigsten Voraussetzung: Deutschland hat­ te dafür bei weitem nicht genug, nämlich nur etwa 110 Unter­ seeboote, und der Neubau konnte gerade mit den Verlusten Schritt halten. Der Kanzler, der aus Schwäche mitschuldig geworden war am Entstehen dieser verzweifelten Lage, suchte nun, wieder­ um halbherzig, durch einen raschen Verständigungsfrieden den, wie er klar erkannte, letzten Ausweg; die ReichstagsOpposition, die in großer Mehrheit jetzt gleichfalls einen Frieden ohne Eroberungen * wollte, hätte Bethmann Hollweg dabei kräftig unterstützen können. Statt dessen ließen sich SPD, Zentrum und Liberale von Matthias Erzberger vor den Karren Ludendorffs spannen, dessen Ziel es war, allem »Ver­ ständigungs-Gefasel« ein Ende zu machen und einen »Sieg­ frieden« zu erzwingen, der dem Reich gewaltige Eroberun­ gen bringen und die Weltherrschaft sichern sollte. Am 14.Juli 1917 mußte Bethmann Hollweg abdanken; Erzberger'sorgte für einen ihm genehmen, völlig unbedeu­ tenden Nachfolger, seinen Parteifreund Georg Michaelis, der, zum bloßen Vollzugsbeamten der Obersten Heereslei­ tung degradiert, den Sozialdemokraten und bürgerlichen Li­ beralen aber damit schmackhaft gemacht wurde, daß er nicht adlig, folglich als erster bürgerlicher Kanzler eine Verkörpe­ rung des endlichen Siegs der Demokratie wäre! Wie indessen die deutsche Führung über Demokratie noch immer dachte, das erfuhren die Führer der großen Parteien, unter ihnen Friedrich Ebert, schon wenige Tage später. 457

Nachdem der Reichstag am 19. Juli 1917 eine von Erzberger ausgetüftelte, nach Lage der Dinge völlig unzureichende, von den Mehrheitssozialisten als unbefriedigend angesehene, aber befürwortete Friedensresolution angenommen hatte, wurden die maßgebenden Politiker tags darauf von Wilhelm II. emp­ fangen. »Es ist sehr gut, daß der Reichstag einen Frieden des Ausgleichs wünscht«, erklärte ihnen der Kaiser schon zur Be­ grüßung. »Das Wort >Ausgleich< ist ausgezeichnet! ... Der Ausgleich besteht eben darin, daß wir den Feinden Geld, Rohstoffe, Baumwolle, öl wegnehmen und aus ihrer Tasche in unsere fließen lassen. Ausgleich - das ist ein ganz famoses Wort!« Alsdann entwickelte ihnen der Kaiser, wie er die Kriegslage zu sehen geruhte und welche Ziele ihm vorschwebten: »In zwei bis drei Monaten ist England erledigt... Am Schluß des Krieges wird eine große Verständigung mit Frankreich kom­ men. Dann wird ganz Europa unter Meiner Führung den ei­ gentlichen Krieg gegen England beginnen, den Zweiten Puni* schen ... Die untere Donau muß später nach dem Schwar­ zen Meer abgeleitet werden, das ist die verdiente Strafe für Rumäniens Treubruch!« Und dann erzählte er den Parlamen­ tariern, wie »die preußische Garde in Galizien den Russen den demokratischen Staub aus den Westen geklopft« habe und schloß seinen Bericht mit den Worten: »Ja, meine Her­ ren, wo die Garde auftritt, da gibt’s keine Demokratie mehr!« Die führenden Politiker des Deutschen Reiches, auch die Konservativen unter ihnen, hörten - so Matthias Erzberger»mit steigendem Entsetzen« die Narreteien, Unverschämt­ heiten und arroganten Dümmlichkeiten des Obersten Kriegs­ herrn. Aber es war keiner unter ihnen, der es gewagt hätte, * Im Zweiten Punischen Krieg, 218—201 vor unserer Zeitrechnung, wurde das anfangs siegreiche Karthago schließlich von Rom besiegt, auf sein afrika­ nisches Gebiet beschränkt, mußte eine sehr hohe Kriegsentschädigung zah­ len, fast alle seine Schiffe an Rom ausliefern und sich römischer Oberhoheit unterwerfen.

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dem Kaiser zu widersprechen, ihm auch nur mit allem Re­ spekt die Wahrheit zu sagen oder doch zumindest nicht zuzu­ stimmen. 1 Und so ging der Krieg weiter, noch sechzehn Monate lang. Der allmächtige General Ludendorff verstand es, alle Frie­ densbemühungen, zumal die des Papstes vom Sommer 1917, zum Scheitern zu bringen, die »Angliederung« großer Teile Belgiens - ohne dessen volle Wiederherstellung kein Friede mit England denkbar war - für »unerläßlich« zu erklären und die Friedensverhandlungen mit Rußland, die im Dezember 1917 begannen, zu einer für alle Welt sichtbaren Demonstra­ tion ungezügelter deutscher Eroberungssucht zu machen, die die zaghaften Reichstagsresolutionen für einen Frieden der Verständigung und des Ausgleichs als heuchlerische Lügen erscheinen ließ. Am 7. November 1917 hatten in Rußland die Bolschewiki unter Führung Lenins die Macht errungen; wenige Tage spä­ ter boten sie, wie Lenin es versprochen hatte, dem Reich Ver­ handlungen über einen Sonderfrieden an. »Jetzt«, so bemerk­ te hierzu Winston Churchill in seinen Erinnerungen, »hätte sich zweifellos (der deutschen Führung) eine günstige Gele­ genheit für Friedensverhandlungen (auch mit seinen westli­ chen Kriegsgegnern) geboten: Rußland zerschlagen, Italien röchelnd,"Frankreich erschöpft, die britischen Armeen ver­ blutet, die U-Boote noch nicht niedergerungen, die Vereinig­ ten Staaten'dreitausend Meilen entfernt - alle diese Faktoren schufen eine Lage, die Deutschlands Führerschaft hätte be­ nutzen können ..., Frankreich wichtige territoriale Konzes­ sionen und Großbritannien die vollständige Wiederherstel­ lung Belgiens anzubieten. So standen die Grundzüge dieser großen Chance. Es war die letzte.« Deutschland nutzte die Chance nicht, weder im Westen noch im Osten. Es diktierte auf Geheiß Ludendorffs und der ihn stützenden Großindustrie den Russen in Brest-Litowsk einen Frieden, dessen Härte die Welt den Atem anhalten ließ.

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Die Alldeutschen und Konservativen im Reich und ihr bür­ gerlicher Anhang jubelten auf. »Rußland, das keine Entschä­ digung geben wollte«, erklärte die Allgemeine EvangelischLutherische Kirchenzeitung ihrer Leserschaft, »mußte in letz­ ter Minute unermeßliche Beute hergeben: 800 Lokomotiven, 8000 Eisenbahnwaggons mit allerlei Schätzen und Lebens­ mitteln; Gott wußte, daß wir es brauchten. Und weiter brauchten wir Geschütze und Munition, zum letzten Schlag gegen den Feind im Westen. Auch das wußte Gott. So schenkte er uns aus freier Hand, denn Gott ist reich, 2600 Ge­ schütze, 5000 Maschinengewehre, zwei Millionen Schuß für die Artillerie, Gewehre, Flugzeuge, Kraftwagen und unge­ zähltes andere.« Zu dem ungezählten anderen, das die Russen - zwar nicht »aus freier Hand«, sondern unter der Drohung eines deut­ schen Einmarschs, gegen den es zu diesem Zeitpunkt keinen organisierten Widerstand gab - in Brest-Litowsk hergeben mußten, gehörten aber auch Finnland, die baltischen Länder, Polen, Bessarabien, die Ukraine, die Krim und der Kaukasus. Und diese gewaltigen Eroberungen banden in den folgenden Monaten die deutschen Armeen, die man eigentlich für die Westfront hatte freibekommen wollen, als für die beabsich­ tigte Ausbeutung unerläßliche Besatzungstruppen. Es war ein riesiger, wenngleich sinnloser Raub aus purer Gier, be­ gleitet von einem jämmerlichen Gezänk um die Throne und Thrönchen in den erbeuteten Ländern, auf die die Fürsten­ häuser der deutschen Zwergstaaten sogleich Anspruch erho­ ben und wie die Fischweiber zu streiten begannen, während gleichzeitig ein großer Friedensplan des amerikanischen Prä­ sidenten Woodrow Wilson von den Leitartiklern der bürger­ lichen Presse als »weltfremde Phantasterei« abgetan und ver­ spottet wurde. Man tat dem Volk gegenüber in Deutschland noch immer so, als läge der Sieg in greifbarer Nähe und dann die Welt dem Reich zu Füßen.

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Lenin, der dem russischen Volk gegenüber nichts zu be­ schönigen versuchte, erklärte zu dem Diktat von Brest-Litowsk: »Die Masse hat die Wahrheit begriffen, daß wir den schwersten, den erniedrigendsten Friedensvertrag unter­ zeichnen müssen, weil wir keine Armee haben und neben uns ein Räuber steht ... Wenn man sich nicht anpassen kann, wenn man nicht fähig ist, auf dem Bauch durch den Schmutz zu kriechen, dann ist man kein Revolutionär, sondern ein Schwätzer ... Fort mit den Illusionen, für die euch das Leben gestraft hat und noch mehr strafen wird!« Der Allrussische Räte-Kongreß nahm daraufhin mit gro­ ßer Mehrheit die fürchterlichen Friedensbedingungen an. Immerhin erhielten sie die junge, von allen Seiten bedrängte und noch wehrlose Sowjetunion gerade noch am Leben. Und zugleich verleiteten sie, gerade durch ihre Unmäßigkeit, die Führung des Deutschen Reichs zu einer letzten, wie sich rasch zeigte: selbstmörderischen Kriegsanstrengung an der Westfront. Der Versuch, den Krieg im Westen militärisch zu gewin­ nen, war von vornherein aussichtslos. Österreich-Ungarn stand, wie die Oberste Heeresleitung sehr gut wußte, unmit­ telbar vor dem völligen Zusammenbruch und bedurfte drin­ gend militärischer Hilfe; in Deutschland hatte die russische Beute keine für die Masse des Volks spürbare Verbesserung der Lebensmittelversorgung gebracht; die Nahrung, die man den verhungernden Russen geraubt hatte, war in Etappende­ pots versickert, in Offizierskasinos und -bordellen verpraßt oder auf dem schwarzen Markt verschoben worden. Die Kriegsmüdigkeit des unterernährten, ausgebluteten und ab­ gerackerten Volks nahm immer mehr zu, während der Kampfgeist der Truppe dahinschwand und der eingedrillte Kadavergehorsam laut geäußertem Mißmut, ja hie und da of­ fener Rebellion Platz zu machen begann. Ausgerechnet bei des Kaisers Lieblingsspielzeug, der Hochseeflotte, war es be­ reits im Sommer 1917 zu den ersten Aufständen gekommen. 461

Sie waren rasch niedergeschlagen worden; die Anführer, die Matrosen Max Reichpietsch und Albin Köbis vom Schlacht­ schiff »Prinzregent Luitpold« waren zum Tode verurteilt und erschossen worden; weitere dreiundfünfzig Seeleute hatte man zu langen Zuchthausstrafen verurteilt. Aber die revolu­ tionäre Stimmung war dadurch nicht beseitigt worden. Trotz alledem entschloß sich General Ludendorff zu einer gewaltigen Offensive an der Westfront. Sie begann Ende März 1918 und dauerte bis Mitte Juli, kostete Hunderttau­ senden das Leben und brachte »erhebliche Geländegewinne«, außerdem - aber das vertraute Ludendorff nur seinem Tage­ buch an - die Erkenntnis, »daß der feindliche Widerstand stärker war als unsere Kraft«, wie nun »einwandfrei erwie­ sen« wäre. Im übrigen hatte die deutsche Armee nur das Ge­ biet zurückerobert, das sie 1917 selbst geräumt und vollstän­ dig zerstört hatte: eine verwüstete, aus Trichterfeldern, Mas­ sengräbern, Mauerresten einstiger Dörfer und eingefallenen Schützengräben bestehende Mondlandschaft. Und dafür wa­ ren die letzten Reserven, mit denen man bei sofortigen Frie­ densverhandlungen noch ein wenig hätte auftrumpfen kön­ nen, sinnlos aufgeopfert worden. »Die ganze Erdoberfläche bestand nur noch aus einer Reihe ineinandergreifender Granattrichter, die zur Hälfte mit gel­ bem, schlammigem Wasser angefüllt waren«, heißt es dazu im Kriegstagebuch eines deutschen Offiziers. »Hunderte und Aberhunderte unverwundeter Leute, die, während sie zum Angriff vorrückten, in diese Tümpel fielen, sind darin ertrun­ ken ... Die Artillerie und die Tanks blieben im Sumpf stekken. Unverwundete Soldaten zu Hunderten und Verwundete zu Tausenden versanken unrettbar im Schlamm. Die Soldaten ... schliefen in Schlammlöchern. Wenn sie vorwärts wateten, wurden sie niedergeschossen; wenn sie verwundet wurden, ertranken sie ... Die Überlebenden schleppten sich ... von ei­ nem Granattrichter zum anderen und rückten im Monat un­ gefähr ... ein bis zwei Kilometer weit vor.« 462

Während die deutsche Offensive im Niemandsland stekkenblieb und ausflackerte, trafen die ersten amerikanischen Truppen in Frankreich ein? »Der Eindruck, den diese an­ scheinend unerschöpfliche Flut blühender, kraft- und ge­ sundheitsstrotzender Jugend auf die schwergeprüften Fran­ zosen machte, war überwältigend«, schrieb der französische General Pierrefeu. »Keiner war unter zwanzig und nur weni­ ge über dreißig Jahre alt. So wie sie in ihren Lastwagen die Straße entlangratterten, die Lieder einer neuen Welt mit erho­ bener Stimme singend, vor Begierde brennend, das blutige Schlachtfeld zu erreichen, schienen sie dem französischen Hauptquartier wie der Pulsschlag eines neuen Lebens.« Am 8. August 1918 begannen die Truppen der Westmächte mit ihrem großen Gegenangriff. Sie durchbrachen mit »Tanks« genannten Panzerwagen auf breiter Front die deut­ schen Stellungen und überrollten alle von der Obersten Hee­ resleitung als »unüberwindlich« gepriesenen und mit hoch­ trabenden Nämen aus der germanischen Sagenwelt belegten Abwehrsysteme und Auffangstellungen. Bei der Lagebesprechung im Großen Hauptquartier am 14. August 1918 gab Ludendorff eine Schilderung der Situa­ tion, die der Staatssekretär des Äußeren, Paul von Hintze, so zusammenfaßte: Die Oberste Heeresleitung habe »die kriegerische Situation dahin definiert, daß wir den Kriegswillen unserer Feinde durch kriegerische Handlungen nicht mehr zu brechen hof­ fen dürfen und daß unsere Kriegführung sich als Ziel setzen müsse, durch eine strategische Defensive den Kriegswillen des Feindes mählich zu lähmen. Die politische Leitung beugt sich vor diesem Ausspruch der größten Feldherren, die dieser Krieg hervorgebracht hat und zieht daraus die politische Konsequenz, daß politisch wir außerstande sein würden, den Kriegswillen des Gegners zu brechen und daß wir daher ge­ zwungen seien, dieser Kriegslage in der Führung unserer Po­ litik hinfort Rechnung zu tragen.« Dies bedeutete in dürren 463

Worten: Der Krieg ist militärisch nicht mehr zu gewinnen; jetzt mögen die Politiker sehen, wie sie ihn beenden, solange das Heer den vordringenden Feind noch eine kurze Zeit auf­ halten kann. Doch es geschah gar nichts. Der amtierende Reichskanzler - es war der 75jährige Graf Hertling, der mit Ludendorffs Einverständnis die Nachfolge des nach hunderttägiger Scheinregierung wieder abgetretenen Michaelis hatte über­ nehmen müssen — hätte nicht einmal gewagt, etwas zu unter­ nehmen, wenn ihm ein Einfall gekommen wäre, was man tun könnte. Der bayerische Graf, dem das Berliner Tageblatt in einem Artikel seines Chefredakteurs Theodor Wolff »ge­ pflegte Altersgrazie und die feine Routine eines an den Um­ gang mit Prinzessinnen gewohnten Hofministers« beschei­ nigte, wußte nur zu gut, daß in Berlin die Zivilisten den Mili­ tärs allemal zu gehorchen und auf deren Befehle zu warten hatten. Und so harrten er und seine Staatssekretäre, Geheim­ räte und Diplomaten geduldig auf weitere Order der Ober­ sten Heeresleitung, während die Zeit verrann und an der Front weiter gekämpft und gestorben wurde. Die deutschen Armeen an der Westfront, insgesamt zwei­ einhalb Millionen Mann, waren zwar auf ein weiter zurück­ liegendes Verteidigungssystem, die sogenannte »Siegfriedli­ nie«, gedrängt worden und standen der zahlenmäßig doppel­ ten Übermacht, darunter zwei Millionen Mann frischer ame­ rikanischer Truppen, ohne jede Aussicht auf Sieg gegenüber; aber sie hielten noch immer den größten Teil Belgiens, ganz Luxemburg sowie die nord- und nordostfranzösischen Grenzprovinzen mit ihren reichen Erz- und Kohlevorkom­ men besetzt. Es hätte also durchaus noch Verhandlungsmög­ lichkeiten gegeben. Winston Churchill, einer der maßgeben­ den englischen Politiker des Ersten Weltkriegs, bestätigte dies in seinen Memoiren, wo es dazu heißt: »Die Befreiung des Bodens Frankreichs war der alles beherrschende Ansporn des französischen Volkes zur weiteren Fortsetzung des

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Kampfes. Die Befreiung Belgiens war immer noch der Hauptgrund für den Entschluß Großbritanniens, Krieg zu führen. Hätte daher Deutschland diese beiden Motive aus dem Weg geräumt, sich mit den Waffen in der Hand an die Grenzen seines eigenen Landes gestellt und sich bereit er­ klärt, den Frieden eines Besiegten einzugehen, Landbesitz zu opfern und Kriegsentschädigung zu leisten, sich aber ander­ seits auch entschlossen gezeigt, die Verteidigung seiner Lan­ desgrenzen bis zum Äußersten durchzuführen, falls die Ver­ handlungen fehlschlugen, gewillt und imstande, einer feindli­ chen Invasionsarmee Millionenverluste zuzufügen - dann schien und scheint es heute noch, daß Deutschland viel von seinen Prüfungen hätte erspart bleiben können.« Doch die konservativen Kräfte in Deutschland dachten gar nicht daran, sich von solchen rationalen Erwägungen leiten zu lassen. Die Oberste Heeresleitung, die deutsche Großindustrie und die von ihr finanzierten Alldeutschen hingen noch immer an ihren wahrtwitzigen Kriegszielen; sie waren allenfalls be­ reit, auf Madagaskar und Katanga, Rhodesien und Mozambi­ que zu verzichten, vielleicht noch auf Obervolta und die Kap­ verdischen Inseln, weil selbst sie einsahen, daß für Eroberun­ gen, die man nie gemacht hatte und in absehbarer Zeit auch nicht mehr machen würde, gegnerische Zugeständnisse kaum zu erwarten waren. Aber alles, was noch in deutscher Hand war, wollten sie unbedingt behalten (und dazu gern noch ei­ niges haben *, was die Armee längst geräumt hatte). Schlimmer noch: Die Oberste Heeresleitung, genauer: Hindenburg und Ludendorff, erklärten plötzlich, es müsse nun schleunigst mit dem Krieg, der militärisch verloren sei, Schluß gemacht wer­ den. Und damit nahmen sie der Regierung jeglichen noch vorhandenen Verhandlungsspielraum. Aber gleichzeitig teil­ te der wackere Feldmarschall Hindenburg dem Chef des Aus­ wärtigen Amts, Paul von Hintze, wie aus dessen Aufzeich­ nungen klar hervorgeht, seinen einem Befehl gleichkommen­ den Wunsch mit, daß bei der Bitte um Waffenstillstand

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»die Annexion von Briey-Longwy * zur Bedingung ge­ macht werden müsse ...« Am 28. September 1918 — inzwischen hatte Bulgarien kapi­ tuliert, und die rumänischen Ölfelder waren endgültig verlo­ rengegangen — befahl Ludendorff »die sofortige Entsendung der deutschen Bitte um Waffenstillstand« und gab zugleich die Anweisung, eine »Umbildung der Regierung oder einen Ausbau derselben auf breiterer Basis« vorzunehmen. Kaiser, Kanzler und Reichstag, daran gewöhnt, von der Obersten Heeresleitung herumkommandiert zu werden, gehorchten, wenn auch stöhnend. Wer auch immer in Deutschland etwas befahl, und wäre es der größte Narr, konnte fest damit rech­ nen, daß man ihm gehorchte. Was aber Ludendorff und sein gut dressierter Vorgesetzter Hindenburg jetzt verlangten, war nicht bloß Narretei. Mit forsch getarnter Feigheit und tückischer Schläue verordneten die Herren, die sich vor der Verantwortung nun eilig zu drükken begannen, für das Auslöffeln der von ihnen und ihresglei­ chen eingebrockten Suppe eine brave neue Regierung »auf breiterer Basis«, und zugleich rührten sie schon heimlich das Gift ein, mit dem die ihnen plötzlich am Herzen liegende De­ mokratie, sobald sie ihre Schuldigkeit getan und das sauer ge­ wordene Süppchen artig ausgelöffelt hatte, wieder schmerz­ los beseitigt werden sollte. Denn einerseits verlangten »die größten Feldherren, die dieser Krieg hervorgebracht« hatte, von der zu bildenden neuen Regierung die sofortige Bitte um Waffenstillstand, was ja von den Gegnern wie vom eigenen Volk nur als Einge­ ständnis der endgültigen Niederlage aufgefaßt werden konn­ te. Anderseits aber gaben sie der Regierung zu verstehen, daß nun »ein erträglicher Friede« ausgehandelt werden müßte, natürlich nicht von ihnen, den alten Militärs, sondern von Im Gebiet der französischen Städte Briey und Longwy, nahe der belgisch­ luxemburgischen Grenze im Departement Meurthe-et-Moselle gelegen, gibt es reiche Eisenerzlager.

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neuen Männern, die beim Gegner Vertrauen genossen. Sie ta­ ten so, als könnten sie jederzeit, falls die Friedensbedingun­ gen nicht erträglich genug ausfielen, den Krieg wieder da fort­ setzen, wo sie ihn aufgegeben hatten; als läge es also nur an der Tüchtigkeit der verhandelnden Zivilisten und an der Standhaftigkeit des Volks in der Heimat, ob die Dinge nun ein gutes oder ein schlechtes Ende nehmen würden. In Berlin geschah, was Ludendorff angeordnet hatte. Wi­ derstandslos ergab sich das alte Preußen; keine Hand rührte sich, der Umwandlung des von Bismarck geschaffenen auto­ ritären, fast absolutistischen Regimes in eine parlamentari­ sche Demokratie Einhalt zu gebieten. WilhelmII. unter­ zeichnete Verfassungsänderungen von größter Tragweite wie belanglose Ansichtskarten; zwischendurch entließ er den Grafen Hertling und ernannte seinen Vetter, den als sehr libe­ ral geltenden Prinz Max von Baden, zum neuen Reichskanz­ ler, der seinerseits sozialdemokratische, liberale und Zen­ trumspolitiker an die Spitze der Ministerien stellte. Damit hatte die neue Regierung die geforderte »breitere Basis« und das Vertrauen des Reichstags. Das Hohenzollernreich war auf Befehl Ludendorffs ohne Revolution in eine Demokratie englischer Art, mit einem Schattenkaiser im Hintergrund, verwandelt worden, und da die Mehrheitssozialisten, im Ka­ binett vertreten durch Philipp Scheidemann, der 1917 neben Ebert Parteivorsitzender geworden war, und Gustav Bauer, einen führenden Mahn der Freien Gewerkschaften, sowie durch Dr. Eduard David und Robert Schmidt, brav mitmach­ ten, schien auch die von Ludendorff geforderte »Standhaftig­ keit der Heimat« gesichert zu sein. Bereits am Nachmittag des 3. Oktober 1918 schickte Prinz Max von Baden, nachdem er sich einen Tag lang Ludendorffs Forderung, unverzüglich um sofortigen Waffenstillstand zu bitten, widersetzt hatte, die gewünschte Botschaft an den amerikanischen Präsidenten Wilson ab. »Um weiteres Blut­ vergießen zu vermeiden, ersucht die deutsche Regierung den 467

sofortigen Abschluß eines Waffenstillstands zu Lande, zu Wasser und in der Luft herbeizuführen«, lautete der Kern­ satz. Ehe er die Depesche abschickte, ließ es sich Prinz Max von Baden vom Generalfeldmarschall Hindenburg schriftlich geben, daß »es geboten sei, den Kampf abzubrechen«. Auch Ludendorff wurde nochmals um Bestätigung seiner Forde­ rung gebeten. Er erklärte kategorisch, das Waffenstill­ standsersuchen dürfe nicht länger verzögert werden; es »kön­ ne von entscheidender Bedeutung werden, ob das deutsche Heer vierundzwanzig Stunden früher oder später die er­ betene Waffenruhe erhielte«. In den folgenden Oktobertagen kam es zu einem regen No­ tenwechsel zwischen Washington und Berlin, und es wurde dabei immer klarer, daß die Westmächte sich erstens nicht, wie das Auswärtige Amt gehofft hatte, gegeneinander aus­ spielen ließen; daß sie zweitens vor Abschluß eines Waffen­ stillstands die Gewähr dafür haben wollten, daß Deutschland nicht noch einmal die Waffen erheben und alle eroberten Ge­ biete unverzüglich räumen würde, und daß drittens keine Be­ reitschaft bei den Siegern bestand, »mit den militärischen Be­ herrschern und monarchischen Autokraten Deutschlands« zu verhandeln, vielmehr allein mit »den Vertretern des deut­ schen Volkes«. Das war zwar im Sinne Ludendorffs, aber sein ihm sonst so ergebener Generalfeldmarschall konnte ihm da nicht mehr folgen. Friedensverhandlungen ohne sein Mitspracherecht das war Hindenburg zuviel. Am Tag nach dem Eintreffen der amerikanischen Note, die diese den Marschall so kränkende Bedingung enthielt, erließ er einen Aufruf an alle Soldaten, »den Widerstand mit äußersten Kräften fortzusetzen«. Aber dazu war es zu spät. Es gab niemanden mehr, der be­ reit war, für eine zuvor von der Obersten Heeresleitung ver­ lorengegebene Sache noch zu kämpfen und zu sterben. Und auch die oberste Führung war zu solchen persönlichen Op­ fern selbstverständlich nicht willens. Als Ludendorff am 468

26. Oktober von Wilhelmll. seines Postens enthoben wurde, zugleich mit Vorwürfen überhäuft, weil der Generalstab ihn — so Wilhelm voll Bitterkeit — »um die Errungenschaften Mei­ nes Kaisertums« gebracht habe, lehnte der General das hoch­ herzige kaiserliche Angebot, ihm nun ein Frontkommando zu geben, bescheiden ab. Im weiteren Verlauf der Unterhaltung zwischen dem Kai­ ser und seinen Feldherren vernahmen Hindenburg und Lu­ dendorff aus dem Munde Wilhelms II., er wolle sich nun — der Zeitpunkt erschien ihm dazu günstig, und die beiden Genera­ le enthielten sich jedes Kommentars - ein neues Kaiserreich aufbauen - mit Hilfe der braven Mehrheitssozialisten, die ihm schon seit einiger Zeit prächtig zu gefallen begonnen hät­ ten; sie brauchten nur ihren für Hohenzollern-Ohren un­ schön klingenden Parteinamen ein wenig zu ändern, dann wollte er sich gern an ihre Spitze stellen. Wir werden noch sehen, wie die SPD-Führung ihrerseits zu diesem kühnen Gedanken stand. Zunächst aber gab es für die Sozialdemokraten und die von ihnen mitgetragene Reichsregierung dringendere Sorgen: Der Eisenbahnverkehr und damit auch die ohnehin völlig unzureichende Lebensmit­ telversorgung im Reich waren gefährdet; die Waffenstill­ standsverhandlungen kamen nicht vom Fleck; ÖsterreichUngarns Armee befand sich bereits in voller Auflösung, und das Kaiserreich der Habsburger war auseinandergebrochen wie ein mbrsches Wrack. Nun gab es für Deutschland nicht einmal mehr die Möglichkeit, bei den Verhandlungen mit den Westmächten auf die intakte Grenzverteidigung des Reiches hinzuweisen. Von Südosten her hätten die Alliierten jetzt, da es keine österreichische Front mehr gab, jederzeit nach Deutschland eindringen und es binnen weniger Wochen er­ obern können; die befreiten Völker der Donau-Monarchie wären ihnen dabei sogar behilflich gewesen. Ende Oktober 1918, als jeder in Deutschland wußte, daß der Krieg endgültig verloren und der Zusammenbruch nur

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noch eine Frage von Tagen war, faßte die Leitung der kaiserli­ chen Marine den Entschluß,'die bislang sorgsam geschonten Riesenschiffe der Hochseeflotte rasch noch einzusetzen, ehe der Waffenstillstand den Möglichkeiten, »Waffenruhm« zu erwerben, einen Riegel vorschob. »Die Hochseestreitkräfte sollen zum Angriff und Schlagen gegen die englische Flotte eingesetzt werden«, so lautete der Befehl. Aber die Schiffsbesatzungen, die sich schon ausrechneten, wann sie endlich wieder daheim sein und die Uniform für im­ mer ausziehen könnten, wollten nicht mehr mitmachen. Die Heizer löschten die Feuer unter den Kesseln; die Matrosen verweigerten den Gehorsam. Admiral Franz von Hipper, seit August 1918 Chef der Hochseeflotte, ließ daraufhin seine Schlachtschiffe durch Torpedoboote, deren Mannschaften noch gehorchten, blitzschnell umstellen. Einen Augenblick lang schien es, als wollte der Admiral die eigene Flotte zusam­ menschießen und versenken lassen, aber dann ließ er doch da­ von ab. Statt dessen stürmten Marinesoldaten die Schlacht­ schiffe, deren Besatzungen sich nahezu kampflos ergaben. Alle, die von den Offizieren als »Rädelsführer« bezeichnet wurden, kamen in Haft. Von alledem wußte die Reichsregierung in Berlin nichts. Sie erfuhr auch nicht, daß Admiral von Hipper sein Unter­ nehmen am 31. Oktober aufgab und die ganze Flotte kurzer­ hand nach Kiel verlegte, wo am 3. November die revolutionä­ re Bewegung unter den Mannschaften von neuem aufflammte und nun auch aufs Festland Übergriff. Am 4. November erklärten sich bereits zwanzigtausend Marineangehörige mit den streikenden Heizern und Matro­ sen der Hochseeflotte solidarisch; an den Masten der großen Kriegsschiffe wehten schon rote Fahnen. Am 5. November legten die Arbeiter der Kieler Werften die Arbeit nieder. Die Herrschaft über die Stadt übernahm ein Arbeiter- und Soldaten-Rat, und noch am selben Tag schlossen sich die Arbeiter und Matrosen von Lübeck der Bewegung an. 470

Zwei am 4. November nach Kiel entsandte Beauftragte der Reichsregierung, der Staatssekretär Conrad Haußmann, ein württembergischer Liberale^, und Gustav Noske, der Mili­ tär- und Sicherheitsfachmann des SPD-Parteivorstands, die nach dem Rechten sehen und schnellstens »Ruhe und Ord­ nung« wiederherstellen sollten, mußten erkennen, daß in den Ostseehäfen nichts mehr auszurichten war. Die Massen woll­ ten Schluß mit dem Krieg machen, und die Admirale, die mit ihrem Befehl zum Auslaufen die Bewegung ausgelöst hatten, waren längst nicht mehr Herr der Lage. Haußmann und Noske kehrten also zurück nach Berlin und berichteten dem Reichskanzler Prinz Max von Baden, der verzweifelt ausrief: »Warum nur haben mir die Admirale nichts gesagt?« Die Flottenleitung hatte es verschmäht, ir­ gend jemanden, schon gar nicht »die Zivilisten« in Berlin, in ihre späten Angriffspläne einzuweihen. Und so traf der Ma­ trosenaufstand die mit den Waffenstillstandsverhandlungen beschäftigte Reichsregierung gänzlich unvorbereitet. Am 6. November waren alle Häfen, auch Hamburg und Bremen, in der Hand der Matrosen, Heizer und Werftarbei­ ter. Am 7. November griff die Bewegung auf München über, wo abends im Landtag »die vorläufige verfassunggebende Versammlung der Arbeiter, Soldaten und Bauern Bayerns« unter dem Vorsitz Kurt Eisners zusammentrat, der Bayern zur Republik erklärte; Eisner, ehemals Redakteur sozialde­ mokratischer Zeitungen und seit 1917 führend in der bayeri­ schen USPD, übernahm die Leitung der vorläufigen Regie­ rung. Der 73jährige Bayernkönig Ludwig III. verließ unbe­ helligt München. Etwas verärgert, aber ohne einen Gedanken an Widerstand, unterzeichnete er einige Tage später die Thronverzichtserklärung, und so wie er dankten sie alle ab, die Könige, Großherzöge, Herzöge und Fürsten. Nirgend­ wo kam es zu ernsthaften Kämpfen; kein einziger Offizier stellte sich schützend vor seinen Landesherrn, kein Gardere­ giment verteidigte eines der vielen Schlösser.

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Von allen Oberhäuptern der deutschen Fürstenhäuser, die in den ersten Novembertagen des Jahres 1918 auf unblutige Weise entthront wurden, sträubte sich nur eins und mußte zur Abdankung erst mühsam überredet und förmlich ge­ drängt werden: Kaiser Wilhelm II. Am 29. Oktober hatte der Kaiser bereits seine ihm unsicher gewordene Hauptstadt Berlin verlassen; der Reichskanzler war erst in letzter Minute davon verständigt worden, denn Seine Majestät mißtraute auch seinem Vetter, dem Prinzen Max von Baden, von dem er glaubte, daß er womöglich selbst Kaiser werden wollte. Von Berlin aus reiste Wilhelm II. in seinem luxuriös ausgestatteten Sonderzug in den kleinen Ba­ deort Spa in der belgischen Provinz Lüttich, wo sich das Gro­ ße Hauptquartier Hindenburgs befand. Hier, außerhalb sei­ nes Reiches, unter lauter hohen Offizieren, fühlte sich der Kaiser sicher. Nachdem Prinz Max von Baden vergeblich versucht hatte, den Kaiser zur Rückkehr nach Berlin zu bewegen, schickte er den bürgerlichen Minister Bill Drews nach Spa mit dem Auf­ trag, Seiner Majestät die dringende Bitte des Kabinetts, er möge nun abdanken, »schonend« beizubringen. Drews wur­ de am 1. November von Wilhelm II. im Park des kleinen Schlößchens empfangen, das das Große Hauptquartier sei­ nem Obersten Kriegsherrn bereitgestellt hatte. Der Kaiser, nach Art des »Alten Fritz« auf einen Krückstock gestützt, fuhr den Minister gleich barsch an: »Sie hätten einen solchen Auftrag nach Ihrem Eid ablehnen müssen!« Dann, nach halb­ stündigem Gespräch, bei dem der Kaiser nichts als Phrasen und Ausflüchte vorbrachte, beendete Wilhelm II. die Au­ dienz: »Als preußischer König und Nachfolger Friedrichs des Großen habe ich die Pflicht, auf meinem Posten zu bleiben!«, und dann lud er den verwirrten Drews zum Mittagessen ein. Am Mittwoch, dem 6. November 1918, als die Antikriegs­ bewegung schon die ganze Marine und alle Küstenstädte des Reichs erfaßt hatte, kam endlich der in Berlin sehnsüchtig er472

wartete Anruf aus dem Großen Hauptquartier. Doch er brachte nicht die erhoffte Abdankung Wilhelms II.; vielmehr teilte Generalleutnant Wilf^lm Groener, seit dem 26. Okto­ ber Nachfolger Ludendorffs, im Auftrag des Generalfeld­ marschalls von Hindenburg dem Reichskanzler Prinz Max von Baden offiziell mit, daß nun mit dem Krieg Schluß ge­ macht werden müsse; es bliebe nur noch die Kapitulation, »man« habe jetzt mit der weißen Fahne hinüberzugehen und die gegnerischen Bedingungen, wie sie auch wären, anzuneh­ men. Der Kanzler, der den Stand der Verhandlungen kannte und wußte, daß eine Abdankung Wilhelms II. die Vorbedingung eines Waffenstillstands war, bettelte förmlich um acht, um sechs, um wenigstens fünf Tage Zeit. Aber General Groener blieb fest: Innerhalb der nächsten drei Tage müsse Schluß ge­ macht werden, sonst liefen die Soldaten davon. (Auf den ja ei­ gentlich sehr naheliegenden Gedanken, die Kapitulation wie in den Jahren zuvor den Krieg und die gesamte Politik den Generalen zu überlassen, kam weder der Kanzler noch das Große Hauptquartier. Und so war es denn auch kein hoher Offizierin großer Uniform, der am Ende-am 11. November 1918 - mit der weißen Fahne aus der vordersten deutschen Stellung hinüberging zum Gegner und in einem Eisenbahn­ waggon im Wald von Compiegne den Waffenstillstand zu Lande, zu Wasser und in der Luft im Namen des Deutschen Reiches urfterschreiben mußte, sondern der Volksschullehrer Matthias Erzberger aus Buttenhausen in Württemberg, füh­ render Abgeordneter des Zentrums im Reichstag, der dafür dann wenige Jahre später von rechtsradikalen Offizieren als »Vaterlandsverräter« ermordet wurde ...) Am selben 6. November 1918, an dem General Groener im Namen Hindenburgs den Kanzler »anwies«, schleunigst zu kapitulieren, bot die Führung der SPD den Militärs ein Bünd­ nis an: Die Sozialdemokraten erklärten sich bereit, die Mon­ archie in Deutschland zu erhalten und sich voll hinter »die

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Ordnungsmacht« des Heeres zu stellen, wenn nur die Gene­ rale den Kaiser zur Abdankung bewögen. Anderenfalls, so warnten Ebert und Noske, werde die revolutionäre Welle alle Dämme sprengen. »Wir wissen nicht, ob wir selbst morgen noch auf diesen Stühlen sitzen werden!«, fügte Philipp Schei­ demann hinzu; die Kieler Matrosen hätten auch anderswo be­ reits die Macht an sich gerissen. Fast auf den Knien flehten die Führer der Partei, unter ih­ nen die Nachfolger August Bebels, der erst seit fünf Jahren tot war, die kaiserlichen Generale an, etwas gegen die revolu­ tionäre Erhebung des Volkes, der Matrosen- und Arbeiter­ massen, und für die Erhaltung der Hohenzollernherrschaft zu tun. Friedrich Ebert zu General Groener am Telefon: »Herr General, ich bitte Sie dringend, diese letzte Gelegen­ heit zur Rettung der Monarchie zu ergreifen und beschleunigt die Betreuung eines kaiserlichen Prinzen mit der Regent­ schaft zu veranlassen!« Weitere SPD-Führer und der Vorsit­ zende der Freien Gewerkschaften, Carl Legien, beschworen den General, auf Ebert zu hören; die Katastrophe wäre sonst nicht mehr abzuwenden. Aber Groener blieb fest: Alle kai­ serlichen Prinzen hätten sich verpflichtet, die Nachfolge Wil­ helms II. nicht anzutreten, wenn der Kaiser zurücktrat. Am 7. November - inzwischen ist Bayern schon Republik geworden - ließ sich Prinz Max von Baden ein neues Druck­ mittel einfallen, mit dem er hoffte, den widerspenstigen Kai­ ser zur Abdankung zu bewegen. Zuvor beriet er sich mit Friedrich Ebert: »Wenn es mir gelingt, den Kaiser zu über­ zeugen, habe ich Sie dann auf meiner Seite im Kampf gegen die soziale Revolution?« fragte er. Ebert erwiderte ohne Zö­ gern: »Wenn der Kaiser nicht abdankt, dann ist die soziale Revolution unvermeidlich. Ich aber will sie nicht. Ich hasse sie wie die Sünde!« Und nun, nachdem sich der Reichskanzler der vollen Unterstützung der SPD-Führung sicher war, teilte er den Herren in Spa und dem Kaiser selbst telefonisch mit, die Mehrheitssozialisten forderten ultimativ den Rücktritt 474

Seiner Majestät; anderenfalls würden sie aus der Regierung austreten und selbst die Revolution anführen; dann müsse auch er um seine Entlassung als Reichskanzler bitten. Auf jede erdenkliche Weise versuchte Prinz Max von Baden sei­ nem kaiserlichen Vetter den Thronverzicht schmackhaft zu machen. Am nächsten Morgen, dem 8.November, kam die Antwort aus Spa, sehr förmlich: »Seine Majestät haben es völ­ lig abgelehnt, auf die Vorschläge Eurer Großherzoglichen Hoheit in der Thronfrage einzugehen, und halten es nach wie vor für ihre Pflicht, auf ihrem Posten zu bleiben.« Am 8. November abends beraten in Spa der Kaiser, Hin­ denburg, Groener und Generaladjutant Hans von Plessen aber nicht über die unvermeidliche Abdankung, die den Krieg endlich beenden, den Bürgerkrieg in der Heimat ver­ meiden könnte. Vielmehr geht es darum, wie man den »Um­ trieben« mit Waffengewalt ein Ende machen und mit »zuver­ lässigen« Divisionen Berlin erobern könnte. Obwohl man in Spa der »schlappen« Regierung, dem Kanzlerprinzen und sei­ nen »roten Kumpanen«, im Grunde tief mißtraut, bespricht man auch das mit ihnen, wie jede Nacht, telefonisch zwischen 23 Uhr und 1 Uhr früh. »Zunächst handelte es sich darum«, so sagt General Groener einige Jahre später als Zeuge aus, »in Berlin den Arbeiter- und Soldatenräten die Gewalt zu entrei­ ßen. Zehn Divisionen sollten in Berlin einmarschieren. Ebert war damit einverstanden und hat zugestimmt, daß sie mit scharfer Mhnition einrücken.« Indessen erfährt die Reichskanzlei bereits am nächsten Morgen, dem 9. November, 10 Uhr, daß die Berliner Garni­ son zu den revolutionären Massen übergegangen sei, als er­ stes Regiment die von Wilhelm II. zum Schutz des Schlosses und zur »Züchtigung der unbotmäßigen Stadt Berlin« be­ stimmten »Alexandriner«, dann die Jüterboger Artillerie und sogar die als »absolut zuverlässig« angesehenen Naumburger Jäger, die man eigens nach Berlin geholt hatte, damit sie die Regierung gegen das kriegsmüde Volk verteidigen sollten.

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Zur selben Stunde hält Wilhelm II. Kriegsrat mit Marschall Hindenburg, General Groener und dem herbeigeholten Chef der die Westfront haltenden Heeresgruppe Deutscher Kron­ prinz, Generalmajor Friedrich Graf von der Schulenburg. Es geht um die vom Kaiser befohlene »Operation gegen die Hei­ mat«. Hindenburg bittet, ihn von Vorschlägen zu entbinden, da es ihm, wie er sagt, »namenlos schwerfällt, seinem Kriegs­ herrn von einem Entschluß abraten zu müssen«, den er »dem Herzen nach freudig begrüßt«, dessen Ausführung er aber »nach reiflicher Überlegung als unmöglich bezeichnen muß«. Etwas weniger herzlich, aber im gleichen Sinn äußert sich Ge­ neral Groener. Graf Schulenburgund des Kaisers »Schatten«, Generaladjutant von Plessen, treten für sofortigen Einsatz der Fronttruppen gegen die »aufrührerische« Heimat ein, wobei Schulenburg gleich praktische Vorschläge macht: »Dem Heer soll gesagt werden, daß ihm seine Schwesterwaf­ fe, die Marine, mit jüdischen Kriegsgewinnlern und Schie­ bern zusammen in den Rücken gefallen sei und die Verpfle­ gung sperre.« Wilhelm II., der inzwischen erfahren hat, daß von sech­ zehn Kommandeuren der für den Marsch auf Berlin be­ stimmten Heeresgruppe des Grafen Schulenburg zwölf die Zuverlässigkeit ihrer Mannschaften glatt verneint, die übri­ gen sie für zweifelhaft erklärt haben, entscheidet sich jetzt ge­ gen die geplante Strafexpedition und will statt dessen »nach dem Waffenstillstand friedlich an der Spitze der Armee in die Heimat zurückkehren«. Aber da steht Groener auf und sagt dem Kaiser die Wahrheit: »Unter seinen Frontoffizieren und Generalen wird das Heer in Ruhe und Ordnung in die Hei­ mat zurückmarschieren, nicht aber unter dem Befehl Eurer Majestät. Es steht nicht mehr hinter Ihnen!« Wilhelm II. braust auf, will diese Behauptung schwarz auf weiß haben. Da kommen die Nachrichten aus Berlin, die das Überlaufen der Garderegimenter zum »roten Mob« melden. Wenig später meldet der Adjutant, die Befragung aller er­

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reichbaren Kommandeure aus drei Heeresgruppen habe erge­ ben, daß General Groener leider Recht habe; die Soldaten sind nicht mehr bereit, für iiiren Obersten Kriegsherren zu kämpfen - nicht gegen den Feind und schon gar nicht gegen die Heimat. Graf Schulenburg macht den närrischen Vorschlag, Seine Majestät möge als Deutscher Kaiser abdanken, aber König von Preußen bleiben. Hindenburg und der gerade eingetrof­ fene Kronprinz begeistern sich für diese - wie sie finden grandiose Idee. Aus der Reichskanzlei in Berlin wird angeru­ fen: Prinz Max fleht den Kaiser an, nicht länger mit der Ab­ dankung zu zögern; es gehe um Minuten. Schulenburg ver­ tröstet den Kanzler: Des Kaisers Entschluß zur Abdankung sei bereits gefaßt, werde nur noch formuliert und in späte­ stens 30 Minuten bekanntgegeben. Mit keinem Wort erwähnt der General die von ihm selbst erfundene Einschränkung, die Abdankung nur als Kaiser, nicht als Preußenkönig. Mit den kümmerlichen Resten seines Kabinetts wartet Prinz Max auf den erlösenden Anruf aus Spa; die sozialdemo­ kratischen Regierungsmitglieder sind abwesend, denn ihr Parteivorstand tagt. Die SPD-Führung beschließt, »zur Ver­ hütung von Schlimmerem« selbst die Macht zu übernehmen. In der Reichskanzlei, wo noch immer kein Bescheid aus Spa eingetroffen ist, entschließt sich Prinz Max von Baden, die ihm ja von Schulenburg klar bestätigte Rücktrittsabsicht als vollendete Tatsache bekanntzugeben. »Der Kaiser und König hat sich entschlossen, dem Throne zu entsagen«, läßt er der Presse mitteilen. »Der Reichskanzler bleibt noch so lange im Amt, bis die mit der Abdankung des Kaisers, dem Thronverzicht des Kronprinzen des Deutschen Reiches und von Preußen und dem Einsetzen der Regent­ schaft verbundenen Fragen geregelt sind. Er beabsichtigt, dem Regenten die Ernennung des Abgeordneten Ebert zum Reichskanzler und die Vorlage eines Gesetzentwurfs wegen der sofortigen Ausschreibung allgemeiner Wahlen für eine

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Verfassunggebende Deutsche Nationalversammlung vorzu­ schlagen, der es obliegen v^ürde, die künftige Staatsform des deutschen Volkes einschließlich der Volksteile, die ihren Ein­ tritt in die Reichsgrenzen wünschen sollten, endgültigfestzu­ stellen.« Mit dieser Mitteilung hofft Prinz Max die Fürstenherr­ schaft in Deutschland zu retten, aber dafür ist es inzwischen zu spät. Kurz nach 12 Uhr mittags erscheint eine Abordnung der SPD-Führung in der Reichskanzlei; sie erklärt dem Prin­ zen, die Lage in Berlin mache es notwendig, sofort eine so­ zialdemokratische Regierung zu bilden. Der Prinz ist einver­ standen. Kurz entschlossen ernennt er Friedrich Ebert zu sei­ nem Nachfolger (wozu er natürlich, genaugenommen, kein Recht hat). Ebert gibt sofort eine Erklärung ab, wonach seine Regierung die Geschäfte übernommen habe, um das deutsche Volk vor Bürgerkrieg und Hungersnot zu bewahren. Er wis­ se, daß es vielen schwerfallen werde, mit den neuen Männern zusammenzuarbeiten. Aber jeder müsse jetzt auf seinem Po­ sten bleiben; die Organisation dürfe nicht versagen. Von Be­ freiung vom Joch jahrhundertelanger Knechtschaft, vom Ende des Militär- und Obrigkeitsstaats, von gesellschaftli­ cher Umwandlung, von Abschaffung der Ausbeutung durch Junker und Kapitalisten, von einer freien demokratischen und sozialistischen Republik - von alledem ist in der ersten Regierungserklärung des Führers der größten sozialistischen Partei der Welt mit keinem Wort die Rede. Aber fast zur gleichen Zeit versucht ein anderer Sozialist diesem Mangel abzuhelfen. Karl Liebknecht, gerade erst aus dem Zuchthaus befreit, hat die Massen zu einer Kundgebung vor dem von revolutionären Matrosen besetzten kaiserlichen Schloß aufgerufen, von dessen Balkon aus er nun die soziali­ stische Republik proklamiert: »Das Alte ist nicht mehr. Die Herrschaft der Hohenzollern, die in diesem Schloß jahrhundertelang gewohnt haben, ist vorüber ... Durch dieses Tor wird die neue sozialistische 478

Freiheit der Arbeiter und Soldaten einziehen. Wir wollen an der Stelle, wo die Kaiserstandarte wehte, die rote Fahne der freien Republik Deutschland hissen!« Die Nachricht, daß Liebknecht die Republik ausgerufen habe, schlägt im Reichstag, wo würdige Herren sehr gemä­ ßigte Debatten führen, wie eine Bombe ein. Philipp Scheide­ mann, führender Sozialdemokrat, erkennt - wie er selbst schreibt - »wie mit einem Blitzstrahl« die Notwendigkeit, den linken Genossen in Windeseile Konkurrenz zu machen. »Wer jetzt die Massen vom Schloß her >bolschewistisch< oder vom Reichstag zum Schloß hin >sozialdemokratisch< in Bewe­ gung bringt, der hat gesiegt«, schießt es ihm durch den Kopf. Minuten später verkündet er vom Balkon des Reichstags aus der dort versammelten Menge ebenfalls die Republik, nun auf mehrheitssozialistisch: »Der Kaiser hat abgedankt! Er und seine Freunde sind verschwunden. Über sie alle hat das Volk auf der ganzen Linie gesiegt. Es lebe die Republik!« Dann kehrte er zurück ins Reichstagsrestaurant, um - wie er berichtete - »den Rest meiner Wassersuppe zu retten«. Da kam Friedrich Ebert auf ihn zu, dunkelrot im Gesicht vor Zorn, schlug mit der Faust auf den Tisch und schrie ihn an: »Ist das wahr? Ist das wirklich wahr?« Scheidemann erklärte ihm, »es« sei nicht nur wahr, son­ dern selbstverständlich. Ebert aber wurde nur noch wüten­ der. »Du hast kein Recht, die Republik auszurufen!« brüllte er, und dahn machte er Scheidemann eine Szene, die dieser unbegreiflich fand. Ebert wollte, wie sich dann zeigte, immer noch die Monar­ chie erhalten. Während er mit der USPD wegen einer ge­ meinsamen Regierungsbildung verhandelte, machte er gleichzeitig am Nachmittag dieses 9. November 1918, kurz nach 17 Uhr, dem Prinzen Max von Baden, der zu ihm ge­ kommen war, um sich zu verabschieden, das Angebot, die Regentschaft zu übernehmen - als Reichsverweser oder was immer er wolle. 479

Prinz Max lehnte ab. »Ich weiß«, sagte er, »daß Sie im Be­ griff sind, mit den Unabhängigen ein Abkommen zu treffen, und mit der USPD kann ich nicht Zusammenarbeiten.« An der Tür wandte sich der Prinz noch einmal zurück: »Herr Ebert, ich lege Ihnen das Deutsche Reich ans Herz!« Und Ebert antwortete: »Ich habe zwei Söhne für dieses Reich ver­ loren ...« Bis zu dieser Stunde hatten 1807000 deutsche Soldaten »für Kaiser und Reich« auf den Schlachtfeldern ihr Leben lassen müssen; von den Soldaten Österreich-Ungarns waren bis da­ hin 1342000 Mann gefallen. England hatte über 800000, Frankreich 1245000 und Italien mehr als 400000 Tote zu beklagen, und mehr als 17000000 russische Soldaten waren für »Zar und Vaterland« geopfert worden; dazu kamen noch mehr als 1,3 Millionen Tote bei den Heeren der Verbündeten beider Machtblöcke. Weitere 6248000 Deutsche und Österreicher waren ver­ wundet, zur Krüppeln geschossen, an Giftgas erblindet oder dämmerten in Heilanstalten dahin. Hunderttausende von Frauen, Kindern und Greisen waren verhungert. Fast in jeder Familie fehlten Söhne, Väter, Ehemänner, die - wie es der Leitartikler der Berliner Morgenpost schon im Juli 1914 vor­ ausgesagt hatte- »für nichts« ihr Leben geopfert hatten als für den Größenwahn und die hemmungslose Habgier einiger we­ niger, die sich jetzt um die Verantwortung feige drückten, während das erschöpfte Heer weiterkämpfen, die Menschen in der Heimat weiterhungern mußten. (In der Woche vom 4. bis zum 11. November 1918 gab es in den Großstädten des Reichs für jeden Normalverbraucher täglich 25 Gramm min­ derwertige Wurst, 160 Gramm »Mischbrot«, 7 Gramm Mar­ garine und 10 Gramm Marmelade sowie als Wochenration 45 Gramm Dörrgemüse und 250 Gramm Kartoffeln.) Der Anführer dieser wenigen, Wilhelm II., saß in einer schönen Villa in Spa am Kaminfeuer, schimpfte über den »schamlosen, empörenden Verrat« des Prinzen Max von

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Baden und die Treulosigkeit des »Mobs von Berlin«, erklärte gleichzeitig seinen Generalen, er bleibe König von Preußen, und als sie ihn fragend ans^haüten, was dies zu bedeuten habe, ließ er sich düster vernehmen: »Bis zum äußersten will ich kämpfen, wenn mir noch einige Herren treu bleiben - und wenn wir alle totgeschlagen werden! Meine Frau rät mir zwar, nach Holland zu gehen. Aber das tue ich nicht! Das wäre wie ein Kapitän, der sein sinkendes Schiff verläßt ...« Die Herren stimmten ihm zu. Alle erwarteten, daß der Kaiser nun an die Front gehen und den Heldentod suchen würde, und er schien dazu auch ent­ schlossen. »Ich werde bei der Truppe bleiben«, erklärte er mit Nachdruck, »bis zum bitteren Ende ...« Dann befahl er, Waffen, Munition und Verpflegung in seine Villa schaffen zu lassen. Vielleicht dachte er wirklich einen Augenblick lang an die Möglichkeit, nach vorn zu seinen Frontsoldaten zu ge­ hen, zu den Männern, die er nur von wohlvorbereiteten, ab­ solut ungefährlichen Besichtigungen her flüchtig kennt. In den Schützengräben wurde zu dieser Zeit- man muß sich dies merken, denn wenig später wird so getan werden, als wären diese Überlegungen am 11. und nicht schon am 9. November angestellt worden - noch geschossen und gestorben. Zwi­ schen dem Abend des 9. November, als der Kaiser an die Front gehen zu wollen schien, und dem Beginn des Waffen­ stillstands am 11. November 1918, vormittags 11 Uhr, fielen an der Westfront noch Hunderte von deutschen Soldaten. Der letzte Heeresbericht meldete: »Bei Abwehr amerikani­ scher Angriffe östlich der Maas zeichneten sich durch erfolg­ reiche Gegenstöße das brandenburgische Reserve-InfanterieRegiment Nr. 207 unter seinem Kommandeur Oberstleut­ nant Hennings und Truppen der 192. sächsischen InfanterieDivision unter Führung des Oberstleutnants v. Zeschau... besonders aus. Infolge Unterzeichnung des Waffenstill­ standsvertrages wurden heute vormittag an allen Fronten die Feindseligkeiten eingestellt.« 481

Auch war der Befehl des Großen Hauptquartiers Gr. H. Qu.Ia Nr. 9191 geheim op. vom 9. Juli 1918 - noch in Kraft, unterschrieben von General Erich Ludendorff. Darin wurde besonders darauf hingewiesen, daß jeder Soldat, der sich »unerlaubter Entfernung« oder eines anderen Feigheits­ delikts schuldig mache, von seinen Vorgesetzten unnachsich­ tig und auf der Stelle zu erschießen wäre. Wilhelm II. hatte keinen Vorgesetzten. Auch eilte es ihm nicht, an die Front zu gehen. »Wenn es denn sein muß - aber nicht vor morgen früh«, ließ er sich zwar bei einem Ab­ schiedsessen - Fasanenkraftbrühe, Seezunge Walewska, Ha­ senrücken usw. - im engsten Kreis vernehmen. Aber es wur­ de nicht völlig klar, was er nun damit meinte. Doch am nächsten Morgen, als ihn sein ältester Sohn, der Kronprinz, sprechen wollte, waren der Kaiser und Plessen schon verschwunden. Seine Majestät hatten sich im Morgen­ grauen mit dem Auto aus dem Staube gemacht und warteten in einem Wachlokal der königlich niederländischen Grenz­ polizei bereits seit Stunden mit sonst nie geübter Geduld auf die Erlaubnis zur Einreise ins neutrale Holland. Zur selben Zeit war Exzellenz Erich Ludendorff, der noch wenige Wochen zuvor fast allmächtige Militärdiktator und Verfasser des G.H.Qu.-Geheimbefehls Nr. 9191, ausnahms­ weise nicht in Generalsuniform, sondern ganz unauffälligem Zivil, mit angeklebtem Bart und blauer Brille getarnt ins gleichfalls neutrale Schweden geflohen. So blieb nur der alte Marschall Paul von Hindenburg und von Beneckendorff, der Mann, der es »dem Herzen nach freudig begrüßt« hätte, wenn es ihm möglich gewesen wäre, die vom Kaiser gewünschte militärische Straf-»Operation ge­ gen die Heimat« durchzuführen. Ihm war es bald vergönnt, doch noch Rache zu nehmen an denen, die er und seine Freunde dann nur noch »die Novemberverbrecher« nannten. Mit der ganzen Autorität des Nationaldenkmals, als das ihn die deutschen Untertanen ansahen, half er kräftig mit, die

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Lügen in die Welt zu setzen, die der jungen deutschen Repu­ blik, kaum daß sie auf wackligen Beinen stand, schon das töd­ liche Krebsgeschwür einpflanzten, an dem sie dann zugrunde ging. Doch zunächst durfte Hindenburg sein, wie er fand, »unbesiegtes Heer« heimführen und die Soldaten zu guter Letzt einen »zackigen Parademarsch kloppen« lassen, der wie er befriedigt feststellen konnte - »auch auf die Arbeiter­ schaft seinen Eindruck nicht verfehlte«.

Kommentar von Kurt Tucholsky: »Der Löwe hat eine Rente von monatlich ungefähr 50000 Mark.

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Etwas später schrieb der wieder pensionierte Generalfeld­ marschall, voller Verachtung für die Wahrheit, die ihm zwei­ fellos nicht »zackig« genug gewesen war, was sich »tatsäch­ lich« am 9. November 1918 im Anschluß an den Abschieds­ schmaus ereignet haben sollte: »Seine Majestät der Kaiser und König ist nicht fahnen­ flüchtig geworden! Diese Verleumdung weise ich mit Entrü­ stung zurück! Der Kaiser ist von uns gegangen, weil ihn sein Volk verlassen hatte. Den Heldentod an der Spitze des Hee­ res war unmöglich, weil gerade« - gleich nach dem Hasenrükken? - »der Waffenstillstand abgeschlossen wurde. Ein Ver­ bleiben Seiner Majestät hätte den Ausbruch des Bürgerkrie­ ges und den Wiederbeginn der Feindseligkeiten nach Außen« - die allerdings erst zwei Tage später, am 11. November vor­ mittags, endeten, aber wer wird so kleinlich sein? - »zur Fol­ ge gehabt. Beides wollte der unglückliche Herrscher dem Va­ terlande ersparen. Es ist leicht, dem toten Löwen einen Fuß­ tritt zu versetzen! gez. von Hindenburg, General-Feldmar­ schall.« Der »unglückliche Herrscher« baute sich, als Hindenburg diese Lügen niederschrieb, gerade seinen Ruhesitz, Haus Doorn bei Amerongen, für 1,35 Millionen holländische Gul­ den zu einem repräsentativen Schloß aus. In den Jahren 1919/20 »entnahm« er aus seinem im Vaterlande zurückge­ bliebenen Vermögen genau 69063535,- Mark. Außerdem zahlte das geschlagene und völlig verarmte Deutsche Reich seinem teuersten Pensionär Monat für Monat rund 50000 Mark Rente - erst unter der Reichspräsidentschaft Friedrich Eberts, dann unter der des Generalfeldmarschalls Paul von Hindenburg und von Beneckendorff (der 1932, diesmal auch mit den Stimmen der Sozialdemokraten, wiedergewählt wur­ de, denn, so hieß es damals auf den Wahlplakaten, »einen Bessern findst du nit!«), und schließlich auch unter der »Füh­ rerschaft Adolf Hitlers. Hindenburgs »toter Löwe« segnete nämlich erst im Som484

mer 1941 im Alter von 82 Jahren das Zeitliche; er jiberlebte als rüstiger und steinreicher Rentner die erste deutsche Republik um fast ein Jahrzehnt. Diese Republik - es war diejenige, die Philipp Scheide­ mann ausgerufen, Friedrich Ebert nicht hatte haben wollen und keineswegs die andere, die von Karl Liebknecht prokla­ miert worden war - ließ nicht nur fast alle deutschen Klein­ staaten bestehen, sondern übernahm auch weitgehend die Gesetze und die gesellschaftliche Ordnung des Kaiserreichs. Die Masse der deutschen Kleinbürger und jener, die danach strebten, Kleinbürger zu werden, fand das völlig in Ordnung; die anderen fügten sich oder mußten sich fügen. Und Max Weber, der führende Soziologe jener Zeit, konnte mit einem liberalen Seufzer, doch auch mit gewissem Stolz feststellen: »Die Nation als solche ist eben doch ein Disziplinvolk.«

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Bildquellen: Bayerische Staatsbibliothek, München; Bildarchiv der österreichischen Na­ tionalbibliothek, Wien; Deutsche Fotothek, Dresden; Fürstlich WaldburgZeil’sches Archiv, Schloß Zeil; Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg; Museum für deutsche Geschichte Berlin; Staatsbibliothek, Berlin, Der Abdruck des Gedichtes »Fragen eines lesenden Arbeiters« erfolgte mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlages, Frankfurt a.M.

Der zweite Band dieses Buches, der die Zeit von 1918 bis zur Gegenwart umfaßt, erscheint 1975.

Personenregister

A Albert von Sachsen-Coburg 17 Alexander I. von Rußland 118, 210, 213f., 221 f., 225ff., 238, 242 Alexander II. von Rußland 347 Anhalt-Zerbst, Grafen von 163 Anshelm, Valerius 101 Arenberg, Herzöge von 209, 237, 294 Arndt, Emst Moritz 228, 259f. Auer, Ignaz 417 Augstein, Rudolf 182 August der Starke 157f.

B Basedow, Johannes Bernhard 38 Bauer, Gustav 467 Bauemjörg s. Waldburg, Georg von Beaconsfield s. Gladstone

Beauhamais, Stephanie de 228 Bebel, August 11, 357ff., 377ff., 385, 389, 391, 407, 417f. 423f., 426, 428, 433, 474 Becker, Johann Philipp 325 Benedikt XV., Papst 459 Berenhorst, Georg Heinrich von, Major 180 Bernhardi, Friedrich von 421 Bernstein, Arthur 435 Bernstein, Eduard 417 Bethmann Hollweg, Theobald von 418, 429, 456f. Bismarck, Otto Fürst von 15, 25, 328, 336f., 344ff., 359f., 362f., 365, 367, 369, 371, 376, 379ff., 387ff., 392ff., 418f., 467 Blohm, Werftbesitzer 413 Blum, Robert 295, 304, 310, 314ff. Bodo 65 Böheim von Niklashausen, Hans 85 f. Börne, Ludwig 41 Borsig, August 261

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Brandenburg, Graf von 318 f, Braun, Lily 417 Brentano (Familie) 328 Brentano, Lorenz 325 Büchner, Georg 272 Bülow, Bernhard Fürst von 416, 418 Burckhardt, Jacob 15 f. Bürger, Gottfried August 199

c Callot, Jacques 136 Camphausen, Ludolf 299 f., 308 Camphausen, Otto 299 Capriovi, Leo Graf von 418 Carl, Herzog von Braunschweig 267 Castell, Fürsten zu 370 Chlodwig 43 ff. Chodowiecki, Daniel Nikolaus 38 Christian, Markgraf von Baden 153 f. Churchill, Winston 442,459,464 f. Clemens VII. 82f.,85 Clemens August 173

Drews, Bill 472 Dürer, Albrecht 77

E Eberhard Ludwig, Herzog von Württemberg 156 Ebert, Friedrich 417, 427f., 432f., 452, 455, 457f., 474ff., 484f. Echtermeyer, Emst Theodor 273 Eduard Fortunatus, Markgraf von Baden-Baden 154 Eisner, Kurt 471 Eißner, Clara s. Zetkin, Clara Engelmann, Bemt 153, 160, 374 Engels, Friedrich 273ff., 286, 291, 308,314,316,322,325,328,354, 356, 358, 378f., 382f., 385, 392, 402, 417, 426, 453 Erasmus von Rotterdam 79 Erbach, Fürsten 104, 160, 294 Ernst August, König von Hannover 262, 273 Erzberger, Matthias 456ff., 473 Eugen, Prinz 177 Eulenburg, Philipp Fürst zu E. und Hertefeld 423

D

F Dahlmann, Friedrich Christoph 273 D’Alembert, Jean le Rond 31 Danckelmann, Eberhard Freiherr von 159, 178 David, Eduard 467 Dett, Klara 130 Dillen, Mignon General von 232 f.

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Falkenhayn, Erich von 441 Ferdinand L, Kaiser 314 Ferdinand II., Kaiser 137ff., 155 Fichte, Johann Gottlieb 260 Fischer, Fritz 434 Flick, Familie 110 Fontane, Theodor 396 Franz L, Kaiser 224

Franz II., Kaiser 205ff., 228ff. Franz Joseph I., Kaiser 429, 448 Franz I. von Frankreich 83 Franz Ferdinand, Erzherzog 429, 448 Freiligrath, Ferdinand 298, 308, 314, 322 Friedrich II., Kaiser 172 Friedrich III., Kaiser 343, 394 Friedrich II., König von Preußen 15, 24f., 29ff., 68f., 73, 180ff., 198, 211, 226 Friedrich Wilhelm I., König von Preußen 36, 176 ff. Friedrich Wilhelm II., König von Preußen 198, 203ff., 317 Friedrich Wilhelm III., König von Preußen 211, 213, 217f., 221 ff., 238ff., 245f.» 252, 287 Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen 287f., 295 f., 298,300 f., 310, 312, 317f., 320, 323, 329, 335, 340, 342, 418 Friedrich Wilhelm, der Große Kurfürst 159 Friedrich, Herzog von Sachsen 91 Friedrich August II., König von Sachsen 295 Friedrich L, König von Württem­ berg 229 ff. Friedrich, Markgraf von Bayreuth 173 Friedrich Wilhelm, Graf von Brandenburg 317 Friedrich Wilhelm I., Kurfürst von Hessen-Kassel 262 Friedrich L, Kurfürst von der Pfalz 130 Friedrich V., Kurfürst von der Pfalz 137 Fritz, Joß 11, 87f. Fröbel, Julius 304, 314f.

Fürstenberg, Fürsten zu 231, 294 f. ' Fugger 15, 74, 83, 99, 101, 116f., 120, 154

G Gagem, Heinrich von 306, 319 Galen, Bernhard von 162 f. Gama, Vasco da 73 Georg I., König von Hannover und Großbritannien 174 Georg III., König von Hannover und Großbritannien 17, 229, 233 Georg von Sachsen 100 Gervinus, Georg Gottfried 273 Geyer, Florian 94, 227 Geyersberg, Geyer von 227 Gladstone, William Ewart 58 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 35 Gneisenau, August Graf Neidhardt von, Generalfeld­ marschall 217f., 220 Goethe, Johann Wolfgang von 31, 35f„ 323 Graevenitz, Fräulein von 156f. Gregor IX., Papst 59 Gregorovius, Ferdinand 84 Grillparzer, Franz 269 Grimm, Brüder 273 Groener, Wilhelm, General­ leutnant 473 ff. Gundling, Jacob (später Freiherr von) 178f. Gustav Adolf, König von Schweden 139 Guttenberg, Barone von und zu 101, 294 f.

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H Haase, Hugo 417, 426, 428, 432f., 452, 455 Hamann, Johann Georg 34 Harden, Maximilian 422 f. Hartmann, Moritz 304 Hauptmann, Gerhart 279 Haußmann, Conrad 471 Heine, Heinrich 279 Heinrich II., Kaiser 65 Heinrich IV., Kaiser 65 Heinrich I., König 49, 51 Heinrich IV, von Frankreich 136 Heinrich der Löwe 15 Helfenstein, Ludwig von 94f. Henckel-Donnersmarck, Fürsten von 370’ Hennings, Oberstleutnant 481 Herder, Johann Gottfried 34 Herding, Georg Graf von 464, 466 f. Herwegh, Georg 302, 356 Hindenburg, Paul von Beneckendorf und von H., Generalfeld­ marschall 25, 442f., 446, 454, 456, 465 f. Hintze, Paul von 463, 465 f. Hipper, Franz von, Admiral 470 Hitler, Adolf 12, 15, 25, 69, 235, 238, 484 Hochberg, Reichsgräfin von 228 Hofer, Andreas 219 Hohenberg, Sophie Herzogin von 429 Hohenheim, Franziska von 194 f. Hohenlohe, Fürsten von 101, 231, 294 Hohenlohe-Langenburg, Hermann Fürst zu 374 Hohenlohe-Schillingsfürst, Chlodwig Fürst zu 369, 418

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Hugenberg, Alfred 420 Humboldt, Alexander von 273 Humboldt, Wilhelm von 260 Hutten, Ulrich von 15, 80 f.

J Jacoby, Johann 11, 287f., 304 Jahn, Friedrich Ludwig 260 Jaurès, Jean 425, 431 Jérôme, König von Westfalen 214, 231, 236, 236f. Johann von Österreich 305 f., 324

K Kant, Immanuel 34, 176 Karl der Große 45 f., 49 Karl L, Kaiser 448 f. Karl V., Kaiser 15, 81, 83ff., 89 Karl VI., Kaiser 184 Karl X. von Frankreich 265 Karl, Erbprinz von Baden 228 Karl Eugen, Herzog von Württemberg 190f., 194f., 197, 229 Karl Friedrich, Großherzog von Baden 196, 226 ff. Karl III. Wilhelm, Markgraf von Durlach 155f. Katharina II. von Rußland 228 Kautsky, Karl 417, 455 Kleist, von, General 450 Köbis, Albin 462 Kolbe, Katharina von s. Rickmers, K.

Kolbe, Kasimir von (Reichsgrai von Wartenberg) 159ff., 178., 208 Kollwitz, Käthe 279 Kolumbus, Christoph 73 Konrad, Truchseß von Urach 52 Konstantin, römischer Kaiser 42 Kossuth, Lajos 313 Kotzebue, August von 257 Krupp, Friedrich 349, 390 Kutusow, Feldmarschall 222

L Ladenburg, Dr. 318f. Lassalle, Ferdinand 355 f. 359, 378 f. Ledebour, Georg 417, 426 Legien, Carl 41t, 474 Leibniz, Gottfried Wilhelm 71, 178 Leiningen, Fürsten zu 294f., 319 Leiningen, Carl zu 305 Lenau, Nikolaus 269 Lenin (Uljanow), Wladimir Iljitsch 454, 459, 461 Leopold L, Kaiser 160f. Leopold II., Kaiser 197 Leopold L, Fürst von Anhalt-Dessau 180 Leopold, Großherzog von Baden 323 Lessing, Gotthold Ephraim 29f-, 34f., 189 Liebknecht, Karl 417, 423ff., 428, 451 f., 455, 485, 478 Liebknecht, Wilhelm 357ff., 364, 374, 377f. Leuchsenring, Arzt 196

Liselotte von der Pfalz 156 List, Friedrich 242 f. Lohe, Henrik von 88 Longfellow, Henry Wadsworth 58 Louis Philippe von Frank­ reich 265, 292 Löwenstein, Fürsten von 101, 104, 231, 294f. Löwenstein, Ludwig Reichsgraf von 130f. Löwenstein-Wertheim, Fürsten zu 370 Ludendorff, Erich, General 15, 420, 442f„ 454ff., 462ff., 473, 482 Ludwig der Fromme 65 Ludwig das Kind 49 Ludwig XIII. von Frank­ reich 138 Ludwig XIV. von Frank­ reich 155f., 175 Ludwig XV. von Frankreich 24 Ludwig XVI. von Frank­ reich 196, 198 ff. Ludwig XVIII. von Frank­ reich 226 Ludwig L, König von Bayern 293 Ludwig II., König von Bayern 363 Ludwig III., König von Bayern 471 Ludwig, Prinz von Baden 227 Lützelstein 130 Luther, Martin llf., 81, 84 f., 89ff., 98ff., 107f. Luxemburg, Rosa 417f., 423, 426, 452f., 455 Lwow, Georgij Fürst 453 f.

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M Malmesburg, Lord 32 Manteuffel, Graf 181 Maria Theresia von Österreich 184f. Marie Antoinette 200 Marie-Louise 224 Marx, Karl 282ff., 286, 289, 308f., 318, 322, 355ff., 378f., 385ff., 402, 417, 427 Matthias, Kaiser 137 Max von Baden, Prinz 467f., 471 ff. Max Josef, Kurfürst von Bayern 210 Maximilian L, Kaiser 95, 116 Maximilian, Kurfürst von Bayern 137 Maximilian II., Joseph, König von Bayern 293 Mehring, Franz 417, 426 Melchers, Paulus 303 Mendelssohn, Moses 34, 189 Merck, Johann Heinrich 36 Merkel, Garlieb 323 Metternich, Clemens Fürst von 225, 229, 238, 247, 258, 292ff. Metzler, Georg 94 Michaelis, Georg 464 Mieroslawski, General 325 Moltke, Helmuth Graf von, 440 Montez, Lola 293 Müntzer, Thomas 90ff., 98, 100f.

N Nachtigal, Gustav 372 Napoléon 1.36,204 f., 207,210ff„ 228, 230f., 233, 236, 238, 240, 246, 256, 348

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Napoleon III. 347f., 359f. Naumann, Friedrich 422 Nettelbeck, Joachim 36, 212 Nicolai, Friedrich 34f., 189 Niebuhr, Marcus von 370 Nikolai Nikolajewitsch, Groß­ fürst 429 Nikolaus I. von Rußland 269 Nikolaus II. von Rußland 453 Nobiling, Karl 380 Noske, Gustav 417, 471, 474

o Odoaker 42 Oettingen, Grafen von 101, 104, 112 ff. Oettingen-Wallerstein, Fürsten zu 370 O’Grady 425 Oldenburg-Januschau, Elard von 407, 450 Otto L, Kaiser 51 ff. Oxenstjema, Axel 139

P Paczensky, Gert von 374 Palm, Johann Philipp 207 Paul I. von Rußland 229 Peters, Karl 372 Philipp IV. von Spanien 137 Philipp, Landgraf von Hessen 100 Pierrefeu, General 463 Plessen, Hans von 475 f., 482 Poincaré, Raymond 427, 429

Q Quandt, Familie 110

R Ranke, Leopold von 181 Reichpietsch, Max 462 Rennenkampf, General 442 f. Renner, Karl 425 Reuß, Prinz Heinrich VII. 369 Reuter, Fritz 271 Richelieu, Kardinal 138 f. Rickmers, Katharina 160ff., 176 208 Riedesel zu Eisenach 294 Riemenschneider, Tilman 77 Rohrbach, Jäcklein 94, 100 Roon, AlbrechfGraf von, Kriegsminister 341 f., 344 Roon, Graf von 450 Rousseau, Jean-Jacques 190 Rudolf II., Kaiser 136f. Rüge, Arnold 259, 273, 283, 312

Schlieffen, Alfred Graf von, Generalfeldmarschail 416, 437 ff. . Schmerling, Ritter von 319 Schmidt, Robert 467 Schulenburg, Friedrich Graf von der, Generalmajor 476 f. Schulenburg, Friedrich Wilhelm von der 213 Schulze-Delitzsch, Franz Hermann 317 Scott, Walter 58 Shakespeare, William 35 Sickingen, Franz von 80 f. Siebenpfeiffer, Philipp Jakob 270 Simon, Ludwig 304 Simson, Eduard 306 Stadion, Graf von 314 Stahl, Julius 329 Stein, Karl Reichsfreiherr vom und zum 15, 216, 218, 220, 222, 232f., 238, 240 Stresemann, Gustav 456 Stumm, Karl Ferdinand 349, 374, 386f., 390

T Samsonow, General 442 Santayana, George 12 Schaffgotsch, Grafen 370 Schamhorst, Georg David von, General 217f., 220, 245 Scheidemann, Philipp 417, 467, 474, 479, 485 Schenk von Erbach 101 Schill, Ferdinand von, Major 219 Schleiermacher, Friedrich Emst Daniel 260

Talleyrand 227, 230 Thum und Taxis, Fürsten von 106, 120, 208f., 294, 370 Tilly, Johann Tserclaes, Graf von 137f. Tött, Klara s. Dett, K. Treitschke, Heinrich von 371 Trenck, Friedrich von der 39

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u Uhland, Ludwig 304, 320 Ulrich, Herzog von Württem­ berg 80 Urban II., Papst 63

V Varnhagen van Ense, Karl 296 Veldenz, Graf von 130 Venedey, Jakob 285 Viktoria, Königin von Eng­ land 17, 58 Vischer, Peter 77 Vollmar, Georg von 417 Voltaire 32

w Wagner, Richard 321 Waldburg, Fürsten von 231, 237 Waldburg, Georg von 99ff., 116, 120, 236 Waldburg zu Wolfegg und Wald­ see, Fürsten von 104 Waldburg zu Zeil und Trauchburg, Fürsten von 104 Waldeck, Grafen von 103 f. Waldeck und Pyrmont, Fürsten von 237 Waldeck und Pyrmont, Josias Fürst zu 238 Waldeck und Pyrmont, Witte­ kind, Fürst zu 238 Waldersee, Alfred Graf von 390, 414

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Wallenstein, Albrecht von Wald(en)stein, Herzog von Friedland 138 f. Walrave, General 39 Wartenburg, Reichsgraf von s. Kolbe, Kasimir von Wartensleben, Graf von 161 Weber, Max 422, 485 Weidig, Friedrich Ludwig 272 Weitling, Wilhelm 285 f. Welser, Familie 73 f. Wezzelin 65 Wieland, Christoph Martin 35 Wilhelm L, Kaiser 25, 300, 322 f., 325ff., 333, 340, 342ff., 352, 362ff., 366, 380, 393, 403 Wilhelm II., Kaiser 392ff., 437, 445 ff., 450,456,458,461,466 ff., 480 ff. Wilhelm L, König von Württem­ berg 293 Wilson, Woodrow 460, 467f. Wimpfen, Baron von 190ff. Winckelmann, Johann Joachim 35 Windischgrätz, Alfred Fürst zu, Feldmarschall 313 ff. Wirth, Johann Georg August 270 Wittgenstein, Graf von 161 Wolff, Christian 181 Wolff, Theodor 464 Wolff, Wilhelm 277f., 289, 304, 308, 324 Wolzogen, Freiherr von, General 232 Wrangel, Friedrich Graf von, Generalfeldmarschall 309, 312, 317f.,

York von Wartenburg, Ludwig, * General 26, 220, 222 Ysenburg und Büdingen, Prinz Gustav zu 369

Zeppelin, Jbhann Karl von 230 Zeschau, von, Oberstleutnant 481 Zetkin, Clara 417, 426 Zetkin, Ossip 417

»Männer machen Geschichte«: Diese These des preußischen Historikers Heinrich von Treitschke - in unzähligen Geschichtsstunden kolpor­ tiert- war kein Vorgriff auf die Emanzipations-Debatten der Gegenwart. Denn Geschichte machten nach Treitschke nur einige wenige »geniale« Staatsmänner und Politiker. Sie lenkten die Geschicke ihrer Völker, schufen oder zerstörten ganze Reiche, trieben Völker in den Abgrund oder erhoben sie zur Herrenrasse. Das »Volk« war für sie nur Objekt, eine formbare Masse, die erst durch sie Gestalt erhielt. Die heutige Geschichts­ schreibung ist differenzierter geworden. Bei genauerer Betrachtung stehen die Taten und Schicksale der Kaiser, Könige, Fürsten und Regie­ rungschefs jedoch noch immer im Vordergrund. Wie die regierten, malträtierten und verwalteten neun Zehntel der Bevölkerung lebten, was sie empfanden, wie sie auf die Taten ihrer Herrscher rea­ gierten oder sich ihnen zu entziehen trachteten, erfährt man eher beiläufig. Bernt Engelmann hat eine Deutsche Geschichte vom Beginn des Mittelalters bis zum Ende des Zweiten Welt­ krieges geschrieben, in der die »kleinen Leute« die Haupt­ akteure sind. Für sie war die im Jahr 919 erfolgte Wahl

Heinrichs I. zum deutschen König ohne Belang. Sie hätten nicht einmal eine aus­ gehängte Mitteilung über diese Wahl lesen können, ja auch die Vorlesung des Textes durch einen schrift­ kundigen Mönch nicht ver­ standen, denn dieser Text wäre natürlich in lateinischer Sprache abgefaßt worden. Das »Volk« partizipierte auch nicht an der »sinnenfreudigen Mode« des Rokoko und hatte wenig Gelegenheit, sich am »galant-erotischen Lebensstil der Fürstenhöfe« zu betei­ ligen - es durfte nur für die Kosten aufkommen, die Lustschlösser erbauen und die Lakaien stellen. Nicht immer waren unsere Vor­ fahren allerdings nur gedul­ dige Leibeigene, Kriegs­ knechte, Hofmeister, Proletarier mit 14stündigem Arbeitstag und Kanonenfutter für den Ehrgeiz deutscher Duodezfürsten. Im Bauern­ krieg, in den Revolutionen von 1848 und 1918 begehrten sie auf, überwanden die angelernten Verhaltens­ normen der Untertänigkeit und proklamierten ihre Selbstbestimmung. Bernt Engelmann ist einer der erfolgreichsten deutschen Sachbuchautoren. Seine Bücher »Meine Freunde, die Millionäre«, »Die goldenen Jahre«, »Ihr da oben - wir da unten« waren Bestseller.

Noch immer stehen in unseren Geschichtsbüchern die Taten und Untaten der Kaiser und Fürsten im Vordergrund bilden sie „unsere”- Geschichte. Wie die regierten, malträtierten und verwalteten neun Zehntel unseres Volkes lebten, erfährt man eher beiläufig. Bernt Engelmann hat eine Deutsche Geschichte vom Beginn des Mittelalters bis zur Gegenwart geschrieben, in der die kleinen Leute - also unsere Vorfahren und wir-die Hauptakteure sind.