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German Pages 257 [258] Year 2017
Ulrich von Etzenbach Wilhalm von Wenden
Ulrich von Etzenbach
Wilhalm von Wenden Text, Übersetzung, Kommentar Herausgegeben und übersetzt von Mathias Herweg
ISBN 978-3-11-029183-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-029185-8 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlagabbildung: Ms. IV 488, fol. 25v, Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek – Niedersächsische Landesbibliothek, Hannover. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorbemerkung Der ‘Wilhalm von Wenden’ bietet am Mittelalter Interessierten allgemein und mediävistisch Lehrenden und Studierenden speziell eine in vieler Hinsicht reizvolle Lektüre. Er ist nicht zu lang, hat als Sympathieträgerin und Heldin eine erfolgreiche Frau, erzählt eine von zeitgenössischer Realität beeinflusste Ursprungssage und, last, not least, einen spannenden, aus Liebe, Macht, Krieg, Religion, Familie und Freundschaft gestrickten Plot. Zwei Länder geraten an den Rand des Ruins, im Orient kämpfen Christen und Muslime ohne die Exzesse früherer Kreuzzugsepen gegeneinander, zwei Fürstensöhne steigen, in die Fremde verkauft, zu Strauchdieben ab – und am Ende löst sich alles in Wohlgefallen auf. Dass der alte Text der Anverwandlung an heutige Lesegewohnheiten bedarf, um diese Vorzüge wirksam werden zu lassen, liegt auf der Hand. Sein im Wettstreit mit dem höfischen Roman von rhetorischem Ehrgeiz geprägter Stil stellt relativ hohe sprachliche Ansprüche, unablässig unterbrechen Kommentare und Exkurse die Handlung, bis zu vier Erzählstränge laufen parallel (d.h. narrativ nacheinander). Die Neuedition soll und will die Hürden senken, die der spannende, spannungsreiche Roman in 700 Jahren um sich aufgebaut hat. Ihre Beigaben – Übersetzung, Erläuterungen, orientierendes Nachwort, Forschungsbibliographie – sollen auch jene zum Original hinführen, die nicht professionell mit Texten umgehen und die der alten Sprachform nicht mächtig sind. Das Original ersetzen wollen sie nicht. Viele haben das Werden dieses Buches mit Lektüre, Rat und Kritik begleitet. Ihnen möchte ich danken. Auf die Idee, einen offenbar trotz sperriger Sprache und Editionslage faszinierenden Text in einer Studienausgabe neu zugänglich zu machen, brachten mich zwei ungewohnt lebhafte Seminare. Studierende standen also am Anfang. Unter ihnen möchte ich Ida Eisele, Manuela König und Nicole Runge namentlich nennen, die auch zu den ersten kritischen Leserinnen und Nutzerinnen des Typoskripts gehörten. Ida Eisele unterstützte daneben den Satz. Durch Frank J. Nolls zuverlässige Hilfe ließ sich der verspätet gefasste Plan noch realisieren, den edierten Text der Altausgabe Rosenfelds nach der Handschrift neu durchzusehen und die Abweichungen zu dokumentieren. Horst Brunner und Michael Rupp danke ich für kritische Blicke in die Übersetzung, zahlreichen Kolleginnen und Kollegen, die kollektiv genannt seien, für Austausch in konzeptionellen und Detailfragen. Vor Manuskriptschluss bot mir das Altgermanistische Kolloquium auf dem Hesselberg noch einmal Gelegenheit, die zwischen Überlieferungsnähe und Forschungsdokumentation vermittelnde Logik des Lesartenapparats zur Diskussion zu stellen. Speziell Ingrid Bennewitz und Holger Runow sei für ihr Feedback gedankt. Der Landesbücherei Dessau und der Landesbibliothek Hannover danke ich für die Digitalisate der Handschriften. Mein letzter Dank gilt dem Verlag, namentlich Jacob Klingner, Maria Zucker und Florian Ruppenstein, für die kompetente und stets angenehme Zusammenarbeit.
DOI 10.1515/9783110291858-001
VI | Vorbemerkung
Wer hât mich guoter ûf getân? Wer hât mich guoter her gelesen? Die zu Ulrichs Zeit noch hochgeschätzten Bücher zweier älterer Autoren, Wirnts von Grafenberg und Rudolfs von Ems, fragen ganz explizit, was Ulrichs Buch seinen Leserinnen und Lesern eher implizit mit auf den Weg gibt: Wer mich aufgetan hat und nun liest, der möge auch an mir Nutzen und Gefallen finden.
Karlsruhe im Januar 2017
Inhaltsverzeichnis Text und Übersetzung 1 Herzog Wilhalm (v. 1–438) | 1 2 Flucht (v. 439–1912) | 13 3 Trennung (v. 1913–2870) | 47 4 Taufe und Krieg (v. 2871–4025) | 69 5 Herzogin Bene (v. 4026–5048) | 95 6 Die verkauften Kinder (v. 5049–6815) | 119 7 Wiedervereinigung (v. 6816–8358) | 161 Stellenkommentar | 195 Nachwort | 215 Hinweise zur Ausgabe und zu ihren Paratexten | 231 Bibliographie | 239
1 Herzog Wilhalm (v. 1–438) Prolog: Mit Widmung, Trinitäts- und Schöpfungspreis stellt sich der Roman zu Beginn in engen Bezug zu Wolframs ‘Willehalm’ und zur Gattung Legende, der auch der unvermittelte Übergang zur Sündenklage entspricht. Abschließend bittet der Dichter um Inspiration für die Darstellung eines Bekehrungswerks Christi unter den Heiden. Exposition: Im heidnischen Wendenland stirbt vielbeklagt ein namenloser Herzog. Er hinterlässt einen elfjährigen Knaben namens Wil(le)halm, für den er noch zu Lebzeiten um ein gleichaltriges Mädchen geworben hatte. Wilhalm kann auf die fortdauernde Treue der Ratgeber seines Vaters bauen und befolgt seinerseits den Rat seiner Vasallen. Auf deren Anregung hin sendet er früentlîche brieve an den künftigen Schwiegervater, in denen er um die Hand der Braut und um helfe und schirm des Brautvaters bittet. Vater und Tochter (deren Name, Bene, erst viel später fällt) werden in Wenden mit Festgepränge und Ritterspiel empfangen, danach wird die Hochzeit begangen. Der Bräutigam verschiebt die Hochzeitsnacht, um zuerst Ritter zu werden. Unmittelbar nach dem Fest packt er mit tatkräftiger Hilfe des Brautvaters, der für einige Zeit bei ihm bleibt, die Organisation des Landes an. Erträge und Ausgaben für Hof und Beamtenbesoldung werden veranschlagt und schriftlich fixiert, eine Gerichtsordnung sieht drei jährliche Gerichtstage vor und verordnet dem ganzen Land starken vriden. Als der Schwiegervater Wenden verlässt, herrschen dort Friede und Wohlstand. 62ra
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Got aller dinge ein begin, gip in kraft unde sin daz sie vor sîn der kristenheit, den diz buoch ist bereit! got herre in dîner êwekeit — dîner drîer namen underscheit ein gotheit beslozzen hât, dîn underschriben trinitât — geloube ich, herre, daz dû bist der got des rât und gotlîch list der erden ort, des himels reif wîslich beslôz und umbegreif, den wîten grif alsô bevienc und natûrlich zesamne hienc luft wazzer viur und erde, der von himel her ûf erde sîne êwiclîche gotheit mit der menschheit undersneit und sîn vil hôhe trinitât alsus underbildet hât, vater, sun und heiliger geist, in drîen namen ein volleist, dû got herre Jêsus Krist, dâvon dû sus genennet bist: âne urhap von dîner êwekeit
Gott, oh Anfang aller Dinge, gib denen Kraft und Verstand, für die dieses Buch bestimmt ist, auf dass sie Vorkämpfer des Christentums seien! Zeitloser Gott und Herr – die Unterscheidung Deiner drei Namen hält e i n e Gottheit in sich beschlossen: die Dir eingeschriebene Trinität. Ich glaube, Herr, dass Du der bist, dessen Ratschluss und göttliche Weisheit die Erde und den Himmelskreis klug entwarf und umriss; der das weite All nach Maß plante und Luft, Wasser, Feuer und Erde in natürlichen Zusammenhalt brachte; der vom Himmel zur Erde seine ewige Gottheit mit der Menschheit vermischte und seine hohe Trinität so zur Menschengestalt erniedrigte. Vater, Sohn und Heiliger Geist, vollkommene Einheit in drei Namen, Gott, Herr, Jesus Christus wirst Du daher auch genannt. Deine Gottheit, ursprungslos durch Deine Ewigkeit,
Vor 1: (Incipit) Hie hebet an eyn schoneß buch von eym herczogen yn wynden der waß wilhelm von pairit genant. wy er groß herschafft vber gap durch des wort Crist willen. 19 〈vil〉.
DOI 10.1515/9783110291858-002
2 | 1 Herzog Wilhalm dîn gotheit, got, dich herre seit; Jêsus dich der engel saget, unser heil, der reinen maget, diu von dem worte dich enphie, 30 iemer maget ist, als sie was ie, diu âne swære dich gebar; diz ziuget himel und erde gar. nâch dem toufe dû bist und von dem krisam herre Krist. 35 nâch dir der krisam unde touf gît uns wehsels hôhen kouf. der kouf uns hât gescheiden von dem namen der heiden und wir kristen genennet sint, 62rb daz quît so vil sô ‘Kristes kint’, vater herre, als ich ez habe. nim mich irretuomes abe! der werlte süeze, ir irrekeit hât in ir stricke mich geleit 45 daz ich dîn veterlîch gebot hân übersezzen, süezer got. sô hoffe ich, herre, an dîniu wort, diu zewâr sint aller sünder hort, ein urkünde aller barmekeit. 50 alsus spricht dîn gotheit: ‘des sünders tôt enwil ich niht’, (diz ist mir hôhes trôstes phliht!) ‘ich wil mêre daz er lebe, sich bekêre und mir gebe 55 hie wandel sîner missetât.’ diu krancheit mîner menschheit hât starke vergezzen sich an dir. Jêsu, heiler, nu hilf mir von sünden last und wîse mich 60 daz ich vürbaz gewarte an dich und mich von sünden riuwe kraft neme, von süntlîcher haft, und ich erkenne in reinem leben waz dû mir sælden hâst gegeben. 65 gip mir wort unde sin daz ich von dem namen dîn sô beriht gesprechen künne wie an heidenischem künne mit lieber süeze daz erwarp 70 daz ungeloube aldâ verdarp
macht Dich, Gott, zum Herrn. Jesus, unser Heiland, Dich hat der Engel der reinen Jungfrau verkündigt, die Dich aus dem Wort empfing, und Jungfrau blieb, wie sie stets war, die Dich ohne Schmerz gebar. Dafür bürgen Himmel und Erde vollgültig. In der Taufe und durch das Chrisam bist Du Christus, der Herr. Auf dem Weg zu Dir bringen uns Chrisam und Taufe grossen Gewinn. Dieser Gewinn hat uns vom Heidentum geschieden, so dass wir Christen heißen, was in meinem Verständnis nichts anderes als ‘Kinder Christi’ meint, oh Herr und Vater. Befreie mich vom Irrtum! Die Süße und die Irrungen der Welt haben mich in ihre Bande geschlagen, so dass ich Dein väterliches Gebot missachtet habe, heiliger Gott. Daher vertraue ich auf Deine Worte, oh Herr, die wahrhaft ein Schatz für alle Sünder und eine Urkunde allen Erbarmens sind. So spricht Dein göttlicher Mund: ‘Den Tod des Sünders will ich nicht’ (das ist für mich der höchste Trost), ‘vielmehr will ich, dass er lebe, sich bekehre und sich für mich von seinem falschen Tun abwende.’ Meine menschliche Schwäche hat sich schwer an Dir versündigt. Jesus, Heiland, nun hilf mir aus der Last der Sünden und leite mich, dass ich künftig Deiner achte und aus Sündenschmerz und sündhaften Banden heraus Kraft fasse, um im rechten Leben zu erkennen, welche Seligkeit Du mir bereitet hast. Gib mir Worte und Verstand, um von Deinem Namen Bericht erstatten zu können, wie die Kraft Deines hohen Namens, Christus, der wundersüße Klang des Wortes, in seinem Wohllaut
49 barmekeit] barmherzekeit (metr.; Erbarmen vs. Barmherzigkeit). 51 〈tôt〉 (D wohl fehlerhaft, da auch der biblische Prätext vom Tod des Gottlosen spricht; die Konjektur wäre sonst verzichtbar: ‘den Menschen im Stand der Sünde will ich nicht, ich will dass er lebe, sich bekehre’).
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und irretuom der heidenschaft, Krist, dînes hôhen namen kraft, des wortes wundersüezer galm. Von Parrit sante Willehalm der junge was ûf der erde ein vürste in hôhem werde. got gebe mir sin sô wîse dêr in sîm namen prîse des vürsten leben unde tât, 80 als mich der rede bewîset hât dem sie ûz Wenden lande ein predigerbruoder sande und bat umb ein legende daz er im die wider sende. 85 meister Heinrîch der Walch dise rede mir bevalch, 62va Wilhalms geburt und sînen art, wie er von gote gekrœnet wart und hât noch iemer vürsten wort 90 ûf erden hie, in himel dort. nu bite ich, süezer vürste, dich daz dû an in erhœrest mich und vor gote daz erwerbest in den ich hieran ze dienest bin, 95 die tugende wunder schœnet, daz sie vor im gekrœnet in himelrîche werden, daz sie hie ûf der erden im ir reht sô rehte tuon 100 der dort sî der megede sun, got und mensche wolde wesen, daz an der sêle sie genesen. 75
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In Wenden lande ein fürste starp, der daz mit vürsten rehte erwarp bî heidenischen zîten daz man in lobete wîten und in sîn volc nâch tôde klagete. der edel heiden, als man uns sagete, einen sun nâch im liez: Willehalm der junge hiez. in dem zwelften jâre
an einem Heidenvolk bewirkte, dass Unglaube und heidnische Irrlehre dort zuschanden wurden. Sankt Wilhalm von Parrit war zu Lebzeiten ein junger und hochgeachteter Fürst. Gott gebe mir Sinn und Verstand, in seinem Namen das Leben und die Taten des Fürsten zu rühmen, so wie mir derjenige den Stoff bezeugt hat, der ihn aus dem Wendenland von einem Dominikaner übermittelt bekam. Er bat um eine legende, die er ihm zurücksenden sollte. Magister Heinrich der Walch vertraute mir dieses Werk an, das von Wilhalms Geburt und Herkunft handelt, und davon, wie er von Gott gekrönt wurde und noch immer den Fürstennamen trägt hier auf Erden wie dort im Himmel. Daher bitte ich Dich, heiliger Fürst, dass Du meine Fürbitte für jene erhörst, in deren Dienst ich mit diesem Werk stehe und die ihre Tugend wunderbar ziert; und dass Du vor Gott für sie erwirken mögest, dass sie dereinst bei ihm im Himmelreich gekrönt werden, und hier auf Erden auf rechte Weise ihm dienen, der dort der Sohn der Jungfrau ist und der Gott und Mensch sein wollte, auf dass sie das Seelenheil gewinnen. Im Wendenland starb ein Fürst, der zu heidnischen Zeiten durch seine Herrschaft erreichte, dass man ihn weithin pries und dass sein Volk nach seinem Tod um ihn klagte. Der edle Heide hinterließ, wie man uns sagte, einen Sohn. Der junge Mann hieß Wilhalm. Elf Jahre alt
Vor 103: Hy starp wilhelmß vader vnd ee er dot were do hatt er ym doch erworben eynß andern herren doch[ter] zu wibe. 81 Wenden lande] windem lant. 103 Hier Einsatz der prologlosen Hs. H (ermöglicht Emendationen nach H).
4 | 1 Herzog Wilhalm was der junge klâre der alsô fruo verweiset wart. im hete von hôher vürsten art, 115 ê er was erstorben, der vater ein maget erworben, diu im gelîcher jâre was. von der tugent man wunder las, und waz man von ir schœne sprach! 120 alsô ir wol vernemet her nâch, swan sie volwehst in lobes jâr; vil lobes erwarp sie offenbâr. Der tugentlîche heiden als der was verscheiden 125 und er nâch vürstlîcher art in hôhem werde begraben wart, die bî des edeln heidens leben 62vb wârn des vürsten râtgeben, die wolden rât und helfe tuon 130 des alden herzogen sun, an dem die hôchgeprîsten rehte triuwe bewîsten. herren, ritter, knehte sich erbuten im ze rehte 135 und dienden im als sie solden. daz kint sie haben wolden gevorht in wirdiclîcher aht, als ob im wîsheit volliu maht und aldiu jâr sîn gegeben. 140 Willehalm der wolde ouch leben nâch werdes râtes lêre; des erwarp er prîs und êre. er wante sîn gemüete an wirdiclîche güete; 145 zuht sô wolde er minnen, sîn kintheit ranc mit sinnen. eines tages ez sô geschach: der junge ze sîme râte sprach und bat daz sie im wolden 150 râten, als sie solden, wie er die minniclîchen maget ze lande bræhte. mirst gesaget, die herren wîs geêrten im rieten und in lêrten 155 daz er mit vuoge und witzen kraft sînem sweher boteschaft friuntlîchen sante
war der edle Jüngling, der so früh zur Waise wurde. Vor seinem Tod hatte der Vater für ihn um ein Mädchen von fürstlichem Stand angehalten, das so alt war wie Wilhalm. Von ihrer Tugend las man Erstaunliches, und was erzählte man erst über ihre Schönheit! Ihr werdet das später noch hören, sobald sie in das zu rühmende Alter gelangt. Viel Lob erwarb sie sich vor aller Augen. Als der vortreffliche Heide verstorben und nach fürstlichem Brauch feierlich zu Grabe getragen worden war, wollten die, die zu seinen Lebzeiten seine Ratgeber gewesen waren, ihren Rat und ihre Hilfe nun auch seinem Sohn leisten. An ihm erwiesen die hohen Würdenträger aufrichtige Treue. Herren, Ritter und Knappen erboten sich ihm rechterdings und dienten ihm, wie es sich ziemte. Mit Ehrfurcht und Hochachtung behandelten sie den Knaben, als wenn ihm bereits der Vollbesitz an Weisheit und ein hohes Lebensalter gegeben gewesen wären. Wilhalm seinerseits wollte nach edler Leute Rat leben. Damit erwarb er sich Ruhm und Ehre. Er sann auf Edelmut, schätzte Anstand und rang schon in jungen Jahren nach Weisheit. Eines Tages geschah dies: Der junge Fürst sprach mit seinen Ratgebern und bat um ihren geziemenden Rat, wie er die schöne Braut zu sich holen könne. Man erzählte mir, dass die weisen geehrten Herren ihm rieten und empfahlen, seinem Schwiegervater taktvoll, klug und freundschaftlich Botschaft zu senden
112 klâre] zware. 118 〈man〉 (gegen DH; ‘Tugend’ hier allegorisches Subjekt). 121 volwehst] wol wahset. 155 vuoge und witzen kraft] fuge witze vnd krafft (drei Tugendzuschreibungen: Takt, Klugheit, Stärke).
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und in lieplich mante, als er sich verlobet hæte 160 mit sîme vater, daz er daz tæte. Willehalm hiez schrîben dô friuntlîche brieve alsô. sînem sweher er enbôt: ‘iuwer sælden lobe ich got, 165 iuwer fröuden fröuwe ich mich, ze iuwerm gebote sô bin ich. nû sol iuwer wirdekeit mir der êren sîn bereit die iuwer wirde mir ân strît 170 gap bî mînes vater zît: jâ meine ich iuwer tohterlîn. der bin ich eigen und sie mîn; 63ra sus sîn wir beide iuwer kint sît wir alsus gesamet sint. 175 ze iuwerm schirme hân ich fluht. bewîset an uns iuwer zuht: dem vater daz vil wol anstât daz er gibt veterlîchen rât und helfe sînen kinden tuot. 180 schrîbt mir, herre, iuwern muot wan ich die werden holen sol; dâmite sô tiuwert ir mich wol. ze der süezen arebeite ich willic mich bereite, 185 als ich sol und ich vermac.’ der sweher schreip im einen tac. Wilhalm mit rîcher phlihte ze den fröuden sich berihte. sîne herren von dem lande 190 mit brieven er besande daz sie wærn alsâ bereit. als der tac was geleit, Wilhalms sweher unverzaget sîne tohter die klâren maget 195 mit rîcher koste brâhte in wünniclîcher ahte in Wilhalms lant ûf ein velt. dâ was manic rîch gezelt ûf geriht und ûf gezogen, 200 spæhes werkes unbetrogen; diu wurden nie baz getiuret. in fröuden rîche gestiuret mit mangem munde lieht gevar wart diu ouwe alliu gar. 205 diu ouwe dorft niht schœnde mêr dô daz werde frouwen her
und ihn vertrauensvoll an seine Verlöbnisabsprache mit seinem Vater zu erinnern. Darauf ließ Wilhalm freundschaftliche Briefe schreiben. Er entbot dem Brautvater: „Für Euer Heil lobe ich Gott und freue mich, wenn Ihr Euch freut. Ich stehe in Eurem Gebot! Euer Edelmut möge mir heute die Ehre bereiten, die er mir im Einvernehmen noch zu Lebzeiten meines Vaters gewährte: Ich meine Eure Tochter, der ich zugesprochen bin, wie sie mir. Lasst nun uns beide Eure Kinder sein, da wir dazu bestimmt worden sind. In Eure Obhut flüchte ich mich. Erweist an uns Eure höfische Gesinnung: Es steht einem Vater gut an, väterlichen Rat zu geben und seine Kinder zu unterstützen. Herr, schreibt mir Euren Plan, wann ich die edle Braut zu mir holen soll; damit mehrt Ihr mein Ansehen sehr. Auf diese angenehme Pflicht bereite ich mich gern vor, wie ich es soll und kann.“ Der Brautvater bestimmte einen Tag. Wilhalm bereitete sich aufwendig auf das freudige Zusammentreffen vor. Er besandte brieflich seine Landherren, dass sie ebenfalls bereit wären. Am festgesetzten Tag brachte Wilhalms Schwiegervater stolz seine Tochter, das schöne Mädchen, in kostbarer Ausstattung und freudiger Erwartung in Wilhalms Land. Auf einem freien Feld waren dort viele prächtige Zelte in kundiger Weise aufgerichtet und aufgespannt worden, die nie höheren Besuch erlebt hatten. Hübsche Gesichter machten die ganze Aue zu einem Hort der Freude. Sie bedurfte keines anderen Schmucks mehr, sobald die edle Schar der Damen
6 | 1 Herzog Wilhalm und diu maget wünnesam mit mangen klâren kinden quam, diu mit spilnder ougen grüezen, 210 mit ir rôten mündeln süezen aldâ viengen mangen man minniclîchen ûf dem plân. ein solich munt mir abe bæte swaz ich swære hæte, 63rb würde sîn grüezen mir erkant, der man vil ûf der ouwen vant. mir was ouch wîlen fröude kunt: die gap mir ein rôter munt. Willehalm der fröute ouch sich 220 der schœnen maget (sô wæne ich), diu vor ûz besunder het rîcher schœnde wunder. diu maget quam rîche an die vart. schône sie ouch enphangen wart 225 von manger klârer heidenîn, der anblic gap dâ liehten schîn. wie man dâ die geste enphienc und waz man wirde an in begienc, dâ wære vil ze sprechen abe: 230 der wirt vermohte ez an der habe. man sach von beiden sîten in hôhem werde rîten vil ritter rîche gezieret, ir muotes wol gevieret, 235 als in ir wirdekeit daz maz, dirre wol und jener baz. sus quâmens ûf die ouwe in hôher wirde schouwe. Willehalm der jungelinc 240 von rîcher koste einen rinc und ein gestüele unervorht schuof (daz was ouch dâ geworht mit meisterlîchen witzen), dâ die vürsten solden sitzen 245 und ouch die vürstinne, grâven und grævinne. nâch iegelîches wirdekeit was der siz aldâ bereit, rîchiu rückelachen 250 geheftet ze den dachen, geriht an alliu ende
und die reizende Braut mit vielen schönen Mädchen erschienen waren und mit glänzendem Augengruß und ihren süßen roten Mündlein die Männerwelt auf dem gesamten Feld mit Liebreiz in ihren Bann zogen. Ein Mund wie jene, die so zahlreich auf der Aue zu sehen waren, nähme, wenn er mich grüßte, alles von mir, was mich belastet. Früher kannte auch ich Freude: Ein roter Mund schenkte sie mir. Wilhalm freute sich ebenfalls (so glaube ich) über das schöne Mädchen, das durch seinen außergewöhnlichen Liebreiz aus allen herausstach. Dieses Mädchen war edel aufgebrochen. Es wurde auch edel empfangen von vielen edlen heidnischen Damen, deren Gesichter erstrahlten. Man könnte viel darüber sagen, wie man dort die Gäste willkommen hieß und wie formvollendet man sie behandelte: Der Landesherr musste nicht sparen. Auf beiden Seiten sah man in großer Pracht viele kostbar gezierte Ritter reiten, die auch ihre Gesinnung schmückte, wie es ihrem Rang entsprach: den einen gut, den anderen noch besser. Ihre Ankunft auf der Aue bot einen prachtvollen Anblick. Der junge Wilhalm ließ kostbare Stühle (auch die waren dort meisterhaft gearbeitet) bedacht zu einem Kreis anordnen, in dem die Fürsten und Fürstinnen, Grafen und Gräfinnen sitzen sollten. Jeder Gast sollte nach Rang und Würde sitzen. Am Zeltdach waren wertvolle Wandteppiche aufgehängt, die die Zeltwände
209 spilnder] spilenden (DH; Adj. zu ‘ougen’ vs. ‘grüezen’). 226 liehten] claren (‘lieht’, nhd. hell, schränkt auf die schöne Oberfläche ein, ‘clâr’, nhd. klar, rein, lauter, kann auch ethisch konnotiert sein). 231 von] zu (von vs. auf beiden Seiten).
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ûz und ûz umb die wende mit manger koste urhap. der marschalc herberge gap 255 über al den werden heiden, als iegelîchem was bescheiden. mit tranke und koste gespîset, dar nâch man bewîset 63va die keller wol berâten 260 (die amtliute daz tâten), darzuo manec tiure vaz, dâ man ûz tranc unde az von silber und von golde, alsô der wirt daz wolde. 265 dô was fröudenrîcher schal ûf dem velde überal, hie der bûhurt, dort der tanz. man sach dâ mangen liehten kranz, darunder mangen rôten munt, 270 der sô minniclîchen stuont als ein rôse lieht gevar swan sich diu hât entslozzen gar. Wol gemuot unde frô anten sie den âbent dô. 275 als der tac abe nam, diu naht mit gewalde quam, dô quâmen in vil rîcher kür kint mit grôzen kerzen vür. und dô nâch vürstlîchem leben 280 überal was gnuoc gegeben, Willehalm noch ân die maget die naht wolt sîn, ist mir gesaget, der er doch von herzen gert. in dûhte, er wære ir noch verwert 285 und niht ze dienste gezæme ê er ritters reht vernæme. daz was im doch niht verre: an dem morgen nam der herre vürstlîcher wirde reht. 290 mit im enphienc manc edel kneht dâ ritters orden unde namen. diz quam zuo âne allez schamen, als der junge des erdâhte der ez kostlich volbrâhte. 295 tambûre und bûsînen snar sich dâ mit mangem dône war. von aller hande seitenspil was dâ süezes schalles vil,
277 〈vil〉. 281 〈noch〉.
rund herum schmückten, wobei keine Kosten gescheut worden waren. Der Hofmarschall sorgte für die Unterkunft der edlen Heiden, wie jedem zubestimmt war. Nach dem Mahl offenbarte man die wohlgefüllten Keller (die Amtsträger sorgten dafür) und viele kostbare Fässer. Man aß und trank von Silber- und Goldgeschirr; so wollte es der Gastherr. Danach erschallte über das gesamte Feld fröhliches Treiben. Hier ritt man den Buhurt, dort wurde getanzt. Man sah viele helle Blütenkränze über ebenso vielen roten Lippen, die sich reizend wie strahlende Rosen ausnahmen, die eben erst aufblühten. Gelöst und fröhlich verbrachte man danach den Abend. Als der Abend dämmerte und die Nacht machtvoll hereinbrach, trugen in prächtigem Aufzug junge Mädchen große Kerzen herbei. Als schließlich der fürstlichen Lebensart überall Genüge getan war, wollte Wilhalm, wie mir berichtet wurde, in dieser Nacht noch auf das Mädchen verzichten, so sehr er es auch von Herzen begehrte. Er meinte, ihr noch nicht würdig zu sein und noch nicht zum Minnedienst zu taugen, bevor er nicht den Ritterschlag empfangen hätte. Doch das war nicht mehr fern: Bereits am nächsten Morgen nahm der junge Herr das Fürstenrecht an. Mit ihm erhielten viele edle Knappen Ritterschlag und Ritternamen. Dies geschah in festlicher Weise, wie es der junge Fürst geplant und dann mit Aufwand ins Werk gesetzt hatte. Der Schall von Tamburinen und Posaunen mischte sich da mit vielen anderen Klängen. Saitenspiel aller Art ließ anmutige Melodien erschallen
8 | 1 Herzog Wilhalm manger hande leitvertrîp. diz allez überschônten wîp. 63vb die werden uobten ritterschaft mit zuht und wirdeclîcher kraft, mit unverdrozzenlîcher kost an bûhurde und an rîcher jost. 305 nâch des wirtes wirdekeit was dâ spîse vil bereit von manger hande genuht. daz wart verzert mit grôzer zuht. dô wart nâch dem ezzen 310 kurze stunt gesezzen. die heiden frô und erwegen wolden aber fröude phlegen. Willehalmes ritterschaft und ouch die geste mit zühte kraft 315 hübeschlîchen dô begunden eins bûhurts an den stunden. manic schœne jungelinc vuor des tages durch den rinc der wol sîn lop dâ hôhte, 320 sîn prîs von untât flôhte. swaz fröuden man ze hôchzît phlac, dâmit vertriben sie den tac. als ez nu was worden naht, diu maget wart ze bette brâht, 325 als wol der vürstinne zam, und ouch der junge wirt alsam. waz Wilhalm an der klâren vant, daz ist vil liuten wol bekant: diu minne brâhtes dâ in ein; 330 sie flâhten arme unde bein. dô wart man unde wîp ganzes willen ein lîp. an den werden beiden siht man ungescheiden 335 minne unz an ir ende. Wilhalm der genende manger rîcheit urhap des morgens unverdrozzen gap, rîcher kleinœte vil, 340 den werden nâch ir wirde zil manic hundert mark wert, den varnden kleider unde pfert. bî fröuden vüeget daz wol 300
und vertrieb vielerlei Sorgen. Das alles aber übertraf die Schönheit der Frauen. Die Herren trieben Ritterschaft mit Anstand, Edelmut und großem Aufwand, in Buhurt und prächtiger Tjost. Dem Rang des Gastgebers gemäß wurden viele Speisen in großer Menge angerichtet. Man speiste mit besten Manieren. Nach dem Mahl blieb man nur kurz sitzen, denn die kampffreudigen Heiden suchten wieder Kurzweil. Wilhalms Ritterschaft und die Gäste begannen nun auf höfische Art einen Buhurt zu reiten. Viele ansehnliche Jungritter zogen den Tag über in den Ring, mehrten ihren Ruhm und tilgten alle Zweifel an ihrer Vortrefflichkeit. Was es auch an festlichem Vergnügen gab, sie verbrachten den ganzen Tag damit. Als es wieder Nacht geworden war, wurde die Braut zu Bett geleitet, wie es einer Fürstin ziemt, und ebenso der junge Fürst. Was Wilhalm nun an seiner schönen Frau entdeckte, wissen die meisten recht gut. Minne vereinigte sie; sie flochten Arme und Beine ineinander. Dann wurden Mann und Frau nach Herzenswunsch e i n Leib. An diesem edlen Paar kann man vollendete gegenseitige Liebe kennenlernen. Am Morgen teilte der treffliche Wilhalm mit vollen Händen reiche Gaben und kostbaren Schmuck aus, viele hundert Mark wert, stets nach dem Stand des Beschenkten. Den fahrenden Künstlern gab er Kleider und Pferde. In höfischer Festesfreude sollte
300 überschônten] vberschonte (DH; ‘die Frau’ ist Kollektivbegriff). 304 rîcher (t)jost] rich[em] trost. 326 wirt] wilt (‘der Wilde, Fremde’; H würt). 335 minne unz] ymmer bit (‘stets bis an ihr Ende’, auf dann substantivisches ‘ungescheiden’ bezogen).
1 Herzog Wilhalm | 9
daz ein vürste besinnen sol waz er habe ze ahten, mit fröuden daz betrahten waz vüege sîme rîche; der fröut sich wîslîche. Wilhalm sînen sweher bat 350 daz er im wolde geben rât wie er sîn lant halden solde; gerne er des volgen wolde. waz tet der edel heiden dô? er riet im veterlîchen sô, 355 des er iemer mêre fromen hete und êre. binnen der hôchgezît man sprach einen hof; der geschach. der wîse heiden nam alsamt 360 al die im lande heten amt. swaz daz lant zinses truoc, den gelt man leite und übersluoc; al sîn urbor man schatzte. Wilhalmes tisch man satzte 365 mit wîslîchem sinne und ouch der herzoginne âne gebrechen durch daz jâr, daz dâ niht abe gienge ân vâr, dâ wæren geste oder niht, 370 ezn wærn mit vollen wol beriht truhsæzen, kamerære, schenken und spîsære, al die amtliute alden, die sich heten sô behalden 375 und wâren sô berihte man daz man wolde ir niht wehsel hân. sîn gerihte der vürste hete waz zinses gæben sîne stete an pfunden und an unzen, 380 an zollen und an munzen. ûf dem lande sîn korngelt was vor zer koste ûz gezelt, dar nâch was sîn keller vol ze aller zît berâten wol. 385 sîn hof mit grôzen êren stuont. in dem jâre drîstunt Wilhalm ze gerihte quam. 64rb aldâ er selbe vernam allez daz sîme volke war: 390 daz berihte er dâ nâch rehte gar. 64ra
383 〈was〉 (gegen DH).
kein Fürst vergessen, was er zu tun hat. Er soll mit Freuden darauf bedacht sein, was seiner Herrschaft Nutzen bringt; ein solcher Fürst feiert Feste mit Klugheit. Wilhalm bat seinen Schwiegervater, ihn in der Regierung seines Landes zu beraten; er wollte ihm gern darin folgen. Was tat da der edle Heide? Er riet ihm wie ein Vater, so dass Wilhalm davon stets Nutzen und Ehre hatte. Noch während des Festes berief man einen Hoftag ein, der rasch zusammenkam. Der kluge Heidenfürst bot alle auf, die im Lande Ämter bekleideten. Was das Land an Abgaben trug, überschlug man im Ertrag. Alle Grundsteuern wurden geschätzt. Man setzte Wilhalms Haushalt, wie auch den der Herzogin, mit klugem Verstand und ohne Kleinlichkeiten für den Jahreslauf fest, um nicht Gefahr zu laufen, dass es Truchsessen und Kämmerern, Mundschenken und Küchenaufsehern an etwas fehle, ob nun Gäste bei Hof weilten oder nicht. Alle vorhandenen Amtleute, die sich in der Vergangenheit bewährt und als geeignet erwiesen hatten, beließ man im Amt. Der Fürst legte fest, was seine Städte an Abgaben in Pfunden und Unzen, für das Zoll- und das Münzregal zu leisten hätten. Auf dem Land wurde sein Getreidezins zur Hofversorgung vorab einbehalten, so dass fortan sein Keller gefüllt und für alle Zeiten gut bevorratet war. Sein Hof stand in hohem Ansehen. Dreimal jährlich hielt Wilhalm Gericht. Dabei machte er sich ein Bild davon, was sein Volk bedrückte. Das brachte er vor Ort in die rechte Ordnung.
10 | 1 Herzog Wilhalm reht wart genzlîche ervult aldâ nâch des mannes schult ouch mit swerte und mit der wide: sus schuof der junge starken fride. 395 er wær röuber, mörder oder diep, Wilhalme niemen was ze liep des bete ir einen möhte ernern. sus kunde er in bôsheit wern. er warp als im sîn sweher riet, 400 der frœlich ze lande schiet. er hete frœlîchen gewin erworben an sîme tohterlîn, die er bî Willehalme liez, den er vort ze sune hiez. 405 ir name vert in wirde phliht, der doch diz buoch vil lobes giht. ob sich diu nâch ir friunden senet, ir friunt mit liebe si des entwenet. Mit liebe sunder leide 410 frô sie wâren beide. Willehalm der süeze wirt was hôher êren unverirt; als was diu klâre herzogîn. ir anblic was ein meienschîn 415 dem edeln wert genenden. den wolgemuoten Wenden wol fröute ir minniclîcher lîp. ach, waz trôstes gît ein wîp liebem friunde, ir werdem man, 420 diu wol ir wîpheit hüeten kan! trüebiu minne was dâ gast, lûter minne ir süezen glast hete geworfen ûf diu kint. âne wankes underbint 425 was sie lûterlîchen glanz. in der jungen herzen ganz was sie stæte hitzic. vestes muotes witzic 64va wârn sie sunder valsche ger, 430 diu doch vil wîte vert entwer. nu irret mangen tumber muot daz er wil wesen unbehuot an sachen die sîn unêre sint: den machet valschiu minne blint.
Dem Recht wurde da vollauf Genüge getan, je nach der Schuld des Beklagten auch mit Schwert und Strang. So schuf der junge Fürst einen sicheren Frieden. Niemandes Bitte, so nahe er Wilhalm auch stand, hätte einen Räuber, Mörder oder Dieb retten können. So konnte er ihnen das Böse austreiben. Wilhalm regierte nach dem Rat seines Schwiegervaters, bis dieser frohgemut heimzog. Er hatte erfreulichen Gewinn gemacht mit seinem Töchterchen, das er bei Wilhalm ließ, den er fortan seinen Sohn nannte. Ihr Name hat einen edlen Klang. Dieses Buch spricht ihr viel Lob zu. Sollte sie sich zu ihren Eltern zurücksehnen, wird ihr Geliebter sie liebevoll entwöhnen. In ungetrübter Freude lebten beide glücklich. Wilhalm, der edle Landesherr, stand in makellosem Ansehen, desgleichen die schöne Herzogin. Ihr Anblick war dem edlen Gemahl der Maienschein. Den glücklichen Wenden erfreute ihre reizende Gestalt. Ach, welche Zuversicht schenkt eine Frau dem lieben Freund, ihrem edlen Mann, wenn sie ihre weibliche Anmut zu hüten versteht. Unlautere Minne war hier fremd, lautere Minne hatte ihre edlen Strahlen auf das junge Paar geworfen. Sie war lauterster Glanz, ohne jeden Fehl. In den Herzen der jungen Leute brannte sie unablässig. Durch ihre Charakterstärke waren sie ohne falsche Begierde, die doch sonst so verbreitet ist. Manch unerfahrener Sinn begeht den Fehler, sich nicht vor Dingen zu hüten, die seiner Ehre abträglich sind: Den macht die falsche Minne blind.
Vor 409: Hy ersach wilhelm pilgryn durch syn lant gan vnd dy pilgrin waren cristen vnd gingen yr gebide. 407 ir friunden] yrn frouden (DH; ‘Lebensfreude’, Vorausdeutung auf die Trennung, deren in diesem Fall religiösen Impuls ‘mit liebe’ benennt). 419 ir werdem man] yrm man.
1 Herzog Wilhalm | 11
435
die sint niht liebebære, sie sint rehter minne unmære, ich meine ir namen und ir lîp umbe man und umbe wîp.
Solche haben nichts Anziehendes an sich, haben mit rechter Minne zwischen Mann und Frau weder dem Namen noch der Person nach etwas gemein.
2 Flucht (v. 439–1912) Das Land prosperiert, der Herzog ehrt die Gesetze und den Staatsgott Jupiter. Bei einem Hoftag lädt er durchziehende Pilger zu sich, durch die er erstmals den Namen vernimmt, der ihn völlig verwandelt: Christus. Wilhalm will erforschen, was der name bedeute, und ist bereit, dafür Land, Leute und seine schwangere Frau zu verlassen (Erzählerkommentar: Treue unter den Heiden als Vorbild für Christen). Er vertraut sich seinem Kämmerer an, der ihm ein Pilgergewand besorgt. Dieses versteckt Wilhalm unter seinem Bett. Täglich schließt er sich fortan in seiner Kammer ein und legt den Pilgerrock an (Erzählerkommentar: Wilhalm als Heiliger und helfer), was Bene mit Sorge bemerkt, sich aber nicht erklären kann. Mit Hilfe ihrer Zofe findet sie das Gewand (Erzählerkommentar: Frauenpreis, Hinweis auf Benes Schwangerschaft). Eines nachts fragt sie unter zärtlichen Küssen nach dem Zweck des Versteckten. Wilhalm leugnet zunächst und vertröstet die Weinende (Erzählerkommentar: Preis der Minne des Paares, Liebe-Leid-Zusammenhang: sie truogen wârer minne last). Der Gedanke des Abschieds schmerzt ihn, daher plant er, heimlich zu fliehen, und deckt sich mit den nötigen Mitteln für die Reise ein. In der Fluchtnacht stellt sich Bene schlafend und beobachtet, wie Wilhalm heimlich aufsteht und das Pilgergewand anlegt. Sie springt nackt aus dem Bett, hält ihn zurück und stellt ihn zur Rede. Er gesteht, die Sehnsucht nach Christus zwinge ihn fort: ‘Ich hân in armer wæte aht / Krist ze suochenne gedâht.’ Vergeblich hält Bene ihm vor, dass er ihr und seinen Landesherren die Treue breche, der verlassenen Frau ein tristes Los auferlege und sein Kind noch vor der Geburt zur Waise mache. Trauer und Sorge würden die Freude und Wohlfahrt im Land beenden. Wilhalm bleibt für alle Einwände taub, so dass Bene zuletzt nur noch bittet, ihn begleiten zu dürfen. Auch dies lehnt Wilhalm zuerst ab, weil sie zu schwach sei, willigt aber schließlich doch ein. Bene rät nun, vor Abreise alle Großen des Landes mit ihren Damen zu einem prächtigen Hoffest zu laden, um sie an die abwesende Herrschaft zu binden. Das inszenierte Fest vollzieht sich im Maienglanz (Erzählerkommentar und Frauenpreis) mit kostbaren Zelten, edlen Speisen, Musik, Tanz, Ritterspiel und nächtlichen Freuden bei güetlîchen wîp. Am letzten der acht Festtage verteilt das Fürstenpaar freigebig Geschenke und fordert die dankbaren Gäste schließlich unvermittelt auf, beständige Eintracht zu geloben. Noch in der gleichen Nacht brechen beide heimlich auf.
440
445
450
Wilhalm hete ze wirde phliht. sîniu lant endelich beriht stuonden vridelich unde wol. man warte sîn als man vürsten sol vürhten unde êren, und der jungen vürstîn hêren. milde sie wârn ir guotes gar williges muotes. ir gesetzede und ir ê sie starke êrten und noch mê Jupiter ir werden got. Wilhalm einen hof gebôt. sîn gebot man williclich vernam, daz lantvolc gemeine quam ze dem hove; der geschach.
452 Vers fehlt D, ergänzt nach H.
Wilhalm folgte dem Pfad der Tugend. Seine wohlgeordneten Lande gediehen in Frieden und Wohlstand. Man achtete ihn und die junge edle Fürstin, wie man Fürsten fürchten und ehren soll. Mit ihrem Besitz verfuhren sie rückhaltlos freigebig. Ihre Gesetze und ihre Religion hielten sie in hohen Ehren, namentlich ihren höchsten Gott Jupiter. Wilhalm berief einen Hoftag ein. Bereitwillig nahm man sein Gebot auf. Die Landherren versammelten sich zu dem Hoftag, der seinen Lauf nahm.
14 | 2 Flucht Nâch êren Willehalm ersach von verre bilgerîne gân. einen ritter sante er sân der sie zühticlîchen bat daz sie niht kêrten von der stat ê sie sînen worten 460 gehorchten und gehôrten. dô jâhen die ellenden daz sie wolden volenden des herren bete und sîn gebot. der ritter wol ez in erbôt 465 als in der vürste geheizen hete. er gap in herberge an der stete ze einem heiden der ir phlac wol, als daz êren wirt vermac. als der hof was geschehen, 470 umb starc gerihte hôrte ich jehen. Wilhalm was ein vürste rîch, 64vb dâvon sîn lant stuont fridelîch. daz brâhte er zuo mit rehter kraft. nâch dem hove ir ritterschaft 475 die hôchgemuoten pflâgen, die sich getorsten wâgen gein manger joste herte an ritterlîch geverte ze wirdekeit ir frouwen. 480 ei, welch ein süeze anschouwen ist der wunsch, ich meine ein wîp diu tiuret werdes friundes lîp! Wilhalm bat die geste eins tages ûf sîne veste, 485 dâ er ir williclîchen phlac in grôzen êren al den tac, alsô man lieber geste sol. sie vernâmen windesch zunge wol, daz sie niht wolde betrâgen. 490 er selbe begunde frâgen von sachen manger hande und ouch von verrem lande daz den bilgerînen kunt was. ir antwürte ie stuont 495 wîslîch und bescheiden, 455
Da sah Wilhalm, auf Ehre bedacht, von weitem durchziehende Pilger. Er sandte sogleich einen Ritter zu ihnen, der sie höflich bat, nicht weiterzureisen, ehe sie nicht seine Worte angehört und vernommen hätten. Die Fremden sagten, sie wollten der Bitte und dem Gebot des Landesherrn nachkommen. Der Ritter entbot ihnen daraufhin genau, was der Fürst ihm aufgetragen hatte. Er wies ihnen Herberge an bei einem Heiden in der Stadt, der sie gut aufnahm, so ehrenvoll es ein Gastgeber nur kann. Als der Hoftag beendet war, hielt Wilhalm starkes Gericht, wie ich hörte. Er war ein mächtiger Fürst, daher herrschte Frieden in seinem Land. Das erreichte er durch gerechte Herrschaft. Nach dem Hoftag pflegten die stolzen Herren Ritterschaft. Sie wagten sich in harte Tjoste, um ihren Damen zu Ehren Ritterruhm zu erwerben. Ach, welch herrlichen Anblick bietet doch der Inbegriff des Vollkommenen – ich meine die Frau, die den geliebten Freund noch edler macht! Wilhalm bat die Pilger eines Tages auf seine Burg, wo er sie den gesamten Tag großzügig und ehrenvoll umsorgte, wie man es mit angenehmen Gästen soll. Sie beherrschten die slawische Sprache, so dass ihnen die Zeit nicht lang wurde. Der Fürst begann sie zu befragen über vielerlei Dinge, auch über die fernen Lande, die sie als Pilger kennengelernt hatten. Sie antworteten stets klug und kundig,
Vor 454: Hy sant wilhelm eynen boten zu den pilgrinen daz sy mit ym eßen solten vnd deß nit laißen. Vor 483: Hy fraget wilhelm dy pilgrin wy ir leben vnd ir e stunde vnd an wen sy gleubeten do sprachen sy all sy gleubeten an crist. 470 umb] vnd (DH; ändert Sinn und Interpunktion: als Hoftag und Gericht beendet waren, herrschte Wilhalm als machtvoller Fürst usw.). 492 verrem] manigem.
2 Flucht | 15
als sie frâgte der heiden. ouch sô frâgte er sie mê welch wære ir leben und ir ê. ir einer antwurte im zehant: 500 ‘wir sîn kristen nâch Krist genant und tragen sîn ê, getouftez leben, als sîn gebot ist uns gegeben’. Dô Willehalm daz süeze wort Krist von den getouften hôrt, 505 alsô wol in des gezam; in dûhte daz er nie vernam wort daz im süezer wære und senfter vür alle swære. Krist er sô in sîn herz beslôz; 510 der süeze name in sô begôz daz sîn heidensch herze hart 65ra geviuhtet und geneiget wart daz er dem wort sich undertete und ez in hôhem werde hete. 515 ouch was ez zaller stunde vor den ôren, in sîme munde. ez was im vür trûren guot. Krist ouch swârte im den muot zaller zît wie er dar quæme 520 dâ er volliclich vernæme und man im bescheinde waz Krist der name meinde. den âbent und den morgen diz was des vürsten sorgen. 525 Die bilgerîne er von im liez als in sîn zuht daz gehiez: ûf den wec er sie stiurte, daz sîn lop wol tiurte. Willehalm truoc hôhen prîs. 530 er begunde mange wîs in sînen sinnen ahten, mit ganzem willen trahten: dem namen was er alsô holt daz er über in ervaren wolt 535 ein wârez urkünde wie Kristes leben stüende. jâ gap der name im wunne vil: alsam ein süezez seitenspil und der kleinen vogelîne gesanc
und ebenso fragte der Heide sie. Weiter wollte er wissen, wie und nach welchem Gesetz sie lebten. Einer von ihnen erwiderte sogleich: „Wir heißen Christen, nach Christus, und leben nach seinem Gesetz als Getaufte, wie es sein Gebot für uns vorsieht.“ Als Wilhalm das heilige Wort ‘Christus’ von den Getauften vernommen hatte, gefiel es ihm sehr. Er glaubte, dass er nie ein Wort gehört hätte, das ihm süßer und sanfter gewesen wäre gegen alles Ungemach. Er schloss ‘Christus’ auf diese Weise in sein Herz. Der süße Name übergoss ihn so sehr, dass sein hartes Heidenherz befeuchtet und geöffnet wurde, so dass er sich dem Wort unterwarf und es in hoher Ehre hielt. Auch klang es fortan ständig in seinen Ohren, in seinem Mund. Es war ihm Medizin gegen die Gram. Aber zugleich trübte ‘Christus’ stets Wilhalms Stimmung, [weil er nicht wusste,] wie er den Ort fände, an dem er alles erführe und man ihn aufkläre, was der Name ‘Christus’ bedeute. Abends und morgens war dies der Kummer des Fürsten. Die Pilger verabschiedete er, wie sein Anstand gebot. Er stattete sie für die Reise reich aus und mehrte so sein Ansehen. Wilhalm stand in hohem Ruhm. Er begann in jeder Weise seine Gedanken darauf zu lenken und entschieden danach zu trachten, dass er über den Namen, den er so liebgewonnen hatte, sichere Kunde erhalte – darüber also, wie es um Christi Leben bestellt war. Ach, dieser Name schenkte ihm große Wonnen: Ständig klang er ihm im Ohr wie süßes Saitenspiel
Vor 503: Hy wart daz wort crist alzu suß yn wilhelmß mont. 515 ez] er (DH; im Namen lebt bereits Christus selbst in Wilhalms Sinnen). begunde (DH). 537 wunne vil] wunnen so vil (DH).
530 begunde] gedacht vnd
16 | 2 Flucht im stæte er vor den ôren klanc; er tete im alle wîle kurz. er rouch im als ein edel wurz stæte in sînem munde. ûz sînes herzen grunde, 545 darîn er Krist den namen flaht, aller sîner sinne maht mit flîze er dar zuo kêrte wie er in hôch geêrte und im ze dienste würde. 550 dirre süezen sorgen bürde truoc der tugentrîche doch sô heimelîche daz er ez niemen sagete wie im der name behagete. 555 Eins tages saz der guote und wac in sînem muote 65rb wie er quæme in daz lant dâ im Krist würde bekant, den er mit triuwen meinde. 560 alsô er sich vereinde ûz sînen sinnen allen: durch Krist sô wolde er wallen. sîn rîchtuom, liute unde lant satzte er an die hœsten hant 565 und die gelobeten herzogîn, diu ir wîplîchen schîn in süezen tugenden toufte. doch sie sîn herze sloufte in überlestige sorgen; 570 dâ ranc er mit verborgen, sô der edel heiden gedâhte an daz scheiden, daz doch mit jâmer muoste ergên. durch niht wolde er des abe stên, 575 ern wolt sich von dem lande steln, daz gerlich al die diet verheln. sînes muotes der genende, der hôchgeborne Wende wolt sich sus entflehten. 580 er versan sich des rehten: wær diu rede offenbâr den sînen worden umb ein hâr, er wære gesinnet als er gert, er was in sô liep und sô wert: 585 in hæten die getriuwen man umb al die werlt niht von in lân. 540
und Vogelsang. Er verkürzte ihm die Zeit. Er lag ihm beständig wie edles Gewürz im Mund. Aus dem Grund seines Herzens, in den er den Christusnamen eingeflochten hatte, wandte er alle Macht seiner Sinne eifrig darauf, wie er ihm hohe Ehre und Dienst erweisen könnte. Die Bürde dieser wohltuenden Sorge trug der Edelmütige indes so heimlich, dass er niemandem verriet, wie sehr der Name ihn beglückte. Eines Tages saß der Edle in tiefen Gedanken, wie er in das Land kommen könnte, in dem er Christus, den er doch so aufrichtig liebte, kennenlernen würde. So kam er zu dem radikalen Entschluss, um Christi Willen auf Pilgerfahrt zu gehen. Seine Macht, sein Volk und sein Land legte er in die Hände des Höchsten, und auch die gelobte Herzogin, die ihre weibliche Anmut im Wasser süßer Tugenden taufte. Gerade sie aber umstrickte sein Herz mit schweren Sorgen. Damit rang der edle Heide insgeheim, wann immer er an den Abschied dachte, der doch nur Kummer mit sich bringen konnte. Durch nichts aber wollte er sich davon abbringen lassen: Heimlich wollte er sich davonstehlen, seinem Volk es ganz und gar verhehlen. So wollte der kühne, erlauchte Wende seiner Sinnesverwirrung Herr werden. Er besann sich recht: Wäre seine Absicht den Seinen auch nur entfernt ruchbar geworden, hätten ihn seine loyalen Vasallen um nichts in der Welt ziehen lassen, was immer er auch vorgehabt hätte; so sehr schätzten und achteten sie ihn.
540 〈er〉 (gegen DH). 583f. Versumstellung (DH).
2 Flucht | 17
sît daz die werden Sarrazîn kunden starc an triuwen sîn, sô zimet dem kristenvolke wol 590 daz ez mit nihte wanken sol. Dirre vürste, der in wirden vuor, einen kamerer het, den er beswuor, swaz er im bevæle, daz er daz flîzlich hæle; 595 würde er iemer des gein menschen lût, 65va ez gülde im niht wan die hût und wære sîn gewisser tôt. der kamerer sînen eit im bôt, swaz in der vürste hieze, 600 verborgen er daz lieze alsô daz niemer mê kein wort würde des von im gehôrt. der vürste sprach: ‘heldestû daz, dû maht sîn iemer deste baz. 605 ich wil dir sagen waz dû tuo: einen grâwen roc und zwêne schuo nâch gebûres ahte mir, lieber friunt, betrahte, einen stap und einen huot 610 der dâ wese niht ze guot! swan die schuohe und daz kleit und diz allez ist bereit, sô brinc ez heimelîche mir! dan wil ich aber sagen dir 615 wes dû dâmit beginnen solt. ich het dich ie liep und was dir holt, des sol ich gein dir geniezen. nû lâ dichs niht verdriezen!’ der kamerer ez mit flîze tete. 620 als er diz volendet hete und nâch gebûres orden diz gereit was worden: beidiu der huot und ouch der stap, als im der vürste lêre gap, 625 zwêne gebunden schuohe, ein dicker roc âne tiurre kost gezoc, sunder nâch rehter dêmuot siten wît, lanc genæjet und gesniten. der kamerer diz allez nam,
Wenn schon bei den edlen Sarazenen solch starke Treue herrschen kann, so ziemt es dem Christenvolk erst recht, unter keinen Umständen zu wanken. Dieser Fürst, der herrschaftlich lebte, hatte einen Kämmerer, den er beschwor, alles, was er ihm auftrüge, unbedingt für sich zu behalten. Brächte er davon jemals etwas unter die Leute, so ginge es ihm an den Kragen und es wäre unweigerlich sein Tod. Der Kämmerer leistete einen Eid, dass er verschweigen werde, was der Fürst ihm auch befehle. Nie sollte darüber irgendein Wort von ihm vernommen werden. Der Fürst sprach: „Hältst Du Dich daran, dann soll es Dir stets desto besser ergehen. Ich will Dir sagen, was Du tun sollst: Beschaffe mir, lieber Freund, einen grauen Rock und ein Paar Schuhe von bäuerlicher Machart, dazu einen Stab und einen ganz einfachen Hut. Wenn Schuhe, Gewand und alles Übrige bereit ist, dann bringe alles heimlich hierher! Danach will ich Dir sagen, was Du damit anfangen sollst. Ich mochte Dich stets und war Dir gewogen, lass mir das jetzt zugutekommen. Doch nun zögere nicht länger!“ Der Kämmerer erfüllte das Gebotene gewissenhaft. Bald hatte er das Nötige in bäuerlicher Einfachheit beisammen: Hut und Stab, wie der Fürst sie wollte, Bundschuhe, einen warmen Rock, der alles andere als kostbar, sondern, wie die Demut verlangt, weit und lang genäht und geschnitten war. Der Kämmerer nahm das alles
Vor 591: Hy ließ wilhelm sin kleyder machen na der pilgrin kleydern vnd beswur den kemerere daz er iß nymant sagete. 596 〈im〉. 601 〈daz〉. 623 〈ouch〉.
608 betrahte] trachte.
612 und diz allez ist] all zu mal sy.
614 dan] So.
619 〈ez〉.
18 | 2 Flucht verholne er ze dem vürsten quam an eine heimelîche stat, als er in bescheiden hât. dô er diz allez besach, der junge vürste suoze sprach 635 daz ez im ze willen wære. des fröute sich der kamerære. sie brâhtenz in den palas dârinne des herren bette was; 65vb darunder er sîniu kleinôt barc. 640 der kamerer wîse und witzen karc hal diz als sîn herre wolt. dar umb enphienc er rîchen solt. swem man triuwen iht bevilt, als er sol, ob er daz hilt, 645 geloubet, deist ein grôziu tugent. disiu klâre werde jugent, Wilhalm der sælden gernde, der volle tugende bernde, ja enwas an im kein wandel. 650 er bar alsô ein mandel die süezen fruht in herter schâl: alsam truoc er sunder mâl ein süezez herze in heidenschaft, frühtic an aller tugende kraft. 655 mit gebâr was er der werlde kint, in dem herzen sam die guoten sint. er was bî jungen jâren wîs. an ritterschaft hete er den prîs, den er lobelîchen nam 660 swâ er ie ze velde quam. ez wære in turnei oder in jost, sô vuor er ie mit rîcher kost und was an ritterlîchem lobe allen rittern hôhe obe: 665 des lîbes schœne, ein vürste starc, er vuorte aller tugende marc ûf helme und an dem schilde, gereht, küene unde milde was er envollen wârhaft. 670 al sîniu wort diu heten kraft. an vürsteclîcher wirde gar was er gereht unde wâr. ob kein kristen vürste sî dem wone unvürstlîch orden bî, 675 ist im diu wâhrheit wilde, 630
und begab sich verhohlen zum Fürsten an einen heimlichen Ort, den der ihm genannt hatte. Als er alles überblickte, sprach der junge Fürst beglückt, es entspreche seinen Wünschen. Darüber freute sich der Kämmerer. Sie brachten alles in den Palas und ins Schlafzimmer des Herrn. Unter dem Bett verbarg Wilhalm seine Schätze. Der kluge, scharfsinnige Kämmerer behielt es für sich, wie sein Herr es verlangt hatte. Dafür erhielt er reichen Lohn. Wenn jemand, dem man Heikles anvertraut, so damit umgeht, wie er soll, dann (glaubt mir!) verrät das Charakter. Dieser schöne und edle Jüngling, der nach dem Heil trachtende Wilhalm, ein Ausbund aller Tugenden, verhielt sich tadellos. Wie eine Mandel barg er kostbare Frucht in fester Schale. Ebenso trug er ohne Makel im Körper eines Heiden ein edles Herz, das alle Tugendkräfte erblühen ließ. Äußerlich war er ein Kind dieser Welt, im Herzen aber gehörte er zu den Frommen. Er war in jungen Jahren schon weise, hatte schon Ritterruhm erworben und verteidigte ihn, wo immer er auf einen Kampfplatz kam. Sei es in Turnier oder Tjost, immer war er reich ausgerüstet und an Ritterruhm allen anderen Rittern weit überlegen: Schön an Gestalt, stark an fürstlicher Kraft, führte er das Zeichen aller Tugenden auf Helm und Schild. Er war ohne Übertreibung gerecht, kühn und freigebig. Seine Worte hatten Gewicht. Ganz fürstliche Würde verkörpernd, war er gerecht und rechtschaffen. Wenn es Christenfürsten gibt, die sich unfürstlich verhalten und in Lug und Trug leben,
639 sîniu kleinôt] sin kleyd[er]. 640 wîse und witzen karc] wiß vnd starg (‘klug und kräftig’). mâl] sunder qual (‘ohne Leid’). 658 〈den〉. 668 gereht küene unde milde] aller dugende milde.
652 sunder
2 Flucht | 19
der neme bî dem heiden bilde und halde diz in sîner aht war zuo in diu wârheit brâht. in ganzer gerehtekeit 680 hete er ein süeze barmekeit. wîse lêre, guotiu wort 66ra wâren im süeze gehôrt. aller untugent was er gram, kiusch und gehôrsam was er sam, 685 rehte alsô diu werden kint irer meisterschefte sint. aller tegelîche gap er hôhe gâbe rîche. Als diz büechelîn uns seit, 690 grôze tugent und wirdekeit an Willehalme ich vinde. al sîn hovegesinde, dô er hinwec gedâhte, der vürste vür sich brâhte. 695 ûz er ir deheinen schiet. rîche er sie alle beriet mit lêhen und mit guote. der edel reine gemuote wolt daz mit sinnen underkomen 700 daz daz von im iht würde vernomen daz an manger jugent wirt grôz dienst verlorn und abe birt. er lônet in kintlîcher aht rîche mit voller wîsheit maht. 705 in dem ahtzehenden jâre was der junge klâre dô er sô tugentlîchen warp, an dem nie kein dienst verdarp. sîner site was er wæhe, 710 niht zornic noch ze gæhe. er verseite niemen sîn hulde. ob an kleiner schulde kein sîn diener sich vergaz, wol kunde er übersehen daz. 715 jâ gedâhte er daz ein ieglîch man grôz schulde abe gedienen kan. jâ was ez ie reht daz der site allen vürsten vüere mite daz sie kunden übersehen 720 swâ niht wær mortlîch tât geschehen, mit fridebærer phlihte
so mögen sie sich an diesem Heiden ein Vorbild nehmen und an ihm betrachten, wohin ihn seine Wahrheitssuche noch bringen sollte. In vollendeter Gerechtigkeit übte er doch gütiges Erbarmen. Gern hörte er weise Lehre und edle Worte. Jede Untugend war ihm zuwider. Er war zugleich rein und gehorsam wie unschuldige Kinder, die Meister in diesen Tugenden sind. Tag für Tag verschenkte er reiche Gaben. Wie dieses Büchlein ihn uns beschreibt, finde ich Vortrefflichkeit und Edelmut an Wilhalm. Bevor er ausziehen wollte, berief der Fürst seinen ganzen Hofstaat vor sich, keinen ausgenommen, und stattete alle reich mit Lehen und Besitz aus. Der edle reine Fürst wollte damit vermeiden, dass man auch von ihm einmal sagen würde, dass Dienst bei jungen Herren oft verlorene Mühe, ja ein Schaden sei. Obwohl noch jung, lohnte Wilhalm reichlich und mit großer Klugheit. Als er so vorbildlich lebte, befand sich der junge Fürst, dem zu dienen nie ungelohnt blieb, in seinem 18. Jahr. Er war von feiner Art, weder jähzornig noch übereilt. Er versagte niemandem seine Huld. Wenn irgendeiner seiner Diener im Kleinen fehlte, übersah er es großzügig. Er wusste auch, dass jeder Mensch selbst große Schuld sühnen könne. Es wäre recht, wenn diese Haltung allen Fürsten gemein wäre, so dass sie bei Gericht um des Friedens willen über Verfehlungen hinwegsähen,
677 〈diz〉. 680 barmekeit] barmherzekeit (vgl. 49). 685 〈rehte〉. 689 büechelîn] buch. 695 〈ir〉. 709 wæhe] nit wehe (DH). 720 〈wær〉 (gegen DH).
20 | 2 Flucht die zugen ze gerihte. Sît die schuohe und daz kleit er hete verborgen hin geleit, 725 einer kurzewîle im gezam daz er heimelîche quam ze dem kleide, da er sich verslôz. niemer tac in des verdrôz er enwürde rîcher wât entnact 730 und mit der armen wât bedact. sô er dan daz arme kleit hete an den zarten lîp geleit und ûf daz houbt den swachen huot, sô was er alsô wol gemuot 735 als ob daz keiserlîche leben im in wirden wære gegeben. in sînen sinnen er daz maz, keiniu kleider stüenden im nie baz. dicke gein einer mîle 740 vertreip er drinne die wîle. sô leite er disiu kleider nider und zôch an sich diu êrsten wider. frô entslôz er die tür und quam wolgemuot hervür. 745 wol kunde er trôst dem volke geben, dem wolde er dan ze willen leben. sô was sîn hôhiu wirdekeit alles schimphes in bereit der ze werden fröuden zôch. 750 des vert sîn lop in Wenden hôch und ist in mangen landen wît, dâ man sîn heilekeit an schrît, dâ manic tiure ritter wert vor gote sîner helfe gert. 755 helfer, hilf in und ouch uns, erwirp uns hulde der megede suns. 66va Diu herzoginne wîse an wîplîchem prîse froulîcher wirde volkomen gar 760 nam des tougenlîchen war und hete sie michel wunder daz der herzoge besunder in die kemenâten gie 66rb
wenn es nicht gerade um Mordtaten geht. Nachdem Wilhalm die Schuhe und das Pilgerkleid versteckt hatte, machte er es sich zur Gewohnheit, das Kleid immer wieder heimlich aufzusuchen und sich damit in seiner Kammer einzuschließen. Er erfreute sich alle Tage daran, sein Fürstengewand abund das schäbige Pilgergewand anzulegen. Wenn immer er dann den ärmlichen Stoff um seinen schönen Körper gelegt und den unansehnlichen Hut über sein Haupt gestülpt hatte, war er so glücklich, als hätte man ihm mit Ehren die Kaiserkrone angetragen. Insgeheim sagte er sich, dass keine Mode ihm je besser stünde. Oft verweilte er eine gute Stunde in der Kammer. Dann legte er das Pilgerkleid ab und zog das des Fürsten wieder an. Er entriegelte zufrieden die Tür und trat fröhlich hinaus. Er wusste dem Volk die Zuversicht zu geben, dass er ihm sein Leben widmen werde. In hoher Stellung pflegte er eine Leutseligkeit, die überall für höfische Freude sorgte. Dafür wird er im Wendenland hoch geehrt, und ist in vielen Ländern weithin berühmt, wo man seine Heiligkeit anruft und wo viele edle, tapfere Ritter seine Fürsprache bei Gott erbitten. Helfer, hilf ihnen und hilf auch uns, erwirke uns die Gnade des Sohnes der Jungfrau. Die kluge Herzogin, ganz und gar vollkommen als Inbegriff adlig-weiblicher Würde, nahm insgeheim wahr und wunderte sich sehr, dass der Herzog Tag für Tag ganz allein
Vor 723: Hy det wilhelm dy kleydere an vnd yn ducht nicht anderß do er dy kleyder an hat want so daz ym all konigrich gegeben were. Vor 757: Hy nam dy herczogin deß cleydeß war vnd hat er[!] doch nit an wilhelm gesehen vnd truret sere. 722 zugen ze] zogen yn zu. 723 Sît] sehent (dynamisierende Publikumsapostrophe: ‘Seht!’). 760 tougenlîchen] heymlichen.
733 〈und〉.
2 Flucht | 21
und deheinen tac daz lie und vor nie darîn enquam niu wan sô er sie drinne vernam. zeiner frouwen nam sie rât die sie besunder liep hât, und jach daz ir wære 770 daz von herzen swære daz der herre daz tæte und sie vor niht verswigen hæte aller sîner tougen. ir lieplîchiu ougen 775 mit dirre rede wurden naz. ir meisterinne bat sie daz ir weinen sie verbære und bî guotem muote wære. ‘diz sol lenger niht bestên,’ 780 sprach sie, ‘wir suln beide gên in die kemenâte.’ sus wurden sie ze râte. von winkel zallen wenden sie suochten allen enden 785 dran sie gemerken künden ob sie des iht vünden daz im bræhte gehüge und in zer heimelîche züge. als sie des geruochten 790 daz sie mit flîze suochten, ze jungst sie quâmen an die stat dâ er sîniu kleinôt hât mit flîze verborgen. dô gienc ez an ein sorgen. 66vb dô diu herzogîn ersach den verborgen schaz sô swach, sie enwiste wie gelâzen und erschrac âne mâzen. alsô siez hete vunden 800 zesamene gebunden, als leite diu frouwe diz gewant wider mit ir klârer hant und gebôt ir meisterîn daz diz verswigen solde sîn. 805 diu meisterîn wîse unde kluoc dise rede tougen truoc mit der herzoginne jungen. der herze was betwungen mit leideclîcher swære 810 und gedâhte waz diz wære, 765
ins Schlafgemach ging, was er zuvor nie getan hatte, außer wenn er sie darin wusste. Sie wandte sich an eine Hofdame, der sie besonders vertraute, und sagte, es bekümmere sie von Herzen, dass der Gemahl sich so verhalte, nachdem er ihr zuvor keines seiner Geheimnisse verschwiegen hatte. Ihre liebreizenden Augen füllten sich dabei mit Tränen. Die Hofdame bat sie, nicht zu weinen und guten Mutes zu sein. „Das soll so nicht länger weitergehen“, sprach sie. „Lasst uns im Schlafgemach nachsehen.“ So entschieden sie. Sie durchsuchten alle Winkel und Ecken, im festen Willen, irgendetwas zu finden, was Wilhalm zugleich beglückte und zur Heimlichkeit verleitete. Indem sie so gewissenhaft suchten, stießen sie zuletzt auf die Stelle, wo er seinen Schatz sorgsam versteckt hielt. Da begann erst der Kummer! Denn als die Herzogin den verborgenen Schatz so armselig fand, wusste sie nicht, was dies bedeute, und erschrak maßlos. Zusammengeschnürt, wie sie es aufgefunden hatte, legte sie das Gewand mit ihrer strahlendweißen Hand zurück und befahl ihrer Zofe, Stillschweigen zu bewahren. Die weise, verständige Hofdame bewahrte das Erlebte wie die junge Herzogin bei sich. Deren Herz aber war von schwerer Sorge erfüllt. Sie sann hin und her, was das Versteckte denn sei,
783 wenden] enden (identischer Reim 784). 791 jungst] lest.
22 | 2 Flucht waz er hie mite wolde, wie sie daz ervaren solde. Diu herzogîn het schœnde vil; kein frouwe des reichte an ir zil 815 die man bi ir zîten vant. ûf die wirdekeit sie bant schône erwelt unde glanz einen lobelîchen kranz, dâmite daz hêrlîche wîp 820 hôhe zierte iren lîp: ich mein daz diu getriuwe was an tugenden niuwe, die an ir diu wol geêrte alle stunde mêrte 825 und daran steic von tage ze tage. jâ was diz aller liute sage daz wær diu süeze vürstîn klâr ob wîplîcher wirde ein wirde gar vor andern frouwen lobes rîch, 830 man vünde niender ir gelîch. alsus ir lop erstarkte. ir werdiu wîsheit markte daz ir herre mit sorge ranc diu in âne mâzen twanc 835 und diu in starke beswârte, 67ra swie er frô gebârte. Diu süeze reine gemuote, diu herzoginne guote kreftic in wîplîcher zuht 840 hete enphangen werde fruht. von minneclîcher triuwen kraft was diu klâre berhaft. gelobet sî der hôhe got daz uns sîn gotlîch gebot 845 gap ze fröuden stiure die erwelten crêatiure: ich mein die wîplîch wirdekeit. swaz got hât êre an sie geleit, wir vinden mangen tumben man 850 der lützel daz vervâhen kan. ein wîp kiusche und reine gemuot ist aller güete ein überguot. wie trôstlîch ein anschouwen sint die wünneclîchen frouwen! 855 wol ir diu daz guot erjaget daz man die êre von ir saget
was er damit bezwecke und wie sie das herausbringen könne. Die Herzogin war wunderschön. Darin kam ihr zeit ihres Lebens keine andere gleich. Ihr Adel verband sich mit auserlesener Schönheit und Aura zu einem Ruhmeskranz, der die fürstliche Dame großartig zierte. Ich will damit sagen, dass die Edle ein Muster an Tugenden war; deren Zahl mehrte die Geehrte von Stunde zu Stunde, und wuchs darin täglich. Ja, es war die allgemeine Meinung, dass die edle schöne Fürstin vor anderen vielgerühmten Damen die volle Verkörperung weiblicher Noblesse sei, derengleichen man keine mehr fände. So festigte sich ihr Ruhm. Ihre kluge Einsicht verriet ihr, dass ihr Gemahl sich mit Sorgen quälte, die ihn ohne Maßen bedrückten und schwer auf ihm lasteten, auch wenn er sich fröhlich gab. Die lautere, reine, selbstlose, unbestechlich tugendhafte Herzogin hatte unterdessen edle Nachkommen empfangen. In liebevoller Vereinigung war die Schöne schwanger geworden. Gelobt sei der erhabene Gott, dass uns sein Schöpferwort zum Lebensglück ein auserwähltes Geschöpf zur Seite gab. Ich meine die vollkommene Frau. Obschon Gott sie mit höchster Ehre ausgestattet hat, fehlt es doch nicht an törichten Männern, die das nicht erkennen können. Eine Frau von keuschem und reinem Wesen ist ein Gut über alle Güter. Welch trostspendender Anblick sind doch die schönen Damen! Wohl der, die sich den Vorzug erwirbt, dass man ihr die Ehre nachrühmt,
819 hêrlîche wîp] wyplich wip (‘wîplîch’ ist im ‘Wilhalm von Wenden’ Leitbegriff). (vgl. 819). 835 〈und〉.
832 wîsheit] wyplicheit
2 Flucht | 23
daz sie ir wîpheit rehte tuot und lôser vuore ist behuot und sî der lôsheit widerstrît. 860 von rehte man daz wort ir gît, sie wese ein engel und ouch ein wîp, sus zwir genant und doch ein lîp. wîplîch wirde ist sô wert daz got der sippe aldâ gert. 865 der himel und erden ist ze grôz, in wîplîch wirde sich beslôz. der allen künigen ist ze starc in engem schôze sich verbarc bî der maget Marîen lobesam. 870 aldâ er die menschheit nam, doch got an sîner gotheit ganz, aller tugende ein überglanz, ob aller klære ein klârheit gar. diu den hôhen Krist gebar, 875 an megetlîcher wirdekeit 67rb krône über alle kiusche treit. wîplîcher wirde sich fröut diu luft, wîplîch wirde gît schalles guft. alle engel in himelrîch 880 wîplîcher wirde fröuwent sich. got mit al den lieben sîn wil bî wîbes wirde sîn: in reiner wîbe herzen sal von himel neigte er sich ze tal. 885 ô wol dir, süeziu wîpheit, fröu dich der hôhen wirdekeit! Disiu klâre heidenîn wolde ouch bî rehter wîpheit sîn. aller lôsheit was sie bar, 890 sie truoc ein reinez herze gar. mit volkomener güete und rehter dêmüete kunde sie ir wîplîch prîs bewarn. diu tugentlîche wolde ervarn 895 wes dem herren wær ze muote. sie was in êren huote, dar ûz sie nie trit getrat. ein sinnic herze gap ir rât, daz trahte ûf wertlîch bejac. 900 eines nahtes dô si lac bî ir werdem liebem man,
dass sie als Frau in rechtschaffener Weise lebt und sich unschicklichem Wandel entzieht, ja, gegen die Unschicklichkeit ankämpft. Zu Recht sagt man von einer solchen Frau, sie sei ein Engel und eine Frau, trage also zwei Namen in einer Gestalt. Die weibliche Würde ist so erhaben, dass Gott selbst sich ihr verwandt zu machen strebte. Der zu groß für Himmel und Erde ist, schloss sich in weibliche Reinheit. Der alle Könige an Macht hinter sich lässt, verbarg sich im engen Schoß der ruhmreichen Jungfrau Maria. Dort wurde er Mensch, blieb aber ganz Gott in seinem göttlichen Wesen, Überglanz aller Tugenden, Reinheit über allem Reinen. Die den erhabenen Christus gebar, trägt in jungfräulicher Reinheit die Krone aller Keuschheit. Der Würde der Frauen erfreuen sich die Lüfte, die Würde der Frauen schallt weit hinaus. Alle Engel im Himmel freuen sich ihrer. Gott und all seine Heiligen halten sich gern bei ihr auf. Gott wandte sich vom Himmel herab in die Herzenskammer einer reinen Frau. Wohl Dir, edle Weiblichkeit, freu Dich Deiner hohen Würde! Jene bildschöne Heidin strebte auch nach reiner Weiblichkeit. Sie war ohne Fehl, sie trug ein gänzlich reines Herz. Mit vollendeter Güte und unverstellter Demut behauptete sie stets ihren Ruhm als Frau. Die Tugendhafte wollte nun wissen, was ihren Gemahl im Innern umtrieb. Sie tat nie einen Schritt vom Ehrenpfad ab. Ein kluges Herz war ihr Ratgeber, das ganz auf edles Tun gerichtet war. Eines nachts, als die wunderschöne Herzogin
Vor 887: Hy wart dy herczogin gelert daz sy dar off deß nachtß solt warten wan wilhelm dy cleidern an dede. 862 doch] auch. 872 überglanz] vber krancz. 873 klære ein klârheit] clarheit eyn clarheit.
24 | 2 Flucht diu herzoginne wol getân, in ir arme sie in flaht. mit lûterlîcher liebe maht 905 twanc sie in an ir brüstelîn. ir durchliuhtic mündelîn hitzic nâch rôsenvarwe rôt mit kusse sie dem vürsten bôt. alsus wart sie mit rede lût: 910 ‘nu sage mir, herzeliebez trût, ist dir diu sache iht bekant: eine arme wât ich hinne vant, einen huot, stap, tesche und zwêne schuo, 67va wem sô daz gehœret zuo? 915 ez liget underm bette unden vaste zesamne gebunden.’ Er sprach: ‘ez hât eteswer durch sîne lust verborgen her.’ mit der rede an sînen lîp 920 twanc er daz wünneclîche wîp. sô wê daz sîme herzen tete daz sie diz ervaren hete; er dâhte daz sies erværet würde und beswæret 925 ob er ir die wârheit sagete. mit im selben er daz klagete und bôt der rede lougen. mit wazzerlîchen ougen sie kuste in aber und sprach alsô: 930 ‘ich sol niemer werden frô, ichn ervare des die wârheit durch waz diz sî her geleit.’ ir rede begunde sich mischen mit weinen und mit hischen. 935 einen eit sie des bôt, sie solde unz an iren tôt ringen dâ mit leide. nu wurdens alle beide mit jâmer versêret. 940 der herzoge geêret bat sie ir weinen lâzen und sich ir jâmers mâzen. eines wol ich mich verstê: ir weinen tet dem vürsten wê 945 und bôt sînem herzen einen leitlîchen smerzen,
bei ihrem edlen Geliebten lag, schlang sie ihre Arme um ihn. Mit der ganzen Kraft reiner Liebe drückte sie ihn an ihre Brust. Ihre leuchtenden Lippen bot sie, heiß und rosenrot, dem Fürsten zum Kuss. Sie begann so zu reden: „Nun sag mir doch, geliebter Freund, wenn Du etwas darüber zu sagen weißt: Ich fand heute ein armseliges Gewand, Hut, Stab, Tasche und ein Paar Schuhe; wem gehören diese Dinge? Sie liegen fest zusammengeschnürt unter dem Bett.“ Er antwortete: „Irgendjemand hat das spaßeshalber hier versteckt.“ Bei dieser Antwort drückte er die anmutige Frau fest an sich. Es tat ihm in seinem Herzen weh, dass sie sein Geheimnis entdeckt hatte. Er dachte, dass sie erschreckt und in Kummer gestürzt würde, wenn er ihr die Wahrheit erzählte. Für sich beklagte er das, redend aber verlegte er sich aufs Leugnen. Mit tränenvollen Augen küsste sie ihn wieder und sprach: „Ich werde nie mehr glücklich, wenn ich nicht die Wahrheit darüber erfahre, wie das Bündel hierherkam.“ Weinen und Schluchzen mischten sich in ihre Rede. Sie schwor, ihr Leben lang würde sie mit diesem Kummer ringen. Nun wurden beide vom Jammer übermannt. Der geehrte Herzog bat sie, das Weinen zu lassen und ihren Jammer zu mäßigen. Ich kenne und verstehe das gut: Ihr Weinen tat dem Fürsten weh und brachte tiefen Schmerz in sein Herz,
Vor 917: Hy fraget sy wilhelm weß dy kleyder syn vnd er saget doch nit daz sy sin weren. 915 underm bette] vnserm bette (DH, akzentuiert die Paarbeziehung). 938 〈alle〉 (gegen DH). 942 〈sich〉.
2 Flucht | 25
als ez noch werdem manne tuot, siht er sîn liep ungemuot. alsô gît liep dicke leit 950 und senlîch trûren albereit. 67vb Alsô Willehalm geschach, der dô trôstlîchen sprach: ‘eiâ, süeziu herzogîn, dû solt dîn weinen lâzen sîn. 955 mîner ougen spiegel klâr, disiu mære ich dir ervar.’ sie sprach: ‘liebt iu mîn gesunt, daz sol sîn in kurzer stunt.’ er sprach: ‘jâ, frouwe, daz geschiht.’ 960 er hete doch mit jâmer phliht und ranc mit kumberlîcher nôt, aleine er trôst der klâren bôt und gap dô der gehiure, der im was selbem tiure. 965 er jach, sie solde ez heimlich tragen unde niemen daz sagen und daz sie verbære trûren und frô wære mit ir ingesinde. 970 er sprach: ‘ich erwinde niht, ichn volvüere diz kleit, als ez her ist geleit.’ dise werden jungen, doch wirdeclich betwungen 975 mit ungevelschter liebe kraft (âne touf in heidenschaft sô enwart nie solich stæte erkant als man an in beiden vant), sie truogen wârer minne last. 980 unminne was ir herzen gast, diu mit mislîchen gedanken ein hôhez lop tuot kranken. swan diu guote in ane sach, ir herze, ir rôtez mündel jach 985 daz niht ûf der erde ir wære in solchem werde. sô er was eine stunde von ir, sie enkunde vor leitlîchen swæren
so wie es noch jedem achtbaren Mann ergeht, der seine Geliebte traurig weiß. So bringt Liebe oft Leid und Liebesschmerz hervor. Das erlebte Wilhalm, als er tröstend erwiderte: „Ach, süße Herzogin, höre doch auf zu weinen! Du reiner Spiegel meiner Augen, ich werde Dir alles erzählen.“ Sie sprach: „Wenn Euch mein Wohlergehen lieb ist, dann tut das bald.“ Er antwortete: „Ja, Herrin, so soll es sein.“ Er rang mit Jammer und schmerzlichem Kummer, doch bot er der Reinen Trost und gab damit als Liebender, was er selbst so sehr brauchte. Er bat, sie solle es für sich behalten und niemandem erzählen; auch solle sie im Beisein ihrer Dienerschaft alle Trauer verbergen und froh sein. Dann sprach er: „Ich kann nicht anders, ich muss beenden, wofür dieses Gewand hier bestimmt ist.“ Dieses junge, edle Paar, das doch schon so bezwungen war von der Macht makelloser Liebe (solche Beständigkeit, wie sie sich an den beiden zeigte, gab es in der noch ungetauften Heidenschaft nie), trug die ganze Schwere der wahren Liebe. Unminne, die mit allerlei Tücken hohen Ruhm zu untergraben weiß, war ihren Herzen ganz fremd. Immer wenn die edle Frau ihn ansah, bezeugten ihm ihr Herz und ihr roter Mund, dass ihr auf der Welt nichts so teuer war wie er. Wenn er nur eine Stunde nicht bei ihr war, konnte sie sich vor Leid und Kummer
Vor 951: Hy wenet dy herczogin sere vber wilhelm daz er ir nit wolt sagen weß daz kleit were oder waß er [!] bediudet. 964 der im was selbem] daz ym selber waß. 965 er jach, sie solde ez heimlich tragen] sy solt er heymlichen sprach er dragen. 986 in solchem werde] also werde.
26 | 2 Flucht frô niht gebæren. werdiu minne und volliu tugent ir beider herze in klârer jugent 68ra mit prîses kraft het versigelt, alsô beslozzen und verrigelt 995 daz sie mit triuwen wurben, an dem willen nie verdurben. Mit leitlîchen sorgen erbeiten sie des morgen. Wilhalm gebârte in der aht 1000 als er wær bî fröuden maht, swie doch mit jâmer ranc sîn lîp, sô er gedâht daz er sîn wîp und sîne getriuwen werden man alsô verweisen solde lân. 1005 jâ ist diu rede ze klagene und senelîch ze sagene solch ungemach unde leit daz dirre vürste sît erleit, der was an allen êren hôch 1010 und sich willeclîchen zôch von hôher wirde in swache won durch Krist und den süezen lôn. Mit swærlîchen leiden swie sich entsaget der heiden 1015 dirre antwürte sage, grôzez leit und herzenklage wil nu hôher fröuden schal senken tief in riuwen tal. die durch liebe in fröuden wæren, 1020 die wil liebe nu beswæren. swâ man mir von fröuden seit, dâbî prüeve ich herzeleit. alsô diu werlt lônen kan. Dirre wol geborner man, 1025 Willehalm der vürste wert, von allem sîme herzen gert wie im Krist würde kunt. rôtes goldes manic phunt heimelîche er zuo im nam: 1030 durch gewarheit sô im des gezam. vil rehte der junge sich versan: 68rb niemen sîn heimvart wizzen kan. ouch gedâhte alsô der hêre, 990
nicht heiter betragen. Edle Minne und Tugendfülle hatten ihrer beider Herzen in jugendlicher Reinheit rühmenswert versiegelt und so verschlossen und verriegelt, dass sie in Treue handelten und nie in ihrer Entschlossenheit nachließen. In leidvollen Sorgen erwarteten sie den Morgen. Wilhalm tat, als wäre er froh, obwohl er doch mit Jammer rang, wenn er an sein Vorhaben dachte, seine Gemahlin und seine treuen Vasallen im Stich zu lassen. Ach, der Bericht ist zu beklagen, und nur unter Schmerz sind solche Unbill und solches Leid zu erzählen, wie der Fürst sie später erlitt, der doch in höchstem Ruhme stand und um Christi und seines heiligen Lohnes willen aus freien Stücken aus hoher Würde in ein armseliges Leben hinabstieg. Auch wenn sich der Heidenfürst von Leid übermannt dieser Antwort entzog, werden nun großer Schmerz und innige Klage die lautstarke Freude tief in ein Jammertal sinken lassen. Die durch Liebe in Wonne lebten, wird Liebe nun niederdrücken. Wo immer man mir von Freude spricht, finde ich gleichzeitig Herzensqual. So lohnt die Welt. Der wohlgeborene Herr und edle Fürst Wilhalm strebte aus Herzensgrund danach, Christus kennenzulernen. Mehrere Pfund roten Goldes nahm er heimlich zu sich in Verwahrung; dies war sein Recht. Der Jüngling erwog dabei, dass niemand wissen konnte, wann er zurückkam. Auch bedachte der Edle,
Vor 1013: Hy entsaget sich wilhelm vnd nam manigeß punt goldeß vnd wolt enweg. 991 volliu] folkommen (DH). 997 leitlîchen] liplichen (DH). 1002 sô] wan. 1023 alsô diu] als dise (prononciertere Weltabsage).
2 Flucht | 27
er solde ez in Kristes êre frœlich zeren und vergeben. Machmeten wolde er niemer leben und andern allen abgoten. er widersagete ir geboten; er jach, er ensolde 1040 sie niemê haben holde. Krist wolde er êren, sînen flîz dran kêren. diz er heimelîchen hete, niemen erz ze wizzen tete. 1045 Wilhalm was genendic. nu was daz unwendic, er wolde sînen hôhen art smæhen in armüete vart. er was in süezer andâht. 1050 des selben tages hin ze naht (nu hœret wie ich hân vernomen) dô sie ze bette wâren komen und gelâgen eine wîle wol gegen einer mîle, 1055 der vürste von dem bette trat und nam, dâ erz verborgen hât, ze sîner vart daz arme kleit. an sînen lîp er ez leit. nu gebârte diu vil hêre 1060 als ob sie sliefe sêre: sie merket wol den herzogen. als er die schuo hete angezogen und die vaste gebant, den stap nam er an die hant, 1065 ûf sîn houbt satzte er den huot, nider kniete der vürste guot; aller reden er gesweic, mit zühten er der frouwen neic mit voller zeher rêre. 1070 an sîner umbekêre, dô er zer tür wolde sîn, von dem bette spranc diu herzogîn. 68rb ich wæn, der wæte sie vergaz. sie sprach: ‘herre, waz ist daz? 1075 wes wellet ir beginnen? welt ir mir entrinnen?’ sie sprach: ‘wes hât ir gedâht?’ 1035
dass er es ja zur Ehre Christi frohgemut ausgeben und verzehren würde. Er wollte nicht mehr im Dienst Mahmets und all der anderen Götzen leben. Er widersagte deren Geboten und sprach, er werde ihnen nie mehr huldigen. Christus wollte er ehren, auf ihn seinen Eifer richten. Dies alles bedachte er insgeheim, ohne es jemanden wissen zu lassen. Wilhalm war entschlossen. So war es nun unabänderlich: Er wollte seine hohe Abkunft auf dem Weg in Armut erniedrigen. Er lebte in frommer Andacht. Hört, wie ich vernahm: Noch am gleichen Abend, als sie zu Bett gegangen waren und eine Weile, wohl eine Stunde, gelegen hatten, stand der Fürst auf und nahm das ärmliche Reisegewand aus dem Versteck. Er zog es sich über. Die edle Herzogin tat währenddessen, als schliefe sie tief. Tatsächlich sah sie dem Herzog genau zu. Als er die Schuhe angezogen und fest zugeschnürt hatte, nahm er den Stab zur Hand. Der edle Fürst setzte den Hut auf den Kopf und kniete nieder. Wortlos und selbstbeherrscht neigte er sich zum Abschied zu seiner Gemahlin; dabei flossen viele Tränen. Als er sich umwandte und zur Türe ging, sprang die Herzogin aus dem Bett. Ich glaube, sie zog sich nicht einmal etwas über. Sie rief: „Herr, was soll das? Was habt Ihr vor? Wollt Ihr mich verlassen?“ Sie fuhr fort: „Was führt Ihr im Schilde?“
Vor 1045: Hy det wilhelm deß nacht dy kleyder an vnd neyg der frauwen vnd wolt dy dor off dün daz sach dy frau. Vor 1077: Hy sprang dy herczogin nacket vß dem bet vnd behilt den herczogen daz er bleit [!]. 1056 erz] er (DH).
28 | 2 Flucht sie hurte an in mit voller maht und zôch in ze dem bette wider. 1080 dâ muoste er zuo ir sitzen nider. diu klâre in grôzem leide aller ir kleide sie vor jâmer vergaz, blôz sie bî dem vürsten saz. 1085 lieplich er sie ane sach, ûz trüebem muote er zuo ir sprach: ‘herzentrût, tuo an dich ein kleit!’ alrêrst versan sie sich daz sie was sô nacte; 1090 mit der decke sie sich dacte, daz vil jâmers rîche wîp. got hete iren werden lîp ze wunsche gemezzen; dâ was niht an vergezzen, 1095 ezn wære zuobrâht als ez sol gar schœnen lîp schicken wol. von herzen sie weinde. waz er hie mite meinde oder wes er willen hæte, 1100 daz er kunt daz tæte, sus bat ir rôtez mündelîn, der jâmerigen herzogîn. bî der liebe sie sprach und als sie triuwen sich versach, 1105 als manete in diu frouwe guot daz er ir seite sînen muot. 68vb Er sprach: ‘mîn liep, ich wil dir sagen grôz liebe und dâbî jâmer klagen. der beider ist mîn herze vol. 1110 vor liebe ist mir alsô wol daz nie menschlîcher art sô wol noch ê erfröuwet wart; noch baz mîn herze ist hügende, an fröuden sich vermügende: 1115 mir ist ein name worden kunt, der hât mich alsô gar entzunt daz ich sîn naht unde tac noch stunde niht vergezzen mac. der süeze name heizet Krist. 1120 ich wil ervaren wer der ist der sô hôhen namen treit.
Sie sprang unbändig zu ihm hin und zog ihn zum Bett zurück. Dort musste er sich neben sie setzen. Die schöne Frau hatte vor lauter Schreck und Jammer all ihre Kleidung vergessen; sie saß nackt an der Seite des Fürsten. Der sah sie zärtlich an und sprach mit trübem Sinn zu ihr: „Herzgeliebte, zieh Dir etwas an!“ Erst da bemerkte sie ihre Nacktheit. Die jammervolle Frau bedeckte sich mit ihrem Laken. Gott hatte ihren edlen Körper wunderschön geformt; nichts fehlte daran, alles war geschaffen, wie man es bei einer vollendet schönen Frau erwartet. Sie weinte aus tiefstem Herzen. Mit ihrem roten Mund bat die tiefbetrübte Herzogin, er möge ihr doch sagen, was sein Verhalten bedeute oder was er vorhabe. Um der Liebe willen flehte sie, im Vertrauen auf seine Aufrichtigkeit mahnte die edle Dame ihn, ihr seine Absicht kundzutun. Er sprach: „Geliebte, ich will Dir etwas sehr Angenehmes und zugleich Schmerzliches sagen. Beides erfüllt mein Herz. Vor Freude geht es mir so gut, dass kein Mensch jemals so beglückt worden ist. Mein Herz jubelt, es darf sich freuen, denn mir ist ein Name bekanntgeworden, der mich so völlig entzündet hat, dass ich ihn Nacht und Tag zu keiner Stunde vergessen kann. Dieser süße Name ist ‘Christus’. Ich muss erfahren, wer es ist, der solch erhabenen Namen trägt.
Vor 1107: Hy saget der herczog wilhelm der frauwen wy ym Crist der namen so groß liebe schaff vnd auch so groß le[i]t. 1086 〈zuo ir〉. 1096 〈gar〉. 1107 〈mîn〉. 1112 ê] so (DH). 1117 〈sîn〉.
2 Flucht | 29
sô gît mir klegelîchez leit und beswært von herzen mich: frouwe, sol ich lâzen dich 1125 und sol ich mich erwilden dir, sô wart nie nôt sô swæriu mir. ich hân in armer wæte aht Krist ze suochenne gedâht. sô mir Krist wirdet kunt, 1130 sô kume ich dir in kurzer stunt.’ er bat die guoten wesen frô. Diu antwurte im ûz jâmer sô; diu wol geborne guote sprach: ‘wes ist iu ze muote?’ 1135 er sprach: ‘frouwe, ich muoz von dir, iedoch unsanfte ich dîn enbir.’ ‘sagt, herre guot, wâ welt ir hin? hât ir witzehaften sin?’ ‘ob Krist wil, jâ ich, frouwe mîn.’ 1140 aber sprach diu herzogîn: ‘ich wânde triuwe an iu hân, dâ bin ich betrogen an. ich geswîge mîn, ir soldet lân diz durch iuwer werden man 1145 gein den ir enguldet nie iur kintheit. sie iuch êrten ie und heten iuch in werder aht. als ob iu wîsheit volliu maht 69ra und al vernunft sî gegeben, 1150 alsô wolden sie iu leben. wem bevelt ir liute unde lant?’ ‘daz setze ich an die hœsten hant, dar nâch, frouwe mîn, ze dir.’ ‘ein kleinen trôst gebt ir mir’, 1155 sprach diu süeze herzogîn. ‘vür wâr diz ist ein kranker sin des ir iu gedenket und mich in jâmer senket. wie solde ein wîp landes pflegen?’ 1160 ir herze gap durch d’ougen regen. er sprach: ‘dû weist wol daz an dich die herren mêre dan an mich aller dinge warten.’ ir rôten munt den zarten 1165 mit kusse er an den sînen twanc. er sprach: ‘Krist der habe danc der dich geschuof sô wîse
1139 jâ ich] ia sprach er. 1166 〈der〉.
Eben das bereitet mir kläglichen Schmerz und bedrückt mich von Herzen: Wenn ich Dich, Herrin, verlassen und Dir fremd werden muss, so erlebte ich nie so schwere Not. Ich habe mir vorgenommen, in ärmlicher Kleidung Christus zu suchen. Sobald Christus mir bekanntgeworden ist, komme ich sofort zu Dir zurück.“ Er bat die Edle, froh zu sein. Sie aber antwortete ihm aus Schmerz anders. Die edle Hochgeborene sprach: „Was habt Ihr im Sinn?“ Er sprach: „Herrin, ich muss Dich verlassen, so schmerzlich Du mir fehlen wirst.“ „Sagt, edler Gemahl, wohin wollt Ihr denn? Seid Ihr noch recht bei Sinnen?“ „Durchaus, meine Gemahlin, wenn Christus es will.“ Darauf sprach die Herzogin: „Ich glaubte, Treue bei Euch zu finden. Darin bin ich betrogen. Ich schweige von mir, doch solltet Ihr Euren Plan um Eurer redlichen Vasallen willen aufgeben, die Euch nie Eure Jugend spüren ließen. Sie traten Euch stets mit Ehrfurcht und Achtung entgegen. Sie behandelten Euch, als hättet Ihr schon das volle Maß an Lebensklugheit und Vernunft. Wem vertraut Ihr denn Leute und Land an?“ „Die lege ich in die Hand des Höchsten, und danach, Herrin, in Deine.“ „Das tröstet mich nicht“, erwiderte die schöne Herzogin. „Es ist nun wahrlich irrsinnig, was Ihr da vorhabt und was mich in Sorge niederdrückt. Wie sollte eine Frau ein Land regieren?“ Aus tiefstem Herzen strömten die Tränen in ihre Augen. Er sprach: „Du weißt sehr gut, dass die Landherren in jeder Hinsicht Dir mehr als mir zu dienen bereit sind.“ Ihre zarten roten Lippen drückte er im Kuss an die seinen. Weiter sprach er: „Christus sei gedankt, der Dich zum Ruhm aller Frauen
1147 iuch in] uch ye in.
1153 〈mîn〉.
1162 die herren] dyne herren (H din).
30 | 2 Flucht an wîplîchem prîse. unser hêrschaft wil ich 1170 geswîgen. wande wærn an dich drîzic lant gevallen, dû gæbest rât in allen.’ diu frouwe sprach ein wârez wort: ‘ich hân gesehen und gehôrt 1175 daz man frouwen wîsheit jach und in berihtekeit vil sprach ûf alle sache wol ze râten die wîle sie wirte hâten, daz man in grôzer wirde jach 1180 und enbor lange darnâch sô in die wirte entgiengen, dazs ander wort geviengen, die noch wol ir wîpheit huoten und nie krankeit gemuoten: 1185 mangen wîs man missebôt in und liten smæhen spot. diz wære allez gar gelân swâ ein frouwe hæte ir man. manger sie dan êret 69rb der sus ir muot versêret. manger hande sache in gedîhet zungemache, die sie gar verbæren ob in ir wirte wæren 1195 bî, alsô daz wellent diu reht, diu sie gesellent, mit liebe zesamne bindent. ich bite iuch daz ir erwindent. saget an, hât liep ir mich?’ 1200 Der vürste sâ sprach: ‘jâ ich. sunder der hôhe herre Krist nie niht enwart noch enist des ich sô von herzen gert als ich ie hete und habe wert 1205 noch dînen klâren süezen lîp. nu gip mir urloup, sælic wîp! ob dû mîner sælden gerst, mîner bete dû mich gewerst.’ an sich dructe er daz frouwelîn. 1210 sie sprach: ‘ô friunt und herre mîn, ich het ze fröuden dich erkorn, nu hân ich fröude an dir verlorn. vil dîner wirde bejac
so klug geschaffen hat. Von unserer Herrschaft will ich nicht reden, denn selbst wenn Dir dreißig Länder zugefallen wären, sorgtest Du doch gut für sie alle.“ Die Herzogin sprach ein wahres Wort: „Ich habe gesehen und gehört, dass man edlen Frauen oft Klugheit und das Geschick zusprach, alles gut einzurichten, solange nur Männer an ihrer Seite standen. Solange dies galt, standen sie in hohem Ansehen, doch bald darauf, sobald ihnen der Mann an der Seite abging, hörten sie ganz andere Urteile, auch wenn sie ihren weiblichen Anstand gewahrt und sich nie eine Schwäche erlaubt hatten: Man behandelte sie in jeder Weise unfair, sie mussten launige Kränkungen ertragen. Das alles wäre unterblieben, hätten sie nur männlichen Beistand gehabt. Viele, die sie nun kränkten, hätten sie dann hochgeachtet. Allerlei Pflichten werden für Frauen zur Last, die sie gar nicht hätten, wenn die Gatten ihnen beistünden, wie es die Ehe verlangt, die sie zusammenbringt und in Liebe aneinander bindet. Ich bitte Euch: Steht ab von Eurem Plan. Sagt doch: Liebt Ihr mich?“ Der Fürst antwortete prompt: „Selbstverständlich! Außer dem höchsten Herrn Christus gab und gibt es nichts, was ich so innig begehrte, wie ich Dich Lautere, Schöne stets liebte und liebe. Nun lass mich fahren, Glückselige! Wenn Dir an meinem Lebensglück etwas liegt, dann musst Du meine Bitte erfüllen.“ Er drückte die junge Frau an sich. Sie sprach: „Mein Freund und Herr, ich hatte Dich mir zur Freude erwählt, jetzt aber habe ich meine Freude durch Dich verloren. Dein unablässiges Streben nach Ehre
1170 〈wande〉 (gegen DH). 1177 〈wol ze〉. 1186 smæhen] spehen (DH). 1196 〈sie〉. 1200 〈sâ〉. 1202 〈niht〉. 1203 des ich sô] so ich din (DH).
2 Flucht | 31
mir suoze in mînem herzen lac. dîn hôhiu wirde âne strît gap mir ie vil fröuden zît, sô dich mîn’ ougen sâhen. dîn werdez umbevâhen mich sô hôhe rîchte, 1220 niht sich dem gelîchte. wie daz an werden fröuden hôch mîn herze steigete und ûf zôch! nu wil dîn wirdic trûren mir die süeze sûren 1225 und swaz ich an dir wirden sach, daz wirt mir ein ungemach ob dû scheidest von mir. ôwê herre, waz hât dir dîn gemüete verkêret? 69va wie mir daz versêret herze unde sinne! herzeliebe und werdiu minne sol mir sîn ein herzeleit. hœhe an mir dîn wirdekeit, 1235 süezer Wilhalm, unde blîp! ôwê daz ich unsælic wîp trage dîns verhes sâmen, den gâben unde nâmen unser zweier minne. 1240 betrahte in dîme sinne wie ich mit swære bin begurt. mir nâhet daz zil der geburt. sol uns diu fruht ze fröuden komen, wirts mir mit leide niht genomen, 1245 ob daz kindelîn genist und dû niht, herre, bî mir bist, wie sol ich dâmit gebâren? in wahsenden jâren, ob Jupiter ez leben lât, 1250 wer gît im helfe oder rât getriuwen als du tæte ob ez dich bî im hæte? wer machet ez an witzen wîs? wer lêrt ez vürstlîchen prîs 1255 und hôhez lop erwerben? sol daz an im verderben, 1215
beglückte mein Herz. Deine hohe, durch nichts getrübte Würde erfreute mich immer wieder, wenn ich Dich erblickte. Deine edles Begehren richtete mich so hoch auf, nichts kam ihm gleich. Wie erhob all dies mein Herz und zog es hinauf in höchste Wonnen! Nun will mir Deine fromme Schwermut die Süße verbittern; und alles, was ich an Dir schätzen lernte, wird mir zum Leid, wenn Du von mir gehst. Oweh, Herr, was hat Dir nur Deinen Sinn so verkehrt? Welche Wunden schlägt mir das in Herz und Sinne! Herzensfreude und beglückende Liebe werden mir zu Herzensleid. Handle ehrbar an mir, geliebter Wilhalm, und bleibe! Ach, dass ich Unglückliche Deinen Samen in mir trage, den unser beider Liebe gab und nahm. Erwäge doch, welche Bürde ich trage. Die Zeit der Niederkunft rückt näher. Wenn unsere Frucht glücklich zur Welt kommt und mir nicht schmerzvoll genommen wird, wenn also das Kindlein die Geburt überlebt, und Du, Herr, nicht bei mir bist, was soll ich denn mit ihm tun? Wenn es dann aufwächst – sofern Jupiter es leben lässt –, wer gibt ihm Hilfe oder Rat, so treu wie Du es tätest, wenn Du bei ihm wärst? Wer fördert seinen Verstand? Wer lehrt es, fürstlichen Ruhm und hohes Ansehen zu erwerben? Wenn ihm all das nicht vergönnt ist,
Vor 1235: Hy bat dy herczogin wilhelm daz er verliebe durch der geburt willen dy sy druge vnd durch der liebe willen dy sy zu ym het. 1216 〈ie〉 (Konjektur gegen DH, verschärft die Aussage: ‘zu jeder Zeit’). 1235 unde] nu (DH).
1226 ungemach] sureß vngemach.
32 | 2 Flucht sô wolde ich lieber niht gesîn. wer ahtet sîn, wer ahtet mîn? weder der herre noch der kneht 1260 haldent an uns vürsten reht. sol sich sus mîn wirde krenken? jâ mügen sie nû gedenken, ich habe von mir dîne fluht bejaget mit mîner unzuht. 1265 diz betrahte, lieber herre mîn!’ Von herzen weinde daz frouwelîn. 69vb mir selben tuot ir kumber wê, des wirt ie mê und ie mê. Wilhalm sprach: ‘gan uns des Krist 1270 daz unser fruht ze fröuden ist gegeben und daz kindelîn sol leben und bî lîbe sîn, dîn wîplîchiu bescheidenheit, dîn ûzerweltiu wîsheit, 1275 wirt ez kneht oder maget, an allen tugenden unverzaget dîn edel süeziu hôhiu art an rehtem prîse ez wol bewart.’ Diz kan ich anders niht gewegen, 1280 sie muosten beide jâmers phlegen, grôz leit ir herze dô bevienc. vil rede diu aldâ ergienc, daz wâren weinlîchiu wort. dô diu herzogîn gehôrt 1285 daz sie den edeln Wenden mit nihte mochte erwenden noch ziehen von dem muote, diu hôhe hêre guote fröuden arme und jâmers rîche 1290 sprach zim gar senelîche weinende an der stunde ûz rôt getriuwem munde: ‘ei Willehalm mîn süeze amîs, waz dû nû grôzer sorgen gîs 1295 den getriuwen herren dînen, die sich nâch dir suln pînen! vil frouwen wert und lieht gevar nâmen dîner wirde war und wurfen an dich ir ougen schîn. 1300 ich gundez in wol (dû wær doch mîn),
dann wollte ich selbst lieber nicht sein. Wer achtet seiner, wer achtet meiner? Weder Herr noch Knappe werden unseren Rang respektieren. Soll mein Stand solche Schmach erleiden? Ja, man könnte gar unterstellen, ich selbst hätte Deine Flucht durch schlechtes Verhalten verursacht. Das alles bedenke, geliebter Gemahl!“ Aus tiefstem Herzen weinte die junge Herzogin. Mich selbst schmerzt ihr Kummer je länger, desto mehr. Wilhalm sprach: „Erweist uns Christus die Gnade, dass uns unser Ungeborenes zur Freude geschenkt ist und dass das Kindlein leben soll und am Leben bleibt, dann wird es Deine weibliche Einsicht, Deine außerordentliche Klugheit und Deine hochadlige Abkunft in allen Tugenden und geziemendem Ansehen bewahren, sei es ein Knabe oder ein Mädchen.“ Ich kann es nicht anders sagen: Beide waren vom Kummer erfasst, beider Herzen litten sehr. All die vielen Worte, die da gewechselt wurden, erstickten in Tränen. Als die Herzogin erkannte, dass sie den edlen Wenden durch nichts zum Umdenken veranlassen, ihn nicht von seinem Vorhaben abbringen konnte, sprach die Vornehme, Edle, Gute, Freudenarme und Kummerreiche, noch tiefbetrübt, aus rotem, aufrichtigem Mund zu ihm voll Liebe: „Ach, Wilhalm, mein geliebter ami, welch große Sorgen mutest Du damit Deinen loyalen Landherren zu, die sich Deinetwegen in Leid verzehren werden! So viele treffliche und schöne Damen sorgten mit für Dein Ansehen und warfen ihre Augen auf Dich. Ich gönnte es ihnen gern (Du gehörtest ja dennoch mir),
Vor 1269: Hy saget wilhelm er wolt nit verliben vnd dy herczogin bat yn aber daz er verlibe deß wolt er aber nicht dun. 1285 edeln Wenden] genenden. 1297 wert] schon (‘schön’).
2 Flucht | 33
ob deheiniu sô gedâhte daz ir gehügde brâhte. Willehalm, dîn überkêre sol vil der zeher rêre 70ra werdes wîbes ougen geben. hôhe fröude in jâmeric leben gît dîn stætlîch sinnen ûf die vart von hinnen. nû dû der wilt erwinden niht, 1310 sin und herze mich beriht und rætet ellenlîchen mir, lieber friunt, ich wil mit dir’, sprach ir mündel hitzic rôt. Alrêrst quam Willehalm in nôt. 1315 offen und verborgen swâ leitlîchez sorgen sîn getriuwez herze bevie, sô quam er in die swære nie, sîn herze tete von jâmer krach. 1320 betruobt er an die guoten sach. er sprach: ‘neinâ, sælic wîp, jâ ist dîn süezer klârer lîp ze kranc ze der arbeite dar ich mich zuo bereite.’ 1325 Dô sprach aber diu herzogîn: ‘herre, sol ich ân dich sîn, daz wære ein unergetzet nôt, diu sich züge an den tôt. ich bin der reise unervært, 1330 trût herre, als dîn herze gert. geschiht dir wê, geschiht dir wol, diz ich mit dir lîden sol. jâ bin ich über al rîcheit rîch sô ich mac gehaben dich. 1335 ûz zweien wel dir einez und anders deheinez: daz dû belîbest hie bî mir, oder lâz mich volgen dir!’ 70rb Vil sie beide weinden 1340 ê sie sich des vereinden. Willehalm ûz jâmer sprach,
wenn manch eine dabei sogar insgeheim Liebe für Dich empfand. Wilhalm, Dein brüsker Aufbruch wird viele heiße Tränen in die Augen edler Frauen drücken. Deine feste Absicht, das Land zu verlassen, wird höfische Freude in ein Jammerleben verwandeln. Wenn Du nun aber davon nicht ablassen willst, dann sagen mir Verstand und Herz und raten mir dringlich, mit Dir zu ziehen, lieber Freund.“ So sprach ihr heißer roter Mund. Das brachte Wilhalm in Not. Auch wenn offen wie verborgen immer wieder schmerzliche Sorgen sein treues Herz befallen hatten, sah er sich doch nie zuvor in solcher Beschwernis. Sein Herz barst fast vor Jammer. Betrübt sah er die Edle an und sprach: „Niemals, gesegnete Frau; Dein edler, feiner Körper ist für die Mühen, auf die ich mich einstelle, durchaus zu schwach.“ Darauf erwiderte die Herzogin: „Herr, ohne Dich zu sein wäre unentschädigte Not, die im Tod enden müsste. Die Reise schreckt mich nicht, lieber Herr, die Dein Herz begehrt. Stößt Dir etwas zu oder geht es Dir gut, ich werde beides mit Dir durchleben. Wenn ich Dich nur bei mir haben kann, bin ich reich über alle Reichtümer der Welt hinaus. Von zwei Wegen wähle also den einen, einen dritten gibt es nicht: Entweder Du bleibst hier bei mir, oder Du lässt mich mit Dir gehen.“ Sie weinten beide noch heftig, bevor sie sich darüber einigten. Wilhalm sprach mit Schmerzen,
Vor 1311: Hy gap dy herczogin kur daz er eynß vßerwelt daz er by ir verliebe oder daz sy mit ym wolde alda so quam wilhelm yn vngemach. Vor 1341: Hy beual wilhelm der herczogin daz syß nymant solt sahen wan sy sy [!] enweg solten oder wo sy hin wolden. 1308 die] din. 1311 rætet ellenlîchen] redet krafftlichen (H eigentlichen). 1313 mündel hitzic rôt] mundelin gar hitzig vnd rot. 1318 swære] sorge. 1319 von] mit. 1321 neinâ, sælic wîp] neyn a sußeß selig wip. 1337 〈hie〉.
34 | 2 Flucht sorge im fröuden urbor brach: ‘herzeliep, wiltû mit mir, sô bevilhe ich ûf dîn triuwe dir 1345 und sô liep als dû mich hâst, daz dû ez niemen wizzen lâst.’ an wîplîcher wirde diu stæte jach, gerne sie daz tæte. sie dûhte wie sie wære erlôst 1350 al irer swære und hæte trôst vunden, daz sie mit im solde und er ir des gunnen wolde. diu herzoginne lieht gevar (al ir lîp was sô klâr 1355 daz sie mit schœne widerstreit rîche an hôher wirdekeit manger frouwen glanzem schîn) nâch viure var ir mündelîn noch rœter dan diu rôse rôt 1360 lieplich sie dem vürsten bôt. in ir arme sie in flaht. ich hânz alsô daz sie die naht manger rede begunnen. Diu klâre wol versunnen, 1365 als des liehten morgens schîn ze der kemenâten în geweldic durch diu venster brach, ze dem vürsten sie dô sprach: ‘nu soltû eine zuht begân: 70va dû solt alle dîne man besenden und beschrîben, sît dû niht wilt belîben, daz sie komen mit ir frouwen vür die stat: ûf der ouwen 1375 wellestû mit in frœlîch sîn. süezer friunt und herre mîn, dâ solt dû nâch vürsten rehte geben und in rîcher ahte leben. von dir sie alle sîn gewert 1380 mê dan iemen an dich gert, und wis dû mit den herren frô. ich tuon ouch mit den frouwen sô, mînen werden gespiln. uns sol der koste niht beviln.
das Leid sog ihm die Freudenernte auf: „Herzgeliebte, willst Du mit mir gehen, so gebiete ich Dir bei Deiner Treue und Deiner Liebe zu mir, dass Du es niemanden wissen lässt.“ Die Fürstin, beständig in weiblicher Würde, erwiderte, dass sie das gern täte. Sie wähnte sich von all ihrer Bedrängnis erlöst und getröstet, weil er ihr erlauben wollte, mit ihm zu gehen. Die schöne Herzogin (ihr ganzer Körper strahlte so, dass sie an Schönheit und Adel den Glanz vieler Damen überglänzte) bot dem Fürsten ihre feuerfarbenen, rosenroten Lippen liebevoll zum Kuss. Sie schlang ihre Arme um ihn. Ich glaube, sie haben die Nacht hindurch noch mancherlei getan. Als der helle Morgenstrahl machtvoll durch die Fenster in die Schlafkammer brach, sprach die schöne, besonnene Bene zum Fürsten: „Nun musst Du höfische Form beweisen: Da Du nicht bleiben willst, solltest Du durch Boten und Briefe all Deine Vasallen einladen, mit ihren Damen vor der Stadt zusammenzukommen. Schreibe, Du wollest auf der Aue ein Hoffest für sie ausrichten. Lieber Freund und Herr, dort sollst Du nach Fürstenart schenken und Dich großzügig erweisen. Jeder soll mehr von Dir bekommen, als er erwartet. Sei mit den Herren bester Laune. Ebenso halte ich es mit den Damen als meiner edlen Gesellschaft. Die Kosten sollen uns nicht kümmern,
Vor 1368: Hy bat dy herczogin wilhelmen daz er solt eyn zocht began vnd solt all syn frunde vnd auch yr frunt laden. 1367 venster brach] finster drang (Emendation wegen Tageliedanspielung). 1368 sie dô sprach] sy sprach an wang (Reim auf drang 1367; ‘ohne Bange’). 1381 und wis dû] du sys. 1382 tuon] bin.
2 Flucht | 35
wir suln uns rîch da erbieten, sie sô ze fröuden mieten und suln ir gemüete zenen daz sie sich nâch uns müezen senen[.]’ dô sprach der vürste: ‘wol dir! 1390 dîn werder rât gevellet mir und guoter lêre wirdekeit, der vil dîn süezez herze treit. mir hât dîn süezer munt volbrâht des ich mir, frouwe, hete gedâht 1395 ze sprechen, liebiu, wider dich. wie dîn wirde tiuret mich!’ Al den herren in dem lande Wilhalm dô brieve sande und bat sie mit ir frouwen 1400 komen ûf die ouwen. sus bat der triuwen veste daz sie dâ sîne geste ahte tage wæren. nâch der âventiure mæren 70vb sô was diz in dem meien dô die werden leien des vürsten brieve nâmen und ze sîm gebote quâmen in hôher kost gezierde, 1410 als daz gezam ir wirde, mit manger frouwen tiure, die ze hôher fröuden stiure wol kunden und nâch prîse jagen. sie lêrten ouch an lôsheit zagen. 1415 ir amîse ie hôchgemüete der werden wîbe güete ie unverdrozzenlîchen gap. wîp sint voller urhap vollekomener dinge guot. 1420 wîp gebent tugentlîchen muot, wîp hôhe fröude erweckent, wîp versêret herze erstreckent ze hôher stîge rihte mit frœlîcher phlihte, 1425 wîp brechent vester sorgen bunt, wîp gebent süezes trôstes vunt, wîp tuont wesen ellenhaft, wîp sint an vînden sigehaft, 1385
wir müssen uns fürstlich zeigen, sie mit höfischer Freude umwerben und ihre Herzen für uns einnehmen, so dass sie sich nach uns sehnen werden.“ Darauf sprach der Fürst: „Das ist gut gesprochen! Dein guter Rat und Deine edle, aus großem Herzen kommende Lehre gefallen mir. Dein lieblicher Mund hat ausgesprochen, liebste Herrin, was auch ich Dir sagen wollte. Wie sehr erhebt mich Dein Adel!“ Allen Herren seines Landes sandte Wilhalm daraufhin Briefe und bat sie, mit ihren Damen auf die Aue [vor der Stadt] zu kommen. Der redliche Fürst bat, dass sie dort auf acht Tage seine Gäste sein sollten. Der Quelle zufolge war es im Monat Mai, als die edlen Herren die Botschaft des Fürsten erhielten und seiner Einladung folgten. Sie taten dies in kostbarem Aufzug, wie es ihrem Rang zukam, und in Begleitung vieler edler Damen, die ihren Beitrag zur Festesfreude leisten und Ruhm erringen konnten. Auch lehrten sie, Laster zu meiden. Ihre weiblichen Vorzüge schenkten ihren amis stets unbeschwerte Hochstimmung. Frauen sind der vollkommene Ursprung jedweder Vollkommenheit! Frauen schenken vorbildliche Gesinnung, Frauen wecken höfische Freude, Frauen richten verletzte Herzen wieder hoch auf durch freudespendende Anteilnahme, Frauen zerreißen das Band großer Sorgen, Frauen lassen süßen Trost finden, Frauen verleihen Kraft, Frauen bleiben siegreich über die Feinde,
Vor 1397: Hy sant wilhelm synen herren vnd auch andern herren ym lande daz si balde quemen zu synem hoff vnd zu syner wirdekeit. 1394 〈frouwe〉.
36 | 2 Flucht
1430
1435
1440
1445
1450
1455
1460
1465
1470
1475
wîp sint sælden voller teil, werdiu wîp sint mannes heil. got durch wîplîch wirdekeit gap sich ze sune der süezen meit. Wilhalm mit der klâren beide des flîzic wâren wie sie mit rîcher koste kraft volbræhten dise wirtschaft. ûf den bluomenvarwen plân einen rinc sie hiezen slân von spæhen tuochen sîdîn, diu gâben manger varwe schîn glanzen und von golde. als der süeze wirt daz wolde, ûf des ringes wenden wâren allen enden rückelachen breit ûf gezogen, grôzer rîcheit niht betrogen, darunder man solde sitzen. mit schœnheite witzen was der siz al umb bereit, vil teppich durch und durch gebreit. dar ûf von phulwen lieht gevar beriht man ein gestüele dar, erhabene tische niht ze hôch. sô des was zît, dar ûf man zôch einvarwiu tuoch gar wîze genæjet wol mit flîze. ze den taveln der herre erwegen schuof ambetliute die ir phlegen solden mit wirdiclîcher kraft. diz wart allez vür geschaft swaz man dâ haben solde. sîn lop er sus bewaren wolde daz niemen sô enspræche daz ihtes dâ gebræhe, sunder man dâ næme swaz der wirtschaft was gezæme. Man sach daz velt in rîcher kür. nû quâmen al den werden vür manic kamerwagen swære unde vil soumære geladen rîlîche, der armuot niht gelîche. den riten gevüege knappen mite gekleit nâch hovelîchem site. die sach man vaste gâhen,
Frauen sind die volle Seligkeit, edle Frauen sind das Glück des Mannes. Gott selbst gab sich um der Würde der Frauen willen einer edlen Jungfrau zum Sohn. Wilhalm und seine schöne Gemahlin waren mit hohem Aufwand eifrig um das Gelingen des Festes bemüht. Auf dem blühenden Anger ließen sie einen Ring mit feinen Seidentüchern auslegen, die in vielen Farben und golden erstrahlten. Wie der edle Gastgeber es wünschte, waren über der Ringbegrenzung auf allen Seiten breite Wandumhänge von hohem Wert aufgezogen worden, unter denen man sitzen sollte. In klug arrangierter Pracht waren ringsum viele Teppiche für die Sitze ausgelegt. Darauf richtete man aus hellen Kissen neben niedrigen Tischen die Sitzplätze her. Als es Zeit war, legte man ganz einfarbig weiße, sorgsam genähte Tücher darauf. Für jeden Tisch bestimmte der Gastherr einen Hofmann, der sich beflissen und gewandt um ihn kümmern sollte. Alles wurde bereitgestellt, was nötig war. Wilhalm wollte so seinem Ruhm Genüge tun, damit niemand sagen konnte, dass es dort an irgendetwas gefehlt hätte; vielmehr sollte jeder erhalten, was solchem Fest ziemte. Der Anger bot einen prächtigen Anblick. Nun zogen vor der edlen Gesellschaft viele schwere Packwagen und Lasttiere mit großer, nicht eben ärmlicher Ladung auf. Kundige Knappen in höfischer Kleidung begleiteten sie, die dafür Sorge trugen,
1430 sint] ist (‘wîp’ ist Kollektivbegriff, vgl. 300). 1457 den taveln] der taffeln (Sg.). 1467 〈rîcher〉.
2 Flucht | 37
als herberge si wolden vâhen nâch des volkes ahte daz ieglîch herre brâhte. beidersît dem ringe 1480 ûz frischem urspringe ein klâre lûter bach entspranc, der lustic durch die bluomen dranc 71rb durch die ouwen hin ze tal; suoze klanc ietweders schal. 1485 Willehalmes ambetman wârn gemeine ûf dem plân, alsô der werde heiden ieglîchem het bescheiden: die marschalke und kamerære, 1490 truhsæzen und spîsære, die schenken wâren ouch dâmite, köche, ir buoben nâch ir site, manic vilân und garzûn. Willehalmes pavelûn 1495 wart dâ ein tiurez ûf geslagen. waz mac ich von des rîcheit sagen? wol weiz daz ein ervaren man daz rîcheit vil die vürsten hân. Man zôch ûf einez dâ bî, 1500 daz was niht rîcher koste frî, dâ diu herzoginne solde wesen inne. umb diu manic klein gezelt sluoc man dâ ûf daz velt 1505 von kostelîcher sache den werden ze gemache, mangem kunden gaste. die küchen ruchen vaste. die boten die vür quâmen, 1510 herberge nâmen umb den rinc ûf dem velde. in rîcher koste melde und in wirdeclîchem schouwe sach man nû die ouwe. 1515 Ez was wol mitter morgen vruo. nû sach man rîlîchen zuo die herrn an allen sîten gar hovelîchen rîten. sie vuorten rîcheit wunder an, 1520 als sie daz wol mohten hân. stolz was ir reise.
angemessene Unterkünfte für das Gefolge aufzutun, das jeder Herr mit sich führte. Beiderseits des abgesteckten Rings floss aus frischer Quelle ein klarer, sauberer Bach, der munter zwischen den Blumen durch die Aue hinabplätscherte. Wie harmonisch klang da alles zusammen! Wilhalms Amtsleute befanden sich allesamt auf dem Anger, so wie der edle Heide es einem jeden aufgetragen hatte. Marschälle und Kämmerer, Truchsessen und Aufträger, dazu die Mundschenken, Köche und Küchenjungen, viele Dörfler und Knappen waren auch zugegen. Eines der kostbaren Zelte Wilhalms war da aufgeschlagen worden. Was soll ich von dessen Pracht sagen? Es weiß ja jeder Mann von Welt, dass Fürsten über viel Reichtum verfügen. Man hatte ein weiteres Zelt aufgeschlagen, ebenfalls von kostbarer Ausstattung, als Aufenthalt für die Herzogin. Um diese herum richtete man eine Reihe kleiner Zelte aus wertvollem Stoff auf dem Anger auf, zur Bequemlichkeit vieler gern gesehener Gäste. Düfte strömten aus den Küchen. Die eintreffenden Boten nahmen Herberge auf dem Anger rings um den abgesteckten Kreis. Reich und edel bot sich den Augen nunmehr die Aue dar. Am Vormittag sah man die Herren von allen Seiten her zahlreich und vollendet höfisch heranreiten. Sie führten prächtige Scharen an, konnten sich dies auch leisten. Stolz ritten sie ein.
1491 die] jr. 1496 〈des〉 (konkretisiert). 1499 einez dâ bî] eyneß daz waz da by. 1507 kunden gaste] kommendem gast. 1510 herberge] vnd herberge.
38 | 2 Flucht in werder kurteise 71va quam dô manic erwunschter lîp, ich meine diu lieplîchen wîp. 1525 mange maget wol gevar zoumten hübsche ritter dar in wünniclîcher ahte. ûf die ouwe man sie brâhte, dâ sie erbeizen wolden. 1530 die in abe helfen solden, die dûhten sich des dinges wert des manger vor den frouwen gert. Nû wart daz bluomenvarwe velt und daz tiure gezelt 1535 wârer schœnheit, als ez sol, klârer varwen alsô vol daz ir glanz vil nâch verdarp. mit wârem strîte daz erwarp manic wengel lieht, dâ bî ein munt 1540 der sô kemphlîch dâ stuont und in viures varwe bran: er möhte wol werlîchem man mit hurteclîchem kusse rôt vüegen fröude und dâbî nôt. 1545 ûf dem velde über al vernam man mangen süezen schal. von manger hande seitenspil vernam man süezer dœne vil. al den werden bevorn 1550 helliu schalbæriu horn manc meister dô erklancte. manc heiden wert ersprancte (vil ritter unde knehte die beriet man dâ nâch rehte) 1555 ir ros ûf der ouwen ze êren des landes frouwen. diu quam nâch rîcheite siten mit manger frouwen klâr geriten den man volleclîchen jach 1560 vil schœnde, den man mit wârheit sprach daz wîplîch wirde heizet. 71vb Dô diu süeze guote erbeizet, manc frouwe ir engegen quam als daz beidersît wol zam. 1565 diu herzoginne zuht begienc: in wirde si alle sie enphienc. von dem pherde ûf daz gras
In edler courtoisie erschien da manche hochwillkommene Gestalt – ich meine die anmutigen Frauen. Viele schöne Mädchen führten höfische Ritter in gefälligem Anblick am Zaum heran. Man brachte sie auf die Aue, um sie dort absitzen zu lassen. Die ihnen dabei helfen sollten, waren stolz darauf zu tun, was vor solchen Damen jeder gerne tut. Nunmehr füllten sich das bunt blühende Feld und das kostbare Zelt so reich mit ungeschminkter Schönheit (so muss es sein!) und Farbenpracht, dass deren eigener Glanz nahezu verging. In fairem Kampf verdienten sich dies viele leuchtende Wangen und Münder, die unverzagt in feurigem Rot brannten: Ein solcher Mund könnte einem tapferen Mann mit raschem rotem Kuss zugleich Freude und Qual bereiten. Über das ganze Feld vernahm man allerlei heitere Klänge. Viele Arten Saitenspiel brachten schöne Melodien hervor. Geübte Spieler ließen vor den versammelten Edlen hellschallende Hörner erklingen. Viele edle Heiden brachten ihre Pferde (man hatte Ritter und Knappen nach Rittersitte ausgestattet) auf der Aue zum Springen, zur Ehre der Fürstin. Diese kam in reichem Aufzug prächtig mit vielen Damen herangeritten, denen man vollkommene Schönheit und das, was man weibliche Würde nennt, zu Recht zusprach. Als die edle Schöne abgesessen war, kamen ihr viele Damen entgegen, wie es sich auf beiden Seiten gehörte. Die Herzogin zeigte Anstand: Würdevoll empfing sie alle. Sie war vom Pferd herab
1544 〈und〉. 1554 die beriet man dâ] vnd berieten dy. 1563 manc frouwe] manig werde frauwe (DH).
1558 〈mit〉.
1559 volleclîchen] vil folleclichen.
2 Flucht | 39
zuo in sie getreten was. sie gienc an werder frouwen hant 1570 dâ sie ir pavelûne vant, und satzte sich dar inne. dâ truoc diu herzoginne vor allen frouwen liehten schîn. nû quam ouch nâch der trûten sîn 1575 Wilhalm in hôher wirde kür. dem edeln vürsten zogten vür von hôher art juncherrelîn. verre vor den kindelîn tambûr und busînen grôz 1580 gâben dô schalbæren dôz. sie zogten sâ den kinden nâch. dâ man den vürsten komen sach, süeze videlære floitierer und rottære 1585 die erklancten mange süeze note. dem vürsten volgte ein schœniu rote. er sach durch enphâhen sîne herren gein im gâhen. Willehalm, frou Êren holde, 1590 dankte als er solde, und enphieng ouch zühteclîche die herren alle glîche. er sach sie gerne und sie in. er kêrte gein dem gezelte hin 1595 dâ al sîn fröude inne was. verre dannen ûf daz gras nider stuont er von dem pherde. in daz pavelûn gienc der werde mit den rittern frô durch schouwen, 1600 dâ er enphienc die frouwen in unvergezzener zuht. 72ra ein herze trûric fröuden fruht müeste enphâhen unde bern, fröude und hôhes muotes gern, 1605 quæme ez dâ ez fünde solcher fröude urkünde. wider her vür der vürste gie, die frouwen er bî gemache lie. sân er jach, er wolde 1610 daz man ezzen solde. die tische und sitze berihte man mit rîcher phlihte, alsô ir vor hât vernomen. ie ze dem tische sach man komen
1609 〈sân〉.
zu ihnen auf die Wiese getreten. Sie ließ sich an der Hand edler Damen zu ihrem Zelt führen und setzte sich darin nieder. Die Herzogin überstrahlte dort alle anderen Damen. Darauf folgte hoheitsvoll Wilhalm seiner Gemahlin. Dem edlen Fürsten zogen hochgeborene Junker voran. Schon aus weiter Ferne schallten lautstark mächtige Trommeln und Posaunen, die den Junkern folgten. Als man den Fürsten kommen sah, ließen begabte Fiedler, Flöten- und Rottenspieler hübsche Weisen erklingen. Dem Fürsten folgte eine ansehnliche Schar. Er sah seine Landherren auf sich zueilen, um ihn zu empfangen. Wilhalm, der Günstling der Frau Ehre, dankte, wie es sich gebührt, und empfing mit Anstand alle Herren gleichermaßen. Er sah sie gern, und sie ihn auch. Er wandte sich zu dem Prunkzelt, in dem seine ganze Freude saß. In einiger Entfernung saß er ab und trat auf den Rasen. Beglückt durch den Anblick, der sich ihm bot, ging der Fürst mit seinen Rittern ins Zelt, wo er die Damen formvollendet begrüßte. Ein trauriges Herz müsste Freude empfangen und schenken, Freude und Hochstimmung fassen, käme es an einen Ort, wo es solche Freude erführe. Der Fürst trat wieder zurück und ließ die Damen allein. Sogleich gebot er, zum Mahl zu schreiten. Man richtete die Tische und Sitze mit großer Sorgfalt, wie ihr zuvor gehört habt. Zu jedem Tisch kamen
40 | 2 Flucht hübsche kamerære. von silber becken swære und tweheln wîz sie brâhten. die spîser ouch dar gâhten die ûf die taveln leiten dar 1620 semel grôz und wîz gevar. dô diz alsô was getân, Willehalm der süeze man mit mangem werden Sarrazîn den rinc quam er gegangen în. 1625 dar nâch diu minneclîch gevar quam mit den werden frouwen dar nâch frouwelîchem prîse. Der junge an tugenden wîse kunde wol vürstlîchen leben. 1630 den frouwen hiez er wazzer geben; daz truogen stolze ritter dar. bî manger zît sô schœniu schar wart von frouwen nie vernomen sô dâ was zesamne komen 1635 in wîplîchen gebâren. wie sie gezieret wâren mit rîchem gewande brâht ûz mangem lande, mit phelle von achmardî, 1640 durchleit mit golde von Arabî! 72rb got an in hôhte sînen prîs. dâ stuont swankel als ein rîs manic maget unde wîp, dâ der gürtel iren lîp 1645 bevienc an der krenke, mit geschicke ir gelenke wol ze wunsche gestalt. durch sie swant sich der walt mit rîche ziernder koste. 1650 an manger herter joste sie valten mangen ûf daz lant den nie beruorte ir keiner hant. alsô diu wîp mit wirde kraft sint an den werden sigehaft. 1655 süezen art und werden man wîbes güete twingen kan. des wil er alles sîn bewart unwert man von unsüezer art. man sach an in den gotes flîz: 1660 undervarn rôt unde wîz 1615
höfische Diener. Sie brachten schwere Silberschalen und weiße Tücher. Die Aufträger brachten eilfertig große helle Brote an die Tische. Als dies getan war, trat der edle Wilhalm mit vielen heidnischen Großen in den abgesteckten Ring. Nach ihm kam die bezaubernde Frau, der Ruhm aller Frauen, mit ihren Hofdamen. Der vortreffliche Jüngling verstand sich auf die Fürstenart. Er ließ den Damen durch stolze Ritter Wasser reichen. Lange hatte man von keiner so hübschen Runde von Damen gehört, wie sie da in weiblicher Anmut zusammengefunden hatte. Ach, wie gut standen ihnen die reichen Stoffe aus vielerlei Ländern, die Seide aus Achmardi, durchwirkt von arabischem Gold! Gott mehrte an ihnen seinen Ruhm. Viele Mädchen und Frauen zeigten sich gertenschlank, wo der Gürtel über der Hüfte ihren Körper umschloss, und wo ihre feine Taille perfekt geformt war. Um ihretwillen wurden ganze Wälder kostbar verzierter Schäfte verstochen. In vielen harten Tjosten ließen die Frauen Ritter zu Boden stürzen, ohne dass ihre Hand sie berührte. So besiegt weibliche Hoheit auch die Edelsten. Frauentugend kann Adel und Manneswürde bezwingen. Der Würdelose ohne Stand wird sie nie erfahren. An den Versammelten sah man Gottes Sorgfalt: Rot und weiß untermischt,
1620 wîz gevar] weiß klaere. 1623 〈werden〉. 1624 〈er〉. 1632 〈sô〉 (gegen DH). 1652 〈keiner〉. 1659 〈in〉 (sah an/betrachtete vs. sah an ihnen).
1637 rîchem] rechtem.
2 Flucht | 41
kôs man dâ lieht unde klâr vil wengel minniclich gevar under liehter ougen blicke, zene niht ze dicke, 1665 dar über brûn wol stênde brâ, als sie mit dem binsel dâ ze wunsche sîn gestrichen. dar under lechelîchen glanz ein munt durchliuhtic rôt 1670 al werbende vriundes herzen nôt. ez gebôt ir zuhtebærer sin daz diu hübsche herzogîn stille stuont an irer stat unz ieglîch frouwe wazzer hât: 1675 alrêrst diu edel guote saz. Wilhalm nie sich sô vergaz, man ensæhe in bî tugende witzen. ja enwolde er ê niht sitzen, sichn gesetzten gar die frouwen. 1680 sus liez er im prîses zouwen. 72va ieglich bî ir trûte saz. als er het geprüevet daz, er gienc dâ wider unde vür unz man in wirdeclîcher kür 1685 über al driu gerihte getruoc, spîse klâr und guot genuoc, und man in manger grôzen schal dô brâhte trinken über al: mete, môrat unde wîn. 1690 dô satzte er sich zer herzogîn der vürste in hôhem muote: daz dringen dâ diu guote wolde lîden âne zorn. dort manic bûsîne unde horn 1695 wart erklenget grôze mit schalbærem dôze. dô sich ante diser snar, vür al die taveln trâten dar videler mit williger gunst 1700 bewîsten dâ ir süeze kunst. dise rede ich kürzen wil. dâ was allez seitenspil daz man ze hôchzît ie vernam. man truoc dar wilt unde zam 1705 übric vil mit voller zuht. dâ was alliu genuht
hell und strahlend, zeigten sich reizende Wangen und zierliche Zähne unter leuchtenden Augen, und darüber dunkle, wohlgeformte Brauen, wie mit dem Pinsel in vollendeter Schönheit gemalt. Darunter strahlte lachend der leuchtend rote Mund, der jedem Galan Herzensqualen bereitete. Der edlen Herzogin gebot ihre feine Zurückhaltung, stehen zu bleiben, bis alle Damen das Wasser genommen hatten. Erst dann nahm die Edle Platz. Wilhalm bedachte stets, was er seinem Ruf schuldig war. Er wollte sich nicht setzen, bevor nicht die letzte Dame saß. So steigerte er sein Lob. Nun saß eine jede bei ihrem Geliebten. Auch nachdem er dies sah, blieb er rastlos, bis man auf vornehme Art allen Gästen drei Gänge edler und wohlschmeckender Speisen und überall Getränke in großen Schalen aufgetragen hatte – Met, Maulbeermost und Wein. Dann erst ließ sich der Herzog zufrieden bei der Herzogin nieder. Das Gedränge am Tisch störte die Edle nicht. Viele Posaunen und Hörner ließ man dort mächtig mit weittragendem Klang erschallen. Als dieser Auftritt beendet war, traten beflissen Saitenspieler an alle Tische und zeigten dort ihre herrliche Kunst. Ich will es kurz machen: Es gab dort alle Arten Saitenspiel, die man auf Festen je hörte. Was vom Fleisch wilder und zahmer Tiere übrig war, überließ man huldvoll den Spielleuten. Nach dem Willen des klugen Fürsten
1669 durchliuhtic] durchluchtet (leuchtend vs. durchleuchtet). 1676 nie sich] sy ny (‘vergaß sie nie’). 1692 〈dâ〉. 1694 bûsîne unde horn] bysunen horn (DH). 1697 diser] dy.
42 | 2 Flucht von kostelîcher spîse, sô ez wolde der wîse, von guotem trinken dar zuo. 1710 Sie hânt gezzen gnuoc nu. die ambetliute quâmen und die tische abe nâmen. aldâ wazzer wart gegeben, sie wolden baz den fröuden leben. 1715 von manger werden hende ûf manic stolz gebende wart dô erhaben liehter kranz. in dem ringe huop sich tanz. die knehte wârn, die muosten vür 1720 ûzerhalp des ringes tür. 72vb die ritter bî den frouwen wolt Wilhalm tanzen schouwen. er was ouch selbe aldâ bekant: diu schœnste gienc an sîner hant 1725 frou Guote diu klâre den sorgen dâ was ze vâre. Dô man getanzet hâte, Wilhalm wart ze râte, sie solden ûze ûf dem plân 1730 die frouwen sich erkôsen lân durch ir sunderlîch gemach. Wilhalm nâch sîm rosse sprach, als tâten gar die werden man. seht, diu brâhte man in sân. 1735 dô huop sich stolzer bûhurt. dâ wurden durch der bluomen vurt diu ros mit hurte gewet, daz grüene gras alsô getret. stolz was ir hardieren, 1740 ritterlîch ir bûhurdieren, ir keiner tet dem andern wê. sie begunden kurzwîlen mê. swaz wirdic fröude heizen mac, dâmit vertriben sie den tac. 1745 alsô komen wolde diu naht, dô wurden grôze kerzen brâht volles liehtes rîche vür die herren algelîche. ob sie des tages fröude zam, 1750 diu naht erbôt sich dô alsam. dô gap vil wünne manic lîp, ich meine diu güetlîchen wîp, diu fröude ein übergulde sîn.
gab es dort mehr als genug an köstlicher Speise und süffigem Trank. Sie haben jetzt genug gespeist. Die Hofleute kamen und hoben die Tafeln auf. Überall wurde Wasser gereicht. Nun sollte die Kurzweil beginnen. Viele edle Hände legten strahlende Kränze um prächtig aufgeputzte Köpfe. Im abgesteckten Kreis begann der Tanz. Die Knappen mussten aus dem Tanzkreis treten. Wilhalm wollte die Ritter und Damen tanzen sehen. Auch ihn beobachtete man genau, ging doch an seiner Hand die Schönste. Die strahlende Frau Guta war den Sorgen an diesem Ort ganz feind. Nach dem Tanz fasste Wilhalm den Entschluss, die Damen zu ihrer Erquickung draußen auf dem Anger für sich sein zu lassen. Er bat um sein Ross, und das gleiche taten die edlen Männer. Seht, gleich brachte man ihnen das Gewünschte. Dann begann ein prächtiger Buhurt. Durch Blütenteppiche bahnten sich die Pferde machtvoll den Weg und zerstampften auch das grüne Gras. Stolz hardierten, ritterlich buhurdierten sie und keiner fügte dem anderen ein Leid zu. Auch andere Kurzweil trieben sie. Was immer es an edlen Vergnügungen gibt, damit verbrachten sie den Tag. Als der Abend anbrach, wurden hell lodernde Fackeln vor die edlen Herren gebracht. Hatte man schon den Tag in Freude zugebracht, so bot sich nun auch die Nacht dafür an. Große Wonnen schenkten viele – ich meine die zärtlichen Frauen, die jede Freude noch überstrahlen.
1731 ir] syn (zu seiner Erholung!). 1744 dâmit vertriben sie] daz driben sy.
2 Flucht | 43
ich fröut mich ouch etswan der mîn. Daz ich diz mit kürze sage: Willehalm die ahte tage alsô wirdeclich zuobrâht als hôchgezît ie wart erdâht oder mac ouch iemer werden. 1760 sus warp er mit den werden; 73ra die wâren sînes heiles frô. mit al den frouwen warp alsô diu hôchgeborne vürstîn klâr; sie wâren ir ze willen gar. 1765 Nâch dem lesten ezzen Wilhalm het niht vergezzen, als in diu hôchgeêrte bî der naht dô lêrte dô er der süezen herzogîn 1770 verholne wolde entrunnen sîn: der vürste wîse und wert erkant den âbent gap ûz voller hant al den herren besunder rîcher gâbe wunder, 1775 edel gesteine, silber, golt: er gebârte als er niht haben wolt. al den werden er dô sant drîer hande rîch gewant: scharlachen rôt unversniten, 1780 diu zwei von phelle wol gebriten mit golde spæhe gar geworht. diz hæte ein herze kranc ervorht ob ez der rîcheit urhap sæhe die man dâ vergap. 1785 er gap ros unde phert mangem armen ritter wert. daz volc er allez wol beriet, nâch ir reht die varnde diet. waz tet diu süeze herzogîn? 1790 diu gap ouch frœlîchen hin besunder hôhe rîcheit al den frouwen gemeit, sie wæren arm oder rîch. sie gap al umb und umbe sich, 1795 keine ir gâbe sie verschiet, 73rb nâch wirde sie alle sie beriet; 1755
Ich habe mich auch oft an der meinen erfreut. Das kann ich in aller Kürze sagen. Wilhalm beging die acht Festtage in einer Herrlichkeit, wie man ein Hoffest nur planen oder ausrichten kann. So bemühte er sich um die Gäste, und diese freuten sich seines Heils. Ebenso verhielt sich die hochgeborene schöne Fürstin den Damen gegenüber, und sie waren ihr allesamt ergeben. Nach dem letzten Abendessen hatte Wilhalm nicht vergessen, was ihm die Hochgeschätzte in jener Nacht geraten hatte, in der er der schönen Herzogin heimlich entrinnen wollte: Der kluge und edle Fürst beschenkte den ganzen Abend mit vollen Händen jeden einzelnen Herren überreich mit Edelsteinen, Silber und Gold: Er verhielt sich, als wolle er nichts für sich behalten. Allen Gästen ließ er dreierlei reiche Gewänder bringen: eines von unzerschnittenem roten Scharlach und zwei aus geflochtener Seide, von oben bis unten raffiniert mit Gold durchwirkt. Einen Geizkragen hätte das Grauen erfasst, hätte er das Vermögen gesehen, das der Herr hier vergab. Er schenkte vielen verdienten Soldrittern Streitrösser und Pferde. Auch das Volk versorgte er gut, die Fahrenden nach ihrem Rang. Und was tat die edle Herzogin? Auch sie schenkte mit Freuden allen schönen Damen, reichste Gaben, jeder einzeln, arm und reich. Sie schenkte ohne Maß, versagte keiner ihre Gabe, stattete alle nach ihrer Würde aus.
Vor 1765: Hy gap wilhelm den herren vnd den fremden luden gesteyn vnd ander vil kleynot vnd wolt deß nachteß heymlich emweg entrynnen. 1758 erdâht] zu bracht (identischer Reim mit 1757). 1760 warp er mit] waß er by. 1768 〈dô〉. 1770 verholne] verstolen (ethisch schärfer). 1771 〈wîse und〉. 1786 〈armen〉. 1791f. rîcheit:gemeit] rich steyne:all gemeyne.
44 | 2 Flucht unz von den handen diu vingerlîn sant sie ir gespilen hin. Man truoc al umb und umbe dar 1800 in grôzen kophen goltvar guot trinken dazs wol hâten. die schenken daz getâten. den giengen edel kinder nâch mit schalen grôz. dô daz geschach, 1805 etlîch an der zungen hanc. als sich ante der âbenttranc, ritter wert in hübschen siten sande er zin und liez sie biten daz ir dehein sîn sitzen bræche 1810 unz er guote naht in spræche. alsô disiu bete geschach, der herzoge an die guoten sach, bî der hende er sie gevienc. mit der klâren er dô gienc 1815 dâ die werden sâzen. ir ûf stên sie muosten lâzen. von disem ende an jenen ort zin allen sprach er disiu wort: ‘iur muot ist veste âne wanc 1820 gein mir; ich sage iu grôzen danc daz ir lieplich vernâmet mîn gebot und dâ her quâmet. ob iu ihtes hie gebrach (von mîner kintheit daz geschach), 1825 sô sult ir nemen ouch vür guot unsern williclîchen muot.’ Dô sprâchen frouwen unde man: ‘herre, ir hât an uns getân und unser frouwe, diu hie stât, 1830 an uns ir prîs gehœhet hât daz wir guot unde leben in iur gewalt hân gegeben.’ dô sprach der vürste: ‘ir hât biz her ie volendet unser ger, 1835 ich bite iuch alle daz ir 73va mîner frouwen unde mir iur wârez gelübde gebet daz ir wol einander lebet. wir haben umbesæzen, 1840 ob sich die alsô vergæzen daz sie durch unser kintheit uns hazzes wolden sîn bereit: sît ir getriuwe einander bî,
1814 〈dô〉. 1820 〈grôzen〉. 1835 〈bite〉.
Selbst die Ringe an ihren Fingern ließ sie ihren Gefährtinnen bringen. Man reichte allenthalben edlen Trank in großen Goldpokalen. Es gab genug davon. Dafür sorgten die Mundschenken. Edle Junker folgten mit großen Schalen. Später führte das dazu, dass etlichen die Zunge hinkte. Als der Abendumtrunk vorbei war, sandte Wilhalm vornehme Ritter zu den Gästen und ließ sie bitten, dass niemand aufstehe und gehe, bevor er ihnen nicht den Nachtgruß entboten hatte. Nachdem er diese Bitte getan hatte, blickte der Herzog seine Gemahlin an und nahm sie bei der Hand. Mit der Schönen trat er zu den Edelleuten. Er forderte sie auf, sitzenzubleiben. Vom ersten bis zum letzten sprach er zu ihnen allen: „Eure Gesinnung gegen mich ist unverbrüchlich fest. Ich danke Euch sehr, dass Ihr mein Gebot wohlwollend aufnahmt und hierhergekommen seid. Wenn Euch hier irgendetwas abging, so geschah es aus jugendlicher Unerfahrenheit; haltet uns in diesem Fall unseren besseren Willen zugute.“ Da sprachen Damen wie Herren: „Herr, Ihr habt uns so behandelt, und unsere Herrin, die hier steht, hat ihr Lob an uns so gesteigert, dass wir Besitz und Leben in Euer Verfügen stellten.“ Darauf sprach der Fürst: „Bislang seid Ihr unseren Wünschen stets gefolgt. Nun bitte ich Euch alle, meiner Gemahlin und mir unverbrüchlich zu geloben, miteinander in Eintracht zu leben. Wir sind von Mächten umgeben, die darauf verfallen könnten, unter Ausnutzung unserer Jugend Feindseligkeiten gegen uns zu begehen. Steht Ihr in Treue zusammen,
2 Flucht | 45
so ist unser lant der vâre frî, daz wir mit gemache wesen. sus suln wir wol vor in genesen. komet mir, so ich iuch besende!’ Ûf rahten sie die hende und jâhen alle, sîn gebot 1850 sie leisten ganz unz in den tôt. daz enkünde niht undervarn, sie wolden sich daran bewarn, niemer dar abe gevallen. sie nigen beide in allen. 1855 die gehiuren werden wol bedâht mit zuht in sprâchen guote naht. hin giengen sie an ir gemach. in allen was des selben gâch. Der herzoginne wârn bereit 1860 ouch ûf den wec iriu kleit. sie wârn niht phelle von Triopolis noch geworht ze Tarsis, niht rôt gel brûn oder blâ: sie wâren einer farwen grâ 1865 gar âne wæge gezoc. alsô was des vürsten roc, alsô het einen der kamerære der dô wiste disiu mære, der mit den werden solde, 1870 daz er gerne tuon wolde. Willehalm der wîse het den kamerer spîse geheizen wol berihten. ze kumber sie phlihten. 73vb er tet alsô im was geboten: er nam schuldern wol gesoten, dar zuo brôt unde wîn in zwein gevüegen fleschelîn. Welt ir nû, sô hœret wie 1880 der vürste dô vil rîcheit lie mit der herzogîn von arte hôch und sich in armüete zôch von hôher wirde in swache won. mich jâmert daz ich muoz dâ von 1885 bescheidenlich ir kumber sagen den nû sol diu guote tragen, und waz sie grôzer swære leit. dô al daz volc sich het geleit, grôz müede etslîche slâfes twanc, 1890 sumelîche müede und ouch der tranc 1845
so ist unser Land außer Gefahr, und wir können in Ruhe leben. Dies ist unser Schutz gegen Feinde. Leistet mir Gefolgschaft, wenn ich nach Euch sende.“ Alle erhoben die Hände und schworen, sie würden sein Gebot bis in den Tod restlos erfüllen. Nichts könne das verhindern, sie würden standhaft bleiben und nie eidbrüchig werden. Das edle, kluge Fürstenpaar dankte ihnen allen und wünschte ihnen höflich eine gute Nacht. Sie zogen sich in ihr Gemach zurück. Die Gäste beeilten sich, desgleichen zu tun. Für die Herzogin lagen die Reisekleider schon bereit. Sie waren nicht von Seide aus Tripolis, auch nicht in Tarsis gewirkt, nicht rot, gelb, braun oder blau: Einfarbig grau waren sie, ganz ohne zierenden Besatz. So sah auch der Rock des Fürsten aus, und einen gleichen hatte der Kämmerer, der in die Pläne eingeweiht war und mit den Edlen ausziehen sollte, wozu er auch gerne bereit war. Der kluge Wilhalm hatte den Kämmerer beauftragt, ausreichend Proviant zu beschaffen. Sie machten sich ja ins Ungewisse auf. Der Kämmerer tat, wie ihm geboten war. Er nahm gutgesottenes Schulterfleisch, dazu Brot und Wein in zwei zierlichen Flaschen. Wenn ihr wollt, so hört, wie der Fürst nunmehr mit der erlauchten Herzogin Macht und Reichtum zurückließ und in die Armut auszog, wie er aus hohem Stand in ein ärmliches Dasein aufbrach. Es schmerzt mich, dass ich ihre Not wahrheitsgemäß berichten muss, wie sie die Edle nun ertragen soll, und welch große Qualen sie litt. Als alle sich niedergelegt hatten, übermannten die meisten rasch die Müdigkeit und der Wein,
1850 〈ganz〉. 1853 dar abe] dar an. 1863 oder] noch. 1873 〈wol〉. 1876 〈er nam〉. 1880 〈dô〉.
46 | 2 Flucht daz sie ûf einer sîten wolden tages erbîten. etslîcher ouch sô werde dâ lac daz er ungerne sach den tac. 1895 Wilhalm sprach zer herzogîn: ‘wir suln uns machen hinnen.’ dô sprach diu süeze reine gemuot: ‘swan dich, herre, dunket guot.’ der kamerer truoc dar daz gewant, 1900 daz zôch an sich der wert erkant. sie wolden des hân guoten muot. der kamerer die spîse luot ûf sînen rücke und ouch den wîn. Krist gebe in heil, sie gênt nû hin! 1905 daz gên tet in von herzen wê. nâch hæten siez getân niht mê, die sich mit kumbers gewalt gâben in ein grôzen walt. Wilhalm mit ir kêrte 74ra einer strâze geverte volgte er, diu was im bekant, vertic in ein ander lant.
so dass sie den Tag in tiefem Schlaf erwarteten. Mancher auch lag in angenehmer Gesellschaft, so dass ihm der Tag ungelegen kam. Wilhalm sprach zur Herzogin: „Lass uns nun aufbrechen!“ Die edle Reine erwiderte: „Wann es Dir recht ist, Herr!“ Der Kämmerer brachte das Gewand, der Herzog legte es an. Sie wollten Hoffnung daraus schöpfen. Der Kämmerer lud sich den Proviant und den Wein über die Schultern. Christus möge sie segnen: Da gehen sie hin! Der Aufbruch schmerzte sie sehr. Fast zögerten sie im letzten Moment, aber dann begaben sie sich, von Sorgen gedrückt, in einen ausgedehnten Wald. Wilhalm wandte sich mit der Fürstin auf eine Straße, deren Lauf er folgte. Er kannte sie: Sie führte in ein benachbartes Land.
Vor 1895: Hy zoch wilhelm mit syner frauwen vnd mit synem kemerere von dem [!] herren vnd quamen alzu hant yn eynen dicken walt do sy nymant sach da waren sy frij. 1896 wir] frauwe wir. hinnen] von hynnen. 1899 truoc dar] drug do dar.
3 Trennung (v. 1913–2870) Als man am Morgen nach dem Hoffest das Verschwinden des Herzogspaars entdeckt, herrschen Bestürzung und Trauer. Ein weiser Vasall rät der Festgemeinde, bevor sie auseinandergeht, man solle nach ihm fahnden: Da Bene schwanger sei, würden Nachrichten schwerlich lange ausbleiben. Bis dahin aber solle man, wie gelobt und befohlen, Eintracht wahren, den Landfrieden beeiden, Ämter und Staatsgeschäfte, Zölle und Finanzen wie gewohnt weiterführen und alles schriftlich fixieren. Man müsse in allem so handeln, als wäre die Herrschaft im Land. Benes Vater solle um Rat und Beistand gebeten werden. Diese Maßnahmen stoßen bei den Großen auf allgemeine Zustimmung, und trotz seiner Abwehr wählt man den weisen Ratgeber für das Interim zum Statthalter. Ortswechsel: Acht Tage ziehen Wilhalm, Bene und der loyale Kämmerer durch die Wildnis, dann erreichen sie eine Aue in der Nähe einer Hafenstadt. Auf ihr gebiert Bene in völliger Armut Zwillinge (sie bleiben bis ins letzte Romandrittel namenlos). Wilhalm wickelt die Kinder in zwei Stofffetzen (gêren) aus seinem Gewand. Der getreue Kämmerer besorgt in der Stadt Speise und Wein. Wilhalm sorgt sich um Benes Gesundheit und um das Überleben der Kinder. Er schickt den Kämmerer ein weiteres Mal in die Stadt, um Käufer für die Säuglinge zu finden. Während Bene schläft, verkauft der Kämmerer die Kinder getrennt an zwei christliche Fernhändler. Inzwischen träumt Bene, ein Löwe reiße ihr zwei Löwenjunge vom Herzen. Als sie aufwacht und die Kinder vermisst, beschwichtigt Wilhalm, er habe sie zu Ammen aufs Land bringen lassen. Das Paar zieht weiter bis in die Stadt. Hier findet der Kämmerer standesgemäße Herberge bei einer Witwe, die die hôhe art ihrer Gäste auch in der schäbigen Kleidung erkennt. Sie nimmt sich mit ihrer Verwandtschaft der beiden an. Morgens lässt Wilhalm den Kämmerer heimlich für Proviant und zwei Plätze auf einem auslaufenden Schiff sorgen: Die Sehnsucht nach Christus lässt ihm keine Ruhe. Er drängt der Wirtin ein Drittel des Goldes auf, das er auf die Reise mitgenommen hatte, schwankt kurz in Sorge um Bene, entschließt sich dann aber, sie bei der fürsorglichen Wirtin zurückzulassen. Nach 14 Tagen verlässt er in aller Frühe heimlich das Haus, die Stadt und das Land. Auf dem Schiff zieht er kurz Gewissensbilanz, beklagt das der Gattin zugefügte Leid, sieht es aber durch den Zweck legitimiert. Er bittet Christus, sie wiedersehen zu dürfen. Beim Frühstück im Hause der Wirtin wird Wilhalm vermisst. Die Wirtin ahnt die Wahrheit, sucht sie aber Bene gegenüber zu verbergen. Als Bene die Lage erfasst, klagt sie maßlos: Jupiter möge sie sterben lassen. Sie fällt in Ohnmacht und lässt sich auch nach ihrer Erholung kaum trösten. Das von Wilhalm hinterlassene Gold deutet sie als Indiz für eine lange und weite Reise (Erzählerkommentar: Bene sei bei der Witwe gut aufgehoben und solle sich in Anstand nach ihrem Mann sehnen).
1915
1920
Nû wil an dem morgen fruo mit tage jâmer kêren zuo den die man frô des âbents sach; sorge in durch ir fröude brach. dô sie von der ouwen wolden und urloup nemen solden, dô wart in allen gesaget des daz volc an fröuden zaget, hôher vluste mære daz in der vürste wære verstolen mit der vürstîn. daz gap an jâmer in gewin,
Nun drängt sich am frühen Morgen mit Tagesanbruch das Leid zu all denen, die man am Abend vorher noch so ausgelassen erlebte: Ungewissheit zerstörte ihre Freude. Als die Gäste die Aue verlassen wollten und Abschied nehmen sollten, wurde ihnen allen berichtet, was das gesamte Volk in Trauer stürzte: die Kunde schmerzlichen Verlustes, dass ihnen nämlich Fürst und Fürstin geraubt worden wären. Das plötzlich über sie gekommene Leid
Vor 1917: Hy wurden dy heiden gewar daz wilhalm vnd dy frauwe von yn waren vnd clageten vnd weyneten vil sere vmb sy baide sampt.
48 | 3 Trennung ir fröude warf sich under. mit klage sie stalden wunder. mangen wec sie sanden, selbe ouch die herren randen beidiu in stat und ûf daz hûs. 1930 nû was ir suochen gar umb sus. dô sach man frouwen unde man grôzen jâmer begân. kein leit sich dem gelîchen mac swaz daz volc jâmers phlac. 1935 wie herzelich sie weinden! wol sie daz bescheinden: manic frouwe lieht gevar beidiu vel unde hâr reiz und ir gebende. 1940 ir dannenkêr fröudenswende wart offenbar, niht tougen. ir werdiu liehten ougen von herzen sich erguzzen, daz der zeher rêre fluzzen 74rb und vûhten sô der tou daz gras. swaz dô herzenswære was und seneclîches jâmers klage, daz volsagete ich niht in ganzem tage. sie twanc ouch nâch den werden nôt; 1950 herzentriuwe in daz gebôt. man liez nider diu gezelt, rûmen wolden sie daz velt. sie wolden leides zins dô geben, ir fröude sich kêrte in jâmeric leben. 1955 Doch ê sie schieden von dem plân, ein vol geborner wîser man mit witzen san an disiu wort diu er von dem vürsten hôrt des âbents, dô er gein in sprach 1960 daz sie giengen an ir gemach. er sprach ze allen herren dô: ‘werden ritter, wie gebârt ir sô? mîn herre und ouch diu herzogîn sulen unverloren sîn. 1965 ich hân an sîniu wort gedâht diu er nehten sprach ze naht, und an sîne süeze bete die er des âbendes tete, daz wir vereinet wæren 1970 und einander helfe bæren. dô gap er uns getriuwen rât. 1925
unterwarf sich alle Freude. Sie klagten über alle Maßen. Viele Wege ließen sie absuchen. Auch die Landherren selbst eilten in die Stadt und zum Palast. Doch blieb ihr Suchen vergeblich. Da sah man Männer wie Damen in größtem Schmerz. Es gibt kein Klagen, das dem gleichkäme, dem sich dieses Volk hingab. Wie herzenstief weinten sie! Offen verliehen sie ihrer Trauer Ausdruck: Viele schöne Frauen zerkratzten sich die Haut, rauften die Haare, zerrissen den Kopfputz. Der Umschwung, die Umkehr aller Freude wurden offensichtlich, man verheimlichte nichts. Ihre edelglänzenden Augen ergossen sich aus der Tiefe des Herzens, so dass die Tränen strömten und die Gesichter benetzten wie Tau das Gras. Um zu berichten, welch tiefste Betrübnis und Klage über den Verlust dort herrschte, reichte mir kein ganzer Tag. Sie verzehrten sich nach den Edlen; ihre innige Treue gab ihnen das ein. Man brach die Zelte ab, sie wollten das Festgelände räumen. Sie wollten den Zins ihres Leids bezahlen, ihre Feststimmung verkehrte sich in Jammer. Noch ehe sie aber vom Anger abzogen, erinnerte sich ein freigeborener kluger Mann scharfsinnig der Worte, die er am Abend zuvor vom Fürsten gehört hatte, bevor er ihnen sagte, sie wollten sich zu Bett begeben. Er wandte sich an die versammelten Herren: „Edle Ritter, warum klagt ihr so? Mein Herr und auch die Herzogin werden sich wiederfinden. Ich erinnere mich an seine Worte, die er gestern Nacht sprach, und an seine eindringliche abendliche Bitte, wir sollten Einigkeit wahren und einander Hilfe erweisen. Er gab uns damit einen treusorgenden Rat.
1944 rêre] sere. 1953 〈leides〉. 1961 allen] den. 1969 vereinet] eyn ander vereynet.
3 Trennung | 49
swie ez umb die werden stât, sie suln uns rât und helfe geben. ich weiz vür wâr, sie sint bî leben. 1975 lât daz sô sîn ergangen, sie sîn uns abe gevangen, mîn herre und daz vil reine wîp, daz ist ûf guot, niht ûf den lîp. allez leit mir geschehe, 1980 ob ich iu unrehte jehe: ê ich sie lieze verloren sîn, wær des keisers rîche mîn, 74va des verzige ich mich und wolde ez geben vür sie und wolde in armuot leben. 1985 gehabt iuch, werden ritter, wol! in alliu lant man boten sol sie suochende senden und endelîchen enden swaz uns nu vüege drâte. 1990 werden wir ze râte ê wir scheiden von der ouwen! man gebe ouch trôst den frouwen! diz mac anders niht gesîn: wir lîden billich nâch in pîn. 1995 diz habe ouch ein gelenke daz sich unser prîs iht krenke und der sorge man setze fröuden zil!’ Sîn rede in allen wol geviel und jâhen daz sie wolden lân 2000 sich gerlich an den wîsen man. er was niht mit den lesten, er fuor mit den besten sô sie wâren in dem lande. der edel wîse erkande 2005 der wol geborne Sarrazîn sprach: ‘alsô sol ez niht sîn.’ er sprach: ‘ez sol ein ieglîch man sîne rede hœren lân, waz nütze sî und ouch tüge 2010 und wie man daz berihten müge daz wir blîben bî êren und unser triuwe iht versêren’. dô wart von den getriuwen man mangiu rede dâ getân. 2015 dô sie al umbe hâten nâch ir muote gerâten, dô was ir rede unnâch sô guot,
Wie immer es auch um das edle Paar stehe, sie werden uns mit Rat und Hilfe beistehen. Ich weiß es gewiss: Sie leben! Lasst uns davon ausgehen, dass sie uns entführt worden sind, mein Herr und seine makellose Gemahlin, und dass es um Geld, nicht um ihr Leben geht. Ich will gestraft sein, wenn ich Euch belüge: Ehe ich sie verloren gäbe, verzichtete ich, wenn mir das Kaiserreich gehörte, lieber darauf und gäbe es hin für sie, um fortan in Armut zu leben. Seid also zuversichtlich, edle Ritter! Man soll in alle Länder Boten senden, um sie zu suchen und entschlossen tun, was uns jetzt dringlich ansteht. Versammeln wir uns zur Beratung, bevor wir vom Festplatz scheiden! Man muss auch den Damen Zuversicht geben! Es kann gar nicht anders sein: Aus gutem Grund sind wir in Sorge um sie. Es möge sich wieder wenden, damit unser Ansehen nicht leide und Sorge wieder in Freude ende!“ Seine Ansprache gefiel ihnen allen sehr, und sie sprachen, sie wollten sich ganz nach dem Rat des Weisen richten. Er war keiner der einfachen Leute, vielmehr hatte er Verkehr mit den Besten des Landes. Der edle, staatskluge und freigeborene Heide sprach: „So soll es nicht sein!“ Er fuhr fort: „Ein jeder soll seine Meinung hören lassen, was nützlich und tauglich sei und wie wir es schaffen, unsere Ehre zu wahren und unsere Treue nicht zu verletzen.“ Darauf wurden von den Landherren allerlei Einschätzungen vorgebracht. Als ringsum jeder seinen Rat kundgetan hatte, zeigte sich, dass keiner so gut war,
1973 uns rât] vnß auch rait. 1977 〈vil〉. 1978 guot niht] gut vnd nit. 1982 des keisers rîche] deß keyßers gut alleß. 1993 anders] an daz (DH; überflüssige Konjektur: ân daz). 2010 〈und〉. 2014 〈dâ〉.
50 | 3 Trennung ezn hülle enzwei doch ir muot. dô quam daz râten an in. 2020 er sprach: ‘ich sage iu mînen sin. iur aller rât unde wort 74vb hân ich vernomen unz an den ort. sie sint wol behagelîch. hie zuo sô wil sprechen ich. 2025 ob iu niht mîn rât gevalle, sô bite ich iuch alle: gemeinlich widerredet daz und sî iht daz iu vüege baz! als ich hân gesprochen ê, 2030 mîns herren râte ich nâch gê daz wir vereinet wellen leben, helflich rât einander geben. wir suln einen lantfride swern und gebieten bî der wide 2035 daz man den halde als man sol. ouch gevellet mir daz wol daz man ein iegelîchen man sol bî sînem amte lân offenlich; man solz niht heln. 2040 man solz in allen sô beveln: swaz der man ze handen habe daz des niemer niht kome abe wan nâch gemeinem râte. vil kleinôt mîn herre hâte: 2045 die sol man schrîben alle. swaz vürbaz mê gevalle von zinse und von gerihte mit der schrifte phlihte, ez gelde münze oder zol, 2050 getriulich man daz halden sol, swaz mînem herren hœre zuo. alsam man mîner frouwen tuo: swaz ir gevalle, daz hald man ir. ir beider gesinde teilen wir, 2055 swaz des niht behûset sî, under uns und sîn dem helflich bî. mîn frouwe und ouch mîn herre koment niemer alsô verre, wirn ervaren etewaz von in. 2060 ir wizzt wol daz diu herzogîn, 75ra unser frouwe diu gewære, mit fruht gêt alsô swære daz sie schiere gelît,
dass ihm nicht ein anderer widersprochen hätte. Da kam der Weise zum Zuge. Er sprach: „Ich sage Euch, was ich meine. Ich habe Euer aller Rat und Rede Wort für Wort angehört. Sie klingen durchaus nicht übel. Nun will ich etwas dazu sagen. Wenn mein Rat Euch nicht gefällt, dann bitte ich Euch alle: Sprecht einmütig dagegen, zumal wenn Euch dünkt, es gäbe Besseres. Wie ich bereits sagte, gehe ich aus von der Weisung meines Herrn, dass wir in Eintracht leben und uns mit hilfreichem Rat unterstützen sollten. Lasst uns einen Landfrieden geloben und bei Todesstrafe gebieten, dass man ihn wahre, wie es Recht ist. Sodann halte ich dafür, dass man einen jeden Amtsträger offen und ausdrücklich in seinem Amt belasse. Ihnen allen soll man gebieten: Was einem jeden gehört, davon soll ihm nichts genommen werden, außer durch allgemeinen Beschluss. Mein Herzog hatte viel Besitz. Den soll man vollständig erfassen. Was darüber hinaus anfällt an schriftlich niedergelegten Zinsen und Gerichtsbußen, Münzgefällen oder Zoll, kurz: was immer meinem Herrn gebührt, das soll man redlich verwalten. Ebenso verfahre man mit Blick auf meine Herrin: Was ihr zufällt, verwahre man für sie. Die Dienerschaft der beiden, soweit sie ohne eigenen Hausstand ist, teilen wir unter uns auf und unterstützen sie. Unsere Herrin und unser Herr werden nie so weit weg sein, dass wir nicht etwas von ihnen in Erfahrung bringen. Ihr wisst gut, dass die Herzogin, unsere rechtschaffene Herrin, hochschwanger ist und kurz vor der Niederkunft steht.
2063f. Versumstellung (gegen DH; der weise Rat hofft, dass Bene rasch niederkommen wird, hält es aber nicht für sicher).
3 Trennung | 51
sô ich hoffe, in kurzer zît, ob daz an unsern sælden ist daz sie und ouch daz kint genist. Ob nu diu werde herzogîn und der getriuwe herre mîn uns sô entfremdet wæren 2070 daz sie iemer uns verbæren und quæmen wider niemer, sô suln wir doch iemer in triuwe tragen unverirt biz uns daz ze wizzen wirt 2075 ob sie bî leben niht ensîn. sô hoffen wir an daz kindelîn. bürge lant unde stete, allez daz mîn herre hete und mîn frouwe diu guote, 2080 daz habe man in der huote daz sie kein wanc undervar. swaz gevalle, daz lege man gar zesamen und beware daz alsô wol unde baz 2085 dan ob wir hæten unser hêrschaft: sus hât unser triuwe kraft. wie wert uns hete diu guote und ouch der reine gemuote, waz sie haben an uns getân, 2090 wie liep sie uns gehabet hân, hân wir daz in gedanken, ez læt uns gein in niht wanken. mîn herre noch einen sweher hât, der uns helfe unde rât 2095 unverzaget geben sol. siht er daz wir uns haben wol, diz stêt wol und ist ze mâzen. wir suln in wizzen lâzen unser leitlîche geschiht 2100 mit boten; sûmen wir daz niht! mînen rât und mîniu wort 75rb hât ir vernomen und verhôrt: mit den werken, als der lîp mich wert, halde ich diz iemer unervært.’ 2105 Diz buoch ich hiemit kürzen wil. sîn rât in allen wol geviel. sie vielen alle an die bete daz er ez durch die triuwe tete und durch rehter liebe kraft 2110 die er hete ze sîner hêrschaft, 2065
2088 und] vnß.
So hoffe ich, dass sie in kurzer Zeit, wenn uns das Glück gewogen ist, zusammen mit ihrem Kind wieder wohlauf ist. Aber selbst wenn uns die edle Herzogin und mein redlicher Herr so entzogen sein sollten, dass sie auf Dauer von uns geschieden wären und nie mehr wiederkehrten, lasst uns ihnen trotzdem stets unverbrüchlich die Treue halten, bis wir sicher erfahren, dass sie nicht mehr am Leben sind. Dann richten wir alle Hoffnung auf ihr Kind. Burgen, Ländereien und Städte, alles, was mein Herr und meine edle Fürstin besaßen, bewahre man sorgfältig, dass ihnen kein Abbruch geschehe. Die Erträge soll man ohne Abzug sammeln und so gut, ja noch besser aufheben, als wenn unsere Herrschaft bei uns wäre. So bewähren wir unsere Treue. Behalten wir nur stets im Gedächtnis, wie gut die Edle und der Reingesinnte uns behandelten, was sie für uns taten und wie sie uns liebten; dann werden wir ihnen gegenüber nicht irre. Mein Fürst hat noch einen Schwiegervater, der uns tatkräftig Rat und Hilfe leisten wird. Es ist recht und billig, ihn von unserer Loyalität zu überzeugen. Lasst ihn uns durch Boten über das schmerzliche Ereignis benachrichtigen; warten wir nicht damit! Meinen Rat und meine Worte habt ihr nun gehört und verstanden: Solange ich kann, werde ich mit meinen Taten dafür einstehen.“ Ich will es nun kurz halten: Sein Rat gefiel ihnen allen sehr. Alle baten ihn inständig, er möge um seiner Treue willen und kraft der innigen Verbundenheit, die er mit seiner Herrschaft hegte
52 | 3 Trennung die man starke an im erkande, daz er in und dem lande vore râten wolde. ein ieglîch herre solde 2115 des dâ ganz gelübde tuon, er wære grâve od barûn, daz sie ûf reht gerihte mit wârer helfe phlihte wærn ze sîme gebiete 2120 mit al der lantdiete, sie wærn rihter oder ambetman, statrihter oder lantman: swer des wider wære daz im daz würde swære. 2125 Dô sprach aber der wîse: ‘hôhe ich iuch des prîse daz ir ûf reht undertân wellet wesen einem man. ir habet hie barûn, grâven vil 2130 den ir rîcheit stœzet hôhiu zil. erwelet ein (erlât es mich!) under iu allen: sô wil ich iu wesen ein man gemeiner.’ Ùz in sprach dô einer 2135 ze dem werden Sarrazîn: ‘ir jehet, wir suln vereinet sîn, gelîch gemüete einander tragen. ir welt daz eine widersagen daz uns alle dunket guot: 2140 sô brecht ir uns vereinden muot. wert iuch niht des wir iuch biten!’ der heiden sprach mit zühte siten: 75va ‘mîn muot unbillich daran zaget: sît ez iu allen wol behaget, 2145 sô sol billîchen ich in iuwerm dienste bewîsen mich. mînem herren und der herzogîn, swâ sie in der werlde sîn, und iu bin ich des bereit. 2150 daz spriche ich hie ûf mînen eit.’ ûf ir goten daz geschach. er swuor vor, sie swuoren nâch, daz sie hielden âne schranz sîtmâl veste unde ganz. 2155 den tac sie mit den frouwen beliben ûf der ouwen. sie wurden mit liebe des ermant
2116 er] eß.
und die er klar zu erkennen gab, ihnen und dem Land mit seinem Rat dienen. Jeglicher Landherr, er sei Graf oder Baron, sollte an Ort und Stelle geloben, sich für die rechte Ordnung im Land mit redlichem Einsatz und allem Landvolk seinem Gebot zu unterstellen – Richter wie Amtsleute, Stadtherrn wie Landsassen. Wer sich dagegen stellte, sollte Schwierigkeiten bekommen. Da ergriff erneut der weise Mann das Wort: „Ich weiß es hoch zu schätzen, dass ihr Euch zur Rechtswahrung einem schlichten Vasallen unterstellen wollt. Ihr habt unter Euch viele Barone und Grafen, die durch Besitz weit herausragen. Erspart es mir und wählt einen von Euch. Ich werde Euch dann ein einfacher Dienstmann sein.“ Einer der Versammelten entgegnete darauf dem edlen Heiden: „Ihr fordert, wir sollen einig sein, einander mit Gemeinsinn begegnen. Nun wollt ihr allein das ablehnen, was wir alle für gut halten: Damit brecht ihr unseren Konsens. Sträubt Euch nicht gegen das, worum wir Euch bitten!“ Der Heide sprach höflich: „Meine Zurückhaltung ist unangebracht. Da es Euch allen gefällt, muss ich mich von Rechts wegen in Eurem Dienst bewähren. Für meinen Herrn und die Herzogin, wo immer auf der Welt sie nun sind, und für Euch bin ich dazu bereit. Das beschwöre ich hier.“ Der Eid wurde auf ihre Götter geschworen. Er sprach die Formel vor, sie sprachen nach, was sie von nun an ohne Abstriche, unverbrüchlich und vollständig einhielten. Den weiteren Tag verbrachten sie mit den Damen auf der Aue. Liebevoll wurden sie dazu ermahnt,
3 Trennung | 53
daz man sie wol gemuote vant. als hievor daz büechel giht, 2160 wol wart ez allez beriht. Wie ez mê disem vürsten gê und umb die herzoginne stê? daz tuon ich kunt mit wârer sage. sie muosten ganze ahte tage 2165 nâch kumbers geleite wesen in arebeite ê sie durchgiengen den walt, die nû gein riuwe sint versalt. an dem niunden morgen fruo 2170 ûz dem walt sie giengen nu und quâmen ûf eine ouwe. vor in in werdem schouwe ein burc sie sâhen und ein stat. gewalt dar obe ein vürste hât, 2175 der dâ landes herre was. burc und stat, als ich ez las, wârn einsît bî dem grôzen sê. dô wart der herzoginne wê vor der stat wol drî gewende. 2180 des quam in nôt der Wende. daz dô sîn herze niht enbrach von jâmer den er an ir sach, 75vb unde smerziclîchem pîn, daz muoz von gotes gâbe sîn. 2185 in al ir wêwen swære diu süeze lobebære wîplîcher zuht sich wol versan. sie bat den vürsten gên hin dan biz daz er gesæhe 2190 waz an ir beschæhe. des herze was betwenget. Mit jâmer disiu rede sich menget: sie hât hie fröude unde leit. got, dem ze geben ist bereit 2195 beidiu swære und gemach, diser zweier triuwe ane sach, diu âne truopheit bî in was. hôher frühte dô genas der lûterkeit ein spiegel klâr: 2200 aldâ in armuot sie gebar unmâzen schœn zwei kindelîn.
nach außen gute Stimmung zu zeigen. Wie das Büchlein bis hierher berichtet, fand alles eine gute Ordnung. Wie es unterdessen dem erwähnten Fürsten und der Herzogin erging? Das berichte ich Euch wahrheitsgemäß. Acht volle Tage mussten sie, nunmehr der Sorge anheimgegeben und vom Kummer geleitet, in Mühsal leben, bis sie den Wald durchquert hatten. Früh am neunten Morgen erreichten sie den Waldrand und gelangten auf eine Aue. Vor ihnen lagen prächtig eine Burg und eine Stadt. Sie gehörten einem Fürsten, der dort auch Landesherr war. Burg und Stadt, so las ich, grenzten auf einer Seite ans Meer. Etwa drei Stadien vor der Stadt kam die Herzogin in die Wehen. Dies brachte den Wenden in Not. Es muss göttliche Fügung gewesen sein, dass sein Herz dabei nicht brach des Leides wegen, das er an ihr sah, und ihrer Schmerzensqual. In der ganzen Not ihrer Wehen wahrte die Schöne, Lobenswerte vorbildlich ihre weibliche Würde. Sie bat den Fürsten wegzugehen, bis geschehen war, was er dann sehen durfte. Sein Herz war tiefbedrückt. In den Bericht mischt sich Klage. Er enthält Freude und Leid zugleich. Gott, der sowohl Unglück als auch Glück schenken kann, sah auf die aufrichtige Liebe der beiden, die sie ungetrübt verband. Da kam die Herzogin, ein Spiegel reiner Lauterkeit, mit edler Leibesfrucht nieder. In Armseligkeit gebar sie dort zwei über die Maßen schöne Kindlein.
Vor 2185: Hy wolt dy herczogin geberen vnd bat wilhelm daz er enwenig von ir ginge vncz daz sy gebere. 2159 als hievor] allhy vor (DH). 2163 ich kunt] ich uch kunt (DH; Hörerapostrophe). 2168 gein riuwe sint versalt] gegen rüe syn gestalt. 2185 wêwen swære] freuden swere. 2198 dô] sy. 2200 〈sie〉.
54 | 3 Trennung waz dan? sie suln doch vürsten sîn ob sie blîbent lebende. got ist in sælde gebende. 2205 hie hât sich hôhiu wirdekeit ze tal gelân in herzeleit. daz Wilhalm an der frouwen kôs. unmâzen kranc und kreftelôs sach er dâ al sîn fröude ligen: 2210 des lebens was sie nâch verzigen. Waz welt ir daz der vürste tuo? er muoz lîden swære nu umb die getriuwen herzogîn und die genæmen kindelîn: 2215 die süezen fruht der werde sach ligen ûf der erde. er muoste weinen im genuoc: 76ra die sô wert ein lîp getruoc, daz die sô arme in swacher kür 2220 dâ der werlde quâmen vür. der herre wart mit jâmer lût: ‘herzenliep, mîn süezez trût, dîn hôhen art, dîn klâre geburt ellendiclich hân ich vervuort. 2225 dô ich dir volge jach mit mir, dô versan ich übel mich an dir. nu enweiz ich wes ich armer man beginnen sol, wan ich niht kan ze dirre nœte rât gegeben. 2230 ob sich endet hie dîn leben, diu schult ist niemens mê dan mîn. wie sint diu klâren kindelîn mit unser tumpheit behuot! hie liget mîn fleisch und mîn bluot, 2235 hie liget unser zweier lîp in swachem werde, ô süezez wîp. wie mac sich enden disiu nôt?’ In krankeit doch ir mündel rôt sprach: ‘eiâ, werder Willehalm, 2240 dîner klage jâmers galm mit zwîvaltem smerzen mich twinget in dem herzen. wiltû mînem kranken leben rîcher krefte stiure geben, 2245 mîn süezer amîs, gehabe dich wol! dîn triuwe mich erneren sol.
Wie das? Sie sind doch zu Fürsten bestimmt, wenn sie am Leben bleiben. Gott wird für ihr Heil sorgen. Hier ließ sich höchster Adel in tiefes Herzeleid herab. Dies sah Wilhalm der Gemahlin an. Völlig schwach und entkräftet sah er seine ganze Freude daliegen: Sie rang mit dem Tode. Was, wollt ihr, soll der Fürst denn tun? Er leidet Qualen um die geliebte Herzogin und die schönen Kindlein. Wilhalm sah die edlen Neugeborenen auf der bloßen Erde liegen. Er brach in heiße Tränen aus: So armselig und niedrig kamen die auf die Welt, die ein so edler Leib getragen hatte! Wilhalm stieß die Klage laut heraus: „Mein Herz, meine süße Geliebte, Deine hohe Abstammung und Geburt habe ich schrecklich zerrüttet! Als ich Dir erlaubte, mich zu begleiten, verging ich mich schlimm an Dir. Jetzt weiß ich nicht, was ich Armer tun soll, kann ich Dir doch in dieser Not keine Hilfe sein. Wenn Du hier stirbst, liegt die Schuld bei niemandem als bei mir. Wie schlecht sind die edlen Kindlein von uns Toren behütet! Hier liegt mein eigen Fleisch und Blut, hier liegt unser beider Leben bar jeder Würde, oh geliebte Frau. Wie soll diese Not enden?“ Leise erwiderte ihr kleiner roter Mund: „Ach ja, edler Wilhalm, der jammervolle Ton Deiner Klage dringt tief in mein Herz mit doppeltem Schmerz. Willst Du meinem schwachen Leben neue Kraft spenden, mein geliebter ami, dann sei hoffnungsfroh. Deine Treue wird mich retten.
2205 hie hât sich hôhiu] si hat sich hoher (DH). 2242 in dem] an myme.
3 Trennung | 55
warîn winden wir diu kindelîn?’, sprach zuo im diu herzogîn. er sprach: ‘frouwe, ich enweiz.’ 2250 doch beidenthalp der vürste reiz gein sîner sîten kêren ûz dem rocke einen gêren. 76rb als er daz kunde, diu kint er want darîn mit sîner klâren hant 2255 und gap sie hin der herzogîn, diu sie an ir brüstelîn leite dâ mit flîze. daz brûne an der wîze dâ sô wünniclîchen stuont: 2260 in beiden gap siez in den munt ob sie sich neren kunden. kleine nar sie vunden. an der klâren vürstîn jungen noch kleine was entsprungen 2265 daz wîp zem herzen schicket eben, dâvon sie nar den kinden geben. Der getriuwe kamerer wîse wîn unde spîse in der stat hete genomen. 2270 der was gâhes wider komen. niht wan des wînes sie gezam, ein lützel brôtes alsam, des ûz dem wîne sie genôz; daz gap ir kraft und doch niht grôz. 2275 Wilhalm az noch entranc; sîn herze swærlîche ranc. er gedâhte, solde diu herzogîn bekümbert mit den kinden sîn, daz er verlust an ir kür, 2280 beider sît er verlür: wan er enkunde ir niht gephlegen. nû hœrt wes er sich het erwegen! Der vürste het vernomen ê von der stat bî dem sê 2285 daz von verren landen grôziu schif dar wanden, mit aller hande koufe quâmen dâ ze houfe.
Womit sollen wir die Kindlein wickeln?“, fuhr die Herzogin zu ihm fort. Er antwortete: „Ich weiß nicht, Herrin.“ Doch riss der Fürst aus beiden Seiten seines Obergewandes einen Stofffetzen heraus. So gut es ging umwand er damit die Kinder mit seiner edlen Hand und übergab sie der Herzogin, die sie sorgsam an ihre Brust legte. Anmutig hob sich die dunkle Spitze aus der weißen Haut: Sie legte sie den beiden in den Mund, so dass sie daran saugen konnten. Doch fanden sie wenig Nahrung. Bei der schönen jungen Fürstin war noch nicht entsprungen, was den Frauen zum Herz hin fließt, wenn sie ihre Kinder nähren. Der treue und kluge Kämmerer hatte in der Stadt Wein und Nahrung besorgt und war sogleich wieder zurückgekehrt. Sie vertrug nur Wein mit einem kleinen Stück Brot, das sie in den Wein tauchte. Das gab ihr Kraft, doch nur in Maßen. Wilhalm aß und trank nichts; sein Herz war heftig bewegt. Er erwog, dass er zweifach verlieren werde, wenn die Herzogin in Aufopferung für die Kinder für ihn verloren ginge. Denn er konnte sich nicht um sie kümmern. Hört nun, welcher Entschluss in ihm reifte! Der Fürst hatte zuvor von der Stadt am Meer erfahren, dass aus fernen Ländern große Schiffe mit allerhand Waren in großer Zahl dort einliefen.
Vor 2247: Freiraum für Überschrift. Ab 76ra sind Abschnittsinitialen nicht mehr ausgeführt und vor Beginn jedes Abschnitts 2–6 Leerzeilen für unausgeführte Überschriften gelassen; ab 79va setzen z.T. die Überschriften, nicht aber Initialen wieder ein. Vor 2283: Freiraum für Überschrift. 2257 leite dâ] legete. 2264 noch kleine was] nach kleyn waren. 2272 lützel] wenig. 2282 erwegen] bewegen. 2283 het vernomen ê] uernommen hatte (:se 2284). 2284 bî] off (DH).
56 | 3 Trennung ze sînem kamerer er sprach, an dem er triuwe sich versach: 76va ‘diz hil gar dîner frouwen: lâz dir der verte zouwen, ze der bürge soltû gân. dâ vindstû aller hande man 2295 die aller hande koufes phlegen. lâz dîne frâge niht underwegen under den kristen die dâ sint; gein den dich frâgens underwint ob iemen welle zwei kindelîn 2300 koufen, zwei schœniu knehtelîn.’ Der kamerer getriuwe gar huop sich des endes dar und begunde ân betrâgen nâch bevolner rede frâgen. 2305 er erwarp daz er dâ suochte. gâhes er geruochte der widerkêre von dan dâ er den herren het gelân. dem quam er mit den mæren 2310 daz dâ zwêne kristen wæren die koufen wolden beidiu kint. ‘ûf sundern kielen sie sint.’ der vürste sprach: ‘nu trac sie hin und gip sie swie sie wellent, in!’ 2315 dô er die werden jungen knaben an sînen arm hete erhaben, dô muoste im sin und herze jehen, er hæte nie schœner kint gesehen noch sô grôz von halbem jâre. 2320 sus was ouch ir gebâre. sam ouch die koufliute jâhen dô sie diu kint ersâhen, die beide williclich gemuot umb diu kint gâben ir guot. 2325 niht grôz was diu summe die er nam dar umme. Diu werde klâre guote in kumberhaftem muote mit slâfe was entnücket, 2330 dô ir wart entzücket ir wunne vil, ir fröuden hort. diu was nû hin gegeben dort. als mir der rede bediuter jach, aldâ sie lac in slâf, sie sach 2290
2289 sînem] dem. 2304 bevolner] voller. 2321 sam] alß. 2325 was diu] waß doch dy.
Er sprach zu seinem Kämmerer, den er sich treu ergeben wusste: „Lass Deine Herrin nichts davon wissen und mache Dich auf den Weg in die Stadt. Dort findest Du allerlei Leute, die vielerart Handel treiben. Wende Dich nur an die Christen unter ihnen; bringe bei diesen in Erfahrung, ob jemand zwei Säuglinge, zwei schöne Knäblein, kaufen will.“ Der rückhaltlos loyale Kämmerer machte sich auf zum gewiesenen Ort und begann sogleich auftragsgemäß zu fragen. Er fand, wonach er da suchte. Er trachtete, schnell dorthin zurückzukehren, wo er den Herrn zurückgelassen hatte. Zu ihm kam er mit der Nachricht, dass es in der Stadt zwei Christen gäbe, die die beiden Kinder kaufen wollten. „Sie reisen auf unterschiedlichen Schiffen.“ Der Fürst sprach: „Dann bringe sie hin und gib sie ihnen, wie es ihnen beliebt!“ Als der Kämmerer die jungen Edelknaben auf seinen Arm genommen hatte, sagten ihm Herz und Verstand, dass er nie schönere und für ihr Alter bereits so kräftige Kinder gesehen hätte. Ihr Verhalten bestärkte den Eindruck. Das Gleiche stellten auch die Kaufleute fest, als sie die Knaben sahen. Beide zahlten gerne den Preis für die Kinder. Die Summe war nicht hoch, die er [Wilhalm oder der Kämmerer] dafür nahm. Die Edle, Schöne, Gute war kummervoll eingeschlafen, als ihr die Fülle ihrer Wonne und der Hort ihres Glücks geraubt wurden; beide waren nun in der Stadt fortgegeben worden. Der Vermittler der Geschichte erzählte mir, dass sie, während sie schlief, träumte,
2311 beidiu] dy.
2317 sin und herze] syn hercze (‘sein Herz’).
3 Trennung | 57
76vb wie sie hæte in ir schôz zwêne jungen lewen grôz. ietweder solt sîn rehte klân an ir herze geheftet hân. der zweier wunneclîchen löun 2340 solt sie sich mit liebe fröun. nâch wachendem kumbers dol der guoten was in slâfe wol mit den tiern dô sie sie sach. sie dûhte enbor lanc darnâch 2345 wie ein alder lewe quæme und ir die jungen næme, daz sie fröuden rûmes enget und ir herze blibe betwenget von der jungen lewen klân, 2350 die daz sêrlich griffen an. dirre troum den slâf ir brach. dô sie der kinde niht ensach, sie schrei lûte: ‘owê wâ sint, trût herre, mîniu lieben kint?’ 2355 Wilhalm sprach: ‘sie sint versant mit disem kompân ûf daz lant. der hât ze ammen sie gegeben, sie möhten dîn doch niht geleben.’ In jâmers gewalde 2360 Wilhalm frô sich stalde ze liebe der frouwen sîn. nie herze geleit sô grôze pîn sam daz sîne dâ verborgen truoc. den kamerer wîse unde kluoc, 2365 Wilhalm in mit zühten bat daz er gienge in die stat durch der klâren gemach. er sprach: ‘al sanfte gêt mir nâch, sô sol ich mir des zouwen lân, 2370 guot ein herberge enphân diu mîner frouwen füege und iu.’ er sprach: ‘getriuwer friunt, sô ziu! 77ra sô dû herberge hâst, sich daz dû des iht enlâst, 2375 dû solt gâhes hervor îlen ûz dem bürgetor, unz daz wir komen aldar stên, daz wir hernâch iht irre gên.’
sie hätte in ihrem Schoß zwei mächtige junge Löwen. Jeder von beiden hätte seine rechte Klaue an ihr Herz gedrückt. Die beiden anmutigen Löwen bereiteten ihr große Freude. Nach dem Kummer des Tages tat der Schlaf mit den Tieren im Traum der Vortrefflichen wohl. Nicht lange danach, so träumte sie weiter, kam ein alter Löwe und nahm ihr die Jungen, so dass ihre Freude schwand und ihr Herz bedrängt zurückblieb von den Klauen der jungen Löwen, die sich schmerzhaft daran krallten. Dieser Traum ließ sie aus dem Schlaf aufschrecken. Als sie die Kinder nicht sah, schrie sie laut: „Oweh, geliebter Herr, wo sind meine lieben Kinder?“ Wilhalm entgegnete: „Unser Gefährte hat sie ins Land mitgenommen und einer Amme in Obhut gegeben. Bei Deinem Zustand hätten sie doch nicht überlebt.“ Vom eigenen Leid überwältigt, gab Wilhalm sich aus Liebe zu seiner Gemahlin froh. Nie litt ein Herz so große Qual, wie da ganz im Verborgenen das seine. Den klugen und findigen Kämmerer bat Wilhalm freundlich, in die Stadt zu gehen und für die Schöne einen ruhigen Ort zu suchen. Dieser sprach: „Folgt mir langsam, ich werde vorauseilen, um eine angenehme Bleibe zu finden, die meiner Herrin und Euch ziemt.“ Wilhalm sprach: „Treuer Freund, tu das! Wenn Du eine Herberge gefunden hast, dann säume nicht, die Stadt ganz rasch wieder hinter Dir zu lassen und vor dem Stadttor auf uns zu warten, damit wir bei der Ankunft nicht irregehen.“
Vor 2355: Freiraum für Überschrift. 2342 guoten] lieben. 2343 sie sie] sy sich. 2356 ûf] yn. 2358 〈doch〉. 2368 al sanfte gêt mir nâch] get myr na gemach.
58 | 3 Trennung Hin er balde gâhte. einen heiden got im brâhte der sîn zuht an ime prîste. ein herberge er im wîste gemechlîch, doch rîch und guot. die hete ein witwe wol gemuot 2385 diu niht stæter geste phlac. an ir vil wirdekeite lac. Der getriuwe dâ herberge erwarp. Wilhalms bete niht verdarp, er îlte gâhes vür daz tor. 2390 dâ wâren sie nû komen vor. den herren mit der frouwen sîn fuorte er ze der herberge în. diu hûsfrouwe ir zuht begienc, wirdiclich sie die enphienc. 2395 diu witwe wert unde wîs iren wîplîchen prîs mit witzen hœhen konde. mit minne ir bî wonde ein minner hôch unde wert, 2400 des sie ie ze trûte gert, dem sie hete gar ergeben wîplîchen prîs und werdez leben. zehant dô sie die werden sach, ir sinnic herze ir sô verjach 2405 daz sie in armer wæte vil wirde gehûset hæte. sie sach ouch daz diu süeze kranc was und ouch mit swære ranc. sie bat in zühte witzen 2410 daz sie wolden sitzen ûf einen tiuren senften siz. ir wirdekeit gebôt ir diz. dirre geste was sie frô. 77rb diu werde enbôt sich in alsô 2415 beidiu mit worten und mit tât daz ir lop in wirden stât. spîse guot und klâren tranc truoc man dar niht überlanc. willic ân verdriezen 2420 bat sie sie der geniezen. diu wirtîn mit der frouwen az, der kamerer mit dem vürsten saz, dâ er was wol berâten. 2380
Vor 2387: Freiraum für Überschrift. 2394 die] sy.
Rasch brach er auf. Gott lenkte ihm einen Heiden über den Weg, der seinen Anstand an ihm zeigte. Er wies ihn zu einer bequemen, dabei reich und edel ausgestatteten Herberge. Eine rechtschaffene Witwe führte sie, die keine Dauergäste aufnahm. Sie war eine hochachtbare Frau. Der redliche Kämmerer wurde mit ihr einig. Wilhalms Bitte folgend eilte er unverzüglich vor das Tor. Beide waren gerade dort angekommen. Er führte seinen Herrn mit seiner Gemahlin bis in die Herberge. Die redliche Wirtin empfing sie ehrenvoll. Die hochherzige und kluge Witwe wusste ihre weibliche Anmut mit Verständigkeit zu steigern. Einst hatte ein Freund von Adel und Würde zärtlich mit ihr gelebt, den sie zeitlebens begehrt und dem sie ihre Schönheit und ihren Charakter ganz zu eigen gegeben hatte. Sofort, als sie die edle Fremde sah, sagte ihr ihr kluges Herz, dass sie unter schäbigem Kleid eine hohe Stellung verbarg. Sie erkannte auch, dass die Schöne geschwächt und überdies voller Kummer war. Taktvoll bat sie sie, sich auf einen kostbaren und bequemen Stuhl zu setzen, wie ihr ihre Großmut eingab. Sie freute sich über diese Gäste. Die achtbare Frau war in Worten und Taten so aufmerksam zu ihnen, dass sie sich selbst alle Ehre erwies. Bald trug man gute Speise und klaren Wein auf. Unermüdlich herzlich bat sie, davon zu nehmen. Sie selbst aß mit der Fürstin, der Kämmerer saß bei dem Fürsten, der dort bestens versorgt war.
3 Trennung | 59
Dô sie gezzen hâten, diu wirtîn ze der frouwen sprach: ‘ir sult gên an iur gemach dâ ir iuch ruowe genietet.’ ‘frouwe, swie ir gebietet.’ sie vuorte die guoten von dem wege. 2430 ouch schuofs ir wirdeclîche phlege. Wilhalms und des geverten sîn phlâgen stolziu juncherlîn von dem lande gelâzen dar; etslîches nam ir sippe war. 2435 die vuorten ouch den vürsten hin dâ er an ruowe vant gewin. Sie wârn nâch armuot sache ze guotem gemache komen und ze fröuden hûs. 2440 nû warte diu wirtîn alsus daz ir lieben gesten nihtes solde gebresten, als ir vor vernomen hât; sie engulten niht der armen wât 2445 dar inne sie wârn komen dar. ir gebære nam sie war; sie hielt sie nâch der wæte niht, als tumbem speher noch geschiht, der merkt daz kleit und niht den man 2450 und wil in darnâch in wirde hân. des was diu wirtîn gar bewart. an ir gelæze hôhen art sie kôs und wirdeclîchen ruom, daz sie von grôzem rîchtuom 2455 und von grôzer hêrschaft komen sîn in armuot kraft. wie daz zuo komen wære, sie versan sich rehte der mære. 77va Vor der slâfenden herzogîn 2460 wâren vil juncfrouwelîn in der kemenâten die alle ze werke hâten alsô daz ir klârheit zam: disiu worhte an der ram, 2465 jeniu næte, disiu span, als man in heidenschaft noch kan, beidiu sîden unde golt, daz man ze werke haben solt ze dem daz heizent tiuriu tuoch, 2470 diu man noch wert hât, sagt diz buoch. 2425
2426 〈iur〉. 2451 was] ist. 2463 daz ir] alß yr.
Als sie gegessen hatten, sprach die Gastgeberin zur Dame: „Ihr solltet Euch nun zurückziehen, um auszuruhen.“ „Madame, wie immer Ihr gebietet!“ Sie wies der Edlen den Weg und nahm sich ihrer sorgsam an. Wilhalm und seinen Gefährten umsorgten edle Knappen aus dem Land; um manch anderes kümmerten sich ihre Verwandten. Diese führten auch den Fürsten in ein Zimmer, in dem er im Schlaf Erquickung finden konnte. Das Fürstenpaar war aus der Armut in ein Haus der Behaglichkeit und des Glücks gelangt. Sorgsam achtete die Wirtin darauf, dass es ihren lieben Gästen an nichts fehle, wie ihr schon gehört habt. Die ärmliche Kleidung schadete ihnen nicht, in der sie angekommen waren, denn die Witwe sah auf ihr Verhalten. Sie schätzte sie nicht nach ihrer Kleidung ein, wie unerfahrene Beobachter es noch tun, die nur das Kleid, nicht den Menschen sehen, und ihn danach behandeln. Davor war diese Gastgeberin völlig gefeit. An der hohen Art und inneren Würde ihres Verhaltens erkannte sie, dass ihre Gäste aus großem Reichtum und hoher Macht in harte Armut gestürzt waren. Wie es dazu gekommen war, darüber wusste sie freilich nichts. Bei der schlafenden Herzogin wachten viele junge Zofen im Zimmer, die sich um alles kümmerten, was der Schönen ziemte: Die eine arbeitete am Stickrahmen, eine zweite nähte, eine dritte spann Fäden aus Seide und Gold, wie man es in der Heidenschaft noch beherrscht, wenn man Stoff für teure Tuche herstellt, wie man sie heute noch schätzt, so sagt dieses Buch.
60 | 3 Trennung sus lac frouwe Guote in werder kinder huote daz sie iht würde entwecket oder in slâfe erschrecket. 2475 ruowe man guoten ruom ie gît. Ez was wol under vesperzît, daz âbentezzen man machte. Wilhalm der erwachte, erwacht was ouch diu herzogîn. 2480 zuo ir saz diu wirtîn. sie sprach: ‘frouwe, ir gebâret sô sam iuch siechtuom tuo unfrô und ir sît beswæret. iuch hât der wec erværet. 2485 lîht ist daz ez uns geschiht. nu helt mich iuwers willen niht: wellen wir hînaht ân die man wesen, ez dunkt mich guot getân.’ diu hûsfrouwe wert genande 2490 der frouwen nôt bekande. sie kunde daz geprüeven gar waz der herzoginne war. diu sprach ze der wirtîn: ‘swâ ir gebietet, dâ wil ich sîn.’ 2495 Diu alde hübeschlîchen vuor: sie besande ir tohter und ir snuor, ir eidem ouch und iren sun. die solden kompanîe tuon beider sît ir gesten. 2500 die schicten ez zem besten. sie wolde ergetzen sie ir nôt. man truoc ûf tuoch unde brôt. 77vb wirdiclich sie sâzen; mit fröuden sie âzen. 2505 diu wirtîn durch gesellekeit vor der vürstinne sneit. ir was liep ob sie wol az: ez gunde nie muoter ir kinde baz. daz bewîste diu alde wirtîn gar 2510 an der diu doch wol gevar bî vil grôzer krankeit was. hie ûzen in dem palas dâ der frouwen süne sâzen und mit dem vürsten âzen, 2515 die bewîsten werde geselleschaft den gesten dâ mit zühte kraft. mit mangem süezen mære
So lag Frau Guta in der Obhut edler Zofen, damit sie niemand wecke oder im Schlaf störe. Den Schlaf rühmt man zu Recht. Um die Vesperzeit dann bereitete man das Abendessen. Wilhalm erwachte, und auch die Herzogin war aufgewacht. Bei ihr saß die Wirtin. Sie sprach: „Edle, Ihr verhaltet Euch, als drückten Euch Krankheit und Sorge. Die Reise hat Euch erschöpft. So etwas geschieht leicht mit uns. Nun verhehlt mir nicht Eure Wünsche: Wir wollen heute Nacht ohne die Männer sein: Das scheint mir gut.“ Die vortreffliche Gastherrin erkannte Benes Not. Es blieb ihr nicht verborgen, was sie quälte. Bene antwortete ihr: „Wohin Ihr mich gehen heißt, da will ich sein.“ Die Alte verhielt sich liebenswürdig: Sie sandte nach ihrer Tochter und Schwiegertochter, ihrem Schwiegersohn und Sohn. Sie sollten ihren beiden Gästen jeweils Gesellschaft leisten. Diese wandten es zum Besten. Die Wirtin wollte die Gäste ihre Not vergessen machen. Man legte Tischtücher und Brot auf. Vornehm saßen sie bei Tisch und aßen frohgemut zu Abend. Die Wirtin schnitt der Fürstin freundschaftlich die Speisen vor. Sie wollte, dass sie gut aß: Keine Mutter hätte es mit ihrem Kind je besser meinen Das zeigte die alte Wirtin eindringlich [können. an der, die trotz heftiger Krankheit doch gute Farbe zeigte. Draußen im Palas saßen die Söhne der Wirtin und speisten mit dem Fürsten. Sie leisteten den Gästen dort aufmerksam edle Gesellschaft. Mit wohlgesetzten Geschichten
2477 machte] brachte. 2489 diu] dise. 2509 gar] dar.
3 Trennung | 61
sie ringeten in ir swære. guot geselleschaft und werdiu wîp 2520 wol fröuwent werdes mannes lîp. Alsô sie heten gezzen und wol darnâch gesezzen, diu naht in urloup wolde geben. solch wirtîn iemer solde leben 2525 diu alsô kunde geste phlegen. diu frouwe het sich kost erwegen, die wolt sie mit den werden tuon. sie sprach zem eidem und zem sun: ‘die wîle ich dise geste hân, 2530 so ensult ir keinen tac daz lân, irn gebet mit kompanîe kraft in swâ si wellent, geselleschaft.’ daz selbe het sie unverholn ir tohter und ir snuor bevoln. 2535 sie hiez sie gên ze guoter naht. Wilhalm wart ze bette brâht und sîn kamerer alsam, dâ sie nâch müede ruowe zam. Swie an den werden beiden 2540 diu stat was gescheiden, sie lâgen doch nâhe einander bî. diu liebe liez sie des niht frî, sie enslichen zuo einander. mit gedanken wander 2545 sich in daz herze der herzogîn, sam tet diu süeze sich in daz sîn. 78ra alsô frou Minne werben kan daz wert wol gemuot ein man und des rein gemuotez wîp 2550 wesen ein vereinder lîp und eines willen unverschert, swâ daz unminne niht undervert. Willehalm der sorgen phlac als er êrste kôs den tac. 2555 ûfstênnes greif er zuo. ‘wol ûf, ez ist morgen fruo’, sprach er zem kamerære und bat in daz er wære sîner witze sô bewart, 2560 sîn geverte noch sîn art solde er niemen wizzen lân, unde heimlich solde er gân dar daz man heizet ze der port, dâ die kocken stüenden dort,
2546 sam] alß. 2560 sîn] syner.
linderten sie ihnen ihr Leid. Redliche Freunde und treffliche Frauen erfreuen jeden edlen Mann. Nachdem sie gegessen und danach noch eine Weile zusammengesessen hatten, mahnte die Nacht zum Abschied. Solcherart Wirtin sollte immer zur Stelle sein, die es versteht, sich ihrer Gäste so anzunehmen. Die Witwe hatte für die edlen Gäste alle Speisen aufgetragen. Sie sprach zu ihrem Schwiegersohn und Sohn: „Solange diese Fremden bei mir sind, sollt ihr nicht aufhören, gute Gesellschaft für sie zu sein, wo immer sie wünschen.“ Das gleiche hatte sie deutlich auch ihrer Tochter und Schwiegertochter befohlen. Sie ließ sie zur Nachtruhe gehen. Wilhalm wurde zu seinem Bett geführt, ebenso sein Kämmerer, wo die Ermüdeten Ruhe finden konnten. Obwohl nun die Betten des edlen Paares getrennt voneinander standen, lagen sie doch dicht beieinander. Aus Liebe konnten sie gar nicht anders als zueinanderzukommen. In Gedanken drängte sich Wilhalm ins Herz der Herzogin, und ebenso bemächtigte sich die Edle des seinen. So kann Frau Minne bewirken, dass ein edelgesinnter Mann und seine reine Frau e i n ungetrennter Körper und e i n unverbrüchlicher Wille werden, wenn nur Unminne nicht dazwischenfährt. Wilhalm lag in Sorgen, als er den Morgen grauen sah. Er stand beherzt auf. „Wohlan, es ist früher Tag“, sprach er zu dem Kämmerer, und bat ihn, dass er sorgsam darauf achte, niemandem zu verraten, was er vorhabe und woher er stamme. Er sollte heimlich zum Hafen gehen, wo die Handelsschiffe ankerten,
62 | 3 Trennung daz er solde ervaren sâ ob kein kocke wære dâ der ûf daz mer wolde. dar ûf er mieten solde im niht wan selbander. 2570 der kamerer gienc hin. dâ vander als in der vürste ûz sande. mit sneller gedinge er ande. daz schif niht snelle wolde gân. im seite sô der schifman, 2575 er wolde dâ vierzehen tage sîn. als seite er sînem herren hin. der sprach: ‘ich sage dir waz dû tuo, des grîf endelîchen zuo. dû solt berihten uns die nar 2580 der uns benüege zeinem jâr, ûf daz schif mit sinnen, daz dîn frouwe iht werde es innen.’ mit rede er im vor entwarf wes man ûf dem schiffe darf 2585 und ze sêvarnes nœte. ‘ein wâge und ein gelœte mit gezogenlîchem site ze der hûsfrouwen bite!’ Sîn bete niht aldâ verdarp: 2590 daz gewiht er erwarp und brâhte ez dar der herre wolt. 78rb der vürste hete ein kreftic golt mit im dâ von lande brâht. der edel getriuwe wirt bedâht 2595 (diz sage ich bescheidenlîchen iu) gelîche teilte er ez in driu. diu zwei teil brâhte er under. daz dritte er nam besunder. daz wolde er offenbâren 2600 und geben der frouwen klâren. diu wirtîn was langes ûf und berihticlîchen schuof in dem hûse swaz sie wolde des man beginnen solde. 2605 Wilhalm dem tugent nie gebrach, er gienc dâ er die frouwen sach und bat mit zühte witzen daz sie geruochte sitzen unz sie hæte gar gehôrt 2610 sîniu redehaften wort. 2565
um ohne Verzug in Erfahrung zu bringen, ob nicht eines da läge, das sich zur Ausfahrt rüste. Auf diesem sollte er nur für sie beide Plätze mieten. Der Kämmerer ging. Im Hafen fand er, wonach der Fürst ihn gesandt hatte. Rasch schloss er das Geschäft ab. Das Schiff sollte nicht sofort auslaufen. Der Kapitän sagte ihm, er werde noch 14 Tage vor Anker liegen. Dies berichtete der Kämmerer seinem Herrn. Der sprach: „Ich sage Dir, was Du tun sollst. Fange gleich damit an: Bereite uns sorgsam Proviant auf ein Jahr für die Fahrt über Meer, ohne dass es Deine Herrin merkt.“ Wilhalm legte ihm dar, was man auf dem Schiff und für die Anstrengungen der Meerfahrt benötige. „Bitte die Hauswirtin freundlich um Waage und Lot!“ Seine Bitte blieb da nicht vergeblich. Er erhielt das Gewünschte und brachte es zum gebotenen Ort. Der Fürst hatte ein schweres Stück Gold aus seinem Land mitgebracht. Der edle, treue, vorausschauende Landesherr (ich sage Euch nur, was ich gut weiß) teilte das Gold in drei gleiche Teile. Zwei nahm er zu sich, das dritte legte er gesondert; er wollte es für jedermann sichtbar seiner edlen Gemahlin zurücklassen. Die Wirtin war längst wach und richtete eifrig, was sie im Haus zu tun für nötig hielt. Wilhalm, stets Vorbild an Tugend, suchte sie auf und bat sie höflich, sich zu setzen und ihn bis zum letzten Wort anzuhören.
2579 uns] vnd 2585 sêvarnes nœte] so varner node (DH; das konjizierte Kompositum ist unüblich und nach 2584 auch redundant). 2589 〈alda〉. 2600 frouwen] der furstyn (H den fursten). 2607 mit] by. 2609 〈gar〉.
3 Trennung | 63
diu frouwe leiste sîne bete; sie saz nider an der stete. Der genende wîse junge man, sîner rede er began 2615 gar gevüegelich alsus: ‘ûf genâde in iuwer hûs bin ich, frouwe, komen her. an iuwer wirde ich des ger daz ir uns vürbaz halden wolt, 2620 frouwe, und nemet darumb diz golt, und swaz ir uns ze guote tuot!’ dô sprach diu hûsfrouwe wol gemuot: ‘welt ir, ir müget âne vâr bî mir vertuon al iuwer jâr. 2625 iur wirt nâch friundes wîs gephlogen.’ ir neic der fürste wol gezogen. er bat die werden alden im daz golt behalden. daz nam sie unde sprach zuo ime: 2630 ‘iuwer golt ich alsô nime: niht ûf geltlîchiu zil, wan daz ichz iu behalden wil. ir mügt ân gelt hie wol genesen; als lange sô ir hie welt wesen, 2635 sô wirt iur vort gephlogen baz. saget durch zuht –’. er sprach: ‘waz?’ ‘warumbe ir sô arme gât?’ 78va er sprach: ‘durch zuht die frâge lât!’ sie sprach: ‘ist ez iu schedelîch, 2640 sô sol der frâge geswîgen ich.’ sie sprach: ‘mir gevellet einez wol: diu frouwe âne iuch wesen sol. ich sihe an ir: sie ist kranc.’ des seite er der werden danc 2645 und sprach daz sie solde wesen swie sie wolde. Dise rede ich hiemit kürzen mac. nie friunt friundes baz gephlac dan diu süeze wirtinne 2650 des vürsten und der vürstinne, diu an kreften starcte. wol man an ir marcte daz sie was von süezer art. nie anblic alsô wünnic wart 2655 noch als gemeitlîch an ze sehen. des muoste man ir dâ gejehen.
Die Wirtin folgte seiner Bitte. Sie setzte sich auf der Stelle. Der verständige Jüngling begann in wohlgesetzten Worten: „Hoffnungsfroh bin ich, edle Frau, hierher in Euer Haus gekommen. Bei Eurer Würde bitte ich, uns auch weiterhin zu beherbergen; Herrin, nehmt dafür und für alles, was Ihr zu unserem Wohl tut, dieses Gold!“ Die großmütige Wirtin antwortete: „Wenn Ihr wollt, könnt ihr ohne Umstände Euer ganzes Leben bei mir bleiben. Ihr werdet als Freunde behandelt.“ Höflich dankte ihr der Fürst. Er bat die edle Alte, das Gold von ihm zu nehmen. Sie nahm es und erwiderte: „Ich nehme Euer Gold unter einer Bedingung: Ich werde es nicht zum eigenen Nutzen, sondern für Euch verwahren. Hier braucht Ihr kein Geld; so lange Ihr hierbleiben wollt, ist für Euch weiterhin bestens gesorgt. Doch sagt mir höflicherweise –“ Er fragte: „Was?“ „Warum gebt Ihr Euch so ärmlich?“ Er sprach: „Bei Eurer Güte, fragt das nicht.“ Sie erwiderte: „Wenn es Euch missfällt, will ich davon schweigen“, und fuhr fort: „Eines aber möchte ich: Lasst die Dame ungestört. Ich sehe ihr ihre Schwäche an.“ Dafür dankte Wilhalm der Edlen und sprach, sie solle tun, was ihr richtig erscheine. Ich will es abkürzen. Nie umsorgten Freunde einander besser als die großherzige Wirtin es mit dem Fürstenpaar tat. Die Fürstin kam wieder zu Kräften. Man erkannte an ihr leicht, dass sie von Adel war. Nie war ein Gesicht so schön und reizend anzusehen. Das musste man ihr da zugestehen.
2614 〈er〉. 2620 diz golt] myn go[l]t. 2635 〈vort〉. Wunsch in sein Gegenteil). 2650 des] plag deß.
2642 âne iuch] by uch (DH; die Konjektur verkehrt den
64 | 3 Trennung Des werden vürsten jungen herze was betwungen umb die getriuwen herzogîn. 2660 er gedâhte, ob er sie vuorte hin, daz im daz niht entöhte, wan sie verderben möhte von manger sache ûf dem sê. Wilhalm was allenthalben wê 2665 und swærlîch ze muote. er gedâhte ouch, ob er die guote sîn verweiset lieze, daz ir daz kumber stieze und unergetzter sorgen nôt, 2670 diu ir bræhte lîht den tôt. iedoch er rehte sich versan. er gedâhte, er wolde sie dâ lân bî der süezen wirtinne diu mit getriuwem sinne 2675 ir tæte helfe unde trôst, dâvon sie swære würde erlôst. Hie huop sich aber niuwiu klage an dem vierzehenden tage, als der schifman ê gesprach 2680 und sîner verte im dannen jach. dannoch diu herzoginne slief, der dâ al ir trôst entlief; 78vb dô rief sîn verge ze porte. Wilhalm daz erhôrte: 2685 ûf den kiel er gâhete dem ouch nû kumber nâhete. jâ vür wâr ich daz habe, dô man stiez den kocken abe, alsô sprach sîn getriuwer munt: 2690 ‘werder fröuden süezes vunt und hôher wünne was ich rîch, der wart niemen sô arm sô ich. daz liebste daz ich ie gewan, daz hân ich hiute durch dich gelân, 2695 hôher Krist, und mîniu kint, diu ensamt mir und der muoter sint an vier stücken doch ein lîp. eiâ, guotez sælic wîp, würde ich ergetzet des an dir
Das Herz des edlen jungen Fürsten war von der rechtschaffenen Herzogin bezwungen. Er dachte bei sich, dass es nicht gut sei, sie mit sich fortzuführen, denn sie könnte durch vielerlei Gefahr auf hoher See umkommen. Wie er es auch wendete, es schmerzte und bedrückte Wilhalm. Er bedachte auch, wenn er die Edle allein zurückließe, so würde sie das in Leid und nicht wiedergutzumachende Sorgenqual stürzen, die sie vielleicht das Leben kosten könnte. Indes kam er zum rechten Entschluss: Er plante, sie hier bei der großherzigen Wirtin zu lassen, die ihr mit treuem Herzen Hilfe und Trost spenden würde und sie so aus ihrer Bedrückung erlöste. Am vierzehnten Tag, den der Schiffsherr als Tag der Abfahrt angesetzt hatte, entstand hier nun neues Leid. Die Herzogin schlief noch, als ihr ihre einzige Zuversicht entrann. Wilhalms Schiffsherr rief zur Abfahrt. Als Wilhalm das hörte, eilte er zum Schiff; auch für ihn nahte nun eine traurige Zeit. Ich kann wahrlich sagen: Als man die Kogge abstieß, sprach er offen: „Ich war reich an erhebender Freude und hohem Glück; an beidem verarmte nie jemand so sehr wie ich. Das Teuerste, das ich je gewann, habe ich heute um Deinetwillen, hoher Christus, zurückgelassen, und dazu meine Kinder, die zusammen mit mir und ihrer Mutter doch ein Körper aus vier Teilen sind. Ach, Du edle und heilbringende Frau, entschädigte man mich doch mit Dir dafür,
Vor 2685: Freiraum für Überschrift. 2662 sie verderben] sy eß verderben (DH; Konjektur von hoher interpretatorischer Brisanz: Fürchtet Wilhalm, Bene könne die Überfahrt gefährden, oder fürchtet er, sie werde sie nicht überleben?). 2670 〈lîht〉 (gegen DH; entschärft die Aussage). 2696 ensamt] entferret.
3 Trennung | 65
daz dir ze leide geschiht von mir! ob ich iender trôst des vünde, wie mich daz fröuwen künde! Appollo, Mahmet, Tervigant solden des iemer sîn geschant. 2705 swaz ander gote haben kraft die êret al diu heidenschaft, durch die hæte ich niht die lieben lân. daz hân ich, Krist, durch dich getân und weiz vürwâr niht waz dû bist: 2710 kanstû trœsten, hôher Krist, bistû wârer fröuden gebe, sô gip mir daz ich daz gelebe daz ich die guoten noch müeze sehen frô (sô wil ich an dich jehen) 2715 unde mîniu klâren kint, diu ûz lûterkeit erboren sint. daz vierde wil ich daz triuwe sî. dâ lac etwanne fröude bî; die wil nu jâmer manicvalt 2720 dar ûz werfen mit gewalt und überlestic herzesêr. ir fröude tet gein riuwe kêr, 79ra diu mir selben sorgen gît.[‘] Ez was nû vruoimbizzît. 2725 die tische wârn bereite, wan Willehalms man beite. diu wirtîn durch zuht des ruochte daz mann al umbe suochte und warte sîn mangen enden. 2730 verlorn het sie den Wenden. diz ezzen wart âne in getân. diu wirtîn sich des wol versan, er wære sîne strâze. diz beswârte sie ân mâze. 2735 Der herzogîn sie daz verhal, diu doch mit gedanken qual. ze der herzogîn sie saz. diu sprach: ‘ôwê, waz diutet daz mich hiut mîn friunt niht hât gesehen? 2740 im mac wê sîn geschehen.’ mit worten gevuoge undervuor daz diu kluoge. sie bat daz sie ezzen wolde, schiere er sie sehen solde. 2745 sus wolde sie ir ringen ir muot ûf den gedingen. 2700
was Dir durch mich an Leid geschieht! Wie würde es mich freuen, wenn ich irgendwo Trost dafür fände! Ewige Schande daher über Apollo, Mahmet, Tervigant! Welche anderen starken Götter die gesamte Heidenschaft auch verehrt, ihretwegen hätte ich meine Liebste nicht verlassen! Deinetwegen, Christus, tat ich es, und weiß doch nicht einmal wirklich, was Du bist. Kannst Du trösten, erhabener Christus, und wahre Freude schenken, so gib mir, dass ich die Edle und meine schönen Kinder, die aus reinem Leib geboren wurden, zu Lebzeiten glücklich wiedersehe: Dann will ich an Dich glauben. Als viertes will ich, dass Treue herrsche. Früher wohnte Freude da, doch nun will sie der Jammer in vielerlei Gestalt und übermächtiges Herzensleid gewaltsam vertreiben. Ihre Freude wandelte sich in Leid, das auch mich selbst bedrückt.“ – Es war zur Morgenmahlzeit, und die Tische waren gedeckt, doch wartete man noch auf Wilhalm. Die Wirtin veranlasste gewissenhaft, dass man ihn überall suchte, und sah selbst an vielen Orten nach. Doch war der Wende nirgends zu finden. Die Mahlzeit fand ohne ihn statt. Die Wirtin erwog insgeheim, dass er weitergezogen sein könnte. Der Gedanke ängstigte sie maßlos. Sie verschwieg ihn der Herzogin, die sich trotzdem mit Ahnungen quälte. Die Wirtin setzte sich zu ihr. Jene sprach: „Oweh, was heißt das, dass mein Geliebter heute nicht nach mir sah? Es muss ihm etwas zugestoßen sein.“ Mit sanften Worten unterbrach die verständige Witwe diese Gedanken. Sie bat, sie möge etwas essen, er werde bald zu ihr kommen. So wollte sie ihre Schwermut in Zuversicht wandeln.
2705 swaz] alß. 2724 vruoimbizzît] fruge ymbiß zyt. 2726 wan] nit wan (verstärkt: ‘einzig auf’).
66 | 3 Trennung mit der wirtîn sie az. alsô was geschehen daz, dô bat werben diu genæme 2750 daz Wilhalm zuo ir quæme. ein gevüegez juncfroulîn sande diu guote dâ hin, daz ir al ir fröude nam: mit der rede ez wider quam 2755 daz hie ûzen wæren mære daz er hinwec wære. als sie daz kint het gehôrt, in jâmer sprach sie disiu wort; ir herze mît siufzen sich ergôz, 2760 vil wazzers ûz ir ougen flôz: ‘Nû wê, Wilhalm, lieber man! wie hâst dû mich verweiset lân! 79rb nu enweiz ich arme war ich sol. wolt sich nû êren an mir wol 2765 Jupiter der hôhe got, sô sol sîn kreftic gebot den gemeinen tôt mir senden und mîn jâmeric leben enden.’ in âmaht viel diu getriuwe hin. 2770 dô liefen nâch der wirtîn zwô meide snel und lieht gevar. diu quam ungesûmet dar dâ sie die klâren ligen sach. sô leide der frouwen nie geschach. 2775 ir ougen sich erguzzen daz die zeher fluzzen ûf die kranken herzogîn. gar diu juncfrouwelîn begunden starke weinen; 2780 diu grôzen und diu kleinen wolden durch sie jâmeric sîn. wîn gôz man der reinen în. als diu guote sich versan: ‘ôwê’, sprach sie, ‘war quam mîn man?’ 2785 sie reiz vel unde hâr. sie erbôt hezzelîchen vâr al ir werdem lîbe. dem jæmerlîchen wîbe diu wirtîn daz werte. 2790 kein herze was sô herte, hæte ez ir jâmer an gesehen,
Gemeinsam aßen sie. Danach bat die Liebreizende, Wilhalm möge zu ihr kommen. Die edle Wirtin sandte eine bewährte Zofe aus – die sie aber um alles Lebensglück brachte: Sie kam mit der Auskunft zurück, sie habe draußen vernommen, dass er fortgezogen sei. Als Bene sie angehört hatte, sprach sie voller Jammer – sie seufzte dabei aus ganzem Herzen, Tränenströme brachen aus ihren Augen: „Oweh, Wilhalm, mein Geliebter! Wie mutterseelenallein hast Du mich gelassen! Ich Arme weiß nun nicht, wohin ich soll. Wollte doch der große Gott Jupiter sich selbst an mir Ehre erweisen, so würde er mir mit einem Machtwort den alltäglichen Tod senden und mein kummervolles Leben beenden.“ Ohnmächtig sank die Treuliebende nieder. Da eilten zwei schöne Mädchen zur Wirtin, die unverzüglich zu der Niedergesunkenen getreten war. Nie war ihr solches Leid widerfahren. Ihre Augen quollen über, so dass die Tränen die ohnmächtige Herzogin benetzten. Die Zofen begannen allesamt heftig zu weinen. Groß und klein, alle berührte ihr Schicksal sehr. Man flößte ihr Wein ein. Als die Edle zur Besinnung kam, sprach sie: „Oweh, wo ist mein Mann geblieben?“ Sie riss sich Haut und Haare aus. Ihren ganzen edlen Körper wollte sie blutig kratzen. Die Wirtin hielt die jammervolle Frau davon ab. Kein Herz konnte so hart sein, dass es beim Anblick ihres Leides
Vor 2761: Freiraum für Überschrift. 2756 daz er hinwec] wy er enweg. 2763 war] waß. 2768 mîn] mir (DH).
3 Trennung | 67
im wær ze weinen dâ geschehen. Ûz jâmer sprach diu wirtîn: ‘ich wânde, frouwe, ir hætet sin! 2795 ir sult bescheidenlîchen klagen. læge iuwer wirt vor iu erslagen, ir soldet niht sus gebâren noch sus iuwer vâren. sælic frouwe, waz dan? 2800 ist iuwer man hinwec gegân, daz ist ouch frouwen mê geschehen, die man ouch trûric hât gesehen und satzten der unmâze zil. iur ungebære ist alze vil. 2805 iur man iu wider komen sol. lât hie von, gehabt iuch wol!’ 79va Ir rede half niht, sie was in nôt. swaz ir diu werde trôstes bôt, alle stunde und alle tage 2810 was sô seneclîch ir klage: swer sie gesach oder gehôrte, ir jâmer im fröude stôrte. dicke sie heller stimme schrei (ir was diu wâre fröude enzwei): 2815 ‘ôwê, ôwê mir, iemer wê! sol ich dich, herre, niemer mê gesehen? ôwê, dû lazzer tôt, dû sûmest dich an mir ân nôt, daz dû mich niht nimest hin.’ 2820 Ez besande diu getriuwe wirtîn swaz sie von friunden frouwen hât, die sie durch trœsten dar bat. zuo ir gebote quâmen dar vil frouwen wert und lieht gevar. 2825 dô sie daz getriuwe wîp sâhen quelen sus ir lîp und diu sô jâmeric vor in saz, ir aller ougen wurden naz; sô wê in ir kumber tete. 2830 nû was diz ir gemeiniu bete ûz mangem süezen munde der sie lieplich manen kunde, daz sie wolde ir weinen lâzen und sich ir jâmers mâzen. 2835 ûz süezer einvalde sprach diu getriuwe alde:
die Tränen zurückgehalten hätte. Schmerzerfüllt sprach die Wirtin: „Herrin, ich dachte, ihr wäret bei Sinnen! Wahrt auch in der Klage das Maß. Selbst wenn Euer Mann erschlagen vor Euch läge, dürftet ihr Euch nicht so quälen, nicht so gegen Euch selbst wüten. Vom Glück Geprüfte, was ist denn nun? Wenn Euer Mann wegging, ist das schon mehr Frauen Eures Standes so geschehen, die man auch trauern sah, die aber Maß und Ziel dabei wahrten. Euer Klagen geht zu weit. Euer Mann wird zu Euch zurückkommen. Mäßigt Euch und schont Euch!“ Ihre Mahnrede half nicht, die Herzogin litt zu sehr. Was die Wohlmeinende ihr auch an Trost bot, sie fuhr Stunde um Stunde fort, sehnsuchtsvoll zu klagen. Wer sie sah oder hörte, wurde selbst nicht mehr froh. Oft schrie sie gellend auf – ihre Lebensfreude war zerbrochen: „Weh, weh mir, auf immer: Weh! Werde ich Dich, Herr, nie wieder sehen? Ach, träger Tod, Du säumst grundlos mit mir, wenn Du mich nicht hinwegnimmst.“ Die treue Wirtin sandte nach allen Damen ihrer Bekanntschaft und bat sie zu sich, um Trost zu spenden. Auf ihre Bitte hin kamen viele edle, schöne Frauen zu ihr. Als sie die Rechtschaffene in solcher Selbstquälerei und so jammervoll vor ihnen sitzen sahen, wurden aller Augen feucht; so sehr schmerzte sie ihr Kummer. Nun war dies ihre einmütige Bitte als ein Chor wohlmeinender Münder, die sie sanft zu mahnen wussten, dass sie vom Weinen ablasse und ihren Jammer mäßige. In schlichter Güte sprach die ehrbare Alte:
Vor 2823: Hy sant dy wirtin nach vil anderen frauwen dy solten dy herczogin trosten. 2796 wirt] man. 2824 vil frouwen wert und lieht] vil mange frauwen wert lich. 2834 〈ir〉.
68 | 3 Trennung ‘frouwe, mir hât iuwer man goldes in der mâzen lân, dâbî ich genzlich mich verstê 2840 daz er von iu iht lange gê.’ dô sprach diu fröuden weise: ‘mîns herren verre reise bî dem golde ich merken kan. er hât ez alsô hie gelân 2845 daz ich neme dâvon die nar.’ diu wirtîn sprach: ‘nu gloubt vür wâr: wær über sê iuwer golt, 79vb dannoch ir hie genesen solt. ich wil iu sagen waz ir tuot: 2850 weset mit uns wol gemuot! mîne lieben friunde und mîniu kint swaz sô der hie vor iu sint, diu mir als mîn selbes lîp sint (sô sprach daz werde wîp), 2855 mac ich iht vürbaz, alsô wol ich iuch iemer halden sol und solich triuwe an iu tuon: lieber tohter noch liebem sun sich nie muoter baz erbôt. 2860 nû senftet uns und iu die nôt!’ Ist diu herzogîn bî vuogen, der rede sol sie genuogen, aleine ir ez doch harte lac sît ir ein friunt sô werde phlac, 2865 und volge den getriuwen und entziehe sich ir riuwen und lâze die werden bî ir leben frô, die süezen trôst ir geben. sie sol sich dannoch nâch ir man 2870 mit vuogen senen, als sie wol kan.
2862 sie] ir. 2866 sich ir] yrm.
„Herrin, Euer Mann hat mir Gold anvertraut, aus dessen Menge ich schließe, dass er nicht lang von Euch fernbleibt.“ Da sprach die Freudenleere: „Das Gold deute ich so, dass er weit weg ist. Er hat es in der Absicht hiergelassen, dass ich mich davon versorgen kann.“ Die Wirtin entgegnete: „Ihr könnt mir glauben: Auch wenn Euer Gold über Meer läge, würdet Ihr hier gesundgepflegt. Lasst Euch raten, es Euch bei uns wohlgehen zu lassen! Bei meinen lieben Verwandten und Kindern, die hier vor Euch stehen und die ich wie mein eigenes Leben liebe (so fuhr die Edle fort), werde ich Euch stets beherbergen und in tiefster Treue umsorgen, so gut ich es fürderhin kann. Keine Mutter nahm sich je selbstloser ihrer geliebten Tochter, ihres geliebten Sohnes an. Doch mäßigt nun unser und Euer Leid!“ Wenn die Herzogin weiß, was sich ziemt, muss sie diesen Worten genüge tun, und kommt es ihr noch so hart an, weil ihr Freund sie so ritterlich behandelt hatte! Und sie muss sich den Wohlmeinenden fügen, sich ihrem Schmerz entwinden und die Edelmütigen wieder neben ihr froh sein lassen, die sie so liebevoll trösten. Sie darf sich trotzdem noch nach ihrem Mann sehnen, aber mit Maß – was sie auch kann.
4 Taufe und Krieg (v. 2871–4025) Orts- und Protagonistenwechsel: Nach ungestörter Überfahrt und Ankunft in Jerusalem finden Wilhalm, nun knapp zwanzig Jahre alt, und sein Kämmerer Herberge bei einem Christen, der, obwohl Franzose, auch heidnisch (arabisch) und wendisch (slawisch) spricht und unter Wilhalms ärmlichem Aufzug seine edle Art erkennt. Wilhalm berichtet vom Grund seiner Fahrt und von den Opfern, die er für sie brachte. Der Wirt ist zu Tränen gerührt, legt ihm die Taufe nahe und beginnt, ihn durch intensive katechetische Unterweisung darauf vorzubereiten. Das Repertoire seiner Lehre umfasst die unbefleckte Empfängnis Mariae, den Sündenfall Evas und die Verkündigung, Trinität und Schöpfung, den Sündenfall Adams und die Erlösung durch Christus, dessen Kreuzestod, Auferstehung und Himmelfahrt. Wilhalm drängt nun zur Taufe, sein Gastherr stattet ihn dafür kostbar aus und führt ihn zum Patriarchen, der in Jerusalem die Stellung des Papstes vertritt. Er selbst fungiert als Dolmetscher. Der Patriarch dankt Gott für das Wunder, denn die Christen stehen im Krieg mit dem Sultan von Babylon (Kairo) und den Vögten von Baldac (Bagdad) und Hallap (Aleppo). Wilhalm wird im Beisein der höchsten Würdenträger des Heiligen Landes getauft und gleich darauf nach kristenlîcher ê zum Ritter geschlagen. Darauf berichtet der Patriarch dem neuen Kreuzritter vom bevorstehenden Ende des Waffenstillstands mit den Heiden. Wilhalm nimmt am Heiligen Grab das Kreuz, der Patriarch bietet die Ritterorden auf, Beichte und Eucharistie eröffnen den Krieg, Wilhalm und der Kämmerer tragen ihr Taufgewand als Waffenrock. Die Heiden ziehen siegessicher vor die Stadt. In der darauf einsetzenden Schlacht tötet Wilhalm im Gedanken an Bene (deren Name seine Speerfahnen ziert) zahllose Feinde. Er lässt sich in den Kampfpausen von seinem Kaplan unterweisen und stellt sich besonders in den Dienst Mariens. Der rasche Sieg verdankt sich vor allem ihm. Des hôhen Wenden überkêr, war diu gerâte von dem mer? daz sage ich iu als ichz vernam. ze Jerûsalêm der vürste quam. 2875 ze sîme kamerer er sprach daz er der herberge gemach næme zeinem kristenman. nû diz wart alsô getân: der kamerer wîsheit unverirt, 2880 er warp im einen hôhen wirt, als er was dâ der beste. wol er enphienc die geste. do er Willehalmen ane sach, sin und herze im sô verjach, 2885 sich hæte in swacher wât bewart ein edel hôher süezer art. 80ra Wilhalm het ritterlîch gestalt. under zwênzic jâren alt was noch der junge werde man. 2890 etswâ ûzdrungen im die gran,
War unterdessen das Meer der Überfahrt des Wendenfürsten gnädig? Das berichte ich Euch, wie ich es vernahm. Der Fürst kam nach Jerusalem. Er sprach zu seinem Kämmerer, er solle für ihn Herberge bei einem Christen suchen. Und so geschah es: Der verständige Kämmerer fand für ihn einen angesehenen Wirt, der dort als der beste galt. Zuvorkommend empfing dieser die Fremden. Als er Wilhalm ansah, sagten Herz und Verstand ihm sofort, dass sich hier ein Adliger hoher Abkunft in armseligem Gewand verberge. Wilhalm war von ritterlicher Gestalt. Noch nicht 20 Jahre alt war der edle Jüngling. Hier und da sprossen ihm Barthaare,
Vor 2871: Hy fure wilhelm vber mere vnd quam zu jerusalem vnd bat synen kemerere daz er ym herberge erworbe zu eym cristen man. 2878 diz wart] do diß also. 2889 junge] suße (jung vs. anmutig; Konjektur nach 2888 redundant).
70 | 4 Taufe und Krieg doch niht ze dicke alumb den munt. an im lac süezer fröuden vunt, sîn anblic lieht und wol gevar. dem wirt was liep sîn komen dar, 2895 der ze Willehalme sprach: ‘nu schaffet, herre, iur gemach swie ir selber gebietet! nâch willen iuch des nietet! vür ander geste man iuz sol, 2900 herre, hie erbieten wol!’ Wilhalm im mit zühten neic. sîn danken er dâ niht versweic. der hübsche wirt dô niht vergaz, bî dem gaste er nider saz. 2905 ez was ouch nû umb die zît als man daz âbentezzen gît: in was genuoc dâ vürgetragen. waz sol ich vil dâvon gesagen? der wirt phlac ir mit flîze wol. 2910 sîn hûs was rîches râtes vol, des ich dâheime bin erlân: von mir vil selden wirt getân mînen gesten solich geræte. der gebreche müet mich stæte. 2915 alle tage durch daz jâr muoz ich besorgen frische nar. Dô die werden gâzen und noch bî einander sâzen, dô sprach der wirt wol gemuot: 2920 ‘herre, nemet ir daz vür guot, ichn wart nie gastes alsô frô.’ der ellende sprach alsô: ‘iuwer genâde, daz sol sîn.’ der wirt sprach: ‘lieber herre mîn, 2925 getar ich iuch gefrâgen iht?’ Wilhalm sprach: ‘warumbe niht?’ ‘nu ich der frâge urloup hân, bî iuwer hübscheit ich iuch man (wan mîn frâgen ist durch guot) 80rb daz ir mir ze wizzen tuot iur geverte und iuwern art.’ Wilhalm der rede beswæret wart. er gedâhte: ‘ob ich nû disen man sîner frâge triegen kan 2935 und im die wâhrheit niht ensage, deist ûz der wirdekeit behage.
aber um den Mund herum nicht allzu dicht. Sein frischer, klarer Anblick war ein Hort edler Freude. Der Gastherr freute sich über den Ankömmling, er sprach zu ihm: „Herr, bereitet Euch Euer Zimmer wie Ihr es wünscht! Nutzt es ganz nach Belieben! Man wird Euch hier, Herr, bevorzugt vor anderen Gästen behandeln.“ Wilhalm neigte schicklich den Kopf und dankte. Der noble Wirt zögerte nicht, sich zu dem Gast zu setzen. Es war die Zeit, zu der das Abendessen gereicht wird. Genug wurde ihnen da aufgetragen. Was soll ich darüber viel sagen? Der Wirt sorgte gewissenhaft für seine Gäste. Sein Haus war wohlversehen mit Vorrat, woran es mir daheim durchaus mangelt: Allzu selten wird meinen Gästen durch mich solche Fülle zuteil. Dieser Missstand quält mich beständig. Tagaus, tagein und Jahr für Jahr muss ich um neue Speisen bangen. Als die Edlen gegessen hatten und noch beieinandersaßen, sprach der Wirt gut aufgelegt: „Herr, nehmt das als Ehrenerweis, denn nie freute ich mich über einen Gast mehr.“ Der Fremde erwiderte: „Mit Eurer Gunst, das tue ich.“ Der Wirt sprach weiter: „Mein werter Herr, darf ich Euch etwas fragen?“ Wilhalm sprach: „Warum nicht?“ „Da Ihr mir die Frage gestattet, sagt mir doch bitte vertrauensvoll (denn ich frage in guter Absicht) und lasst mich wissen, was der Zweck Eurer Reise und was Eure Herkunft ist.“ Wilhalm machte diese Frage verlegen. Er dachte bei sich: „Es wäre ehrlos, diesen Mann auf seine Frage hin zu betrügen und ihm nicht die Wahrheit zu sagen.
2904 gaste] wirt (wohl Fehler, vgl. 2903). 2906 daz âbentezzen gît] deß abentß essen plicht (aufträgt vs. einnimmt). 2918 〈noch〉. 2923 〈sol〉. 2936 〈der〉 (gegen DH).
4 Taufe und Krieg | 71
er sol der wârheit sîn gewert, sît er giht daz er des gert mir ze guote und sî mir holt.’ 2940 Er bat behalden im sîn golt, daz sîn kamerer dâ truoc; der was gemüet dâmit genuoc: wan ich hânz alsô, ez wære ze guoter mâzen swære. 2945 Wilhalm der ermante ûf gnâde er bekante. ze dem wirte sprach er dô: ‘herre, ir jehet, ir sît mîn frô: daz sol iu vergelden Krist. 2950 ich enweiz niht, herre, wer der ist, und bin ûz doch durch in komen. ich hân niht vil von im vernomen, durch den ich ellentlîchen var und hân mîne gote verkoren gar, 2955 Jupiter, Apollen, Tervigant, herren, liute unde lant, bürge, stete, rîchtuom. diz spriche ich durch keinen ruom. ir sît der rede unbetrogen: 2960 man nennt mich einen herzogen, aldâ ich volkes herre bin. Wilhalm ist der name mîn. herre, ich liez ouch ein wîp durch in, nâch der ich in riuwen bin. 2965 ich muoz mir hôher flüste jehen, sol ich die niemer mê gesehen und mîniu klâren kindelîn, diu ûz lûterkeit erboren sîn âne trüeber minne ger. 2970 ein lûter liebe was ir wer âne wankes undersaz. 80va wærn alliu lant und aller schaz mîn und ich ouch diu verlür: der erwæge ich mich, ê ich verkür 2975 diu klâren kint, daz süeze wîp, diu nâch mir quelt ir schœnen lîp. tumpheit mîn witze ruorte dô ichs in ellende fuorte. ich stal mich von der reinen.’ 2980 Ze der rede muoste er weinen. ern kunde dem herzen niht entsagen,
Er soll sie erfahren, da er doch sagt, er frage nur in guter Absicht, und sei mir gewogen.“ Wilhalm bat, sein Gold für ihn aufzubewahren, das sein Kämmerer mit sich trug; dieser hatte schwer daran zu tragen: Meines Wissens war es von erheblichem Gewicht. Wilhalm, zur Antwort gedrängt, fasste Vertrauen und erwiderte dem Wirt: „Herr, Ihr sagt, Ihr freut Euch meiner: das vergelte Euch Christus! Ich weiß zwar nicht, Herr, wer Christus ist, doch habe ich mich seinetwegen aufgemacht. Ich habe nicht viel gehört von dem, dessentwegen ich in der Fremde weile und meinen Göttern Jupiter, Apoll und Tervigant ganz und gar abschwor, dazu Adel, Volk und Land, den Burgen, den Städten und der Herrschaft. Ich sage das nicht, um mich zu rühmen. Ich bin ganz ehrlich zu Euch: Da, wo ich herrsche, nennt man mich Herzog. Wilhalm ist mein Name. Auch eine Frau ließ ich um Christi willen zurück, Herr, nach der ich mich in Sehnsucht verzehre. Einen hohen Preis habe ich gezahlt, fürwahr, wenn ich sie und meine hübschen Kindlein nicht wiedersehe, die in Reinheit und ohne unkeusches Begehren gezeugt wurden. Reine, unwandelbare Liebe schenkte sie. Gehörten alle Länder und Schätze mir und müsste ich alle verlieren, so leistete ich Verzicht darauf, ehe ich die schönen Kinder und die wunderbare Frau hergäbe, die sich nach mir in Leid verzehrt. Einfalt trübte mir den Verstand, als ich sie in die Fremde führte. Heimlich verließ ich die Makellose.“ Indem er dies sagte, musste er weinen. Er konnte sein Herz nicht zügeln,
2938 er giht daz er des gert] er syn gicht daz er syn gert. 2957 rîchtuom] großen richtum. 2963 〈herre〉. 2969f. ger:wer] wer:ger (veränderter Sinn: ‘ohne unkeusche Anfechtung begehrten sie nur lautere Liebe’). 2981 niht] sich nit.
72 | 4 Taufe und Krieg ezn wolde in ze jâmer jagen alsô daz man in trûric sach. ûz getriuwem süezem muote sprach 2985 der wirt in trœsten began: doch moht er selber niht gelân, sîniu ougen sus erwielen daz im die treher vielen über die wangen in den schôz. 2990 Wilhalms ungehabe was grôz. ‘ist Krist werder helfe rîch’, sprach er, ‘sô sol er êren sich an mir und helfe daz daz geschehe daz ich sie noch vor tôde sehe: 2995 sô hât er helfe mir getân, diu sîner hœhe zimt wol an. in ir dienste ich sô werben sol als sie mir des getriuwet wol, daz ich lôn enphâhe 3000 der mich ir wirde nâhe.’ Der wirt was wol gelêret, des manic man wirt gehêret: mangiu sprâche was im kunt, heidensch, windesch rette sîn munt, 3005 ob im des nôt wære. er was Walch und Franzoysære, und was witziger worte. dô er Willehalm verhôrte und des was bescheiden 3010 daz er was ein heiden und daz er Kristum suochte und sîner helfe ruochte und er durch in sich bewac gar hôher wirde der er phlac, 3015 und liez liute unde lant, 80vb ein wîp und kint sô wert erkant und sich der gote hete erwegen den er ê dienstes hete gephlegen, und diu wâre gotes güete 3020 wolt besitzen sîn gemüete, der wirt antwurte sus im sân: ‘welt ir Kristes künde hân, sô müezet ir den touf enphân, der iuch von sünden reinen kan.’ 3025 Er sprach: ‘saget an, wer gît den touf? ist er veil oder hât er kouf,
es trieb ihn in den Jammer, und so sah man ihn traurig. Wohlwollend freundschaftlich suchte der Wirt ihn zu trösten. Allerdings konnte er selbst nicht an sich halten; seine Augen gingen ihm über und die Tränen liefen ihm über die Wangen bis zum Schoß hinab. Wilhalms Leid war groß. „Ist Christus ein mächtiger Helfer“, sprach er, „dann soll er seinen Ruhm an mir zeigen und es so fügen, dass ich sie zu Lebzeiten wiedersehe. Dann hat er mir geholfen, wie es seiner Glorie gebührt. In ihrem Dienst will ich so leben, wie sie es von mir erwartet, so dass ich den Lohn empfange, der mich ihrer Erhabenheit näherbringt.“ Der Wirt war hochgebildet, was jedermann adelt: Er kannte viele Sprachen, beherrschte Arabisch und Wendisch, wenn er es brauchte. Er war ein Romane, ein Franzose, und gewandt im Reden. Als er Wilhalm angehört und dabei erfahren hatte, dass er ein Heide war, der Christus suchte und ihn dabei um Hilfe bat; dass er um Christi willen sein hohes Amt niedergelegt und Volk und Land verlassen hatte, dazu Frau und Kinder von so edler Geburt; dass er sich von den Götzen abgewandt hatte, denen er zuvor gedient hatte, und sein Sinnen und Trachten nun auf die Huld des wahren Gottes richtete – da erwiderte er ihm sogleich: „Wollt ihr Christus kennenlernen, so müsst ihr die Taufe empfangen, die Eure Sünden abwaschen kann.“ Wilhalm sprach: „Sagt doch, wer gibt die Taufe? Kann man sie kaufen oder hat sie einen Preis,
Vor 3021: Hy lernet der wirt wilhelmen wye er cristum solt lern kennen vnde wye er sich solt laißen deuffen. 2992 sich] mich (tendenziell blasphemisch, aber möglich). 3001 Der] wan der. 3008 verhôrte] vollenhort.
4 Taufe und Krieg | 73
sô lœset mir in umb mîn guot!’ dô sprach der wirt vil wol gemuot: ‘nein, herre, in gît diu priesterschaft 3030 âne gelt mit sîner kraft der ouch den touf durch uns enphie und uns bî dem toufe lie, daz er uns von sünden reinet. ouch suln wir sîn vereinet 3035 an dem gelouben vaste gar daz Jêsum Krist ein maget gebar.’ er sprach: ‘deist wunderlîch genuoc daz ein maget ein kint getruoc. saget mê, wer hât die kraft 3040 dêr die megede machet berhaft? ich hœre iuch hôher wunder jehen. sagt, herre, wâ sint diu geschehen?’ der wirt genendeclîchen sprach: ‘von unser sünde ez geschach, 3045 darîn uns Êvâ het gevalt und uns ze vluste het gezalt. dô wolt der hôhe starke got uns armen nemen von der nôt. sîn gotheit durch uns genande 3050 daz er den engel sande Gabrîêl von himel hernider (sus wolde er uns gewinnen wider) in die stat ze Nâzarêt ze der maget die man het 3055 einem werden hôhen man 81ra gelobet, den wir ouch heilic hân. er was ûz hern Dâvîdes hûs, Jôsef sîn name, der megde alsus: aller sünden frîe 3060 ô süeziu maget Marîe. dô sich Marîa an ir gebet nâch ir gewonheit beslozzen het, alsô in beslozzener tür der süezen quam der engel vür. 3065 diz was sîn gruoz gein ir: ‘âvê! (der gruoz der sprichet: âne wê) dîn kiusche enphæhet und gebirt des himel und erde erfröuwet wirt. Marîa aller gnâden vol, 3070 got ist mit dir und wesen sol. gesegent ist dîn süezer lîp, frouwe hêr, vür alliu wîp.’ alsô Marîa het gehôrt
dann gebt sie mir für mein Gold!“ Darauf sprach der Wirt lachend: „Nein, Herr. Die Priesterschaft spendet sie unentgeltlich mit der Vollmacht dessen, der um unseretwillen selbst getauft wurde und uns durch die Taufe die Reinigung von Sünden gewährt. Dazu sollen wir ganz fest in dem Glauben geeint sein, dass eine Jungfrau Jesus Christus gebar.“ Wilhalm erwiderte: „Dass eine Jungfrau schwanger war, ist höchst erstaunlich. Sprecht weiter, wer hat die Macht, Jungfrauen gebären zu lassen? Ich höre Euch hohe Wunder erzählen. Sagt, Herr, wo haben sie sich zugetragen?“ Der Wirt gab rückhaltlos Auskunft: „Es geschah unserer Sünde wegen, in die uns Eva verstrickte und die uns zur Verdammnis bestimmte. Da aber wollte der allmächtige Gott uns Arme aus der Not erlösen. Seine göttliche Majestät sandte unseretwegen den Engel Gabriel vom Himmel hernieder (so wollte er uns freikaufen) in die Stadt Nazareth zu jener Jungfrau, die man einem edlen Mann hoher Abkunft anverlobt hatte, den wir ebenfalls als Heiligen verehren. Er stammte aus dem Haus Davids, sein Name war Josef. Der Name der Jungfrau lautete so: von allen Sünden freie heilige Jungfrau Maria. Als sich Maria nach ihrer Gewohnheit zum Beten zurückgezogen hatte, trat durch die verschlossene Tür der Engel vor sie. Er grüßte sie: ‘Ave!’ (Der Gruß meint: Sei furchtlos!) ‘Dein reiner Leib wird empfangen und gebären, wodurch Himmel und Erde beglückt werden. Maria gratia plena, Gott ist mit Dir und wird es sein. Dein heiliger Leib ist gesegnet vor allen Frauen, hehre Frau.’ Als Maria den Gruß
3028 〈vil〉. 3043 genendeclîchen] gnedeclich (‘gnädig’). 3068 des] den deß. 3073 alsô Marîa] alß sy.
74 | 4 Taufe und Krieg des engels gruoz und sîniu wort, dô wart sie erværet, ir meitlîch kiusche beswæret. dô gedâhte diu hôhe künegîn wie oder welich möhte sîn disiu hôhe boteschaft 3080 diu ir quam von hôher kraft. ô wol dir, werdiu Nâzarêt! dîn name ze diute ‘ein bluome’ stêt. dâ von spricht sant Bernhart daz von süezem hôhem art 3085 an rehter klârheit ruome in der bluomen wolde ein bluome werden uns ze heil geborn von einer blüenden rôse ân dorn und in der bluomelîchen zît, 3090 sô der bluomen glanz vil wünnen gît. als der engel ir seite diu mære daz sie vol gnâden wære, sant Bernhart, der klâren kappellân, daz aber sô bewæren kan: 3095 durch unser sælden luste nâhen under ir bruste 81rb in ir lîp het sich geleit volliu gnâde der wâren gotheit. er barc sich dâ an enger stat 3100 der himel und erde ze gewalde hât, der kristen heiden juden hât geben daz sie von sînen gnâden leben. übergrôz ist sîner gnâden maht, allem sinne unvolaht. 3105 swaz der himel ie bevât und allez daz diu erde hât, und die bûwent daz abgründe, ob ein ieglîch sterne künde im sprechen lobelîchiu wort: 3110 sîn gnâde doch niemer würd volhôrt. Seht, die genâde beslôz ein maget, an der niemen des verzaget, sie ensî noch der genâden wer dem der aldâ gnâden ger, 3115 die sie noch überflüzzic treit. genâden ist sie uns bereit, stên wir an ir trôste vast. 3075
und die Rede des Engels vernommen hatte, erschrak sie; ihr jungfräuliches Herz wurde schwer. Da überlegte die Himmelskönigin, was es mit dieser hohen Botschaft auf sich haben mochte, die so machtvoll zu ihr kam. Wohl Dir, edles Nazareth! Dein Name steht auf deutsch für ‘Blume’. Sankt Bernhard spricht davon, dass aus heiligem Adel im Ruhm ungetrübten Glanzes eine ‘Blume in der Blume’ zu unserem Heil geboren sein wollte von einer blühenden Rose ohne Dorn und in blütenreicher Zeit, wenn Blütenpracht viel Wonne spendet. Des Engels Kunde, dass sie voll der Gnaden wäre, legt Sankt Bernhard, der Kaplan der Reinen, in der Weise aus, dass zur Erfüllung unserer Seligkeit ganz nah unter ihrer Brust der wahre Gott seine Gnadenfülle in ihren Leib gelegt hatte. In gedrängter Enge barg sich dort der Herrscher des Himmels und der Erde, der es Christen, Heiden und Juden möglich machte, aus seiner Gnade zu leben. Übergroß ist die Fülle seiner Gnade, mit menschlichem Verstand nicht zu erfassen. Wenn alles, was der Himmel überwölbt und was die Erde trägt, und was in den Tiefen wohnt, dazu jeder einzelne Stern sein Lob verkünden könnten, wäre seine Gnade doch immer noch größer. Seht, diese Gnade schloss eine Jungfrau in sich, an der niemand verzagen soll, denn sie ist noch die Bürgin der Gnade, die sie noch immer im Überfluss bereithält für alle, die nach ihr verlangen. Die Gnade gewährt sie uns gern, wenn wir fest auf sie vertrauen.
3080 hôher] von deß engelß. 3088 von einer blüenden rôse] vnd von einer blumen rose (DH). 3099 sich] er barg sy (sc. die Gottheit, 3098). 3101 kristen heiden juden] cristen juden heiden (seit Walther von der Vogelweide idiomatisierte Reihenfolge). 3102 sie] wir (bedeutende Differenz: ‘sie’ umfasst alle Religionen, ‘wir’ nur die Christen). 3103 〈ist〉 (gegen DH). 3105 〈ie〉. 3112 an der] dy an (von mariologischer Brisanz).
4 Taufe und Krieg | 75
ir herze truoc den süezen last und noch, diu keiserinne, 3120 deist die gnâde wârer minne diu uns ie süenen kunde. sie truoc ouch in ir munde der genâden volle kraft, daz sie stæte redehaft 3125 wil sîn mit vlêhelîcher gedult umb alle süntlîche schult, daz ein ieglîch sünder vinde genâde an ir kinde. in ir handen sie ouch truoc, 3130 (und noch des mê ist dan genuoc) des die hôhen nie bevilte: die genâde der wâren milte und die süezen barmekeit, die sie noch übervlüzzic treit. 3135 der ist sie muoter wâre genant, die giuzet sie ûz milter hant. der rede wir mügen uns fröuwen wol. alsô ist sie genâden vol, 81va von der genâden übervlüete 3140 und ir volkomener güete (wen wil der rede belangen?) nement frîheit die gevangen; in swelchen banden sie sîn, in hilft diu hêre künegîn 3145 daz sie werdent gar erlôst. sie gît ouch fröude unde trôst trûrigen herzen, die versêrent der leide smerzen. Des himels geselleschaft, 3150 allen engeln hôher fröuden kraft gît ir werdez aneschouwen, der meide und ouch der frouwen. diu trinitât gehêret ist gelobet und geêret. 3155 der sünden furt gesîhtet und antlæzlich gelîhtet wirt von ir gnâden vollen den die mit sünden sint bewollen, von der maget wol getân. 3160 die gerehten von ir gnâden hân genâden vollekomenheit. got nam von ir die menscheit.
Ihr Herz trug die süße Last und noch immer ist sie, die Himmelskönigin, Bürgin wahrer Liebe, die uns stets zu sühnen verstand. Auch trug sie in ihrem Mund die Fülle an Gnade, um in unermüdlicher Rede für alle Sündenschuld geduldig Fürsprache zu leisten, damit jeder Sünder bei ihrem Sohn Gnade finde. Sie trug auch in ihren Händen, wovon selbst die Höchsten nie zu viel haben (und doch gibt es noch immer mehr als genug davon): die Gnade wahrer Großmut und die wohltätige Barmherzigkeit, die sie stets im Überfluss bereithält. Sie wird die wahre Mutter dieser Tugenden genannt und gießt sie mit freigebiger Hand aus. Darüber dürfen wir hocherfreut sein. In dieser Weise ist sie voller Gnaden. Im Überfluss ihrer Gnaden und ihrer vollkommenen Güte (wem sollte solche Lehrrede zu lang sein?) gewinnen die Gefangenen Freiheit; in welchen Fesseln sie auch gebunden sind, kommt ihnen die erhabene Königin zu Hilfe, um sie ganz und gar zu erlösen. Auch spendet sie traurigen, von Leidesschmerz versehrten Herzen Freude und Zuversicht. Der himmlischen Gemeinschaft der Engelschöre bereitet der erhabene Anblick der Jungfrau und Herrin höchste Freude. Gelobt und gepriesen ist die erhabene Trinität. Ihre Gnadenfülle macht die Sündenfurt seicht und mindert den Ablass für die in Sünden Verstrickten, dank der herrlichen Jungfrau. Die Gerechten haben durch ihre Gnade der Gnaden volles Maß. Gott wurde Mensch durch sie.
3133 barmekeit] barmhertzekeit (vgl. 49). 3148 die versêrent] sye verseret (Positivaussage: Maria ‘versehrt’ den Schmerz der Leidenden). 3159 von] wol (passt gut in den panegyrischen Duktus).
76 | 4 Taufe und Krieg Doch swie sie der hôhen mære von êrste betrüebet wære 3165 und er die reinen blœden sach, gotes wort er aber sprach. einen süezen trôst gap er ir. ‘Marîa, niht entvürhte dir! ich tuon dir süeziu mære kunt. 3170 dîn kiusche hât der gnâden vunt an dem hôhen gote erjaget. sich, du enphâhest, werdiu maget, und solt geberen einen sun der die genâde an dir kan tuon, 3175 den dû nennest alsus: der werlde heil Jêsus. er wirt kreftic unde grôz, niht ist noch nie wart sîn genôz. dem alle künige ze dienste sint, 3180 man nennet in des hœsten kint. 81vb ze sîme gebote wir alle leben. got der herre sol im geben den stuol Dâvîdes sînes vater. darzuo erwelt dich hâter 3185 daz in dîner kiusche sal in kindes wîse besliezen sal. sîn gewalt wirt erhœhet sus: er sol rîchsen in Jâkobes hûs êweclich und iemer. 3190 sîns rîches wirt ende niemer.’ ze dem engel sprach Marîâ dô: ‘wie mac daz geschehen sô, wand ich künde nie gewan noch enhabe deheines man?’ 3195 dô sprach der engel aber sâ: ‘ô wol dich, süeziu Marîâ! von obene nider hin ze tal in dîner liehten kiusche sal kumet der heilige geist 3200 mit einer werden volleist; ouch dîne hôhen klâren jugent beschatwet des hôhen gotes tugent, unde daz dû bernde bist, über alle heiligen heilic ist. 3205 sus sol man sîn wirde tiuren: des hœsten gotes gehiuren, dem alliu crêatiure zamet, des einborn sun wirt er genamet.
Aber weil sie durch die erlauchte Botschaft zuerst bestürzt war und der Engel die Reine verstört sah, wiederholte er Gottes Worte. Er sprach ihr heiligen Trost zu. ‘Maria, fürchte Dich nicht! Ich verkündige Dir frohe Botschaft. Deine Reinheit hat der hohe Gott zur Schatzkammer seiner Gnaden erwählt. Siehe, edle Jungfrau, Du empfängst und wirst einen Sohn gebären, der an Dir Gnade tun kann. So sollst Du ihn nennen: Jesus, Heiland der Welt. Er wird mächtig und groß, nie gibt und gab es einen ihm Gleichen. Man nennt ihn den Sohn des Höchsten, dem alle Könige dienen. Wir alle leben in seinem Gebot. Gott, der Herr, wird ihm den Thron seines Vaters David geben. Er hat Dich dazu auserwählt, ihn in der Wohnung Deines reinen Leibes in Kindsgestalt aufzunehmen. Seine Macht wird erhaben sein, denn er wird im Haus Jakobs stets und ewig herrschen. Sein Reich wird kein Ende haben.’ Darauf sprach Maria zum Engel: ‘Wie soll das geschehen, da ich nie einen Mann erkannte noch einen habe?’ Darauf entgegnete sogleich der Engel: ‘Wohl Dir, heilige Maria! Von oben herab kommt der heilige Geist in makelloser Würde in die helle Wohnung Deines reinen Leibes. Die Macht des hohen Gottes legt sich über Deine edle, junge Gestalt, und das, was Du in Dir trägst, ist heilig über alle Heiligen. So wird man seine Größe preisen: Er wird der eingeborene Sohn des höchsten, herrlichen Gottes genannt sein, dem alles Geschaffene gehorcht.
3183 sînes] syn vater (bezogen auf Gott, 3182, nicht David). 3188 rîchsen] richen. 3200 mit] in. 3202 beschatwet] beschauwet (DH; ‘blickt auf’).
3190 rîches] richtum.
4 Taufe und Krieg | 77
ô wol dich, maget hêre! dû bist aller frouwen êre, dîn name tuot den bœsen zagen. ich wil dir hôhiu wunder sagen. Elisabêt diu alde, diu von natûre gewalde 3215 in ir jugent was unberhaft, die hât erfröut diu gotes kraft. diu edel hôhe niftel dîn enphangen hât ein kindelîn. einen sun sie gebirt, 3220 des al diu werlt erfröuwet wirt. sehs mânde hât sie in getragen. 82ra ich wil dir genzlîchen sagen: got ist an sîner krefte rîch, bî im ist niht unmügelîch.’ 3225 dô er der lieben mære verjach, Marîâ ze dem engel sprach: ‘gotes dierne ich bin. mir geschehe nâch den worten dîn!’ Bî der reinen gemuot 3230 daz wort wart fleisch unde bluot. mit dem wort enphie sie und gebar Kristum, diu süeze maget klâr, diu hœste und ouch diu hêrste. Marîâ was diu êrste 3235 diu gote gehiez und wolde im geben ir kiusche und alsô iemer leben daz nie mislîch gedanc sie underfuor noch underswanc. des almehtekeit was ie, 3240 von ir die menscheit dâ enphie, mit der sîn gotlîch hôher art durch uns underbildet wart. Kristen gloube stêt alsus daz der hôhe Jêsus 3245 unser herre, den wir nennen Krist, ein got in drîn persônen ist: vater, sun, heiliger geist. der geloube uns trœstet aller meist ob dem diu werc gelîche stên. 3250 daz sol ze fröuden uns ergên mit reiner bîhte urkünde und riuwe nâch der sünde, daz er uns sünde kan vergeben der sich durch unser sündic leben 3255 (alsô diu minne daz gebôt) 3210
3243 Kristen] cristuß.
Wohl Dir, hohe Jungfrau! Du bist die Ehre aller Frauen, Dein Name entmutigt die Arglistigen. Ich will Dir von erhabenen Wundern berichten: Der alten Elisabeth, die durch die Macht der Natur in ihrer Jugend nicht gebären konnte, hat die Macht Gottes Glück beschert. Deine hochedle Muhme hat ein Kindlein empfangen. Sie wird einen Sohn gebären, durch den die ganze Welt froh werden wird. Sechs Monate trägt sie ihn nun schon. Ich will Dir das ganze Wunder sagen: Gott ist reich an Macht, nichts ist bei ihm unmöglich.’ Als der Engel die frohe Botschaft verkündet hatte, sprach Maria zu ihm: ‘Ich bin die Magd des Herrn. Mir geschehe nach Deinen Worten!’ Bei der reinen Frau wurde das Wort Fleisch und Blut. Mit dem Wort empfing und gebar die heilige, lautere Jungfrau, die Höchste und Erhabenste, Christus. Maria war die erste, die Gott bereitwillig ihren reinen Leib hingab und die immer so lebte, dass kein falscher Gedanke sie beirrte oder verwirrte. Der zeitlos Allmächtige empfing Menschengestalt durch sie, so dass sich unter seine göttliche Natur die unsrige legte. Nach Christenglauben ist unser Herr, der erhabene Jesus, den wir Christus nennen, e i n Gott in d r e i Personen: Vater, Sohn und heiliger Geist. Dieser Glaube, für den die Schöpfung bürgt, schenkt uns höchste Zuversicht. Es ist zu unserem Glück so eingerichtet, dass er, der um unserer sündigen Existenz willen (wie es die Liebe gebot) schuldlos den Tod auf sich nahm, kraft aufrichtiger Beichte und Reue nach böser Tat
78 | 4 Taufe und Krieg âne schult gap an den tôt.’ Wilhalm sprach: ‘nû saget mir: im gebôt diu minne, sprechet ir, und daz er sî erstorben, 3260 daz habe er mit minne erworben. kunde in diu minne twingen und lie sich überringen der werlde menschlîchen tôt, 82rb wie mac er wenden dannoch nôt 3265 und ist noch helfe gebende allem dem deist lebende?’ ‘des sol niemen an im zagen’, sprach der wirt, ‘nû lât iu sagen: den man alt und jungen nennet, 3270 âne urhap êwic erkennet, dem ist noch hôch gewaldes ruof. alsô er alliu dinc geschuof, als mohte und mac noch gotes sun alliu wunder wol getuon. 3275 der hôhe süeze werde got, diu wâre minne im daz gebôt daz er vogel, visch und alle genuht, würme, tier und alle fruht, sunne, mâne und ouch den tac, 3280 die naht und swes man niezen mac, nâch sînem gotlîchen rât und sîner wîsheit geschaffen hât. darnâch schuof er besunder den menschen und warf im under 3285 al sîner ordenunge kür. sus hôhte er in und zôch in vür wîte aller creatiure. uns ze sælden stiure an dem frônen kriuze er starp 3290 daz er daz leben uns erwarp.’ Wilhalm sprach: ‘nû saget mê! wârt ir alle erstorben ê?’ der wirt sprach: ‘von Adâme sît und iemer unz an dise zît 3295 daz er sich an die martel gap und man in leite in daz grap, sô was al diu werlde tôt an der sêle und lîdende nôt. dar nâch an dem dritten tage 3300 von dem grabe (als ich iu sage) er wârer got und mensche erstuont.
uns die Sünde vergeben kann.“ Wilhalm sprach: „Nun erklärt mir: Die Liebe gebot ihm, sprecht ihr, dass er starb – das hätte er aus Liebe getan. Konnte ihn Liebe zwingen und ließ er sich vom irdischen Tod aller Menschen überwinden, wie könnte er dann noch in Not beistehen und Helfer sein für alles, was lebt?“ „Darin darf niemand irre werden an ihm“, sprach der Wirt. „Lasst Euch dazu sagen: Der Alterslose, anfangslos Ewige wird auch seiner Allmacht wegen gerühmt. So wie Gott alle Dinge schuf, so vermochte und vermag auch Gottes Sohn jedes Wunder zu tun. Der erhabene, heilige, große Gott ließ sich von wahrer Liebe dazu bestimmen, in der Fülle ihrer Arten Vögel, Fische, Schlangen, Vierbeiner, dazu alle Pflanzen, Sonne, Mond, den Tag, die Nacht, und was sonst nützlich ist, nach seinem göttlichen Ratsschluss und seiner Weisheit zu schaffen. Danach schuf er als ganz Eigenes den Menschen und machte ihm seine ganze Schöpfungsordnung untertan. So erhöhte und bevorzugte er ihn weit über allen Geschöpfen. Für unser Seelenheil starb er am heiligen Kreuz und erwarb uns so das ewige Leben.“ Wilhalm sprach: „Nun sprecht weiter: Waren vorher alle Menschen dem Tode verfallen?“ Der Wirt antwortete: „Von Adam her und bis zu jener Zeit, in der Christus sich dem Martyrium übergab und man ihn ins Grab legte, war die ganze Welt dem Tod der Seele anheimgegeben und litt Not. Doch dann, am dritten Tage, erstand er aus dem Grab (das versichere ich Euch) als wahrer Gott und Mensch.
3262 lie sich] ließ sich mit mynne. 3265 ist noch] ist er noch. 3268 〈nû〉. 3278 würme tier] dire worm. 3281 nâch sînem gotlîchen] vnd daz sin gotlicher (DH). 3287 wîte] wert (DH). 3289 〈er〉.
4 Taufe und Krieg | 79
alsô den edeln frouwen kunt wart die in dâ suochten, als sie des durch triuwe ruochten. 3305 daz grap sie funden lære. 82va dô was der heilære, dâ er uns solt vor bewarn, ze der helle gevarn, dâ er sich an dem tiuvel rach, 3310 mit kraft der helle tor zerbrach. den argen wirt er aldâ bant. er nam mit kreftiger hant dâ alle die sînen von des tôdes pînen, 3315 und brâhte die in sîn rîche, da ir fröude ist niht gelîche, darinne sie êwiclîchen leben. der touf sol uns daz selbe geben. An sîner junger angesihte 3320 ze hôher fröuden phlihte ûf von diser erde in den himel fuor der werde, dâ er gewaldeclîche eben hêre und eben rîche 3325 sitzt ze sînes vater hant, der got almehtic ist bekant: in drîer persônen underscheit ein got in einer gotheit. als kumet er alle tage wider 3330 zuo uns vil armen her nider, got der hôhe herre Krist, alsô er in dem himel ist.’ Wilhalm sprach: ‘mac daz geschehen daz ich ouch muoz den herren sehen?’ 3335 der wirt sprach: ‘jâ, herre, wol. alrêrst man muoz unde sol iuch mit dem glouben toufen und in kristen leben sloufen.’ Er bat den wirt des gâhen 3340 daz er müeste den touf enphâhen. dô sprach er ze dem wirte alsô: ‘mac ich des toufes wesen frô und ist er dâmit bewart ob ich mich ziuhe nâch mîner art?’ 82vb dô sprach der wirt geêret: ‘jâ, er ist es gehêret.’
So wurde es den edlen Frauen kundgetan, die ihn aus Treue dort aufsuchen wollten. Sie fanden das Grab leer. Der Heiland war zu jener Zeit in die Hölle hinabgestiegen, vor der er uns erretten sollte; Dort strafte er Satan und zerbrach mit Macht das Höllentor. Den Höllenfürsten band er da. Er befreite dort mit starker Hand alle Seinen aus den Qualen des Todes und brachte sie in sein Reich, wo ihre Freude, in der sie ewig leben, ohnegleichen ist. Ebendies soll uns die Taufe schenken. Im Angesicht seiner Jünger und als Unterpfand höchsten Glücks fuhr der Auferstandene von dieser Erde zum Himmel empor, wo er machtvoll, gleich erhaben und prächtig an der Seite seines Vaters, des allmächtigen Gottes, sitzt: E i n Gott in e i n e r Gottheit, wiewohl in d r e i Personen. So kehrt er alle Tage wieder zu uns Armseligen herab, der doch im Himmel der erhabene Herrgott und Christus ist.“ Wilhalm sprach: „Kann es geschehen, dass ich den Herrn auch sehen darf?“ Der Wirt sprach: „Durchaus, oh Herr! Zunächst muss und wird man Euch auf den Christenglauben taufen und ins christliche Leben einweisen.“ Wilhalm bat den Wirt, dies ganz rasch zu tun. Er sprach darauf zu ihm: „Bringt mir die Taufe Lebensglück und bin ich ihr nach Herkunft und Wesen gewachsen?“ Der ehrbare Wirt antwortete: „Ja, beide werten sie sogar noch auf.“
Vor 3339: Hy bat wilhelm den wirt daz er ym holff daß er gedeufft wurde. 3310 tor] dor er. 3321 ûf von diser] vnd von der. 3333 daz] daz auch.
80 | 4 Taufe und Krieg Der fürste warp mit sinnen. driu ros hiez er gewinnen, sô man sie iergen in der stat 3350 aller beste veile hât, und driu schœniu diu wol zelden, diu wolde er gerne gelden, und sus zwelef schœniu phert. ouch bat den wirt der fürste wert 3355 daz er fuogte einen man den wolde er ze gesellen hân, und zwelef rischer knehte, die gekleidet nâch ir rehte in drîen warten solden: 3360 der dienst würde in vergolden; daz im selbem drîer hande kleit und ouch den zweien würden bereit, den man rîcheite jæhe. noch wolde er dazz geschæhe 3365 daz in kleider würden gesniten vor dem toufe niht nâch ritters siten; wand er nâch kristenlîcher ê wolt ritter werden. er bat noch mê, ob er iht haben solde, 3370 daz er im daz gewinnen wolde; daz er daz zuo bræhte ân verdriezen. er enguldes niht, er solt geniezen daz er sich im sô bewîste, als man des sîn triuwe prîste. 3375 Der wirt was ein genendic man. von hôher art er im gewan einen kompân als er bat. der was verarmet in der stat, doch was er dâvür gezelt 3380 daz er des lîbes wære ein helt. der wirt ouch des niht enliez, er gewan daz in der fürste hiez, und brâht daz rîchlîchen zuo. sie dorften westerkleider nu: 3385 diu brâhte er zuo mit flîze 83ra von tiurem samît wîze und allez daz er haben solde. sîn pate der wirt wesen wolde. Dô diz allez was volbrâht, 3390 dô sprach der wirt wolbedâht: ‘herre, nû tuot von iu die wât diu iu her gevolget hât! iu sint ander bereit.’
3359 in] dy yn. 3382 daz] alß.
Der Fürst bereitete sich klug vor. Er ließ sich drei Rösser beschaffen von den besten, die es in der Stadt zu kaufen gab, und drei ansehnliche Zelter, für die er gerne zahlte, dazu zwölf schöne Reitpferde. Auch bat der edle Fürst den Wirt, ihm einen Mann als Gefährten und zwölf beherzte Knappen an die Hand zu geben; letztere sollten ihnen, nach ihrem Stand gekleidet, aufwarten. Für den Dienst sollten sie bezahlt werden. Weiter bat er, dass ihm wie den beiden anderen drei verschiedene Garderoben bereitgestellt würden, die sich vornehm ausnähmen. Er wollte allerdings nicht, dass ihnen vor der Taufe Kleider nach Ritterart gefertigt würden, denn er wollte nach Christenrecht Ritter werden. Weiter bat er, dass, sollte er noch etwas brauchen, der Wirt auch dafür unbeirrt Sorge tragen wolle. Es sollte sein Schaden nicht sein, dass er sich ihm so gewogen zeigte, wofür man seine Treue pries. Der Wirt war ein rechtschaffener Mann. Er verschaffte ihm den erbetenen adligen Gefährten. Der war zwar im Stadtleben arm geworden, doch galt er als trefflicher Kämpfer. Der Wirt zauderte auch nicht, trug zusammen, was der Fürst geboten hatte, und brachte es in reicher Fülle zu ihm. Nun benötigten sie Taufgewänder. Auch die schaffte er beflissen herbei samt allem, was dazu gehörte. Sie waren aus kostbarem weißem Samt. Der Wirt wollte sein Taufpate sein. Als all dies getan war, sprach er wohlbedacht: „Herr, legt nun das Gewand ab, das Euren Weg hierher begleitete! Andere Kleider liegen für Euch bereit.“
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man truoc dar rîchiu knehtes kleit Wilhalme und sînen kompân. als sie diu geleiten an, sînen grâwen roc den alden bat er flîzic im behalden. daz tet der wirt und hiez im sân 3400 ziehen dar driu kastelân schœne und einer varwe gar, guot als ein rabe swarz gevar, dâ bî driu schœniu zeltende phert nâch willen als er der begert. 3405 darnâch man zwelfe ziehen sach den knehten, die dâ giengen nâch, die im ir dienst gelobeten dâ, daz er enphie und gap in sâ diu ros, dâmit er sie beriet. 3410 ze dienste er ir ahte beschiet dem kamerer und dem gesellen sîn und daz viere warten an in. ie ûf dem rosse ein harnesch lac vollen guot ûf ritterlîch bejac. 3415 Willehalm het des erdâht. dô diz allez nû was brâht, der rosse kôs er ime ein, diu andern gap er den zwein und diu phert als sie dâ stuonden. 3420 guoten willen sie an im funden. Willehalm dô niht vergaz, ûf sîn ros der fürste saz; sînen wirt er rîten bat ze velde mit im vür die stat. 3425 daz vil kleine wart vermiten. mit einander sie dô riten ûz ze dem guldînen tor; dâ sie durch kurzwîle vor 83rb funden den patriarken 3430 wolgeborn und starken, bî im mangen ritter wert. ir ros beriten sie unervært, diu sie vollen guot dâ hâten. dem poynder sie rehte tâten. 3435 alsam tet dâ manic edel kneht, als in ir art gap daz reht. Den wirt den frâgte er mære wer dâ ze velde wære. der sprach: ‘herre, ez ist ein man, 3440 der iuch von sünden reinen kan. 3395
Man brachte teure Knappengewänder für Wilhalm und seinen Gefährten. Als sie diese angelegt hatten, bat Wilhalm, seinen alten grauen Rock sorgfältig für ihn aufzubewahren. Das tat der Wirt, und gleich darauf befahl er, Wilhalm drei schöne Kastilianerrosse von gleicher rabenschwarzer Färbung vorzuführen, dazu drei schöne Zelter, wie er sie gewünscht hatte. Nach diesen folgten zwölf weitere Pferde und die Knappen, die Wilhalm ihren Dienst gelobten. Wilhalm hörte sie an und gab ihnen sogleich die Rösser zur Versorgung. Acht der Knappen beschied er seinem Kämmerer und seinem Gefährten zum Dienst, vier sollten ihm selbst aufwarten. Jedes Ross war mit einem Harnisch beladen, der zur Ritterschaft bestens taugte. Wilhalm hatte auch daran gedacht. Als alles nun beisammen war, wählte er eines der Rosse für sich und gab die anderen den beiden Begleitern, nebst den Pferden, die dabeistanden. Edle Gesinnung erkannten die beiden an ihm. Wilhalm zögerte dann nicht länger; der Fürst saß auf. Er bat seinen Gastgeber, mit ihm vor die Stadt zum Anger zu reiten. Das geschah. Sie ritten miteinander durch die Goldene Pforte hinaus. Dort trafen sie den erlauchten und trefflichen Patriarchen mit vielen edlen Rittern in ritterlichem Treiben. Sie ritten beherzt auf ihren vorzüglichen Pferden und übten sich im Lanzenstechen. Desgleichen taten viele edle Knappen, wie es ihrem Wesen entsprach. Wilhalm fragte den Wirt, wer sich da auf dem Anger tummele. Der Wirt sprach: „Herr, das ist ein Mann, der Euch von Sünden reinwaschen kann.
3404 begert] hette gert. 3406 dâ] den. 3426 〈dô〉. 3429 funden] von den.
82 | 4 Taufe und Krieg im hât gegeben der hôhe Krist daz er nâch im geweldic ist daz er kristenlîchem leben alle sünde mac vergeben. 3445 einen bâbst man jensît meres hât: er verstât alhie desselben stat.’ Wilhalm sprach: ‘swært in daz iht ob er mich diz ros berennen siht?’ der wirt sprach: ‘nein, lât varen vort.’ 3450 kûme volante er disiu wort, den got ze dienste het erkorn, vazte daz ros mit den sporn, daz sich erhuop mit sprungen. deheinen man sô jungen 3455 sæhen sie baz gerîten dehein ros an den zîten, sprâchen alle die in sâhen, und begunden vast dar gâhen, den wirt frâgen mære 3460 wer der gast wære. die zwêne ouch niht vermiten, ir ros sie wol nâch rehte riten. sus seite in der genende: ‘er ist hie ellende. 3465 er hât niemen hie wan mîn. er ist ein werder Sarrazîn, ein junc man hübsch und wol gezogen, an hôhem arte niht betrogen. unser herre mac dienst an im bejagen, 3470 der im wol zimt; ir mügtz im sagen.’ Wilhalm ûf sîme rosse saz: kein mâler möht in geschicken baz. in bewîste alsô sîn hôher art. vil er dâ beschouwet wart. 83va sie gesâhen nie man sô wol getân. alsô man ritter prüeven kan, sus was geschicket gar sîn lîp. sîn mohten sich fröuwen werdiu wîp, ouch senen nâch im tougen. 3480 diz ist âne lougen: Wilhalm manic herze twanc daz ez nâch im mit jâmer ranc. Nû wart diz langer niht verdaget, dem hôhen werden wart gesaget 3485 von dem gast daz mære
Vor 3447: Freiraum für Überschrift. 3442 〈ist〉 (Krist: 3441). 3450 disiu] daz.
Der erhabene Christus hat ihm stellvertretend die Macht übertragen, jedem Christen alle Sünde zu vergeben. Drüben über dem Meer gibt es einen Papst: Hier nimmt dieser dessen Amt wahr.“ Wilhalm sprach: „Wird es ihn stören, wenn ich hier mein Pferd erprobe?“ Der Wirt antwortete: „Nein, tut das nur!“ Kaum hatte er dies gesagt, gab Gottes auserwählter Diener seinem Ross die Sporen, so dass es lossprang. Alle, die ihn sahen, bekannten, sie hätten zeit ihres Lebens nie einen so jungen Mann besser reiten sehen; und sie eilten rasch zu dem Wirt, um ihn zu fragen, wer der Fremde denn sei. (Auch seine beiden Gefährten verstanden gut, ihre Rappen nach allen Regeln der Kunst zu führen.) Der Angesprochene antwortete ihnen: „Er ist hier fremd und kennt hier nur mich. Er ist ein edler Sarazene, ein junger, höfischer und wohlerzogener Mann von hoher Geburt. Unser Patriarch sollte ihn in seine Dienste nehmen, wie es ihm ziemt; das sollt ihr ihm sagen.“ Wilhalm saß fest im Sattel: Kein Maler könnte ihn besser ins Bild setzen. Sein edler Stand bildete ihn so. Er wurde von vielen angestaunt: Man sah nie einen so schönen Mann. Er sah von Kopf bis Fuss aus, wie man sich einen Ritter vorstellt. Edle Frauen konnten sich an ihm erfreuen, auch heimlich nach ihm sehnen. Es ist nicht übertrieben: Wilhalm bezwang viele Herzen, die sich fortan nach ihm verzehrten. Nun wurde nicht länger geschwiegen; dem hohen Herrn wurde über den Gast erzählt,
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daz er ellende wære und daz er was ein heiden, als der wirt sie hete bescheiden. ouch als sie an im sâhen, 3490 dem patriarken sie verjâhen. der was ein herre wîse gemuot, dêmüetic, senfte unde guot. ein grôze dêmuot er begienc: er reit dâ er den gast enphienc, 3495 und neic im wirdecliche. dô dancte im zühteclîche in sîner zungen der süeze gast. Wilhalm stuont ie an tugenden vast darûz er trit nie was getreten. 3500 sîn herze lôsheit was erjeten. an slehte sache er sich hielt. den herren wênic des bevilt daz er in vor im halden sach. ze Wilhalms wirte er dô sprach: 3505 ‘ob mich der herre vernæme, wol mich des gezæme daz ich mit im reden solde. frâgen ich in wolde (ob ers niht hæte swære) 3510 von welchem lande er wære. ich vernæme ouch gerne sînen art, und waz uns diutet sîn übervart.’ Der wirt getriuwer worte kluoc dem gaste er holdez herze truoc. 3515 er sprach: ‘herre, des sehet an mich! er ist von arte ein fürste rîch. nû merket sînen klâren lîp: werdiu kint, ein edel wîp 83vb hât dirre süeze werde man 3520 durch Krist und grôzen rîchtuom lân, darzuo liute unde lant. Willehalm ist er genant verre über mer. er ist ein Went. nâch dem toufe er sich sent 3525 und nâch kristenlîcher ê. herre, ich muoz iu sagen mê: ichn gesach bî mînen jâren nie man sô wol gebâren. nû solt ir an im êren got: 3530 nâch iuwer wirde gebot des toufes in bereitet!
dass er ein Fremdling und Heide sei, wie der Wirt es gesagt hatte. Man berichtete dem Patriarchen auch, wie man ihn mit eigenen Augen erlebt hatte. Der Patriarch war ein weiser Herr, bescheiden, mild und edel. Er zeigte große Demut, ritt dem Fremden entgegen und begrüßte ihn ehrerbietig. Dafür dankte ihm der edle Gast höflich in seiner Sprache. Wilhalm war stets ein Muster an Tugend, nie wich er auch nur einen Schritt von ihr ab. Sein Herz bot dem Bösen keinen Raum. Er war durch und durch rechtschaffen. Der Patriarch freute sich sehr, dass er ihn vor sich stehen sah. Er wandte sich an Wilhalms Wirt: „Wenn der Herr meine Sprache verstünde, wäre es mir eine Ehre, mit ihm zu reden. Wenn er nichts dagegen hat, fragte ich ihn gern, aus welchem Land er kommt. Auch wüsste ich gern seinen Stand und was es mit seiner Reise auf sich hat.“ Der Gastherr war rechtschaffen und beredt, und dem Gast wohlgesonnen. Er sprach: „Herr, haltet Euch da nur an mich! Er stammt aus fürstlichem Adel. Betrachtet nur seine makellose Erscheinung: Hochgeborene Kinder, eine edle Gemahlin, dazu Volk und Land hat dieser edle, unerschütterliche Mann um Christi willen und für höheren Lohn verlassen. In der Ferne jenseits des Meers nennt man ihn Wilhalm. Er ist ein Wende. Ihn dürstet nach Taufe und Christentum. Herr, ich muss Euch noch sagen: Ich habe in meinem ganzen Leben nie einen so vorbildlichen Menschen gesehen. Ihr sollt Gott an ihm ehren: Bereitet ihn kraft Eures Amtes auf die Taufe vor!
3488 sie hete] sie deß hatte. 3501 slehte] rechte. 3505 der] dirre. 3529f. Versumstellung. 3529 〈nû〉.
84 | 4 Taufe und Krieg niht langer des enbeitet, irn gebt im kristenlîchez reht. er giht, er welle sîn ein kneht, 3535 aleine in heidens orden er vor sî ritter worden; sô gert er doch die ritterschaft enphâhen von des toufes kraft. grôz gerunge des hâter. 3540 des wert in, heiliger vater!’ Uz reines herzen voller maht mit einer süezen andâht diu ougen gegen himel swanc der herre und seite gote danc 3545 des und swaz er guotes tuot der kristenheit. der reine gemuot sprach lieplich ze dem koufman dô: ‘dirre mære bin ich frô daz dîn gast der werde heiden 3550 von dem irretuom wil scheiden. des toufs ich in berihte. in hôher wirde phlihte sol ich im ritterlîchez leben in rîcheit nâch dem toufe geben. 3555 sich daz dû des niht enlâst, dûn sîst morn mit im mîn gast!’ Diz was sîn flîzigiu bete. ein kriuze er über den heiden tete; der neic ouch im; der herre reit dan 3560 und bat got für den jungen man daz er im sende sînen geist mit einer süezen volleist und in behielde daran stæte, als er vernomen hæte 84ra daz er sich wolde bekêren dem hôhen got ze êren und der vil süezen muoter sîn: diu solt des sîn sîn helferîn. Wilhalme liebe was geschehen 3570 daz er den herren het gesehen. An der selben zîte ze kriege und ze strîte gein den kristen lâgen starke vil der heiden marke. 3575 von Bâbilôn der soldân und manic werlîch heidensch man,
Wartet nicht länger damit, ihn in den Christenstand zu berufen. Er sagt, er wolle Knappe sein, denn nur nach heidnischem Recht sei er einst Ritter geworden. So will er das Rittertum aus der Kraft der Taufe neu empfangen. Danach steht sein ganzes Verlangen. Heiliger Vater, gewährt es ihm!“ Mit der vollen Macht seines reinen Herzens wandte der Patriarch die Augen in heiliger Andacht gen Himmel und dankte Gott für diese und all seine guten Taten an der Christenheit. Dann sprach der Makellose freundlich zu dem Kaufmann: „Ich freue mich über die Kunde, dass Dein Gast, dieser edler Heide, von seinem Irrtum lassen will. Ich bereite ihn auf die Taufe vor. Kraft meiner Amtswürde werde ich ihn nach der Taufe feierlich in den Ritterstand aufnehmen. Du säume nicht, morgen mit ihm mein Gast zu sein!“ Darum bat der Patriarch eindringlich und schlug ein Kreuz über den Heiden, der sich bedankte. Darauf ritt der hohe Mann weiter und bat Gott für den Jüngling, dass er ihm seinen Geist in edler Vollkommenheit sende und ihn in der Absicht beständig halte, die er soeben vernommen hatte, nämlich sich zur Ehre des höchsten Gottes und seiner heiligen Mutter zu bekehren. Diese sollte ihm dabei Helferin sein. Wilhalm war beglückt von der Begegnung mit dem Patriarchen. Zu dieser Zeit lagen viele heidnische Grenzländer zu Kampf und Krieg gerüstet den Christen machtvoll gegenüber. Der Sultan von Babylon und sein kriegstüchtiges heidnisches Heer,
Vor 3571: Freiraum für Überschrift. 3532 〈des〉. 3537 〈die〉. 3564 〈als〉 (nach H; in D verderbt). 3573 〈den〉.
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der rîche voget von Baldac, der von Hallap ouch dar zornes phlac und ander manic fürste hêr, 3580 die wol vermohten starke wer. zwischen in doch was gesprochen ein fride etlîch wochen. An dem anderen tage nam der wirt, als ich iu sage, 3585 Wilhalmen ûf des herren hof. er wîste im mangen bischof und mangen werden prêlât, der under im vil der hêre hât, vil grâven, herren, ritter guot, 3590 wert und ellenthaft gemuot, mangen man den er bekande. binnen des der herre sande daz der wirt vür in quæme, sîne geste mit im næme. 3595 sie quâmen zühteclîchen vür dâ sie enphienc in werder kür der wirt sælden rîche und satzte sie êrlîche. Willehalm wol mercte diz, 3600 er gesach nie sô rîchen siz alsô dâ berihtet was al durch und durch ein wît palas. dâ was ouch fürsten genuoc, under den etlîcher krône truoc. 84rb Der patriarke disen tac Willehalmes wol gephlac. sam tet man den gesellen sîn. als ich der rede bewîset bin, der fürste ze næhste dem herren saz, 3610 andersît sîn wirt, der mit im az. daz was niht wan alsô getân daz der hôhe möhte hân antwurt nâch der frâge sîn. der solt der wirt berihter sîn 3615 zwischen im und dem gaste. sie mohten ezzen vaste. dâ was guoter spîse genuoc die man dâ vür mit zühten truoc. man truoc lûter unde clâr 3620 wîn in tiuren vazzen dar: etlîchez was ein tiurer stein, etlîchez ouch von golde schein.
der mächtige Herrscher von Bagdad, der von Aleppo: sie alle waren voll Kampfeswut, dazu viele andere mächtige Fürsten, die sich auf hitzigen Kampf verstanden. Über etliche Wochen war zwischen ihnen ein Frieden vereinbart gewesen. Am Tag nach dem Turnier, so sage ich Euch, nahm der Gastherr Wilhalm zum Patriarchenhof mit. Dort zeigte er ihm viele Bischöfe und hohe Prälaten, die über große Lehnsheere geboten, und viele angesehene, kühne Grafen, Herren, Ritter und Vasallen, die er kannte. Indessen ließ der Patriarch den Wirt und seine Gäste zu sich bitten. Sie schritten gemessen nach vorn, wo sie der glückselige Herr würdig empfing und sich in Ehren niedersetzen ließ. Wilhalm hatte noch nie so kostbare Sitze gesehen, wie sie hier quer durch den weiten Saal arrangiert worden waren. Auch viele Fürsten waren zugegen, unter ihnen etliche gekrönte Häupter. Der Patriarch behandelte an diesem Tag Wilhalm mit besonderer Aufmerksamkeit. Ebenso hielt man es mit seinem Gefährten. Wie ich gehört habe, saß der fürstliche Gast gleich neben dem Patriarchen, und auf der anderen Seite sein Wirt, der mit ihm speiste. Das war nur deshalb so geschehen, damit der hohe Gastherr mit ihm direkt sprechen konnte. Der Wirt sollte zwischen beiden dolmetschen. Das Mahl war erlesen, es gab reichlich gute Speisen, die man formgewandt auftrug. Aus edlen Krügen schenkte man reinen, klaren Wein: Hier glitzerte ein wertvoller Edelstein, dort strahlte es von Gold.
3605 disen] den. 3607 sam] alß. 3614 berihter] berichten jn. 3621f. Versumstellung.
86 | 4 Taufe und Krieg Andersît des herren sâzen künege, fürsten, die ouch âzen, 3625 vil grâven, ritter ûzerwelt, der tât ze prîse was gezelt. der dorft diu kristenheit dâ wol. Wilhalm sîn brôt verdienen sol noch mit ellenthafter hende, 3630 daz der süeze wert genende des tages und dicke sîtmâl az. nie fürste daz verdiende baz. alsô die werden gâzen und nâch dem tische sâzen, 3635 daz Wilhalm des geruochte und den touf sô verre suochte, der patriarke hêre bat im des danken sêre. er stiez im hôher fröuden zil; 3640 rîcher kleinœte vil wurden vür den herren brâht: vil sîdîn tuoch in rîcher aht, gürtel, kophe von golde rôt, 84va dâmit dem gaste er sich erbôt. 3645 willeclich enphienc er daz. sîner geverten er ouch niht vergaz. in sande der gehiure rîcher kleinœte stiure. sie nigen im und dancten sêre. 3650 Im hiez sagen der hêre wanne Wilhalm wolde daz er in toufen solde. des fürsten rede stuont alsô: ‘swan mîn herre wil, ich bin sîn frô.’ 3655 nâch al der werden râte die der patriark dâ hâte, an den andern tac wart ez geleit. dô toufte er in, ist mir geseit. an dem næhsten sunnetac dar nâch 3660 Willehalmes bete geschach daz er nâch sîner hôhen art in hôhem werde ritter wart, der sînen ouch manic edel kneht; der patriark gap in daz reht. 3665 in der wîte von Jerûsalêm dâ was der bischof von Bêtlehêm
Dem Patriarchen gegenüber saßen, ebenfalls speisend, Könige und Fürsten, zahlreiche Grafen und auserwählte Ritter, von denen sich große Taten erzählen ließen. Ihrer bedurfte die Christenheit dort dringend. Wilhalm, der Edle, Treffliche, muss sich das Brot, das er an diesem Tag und noch öfter aß, noch mit Manneskraft verdienen. Kein Fürst tat das je besser. Nachdem die hohe Gesellschaft gegessen hatte und nach Tisch noch beisammensaß, bat sie der erlauchte Patriarch, Wilhalm innig dafür zu danken, dass er von so weit her gekommen war, um die Taufe zu suchen. Wilhalm strahlte vor Glück. Man reichte dem Patriarchen kostbaren Schmuck in Fülle: Mit edlen Seidenstoffen, Gürteln und Bechern aus rotem Gold zeigte er sich seinem Gast dankbar. Dieser nahm die Gaben gern an. Er vergaß dabei nicht seine Gefährten. Der Großherzige sandte ihnen reiche Schmuckstücke als Geschenk. Sie dankten ihm von Herzen. Der Patriarch ließ ihn fragen, wann Wilhalm von ihm getauft werden wolle. Der Fürst erwiderte: „Wann mein Herr will: Ich bin bereit.“ Im Ratschluss aller Würdenträger des Patriarchen setzte man den nächsten Tag dafür an. An diesem, so wurde mir gesagt, taufte er ihn. Und am Sonntag darauf wurde Wilhalms Wunsch wahr: Er wurde seinem Rang gemäß in feierlichem Gepränge und an der Seite mehrerer seiner Edelknappen zum Ritter geschlagen. Der Patriarch erhob sie in den neuen Stand. Auf dem Anger vor Jerusalem hatten sich der Bischof von Bethlehem
Vor 3653: Freiraum für Überschrift. 3634 nâch] noch na. 3648 rîcher] vil. 3651 wanne] wan so. (‘entsprechend seinem Status’ vs. ‘ehrenvoll’).
3661 nâch sîner hôhen art] yn hoher art
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und ander phaffenvürsten gnuog. durch Willehalm die kost dâ truoc der patriarke in wirde grôz. 3670 vil kleine den süezen des verdrôz, ern wolt sînem geistlîchen sun veterlîche helfe tuon, an allen dingen reht bewarn. er bevalch diu reinen westerbarn 3675 einem wîsen kappellân, der solt sie in sîner phlege hân: ein heilic man von hôher art, sie wâren wol mit im bewart. 84vb Willehalm was sælden künftic. 3680 wol gelernic und vernünftic was der süeze fürste junge. arâbischer zunge mit lêre gie er vaste nâch, die er nû sûberlîchen sprach. 3685 der patriarke was ein wîser man, als der noch liute merken kan. er mercte an Willehalme daz sich ritter nie geschickte baz ze ritterlîchem prîse. 3690 hübsch, dêmüetic unde wîse, milte, ein wol gezogen man: dise tugende wil ellende hân. diz allez an dem fürsten was. eines tages ûf den palas 3695 bat in der patriarke komen. dar quam er, als er het vernomen. der herre mit fuoge witzen bat in zuo im sitzen, Willehalm, als er wol kunde. 3700 sîner rede er sus begunde: ‘herre, ez ist nû komen sô daz ir sît unser sælden frô. unser leit und unser klagen solt ir nû mit uns swâre tragen. 3705 herre, uns nâhet strîtes zît. sehet wie harte ez uns nû lît. grôz überfluot der heidenschaft ist uns gehaz mit zornes kraft. sie bræhten uns gerne zir gebote 3710 und daz wir solden ir abgote
und viele andere geistliche Fürsten versammelt. Wilhalm zu Ehren übernahm der Patriarch großherzig die Kosten. Der heilige Herr ließ es sich nicht nehmen, seinem geistlichen Sohn wie ein Vater zu helfen, in allen Dingen recht zu handeln. Die engelgleichen Täuflinge gab er einem erfahrenen Kaplan in Obhut, der sich ihrer annehmen sollte. Er war ein heiligmäßiger Mann von hoher Geburt, sie waren bei ihm gut aufgehoben. Wilhalm hatte sich das Heil erworben. Der edle, junge Fürst war gelehrig und verständig. Er lernte mit Eifer Arabisch, bis er es flüssig sprach. Der Patriarch war weise, wie jeder, der über Menschenkenntnis verfügt. Er erkannte an Wilhalm sein vielversprechendes ritterliches Wesen. Die Tugenden der Höflichkeit, Demut und Klugheit, Freigebigkeit und Wohlerzogenheit, die die Fremde verlangt, waren ihm gänzlich vertraut. Eines Tages berief ihn der Patriarch in den Palas. Wilhalm hörte und kam. Der Herr bat ihn höflich, bei ihm niederzusitzen, was Wilhalm gern tat. Er sprach: „Herr, es ist nun so gekommen, dass unser Glück auch das Eure wurde. Ihr werdet nun auch unser Leid und unser Klagen als Bürde mit uns tragen. Herr, uns steht Krieg ins Haus. Seht, in welche Bedrängnis wir geraten sind. Die überbordende Heidenschaft hasst uns mit Grimm. Sie würde uns gern ihrem Gebot unterwerfen und es dahin bringen, dass wir ihre Götzen
3674 diu reinen] dy keynen (d.h. er vertraute sie keinen Glaubensneulingen an, sondern einem glaubensfesten Kaplan). 3680 gelernic] gelernt (gelehrig vs. gebildet; im einen Fall ist die Lernfähigkeit, im andern die Bildung des Helden betont). 3692 wil] wollent (DH; Subjekt ist tugende, Pl.; Sinn etwa: diese Tugenden gedeihen gerade in der Fremde gut). 3701f. Versumstellung. 3701 nû] vnß nu. 3702 〈daz〉.
88 | 4 Taufe und Krieg mit in êren und anbeten und ûz Kristes glouben treten, daz wir unser ê verkürn und daz himelrîche vlürn, 3715 daz uns got der guote hât gekouft mit sînem bluote, 85ra der sich durch unser êwic leben an den tôt hât gegeben und uns gap den hôhen segen 3720 des wir mit dem kriuze phlegen. daz kriuze ist schirm unde dach vür allez hellisch ungemach. swer under dem kriuze erstirbet, wie sæleclich er wirbet! 3725 wan im gît Krist ze lône daz er in sîme trône mit im dort êwic wesen sol. dâ ziert diu krône fürsten wol dâ mite sie krœnt der hôhe got. 3730 sô müezen (ôwê!) jâmers nôt iemer haben die heiden mit dem tiuvel, sô si verscheiden. mich ze erbarmenne diz hât, wan sie sint gotes hantgetât. 3735 iuwer helfe wir, herre, durfen wol, diu uns gein vînden trœsten sol. gebricht iu ihts, daz saget mir: des werdet wol berâten ir.’ Wilhalm ûz süezem herzen sprach: 3740 ‘tuont iu die heiden ungemach und swærent sie die kristenheit, herre, daz muoz mir wesen leit. swaz sie iu tuon, deist mir getân sît daz ich kristennamen hân, 3745 den ich mit iu gemeine trage. durch Krist ich niemer des verzage und, herre, durch die wirdekeit die des toufes orden treit, dâ von nâch Krist wir sîn genant: 3750 ich sol mit werlîcher hant und durch iuch gein den heiden komen swie vil daz iu mac gefromen.’ Wilhalm sprach: ‘nû gebet mir her des kriuzes schirm, daz ist mîn ger. 85rb daz suln ouch mîne kompân alhie von iuwer hant enphân.’
mit ihnen verehren und anbeten und dem Christenglauben abschwören. Wir sollen unseren Glauben verraten und das Himmelreich verlieren, das uns der edle Gott mit seinem Blut erwarb, indem er sich für unser ewiges Leben dem Tod anheimgab und uns den himmlischen Segen schenkte, den wir im Kreuzzeichen verehren. Das Kreuz ist Schirm und Dach gegen alle höllische Unbill. Wie selig stirbt der, der im Zeichen des Kreuzes stirbt! Denn Christus hält für ihn den Lohn bereit, ewig an seiner Seite auf seinem Thron zu sitzen. Dort ziert die Fürsten die herrliche Krone, mit der der höchste Gott sie krönt. Dagegen müssen, ach!, die Heiden bei Satan auf ewig Not und Jammer erleiden, wenn sie gestorben sind. Dies muss mich erbarmen, denn sie sind Gottes Geschöpfe! Herr, wir bedürfen Eurer Hilfe sehr, die uns Zuversicht gegen die Feinde spendet. Fehlt es Euch an etwas, so sagt es mir: Ihr werdet es bekommen.“ Wilhalm sprach aus reinem Herzen: „Wenn die Heiden Euch bedrücken und die Christenheit bedrängen, dann schmerzt das auch mich, oh Herr. Was sie Euch tun, tun sie auch mir, weil ich den Christennamen mit Euch gemeinschaftlich trage. Herr, um Christi und der Würde willen, die das Sakrament der Taufe birgt, durch das wir Christen heißen, werde ich nicht zagen: Ich werde mit tapferem Arm für Euch gegen die Heiden ziehen, ob ich für Euch etwas ausrichten kann oder nicht.“ Wilhalm fuhr fort: „Gebt mir nun den Schutz des Kreuzes: Das ist mein Wunsch. Auch alle meine Gefährten sollen ihn hier aus Eurer Hand empfangen.“
3714 himelrîche] hymlich. 3742 muoz] sal. 3744 〈daz〉. 3747 die] din. 3754 ger] wer (‘der Schutz des Kreuzes ist meine Waffe’).
4 Taufe und Krieg | 89
die sach man dort mit zühten stên. sie muosten vür den herren gên und muosten bieten dâ ir eit 3760 daz sie hulfen der kristenheit. daz sie mit willen tâten. des kriuzes sie ouch bâten in einer süezen andâht. got hât voller gâbe maht. 3765 Dô fuorte sie der herre dan ze dem heiligen grabe sân, daz kriuze von im enphiengen, daz lieplich an sich hiengen in des hœsten Kristes namen. 3770 sîne knehte daz alle mit im nâmen. des was der patriarke frô. dar nâher hiez er ziehen dô fünfzehen schœniu kastelân. ieglîcher muoste dâ einez hân. 3775 darzuo ein harnesch vollen guot gap in der herre reine gemuot. Darnâch ez kurzlich sô geschach daz den vride widersprach gein in ein werder heidensch man, 3780 den sande dar der soldân. daz schreip der patriarke in al der kristen marke daz in der soldân het entsaget. den werden bruodern er ez klaget 3785 von unser vrouwen spitâl. die bruoder erz ouch niht verhal von dem spitâl sant Jôhannes, des vil heiligen mannes. der künic von Ubiâne 3790 was sîner brieve niht âne. 85va die herren von dem Tempel heten derselben rede exempel. diu mære heten sie vernomen. in wâren ouch die brieve komen 3795 von dem argen soldân: das heilige grap wolde er hân. Swaz dâ was des kristenhers daz man sprichet jensît mers: als sie diu mære vernâmen, 3800 genendeclich sie quâmen mit kraft ze Jerosolimis.
Die Genannten standen schicklich dabei. Sie mussten vor den Patriarchen treten und ihm eidlich geloben, der Christenheit zu helfen. Das taten sie mit festem Sinn. In heiliger Andacht baten sie um das Kreuz. Gott kann alles geben. Und so führte sie der Patriarch zum Heiligen Grab, um ihnen das Kreuzzeichen zu verleihen. Im Namen des höchsten Christus hefteten sie es sich freudig an. Alle Gefährten Wilhalms nahmen mit ihm das Kreuz. Der Patriarch war beglückt. Er ließ fünfzehn prächtige Kastilianerrosse herbeiführen, von denen jeder eines erhielt. Dazu gab ihnen der edelmütige Herr ausgezeichnete Harnische. Nicht lange danach kündigte ein edler Heide, ein Gesandter des Sultans, die Waffenruhe auf. Der Patriarch schrieb in die gesamte Christenheit, dass ihnen der Sultan den Krieg erklärt habe. Er klagte es den edlen Brüdern vom Spital unserer Jungfrau Maria und verschwieg es auch nicht den Brüdern vom Spital des hochheiligen Sankt Johannes. Auch der König der Nubier blieb nicht unbenachrichtigt. Die Herren vom Templerorden erhielten ebenfalls Abschriften der Botschaft und erfuhren so die Kunde. Auch zu ihnen waren die Briefe über den arglistigen Sultan gekommen: Er wollte das heilige Grab erobern. Was da an christlichen Scharen in Outremer war, sie alle zogen mit Heeresmacht nach Jerusalem, sobald sie die Nachricht vernommen hatten.
3758 sie] die. 3766 sân] daz sie san (‘sogleich’ vs. ‘das sie sahen/besuchten’). 3774 Vers doppelt ausgeführt. 〈dâ〉. 3784 er ez] eß iß (gleiche Aussage passiv formuliert). 3786 erz ouch niht verhal] eß … verhalle[n]. 3797 dâ] so.
90 | 4 Taufe und Krieg strîtes wâren sie gewis. dar ûf sie sich bereiten. niht sie mê dô beiten. 3805 ze bîhte sie alle quâmen, daz lebende heil sie nâmen: wâren menschen, wâren got, der ie den sînen half ûz nôt ir sêlen ze gemache, 3810 den ich under des brôtes dache daz ob dem altâr der priester segent, (die des dô phlâgen und noch phlegent) geloube einen got drîvaldic, über alle geschaft geweldic. 3815 Wilhalm dâ der werde gast was nû an dem glouben vast. aleine er sünden lîhte was, iedoch ze bîhte sach man den herren gâhen, 3820 den lebenden trôst enphâhen. Er erdâhte ein wâpen vremde: sîn snêvar westerhemde wolde er ze wâpenrocke hân. vorne unde hinden daran 3825 man zwei guldîn kriuze nât. der kamerer ouch des selben bat. der dritte het westerkleides niht: 85vb ein samît wîzer varwe lieht was des ritters wâpenkleit, 3830 ouch mit den kriuzen wol bereit. ietweder sît zwei venelîn mit den zeichen guldîn wîz man ûf ir helme bant. derselben varwe ir schilt erkant, 3835 der rosse kovertiure alsam. schehter wîz buckeram den zwelef knehten wart gesniten. rôtiu zeichen nâch des kriuzes siten ûf dem wîzen man dâ sach. 3840 daz kriuze was in nôt ir dach. Die werden Templeise ze des strîtes reise alsam sich berihten, an dieselbe wât sie phlihten, 3845 alsô sie wolden dienen gote. Wilhalm wol zierte der herren rote. er wolde ir strîtgeselle sîn; daz wart an sælden ir gewin.
3804 〈dô〉. 3834 ir] ist.
Sie wussten, dass es in den Krieg gehe, und rüsteten sich dafür. Sie warteten nicht länger, strömten alle zur Beichte und nahmen zur Beruhigung ihrer Seelen die heilige Eucharistie: den [Leib des] wahren Menschen und wahren Gottes, der den Seinen seit je aus der Not geholfen hatte und an den ich in der Gestalt des Brotes, das der Priester über dem Altar weiht (so damals wie noch heute) als den einen, dreifaltigen Gott glaube, der über die Schöpfung herrscht. Wilhalm, der edle Landfremde, war nun ganz fest im Glauben. Auch wenn er kaum Sündenlast trug, sah man ihn doch zur Beichte eilen und die lebenspendende Eucharistie empfangen. Er dachte sich eine fremdartige Rüstung aus: Sein schneeweißes Taufkleid wollte er als Waffenrock tragen, auf das vorne und hinten je ein goldenes Kreuz genäht war. Der Kämmerer erbat für sich das gleiche. Der dritte hatte kein Taufkleid, er trug als Waffenkleid ein strahlend weißes Samtgewand, das ebenfalls mit Kreuzen versehen war. Dann ließ sich jeder von ihnen zwei weiße Fähnchen mit goldenem Kreuz auf seinen Helm binden. Von gleicher Farbe waren ihre Schilde und die Pferdedecken. Weiße Kleider aus Leinenzeug erhielten die zwölf Knappen. Das Weiß sah man bei ihnen mit roten Kreuzzeichen verziert. Das Kreuz war ihr Obdach in Kampfesnot. So richteten sich die edlen Tempelritter zur Kriegsfahrt und kleideten sich dabei wie für den Gottesdienst. Wilhalm war die Zierde der herrschaftlichen Schar. Er wollte ihr Kampfgefährte sein, was ihr Kriegsglück steigerte.
4 Taufe und Krieg | 91
Der soldân von Bâbilô und der herre von Damascô und von Hallap der voget, des gewalt sich wîten zoget, vil fürsten ûz der heidenschaft die von hôhes artes kraft 3855 an ir gewalde wâren hêr, mit den quâmen starke wer dem ungelouben ze helfe in kostbærem gelfe ze Jerûsalêm vür die stat. 3860 swaz von rîcheit wunder hât gesehen ie ervarner man, diu sach man bringen ûf den plân. von heiden erwelte ritter guot wol geborn und menlich gemuot 86ra ir vînden engegen fuoren. von bûsînen und tambûren was dâ ungevüeger schal. manic heidensch horn dâ lûte erhal. pûken, floiten, schalmîen vil, 3870 (daz heizent der herverte spil) der gedœne was dâ grôz. der koste die fürsten niht verdrôz. nâch der hœsten gebote sach man bringen ir abgote 3875 ûf karratschen rîch gezieret. in liehtez golt verwieret sach man mangen tiuren stein, der in liehter varwe schein von der karratschen masten, 3880 die Jupiter dâ lasten, Appollo, Machmet, Tervigant. die wârn den heiden wert erkant. zuo in was flîzic ir gebet, als noch ir ungeloube stêt. 3885 Wie schône sie dâ lâgen, waz sie hôchfertens phlâgen, dâ wære vil ze sprechen von. der Damascus und der Bâbylôn und der voget von Hallap, 3890 ir harnesch rîcheit wunder gap; nâch minne geldes lône gemeine sie quâmen schône ritterlîchen ûf daz velt. man sach dâ manic rîch gezelt 3895 allenthalben ûf geslagen, 3850
3882 〈die〉 (Apokoinu beseitigt).
Mit dem Sultan von Babylon, dem Herrscher von Damascus dem Vogt von Aleppo, dessen Macht weit reichte, und vielen weiteren Fürsten der Heidenschaft, die dank ihres hohen Standes äußerst mächtig waren, zogen starke Heere in reicher Pracht auf Seiten der Ungläubigen vor die Stadt Jerusalem. Eine wunderbare Fülle an Pracht, wie sie sonst nur Weitgereiste erleben, sah man hier auf dem Anger zusammenströmen. Auserlesene Heidenritter, hochgeboren und tapfer gesinnt, zogen ihren Feinden entgegen. Ohrenbetäubender Lärm kam aus Posaunen und Trommeln. Heidnische Hörner erdröhnten. Pauken, Flöten und Schalmeien (was man so Kriegsmusik nennt) erschallten weithin. Kein Aufwand war den Fürsten zu groß. Auf Geheiß der Anführer sah man die Heiden ihre Götzen auf prächtig verzierten Wägen herbeikarren. Man sah vielerlei in hellem Gold gefasste Edelsteine, deren strahlender Glanz von den Gerüsten auf den Wagen gleißten, die Jupiter, Apoll, Machmet und Tervigant trugen. Die Heiden verehrten sie, zu ihnen beteten sie mit Inbrunst, wie es ihr Unglaube bis heute verlangt. Es ließe sich noch viel darüber sagen, wie machtvoll sie da lagerten und welchen Aufwand sie trieben. Die Harnische derer von Damascus und Babylon und des Vogts von Aleppo strahlten in wunderbarer Pracht. Sie kamen für Minnelohn gemeinsam und prächtig in ritterlichem Zug auf das Feld. Man sah da überall kostbare Zelte aufgeschlagen,
92 | 4 Taufe und Krieg diu kemel brâhten dar getragen, merrinder unde dromedâr. olbenden kost truogen dar als sie dâ lange wolden ligen. 3900 sie hoften genzlich gesigen an der werden kristenheit: 86rb Willehalm daz underreit. Dô der strît zesamene quam, sic und prîs er aldâ nam 3905 mit der werden geselleschaft. die Sarrazîn mit strîtes kraft wurden von im an gerant und gar mit werlîcher hant sîn sper er flügelîchen stach 3910 ûf einen heiden daz ez zebrach, der mit kostelîcher wer gein im quam ûf lîbes zer. der nam von sîner hende doch ritterlîchez ende. 3915 dâmite samnete sich der strît. ir beider krîe wart geschrît. Wilhalm ze helfe der kristenheit durch Krist sô manlîchen streit daz ez tet niemen baz dan er. 3920 ez wære diser oder der, künic, fürste oder vrâl, bârûn oder emerâl, esklîr oder amazzûr, sîn kunft in allen wart ze sûr. 3925 sus er sich prîse nâhte. swaz er zer erden brâhte aldâ in strîte der Sarrazîne, die von im liten swære pîne, beidiu verwunt und erslagen, 3930 die zal kan ich iu niht gesagen, wan die heiden des bevilte des er dô mit in spilte. sîn swert ir mangen dâ versneit; er vuor wol swer im entreit. 3935 ungefüege was sîn zuht. 86va die heiden brâhte er an die fluht; der wurden an dem nâchjagen sô vil gefangen und erslagen daz der voget von Bâbilô
die auf Kamelen, Meerrindern und Dromedaren mitgeführt worden waren. Kamele schafften Proviant bei, als wollten sie lange dort lagern. Sie hofften auf einen vernichtenden Sieg über die edle Christenheit. Das wusste Wilhalm zu verhindern. Als das Treffen begann, errang er dort den Siegespreis mit seiner edlen Gesellschaft. Die Sarazenen wurden im Sturm von ihm angegriffen. Er stieß mit kräftiger Hand seinen Speer wie im Flug, so dass er brach, gegen einen Heiden, der ihn in erbitterter Abwehr anrannte, um ihn zu töten. Der Heide nahm durch Wilhalms Hand jedoch ein ritterliches Ende. Damit verdichtete sich das Kampfgetümmel. Beide Seiten ließen ihre Schlachtrufe hören. Wilhalm kämpfte für Christus so tapfer zur Rettung der Christen, dass ihn niemand übertraf. Wer er auch sein mochte, König, Fürst oder Vral, Baron oder Amiral, Eskelir oder Almanzur, für sie alle endete die Begegnung mit ihm allzu bitter. So erwarb er sich wachsenden Ruhm. Ich kann Euch nicht sagen, wieviele Sarazenen er im Kampf zu Boden brachte, so dass sie durch ihn, verletzt oder gefallen, schwere Pein erlitten. Jedenfalls verdross es die Heiden, was er da mit ihnen trieb. Sein Schwert durchhieb viele von ihnen; gut tat, wer vor ihm floh. Mit Ungestüm trieb er die Heiden in die Flucht. Bei ihrer Verfolgung wurden so viele gefangen und getötet, dass sich der Vogt von Babylon
Vor 3903: Freiraum für Überschrift. 3902 underreit] wyder reit (bildhafter: ‘ritt dagegen an’). 3917 ze helfe] durch helff. (nicht verstanden?). 3930 〈iu〉 (D hier ohne Publikumsapostrophe).
3922 emerâl] meral
4 Taufe und Krieg | 93
und der herre von Damascô und der herre von Hallap durch lîbes nôt die fluht gap. sus wart in sic abe gestriten; sie fuoren wol die im entriten. 3945 die kristen frœlîchen gewin ze Jerûsalêm fuorten hin, dô der strît was ergangen, an prîse und an gevangen. Wilhalm schuof ez alsô dâ 3950 und dicke sîtmâl hernâ daz man im hôhes prîses jach. an den heiden hernâch gewan er mange rîche habe, die er ritterlîchen abe 3955 in gewan; wan er des phlac daz er selden sich verlac, swâ er die vînde woste. mit strîte und mit joste dicke er sie besuochte, 3960 als sîn manheit des geruochte gegen den heiden sîn ze wer. wol was von im dem kristenher, wan sie ze aller zîte gesigeten in ir strîte. 3965 die heiden wâren sêre bedröut, die kristen gerlich ervröut daz sie ze helfe hâten den fürsten, dem sie tâten êre swâ sie mohten. 3970 sô verre sô sie tohten, ze dienstlîcher wirdekeit sie wâren willic im bereit. 86vb An fürstlîcher tugende was er sich vermugende. 3975 swaz er den heiden abebrach, als im sîn süezer art verjach, daz was milteclich vergeben. er konde wirdeclîchen leben und was allen liuten wert, 3980 ze allen sachen unervært die ze wirde tohten. sîn herze was geflohten in eine süeze reinekeit. daz gap vor gote im wirdekeit. 3985 nie er ze deheinen stunden in untât wart ervunden. 3940
3961 〈sîn〉.
und die Fürsten von Damaskus und Aleppo aus Sorge um das nackte Leben zum Rückzug entschlossen. So wurde ihnen der Sieg entrungen. Wer Wilhalm entkommen war, hatte Glück. Nachdem die Schlacht beendet war, brachten die Christen die Beute an Ruhm und Gefangenen siegesfroh nach Jerusalem. Wilhalm war hier geglückt, was ihm später noch oft glücken sollte: dass man ihm höchstes Lob zollte. Er sollte von den Heiden später noch mehr kostbare Beute nehmen, die er ihnen ritterlich abgewann. Denn er pflegte sich nie im Müßiggang zu schonen, wo er Feinde wusste. Im Scharkampf und in der Tjost suchte er sie regelmäßig heim, denn sein Mannesmut verlangte danach, gegen die Heiden stets kampffertig zu sein. Die Christen hatten es gut durch ihn, denn in ihren Kämpfen war ihnen der Sieg stets sicher. Die Heiden waren eingeschüchtert, die Christen hocherfreut, dass sie den Fürsten als Helfer besaßen; sie erwiesen ihm Ehre, wo sie nur konnten. Sie rangen darum, ihm Ehrendienste zu leisten, wo immer es ging. Er war vollkommen an fürstlicher Vortrefflichkeit. Was er den Heiden nahm, schenkte er selbstlos weiter, wie es ihm seine Großmut eingab. Er verstand, würdig zu leben und war von allen geschätzt, unbändig in allem, was Ansehen brachte. Sein Herz war von edler Reinheit umstrickt. Das gab ihm auch Ehre vor Gott. Nie und zu keiner Zeit überraschte man ihn bei einer unrechten Tat.
94 | 4 Taufe und Krieg sô er des muoze mohte hân, sô muoste im ie sîn kappellân etewaz von gote sagen. 3990 daz konde er alsô suoze tragen daz er des niemer mêr vergaz. ze valscher fuore was er laz. der hôchgelobten künegîn wolde er in sunderm dienste sîn. 3995 des mit manger wunden die Sarrazîne enphunden, swer mit strîte an in quam. ir was vil den er dô nam ir leben mit werlîcher hant. 4000 swer ie helm gein im verbant, an dem erwarp der hêre prîs und siges êre. mit manger jost gevelle er fromte ir vil zer helle. 4005 Willehalmes überkêr wîben siufzic herzensêr gap und jâmers volle nôt umb manges werden heiden tôt den sîn hant von leben schiet. 4010 sus im sîn menlîch ellen riet. 87ra der heiden prîs er an sich las. Wilhalm dâ niht eine was: der er mit liebe nie vergaz, alsô daz herze sîn besaz 4015 diu süeze klâre herzogîn. des engalt manic Sarrazîn. alsô was er in liebe ger: in allen vanen an sînem sper was ir süezer name ergraben 4020 mit grôzen guldîn buochstaben. in der enge und an der wîte, an der joste und an dem strîte swer Willehalme engegen quam, prîs und sic er an im nam. 4025 vrou Bêne tet hie den vînden wê.
3998 〈dô〉 (gegen DH). 4023 swer] welicher.
Wann er dafür Muße fand, musste sein Kaplan ihm etwas von Gott erzählen. Das ergötzte ihn so, dass er nie mehr etwas davon vergaß. Falschheit focht ihn nicht an. Der hochverehrten Himmelskönigin wollte er ganz besonders dienen. Das mussten die Sarazenen, leidvoll erfahren, die gegen ihn antraten. Es waren viele, denen er mit tapferer Hand ihr Leben nahm. Wer je seinen Helm gegen ihn band, an dem erwarb der Erlauchte Ruhm und Siegerehre. Mit tödlich geneigtem Speer schickte er viele Gegner zur Hölle. Wilhalms Fahrt über Meer stürzte Frauen in schweres Leid und klägliche Not durch den Tod vieler edler Heiden, die seine Hand vom Leben schied. Sein Mannesmut trieb ihn dazu. Er gewann sogar Ruhm bei den Heiden. Wilhalm war dabei nicht allein: Immerzu dachte er in Wehmut an die edle, schöne Herzogin, so sehr besaß sie sein Herz. Das büßten viele Sarazenen. Alle Fähnlein an seinem Speer trugen in großen goldenen Buchstaben ihren süßen Namen: So stark war seine Sehnsucht nach ihr. Wer im Gedränge oder auf freiem Feld, in der Tjost oder im Kampf Wilhalm zu nahe kam, dem raubte er Ruhm und Sieg. Frau Bene war es, die den Feinden hier die Wunden schlug.
5 Herzogin Bene (v. 4026–5048) Orts- und Protagonistenwechsel: Bene ist noch in der Obhut der Witwe, ihr Ruf lockt viele Werber, die sie alle zurückweist. Nach dem Tod des Herzogs stürzt das Exilland in einen fünfjährigen Feudalkrieg um die Macht. Ein reicher Kaufmann und Bürger stellt den Großen auf einem Landtag die schrecklichen Verwüstungen und die Not aller vor Augen und entwickelt in einer großen Rede einen Vorschlag zur Lösung der Krise. Er empfiehlt die Bildung eines 28-köpfigen Wahlausschusses, aus dessen Mitte ein engeres, aus vier Räten bestehendes Kolleg bestimmt werden solle, um bei Uneinigkeit der Mehrheit eine Entscheidung zu erzwingen. Es gelingt ihm, die Aufmerksamkeit des Viererkollegs, dem er selbst angehört, auf die Exulantin Bene zu lenken: In einer Situation, in der ein Einheimischer sich kaum gegen die argwöhnischen Pairs durchsetzen und ein Landfremder eigene Leute vorziehen würde, sei die fremde Frau ein Vorteil, zumal wenn man sie auf Probe wähle. Benes anschließende Wahl zur Herzogin für (zunächst) ein Jahr wird von allen begrüßt. Eine Gesandtschaft zieht zu ihrer Herberge und bietet ihr Geleit in die Burg. Bene bindet die Annahme der Wahl an kluge Konditionen, beruft einen Hofrat, reformiert die Landesverfassung, gibt allen Städten ein Recht und ordnet mit Umsicht und Geschick das zerrüttete Land. Der bürgerliche Rat übernimmt die Verwaltung der Einnahmen zur See, ein Kämmerer verwaltet diejenigen zu Lande. Die positiven Folgen zeigen sich bald: Der Friede ist wiederhergestellt, der Wohlstand wächst, das Land steigt neu auf. Doch Bene quält weiterhin die Sehnsucht nach ihrem Mann und den Kindern (Erzählerkommentar: Minne verbindet und hilft über die Trennung hinweg). Sie beauftragt einen Knappen, alle im Hafen anlandenden Fremden zu ihr einzuladen. (Erzählerkommentar: Namensexkurs zu Bene/Guta und Böhmen; Selbstnennung Ulrichs und Demutsfloskel gegenüber Wolfram, der den Fürstenpreis besser bewältigt hätte.) Nach dem Probejahr ist das Land glücklich mit seiner Fürstin vereint, man möchte ihre Herrschaft verstetigen und drängt sie zur Heirat. Bene lässt die Boten des Landes Treue auf einen (ungenannten) Mann schwören, den ihr Herz sich erwähle. Nach fünf Jahren landen dänische Pilger im Hafen. Sie belehren Bene über Christus (Themen Kreuzestod und Sakramente) und erzählen von den Kämpfen um Christi Grab, bei denen die Heiden trotz großer Überzahl unterlagen. Dies sei einem Mann zu verdanken, der als Heide erst kurz zuvor in Jerusalem getauft worden sei. Der tapferste Heide, ein Verwandter des Sultans, habe ihn zum Zweikampf gefordert, wurde besiegt und zur Taufe genötigt.
4030
4035
4040
Wie ez nû der klâren stê? dô was ouch sie in senender nôt. ir wîplich sin ir daz gebôt daz sie kiusche wolde leben. ir was ein süezez lop gegeben mit wârhaftem mære daz sie diu schœnste wære die man bî ir zîten vant. nie wîp sô wert wart erkant. alle die sie ie gesâhen, gemeinlich ir des jâhen. Diu stat het rîcher heiden vil. wîp gebent hôher fröuden zil, wîplîch güete machet frô: daz was ie, als was ez dô. vrou Bêne manic herze twanc
4035 alle die] alle sich dy.
Wie aber geht es inzwischen der Schönen? Auch sie war zu dieser Zeit von Sehnsucht erfüllt. Ihre Frauentreue gebot ihr ein keusches Leben. Ohne jede Schmeichelei rühmte man ihr nach, sie sei die schönste Frau, die es zu ihrer Zeit gab. Nie wurde eine Frau auch für so edel gehalten. Alle, die sie einmal gesehen hatten, stimmten in dieser Meinung überein. In der Stadt wohnten viele mächtige Heiden. Nun sind Frauen der Inbegriff der Lebensfreude, und weibliche Tugend spendet Glück; so war es stets, und so war es auch da. Frau Bene schlug viele Herzen in ihren Bann,
96 | 5 Herzogin Bene daz ez nâch ir in kumber ranc. nu was diu schœne des niht erlân, nâch ir minne manic man 4045 doch gezogenlîchen warp. ir aller werben gar verdarp. sie funden an der jungen niht 87rb wan des man reinen wîben giht: ein herze an vesten triuwen ganz, 4050 an lûterlîcher kiusche glanz, bescheiden wort und wîsen sin. swer ie besaz die herzogîn, er wær grâve, ritter, koufman, und bôt ir swaz er mohte hân, 4055 dirre bürge, liute, lant, der ander silber, golt, gewant, jener lîp und al sîn guot: niht moht verkêren ir den muot. sie wolde nâch im kiusche leben 4060 dem sie von êrste sich hete ergeben. swer mit rede sie besaz, ir antwurt sie sô gevuoge maz daz er sîn tôrlîch werben sîtmâl liez verderben 4065 und nam umb ander sache rât. ditze wort diu vrouwe hât an manne joch an wîbe daz nie an menschen lîbe solîch wîsheit sî vernomen. 4070 ir rât wolt allen liuten fromen. Des was sie al den werden wert. wol sie diu solcher wirde gert darnâch sie mit flîze warp! der alde herzoge starp, 4075 der des landes herre was, âne erben, alsô ich daz las. er enliez kinder noch wîp. mit hôhen êren des fürsten lîp wart der erden gegeben. 4080 darnâch unvereinet leben begunden die lantherren und sich mit einander werren. sie stiften roup unde brant und wuosten starke ir eigen lant. 4085 einer wolt den andern twingen 87va und im ze dienste bringen, der im was wol ebenhêr. sus warp daz tôrehte her
4050 kiusche] truwe. 4051 wîsen] festen.
so dass sie sich nach ihr verzehrten. Es blieb der Schönen nicht erspart, dass viele Männer – indes mit Anstand – um ihre Liebe warben. Ihr aller Werben blieb vergeblich. Sie fanden bei der jungen Frau nichts Anderes als das, was man allen reinen Frauen zugesteht: ein Herz von unfehlbarer Treue und makelloser Reinheit, kundige Rede und klugen Verstand. Jeder, der die Herzogin umwarb, mochte er Graf, Ritter oder Handelsherr sein, mochte er ihr bieten, was er auch hatte – dieser Burgen, Leute, Land, ein Anderer Silber, Gold, edle Stoffe, ein dritter sein Leben und all seine Habe –, nichts und niemand konnte ihren Sinn wenden. Sie wollte keusch bleiben in Erwartung des Mannes, dem sie sich zuerst hingegeben hatte. Wenn jemand sie mit Reden belagerte, wusste sie so geschickt zu antworten, dass er sein törichtes Werben fortan bleiben ließ und sich anderen Dingen zuwandte. Jeder, Männer wie Frauen, bescheinigte der Fürstin, dass man keinen Menschen von solcher Weisheit kannte. Ihr Rat nutzte allen. So war sie im Adel beliebt. Wohl allen, die so ehrgeizig wie sie nach solchem Ruhm streben! Da starb ohne Erben, wie ich gelesen habe, der alte Herzog, der der Herr des Landes gewesen war. Er hinterließ weder Kinder noch Frau. In feierlicher Zeremonie wurde der fürstliche Leichnam der Erde zurückgegeben. Darauf begann der Landadel, in Zwietracht zu fallen und einander zu befehden. Die Herren raubten, brandschatzten und verwüsteten ungehemmt ihr eigenes Land. Einer wollte den andern unterwerfen und sich dienstpflichtig machen, obwohl dieser ihm völlig ebenbürtig war. Das Narrenheer ruhte nicht,
5 Herzogin Bene | 97
biz sie einander gar verderbten und ir hêrschaft sich enterbten. swer daz hât vür kluocheit — ich zel ez vür ein affenheit swer durch sînen übermuot an im selben übel tuot. 4095 Der herren haz unde nît wert under in und dirre strît vollic in daz fünfte jâr. sie hæten sich enterbt sô gar: solt ir urliuge langer stên, 4100 sie muosten von ir hêrschaft gên. wîslîche sie genanden, bî zît sie wider wanden. in die stat einn hof sie nâmen. dar sie gemeine quâmen. 4105 den bürgern wart ouch dar geboten, und wart gelobet bî ir goten daz sie niemer schieden dan, sie wolden einen herren hân. Dô sie zesamene wâren komen 4110 als sie den tac dô heten genomen, und ir rât unde ouch ir wort gemeinlîchen wart gehôrt, dô stuont ir wille ungelîch. sie kunden niht vereinen sich, 4115 daz sie überein des quæmen und einen herren in næmen. dirre wolt sus und jener sô. von der stat ein bürger dô ze in genendeclîchen sprach. 4120 grôzer wîsheit man im jach, er was ein wol geredic man. sîner worte er sus began: ‘sagt mir, ir herren, umbe waz welt ir aber lâzen daz 87vb ir niht ein hêrschaft kieset? ir hât verlorn und noch verlieset die êre nâch dem guote. entwîchet iuwerm muote! ir sult kiesen einen voget. 4130 und ist daz ir daz langer zoget, wert iuwer kriec noch ein jâr, ir verderbt iuch alsô gar daz ir sîn niemer wider komet. seht, waz iuwer kriec iu fromet! 4135 ir swachet iuwer hôhez leben, 4090
4103f. Versumstellung. 4111 〈ouch〉.
bis alle einander ganz zugrunde richteten und ihrer Herrschaft beraubten. Mag einer das klug nennen – ich halte es für Affengehabe, wenn man aus Überhebung sich selber schadet. Der Hass und die Feindschaft der Herren und der erwähnte Krieg währten unter ihnen mehr als vier Jahre. Sie hatten sich selbst ganz und gar um ihr Erbe gebracht: Dauerte ihr Krieg noch länger, so wäre es um ihre Herrschaft geschehen. Doch erwiesen sie sich als klüger und besannen sich noch rechtzeitig. Sie vereinbarten einen Hoftag in der Stadt. Gemeinsam kamen sie dorthin. Auch die Bürgerschaft wurde zu dem Hoftag entboten, und bei ihren Göttern wurde gelobt, dass die Versammlung nicht auseinanderginge, ehe sie nicht einen neuen Herrn gewählt habe. Als zum festgesetzten Termin alle eingetroffen waren und ihr Entschluss und Gelübde von allen gehört worden war, war es mit der Einmütigkeit wieder vorbei. Die Versammelten konnten sich nicht darauf verständigen, einvernehmlich einen neuen Landesherrn einzusetzen. Der eine wollte dies, der andere das. In dieser Lage erhob ein Stadtbürger kraftvoll die Stimme, dem man große Weisheit zusprach und der sehr beredt war. Er sprach folgendermaßen: „Erklärt mir doch, edle Herren, warum schafft Ihr es nicht, eine Herrschaft einzurichten? Ihr habt bereits Besitz und Ehre verloren und verliert immer mehr. Haltet ein mit Eurem Wahn! Ihr müsst dem Land einen Schutzherrn wählen. Zögert Ihr das noch länger hinaus und dauert Euer Krieg ein weiteres Jahr, so richtet Ihr Euch so zugrunde, dass Ihr Euch davon nie wieder erholt. Seht selbst, was Euer Krieg Euch beschert! Ihr schändet Eure Würde
98 | 5 Herzogin Bene ir müezet iuch ze dienste geben und iuwer kint an die stat dâ man iuch vür eigen hât und in eigenschaft gedîen 4140 iuwer kint, diu ir soldet frîen und mit in hœhen iuwern art. nû seht, wie hât ir iuch bewart! iu mac wesen wê ze muote. ir wâret vor bî solichem guote 4145 und an iuwerm gelde gerîchet daz sich niemen iu gelîchet; wan ander herren quâmen daz sie rîcheit von iu nâmen und sich iu underneigten 4150 und sich dienstes iu erzeigten. welt ir vürbaz alsô leben, des müezt ir iuch ze dienste geben, welt ir des hungers iuch erwern. iur drîzec mugen niht einn ernern. 4155 seht, wie iuwer hêrschaft liget! niemen bûwes drinne phliget. ez mac geleisten niender phluoc daz iu ê alle genâde truoc. tuot iuch des irretuomes abe! 4160 ir sult ê kiesen zeime stabe und mit gemeiner phlihte mit dem ûf reht gerihte 88ra kiest under iu einen wîsen man, den sult ir ûf reht gefürhtet hân! 4165 alsô möhtet ir wider komen und müeste iu iemer an êren fromen.’ Alsô der getriuwe man sîne rede het getân, sie dûhte die herren wesen sleht 4170 und jâhen sô, er seite in reht; mit gemeinem schalle sprâchen sie dô alle, sie wolden an den wîsen man die kür umb einen herren lân. 4175 der herre mit sinnen begurt, alsus stuont sîn antwurt: ‘welt ir der sache ein ende hân, sô welt iu aht und zwênzic man! ûz den kieset viere: 4180 sô endet sich diz schiere. den vier und zwênzic gebt den rât!
und zwingt Euch und Eure Kinder in Dienstpflichten, die Euch zu Leibeigenen machen; Eure Kinder wachsen in Unfreiheit auf, denen Ihr doch die Freiheit wahren und mit denen Ihr Euren Ruhm steigern solltet. Nun seht, was Ihr aus Euch gemacht habt! Euch selbst muss Euer Zustand schmerzen: Früher wart Ihr so reich an Besitz und Geld, dass niemand sich Euch gleichstellen konnte; im Gegenteil: Andere Herren kamen, von Euch zu empfangen, neigten sich dankbar vor Euch und zeigten sich Euch dienstbar. Wollt Ihr so weiter machen, dann werdet Ihr diejenigen sein, die dienen, um dem Hunger zu entgehen. Dreißig von Euch können nicht einen ernähren. Seht selbst, wie Eure Ländereien daliegen! Niemand bestellt sie. Keiner von denen, die Euch früher dienten, ist noch imstande zu pflügen. Lasst ab von dem Irrweg! Wählt Euch einen Herrn, wählt in gemeinsamer Verantwortung und ehrlicher Absicht aus Eurem Kreis einen klugen Mann, vor dem Ihr berechtigt Ehrfurcht empfindet! So schafft Ihr den Wiederaufstieg und profitiert von dauerhaftem Ansehen.“ Als der rechtschaffene Mann so gesprochen hatte, hielten die Landherren seine Rede für triftig; sie gestanden sich, dass er Recht habe. Wie aus einem Munde sprachen alle darauf, sie wollten dem Weisen die Wahl eines Herrn überlassen. Der Bürger war klug genug, um so zu erwidern: „Wollt Ihr die Sache zu einem guten Ende führen, so wählt Euch 28 Männer. Aus diesen wählt wiederum vier: So wird es bald ein Ergebnis geben. Den verbleibenden 24 übertragt die Beratung!
4157 niender] nyrgen. 4162 mit] nach. 4166 müeste] mocht. 4178 aht und zwênzic] xxviii. 4181 vier und zwênzic] xxiiii.
5 Herzogin Bene | 99
die gemeine in loben lât, swaz die zwir zwelfe vinden, daz sie daz mit ihte enbinden; 4185 swaz sie in gebieten unde sagen, den rât sie sullen vaste tragen. die vier und zwênzic loben daz, ob sie der witze sîn sô laz und niht volvaren an der kür, 4190 ob die vier den rât bringen vür (obz von in alsô an sie zoget) und sie welen einen voget und kiesen eine hêrschaft, daz sie daz halden mit triuwen kraft 4195 und sîn des willen gar bereit. die vier des sweren einen eit 88rb daz sie niht von einander komen, sie enhaben einen voget genomen.’ Als in riet der werde man, 4200 daz wart dô allez getân. den vier und zwênzic man hât von êrste bevoln den rât. dô begunden sich die herren an der küre werren; 4205 dirre wolt disen, jener den und begunden ungelîche jên. sie mohten mit keinen sachen sich des in ein gemachen daz sie sich sô vereinden 4210 und alle einen herren meinden. sie wârn ir muotes unberiht. des kurn sie einen herren niht. ir bœser kriec daran erschein. der bürger was der viere ein. 4215 der tet als sîner wîsheit zam: dô der rât an sie quam, die drîe liez er reden vür, vaste sprechen ûf die kür. ir friunt, einen lantman, 4220 die zwêne ze herren wolden hân, daz sie der bevritte. einen fürsten wolt der dritte der in fremde wære, daz der wære ir rihtære. 4225 mit der rede ie die drî
Die Versammlung als Ganze lasst geloben, dass sie das, was die zwei Dutzend befänden, als verbindlich annehmen. Was sie ihnen auch auferlegen oder verkünden, sollen alle gemeinsam unverrückbar tragen. Die 24 dagegen sollen dieses geloben: Wenn ihr Geschick nicht reicht, eine Wahl zu vollbringen, und wenn dann der Rat der vier die Sache an sich zieht und berät, einen Herrn wählt und so eine Herrschaft einsetzt, dann stünden auch sie in aufrichtiger Treue und mit vollem Willen hinter dieser Wahl. Die vier schließlich sollen schwören, dass sie in keinem Fall auseinandergehen, ohne zuvor einen Fürsten bestimmt zu haben.“ Wie ihnen der treffliche Mann riet, so wurde dann alles getan. Zunächst wurden die 24 zum Rat bestimmt. Sofort aber begannen sich die Landherren bei der Wahl zu entzweien. Der eine wollte diesen, der andere jenen, die Meinungen prallten aufeinander. Sie vermochten auf keine Weise darin übereinzukommen, gemeinsam und als Gesamtheit einen Herrn zu wählen. Ihr Gemeinsinn reichte nicht aus. So fanden sie nicht zu einer Wahl. Ihr böser Zwist wirkte sichtbar fort. Der Bürger gehörte dem Viererrat an; er handelte, wie es seiner Klugheit entsprach. Als die Entscheidung an die Vier überging, ließ er zuerst die drei anderen beredt zu der Wahlfrage Stellung nehmen. Zwei von ihnen plädierten für einen Verwandten, einen Landsmann, als Herrn, damit er sie befriede. Der dritte wollte einen auswärtigen Fürsten als Herrscher. Die Standpunkte der drei waren
4187 die vier und zwênzic loben daz] dy xxiiii geloben den fieren daz (DH; die Konjektur tilgt den Eidnehmer). 4191 〈alsô〉. 4195 〈gar〉. 4196 〈des〉. 4200 〈dô〉. 4207f. sy mochten mit keynem/ sich deß zu sammen geeynen (‘konnten sich mit keinem darin einigen’). 4225 〈ie〉 (gegen DH; die Konjektur macht aus der akuten eine notorische Streitlust).
100 | 5 Herzogin Bene unvereinet wârn dâ bî. sus sie ze kriege lâgen. ‘wolde iuch niht betrâgen mîner rede, sô wolde ich brechen 4230 den kriec.’ sie bâten in sprechen. billîchen er daz tete: wan er den rât gesworen hete. 88va Ze den zweien sprach er sân: ‘ir jehet an einen lantman. 4235 daz sî iu helfebære ob er hie fürste wære. daz möhte wol ein wîle wern. über ein jâr begundet ir aber gern wie iu ein ander würde, 4240 sô iuch sîns gebotes bürde iht wider willen twunge. jâ sint hie herren junge, die erkenne ich in sô frechen siten, sînen getwanc sie niht erliten 4245 und begunden sich des gein im verheben dazs an der geburt im wæren eben. sus würde ir rede: ‘wes wænet der? ich bin als edel alsô er’, und würde der werre mêrre 4250 dan sô vor was der êrre.’ der burger rehte sie beschiet. ûf des dritten rede alsô er riet, ob sie einn fremden fürsten kürn, daz sie niht wol darane füern. 4255 ich wil iu sagen alles wie: er begunde ziehen über sie sîne angebornen herren; sô gedige ez aber zeinem werren, und hüebe sich ein niuwer zorn; 4260 sô wære ez bezzer verborn. ‘des muget ir alles iuch bewarn, welt ir nâch mînem râte varn.’ Sie sprâchen: ‘an wen râtet ir? lât hœren! lîhte volgen wir 4265 iu alsô wir hân biz her gevolgic erfüllet iuwer ger.’ der werde wîse aber sprach: ‘swaz ich noch liute ie gesach und ich der werlde ervarn habe 4270 ûf dem lande und an der habe, über mer und swar ich ie bequam,
wie stets unversöhnlich. So erfasste der Streit auch sie. „Wenn Ihr mir zu reden erlaubtet, wollte ich den Zwist gern beenden.“ Die drei baten darum. Mit Fug und Recht tat er dies, hatte er doch das Ratsverfahren beschworen. Sogleich sprach er zu den ersten beiden: „Ihr sprecht Euch für einen Landsmann aus. Es erscheint Euch hilfreich, wenn dieser hier herrschte. Eine Weile möchte das wohl gutgehen. Doch über Jahr und Tag fingt Ihr wieder zu wünschen an, Ihr hättet einen anderen bekommen, sobald Euch nämlich sein Gebot gegen Euren Willen zu etwas zwänge. Zudem gibt es im Land junge Herren, deren Stolz ich zu gut kenne, als dass sie sich seinem Zwang unterwürfen; sie werden anfangen, ihm machtbewusst zu demonstrieren, dass sie ihm nach Herkunft und Stand ebenbürtig sind. So würden sie reden: „Was glaubt denn der? Ich bin so edel wie er.“ In der Folge würde der Kleinkrieg noch ärger als der frühere.“ Der Bürger warnte sie mit gutem Grund. Zum Plädoyer des Dritten gab er zu bedenken, mit der Wahl eines auswärtigen Fürsten täten sie sich nichts Gutes. Ich will Euch die Gründe dafür sagen: Der Gewählte würde anfangen, seine Landsleute über die einheimischen Herren zu stellen. Am Ende käme es wieder zu Streit und neuer Hass bräche aus. So wäre es besser unterblieben. „All dies könnt Ihr Euch ersparen, wenn Ihr nach meinem Rat verfahrt.“ Sie sprachen: „Wen schlagt Ihr vor? Lasst hören! Gut möglich, dass wir Euch folgen, wie wir schon bisher all Eure Vorschläge bereitwillig erfüllten.“ Der treffliche Weise nahm wieder das Wort: „Ich habe viele Völker kennengelernt und vieles in der Welt gesehen, zu Lande und in Hafenstädten, in Outremer und wohin ich sonst noch gelangt bin.
4246 dazs an der geburt im wæren] daz sie der gebort ime verren. 4249 werre] der werde (wohl Fehler). 4252 〈er〉. 4265 〈iu〉. 4266 gevolgic erfüllet iuwer ger] gefolget erfruollet [?] uwer wer.
5 Herzogin Bene | 101
mîn sin, mîn herze nie vernam alsô grôze bescheidenheit und sô volkomene wîsheit 88vb weder an frouwen noch an man die ich alhie funden hân an einer frouwen, diust ein gestin. rehten muot und willen vesten hât sie ûf rehte tugende, 4280 guotes râtes sich vermugende ûf alle sache, ûf alle tât die diu werlt ze handen hât; vollen rât sie kan geben ûf daz heizet fürsten leben. 4285 ichn gesach nie so schœnen lîp: sie ist benamen ein edel wîp, geborn von hôher fürsten art. jâ sîn wir wol mit ir bewart. wir loben sie ze jâres vrist; 4290 ob sie dem lande vor ist als ein fürste von rehte sol, heldet sie sich wirdic unde wol, sô loben wir sie vürbaz ze fürstinne. ist aber daz 4295 sie ir selber unreht tuot und ez iuch danne dunket guot daz ir sie entsetzen welt, daz tuot ir lîhter danne ir welt ze fürsten einen starken man. 4300 sô müestet ir danne arbeit hân ob ir den verwerfen woldet und einen andern kiesen soldet.’ Ûz gemeinem munde die drî herren an der stunde 4305 sprâchen: ‘ir râtet uns wâr. wir hân alliu unser jâr noch alsô biz her getân daz wir nie ervaren hân menschen sô wîsen noch so kluoc. 4310 wir haben an ir fürstîn gnuoc. 89ra wir lâzen uns des zouwen und loben sie zeiner frouwen.’ dô wart diu frouwe gekorn und von den vieren gesworn 4315 daz sie mit ganzer triuwen kraft sie wolden an der hêrschaft als ir erbherren êren. swer wolde daz verkêren
Nie aber haben mein Verstand und mein Herz so große Lebensklugheit und so vollkommene Weisheit unter Damen und Herren gefunden wie ich sie hier bei einer Dame entdeckte, die als Fremde bei uns lebt. Sie besitzt rechten Sinn und einen starken, auf wahre Tugend gerichteten Willen, ist zu klugem Rat begabt in allen Belangen, für alle Entscheidungen, die die Welt verlangt. Was fürstliches Leben heißt, darin ist sie die beste Beraterin. Auch sah ich nie eine so schöne Gestalt: Sie ist zweifellos eine Dame von hoher fürstlicher Geburt. Fürwahr: Mit ihr wären wir gut bedient. Lasst sie uns auf Jahresfrist einsetzen; wenn sie das Land führt, wie ein Fürst es rechtmäßig tun soll, und wenn sie sich würdig und gut verhält, dann bestätigen wir sie im Amt. Ist es aber so, dass sie sich selbst nicht gerecht wird und es Euch am Ende gut dünkt, sie abzulösen, dann wird Euch das leichter fallen, als wenn Ihr einen wehrhaften Mann zum Fürsten gewählt habt. Ihr hättet dann Eure liebe Not, ihn wieder loszuwerden und einen anderen zu bestimmen.“ Wie aus einem Mund antworteten die drei Herren zugleich: „Ihr ratet gut. Wir haben, solange wir leben bis auf den heutigen Tag, noch nie einen so weisen und kundigen Menschen erlebt. Mit ihr haben wir genug an Herrschaft. Wir stimmen zu und wählen sie zur Fürstin.“ Darauf wurde die edle Frau gewählt, und die vier Räte beeideten, sie in aufrichtiger Loyalität als Herrscherin zu ehren, nicht anders als ihren Erbherrn. Wer sich dem widersetzen
4280 sich] sy. 4294 〈ze fürstinne〉. 4302 soldet] woldet. 4305 wâr] wol (:yar 4306).
102 | 5 Herzogin Bene und ir des wolde widerwesen, der enmöhte niht genesen. Nû diz was alsô erdâht, der rât wart von den vieren brâht an die vier und zwênzic, ez muost sîn. die lobten ouch die herzogîn 4325 und brâhtenz an die gemeine dô. die wârn der kür unmâzen frô. mit gemeinem schalle lobtens die frouwen alle und zogeten dâ diu frouwe was, 4330 in der heidenîn palas, dâ diu lieht gevarwe saz diu sich an êren nie vergaz. da erbeizten vil der werden von den rossen ûf die erden. 4335 mit grôzer zuht sie giengen în dâ sie funden die herzogîn. diu wîse und diu klâre mangem herzen was ze vâre, daz twanc ir liuhtic glesten. 4340 ûz al den herren die besten giengen mit grôzer zuht vür sie und vielen alle an die knie. diu frouwe stuont ûf und erschrac. sie wiste niht wie diu rede lac. 89rb mit grôzer fuogen witzen bâtens die schœnen sitzen. bî der clâren herzogîn stuont diu edel wirtîn und manic juncvröulîn lieht gevar: 4350 diu wârn durch zuht gelâzen dar. Diu frouwe nâch der herren bete saz. ein werder heiden hete ûf der hant von golde rôt ein schappel, daz er der süezen bôt. 4355 daz nam diu vrouwe wolgeborn mit schame. doch er sprach: ‘erkorn sît ir ze vürstîn über diz lant. in iuwer gebot, in iuwer hant setzen wir lîp unde guot.’ 4360 dô sprach diu suoze gemuot: ‘durch iuwer zühte gebot sult ir lâzen diesen spot. 4320
und ihr darin entgegentreten wollte, sollte nicht ungestraft bleiben. Nachdem dies nunmehr so geplant war, wurde der Ratsschluss von den vieren vor die 24 gebracht: So war es vorgesehen. Sie bestätigten die Herzogin und brachten den Ratsschluss danach vor die Landgemeinde. Alle waren hoch erfreut über die Wahl. In allgemeinem Jubel huldigten alle der Edlen und zogen zum Haus der heidnischen Wirtin, in dem sich die Schöne aufhielt, die ihre Ehre nie vergaß. Dort saßen viele der Landherren vom Pferd ab und schritten ehrerbietig in den Saal, in dem sie die Herzogin fanden. Die Kluge und Schöne hatte viele Herzen in ihren Bann gezogen durch ihren strahlenden Glanz. Die vornehmsten Landherren traten sehr höflich vor sie und fielen allesamt auf die Knie. Die Fürstin stand erschrocken auf. Sie wusste nicht, was das bedeuten sollte. Mit klugem Anstand baten sie die Schöne, sich wieder zu setzen. Um die reine Herzogin standen die edle Wirtin und viele strahlende junge Damen, die zu ihrem Dienst dort angestellt waren. Die Fürstin setzte sich, der Bitte der Herren folgend. Ein ehrwürdiger Heide trug in der Hand einen Kranz aus rotem Gold, den er der Schönen darbot. Die hochgeborene Dame ergriff ihn voll Demut. Er aber sprach: „Ihr seid zur Fürstin über dieses Land auserwählt worden. In Euer Gebot und Eure Macht legen wir Leben und Besitz.“ Da sprach die Edelgesinnte: „Wahrt Euren Anstand und lasst solchen Scherz.
Vor 4327: Freiraum für Überschrift. 4334 ûf die] zu der. 4338 herzen] heiden. 4353 ûf] in. 4354 süezen] werden (die Konjektur akzentuiert Anmut vor Status der eben Erwählten). 4360 gemuot] wol gemut.
5 Herzogin Bene | 103
ein kranker wîbes name ich bin. wie möhte ich landes frouwe sîn?’ 4365 er sprach: ‘sunder schimpfen und âne argez glimpfen sô hân wir iuch alsô erwelt. ez sî der zage oder der helt, der arme oder der rîche man, 4370 er muoz iu wesen undertân.’ ûf ructen sie die herzogîn, mit ir die alden heidenîn und ouch manic klârez kint diu vor ir gewesen sint. 4375 sie vuorten sie ûf den palas dâ des alden vürsten hof ê was. dâ pflâgen sie der frouwen wol, als man vürsten phlegen sol. ûf die andern wochen 4380 ein hof wart dar gesprochen daz ein ieglîch man dar quæme, 89va von ir sîn reht dâ næme: swer des niht entæte, daz erz verloren hæte. 4385 Boten sie ûz sanden, die in alle stete randen und gebuten vesten fride. swer den bræche, daz solt diu wide rechen und ouch daz swert. 4390 sus gebôt diu herzoginne wert. daz daz lant einen voget hete, überal ze wizzen man daz tete. des wâren die getriuwen frô, den argen was diu rede ein drô. 4395 alsô der tac was genomen, dô sach man ze dem hove komen die herren, als sie solden, die ir reht behaben wolden. ouch die burger von den steten, 4400 alle die gerihte heten, ir dâ hulten algelîche. Süezer witze wielt diu rîche. dô diu klâre den ernest sach, ze den herren sie dô sprach: 4405 ‘ir hât ze frouwen mich genomen, wold got, und wære iu daz ze fromen! doch alsô verre als ich kan,
Ich bin eine schwache Frau. Wie könnte ich Herrin eines Landes sein?“ Er erwiderte: „Ohne Spott und Hinterlist haben wir Euch dazu erwählt. Schwache und Starke, Arme und Reiche, sie alle müssen Euch gehorchen.“ Sie erhoben die Herzogin und mit ihr die alte heidnische Wirtin und die vielen schönen Zofen, die um sie waren. Sie geleiteten sie zum Fürstenpalast, wo schon der alte Herzog Hof gehalten hatte. Dort behandelten sie die Dame so ehrerbietig, wie man es mit Fürsten tut. Auf die Folgewoche wurde ein Hoftag einberufen, zu dem jeder zu erscheinen hatte, um von ihr sein Lehen zu empfangen. Wer das versäumte, würde seiner Ansprüche verlustig gehen. Man sandte Boten aus, die in alle Städte eilten und bewehrten Frieden geboten. Wer ihn bräche, sollte mit Strick und Schwert bestraft werden. So gebot es die edle Herzogin. Man tat überall kund, dass das Land wieder eine Führung habe. Die Rechtschaffenen freuten sich darüber, den Übeltätern war die Botschaft eine Drohung. Am festgesetzten Tag sah man die Herren, die ihre Lehen behalten wollten, bei Hof erscheinen, wie sie sollten. Auch die Bürger aus den Städten und alle, die ein Richteramt hatten, huldigten ihr dort einmütig. Die Herrin handelte klug: Als sie deren ernsten Willen erkannte, sprach sie zu den Herren: „Ihr habt mich zu Eurer Fürstin bestimmt; wolle Gott, dass es Euch Nutzen bringt. Doch so weit ich kann,
Vor 4385: Freiraum für Überschrift. 4367 iuch] auch. 4400 alle] alß (‘sofern sie’). 4404 〈dô〉.
104 | 5 Herzogin Bene wil ich des flîzic aht hân mit stæteclîchem muote 4410 daz dem lande kome ze guote. ich bevilhe iu daz ûf iuwern eit, ûf iuwer ieglîchs wirdekeit, daz ir mir setzet solichen rât, der sich getriuwelîchen hât 4415 under iu allen wol bewart, der habe kraft und ouch den art: 89vb einen man der nâch mir rihte, den ir wizzet in der phlihte daz er dem rehten mite var 4420 und mich vollic dran bewar; kamerer, truhsæzen, schenken, die an ir rehte iht wenken; und einen man lôsheit frî der mîner koche meister sî, 4425 an dem des iht abegê: sunder daz mîn hof nâch êren stê. alle die der amte sullen phlegen, die sult ir sô sinneclîche wegen und betrahten sô mit flîze 4430 daz ichz iu iht verwîze. swan der hof gerehte stât, darnâch daz ander volc sich hât.’ Hie an erfüllet wart ir bete. sie sprach: ‘ich wil daz mîne stete 4435 alle an einem rehte stên, daran mîn gebot iht übergên. swaz ich geldes ûf dem sê hân, den neme în der koufman der mit iu was an dem rât. 4440 swaz man anders geldes hât, ez wære gerihte, münze, zol, mîn kamerer daz înnemen sol ûf dem lande und in den steten.’ die iht von der frouwen heten, 4445 sie wærn rihter oder ambetman, die solden ze sîme gebote stân, daz er besæhe die stete daz man darinne vaste hete allez gesetze unde reht, 4450 daz der âne twerhe sleht genüzze algelîche der arme und ouch der rîche, âne wankes underlouf die burger gæben gesatzten kouf.
werde ich entschlossen und beständig darauf achten, dass es dem Land gutgehe. Ich befehle Euch bei Eurem Eid, bei der Ehre eines jeden von Euch, dass Ihr mir einen Ratgeber zur Seite stellt, der unter Euch allen treu seine Pflichten erfüllt hat, der Durchsetzungs- und Charakterstärke besitzt; einen Mann, der nach meiner Art regiert und von dem Ihr wisst, dass er stets das Rechte tut und mich voll im rechten Tun unterstützt. Zudem stellt mir Kämmerer, Truchsess und Mundschenk von unwandelbarer Ehre zur Seite, dazu einen unbescholtenen Mann als Küchenmeister, der allein darauf sehen soll, dass mein Hof nach Ehre strebe. Alle Amtsträger sollt Ihr so klug erwägen und mit Sorgfalt auswählen, dass ich Euch nichts vorzuwerfen habe. Denn wenn der Hof in Ordnung ist, hält sich auch das übrige Volk gut.“ Ihre Bitte wurde erfüllt. Sie sprach weiter: „Ich will, dass alle meine Städte unter gleichem Recht stehen und darin mein Gebot nicht übertreten. Meine Einnahmen aus dem Fernhandel soll der Handelsherr verwalten, der mit Euch zusammen im Rat saß. Alle anderen Abgaben, sei es aus Gericht, Münzrecht oder Zoll, soll mein Kämmerer eintreiben, auf dem Land wie in den Städten.“ Alle, denen die Fürstin etwas übertragen hatte, ob Richter oder Beamte, sollten dem Kämmerer verantwortlich sein. Er sollte die Städte beaufsichtigen, damit man in ihnen alles Gesetz und Recht verbindlich wahre und Arme wie Reiche in unbestechlicher Ordnung gemeinsam profitierten. Ohne böse Gedanken sollten die Bürger ihren Geschäften nachgehen.
4408 des] syn (bezogen auf ‘lande’ 4410). 4440 man] sy (versehentlicher Wechsel in indir. Rede?).
5 Herzogin Bene | 105
90ra Diu süeze werde guote, allez des sie muote, daz stuont sô ordelîche und eben: man muoste ir des die volge geben, sie bewîste sô fürstlîchen sich, 4460 aller sache sô endelich, und satzte sô ordelich daz lant als man dô daran bevant: wan ez kurzeclîche quam wider und wart sô rîche 4465 daz es stuont nû verre baz dan dô ez vor der vürste besaz. diu edel wîse schuof ez sô, daz gemeineclîche ir lebens frô wurden wîp unde man. 4470 Aller sît sô wol getân wart gesehen nie kein lîp, an erwunschter schœne so rîch ein wîp. dem volke sie frô gebârte, aleine sie twunge harte 4475 ein seneclîchez sorgen (daz sie doch truoc verborgen) nâch im des sie nie vergaz, der mit liebe ir herze besaz. dar ûz Willehalm nie quam. 4480 in dem sînen alsam was diu süeze herzogîn. nâch ir gedanke im fuogten pîn, ein lûter minne im daz gebôt. sie wolde ouch nâch im lîden nôt: 4485 swâ sie sich vereinde, von herzen sie daz beweinde daz sich der tiure Wende sus gap in daz ellende. bînamen ez ist vil bermelich 4490 swâ zwei geliebe als scheident sich, die gedanke und getriuwer sin lânt iemer ungefremdet sîn. 90rb saget, vrou Minne, tuot ez wê? jâ vürwâr, ich sage iu mê: 4495 nie kein orden wart sô swære noch den fröuden sô gevære. Dâ zwei mit flîzem sinne mit ungevelschter minne, als ir herze vereinet gernt,
Alles, dessen sich die edle Landesmutter annahm, stand in bester Ordnung: Man musste ihr zugestehen, dass sie sich als fähige Fürstin erwies, in allen Belangen entschieden handelte und das Land so reorganisierte, wie es sich danach auch zeigte. Denn binnen kurzer Zeit erholte es sich und wurde so mächtig, dass es nun weit besser dastand als unter dem Vorgänger. Die kluge Fürstin hatte erreicht, dass im ganzen Volk die Lebensfreude zurückkehrte. So vortrefflich in allem und so makellos schön sah man nie eine Frau. Ihrem Volk zeigte sie sich froh; allein es bedrückte sie heftig quälende Sehnsucht (auch wenn sie sie zu bergen wusste) nach dem, der ihr nie aus dem Sinn kam und der mit Liebe ihr Herz bedrängte. In ihm war Wilhalm stets geblieben. Doch ebenso war in dem seinen die schöne Herzogin. Lautere Liebe erlegte ihm auf, dass ihn jeder Gedanke an sie quälte. Auch sie verzehrte sich nach ihm: Wo immer sie alleine war, vergoss sie heiße Tränen darüber, dass der teure Wende sich so gänzlich der Fremde überlassen hatte. Wahrlich: Es ist zum Erbarmen, wenn zwei Liebende sich trennen, ohne dass ihre Gedanken und ihre Erinnerung sie voneinander lassen. Sagt an, Frau Minne, tut das nicht weh? Fürwahr, ich will Euch noch mehr sagen: Keine Lebensform war je so schwer und jeder Lebensfreude so abträglich. Wo zwei in geteilter Lust und makelloser Liebe zusammenkommen,
4465 〈nû〉. 4466 dan] wan (DH). 4471f. lîp:wîp] wipp:lip. 4489 bînamen] vor waere. 4491 und getriuwer sin] hertz vnd fremder syn (‘ferner Sinn, Aneinanderdenken in der Ferne’). 4492 lânt iemer ungefremdet sîn] ymmer wollen getruwe (H ungefremdet) sin. 4497 Dâ] alß da (DH).
106 | 5 Herzogin Bene einander umbevâhens wernt, aldâ wirt man unde wîp vereint ein herze und ein lîp. daz ê an zwein stücken schein, daz mac man nemen sus vür ein. 4505 frou Bêne und ouch ir lieber man alle stunde einander sâhen an. ‘nû sprechet, wie mac daz gesîn? gesundert was diu herzogîn und Willehalm der herre 4510 doch von einander verre; nû was er dort über mer: sach sie in dar und er sie her?’ Dirre rede nemet war und jehet daz ich iu sage wâr. 4515 swaz sô der mensche liep hât, sô ez des lîbes ouge lât, doch alle stunde und alle zît dem herzen in den ougen lît. diu liebe was ganz an disen zwein. 4520 sie truogen gerlich über ein an lûterlîcher minne kraft sunder wankes anehaft, daz sie sin noch gedanc nie mit lôsheit underswanc. 4525 swer sus ist minne witzic, dâ ist diu liebe hitzic und blüejet zaller stunde in reines herzen grunde. sie machet frô und wolgemuot. 4530 swâ man rehter minne unreht tuot, sâ sich diu liebe speldet, 90va in mangen ort sich veldet: von mislîchen gedanken muoz stætiu liebe kranken. 4535 wîtiu fröude wirt dâ smal, hôher muot sich lât ze tal und ist an fröuden sîgende, sô zaller zît ist stîgende der süeze minne gernde, 4540 an rehter liebe der wernde. Disiu zwei ir muotes wâren vast. ir herze truoc den süezen last. 4500
wie es ihr Herz einmütig begehrt, da werden Mann und Frau zu e i n e m Herzen, e i n e m Körper. Was zuvor zwei zu sein schien, muss man nun eins nennen. Frau Bene und ihr geliebter Mann sahen einander ständig an. ‘Nun sagt, wie soll das gehen? Die Herzogin und Herr Wilhalm weilten doch weit voneinander; er war dort in Outremer: Reichte ihr Blick dorthin und seiner zu ihr?’ Nun hört genau zu und gesteht, dass ich die Wahrheit sage. Wenn ein Mensch etwas liebt, dann vermag sein Auge immerfort Spiegel seines Herzens zu sein. Solche Liebe verband die beiden ganz und gar. Sie lebten ganz in kraftvoll lauterer Liebe, die nichts Schwankendes an sich hatte, so dass sich nie etwas Leichtfertiges in ihre Sinne und Gedanken mischte. Wer sich so auf die Liebe versteht, bei dem erkaltet sie nie und blüht jederzeit auf dem Boden reinen Herzens. Solche Liebe macht froh und glücklich. Wo man dagegen die rechte Liebe verletzt, da spaltet sich das Liebesglück sofort und geht verschiedene Wege. Unbeständige Gedanken schwächen beständige Liebe; große Freude schmilzt zusammen, Hochstimmung schwindet und lässt Freude versiegen, Dagegen steigt der stetig auf, der nach edler Liebe strebt und beständig in rechter Liebe lebt. Bene und Wilhalm waren festen Sinnes. Ihr Herz trug eine angenehme Last.
4501 aldâ] also (DH). 4502 vereint ein herze] vereynet hercze. 4505 〈lieber〉. 4516 sô] ob. 4518 dem herzen in den ougen] dem yn den auwen (isolierter Artikel auf ‘mensche’ 4515 beziehbar). 4520 gerlich] gar (DH). 4525f. witzic:hitzic] hitzig:witzig (gegenläufige Argumentation: Leidenschaft ist Begründung für den Verstand, den die Liebe verleiht). 4537 an] den (DH). 4540 〈der〉. 4542 last] gast (DH; ‘Geliebten in der Fremde’).
5 Herzogin Bene | 107
diu schœne zallen zîten half dort ir friunde strîten, 4545 den sie in nœten nie verlie. sie half im dort, er half ir hie alle sache wîslich ahten und die sinneclich betrahten. wol sie an ir muoter tete, 4550 die sie in hôher wirde hete und hielt sie an ir vrouwen stat. ein süezez herze gap ir rât. alle der frouwen nâchkomen muosten ir haben iemer fromen. 4555 von ir herren hinevart dicke sie ze redenne wart mit ir werden muoter, daz der süeze und der vil guoter sîne hinvart vor ir hal 4560 und sich alsô von ir verstal. swaz sie von im ze redenne hete, sô getriulich sie daz tete und ouch mit solicher süezekeit diu ir herze alsô versneit 4565 daz ez was den ougen gebende der zeher vlôz. hets lebende in gewest, dâvür diu werde deheiner fröude ûf erde noch nihtes mê hete gegert. 90vb der klâren herzoginne wert rede stuont sô seneclich, swan sie alsô vereinde sich, daz diu alde heidenîn des niht mohte erlâzen sîn, 4575 irn wurde mit ir von weinen wê. über ein venster gein dem sê dicke sie sich legete, daz ir mangen zaher erwegete. In der wochen alle tage 4580 wolt sie sîn in senender klage umb ir man, ir liebiu kint, diu ir alsô entfremdet sint. ja enwart nie sô herter man, ern müeste ir nôt beweinet hân, 4585 der ir seneclîchiu wort und ir klage het gehôrt ûz ir süezem munde rôt. ir friunde si mangen segen bôt.
Die schöne Bene half unentwegt ihrem Freund in der Fremde beim Kampf, verließ ihn nie in Kriegsnot. Sie half ihm dort, er indes half ihr hier, alle Dinge klug in Betracht zu ziehen und scharfsinnig abzuwägen. Bene sorgte gut für ihre Pflegemutter und hielt sie hoch in Ehren; sie behandelte sie als ihre Herrin. Ihr edles Herz gab ihr das ein. Alle Nachkommen Benes sollten von dieser Ahnfrau Nutzen haben. Oft redete sie mit ihrer trefflichen Pflegemutter über das Scheiden ihres Herrn, dass nämlich der Edle, Redliche ihr seine Abreise verheimlicht und sich so von ihr weggestohlen hatte. Doch was immer sie über ihn vorbrachte, sie tat es so wohlwollend und in so inniger, herzversehrender Liebe, dass ihre Augen dabei überflossen. Hätte sie gewusst, dass er noch lebte, hätte die Edle keine weitere Freude auf Erden und auch sonst nichts begehrt. So sehnsuchtsvoll klangen die Worte der schönen edlen Herzogin, wenn sie so beisammensaßen, dass die alte Heidin nicht anders konnte, als mit ihr zu weinen. Oft lehnte sich Bene in ein Fenster, das zum Meer hinausging, und ließ ihren Tränen freien Lauf. Tag für Tag gab sie sich so der Klage hin um ihren Mann, ihre geliebten Kinder, die ihr so entfremdet worden waren. Niemand könnte so hartgesotten sein, dass er ihre Not nicht beweint hätte, wenn er ihre Sehnsuchtsworte und ihre Klage aus dem anmutig roten Mund gehört hätte. Sie entbot ihrem Geliebten viele Segenswünsche.
4555 ir herren] yrß hertzen. 4565 ez] er (konkretisiert Wilhalm als Grund für die Tränen). 4580 senender] solicher.
108 | 5 Herzogin Bene diu klâre niht enlôsete, swan sie von im kôsete, des vil selden sie verdrôz. ir rede mit weinen sie begôz. sie sprach: ‘er süeze sælic man! owê, waz hân ich im getân 4595 daz er sich hât entfremdet mir? Jupiter, daz wîze ich dir und gibe des schult unsern goten. ich hân iu êren vil erboten daz ir mir bræhtet den herren mîn 4600 und ouch diu klâren kindelîn, von den mich Krist geverret hât. ich suochte an iuwer helfe rât und hân iuch vil umb sie gebeten. ich wæn iur helfe habe undertreten 4605 nâch dem mîner fröuden voget in ellende hât gezoget. ob derselbe herre Krist kreftic an sîner helfe ist, 91ra an sîne helfe sô ruofe ich 4610 daz er welle bringen mich vor tôde dâ mîn herre sî, oder füege in mir sô nâhe bî daz ich an sînem arme lieplich noch erwarme 4615 und ich in umbevâhens wer nâch unser zweier liebe ger und mit kusse mîn mündelîn friuntlich twinge an daz sîn, des er etwan fröute sich 4620 und noch ze fröuden bræhte mich. wil mir die bete Krist versagen, sô kan er ouch an helfe zagen, als mîne gote sint verzaget. und ist daz er mir niht versaget, 4625 sô sol ich mit dem friunde mîn iemer ze sîme gebote sîn.’ Einer hübscheit sie erdâhte diu ir sît fröude brâhte. sie hiez einen werden knaben 4630 daz er solde daz in ahte haben daz er mit flîze des næme war, swan sô ein kiel quæme dar, 4590
Die Schöne heuchelte nicht, wenn sie von ihm sprach: nie schien es ihr zu lang. Sie redete und weinte zugleich. Sie sprach: „Der liebe, selige Mann! Ach, was habe ich ihm getan, dass er mich verließ? Jupiter, das werfe ich Dir vor und spreche dafür unsere Götter schuldig. Ich habe Euch viel Ehre entboten, damit ihr mir meinen Gemahl und meine hübschen Kleinen zurückbringt, von denen mich ‘Christus’ getrennt hat. Ich suchte Hilfe und Stütze bei Euch und habe Euch immer wieder darum gebeten. Ich glaube, dass Eure Hilfe mit dem Moment aufhörte, als der Hüter meines Glücks in die Fremde zog. Wenn jener Herr Christus in seiner Hilfe stärker ist, so rufe ich s e i n e Hilfe an, damit er mich, ehe ich sterbe, dorthin führe, wo mein Herr weilt, oder ihn so nahe zu mir bringe, dass ich in seinen Armen wieder in Liebe warm werde und ihm meine Liebe gewähre nach unserem gemeinsamen Wunsch, und meinen Mund innig küssend auf seinen drücke, damit er dadurch glücklich werde und auch mich glücklich mache. Versagt mir Christus die Bitte, dann ist auch er kein rechter Helfer, wie meine Götter. Versagt er sie mir aber nicht, dann werde ich mich mit meinem Geliebten auf immer zu ihm bekehren.“ Sie hatte einen klugen Einfall, der ihr später noch Glück bringen sollte: Sie beauftragte einen edlen Knappen, auszuschauen und sorgsam zu prüfen, ob etwa ein Pilger oder Fremder
Vor 4627: Freiraum für Überschrift. 4597 und gibe des schult unsern goten] vnd allen vnseren goden (schwächer: da explizite Schuldzuweisung fehlt, kann ‘wîzen’ 4596 auch nur ‘kundtun, bekanntmachen’ meinen). 4602 rât] stat (DH). 4620 und] daz.
5 Herzogin Bene | 109
sô der geankert hæte, ob von dem ze lande træte 4635 bilgrîn ode ellender man; von ir solde er den biten sân daz er ir gast wolde sîn aht tage. sô wolde diu herzogîn. Diu vürstîn wîse unde wert 4640 was dem volke, als ez gert, gereht und gewære, dêmüetec und êrbære. swaz sô sie ze ahten hete, 91rb mit süezen siten sie daz tete, 4645 daz im diu senfte genende gap ein liutsælic ende, allen liuten gar gezæme. frou Bêne diu genæme, wîplîcher wirde ein blüender stam, 4650 ân allen frevel als ein lam, senfte, kiusche, reine gemuot was sie und allen liuten guot. swaz man an rehtem wîbe, an erwunschtem reinem lîbe 4655 ze süezen tugenden mezzen sol: dâ mite was sie gezieret wol. daz gebrach an ir niht hâres grôz. sie stêt aller lôsheit blôz. swer wil ein vestez herze spehen, 4660 daz mac er an den ougen sehen. Frou Bêne was in senender nôt. dâ bî doch schœne durchliuhtic rôt als dâ ein viuwer wære entzunt, ir minneclich wol stênder munt 4665 stuont ir lechelîchen gar. sie was ouch wünneclich gevar. ir namen wil bediuten ich. ‘bene’ daz heizet ‘behegelich’. behegelich gevellet wol. 4670 diu zwei man mac unde sol, swer sie zesamene rehte tuot, an einem worte nennen ‘guot’. die süezen reine gemuoten nenne ich sie dan froun Guoten,
von Bord ging, wenn ein Schiff im Hafen eintraf und geankert hatte. Er sollte ihn sogleich in ihrem Namen bitten, acht Tage lang ihr Gast zu sein. So wollte es die Herzogin. Die kluge und edle Fürstin war dem Volk, wie es wünschte, gerecht und aufrichtig, demütig und auf ihre Ehre bedacht. Was auch immer ihr oblag, tat sie mit Eifer, um es, sanftmütig wie sie war, zu einem für alle glückhaften, allen gerecht werdenden Ende zu bringen. Die anmutige Frau Bene, ein blühender Stamm von weiblichem Adel, war makellos wie ein Lamm, sanftmütig, sittsam und rein und wohlwollend zu allen. Was immer man einer redlichen, makellosen Frau an edlen Vorzügen zusprechen kann, sie war damit wohl versehen. Nicht um Haaresbreite fehlte es ihr daran. Tadellos steht sie da. Wer ein festes Herz sucht, hat es hier vor Augen. Frau Bene litt in Sehnsucht, war aber trotzdem schön und von strahlender Farbe, wie wenn um sie ein Feuer loderte; ihr liebreizender, hübscher Mund zeigte stets ein Lächeln. Sie sah entzückend aus. Ich will ihren Namen auslegen. ‘Bene’ heißt ‘angenehm’, und ‘angenehm’ bereitet Wohlgefallen. Diese zwei Worte kann man, wenn man sie recht zusammennimmt, zu einem vereinigen: ‘gut’. Nenne ich dann die Edle, Reingesinnte ‘Frau Guta’,
4647f. gezaeme:genaeme] geneme:gezeme. 4648 diu] dy gar (DH). 4654 reinem] werden. 4655 mezzen] wißen (DH; ‘wissen’, hier: ‘bei einer solchen Frau voraussetzen’ oder ‘an einer edlen Frau [als Tugenden] bezeichnen’). 4670 man mac unde sol] behagent all wol. 4671 rehte] beyde (da DH 4672 ‘nennet’ statt ‘nennen’ lesen, ist der D-Text mit geänderter Interpunktion sinnvoll: ‘Beide [Worte] gefallen gut; wer sie beide zusammenbringt, der nennt die Edle, Reine mit einem Wort ‘gut’. Wenn ich sie also Frau Guta nenne, habe ich sie richtig benannt’ usw.).
110 | 5 Herzogin Bene sô hân ich rehte sie genant. fröuwe dich, Merhern, Bêheimlant! ir habt der guoten eine, der ich dise rede meine, diu iu ze frouwen ist gegeben. 91va durch ir hôher wirde leben und ir wîplîch güete fröut sich sîn gemüete. rehter liebe meisterschaft und vester herzen stætiu kraft 4685 sie beide sô vereinet hât und lûterlîcher minne rât. aleine siht man sie an zwein, man sol sie nennen doch vür ein. mit triuwen sie gesament sint. 4690 Wenzelabe, des hœsten küneges kint der under krône ie wart bekant, von Bêheim Otacker genant, daz beste glit der kristenheit. sîns sunes wirde daz wort noch treit 4695 und vert in rîches lobes maht. sîns rîches name zesamne ist brâht, alsô daz vant der wîsen list: von latîne und von diutsche er ist. Bêheim ich bescheide alsus: 4700 ‘bê-’ daz diutet ‘bêatus’, ‘-heim’ ‘domus’ oder ‘mansiô’. daz sprichet ouch ze diute sô: ein eigen hûs od wonunge. eiâ süezer vürste junge, 4705 ich schrîbe dich in mîn herze sus: künic Wenzelabe vom sælgen hûs oder vom sælgen lande. alsô dîn wirde erkande ich Uolrîch von Etzenbach. 4710 her Wolfram von Eschenbach wær der bî iuwern zîten, gehœhen und gewîten iuwer wirde kunde er baz, als er ze hôhem fluge maz 91vb den lantgrâven von Dürngen Herman. doch wol ich iu des selben gan. iuwer wirde sol des glouben mir, mir geviel nie vürste baz dan ir. 4675
dann habe ich sie richtig benannt. Freu Dich, Mähren und Böhmenland! Ihr habt eine von den Guten, als Fürstin; von ihr spreche ich hier. Ihr vortrefflicher Lebenswandel und ihre weibliche Güte erfreuen seine [Wilhalms oder/und Wenzels] Sinne. Die Meisterschaft echter Liebe, die beständige Kraft starker Herzen und Hilfe lauterer Zuneigung haben sie beide vereint. Je für sich sind sie zwei, und doch darf man sie eins nennen. In Treue sind sie zusammengeschlossen. Wenzel, Spross des erhabensten Königs, der je die Krone empfing, und des Vorkämpfers der Christenheit, Ottokars von Böhmen! Der würdige Sohn erbte diese Ehrentitel und glänzt in der Fülle des Ruhms. Der Name seines Reiches fügt sich zusammen, wie es nur ein kluger Sinn erfinden konnte: Er ist teils lateinisch, teils deutsch. Ich lege ‘Beheim’ so aus: ‘Be-’ meint ‘beatus’, ‘heim’ ‘Haus’ oder ‘Palast’. Im Deutschen lautet das dann: ‘eigenes Heim’ oder ‘Wohnung’. Ei, edler junger Fürst, ich schreibe Dich so in mein Herz: König Wenzel von Seligenheim, oder vom Seligen Lande. Genauso habe ich, Ulrich von Etzenbach, Deinen Adel erfahren. Hätte Wolfram von Eschenbach Eure Zeit noch erlebt, hätte er Euer Ansehen besser erhöhen und verbreiten können, so wie er den Landgrafen Hermann von Thüringen in luftige Höhen erhob. Das gleiche gönne ich durchaus auch Euch! Eure Hoheit möge mir glauben, dass mir nie ein Fürst besser gefiel als Ihr.
4680 ir] sy yn (DH; ‘dank ihrer in ihrem’). 4690 Wenzelabe] konig wenczeslau. 4692 Otacker genant] otacker waß er genant (DH). 4710 Wolfram von Eschenbach] wolfram der werde von eschenbach (DH; prononcierteres Wolframlob). 4714 fluge] werde.
5 Herzogin Bene | 111
Nû was daz jâr al umbe komen, als sie ze fürstîn was genomen nâch des wîsen râte, der daz in ahte hâte, er wolt den herren sprechen zuo wie in diu frouwe gefiele nu. 4725 alsô er der rede began, sus wart ir aller antwurt sân, sie behagte in ie baz und ie baz. sie kunde wol verschulden daz. ez wær in an ir gevallen sô 4730 daz sie ir heiles wæren frô. wolde si einen fürsten nemen, des solde alle sie gezemen, ob anders ir wesen wære âne man ze swære. 4735 Einem grâven von hôher art disiu rede bevolhen wart. der solde an sie werben daz. dô sie an ir râte saz, diu rede gevuoclich geschach. 4740 der herren wort er alsô sprach, der edel wîse von alder blanc: ‘al unser gote des haben danc, Appollo, Machmet, Tervigant, die iuch, frouwe, in diz lant 4745 uns ze sælden brâhten! wol si uns mit iu bedâhten. der kreftige Jupiter derst aller geschaft diu wâre wer und aller dinge hât gewalt, 4750 der mache iuch an fröuden balt und setze iu langer jâre zil. 92ra frouwe, ob iuwer klârheit wil friunde sich durch liebe ergeben, wizzt ir dekeinen vürsten leben 4755 der iuwer wirde gevalle, den loben wir ze herren alle.’ Als sie die rede hete gehôrt, sie sprach: ‘ist diz iur aller wort?’ sie sprâchen alle glîche: ‘jâ’. 4760 diu herzogîn sprach aber sâ: ‘des gebt mir iuwer triuwe her, ob er mir komet, als ich ger, dem mîn herze hât gehuldet, daz ir sîn gebieten duldet!’ 4765 sie buten des ein vesten eit. 4720
Nun war ein Jahr ins Land gegangen, seit Bene zur Fürstin gewählt worden war nach dem Vorschlag des weisen Bürgers. Dieser beabsichtigte nun, die Landherren zu befragen, wie ihnen die Herzogin inzwischen gefiel. Kaum hatte er zu reden begonnen, lautete ihre einhellige Antwort, sie gefiele ihnen von Tag zu Tag besser. Sie hatte sich das hart erarbeitet. Es ging ihnen so gut mit ihr, dass sie sich ihres Glückes erfreuten. Wollte sie einen Fürsten heiraten, so war das in ihrer aller Sinne, weil ihr die Lebensbürde ohne Mann zu schwer sein mochte. Einem hochgeborenen Grafen wurde anvertraut, diesen Beschluss vor sie zu bringen. Als sie zu Rate saß, sprach er höflich bei ihr vor. Der altersweise Graf überbrachte die Botschaft der Landherren so: „All unseren Göttern, die Euch, Herrin, zu unserem Heil in dieses Land gesandt haben, Apollo, Machmet und Tervigant, gebührt Dank dafür. Sie sorgten durch Euch aufs Beste für uns. Der machtvolle Jupiter, der Schutz und Schirm aller Geschöpfe ist und Macht über alle Dinge hat, gebe Euch ungetrübte Freude und lasse Euch lange leben. Herrin, wenn Ihr Eure Schönheit aus Liebe einem Freund schenken wollt, und wenn Ihr einen Fürsten kennt, der Euch gefällt, nehmen wir ihn alle zum Herrn.“ Als sie diese Rede hörte, sprach sie: „Ist das Euer einmütiges Wort?“ Sie sprachen alle zugleich: „Ja!“ Die Herzogin fuhr gleich fort: „Gebt mir darauf Euer Wort: Wenn (was ich ersehne) der zu mir kommt, dem mein Herz seine Huld geschenkt hat, dann unterwerft Ihr Euch seinem Gebot!“ Sie leisteten darauf einen festen Eid.
4726 sus] doch. 4733 〈anders〉. 4743 Appollo Machmet Tervigant] apollo machimet vnd teruagant.
112 | 5 Herzogin Bene sie sprach: ‘dem iuwer wirdekeit hiute hie hulde hât gesworn, der ist ein vürste wol geborn von hôher art in wirde phliht.’ 4770 sie wolde in vürbaz sagen niht wer der fürste wære. disiu rede wol ringte ir swære. die wîle sie die under in heten, sie dûhte daz sie hæte erbeten 4775 ir süezen friunt in ir gewalt. hügender fröuden was sie balt, doch zühteclîchen wol gemuot, als noch der liebe gernde tuot den nâch friunde gedanke machent frô. 4780 ich wil daz wol, ez sî alsô daz liep mit liebe erfröuwet wirt. ir herzen voget gewaldic wirt was er in ir muote. des fröute sich diu guote. 4785 ir gap daz offenlîchen wân daz ir noch quæme ir lieber man. des herze sie betwungen het, ze Krist was flîzic sîn gebet 92rb daz im daz noch geschæhe 4790 daz er sie frô gesæhe. Frou Bêne diu klâre in dem fünften jâre was nû gewesen herzogîn. ir kiusche an wirde vant gewin, 4795 ir lant was rîche und stuont wol. man lobtes, sô man die guoten sol, die wol gebornen frouwen hêr. ûf einem kocken über mer quâmen bilgerîne von der habe. 4800 die brâht vür sie der hübsche knabe, als im von ir bevolhen was. vor der fürstîn ûf dem palas die ellenden âzen. niht verre sie ir sâzen. 4805 diu frouwe frâgen began umb mære die ellenden man wâ ir heimuot wære. sie berihten sie der mære, sie heten in Tenemarken hûs
Sie sprach: „Der, dem Ihr hier und heute würdevoll die Treue gelobt habt, ist ein hochgeborener Fürst von hoher Geburt und Stellung.“ Wer dieser Fürst sei, wollte sie ihnen nicht näher sagen. Dieses Gespräch minderte die Sorgen der Räte. Sie glaubten, sie hätte ihren Geliebten als Mitherrscher erbeten, solange beide bei ihnen lebten. Bene wurde von frohen, doch schicklich verhohlenen Ahnungen erfasst, wie es bei Liebenden meist geht, wenn Erinnerungen an den Freund sie froh machen. Ich beharre darauf: Es ist nun einmal so, dass Liebende durch Liebe beglückt werden. Als Herzenshüter und machtvoller Herr war er in ihren Gedanken. Darüber freute sich die Edle. Es gab ihr sichtlich Zuversicht, dass ihr lieber Mann noch zurückkehren würde. Der, dessen Herz sie so bezwungen hatte, betete unterdessen innig zu Christus, dass er es noch erlebe, sie frohgemut wiederzusehen. Die schöne Frau Bene war nun im fünften Jahr als Herzogin. Ihr Lebenswandel zahlte sich durch Ansehen aus: Ihr Land war machtvoll und erblühte im Wohlstand. Man lobte die hochgeborene Fürstin, wie es sich für Tüchtige gehört. Auf einer Kogge aus Outremer trafen Pilger im Hafen ein. Der Hofknappe brachte sie zur Herzogin, wie ihm von ihr aufgetragen war. Im Palas vor der Fürstin wurden die Fremden bewirtet. Sie saßen nicht weit von ihr. Die Herzogin begann sie zu befragen, wo ihre Heimat sei. Sie erzählten ihr, dass sie in Dänemark wohnten
Vor 4791: Freiraum für Überschrift. 4776 hügender] sußer. 4778 als noch] alß auch noch. 4780 wil] wene (‘glaube’). 4785 〈daz〉 (gegen DH).
5 Herzogin Bene | 113
und füern durch Kristum arm ûz und durch der sêle genesen wærn sie über mer gewesen bî dem heiligen grabe. von dannen sie quæmen ûf der habe 4815 und wolden wider ze lande. dô sprach diu werde genande daz sie ir wolden sagen mêr von Krist, dem grabe und über mer und von der lande gelegenheit, 4820 von den heiden und der kristenheit. Dô sprach mit zühten einer under in (mê deheiner): 92va ‘ist ez uns niht ze vâre?’ ‘nein’ sprach diu frouwe klâre. 4825 ‘sô wil ich iu von Kriste sagen, von dem leben daz wir tragen, von des grabes heilekeit dâ der herre wart în geleit dô er unschuldic durch uns starp. 4830 doch er noch lebt und uns erwarp als wir dem tôde wârn gegeben, mit im ein iemer werndez leben.’ sie sprach : ‘starp Krist und lebet doch?’ er sprach: ‘jâ, ie unde noch. 4835 êwic lebet er iemer, sîns lebens wirt ende niemer.’ aber sprach diu gewære: ‘daz sint fremdiu mære. wizzt ir, herre mîn, wâ Krist 4840 stæte wone oder wâ er ist?’ der gast ze der guoten sprach: ‘ez ist unlange daz ich in sach.’ sie sprach: ‘herre, saget wâ? ist er uns gehûset nâ?’ 4845 ‘dô ich noch ûf dem schiffe was, ein priester eine messe las. dô sach ich den starken got, des gewalt und des gebot himel und erde wesent vol, 4850 des wirde sich niht glîchen sol, der künic ob allen vürsten ist, got, unser herre Jêsus Krist, von des kraft wir alle leben; âne in daz niemen mac gegeben. 4855 der eine in alliu herzen siht, vor im mac sich verbergen niht, 4810
und um Christi willen in Armut ausgefahren seien; ihres Seelenheils wegen seien sie in Outremer am Heiligen Grab gewesen. Von dort hätten sie den Hafen angesteuert und wollten zurück in ihr Land. Da bat sie die Edle, ihr mehr zu berichten von Christus, dem Grab und Outremer, von der Lage der Länder, von Heiden und Christen. Darauf antwortete einer von ihnen höflich für alle: „Ihr hegt dabei keine Hintergedanken?“ „Nein“, antwortete die schöne Frau. „Dann will ich Euch von Christus berichten, von unserer Lebensweise und vom Heiligen Grab, in das der Herr gelegt worden war, nachdem er schuldlos für uns gestorben war. Aber er lebt noch und hat uns das ewige Leben an seiner Seite erkämpft, nachdem wir schon dem Tod verfallen waren.“ Sie fiel ein: „Christus starb und lebt doch noch?“ Der andere antwortete: „Ja, stets und bis heute. Er lebt in Ewigkeit, sein Leben hat kein Ende.“ Erneut sprach die Redliche: „Das sind seltsame Berichte. Wisst ihr denn, mein Herr, wo Christus lebt oder wo er ist?“ Der Fremde antwortete der Edlen: „Es ist nicht lange her, dass ich ihn sah.“ Sie sprach: „Wo denn, Herr? Wohnt er etwa hier in der Nähe?“ „Als ich noch auf dem Schiff war, las ein Priester die Messe. Da sah ich den mächtigen Gott, von dessen Allmacht und Gebot Himmel und Erde erfüllt sind, dessen Ehre ohnegleichen ist, der König vor allen Fürsten ist, Gott, unsern Herrn Jesus Christus, aus dessen Macht wir alle leben und der allein Leben geben kann. Nichts kann sich vor ihm verbergen, der einzig in alle Herzen blickt,
4810 durch Kristum arm ûz] durch krist arm suß. 4828 〈herre〉. 4839 〈mîn〉 (gegen DH).
114 | 5 Herzogin Bene dem alliu tougen sint offenbâr, der in sînen handen gar alliu dinc beslozzen hât, 4860 er lât sich sehen an aller stat. niemen der ist bescheiden, 92vb er sî kristen, jude, heiden, sîn übergrôz almehtekeit im genâden ist bereit. 4865 sîn gnâde ist vollic bî dem grabe. man komet dâ grôzer sünden abe. manic wert man des geruochet daz er ez verre suochet. die siechen werdent dâ gesunt. 4870 dâ ist genâden hôher funt, volliu sælde âne zil und endelôses trôstes vil. ein man dâ sicherlîche erwirbt daz himelrîche; 4875 swer dar rehtlîchen vert, dem tiuvel er die sêle wert.’ Dô frâgte diu herzoginne wer daz grap hæte inne. er sprach: ‘daz hât diu kristenheît.’ 4880 sie sprach: ‘ist ez den heiden leit?’ ‘frouwe, endelîchen jâ. dâ hânt vil gekrieget nâ[.] der heiden vürsten über mer fuorten kreftigiu her 4885 unmâzen gein der kristenheit. sie müet des grabes heilekeit und daz unser herre Krist sô starc an sînen kreften ist daz der heiden abgote 4890 von des hœsten gebote an ir krefte swachent. sîn hôhe tugende daz machent der aller sache gebieter ist, daz sie zervarent als ein mist, 4895 swan er ir triegen stœren wil.’ Sie sprach: ‘hât ritterschefte vil über mer diu heidenschaft?’ ‘jâ, frouwe, gein der kristen kraft sie mugen volleclîchen hân 4900 tûsent gegen einem man, 93ra und turren doch in strîten der kristen niht erbîten.
dem alle Geheimnisse offenbar sind, der in seinen Händen alles ganz und gar umschlossen hält: Er gibt sich überall preis. Jedem Verständigen, sei er Christ, Jude oder Heide, hält seine überwältigende Allmacht Gnade bereit. Seine Gnade fließt über am Heiligen Grab: Man wird dort von großen Sünden befreit. Viele edle Männer besuchen es von weit her. Die Kranken werden dort gesund. Man findet dort Gnade in Fülle, volles Heil ohne Maß und Hilfe ohne Ende. Sicher erwirbt man sich dort das Himmelreich. Wer in rechter Gesinnung dorthin zieht, entwindet seine Seele dem Teufel.“ Darauf fragte die Herzogin, wer denn das Grab besitze. Er sprach: „Die Christenheit besitzt es.“ Sie erwiderte: „Das schmerzt aber doch die Heiden?“ „Herrin, so ist es wirklich. Viele haben danach gerungen. Die Fürsten der Heiden führten zahllose mächtige Heere über das Meer gegen die Christenheit. Es stört sie die Heiligkeit des Grabes und dass unser Herr Christus so mächtig ist, dass die Götzen der Heiden auf das Gebot des Höchsten ihre Stärke verlieren. Die Macht dessen, der Herr über alle Dinge ist, bewirkt, dass sie wie Dreck zerfallen, sobald er ihr Blendwerk zerstören will.“ Sie sprach: „Hat die Heidenschaft in Outremer so viele Ritter?“ „Ja, Herrin, im Vergleich zur Christenmacht dürften sie gut und gern tausend Mann gegen einen aufbieten. Dennoch wagen sie es nicht, sich den Christen zu stellen.
4857 tougen] ding. 4861 bescheiden] verscheiden (für verschieden? dann anderer Sinn: ‘Gottes Gnade ist im Tod jedem gewiss’). 4863 übergrôz] groß.
5 Herzogin Bene | 115
jâ frouwe, ûf sîner helfe trôst der uns von tôde hât erlôst, 4905 mit dem wir iemer sulen wesen durch der sêlen genesen: ich sach daz tûsent kristenman ir zehen tûsent randen an und sluogen sie sô gar dar nider 4910 daz niht der hundertste quam wider. ez streit ein herre alsô dâ, ich wæne daz nie anderswâ swaz ie strîte sîn geschehen, iemen sô menlîch sî gesehen. 4915 frouwe, ich was in strît mit ime ûf mîne wârheit ich daz nime daz nie sô werlîchiu hant in strît gein vînden ist erkant.’ Sie sprach: ‘ei, herre, saget an, 4920 in welchen jârn ist er ein man, und waz sint diu wâpen sîn?’ er sprach: ‘ein kriuze guldîn fuort er in einem schilde wîz, daz selbe mit kostelîchem flîz 4925 in sînen wâpenroc gesniten, den helm nâch denselben siten rîlich gezimieret. sus komet der helt gezieret nâch wunsche ze velde. 4930 swelch vîent des engelde, des ahtet er niht umb ein hâr. ich sinne, er habe wol drîzic jâr, niht vil minner noch vil mêr. vür al die ritter ûz dem her 93rb hât er bejaget den hœsten prîs: schœne, milte, küene, wîs.’ ‘ist er dâ durch iuwern got oder von der minne gebot? habet ir des iht vernomen 4940 von wannen der herre dar sî komen?’ ‘jâ, frouwe, ich hôrte daz vür wâr, er wære ein heiden dô er dar ze Jerûsalêm selbander quam, dâ er den touf an sich genam 4945 durch Jêsum Krist der in geschuof. der name ist sîner krîe ruof, gein dem er wâre triuwe treit, und hilfet sîner kristenheit.
Ja, Herrin, im Wissen um die Hilfe dessen, der uns vom Tod erlöste, mit dem wir immer sein werden der Rettung unserer Seelen wegen: Ich selbst sah, dass tausend Christen gegen 10000 Heiden anrannten und sie so restlos niederstreckten, dass nicht einer von hundert entkam. Ein Ritter kämpfte dort so, dass, so glaube ich, nie anderswo in irgendeinem Krieg jemand ähnlich mannhaft gesehen wurde. Herrin, ich stand mit ihm im Kampf und nehme es auf meine Ehre, dass nie ein so wehrhafter Arm sich gegen Feinde erhob.“ Sie sprach: „Nun sagt, Herr, wie alt war der Mann und was ist sein Wappenzeichen?“ Er erwiderte: „Auf weißem Schild führte er ein goldenes Kreuz; beides war in höchster Sorgfalt in seinen Waffenrock geschnitten. Der Helm trug das gleiche Emblem als prachtvolles Zimier. So vollkommen ausstaffiert zog der Held auf das Schlachtfeld. Ihn interessierte nicht im geringsten, welcher Feind dafür büßte. Ich denke, er ist um die dreißig, nicht viel jünger oder älter. Vor allen anderen Rittern seines Heeres hat er sich den höchsten Ruhm erstritten: Er ist schön, großherzig, kühn, verständig.“ „Ist er wegen Eures Gottes oder auf Geheiß der Minne dort? Habt Ihr etwas darüber gehört, woher der Herr kam?“ „Ja, Herrin, ich hörte tatsächlich, er sei Heide gewesen, als er mit einem Begleiter nach Jerusalem kam, wo er sich um Jesu Christi, seines Schöpfers, willen taufen ließ. Christi Name ist sein Schlachtruf, ihm zeigt er echte Treue und er hilft seiner Christenheit.
4903 ûf] yn. 4921 waz] welich. 4924 selbe mit] selbe hait er mit (H het mit). 4932 sinne] wene. drîzic] xxx. 4941 〈daz〉 (gegen DH).
116 | 5 Herzogin Bene swâ ich bî im in strîte was, der vînde kleine vor im genas. ich sach daz er mit strîtes nôt Tervigant der heiden got ân manic tûsent der vînde danc mit strîte werlich erranc. 4955 mit dem werke daz in truoc enbor, warf er in in ein swachez hor ze êren der gotes krefte, ze smâcheit der heidenschefte. Ich sage iu, frouwe, waz im geschach, 4960 daz manic werdez ouge sach. ez was des soldânes mâc (vil sînes trôstes an im lac) ein heiden rîch von arte hô. der enbôt dem herren sô, 4965 er wolde aleine in bestân ob im des fride wær getân daz in niht wan sîn eines hant mit strîte bestüende ûf dem sant, quæme er vür Jerosolimis. 93va der rede in Wilhalm tet gewis daz er gerlich âne vâr wær vor al den kristen gar. gein im ze kamphe wolde er komen. nâch sîner ger ein tac genomen 4975 wart dô zwischen in beiden. der kristen und der heiden in grôzem werde quâmen dar. ietweder hete ein schœne schar. wie rîch der heiden aldar quam 4980 mit gezierde wünnesam, mit rîlîcher koste, als er sich ze der joste und ûf den kamph het beriht! dem gesach ich nie gelîches niht. 4985 kleine in des bevilde. ûf helme und ûf schilde was Jupiter sîn werder got geworht von rîchem golde rôt, vil steine darîn verwieret. 4990 diu in sô kondewieret, sîn wîp dem wunsche glîch gevar was ouch in wirde komen dar. grôzer kraft der heiden wielt, 4950
Vor 4959: Freiraum für Überschrift. 4977 〈werde〉.
Wo immer ich mit ihm im Kampfgetümmel stand, blieb vor ihm kaum ein Feind am Leben. Ich sah, dass er in heftigem Kampf Tervigant, den Heidengott, gegen tausende Feinde mit mächtigem Arm erbeutete. Samt Sockel warf er das Bild in den Schmutz, zum Ruhm der Macht Gottes und zur Schande der Heiden. Ich sage Euch, Fürstin, was ihm vor vieler Augen geschah. Es war da ein Verwandter des Sultans, und dessen Hoffnungsträger, ein mächtiger Heide von hohem Adel. Der entbot dem Herren, er wolle im Zweikampf gegen ihn antreten; wenn man ihm zusichere, dass einzig und allein er ihm auf dem Kampfplatz entgegenträte, dann käme er vor Jerusalems Mauer. Wilhalm versicherte ihm, er könne wie gewünscht vor allen anderen Christen ungefährdet sein. Er wollte mit ihm kämpfen. Nach seinem Vorschlag wurde ein Kampftermin zwischen beiden festgesetzt. Der Christ und der Heide kamen vornehm zum Kampfplatz, jeder mit einem ansehnlichen Gefolge. Wie prächtig kam der Heide daher, wunderbar geschmückt und kostbar ausstaffiert, so wie er sich zur Tjost und zum Kampf gerüstet hatte. Ich sah nie Seinesgleichen. Er gab sich entschlossen. Auf Helm und Schild war aus reichem roten Gold sein edler Gott Jupiter angebracht und viele Edelsteine waren darin eingewirkt. Geleitet wurde er von seiner wunderschönen Gemahlin, die ihrerseits vornehm daherkam. Der Heide war kräftig,
5 Herzogin Bene | 117
dô er noch unverbunden hielt. dem herren Wilhalme er enbôt, twunge er in mit kamphes nôt, al sîne gote wolde er lân. daz solde ouch sîn von im getân ob er in betwunge 5000 und sic an im errunge, nâch dem und er in hieze daz er Kristum lieze. des helfe Wilhalm sich vermaz. ûf sînen trôst sô lobte er daz, 5005 in sîme namen hofte er gesigen, der heiden schallen solde geligen. ûf daz was im ze joste gâch. Wilhalm man schône komen sach. 93vb die beide manheit wielden, 5010 niht lange sie enthielden, diu ros sie dructen mit den sporn die ritter wert und ûzerkorn swanten mit jostes krefte ir starke gedigene schefte. 5015 die trunzûn sach man stîgen hôch. als daz ergie, ietweder zôch ûz der scheiden sâ sîn swert. sô herten strît die ritter wert aldâ vor allem volke striten 5020 sô lange mit unverzagten siten daz al daz volc des verdrôz. der schilde sie beide wurden blôz. darnâch ze vuoze sie gedigen: ir ros sach man verhouwen ligen, 5025 daz sie niht mê entohten. ze andern sie niht mohten komen vor unmuoze. dô striten sie ze vuoze einen sô ritterlîchen strît, 5030 ich wæne daz hie vor noch sît geschach sô herteclîch ein kamph. von ietwederm gienc ein damph, nû sehet, als rouchte ein grôzer berc. Wilhalm durch daz liehte werc 5035 daz er ûf dem helme truoc, den heiden sô krefteclîchen sluoc, daz er strûchen began. des fröute sich der werde man. geloubt mir, frouwe, sîn was nôt! 4995
solange er noch keinen Verband trug. Er entbot Wilhalm dies: Sollte er ihn im Kampf auf Leben und Tod besiegen, so wollte er von allen seinen Göttern lassen. Im Gegenzug erwartete er auch von ihm, wenn er ihn bezwinge und den Sieg über ihn erringe, dass er dann auf sein Geheiß auch von Christus ablasse. Wilhalm aber setzte ganz auf Christi Hilfe. Im Vertrauen auf ihn nahm er das Angebot an und hoffte, in Christi Namen zu siegen: Die Prahlerei der Heiden sollte zuschanden werden. Deshalb drängte er zur Tjost. Man sah Wilhalm machtvoll heransprengen. Beide Gegner hatten Mut und zauderten nicht lange, den Pferden die Sporen zu geben. Die edlen und auserwählten Ritter verstachen in heftiger Tjost ihre eisenharten Speere. Die Splitter stoben auf. Nach dem Stechen zog jeder sein Schwert aus der Scheide. So erbittert und lange kämpften die edlen Ritter dort unermüdlich im Angesicht des gesamten Kriegsvolks, bis es diesem allmählich genug war. Beide verloren die Schilde. Schließlich, als auch ihre Pferde tot dalagen und ihnen zu nichts mehr nutzten, kämpften sie zu Fuß weiter. In der Hitze des Gefechts konnten sie andere Pferde nicht bekommen. So fochten sie zu Fuß einen so ritterlichen Kampf, dass es, wie ich glaube, nie davor und danach ein so erbittertes Kräftemessen gab. Seht doch: Jeder schwitzte, als qualmte ein großer Vulkan. Wilhalm schlug den Heiden durch dessen helles Zimier, das er auf dem Helm trug, so heftig, dass dieser ins Straucheln kam. Darüber freute sich der edle Mann. Glaubt mir, Herrin, das rettete ihn!
5017 〈sâ〉 (gegen DH). 5018 sô herten strît] so daz geschach. 5036 krefteclîchen] krefftlichen er.
5030 〈hie〉 (gegen DH).
5033 als] wo.
118 | 5 Herzogin Bene
5040
5045
der heiden gerte daz er in tôt slüege, er wolt sich niht ergeben. dô liez in Wilhalm ûf daz leben daz ern berihte ze Kristes ê, als er sich het verlobet ê. daz muoste tuon der Sarrazîn. er nam im mit dem wîbe sîn den touf. die heiden von dem plân schieden trûreclîchen dan.’
Der Heide bat, er solle ihn töten. Er wollte sich nicht ergeben. Da bot Wilhalm ihm Sicherheit, wenn er sich Christi Lehre zuwende, wie er es vor dem Kampf gelobt hatte. Der Sarazene musste das tun. Er ließ sich mit seiner Gemahlin taufen. Die Heiden zogen gebrochen vom Kampfplatz.“
6 Die verkauften Kinder (v. 5049–6815) Orts- und Protagonistenwechsel: Die nach wie vor namenlosen Zwillingssöhne werden in den Familien ihrer Käufer ohne Wissen voneinander christlich erzogen. Ihre Schönheit und Zucht wecken den Neid der Pflegemütter. Ein Zank mit den Stiefbrüdern führt in beiden Fällen (erzählt wird stellvertretend nur einer) zur Konfrontation. Die Zwillinge erfahren durch die scheltenden Mütter von ihrer fremden Herkunft und erhalten zum Beweis den Gewandzipfel, in den sie bei ihrer Ankunft gewickelt waren. Voll Sehnsucht nach der eigenen Familie ziehen beide aus. Frau Sælde lässt sie vor den Toren Lundens zusammentreffen, sich im Gespräch als Landsleute und Schicksalsgenossen erkennen und Freundschaft schließen. Als Brüder erkennen sie sich nicht. Gott, der große wunderer (Wunderwirker), führt sie zu einem reichen Wirt, der hinter der schäbigen Kleidung ihre hohe art zu sehen vermag und sie großmütig aufnimmt. Er ahnt, dass sie Brüder sind, und nimmt sie mit seiner Frau an Sohnes statt an. Durch den neuen Gastherrn gelangen sie an den Hof des Königs Honestus, der sie zum Leidwesen des Adoptivvaters in sein Gefolge aufnimmt, prächtig einkleidet und mit hohen Ämtern betraut. Die Unruhe über ihre Herkunft lässt sie indes nicht mehr los, und eines Tages gestehen sich beide ihr Verlangen, das gemeinsame Geheimnis zu lüften. Sie bitten den König um urloup. Widerstrebend und nur für ein Jahr wird er gewährt. In diesem Jahr ziehen sie als Ritter durchs Land, erwerben Turnierruhm – und versäumen die Frist. Aus Furcht vor Honestus’ Ungnade ziehen sie nicht an den Hof zurück, sondern reisen übers Meer, wo sie der Zufall geradewegs ins mütterliche Herzogtum führt. Dort gehen ihnen die Mittel aus, ein unerbittlicher Wirt nimmt ihre Pferde als Pfand. Sie beraten das weitere Tun, dabei zwischen Furcht vor Glaubensverlust im Heidenland und unbewusster Faszination für die ihnen unbekannte Stadt schwankend, in der die unerkannte Mutter regiert. Auf dem Tiefpunkt ihrer Vita nötigt sie die schiere Not schließlich zum Räuberdasein, wobei sie ihre Skrupel damit beruhigen, dass die Opfer ja Heiden seien. Ausgerechnet im Umkreis ihres Geburtsorts sammeln sie 12 Gesetzlose um sich und überfallen Kaufleute, die auf der Landstraße, die einst auch ihre Eltern passiert hatten, mit Waren und Geld zum Hafen ziehen. Die Geschädigten führen vor Herzogin Bene Klage, diese setzt die Täter wegen Landfriedensbruch in Acht. Ein halbes Jahr später landet eine Kogge im Hafen. Wilhalm und drei Begleiter gehen an Land. Bene empfängt die Pilger, erkennt Wilhalm aber nicht, da sein Haar ergraut ist; in ihren ahnenden Herzen fühlen sie sich aber einander nahe. Nach dem Abendessen sucht Wilhalm vergeblich nach dem Haus der Witwe, in dem er Bene einst zurückgelassen hatte. Das Viertel ist abgebrannt, und Wilhalm erinnert sich nicht an den Namen der großherzigen Wirtin. Auf Benes Frage nach seiner Herkunft antwortet er ausweichend, dafür beglückt er sie mit einer emphatischen Lehrrede, der dritten Katechesesequenz des Romans. Neue Freveltaten der Räuberbande veranlassen Bene, zur Vollstreckung der Acht das Landheer aufzubieten. Wilhalm hört davon und interveniert ungefragt: Es sei schändlich, das ganze Land gegen eine Räuberbande zu führen, überdies wenig aussichtsreich, da sich diese vor der Übermacht nur ins Dickicht des schützenden Waldes zurückziehen müsse, wo keine Armee etwas ausrichte. Besser wäre es, den Räubern Gnade anzubieten. Er selbst könne vermitteln. Bene nimmt an. Als Wilhalm im Räuberschlupfloch eintrifft, erweisen ihm die Anführer der Bande wider Erwarten einen ehrerbietigen Empfang. Wilhalm spricht beide einzeln. Als er vom ersten erfährt, dass sie Christen seien, redet er ihm ins Gewissen und lockt mit freiem Geleit. Boizlabe (der Name fällt erst jetzt) legt daraufhin eine Lebensbeichte ab und zeigt den Gewandfetzen. Wilhalm erkennt daran den Sohn, preist Gottes Fügung und hört sich nun auch die Geschichte des zweiten, Danus, an. Der Vater offenbart sich noch nicht, um nun alleinwissend die Fäden zu ziehen. Am Folgemorgen treten der Vater, die Söhne und ihre Kumpane vor die Herzogin. Auf Wilhalms Fürbitte werden sie begnadigt, beschenkt und mit hohen Ämtern betraut. So verhilft Wilhalm seinen Erben wieder zu dem, was er ihnen Jahrzehnte zuvor genommen hatte.
120 | 6 Die verkauften Kinder 94ra
Nû komen wir an diu werden kint diu noch in ellende sint, diu sô wert ein wîp gebar. ob man den rehte mite var nâch ir geburt geslehte? hielt man sie nâch ir rehte? 5055 nein. sie wâren unbewart. man hielt sie niht nâch ir art. sie muosten dienen ir brôt, soldens mîden hungers nôt, als armer liute kinder tuon. 5060 ietweder doch wânde, er wære sun des hûses und dâ liebez kint, als noch kinder bî einvalde sint, diu sich nihtes ervaren haben. dise zwêne süezen knaben 5065 swie man sie hielt in smæhe, ir gebære wârn doch wæhe und zühteclîchen wol behuot. die lêre in gap ir reiner muot, ir geburt sich sô bewîste. 5070 vür ander kint man prîste ir tuon und ir gebâren. gesundert sie doch wâren und ir wonunge underscheiden. grôz wunder an in beiden, 5075 als ich die rede vernomen hân, ergienc. der wunder wundern kan, daz gap; des almehtigen gewalt noch wundert wunder manicvalt. Den sie ze koufe sîn gegeben, 5080 die hielden kristenlîchez leben. sie heten ouch zer kristenheit dise zwêne bereit, den got zir rehte helfen wil. von ir hôchgebürte zil 94rb daz ir muoter sie gebar, des wârn dô ahtzehen jâr. swes dem hûse nôt geschach, dâ sande man sie dicke nâch. sie muosten holz und wazzer holn, 5090 viur machen bî den koln, der wirte spîse brâten. doch willic siez allez tâten 5050
Nun wenden wir uns den edlen Kindern zu, die eine Frau so edel geboren hat, die aber noch in der Fremde leben. Ging man recht und ihrer Herkunft entsprechend mit ihnen um? Behandelte man sie standesgemäß? Nein. Sie waren schutzlos, und man erzog sie nicht nach ihrer Art. Sie mussten um ihr Brot dienen, um nicht Hunger zu leiden, ganz wie es armer Leute Kinder tun. Jeder von beiden meinte ja, er sei ein Sohn der Eltern, bei denen er aufwuchs, wie eben Kinder, die noch nicht weit herumgekommen sind, in Unwissenheit leben. Diese beiden schönen Knaben zeigten aber ein feines, selbstbeherrschtes Verhalten, wie schmählich man sie auch hielt. Dies lehrte sie ihr edler Sinn, und ihre hohe Abstammung erwies sich daran. Ihr Tun und ihr Gebaren stachen lobenswert von anderen Kindern ab. Gleichwohl waren sie voneinander getrennt und lebten an verschiedenen Orten. Wie ich vernahm, geschah ein großes Wunder an ihnen. Der, der Wunder wirken kann, fügte es so. Gottes Allmacht wirkt immer noch vielerlei Wunder. Es waren Christen, an die sie verkauft worden waren. Diese erzogen die beiden, denen Gott noch zu ihrem Recht verhelfen wird, auch als Christen. Seit ihrer Geburt waren 18 Jahre vergangen. Wo immer etwas im Haus fehlte, schickte man sie aus, es zu besorgen. Sie mussten Holz und Wasser holen, mit Kohle Feuer anzünden, für die Pflegeeltern kochen. Sie aber taten alles bereitwillig
Vor 5049: Freiraum für Überschrift. 5062 bî einvalde] von eynfalt. 5074 an] vnder.
5070 man prîste] man sy priste (allgemeiner).
5072 〈doch〉 (gegen DH).
6 Die verkauften Kinder | 121
und genendic âne widerkîf. ir ietweder gienc und lief 5095 swar in iemen senden wolde. des het sie daz gesinde holde. niuwan der koufliute wîp sie niten daz sie schœnen lîp heten und adelîche var 5100 ir kinden vor: daz swârtes gar. vür ander ir kinder dructen sie sie hinder sô die wirte ûz wâren. des engulden starke die klâren. 5105 Der eldeste wirtinne sun eins tages wolde unfuoge tuon an dem einen und wolde in slân und in bî dem hâre vân. des im jener sich enbrach 5110 und begreif des wirtes sun darnâch. er warf in under sich darnider und zôch in vort unde wider. er zeiste im sîne wollen mit fûstslegen envollen, 5115 daz er starke: ‘owê, owê’ nâch sîner muoter helfe schrê. als sie des sunes ruof vernam, mit grimme sie an den vremden quam. sie zôch in mit dem hâr herabe. 5120 ‘owê’ sprach sie, ‘daz ich daz habe, dû gekoufter schalc gar betrogen, mit mînem brôte an dir gezogen 94va daz dû mîn kint slahen solt!’ vaste sie in umbebolt 5125 mit dem hâr her unde dar. daz leit er zühteclîchen gar, swaz sie im tet, swie sie in hiez. als diu arge in verliez und er ir ûz den handen quam, 5130 er sprach, als sîner kintheit zam: ‘owê, liebez müeterlîn! ez huop an mir der bruoder mîn. ich muost vor nôt mich sîn wern. wes wiltû in vor mir ûz schern, 5135 daz dû mich slehest und niht in und doch dîn kint ich als er bin? damite vestest dû im den muot daz er aber unvuoge tuot.’ Aber wart diu arge hût
und bis zum Abschluss ohne Widerspruch. Beide gingen und liefen, wohin man sie schickte. Daher waren sie bei der Dienerschaft beliebt. Nur die Frauen der Kaufleute neideten ihnen ihre Schönheit und adlige Blässe, die sie den eigenen Kindern voraus hatten: Das ärgerte sie sehr. Wenn die Männer aus dem Haus waren, setzten sie sie gegenüber ihren eigenen Kindern zurück. Die Edlen bezahlten dafür schmerzlich. Der Älteste der [einen] Frau wollte eines Tages an dem Stiefbruder sein Mütchen kühlen, ihn schlagen und an den Haaren ziehen. Dem entzog sich jener und griff selbst nach dem Sohn des Hauses. Er warf ihn zu Boden und zog ihn hin und her. Er gerbte ihm sein Fell mit massiven Faustschlägen, so dass der andere heftig „Oweh, Oweh!“ schrie, um seine Mutter zu Hilfe zu holen. Als sie den Ruf des Sohnes hörte, kam sie voll Ingrimm über den Stiefsohn. Sie riss ihn an den Haaren weg. „Oweh“, sprach sie, „warum habe ich Dich, gekaufter, eingebildeter Schuft, mit meinem Brot großgezogen, nur damit Du mir meine Kinder schlägst!“ Heftig schüttelte sie seinen Kopf an den Haaren hin und her. Er ertrug alles klaglos, was sie ihm tat und wie sie ihn nannte. Als die Böse abließ von ihm und er sich ihr entwunden hatte, sprach er, wie es seinem Alter entsprach: „Oweh, liebes Mütterchen! Mein Bruder hat damit angefangen, ich musste mich in der Not seiner erwehren. Warum behandelst Du ihn anders, schlägst nur mich und nicht auch ihn, wo ich doch ebenso Dein Kind bin wie er? Damit bestätigst Du ihn nur in seiner Art, so dass er wieder Böses tut.“ Abermals keifte die Alte
5119 sie] vnd. 5120 daz] dich (emendiert analog zu 5122). 5129 〈er〉.
122 | 6 Die verkauften Kinder gein im mit scheltworten lût und gap im einen backenslac daz er ir vor den vüezen lac. ‘mîne sinne des betrüebet sint daz dû gihst, dû sîst mîn kint, 5145 dû vil arger villân’, sprach sie, ‘jâ koufte dich mîn man. dâ bî prüeve dînen art!’ sie gienc iesâ dannewart und entslôz die kiste 5150 dâ sie den gêren wiste dar inne ir man in brâhte. zim sie dô wider gâhte. ‘diz ist dîn schaz und al dîn wât diu dir biz her gevolget hât. 5155 nû wart, wes dû erhebest dich! wie tarstû ie erzürnen mich?’ sprach sie, ‘ich sage dir waz dû tuo’, und warf im den gêren zuo, ‘harte balde ziuch hin wec!’ 5160 und maz im mangen starken vlec, 94vb die er geduldeclich enphienc. er nam den gêren ê daz er gienc. er sprach: ‘ich wânde, ich wære iur kint. sô hœre ich mære 5165 daz ich iuwer kint niht bin.’ sie sprach: ‘balde von mir hin daz ich mêr dich iht gesehe! allez übel dir geschehe! ist unser guot an dir verlorn, 5170 waz darumbe? mangen zorn von mir noch lîden sol mîn man durch dich daz er tôrlich kan und noch an mangen enden unser swære arbeit verswenden.’ 5175 Ir arbeit ze lône er zühtic neic ir schône und bat sie bewaren got. getriuwer sin im daz gebôt; swaz sie im ze leide tete, 5180 ie doch er sie in wirde hete und sprach gar trûreclîche alsô: ‘got herre, niemer wirde ich vrô, ichn ervar von wannen ich komen bin.’ mit den worten gienc er hin. 5185 daz übel wîp im vluochte nâch. 5140
mit Schmähworten gegen ihn und ohrfeigte ihn so heftig, dass er ihr zu Füßen lag. „Ich bin empört, dass Du Dich mein Kind nennst, Du ungehobelter Tölpel“, sprach sie. „Mein Mann hat Dich gekauft. Erkenne daran Deine Herkunft!“ Und stracks ging sie hinaus und schloss die Kiste auf, in der sie das Stoffstück wusste, in dem ihn ihr Mann hergebracht hatte. Sie eilte zu ihm zurück. „Das ist Dein Besitz und all Deine Kleidung, die Du hierher mitgebracht hast. Pass also auf, womit Du Dich brüstest! Wie kannst Du je wagen, mich zu erzürnen?“ Und sie fuhr fort: „Ich sage Dir, was Du nun tust“, und warf ihm den Stoff entgegen, „Verschwinde sofort von hier!“ Sie prügelte auf ihn ein, was er geduldig ertrug. Er nahm den Stoff, ehe er ging. Er sprach: „Ich dachte, ich sei Euer Kind. Nun höre ich, dass ich Euer Kind gar nicht bin.“ Sie erwiderte: „Zieh ab, ich will Dich nicht mehr sehen! Übel soll es Dir gehen! Warum nur verschwendeten wir unser Gut an Dich? Mein Mann wird meine Wut Deinetwegen noch spüren. Wie kann er so dumm und so wahllos den Ertrag unserer schweren Arbeit vertun!“ Aus Dank für ihre Fürsorge neigte er demütig den Kopf zu ihr und erbat für sie Gottes Schutz. Seine Redlichkeit gebot ihm das. So böse sie ihn auch behandelte, so ehrerbietig benahm er sich und sprach ganz traurig: „Herr Gott, ich werde nie mehr glücklich sein, wenn ich nicht erfahre, von woher ich gekommen bin.“ Mit diesen Worten zog er fort. Die üble Frau fluchte ihm hinterher.
5148 iesâ] so. 5159 harte] vil (DH). 5160 mangen starken] vil manigen. 5167 daz] dach daz. 5174 verswenden] verwenden (DH; durch Konjektur sinnverschärft). 5183 von wannen] wan.
6 Die verkauften Kinder | 123
Nû sehet, wie disem hie geschach, als ergienc ez sînem bruoder dort dâ er was, hân ich gehôrt. ich sage iu rehte als ichz vernam: 5190 er rûmte ez glîcher wîse alsam. der truoc ouch sînen gêren mite. glîcher gebâre unde site an hôher geburt die klâren von süezer natûre wâren. 5195 trûric âne mâze sie huoben sich ûf die strâze. dem gelücke ich sie bevil. 95ra sie muosten lîden kumbers zil. ez lac in beiden swærlich, 5200 sie muosten allermenlich nâch armer betelliute siten ir lîpnar vor den hiusern biten. billich wære ez in swære ob sie wisten disiu mære, 5205 Wilhalm und diu herzogîn, daz sus ir kint in armuot sîn. Doch man selden in verseit. daz schuof ir schemigiu kintheit. ir wege wârn gesundert. 5210 wie vrou Sælde mit in wundert! der rede ist guot ze gâmen wie sie zesamen quâmen. vor der stat ze Lunden die herren einander funden. 5215 die doch ein herze wâren, in unkunden gebâren einander buten sie den gruoz. der eine sprach: ‘ob ich iuch muoz, knappe, vrâgen, wannen ir gêt 5220 oder war iur gemüete stêt?’ windescher zunge diu frâge geschach. derselben sprâche dirre sprach, er hæte willen in die stat. dirre in kompânîe bat 5225 und daz erm seite mære wannen sîn geverte wære. Vor müede sie sâzen ûf ein gras daz bî der wegescheide was.
Nun seht: Genauso wie diesem hier erging es auch seinem Bruder, da wo er lebte – so habe ich es gehört. Ich sage es Euch, wie ich es vernahm: Er verließ sein Heim unter genau den gleichen Umständen. Auch er nahm seinen Stoffzipfel mit. Die schönen Knaben glichen sich durch ihre edle Natur in Gebaren, Art und Adel. Beide begaben sich maßlos traurig auf den Weg. Das Glück helfe ihnen! Sie mussten unendlichen Kummer leiden. Beiden fiel es schwer, trotz ihres Standes von Haus zu Haus um Speise zu bitten wie arme Bettler. Wilhalm und die Herzogin träfe es mit gutem Grund heftig, wüssten sie darum, dass ihre Kinder in solcher Armut lebten. Doch nie versagte man ihnen die Gabe. Das verdankten sie ihrer jugendlichen Demut. Ihre Wege verliefen getrennt. Welch Wunder wirkte Frau Sælde an ihnen! Hört nun genau zu, wie sie zusammentrafen. Die Fürstensöhne begegneten einander vor der Stadt Lunden. Die doch eins in Herz und Seele waren, grüßten einander wie Unbekannte. Der eine sagte: „Darf ich Euch, junger Herr, fragen, woher Ihr kommt oder wohin Ihr unterwegs seid?“ Er fragte dies auf Wendisch. Der Angesprochene antwortete in gleicher Sprache, er wolle in die Stadt. Jener bat, ihn zu begleiten, und fragte, woher er käme. Ermattet setzten sie sich auf einen Flecken Gras an einer Weggabelung.
Vor 5227: Freiraum für Überschrift. 5196 huoben sich ûf] erhuben sich an. 5198 lîden … zil] nu liden … vil. 5202 lîpnar vor] nar yn. 5210 wundert] wandert (‘wie sie Wunder an ihnen wirkt’ vs. ‘sie begleitet’). 5221f. dyß sprach/ der selbe sprach dy frage geschach (als Apokoinu zu lesen). 5227 ein] daz.
124 | 6 Die verkauften Kinder jener sprach: ‘ich bin gegân von einer stat, alsô ichz hân, dannen sint wol drîzic mîle her. 95rb knappe, sus stêt al mîn ger ob ich iender dâhin quæme dâ man mich ze dienste næme.’ 5235 dô frâgte in aber dirre sâ: ‘sît ir kristen?’ er sprach: ‘jâ.’ ‘sô saget mir wannen ir bürtic sît!’ ‘mîn geburt mir verre lît: wan ich mich niht versinnen kan 5240 ob ich vater und muoter hân. ichn weiz niht, habe ich deheinen mâc. in der stat, dâ man mîn phlac von kinde biz her und bin gezogen, dâ hât mîn art mich betrogen. 5245 ich wânde, ich wær dâ sun ze hûs. von dannen bin ich gescheiden sus daz ich niht darane habe. mit zorne wîste man mich abe. die ich wânde daz sie wære 5250 mîn muoter, diu seite mir mære wie ich wær dar verkoufet; daz mîn herze in jâmer sloufet und in dem muote swære lît und iemer sol unz an die zît[,] 5255 daz mich got gewîset dar dâ ich mînen art ervar.’ Dô sprach der gefrâget het: ‘unser beider leben glîche stêt, al unser muot unde sin. 5260 alsô ich ouch verweiset bin. allez des ir hât verjehen, sehet, alsô ist mir beschehen. ich enweiz wer mîne mâge sîn. vater joch diu muoter mîn 5265 die sint mir entfremdet gar; al mîner vriunde ich irre var. 95va ich zogte ouch gerne, wiste ich war, dâ ich diende umb die nar.’ Ietweder an den andern sach. 5270 ir muot, ir sin gelîche jach friuntschaft an den andern. ir unkuntlîchez wandern daz sie heten vor getân, 5230
Jener sprach: „Ich zog aus von einem Ort, der, wenn ich recht vermute, gute dreißig Meilen von hier liegt. Gefährte, mein einziger Wunsch ist es, wieder einen Ort zu finden, wo man mich in Dienst nimmt.“ Darauf fragte ihn der andere unvermittelt: „Seid ihr ein Christ?“ – Er sprach: „Ja.“ „Dann erzählt mir doch, wo ihr geboren seid!“ „Meine Heimat liegt weit entfernt von mir: Ich weiß nicht, ob ich noch Vater und Mutter habe. Auch über andere Verwandte weiß ich nichts. In der Stadt, in der ich von Kindheit an Obdach fand und wo ich erzogen wurde, täuschte mich meine Natur: Ich glaubte, ich wäre dort Sohn des Hauses. Ich schied unter Umständen von dort, dass ich dort nichts mehr habe. Im Zorn wies man mir die Tür. Die ich für meine Mutter hielt, gab mir zu verstehen, ich sei dorthin verkauft worden. Das hat mein Herz in Jammer verstrickt und mein Gemüt betrübt, und das wird nicht enden, bis mir Gott den Weg dorthin weist, wo ich meine Familie finde.“ Da sagte der, der gefragt hatte: „Unser beider Schicksale, unsere Erfahrungen und unsere Stimmung gleichen sich. Genauso bin auch ich verwaist. Seht doch, alles was ihr gesagt habt, ist mir auch widerfahren. Ich weiß nicht, wer meine Nächsten sind. Mein Vater und meine Mutter sind mir ganz fremd. Ich bin im Unklaren über meine gesamte Sippe. Wüsste ich nur wohin, zöge ich ebenfalls gerne an einen Ort, wo ich mir meinen Lebensunterhalt verdienen kann.“ Beide sahen einander an. Ihr gleiches Sinnen und Streben machte sie einander zu Freunden. Das ziellose Wandern bis zu diesem Tag,
Vor 5257: Freiraum für Überschrift. 5248 abe] her abe. 5249 die] daz. 5256 dâ] daz (lokal vs. final).
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ir sorge truoc ûf fröuden ban. unkuntlîcher sippe kraft brâhte in werder liebe haft dise edeln vrîen jungen daz ir herze zesamen rungen. ieglîcher bî im selben jach, 5280 sô lieben friunt er nie gesach und bî dem er gerner wære. ir tœrscher rede mære sie manger hande vürbrâhten ê sie des erdâhten 5285 daz sie ir muot vereinden, als ez doch ir herze meinden und ir süezer art, der ir gedanc ze wirdiclîcher ahte twanc. Daz sie alsus in rede sîn, 5290 des was nû guote wîle hin und ez ûf den âbent gie. der eine sprach: ‘nû saget wie wirt unser blîben dise naht?’ der ander sprach: ‘ich hân gedâht, 5295 wan ich des geldes niht enhân, daz ich wil suochen einen man der doch niht halde geste und an der habe sî der beste als in diu stat gehaben mac. 5300 dâ bite ich umb der nar bejac. mich hûset hînt sîn wirdekeit, daz lîhte ein snœder mir verseit.’ ‘desselben ich mich versunnen hân’, sprach der der frâgen began. 95vb ‘sô sitzen wir niht langer!’ dô rûmten sie den anger und giengen balde gein der stat. ein gemüete ir herze begriffen hât, daz von hôher geburt die klâren 5310 gar eines willen wâren. ûf swelche sache der eine sprach, der ander an daz selbe jach und sprach in hügender güete, als stüende sîn gemüete; 5315 als in gap lêre unde rât dem sie Krist bevolhen hât, ir engel, der sie het in phlege vor der stat ûf dem wege. 5275
dazu ihre Sorge, hatten ihnen alle Freude verdorben. Die Bürde unbekannter Abkunft stiftete zwischen den jungen Edelfreien treue Kameradschaft, so dass sich ihre Herzen verbanden. Jeder sprach bei sich selbst, dass er einen so lieben Freund und willkommenen Gefährten nie zuvor gewonnen habe. Noch manch unbedarfte Worte wechselten sie, bevor sie sich entschlossen, beider Absichten zu einer zu machen, wie ihre Herzen es ihnen eingaben und ihre hehre Art und Gesinnung es ihnen zur würdigen Aufgabe machten. Bis sie sich darauf verständigt hatten, brauchte es aber noch einige Zeit, und es ging schon auf den Abend zu. Der eine sprach: „Nun sagt, wo nächtigen wir heute?“ Der andere erwiderte: „Da ich kein Geld habe, überlegte ich mir, einen Mann aufzusuchen, der eigentlich keine Gäste aufnimmt, aber zu den Reichsten in der Stadt gehört. Dort bitte ich um ein Mahl. Sein Edelmut wird mir heute nacht die Herberge bieten, die ein Geizhals mir sicher versagt.“ „Das Gleiche habe auch ich mir gedacht“, sprach der, der die Frage getan hatte. „So warten wir nicht länger!“ Sie verließen die Lichtung und gingen stracks auf die Stadt zu. E i n Sinn hatte ihr Herz ergriffen, so dass die erlauchten Fürstensöhne ganz und gar einer Meinung waren. Was der eine für gut hielt, befürwortete auch der andere, und sprach es freundschaftlich aus, wie es ihm in den Sinn kam. So lehrte und riet ihnen ihr Schutzengel, dem Christus sie anempfohlen hatte und der ihren Weg zur Stadt hin lenkte.
5276 in] yr. 5294 der ander sprach] der eyn sprach (auch der D-Schreiber ist unsicher in der Unterscheidung der Brüder). 5298 und] der. 5309 geburt] art (allgemeiner: Geburtsadel, aber auch Natur, Wesen).
126 | 6 Die verkauften Kinder Mit unverructer triuwe kraft lobten sie geselleschaft, daz diu zergienge niemer die wîle sie lebten iemer. als sie quâmen in die stat, der alliu dinc ze gewalde hât, 5325 der hôhe got geprîset, in ein rîchez hûs sie wîset. darinne wonde ein süezer wirt, rîch, reiner tugende unverirt. man vindet mangen armen man 5330 der ouch nâch wirde werben kan. als sie vür in trâten und in in schemde bâten daz er herberge in durch got des nahtes gæbe und ouch sîn brôt: 5335 daz sie wârn einer reinen fruht, daz merkte er. im geviel ir zuht. güetlich er zen kinden sprach, in solde geschehen guot gemach. sîn reinez herze gebôt im sô: 5340 durch diu kint sô wolde er wesen frô und wolde sie in wirde haben. diz merkte er ouch an den knaben: 96ra al ir tuon und ir gelâz er nâch hôhem arte maz. 5345 noch mê an in vander daz nie kint sô glîche einander wâren ûf der erde. sô merkte er ouch ir gebærde. in sîne ahte er ouch daz nam 5350 daz sô liutsælic, sô wünnesam noch sô wol getân geschicke sîner ougen blicke an menschen nie vernæmen. sus konde er ir vuoge ræmen. 5355 sie vunden guoten willen dâ, sô daz sie niender anderswâ sô guoten wirt vernâmen, swar sie vor ie bequâmen. er phlac ir lieplîche 5360 den âbent rîchlîche. sie wâren wol in sîme behage. ich künde iu nâch der lêre sage. nâch dem âbentezzen, als sie heten gesezzen 5320
In unwandelbarer Treue versprachen sie sich Freundschaft für ihr gesamtes Leben. Als sie in die Stadt kamen, wies sie der allmächtige Gott, der hochgelobte, der über allem steht, zu einem reichen Palais. Dort wohnte ein edler Herr, reich an Besitz und von unwandelbarer Tugend. (Man findet aber durchaus auch Besitzlose, die nach Würde streben.) Als sie vor ihn traten und ihn demütig baten, er möge ihnen um Gottes willen doch ein Bett für die Nacht und Brot geben, merkte er, dass sie aus guter Familie stammten. Ihr Benehmen gefiel ihm. Warmherzig sagte er den jungen Gästen, sie sollten gute Herberge haben. Sein reines Herz gebot es ihm: Er freute sich über die jungen Leute und wollte sie ehrenvoll behandeln. Er beobachtete die beiden: Alles, was sie taten und ließen, fand er sehr vornehm. Auch befand er an ihnen, dass niemals auf Erden zwei junge Leute einander so ähnlich sahen. Er beobachtete auch ihr Verhalten. Er musste sich eingestehen, dass seine Augen niemals so anmutige, entzückende und schöne Geschöpfe unter den Menschen gesehen hatten. So konnte er ihre Gesinnung erkennen. Sie indes fanden Wohlgefallen bei ihm, so dass sie nirgends sonst einen so edlen Gastgeber kennengelernt hatten, wohin sie zuvor auch gekommen waren. Er trug ihnen gastlich zum Abendessen auf. Es ging ihnen gut bei ihm. Ich sage Euch das nach meiner Quelle. Nach dem Abendessen, als sie noch eine Weile
5323 sie] da sy. 5326 〈rîchez〉. 5327 süezer wirt] richer wirt (edel[mütig] vs. reich). 5328 rîch] sust reiner dugende. 5336 merkte er] merckt er an yn. 5340 〈sô〉. 5346 〈sô〉. 5350 liutsælic sô] lutselig und so.
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eine kurze stunde, frâgen sie begunde der wirt von wannen sie wæren. mit zühteclîchen mæren wolt daz an ir kintheit 5370 ervaren sîn bescheidenheit, und ob sie gebrüeder sîn. der eine sprach: ‘nein, herre mîn. wir sîn sippe einander niht. uns brâhte unkuntlîch geschiht 5375 zuo einander vor der stat. mîn geselle wol drîzic mîle hât von sîme heimuot biz her. sus stêt unser beider ger daz wir dienen wolden 5380 und tuon daz wir solden, vünden wir iender einen man der uns ze dienste wolde enphân. 96rb darzuo râtet uns durch got durch iuwer wirdekeit gebot!’ 5385 dô sprach der wirt: ‘ez sol sîn.’ ‘iuwer gnâde’, sprach er, ‘herre mîn’. Niht nâch armer sache wîst man sie ze gemache. aldâ ruoten sie die naht. 5390 der wirt wirdeclich bedâht des nahtes âne slâfen lac. umb diu kint er sorgen phlac. er het ein reine gemuotez wîp, die het er liep als sînen lîp. 5395 ze der sprach der werde man: ‘frouwe, sît wir niht kinder hân al unser lebetage biz her, frouwe, sô ist daz mîn ger daz wir ze kinden disiu kint 5400 nemen diu zâbent komen sint, und erwerben gotes hulde an in. swie sô sie ellende sîn und sus in armüete warn, sie sint doch werder muoter barn 5405 und ûz reinem geslehte. hâstû sie gemerket rehte: wie liutsælic und genæme, wie hübsch und wie gezæme ist allez ir gebâren 5410 bî kintlîchen jâren!’ ‘jâ,’ sprach diu frouwe wol gemuot, 5365
beisammensaßen, begann der Gastgeber zu fragen, woher sie denn kämen. Ohne Neugier wollte er dies von den jungen Herren wissen, und ob sie Brüder seien. Der eine sprach: „Nein, mein Herr. Wir sind nicht verwandt miteinander. Das gemeinsame Nichtwissen brachte uns vor der Stadt zusammen. Mein Gefährte hat seine Heimat gut dreißig Meilen von hier. Wir beide wünschen bei jemandem zu dienen und für ihn zu arbeiten, wenn wir irgendeinen finden, der uns in sein Gesinde aufnimmt. Ratet uns doch um Gottes und Eurer edlen Gesinnung willen!“ Darauf antwortete der Gastherr: „So sei es.“ „Dank Euch, mein Herr“, sprach der Wende. Alles andere als ärmlich war das Gemach, in das man sie wies. Dort schliefen sie. Der Gastherr aber lag die ganze Nacht schlaflos in noblen Gedanken. Er trug Sorge um die beiden. Er hatte eine gutherzige Frau, die er liebte wie sich selbst. Zu ihr sprach er: „Liebe Gattin, wir haben bis heute keine eigenen Kinder; daher wünsche ich, dass wir die beiden an Kindes statt annehmen, die heute abend hierhergekommen sind, und an ihnen Gottes Gnade erwerben. Auch wenn sie so fremd hier sind und so armselig daherkamen, sind sie doch Kinder einer edlen Mutter und aus gutem Hause. Hast Du sie recht betrachtet? Wie freundlich und angenehm, höflich und zurückhaltend betragen sie sich schon in so jungen Jahren!“ Die wohlmeinende Gattin sprach: „Ja,
5373 wir sîn sippe] wir sin mit sippe (DH). 5385 sol] solde. 5389 aldâ] also. 5397f. fehlen D, ergänzt nach H.
128 | 6 Die verkauften Kinder ‘ez ist behegelîch unde guot. herre, nihtes mich bevilt swâmite dû sie êren wilt. 5415 mir gevielen niene kint sô wol. vil gerne ich ouch sie êren sol und liebe tragen in beiden. dû solt sie morgen kleiden, ziern und halden schône 5420 dîner wirdekeit ze lône. mit vollem rât daz zeche daz nihtes in gebreche!’ sus gap ir herze süezen rât, er ervulte ir willen mit der tât. 96va Alsô schier der morgen quam, al sîn gesinde er vür sich nam und bevalch dem sô die werden knaben: als sîniu kint solt man sie haben. swer des niht entæte, 5430 daz in der verloren hæte. er schicte in zwêne knappen zuo die ir spâte unde fruo mit flîze warten solden und tuon swaz sie wolden. 5435 gâhes wâren guotiu kleit desselben tages in bereit. alsô sie diu gelegten an, man gesach nie kinder baz getân noch lieplîcherre gestalt. 5440 der wirt ir frô unde balt was mit sîner trûtîn. diu wol gemuote erbôt sich in mit ganzer liebe, hôrte ich sagen, als sies under ir brüste het getragen. 5445 Aldâ die herren sîn erzogen, was ir übel dâ gephlogen, des wurden sie hie ergetzet gar. man nam ir wirdeclîchen war. nâch ir armuot ungeleite 5450 und nâch ir arbeite sie wâren wol berâten. dô sie geruowet hâten und ir nôt überwunden, dô het man niender vunden 5455 rehter schœnde sô rîche und aller site sô tugentlîche
ihr Benehmen ist anständig und gut. Herr, alles ist mir sehr recht, womit Du sie auszeichnen willst. Nie gefielen mir junge Leute besser. Sehr gern werde auch ich sie ehren und ihnen beiden Freundschaft erweisen. Du sollst sie morgen neu einkleiden und schmücken; dann halte sie standesgemäß, es wird Dein Ansehen mehren. Gib aus vollen Händen, dass es ihnen an nichts fehle!“ So riet ihr selbstloses Herz, und er erfüllte mit Tatkraft ihren Willen. Sobald der Morgen kam, versammelte er seine Dienerschaft und vertraute ihr die edlen Jünglinge an: Man sollte sie wie seine Kinder behandeln. Wer das unterließe, hätte seine Gunst verscherzt. Er wies ihnen zwei Knappen zu, die sich von früh bis spät beflissen um sie kümmern und ihnen jeden Wunsch erfüllen sollten. Rasch waren noch am selben Tag treffliche Kleider für sie bereitet. Als sie diese angelegt hatten, hatte man nie ansehnlichere und anmutigere Gestalten gesehen. Der Hausherr und seine Frau waren froh und stolz auf sie. Die gute Frau wandte ihnen ihre ganze Liebe zu, so hörte ich, als hätte sie sie selbst unter dem Herzen getragen. Hatte man sie da, wo sie aufgewachsen waren, schlecht behandelt, so wurden sie hier nun ganz und gar entschädigt dafür. Man sorgte würdig für sie. Nach ihrem einsamen Elend und ihrer Mühsal ging es ihnen nun bestens. Als sie sich ausgeruht hatten und ihre Not vergaßen, hatte man solch strahlende Schönheit und charakterliche Vollkommenheit
5414 swâmite] wo myde (DH). 5416 〈ouch〉. 5427 bevalch dem sô die werden] beval sy so den werden (Objektbezug geändert). 5431 knappen] knaben (semant. Wandel). 5437 alsô sie diu gelegten] als man sy geleget. 5438 baz getân] baß gestan (besser aussehend vs. besser dastehen). 5447 wurden] waren.
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sô diu edeln kinder wurden dô. jâ was ir niht aleine frô der wirt und sîn gesinde. 5460 als ich ez nâch in vinde, alle die sie ie gesâhen, sælden sie in jâhen und gar an allem teile ir tuon seiten sie ze heile. 5465 In êren worden grîse 96vb was der biderbe wîse und ouch dem künege ein lieber man, als in guoten steten hân die vürsten noch an den sie spehen 5470 triuwe und ganzer wârheit jehen; den wesent sie gerne heimelîch noch under stunden, sihe ich. der wirt quam ûf den palas eins tages dâ der künic was, 5475 mit im die wolgetânen knaben von den wir dise rede haben. als sie der künic von êrste sach, ze dem koufman er dô sprach: ‘sage an, wer sint diu klâren kint 5480 diu mit dir her komen sint?’ er sprach: ‘herre, sie sint mîn. mir gap sie unser trehtîn.’ der künic aber mit frâge sprach: ‘sint sie dîne mâge?’ 5485 er sprach: ‘herre, nein, sie niht.’ den künic er endelich beriht wie sie zuo im wâren komen und er ze kinde sie hete genomen und sie alsô haben wold al ir leben, 5490 sîn erbe in teilen, sîn richtuom geben; nâch sîme tôde an sîner stat besitzen swaz er erbes hât, sie als liebiu kinder solden ob siez gedienen wolden. 5495 Dô sprach der künec Honestus (der name ist in diutsche alsus: êrbære oder êren rîch): ‘dû solt an in gezwîden mich. dû solt mirs ze gesinde geben,
noch nie erlebt, wie die edlen jungen Leute sie offenbarten. Dies beglückte nicht nur den Gastherrn und seine Dienerschaft. Wie ich über sie weiß, beteuerten alle, die sie je sahen, ihre Glückseligkeit, und bekannten, ihr Tun wirke in jeder Hinsicht segensreich. Der treffliche weise Mann war in Ehren alt geworden und der König schätzte ihn sehr, wie es Fürsten an gut regierten Orten noch heute mit Leuten halten, die sie als treu und aufrichtig erleben. Die ziehen sie immer noch gern von Zeit zu Zeit ins Vertrauen, wie ich weiß. Der Gastgeber kam eines Tages zum Königspalast, und mit ihm die schönen Jünglinge, von denen dieser Teil der Erzählung handelt. Sofort als der König sie sah, sprach er zum Kaufmann: „Sag an, wer sind diese schönen Knaben in Deiner Begleitung?“ Er antwortete: „Herr, sie gehören zu mir; unser Herrgott gab sie mir.“ Der König fragte weiter: „Sind sie mit Dir verwandt?“ Er entgegnete: „Nein, Herr, das nicht.“ Er berichtete dem König ausführlich, wie sie zu ihm gekommen waren und wie er sie an Kindesstatt angenommen hatte und dass er sie für ihr ganzes Leben behalten, ihnen sein Erbe zuteilen und seine Habe geben wollte. Als geliebte Kinder sollten sie nach seinem Tod und an seiner Statt alles besitzen, was er an Erbe hinterließ, wenn sie es sich denn verdienten. Da sprach der König – er hieß Honestus, was auf Deutsch ‘ehrbar’ oder ‘ehrenreich’ bedeutet: „Schlage es mir nicht ab, überlasse sie mir als Höflinge.
Vor 5495: Freiraum für Überschrift. 5457 sô diu edeln kinder wurden dô] dy edeln kynder worden so fro (H fro so). 5458 ir] er nit (DH). 5476 dise] dy rede. 5478 〈dô〉 (gegen DH). 5488 ze kinde sie hete] sy zu kynde endelich hat. 5489 〈wold〉 (gegen DH). 5490 geben] yn geben. 5493 als liebiu kinder] alß syne liben kynder (DH).
130 | 6 Die verkauften Kinder ich sol sie hœhen, suln wir leben.’ der koufman wart erværet, der bete sêre beswæret. doch torste er dâwider niht gereden, als ez noch geschiht 97ra daz ein wîse zühtic man deheine widerrede wil hân, ern sî des volleclîchen wer swes sîn herre an in ger daz wider die êre niht ensî. 5510 Dem koufman wonet vil witze bî. er sprach: ‘ô künic hêre, iur hof der hât ir êre. ûf genâde sie wesen iur. ez wart nie keiser alsô tiur, 5515 sie zæmen im ze kinde wol. iur wirde sie bedenken sol. lônet mir mîns dienstes an in!’ der künic sprach: ‘bî der wirde mîn sô gelobe ich hiute dir: 5520 sie vindent rîche helfe an mir.’ der koufman trûric schiet von dan dô er sie von im muoste lân. sîn wîp ouch die getriuwen sach man nâch in in riuwen. 5525 sie jach, ir trôst wær ir benomen der ir wær von gote komen. Dô ir der künic sich underwant, er gap in ros und rîch gewant und berihtes nâch ir rehte 5530 wol varender sehs knehte, und einen wol gebârnden man als der kint an wirde wîsen kan, an zuht und an êre, schicte in zuo der hêre. 5535 sus wolde er sie bedenken: ze einem nâchschenken und ze truhsæzen sam der künic dise zwêne nam. dise jungen beide samt 5540 sô wert sich hielden in ir amt und swaz sie ze handen hâten, 97rb sô genâme sie daz tâten: swer ir tuon ie gesach, süezes lobes er in jach. 5500
Ich werde sie fördern, solange wir leben.“ Der Kaufmann schrak zusammen, diese Bitte fuhr in sein Herz. Indes wagte er keine Widerrede, wie es noch heute geschieht, dass ein verständiger, wohlerzogener Mann nicht widerspricht, wenn er nicht begründet ablehnen kann, was sein Herr von ihm wünscht und was nicht gegen seine Ehre ist. Der Kaufmann war lebensklug. Er sprach: „Hoher König, sie gereichen Eurem Hofe zur Ehre. Eure Gnade walte über ihnen. Dem höchsten Kaiser würden sie als Söhne gut anstehen. Eure Hoheit mag für sie sorgen. Setzt Ihr in meinem Sinn fort, was ich ihnen erwies!“ Der König sprach: „Bei meiner Ehre, ich verspreche Dir heute: Sie werden mächtige Hilfe bei mir finden.“ Der Kaufmann ging traurig fort, nachdem er sie ihm hatte überantworten müssen. Seine Gemahlin und seine Getreuen fand man in Trauer um sie. Die Gattin sprach, ihre Zuversicht sei ihr genommen, die Gott ihr gesandt habe. Als sich nun der König ihrer angenommen hatte, gab er ihnen Ross und prächtige Kleidung und stellte ihnen, wie ihnen gebührte, sechs treffliche Knappen zur Seite. Einen Mann besten Betragens, der Knaben in höfischem Wesen, Tun und Ansehen unterweisen kann, stellte ihnen der König zur Seite. So nahm er sie in seine Obhut. Er bestimmte die beiden zu Mundschenk und Truchsess. Beide gleichermaßen fanden sich so würdig in ihre Ämter und taten, was ihnen oblag, so geschickt, dass, wer ihr Wirken je sah, nur höchstes Lob für sie hatte.
Vor 5527: Freiraum für Überschrift. 5510 wonet] waß. 5512 〈der〉. 5528 〈rîch〉. 5540 in ir] an yr.
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ze hôhem arte man sie maz. sô ietweder ûf sîn ros gesaz, sô sprâchen alle ritter daz man endorfte nie gewünschen baz; sô jâhen beidiu junc und alt. 5550 den prîs sie nâmen mit gewalt swâ man sie ze velde sach; alsô daz dicke geschach daz durch kurzwîle siten alliu edel kint ze velde riten: 5555 dâ tâten ie daz beste die ellenden geste. sie wâren schœne, des lîbes starc, tugentlîcher witze karc. An ir süezen klârheit 5560 manc liehtez ouge sich versneit. wert den werden vrouwen was ir lieht anschouwen. der künic tegelîche gap und machtes rîche. 5565 in hôhem werde sie wâren dâ vollic gein zwein jâren. der tugentlîche koufman het in ouch êren vil getân. Die ellenden hêren 5570 ir zuogeworfen gêren vor allen liuten hâlen gar. under in des keiner wart gewar daz in der ander bî im hete. wê in ir ellende tete, 5575 swie man sie hielt in wirde. mit sorghafter girde die edeln vürsten jungen mit stætem muote rungen (diz sie gerlich verswigen) 5580 wie sie erfüeren ir gedigen, 97va wannen sie ouch wærn geborn und von ir heimüete verkorn. Eines tages ez geschach, der eine ze dem andern sprach: 5585 ‘geselle, ich klage dir mîn leit. ob mir des rîches wirdekeit und sîn gewalt wær gegeben, doch swært mich mîn ellendez leben. deist wâr, uns tuot mîn herre wol, 5590 (daz im der hœste erstaten sol, 5545
Man achtete sie wie Hochadlige. Wenn sie beide im Sattel saßen, bekannten alle Ritter, junge und alte, man könnte sich nichts Besseres vorstellen. Auch im Kampf erwarben sie sich diesen Ruhm, wo immer man sie turnieren sah. Es geschah des öfteren, dass zum Ritterspiel alle Edelknaben auf den Anger ritten: Stets ragten dort die Gäste aus der Fremde heraus. Sie waren schön, von kräftigem Wuchs, von Klugheit und Charakter. In ihre betörende Schönheit versah sich manch glänzendes Auge. Die edlen Damen liebten es, ihren Glanz anzusehen. Der König gab täglich und machte sie reich. In hohem Ansehen lebten sie nahezu zwei Jahre bei ihm. Auch der treffliche Kaufmann hatte ihnen viel Ehre gebracht. Die edlen Fremden hielten die ihnen nachgeworfenen Stoffstücke vor allen geflissentlich verborgen. Auch untereinander wussten sie nicht, dass der je andere ein gleiches bei sich trug. Die Heimatferne schmerzte sie, so ehrenvoll man sie auch behandelte. Ohne je darüber zu reden, mühten sich die edlen Fürstensöhne beständig und sorgenvoll hoffend ab, ihre Herkunft zu erfahren, nämlich in welchem Land sie geboren wären und welche Heimat sie verloren hätten. Eines Tages sprach der eine zum anderen: „Freund, ich will Dir mein Leid klagen. Selbst wenn mir die Krone und Herrschaft des Reiches anvertraut wäre, bedrückte mich mein Leben in der Fremde. Natürlich: Mein Herr behandelt uns gut (was ihm der Höchste vergelten soll,
5557 des] vnd. 5563 tegelîche] yn degelich. 5581 wannen sie ouch] vnd wannen sy. 5582 verkorn] erkorn. 5588 〈mîn〉.
132 | 6 Die verkauften Kinder unser herre Jêsus Krist, der künic über alle künige ist) so enweiz ouch niemen, wer ich bin. nû rætet mir herze unde sin 5595 daz ich mit flîze kriege dar dâ ich mînen art ervar.’ sus antwurte im der ander sân: ‘ûf daz selbe ich lange hân gedâht und wizze, alle zît 5600 mir daz swære in dem herzen lît. ich hæte ez lange wider dich gesprochen: dô gedâhte ich, ich möhte dich beswæren mit den leiden mæren. 5605 sît wir hie an gelîche tragen, geselle, sô wil ich dir sagen: wir suln unsern herren biten gar mit flêhelîchen siten und der gnâden im danken sêre 5610 die an uns begêt der hêre und volliclîchen hât getân, daz er uns welle ze lande lân und unser friunde an uns sehen sîn êre und im des lobes jehen.’ 5615 der ander sprach: ‘daz sî alsô!’ Vür den künic sie giengen dô, als sie gesprochen hâten. urloubes sie in bâten. durch zuht versagete er in niht. 97vb doch alsô, bin îch beriht, daz sie wider quæmen binnen dem jâr, wan er ir ungern enbar. als ez dem künige hêren wol zam an sînen êren, 5625 in rîchem gelâze berihte ers ûf die strâze. Umb der jungen hinevart al der hof betrüebet wart und ir werder wirt alsam, 5630 dô ir bete an in quam und an die süezen wirtîn daz sie die vart erloubten in. die beweinden disiu mære in bitterlîcher swære 5635 als ob sie von in wærn geborn. sie heten trôst an in erkorn:
unser Herr Jesus Christus, der König über alle Könige ist); aber niemand weiß doch, wer ich bin. Herz und Verstand raten mir daher, entschlossen weiterzuziehen, um nach meiner Herkunft zu forschen.“ Der andere antwortete ihm sogleich: „Dasselbe beschäftigt mich schon lange; Du sollst wissen, dass es mir die ganze Zeit schwer im Herzen liegt. Schon lange hätte ich mich Dir offenbart, doch dachte ich, ich könnte Dich mit diesen leidvollen Geschichten verdrießen. Wenn wir in gleicher Weise daran tragen, will ich Dir sagen, mein Freund: Lass uns unseren Dienstherrn inständig bitten, und dabei zutiefst für die Huld danken, die er uns erweist und in Fülle erwiesen hat: Er möge uns ausfahren lassen, damit unsere Angehörigen an uns seinen Edelmut sehen und ihn dafür rühmen.“ Der Gefährte sprach: „So sei es!“ Darauf traten sie vor den König, wie sie es abgesprochen hatten. Sie baten ihn, Abschied nehmen zu dürfen. Er gewährte es ihnen aus Anstand, doch unter der Bedingung, wie man mir berichtet hat, dass sie vor Ablauf eines Jahres zurückkehrten, weil er sie ungern entbehrte. Wie es dem erlauchten König und seinem Rang anstand, stattete er sie mit großzügiger Geste zur Reise aus. Die Ausfahrt der Jünglinge betrübte den ganzen Hof, und nicht minder den edlen Gastherrn und seine liebe Gemahlin, als ihnen die Bitte um Abschied bekannt wurde. Beide weinten über die Nachricht bitter betrübt, als wären es ihre eigenen Kinder. Sie hatten Zuversicht in sie gesetzt,
5599 wizze alle zît] wiße daz all zyt (DH). 5600 daz swære] dy swere (Subst. statt Adv.). 5621 binnen dem jâr] bynnen eym jar (in diesem Jahr vs. in Jahresfrist).
6 Die verkauften Kinder | 133
der entviel in al ze mâle dâ unde lange stunt dar nâ unz daz sie vernâmen 5640 war die herren quâmen. sie bevulhen in des hœsten phlege ir tuon, ir leben, alle ir wege. der koufman triuwen rîche und diu vrouwe sunderlîche 5645 ûf den wec in gâben mite ir habe niht nâch armuot site. hin zogent die gesellen. ob sie wizzen war sie wellen, ûf welcher wege lâge 5650 sie vünden ir mâge? nein. ez was in unbekant. sie fuorn ir irre durch manic lant. sie enwisten wen sie solden frâgen, ob sie wolden, 5655 und von ir friunden reden iht. ellende hât mit kumber phliht, ellende gît seneclîchen muot. bî friunden ist daz wesen guot. Dâ dise vürsten sunnen nâch, 5660 in swelcher stat man sie gesach 98ra dâ sie durch ruowe zogeten în, dâ wunschten alle liute in daz got in helfe bære und ir geleite wære. 5665 in swelchem lande daz geschach, aldar man einen turnei sprach: swâ sie den vernâmen, sô hovelich sie dar quâmen daz man des danc ir fuoge saget. 5670 prîs sie erwurben unverzaget. sie zerten vrîlîchen und sô rîchelîchen als ob der künic noch alle tage in rîchlich gæbe. ir geverte ich klage 5675 und ir kumberlîche pîn dâ sie sît gevielen in. Nû was daz jâr alumbe komen, als ir dâvor hât vernomen, als in des küniges wirdekeit
die sie nun mit einem Mal wieder verloren, und dies für lange Zeit, bis sie erfahren sollten, wohin die Herren gelangt waren. Sie befahlen deren Tun, Leben und Wege der Obhut des höchsten Gottes. Der treue Kaufmann und seine Gattin, jeder für sich, gaben ihnen reiche Geschenke mit auf den Weg. Dann zogen die Gefährten fort. Ob sie wissen, wohin sie wollen, welche Richtung sie zu ihren Verwandten führt? Nein, das war ihnen unbekannt. Sie durchirrten viele Länder. Sie wussten nicht, wen sie fragen sollten, selbst wenn sie es gewollt hätten, und wussten nichts über ihre Angehörigen zu sagen. Fremde und Kummer gehören zusammen, Fremdheit erzeugt Sehnsucht. Gut lebt es sich unter Verwandten. Wenn die Fürstenkinder überlegten, durch welche Stadt sie ziehen sollten, um Nachtquartier zu finden, wünschte ihnen jeder, Gott möge ihnen helfen und ihr Begleiter sein. Und wenn in einem Land ein Turnier verkündet wurde und sie davon erfuhren, zogen sie so höfisch dorthin, dass man ihrem Auftreten Lob zollte. Unermüdlich erwarben sie sich Ruhm. Sie lebten großzügig und so aufwendig, als beschenke sie der König noch alle Tage reichlich. Ich klage über ihr Geschick und ihre jammervolle Not, in die sie bald fallen sollten. Nun war das Jahr, das ihnen die Großmut des Königs als Termin gesetzt hatte (ihr habt davon oben gehört),
Vor 5677: Freiraum für Überschrift. 5638 dar nâ] sijt her na. 5641 sie bevulhen] sy beual (sc. die Gemahlin des Gastherrn statt sie beide). 5644 vrouwe] muder, am Zeilenende korr.: wirtin. 5652 sie fuorn ir irre] sy furen yrre. 5665 swelchem lande] welichen landen.
134 | 6 Die verkauften Kinder ir widerkomen het geleit. daz zil sie übermezzen heten und des vergezzen. daz beswârte ir gemüete. ir milte und ir güete 5685 lêrte zern sie über maht, daz sie ze grôzen sorgen brâht. sie wolden niht nâch armuot geben, wan als sie lêrte ir vrîez leben. âne tegelîch gewin 5690 ein rîchez guot ist schiere hin. alsô geschach ouch disen zwein. die des nû quâmen überein: sie jâhen daz sie den künic verlorn heten und vorhten sînen zorn, 5695 und an dem werden koufman heten sie sêre missetân: die daz vür guot doch næmen wan daz sien widerquæmen, 98rb und sich seneten nâch in starke. 5700 ûz der kristen marke sie kêrten an die übersê. ir kumbers wil nû werden mê. sie quâmen in die guoten stat die ir muoter inne hât, 5705 der willic liute unde lant gewarten ir klâren hant. sie wolden vrâgen, wistens wen, ze dem sie vriuntschaft mohten jên. unkunde noch unminne sint. 5710 hie wâren muoter unde kint unwizzende nâhe einander komen. sie wârn aldâ, hân ich vernomen, biz daz sie aller ir habe gerlîche gestuonden abe. 5715 sie heten einen scharphen wirt. man vindet in noch der geste schirt und ungefuoge niezen kan. als wart den herren hie getân. dâ bliben ir ros und al ir phert, 5720 als der wirt was gewert. Ir sorge tet in ungemach. der eine ze dem andern sprach: ‘sage an, guot geselle, mir, wellen alsô verderben wir? 5725 der wirt wil niht mê ûf uns wern. 5680
vorübergegangen. Sie hatten die Frist vergessen und verstreichen lassen. Das schuf ihnen Beschwernis. Ihre Freigebigkeit und Güte hatte sie gelehrt, mit vollen Händen auszugeben, wodurch sie in große Sorgen kamen. Sie wollten nicht wie arme Leute verteilen, sondern so, wie es ihrer bisherigen Stellung entsprach. Doch ohne täglichen Zugewinn schmilzt auch großes Gut rasch dahin. So geschah es auch bei diesen beiden. Sie kamen nun so überein: Sie mussten sich eingestehen, dass sie die Gunst des Königs verloren und seinen Zorn zu fürchten hätten. Auch dem edlen Kaufmann gegenüber hätten sie sehr undankbar gehandelt. Daher kehrten sie nicht zurück, obwohl die Verlassenen das gerne gesehen hätten und man sich sehr nach ihnen sehnte. Stattdessen wandten sie sich aus der Christenheit in die Heidenschaft. Ihre Not wird nun noch wachsen! Sie kamen zu jener großen Stadt, in der ihre Mutter Herzogin war. Deren kluger Führung unterwarfen sich Leute und Land bereitwillig. Gerne wollten sie fragen, hätten sie nur jemanden gekannt, von dem sie Hilfe erwarten konnten. Fremde sind auch heute noch selten willkommen. Mutter und Kinder waren hier einander nahegekommen, ohne davon zu wissen. Sie lebten dort, so habe ich gehört, bis all ihr Besitz bis zur Bettelnot verbraucht war. Sie hatten einen berechnenden Wirt. Man findet diese Sorte noch: Sie nimmt die Gäste aus und zieht aus der eigenen Unanständigkeit Gewinn. So erging es den Fürstensöhnen hier. Ross und Pferde blieben zurück, als sie den Wirt bezahlen mussten. Ihre Not bedrückte sie. Der eine sprach zum anderen: „Sag mir, edler Gefährte, wollen wir so zugrundegehen? Bei dem Wirt haben wir nichts mehr zu erwarten.
5688 wan] nit wan. 5697 doch] noch (H nach). 5698 〈daz〉. 5715 scharphen] harten (berechnend vs. hartherzig).
5708 mohten] musten.
5709 noch] vnd.
6 Die verkauften Kinder | 135
wirn wizzen vürbaz waz wir zern. sît ich die wârheit sprechen sol, got het uns berâten wol dô wir dem künige quâmen zuo. 5730 ichn weiz wes wir beginnen nu daz wir vürbaz mugen genesen. alzelange sîn wir gewesen alhie in der heidenschaft. got ist noch bî sîner kraft 5735 daz er uns helfe nicht verseit. wir vergæzen gar der kristenheit, solden wir lange wesen hie. doch an die stat quam ich nie dâ ich so gerne wolde sîn 5740 als hie. nû twinget mich von hin 98va der ungeloube, dis volkes leben. Krist sol uns gelücke geben von der Sarrazînen und suochen herren, als wir ê 5745 ûf die gotes güete tâten. er sol uns noch berâten. er ist noch hôher gâbe rîch. an sîne gnâde ergibe ich mich. waz des, ist tôrlich uns geschehen?’ 5750 der ander sprach: ‘des muoz ich jehen, wir hân tôrlîche ein grôzez guot verzert. ich sage dir mînen muot: mînem herzen ist diz ande, sol ich von disem lande. 5755 ich enweiz waz mîn gemüete her twinge. sus stêt al mîn ger: lebete diz volc nâch unser ê, ich wolt hie wesen. ich sage dir mê daz ich niemer alsus arm 5760 in herren dienste werde warm. swelchem ich zuo quæme der mich sô armen næme, der wolt mich des engelden lân und in armer ahte hân. 5765 ich wil dir sagen waz dû tuo, dâ kêren wir endelîchen zuo. waz des? und sîn wir ze fuoz, unser armuot wette werden muoz. wir sprechen unser kompân: 5770 ûf den walt wir sullen gân.
Vor 5757: Freiraum für Überschrift. 5731 〈mugen〉. 5744 〈wir〉.
Wir wissen nicht, wovon wir uns weiter ernähren sollen. Wenn ich aufrichtig sein soll, hat Gott es doch gut mit uns gemeint, als wir damals zu dem König gelangten. Ich weiß nicht, was wir jetzt tun sollen, um unser Leben zu fristen. Allzulange schon sitzen wir hier ganz unter Heiden fest. Gott hat noch die Macht uns zu helfen. Wir liefen Gefahr, unseren Glauben zu vergessen, blieben wir noch länger hier. Andererseits kam ich nie in eine Stadt, in der ich so gerne leben wollte wie hier. Allein der Unglaube und die Lebensart dieses Volkes treiben mich fort. Gebe uns Christus die Chance, von den Sarazenen wegzukommen! Lass uns einen Dienstherrn suchen, wie wir es einst im Vertrauen auf Gottes Güte taten. Er wird sich unser noch annehmen. Er gibt aus dem Vollen. Seiner Huld vertraue ich mich an. Ist es uns nicht wie Narren ergangen?“ Der andere sprach: „Ich gebe das zu, wir haben wie Narren ein großes Gut verschleudert. Ich sage Dir meine Meinung: Mich schmerzt der Gedanke, dieses Land verlassen zu müssen. Ich weiß nicht, was meinen Sinn hier festhält. Alles in mir rät mir hier zu bleiben, wenn dieses Volk doch nur unseren Glauben hätte. Weiter sage ich dir: Aus solcher Armut heraus werde ich mich nie mehr im Herrendienst wärmen. Zu wem ich auch käme, der mich Armseligen nähme, er ließe es mich spüren und zeigte wenig Achtung vor mir. Ich will Dir sagen, was Du tun sollst, und das lass am Ende uns beide tun. Was also? Wir entrinnen der Armut, selbst wenn wir nicht einmal beritten sind. Reden wir mit unseren Gefährten: Wir werden in den Wald gehen.
136 | 6 Die verkauften Kinder ich hân daz wol gemerket ê: gar rîche habe von dem sê sihe ich mangen starken wagen ûf die waltstrâze tragen. 5775 ouch bûwents rîche koufman die golt und silber bî in hân. diz kan sich müelich uns entsagen, 98vb wir ensullen habe aldâ bejagen.’ Disiu rede dem andern wol geviel. 5780 er sprach: ‘dar ich mit dir wil.’ die knehte begundens frâgen ob siez wolden mit in wâgen. die sprachen: ‘genzlîchen jâ’. dô bereiten sie sich sâ 5785 und giengen verholne ûf den walt; des twanc sie armuot gewalt. in frechem gelâze sie wâren ûf der strâze darûf ir muoter mit in gienc 5790 dô noch ir klârheit sie bevienc und sie noch in ir lîbe truoc. ich künde iu als mir gewuoc der dirre sache urhap was und ich in sîner schrifte las: 5795 dem wis genædic, herre Krist! Ez ergie darnâch in kurzer frist daz nâch koufwîse siten ûz ir selber lande riten ûf der waltstrâzen ban 5800 sehse rîche koufman, als ze dem sê sie solden, mit bereitschaft koufen wolden, mit kreftigem guote. als sie quâmen in die huote 5805 an der wege getwenge dâ sie lâgen an der enge, dô liefen dise sehse man jene vierzehen an und nâmen mit gewaldes kraft 5810 diu phert und alle bereitschaft. unversêrt und unverwunt quâmens doch von in gesunt. die röuber zogent den walt în, die koufliute vür die herzogîn 5815 mit klegelîchen mæren
Ich habe in letzter Zeit gut darauf geachtet: Viele große Lastkarren voll kostbarer Ware sehe ich vom Meer her zur Waldstraße fahren. Auch nutzen wohlhabende Kaufleute sie, die Gold und Silber mit sich führen. Es wird nicht ausbleiben: Wir werden da gute Beute machen!“ Dieser Vorschlag gefiel dem Zweiten. Er antwortete: „Ich gehe mit Dir dorthin.“ Sie fragten die Gefährten, ob sie die Sache mit ihnen wagen wollten. Diese sprachen: „Von Herzen, ja!“ Darauf rüsteten sie sich gleich und zogen heimlich hinauf in den Wald. Es nötigte sie die Macht der Armut. Zu allem entschlossen wanderten sie auf der Straße, auf der einst ihre Mutter mit ihnen ging, als ihr schöner Leib sie beide noch barg und sie noch mit ihnen schwanger war. Ich berichtete Euch getreu dem Bürgen dieser Geschichte, in dessen Schrift ich sie las – sei ihm gnädig, Christus! Kurz darauf zogen sechs reiche Kaufleute nach Art der Händler aus ihrer Heimat kommend über die Waldstraße dem Meer entgegen, um dort gegen Barschaft einzukaufen. Sie hatten viel Geld bei sich. Als sie an die Engstelle gelangten, an der die Räuber im Hinterhalt lagen, griffen jene vierzehn die sechs Männer an und nahmen ihnen mit Gewalt die Pferde und alles, was sie mit sich führten. Doch kamen sie unversehrt und ohne Wunden heil davon. Die Räuber zogen sich in den Wald zurück. Die Kaufleute dagegen zogen vor die Herzogin mit der unerfreulichen Kunde,
5771 ê] me. 5784 bereiten sie sich] kerten sy sich. 5797 koufwîse] kaufflude syden. 5801 ze dem sê] zu d[er] se (DH). 5815 mit klegelîchen] quamen mit klegelichen (Doppelbezug von ‘zogent’ 5813 damit unnötig).
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daz sie beroubet wæren. daz heten vierzehen man ûf dem walde getân. Diu vürstîn nam daz ûf ir eit, 99ra ez wære ir von herzen leit, als daz nie mê was gehôrt daz weder roup oder mort ûf dem walde was beschehen. dô bat diu frouwe huote spehen 5825 ob man sie anequæme, daz man in daz leben næme oder ze gerihte bræhte. in ir selber æhte seite sie daz werde wîp. 5830 sie wârn ir liep alsam der lîp, aleine erkande sie ir niht den ir reht nû hazzes giht. der walt was dicke, vinster, lanc. etswâ ein boum den andern dranc. 5835 darin sie starke verhagten sich in grôzer wilde, sô hôrte ich. in beiden landen überal diu rede klegelich erschal daz ûf dem walde röuber wâren, 5840 die der strâzen vâren wolden unde brechen abe, die liute nœten umb ir habe. ze in sich machten (daz buoch uns saget) die von dem lande wârn verjaget 5845 und geschriben an die æhte nâch der schult mit rehte. Dise rede ich kürzen wil. sie sich samenten stæte, ir wart sô vil die zuo in phlihten ûf den walt, 5850 daz sie ûz zogeten mit gewalt. swaz dem walde nâhe lac, aldar sie quâmen durch bejac und nâmen swaz sie vunden. ez geschach ze mangen stunden 5855 daz man ein volge nâch in rief, daz beide reit unde lief in nâch vil der lantschaft: sô giengen in mit gewaldes kraft starke die waltdiebe vür.
dass sie beraubt worden seien. Es hätten vierzehn Männer im Wald getan. Die Fürstin erklärte unter Eid, der Vorfall träfe sie hart. Denn dass Mord oder Raub in diesem Wald geschehen sei, hatte man noch nie gehört. Sie ließ Späher aussenden. Wenn man die Schuldigen fände, sollte man sie töten oder vor Gericht bringen. Die Fürstin sprach sie persönlich in Acht und Bann. Die, die ihr Rechtsspruch zu Feinden erklärte, waren ihr so teuer wie ihr eigenes Leben, doch wusste sie nicht, wer sie waren. Der Wald war dicht, dunkel und weit. Ein Baum drängte sich an den andern, sie bildeten ein dichtes, wildes Gestrüpp, wie ich hörte. Beiderseits der Landesgrenze wurde die Klage laut, dass in dem Wald Räuber hausten, die die Straße unsicher machten und die Reisenden um ihre Habe brächten. Die Quelle sagt uns, dass sich ihnen viele anschlossen, die aus dem Land vertrieben und ihrer Schuld gemäß nach Recht und Gesetz geächtet worden waren. Ich will es kurz machen: Von Tag zu Tag wuchs die Gruppe, es wurden so viele, die sich zu ihnen im Wald gesellten, dass sie in großer Schar auf Raub gingen. Das gesamte Umland suchten sie heim, um Beute zu machen, und nahmen, was sie nur fanden. Immer wieder bot man ein Heer gegen sie auf, das ihnen zu Pferd und zu Fuß im ganzen Umland nachspürte. Doch waren ihnen die Wegelagerer an Kühnheit weit überlegen.
5816 daz] wy. 5820 von herzen leit] getrulichen leit. 5822 weder…oder] weder … noch. 5831 erkande sie ir] erkant sy sy. 5848 stæte] starig (beständig vs. stark). 5851 walde] lande (DH; da der Wald Grenzwald ist, ist lande territorial und topographisch nicht zu beanstanden). 5852 quâmen] zogeten.
138 | 6 Die verkauften Kinder 5860 die zwêne in menlîcher kür 99rb sô ellenthaft sich werten biz sie den wec beherten, den verzingelt mit ir hecken heten die waltrecken. 5865 alsus sie wurben umb ir nar. Daz wert vil nâhe ein halbez jâr daz sie stalden grôzen mein. niht in der muoter lande alein, in ir selber lande alsam 5870 sie nâmen swaz in zuoquam; daz sie billich lâzen solden und dâ vriden, ob sie wolden. sie mohten sich anders niht ernern. Krist sol in die unfuoge wern 5875 und sich über sie erbarmen die bî rîcheit sint die armen. sîn kraft sol in daz wenden nu. hie twanc sie grôz gebreche zuo daz sie diz ze handen hâten. 5880 mit vorhten siez doch tâten und mit michelme schemen swan sie den roup solden nemen. An einem morgen ez sô beschach: ûf dem sê der knappe sach 5885 einen kocken grôzen ze der porten stôzen. als schiere der geankert hât, er sach daz von dem kiele trat an dem stade ûf daz lant 5890 bî dem sê an den sant selbe vierde in bilgerînes wât den disiu rede ze handen hât und sol uns von im künden mêr von Jerûsalêm ûf daz mer 5895 wie er an sîner widervart von der kristenheit beleitet wart mit mangem vürsten lobesam. 99va der patriarke selbe quam sîner wirdekeit ze ruome 5900 und ze êren dem kristentuome ze des vürsten übervar. vil grâven, ritter quâmen dar, bischofe und werdiu priesterschaft,
Mannhaft und kraftvoll wehrten sich die beiden Anführer, bis sie den Weg behauptet hatten, den die Vogelfreien mit wildem Gestrüpp versperrt hatten. So sorgten sie für ihr Überleben. Nahezu ein halbes Jahr währte es, dass sie den schweren Frevel trieben. Nicht nur im Land ihrer Mutter, auch in der eigenen Heimat nahmen sie, was ihnen in den Weg kam; von Rechts wegen hätten sie das unterlassen und Frieden im Land wahren sollen, doch wollten sie nicht. Sie konnten sich nicht anders ernähren. Christus möge sie von dem Frevel abbringen und sich ihrer erbarmen, die trotz ihres Ranges so tief sanken. Seine Macht möge es ihnen nun wenden! Große Not zwang sie, dass sie so handeln mussten. Doch wenn sie auf Raub auszogen, taten sie es stets voll Furcht und großer Scham. Eines Morgens begab sich dies: Ein Späher sah auf dem Meer eine große Kogge den Hafen ansteuern. Sobald sie geankert hatte, sah er, dass mit drei Gefährten im Pilgergewand jener Mann an Land und auf das Ufer trat, dem diese Erzählung gilt und von dem sie uns noch mehr berichten wird, wie er nämlich bei seiner Abreise von den Christen mit vielen ruhmreichen Fürsten von Jerusalem zum Meer geleitet wurde. Der Patriarch war höchstselbst zum Preis seiner Verdienste und zu Ehren der christlichen Sache zum Abschied des Fürsten erschienen. Viele Grafen und Ritter hatten sich versammelt, dazu Bischöfe und hohe Prälaten
Vor 5883: Freiraum für Überschrift. 5860 in menlîcher] yn so menlicher (DH). 5863 mit ir hecken] gein yrn hecken (DH). 5874 die unfuoge] in vnfug (allgemeiner). 5876 bî] mit. 5884 dem sê] der se. 5890 dem sê] der se.
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gar mit voller wirde kraft, ouch mit grôzem leide. wol drî tageweide mit im sie in ein insulam vuorn, aldâ er urloup nam. wie er ze der übervart 5910 mit voller kost berihtet wart, dâ wil ich niht mê sprechen abe. er ist nû komen ze der habe aldâ er sînem wîbe entran, nâch der sîn herze hin wider san. 5915 Ir bote ze dem vürsten gienc. mit grôzer zuht er in enphienc. alsô sprach der edel kneht: ‘daz ist mîner frouwen reht von disem lande der herzogîn: 5920 swaz sô ellender liute sîn, die wesent alle ir geste. den tuot sie dan daz beste als daz ir wirdekeit vermac, mit willen an den ahten tac. 5925 ich wirbez von mîner frouwen wegen. vil schône lât sie iuwer phlegen.’ alsus antwurte im sân Willehalm der werde man: ‘swaz mîn frouwe diu herzogîn 5930 wil und gebiutet, daz sol sîn.’ bî vil liehter varwe klâr grâwen bart und blankez hâr truoc er, doch von alder niht; diu zal sus sîner jâre uns giht. 5935 nâch der er in kumber ranc, gein den vînden swære gedanc wie man an den erwerbe prîs, macht jungen man in nœten grîs. ich hânz an rittern selbe gesehen. 99vb alsô Wilhalm was beschehen. dâvon er unerkentlîch was. Dô er ûf den palas vür des landes vrouwe gienc, diu in gar güetlîche enphienc 5945 und alle die gesellen sîn mit gruoze enphienc diu herzogîn. mich hât berihtet diz mære aleine er entwildet wære 5905
in der ganzen Pracht ihrer Ämter, zugleich von Trauer erfüllt. Gute drei Tagesstrecken waren sie mit ihm bis zu einer Insel gezogen, wo er von ihnen Abschied nahm. Wie gut man ihn für die Seereise mit Proviant versorgt hatte, will ich hier nicht vertiefen. Nun also ist er in jenem Hafen gelandet, wo er einst seine Frau verlassen hatte, nach der sich sein Herz zurücksehnte. Ihr Bote trat zu ihm und empfing ihn sehr höflich. Der edle Knappe sprach: „Es ist Sitte meiner Herrin, die die Herzogin des Landes ist, dass alle Fremden ihre Gäste sind. Sie nimmt sich ihrer acht Tage lang bereitwillig an, so gut es ihre Stellung zulässt. Dies richte ich von meiner Herrin aus. Lasst Euch von ihr in Ehren aufnehmen.“ Sogleich antwortete ihm der edle Wilhalm: „Was immer meine Herrin, die Herzogin, will und befiehlt, das soll sein.“ Zu vornehm-heller Gesichtsfarbe trug er einen grauen Bart und weißes Haar, dies aber nicht durch sein Alter, wie uns die Zahl seiner Jahre verrät. Nein – Sehnsucht nach der Geliebten und grübelnde Gedanken, wie der Siegespreis über die Feinde zu erringen sei, lässt auch einen Jüngling in Sorgen früh altern. Ich habe das selbst bei Rittern gesehen. So war es auch Wilhalm geschehen. Daher erkannte ihn niemand. Als er im Palast vor die Landesherrin trat, entbot sie ihm und allen seinen Gefährten einen herzlichen Willkommensgruß. Die Quelle berichtete mir nun, dass er nur ihren klaren Augen
5905f. Versumstellung (gegen DH; die Reisedauer gehört zum vorangehenden, der Hinweis auf die Stimmungslage zum Folgesatz). 5912 ze der habe] von der habe (DH; in den Hafen eingelaufen vs. vom Hafen hergekommen). 5921 〈alle〉 (gegen DH). 5926 lât] dut (‘lasst sorgen’ vs. ‘sorgt selbst’). 5931 bî vil] sin vil.
140 | 6 Die verkauften Kinder ir klâre sehenden ougen, ir herze spehete in tougen, wan ez in erkande, sie dicke sîn ermande swan sie an in blicte, daz sie vor liebe erschricte 5955 und gedâhte: ‘ei wie diser man glîch dînem friunde gebâren kan! dû solt in sîn geniezen lân, durch sîn gebære in wirde hân.’ alsô gedanke ir gâben nôt. 5960 sie begunde bleich unde rôt dicke erverwen sich durch in. im erbôt sich wol diu herzogîn. sie schuof, sô sie ze tische saz, daz der vürste vor ir az 5965 und sîne kompâne alsam. sie tete als des ir wirde zam daz man geste êren sol. sie sande in vil und êrtes wol: von spîse guot geræte, 5970 visch und wiltbræte gap man in und guoten tranc. des sagen wir ir fuoge danc daz sie die wirde gein in tete. Alsô diu vürstîn gezzen hete 5975 und man die tische nam hin dan, sie bat den gast vür sich gân. grôzen danc er ir sprach umb die êre diu im geschach von ir und den gesellen sîn. 5980 sie sprach: ‘ir sult hie langer sîn. 100ra man gît iu herberge in der stat aldâ man iuch nach wirde hât.’ einem knappen was bevolhen daz, der mit nihte des vergaz, 5985 ern schüefe in guot geræte als man im bevolhen hæte und als daz sînen witzen zam. dô er vür daz palas quam und alsô schiere daz geschach 5990 daz sie den gast niht mêre sach, daz truobte ir gemüete. ir wîplîchiu güete 5950
fremd war, ihr Herz aber ihn insgeheim prüfend erkannte und sie oft an ihn erinnerte, wann immer sie ihn ansah. Es überkam sie ein angenehmer Schauer dabei, sie dachte: „Ist es möglich, dass dieser Fremde sich Deinem Geliebten so ähnlich verhält! Das musst Du ihm vergelten, seines Gebarens wegen musst Du ihn in Ehren halten.“ Solche Gedanken ließen ihr keine Ruhe. Sie verfärbte sich seinetwegen abwechselnd bleich und rot. Die Herzogin erwies ihm ihre Huld. Wenn sie zu Tisch saß, veranlasste sie, dass er und seine Gefährten mit ihr speisten. Sie verhielt sich, wie es ihrem Rang entsprach, nach dem man Gäste ehren soll. Sie beschenkte und ehrte sie reich: Guten Vorrat an Speisen, Fisch und Wild, dazu guten Trank gab man ihnen. Es ist ihrem Wesen zu danken, dass sie sie so edel behandelte. Nachdem die Fürstin gegessen hatte und man die Tafel aufhob, bat sie den Gast zu sich. Er dankte ihr innig für die ihm und seinen Gefährten von ihr erwiesene Ehre. Sie sprach: „Ihr sollt länger bleiben. Man bereitet Euch eine Herberge in der Stadt, wo Ihr standesgemäß leben könnt.“ Ein Knappe erhielt diesen Auftrag, und er vergaß nichts, was sie an gutem Vorrat brauchten, wie man ihm befohlen hatte und wie es sein kluger Sinn ihm eingab. Als Wilhalm vor den Palas trat und sie ihn bald nicht mehr sah, erfasste Trauer ihr Herz. In ihrer weiblichen Vortrefflichkeit
5951 wan] waß. 5955 ei wie] owe wy (Erstaunen vs. Klage). 5958 gebære in wirde] wirde yn liebe (laut Konjektur soll das Verhalten Würde erkennen lassen, nach D macht Würde liebenswert). 5959 ir] yn (Wilhalm proleptisch miteingeschlossen). 5961 erverwen] entwerffen (aktiver: seinetwegen zeigte sie Blässe und Röte). 5972f. fuoge … wirde] wirde … fuge.
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kûme des erbeite daz daz ezzen wart bereite. 5995 Dô sie ûf den âbent az und er aber vor ir saz, dô wart frou Bêne hügende, an fröuden sich vermögende: ir herzen was er offenbâr. 6000 daz twanc ir diu ougen dar, diu sie eine stunde niht enthaben kunde sô daz sie aber an in sach. mit ir selber sie verjach: 6005 ‘ich enweiz waz ich an diesem man vür mich her geladen hân. er mac die êre mir benemen oder er lêret mich verschemen. zwîvel ez im sterket 6010 ob ez iemen an mir merket daz ich flîzîc an in sehe und in sô kuntlîchen spehe als ob er alliu mîniu jâr mit mir habe gewesen gar. 6015 ich enwirde doch niemer mannes wîp wan dem ich êrste mînen lîp gap: der sol noch fröuwen mich. wil anderswar daz herze sich senen unde kriegen, 6020 lâtz sich diu ougen triegen, sô wil der muot unde sin an rehter stæte wernde sîn.’ Daz diu tugentlîche wær sînem wîbe glîche 100rb die er in der selben stat verweiset dâ gelâzen hât, wol er des gedâhte. doch was im des kein ahte daz diu süeze wolgeborn 6030 dâ ze vürstîn wære erkorn. nâch dem âbentezzen wider in die stat zogte er hinnider, die er in kurzer wîle durchgie. er vant sie niht als er sie lie. 6035 anders was sie gebûwet gar: daz was von viure komen dar. nu enwister wie diu wirtîn hiez dâ er die herzoginne liez. des was sîn vrâgen unberiht.
konnte sie kaum erwarten, dass das nächste Mahl bereitet wurde. Als er ihr beim Abendessen wieder gegenübersaß, festigte sich Frau Benes Erinnerung und Freude: Ihr Herz erkannte ihn nun ganz. Das bezwang ihre Augen, die sie eine Stunde lang nicht abhalten konnte, sich wieder und wieder auf ihn zu richten. Sie sprach bei sich: „Ich weiß nicht, wen ich mit diesem Mann zu mir eingeladen habe. Mag sein, er macht mich ehrlos oder er lehrt mich, wie man sich schämt. Wer mir anmerkt, dass ich ihn ständig ansehe und als so vertraut empfinde, als habe er lange Jahre ganz an meiner Seite gelebt, muss begründet an mir zweifeln. Ich will ja keinen Mann mehr haben als den, dem ich mich das erste Mal hingab. Der ist und bleibt mein Lebensglück. Und will das Herz sich anderswohin sehnen und wenden, lässt es sich auch von den Augen verführen, so werden mein Sinn und Verstand in gehöriger Standhaftigkeit verharren.“ Auch Wilhalm dachte sich schon, dass die Vortreffliche seiner Frau gleiche, die er in ebendieser Stadt alleine zurückgelassen hatte. Doch konnte er nicht ahnen, dass die schöne Dame dort zur Fürstin gewählt worden war. Nach dem Abendessen begab er sich wieder in die Stadt hinab, die er in kurzer Zeit durchstreifte. Er fand sie nicht mehr wie ehedem. Nach einem Brand war sie neu aufgebaut worden. Nun wusste er nicht, wie die Wirtin hieß, bei der er die Herzogin zurückgelassen hatte. Daher waren seine Fragen vergebens.
5994 daz daz ezzen wart bereite] daz man daz eßen bereit. 5996 und] daz. 6012 〈so〉. 6039 was] were (DH).
142 | 6 Die verkauften Kinder sîn herze het mit kumber phliht dô er niht ervaren konde wâ sîn wirtîn wonde und wâ er nâchvrâgen kunde, sînes herzen fröude funde. 6045 er gedâhte erwerben noch an ir daz sie des ungelouben gir durch sîne liebe verbære und kristen mit im wære, die er doch alle tage sach. 6050 wider in sie eines tages sprach und bat in sagen mære wannen er bürtic wære, und jach mit fuoge witzen, er solde zuo ir sitzen. 6055 dô sazte er verre sich hindan. sie sach in güetlîchen an. sie sprach: ‘sitzt her nâher baz! ir gebârt sam ir mir sît gehaz.’ er sprach: ‘daz enwelle Krist!’ 6060 sie sprach: ‘wizzet ir, wer der ist?’ er sprach: ‘genzlîchen jâ.’ sie bat in aber sitzen nâ. Er saz hin zuo nâch ir gebote. sie sprach: ‘nû saget von iuwerm gote, 6065 durch den ir alsus irre vart. ist er von einer hôhen art und edel als unser gote sîn?’ er sprach: ‘vil edeler, frouwe mîn, 100va ist er vor aller geschaft. 6070 iuwer gote habent keine kraft, sie wesent an ir helfe toup. mê krefte hât ein dürrez loup swan ez wirt von kelde sal und von dem boume lît ze tal. 6075 daz ist doch nütze, wirt ez mist. iuwer gote keiner ist der deheiner geschefte vrome oder hâres grôz ze staten kome.’ sie sprach: ‘ir jehet ze sêre 6080 unsern goten an ir êre.’ ‘nâch iuwer vrâge ich hân geseit’ sprach er, ‘ist ez iu, frouwe, leit, sô sol ich vürbaz reden niht wan als iuwer gebot vergiht.’ 6085 sie sprach: ‘nû saget von wannen ir sît?’ ‘mîn heimuot hinnen verre lît,’ 6040
6084 wan als] nit wan so.
Kummer überkam sein Herz, als er nicht in Erfahrung bringen konnte, wo seine Wirtin nun wohnte und wo er nachforschen konnte, um die Freude seines Herzens wiederzufinden. Er fasste den Plan, die Frau, die er nunmehr alle Tage sah, dazu zu bringen, ihren Unglauben ihm zuliebe aufzugeben und an seiner Seite Christin zu werden. Eines Tages sprach sie ihn an und bat ihn zu berichten, woher er stamme. Mit klugem Anstand forderte sie ihn auf, sich zu ihr zu setzen. Er aber nahm weit weg von ihr Platz. Sie sah ihn warmherzig an und sprach: „Rückt doch näher! Ihr tut gerade so, als hasstet ihr mich.“ Er erwiderte: „Das verhüte Christus!“ Sie sprach: „Wisst ihr denn, wer das ist?“ Er: „Von ganzem Herzen: Ja.“ Nochmals bat sie ihn näherzurücken. Er setzte sich nach ihrem Wunsch. Sie sprach: „Nun erzählt von Eurem Gott, für den Ihr so weit durch die Welt reist. Ist er von hoher Abkunft und edel wie unsere Götter?“ Er sprach: „Meine Fürstin, er ist viel edler als alles Geschaffene. Eure Götter sind kraftlos und vermögen nichts. Dürres Laub hat mehr Saft, wenn es in der Herbstkälte welkt und von den Bäumen fällt. Und es nutzt als Mist noch zu etwas. Aber keiner Eurer Götter taugt für irgendetwas und tut auch nur das Geringste.“ Sie unterbrach: „Ihr geht unseren Göttern allzu heftig an ihre Ehre.“ „Ich habe Euch nur Eure Frage beantwortet“, sprach er; „Herrin, wenn Euch das nicht passt, werde ich nichts weiter sagen, es sei denn auf Euer Geheiß.“ Sie sprach: „Nun sagt schon, woher stammt Ihr?“ „Meine Heimat liegt in der Ferne“,
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sprach er und rette ungerne mêr. sie sprach: ‘komet ir über mer? wârt ir bî iuwers herren grabe? 6090 dâ hœre ich wunder sagen abe.’ dô sprach er zühteclîchen: ‘jâ. binnen disem jâre was ich dâ. sîn heilekeit sol uns bewarn.’ ‘ich hân vil dâ von ervarn 6095 von den, die dannen quâmen und hie herberge nâmen. die hânt mir ouch vil gesaget, dâ wese ein ritter unverzaget, der beste sô in haben diu lant, 6100 der sî Willehalm genant: wie der mit menlîcher kraft betwungen habe die heidenschaft. man seit mir von im mære wie er vor ein heiden wære. 6105 er sî nû kristen worden und krenke heidensch orden, und wie er grôze smâcheit unsern goten habe angeleit, Machmete, Apollen, Tervigant: 6110 die habe er sêre geschant.’ Als sie des namen sîn gewuoc, daz antlütze ze tal er sluoc. 100vb guote wîle saz er sô. sie begunde in aber frâgen dô 6115 ob er sîn künde hæte, daz er ir ze wizzen tæte etwaz von sîner wirdekeit, der man sô vil von im geseit, von welchen schulden wære daz 6120 er den goten trüege haz, die er durch helfe holde haben und êren solde und sie flîzic anebeten daz sie sîn genâden heten 6125 an sîme leben unde dort gæben den êwigen hort. ‘sîner wirde kan daz vâren, wil er an in missebâren.’ Er sprach: ‘frouwe, ich kenne in wol. 6130 vürbaz ich nicht reden sol, wan er ez alsô hât getân daz man in zelt vür einen man. daz er haz den goten treit, daz erziuget an im diu kristenheit 6135 mit wârhaftem mære.
sprach er, und wollte nicht mehr sagen. Sie sprach: „Kommt ihr von Outremer? Wart ihr am Grab Eures Herrn? Von dort höre ich Erstaunliches berichten.“ Zurückhaltend antwortete er: „Ja. In diesem Jahr war ich dort. Seine Heiligkeit wird uns retten.“ „Ich habe darüber viel erfahren von Leuten, die von dort kamen und hier Zwischenrast nahmen. Sie haben mir auch viel erzählt von einem mutigen Ritter dort, dem besten, den es in allen Ländern gebe; Wilhalm sei er genannt: Er habe mit mannhafter Tat die Heidenschaft bezwungen. Man sagt mir auch von ihm, er sei zuvor selbst Heide gewesen. Nun sei er Christ geworden und schwäche die heidnische Religion; auch habe er unseren Göttern große Schmach angetan, Machmet, Apollo und Tervigant – die habe er böse geschändet.“ Als sie seinen Namen erwähnte, senkte er den Blick. So saß er eine ganze Weile da. Darauf begann sie ihn nochmals zu fragen, ob er ihn kennengelernt habe, so dass er ihr etwas von seinem Ruhm berichten könnte, von dem man so viel gesagt habe, und davon, warum er die Götter so hasse, die er doch wegen ihrer Hilfe lieben und ehren und unermüdlich anbeten sollte, damit sie ihm zu Lebzeiten gnädig seien und ihm im Jenseits den ewigen Schatz bereithielten. „Es schwächt seine Ehre, wenn er die Götter verachtet.“ Er erwiderte: „Herzogin, ich kenne ihn gut. Mehr muss ich über ihn nicht sagen, als dass er sich so verhalten hat, dass man ihn für einen ganzen Mann hält. Dass er die Heidengötter verachtet, bezeugt nur seinen christlichen Glauben als unzweifelhafte Wahrheit.
144 | 6 Die verkauften Kinder er hât sie vür trügenære. frouwe mîn, sô wonet ein site allen werden liuten mite: swaz sô gerne triuget, 6140 effet unde liuget, daz sie wesen dem gehaz. mit iuwern hulden rede ich daz: iuwer gote in ringe wegen. aldort ist al ir kraft gelegen. 6145 Krist des hœsten gotes sun der hôhe helfe mac getuon, der gap dem ritter die gewalt daz er ir kraft hât gevalt. alsus er sie unêren kan. 6150 jâ hât der einige man manic tûsent heiden von ir dienste gescheiden, die geloubent an den hôhen got und tragent die ê als er gebôt. 6155 wer solde an einen touben stoc gelouben oder an einen boc? jâ ist ez ungezæme, den wîsen ungenæme.’ 101ra Sie sprach: ‘nû saget der kristen ê 6160 und wie iuwer gloube stê!’ ‘frouwe, alsô stêt unser leben als daz von gote ist gegeben: ob wir daran behaldic sîn, daz wert uns die hellepîn 6165 und ist schirm unde dach vür allez hellisch ungemach. den touf wir êrste enphâhen, dâmite wir Kriste nâhen. an den suln wir gelouben sus 6170 daz der herre und der Altissimus ist got schepher himels und erde, in almehtigem werde ein gebieter aller geschefte gar. êwic âne ende sîniu jâr 6175 âne urhap wesent ungezalt. als ist ouch iemer sîn gewalt, sîn übergrôz almehtekeit. dô er den tôt durch uns leit und als er an dem kriuze starp, 6180 dâ er daz leben uns erwarp
Er hält sie für Betrüger. Meine Herrin, so verhalten sich alle edlen Leute: Sie verabscheuen, was gerne betrügt, narrt und lügt. Mit Eurer Erlaubnis sage ich: Eure Götter kümmern ihn nicht. Ihre ganze Macht brach dort zusammen. Christus, der Sohn des höchsten Gottes, der machtvoll helfen kann, verlieh dem Ritter die Stärke, ihr Heer zu vernichten. So stürzt er sie in Schande. In der Tat: Er hat ganz allein viele tausend Heiden ihrem Dienst abspenstig gemacht. Diese glauben jetzt an den erhabenen Gott und leben nach seinem Gesetz. Warum sollte jemand an einen dürren Stock oder einen Ziegenbock glauben? Das widerspräche jeder Ordnung und Vernunft.“ Sie sprach: „Nun sprecht vom christlichen Glauben, und davon, woran Ihr glaubt!“ „Herrin, wir leben so, wie es von Gott vorgegeben ist. Wenn wir uns danach richten, erspart es uns die Höllenpein und ist uns Schirm und Schutz vor allem Unheil der Hölle. Zuerst empfangen wir die Taufe, um uns Christus zu nähern. Von ihm sollen wir glauben, dass er der Herr und Höchste ist, Gott, Schöpfer des Himmels und der Erde und in seiner Allmacht Gebieter über alle Geschöpfe. Er existiert außer der Zeit und ohne Ursprung. Ebenso verhält es sich mit seiner Herrschaft, seiner unermesslichen Allmacht. Als er für uns den Kreuzestod litt, erwarb er uns das Leben,
6139f. triuget:liuget] luget:truwet. 6149 er sie unêren kan] er sy meren kan (DH; auf ‘gewalt’ 6147 statt auf die Gegner bezogen). 6155 〈touben〉. 6164 die hellepîn] hellische pyn. 6168 Kriste] gode. 6170 der Altissimus] altissimus.
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daz êwic ist und iemer wert. swer gnâden an dem herren gert, der niemen ist verscheiden, er sî jude oder heiden 6185 und ouch gar sündic kristenman; ruoft er in flîziclîchen an, sô wil er in ze gnâden nemen, wil er sich vürbaz sünden schemen. Wir glouben an eine gotheit: 6190 in volkomener drîvaldekeit in sînes himels trône in drîn persônen schône sitzt er in sîner majestât der gewalt ob allen künigen hât, 6195 der die helle überwant und darîn den bœsen bant, als er noch gebunden lît biz ûf die urteillîchen zît daz wir nâch tôde wider erstên 6200 und müezen vür den hœsten gên, al unser werke dâ antwurt geben diu wir begên bî disem leben. sô siht man ze sîner zeswen stân 101rb alle die sînen willen hânt getân. 6205 ouch koment in der verlornen schar juden unde heiden dar; Machmet, Apollo, Tervigant die schicket man zer linken hant. alsô daz urteil wirt getân 6210 dar nâch und wir verdienet hân. sô koment die engel vür gegân und scheident von den bœsen sân die guoten die daz wünnenheil enphânt. sô nimet an sîn seil 6215 Lûcifer die armen schar. owê der jæmerlîchen var die sie müezen varen dan die niht an Krist geloubet hân!’ – Nû wâren aber mære komen 6220 daz die röuber heten genomen ûf dem walde ein rîchez guot. daz machte die vrouwen ungemuot. alsus sie ze râte wart. sie hiez ruofen hervart:
das ewig ist und ewig währt. Keiner, der um seine Gnade bittet, bleibt ausgeschlossen von ihr, ob er auch Jude oder Heide oder ein ganz in Sünde verstrickter Christ sei: Ruft er ihn nur inbrünstig an, dann nimmt Gott ihn in Gnaden auf, wenn er sich fortan der Sünden enthält. Wir glauben an den einen Gott in vollkommener Dreifaltigkeit. In drei erhabenen Personen sitzt er in seiner Majestät auf seinem Himmelsthron und herrscht über alle Könige. Er hat die Hölle überwunden und Satan darin gebunden bis heute und bis zur Zeit des Gerichts, da wir von den Toten auferstehen und vor den Höchsten treten müssen, um dort über all unsere Taten Rechenschaft abzulegen, die wir zu Lebzeiten begehen. Zu seiner Rechten sieht man dann alle, die seinem Willen folgten. In der Schar der Verdammten treten die Juden und Heiden heran. Machmet, Apollo und Tervigant weist man zu Gottes linker Hand. So wird das Urteil ergehen, ganz wie wir es verdient haben. Die Engel schreiten nach vorne und trennen kurzerhand Böse und Gute. Die Guten empfangen das Seelenheil. Die Schar der Verdammten nimmt Lucifer an seinen Strick. Oh weh über die jammervolle Reise, die dann jene antreten müssen, die nicht an Christus glaubten!“ – Inzwischen waren wieder Nachrichten eingetroffen, dass die Räuber oben im Wald reiche Beute gemacht hätten. Die Landesherrin war darüber entrüstet. Sie berief ihren Rat und erließ den Heerbann:
Vor 6219: Freiraum für Überschrift. 6187 sô wil er] er enwell (Exzeptivkonstruktion). 6189 〈an〉. 6214 sô] sy (Akk.-Objekt). 6220 〈daz〉 (gegen DH).
146 | 6 Die verkauften Kinder allez daz möhte wer getragen, daz die binnen aht tagen, sie wæren junc oder alt, sich berihten ûf den walt. sie wæren jene oder dise, 6230 vor dem walde ûf einer wise als der tac was genomen, solden sie zesamen komen. alsus was der vürstîn wort. Dô Wilhalm daz gebot erhôrt, 6235 ûz ir râte einen werden man der vürste frâgen began und tet gar zühteclîchen daz (der vor mit rede ouch in besaz) war man hervart schrîte, 6240 daz in sô kurzer zîte diu volge zesamen was geboten bî der vürstîn hulde und bî ir goten. an den er der berihtunge gert, der was ein hübscher ritter wert. 6245 er sprach, ûf die röubære daz diu volge geboten wære, 101va die den walt bekümbert hæten und grôzen schaden tæten. dô sprach der reine guote 6250 in einem süezen muote: ‘aldâ ich mê dan zwênzic jâr in urliuge hân gewesen gar, (ich enweiz wie hie ze lande) dâ dûhte ez wesen schande 6255 daz man der lantdiete mit voller gebiete gebôt ûf röubære varn. mîn frouwe sol ez ouch bewarn.’ dô sprach der hübsche lantman: 6260 ‘herre guot, nû saget an, waz welt ir daz mîn frouwe tuo? sie darf wol guotes râtes nu. jâ hânt wol dick driuhundert man nâch in die suoche getân. 6265 sô sint sie alsô starke verheget: ez enwerde daz volc gar erweget unde daz diu lantschaft den hac zerbreche mit kraft, sô wil ichz dâ vür niht hân 6270 daz man sie iemer müge gevân 6225
6241 diu volge] dem folke (DH). Volk und Religion).
Alle Waffenfähigen, ob jung oder alt, sollten sich binnen acht Tagen zum Wald aufmachen. Alle sollten sich am anberaumtenTag auf einer Wiese am Waldrand versammeln. So gebot es die Fürstin. Als Wilhalm dieses Gebot vernahm, befragte er einen edlen Mann aus Benes Rat ganz im Vertrauen (er stand auch früher bereits im Gespräch mit ihm), wohin die Heerfahrt gehen sollte, die auf so kurze Frist nach dem Willen der Fürstin und der Götter befohlen worden sei. Der Gefragte war ein edler Ritter bei Hofe. Er sprach, das Aufgebot gelte den Wegelagerern, die den Wald zur Gefahr gemacht und großen Schaden angerichtet hätten. Da sprach der wahrhaft Edle in redlicher Absicht: „Ich weiß nicht, wie man es hierzulande sieht, doch da, wo ich über zwanzig Jahre im Kampf verbracht habe, hätte man es für eine Schande gehalten, das volle Aufgebot des Landes gegen eine Räuberbande zu führen. Auch meine Herrin sollte das nicht tun.“ Der Hofrat erwiderte: „Edler Herr, nun sagt, was sollte sie in Euren Augen dann tun? Sie braucht jetzt guten Rat. Gewiss schon drei Hundertschaften haben die Horde aufzuspüren versucht. Sie sind aber im dichten Gehölz gut geschützt: Wenn jetzt nicht das ganze Heer ausrückt und die Landgemeinde das Schlupfloch mit aller Macht aushebt, dann glaube ich nicht, dass man sie je fangen wird
6242 und bî ir goten] by den goden (entschärft die Verknüpfung zwischen
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oder daz iht anders darzuo tüge daz man in geschaden müge. ez kumet ouch dicke daz man sie jaget. sô gênt sie vür unverzaget 6275 den jagenden werlich mit gewalt. gar lanc und dicke ist der walt daz sie der aller die sie jagen, in der wilde sich gar entsagen. Zwêne wesent under in 6280 die tragent junger jâre schîn. von den wir hœren wunder jehen. alle die sie hânt gesehen, die sagent vil von ir kraft und daz sie wesent ellenthaft, 6285 daz sie die zwelf die mit in gên, wolden ê dan sie bestên. sie hânt sich sô bewîset, daz volc ir ellen prîset. der andern ahte ich aller niht, 6290 swaz sô arges geschiht: 101vb umb die zwêne ich sorge hân, solt iht arges an in ergân. und koment sie ze banden mîner frouwen ze den handen, 6295 diu ist sô kriegel im gerihte, so ernert man sie mit nihte.’ dô sprach der wîse werde man: ‘vil ich des ervarn hân: swâ liute menlîch und erwegen 6300 sîn die solicher vuore phlegen, die wizzen wol, ob man sie vâhet, daz man sie redert oder hâhet. ê sie danne schemelich ersterben, herre, wernt sie sich, 6305 ê daz sie sich lâzen vân. sô mac mîn frouwe einen man verliesen des sie schade hât und sorge al ir lant enphât; ob dan jene alle wurden erslagen, 6310 doch müest mîn frouwe den schaden tragen. des prüeve ich mêre noch hie an: sô grôze kost muoz man hân als ob man sich müeste wern eins vürsten. sols ir lant verhern
oder andere Wege findet, ihnen beizukommen. Immer wieder stellt man ihnen nach. Doch dreist treten sie den Jägern gewaltsam entgegen. Weit und tief erstreckt sich der Wald, daher können sie sich allen, die sie suchen, in die Wildnis entziehen. Zwei unter ihnen scheinen noch jung an Jahren. Von denen hört man Außergewöhnliches. Alle, die sie gesehen haben, machen viel Aufhebens um ihre Kühnheit und Stärke und sagen, dass man das Dutzend derer, die bei ihnen sind, eher besiegen könnte als sie. Sie sind durch ihre Taten im ganzen Volk berühmt geworden. Alle anderen sind mir egal, was ihnen auch Böses geschieht: Nur um die beiden habe ich Sorge, dass ihnen irgendetwas zustößt. Wenn sie gebunden in die Hand meiner Herrin fallen, dann rettet sie nichts, denn sie ist eine strenge Richterin.“ Da sprach der weise Edelmann: „Immer wieder habe ich davon gehört: Wo kühne, verwegene Männer einen Weg wie diesen einschlagen, wissen sie genau, dass man sie rädern oder hängen wird, wenn man ihrer habhaft wird. Herr, sie werden sich wehren, bevor sie so erbärmlich sterben und bevor sie sich gefangen geben. Daher riskiert meine Herrin Leben, die sie nötig braucht, und ihr ganzes Land muss sich sorgen. Selbst wenn alle Räuber fielen, müsste meine Fürstin doch den Schaden tragen. Ich will noch etwas zu bedenken geben: Man treibt einen Aufwand, als müsste man sich eines Fürsten erwehren. Verheert und verdirbt
6271 〈oder〉 (gegen DH). 6278 wilde sich gar] dickte sich (‘Dickicht’). 6280 junger jâre] zu jungen iaren. 6288 ellen prîset] ellent priset (H ellende; heißt ggf. schon vorausdeutend: ‘das Volk pries/schätzte es, dass sie bei ihm in der Fremde lebten’). 6292 solt iht] solt yr (‘von ihr’, d.h. seitens der Landesherrin). 6293 〈und〉. 6297 dô] so. 6301 ob] wo.
148 | 6 Die verkauften Kinder und gar verderben umbesust, daz ist ein smæhe verlust. lât jene ze wer niemer komen! wan sô sie daz hânt vernomen daz man ûf sie varen wil, 6320 ist in iuwer dan ze vil daz sie sich niht enthalden mügen, gein iu ze wer niht entügen, sô zogent sie den walt în (wer mac dan gevolgen in?) 6325 und entfremdent sich biz ûf die frist daz diu volge zergangen ist. der walt ist grôz unde lanc. sô koment sie wider âne danc, sô ist diu kost gar verlorn 6330 und hebet sich ein niuwer zorn. hæten sie des waldes niht, sô wære ez schiere beriht.’ Der heiden sprach: ‘nû saget mir durch iuwer zuht, wie râtet ir 6335 wie man dâ mite gebâren müge daz dem lande und mîner frouwen tüge 102ra und den êren zeme wol? des iu mîn frouwe nîgen sol.’ dô sprach der süeze wîse man: 6340 ‘mîn frouwe hât êre an mir getân. daz gediene ich iemer swâ ich mac, die wîle ich lebe einen tac. mîn frouwe sende ein boten dar der mit rede an in ervar 6345 ob sie nâch ir schulden wolden dienen nâch den hulden ob mîner frouwen des gezæme daz sie sie ze gnâden næme. ist ez dan alsô getân 6350 daz sie die hulde wellent hân, sô râte man aber, als ez stê, daz ez nâch êren ergê!’ Sîn rede der ritter eben vienc; sît dô er vür die vürstîn gienc, 6355 er sagete ir rât unde wort als er selbe het gehôrt von dem getriuwen gaste. mit gevüeger rede vaste begunde ern vor ir prîsen. 6360 daz tuont noch gerne die wîsen 6315
6346 nâch den] vmb dy. voraus).
sie ihr Land ohne einen solchen Gegner, dann ist das ein schändlicher Preis. Lasst die Landwehr unbedingt zu Hause! Denn wenn sie hören, dass man ein Heer gegen sie schickt, und ihnen der Kampf gegen die Übermacht von vorneherein aussichtslos erscheint, dann ziehen sie sich in den Wald zurück (wer soll ihnen dorthin folgen?) und halten solange still, bis das Aufgebot wieder entlassen ist. Der Wald ist weit und tief. So zieht das Heer unverrichteter Dinge zurück, der Aufwand war völlig vergeblich und neuer Ärger beginnt. Hätten sie nicht den Schutz des Waldes, so wäre die Sache rasch erledigt.“ Der Heide erwiderte: „Nun seid so freundlich und sagt mir, wie Ihr ratet, im Interesse des Landes und meiner Herrin und ohne Gesichtsverlust in der Lage zu verfahren? Meine Herrin wird es Euch danken.“ Da sprach der edle kluge Mann: „Meine Herrin hat mir Ehre erwiesen. Dafür stehe ich stets in ihrer Pflicht, wo ich kann und solange ich lebe. Meine Herrin sende einen Boten in den Wald, der im Gespräch mit ihnen in Erfahrung bringen soll, ob sie, wie es Recht wäre, sich diese Gunst verdienen wollten, wenn meine Herrin sich bereitfände, sie in Gnaden aufzunehmen. Zeigt es sich dann, dass sie diese Gunst wünschen, berate man noch einmal über die Lage, damit es ehrenvoll ausgeht!“ Der Ritter merkte sich seine Worte genau. Als er später vor die Fürstin trat, teilte er ihr den Ratschlag mit, wie er ihn von dem loyalen Fremden gehört hatte. Beredt hob er an, ihn vor ihr zu rühmen. Das tun kluge Leute stets gern,
6356 〈selbe〉 (gegen DH).
6359 vor ir] vor yn (setzt neben Bene weitere Zuhörer
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daz sie den liuten redent nâch daz beste. dô er ir gar verjach als der gast gesprochen hât, dô besande diu frouwe ir rât. 6365 mit dem ûf den palas muost Wilhalm, dâ diu frouwe was. dâ wart sîn rât aber gesaget; allen den herren der behaget. Diu frouwe sprach: ‘wen senden wir dar 6370 der uns getriulich daz ervar, der wese alsô bescheiden?’ dô rieten al die heiden daz den gast diu vürstîn bæte daz er dar sîn reise tæte. 6375 mit grôzer vuoge sie dô sprach. an ir bete er sân verjach: nâch ir gebote er solde rîten swar sie wolde, ir ze êren in dem lande 6380 swar sô man in sande. dâ sprach er ze der vürstîn dô: 102rb ‘frouwe, ob ez sich vüeget sô, ob ich mit wârheit vinde an in daz sie bî hulden wellent sîn 6385 und wellent sich iu ze dienste geben getriulich iemer unz sie leben, (ich mein under in die houbetman: swaz sie dem lande hânt getân und iu, frouwe, sô man giht, 6390 ir tûsent daz vergulden niht): habe ich des, frouwe, von iu wer, ob ich sie vür iuch bringe her und sie sich berihtent iht, daz kein übel an in geschiht?’ 6395 diu guote sprach: ‘des sehet an mich! ir müget sie bringen sicherlich.’ Er bat sich wîsen ûf ir slâ. ein bote wart gegeben sâ der ûf den walt in wîste. 6400 Wilhalm der hôchgeprîste frô mit sînen gesellen reit. der wec ûf fröuden ban in treit. er mac nû vaste gâhen und ze den vînden nâhen: 6405 er vant dâ seneclîchen vunt.
anderen nur das Beste nachzusagen. Als er alles vorgebracht hatte, wie es der Fremde gesagt hatte, berief die Herzogin ihren Rat. Dazu lud sie auch Wilhalm in den Palast, in dem sie residierte. In diesem Kreis wiederholte er seinen Rat. Er gefiel allen. Die Herzogin sprach: „Wen senden wir dorthin, der treu und klug genug ist, das Nötige in Erfahrung zu bringen?“ Darauf rieten alle Heiden, die Fürstin möge den Gast bitten, den Botengang zu tun. Schicklich sprach sie zu ihm. Ohne Zögern antwortete er auf ihre Bitte, er werde auf ihr Geheiß zu ihrer und des Landes Ehre reiten, wohin sie wolle und wohin man ihn sende. Weiter sprach er zur Fürstin: „Herrin, wenn es so kommen sollte, dass ich an ihnen nach bestem Gewissen erkenne, dass sie Eure Gunst gewinnen wollen und sich für ihr weiteres Leben treu in Euren Dienst stellen wollen (ich meine die Anführer unter ihnen: Was sie dem Land und Euch, Herrin, angetan haben, wie man berichtet, könnten ihrer tausend nicht gutmachen), habe ich dann Eure Gewähr, dass ihnen kein Übel geschieht, wenn ich sie hierher zu Euch bringe und sie wieder ehrlich werden wollen?“ Die Edle sprach: „Das verspreche ich! Sie haben freies Geleit hierher.“ Er bat, ihm den Weg zu ihnen zu weisen. Sogleich wurde ihm ein Kundschafter zur Seite gestellt, der ihn zum Wald führte. Der hochgelobte Wilhalm ritt frohgemut mit seinen Gefährten. Der Weg führt ihn auf eine glückliche Bahn. Mag er auch Landesfeinden entgegeneilen: Er fand dort Langersehntes.
6362 dô] so. 6386 unz] vnd (DH; ‘solange sie’, Konjektur daher unnötig). 6389 iu] auch. 6397 bat sich wîsen] bat sy wisen. 6398 gegeben] gebeden. 6404 und ze den vînden nâhen] vnd hohe freide entphaen.
150 | 6 Die verkauften Kinder im wart dâ süeziu wünne kunt. die wîle er reit ûf dem wege, sîn herze was in fröuden phlege. Dâ sîne süne die klâren 6410 in ir veste wâren, verheget heten sie den walt ietweder sît der strâzen balt diu hin zuo ir wonunge truoc. der edel süeze vürste kluoc 6415 erbeizte nider vor dem hage an dem ûzeren slage. dâ bevalch der vürste wert disem knappen diu phert der in den wec wîste dar. 6420 die röuber wâren âne vâr, alle ir slege er offen vant. als man diu phert an gebant, 102va dem verhagten slage er nâch gienc da er inne sitzen sach 6425 sîne süne die edeln jungen. die gevorhtic ûf sprungen und dâhten beide: ‘wir suln den man in vorhtlîchem werde hân.’ als sie wærn gebunden, 6430 sô stille sie vor im stuonden. ietweder in im selben jach daz er nie man sô gerne gesach. diu natûre seite in daz. Wilhalm in sînen sinnen maz 6435 mit wârer liebe phlihte, sînen ougen ze gesihte nie quæmen zwêne junge man die dûhten in sô wol getân, die er sô gerne ie gesach. 6440 gotes fride er in sprach. im wart zühteclich genigen. ir enphâhen wart ouch niht verswigen. mit zühten sie daz tâten. den hern sie sitzen bâten, 6445 sîne gesellen und den kappellân sie mit vuogen satzten sân. vor im sie dienen wolden. er sprach, sie ensolden. ir gebære und ir gestalt
Er erfuhr dort höchstes Glück. Schon während des Weges schlug sein Herz erwartungsfroh. Wo seine edlen Söhne in ihrem Räubernest hausten, hatten sie den Wald beiderseits der Straße, die zum Lager führte, dicht mit Gestrüpp versperrt. Der edle, gute, kluge Fürst saß vor dem Dickicht am äußeren Lagersaum ab. Dort überließ er die Pferde dem Knappen, der ihm den Weg gewiesen hatte. Die Räuber dünkten sich sicher, er fand alle Zugänge ins Lager offen. Nachdem die Pferde angebunden waren, ging er den Heckensaum entlang bis zu einer Stelle, wo er innerhalb seine Söhne, die edlen Jünglinge, sitzen sah. Sie sprangen ehrfürchtig auf; beide dachten: „Wir müssen den Mann mit Respekt behandeln.“ Sie standen so reglos wie Gebundene vor ihm. Jeder sprach bei sich, nie hätte er jemanden so gerne gesehen. Es war die Natur, die ihnen das eingab. Wilhalm erkannte in tiefempfundener Sympathie, dass seine Augen nie zwei junge Männer so vortrefflich fanden und so gerne sahen. Er wünschte ihnen Gottes Frieden. Sie begrüßten ihn höflich, empfingen ihn offen und gewandt. Sie baten den Edlen, sich zu setzen, und wiesen sogleich seinen Begleitern und dem Kaplan zuvorkommend ihre Plätze an. Sie wollten ihm dienen. Er sagte, sie sollten das unterlassen. Ihr Verhalten und ihr Anblick
Vor 6409: Freiraum für Überschrift. 6406 wünne] freude. 6412 der strâzen balt] der straße gewalt (Adj.; ‘wehrhaft, mächtig’). 6413 〈hin〉 (gegen DH). 6421 er] man. 6429 als sie] alß ob sy (DH).
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Wilhalme sagt daz sie gewalt über al die andern hâten. Dô sie vür in trâten, er sprach mit vuoge witzen daz sie zuo im wolden sitzen. 6455 dô leisten sie des herren bete als er sie geheizen hete. sie sâzen beidenthalp sîn hin. frô die drî wol mohten sîn dô sie sâzen bî einander. 6460 hôhen vunt dâ vander, Willehalm, dem was alsô, er enwurde von herzen nie sô frô, alsô daz in daz mære hete wunder wâvon daz wære, 6465 wannen im diu fröude quæme diu im swære sô gar benæme. 102vb ir wesen dâ gedrîet schein: geloubt, sie wâren doch wan ein! Diu kint und dirre werde man 6470 dicke einander sâhen an. der eine frâgen in began warumbe wære daz getân, durch waz er des geruochte daz er sie dâ suochte. 6475 dô sprach der edel grîse: ‘niht wan in friundes wîse durch iuwer heil unde fromen hân ich mîn reise her genomen, als ich iuch verrihten sol.’ 6480 ‘des gelouben wir iu wol. wir wesen vor iu âne vâr.’ dô truoc man vür sie trinken dar sô sie daz beste mohten hân. nâch dem bat der werde man 6485 (wan under disen kinden zwein ir gestalt sô gar gelîche schein) daz er in berihte der mære wer under in der eldeste wære. den wolde der sælden rîche 6490 sprechen sunderlîche. er sprach: ‘ir müget gebruoder sîn.’ ietweder sprach: ‘nein, herre mîn. uns bindet sus ein friuntschaft. mit geselleclîcher kraft 6495 wesen sô gar vereinet wir: swelchem sô gebietet ir 6450
verrieten Wilhalm, dass die beiden alle anderen befehligten. Als sie vor ihn traten, bat er sie in kluger Reserve, sich zu ihm zu setzen. Sie erfüllten die Bitte des Herren und taten, wie er sie hieß. Sie setzten sich zu seinen beiden Seiten nieder. Die drei hatten Grund, froh zu sein, als sie so beieinandersaßen. Wilhalm fand da Großes, er fühlte sich nie so von Herzen beglückt, so dass er sich fragte, wodurch und woher seine Freude rührte, die ihm jede Sorge so ganz und gar nahm. Sie schienen drei zu sein, und doch, glaubt mir, waren sie nur eins. Die Jünglinge und der edle Mann sahen einander wiederholt an. Dann begann einer der beiden zu fragen, warum und zu welchem Zweck er sie hier aufgesucht habe. Da sprach der edle Alte: „Einzig als Freund, zu Eurem Heil und Nutzen, bin ich hierhergekommen, wie ich Euch berichten werde.“ „Das glauben wir Euch gern. Wir befürchten nichts von Euch.“ Unterdessen trug man ihnen die besten Getränke auf, die sie hatten. Anschließend bat der edle Gast, man möge ihm sagen, wer unter ihnen der Ältere sei (denn die beiden Jünglinge sahen einander völlig gleich). Mit diesem wollte der Glücksbote unter vier Augen sprechen. Er sagte: „Ihr müsst Brüder sein.“ Darauf sagten beide: „Nein, Herr. Eine andere Art der Verwandtschaft verbindet uns; das gemeinsame Schicksal hat uns zusammengeschweißt. Wem von uns Ihr es daher
6458 〈wol〉. 6473 des] dar. 6485 disen] den (DH). 6488 wer] welicher. 6495 〈sô〉.
152 | 6 Die verkauften Kinder under uns, der sol ûf stên, swar ir wellet, mit iu gên.’ dô sprach der reine gemuote man: 6500 ‘sô geruocht ir êrste mit mir gân!’ dô giengen sie ûz vür den slac, vaste hin dan in den hac. Wilhalm an den jungen sach, ze dem er güetlîche sprach: 6505 ‘ich vrâge iuch ob ir kristen sît?’ ‘herre, jâ, gar âne strît gelouben wir kristenlîchez leben, als daz von gote ist gegeben. selb vierzehende wir wesen 6510 die mit dem toufe wellen genesen, 103ra alein wir hie verwildet sîn. die andern wesent Sarrazîn.’ ‘wol ich iu der sælden gan. eiâ, süezer junger man’, 6515 sprach Wilhalm, ‘wer gap iu den rât der iuwer werde tugent hât gewîset an diz swache leben? iuwerm adel ez vüegt uneben, den ich hôhe prüeven kan. 6520 ûf der erden nie kein man wart sô ahtbâr noch sô tiur, ern möhte ze dienst sich fröuwen iur; swâ ir nâch wirde dienen wolt, ir erwerbet rîches lônes solt. 6525 ich sage iu genzlîchen daz: ûf den lîp ist iu gehaz von disem lande diu herzogîn. alsam ouch al die herren sîn, gebûre und alle koufman, 6530 als sie des reht zuo iu hân. swer dem andern leide tuot und unverschult im nimt sîn guot, billich der dar hazzes giht. ir habet anders rehtes niht 6535 wan swer iuch vâhet oder slât, daz der kein übel an iu begât und daz dan alle liute jehen, ez sî wol an iu geschehen. swer dâ kriegt nâch fremder habe, 6540 ob der stât der sînen abe, daz ist daz man selden klaget: ez richet daz krieclîchiu jaget. doch enweiz ich ob irz hât vernomen,
gebietet, der wird aufstehen und mit Euch gehen, wohin Ihr wollt.“ Da sprach der Edelmütige: „Dann mögt Ihr als erster mit mir gehen!“ Sie traten aus dem Versteck und gingen einige Schritte ins Dickicht. Wilhalm sah den Jüngling an und sprach freundlich zu ihm: „Lasst mich fragen: Seid Ihr Christen?“ „Ja, Herr, wir glauben fest an das christliche Gesetz, wie es von Gott gegeben ist. Zusammen mit zwölf anderen erwarben wir in der Taufe das Heil, doch sind wir hier zu Fremden geworden: Alle um uns herum sind Heiden.“ „Von Herzen gönne ich Euch das Heil. Aber, edler Jüngling“, fuhr Wilhalm fort, „wer riet Euch dazu, Euren edlen Sinn solch armseligem Leben zu widmen? Mit Eurem Adel, den ich gut erkenne, verträgt sich das kaum! Kein Mensch auf Erden ist so edel und vornehm, dass er nicht über Euren Dienst glücklich wäre. Wo immer Ihr durch Dienst Ansehen erwerben wollt, bekommt Ihr reichen Lohn. Ich sage Euch in aller Klarheit: Die Herzogin dieses Landes ist Euch auf den Tod feind. Das Gleiche gilt für alle Landherren, Bauern und Kaufleute, und sie haben jeden Grund dazu. Wer anderen Leid antut und ihn schuldlos um seinen Besitz bringt, zieht billigerweise Hass auf sich. Ihr seid rechtlos, so dass niemand ein Unrecht an Euch begeht, der Euch aufgreift oder tötet. Alle werden dann sagen, es sei Euch ganz recht geschehen. Wenn einer, der fremdes Gut raubt, das eigene verliert, wird das selten beklagt: Die Rache folgt in aller Schärfe. Doch weiß ich nicht, ob Ihr davon gehört habt,
6518 vüegt uneben] wiget vneben. 6532 〈im〉. 6535 wan swer] nit wan wer. 6543 ob irz] ob iß daz.
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ob iu sîn diu mære komen: ûf iuch ein volge ist geboten und gesworen bî der heiden goten. ûf iuch vert ein kreftic her. gein dem hât ir dekeine wer. sô wizzet, ob daz sô ergât 6550 daz man iuch unerslagen vât, ob alle rîcheite iuwer wesen, daz ir mit nihte müget genesen. nâch gerihtes gebot 103rb sô nemt ir schemelîchen tôt.’ 6555 Swie ern mit rede schulde, gar zuchtlîche er daz dulde âne widerbâgen. Wilhalm begunde in frâgen von welchem lande er wære 6560 und daz erz niht verbære, ern wolde im sagen rehte sînen art und sîn geslehte; er solde sich nihtes vor im schamen. er wolde ouch wizzen sînen namen. 6565 Dô sprach der wol geborne knabe: ‘man nennt mich, herre, Boizlabe. ichn weiz wannen ich geborn bin.’ aller der rede beschiet er in wie er nâch wâne was betrogen: 6570 daz koufwîp diu in het gezogen, welchen urloup sie im gap und sîner rîcheit urhap im zuowarf, den gêren (den wîste er dâ dem hêren), 6575 und im seite mære daz er des koufmans sun niht wære, wie âne trôst er dannen gie ellendeclîchen unde wie er ze sînem kompân quam, 6580 wie sie der künic ze dienste nam und hielt in wirdeclîcher aht und wie sie wurden an in brâht; wie sie schieden von dan, darnâch verzert ir habe hân, 6585 daz sie kumbers gewalt und armuot twanc ûf den walt. swaz ûf die zît im ie geschach, gar er dem herren des verjach. Der nam den gêren an sich. 6545
ob Euch die Nachricht erreicht hat: Das Land ist gegen Euch aufgeboten und auf die Heidengötter vereidigt. Ein machtvolles Heer zieht gegen Euch. Dagegen habt Ihr keine Chance. Wisset also: Wenn es so ausgeht, dass Ihr lebendig aufgegriffen werdet, werdet Ihr trotzdem sterben, selbst wenn Ihr unendlich reich wärt. Nach Recht und Gesetz werdet Ihr in Schande sterben.“ So heftig die Vorwürfe waren, der Jüngling nahm doch alles gelassen und ohne Widerspruch auf. Wilhalm fragte ihn, aus welchem Land er stamme; er solle nicht zaudern und ihn freimütig über seine Herkunft und Familie aufklären; in nichts solle er sich vor ihm schämen. Auch wollte er seinen Namen wissen. Da sprach der edelgeborene Jüngling: „Herr, man nennt mich Boizlabe. Wo ich geboren bin, weiß ich nicht.“ Er berichtete ausführlich, wie ihn all seine Hoffnungen betrogen hatten: welchen Abschied ihm die Frau des Kaufmanns gab, die ihn erzogen hatte, und wie sie ihm seinen einzigen Besitz, jenen Stofffetzen, nachwarf (den zeigte er dabei dem Herrn) und ihm offenbarte, dass er gar nicht der Sohn des Kaufmanns war; wie er darauf ohne Hoffnung und völlig allein fortging und wie er seinen Gefährten fand; wie sie der König in Dienst nahm und in Ehren hielt, wie sie zuvor zu ihm gebracht worden waren, wie sie wieder von ihm schieden, dann ihre Habe aufzehrten, bis sie das Übermaß an Sorge und Armut in den Wald trieb. Alles, was ihm bis zu diesem Moment geschehen war, erzählte er dem Herrn ungeschönt. Wilhalm nahm den Stofffetzen an sich.
6567 ichn weiz wannen] ich weiß wan (H enweis). 6576 er des koufmans sun niht wære] eynß kauffmanneß son er were (DH). 6588 〈des〉. 6589 an] zu (DH).
154 | 6 Die verkauften Kinder er sprach: ‘zewâre schemelîch ist iu ditze bî ze tragen. welt irs gote gnâde sagen und lop des sîner hœhe geben ob man iu von disem leben 6595 hulfe ze hulden der herzogîn?’ ‘eiâ herre, und möht daz sîn, 103va kein guot ich dâ vür næme ob ich hievon quæme âne schemelîche nôt. 6600 alsô sêr vürhte ich den tôt, noch mê des reinen gotes zorn. diz leben ich lange het verkorn wan daz ich enwesse war. wand ich verweiset irre var 6605 aller mîner friunde, da ich rât oder helfe vünde. nû hât iuch Krist ze uns gesant: herre, erwerbet uns die hant und hulde der werden herzogîn! 6610 iur dienst wir wellen iemer sîn und nâch dem hôchgelobten gote gerlich stên ze iurm gebote.’ Wilhalm der gêre ermande: er jach (wan er in kande), 6615 der stolze knabe wær sîn sun. ‘der alliu dinc mac getuon’, dâhte der herre guote in swîgendem muote, ‘der hât dich wunderlîchen her 6620 brâht ûf hôher sælden wer: dirre ist bînamen dîn kint. alsô sie beidesament sint: wie glîche wesent diu gesiht, doch sie einander kennent niht!’ 6625 er sprach: ‘iurn willen hân ich wol vernomen. heizt mir iuwern kompân komen! darnâch als ich an im ervar, ich nâch triuwen iuch bewar und wil iu danne geben rât 6630 dar an iu helflîche ergât.’ Er sleich balde gein dem tor; sînen kompân hiez er gên hervor. nâch sîme namen der vürste sprach. 6590
Er sprach: „Wahrhaftig, es ist schlimm für Euch, so weiterzuleben. Wollt Ihr dafür Gottes Gnade danken und seine Hoheit preisen, wenn man Euch aus diesem Leben zur Huld der Herzogin verhülfe?“ „Ach, Herr, könnte das sein, so nähme ich kein Gut auf der Welt, um nur ohne Schmach und Not davonzukommen. So sehr fürchte ich den Tod, und mehr noch den Zorn des heiligen Gottes. Längst habe ich dieses Leben schon satt, ich wusste nur nicht, wohin ich sollte. Denn verwaist von allen Verwandten, bei denen ich Rat oder Hilfe finden könnte, bin ich auf Irrwege geraten. Nun hat Christus Euch zu uns gesandt: Herr, vermittelt uns die Gnade und Gunst der edlen Herzogin! Wir wollen Euch immer zu Diensten sein und den hohen Gott innig bitten, Euch beizustehen.“ Der Stofffetzen ließ Wilhalm keine Ruhe mehr: Er sprach bei sich (denn er kam ihm bekannt vor), der stolze Jüngling müsse sein Sohn sein. „Der alles vermag,“ dachte der edle Herr, ohne es auszusprechen, „hat Dich auf wundersame Weise als Heilsbringer hierhergebracht: Der da ist fraglos Dein Kind. Dann aber müssen es beide sein. Wie sehr sie sich auch gleichen, sie erkennen einander dennoch nicht!’ Er sprach: „Eure Wünsche weiß ich nun. Schickt mir Euren Gefährten. Nach dem, was ich von ihm höre, nehme ich mich Eurer an und gebe Euch einen Rat, der Euch helfen wird.“ Der Jüngling ging zum Heckentor und schickte seinen Gefährten nach draußen. Der Fürst fragte nach seinem Namen;
6603 wan daz ich enwesse] nicht wan daz ich eyn weise (DH; ‘ich hätte lange Lebensmut bewahrt, wenn ich nicht Waise gewesen wäre’). 6608 hant] lant (DH; ergibt im Kontext nur proleptisch Sinn, da die Zukunft die Strauchdiebe tatsächlich als Landeserben erweist). 6612 ze iurm gebote] na uwerm gebode (zu Eurer Verfügung vs. nach Eurem Gebot). 6623 diu gesiht] dy geschicht. 6624 doch sie] daz sy. 6625 〈er sprach〉.
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des er im hovelîchen jach; er sagete dem herren sus, er wære geheizen Dânus. Wilhalm frâgen in began rehte als er jenen het getân. 103vb Allez des er het verjehen, 6640 alsô seit dirre daz im geschehen wære. sîn wille unde wort stuonden als er het gehôrt von dem den er zem êrsten sprach, daz dâ nihtes an gebrach. 6645 bî dem er ouch den gêren vant dâ er den klâren în want mit sîn selbes hende. Ob der edel hôhe Wende iht liebe im gedâhte, 6650 do im solich sælde nâhte? als ich wol versinne mich, sîn fröude was unmæzeclîch, die er doch verborgen truoc. beide gêrn er under sluoc. 6655 mit dem gienc er wider în und satzte sich zin beiden hin. dô frâgte sie der herre wert ob sie möhten haben phert. sie sprâchen beidesament: ‘jâ.’ 6660 er sprach: ‘diu heizet berihten sâ!’ sie sprâchen: ‘herre, war nâch ist iu hinnen alsô gâch?’ er sprach: ‘wes mugen wir bîten? jâ sult ir mit mir rîten 6665 vür die geêrten herzogîn. daz sol morgen vruo sîn.’ ‘ob wir vride haben dar?’ ‘jâ, âne aller hande vâr. ûz allen iurn gesellen welt 6670 zwelfe die ir vüeren welt! die andern sîn alsô beriht daz sie nâch iu schaden niht!’ sie jâhen: ‘daz geschehe alsô!’ durch in sie wolden wesen vrô. 6675 sîniu phert diu fuort man în und ouch der gesellen sîn. ir wart lieplich gephlogen und ouch des werden herzogen, mit dem von art die klâren 6635
er antwortete ihm höflich und sagte dem Herrn, er werde Danus genannt. Wilhalm begann die Befragung wie vorher bei dem andern. Alles was dieser erzählt hatte, erzählte nun auch jener als s e i n e Geschichte. Seine Wünsche und Worte glichen ohne jeden Unterschied denen, die Wilhalm von dem gehört hatte, den er als erstes sprach. Auch bei ihm fand er den Rockschoß, in den er das schöne Kind einst eigenhändig gewickelt hatte. Ob der edle, erhabene Wende eine Regung des Glücks empfand, als ihm solches Heil wiederfuhr? Wenn mein Sinn mich nicht trügt, war seine Freude maßlos, aber er trug sie verhohlen. Er steckte beide Stoffstücke zu sich. Dann ging er mit Danus ins Lager zurück und setzte sich zu den beiden. Er fragte sie, ob sie Pferde hätten. Beide bejahten dies. Er sprach: „Dann lasst sie vorführen!“ Sie fragten: „Herr, wohin eilt es Euch so?“ Er antwortete: „Warum sollen wir zögern? Ihr sollt mit mir zu der erlauchten Herzogin reiten. Morgen früh werden wir dort sein.“ „Werden wir unterwegs Sicherheit haben?“ „Ja, es droht keine Gefahr. Wählt Euch aus Euren Gesellen zwölf zur Begleitung! Den anderen schärft ein, dass sie nach Eurem Wegritt keinen Schaden anrichten!“ Sie sprachen: „So wird es geschehen!“ Seinetwegen wollten sie Zuversicht zeigen. Man führte seine Pferde herein, dazu die seiner Gefährten. Um diese kümmerte man sich so beflissen wie um den edlen Herzog, über den sich die Hochgeborenen
6634 hovelîchen] helfflichen. 6644 an gebrach] yne gebrach. 6666 daz] ja daz.
156 | 6 Die verkauften Kinder enwisten wie gebâren. er muoste blîben durch ir bete. daz er niht ungerne tete. 104ra Des morgens sie riten mit im hin. wiste diu klâre herzogîn 6685 waz ir fröuden rite zuo, sie müeste sich gefröuwen nu. alsô sie quâmen in die stat, als man in vride gesprochen hât, der wart an in gehalden. 6690 frou Sælde muoz ir walden daz sie wol berâten sich mit der vürstîn, des bite ich. ich hoffe daz niht verderben sol getriuwes friundes werben, 6695 den in got zuo brâhte. Wilhalm ze hove gâhte. Als diu guote in ersach, sie enphienc in lieplich unde sprach: ‘herre guot, nû saget an, 6700 wie ist iu diu reise ergân?’ er sprach: ‘genâde, frouwe, wol, ob ich muoz unde sol iu von iuwern vînden sagen, sô gesâht ir nie bî iuwern tagen 6705 in solicher jugent zwêne man sô glîche und wünneclich getân. al ir tuon und ir gebâr ist nâch hôhem arte gar, dar ûz sie erboren sint. 6710 geloubet, sie sint edeliu kint! ir art und ir geslehte hân ich ervaren rehte; aller ir friunde ist mir guotiu künde. 6715 wol daz iuwer wirde stêt daz ir genâde an in begêt und gebt in iuwer hulde. lât sie nâch ir schulde iu dienen, frouwe hêre! 6720 îur hof der hât ir êre. ûf eine sache ich reden wil. ir habet rîcher lêhen vil: 104rb ob ir ze hulden sie enphât, 6680
nicht recht klar zu werden vermochten. Sie baten ihn, noch zu bleiben. Er tat das nicht ungern. Am nächsten Morgen ritten sie mit ihm fort. Die schöne Herzogin müsste sich nun freuen, wüsste sie nur, welche Freude ihr da entgegenritt. Auch als sie in die Stadt kamen, wahrte man den Frieden, der ihnen zugesagt worden war. Frau Sælde möge ihrer walten, darum bitte ich, auf dass ihre Beratung mit der Fürstin gelinge. Ich hoffe, dass der Botengang des treuen Freundes, den ihnen Gott geschickt hatte, nicht vergebens bleibe. Wilhalm eilte an den Hof. Als die Herzogin ihn sah, hieß sie ihn herzlich willkommen und sprach: „Edler Herr, nun erzählt, wie verlief Euer Botengang?“ Er sprach: „Herrin, mit Eurer Erlaubnis: Gut! Soll und darf ich Euch von Euren Gegnern erzählen? Ihr saht nie in Eurem Leben zwei junge Männer von so ähnlicher, erfreulicher Erscheinung. All ihr Tun und Verhalten weist sie als Menschen hohen Standes aus. Glaubt es: Sie sind von Adel! Ihre Herkunft und Familie habe ich klar erkannt; von ihrer ganzen Verwandtschaft habe ich ein zuverlässiges Bild. Es ziemt Eurem Amt, ihnen gegenüber Gnade walten zu lassen und ihnen Eure Gunst zu schenken. Lasst sie ihre Schuld im Dienst an Euch sühnen, hohe Herzogin! Sie machen Eurem Hof Ehre. Ich schlage dies vor: Ihr habt viele reiche Lehen zu vergeben: Nehmt sie in Gnaden auf
Vor 6683: Freiraum für Überschrift. 6680 enwisten] wisten (H wüsten; ‘mit dem sie ihrer Wesensart nach umzugehen wussten’). 6694 werben] frundeß leben (verderben: 6693). 6700 wie ist iu] wy ist eß uch.
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darnâch sie vaste dienen lât! habt daz ûf mîne wârheit: ob sie hœhet iuwer wirdekeit, daz ist an in unverlorn. sie sint ûz wirdekeit geborn. ich vant bî in manger hande man, 6730 die hân ich ûf dem walde gelân. die hie in der æhte sint gewesen, die kêrten zuo in durch genesen. die lâzet ouch ze hulden komen! an disen zwein hân ich vernomen 6735 daran iu wol genüeget und ouch iur wirde vüeget baz dan ob ir hetet erweget al iuwer lant durch sie erreget.’ Die wîle er seite von den knaben, 6740 ir herze ze vröuden was erhaben als ob sie kint unde man in hôhem werde solde enphân, nâch den sie dicke swæren muot truoc. dô sprach diu frouwe guot, 6745 ir herren sie wolde besenden und nâch ir râte daz enden. nâch dem als er ir het verjehen, sie wolde und wære ez sân geschehen. michn triege herze unde sin, 6750 nâch sînen worten quals nâch in. Iren rât diu guote sprach; daz ouch gar kurzlich geschach. dô sie sie noch von verren sach, ir herze ir grôzer fröude jach 6755 und friuntlich sich gein in entslôz. einez starke sie verdrôz: dô sie ir quâmen nâhen, daz sie sie umbevâhen niht nâhen zuo ir solde; 6760 versêren sie daz wolde. möhte sies wesen unverdâht, dar wære willic ein küssen brâht lieplich an ir werdiu kint, diu ûf genâde dar komen sint. 6765 Diu wart nû vollic dâ getân. die zwêne jungen süezen man 104va ze dienste diu herzogîn enphienc. ein friuntlîch suone dâ ergienc. in einer süezen gedult 6770 vergap diu klâre in al ir schult 6725
und lasst sie dafür eifrig dienen! Glaubt mir: Wenn Eure Hoheit sie erhöht, wird es sich reich auszahlen. Sie sind aus gutem Hause. Bei ihnen fand ich noch manche andere, die ich im Wald zurückließ. Sie standen in der Acht und schlossen sich ihnen an, um zu überleben. Auch ihnen schenkt Eure Huld! Von jenen beiden aber habe ich gehört, was auch Euch zufriedenstellen wird und besser zu Eurer Würde passt, als wenn Ihr das gesamte Land gegen sie in Marsch gesetzt hättet.“ Während er von den Jünglingen sprach, hob sich ihr Herz in Freuden, als wenn sie ihre Kinder und ihren Mann, nach denen sie sich so oft sehnend verzehrt hatte, in hohem Ruhm empfangen sollte. Die Edle antwortete, sie wolle nach ihren Landherren senden und nach deren Rat die Angelegenheit zu Ende bringen. Am liebsten hätte sie sofort getan, was er vorgeschlagen hatte. Wenn Herz und Verstand mich nicht trügen, hatten seine Worte in ihr Sehnsucht nach ihnen geweckt. Die Fürstin beriet sich also; das geschah in kurzer Frist. Schon als sie die Jünglinge von fern erblickte, empfand ihr Herz große Freude und öffnete sich in Liebe für sie. Das eine aber verdross sie sehr: Als sie bei ihr angekommen waren, durfte sie sie nicht umarmen. Das stach ihr ins Herz. Hätte sie ganz unbedacht handeln dürfen, wäre es zu einem liebevollen Kuss zwischen ihr und ihren edlen Kindern gekommen, die da gnadeheischend vor sie traten. Die Gnade wurde voll und ganz gewährt. Die Herzogin nahm die beiden edlen Jünglinge in ihren Dienst. Eine Versöhnung unter Freunden gab es da. In wohlwollender Langmut verzieh die schöne Fürstin ihnen all ihre Schuld,
6735 daran iu] dar an yn (DH; Bezug auf die Kinder). 6770 〈in〉.
158 | 6 Die verkauften Kinder und ir unvuoge manicvalt den die mit in ê den walt bûweten daz sie âne vâr vür sie gemeine quæmen dar. 6775 Diz geschach nâch ir gebote. den jungen zwein und ouch ir rote aldâ und ûf dem walde sît wart starker vride alsô geschrît. diu frouwe ze dienste sie het genomen. 6780 sie wâren alle ze hulden komen. swer umb die schult iht tæte in leides, daz der hæte verloren lîp unde guot. dô wart der vürste wol gemuot 6785 daz er ze werdem dienste hât sîniu lieben kint bestat. Wie stark diu liebe ze kinden sî, alein daz ist ze wizzen bî werder muoter unde vater. 6790 grôzen trôst ir vürbaz hâter: er half in mit der gotes kraft wider an ir hêrschaft, von der er sie verwîset hete. Swaz êren in diu vrouwe tete, 6795 dâ suln wir ouch nû sprechen abe. sie begundes rîchen an der habe: ros, gewant und guotiu phert gap in diu edel vürstîn wert. darzuo lêch sie in rîchez gelt. 6800 den einen sie ir ze schenken welt und daz der ander wære truhsæze. uns seit daz mære daz diz umb anders niht geschach wan dazs sie tegelîchen sach. 6805 diz brâht sie zuo mit vuogen gar und âne lôslîchen vâr aller sache unverdâht: 104vb wan daz sie grôzer wirde maht hete und ouch enboten daz. 6810 daz gehielt nie jungiu frouwe baz; des jâhen ir dâ glîche beidiu arme und rîche. ir rât sô gerlich an sie jach: swaz sie wolde daz geschach; 6815 ez was in allen guot getân.
und denen, die mit ihnen zuvor im Wald gelebt hatten, ihre mannigfachen Untaten, so dass alle gemeinsam gefahrlos vor sie treten konnten. Dies geschah auf ihr Gebot. Am Hof und im Wald wurde Straffreiheit ausgerufen für die beiden und ihre Rotte. Die Herzogin hatte sie in ihren Dienst genommen. Sie alle hatten ihre Huld erlangt. Wer immer ihrer Vergehen wegen ihnen etwas zu Leide täte, sollte Leben und Besitz verlieren. Der Fürst freute sich darüber, dass er seine geliebten Söhne in edlen Dienst gebracht hatte. Wie mächtig Kindesliebe ist, erkennt man einzig und allein an großmütigen Eltern. Wilhalm hielt für die Seinen noch mehr Trost bereit: Mit Gottes Kraft verhalf er ihnen wieder zur angestammten Herrschaft, aus der er sie ehedem verwiesen hatte. Nun müssen wir aber auch darüber sprechen, welche Ehren ihnen die Herzogin angedeihen ließ. Sie machte sie reich an Besitz: Rosse, Rüstungen und edle Pferde gab ihnen die großmütige, edle Fürstin. Zudem stattete sie sie reich mit Geld aus. Den einen wählte sie sich zum Schenken, der andere wurde ihr Truchsess. Die Geschichte sagt uns, dass dies eigentlich nur darum geschah, damit sie die Beiden Tag für Tag sehen konnte. Das aber bewerkstelligte sie mit Klugheit und ohne jeden falschen Anschein oder irgendeinen Hintersinn: Sie hatte hohe Autorität und wusste sie zu gebrauchen. Nie tat das eine junge Dame besser. Das gestanden ihr dort Hohe wie Niedere zu. Ihr Rat mochte noch so dringlich bitten: Am Ende geschah, was sie wollte, und das war für alle im Lande das Beste.
6776 〈ouch〉. 6781 〈iht〉. 6789 vater] dem vater. 6790 〈ir〉. 6795 〈ouch〉. 6796 sie begundes rîchen] sy begunden so richen (Bene begann die Kinder mächtig zu machen vs. sie begannen mächtig zu werden). 6800 〈ir〉. 6806 〈und〉. 6808 wan] nit wan.
7 Wiedervereinigung (v. 6816–8358) Wilhalm will weiterziehen, doch die Herzogin hält ihn zurück. Damit er nach seinem Glauben leben könne, richtet sie für ihn einen Gebetsraum und Gottesdienste ein. Sie erkennt Wilhalms Rührung beim Anblick ihrer neuen juncherren und fragt nach dem Grund. Wilhalm weicht zuerst aus, gesteht dann aber, sie seien seine Söhne, die er nach 24 Trennungsjahren wiedergefunden habe. Er erzählt nun die eigene Lebensgeschichte und äußert seine Sehnsucht nach Bene: Er gäbe alles für sie außer seinem neuen Glauben. Christus werde ihn noch zu ihr führen und sie bekehren. Er selbst wolle den Schwiegervater bekehren; er bedaure, dass die eigenen Eltern als Heiden starben. Bene ist nun im Bilde, offenbart sich aber noch nicht. Am Folgetag versammelt sie einen Hoftag. Sie teilt dem Landadel mit, dass sie Gemahl und Söhne wiedergefunden habe, dankt allen für ihre Treue und will sich verabschieden. Der Adel akzeptiert gelöbniskonform unbesehen den von Bene gewählten Mann als Fürsten und bestürmt sie zu bleiben. Um ihretwillen erklärt er sich sogar zum Glaubenswechsel bereit und verbürgt sich in dieser Sache auch für das Landvolk. Ein weiterer Hoftag versammelt die Großen ihres Landes und des benachbarten Wenden. Auch Benes Eltern werden geladen und von Bene herzlich empfangen, wobei sie bittet, Wilhalm ihre Identität noch zu verschweigen. Ein Turnier eröffnet das Fest, Wilhalm nimmt in einer von der Herzogin übersandten Rüstung daran teil und siegt in mehreren Zweikämpfen. Sein christlicher Verband siegt im Hauptkampf. Nach dem Festmahl offenbart sich Bene, indem sie ihre Geschichte erzählt, den Eltern ihre Söhne vorstellt und zuletzt Wilhalm weinend zu Füßen fällt. Nun erst erkennen sich alle. Doch Wilhalm erklärt barsch, abreisen zu müssen, da Bene Heidin sei. Bene verspricht, sich taufen zu lassen. Die Landherren huldigen dem neuen Fürsten, auch sie willigen in die Taufe ein, um Bene nicht zu verlieren. Die alten Götzenbilder werden zerstört. Dann legen die wendischen Großen Rechenschaft über das adlige Interim im Land ab: der Staatsschatz ist gewachsen, das Land steht in voller Blüte. Auch von ihnen fordert Wilhalm die Taufe, desgleichen von den Schwiegereltern. Er sendet Briefe in die gesamte Christenheit und bittet den norwegischen Bischof und Heiligen Albanus, die Bekehrung der drei Länder zu besiegeln. Herrscher und Hochadelige werden sofort von Wilhalms Kaplan getauft, alle anderen müssen auf die Ankunft des Bischofs warten. Wilhalm und Bene schließen eine zweite, christliche Ehe, Boizlabe, Danus und andere erhalten die Schwertleite. Münster werden gestiftet, um den Jungadel christlich zu erziehen. Von diesen Ereignissen vernimmt auch Papst Cornelius, der eben bei Kaiser Alexander weilt. Nach der Reorganisation des Landes Benes kehrt das Paar in sein Erbland zurück, das nun auch christlich umgebaut wird. Benes Vater zieht mit Albanus in sein Land weiter. In machtvoller Herrschaft bezwingt Wilhalm in der Folgezeit die Heidenschaft von Dänemark bis Walhen (Italien) und Yberne (Irland). Mit 60 Jahren übergibt er das zum Großreich gewordene Land an die Söhne und zieht sich mit Bene in ein Kloster zurück. Der Epilog ist wie der Prolog als Prunkgebet gestaltet. Er richtet sich an Maria, leistet Fürbitte für das Gönnerpaar Wenzel und Guta von Böhmen und prunkt mit Autoritätenzitaten.
6820
Willehalm der wîse man im liebe an sînen kinden sach. ze der herzogîn er sprach: ‘unser herre Jêsus Krist, der aller sachen gewaldic ist, der sol iuwerm werden leben vor tôde ein sælic ende geben
6818 er sprach] er do sprach. 6821 〈werden〉.
Der kluge Wilhalm sah seine Kinder mit Wohlgefallen. Er sprach zur Herzogin: „Unser Herr Jesus Christus, der über alles gebietet, gewähre Eurem erlauchten Leben vor dem ewigen Tod ein seliges Ende
160 | 7 Wiedervereinigung umb die êre die ir mir getân hât und mangem armen man 6825 der in sînem dienste vert, sîne tage ellende zert. der gebe iu muot unde sin daz ir welt erkennen in. ân den niht ist noch mac genesen, 6830 der vergelde iu, frouwe, hie mîn wesen! iuwern urloup wil ich hân.’ Sie sach in güetlîchen an und bat in daz er blibe dâ alsô mære als anderswâ. 6835 er sprach: ‘frouwe, daz mac niht sîn.’ ‘warumbe?’ sprach diu herzogîn. sie bat in daz er spræche wes im dâ gebræche. er sprach: ‘frouwe, nihtes mê 6840 wan daz ich trage Kristes ê und vürhte daz iu daz wider sî.’ sie sprach: ‘der vâre weset vrî!’ ‘waz des? ich wil ze lande doch.’ sie bat in daz er blibe noch 6845 und er dâ leben solde swelcher ê er wolde. Er sprach genædeclich zuo ir: 105ra ‘frouwe, ir müget gebieten mir. iuwer bete sol ich gedagen.’ 6850 sie hiez dem hovemeister sagen daz er im sunderlîch gemach schüefe. gâhes daz geschach. daz wart im guot bewîset, dâran sîn wirde geprîset. 6855 er was doch niht ungerne dâ. gote hiez er ze êren sâ einen altâr setzen drîn. mit vînen tuochen sîdîn als er sie brâhte über mer, 6860 den altâr behienc der vürste hêr gar flîzic mit sîn selbes hant. er hete rîchiu messegewant. des nam diu vrouwe eben war. sie quam dicke tougen dar, 6865 dô man dem herren messe sprach. unmâzen gerne sie daz sach. die stunt dô der priester daz ambet tete,
für die Ehre, die Ihr mir und vielen Hilfsbedürftigen erwiesen habt, die ihm dienen und ihr Leben in der Fremde fristen. Er gebe Euch den Willen und Sinn, ihn zu erkennen. Der, ohne den nichts ist und nichts sein kann, vergelte Euch, Herrin, meine Aufnahme hier. Gestattet mir nun zu gehen.“ Sie sah ihn voll Güte an und bat ihn zu bleiben, wo er so geschätzt sei wie nirgendwo sonst. Er sprach: „Herrin, das geht nicht.“ „Warum?“, erwiderte die Herzogin. Sie bat ihn, ihr zu sagen, woran es ihm fehle. Er sprach: „Herrin, an nichts, außer dass ich ein Christ bin und fürchte, dass Euch das nicht gefällt.“ Sie sprach: „Von dieser Furcht seid frei!“ „Egal. Ich will trotzdem aufbrechen.“ Sie bat ihn, er möge noch bleiben und in ihrem Land leben, in welchem Glauben er wolle. Er sprach freundlich zu ihr: „Herrin, ich stehe in Eurem Gebot und muss mich Eurer Bitte beugen.“ Sie ließ dem Hofmarschall sagen, dass er ihm einen eigenen Raum bereite. Dies geschah augenblicklich. Man tat es aus Wertschätzung für ihn, zum Preis seiner Würde. Er war durchaus gerne da. In dem Raum ließ er zur Ehre Gottes sogleich einen Altar einrichten. Mit feinen seidenen Tüchern, die er aus Outremer mitgebracht hatte, bedeckte der edle Fürst den Altar sorgsam und eigenhändig. Er hatte prächtige Messgewänder. Die Fürstin beobachtete alles genau. Sie kam immer wieder heimlich dorthin, wo man dem Herrn die Messe las. Ausgesprochen gern sah sie dabei zu. Sie hielt die Stunde in hohen Ehren,
6824 mangem armen man] auch manigem man. 6829 niht ist noch mac genesen] ist nit mag genesen (d.h. ohne Gott wäre kein Familienmitglied gerettet worden). 6845 und] daz. 6858 vînen] richen (H sinen). 6864 tougen] heymlichen. 6865 dô man] daz man. 6867 〈dô〉.
7 Wiedervereinigung | 161
in grôzem werde sie die hete. ze jungest begunde sie offenbâr 6870 mit al den herren suochen dar. den was ez wunderlîch genuoc. Wilhalme holdez herze truoc des hoves ingesinde gar: sô hübscher site unde klâr 6875 man sie nie gesâhen; gemeine sie des jâhen. Swan sô der edel vürste saz vor der herzogîn und az, diu selden ab im diu ougen lie, 6880 al sîne site wol merkte sie. ez was allez gezæme, liutsælec und genæme swaz sie pruofte an dem man. einen site merken sie began, 6885 der was ir von herzen leit. Wilhalm niemer daz vermeit: 105rb swelch sîner süne vür in gie, sô mohte er daz gelâzen nie, im erguzzen sich diu ougen. 6890 daz merkte diu vürstîn tougen. im tete ir ellende wê. sîner swærde was noch mê diu in ze sorgen brâhte, swan er daran gedâhte 6895 wie er hie in ellende sîn nâch im liez die herzogîn, und an die bitter arbeit die sie willic durch in leit und mit im in ellende gie, 6900 lant und liute durch in lie. ez möhte noch getriuwem man erwecken bitterlîchen trân dem ie alsam wære geschehen. als noch getriuwiu herzen jehen. 6905 Frou Bêne diu vürstîn lobesam eines tages in sunder nam und sprach: ‘ich merke daz ir sît starke betrüebet alle zît und vil der trehen rêren lât 6910 swelcher der zweier vür iuch gât. bî iuwer wirde ich iuch des man, durch welche sache ist daz getân?’ dô sprach der tugenthafte man:
in der der Priester das Messopfer feierte. Zuletzt zog sie ganz offen alle ihre Großen hinzu. Diesen erschien es wundersam. Die gesamte Hofgesellschaft hatte Wilhalm in ihr Herz geschlossen: Einen Mann von so feinem Wesen und Aussehen hatten sie nie gesehen; das gestanden sie sich einmütig. Wann immer der edle Fürst bei der Herzogin zum Mahl saß, ließ sie ihn kaum aus den Augen und beobachtete genau, was er tat. Alles an dem Mann schien ihr angemessen, wohlgefällig und anziehend. Eine Gewohnheit aber bemerkte sie, die sie tief verstörte. Jedes Mal, wenn einer seiner Söhne zu ihm kam, konnte Wilhalm nicht verhindern, dass seine Augen sich mit Tränen füllten. Das nahm die Fürstin insgeheim wahr. Ihn bedrückte ihre Heimatlosigkeit. Noch mehr bekümmerte und beklomm ihn, wenn er daran zurückdachte, wie er die Herzogin hier so einsam zurückgelassen hatte, und wenn er an die bittere Mühsal dachte, die sie um seinetwillen klaglos erlitt, seit sie mit ihm in die Fremde gezogen war und seinetwegen Land und Leute verlassen hatte. Jedem treuen Menschen, dem je Ähnliches geschah, muss das noch die Augen benetzen. Aufrichtige Herzen wissen das. Frau Bene, die lobenswerte Fürstin, nahm Wilhalm eines Tages beiseite und sprach: „Ich habe beobachtet, dass Ihr jedes Mal sehr betrübt seid und heiße Tränen vergießt, wenn einer der beiden jungen Männer vor Euch tritt. Sagt mir bei Eurer Ehre: Wie kommt das?“ Da sprach der vortreffliche Mann:
6879 ab im diu ougen] von ym dy auwen. 6884 merken] prufen. 6895 〈hie〉. 6903 〈ie〉 (gegen DH). 6911 bî iuwer wirde] by uwer e (Ehre vs. Religion).
162 | 7 Wiedervereinigung ‘frouwe, wie mac ich daz gelân, so ich gedenke wie diu werden kint von hôhem arte erboren sint, den man ouch vürsten rehtes giht, daz diu von kumberlîcher phliht in ein swachez armez leben 6920 heten ir edel jugent geben und ûf tôtlîchen vâr mit roube nâmen in ir nar? wærn sie iu ze handen komen, ir hætet kein guot vür sie genomen. 6925 ir hætet nâch ir grôzen schult daz reht gar an in erfult. 105va sô hæten die herren wol geborn sêle unde lîp verlorn. wen solde daz erbarmen niht?’ 6930 ‘Ir hât niht rehte mich beriht’, sprach aber zim diu herzogîn. ‘ez muoz ein ander sache sîn diu iu an in werrende ist. die saget mir, sô iu helfe Krist! 6935 bî iuwer vart über mer, bî iuwer ê ich iuch beswer daz ir mir genzlîche saget die sache und mich niht verdaget.’ Wilhalm der rede erværet 6940 wart starke und beswæret dô sie sô sêre in beswuor. diu sorge im fröude undervuor daz er vil trûric vor ir stuont. ir vil güetlîcher munt 6945 sprach aber ze dem vürsten dô: ‘guot herre, wie gebârt ir sô? lêrt iuch ein rede sus verzagen? frâgtet ir mich iht, ich wolde iu sagen daz mir ze wizzen wære.’ 6950 in nam diu frouwe mære und vuorte in besunder. vor grôzer swære kunder dem herzen niht verbieten daz, ezn machte im durch diu ougen naz 6955 sîn lieht antlitze, grâwen bart. diu frouwe mit im betrüebet wart. Ze der er trûrlîchen sprach: ‘swaz diu kint hânt ungemach und swaz in leides ie gewar: 6915
„Herrin, wie könnte ich anders, wenn ich daran denke, dass die edlen Jünglinge von hoher Geburt sind und ihnen Fürstenrang gebührt, dass sie aber durch ein trauriges Geschick ihre edle Jugend gegen ein armseliges, niedriges Leben eintauschen und ihr Auskommen unter Lebensgefahr durch Raub sichern mussten? Wären sie in Eure Hände geraten, Ihr hättet kein Lösegeld für sie genommen, sondern nach dem Maß ihrer Schuld das volle Recht an ihnen erfüllt. Die hochgeborenen Herren hätten so mit dem Leben auch ihre Seele verloren. Wen sollte das nicht erbarmen?“ „Ihr verschweigt mir etwas“, erwiderte die Herzogin. „Es muss noch etwas Anderes sein, das Euch ihretwegen bekümmert. Das sagt mir mit Christi Hilfe! Bei Eurer Reise über Meer, bei Eurem Glauben beschwöre ich Euch, mir die volle Wahrheit zu sagen und mir nichts zu verschweigen.“ Wilhalm wurde die Rede schmerzlich und schwer, während sie so beschwörend in ihn drang. Sorge untergrub seine Freude, und er stand traurig vor ihr. Mit gütiger Stimme sprach sie den Fürsten noch einmal an: „Edler Herr, was bewegt Euch so? Macht Euch meine Frage so mutlos? Fragtet Ihr mich, so wollte ich Euch gern sagen, was ich denn wüsste.“ Die treffliche Dame zog ihn beiseite. Er konnte sein sorgenschweres Herz nicht hindern, ihm aus feuchten Augen das helle Gesicht und den grauen Bart zu benetzen. Die Dame teilte seine Betrübnis. Er sprach traurig zu ihr: „Alles, was die Jünglinge bedrückt und was sie an Leid erlebten,
6922 〈in〉 (gegen DH). 6931 〈zim〉 (gegen DH). 6943 〈vil〉. 6946 gebârt] wy stent. 6948 ich wolde iu sagen] ich wil eß uch sagen. 6954 〈durch〉. 6958 〈swaz〉 (gegen DH).
7 Wiedervereinigung | 163
frouwe, daz ist mîn schult gar. ich solde gelden sie vor got, wærn sie in dem leben tôt dâ ir sie, frouwe, hât von genomen.’ ‘sint sie von iu dar zuo komen? 6965 saget an, wie ist daz geschehen?’ ‘ûf genâde wil ichs verjehen: sie sint, frouwe, mîniu kint diu hie in iuwern gnâden sint. als ich die zal hân vür wâr, 105vb ez sint wol vier und zwênzic jâr dô ich sie ze leste sach biz daz diu sælde mir geschach daz ich sie ûf dem walde vant, unwizzende sie hân erkant.’ 6975 ‘Daz sie iuwer süne sîn’, sprach diu wîse herzogîn, ‘welch urkünde habt ir des?’ er sprach: ‘owê, frouwe, wes manet mich iuwer wirdekeit! 6980 herzeliep und herzeleit der beider hân ich mich gewent. nâch liebe sich mîn herze sent. leit mit stæte wonet mir bî, liebes bin ich lange vrî 6985 sît ich von der guoten schiet diu mich der zweier süne beriet.’ Dô er von der reinen sprach die er unwizzende vor im sach, nâch der sîn jâmer was sô grôz, 6990 ir herze sich gein im entslôz, darîn sie in kuntlich nam. mit rede sie aber an in quam daz er ir seite mære wâ vor sîn wonen wære 6995 ê daz er füere über mer. er sprach: ‘von hûs mîn überkêr quam gar wunderlîchen zuo.’ sie sprach: ‘eiâ, lât hœren nu!’ Er sprach: ‘frouwe, ich het ein lant 7000 von dannen ich vürste was genant, daz mir mîn vater nâch im liez der ein geweldic vürste hiez. er het bî lebelîcher kraft eins vürsten tohter mir behaft, 7005 die ich nâch sîme tôde nam. 6960
verschulde ganz und gar ich, oh Herrin. Ich müsste mich bei Gott für sie verantworten, wären sie in dieser Lebenslage umgekommen, wovor Ihr sie, Herrin, bewahrt habt.“ „Durch Euch wären sie in diese Lage gekommen? Sagt, wie sollte das geschehen sein?“ „Auf Gnade will ich es gestehen: Herrin, es sind meine Kinder, die nun in Eurem Dienst stehen. Wenn ich richtig zähle, sind es gut und gern 24 Jahre, seit ich sie zum letzten Mal sah, bis mir das Heil widerfuhr, sie oben im Wald wiederzufinden und unverhofft zu erkennen.“ „Welche Gewähr habt Ihr“, erwiderte die kluge Herzogin, „dass sie Eure Söhne sind?“ Er sprach: „Ach, Herrin, dass mich Euer Edelmut daran gemahnt! Ich habe mich an beides gewöhnt, an innige Liebe wie inniges Leid. Mein Herz verzehrt sich nach Liebe, Leid ist mein steter Begleiter, Liebe hatte ich lange nicht, seit ich die Edle verließ, die mir die zwei Söhne schenkte.“ Als er von der reinen Frau sprach, nach der sein Sehnsuchtsleid so stark war und die doch, ohne dass er es wusste, vor seinen Augen öffnete sich ihr Herz zu ihm; [stand, sie nahm ihn erkennend darin auf. Nochmals drang sie in ihn, ihr doch zu sagen, wo er gelebt hätte, ehe er übers Meer fuhr. Er sprach: „Mein Aufbruch aus der Heimat verlief sehr ungewöhnlich.“ Sie sprach: „Nun, so lasst doch hören!“ Er sprach: „Herrin, ich besaß ein Land, dessen Fürst ich war. Mein Vater hatte es mir vererbt, der ein machtvoller Fürst war. Er hatte für mich noch zu Lebzeiten um eine Fürstentochter geworben, die ich nach seinem Tod heiratete.
6970 vier und zwênzic] xxiiij. 6974 sie hân erkant] han ich sy erkant. went:sent] gesent:went. 7004 behaft] geschafft.
6977 habt ir] han ich.
6981f. ge-
164 | 7 Wiedervereinigung ich was ein kint und sie alsam. under vünfzehen jâren ich und diu süeze wâren dô sie mir ir vater brâhte. 7010 in wirdeclîcher ahte was ich und diu vürstîn klâr 106ra mit fröuden in daz dritte jâr daz sie diu kint von mir enphie (diu ich nû hân vunden hie) 7015 dô wir gâben unde nâmen unser zweier minne sâmen. got ist sô hôher helfe rîch: er sol ir noch bewîsen mich mit der ich in der heidenschaft 7020 dâ truoc des ungelouben kraft. dô vernam ich êrst von Kriste von dem ich niht enwiste. mit ir ich mich von lande stal, al mînen herren ich daz hal.’ 7025 Sîniu seneclîchen wort ruorten ires herzen ort. in einer süezen liebe gar nam sie sîner rede war. sie sprach: ‘durch Krist, nû saget mêr! 7030 war was iuwer reise kêr dô ir schiedet von hûs und iuch von lande stâlet sus?’ Er sprach: ‘dô ich von lande schiet, mîn reise alher geriet. 7035 dô ich nâhete der stat, als mich got her gewîset hât, und ich noch ûzerhalp ir tor was wol driu gewende vor, dô wart der lieben frouwen mîn 7040 wê ze den kindelîn. gein eins gewendes mâze vuorte ich sie von der strâze in ein tal ûf ein gras, dâ sie mit arbeit ir genas. 7045 den jâmer den ich an ir sach, daz der mir niht mîn herze brach, daz ist von gote ein wunder grôz. sîner helfe ich dâ genôz den ich ze voget hân erkorn. 7050 alsô diu kint wârn geborn,
Ich war noch sehr jung, sie ebenfalls. Noch nicht fünfzehn waren wir beide, als ihr Vater sie mir übergab. In fürstlichem Ansehen lebten ich und die schöne Fürstin freudvoll, bis sie im dritten Jahr, als wir, beide hingebend und nehmend, das Pfand unserer Liebe tauschten, die Kinder von mir empfing – eben jene, die ich nun hier wiederfand. Gott ist ein so mächtiger Helfer: Er wird mich noch zu ihr führen, mit der ich im Heidenland noch den Unglauben pflegte. Damals hörte ich erstmals von Christus, von dem ich nichts wusste. Mit ihr stahl ich mich aus dem Land, ich verheimlichte es allen meinen Vasallen.“ Seine wehmütigen Worte rührten den tiefsten Grund ihres Herzens. In süßem Glück hörte sie ihn an. Sie sprach: „Um Christi willen: Sprecht weiter! Wohin wandtet Ihr Euch, als Ihr von zuhause fortzogt und Euch so aus dem Land stahlt?“ Er sprach: „Als ich das Land verlassen hatte, führte mich der Weg hierher. Als ich mich der Stadt näherte, wie Gott mich geführt hatte, und noch drei Stadien bis zu den Stadttoren verblieben, fiel meine geliebte Frau in die Wehen. Nach ungefähr einer Stadie geleitete ich sie von der Straße in eine Senke aufs Gras, wo sie in Mühsal gebar. Dass der Schmerz, den ich ihr ansah, mir nicht das Herz brach, ist ein großes Wunder Gottes. Mir gab da der mit seiner Hilfe Halt, den ich mir zum Herrn erwählt hatte. Als die Kinder geboren waren,
7015 wir] sy (DH; sy Akk. zu ‘sâmen’). 7025 seneclîchen] klegelich. 7027f. in eyner sußen rede gar/ nam sy syner liebe war (sie lauschte liebevoll seiner Rede vs. spürte an seiner Rede Liebe zu ihr). 7037 ir tor] dem dor.
7 Wiedervereinigung | 165
ich het an mir diz selbe gewant. 106rb ietweder sît mit mîner hant reiz ich einen gêren abe und want sie in die swachen habe. 7055 niht anders wir dâ hâten. sus wâren wir berâten. Dô nâch der nôt als sie genas, mîns herzen liep entslâfen was, diu mîn herze sorgen mande, 7060 ûf den sê ich sie versande mit mînem kamerære (der noch ziuget disiu mære), der sie zwein kristenmannen verkoufte, die sie dannen 7065 vuorten. nû sints wider komen. die gêrn hân ich von in genomen darîn ich sie selbe want. dâbî diu kint ich hân erkant.’ Dô sie der rede urkünde sach, 7070 ir mündlîn rôt getriulich sprach: ‘ich hœre iuch, herre, mære sagen, ein vester muot möht ir verzagen.’ swie sô sie kint und lieben man, nâch den sô seneclich sie san, 7075 aldâ ensament vunden hete, der glîche sie doch niender tete, sunder daz sie sprach alsô: ‘herre, ir müget wol wesen frô, als ouch ir muoter wære 7080 diu leit durch sie verbære und müeste ir hôher fröude jehen, quæme ez ir sô, solt sie sie sehen. hât iu Krist daz heil gegeben, ir müget im gern ze dienste leben. 7085 iuwer frouwen der ir irre gât, saget an, wâ ir die hât gelâzen!’ ‘frouwe, in dise stat diu mich noch sorgen niht erlât, brâhte ich nâch ir arbeit die. 7090 bî einer frouwen ich sie lie, die ich mit nihte ervaren kan. wan ich ir namen niht enhân; 106va ir hûses ich irre worden bin.’ aber sprach diu herzogîn: 7095 ‘welt ir sîn ze ir gebote, ob diu hôhe kraft unser gote
7056 wir berâten] wir da beraden. 7083f. Versumstellung.
trug ich eben diesen Rock. An jeder Seite riss ich davon einen Zipfel und wickelte sie in diesen armseligen Besitz. Wir hatten nichts Anderes bei uns. So waren wir ausgezogen. Als sie die Geburtsqualen überwunden hatte, war meine Herzgeliebte eingeschlafen. Die, für die mein Herz zu sorgen mich mahnte, schickte ich mit meinem Kämmerer (er kann die Geschichte noch bezeugen) auf das Meer. Er verkaufte sie an zwei Christen, die sie in die Fremde brachten. Jetzt sind sie zurückgekehrt. Ich habe von ihnen die Rockzipfel mitgenommen, in die ich selbst sie gewickelt hatte. Daran habe ich die jungen Männer erkannt.“ Als sie den Beweis für die Worte sah, sprach sie innig aus ihrem roten Mund: „Herr, Ich höre Euch über Dinge reden, die selbst Hartgesottene erschüttern können.“ Wiewohl sie so die Söhne und den geliebten Mann, nach denen sie sich so sehnsuchtsvoll verzehrt hatte, zusammen wiedergefunden hatte, ließ sie sich doch darüber nichts anmerken, sondern sagte nur: „Herr, Ihr könnt mit Fug froh sein, wie es auch ihre Mutter wäre, die ihretwegen alles Leid abstreifen und sich höchstes Glück zusprechen müsste, wenn auch sie die Kinder wiedersehen könnte. Da Euch Christus dies Heil geschenkt hat, habt Ihr guten Grund, ihm Euer Leben zu widmen. Nun sagt: Eure Frau, nach der Ihr umherirrt, wo habt Ihr die gelassen?“ – „Herrin, ich brachte sie nach ihrer Genesung in diese Stadt, die mich immer noch nicht von meinen Sorgen befreit. Ich ließ sie bei einer Wirtin, die ich um nichts in der Welt wiederfinde, kenne ich doch ihren Namen nicht und erkenne ihr Haus nicht wieder.“ Erneut sprach die Herzogin: „Würdet Ihr Euch ihnen unterwerfen, wenn die Macht unserer Götter
7057 der] yr.
7074 sô seneclich sie san] sy sich seneclich san (DH).
166 | 7 Wiedervereinigung iuch næme von der swære und iuch bræhte dâ sie wære?’ er sprach: ‘frouwe, durch daz wîp, 7100 geschæhes nôt, wolde ich den lîp wâgen und doch der sêle niht. nâch der ich bin in senender phliht: mich sol mîn herre der hôhe Krist, der iuwer gote gebieter ist, 7105 die kleine mügen gehelfen mir, bringen kurzlich zuo ir. der sol mit sîner güete berihten ir gemüete daz sie zuo im sinne 7110 mit wârhafter minne und von irretuom der heiden gerlich welle scheiden, mit mir in kristenlîchem leben diser kranken werlde urloup geben 7115 der fröude als ein îs zergêt. der werlde ordenunge stêt alsô daz weder wîp noch man mit wârheit daz erziugen kan daz er hie fröude stæte 7120 gein einem tage hæte, im enquæme ein trüebe drunder. sô hât steter fröude wunder âne truopheit undervar des himels ingesinde gar. 7125 Gotes rîch stêt êweclîch. disiu werlt ist zergenclîch. dort ist fröude, hie ist klage, diu niuwet sich von tage ze tage. war quam mîn vater? er lac tôt. 7130 mîn muoter starp der selben nôt, die iuwer gote hânt betrogen 106vb und ze der hellen pîn gezogen. des mac ich niender vinden trôst daz sie iemer werden erlôst. 7135 die nôt mîn herze swære treit. mir ist umb mînen sweher leit, ist er ouch erstorben sô. wan lebte er noch, des wære ich frô. quæme ich ze im, ich gebe im rât 7140 und lêre als kristenleben stât, alsô daz er bekêrte sich. der hôhen fröuden werte er mich
Euch aus dieser Sorge nähme und Euch hinbrächte, wo sie lebt?“ Er antwortete: „Herrin, um dieser Frau willen riskierte ich das Leben, es koste was es wolle, aber nicht die Seele. Zu der, nach der ich mich so sehne, wird mich mein Herr, der erhabene Christus, bald führen. Er gebietet auch Euren Göttern, die mir wenig helfen können. Er wird in seiner Gnade Benes Sinn dazu führen, in wahrer Liebe nach ihm zu trachten, sich vom Irrglauben der Heiden willig zu lösen, und mit mir in Christi Nachfolge dieser vergänglichen Welt den Abschied zu geben, deren Freude wie Eis dahinschmilzt. Es ist der Lauf der Welt, dass keine Frau und kein Mann ehrlich bezeugen können, auch nur einen Tag lang beständige Freude erlebt zu haben, ohne dass sich Trübsal hineinmengte. Dagegen leben die Scharen des Himmels im Glückszustand ewiger und ungetrübter Wonne. Gottes Reich ist ewig. Diese Welt vergeht. Dort ist Freude, hier ist Klage, die sich Tag für Tag erneuert. Wohin ging mein Vater? Er ist tot. Auch meine Mutter starb. Eure Götter haben sie genarrt und in die Qualen der Hölle hinabgezerrt. Daher finde ich nirgends Hoffnung, dass sie je erlöst werden können. An dieser Not trägt mein Herz schwer. Auch um meinen Schwiegervater ist es mir leid, sollte er ebenfalls im Unglauben verstorben sein. Lebte er noch, schätzte ich mich glücklich. Wenn ich ihn träfe, riete und unterwiese ich ihn, wie man als Christ lebt, damit er sich bekehre. Er schenkte mir das höchste Glück
7112 gerlich welle scheiden] gerlichen scheiden. 7115 fröude] friede. 7119 fröude] friede. 7138 des wære ich frô] ich were fro.
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an der die ich bî sorgen lie dô ich mich von ir stal alhie.’ 7145 Disiu wort er seneclîchen sprach. mit gewalde im durch diu ougen brach ein michel rêre sneller zeher. sie sprach: ‘wer was iuwer sweher?’ er sprach: ‘der edel barne, 7150 des fröudengâbe ich arne mit leitlîchem smerzen, den ich in mînem herzen hân. Krist erwende mir die klage die ich unergetzet trage, 7155 ob ich der triuwe rehte tuo!’ Hie gebârte sô vremdeclîchen zuo diu edel vürstîn mære als ir niht hierumbe wære, wan daz si sprach: ‘nû wîse iuch Krist 7160 aldar dâ iuwer frouwe ist und daz ir alles des ir gert, an ir nâch willen sît gewert. ich wæne, sie niht jâmer lât nach iu ob sie triuwe hât. 7165 ich hôrte von iuwerm sweher sagen daz er noch lebte in kurzen tagen. gehabt iuch wol! ez mac geschehen, ir müget in noch in fröuden sehen und iuwer swiger alsam. 7170 ein bote mir niulich von im quam.’ Ez was nû volleclîchen zît als man daz âbentezzen gît. 107ra sich fröute tougenlîche diu süeze sælden rîche. 7175 liebiu mære het sie vernomen. man sach sie frô ze tische komen. des âbends sie ir geste phlac als daz ein vürstîn wol vermac. vil dicke sie güetlîchen an 7180 sach liebiu kint und werden man. in wîplîcher güete was hügende ir gemüete. swer sie sach, der jach ir sô daz sie von herzen wære frô. 7185 diu wîse frouwe wol bedâht doch mit sorgen ranc die naht wie sie ez zuobræhte daz man irz niht verdæhte
durch seine Tochter, die ich in Sorgen verließ, als ich mich eben hier von ihr wegstahl.“ Er sprach diese Worte voll Wehmut. Heftige Tränenströme brachen in seine Augen. Sie sprach: „Wer war denn Euer Schwiegervater?“ Er antwortete: „Ein Mann von edler Geburt, dessen Glücksgabe ich mit dem tiefen Schmerz bezahle, den ich in meinem Herzen trage. Christus möge meine klägliche Lage wenden, die ich unverschuldet trage, wenn ich nicht treulos handele.“ Hierzu verhielt sich die ruhmreiche edle Fürstin so unbeteiligt, als ob sie alles nichts anginge; sie sprach nur: „Christus führe Euch dahin, wo Eure Gemahlin ist, damit Ihr alles, wonach Euch von ihr verlangt, nach Wunsch bekommt. Ich vermute, auch sie verzehrt sich in Jammer nach Euch, wenn sie Treue pflegt. Von Eurem Schwiegervater hörte ich, dass er kürzlich noch lebte. Fahrt wohl! Mag sein, dass Ihr ihn noch glücklich findet, und ebenso Eure Schwiegermutter. Neulich kam ein Bote von ihm zu mir.“ Es war nun die Zeit des Abendessens. Insgeheim freute sich die edle, glückselige Bene. Gute Neuigkeiten hatte sie gehört. Man sah sie froh zu Tisch kommen. Den Abend über kümmerte sie sich um ihre Gäste, wie es nur eine Fürstin vermag. Ein ums andere Mal sah sie voll Güte ihre lieben Kinder und ihren edlen Mann an. Ihr liebendes Frauenherz schwelgte in Gedanken. Wer sie sah, erkannte, dass sie von Herzen glücklich war. Doch die kluge und bedachte Frau rang die ganze Nacht über mit Sorgen, wie sie erreichen könnte, dass man ihr nichts vorwerfen könne
7144 stal alhie] stal (lie: 7143). 7161 des ir gert] deß ist gert. 7180 liebiu kint und werden man] werde kint vnd lieben man. 7185 wol bedâht] doch bedacht.
168 | 7 Wiedervereinigung und daz ez mit êren quæme zuo. Als ir quam der morgen fruo, wîslîch sie genande, ir rât sie besande. den herren begunde sie verjehen als ez quam und was geschehen: 7195 wie sie von lande vuorte ir man und wie er ir aldâ entran und wie sie got vor der stat der zweier süne berâten hât; wie sie wurden verkoufet 7200 und nâch kristen ê getoufet den sie nâch roubes schulde nâch ir râte gap die hulde. dô sie in allez het gesaget und al ir ungemüete geklaget, 7205 mit wîser rede in gar entslôz ir dar komen und ir kumber grôz, sie sprach: ‘der die hœsten hant treit und dem vor ist benant der gewalt hôch allen goten obe, 7210 dem alliu crêatiur ze lobe ist, der sol iu sælde geben und hôhe wirden iuwer leben. daz hât volleclîchen ir mit triuwen kraft verdient an mir. 7215 solde ich leben tûsent jâr, 107rb ich möhte iu niht voldanken gar der êren die ir hât begân an mir. ô wert getriuwen man, der hôhe got müeze iuch bewarn! 7220 ich sol hinnen von iu varn.’ Der rede die herren wurden unfrô. ‘genâde, vrouwe, wie komet daz sô? woldet ir uns sô verweiset lân, unbilde begienget ir dâran.’ 7225 dô sprach aber diu herzogîn: ‘nâch dem mich herze unde sin dicke ze sorgen hânt gejaget, sîtmâl in vröuden nie betaget bin ich sît er mich alhie 7230 nâch im ellendeclîchen lie, der ist mir her wider komen des ir hât mære vor mir vernomen von mangem ellenden man den ich nâch im gefrâget hân, 7190
und alles in Ehren ende. Bei Tagesanbruch sandte sie so klug, wie man sie kannte, nach ihrem Rat. Sie berichtete den Herren, wie alles gekommen und geschehen war: wie sie ihr Mann aus ihrem Land wegführte, wie er ihr hier entfloh und wie Gott ihnen vor der Stadt zwei Söhne schenkte. [Weiter berichtete sie,] wie jene verkauft und christlich getauft wurden, die sie nach sündhaftem Räuberleben auf ihren Rat hin begnadigt hatte. Als sie ihnen alles gesagt und all ihr Leid geklagt, dazu mit kluger Rede ihr Herkommen und ihren großen Verlust kundgetan hatte, sprach sie: „Der die höchste Macht in Händen hält und dem die Herrschaft hoch über allen Göttern gehört, zu dessen Ruhme die gesamte Schöpfung besteht, der soll Euch Heil gewähren und Euer Leben adeln. Ihr habt das mit der Kraft Eurer Treue an mir voll und ganz verdient. Und wenn ich ewig lebte, könnte ich Euch nicht nach Gebühr für die Ehren danken, die Ihr mir erwiesen habt. Ach, Ihr edlen und treuen Mannen, der hohe Gott schütze Euch! Ich muss Euch verlassen.“ Über diese Ankündigung erschraken die Herren. „Verzeiht, Herrin, warum denn das? Ihr tätet Unrecht, wenn Ihr uns so verwaist zurückließet.“ Die Herzogin antwortete: „Derjenige, nach dem mich Herz und Sinn oft sorgenvoll drängten, weil ich keinen freudvollen Tag mehr erlebte, seit er mich hier in der Fremde zurückließ, ist zu mir zurückgekehrt; Ihr selbst habt in meinem Beisein von mehreren Fremden, die ich nach ihm gefragt hatte,
7216 voldanken] dancken vollen. 7228 〈in〉 (gegen DH). 7232 des ir hât] waß hant yr (DH; 7232–37 als rhetorische Frage).
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waz er hôhes prîses hât menlich mit ritterlîcher tât erworben kreftic über mer.’ Sie sprâchen: ‘gnâde, vrouwe hêr, der sol mit iu hie herre wesen. 7240 wir suln wol mit im genesen.’ sie sprach: ‘des enmac niht sîn.’ ‘wie sô, edel vürstîn?’ sie sprach: ‘dô treit er kristen ê. sîn orden tæte iu lîhte wê 7245 den ich durch in enphâhen wil. sô hât ir mich geêrt sô vil und ouch gehalden alsô wol daz ich nihtes muoten sol an iuch daz iuch beswære 7250 und iu wider wære. mîn herre beginnt von hinnen ze sîme lande sinnen. ich weiz wol, vinden wir unser man als wir sie gelâzen hân, 7255 und unser wartende noch sîn, swaz in gebiutet der herre mîn, daz tuont sie alle glîche. frô und willeclîche 107va beginnent sie des gâhen, 7260 durch sîn liebe den touf enphâhen. sô welt ir herren iuwer gote vil lîht niht lân nâch sîme gebote. darumbe blîbet er hie niht. der rede hân ich iuch beriht, 7265 ez enwese ouch alsô vil als ich iuch der rede manen wil diu von iu gemeine geschach. iuwer wort der grâve sprach: ob mir mîn wesen swære 7270 âne herren wære, daz ich mir welte einen man. den woldet ir ze herren hân, beide ze fröuden und ze nôt mit triuwen leisten sîn gebot. 7275 dô ich iu jach der mære daz ich sîn wartende wære dem ich von êrste mich het ergeben, nâch dem wolde ich alsô leben: dô bôt iuwer wirdekeit 7280 mir des willigen eit, ob mir mîn herre quæme, 7235
7262 〈vil〉. 7272 woldet ir] wolt ich.
gehört, welch hohen Ruhm er sich in Outremer mit Rittertat mannhaft und kraftvoll erwarb.“ Sie sprachen: „Edle Herrin, wenn Ihr wollt, soll er mit Euch hier das Land regieren. Es wird uns mit ihm gut gehen.“ Sie sprach: „Das geht nicht.“ „Warum nicht, edle Fürstin?“ Sie sprach: „Er ist Christ. Sein Glauben dürfte Euch stören, den auch ich um seinetwillen annehmen werde. Ihr habt mir so viel Ehre erwiesen und mich so edel behandelt, dass ich Euch nichts zumuten werde, was Euch belasten und Euch zuwider sein könnte. Mein Herr strebt von hier zurück in seine Heimat. Ich bin mir sicher: Sobald wir unsere Getreuen wiedersehen, die wir einst zurückließen und die noch auf uns warten, werden sie alle einmütig tun, was er ihnen gebietet. Freudig und bereitwillig werden sie keinen Moment zögern, ihm zuliebe die Taufe zu empfangen. Ihr, meine Herren, wollt Eure Götter dagegen wahrscheinlich nicht auf sein Geheiß hin aufgeben. Darum bleibt er nicht hier. Ich habe Euch nun alles gesagt, nur an eines noch will ich Euch erinnern, nämlich an das, was Ihr gemeinsam einst sagtet. Der Graf redete für Euch alle: Wenn es mir schwer würde, ohne Gemahl zu leben, so sollte ich mir einen wählen, den Ihr als Herrn akzeptieren und dessen Gebot Ihr in Freude und Not loyal folgen wolltet. Als ich Euch damals sagte, dass ich auf einen warte, dem ich mich als erstem angetraut habe und dass ich mein Leben nach ihm ausrichten wollte, da hat Euer Edelsinn mir aus freien Stücken geschworen, dass, sollte dieser wiederkommen,
170 | 7 Wiedervereinigung sîn gebot wære iu gezæme. stêt ir vaste noch daran, sô behaldet ir mich und ouch den man. 7285 ist des niht, sô muoz ich mit im von iu entfremden mich. geloubet mir, daz ist ein zît diu mir von herzen swære gît ob ich sol von iu scheiden.’ 7290 Dô sprâchen die werden heiden: ‘hôher wirde frouwe rîche, ir hât sô lieplîche von der zît und wir iuch kurn, dô wir den herren verlurn, 7295 und alsô reht mit uns gelebet: swelchem orden ir iuch gebet, des selben wir mit triuwen gern. mit nihte wir wellen iur enbern. swaz wir hân vor gesprochen, 7300 mit nihte daz wirt gebrochen. saget, vrouwe, welch ist der man den wir ze herren sullen hân, daz wirn nâch rehte enphâhen?’ 107vb ‘Wir suln uns niht vergâhen’, 7305 sprach diu gevüege herzogîn. ‘sô lât iu diz verborgen sîn alsô liep sô ich iu sî! er saz mir nehten nâhe bî. güetlich ich mit im kôste, 7310 wol mich sîn rede trôste.’ aber sprach diu frouwe klâr: ‘ich weiz iuch sô getriuwe gar, swaz ir gein mir sprechet, mit nihte ir daz brechet: 7315 wie tuon wir dem lantvolke dan ob uns daz wil widerstân, wirt uns daz erbolgen?’ ‘Niht, vrouwe. sie müezen volgen uns swes wir beginnen. 7320 mit getriuwelîchen sinnen suln wir werben gar dar nâch.’ alsô der grâve aber sprach: ‘vrouwe, ich hân von iu die kraft und ouch von mîner hêrschaft 7325 daz ich al der diete die dâ wonent in der gebiete dâ ich gewalt von iu hân, mit voller maht gebieten kan
Euch seine Herrschaft genehm wäre. Steht Ihr noch fest dazu, so behaltet Ihr mich, und dazu den Mann. Wenn dem nicht so ist, werde ich Euch mit ihm verlassen. Glaubt mir, dieser Augenblick, sollte er kommen, bedrückt jetzt schon mein Herz.“ Da sprachen die edlen Heiden: „Erhaben erlauchte Herrin, Ihr habt so gütig und rechtschaffen bei uns gelebt von dem Moment an, als wir Euch nach dem Verlust unseres Herrn wählten, dass wir in Treue den Glauben begehren, den Ihr für Euch annehmt. Um nichts in der Welt wollen wir Euch entbehren. Was wir einst gelobt hatten, bleibt voll und ganz gültig. Sagt, Herrin, wer ist dieser Mann, den wir als Landesherrn haben werden, damit wir ihn geziemend empfangen?“ „Überhasten wir nichts“, erwiderte die kluge Herzogin. „Lasst Euch mir zuliebe Eure Absicht nicht anmerken! Heute abend saß er bei mir, wir sprachen freundlich miteinander, seine Worte machten mich froh.“ Weiter sprach die Schöne: „Ich kenne Euch als absolut treu: Ihr haltet ohne Abstriche, was Ihr mir zusagt. Wie aber gehen wir mit dem Landvolk um? Wenn es anderer Meinung ist, wird es sich dann gegen uns wenden?“ „Nein, Herrin. Sie werden uns folgen, was wir auch tun. Wir werden mit aufrichtigen Sinnen darauf hinarbeiten.“ Der Graf fuhr fort: „Herzogin, ich habe von Euch die Amtsgewalt, dazu eigene Herrschaftsrechte, so dass ich allem Volk, das in dem Sprengel lebt, den ich in Eurem Namen verwalte, mit voller Autorität gebieten kann
7286 iu entfremden] freuden entfremden. 7309 〈mit〉. 7321 〈gar〉 (gegen DH). 7326 〈dâ〉.
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daz sie leisten müezen swes wir sie begrüezen. daz selbe ein ander ouch vermac.’ Diu vrouwe nam dô einen tac. vor der stat ûf einem plân dâ solde ein hôchgezît ergân 7335 mit rîcheit gewalde. vor dem grôzen walde ein lustic anger aldâ was dâ sie ê ir süne genas. den hof gebôt sie wîten sagen, 7340 die ander rede gar verdagen. Nû wart wîten gesant allenthalben in ir lant und geboten alsô: diu herzogîn wolt wesen frô. 7345 dâ solden zuo berihten sich alle ir herren wirdeclich 108ra und mit ir frouwen komen dar. grâven, barûn, ritter gar, alle ir burger von ir steten 7350 und alle die von ir iht heten, ir deheiner solt den hof verligen. diu rede wart ouch niht verswigen in ir selbes lande. den herren sie brieve sande. 7355 den schreip alsô diu herzogîn nâch werdes râtes lêre hin und bat sie ze fröuden komen: ‘und ouch als ich hân vernomen, als ez ergie vor langer zît, 7360 daz iu noch niuwen jâmer gît umb den hern den ir verlurt dô ir vür vröude swære kurt durch die herzoginne wert der ir getriuweclîchen gert: 7365 komt ze mir, welt ir sie sehen. iu mac noch wol von ir geschehen. mit iuwern frouwen sô sult ir alle komen her ze mir.’ Als in die brieve quâmen 7370 und sie die rede vernâmen dazs ir herren und ir frouwen bî leben solden schouwen, und daz gemeinlich erschal in dem lande überal, 7330
und alle das Gebotene leisten müssen, was immer wir von ihnen fordern. Das Gleiche gilt für jeden von uns.“ Die Herzogin setzte darauf einen Hoftag an. Auf einem freien Feld vor der Stadt sollte die Festlichkeit in großer Pracht stattfinden. Vor dem großen Wald lag ein blühender Anger, auf dem Bene einst ihre Söhne geboren hatte. Sie ließ den Hoftag allgemein ausrufen, bewahrte aber ihre Pläne für sich. Nun wurden weit über ihr Land Boten ausgesandt mit der Meldung, die Herzogin wolle ein Hoffest ausrichten. Dazu sollten all ihre Landherren ehrenvoll mit ihren Gemahlinnen zusammenkommen. Grafen, Barone und Ritter, die Bürger der Städte sowie alle, die Lehen von ihr besaßen: keiner von ihnen sollte den Hoftag versäumen. Diese Botschaft wurde auch in ihr eigenes Land getragen. Sie sandte den Landherren Briefe. Die Herzogin schrieb ihnen auf den Rat kundiger Vertrauter, sie mögen auf Erfreuliches gefasst sein, „auch, wie ich vernahm, des lange zurückliegenden Ereignisses wegen, das in Euch immer aufs neue Leid erweckt um den Herrn, den Ihr verloren habt, als Eure Freude in Trauer umschlug, und um die edle Herzogin, auf die Ihr noch immer treu wartet: Wenn Ihr sie sehen wollt, so kommt zu mir. Es kann Euch noch viel Gutes durch sie geschehen. Ihr sollt alle mit Euren Damen zu mir kommen.“ Als die Briefe zu ihnen gekommen waren und sie die Nachricht lasen, sie sollten ihre Herrschaft lebendig wiedersehen, und als sich diese Botschaft über das ganze Land verbreitet hatte,
7332 〈dô〉. 7338 〈ê〉 (gegen DH). 7342 ir lant] dy lant (d.h. geht über Benes Land hinaus). 7357 ze fröuden] zu yr freuden.
172 | 7 Wiedervereinigung dô wart d[e]hein volc nie sô frô. überal wart geboten dô daz ze der verte rîlich ein ieglich man berihte sich; und wolden ir hêrschaft sô enphân 7380 daz sie des êre mohten hân. niemen daz ungerne tete. fröude sie besezzen hete. aller hande wercman muosten vil ze werke hân 7385 von rîcher gezierde diu noch hœrt ze solicher wirde. Von der vürstîn wünnesam ir vater ouch diu rede quam 108rb mit wârhaftem mære 7390 daz noch bî lîbe wære sîn eidem und sîn tohter. wol fröuwen sich des mohter des herze twanc der riuwen kraft, dô im quam diu boteschaft. 7395 er was lîhte dar ze biten. er berihte sich mit rîcheit siten ze der frœlîchen var. Mit einer schœnen frouwen schar froun Bênen muoter sich erhuop. 7400 diz riet ir wirdeclîcher uop. hôher koste sie sich bewac. sie gelebte nie sô lieben tac sô daz ir solde daz geschehen daz sie vor tôde muoste sehen 7405 ir tohter und ir eidem wert. dâ vür sie keiner fröude gert. der noch sô wert zwei kint verlür: ich wæne man in in fröuden kür ob er solde komen dar 7410 dâ er ir kuntlich gewar mit solicher wirde würde. im ringete sorgen bürde hôhiu fröude im trûren werte. Rîch sie ûf der verte 7415 und in hôhem muote wâren. mit hübschen gebâren vil kleine sie wîlten. ungesûmt sie îlten daz sie kurzlich ze dem tage 7420 quæmen nâch der süezen sage, als in vrou Bêne het enboten. 7375
da gab es kein glücklicheres Volk. Überall wurde verbreitet, dass sich jedermann reich für die Reise rüsten sollte; sie wollten ihre Herrschaft so empfangen, dass es sie ehrte. Alle taten dies mit Begeisterung. Freude hatte sie erfasst. Werkleute verschiedenster Metiers benötigten für ihr Werk viel kostbaren Zierrat, wie er noch heute bei Hofe üblich ist. Die Botschaft der liebreizenden Fürstin gelangte mit zuverlässiger Kunde auch zu ihrem Vater, dass nämlich sein Schwiegersohn und seine Tochter noch am Leben seien. Über die Nachricht konnte er sich rückhaltlos freuen, hatte doch bisher der Schmerz sein Herz ganz erdrückt. Man musste ihn nicht zu dem Fest bitten. Er scheute keine Kosten für die willkommene Reise. Mit einer Gruppe schöner Damen machte sich auch Benes Mutter auf, ganz nach adliger Sitte. Auch ihr war nichts zu kostbar. Nie sollte sie einen glücklicheren Tag erleben als den, an dem ihr vergönnt sein sollte, noch zu Lebzeiten ihre edle Tochter und ihren edlen Schwiegersohn wiederzusehen. Keine größere Freude konnte es für sie geben. Sollte irgendjemand zwei so edle Kinder verlieren wie sie, fände man ihn, glaube ich, in gleichem Glück, wenn er sich auf den Weg machte, um sie in solcher Ehre wiederzufinden. Ungetrübte Freude linderte auch ihm die Sorgenlast und hielte Trauer fern von ihm fern. Prächtig und in bester Stimmung waren sie unterwegs. In freudiger Erwartung hielten sie sich kaum auf. Sie eilten ohne Rast, so dass sie nach kurzer Zeit an dem von Bene entbotenen Tag eintrafen, wie die frohe Kunde besagt.
7384 ze werke hân] zu werke gan. 7388 rede] mere. 7421 vrou Bêne het] frauwe hat.
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der alde herzoge het geboten von ir lande den herren gar daz sie vüern in sîner schar. 7425 daz was allez sô geschehen. nû moht man schœnheit wunder sehen an manger frouwen lieht gevar, diu hübschlich quam gezoumet dar von werdes ritters hende. 7430 under stolzem gebende quam dar manic rôter munt 108va und hôher fröude süezer vunt. dâ smâhte manic antlitzes schîn bî dem wege diu blüemelîn. 7435 durch die frouwen lieht gevar, ich wæn, man næme ir kleine war. ein lieplîchez kôsen friuntlich âne lôsen ûz süezem rôtem mündelîn 7440 gît dicke an hôhem muot gewin und ouch an fröuden bejac. frou Bêne warte gein dem tac als sie ir vater het geschriben und den die in ir gebote bliben 7445 ie wârn und wolden iemer sîn: den rât gap in getriuwer sin. Nû was diu reine gemuote, diu lobes rîche guote durch warten an ein fensterlîn 7450 gesezzen gein dem walde hin dan sie sich fröuden künfte versach. sie merkte daz ûz dem walde brach ein hübschiu gefüegiu rote, diu nâch ires vater gebote 7455 ir brâhte liebiu mære daz er nâhen wære und mit im zoget diu herzogîn. nû enwist diu süeze vürstîn vor liebe wie gebâren, 7460 dô ir die boten komen wâren. sie begunde an ir goten zagen, dem hôhen Krist genâde sagen, dem sie iemer dienen wolde daz sie noch ir vater solde 7465 und ir muoter sehen lebende, dêr sô hôhe gâbe was gebende. Ir entwellen was unlanc. ûf ein phert sie sich swanc.
7441 und ouch] vnd doch (DH).
Der alte Herzog hatte all seine Landherren eingeladen, in seiner Schar mitzureisen. So war es geschehen. Nun konnte man die wunderbar strahlende Schönheit vieler Damen sehen, die an edlen Ritterhänden höfisches Geleit fanden. Unter stolzem Kopfputz kam manch roter Mund dorthin, ein süßer Quell hoher Freude. Da ließ der Blick auf die Gesichter die Blumen am Wegrand erblassen: Angesichts der strahlenden Damen, so glaube ich, beachtete man diese kaum noch. Liebreizendes Plaudern, freundlich und ungeziert aus süßem rotem Mund, erzeugt oft Hochstimmung und fördert auch die Freude. Frau Bene blickte dem Tag entgegen, den sie ihrem Vater und all jenen bezeichnet hatte, die ihr gegenüber so lange loyal gewesen waren und es weiterhin bleiben wollten (sie handelten aus Treue). Nun saß die Lautere, die ruhmreiche Edle ausschauend an einem Fenster, das zum Wald hinausging, von wo sie den freudigen Zuzug erwartete. Sie sah, dass aus dem Wald eine höfische Gruppe hervorritt, die ihr im Auftrag ihres Vaters die frohe Kunde brachte, dass er schon nahe war und die Herzogin bei ihm sei. Als die Boten vor ihr standen, wusste die edle Fürstin ihre Freude kaum zu zügeln. Sie begann, an ihren Göttern zu zweifeln und dem erhabenen Christus, dem sie fortan dienen wollte, zu danken, da er sie so reich beschenkte, indem sie ihren Vater und ihre Mutter noch bei Lebzeiten sehen sollte. Sie zögerte nicht und schwang sich auf ein Pferd.
174 | 7 Wiedervereinigung man mocht sie lîht dar ûf geheben. ez gie snelles zeldens eben daz sie volles ganges reit. manc vrouwe klâr und gemeit jagte ir gâher verte nâch. vil herren und ritter man ouch sach 7475 nâch ir gâhen balde 108vb vaste gein dem walde. aldâ vor an ein grüenez gras mit allem gesinde erbeizet was der alde werde grîse 7480 und ir muoter diu wîse. als diu froun Bênen verre sach, zuo ir herren sie dô sprach: ‘mich entriege mîner ougen spehe, unser tohter ich dort sehe, 7485 diu ir vor al den frouwen sô lât der reise zouwen. sich fröut mîn herze unde sin; mir selber überhêr ich bin. mir gît hiute dirre tac 7490 sorgen vlust und rîch bejac an hôhen fröuden wert gewin. wan sæhe ich nû den eidem mîn! vinden wir den hie, als man saget, sô sîn wir sæleclich betaget. 7495 eiâ, wol ûf ! wes bîten wir daz wir gâhen niht gein ir?’ Dô saz der vürste ûf sîn phert, sam tet diu alde vürstîn wert. sorgen urbor was dô kranc. 7500 frou Bêne gein ir vater dranc und gein ir muoter alsam, die sie mit süezem gruoze nam und vuorte sie sunderlîchen hin. sie sprach: ‘herre und vater mîn, 7505 daz ich bin iuwer beider kint, mîne liute unwizzende des sint. swaz sie mich gefrâgten ie, sô wolde ich verjehen nie von wannen ich wær dar bekomen. 7510 ez ist in gerlich unvernomen. nû bite ich flîzlich iuch daz ir ez noch ein wîle helt mit mir.’ Vor liebe ir ougen wurden naz. sie sprâchen: ‘tohter, umbe waz 7515 suln wir dir vürbaz fremde sîn?’ 7470
Man hätte sie leicht in den Sattel heben können. Es ging gleichmäßig in munterem Passgang, den sie nicht zügelte. Viele bildschöne Damen folgten ihrem Eilritt. Auch viele Herren und Ritter sah man ihr kühn nacheilen zum Wald hin. Dort lagerte auf einer Wiese mit all seinem Gefolge der würdige Altersgraue und Benes kluge Mutter. Als diese Bene schon von weitem sah, sprach sie zu ihrem Gemahl: „Wenn mich mein Auge nicht trügt, sehe ich dort unsere Tochter, die vor all den Damen im Fluge heraneilt. Mein Herz und mein Sinn freuen sich, ich bin überglücklich. Dieser heutige Tag nimmt mir Sorgen und beschert mir reichlich kostbaren Freudengewinn. Sähe ich doch nun auch meinen Schwiegersohn! Wenn wir den hier finden, wie man berichtet, sind wir selig alt geworden. Ei nun, wohlan! Worauf warten wir noch, statt ihr entgegen zu eilen?“ Sogleich saß der Fürst im Sattel, ebenso die edle alte Fürstin. Die Sorgenernte fiel da mager aus. Frau Bene hielt auf ihren Vater und ihre Mutter zu; sie begrüßte sie voll Liebe und führte sie beiseite. Sie sprach: „Mein Herr und Vater, mein Volk weiß nicht, dass ich Eure Tochter bin. So oft sie mich auch stets danach fragten, ich wollte ihnen doch nicht verraten, woher ich zu ihnen gekommen sei. Sie haben nie etwas davon gehört. Nun bitte ich Euch inständig, dass Ihr es noch eine Weile mit mir verheimlicht.“ Vor Glück netzten sich ihre Augen. Sie sprachen: „Tochter, warum nur sollen wir weiterhin fremd tun mit dir?“
7493 man saget] man vnß saget (DH). 7498 sam tet diu alde vürstîn] also det dy furstin.
7 Wiedervereinigung | 175
sie sprach: ‘hie ist der herre mîn, der ist suochende mich. ich bin im unerkentlich; alsô wære er iemer mir 109ra gewesen, vater, wan daz wir zesamen sâzen an eime tage: nâch frâge vernam ich sîne sage wîe der werde mich alhie in diser stat ellende lie, 7525 wie er versande unser kint, diu mir ouch wider komen sint, diu er wunderlîchen vant. von Kriste wurdens im bekant; des er im ze trôste giht. 7530 diu mîn ouch noch erkennent niht.’ sie seite in al die rede gar wie ez von êrst was komen dar. von dem herzen manic trân durch diu ougen wart gelân. 7535 des twanc sie liep unde leit. die seneclîchen arebeit von ir klagenden worten vater und muoter hôrten, disiu zwei von arte hêr. 7540 ‘wir geren nû niht fröuden mêr’, sprach vater und muoter aber zir. ‘lange zît nâch iu hân wir mit grôzem jâmer sô vertân. sît wir dich, tohter, vunden hân 7545 und als wir dich hœren jehen, wir suln Willehalmen sehen, sô muoz uns trûren wilden. an rîchen fröuden milden suln wir vürbaz zern unser jâr. 7550 dîne bete wir leisten gar. in dîme schirme wir hie sîn.’ Dô riten sie mit liebe hin dâ ein gestüele was geworht nâch rîcher kür unervorht. 7555 man moht dâ wunder schouwen wie man ritter unde frouwen mit hübschen grüezen dâ enphienc. al ûf dem velde umb den rinc der marschalc herberge het geben. 7560 sie wolden nû den fröuden leben.
Sie entgegnete: „Mein Gemahl ist auf der Suche nach mir hierhergekommen. Er hat mich nicht erkannt. Auch ich hätte ihn nie erkannt, Vater, wenn wir nicht eines Tages zusammengesessen wären: Ich fragte ihn und vernahm darauf seine Geschichte, wie der Edle mich hier in dieser Stadt allein zurückließ und unsere Kinder verkaufte, die mir nun auch wiedergegeben sind. Er fand sie auf wunderbare Weise. Durch Christus fielen sie ihm auf, woraus er für sich Hoffnung schöpft. Mich erkannten sie aber noch nicht.“ Sie erzählte den Eltern ganz genau, wie alles sich von Beginn an zugetragen hatte. Das Herz öffnete seine Schleusen und ließ die Augen überfließen. Freude und Schmerz zusammen bewirkten das. Ihren klagenden Worten entnahmen die Eltern, beide von hoher Art, die zuvor erlittenen Qualen. „Wir verlangen nun kein Glück mehr“, erwiderten sie. „Lange haben wir uns in großem Kummer nach Euch verzehrt. Nun, da wir Dich, liebe Tochter, gefunden haben, und, wie Du sagst, auch Wilhalm sehen werden, können wir nicht mehr traurig sein. In ungetrübt beglückender Freude werden wir fortan leben. Gänzlich erfüllen wir Deine Bitte. Wir stehen hier unter Deinem Schutz.“ Darauf ritten sie voll Freude zu einem prächtig ausstaffierten Sitzkreis. Man konnte dort mustergültig sehen, wie man Ritter und Damen in höfischer Noblesse begrüßt. Auf dem ganzen Feld um den Sitzkreis hatte der Hofmarschall Zelte aufschlagen lassen. Alle sahen erwartungsvoll den Festfreuden entgegen.
7520 wan] dan (DH). 7541 〈zir〉 (gegen DH). 7542 lange zît nâch iu hân wir] bange zyt nach uch so haber (aber: 7541). 7543 〈sô〉 (gegen DH). 7549 〈vürbaz〉. 7558 umb den rinc] yn dem ring.
176 | 7 Wiedervereinigung Frou Bêne nâhe ir vater reit, dem sie liebiu mære seit 109rb wie Wilhalm wünschte daz daz geschæhe daz ern noch lebende sæhe. 7565 umb sie grôz was der gedranc. den vürsten wîse von alder blanc frou Bêne von dem velde geleite ze sîme gezelde. alsam sie die muoter tete. 7570 manic man sie geprüevet hete von ir selbes lande ob er sie rehte erkande, daz sie sîn frouwe wære. under in lief diz mære 7575 mit frœlîchem muote entwer den âbent hin unde her. Ez was nû komen an die naht. grôze kerzen wurden brâht dâ die werden sâzen, 7580 als sie ûf den âbent gâzen: daz mit fröuden wart getân. urloup nam frou Bêne sân, überal sie guote naht dâ sprach. ir wart vil gesehen nâch 7585 von manger süezen frouwen wert diu dâ noch ir wesens gert ûf daz sie sie erkande baz. herze und ouge in seite daz diu süeze wîse gewære 7590 ir rehtiu frouwe wære diu sie bî hôhen fröuden lie des âbendes und darnâch sie an dem næhsten morgen brâhte in grôzez sorgen. 7595 jâ wær vil rede mit ir getân. durch zuht sô wolden sie daz lân: doch twanc sie des diu herzogîn daz ir liehter ougen schîn nâch ir rêrten vil der zeher. 7600 Wilhalm wol merkte dâ sîn sweher und die herren von sîme lande: ir keiner in doch erkande niwan aleine diu herzogîn. er wolt sich ouch niht kunden in 7605 noch wolt sich vil dâ dringen niht, 109va als wîsem manne noch geschiht
Frau Bene ritt auf ihren Vater zu und überbrachte ihm die frohe Nachricht, wie inständig Wilhalm wünschte, ihn noch zu Lebzeiten zu sehen. Das Gedränge um sie herum war groß. Frau Bene geleitete den altersgrauen, weisen Fürsten vom Feld zu seinem Zelt. Das gleiche tat sie mit der Mutter. Sie hatte sich mit vielen Leuten aus ihrem Land umgeben, die sie als Herrscherin hochschätzten. Unter ihnen verbreitete sich das Geschehene in ausgelassener Heiterkeit über den Abend weiter. Es war nun Nacht geworden. Große Kerzen wurden herbeigetragen, wo die Edlen beim Abendessen saßen: Alles geschah in heiterer Stimmung. Danach hob Frau Bene die Tafel auf und wünschte allen gute Nacht. Viele Blicke folgten ihr von schönen und edlen Damen, die sie sich länger bei ihnen wünschten, um sie näher kennenzulernen. Herz und Auge sagten ihnen, dass die Schöne, Kluge, Verlässliche, die sie in abendlicher Festesfreude zurückließ und dann, am nächsten Morgen, in große Sorgen stürzen sollte, ihre rechte Herrin sei. Ja, viel wäre mit ihr noch gesprochen worden, doch taktvoll unterließen sie es. Die Herzogin aber zwang sie, ihretwegen ihre heiteren Augen mit Tränen zu füllen. Wilhalm erkannte seinen Schwiegervater und seine Landherren genau, doch ihn erkannte niemand außer der Herzogin. Er wollte sich ihnen auch nicht zu erkennen geben und überhaupt nicht viel im Gedränge sein, wie es kluge Leute auch heute noch halten,
7561 nâhe ir vater] noch by irm vater (H nohe). 7571f. Versumstellung (gegen DH). 7571 von ir selbes] von syn selbeß (Bezug auf Benes Vater). 7596 sô wolden sie] so wolt sy (DH; betont die zuht Benes). 7600 〈dâ〉.
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der dem nâch mit siten gât swaz sô er ze ahten hât. doch er sich wol under in besach. 7610 darnâch gienc er an sîn gemach. sîn herze sich in gedanken flaht, wênic slief er die naht. er gedâhte daz diu herzogîn gar anelîch wær der frouwen sîn. 7615 Der mündel wert getriuwe rôt mitsamt dem morgen im enbôt (von ir ein ritter warp an in), er solde in hôhem muote sîn und frô mit iren gesten. 7620 von phelle dem besten als sie in in ir kamern vant, des sande sie im rîch gewant sam sînen geverten, hôrte ich sagen. er soldes ir ze liebe tragen. 7625 als ichz vernam, sô sage ichz iu. sie sande im starker rosse driu: ein turnei wære aldar genomen (sô warp der bote), dar wærn komen ritter die hôhes prîses kraft 7630 menlich in der heidenschaft an turnei und an strîten heten erworben wîten. driu harnesch von liehtem werke guot gap im der ritter wolgemuot, 7635 als sie dar frou Bêne sande, dâ bî sie in erkande: driu gar rîchiu wâpenkleit. doch was daz sîne baz geveit dan diu diu sîne kompân 7640 in dem turnei solden hân. in rîchelîcher ahte sînen helm sie im ertrahte. dâ sach man gebunden obene eine zimier diu was ze lobene: 7645 zwei vach rîch von golde alsô diu frouwe wolde. in sîme schilde lac ein ar ûz lâsûr und von golde klâr; al nâch des wâpenrockes siten 7650 sîn covertiur alsam versniten. 109vb alsô was des boten sage: der turnei an dem selben tage
wenn sie auf standesgemäßes Betragen Wert legen. Dennoch sah er sich unter den Gästen genau um. Dann zog er sich in sein Gemach zurück. Sein Herz ließ ihn grübeln, er schlief die Nacht über wenig. Er sann nach, wie sehr doch die Herzogin seiner Gemahlin ähnelte. Durch einen ihrer Ritter entbot ihm ihr edler, treuer roter Mund zusammen mit dem Morgengruß, er solle sich frohgemut und leutselig zu ihren Gästen gesellen. Aus dem besten Stoff, den sie in ihrer Kammer fand, ließ sie ihm und seinen Gefährten, so hörte ich, reiche Kleidung bringen. Ihr zuliebe sollte er sie tragen. Wie ich es vernahm, so sage ich es Euch. Sie sandte ihm drei kampferprobte Rösser: Ein Turnier sei vor Ort angesetzt, so übermittelte ein Bote, und Ritter wären eingetroffen, die in Turnier und Kampf weithin in der Heidenschaft durch mannhafte Taten höchsten Ruhm errungen hätten. Drei Harnische aus hellem, festem Material reichte ihm der frohgemute ritterliche Bote, die Frau Bene ihm übersenden ließ. An den drei prächtigen Rüstungen wollte sie ihn wiedererkennen. Seine aber war reicher geschmückt als die, die seine Begleiter im Turnier tragen sollten. Sie hatte ihm einen besonders prächtigen Helmschmuck zugedacht. Darauf sah man ein rühmenswertes Zimier: doppelt kostbar aus Gold, so hatte es die Herrin gewünscht. Auf seinem Schild prangte ein Adler aus Lasur und strahlendem Gold. Ganz nach dem Waffenrock war auch seine couverture geschnitten. Der Bote hatte verkündet, das Turnier solle am festgelegten Tag
7616 mitsamt dem morgen] deß morgenß. 7621 als sie in in ir] alß sy yn yrer (DH; ‘wie sie ihn in ihrer’ vs. ‘den sie in ihrer Kammer fand’). 7642 sie im ertrahte] sy ym brachte. 7648 〈und〉.
178 | 7 Wiedervereinigung solde vor fruoezzen sîn; alsô hete ez diu herzogîn 7655 mit ir vater des âbendes beret. der ervulte dran der tohter bet. al den die mit im quâmen dar, den was diu rede nû offenbâr von des vürsten gebote. 7660 wol berihte sich diu fremde rote gar mit rîchlîcher koste ze dem turnei und zer joste. al den herren von dem lande frou Bêne die rede sande. 7665 als in diu wart ze wizzen, die sich rîcheit flizzen, in hôher schœnheit melde berihten sich ze velde. Wilhalm der werde genande, 7670 swaz im frou Bêne sande, mit grôzer zuht er daz enphienc. ê der bote von im gienc, mit der rede er ande gar, als in sîn frouwe sande dar. 7675 er sprach: ‘ich wirbe als ich sol. mîn frouwe getriuwet des wol iu und iurn geverten daz ir wellet beherten irem lande den prîs.’ 7680 dô sprach der süeze vürste wîs: ‘mîner frouwen saget genâden vil! ze ir gebote ich wesen wil und daz ich und mîne gesellen gern darnâch werben wellen 7685 alsô verre wir vermugen und ze ritterschefte tugen. wir dienen hiute unser brôt. ich bin in trôste des ze got daz wir mit werlîcher hant 7690 gedienen swazs uns hât gesant.’ dâmite der ritter schiet von dan. Wilhalm bat den kappellân 110ra daz er zer messe bereite sich. die hôrte der vürste andehteclich. 7695 darnâch sîn harnesch leite er an. sam tâten sîne kompân.
vor dem Morgenmahl stattfinden. So hatte es die Herzogin am Vorabend mit ihrem Vater besprochen. Der Vater folgte damit der Bitte der Tochter. Allen, die mit ihm ins Land gereist waren, wurde nun auf seinen Befehl der Plan kundgetan. Die Schar der Gäste bereitete sich mit viel Aufwand emsig auf Turnier und Tjost vor. Frau Bene sandte die Botschaft all ihren Landherren. Sobald diese sie vernahmen, rüsteten sich alle, die über die Mittel verfügten, in größter Pracht zur Turnierfahrt. Der edle Wilhalm nahm alles schicklich auf, was Frau Bene ihm entbieten ließ. Der Bote verließ ihn erst, als er die Rede seiner Herrin Wort für Wort ausgerichtet hatte. Er sprach: „Ich folge meinem Auftrag. Meine Herrin vertraut darauf, dass Ihr und Eure Gefährten ihrem Land den Siegespreis erkämpfen werdet.“ Der edle weise Fürst entgegnete: „Grüßt meine Herrin vielmals! Ich werde nach ihrem Gebot handeln; und bestellt ihr, dass ich und meine Gefährten gern den Preis erringen wollen, so weit wir dazu in der Lage sind und zur Ritterschaft taugen. Wir verdienen uns heute unser Gastrecht. Ich bin voll Zuversicht auf Gott, dass wir mit starker Hand verdienen werden, was sie uns gesandt hat.“ Damit ging der Bote ab. Wilhalm bat seinen Kaplan, sich zur Messe zu rüsten. Der Fürst folgte ihr andächtig. Dann legte er seinen Harnisch an. Das gleiche taten seine Gefährten.
7658 den was] deß waß. 7663 al den herren] an den herren (DH; alle vs. einen bestimmten Landherren). 7665 〈in〉 (gegen DH). 7695 Vers in D doppelt (bedingt durch Reim und Seitenwechsel? Versfolge 7691/95/92 dan:an:kappellan, Ende 109vb; Verse 7695f. an:kompan, Beginn 110ra).
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Überal hal des ein mære daz ûf dem velde wære ein ritter bereite 7700 als er der joste beite, torste in iemen dâ bestân. er wære ein dar komen man mit dem alden herzogen, rîcher koste niht betrogen 7705 als in diu schœne zierte dar diu sîn nam mit liebe war, diu im gap hôchgemüete. er fröute sich ir güete, als noch tuot werlîcher man 7710 der sich liebes fröuwen kan. Als daz Willehalm vernam, gein im er zer joste quam in ritterlîchem schouwe als in dar sîn frouwe 7715 rîlich het gestiuret. wîp mannes herze tiuret: ez was noch an dem tage fruo, doch sach dâ mangiu frouwe zuo daz Willehalm den ritter valde 7720 mit rehter jost gewalde. sus erwarp er prîses uop. ûz dem satel er in huop. er stach in flügelîchen hin. der heiden ouch niht vâlte sîn. 7725 nâch rehtes râmes luste traf er in ûf der bruste darûf sîn vestez sper zebrach. ûf man die trunzûn stîgen sach. Uns tuot diu âventiure kunt: 7730 drî ritter er darnâch bestuont, die wolden rechen ir gesellen. die sach man in dâ vellen gar mit kreftiger hant rehter joste ûf daz lant. 7735 die versêrten zogeten în. des fröute sich diu herzogîn 110rb daz er dâ prîs erworben hât. nû was der turnei ouch begat. swie der ligen solde, 7740 Wilhalm haben wolde bî im sîniu lieben kint. der kristen niuwan fünfe sint: die wurben in dem turnei sô
Überall verlautete die Kunde, dass auf dem Feld ein entschlossener Ritter stehe, der auf die Tjost zu warten schien, wenn jemand sich mit ihm zu messen wagte. Er sei einer von denen, die mit dem alten Herzog gekommen waren, prächtig ausgestattet durch die schöne Frau, die ihn liebte und in Hochstimmung versetzte. Er freute sich ihrer Neigung, wie es noch heute Ritter tun, die sich an Liebreizendem erfreuen können. Als Wilhalm die Kunde vernahm, ritt er in ritterlicher Pracht, wie seine Dame ihn ausstaffiert hatte, gegen diesen Ritter zur Tjost. Frauen veredeln Männerherzen: Es war noch früh, und doch sahen schon viele Damen zu, auf dass Wilhalm den Ritter in regelrechter Tjost zu Boden werfe. So verschaffte er sich Ruhm: Er hob ihn aus dem Sattel, stach ihn wie im Flug zu Boden. Der Heide verfehlte ihn auch nicht. Er zielte auf die Rüstung, traf ihn vor die Brust, an der sein harter Speer zerbrach. Man sah die Splitter fliegen! Nun erzählt uns die Geschichte: Nach diesem Ritter besiegte Wilhalm drei weitere, die ihren Gefährten rächen wollten. Auch sie sah man ihn mit kraftvoller Hand in rechter Tjost zu Boden werfen. Die Verwundeten zogen ab. Die Herzogin freute sich, dass er auf dem Kampfplatz Sieger blieb. Nun begann auch das Turnier. Unabhängig von seinem Verlauf wollte Wilhalm seine geliebten Söhne bei sich haben. Nur fünf Christen sind es, doch führten sie das Turnier so,
7710 der sich] dye sich (man 7709 als Kollektiv?). 7728 ûf man] daz man.
180 | 7 Wiedervereinigung daz sich ir prîs dô zogete hô[.] doch was dâ guotiu ritterschaft. waz des? sie lâgen in mit kraft aldâ sô gar geweldic obe. der fünfer tât was wol ze lobe. mangen rîch gezierten helm 7750 mit kraft sie sturzten in den melm. Wilhalm mit den kristen sich vor verluste fristen. kreftic was ir rîten. dô wart ze beiden sîten 7755 genuoc gewunnen und verlorn. Wilhalm der vürste ûzerkorn swaz sîn geselleschaft verlôs, snelle machte er sie des lôs. ir verliesen koste dehein phunt. 7760 Der turnei herteclîchen stuont volleclich ûf mittentac. Willehalmes rote lac sîn halp an gewinne. ir halp diu herzoginne 7765 und ir vater der herzoge gebuten lân von dem gezoge. der turnei gâhes ende nam als in disiu botschaft quam. doch ê sie von dem velde riten, 7770 Willehalm mit hübschen siten eine grôze zuht begie: die geste er alle ledic lie swes sô sie heten dô verlorn. dô erklangte man manic horn. 7775 Dô die werden zogeten în, frô was diu werde herzogîn daz ir kint, ir lieber man ir lande den prîs behalden hân. beide jene unde dise 7780 als sie dâ wâren ûf der wise die dâ harnesch vuorten an, 110va daz wart gâhes hin getân und der râm von in getwagen. man sach sie rîchiu kleider tragen. 7785 nû was diu spîse gar bereit, diu wise mit tavelen beleit und beriht alsô sie solde sîn nâch dem gebote der wîrtîn die man sach wirde râmen. 7745
dass sich ihr Ruhm hoch aufschwang. Ja, es gab da durchaus erfahrene Ritter, aber es half nichts: Die fünf waren an Kraft allen gewaltig überlegen. Ihre Taten waren sehr zu preisen! Viele prächtig gezierte Helme stürzten sie mit Kraft in den Staub. Wilhalm und die Christen erlitten keine Verluste. Sie blieben fest im Sattel. Auf beiden Seiten wurde da viel gewonnen und verloren. Der auserwählte Fürst Wilhalm rettete entschlossen jede Situation, die seine Schar nicht meistern konnte. Sie mussten für keinen Verlust aufkommen. Das Turnier dauerte bis Mittag in aller Härte an. Wilhalms Schar stand durch ihn vor dem Sieg. Ihretwegen unterbrachen die Herzogin und der Herzog, ihr Vater, das ritterliche Treiben. Das Turnier endete rasch, als die Botschaft bei den Kämpfern ankam. Aber noch ehe sie vom Kampfplatz ritten, machte Wilhalm in höfischer Haltung seiner Erziehung Ehre: Er gab den Besiegten alles zurück, was sie zuvor verloren hatten. Da ließ man viele Hörner ertönen. Als die Edlen wieder einzogen, war die edle Herzogin froh, dass ihre Kinder und ihr geliebter Mann ihrem Land den Sieg erkämpft hatten. Die sich beiderseits im Kampf getummelt und Rüstungen getragen hatten, legten alles rasch ab und ließen sich den Schmutz des Kampfes abwaschen. Man sah sie kostbare Kleider tragen. Nun stand auch das Mahl bereit; die Wiese war mit Tischen bedeckt und so hergerichtet, wie es die Gastgeberin ehrgeizig gebot.
7748 der fünfer tât] der funffer daz (H das dat). 7759 koste dehein phunt] kost zehen punt (DH; Fehler? Durch Wilhalms Einsatz erübrigt sich ja jedes Lösegeld). 7773 〈dô〉 (gegen DH). 7776 〈werde〉 (gegen DH).
7 Wiedervereinigung | 181
in dem ringe ze tische quâmen grâven, ritter, frouwen wert, als des diu herzogîn begert. diu erwarp dâ süezes lobes namen. die frouwen satzte sie zesamen, 7795 die fremden under die kunden, durch daz sie trôst dâ vunden und der frâge si niht verdrüzze, ieglîch ir vuoge genüzze. die herren satzte sîe alsam. 7800 ir vater Wilhalm zuo im nam, sie selbe mit ir muoter saz. wol sô mohte wesen daz. sie bat sie alle frœlich leben. Als man wazzer het gegeben, 7805 nâch vürsten rehte in rîcher kür truhsæzen, schenken giengen vür. waz mac ich dâ von vil gesagen? dô wart mit zuht vür getragen spîse vil und trinken guot 7810 als man noch bî vürsten tuot sô sie lieber geste phlegen. einen vürsten rîcher koste erwegen und guoten wirt hât Bêheimlant: sîne geste er wirdet mit voller hant. 7815 aller hande seitenspil was dâ umbe und umbe vil. swaz man ze fröuden haben sal, des moht man vinden dâ die wal als man noch ze hôchzît phlît. 7820 ir ezzen werte ûf vesperzît. dô daz mit fröuden wart getân, als ich rehte vernomen hân, und man die tische erhaben hete, nu hœret waz frou Bêne tete! 7825 Zuo ir muoter sprach sie sân: 110vb ‘frouwe, geruochet mit mir gân!’ sie sprach: ‘tohter, swar dû wilt. ey, wie kleine mich des bevilt.’ sie stuont ûf und gap zehant 7830 einen sun der muoter an ir hant, den andern selbe sie gevienc. zwischen den beiden sie doch gienc und fuortes an ir hende. diu muoter an dem ende 7790
Im abgegrenzten Bereich kamen Grafen, Ritter und edle Damen zu Tisch, wie es die Herzogin wollte. Sie erwarb sich da hohes Lob. Die Damen setzte sie zusammen, Gäste neben Einheimische, damit Vertrauen zwischen ihnen entstünde und sie unbeschwerte Gespräche führten, auch jede ihre Vorzüge zeigen könnte. Ebenso verteilte sie die Herren. Ihr Vater fand Wilhalm neben sich, sie selbst saß neben ihrer Mutter. So sollte es sein. Sie bat alle, es sich gutgehen zu lassen. Nachdem Wasser gereicht worden war, traten nach Fürstenbrauch reich beladen Truchsessen und Schenken an die Tische. Muss ich mehr davon sagen? In aller Form wurden mannigfache Speisen und edle Getränke aufgetragen, wie es bei Fürsten, die sich um willkommene Gäste kümmern, noch üblich ist. Einen darin wohlerprobten Fürsten und trefflichen Gastherrn hat Böhmen: Er ehrt seine Gäste mit vollen Händen. Allerlei Saitenspiel erklang da von allen Seiten. Was immer man zur Kurzweil wünschen mag, stand zur Auswahl, wie es bei Festen stets sein soll. Das Mahl dauerte bis zur Vesperzeit. Als es frohgemut zu Ende gegangen war, wie ich zuverlässig vernahm, und man die Tafel aufgehoben hatte, hört nun, was Frau Bene da tat! Gleich sprach sie zu ihrer Mutter: „Liebe Mutter, wollt Ihr mich begleiten?“ Die Gefragte sprach: „Tochter, wohin Du willst. Ei, mit Vergnügen bin ich dabei.“ Bene stand auf und gab ungesäumt der Mutter einen der Söhne an die Hand; sie selber nahm den zweiten. Dabei ging sie zwischen beiden und führte sie an den Händen. Die Mutter
7802 sô] sy. 7810 〈bî〉. 7814 geste er wirdet] geste wirdet (DH; als Apokoinu zu lesen). 7830 an ir hant] yn dy hant.
182 | 7 Wiedervereinigung gienc der frouwen alles nâch. das volc gemeine dar sach und gedâhte wes sie wolde beginnen. als sie solde, het sich geziert diu herzogîn, 7840 als noch lêrt reines wîbes sin diu sich lieplich smücken kan sô sie wil liebe friunde enphân der sie im herzen nie vergaz. sus gienc sie dâ ir vater saz 7845 und ir herzelieber man. die beide gein ir sprungen sân ir wirdekeit ze lône. dô sie vor ir stuonden schône, ir wîplîche site gâben daz 7850 manic ouge wart dâ naz dô sie ir rede begunde vil suoze als sie wol kunde. Sie kêrte sich umbe unde sprach gein al den herren die sie sach 7855 von ir beiden landen stân: ‘ze sælden müezen iu ergân alle iuwer tage und iuwer jâr! ez lac mir kumberlîchen gar dô daz mîn herre wolde 7860 daz ich im volgen solde, unde ich mit im wande verholn von unserm lande und er mich ellentlîchen hie nâch im aleine verweiset lie 7865 als mich got vor diser stat diser zweier süne berâten hât, die ich der werlde zemâle vürbrâhte mit grôzer quâle. dô ich ir swærlich genas, 7870 ein wênic ich entlegen was. 111ra sie sant mîn herre ûf den sê und verkoufte sie. nu hœret mê: unser kamerære noch ziuget disiu mære. 7875 nâch in mîn herze in kumber ranc. darnâch was niht enbor lanc daz sich mîn herre von mir stal, gar mir sîn hinevaren hal.’ 7835
folgte der Herzogin unmittelbar. Die ganze Festgemeinde sah ihr nach und fragte sich, was sie vorhätte. Wie es ihr ziemte, hatte sich die Herzogin zurechtgemacht, worauf kluge Frauen sich stets verstehen, wenn sie sich in Erwartung geliebter Verwandter, die sie im Herzen tragen, hübsch machen. So ging sie hin, wo ihr Vater und ihr von Herzen geliebter Gatte saßen. Beide sprangen sofort auf sie zu, wie es ihrem Rang gebührte. Als sie so herrlich vor ihr standen, machte Benes weibliche Anmut viele Augen nass, sobald sie mit ihrer sanften Stimme zu reden begann. Sie wandte sich um und sprach zu den versammelten Landherren, die aus ihren beiden Ländern vor ihr standen: „Mögen Euch all Eure Tage und Jahre Heil bringen! Es schmerzte mich unermesslich, als mir mein Herr einst abverlangte, ihm zu folgen, als ich mit ihm klammheimlich unser Land verließ, als er mich später fremd, einsam und verwaist hier zurückließ und als mir Gott vor dieser Stadt diese zwei Söhne schenkte, die ich damals als Zwillinge mit großer Qual zur Welt brachte. Während ich noch mit dem Tod rang und nicht bei Bewusstsein war, sandte sie mein Herr zum Hafen und verkaufte sie. Nun hört weiter: Unser Kämmerer kann Euch die Geschichte bestätigen. Mein Herz rang qualvoll um sie. Nicht lange danach stahl mein Herr sich von mir, ohne mir etwas von seinen Plänen zu sagen.“
7835 gienc der frouwen alles nâch] ging dy frauwen all nach (DH; Sinn unklar, doch auch die Konjektur lässt offen, wie Bene Hand in Hand mit ihren Söhnen gehen kann, wenn auch die Mutter einen von ihnen an der Hand hält und zugleich hinter ihr geht). 7846 gein ir sprungen] gen yn springen. 7854 den herren] yrn herren. 7860 daz] alß. 7867 die ich] do ich. 7876 niht enbor lanc] enpor lang.
7 Wiedervereinigung | 183
al weinende sprach diu guote: ‘al wie mit jâmerigem muote mîn krankez leben runge, welich nôt mîn herze twunge mit bitterlîcher swære, ob ie liebez kint gebære 7885 werdez wîp, ob sie gewan ie von herzen lieben man, diu mac mir helfen noch die nôt klagen. ich wære bînamen tôt wan daz ein werdiu heidenîn 7890 helflich underwant sich mîn und mir muoterlîchen riet. sie mir verniuwet sô sie verschiet, swaz mir ze leide ie geschach; fröuden urbor sie mir brach 7895 und satzte mich in riuwic leben nâch trôst den sie mir het gegeben. ze der hûse quâmen mîne herren und mich dâ nâmen dô sie mich ze frouwen enphiengen, 7900 ir wirdekeit an mir begiengen und hânt ir triuwe wol iemer sît an mir behalden ûf dise zît daz mir diu sælde ist geschehen daz ich iuch, vater, hân gesehen 7905 und ouch die werden muoter mîn. nû lât ir mich bî fröuden sîn. hie sint ouch mîniu lieben kint diu mir ê lange entfremdet sint; diu hât mir brâht der hôhe Krist 7910 der aller sachen geweldic ist.’ Aber sprach ir süezer munt: ‘hôher fröuden süezen vunt wîset mir hiute dirre tac. an sælden ich mich wol vermac. 111rb vater hêr, hie stêt mîn man nâch dem ich mich enthalden hân (als daz dis landes herren gar wizzen) wol vier und zwênzic jâr, dem dû mich, vater, hâst gegeben, 7920 nâch dem in jâmer stuont mîn leben.’ mit dem worte viel diu süeze Wilhalmen an die vüeze. nâch triuwen geluste ir rôter munt sie kuste. 7880
Die Edle sprach unter Tränen weiter: „Wie sehr mein schwaches Leben Mit dem Kummer rang, welch große Not mein Herz bleischwer bedrückte – wenn je eine treffliche Frau ein liebes Kind zur Welt gebracht hat, einen innig geliebten Mann gewann, kann sie mir noch heute helfen, die Not zu beklagen. Ich wäre fast gestorben, wenn nicht eine edelmütige Heidin sich selbstlos meiner angenommen und mich mütterlich umsorgt hätte. Ihr Tod stürzte mich in neues, das bisherige verlängerndes Leid. Sie verdarb mir die Freudenernte und lieferte mich nach dem Trost, den sie mir zuvor gespendet hatte, einem Leben in Trauer aus. In ihr Haus kamen später meine Landherren, um mich mitzunehmen, mir als Fürstin zu huldigen und ihre Vortrefflichkeit an mir zu erweisen. Sie haben ihre Treue seither stets gewahrt, bis zum heutigen Tag, so dass mir nun das Glück zuteil werden konnte, Euch, Vater, wiederzusehen, und meine fürstliche Mutter dazu. Nun gebt Ihr mir die Lebensfreude zurück. Hier sind auch meine geliebten Söhne, die mir zuvor so lange entfremdet waren. Der erhabene Christus hat sie mir gesandt, der aller Dinge waltet.“ Ihr reiner Mund fuhr fort: „Höchste, unbeschwerte Freude ließ mich dieser Tag heute finden. Ich bin die glücklichste Frau auf der Welt. Hoher Vater, hier steht mein Mann, auf den ich (die Herren dieses Landes wissen es nur zu gut) 24 Jahre verzichten musste. Du, Vater, hast mich ihm anvermählt, und nach ihm habe ich mein Leben in Jammer verzehrt.“ Mit diesen Worten fiel die Edle Wilhalm zu Füßen. Ihr roter Mund, begierig nach Treue, küsste diese,
7892 sie mir] diß mir. 7895 in riuwic leben] in eyn ruwig leben. 7906 lât ir] wolt ir. 7908 ê lange] auch e lang. 7918 vier und zwênzic] xxiiij.
184 | 7 Wiedervereinigung sie wurden von ir zehern naz. Wilhalmen starke truobte daz. mit nôt erwarp er daz sie diu bein îm ûz den armen lîe. er trat ein lützel ûf hôr. 7930 die frouwen ruckte er ûf enbor, als im zuht daz gebôt. er wart von rehter schame rôt sô daz er gegen der klâren enwiste wie gebâren. 7935 doch sprach er: ‘frouwe, ir saget wâr. die rehte zal brâht ir der jâr. als ich ê hie von iu schiet, sin und herze mir daz riet und der alle gâbe mac gegeben, 7940 daz ich enphienge kristenleben. frouwe, daz hân ich getân. nû müezet ir mîn mangel hân, wan ir sît ein heidenîn.’ ‘nein, buole’, sprach diu herzogîn, 7945 ‘ich verspriche hie alle unser gote und stên ze Kristes gebote.’ er sprach: ‘ir müezt iuch toufen lân.’ sie sprach: ‘herre, daz sî getân!’ er sprach: ‘geschihet daz alsô, 7950 sô muget ir mîn noch werden frô.’ aber viel sie dô an in und druckte ir rôtez mündelîn in grôzer liebe an sînen munt. sach ez iemen der dâ stuont, 7955 daz was ir als ez wær verholn. sie was mit liebe an in verquoln. wie in mit fröuden enphienc sîn sweher und wie dar nâch gienc sîn swiger, wie ez diu erbôt? 111va Wilhalm leit von küssen nôt. darnâch sîne süne giengen. wie lieplich in die enphiengen Dânus unde Boizlabe, dâ wære vil ze sagen abe. 7965 umb vil rede diu dâ geschach, manc ouge man sich ergiezen sach von liebe und von leide niht, als ez dicke noch geschiht. ich hân ez selbe wol vernomen: 7970 swâ liebe friunt zesamen komen die einander fremdent langiu jâr, 7925
ihre Tränen benetzten sie. Wilhalm beschämte das. Es gelang ihm kaum, seine Beine aus ihrer Umarmung zu lösen. Er wich ein Stück zurück und hob die Dame auf, wie es sein Anstand gebot. Er wurde in unwillkürlicher Scham rot und wusste nicht, wie er sich gegen die Schöne verhalten sollte. Jedoch antwortete er: „Edle, Ihr sagt die Wahrheit. Ihr habt die Jahre recht gezählt. Damals, als ich Euch hier verließ, rieten mir Herz und Sinn und der, der alles zu geben vermag, die christliche Taufe zu empfangen. Herrin, das habe ich getan. Nun müsst Ihr ohne mich leben, denn Ihr seid eine Heidin.“ „Nein, Geliebter“, sprach die Herzogin, „ich entsage hier allen unseren Göttern und stelle mich in Christi Gebot.“ Er sprach: „Dann müsst Ihr Euch taufen lassen.“ Sie sprach: „Herr, das werde ich!“ Er sprach: „Ist es so, dann könnt Ihr doch noch mit mir glücklich werden.“ Wieder neigte sie sich zu ihm und drückte ihren roten Mund in unbändiger Liebe auf seinen. Es war ihr völlig gleichgültig, dass dies vor aller Öffentlichkeit geschah. Sie hatte sich in Sehnsucht nach ihm verzehrt. Mit welcher Freude ihn sein Schwiegervater begrüßte, wie ihm danach seine Schwiegermutter ihr Willkommen entbot? Wilhalm schmerzten die vielen Küsse. Dann war die Reihe an seinen Söhnen. Wie liebevoll sie, Danus und Boizlabe, ihn begrüßten, darüber ließe sich viel sagen. In die Gespräche mischten sich immer neue Tränen, doch aus Freude, nicht mehr aus Schmerz, wie es so oft noch geschieht. Ich habe es selbst so gehört: Wo einander Nahestehende zusammenfinden, die sich jahrelang nicht sahen,
7927 daz sie] an sy (H daz an sy). 7951 〈dô〉 (gegen DH). 7971 fremdent langiu jâr] fremde sint manig yare.
7 Wiedervereinigung | 185
dâ siht man manger hande gebâr. Aber sprach diu guote in frœlîchem muote: 7975 ‘vater, gên wir sitzen dan!’ bî der hant nam sie ir man, anderhalp ir muoter sam. sie giengen dâ sie sitzens zam. frou Bêne gar kempflîchen saz: 7980 doch âne vîntlîchen haz sprach daz schœne erwunschte wîp Wilhalme ir friunde an den lîp. Vor in grôz wart der gedranc. noch ir sitzen was unlanc 7985 daz in hôher wirde kür von dem lande die herren giengen vür. ir frouwen wirde ze lône in hôher tugent schône enphiengen sie den vürsten sô. 7990 ‘wir wesen iuwer künfte frô’ sprach ein wîser man ir aller wort, ‘uns selben und dis landes hort wir iu ze gewalde hiute geben. ze iurm gebote suln wir leben; 7995 wir hulten: des sint langiu jâr ergân.’ frou Bêne sprach: ‘deist wâr: ir jâhet, quæm mir der herre mîn, ir woldet ze sîme gebote sîn.’ sie sprâchen: ‘frouwe, als jehen wir noch. 8000 wir wellen sîner gebote joch iemer tragen sunder wanc. 111vb wir sagen des iuwer wirde danc daz wir sô wirdeclîchem man nâch iu wesen undertân.’ 8005 Der vürste an wîsheit unverzaget der rede grôzen dank in saget und ouch der hôhen wirdekeit die sie mit flîze heten geleit an die wîsen herzogîn. 8010 er jach, solde er ir herre sîn, gein im âne verdriezen soldens des geniezen. sie sprâchen: ‘sô welt ir von uns hin?’ er sprach: ‘ein kristenman ich bin. 8015 möhtet ir mir al die werlt gegeben, woldet ir in ungelouben leben, der hêrschaft ich enbære ê ich bî iu wære.
da gelten Gesten mehr als Worte. Wieder hob die Edle mit heiterem Sinn an: „Vater, lass uns beiseite sitzen!“ Sie nahm ihren Mann bei der einen Hand, ihre Mutter zugleich bei der andern. Sie gingen, wo sie einen ruhigen Ort für sich fanden. Frau Bene saß selbstbewusst da, aber die wunderschöne Frau sprach ohne Schroffheit zu ihrem Gemahl. Ihnen gegenüber drängte es sich dicht. Sie saßen noch nicht lange, als in respektvoller Haltung die Landherren vor sie traten. Aus Zuneigung zu ihrer edlen Herrin begrüßten sie den Fürsten betont ehrerbietig. „Wir freuen uns über Eure Ankunft“, sprach ein redegewandter Mann für alle, „uns selbst und die Schätze dieses Landes unterstellen wir heute Eurer Herrschaft. Nach Eurem Gebot wollen wir leben. Vor langer Zeit haben wir das gelobt.“ Frau Bene sprach: „Das ist richtig: Ihr sagtet, wenn mein Gemahl käme, wolltet Ihr Euch ihm unterstellen.“ Sie sprachen: „Fürstin, dazu stehen wir noch. Wir wollen das Joch seiner Gebote stets loyal ertragen. Wir danken Eurer Vorzüglichkeit, indem wir nach Euch einem so würdigen Mann untertan sein wollen.“ Der Fürst, dem es nicht an Klugheit fehlte, bedankte sich für die Rede und für die große Loyalität, die sie so beharrlich der klugen Herzogin erwiesen hatten. Er erklärte, wäre er ihr Herr, so sollten sie dafür nicht unbelohnt bleiben. Sie sprachen: „So wollt Ihr denn gehen?“ Er sprach: „Ich bin ein Christ. Könntet Ihr mir die ganze Welt bieten, aber wolltet im Unglauben verharren, so verzichtete ich auf diese Herrschaft. Ich bliebe nicht bei Euch.
7988 hôher tugent] hohem wirde. 8010 〈ir〉 (gegen DH).
186 | 7 Wiedervereinigung dem hœhesten getriuwe ich wol. von sîner kraft ich komen sol und mîne frouwen bringen dar dâ wir erwerben unser nar, daz wir vor im der sêle genesen.’ Sie sprâchen: ‘herre, wir wellen wesen 8025 ê ir und unser frouwe wert von uns hiute scheidens gert, in swelchem leben sô ir wolt. alle unser huobe, trüegens golt, und al die hêrschaft die wir hân, 8030 herre, die wolden wir ê lân, swelchen schaden wir des kürn, ê daz wir unser vrouwen vlürn. ân sie wellen wir niht sîn.’ in neic diu süeze herzogîn, 8035 Wilhalm in ouch gnâden jach. Zuo in er wol gemuot dô sprach: ‘ich fröuwe mich daz ich vunden hân solch triuwe an iu, ô werden man. ja endürft ir niemer umb ein hâr 8040 durch daz iur hêrschaft werden bar. ob ir uns gerne bî iu hât, sô bite ich daz ir den touf enphât und iuwern goten widersaget, 112ra mit mir kristenorden traget, 8045 sô muget ir mich ze herren hân.’ ‘jâ, herre, daz sî alsô getân!’ mît gemeinem schalle jâhen sie dô alle: ‘wir loben hiute kristenleben 8050 und den touf lât uns geben! unser gote sint trügenære.’ Wilhalm sich fröute der mære. er sprach: ‘gerne unde wol man in iu frœlich geben sol. 8055 leistet des êrsten mîn gebot: lât holen iuwer abgot!’ Dô begunden sie dâ gâhen nâch. schiere man sie bringen sach. sie wurden zebrochen und zerslagen 8060 nâch sîme gebote, hôrte ich sagen. manic werc von golde wæhe wart dâ gehalden harte smæhe. gar zerbrochen und zerkloben, in armen sac sie wurden geschoben. 8065 Als daz ergie, zehant darnâch von sîn selbes lant man komen sach sîne herren, die vür in gâhten 8020
Ich glaube fest an den Allerhöchsten. Mit seiner Hilfe werde ich an einen Ort kommen, und meine Gemahlin dorthin mitnehmen, wo wir unseren Lebensunterhalt finden, ohne das Seelenheil aufs Spiel zu setzen.“ Sie sprachen: „Herr, bevor Ihr und unsere geliebte Herrin von uns scheiden wolltet, nehmen wir den Glauben an, den Ihr wünscht. All unser Land, und läge Gold darunter, und alle Machtmittel, die wir haben, wollten wir eher dreingeben, Herr, was es uns auch an Schaden brächte, als dass wir unsere Herrin verlören. Ohne sie wollen wir nicht leben.“ Die edle Herzogin dankte ihnen. Auch Wilhalm zeigte sich gnädig. Er sprach befriedigt zu ihnen: „Ich freue mich, an Euch, edle Mannen, solche Treue gefunden zu haben. Fürwahr, Ihr sollt daher durchaus nicht Eure Herrschaft verlieren. Wenn Ihr uns gern bei Euch habt, dann nehmt, so bitte ich, die Taufe an, widersagt Euren Göttern und werdet Christen mit mir. Dann könnt Ihr mich als Herrscher haben.“ „Ja, Herr, so soll es geschehen!“ Mit einer Stimme bekräftigten daraufhin alle: „Wir geloben heute, als Christen zu leben, lasst uns die Taufe empfangen! Unsere Götter sind Trugwerk.“ Wilhalm freute sich über diese Wendung. Er sprach: „Gern und ehrenvoll wird man Euch mit Freuden taufen. Doch erfüllt zuerst mein Gebot: Schafft Eure Götterbilder her!“ Gleich eilten sie los, bald sah man sie das Gewünschte bringen. Es wurde auf sein Geheiß zerbrochen und zerschlagen, so hörte ich. Viele goldverzierte Bilder wurden da überaus schändlich traktiert. Restlos zerstückelt und zerschlagen wurden sie in armselige Säcke gepackt. Bald nachdem das geschehen war, sah man aus Wilhalms Land seine eigenen Landherren eintreffen. Sie drängten vor ihn,
7 Wiedervereinigung | 187
und im rîchiu kleinôt brâhten und in gar wirdeclîche 8070 enphiengen und frœlîche und ouch die vürstîn hôchgemuot. ‘grôzen hort und rîchez guot’, sprach ein herre der dâ phlac der amt, ‘hân wir, herre, nâch iu gesamt, 8075 ouch unser frouwen în geleget. dô uns jâmer nâch iu reget und des nahtes iuch verlurn, des morgens wir ze vogte kurn disen herren der hie stêt. 8080 rât und helfe er unser het und was des volleclîchen wer daz er ditze lant biz her nâch grôzen êren hât beriht. alsô rîche man ez siht 8085 als dô ir uns in ellende liezet. ûz voller hende 112rb swem ir welt, dem muget ir geben. ich weiz nû den vürsten niender leben der habe an bereitschaft 8090 rîcher horde sô volle kraft.’ ‘gerne ich iu des danken wil. ir hetet und habet noch triuwen vil gein mir und der herzogîn: daz lât nû vürbaz werden schîn!’ 8095 sie sprâchen: ‘herre, nû saget wie?’ ‘dô gelobet die kristenheit alhie und daz ir iuwer gote lât. mit iuwern frouwen den touf enphât, welt ir daz wir bî iu sîn! 8100 tuot ir des niht, sô ûzet iuch mîn.’ ‘nein, herre, ê daz wir iur enbern, swaz ir gebietet, des suln wir gern und dar ûf vesten gar den muot, ez sî uns übel oder guot.’ 8105 Er sprach: ‘ich wolde ungern iuch laden iu ze übel oder ze schaden. ich wil iuch ziehen ze grôzem vromen sô daz ir mit mir dar sult komen vür den künic der iuch geschaffen hât, 8110 des rîche ân ende iemer stât, der herre ob allen vürsten ist, einborn sun der meide Krist, got, herre, schepher aller geschaft, êwic, sô starc an sîner kraft
brachten ihm kostbare Gaben und begrüßten ihn voll Ehrerbietung und froh, wie auch die glückselige Fürstin. Einer der Herren, der dort Ämter versah, sprach: „Herr, wir haben in Erwartung Eurer Rückkehr, dazu auch für unsere Herrin, viel Vermögen und reichen Besitz zurückgelegt. Als uns das Leid nach Euch drückte, nach jener Nacht, da wir Euch verloren, wählten wir morgens diesen Herrn hier zum Verwalter des Landes. Er erwies uns Rat und Hilfe, und war sicherer Bürge dafür, dass dieses Land bis heute in hohem Ansehen steht. Man sieht es so mächtig wie damals, als Ihr uns allein zurückließt. Ihr könnt, wem Ihr wollt, aus vollen Händen geben. Ich kenne nirgends einen Fürsten, der einen so reich ausgestatteten Staatsschatz zu unmittelbarer Verfügung hat.“ „Gern will ich Euch dafür danken. Mir und der Herzogin gegenüber wart und seid Ihr stets rückhaltlos treu: Das offenbart nun noch ein weiteres Mal!“ Sie sprachen: „Herr, nun sagt nur: Wie?“ „Bekennt Euch hier und jetzt zum christlichen Glauben und lasst Eure Götter fahren. Empfangt mit Euren Frauen die Taufe, wenn Ihr wollt, dass wir bei Euch sind! Tut Ihr das nicht, habe ich keine Gemeinschaft mit Euch.“ „Nein, Herr! Ehe wir auf Euch verzichten, wird Euer Wunsch uns Befehl sein und unser Wille sich fest darauf richten, es gerate uns übel oder gut.“ Er sprach: „Ungern wollte ich Euch zu Übel oder Schaden verleiten. Ich werde Euch zu großem Gewinn führen, damit Ihr mit mir vor den König gelangen mögt, der Euch erschuf und dessen Reich ohne Ende besteht, der Herr über alle Fürsten ist, der eingeborene Sohn der Jungfrau, Christus, Gott, Herr und Schöpfer alles Geschaffenen, ewig und so stark in seiner Wirkkraft,
8081 〈was〉 (gegen DH). 8101 〈daz〉. 8103 〈gar〉 (gegen DH). 8105 〈iuch〉.
188 | 7 Wiedervereinigung daz gar in sîme gewalde sint luft, viur, wazzer, erde, wint. alle crêâtiure gar nement sîner gebiete war. swaz al diu werlt gewaldes phlac, 8120 gein sîme gewalt sich niht vermac; allez daz der himel hât ze êren sîner trinitât von sîner gâbe besezzen, des kraft hât übermezzen 8125 sîn übergrôz almehtekeit, diu sî iu kurzlich geseit.’ Âne vil rede underlouf sie kuren alle den touf. der sweher und diu swiger sîn 8130 in kristen ê sie wolden sîn, 112va dar nâch und sie bewîste der werde hôchgeprîste diz sæliclich zuobrâhte. in fröudenrîcher ahte 8135 wart der âbent und diu naht mit manger süezen rede volbrâht. Frou Bêne sprach: ‘wes sûmet ir daz ir den touf niht gebet mir?’ er sprach: ‘frouwe, der gewalt 8140 von gote niemen ist gezalt sunder alein der priesterschaft. die gebent mit des segens kraft den touf und heiliclîchez leben. diu sælde ist eine in gegeben. 8145 frouwe, der ich wan einen hân (bînamen, ez ist ein heilic man), der sol den touf iu morgen geben, ist daz wir den tac geleben.’ niht vil rede mê geschach: 8150 sie giengen alle an ir gemach swie sô den dâ die werden heten. Wilhalm hæt lîhte des erbeten, ob er des an die werden gert, sie hæte gemaches in gewert. 8155 Alsô schiere der tac erschein, Wilhalm gâhes wart enein daz er brieve und boten sant: swâ er wiste kristenlant, er machte die rede offenbâr. 8160 in Norwege heiliges lebens gar was ein bischof, hiez Albânus. 8115
dass ihm Luft, Feuer, Wasser, Erde und die Winde ganz und gar untertan sind. Alle Kreaturen unterliegen ausnahmslos seinem Gebot. Alle Gewalten auf Erden vermögen nichts gegen seine Allgewalt. Alles, was der Himmel seiner Trinität zu Ehren von ihm trägt, wird in seiner Fülle übertroffen von seiner noch größeren Allmacht, von der Ihr bald hören sollt.“ Ohne weitere Reden stimmten sie alle der Taufe zu. Seine Schwiegereltern wollten nach christlicher Lehre leben, worin sie der edle Hochgepriesene zu ihrem Heil unterwies. In gelöster Stimmung vergingen der Abend und die Nacht mit angenehmen Gesprächen. Frau Bene sprach: „Worauf wartet Ihr noch, wann endlich tauft Ihr mich?“ Wilhalm sprach: „Herrin, dieses Privileg hat Gott allein der Priesterschaft gegeben. Sie spendet mit der Kraft göttlichen Segens die Taufe und das Leben im Heil. Dieses Sakrament ist ihnen allein anvertraut. Herrin, ich habe nur einen Priester bei mir, wahrlich: einen heiligen Mann, der wird Euch morgen taufen, so wir den Tag erleben.“ Viel wurde nicht mehr gesprochen: Alle begaben sich nun zur Ruhe, wie immer die Edlen sie fanden. Wilhalm musste nicht darum bitten, doch wenn er es getan hätte, hätte die edle Bene ihn in Ruhe gelassen. Als der Morgen graute, beeilte Wilhalm sich gleich, Briefe und Boten auszusenden: In der ganzen Christenheit verkündete er die Nachricht. In Norwegen lebte wie ein Heiliger ein Bischof namens Albanus.
8131 〈und〉. 8145–48 Verse fehlen D, ergänzt nach H.
7 Wiedervereinigung | 189
dem enbôt der herre alsus, daz an Krist genanden daz volc gar von drîn landen, 8165 daz sie gerten kristen ê. frœlîchen über sê quam der sælige man mit phafheit als im kunt getân was mit brieven und mit bete. 8170 Wilhalm ouch des morgens hete geheizen sînen kappellân daz flîcic ein ambet wart getân von dem heiligen geiste gotes êren ze volleiste 8175 daz der kreftige got der guote daz volc an dem muote 112vb ganzes willen behielde stæte den ez gevangen hæte. dô was ein wazzer ouch gesegent 8180 als des noch die priester phlegent. Der priester vor und Wilhalm nâch den werden den gelouben sprach. den touf aldâ frou Bêne nam, ir vater und ir muoter sam, 8185 und swaz der hœsten wâren dâ, die beriet des toufs man sâ. daz ander volc enphienc den segen unz an den reinen gotes degen Albânum den bischof. 8190 mit grôzen fröuden stuont der hof als schiere als Albânus quam. nâch krîsten ê froun Bênen nam Willehalm, hân ich vernomen. ir westerlege ouch vür was komen. 8195 ob sie einander wurden frô? daz moht sich wol gefüegen dô, unbillich hæten siez vermiten, sie enuobten alder liebe siten in volkomener liebe wer 8200 gar âne lôslîche ger. ir süezer munt (ich muoz es jehen daz ê ouch dicke was geschehen) nâch fröuden geluste friuntlich den herren kuste. 8205 daz ergienc ouch mangen enden mê. der bischof überal gap die ê und lêrte sie des kriuzes segen als des noch kristenliute phlegen.
8164 von drîn landen] yn drin landen.
Diesem entbot der Herr, das Volk aus drei Ländern habe sich Christus zugewandt und begehre die Taufe. Erfreut kam der heilige Mann mit geistlichem Gefolge übers Meer, wie ihm die bittenden Briefe entboten. Wilhalm hatte am gleichen Morgen seinen Kaplan beauftragt, zur höchsten Ehre Gottes eine feierliche Messe vom Heiligen Geist zu lesen, damit der machtvolle gütige Gott das Volk in der Absicht, die es gefasst hatte, mit festem Willen bestärke. Auch wurde da Wasser geweiht, wie es die Priester zu tun pflegen. Der Kaplan, dann Wilhalm sprachen den Edlen das Credo vor. An Ort und Stelle wurden Bene, ihre Eltern und die höchsten Würdenträger sogleich getauft. Das übrige Volk empfing bis zur Ankunft des reinen Gotteskämpfers, des Bischofs Albanus, den Segen. Der Hof stand in erwartungsvoller Freude, als Albanus bald darauf eintraf. Wilhalm erneuerte in christlicher Ehe seinen Bund mit Frau Bene, so vernahm ich es. Dazu wurde auch ihr Taufkleid vorgebracht. Ob sie miteinander glücklich waren? Es konnte gar nicht anders sein, denn unrechte Liebe hätten sie unterlassen. Sie pflegten vielmehr den alten Brauch der Liebe in völliger Hingabe, doch ganz ohne unziemliches Begehren. Benes liebreizender Mund küsste den Gemahl herzlich und mit freudvoller Lust – ich muss bekennen, dass dies schon vorher oft geschehen war. Es wiederholte sich auch später immer wieder. Der Bischof taufte alle und unterwies die Getauften im Heil des Kreuzes, wie es die Christen verehren.
190 | 7 Wiedervereinigung mit manger süezen lêre nam daz volc der hêre von allem ungelouben gar. daz lantvolc quam gemeine dar daz ouch den touf aldâ enphienc. Ein sæligiu hôchzît dô ergienc: 8215 Wilhalm vuogte ez alsô: Boizlaben unde Dânô den segent der bischof das swert. dô nâmen die jungen herren wert ritters orden, vürstlich reht. 8220 nâch kristen ê manc edel kneht als daz wolde ir süezer art, 113ra mit in dâ gesegent wart. wie rîche er daz zuobrâhte Wilhalm als erz erdâhte, 8225 und wie mildiclich er gap manger rîcheit urhap und ouch diu süeze herzogîn, sîn sweher und ouch diu swiger sîn; an rittern und an frouwen 8230 wie sie ir milde schouwen nâch vürstlîchem site liezen frœlich ân verdriezen: dâ wære vil ze sprechen abe. Dânus unde Boizlabe 8235 ouch gâben nâch ir muoter bete als sie in rîche stiure tete und sie ze wirde sterkte. dran man ir tugent merkte. mit rîche gebender hende 8240 diu hôchzît nam ein ende. Nâch des bischofes gebote ze êren in dem lande gote man schœniu münster stifte. ze lêre der geschrifte 8245 wurden edeliu kint getân. ze Rôme der bischof Albân enbôt dô liebiu mære wie ez ergangen wære, dem bâbeste Cornêliô, 8250 der was bî Alexandrô, dem keiser der in Menz erslagen wart, als noch diu buoch uns sagen. dô gar diz lant was beriht nâch kristen rehte, als uns giht 8255 diz buoch, dô zogeten sie zehant 8210
Mit vielen heiligen Worten entriss der ehrwürdige Bischof das Volk restlos allem bisherigen Unglauben. Auch das Landvolk kam gemeinsam dorthin und empfing vor Ort die Taufe. Dann begann ein heiliges Fest, bei dem Wilhalm dafür sorgte, dass der Bischof Boizlabes und Danus’ Schwerter weihte. Damit nahmen die jungen Fürstensöhne Ritterorden und Fürstenstand an. Nach christlichem Gesetz erhielten viele edle Knappen, wie ihrer adligen Herkunft gebührte, zugleich mit ihnen die Ritterweihe. Wie großzügig Wilhalm alles plante und ausrichtete, wie freigebig er reiche Gaben verteilte, und mit ihm die edle Herzogin, sein Schwiegervater und seine Schwiegermutter; wie sie Rittern und Damen unverdrossen und freudig nach Fürstensitte ihre Großmut erwiesen: Es wäre zu viel, von alledem zu berichten. Danus und Boizlabe teilten auf Bitten ihrer Mutter hin ebenso aus, die sie dafür reich ausstattete und sie im Streben nach Ruhm bestärkte. Hieran zeigte sich ihre Vollkommenheit. Reich schenkende Hände beendeten das Fest. Auf Anraten des Bischofs stiftete man im Land prächtige Klöster zu Ehren Gottes. Man ließ den Jungadel in der heiligen Schrift unterweisen. Bischof Albanus sandte die frohe Kunde der Ereignisse nach Rom an Papst Cornelius, der zur Zeit des Kaisers Alexander lebte, der in Mainz erschlagen wurde, wie uns die Quellen noch berichten. Als das Land vollständig nach Christenrecht neu geordnet war, wie uns die Quelle sagt, zogen die Gäste bald
8231 nâch vürstlîchem site] nach furstelicher milde (DH).
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frœlich in ir erbelant, darinne daz volc der kristenheit nâch grôzen êren wart bereit. dô zôch der bischof Albân 8260 mit Willehalmes sweher sân frœlîchen ze lande. wie rîche dô von im sande Wilhalm des swehers ritterschaft mit voller gâbe überkraft! 8265 gar wol daz vermohter. 113rb dô sich vater, muoter, tohter schieden und urloup nâmen, ê sie von einander quâmen, von jâmers gewalde 8270 diu süeze vürstîn alde und ouch diu werde herzogîn von weinen liten grôze pîn. Willehalm der wîgant rehte und ordelich diu lant 8275 hielt und twanc die heidenschaft. mit strîte und menlîcher kraft lac er in obe starke. biz an Tenenmarke, ze berge biz an Walhen zil 8280 hôhes lobes erwarp er vil, sô man noch von im saget dâ in Yberne und anderswâ. Dô er quam an sehzic jâr, er zôch mit der frouwen klâr 8285 in ein klôster ûf den walt. der lande reht und ir gewalt sînen sünen er dô gap und grôzer wirde urhap. mit manger süezer lêre 8290 riet in vort der hêre getriulich biz daz er erstarp. daz himelrîch der vürste erwarp, sam tet diu süeze herzogîn.
8295
Ich sprich dir, himelkünigîn, dû aller frouwen êre: von wem seit man daz mêre daz er helflîch wære ê sîn muoter in gebære? an niemen ich daz vinde
frohgemut in ihre Heimat zurück. Auch dort wurde das Volk in größten Ehren zum Christenglauben geführt. Danach zog Bischof Albanus mit Wilhalms Schwiegervater sogleich frohgemut weiter. Mit welcher Überfülle an Gaben entließ Wilhalm da des Schwiegervaters Ritterschaft! Er konnte es sich leisten. Als Vater, Mutter und Tochter Abschied nahmen, litten die treffliche alte Fürstin und die edle Herzogin noch vor der Abreise große Pein durch Trennungsschmerz und Tränen. Der Held Wilhalm hielt seine Länder bei Recht und Ordnung und besiegte die Heidenvölker. An Kriegsgeschick und männlicher Stärke war er ihnen weit überlegen. Bis Dänemark und an die Gebirgsgrenzen Italiens erstritt er höchstes Lob, wovon man in Yberne und andernorts noch immer erzählt. Als er auf die sechzig zuging, zog er sich mit seiner schönen Gemahlin in eine Waldklause zurück. Zuvor übertrug er Gericht und Herrschaft über die Lande und die Mittel für die hohe Stellung auf seine Söhne. Mit vielen klugen Lehren blieb ihnen der Erlauchte weiter treu verbunden, bis er starb. Der Fürst erwarb das Himmelreich; ebenso tat es die edle Herzogin. Himmelskönigin, ich beschwöre Dich, Inbegriff weiblicher Ehre: Von wem könnte man sagen, er sei ein Helfer gewesen, noch bevor seine Mutter ihn gebar? Keinem kann ich das zuerkennen
8265 〈gar〉 (gegen DH). 8267f. teilweise Versumstellung: e sy von eyn ander quamen/ vnd e sy orlop namen. 8290 riet in vort] riet in vor (DH; fortan vs. zuvor, 8291 könnte die Konjektur stützen). 8294 Ich sprich dir himelkünigîn] ich sprich dir deß himelische konigin (DH).
192 | 7 Wiedervereinigung wan an dir und an dînem kinde. nû bite ich, werdiu muoter, dich daz dû wellest erhœren mich an dem künige wolgemuoten Wenzeslaben und an Guoten, 8305 der edeln küniginne klâr. gip in sældenrîchiu jâr, frouwe, aller tugent ein übertugent. ir klâre geburt, ir blüende jugent hœhe in wirdic alder. 8310 von dir in dem salder 113va spricht der herre Dâvit in dem salmen Êructâvit: ez stuont ein küniginne wert als sie uns allen helfe gert, 8315 in hôhem schouwe wünneclîch, got herre ob allen künegen rîch, ûf geriht ze dîner rehten hant. von liehtem golt was ir gewant. manger varwe glanzer schîn 8320 het umberingt die künegîn die der hœste keiser triutet. waz ir stên bediutet, waz meint ir goltvarwez kleit, der liehten varwen underscheit, 8325 dâ hæte ich von ze sprechen vil. daz ich hie nû lâzen wil. doch mac der rede werden mêr. ob aller wirde dû wirde hêr, swâ ich nâch trôste sene mich, 8330 sô wîsent alle ræte an dich. erwirp uns ein guot ende frœlich ûz disem ellende! dîn sun dir niemer niht verseit. ô muoter aller sælekeit, 8335 dû bist diu edel gerte diu Dâvit in nôt ernerte. dâvon der herre sprach alsus: ‘virga tua et baculus tuus ipsa me consolata sunt. 8340 hôhen trôst und sælden vunt în mînen nœten, herre, gap mir dîn süeziu gerte, dîn edel stap.’ diz sint mangem wildiu wort, doch unser heil, der sêlen hort. 8345 disiu rede ist alliu dir ze lobe. 8300
außer Dir und Deinem Kind. Darum bitte ich Dich, edle Mutter, Du mögest mich erhören hinsichtlich des großmütigen Königs Wenzel und Gutas, der edlen schönen Königin. Schenke ihnen ein seliges Leben, Herrin, Tugend über alle Tugenden. Ihre reine Geburt, ihre blühende Jugend vollende sich in einem würdigen Alter. Von Dir spricht der Prophet David im Psalter, nämlich im Psalm Eructavit: Eine edle Königin, die für uns alle Hilfe erwirkt, stand wunderschön zu Deiner Rechten, Gott, Herr über allen mächtigen Königen. Ihr Gewand war von strahlendem Gold. Ein buntglänzender Schein hatte sich um diese Königin gelegt, die der höchste Herrscher liebt. Was ihre Gestalt bedeutet, was das goldfarbene Kleid, der Wechsel der strahlenden Farben meint, darüber könnte ich noch viel sagen. Ich will es hierbei belassen. Doch kann man die Erzählung gern fortsetzen. Über allen Adel erhabener Adel, wo immer ich Zuversicht suche, raten alle Kundigen zu Dir. Erwirke uns ein gutes, uns glücklich aus der Erdenfremde leitendes Ende! Dein Sohn versagt Dir nie etwas. Oh Mutter allen Heils, Du bist die Edle, Geehrte, die den notleidenden David gerettet hat. Der Prophet sprach so davon: Virga tua et baculus tuus ipsa me consolata sunt – ‘Großen Trost und unerwartetes Glück gaben mir, Herr, in meiner Not Deine süße Gerte, Dein edler Stab.’ Vielen sind dies dunkle Worte, aber sie sind doch unser Heil und Seelenschatz. Dieses gesamte Buch ist Dir zum Lob bestimmt.
8304 an Guoten] der guten (DH). 8319 glanzer schîn] lichter schin. 8329 nâch trôste] nach solichem trost. 8343 mangem wildiu wort] manige wilde wort (‘dunkle Worte in den Augen vieler’ vs. ‘viele dunkle Worte’).
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dîn schœnde lac aller klârheit obe die wîle dû wære ûf ertrîche. dîn anblic was sô minneclîche: er wære diser oder der, 8350 guot mensche oder sünder, swer dich mit ougen ie gesach, dîn güetlich süeze im sorge brach, sô daz er dîn getrœstet wart. sô schrîbet uns sant Bernhart. 8355 diu werlt des noch urkünde hât: swelch ruofer vür dîn bilde gât, 113vb siht er daz minneclîchen an, er muoz al sîn trûren lân.
Deine Schönheit überstrahlte jeden Glanz, als Du noch auf Erden weiltest. Dein Anblick war so liebreizend: Jeder, der Dich je mit eigenen Augen sah, sei er ein guter Mensch oder Sünder, den befreite Deine heilige Güte von Sorgen; er empfing Trost von Dir. So schreibt uns Sankt Bernhard. Es ist uns noch heute bezeugt: Wer flehend vor Dein Bild tritt und es vertrauensvoll anblickt, kann alle Traurigkeit fahren lassen!
8358: Es folgen 20 Schreiberverse (Marienanruf) mit lat. Prosanachtrag: Hy myde dis buch eyn ende hait / o maria in der trinitat / Erwirp vns helff dyns sons / Daz it der arge dufel vns / Mit bosen listen hynder gee / Der gen vns fechtet ymmer me. / Sijt du an alle swere / Din werdes kint gebere / Vnd sijt her mit großer not / Sahe in vor dir hangen dot / Da myde er dy erloset hait / Der by dem willen sin bestait / Got vns synen heyligen geist sende / Nv hait dis buch hy ey[n] ende / Von Wilhelm vnd syner frauwen / Got gebe daz wir sy schauwen / In dem ewigen himelrich / Dar yn helff vns glich / Der vns geschaffen hait / Got vader in der trinitat // Iste liber teutunicalis est scriptus per me petrus de freysen et completus sub anno domini MCCCCXXII ipsa die sixti jn domo domini offic[iorum] Cur[ie] treueren[sis] hora octaua vel nona. 8358 Auf den Schlussvers folgen in kunstvoll variierter Ausrichtung des Schriftblocks 20 Schreiberverse, danach das lat. Schreiberkolophon (beide s.o.), danach ein Blütenornament.
Stellenkommentar 1–102 Der Prolog schließt im geistlich-legendarischen Tenor eng an Wolframs ‘Willehalm’-Prolog an: Dem Vorbild folgen der Trinitätsanruf, der Schöpfungspreis und die christologische Reflexion, die sich anschließende Sündenklage ist gängiger Legendentopos, auch etwa in Hartmanns ‘Gregorius’. Zum Prolog vgl. Schulmeister 1971, 147–149 (Deutung im Zeichen geistlicher Exordialtopik), Kleinschmidt 1974, 618–621 (mit dem Fokus ‘Willehalm’-Rezeption), Haug 1992, 341–343. 2–4 Die Fürbitte und der Preis als Häupter der Christenheit gelten den Widmungsempfängern Wenzel II. und Guta von Böhmen (v. 2: in), vgl. auch v. 7812–14, mit Namensnennung im panegyrischen Exkurs v. 4667–4718 und in wiederholter Fürbitte im Epilog, v. 8301–09. Gönnergebet und Gönnerpreis durchziehen und rahmen also das Werk. 20 underbildet. Wörtl. ‘unter-bilden’, in ein niedrigeres/schlechteres Bild setzen. 34f. krisam. Salböl bei der Sakramentspendung, insbes. der Taufe (von gr. χρῖσμα/ chrísma, Salböl; vgl. χριστός ‘der Gesalbte’). 51–55 Sinngemäß nach Ez 33,11. 58–65 Die Inspirationsbitte gehört seit dem antiken Musenanruf zum prologtopischen Inventar. 66 namen dîn. Tatsächlich ist der Christus-Name das Leitmotiv des Romans und agent provocateur der Romanhandlung: Er führt zur entscheidenden Wende im Schicksal des Heldenpaars und ihres Landes und setzt die drei Bekehrungsimpulse. 74 Willehalm/Wilhalm. Mit der Nennung des Protagonistennamens (wieder in Anklang an Wolframs ‘Willehalm’, v. 3,11) beginnt der prologus ante rem. Anders als Wolframs ist Ulrichs Willehalm/Wilhalm historisch nicht greifbar, auch der genannte Ort dürfte fiktiv sein (trotz der Versuche Massers 1974, den Heiligen in der ostmitteleuropäischen Missionsgeschichte dingfest zu machen). Die Verortung des Geschehens in der vorchristlichen Slawenwelt schafft dessen unbeschadet eine quasihistorische Authentifizierung (vgl. dazu im Nachwort, S. 220). – Zur Unterscheidung von Wolframs Helden verwende ich unabhängig vom mhd. Text durchweg die Namensform ‘Wilhalm’. 82 predigerbruoder. Dominikaner (Ordo Praedicatorum). 80–86 Die Verse sind kruzial für die Gattungsbestimmung: Da der Autor offenbar bewusst eine klare Aussage vermeidet, lässt sich nicht entscheiden, was er mit der legende eigentlich meint: sein Werk? die ihm übermittelte Vorlage? ein Drittes, das der Dominikaner als Gegengabe oder Pfand für das von ihm Entliehene erbat? ‘Legende’, wörtlich: das zu Lesende, bezeichnet ursprünglich einen für die klösterliche Tischlesung bestimmten Text, später speziell erbauliche Heiligengeschichten. Dass der Wendenroman „im Verständnis von Autor und Publikum als Legende eines Heiligen aufgefaßt“ wurde, ist Forschungskonsens (vgl. Kleinschmidt 1974, Zit. 621; ähnlich Schulmeister 1971, Masser 1974, Behr 1989 u.a.). Ich bin mir aber nicht sicher (vgl. Herweg 2010, 368–373). Zur Gattungsdiskussion vgl. im Nachwort, S. 224–230.
DOI 10.1515/9783110291858-003
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83 Wer hier wen bat, bleibt syntaktisch unklar; formallogisch ist dreierlei möglich: der Dominikaner bat den Informanten des Dichters, der Informant bat den Dichter, oder der Dichter bat den Informanten im Namen/Auftrag des Dominikaners; vgl. v. 80–86. mit Anm. 84 Übers. ‘zurücksenden’. Alternativ: ‘im Gegenzug dafür senden’ – dann wäre ggf. der deutsche Text gemeint; zur Crux der Stelle vgl. v. 80–86 mit Anm. 85 Der hier als (primärer) Auftraggeber genannte meister (Magister) Heinrîch der Walch wird mit Henricus Italicus (de Isernia) identifiziert, der aus staufischem Umfeld von Süditalien nach Böhmen kam und dort als Protonotar Wenzels II. wirkte. Vgl. u.a. Behr 1989, 200f.; zur Person Polívka, LMA 4 (1999), 2138 (mit Lit.). 89f. Die Fürbitte an den Fürstenheiligen lehnt sich erneut an Wolframs ‘Willehalm’Prolog an (v. 4,7ff.); auch der Übergang vom Preis des Helden (3. Person) zum Gebet an ihn (2. Person) hat dort, v. 4,2f., sein Vorbild. 103 Mit diesem Vers, d.h. ohne Legendenprolog, setzt der Text in Hs. H ein. Die Lesererwartung an die Textgattung ist damit markant verschoben: Statt einer Legende kündigt sich in H ein höfisch-historischer Erzähltext an. 129 rât und helfe. Lat. consilium et auxilium, lehnsrechtliche Kernpflichten. 164 got. Gemeint ist wohl noch Jupiter (vgl. v. 449), doch gibt sich der Heide schon monotheistisch: Hinweis darauf, dass der religiöse Graben im ‘Wilhalm von Wenden’ weniger tief ist als in der um den christlich-islamischen Gegensatz kreisenden Kreuzzugsepik vom Typus ‘Rolandslied’ oder ‘Willehalm’. 218 Der rôte munt ist ein Leitmotiv im späten Minnesang (vor allem bei Gottfried von Neifen). In ihm verbinden sich höfisches Minne- und Schönheitsideal und erotisierender Frauenpreis. Im ‘Wilhalm von Wenden’ wird er fast exklusiv für Bene gebraucht (häufig auch variiert, so mündel/în, kus; statt rôt auch süez, Feuer- und Rosenmetaphern), vgl. etwa v. 269, 906f., 984, 1101, 1164, 1313, 1358f., 1669, 2238, 7439, 7615, 7924, 7952. 267 bûhurt. Afrz. behort, Schaureiten in geschlossenen Verbänden ohne Waffen (vgl. Bumke 1986, 357–360). Im Zuge der Rezeption französischer Adelskultur gelangten seit Ende des 12. Jh.s viele romanische Fremd- und Lehnwörter in die höfische deutsche Literatur, v.a. in den Sach- und Diskursfeldern der Liebe, Mode, Musik- und Festkultur sowie des Turniers (mit reichen Belegen: Bumke 1986, 112–120). Ulrich führt diese Tradition in allen genannten Bereichen fort. 285f. niht gezæme, Motiv vieler Minne- und Ritterromane, um den Auszug des Helden und damit die Trennung von den Eltern und/oder der Geliebten zu motivieren. 304 Zu bûhurt vgl. v. 267 mit Anm. Die tjost (frz. jouste < lat. juxta) ist demgegenüber der Zweikampf zu Pferd mit eingelegter Lanze (Bumke 1986, 360–362). 318 Der rinc bezeichnet den zum Turnier- oder Gerichtskampf abgesteckten Bereich. 336–342 Freigebigkeit (mhd. milte, lat. largitas) ist eine fürstliche Kardinaltugend, die sich ethisch und pragmatisch begründet. Die nicht sesshaften, von Hof zu Hof ziehenden Berufskünstler lebten von den Zuwendungen der Herren, wie sich prägnant in den Heischestrophen und vereinzelten Lebenszeugnissen mhd. Spruchdichter zeigt, so bei
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Walther von der Vogelweide. Hier scheint der Lohn hyperbolisch groß: Üblich sind getragene Kleider und kleinere Geldzuwendungen, nicht aber Pferde. 393 Schwert und Strang stehen für die Kapitalstrafen gegen adlige (Enthauptung) und nichtadlige (Galgen) Delinquenten. 405 ir name. Der in intendiertem Paradoxon namenlos eingeführte Name wird erst viel später genannt, zuerst in verdeutschter Form: Guta/-e (v. 1725), dann in der lateinischen Normalform Bene (v. 4025). In der Folge (v. 4668ff.) wird er etymologischpanegyrisch auf Ulrichs Gönnerin Guta bezogen. Die Übersetzung muss spannungsmindernd verfahren und löst Pronomina, wo es die Klarheit verlangt, durch Namen auf. 449 Jupiter. Zum Bild der heidnischen Religion im ‘Wilhalm von Wenden’ vgl. unten, v. 2703 mit Anm. 453f. Rosenfeld interpungiert ‘der geschach nâch êren.’ Überschrift und Initiale legen schreiberseitig die Vers- als Satzgrenze und ein modifiziertes Verständnis des Attributs nâch êren nahe. 567 toufte. Das spätere Schlüsselwort ist hier singulär bildlich und nichtsakramental gebraucht. 574–576 steln ... verheln. Der für einen Fürsten problematische Entschluss, das Landeswohl dem Individualheil hintanzustellen, rückt durch die Verben auch erzählerseitig ins Zwielicht (dies ungeachtet der Frage, ob er im Legendenkontext legitim ist). Dieser ersten Infragestellung des idealen Helden folgen zahlreiche weitere nach Benes Niederkunft. 587 werden Sarrazîn. Als Sarazenen (vgl. auch v. 1623, 2005 u.ö.) werden in mhd. Epik fast durchweg Muslime bezeichnet. Hier gilt der Begriff allgemein für Nichtchristen und damit synonym für heide (wie ja auch die Götterwelt nicht unterschieden ist). Bemerkenswert ist die regelmäßige Verbindung mit dem Adjektiv werde: die wendische (und im Ansatz auch muslimische) Heidenwelt ist im ‘Wilhalm von Wenden’ dezidiert höfisch und ethisch-ideell der christlichen Welt kommensurabel. Wenden wird schon im Licht seiner künftigen Christianisierung gesehen. 739 mîle. Die Entfernung dient hier (wie in v. 1054) als Zeitmaß; vgl. BMZ 2, 170. 750–756 Der Erzählerexkurs bezieht die noch vorchristliche Existenz des Helden auf seine spätere Heiligkeit und weiter auf die Erzählgegenwart. 776 meisterinne. Benes Vertraute ist demnach die aus der Heimat an den neuen Hof mitgeführte frühere Erzieherin. 843–886 Die Schwangerschaft gibt Anlass für einen hymnischen Frauenpreis, der sich von der Heldin löst und seine Motive aus dem Minnesang, der didaktischen Sangspruchdichtung und der Minnerede bezieht. 848 wîplîch wirdekeit. Eine der häufigen hochabstrakten Preisformeln, die Ulrich auf Bene oder das von ihr verkörperte Frauenideal bezieht. Aufgrund der Topik und semantischen Breite sind sie nur annähernd übersetzbar; vgl. u., Hinweise zur Ausgabe. 980 unminne. Antonymisch zu Minne die Personifikation unrechter Liebe in allen Varianten (wankelmütige, rein sinnliche, ständischer Ebenbürtigkeit oder Gegenseitigkeit
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entbehrende Liebe usw.), daher unübersetzbar. Der Sinngehalt ermisst sich im Kontext der vielen Minne-Exkurse. 999–1001. Verstellung ist Wilhalm nicht fremd. Da die Wahrung des äußeren Scheins zum höfischen Komment gehört, ist sie aber nicht grundsätzlich negativ. 1054 mîle. Vgl. v. 739 mit Anm. 1081–89 Benes Nacktheit erotisiert die folgende Szene in legendenuntypischer Weise: Während unbekleidete Frauen in Legenden als Verführung und Tugendprobe für den Heiligen auftreten (vgl. Versuchung des Hl. Antonius; LCI 5/1968, 205–217), markiert das Motiv hier fassungs- und schutzlose Unschuld und den Widerstreit zweier ebenbürtiger Norm- und Diskursaxiome: Minne/Ehe und Herrschaft vs. Weltflucht und Seelenheil. Wilhalm kann in dieser Situation nicht ideal bleiben: Benes im doppelten Sinn bloße Präsenz setzt ihn auch bildhaft ins Unrecht. Zu beachten ist auch die Asymmetrie der Anredeform: Wilhalm duzt Bene, während sie ihn ihrzt. 1092f. Der Schöpfer-/Demiurgentopos wirkt der erotischen Evokation der nackten Schönheit, aber auch wieder ihrer legendenüblichen Diskreditierung entgegen, indem er sie unmittelbar auf den Schöpfer bezieht. 1141–1278 Benes Rede ist systematisch aufgebaut: Sie dekonstruiert nacheinander die lehnsrechtliche, emotionale und dynastisch-familiäre Legitimität von Wilhalms Plänen; begründend sind das stets loyale Verhalten der Vasallen, das erwartbare Geschick der verlassenen Fürstengattin im männlich dominierten Herrschaftsverband, das Risiko für deren Ruf und der Bestand der werdenden Dynastie genannt. Die Protagonistin profiliert sich nicht nur in diesem Dialog als klug abwägende Fürstin, diametral konträr zu Wilhalm, dessen Erwiderungen zwischen solipsistischer Ignoranz und politischer Naivität schwanken. Was hier noch (erfolgloses) Plädoyer bleibt, bewährt sich im späteren Exil in erfolgreicher Herrschaft: Wo Bene bewusst als Frau und Fremde gewählt wird, ist der fehlende Mann (zunächst) kein Makel, sondern Vorzug. 1151 wem bevelt ir liute unde lant. Bene ist hier und im Fortgang die Stimme nicht nur der politischen Vernunft, sondern (auch) der amts- und feudalethischen Pflicht: Mittelalterliche Herrschaft bindet den Fürsten wie den Vasallen, eine einseitige, gar heimliche Aufkündigung dieser Bindung ‘von oben’ gilt als Herrenfelonie, d.h. Treubruch seitens des Lehnsherren, und entbindet auch den Vasallen von seinen Pflichten. 1171 drîzic. Stereotype Formel für ‘sehr viele’, vgl. u.a. Wolframs ‘Parzival’, v. 231,25 bzw. ‘Willehalm’, v. 52,21. 1176–79 Apokoinu-Konstruktion: ein Satzteil bezieht sich auf den vorangehenden und den folgenden Satz. Die unübersetzbare Stileigenheit ist in mhd. Epik häufig. 1218 umbevâhen. Das mhd. Wort meint sehr konkret die Liebeserfüllung und sexuelle Vereinigung. 1237–39 Der Satz folgt nahezu wörtlich Wolframs ‘Parzival’, v. 109,26–29. 1173/1258–65 In Benes Argumentation treten gender- neben herrschaftsdiskursive Aspekte. Zwar kennt die Epoche erfolgreiche Herrscherinnen (in Geschichte wie Literatur: Aliénor d’Aquitaine, Laudine, Melusine), aber deren Rückhalt ist stets an bestimmte Voraussetzungen (Witwen- oder Vormundschaft, consors regni) und an den Konsens des
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Verbands geknüpft, damit abgeleitet und labil. Dies steckt hinter Benes Sorge, die der Erzähler teilt (v. 1173). Schon der Umfang des von ihr dominierten Dialogs bezeugt, dass Ulrich hier Grundlagen und Möglichkeiten weiblicher Herrschaft reflektieren, vielleicht auch im Sinne seiner Gönnerin Guta narrativ neu ausverhandeln will (vgl. Herweg 2010, bes. 375–377). 1293 amîs. Afrz., von lat. amicus: Freund; zu Ulrichs Fremdwortneigung vgl. v. 267 mit Anm. 1312f. Dieser der eigenen früheren Argumentation völlig konträre Entschluss kann nur eine der hoffnungslosen Situation geschuldete ultima ratio sein, die Wilhalms ethisch fragwürdige Spielregeln als gegeben hinnimmt. Da alle Argumente (Liebe, Land, werdendes Kind) nicht halfen, geht es Bene jetzt nur noch um einen individuell und familiär rettenden Ausweg. 1347 Die Übersetzung solcher Apostrophen für die in der gesamten ersten Romanhälfte namenlose Bene muss hölzern klingen; ihre scheinbare Stereotypie und Redundanz ist aber typisch für Ulrichs blümenden Stil (vgl. v. 848 mit Anm.). 1377–80 Zur Kardinaltugend fürstlicher milte vgl. Anm. zu v. 342. 1385–88 Dass gerade Bene dazu rät, das Land mit Kalkül zu hintergehen, entspricht ihrer politischen Klugheit, nicht aber der ihr nach v. 1141ff. eigenen ‘staatsmännischen’ Ethik. Das Kalkül geht auf, das missbrauchte Ritual bindet das Land im Endeffekt ganze 24 Jahre lang ohne jede Gegenleistung an die absente Herrschaft. 1401 Die Betonung der triuwe in einem Kontext, der eine Täuschungsaktion anbahnt, ist topisch oder ironisch, in letzterem Fall als Irritationssignal zu verstehen. Immer wieder gehen im ‘Wilhalm von Wenden’ abgründige Handlungen mit oberflächlichem Erzählerlob einher. 1405 meien. Die stereotype Zeit arthurischer Hoffeste, im Minnesang Inbegriff von Liebe, Tanz und Sommerfreuden. 1489–91 marschalke, kamerære, truhsæzen, schenken. Die vier höchsten weltlichen Hofämter; ihre Zuständigkeiten sind fließend: In der Regel beaufsichtigt der Marschall (oder Seneschall, senescalcus) die Pferde, der Kämmerer (camerarius) den Haushalt, der Truchsess (dapifer) die königliche Tafel, oft auch die Hofverwaltung allgemein, der Mundschenk (pincerna, buticularius) die Versorgung mit Wein. Ihnen unterstehen jeweils weitere Amts- und Funktionsträger wie die mitaufgeführten spîsære und köche. Vgl. W. Rösener, LMA 5/1999, 67f. 1493 vilân und garzûn. Bauern oder Dorfbewohner (frz. vilain < lat. villanus) sind, anders als Knappen bzw. Pagen (frz. garçon, it. garzone), auf Hoffesten nicht üblich. 1522 kurteise. Frz. courtois, von cour, Hof. 1639 achmardî. Nach Wolframs ‘Parzival’, v. 14,22, 71,26 u.ö., edler Seidenstoff aus Arabien. 1648f. Die Waldmetapher entspricht Wolframs ‘Parzival’, v. 427,3. 1725 frou Guote. Erste, indes noch verdeutschte Namensnennung; dadurch wird Bene unmittelbar auf die mutmaßliche (Mit-)Gönnerin, Wenzels II. Gemahlin Guta von Habsburg, transparent.
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1739 hardieren. Reizen, sich im Kampf herausfordern, von afrz. hardier (hardi, ‘kühn’). 1805 Das gleiche Bild für den Zustand des Betrunkenen nutzt Walther von der Vogelweide: Er hât niht wol getrunken, der sich übertrinket./ wie zimet daz einem biderben man, daz ime diu zunge hinket/ von wine! (L 29,35f.). 1861f. Tripolis und Tarsis sind (wie spätere Namen arabisch-orientalischer Städte) kartographisch verbürgt, aber auch literarische Topoi, so in der Kreuzzugs- und Aventiureepik. 1880 rîcheit. Mhd. eher Macht als Reichtum (worin sich Macht freilich auch ausdrückt und ihre Basis hat); hier ist wohl beides gemeint: das Fürstenpaar zieht in die Fremde, in Ohnmacht und Armut. 1882f. Der vorgebliche Auszug in Armut (vgl. auch schon v. 1048) entpuppt sich unter dem Pilgergewand als reichlich mit Proviant und Kapital versehene, auch im Kreuzzugsorient auffällig auf ständische Würde und Repräsentation bedachte Reise, die von Askese nichts erkennen lässt; vgl. u.a. auch v. 1902f., 2592–98, 2940–42, 3640f. 1909–11 Apokoinu (vgl. v. 1176–79 mit Anm.). 1973 rât und helfe. Vgl. v. 129 mit Anm. 2001–03 Anschließend an v. 1956 ist damit verklausuliert gesagt, dass der weise Ratgeber kein Adliger, aber beim Adel sehr angesehen ist: beides notwendige Voraussetzung seiner künftigen Rolle. 2046–51 Pars pro toto aufgeführt sind hier die seit dem 12. Jh. mehr und mehr an die Landesfürsten übergehenden Regalien, darunter Zoll und Münze, Markt- und Stadtrecht, Vogtei, Gerichtsgefälle; vgl. D. Hägermann, LMA 7/1999, 556–558. 2094 helfe unde rât. Vgl. v. 129 mit Anm. 2105 Der Erzähler nutzt den brevitas-Topos, um eine digressiv ausufernde Nebenhandlung abzuschließen und in die Haupthandlung zurückzukehren. 2112 in und dem lande. Der auf dem Landtag versammelte Adel verkörpert das herrenlose Land und seine Interessen. Er sorgt, da die Herrschaft auf unabsehbare Zeit fehlt, für ein tragfähiges Interim. Die Krise in Benes Exilland wird später zeigen, dass er auch völlig konträr agieren und das Landeswohl ruinieren kann; zum Landesdiskurs zwischen Fürst und Adelsverband vgl. Herweg 2010, 347–359. 2121 ambetman. Der seit dem 12. Jh. aus der Unfreiheit in den Niederadel aufgestiegene Dienstadel, die sog. Ministerialität, der auch für die Entstehung und Blüte der höfischen Literatur eine (mitunter zu) hohe Bedeutung beigemessen wurde; vgl. Bumke 1986, 48–51; K. Schulz, LMA 6/1999, 636–639 (Lit.). 2128 Mhd. man ist hier dezidiert ständisch gemeint: Gefolgs- oder gar Dienstmann. 2140 vereinden muot. Nahezu wörtliche Übersetzung für das feudalrechtliche Ideal des consensus omnium. 2151 ûf ir goten. Bemerkenswert ist auch hier der völlig absente religiöse Affekt: Das Ritual hat Würde und Gültigkeit trotz der polytheistischen Garanten. 2175 Vgl. ähnlich v. 4074f.
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2179 gewende. Acker- und Längenmaß; vgl. BMZ 3, 686; Lexer 1, 982, je nach Quelle ‘Rosslauf’, lat. stadium o.ä. 2200f. Die Szene ist als Kontrafaktur des Weihnachtsgeschehens gestaltet. 2263–66 Wilhalm beobachtet Benes erste Stillversuche und deutet sie folgend als Zeichen lebensbedrohlicher Schwäche; der Dichter dagegen lässt zeitgenössisches medizinisches Wissen über den verzögerten Milchfluss anklingen. Vgl. Seeber 2012, 116f., Anm. 56. 2280 beider sît. Welchen Doppelverlust Wilhalm fürchtet ist unklar, möglich ist zweierlei: entweder der Verlust der Gunst Gottes und Benes, wenn er bleibe, Benes fürsorgliche Liebe sich aber nun ganz auf die Kinder richte; oder der Verlust Benes und der Kinder, wenn die Nährung der Säuglinge die Mutter auf den Tod schwächte und dann auch die Kinder stürben. 2291–2300 Diese sundersprâche und die ihr folgende Episode musste ein zeitgenössisches Hofpublikum selbst im Rahmen einer Legende irritieren. Keine andere Fassung des einschlägigen ‘Eustachius’-Stoffs bietet sie in ähnlich kompromissloser Form (vgl. im Nachwort). Wilhalms einzige Geschäftsbedingung, die prospektiven Käufer müssten Christen sein (was Wilhalm selbst zu diesem Zeitpunkt noch nicht ist), kann die ständische und ethische Depravation kaum mindern: Der Sturz der Söhne ist lang und tief. Auch hier schreibt der kommentierende Erzähler kühn gegen die Evidenz der Handlung an. 2310f. Sklavenhandel durch Christen im slawischen Heidengebiet war in der vagen frühmittelalterlichen Referenzzeit des ‘Wilhalm von Wenden’ noch üblich und um 1300 offenbar noch vorstellbar. 2319 von halbem jâre. Die Neugeborenen stehen im ersten Lebenshalbjahr; ich übersetze sinngemäß. 2333 Mhd. bediuter kann Ausleger und Übersetzer bedeuten; die Übersetzung impliziert beides. 2356 kompân. Wörtlich ‘Genosse’, von mfrz. compaing < lat. com-panis. 2355–58 Passivaussage und Lüge indizieren, dass Wilhalm die Unerhörtheit seines Tuns bewusst ist. Für Unrechtsbewusstsein sprechen später auch v. 2977–79 (bezüglich Benes) und v. 6958–63 (bezüglich der Kinder). Vereinzelt distanziert sich sogar der Erzähler (v. 5052–56, 6793). 2380 Einer der vielen direkten Eingriffe des wunderers (Wunderwirkers) Gott in das Erzählgeschehen (vgl. 5074–78): Der Legendenstruktur nach ist Gott eine auch auf Erden handelnde und eingreifende Instanz. 2428 frouwe. Dame, Herrin, in dieser Standeskonstellation am ehesten ‘Madame’. 2471 frouwe Guote. Wie schon in v. 1725 macht die deutsche Namensform die Heldin panegyrisch auf Guta von Habsburg transparent. 2476 vesperzît. Vesper (< lat. vespera), im klösterlichen Tages- und Gebetszyklus die vorletzte Hore, gegen 6 Uhr abends. 2505f. Das Vorschneiden bei Tisch ist Zeichen besonderer Aufmerksamkeit für den Gast und/oder besonderer Vertrautheit; vgl. Wolframs ‘Parzival’, v. 33,9ff., Konrads von Würzburg ‘Engelhard’, v. 1966ff.; weitere Belege bei Bumke 1986, 255f.
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2552 Die Dichotomie Minne/Unminne ist in Minnesang und Minnerede topisch, auch in der hier vorliegenden Personifikation. (Frau) Unminne repräsentiert jede Art unrechter, unreiner Liebe und ist als solche der (wahren) Minne feind; vgl. v. 980 mit Anm. 2564 kocken. Kogge (< ahd. kogcho), breites Handelsschiff v.a. im Gebrauch der Hanse; vgl. U. Schnall, LMA 5/1999, 1247. 2568f. Wilhalms dritte Aktion gegen Bene nach der durch ihre Aufmerksamkeit unterbundenen heimlichen Abreise und dem Verkauf ihrer Kinder. Auch sie geschieht in betonter Heimlichkeit: Wieder schläft die Getäuschte, wieder ist sie ahnungslos, wieder hat der vorausgehende Kommentar ambiguisierende Wirkung: Die Handlung widerlegt die Sentimentalität des Helden und unterminiert auch den Erzählerkommentar v. 2547–52. 2696f. Vgl. ähnlich in Wolframs ‘Parzival’, v. 752,8–10. 2698–2700 Die Argumentation wirkt konfus: Wilhalm will sich (nicht etwa Bene) für die durch ihn geplante Tat entschädigt sehen, und zwar entschädigt mit Bene, die er im gleichen Moment verlässt. 2703 Appollo, Mahmet, Tervigant. Die in der mhd. (Kreuzzugs-)Epik seit dem ‘Rolandslied’ des Pfaffen Konrad und Wolframs ‘Willehalm’ übliche muslimisch-‘heidnische’ Göttertrias, oft erweitert um Jupiter (so auch mehrfach im ‘Wilhalm von Wenden’, etwa v. 449, 1249 u.ö.). Antike und orientalische Namen sind dabei willkürlich verbunden, aus dem Propheten Mohammed wird ein Gott, und ausgerechnet dem streng monotheistischen Islam ist Vielgötterei bescheinigt. Im ‘Wilhalm von Wenden’ fällt das Bild der islamischen und vorchristlich-slawischen Götterwelt in eins; vgl. Herweg 2011, 109–112. 2712–16 In seiner vasallitischen ‘Reziprozitätstheologie’ ist Wilhalm noch ganz Heide. 2716f. Rosenfeld sieht zwischen beiden Versen einen Überlieferungsdefekt: „Nach 2716 muß eine Lücke sein, da die Erwähnung daz vierde ja die Aufzählung dreier anderer Punkte voraussetzt und die Partie sich auch sonst sehr schlecht anschließt“ (Stellenkomm. S. 277). Das ist nicht zwingend, da schon im Wiedersehen mit Bene und den Zwillingen drei Wünsche liegen, denen sich als vierter (allgemeinerer) die Treue des verlassenen Landes anschließt. Damit fasse ich v. 2717ff. auch nicht wie Rosenfeld als Erzählerkommentar, sondern als Abschluss des Zwiegesprächs Wilhalms mit Christus. 2728 mann. Enklise: man in. 2785 Autoaggressive Gesten begleiten oft epische (nicht nur Frauen-) Klagen. 2840 iht. Negativisches Verständnis (niht) scheint mir vom Sinn geboten; sonst wäre zu übersetzen: ‘dass er vermutlich lang von Euch fernbleibt’. 2861–70 Der Erzählereinschub hat Scharnierfunktion: Er bewertet das vorangehende Verhalten Benes, leitet den folgenden Schauplatz- und Protagonistenwechsel ein und beendet den Handlungsblock ‘Trennung’. 2871–74 Der hellenistische Romantyp ließe an dieser Zäsurstelle einen Schiffbruch als Beginn einer langen Irrfahrt erwarten (was v. 2871f. auch ins Erwartungskalkül des Publikums rückt). Wilhalm dagegen gelangt von der Providenz geleitet direkt, in nur zwei Versen, zum Ort seiner religiösen und ritterlichen Bestimmung. Biographische und Abenteuerzeit nach Bachtin (vgl. Bachorski 1993) treten im ‘Wilhalm von Wenden’ daher weniger auseinander als in vergleichbaren Texten zwischen ‘Herzog Ernst’ und ‘Magelone’; die
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biographische Zeit läuft in den Parallelplots um Bene und die Söhne gleichsam minutiös weiter. 2910–16 Die ‘autobiographische’ Armutsklage ist von Wolfram inspiriert, vgl. ‘Parzival’, v. 184,27–185,8. 2955 Zur Göttertrias vgl. v. 2703 und Anm. 2958 durch keinen ruom. Selbstruhm brächte die gute Tat um ihren Verdienst, wie Rudolfs von Ems ‘Guter Gerhart’ in der Konfrontation des Titelhelden mit Kaiser Otto besonders eindrücklich demonstriert (vgl. ebd. v. 37–76, 235–284). 2977–79 Diese Selbstbezichtigung ist für das Heldenbild bedeutsam: Stünde der legendenkonstitutive religiöse Diskursprimat (conversio-Schema, contemptus mundi) außer Frage, erübrigte es sich, hier von tumpheit und (un-)witze zu reden. 2984f. Apokoinu (vgl. v. 1176–79 mit Anm.): ‘Er sprach … und begann zu trösten.’ 3000 ir. Ob sich das Pronomen auf Bene oder auf Christi hœhe bezieht, ist (auch in der Übersetzung) nicht zu entscheiden. Denkt man an Wilhalms als Minnerittertum inszenierte spätere Teilnahme am Heidenkrieg, so bringt ihn sein Dienst beiden näher. 3006 Mhd. Walch bezeichnet allgemein den Romanen, daher folgt die nähere sprachnationale Bestimmung als Franzoysære. 3010–20 Der lange Satz drückt prägnant die für die Konversionslegende typische Zäsur aus, die das Leben in ein ‘Davor’ und ein ‘Danach’ teilt. Das frühere Leben, ein Leben in Irrtum, Blindheit und Sünde, wird im späteren aufgehoben, indes nicht im typologischen Sinn steigernder Bewahrung, sondern im dualistischen von Ablösung und Wiedergutmachung. Der ‘Wilhalm von Wenden’ indes hält diesen Dualismus nicht durch, wie der dem religiösen Diskurs gegenläufige höfisch-politische (v.a. in der Bene-Handlung) zeigt. 3025–27 Mit der naiv simonistischen Frage des Katechumenen setzt das gattungstypische, ausführliche Lehrgespräch ein: Der Wirt und Meister vermittelt dem Gast und Schüler das Nötigste über die Taufe und den Kern christlicher Lehre. Wilhalm ist ein so unwissender wie begierig aufnehmender Schüler – der Bekehrungswille besteht lange vor der Bekehrung. Im Publikumsdiskurs gewinnen die folgenden Lehrpassagen homiletischen Charakter: Der Roman bietet einer Predigt Raum, die zentrale Glaubensinhalte zu memorieren erlaubt. 3043–3242 In der langen Paraphrase und Auslegung der Verkündigung gipfelt der ‘geblümte Stil’, der sich gegen biblisch-legendarische Norm (sermo humilis, brevitas, summa facti) bei Ulrich gerade dort zuspitzt, wo es um Liebes- und Glaubensinbrunst geht. 3066 âne wê. Ulrichs ‘Übersetzung’ der lat. Grußformel hebt auf den Gleichklang ab und ist sinngemäß-frei; nhd. kann sie auf Maria (schmerzlos) oder entwarnend auf die Situation (unbesorgt, furchtlos) bezogen werden. Es folgt ein ausführlicher mariologischer Exkurs, der auf Marias Rolle als Fürsprecherin, erste Adressatin und Vermittlerin der göttlichen Gnadenfülle abhebt, bevor sich die Paraphrase der biblischen Verkündigungsszene in v. 3163 fortsetzt. 3083/93 sant Bernhart. Bernhard von Clairvaux (um 1090–1153), Zisterzienserabt, Kreuzzugsprediger und Mystiker. Die Zitate sind indirekt nach der verbreiteten ‘Legenda
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aurea’ des Jacobus de Voragine zitiert und weichen vom Originalwortlaut deutlich ab (vgl. Rosenfelds Stellenkomm., 177f.). 3100–02 Die Nebeneinanderstellung der drei monotheistischen Buchreligionen als (virtuelle) Teilhaber der göttlichen Gnadenfülle ist im lateinischen Diskurskontext nicht so außergewöhnlich wie im deutschen (vgl. Schnell 1993). Ulrich nimmt hier und im folgenden Krieg v.a. an Wolframs ‘Willehalm’ Maß: Er verzichtet auf jeden Kreuzzugsfanatismus, doch nicht ohne die selbstverständliche Überzeugung, dass nur die eigene Religion im Besitz der Wahrheit und Gnade sei. 3221 sehs mânde. Nach Lc 1,36. 3277f. vogel, visch, würme, tier. Vormoderne Naturkunde untergliedert die Fauna in Vögel, Fische, Kriech- und Säugetiere, wobei jede Gattung durch Lebensraum und Wesenszüge einem der vier Elemente zugeordnet ist. 3308–10 Christi descensus ad inferos ist nicht biblisch verbürgt, dennoch (begünstigt v.a. durch das Apostolische und Athanasianische Credo: ‘hinabgestiegen in das Reich der Toten’) in Literatur und Bildkunst weitverbreitet. 3351 Übers. ‘Zelter’. Im Passgang sam ein schef enzelt gehendes Pferd (so Hartmann im ‘Erec’, v. 1439), besonders geeignet auf Reisen; lat. ambulator, dextrarius, gradarius palefredus (vgl. BMZ 3, 870). 3359 drîen. Der dritte ist der aus der Heimat mitgereiste loyale Kämmerer, als Inhaber eines der Hofämter (vgl. v. 1489–91 mit Anm.) selbst von hohem Adel. 3367f. Der Stand wird hier dem religiösen Bekenntnis nachgeordnet. Doch zeigt der Wert, den Wilhalm auf objektiv Äußerliches wie Zeremoniell, Standesebenbürtigkeit, Pracht und demonstrativen Reichtum legt, dass die schlichte Symbolik des Pilgerkleids, mit dem er ausgezogen war, von begrenzter Verbindlichkeit bleibt und dass im Gegenzug höfisch-fürstliche Werte auch im Legendengeschehen Raum greifen, gipfelnd im Taufakt. 3388 pate. Die Patenschaft dessen, der sich zuvor als geistlicher Ziehvater und Laienkatechet Wilhalms annahm, liegt nahe, zumal Wilhalm keine christlichen Verwandten hat. 3427 guldînen tor. Die biblische Porta Aurea in der östlichen Stadtmauer Jerusalems. 3434 poynder. Lanzenstechen zu Pferde, von frz. poindre < lat. pungere. 3436 Das Turnier in all seinen Kampfformen und -formationen ist Adelsprivileg (art/reht) und erhält im späteren Mittelalter zunehmend exklusiv-inkludierenden Charakter (einschlägig sind Modeerscheinungen wie Turnierbücher, Turniernachweise u.a.m.). Der geistliche Adel darf nicht selbst kämpfen, ist aber, hier bis zum Patriarchen, als Ausrichter und im Publikum präsent. 3446 Der Vers ist zweideutig und brisant: Vertritt der Patriarch im Orient Christus ranggleich mit dem Papst im Westen, oder ist er dort nur Repräsentant des Papstes? Letzteres entspräche dem Selbstverständnis der Kreuzfahrerstaaten, aber die Formulierung lässt beides zu. Der orthodoxe Patriarch in Kostantinopel spielt keine Rolle; die Stadt war im Zuge des vierten Kreuzzugs 1204 von den Lateinern erobert worden. 3470 Der Bezug des ersten im bleibt offen; auf den Patriarchen bezogen wäre zu verstehen: ‘wofür er ihn brauchen kann’; auf Wilhalm bezogen: ‘was seinem Stand ziemt’. 3471f. Zum Malertopos vgl. Wolframs ‘Parzival’, v. 158,14–16.
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3491f. Der höchste christliche Repräsentant im Heiligen Land ist hier eine uneingeschränkte Lichtgestalt, ganz gegen die von ‘Graf Rudolf’ über Ottokars von Steiermark ‘Akkonbuch’ bis zu Lessings ‘Nathan’ reichende Negativtradition. 3494 Das Einholen eines (zumal ständisch unterlegenen) Gastes ist ein Ehrenzeichen, das historiographische und fiktionale Texte gleichermaßen kennen; vgl. u.a. ‘Erec’ v. 8175ff., 10005ff.; ‘Wigalois’ v. 8646ff. 3523 ein Went. Der Volksname ist hier religiös entschärft; sonst heißen Wilhalms Landsleute meist Sarazenen. 3571–82 Die Digression in die ‘hohe Politik’ und ins Feindeslager umreißt den größeren epischen und historischen Kontext, in dem Wilhalms conversio sich vollzieht, und weist sein neues Rittertum als militia Christi aus. 3577 voget. Lat. advocatus, Schutzherr, hier Herrscher (einer Stadt und ihres Umlands). Als voget von Rôme wird in kreuzzugsepischem Kontext der (im ‘Wilhalm von Wenden’ nicht vorkommende) römisch-deutsche Kaiser bezeichnet. 3611–13 Der Ehrensitz für den heidnischen Gast ist demnach (auch) pragmatisch begründet. 3639 er. Auch hier schwankt mit dem Bezug des Pronomens die Aussage: Wilhalm oder der Patriarch? Die Übersetzung bietet eine Möglichkeit. 3658 dô toufte er in. Angesichts des Aufwandes, den er den Vorbereitungen, Vorgesprächen und Ritualsequenzen im Vorfeld widmet, geht der Erzähler über das Ereignis selbst, das doch Zielpunkt der conversio Wilhalms ist, erstaunlich kurz und desinteressiert hinweg. Höfische Repräsentation rangiert nicht nur hier vor Frömmigkeit. Bei der Taufe scheint nur wichtig, dass sie der Patriarch selbst im Beisein hoher Würdenträger an Wilhalm und seinem hocharistokratischen Gefolge vollzieht. 3674 westerbarn. Kompositum aus wester (Taufkleid; lat. vestis, vgl. nhd. Weste) und barn (Kind; mhd. bern, gebären). 3734 gotes hantgetât. Intertextueller Bezug auf Wolframs ‘Willehalm’, v. 306,27f. (Gyburcs sog. Schonungsrede: ‘hœrt eins tumben wîbes rât,/ schônt der gotes hantgetât’). Der Prätext prägt das moderate Heidenbild im ‘Wilhalm von Wenden’ insgesamt. 3762 Das auf das Gewand aufgenähte Kreuz kennzeichnet den Ritter als Pilger und miles Christi; vgl. auch v. 3824f. 3787 spitâl sant Jôhannes. Ritterorden der Johanniter. 3789 Ubiâne. Das christliche Nubien in Afrika; so auch in ‘Herzog Ernst’ D, v. 4401. 3798 jensît mers. ‘Jenseits des Meers’, meint im ‘Wilhalm von Wenden’ stets Outremer, das Heilige Land und die Kreuzfahrerstaaten der Levante, von afrz. oltre/outre mer. 3806 lebende heil. D.h. die Eucharistie. 3881 Heidnische Göttertrias, vgl. v. 2703 mit Anm. 3896–98 kemel, merrinder, dromedâr, olbenden. Die exotischen Tiere stehen für die Wunder des Orients, zugleich sind sie Ausdruck eines enzyklopädisch-gelehrten Erzählgestus, der im ‘Wilhalm von Wenden’ im zeitgenössischen Gattungsvergleich eher zurückhaltend bleibt; vgl. Herweg 2010, 220–237.
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3906 Als Sarrazîn wurden bislang Wilhalm und die Wenden bezeichnet; nun geht der Name auch auf die Muslime über, für die er episch üblich ist. Im ‘Wilhalm von Wenden’ steht er damit synonym für ‘Heiden’. 3921 vrâl. Der Titel, zeitgenössisch sonst nur in der anon. ‘Kreuzfahrt Landgraf Ludwigs’ bezeugt, scheint „eine hohe würde, namentlich bei den Sarracenen, zu bezeichnen“ (BMZ 3, 392). 3922f. Weitere arabisch-orientalische Amtstitel, z.T. mit Anklang an reale Würden (so amazzûr nach arab. al mansûr, ‘Sieger’), planvolle Exotismen in der Nachfolge Wolframs und orientalisierender Epik. 3956 Verligen ist seit Hartmanns ‘Erec’ ein Signalwort höfischer Epik; es bezeichnet die maßlose Minne, die die Standesehre unterminiert und den Artusritter Erec in eine tiefe Krise stürzt; im weiteren Sinn zielt es auf Müßiggang und ritterliche Passivität. 3958 Zur Tjost vgl. v. 304 mit Anm. 4025 vrou Bêne. Zum ersten Mal fällt hier nun der lateinische Eigenname der Protagonistin. 4052 besaz. Eigentlich ‘belagerte’; Minne und Krieg, amor und militia, verbinden sich metaphorisch seit der Antike. 4074–76 Mit dieser dritten Herrschaftszäsur setzt eine neue Handlungssequenz ein. Der Tod eines Fürsten ohne Erben ist in der Vormoderne stets krisenträchtig, weil transpersonale Behörden und Institutionen, die die Kontinuität der Herrschaft garantieren, noch fehlen und personale Bindungen mit dem ‘Herrenfall’ ihre Wirkung verlieren. Der ‘Wilhalm von Wenden’ entwirft im Fortgang ein idealtypisches Krisenszenario, in dessen Verlauf Krisenbewähltigungs- und Befriedungsoptionen verhandelt und ausgetestet werden. Vgl. Müller 1986; Herweg 2010, 377–403. 4103 stat. Gemeint ist die (wie im ‘Wilhalm von Wenden’ häufig) namenlose Residenzstadt des Landes, zugleich jene Hafenstadt, in der Bene und Wilhalm einst nach ihrem Auszug aus der Heimat angelangt waren. 4106–08 Das Gelübde ähnelt dem berühmten Ballhausschwur im Juni 1789, durch den sich die französischen Stände verpflichteten, nicht auseinanderzugehen, bis man dem Land eine Verfassung gegeben habe. Zu den komplizierten Beratungs- und Wahlverfahren im Anschluss vgl. im Detail Müller 1986. 4135 Übers. alternativ: ‘Ihr beeinträchtigt Euer standesadäquates Leben.’ 4154 Übers. ‘ernähren’. Alternativ: ‘am Leben halten, retten’. 4363 kranker wîbes name. In dem alsbald praktisch widerlegten Argument klingt das Schlafkammergespräch mit Wilhalm nach, in dem Bene die prekäre Rolle der Fürstin im männlich definierten Feudalverband grundsätzlich problematisierte; vgl. v. 1141ff., 1173/ 1258ff. mit Anm. 4371 ûf ructen. Eine Art Schilderhebung oder bildhaft für die Thronsetzung. 4383f. Lehnsrechtlich bedingt Herrenfall den Rückfall des Amts oder Lehens, daher ist Lehensbestätigung in diesem Fall zwingend. Im Spätmittelalter war freilich die Erblichkeit zur Regel geworden, so dass die Neubelehnung im Zeremoniell der Thronsetzung und Huldigung aufgehen kann.
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4388f. Vgl. v. 393 mit Anm. 4405–43 Benes Rede umreißt ein Regierungsprogramm, das zuerst die Rechts- und Finanzgrundlagen der neuen Herrschaft sichert. Die Unterscheidung zwischen alten Regalien und Neueinkünften aus Wirtschaft und Handel einerseits, zwischen städtischen und ländlichen Ertragsformen andererseits trägt der – für den höfischen Roman ganz neuen – Rolle des Geldes (neben Naturalabgaben) und der Ausbreitung neuer Formen der Staatlichkeit und Staatsverwaltung im Spätmittelalter Rechnung. Schon beim ersten Herrschaftswechsel im ‘Wilhalm von Wenden’ war die Finanzpolitik ein zentrales Thema (vgl. v. 361ff.). Die Modernität des Romans beschränkt sich also nicht auf die detaillierten Planspiele von Krisenmanagement und territorialer Willensbildung. Zum Geldmotiv vgl. auch Behr 1989, 183f. 4431f. Sprichwörtlich schon in Petrons Satyricon: Plane qualis dominus, talis et servus (‘wie der Herr so’s Gscherr’). 4441 Vgl. v. 2046–51 mit Anm. zu den Regalien. 4493–4512 saget, vrou Minne... Zwiegespräche des Erzählers mit der personifizierten Minne sind im höfischen Roman seit Hartmann so häufig wie fingierte Zweifel (des Erzählers oder des impliziten Publikums) und ihre Widerlegung. Meist geht es um die Aporien der höfischen Minne. In Ulrichs Passus legitimiert und initiiert der doppelte Zwischenruf (der erste vom Erzähler, der zweite ggf. aus dem ungläubigen Publikum kommend) einen umfangreichen Minneexkurs, der auf Hartmanns ‘Herztausch-Disput’ referiert (‘Iwein’, v. 2971–3028) und im Kern besagt, dass die Herzen der Liebenden trotz körperlicher Trennung vereint bleiben. 4547f. wîslich ahten, sinneclich betrahten. Anspielung auf die Fürstentugenden der sapientia und prudentia. 4549 ir muoter. Gemeint ist wohl die Wirtin (vgl. v. 4557), die sich Benes in tiefster Not wie eine Mutter angenommen hatte. 4553f. der frouwen nâchkomen. Wieder zielt die genealogische Ausstrahlung der Gründerherzogin auf das aktuelle Fürstenpaar Böhmens; vgl. v. 2–4 mit Anm. 4559f. Eine der raren kritischen Pointen gegen den scheinbar idealen (vgl. hier etwa v. 4558) Helden. 4596f. Das Hadern der ‘Heiden’ mit ihren Göttern ist ein kreuzzugsepischer Topos, der die geringe Bindekraft und das Reziprozitätsdenken der falschen Religion diskreditiert und ihr christliche Glaubensstärke und Märtyrergesinnung kontrastiert. 4601 Krist. Integriert in Benes Anruf der Heidengötter dürfte hier nicht Christus selbst, sondern der Christus-Name gemeint sein: Er war es, der Wilhalms Auszugswillen weckte. Bene ist noch weit entfernt von einer conversio, im späteren Bekehrungsgespräch reagiert sie zunächst sehr skeptisch (v. 6079f.). 4625f. Das instrumentelle Götterbild der Heidin schließt Christus mit ein. 4667–4718 Zur Funktion und Semantik des etymologisch-panegyrischen Exkurses im Ganzen vgl. im Nachwort, weiterführend Herweg 2010, 347–352. 4674 froun Guoten. Hier geht der etymologische Exkurs in einen Hymnus auf Guta, Gemahlin Wenzels II. von Böhmen und vielleicht Ulrichs eigentliche Auftraggeberin, über:
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Die fiktive Herzogin wird explizit auf die reale projiziert, und im Fortgang auch das fiktive Land Wenden auf das reale Mähren und Böhmen. 4677 Ulrichs Spiel mit dem Eigennamen Guta kann die Übersetzung nur andeuten. 4682 sîn. Das Pronomen ohne klares Bezugswort bildet wohl die Brücke zu Wilhalm bzw. Wenzel. 4692f. Otacker. Ottokar II., Vater Wenzels II., König von Böhmen (1253–78), starb am 26.8.1278 in der Schlacht auf dem Marchfeld gegen Rudolf von Habsburg. Er war Auftraggeber von Ulrichs ‘Alexanderroman’. Zur Etymologie des Guta- und Böhmennamens tritt hier für Wenzel die Genealogie, wobei nicht er selbst, sondern Ottokar im panegyrischen Fokus steht: Die wirde des Sohnes bleibt eine abgeleitete. 4709 Uolrîch von Etzenbach. Die Namensform ist durch beide Handschriften gedeckt; sowohl der stolze Ich-Gestus als auch die Reimpaarung konterkarieren den folgenden Demutsgestus: Ulrich sieht sich als würdiger Nachfolger Wolframs, was Gönner- und Fürstenpanegyrik angeht. 4710–15 Das Wolframlob ist selbstbewusste Ansippung an die große Tradition: Im Ganzen seiner Dichtung (der ‘Wilhalm von Wenden’ ist in vieler Hinsicht ‘Willehalm’Nachfolge) wie im stilistisch-konzeptionellen Detail (etwa des Heidenbilds) betreibt Ulrich imitatio und aemulatio des Vorbilds. Für Landgraf Hermann (1181/90–1217) schrieb Wolfram den ‘Willehalm’ (um 1217; vgl. v. 3,8/417,22). Hier indes wird schon der mystifizierte Sänger des ‘Wartburgkrieg’-Fürstenlobs (mit)gemeint sein. 4731–34 Hinter dem brautwerbungstopischen Vasallenrat stehen zwei bereits vertraute Motive: die unterstellte Schwäche weiblicher Herrschaft und die Furcht vor einem Tod ohne Erben. Beides droht in Anarchie und Feudalkrieg zu münden und steht damit dem Landesinteresse entgegen. 4759 sie. D.h. der Bote und die schon anwesenden Räte. 4773–75 Übers. in freier Paraphrase: Die Räte sind erleichtert über Benes Antwort, weil sie darauf vertrauen, dass Benes künftiger Gemahl mit ihr gemeinsam ihr Land regieren werde. – Sie ahnen nicht, was Bene weiß, dass der Gemahl bereits Fürst eines anderen Landes ist und Bene ihm dorthin folgen würde. 4792 Binnen weniger Verse ein großer Zeitsprung über vier Jahre; solche Zeitangaben sind für den Schluss bedeutsam, wo sie sich auf eine über 24-jährige Gesamtabwesenheit des Herrscherpaars summieren (v. 6970/7918). 4822–76 Ein weiterer der die Romanstruktur prägenden katechetischen Lehrdialoge; er betrifft Christi Präsenz in der Eucharistie und leitet direkt in den Kreuzzugsbericht über. 4927 gezimieret. Das Zimier ist ein figürlicher Helmaufsatz des Turnierritters, der mit Helm und Schild zusammen das Wappen bildet, wie es etwa die Miniaturen des ‘Codex Manesse’ (UB Heidelberg, cpg 848) zeigen. 4970 Wilhalm. Da der zuvor anonyme Konvertit hier mit Namen genannt ist (vgl. auch v. 4995), müsste spätestens jetzt auch Bene wissen, was der Rezipient von Beginn an weiß, nämlich um wen es sich bei dem Kreuzritter handelt. 4990 kondewieret. Von lat. conducere/frz. conduire (führen), vielleicht in Anklang an Parzivals Gemahlin Condwiramurs.
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5029 ze vuoze ... ritterlîchen strît. Eigentlich eine contradictio in adiecto: Ein Ritter-, d.h. Reiterkampf zu Fuß ist schier unmöglich, hier also höfisch-übertragen gemeint. 5034f. Vgl. zum Zimier v. 4927. 5055f. unbewart, niht nâch ir art. Wieder eine Pointe gegen Wilhalms Handeln als Vater und als Fürst. Als intertextuelle Folie ist Wolframs ‘Willehalm’ denkbar, wo dem Heidenprinz Rennewart ein ähnliches, aber explizit nicht durch Vater und Angehörige verschuldetes Schicksal widerfährt. 5076–78 wunder wundern. Das Wortspiel lässt sich kaum übersetzen, da mhd. wunder nicht nhd. ‘Wunder’ meint, sondern das Außergewöhnliche, Wundersame. Ähnlich, doch noch ambitionierter als Ulrich preisen die Spruchdichter Reinmar von Zweter (Roe 231) und Rumelant von Sachsen (I,11) den göttlichen wunderer. 5097–5104 Die ‘böse Stiefmutter’ ist ein typisches, hier analog zu den Ausgesetzten gedoppeltes Märchenmotiv. 5120–23 Die Scheltrede der Ziehmutter folgt Hartmanns ‘Gregorius’, v. 1306ff., mit markanten Abweichungen: Dort geschieht sie in Gregorius’ Abwesenheit und artet nicht in Tätlichkeiten aus. Auch erfährt Gregorius im Anschluss vom Abt des Inselklosters seine höfische Herkunft, während die Zwillinge darüber noch lange im Unklaren bleiben und in der Folge noch tiefer fallen. Die für einen der beiden erzählte Szene ist gedoppelt zu denken (vgl. v. 5189f., 6639f.). 5145 villân. Von frz. vilain < lat. villanus, Bauer (vgl. v. 1493). 5189 Die extreme Unwahrscheinlichkeit des exakt gleichen Geschicks zweier getrennter Brüder verlangt nach forcierter Bekräftigung. 5210 vrou Sælde. Personifikation des göttlichen Heils und der göttlichen Gnade, die über der Familie walten. Als Instanz der Transzendenz grenzt sie das ‘Wilhalm von Wenden’-Geschehen vom Wirken der blinden Fortuna ab, das den strukturanalogen hellenistischen Roman bestimmt (vgl. auch v. 6690). 5213 stat ze Lunden. Lund (Schweden) oder London. Für die skandinavische Bischofsstadt mag die spätere Völkertaufe durch einen norwegischen Bischof sprechen (vgl. v. 8159f./8206; dazu Hirt 2012, 70); doch favorisiere ich London wegen der wahrscheinlichen Anleihe Ulrichs bei der englischen Herrschaftskrise im ‘Guten Gerhart’ Rudolfs von Ems, die in Lunders spielt (vgl. dort v. 5261/69; diu Lundenne heißt ebd. die Themse, v. 5262). Die Ortsnamen im ‘Wilhalm von Wenden’ sind nicht fiktiv wie in der Artusepik, spielen aber für die exemplarische Handlung und providenzielle Sinngebung des Erzählten auch nicht eine heroischer Epik vergleichbare Rolle. 5329f. Der Satz ist entweder allgemeindidaktische Parenthese oder konkret auf das Zwillingspaar gemünzt, das in tiefster Depravation seine Würde wahrt. 5238 Übers. alternativ: ‘Meine Heimat ist mir unbekannt.’ 5495 Honestus. Erneut ein verzögert eingeführter, zugleich wie bei Bene sprechender Name (vgl. v. 5497). In der Regel vertritt im ‘Wilhalm von Wenden’ der Titel/die Funktion (König, Fürst u.a.) den Eigennamen. 5498–5517 Die Kinder bleiben im Erzählgeschehen, was sie von Beginn an waren: eine Ware, die ungefragt Besitzer oder Gebieter wechselt. Und wie sich bald zeigt, ist die
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Erhebung in den Königsdienst kein Schritt zum Wiederaufstieg, sondern Medium gesteigerter Fallhöhe. Doch hinter allen Wechselfällen stehen, auch dies soll ihre Vita zeigen, sælde und der wunderer Gott. 5536f. Zu den Hofämtern vgl. v. 1489–91 mit Anm. 5621f. binnen dem jâr. Intertextueller Verweis auf Hartmanns ‘Iwein’ und Vorausdeutung auf das Terminversäumnis. 5644 sunderlîche. D.h. hier: eigenständig, aus eigenen Mitteln. 5681f. Vgl. Hartmanns ‘Iwein’, v. 3082–87. 5702 Epische Vorausdeutung auf künftiges Geschehen; das Stilmittel mindert die Was-Spannung und steigert zugleich die Neugier auf das ‘Wie’; in Vortragsdichtung zugleich wichtiges Instrument der Aufmerksamkeitssteuerung. 5704 ir muoter. Wieder ein wundersamer Zufall, der die providentielle Regie hinter dem Geschehen enthüllt. 5709 Der Erzähler neigt zu sentenzartigen Kommentaren, vgl. auch schon v. 5656–58, 5689f.; hier ist die Sentenz ein Wolframzitat: unkünde dicke unminne sint (‘Parzival’, v. 351,13). 5746 er. Das Pronomen ist, wie im ‘Wilhalm von Wenden’ häufig, bewusst doppeldeutig: Christus und/oder der erhoffte neue Dienstherr? Die Folgeverse lassen eher an Christus denken. 5775–78 Ein antihöfischer, ja amoralischer Argumentationsgang, der der Adelsethik des Textes zuwiderläuft und durch die religiöse Scheinrechtfertigung nur oberflächlich relativiert wird. Wie immer wieder bei Wilhalm scheint mir auch hier ein bewusster Irritationsappell gesetzt, der die ethischen Grenzen des Legendendiskurses offenbart. 5787 frechem. Die nhd. Negativbedeutung (dreist, herausfordernd) ist im Mhd. noch sekundär und passt hier nicht zur Entlastungsstrategie des Erzählers. 5794 in sîner schrifte. Vgl. den globalen Quellenvermerk im Prolog, v. 80ff. 5833–46 Vgl. v. 6265–72. Die Beschreibung eines undurchdringlichen Urwaldes muss der Darstellung des gleichen Waldes bei Benes und Wilhalms Flucht (v. 2167–71) nicht widersprechen; immerhin hatte die Durchquerung auch da acht Tage in Anspruch genommen und kumber und arebeit gekostet. Dass die Natur in der Räuberepisode nicht höfisch domestiziert, sondern mit Unordnung und Gewalt assoziiert ist, darf aber mit Behr (1989, 182) als signifikant gelten: Raum konstituiert sich im ‘Wilhalm von Wenden’ situativ und symbolisch, nicht real-topographisch. 5865 wurben umb ir nar. Euphemistische Umschreibung des Räuberlebens; erneut kollidieren Legendenethik und politisch-höfische Ethik. 5869 ir selber lande. Gemeint ist das väterliche Herzogtum. 5891 Mhd. selbe vierde heißt wörtlich: ‘er selbst als vierter’. 5893 Die folgende Analepse knüpft direkt an Wilhalms Palästina-Sequenz an, die in v. 4026 mit pointierter Zäsur, Schauplatz- und Protagonistenwechsel unterbrochen worden war. 5960f. bleich unde rôt. Ein topisches signum amoris, v.a. im Minnesang und höfischen Roman.
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5964 vor ir. Hier vom Kontext her nur räumlich zu verstehen: ‘am Tisch ihr gegenüber’ (vgl. auch v. 5996). 6028–44 Der Erzähler versucht, die legendenhafte Unwahrscheinlichkeit der stark verzögerten Anagnorisis rationalisierend zu überspielen: Bene erkennt ihren Gemahl nicht, weil sein Haar altersuntypisch grau geworden war (vgl. v. 5941); Wilhalm findet Bene zwar exakt da, wo er sie zurückließ, müsste also mit ihr rechnen, aber ihr neuer Status und die Folgen eines Stadtbrandes trüben seine Sinne. 6059f. Das Verspaar liefert die klassische Anbahnung eines katechetischen Lehrdialogs, an dessen Ende eine weitere conversio steht. 6088 Zu Outremer vgl. v. 3798 mit Anm. 6121–26 Bene schildert die heidnische Religion bereits christlich ‘akkulturiert’. 6170 Altissimus. Lat. ‘der Höchste’, vgl. Wolframs ‘Willehalm’, v. 100,28, 434,23, 454,22. 6237f. gar zühteclîchen... Dass der Erzähler den Anschein erweckt, als handele es sich um ein unverfängliches Gespräch, weckt Argwohn; tatsächlich testet hier ja ein Landfremder die Verschwiegenheit eines Vertrauten der Landesherrin aus. 6250 süezen muote. Nochmals enthüllt die Betonung von Wilhalms guter Absicht die herrschaftsdiskursive Problematik seines Tuns: Durch subalterne Dritte sucht Wilhalm die Landfriedenspolitik der Fürstin seines Gastlandes zu hintertreiben. 6440 gotes fride. Ob es sich hier um eine religiöse Gruß- und/oder Segensformel (‘pax vobiscum’) oder schon um eine bindende Zusage (Gewährung des ‘Gottesfriedens’, Verzicht auf Strafmaßnahmen) handelt, bleibt offen. Im letzteren Fall ginge Wilhalm über sein Mandat hinaus. 6460 hôhen vunt. Vgl. v. 6405. 6467f. gedrîet ... wan ein. Die Trinitätsassoziation ist durch Wolframs ‘Parzival’, v. 752,8–10, inspiriert. Als imitatio (und Kontrafaktur) der Heiligen Familie ist die Protagonistenfamilie seit der Geburtsszene (v. 2200ff.) angelegt. 6513/25–54 Wilhalm argumentiert zunächst allgemein (standes-)ethisch, im Fortgang aber ganz als der Landesherr, der er war und wieder sein wird. Insofern leitet der Botengang Wilhalms Rückkehr in die von ihm selbst preisgegebene Stellung ein, wiewohl noch im fremden Land. 6566 Boizlabe, Dânus. Beide Namen fallen hier bzw. in v. 6636 erstmals. Bisher waren die Zwillinge namenlos und biographisch austauschbar (vgl. v. 6639f.). Beides, fehlender Name und fehlende Identität, endet in dem Moment, in dem der Vater sie noch unerkannt in die Rechts- und Hofgemeinschaft zurückholt und in ihrem zuvor entrissenen Status restituiert (vgl. mit anderem Akzent Hörner 2004). Dânus (lat. Däne) spielt wohl auf die spätere Expansion Wendens an (v. 8278), Boizlabe ist Nebenform zu Wenz(es)labe/Wenzel, was in der (frühen) Forschung wiederholt Kurzschlüsse vom Romangeschehen auf die historische Realität provoziert hat: 1289 gebar Guta von Habsburg die Zwillinge Agnes und Wenzel (später Wenzel III. von Böhmen). Doch das Bruderpaar gehört schon der Stofftradition an (‘Guillaume d’Angleterre’: Lovel und Marin). 6636 Dânus. Vgl. v. 6566 mit Anm. 6690 frou Sælde. Vgl. v. 5210 mit Anm.
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6745f. Der rât ist zwingend für den consensus omnium, zumal er zuvor das Landesaufgebot mitbeschlossen und mitgetragen hatte. Dass die Herzogin hier eigentlich lieber gleich ihrem eigenen Willen folgte, macht deutlich, wie rechtskonform sie ihr Amt versteht und führt – wieder gegenbildlich zu Wilhalm. 6810 jungiu ist formelhaft zu verstehen, tatsächlich ist Bene zu dieser Zeit 41 Jahre alt, wenn man die Angaben v. 7007, 7013 und 7918 zusammenliest. 7007 under vünfzehen jâren. Eine juristische Volljährigkeit kennt das Mittelalter nicht; mit 14 Jahren war aber üblicherweise die Heirats- und Ritterfähigkeit (Schwertleite) erreicht. 7038 gewende. Vgl. v. 2179 mit Anm. 7059 sorgen mande. Die unfreiwillige Ironie im Fürsorgemotiv für den Verkauf der Söhne wird angesichts der weiteren Geschicke auch zeitgenössischen Hörern nicht entgangen sein. 7071f. vester muot ... verzagen. Die nicht wortgetreu übersetzbare Aussage impliziert wohl leise Kritik. 7114f. kranken werlde ... îs zergêt. Ein im ‘Wilhalm von Wenden’ eher untypischer Zug von contemptus mundi, der für Konversionslegenden typisch ist und den abschließenden, allerdings sehr moderaten Weltrückzug Wilhalms und Benes vorbereiten mag (v. 8283– 85). Vgl. Biesterfeldt (2004a, bes. 224f.). 7187–89 Bene denkt hier an die Vasallen, die einerseits dringlich ihre Heirat wünschten, andererseits den Religionswechsel mittragen und mitvollziehen müssten. 7323f. von iu die kraft ... von mîner hêrschaft. Amtsgewalt und autogene Rechte des adligen Grundherrn sind hier klar unterschieden. Beide fließen in seiner Autorität gegenüber Vasallen und Hintersassen zusammen. 7357f. Unmittelbarer Übergang von indirekter zu direkter Rede, ein Stilmerkmal heroischer Epik, ist im höfischen Roman selten. 7380 sie. Das Pronomen kann doppelsinnig Empfangende wie Empfangene meinen. 7401 Lexikalisch möglich ist auch das Gegenteil (‘verzichtete auf Kostbarkeiten’), der Sinn entscheidet. 7412f. Apokoinu (vgl. v. 1176–79 mit Anm.). 7513 ir läßt sich auf Bene oder auf ihre Eltern beziehen. 7559 marschalc. Eines der Hofämter (vgl. v. 1489–91 mit Anm.), für die Pferde, daneben wie hier für Belange der Hofverwaltung und -logistik zuständig. 7638 Mhd. geveitieren, ‘ausschmücken’. 7644 Zu zimier vgl. v. 4927 mit Anm. 7647f. Das gleiche Wappen, einen Adler in Gold und lâsûr (Lapislazuli), trägt in Ulrichs ‘Alexander’ der makedonische Held Permenio (v. 5675). 7650 covertiur. Pferdedecke, afrz. coverture. 7692–95 Die Episode folgt Wolframs ‘Parzival’, v. 36,6–10. 7705–10 Reflex des Minnerittertums, das in höfischer Epik auch und gerade ‘Heiden’ (üblicherweise Muslimen: v. 4990–92) zuerkannt wird und eine Entschärfung des Religionsgegensatzes bewirkt, so v.a. in Wolframs ‘Willehalm’.
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7738 Dem kollektiven Turnier geht die Einzeltjost (v. 7712/34) voran; vgl. Bumke 1986, 342–379, hier 360–365. 7806 truhsæzen, schenken. Die für Versorgung und Verpflegung zuständigen Hofämter; vgl. v. 1489–91 mit Anm. 7812–14 Preis des Auftraggebers Wenzel II.; vgl. v. 2–4 mit Anm. 7848–51 Apokoinu (vgl. v. 1176–79 mit Anm.). 7873f. Der Kindsverkauf ist so unerhört, dass er für Benes intra- und Ulrichs extradiegetisches (in beiden Fällen höfisches) Publikum der Augenzeugenanrufung bedarf. 7877f. Die sentimentale Rückblende wirkt erneut heldenkritisch, gerade weil Bene dies gar nicht bezweckt. Die von ihr aufgerufenen Fakten sprechen für sich. 7935–43 Wilhalms abgeklärte, zuletzt schroffe Reaktion auf Benes noch in der Rückschau quälende Rede ist im Sinne der Legendenlogik alternativlos. Doch bricht sich wieder eine zweite, ebenso gültige Logik Bahn, die von Minne, Dynastie und Landeswohl handelt und den Protagonisten ins Zwielicht rückt. 7972 Die Übersetzung versucht den Sinn zu fassen; vielleicht auch: ‘da sieht man manches sonst fremdartige Gebaren’. 8059–64 Die triumphale Zerstörung der überwundenen Kultbilder ist ein Leitmotiv in Kreuzzugs- und Chansonepen sowie Bekehrungslegenden. 8116 Die Elemente und die Windrose stehen für die materielle und räumliche Totalität des Kosmos. 8131–33 Apokoinu (vgl. v. 1176–79 mit Anm.). 8164 drîn landen. Nämlich Wilhalms Geburts- und Erbland Wenden und die namenlos bleibenden Nachbarländer der Schwiegereltern und Benes (Exilland am Meer). Sie bilden religiös, sprachlich und geographisch eine Einheit und sind als Teil der slawischen Welt gedacht. 8201f. ê ouch dicke. Der Hinweis bestätigt frühere Erzählerkommentare über die ideale Minne zwischen beiden, so dass es in dieser Hinsicht keinerlei Zäsur oder Wertdifferenz zwischen der vorchristlichen und christlichen Lebensphase gibt. 8243 münster. Lehnwort zu lat. monasterium, Kloster. 8246–52 Die Verse enthalten die einzigen historischen Namen des Romans. Der einzige Papst mit Namen Cornelius (vielleicht nach der altrömischen gens der Cornelier) amtierte 251–253 n. Chr. unter Trebonianus Gallus. Kaiser Alexander Severus (222–235) wurde 18 Jahre früher bei Mainz von meuternden Truppen erschlagen. Trotz dieses (nur bei quellenkritischer Lektüre erkennbaren) Anachronismus sind die Namen für die Beglaubigung des fiktiven Romanplots als Legende und Heilswahrheit wichtig, was der Quellenhinweis untermauert. Das gilt auch für den weniger leicht zu identifizierenden Bischof Albanus. Bezüge gehen auf den 406 enthaupteten Hl. Albanus von Mainz und den Märtyrer Albanus von Verulam (St. Albans), der nach Beda um 303 starb. Nimmt man die norwegische Herkunft wörtlich, wäre auch an den Bruder der Hl. Sunniva zu denken, der im 10. Jh. mit seiner Schwester Exil und Martyrium teilte, ohne dann aber nennenswert an ihrem Heiligenruhm zu partizipieren. Hansekontakte könnten den Namen über See getragen haben. Im Zweifel ist der Name aber doch wohl fiktiv, vielleicht wie andere auch sprechend (albus, ‘weiß’).
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8255 sie. Ob damit alle Landfremden oder nur Wilhalm und Bene (und ihre Eltern) gemeint sind, bleibt unbestimmt. 8282 Yberne. Der epischen Geographie und Lautgestalt nach Irland (Hibernia), nicht Spanien (Iberia). 8283–85 Der Weltrückzug (Moniage) vollzieht sich hier in entschärfter, v.a. aber: politisch kompatibler Form; von radikaler conversio, gar contemptus mundi kann keine Rede sein. Für die Nachfolge ist gesorgt, und als Klausner bleibt Wilhalm den Söhnen lebenslang politischer Berater und Helfer. Zum Motivkontext vgl. Biesterfeldt (2004/2004a). 8294–8358 Der Epilog wendet sich im Gestus der Fürbitte und in blümender Diktion an die Gottesmutter und schließt damit an den Prolog an. 8304 Wenzeslaben, Guoten. Neben der himmlischen Adressatin schließt das irdische Gönnerpaar den Bogen: Wenzel II. und Guta von Habsburg (der Eigenname scheint statt des hs. der guoten sicher); vgl. v. 2–4 mit Anm. 8312 salmen Êructâvit = Ps 44 (45). 8327 Der brevitas-Topos verbindet sich mit einer Anregung, die im ‘Wilhalm von Wenden’ angebahnte Generationenstruktur weiterzudenken oder weiterzuerzählen, virtuell womöglich bis zu Wenzel und Guta. 8338–42 Vgl. Ps 22 (23), 4. 8354 sant Bernhart. Vgl. v. 3083/93 mit Anm.
Nachwort Ulrich von Etzenbach: Dichter und Werk Mit Rudolf von Ems (gest. um 1254) und Konrad von Würzburg (gest. 1287) sticht Ulrich aus der relativ großen Zahl epischer Dichter nach der höfischen ‘Blütezeit’ um 1200 und vor Ausklang des höfischen Versromans um 1320 heraus.1 Er verfasste einen umfangreichen Alexanderroman mit späterem, allegorischem Anhang und den ‘Wilhalm von Wenden’. Mit den beiden genannten Kollegen verbindet ihn nicht nur der beachtliche Umfang seines Œuvres. Auffälliger und wichtiger ist, dass alle drei im Gefolge der höfischklassischen Literatur wieder planvoll an vor- und frühhöfische Genres wie die Bibelepik und die Legende anknüpfen, dass alle drei zu großen ‘Erzählsummen’ mit didaktischwissensvermittelndem Anspruch neigen und dass alle drei historische Stoffe ins Zentrum ihres Schaffens stellen. Es ist gewiss kein Zufall, dass das jeweils umfangreichste Werk aller drei Autoren biblisch-antikem Geschehen gewidmet ist: dem Makedonenherrscher Alexander bei Ulrich, der biblisch-jüdischen Geschichte mit ihren antiken Nebensträngen, darunter besonders Troja, bei Rudolf (der zudem gleichfalls einen Alexanderroman schrieb), dem Trojanischen Krieg bei Konrad. Rudolfs ‘Alexander’ war noch ein, wiewohl gewaltiger, Torso geblieben. Ulrich dagegen weitet die Summa des Stoffes – eines Stoffes, der von den Ursprüngen her zum Enzyklopädischen neigt, da ihm eine Vita zugrundeliegt, die fast die gesamte antike Welt erfasst – in seinem ‘Alexanderroman’ (28000 Verse) zu einem monumentalen Kompendium des geo- und ethnographischen Wissens seiner Zeit.2 Er führt damit jene matière, mit der der volkssprachige Roman im Französischen wie im Deutschen um 1120/30 überhaupt einsetzte, auf ihren quantitativen wie qualitativen Gipfel: Kein früherer und späterer Alexanderroman ist so sehr auf Vollständigkeit, Detailfülle, ja Redundanz angelegt wie der Ulrichs. Und während Rudolfs Torso noch vor Alexanders Feldzug nach Indien mit den dort angesiedelten Orientwundern abbricht, widmet Ulrich gerade dem Eroberer und Erforscher des fernen Ostens sein besonderes Interesse. Der später entstandene, nur lose mit der verbürgten Alexandergeschichte verknüpfte ‘Anhang’ (2100 Verse) fügt dem Herrschaftsexempel eine politische Allegorie hinzu, die die monarchische Konzeption des Romans im Sinne adliger Partizipation revidiert: Der Welteroberer kann die belagerte Stadt Tritonia nicht mit Gewalt unterwerfen, wie all die Städte, Völker und Reiche des vorangehenden Romans, sondern muss sie durch Verhandlung, Vertrag und Konsens gewinnen. Ulrichs zweiter, deutlich kürzerer Roman, der ‘Wilhalm von Wenden’ (8358 Verse), steht chronologisch und konzeptionell zwischen den beiden Alexander-Dichtungen. Auf den ersten Blick ganz auf das fürstliche Heldenpaar angelegt, spielt auf den zweiten der Adel ihrer Länder eine, über weite Strecken sogar die entscheidende Rolle. Er trägt erheb|| 1 Orientierend zum Autor vgl. Behr, ²VL 9/1995, Sp. 1255–1264. 2 Vgl. u.a. Hartmut Kugler 1996/2000, Markus Stock 2000/2003, Angelika Zacher 2009.
DOI 10.1515/9783110291858-004
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lich zur Landesidentität und zum Landeswohl bei, durch Rat und Hilfe im Normalzustand, als loyaler Sachwalter der Krone in dynastischen Krisen und Notsituationen. Der Adel kann ein herrenloses Land durchaus in ruinöse Feudalkriege stürzen, er kann aber auch über mehrere Jahrzehnte ohne Fürst für Frieden und Wohlstand bürgen. Der trotz mehrerer Handlungsstränge und eines stark hervortretenden Erzählers relativ konzise erzählte Roman stellt sich ebenfalls in eine illustre Reihe, die aber generisch lockerer und unbestimmter ist als die Alexander- bzw. Antikenepik. Das auffälligste intertextuelle Signal setzt hier der Protagonistenname, der mehrere Texte verbindet, ohne dass diese stofflich unmittelbar aufeinander bezogen wären: Guillaume, Wilhalm/Willehalm oder Wildhelm. Die einschlägigen Texte reichen vom späten 12. bis zum beginnenden 14. Jahrhundert. Sie partizipieren an unterschiedlichen Genre- und Stofftraditionen. Chrétiens ‘Guillaume d’Angleterre’, der ‘Willehalm’ Wolframs von Eschenbach, der Willehalm-Binnenplot des ‘Guten Gerhart’ und der ‘Willehalm von Orlens’ Rudolfs von Ems, Ulrichs ‘Wilhalm von Wenden’ und Johanns von Würzburg ‘Wilhelm von Österreich’ markieren die zentralen Wegmarken. Affinitäten zeigt dieses sonst heterogene Corpus im Heldenkonzept: Die Protagonisten sind (werdende) Landesherren, Liebende, dynastisch Werbende. Ein Fluchtpunkt der narrativen Logik ist im Gefolge vorhöfischer Brautwerbungsepik stets die dynastische Ehe. Die Handlung spielt in ‘realfiktiven’ Geographien, namentlich rund um das Mittelmeer (Südeuropa und Kreuzzugswelt) und die Nordsee (Frankreich, England, Skandinavien), und in historisch fixierten Zeiten. Die Raumsemantik ist politisch-geographisch grundiert, die Figuren sind eingebettet in feudale Strukturen, überschreiten naturräumliche Grenzen, spielen mit den ‘Spielregeln’ (Gerd Althoff) zeitgenössischer Politik. Was sie tun, hat daher stets weitreichende Folgen für ihre Verbände. Die für Antikenroman und Chanson de geste originäre Nähe zur Historiographie besteht damit, im Unterschied zur deutschen Artusepik, auch hier. Sie wird von einem ausgeprägten Quellen- und Wahrheitsdiskurs untermauert. Text- wie reihentypisch wiederkehrende Plots sind durch Ausfahrt und Heimkehr, vor allem aber durch lange Absenzen des Protagonisten fern der Heimat und abenteuerliche Werbe- und Questereisen bestimmt. Auch wenn das glückliche Ende durch eine ausgeprägte ‘Motivation von hinten’ (Clemens Lugowski) garantiert ist3, sind die Stoffe alles andere als konfliktarm. Sie erzeugen oft bis an die Grenzen der Aporie getriebene Diskurskollisionen: Dynastische Herrschaft, erotische Liebe und religiöse Askese stehen im Widerstreit, führen in individuelle und politisch-soziale Krisen, gipfeln in Krieg und Gewalt. Doch werden die Aporien nicht diskursiv, sondern narrativ verhandelt und in Planspielen kasuistisch-variantenreich ausgetestet. Eine mit dem Protagonisten sympathisierende Erzählregie versucht zwar, die Brüche zu kaschieren und das Unerhörte zu entschärfen, doch dies gelingt nur auf der Oberfläche, zumal der Erzähler selbst nicht konsistent spricht und Handlung und Kommentar mitunter so weit auseinanderdriften lässt, dass letzterer zum Irritationssignal wird. Dem harmonischen Ende haftet daher
|| 3 Dies ist zumindest die Regel. Der ‘Wilhelm von Österreich’ bildet eine bemerkenswerte Ausnahme: Er endet für den Protagonisten tödlich.
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meist etwas Unbefriedigendes, aufgrund der Vorgeschichten aufgesetzt Wirkendes an. Dies gilt für einige Texte der skizzierten Reihe, und auffällig auch für den ‘Wilhalm von Wenden’. Die Katastrophe bleibt als mehrfach abgewiesene Alternative im Blick.
Indizien zu Stand und Bildung Ulrichs Den Dichter- und Herkunftsnamen Uolrîch von Etzenbach bezeugen seine beiden Romane. Auf die böhmische Heimat deuten Sprach- und Textindizien wie im ‘Alexander’ die Quellennotiz (v. 27597ff.), im Wendenroman der landespanegyrische Exkurs (v. 4699ff.). Da ein Etzenbach in Böhmen zur Zeit Ulrichs nicht belegt ist4, könnte er selbst oder seine Familie den Herkunftsnamen erst dorthin mitgebracht haben. Das Œuvre ist aufs engste mit der Geschichte Böhmens und des böhmischen Hofs im späteren 13. Jahrhundert verbunden. In den Romanen werden Přemysl Ottokar (Otakar) II. (1253–78), sein Sohn und Nachfolger Wenzel (Václav) II. (1278–1305) sowie dessen Gemahlin Guta (Jutta/Juditha), Tochter des römisch-deutschen Königs und Ottokargegners Rudolf von Habsburg, als Gönner und Widmungsempfänger genannt und in mehreren Exkursen hymnisch gepriesen. Der ‘Alexander-Anhang’ dagegen entstand im Auftrag des böhmischen Magnaten Borso II. von Riesenburg (1295/1312 urkundlich belegt), was die oben erwähnte, vom ‘Alexander’ abweichende herrschaftsdiskursive Ausrichtung erklären mag. Was man heute über den Dichter weiß oder zu wissen glaubt, ist zeittypisch wenig und beruht auf den Selbstaussagen in Ulrichs Werk. Diese freilich sind stets schon Teil der Erzähler-Inszenierung und daher nicht unbedingt zum biographischen Nennwert zu nehmen. So könnte Ulrichs Gönnerpreis durchaus auch nur Profilierungsstrategie sein. Keine Urkunde bürgt ja für Ulrichs Hofbindung. Andererseits setzt ein so umfangreiches episches Œuvre jahrelange Unterstützung voraus, so Kost und Logis, Schreibmaterial, gegebenenfalls Schreiber und Korrektoren, die Vermittlung der nötigen Quellen; dazu ein primäres höfisches Publikum, das an dem Werk interessiert war, ein Resonanzraum, der die Fülle an intertextuellen Bezügen erklärt. All dies ist für Ulrichs Zeit nur an wenigen institutionellen Zentren denkbar. Daher besteht, selbst ohne letzte Sicherheit, wenig Grund, an Ulrichs Tätigkeit für den Prager Hof in den 1270er bis 1290er Jahren zu zweifeln. Möglicherweise ähnelte seine Stellung in Prag derjenigen, die eine Generation vor ihm Rudolf von Ems (übrigens auch er ohne urkundlichen Beleg) am Hof der deutschen Staufer innegehabt haben dürfte: ein Hofepiker, der vielleicht auch in der Kanzlei und anderen Hofämtern wirkte. Ulrichs Werk jedenfalls reflektiert die Interessen des Prager Hofs und der böhmischen Dynastie in ähnlicher Weise wie Rudolfs Spätwerk die König Konrads IV. und seines Umfelds.
|| 4 Vgl. die Aufstellung bei Rosenfeld 1957, XXf.
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Aus dem Werk lässt sich für den Dichter auf eine solide lateinische Bildung schließen. Als Vorlage für den ‘Alexander’ wählte er signifikanterweise nicht eines der spätantikmittelalterlichen Derivate des hellenistischen Alexanderromans des Pseudo-Kallisthenes, wie es, direkt oder über Zwischenstufen, die meisten volkssprachigen Epiker vor und nach ihm taten. Ulrich nutzte auch keine der bereits vorliegenden deutschen Bearbeitungen (die Fassungen Lambrechts, Bertholts von Herbolzheim, Biterolfs, Rudolfs von Ems). Vielmehr griff er auf die ‘Alexandreis’ Walters von Châtillon zurück, ein in Sprache und Form anspruchsvoll antikisierendes Epos, das um 1184 auf Basis des antiken Alexanderbiographen Curtius Rufus entstand. Letzteren hatte auch schon Rudolf von Ems neben dem hellenistischen Roman als Quelle für Teile seines Alexander-Torsos genutzt. Zur Latinität treten bei Ulrich, auch hier Rudolf und Konrad vergleichbar, umfassende Kenntnisse der ‘klassischen’ höfischen Epik in einem breiten stofflich-generischen Spektrum. Ulrichs Hauptvorbild ist Wolfram von Eschenbach. Dessen Dichtungen sind dem Dichter so präsent (und in seinem Werk so omnipräsent), dass der ‘Alexander’ mitunter sogar als Wolframs Werk galt und eine Redaktion Ulrichs Selbstnennung durch Wolfrat von Eschebach ersetzt. Der Prolog zum ‘Wilhalm von Wenden’ wirkt über weite Strecken wie eine Adaptation des Wolframschen ‘Willehalm’-Eingangs.5 An anderer Stelle wird Wolfram als Vorbild für rechten Fürstenpreis beschworen (v. 4710ff.). Von Wolfram inspirierte Metaphern und Sprachformeln sind so häufig, dass der Stellenkommentar der Ausgabe sich auf die auffälligsten beschränken muss. Daneben stechen Motiv- und Strukturanleihen bei Hartmann (Erecs Verligen, Iweins Fristversäumnis, Gregorius’ Geschick bei den Pflegeeltern), Rudolf von Ems (aus dem ‘Guten Gerhart’ die Fürstenwahl in Benes Exilland; die generische Affinität zum ‘Willehalm von Orlens’ wurde schon angesprochen), Gottfried von Straßburg und den Minnesängern ins Auge. Der ‘rote Mund’ wird in der Nachfolge Gottfrieds von Neifen geradezu zum pars pro toto der Protagonistin im ‘Wilhalm von Wenden’.
Der Prager Hof als ‘Sitz im Leben’ Im späten 13. Jahrhundert gab es „keinen Fürstenhof in Deutschland, der sich als Mittelpunkt der Dichtung mit Prag hätte vergleichen können.“6 Zahlreiche deutschsprachige Epiker und Spruchdichter stehen mit der böhmischen Dynastie in Verbindung.7 Das Mäzenatentum Ottokars II. hängt dabei auch mit dessen reichspolitischen Ambitionen zusammen, doch Wenzel II., der 1278 ein durch den frühen, katastrophischen Tod des Vaters labiles Erbe antrat, setzte die Förderung deutscher Dichtung (epischer wie lyrischer) unter
|| 5 Zu Ulrichs Wolfram-Nutzung vgl. Kleinschmidt 1974 und detailliert Schröder 1989; der Stellenkommentar weist auf besonders markante Fälle hin. 6 Bumke 1979, 202. 7 Vgl. Bumke 1979, 198–203; monographisch umfassend Behr 1989.
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veränderten Rahmenbedingungen nahtlos fort und betätigte sich zugleich selbst als Dichter, wenn man der üblichen Identifizierung mit dem gleichnamigen Minnesänger folgt8. Ulrich wirkte für den Vater wie für den Sohn, wobei das Werk jeweils auch Mittelsleute wie den Salzburger Erzbischof Friedrich II. (‘Alexander’) oder den aus Süditalien stammenden Protonotar Henricus Italicus (‘Wilhalm von Wenden’) preisgibt. Der für Publizistik und Panegyrik seit seinen Anfängen vielinstrumentalisierte, insofern prädestinierte Alexanderstoff (im Deutschen nutzten ihn Rudolf von Ems, Seifrit und Hartlieb geradezu für narrativierte Fürstenspiegel) bot sich einem Hofdichter dabei besonders gut an. Wohl auf Anregung des genannten Salzburger Erzbischofs (v. 27609ff.) begann Ulrich um 1275 mit dem Werk. Nachdem Ottokar im Krieg gegen Rudolf von Habsburg gefallen war (August 1278), brachte er es, wohl bis 1285, für den neuen König zu Ende. Die veränderten Zeitläufte blieben nicht ohne konzeptionelle Folgen: Das strahlende Bild des großen Makedonen, den das Mittelalter als heros eponymos, Gründer- und Leitfigur des dritten der vier biblischen Weltreiche verstand und das Ulrich unmittelbar auf Ottokar projizierte (sein Alexander trägt das böhmische Wappen), wird im Schlussteil behutsam modifiziert. Ein didaktisch-paränetischer Subtext warnt vor der Hybris und Despotie, für die Alexanders Vita je länger und heimatferner desto mehr (und daher im Fernorient gipfelnd) eben auch stehen konnte. Insgesamt aber wird der Text schlicht ‘unpolitischer’, richtet sich das Hauptinteresse nunmehr auf den exotisch-abenteuerlichen Stoff.9 Bis zuletzt aber bleibt Alexander, was er von Anfang an war: die Verkörperung göttlicher Prädestination (sælde) und individueller Leistung (tugent), ein Werkzeug Gottes in der Welt- und Heilsgeschichte. Seine ‘Mediaevalisierung’ schließt bei Ulrich sogar die Religion mit ein: Der antike Heros zieht wie ein verfrühter Kreuzritter gegen explizit als Heiden identifizierte Gegner – in der Situation Böhmens und seines östlichen Umfelds um 1275/80 ein wohlkalkulierter Anachronismus. Der ‘Wilhalm von Wenden’ entstand nach dem ‘Alexander’ zwischen 1287 und 1297. Als direkter Veranlasser ist Heinrich der Walch (v. 85) genannt, den man meist mit dem böhmischen Protonotar Henricus Italicus bzw. Heinrich von Isernia identifiziert.10 Hinter ihm aber stehen, im Text mehrfach genannt und verherrlicht, König Wenzel II. und Königin Guta als eigentliche Adressaten. Gutas Namen trägt in latinisierter Form auch die makellose Protagonistin, während der des Protagonisten der literarischen Tradition entstammt. Gutas Tod 1297 gibt einen sicheren terminus ante quem. Die Quelle wurde Ulrich (oder Heinrich) nach eigener Angabe von einem böhmischen Predigerbruder, d.h. Dominikaner, verschafft (v. 81f.). Über ihre Gattung und Art, auch über die eigene Bearbeitungsweise äußert sich Ulrich allerdings so vage, dass man Kalkül annehmen muss (vgl. dazu im Stellenkommentar). Es wird sich bei der Vorlage um eine Fassung der lateinisch wie volkssprachig, zudem auch bereits in romanhafter Überformung (s.u.) weit verbreite-
|| 8 Vgl. Burghart Wachinger: König Wenzel von Böhmen. In: ²VL 10 (1999), Sp. 862–866. 9 Zum Konzeptionswandel vgl. Behr 1989, 174 und passim; Vollmann 1990. 10 Zu Indizien und Zweifeln vgl. Behr 1989, 200f., und neuerdings Hirt 2012, 59.
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ten Legende des heiligen Eustachius gehandelt haben, eines Gottsuchers und Märtyrers des 2. Jahrhunderts. Über die Interessenlage hinter dem Auftrag lässt sich nur spekulieren. Indes scheint die eigentliche Adressatin (und damit Mäzenin) Königin Guta zu sein: Ihr fiktionales Pendant ist die Sympathieträgerin und Lichtgestalt des Werks. An ihr testet der Erzähler die Vorzüge wie die besonderen Schwierigkeiten weiblicher Herrschaft im Mittelalter aus. In Benes Geschick reflektiert er Gutas doppelt restringierte Rolle als landfremde Dynastin und Fürstin im männlich-patriarchalen Herrschaftsverband.11 Bene und Guta gilt auch die ausführlichste panegyrische Digression des Romans, die den zweiten, nur genealogisch gewürdigten Widmungsadressaten ganz an den Rand drängt: Ir [sc. Benes] namen wil bediuten ich./ ‘bene’ daz heizet ‘behegelich’./ behegelich gevellet wol./ diu zwei man mac unde sol,/ swer sie zesamene rehte tuot,/ an einem worte nennen ‘guot’./ die süezen reine gemuoten/ nenne ich sie dan froun Guoten,/ sô hân ich rehte sie genant./ fröuwe dich, Merhern, Bêheimlant!/ ir habt der guoten eine,/ der ich dise rede meine,/ diu iu ze frouwen ist gegeben./ ... Wenzelabe, des hœsten küneges kint/ der under krône ie wart bekant,/ von Bêheim Otacker genant,/ daz beste glit der kristenheit./ sîns sunes wirde daz wort noch treit/ und vert in rîches lobes maht./ sîns rîches name zesamne ist brâht,/ alsô daz vant der wîsen list:/ von latîne und von diutsche er ist./ Bêheim ich bescheide alsus:/ ‘bê-’ daz diutet ‘bêatus’,/ ‘-heim’ ‘domus’ oder ‘mansiô’./ daz sprichet ouch ze diute sô:/ ein eigen hûs od wonunge./ eiâ süezer vürste junge,/ ich schrîbe dich in mîn herze sus:/ künic Wenzelabe vom sælgen hûs/ oder vom sælegen lande./ alsô dîn wirde erkande/ ich Uolrîch von Etzenbach... (v. 4661– 79/4690–4709).
In diesen Versen fast genau in der Mitte des Romans verbinden sich Fürstinnen- und Landeslob. Die Etymologie schlägt einen Bogen von der aktuellen Fürstin zur mythischen Ahnfrau, der sich im Anschluss auf den Landesnamen weitet: Bê-heim heiße sælges hûs. Die binnen weniger Verse sechsfach variierte Landesmetapher (heim, domus, mansio, hûs, wonunge, lant) bestimmt zugleich das nähere Verhältnis zwischen Bene-Guta und Böhmen, Dynastie und Land: Es geht im noch heute üblichen Sprachgebrauch um das überzeitliche ‘Haus’ Böhmen, in dem Land und Dynastie begrifflich-metaphorisch konvergieren, ohne doch zugleich (mit Blick auf die Rolle des Adels) zusammenzufallen. Da die Romanhandlung an einer weiteren exponierten Stelle, nämlich am Schluss der erzählten Handlung (v. 8246ff.), in der frühchristlichen Spätantike situiert wird, überbrückt dieser Exkurs die Spanne von nahezu einem Jahrtausend: um 250 – um 1290. Der Roman schafft so dem verherrlichten ‘Haus’ ein uraltes Herkommen, und dies sicher nicht grundlos inmitten der Ursprungsepoche des christlichen Europa, in der auch die origines und Gründerfiguren so vieler ‘älterer’, um 1300 mit Böhmen konkurrierender Völker und Reiche liegen: der Artus der Briten, der Dietrich der Deutschen, etwas später der Karl der Franzosen.
|| 11 Genderaspekte und Heldinnenprofil spielen in der jüngeren Forschung eine wichtige Rolle; vgl. u., Anm. 22.
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Inhalt und Struktur des Romans Die im ‘Wilhalm von Wenden’ erzählte, von einem sehr präsenten Erzähler diskursiv arrondierte und so kunstreich wie ausgiebig kommentierte Geschichte lässt sich je nach Auswahl und Schwerpunktsetzung als Wilhalm-, Bene- oder Familienroman, als politischzeithistorischer, historischer, religiös-legendenhafter oder Minneroman resümieren und entsprechend generisch verorten. Es ist wichtig, sich dies bei der Lektüre stets vor Augen zu halten: Die Perspektive changiert im Verlauf des Textes, immer wieder wechseln Deutungsakzente und Verständnissignale. Daher filtern alle vereindeutigenden Aussagen über den Text, seinen Gattungsstatus und seine (Be-)Deutung zwangsläufig das je Widerständige als Unabgegoltenes aus. In dieser Lage tut man gut daran, zwischen Erzähl- und Sinnstruktur analytisch zu trennen und zuerst objektiv den Textaufbau, dann das Deutungs- und Gattungsgefüge zu klären. Im Fortgang werden verschiedene ‘Lesarten’ erprobt, die sich angesichts der erwähnten Sach- und Signallage nicht ausschließen, die aber unterschiedlich viel ausblenden oder harmonisieren (müssen), um zu ‘funktionieren’.
Makrostrukturen Eine wesentliche Leistung des ‘Wilhalm von Wenden’-Erzählers ist die Parallelführung dreier weitgehend eigenständiger, erst im letzten Werkdrittel schrittweise zusammengeführter Handlungsstränge. Sie erfordert eine kontinuierliche extra- und intradiegetische Koordination der Zeiten und Räume durch Vorausdeutungen und Rückblenden (Pro-/ Analepsen), Querverweise, markierte Szenen- und Ortswechsel, klärende Apostrophen an das Publikum u.a.m. Die vom Erzähler beiläufig oder planvoll zäsurierend mitgeteilten Daten ergeben nicht nur „eine in sich völlig stimmige innere Chronologie, sondern erlauben außerdem eine fast lückenlose Rekonstruktion des gesamten Zeitgerüstes.“12 Zugleich ist das Geschehen absolutchronologisch durch die Nennung eines römischen Kaisers und Papstes in der Universalgeschichte verortet, und zwar annähernd kompatibel im 3. Jahrhundert. Auch die Raumgestaltung zeigt das Bemühen um historisch-topographische Authentifizierung. So werden auch für die Handlung unbedeutende Orte oder Herkunftsländer benannt und sogar Änderungen eines Stadtbilds begründet, um das Geschehen zu plausibilisieren. Andererseits bleiben selbst Hauptschauplätze geographisch unbenannt und nur vage verortet; und es hat die Natur als Kern der Raumgestaltung eher symbolische als referenzielle Funktion. Topographische Eigenschaften ordnen sich handlungspragmatischen Notwendigkeiten unter. So ist der Grenzwald, den das Protagonistenpaar durchquert, an dessen Saum Bene ihre Kinder gebiert und in dem diese später ihr Räuberunwesen treiben, je nach Bedarf ein unspektakulärer Durchzugsraum oder ein schier undurch-
|| 12 Behr 1989, 187 (und das Schaubild, 187–189).
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dringliches Dickicht. Der literarische Orient, und selbst die biblischen Heilsorte, bleiben ohne Eigenprofil und das sonst übliche alteritäre Kolorit, sieht man von nur nominell exotischen Reittieren und Völkern einmal ab. Die Handlung des Romans verläuft nach dem ersten Viertel vom Auszug des Protagonistenpaares bis zu seiner Rückkehr in die wendische Heimat drei- bzw., bei Einbezug des verlassenen, sich selbst organisierenden Landes, viersträngig synchron: Der erste Plotstrang nach der Trennung gehört dem Protagonisten. Von der namenlosen Hafenstadt, in der er die noch von den Strapazen der Geburt geschwächte Gemahlin zurücklässt (der neugeborenen Söhne hatte er sich schon früher entledigt), gelangt er gegen hellenistische Romantradition ohne Seesturm und Irrfahrt nach Jerusalem, findet bei einem französischen Wirt Herberge und lässt sich von diesem erst in der Landessprache, dann im christlichen Glauben unterweisen. In langen Lehrdialogen, die auf das Vorbild der Silvesterlegende der ‘Kaiserchronik’, des ‘Barlaam und Josaphat’ Rudolfs von Ems und anderer Legendenepen verweisen, nimmt der Roman Lehr- und Predigtcharakter an: Die Handlung wird zugunsten der analeptisch erzählten Heilsgeschichte auf längere Zeit stillgestellt. Danach zelebriert der Patriarch von Jerusalem im Beisein der höchsten geistlich-weltlichen Würdenträger der Levante Wilhalms Taufe und Schwertleite mit gewaltigem höfischem Pomp. Dies kontrastiert scharf mit der Armseligkeit des Auszugs und zeigt, dass der Wendenfürst auch als Christ auf sozialen und herrschaftlichen Status Wert legt und dass der Dichter der Herrschaftsrepräsentation hohen Eigenwert zumisst. In einer relativ knappen, intertextuell indes bezügereichen Kreuzzugssequenz kämpft der neue miles Christianus in seinem transitorischen Wirkraum für den neuen Gott und erringt den Sieg. Pilger tragen seinen Ruhm bis nach Europa, hier auch an den Hof der zwischenzeitlich zur Landesherrin aufgestiegenen Bene: Dies schlägt die Brücke zum zweiten Erzählstrang. Der zweite Strang verfolgt nach einem Rücksprung der Zeit auf den Trennungsmoment die Schicksale Benes. Im unfreiwilligen Exil trägt sie zunächst schwer am Verlust des Gatten und an der Isolation in der Fremde. Die edle Witwe, die zunächst das Paar, dann nur noch Bene beherbergt, nimmt sich ihrer mit rührender Fürsorge an. Nach unbestimmter Zeit trägt der Adel des von jahrelangen Feudalkriegen zerrütteten Landes Bene die Krone an, nicht obwohl, sondern weil sie eine Frau und Landfremde ohne Verwandtschaft und Hausmacht ist. Bene nimmt erst widerstrebend, dann klug konditioniert an. Ihr Status und Leben ändern sich völlig, sie regiert geschickt, unangefochten und ausgesprochen erfolgreich. Das Probejahr, das man ihr aus Vorsicht auferlegt, gerät zum Triumph. Der Landadel wünscht, dass sie heirate und über kurz oder lang eine neue Dynastie im Land begründe. Der in dynastisch-historisierendem Erzählen topische Brautwerbungsrat richtet sich hier singulär nicht an einen Fürsten, sondern an die Fürstin. Diese verspricht auch die Ehe, behält sich aber die Wahl des Gatten und damit den Zeitpunkt vor: Brücke zu Strang 1 und Strang 3. Der dritte Strang ist wundergesättigt, obwohl nichts Un- oder Übernatürliches geschieht. Wieder springt die erzählte Zeit zurück bis zur Trennung. Nach ihrem Verkauf durch den Vater wachsen die vom Erzähler kaum individualisierten Zwillinge in völlig
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gleichartigen Verhältnissen bei Pflegeeltern auf. (Ihre Namen Danus und Boizlabe/Václav fallen erst spät, noch später als bei der ebenfalls lange namenlos bleibenden Bene.) Beide wissen nichts über ihren Stand und ihre Familie, und sie wissen auch nichts voneinander. Infolge eines Streits mit den Stiefgeschwistern werden beide von ihrer Ziehmutter auf die Straße gesetzt (ein Fall wird auserzählt für beide). Auf zielloser Reise treffen sie unterwegs aufeinander, wobei der Erzähler das Wunderbare des Vorgangs mehrfach betont: der deutlichste Legendenzug in einem Roman, dem echte Wunder, d.h. naturwidrige Eingriffe Gottes in die Welt, gänzlich fehlen und in dem sich das Wunderbare auf eine märchenhaft providentielle Handlungsregie (profaner: unglaubliche Zufälle) beschränkt. Die Gefährten erkennen sich an ihrer Sprache als Landsleute und bleiben fortan zusammen. In Lunden steigen sie zu Schenk und Truchsess des Königs Honestus auf, um bald wieder mit gesetzter Frist auszuziehen, um Kenntnis über ihre Herkunft zu gewinnen. Natürlich (vgl. ‘Iwein’) versäumen sie die Frist und fallen tiefer denn je: Aus Hofbeamten werden erst Bettler, dann Straßenräuber. Dass sie ihrem Gewerbe ausgerechnet im Exilland der Mutter nachgehen, ist wieder eine merkwürdig ‘glückhafte’ Wendung, die die Brücke zu den anderen Erzählsträngen schlägt. Schritt für Schritt werden im Schlussteil die drei der histoire nach synchronen, im discours zwangsläufig hintereinandergeschalteten Stränge zusammengeführt und abschließend auch mit dem vierten, dem der Bewohner Wendens, vereint. Das Wiedererkennen (Anagnorisis) wird mehrfach verzögert, indem der Erzähler das Figurenwissen ungleich verteilt und allein sich und den Rezipienten den Überblick über alle Zusammenhänge vorbehält. Als Wilhalm nach 24 Jahren Trennung in das Land zurückkehrt, in dem er einst Bene gelassen hatte, als also Strang 1 und 2 konvergieren (könnten), haben sich Stadt und Menschen so stark verändert, dass Bene, die den Gast persönlich empfängt, in ihm nicht mehr den Gatten erkennt. Auch Wilhalm bleibt blind für sein Glück. Doch untrügliche Zeichen lassen ihn in den Anführern der Räuberbande seine Söhne erkennen. Ohne sich selbst zu offenbaren, erwirkt Wilhalm für sie die Gnade der Landesherrin und unerkannten Mutter: Sie nimmt beide in ihre Dienste. Im nächsten Schritt erkennt sie nun auch ihn als ihren Gemahl, da er ihr seine Lebensgeschichte erzählt. Sie behält dies aber für sich, um zuvor den Weg für ein glückliches Ende zu ebnen. Dadurch finden die allseitige Anagnorisis und der Wiederaufstieg der Familie erst am Ende des Romans auf einem von Bene geschickt vorbereiteten und choreographierten Hoftag ihren Höhe- und Endpunkt. Bene und ihr Land, schließlich auch das Land ihrer Eltern und das Erbland Wilhalms, in dem sich nach dem Verschwinden des Fürstenpaars ein erfolgreiches adliges Interregnum etabliert hatte (Strang 4), bekehren sich Wilhalms Willen folgend zu dessen neuem Glauben. Nach langer, nicht mehr erzählter Herrschaft über die drei vereinigten slawischen Länder zieht sich das Protagonistenpaar ins Kloster zurück. Wilhalm übergibt das Großreich seinen Söhnen und bleibt ihnen in politischem Rat verbunden, solange er lebt.
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Diskurs- und Gattungskoordinaten Höfischer Herrschaftsroman: Nicht weniger als fünf dynastisch-politische Krisen in zwei slawischen Ländern gliedern das über drei Generationen gestreckte Geschehen diachron, vier Mitglieder einer getrennten und am Ende sukzessiv wiedervereinten Familie bilden die synchronen Achsen.13 Die Zeit der Trennung umfasst 24 Jahre, die Gesamthandlung ungefähr ein Menschenalter. Ein Herzogssohn mit für den slawischen Schauplatz untypischem, aber intertextuell markantem Namen (s.o.) regiert nach dem frühen Tod seines Vaters und der Hochzeit mit der Erbtochter eines Nachbarfürsten sein Land. Seine Welt ist heidnisch, aber herrschaftlich, gesellschaftlich und religiös wohlgeordnet, selbst für Christen (wie der Erzähler kommentiert) vorbildlich und ideal: Es steht schon im Zeichen der späteren Wende. Durch reisende Pilger hört Wilhalm erstmals den Namen Christus, der ihm durchs Ohr direkt ins Herz dringt: Ein Erweckungserlebnis für ihn selbst, doch seiner Stellung wegen auch Lebenswende für viele. Wilhalm begibt sich in ärmlichem Pilgerkleid auf Fahrt über Meer, um den Namensträger zu finden. Sein bedingungsloser Aufbruch könnte Heiligkeit begründen – und der sympathisierende Erzähler kommentiert ihn auch so. Doch ist Wilhalms folgender Weg so sehr von Täuschungen und Heimlichkeiten flankiert und kollidiert so krude mit allem, was Wilhalms bisherige Identität bestimmte und was Amt und Herkunft ihm auferlegen, dass diese Lesart viel ausblenden oder harmonisieren muss. Dies auch deshalb, weil die konfligierenden Wert- und Normkategorien nicht implizit bleiben, sondern in aller Schärfe in Streitgesprächen zwischen Wilhalm und Bene und in den Folgeentwicklungen in Wilhalms eigenem und einem Nachbarland verhandelt werden. ‘Verhandelt’ heißt hier nicht etwa intradiegetisch ‘ausgehandelt’, denn Wilhalms Tun bleibt von allen kritischen Vorhaltungen und Fragen nach erwartbaren Folgen unberührt. Der Erzähler problematisiert dies nicht. Er steht fest, fast penetrant zu seinem Heldenpaar und feiert, wo dieses objektiv keine Einheit mehr bildet, erst recht seine unverbrüchliche Liebe und seinen Gleichsinn. An der Handlungsevidenz gemessen ist dieser Erzähler notorisch unzuverlässig, denn worüber er hinwegzutäuschen sucht, stellt er zugleich massiv aus: dass nämlich Wilhalms ‘Erweckung’ eine Klimax schier unerhörter Aktionen einläutet. Der Fürst verlässt heimlich sein durch ein Hoffest getäuschtes Land, verkauft seine eben geborenen Kinder in die Fremde, während die auf den Tod geschwächte Mutter schläft, schleicht sich später auch von ihr fort, lässt Land und Familie 24 Jahre ohne Hinweis auf seinen Verbleib. Danach mischt er sich gleich nach seiner Rückkehr ungebeten in die Politik seines Gastlandes ein. Parallel dazu laufen der von Wilhalm verantwortete drastische Abstieg der Söhne, das von ihm verantwortete Herrschaftsinterim im eigenen Land und eine von ihm nicht verantwortete Feudal- und Herrschaftskrise in jenem Land, in dem er Bene zurückgelassen hatte und das seither ihr Exil ist. Bene steigt hier zur Herzogin auf und regiert klug und bescheiden in Frieden und Wohlstand. Ein Paar – zwei Modelle feudaler Herrschaft und ihrer Wirkungen: Einem
|| 13 Vgl. mit textnaher Analyse Herweg 2010, 377–403.
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Hofpublikum um 1290 ist zuzutrauen, dass es die beiden Modelle auf die eigene Situation zu beziehen und an höfisch-feudalen Üblichkeiten zu messen verstand. Ex negativo deutet darauf der Aufwand, den die Begründung der vielen Fragwürdigkeiten in Wilhalms Tun und die Beschwörung seiner Idealität dem Erzähler abverlangt. Legende: Das Bild Wilhalms ändert sich, und muss sich ändern, wenn man den Roman primär religiös-erbaulich und als Legende versteht. Legenden bedürfen zwar nicht unbedingt eines kanonisierten Heiligen als Protagonisten, aber sie verlangen einen für das anvisierte Publikum imitationswürdigen und imitationstauglichen, in Wertorientierung und Lebensweise positiven Helden. Durchaus kann dieser Held ein Sünderheiliger sein, an dem sich Gottes Gnadenfülle besonders spektakulär offenbart; doch darf der Erzähler gerade dann die Sündhaftigkeit nicht kaschieren, sondern müsste sie deutlich exponieren (wie etwa im Falle des ‘Erwählten’ Gregorius). Ulrichs geistlicher Prolog und sein vager Quellenhinweis – der Vorlagenvermittler, heißt es, bat umb ein legende (v. 83), womit nicht gesagt ist, ob er diese auch bekam, ja ob überhaupt die eigene Bearbeitung damit gemeint sei – legen die Legendenlesart zu Beginn fraglos nahe. Dies gilt aber nur für Hs. D; denn der zweite Textzeuge (H) startet ohne diesen Prolog direkt mit der dynastischen Zäsur im Herzogtum Wenden. Die vom D-Prolog insinuierte Lesart lässt sich über alle Höhen und Tiefen der Protagonistenvita auch durchhalten, wenn man Gott und die Providenz als die eigentlichen Protagonisten des Erzählgeschehens begreift, und die Figuren als deren oft fragwürdiges Werkzeug oder Widerspiel sowie als Medium der aus der providenziellen Handlung geschöpften Lehre versteht. Wunder und wundersame Zufälle, erstere im Wendenroman selten, letztere dagegen fast inflationär, gehören zum Legendenmodell so konstitutiv wie der sub specie aeternitatis glückliche Ausgang. Dass Ulrichs Roman weder einen kanonisierten Heiligen noch auch nur eine historische Figur zum Gegenstand hat14, ließe sich mit der generell weiten Lizenz der Legende zur Fiktion vereinbaren.15 Der Plot ist legendenkompatibel: Die zunächst vorbewusst-intuitive Begegnung mit Christus (hier durch den Namen) wühlt einen Heidenfürsten, der schon Gesinnungschrist ist, so tief auf, dass er allem bisher Gewohnten entsagt und auf eine Reise aufbricht, die Queste, Pilgerfahrt und Kreuzzug zugleich ist. Konkurrierende Pflichten, Familie, Land: Alles wird in dieser Lage zum Widerspiel. Die Lebenswende ist total und radikal, und gerade in der Überwindung aller Anfechtungen liegt die Qualifikation des Protagonisten zur Heiligkeit. Der wunderwirkende Gott sorgt indessen dafür, dass dieses individuelle Heilsstreben nur temporär das Leben und Heil Dritter gefährdet. In Jerusalem, dem Heilsort par excellence, erhält der unwissend wissende Held basale katechetische Lehren, wird getauft und zum christlichen Ritter geschlagen. Sogleich bewährt er seinen neuen Stand gegen die
|| 14 Der Versuch Massers 1974, den Heiligen historisch in der ostmitteleuropäischen Missionsgeschichte dingfest zu machen, bleibt spekulativ. 15 Vgl. Vollmann 2002.
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‘Heiden’. Insgesamt verbringt der Bekehrte ein reichliches Lebensdrittel in der Fremde (die Erzählung füllt diesen langen Zeitraum nicht aus), bevor er nach 24 Jahren in die Heimat zurückkehrt, durch göttliche Regie seine Familie wiederfindet und zum Herrscher dreier durch ihn bekehrter Reiche wird. Dass ein so zusammengefasster Plot legendentauglich ist, steht außer Frage: Ähnlich radikale conversiones kennt man u.a. von Alexius (dessen Legende in Hs. D in Überlieferungsgemeinschaft mit dem Wendenroman steht), doch auch von Adelsheiligen wie Elisabeth von Thüringen. Aber vertragen sich über den Stoffplot hinaus auch Ulrichs narrative Verfahren, sein Umgang mit der stofflichen Vorlage und der in den Text eingeschriebene höfisch-herrschaftliche Wirkraum mit einer solchen Lesart? Es fehlt nicht an Stimmen in der Forschung, die dies (explizit oder implizit) bejahen und den Roman aus inhaltlichen (Nähe zur Eustachiuslegende), strukturellen (legendenbiographische Strukturen wie die Aufeinanderfolge von probatio, conversio, elevatio in Wilhalms Vita, angenommene Qualitätsunterschiede seiner Herrschaft vor und nach der Taufe u.a.) oder funktionalen (Kontext zeitgenössischer Laienfrömmigkeit) Erwägungen als Legende qualifizieren.16 Die Problematik eines Fürstenheiligen, der seine Kinder in die Fremde verkauft und mit ihrem Erbe um jede Möglichkeit standesgemäßer Existenz bringt, ist dabei in der Unbedingtheit radikaler Christusnachfolge aufgehoben und gerechtfertigt.17 Man wird nicht ausschließen können, dass ein Teil des historischen Publikums (des primären am Prager Hof, des sekundären, für das die späten Handschriften bestimmt sind) die vielstimmigen Textsignale sich so zusammenfügte. Aber gegen dieses Verständnis als intentio operis sprechen doch einige gewichtige Befunde. Fünf unterschiedlich gelagerte Indizien seien hier stellvertretend genannt: – Intertextuell nahm Ulrich planvolle Änderungen an der Stofftradition vor, die er aufgriff. Sie tangieren vor allem das Heldenbild. Die Eustachius-Legende18 kennt vieles von dem nicht, was Ulrich erzählt: Es werden in ihr keine Untertanen getäuscht und über Jahre im Unklaren belassen, keine Kinder verkauft (vielmehr durch Raubtiere verschleppt, was der Vater kaum verschmerzt), keine rabulistischen Kommentare benötigt.19 Was für die primäre Legende gilt, gilt grosso modo auch für ihre volkssprachi-
|| 16 Als einschlägigste Vertreter sind Röcke 1990, Biesterfeldt 2004/2004a und Hagby 2013 zu nennen. 17 Vgl. zuletzt wieder Hagby 2013, aber mit drei Irrtümern auf engem Raum: Wilhelm wird nicht „gezwungen“, sich „von seiner geliebten Frau, dann von ihren gerade neugeborenen Zwillingen zu trennen, die er bei Bauern als Diener verkauft“, bevor letztere wiederum „als Raubritter in Benes Land wüten müssen“ (S. 75). Wilhelm verkauft zuerst die Kinder, und zwar ohne Zwang durch Auftrag an seinen Kämmerer, und nicht an Bauern, sondern an Kaufleute; dann trennt er sich von Bene; die Kinder ‘wüten’ ohne Ritterattribut und ohne Zwang nach wohlreflektierter Entscheidung. Die behauptete Vorbildlichkeit steht damit auf tönernen Füßen. 18 Die verbreitetste Version der ‘Legenda Aurea’ in Übersetzung bei Benz 1984, 821–828. 19 Eine von „Reichtum, Lügen, Heimlichkeiten und Verantwortungslosigkeit“, auch „große[r] Schuld“ geprägte Heldenvita las nach Honemann 1993 (s.u.) auch Hörner 2004, Zit. 48 und 62; sie versteht den Roman denn auch als Queste, als Reflex von Identitätsfindung, und den Helden als keineswegs ideal.
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gen Derivate, Chrétiens ‘Guillaume d’Angleterre’ und die ‘Gute Frau’ (Rudolfs von Ems ‘Eustachius’ ist für den Vergleich misslicherweise verloren). Überdies reduziert Ulrich, und nur er, den religiösen Kern des Sujets auf eine oberflächliche, ethisch indifferente Wortfrömmigkeit.20 Selbst der immer wieder behauptete Aufbruch aus höfischem Luxus in schäbige Armut (vgl. etwa v. 1048/1882) trifft offenkundig nicht zu: Wilhalm versieht sich beim Aufbruch reichlich mit Proviant und Gold, woran sein Begleiter schwer zu tragen hat (v. 1902f., 2592–98/2940–42); er verkauft gleichwohl seine Kinder (v. 2299f.), lässt sich in Outremer zu allem Überfluss vom Patriarchen ausstatten (v. 3640f.) und gestattet sich einen in jeder Hinsicht standesgemäßen Lebensstil, eigenes Gefolge mit eingeschlossen. Wilhalm ist weder Asket noch Repräsentant franziskanischer Armutsethik.21 Intratextuell fehlt es nicht an (selbst-)kritischen Kommentaren. Für ein spätes Unrechtsbewusstsein Wilhalms sprechen Reflexionen bezüglich Benes (v. 2977–79) und seiner Kinder (v. 6958–63), und der panegyrische Erzähler meldet in Sympathiebekundungen für die beiden Söhne zumindest Vorbehalte gegen das Tun des Vaters an (vgl. bes. v. 5052–56, 6793). Intradiegetisch dupliziert Ulrich die Protagonistenrolle und etabliert damit, wieder gegen die Stofftradition, in Wilhalms verlassener Gemahlin eine Konkurrenzfigur, deren Idealität allen diskursiven Maßstäben standhält, im Sinne adliger Laienfrömmigkeit mithin auch dem religiösen.22 Der Sitz im Leben weist auf ein herrschaftsnahes Primärpublikum, bei dem (zumal im Gefolge des ‘Alexander’) davon auszugehen ist, dass es die höfisch-feudalen Implikationen eines so realitätsnah gestalteten Textes sensibel wahrnahm. Ob ein solches Publikum ein Vorbild respektierte, das die eigene Heilsfürsorge rücksichtslos auf Kosten aller und mit allen Mitteln durchsetzt, darf füglich hinterfragt werden. Die profanere Alternative eines dynastisch-gentilen Gründerahnen käme dagegen leicht ohne die vom Legendenhelden geforderte Imitabilität aus, wie Fallbeispiele von Aeneas bis Melusine zeigen. Die Überlieferung als Indiz für die weitere Rezeption verzichtet auf der einen Seite (Hs. H) auf den Prolog als stärksten Legendenmarker (in dem auch der Begriff selbst fällt), koppelt auf der anderen (Hs. D, Kloß) den Roman nicht primär mit Legenden, sondern mit heroisch-historischen Stoffen unterschiedlicher Art. Der den Verbund prägende Nenner ist die Aushandlung von individuellem und kollektivem Heil, irdisch und religiös verantworteter Herrschaft, Machtausübung im feudalen Verband.
|| 20 Vgl. Honemann 1993, 313–315 und 326f. Er sieht den Roman als die „geistlich gesehen leerste und oberflächlichste“ der Eustachius-Ableitungen. Der Legendenstoff sei ganz dem politischen Diskursanliegen unterworfen (328). 21 Vgl. Hörner 2004, 47f. 22 Einer frauenzentrierten Lesart des Romans folgt Classen 1989, das spezifisch politisch-herrscherliche Profil Benes betonen Kellermann-Haaf 1986, Müller 1986 und Herweg 2004/2010.
228 | Nachwort
Allen Strategien des Erzählers zum Trotz, die problematischen Handlungszüge zu harmonisieren und im providentiellen Ausgang ‘aufzuheben’, ist Wilhalm nur schwer als Fürstenheiliger im Sinne seines Namensvorbilds bei Wolfram vorstellbar. Während Wolframs Held tiefes Leid am eigenen Leib durchlebt und sich darin verstrickt, erlegt Wilhalm das Leid zahllosen Dritten auf: dem Land, den Söhnen, vor allem aber Bene. Affirmativ als Legende lässt sich dieser Roman daher m. E. allenfalls trotz des und gegen den Helden lesen, und zwar als Preis Gottes, des wunderers im Horizont des Geschehens: Er führt zuerst die Brüder, dann sukzessive die ganze Familie an Benes (!) Hof zusammen, er rehabilitiert durch den Vater die Söhne, schafft durch Bene die Voraussetzung, dass Wilhalm Herrscher bleiben und Slawenmissionar werden kann. Wenn sich der postum als Fürstenheilige Angerufene dieses Attribut dann doch noch verdient, tut er dies weitgehend schon jenseits des erzählten Geschehens durch eine lange glückliche Herrschaft und den Weltrückzug. Minne- und Aventiureroman: Die dritte Verständnisalternative ist in der generischstrukturellen Nähe des Plots zum hellenistischen Liebes- und Abenteuerroman angelegt und wird vor allem vom kommentierenden Erzähler begünstigt. Dieser behauptet für das Protagonistenpaar immer wieder, gerade auch in der langen Phase der Trennung, die Einheit ihrer liebenden Herzen. Er feiert blümend die unverbrüchliche, tugendhaft-reine, zugleich dezidiert erotisch gelebte und gegen den Anschein ebenbürtig-gegenseitige Liebe des zeitlos jungen Paars. Die intuitive Gemeinschaft gibt beiden in Situationen der Entscheidung Kraft, lässt ihre Herzen unwissend ahnen und schließlich auch ahnungsvoll richtig handeln. Doch auch als Minneroman stellt der ‘Wilhalm von Wenden’ den Leser vor Probleme. Der Erzähler-discours muss hier so exklusiv den Blick leiten, dass das, was geschieht, darüber fast nebensächlich wird. Das Geschehen nämlich stellt konstant die Ungleichheit des Paars (in Charakter, Macht, Sozialkompetenz) vor Augen. Es tut nichts, um Wilhalms zuerst verlogenen (das Wort fällt v. 927 explizit), dann erpresserischen Umgang mit Bene, deren Qualen, Zweifel und Krisen im Exilland, deren Demütigungen und Selbstdemütigungen als Gattin, deren überlegenes Geschick als ‘Menschenfischerin’ und Fürstin zu verhehlen. Im hellenistischen Romanmodell tritt die Trennung ungewollt, für beide Seiten ungeahnt und überraschend durch eine höhere Gewalt ein – so auch, wie zu sehen war, in der von diesem Plotschema beeinflussten Eustachius-Legende. In Ulrichs Text aber führt sie die eine Seite bewusst und in jeder Situation kalkuliert herbei. Wilhalm ‘spielt Schicksal’, wo im hellenistischen Minneroman das Schicksal selbst waltet, und er opfert die Minne-, Ehe- und Familienbindung seiner individuellen conversio. Er bestimmt auch am Ende die Optionen: Neubegründung der Bindung oder Verstetigung der Trennung. Wie der Legendenroman, so stößt also auch der Minne- und Aventiureroman an seine Grenzen im Eigensinn des Erzählens und des Erzählten gegenüber dem sinngebend-kommentierenden Erzähler.
Inhalt und Struktur des Romans | 229
Versuch einer Synthese: Hybrides Erzählen. Stützen der Prolog, die conversio (erst des Helden, dann seiner Gemahlin und durch sie ihrer Länder) und die basalen Stoffbezüge das Legendenverständnis, so zielen das konzeptionelle Gewicht Benes, die Ubiquität herrschaftlicher Rituale und höfischer Werte und die Fülle der angedeuteten Irritationsmomente zwischen Figurenhandeln und Erzählereinlassungen im Text auf eine invertierte, vielleicht planvoll in die Aporie geführte Legende, hinter der sich als eigentliches Anliegen ein Herkommens- und Herrschaftsentwurf entfaltet: Wilhalm und Bene werden je länger, desto deutlicher, und in dem fast exakt in der Romanmitte plazierten etymologisch-panegyrischen Exkurs ganz explizit, als Gründerpaar des Landes und Hauses Böhmen konturiert, dessen Vita in jene Phase der europäischen Gentil- und Territorialgeschichte integriert wird, in der die Vorzeit in die durch Christentum und höfische Kultur geprägte Eigenwelt und -zeit übergeht – was es dem Dichter leicht macht, panegyrisch unmittelbar von den Ahnen auf das aktuelle Herrscherpaar überzublenden. Geoffrey of Monmouth und die französischen Karlsepiker hatten wiewohl deutlich früher zwar nicht in der Form, aber doch in der Konzeption Analoges getan, und Couldrette wird es in wieder anderer Weise mit seiner ‘Melusine’ wiederholen.23 Alles in allem deutet daher viel darauf hin, „daß es Ulrich von Etzenbach nicht darum ging, den Weg eines heidnischen Ehepaares und seiner beiden Kinder hin zu einem durch harte Prüfungen errungenen christlichen Glauben darzustellen“, sondern „die ... Konstituierung von Macht innerhalb der Feudalgesellschaft [zu beschreiben], eingebunden in die genealogisch-politische Situation in Böhmen am Ende des 13. Jahrhunderts“24 – und dies, wie eben angedeutet, mit mythopoetischen Implikationen. Aus diesem Grund ist auch das in der früheren Forschung bis zu Rosenfeld gerne vertretene Textverständnis als Schlüsselroman um Wenzel und Guta nicht nur methodisch, sondern auch poetologisch kurzschlüssig.25
|| 23 Vgl. zur mythopoetischen Dimension des Romans näherhin Herweg 2010, 179–183. 24 Honemann 1993, 328. 25 Man dürfe, so Rosenfeld, den Wendenroman „cum grano salis als den ersten Schlüsselroman der deutschen Literatur bezeichnen“, dabei indes präzisieren: „Gewiß nicht in dem Sinn, daß alles Geschehen des Romans auf bestimmte Persönlichkeiten übertragen werden dürfte. Wohl aber wird weit stärker als in irgendeiner andern deutschen Romandichtung des Mittelalters Bezug genommen auf Ulrichs Gönner König Wenzel II. von Böhmen und seine Gemahlin Königin Guta, die Tochter Rudolfs von Habsburg. Insbesondere der Eingang ist im Hinblick auf Verlobung, Hochzeit und junge Ehe des königlichen Paares gestaltet… Im Jahre 1289 oder 1290 gebar Königin Guta Zwillinge. Dies erinnerte den königlichen Protonotar Heinricus von Isernia … daran, daß er bei einem Dominikaner in Böhmen eine Dichtung kennengelernt hatte (vgl. V. 81ff.), die die merkwürdigen Schicksale eines jungen Königspaares und ihrer neugeborenen Zwillinge behandelte. Diese Dichtung ließ er sich kommen und bestimmte…, sie zu einer Huldigung an König Wenzel und Königin Guta auszugestalten.“ (Rosenfeld 1957, XXIXf.; Hervorhebungen durch ihn). Zur Grundlegung und Festigung der These hatten zuvor u.a. Toischer 1876, XXIII–XXXIII, Jahncke 1903, 12–32, und Leonhardt 1931, 13f., beigetragen. Loserth 1883 hatte den Roman gar als regelrechte historische Quelle gelesen und auszuwerten versucht.
230 | Nachwort
Eine endgültige Entscheidung der Gattungsfrage bleibt nach allem Gesagten und stets schon mit impliziten Fragezeichen Versehenen schwierig, bis heute. Wie sich schon abzeichnete, geht es dabei um viel mehr als die passende Begriffsschublade: Der Begriffsentscheid präjudiziert oder impliziert bereits wesentliche Interpretamente, wie das Heldenkonzept und Heldenbild26, die Rolle Benes als Gegen-, Neben- oder eigentliche Heldinnenfigur, die Diskurspriorität (Religion, Herrschaft, Liebe), das vorrangig ins Auge zu fassende literarische Vor- und Umfeld, den mutmaßlichen primären ‘Sitz im Leben’. Die jüngere Forschung favorisiert als formalen Gattungsmarker nach wie vor die Legende27, geläufig sind aber auch Kategorien wie (spät-)höfischer Minne- und Aventiureroman, Kreuzzugsepik, Herrschafts- oder ‘Staatsroman’. Neuere Ansätze nutzen das Hybriditätskonzept im Kontext spät- und nachklassischen Erzählens28, sind (auch unabhängig von Ulrichs Roman) um eine Schärfung und Operabilisierung des Begriffs ‘Minne- und Aventiureroman’ bemüht29 oder schärfen das Textprofil vom Umfeld des ausgehenden höfischen Versromans um 1300 her.30 Der ‘Wilhalm von Wenden’ ist dabei meist nur ein Text von vielen, ist oft auch nur implizit inkludiert. Manche jüngere ad hoc-Prägung entblößt das Gattungsdilemma eher, als dass sie es löste. Dies aber führt zur bereits angedeuteten Hybridität zurück: Ein Erzählen in und mit mehreren Stimmen, die nicht harmonieren (müssen), widerstrebt dem lehrhaft-erbaulichen Funktionskonzept ebenso wie eindeutigen Sinn-, Komplexitäts- und Genrekategorien. Man kann bestimmte Lesarten und Zuweisungen daher zwar favorisieren (wie auch hier geschehen), kann für sie reklamieren, dass sie im gegebenen Rezeptionskontext geringere Schwierigkeiten bereiten, weniger Erklärungsnotstände schaffen als andere. Aber es liegt im Wesen hybriden Erzählens, dass damit die anderen nicht ausgeschlossen sind, sondern historisch denkbar bleiben.
|| 26 Vgl. Herweg 2010. 27 Vgl. u.a. Kleinschmidt 1974, 621, Schulmeister 1971, bes. 155, Masser 1974, Haug 1985, 332f., Behr 1989, 175 und passim, Röcke 1990, Hagby 2013. 28 Unter diesem Aspekt ist Gattungsmischung geradezu ein Gattungssignum. Zur Hybridität als Spezifikum späterer höfischer Versepik vgl. Schulz 2000, Herweg 2004/2010, Seeber 2012 und (ohne Bezug auf Ulrichs Roman) im Sammelband Baisch/Eming 2013. 29 Der Gattungsbegriff ‘Minne- und Aventiureroman’ gilt als Verlegenheitslösung (vgl. Putzo 2013), zumal er sich nur inhaltlich bestimmt und kaum ein mittelalterlicher Erzähltext nicht um Minne und/oder Aventiure kreist. Vgl. zur historischen Typusproblematik neuerdings den facettenreichen Band von Baisch/ Eming 2013, hier bes. die Einleitung der Herausgeber zum Forschungsstand (9–23) und den instruktiven Überblick Putzos (41–70). 30 Vgl. Herweg 2004 und 2010.
Hinweise zur Ausgabe und zu ihren Paratexten A. Zur Überlieferung Zwei spätmittelalterliche Papierhandschriften überliefern Ulrichs zweiten Roman nahezu vollständig, dazu kommt ein Fragment von wenigen Versen.31 Hs. D, Landesbücherei Dessau, Georg. 224.4°, ist ein schlichter Sammelcodex deutschsprachiger Groß- und Kleinepik (u.a. Strickers ‘Karl’, Versfassung K der Alexius-Legende, Dietrichepen ‘Laurin’ und ‘Rosengarten’, kleinere Didactica). Ulrichs Roman setzt auf Blatt 62ra mit dem Incipit ein: Hie hebet an eyn schones buch von eym herczogen yn wynden.32 Im Kolophon nennt sich der Schreiber Petrus von Freysen samt Jahr und Ort der Abschrift (Trier 1442). Hierzu passt die moselfränkische Schreibsprache. Als gemeinsamen Nenner der in Gattung, Stil und Sinngehalt sonst heterogenen Texte des Kodex darf man die Historizität der Stoffe ansehen: Die Vita Karls des Großen ist von der Legende eines spätantiken Heiligen, den heroischen Taten Dietrichs von Bern und der Gründungsgeschichte des böhmischen Reiches (im Licht des Prologs zugleich einer weiteren Legende eines spätantiken Heiligen) flankiert. Handschrift D liegt der Ausgabe Rosenfelds zugrunde und dient in vorliegender Neuausgabe als textkritisches Korrektiv (vgl. Lesartenverzeichnis). Hs. H, Landesbibl. Hannover, Ms. IV 488. Der reicher ausgestaltete Codex enthält nur den ‘Wilhalm von Wenden’. Der Textbestand weist D gegenüber mehrere Lücken (oder D mehrere Zusätze) auf, darunter neben dem Legendenprolog Passagen um Wilhalms Schwertleite, den heimlichen nächtlichen Aufbruch des Herzogspaars, den Heidenkrieg und das Wahlprocedere in Benes Exilland. Doch stehen sich beide Handschriften textkritisch recht nahe, zeigen gemeinsame Fehler und nur wenige sinnrelevante Abweichungen voneinander.33 H entstand um 1435 in der Werkstatt Diebold Laubers von Hagenau und ist mit 62 kolorierten Federzeichnungen versehen. Der Text setzt medias in res mit dem Tod des alten Wendenfürsten ein (v. 103 nach D). Handschrift H liegt der Erstedition Wendelin Toischers (Prag 1876) zugrunde.34
|| 31 Die Überlieferung des ‘Alexander’ stellt sich nicht nur quantitativ (je 6 Hss. und Fragmente), sondern auch qualitativ (die ältesten Fragmente reichen bis zum Beginn, 4 der 6 Hss. in die erste Hälfte des 14. Jh.s zurück) besser dar. Daten nach: http://www.handschriftencensus.de/werke/490 [04.11.16]. 32 Vgl. im Detail im Handschriftencensus: http://www.handschriftencensus.de/3697 [24.06.16], mit Literatur. 33 Einen detaillierten Vergleich der D- und H-Lesarten nach Toischer und einen Abdruck aller D-Zusätze bietet Paul 1917. 34 Vgl. im Detail im Handschriftencensus: http://www.handschriftencensus.de/4881 [24.06.16], mit Literatur.
DOI 10.1515/9783110291858-005
232 | Hinweise zur Ausgabe und zu ihren Paratexten
Die sog. Kloßsche Hs., UB Frankfurt/M., Ms. germ. qu. 2, bewahrt auf Blatt 4ra und 23ra nur wenige Verse des ‘Wilhalm von Wenden’. Es handelt sich um eine um 1370/80 angelegte Sammelhandschrift mit kleinerer Erzählepik (Konrads von Würzburg ‘Schwanritter’, Märendichtung) und wiederum ‘Laurin’ und ‘Rosengarten’.35
B. Textedition: Zur Textgrundlage, mit Anmerkungen zur Normalisierungsdebatte Die vorliegende Studienausgabe bietet die erste Edition des ‘Wilhalm von Wenden’ mit vollständiger Übersetzung und erschließendem Kommentar. Der mhd. Text folgt, auch in der Interpunktion und Textgliederung durch Einzüge, der Ausgabe Rosenfelds (1957) nach Handschrift D, die den vollständigeren Text bietet. Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Wie schon sein Vorgänger Toischer (1876, nach Hs. H) bietet Rosenfeld den spätmittelalterlichen, dialektal gefärbten Lautstand der Überlieferung in normalisiertem Mittelhochdeutsch – ein editionsphilologisch problematisches Verfahren, das indes neuerdings in der mediävistischen Praxis eine vielschichtig reflektierte und begründete ‘Entstigmatisierung’ erfuhr.36 Angesichts der Überlieferung des ‘Wilhalm von Wenden’, die kein entstehungsnahes Korrektiv bereithält, liegt die Problematik des Verfahrens Rosenfelds besonders klar auf der Hand (im Detail zeigt sie das unter dem Ausgabentext mitgeführte Lesartenverzeichnis). Schon Werner Simon, der Herausgeber der ‘Deutschen Texte des Mittelalters’ (DTM), hielt es für angezeigt, in einem kurzen Nachwort zu Rosenfelds Einleitung den „Einzelfall“ eines dergestalt rekonstruierten Textes in einer eigentlich dem „handschriftlichen Befund bis in die Einzelheiten der Lautgebung“ verpflichteten Reihe zu begründen.37 Dass die graphische Normierung und sprachliche Normalisierung in der vorliegenden Ausgabe nicht revidiert und kein ‘bis in die Einzelheiten der Lautgebung’ der Handschrift folgender Text hergestellt wurde, hat allerdings wohlerwogene und durch die auch pragmatischen Motive keineswegs entwertete Gründe. Sie gehen mutatis mutandis mit den Argumenten vieler in jüngerer Zeit erschienener (Studien-)Ausgaben mhd. Texte konform und müssen an dieser Stelle nicht extensiv entfaltet werden. Ich will ad rem nur zweierlei anführen.38
|| 35 Vgl. http://www.handschriftencensus.de/3208; eine vergleichende Analyse der Überlieferung gibt Rosenfeld 1957, XXI–XXIX. 36 Vgl. hierzu grundsätzlich wie exemplarisch unterfüttert zuletzt Runow 2014 und Kragl 2015 (mit Literatur). 37 Werner Simon, Nachwort zu Rosenfeld 1957, XXXIf. 38 Vgl. aktuelle editionsphilologische Begründungs- und Debattenlagen resümierend die oben, Anm. 36, genannten Beiträge Runows 2014 und Kragls 2015 (weiterführend ebd. in Anm. 2).
B. Textedition: Zur Textgrundlage, mit Anmerkungen zur Normalisierungsdebatte | 233
(a) Lehr- und lesepragmatischer Nutzen: Herausgeber und Verlag zielen konzeptionell auf eine Studien- und Leseausgabe. Leitidee ist, einen bislang in der Lehre kaum präsenten Schlüsseltext des späteren 13. Jahrhunderts neu, gut lesbar und im Epochen- und Gattungskontext vergleichbar zugänglich zu machen. So sinnvoll die überlieferungsnahe Ausgabe für den Fachnutzer ist und stets bleibt, so unverzichtbar machen weithin normierte, modularisierte Studiengänge mit ihren allenthalben reduzierten mediävistischen Fachanteilen entsprechend aufbereitete Texte. Im Unterschied zu früheren Phasen der Editionsphilologie kann solche Aufbereitung heute aber keine stillschweigende Selbstverständlichkeit mehr sein, sondern sie bedarf, auch in ihren ästhetisch-literarhistorischen Implikationen, grundlegender und begleitender Reflexionen, die sich durch die Paratexte unmittelbar in den Lektüreprozess übertragen. Die ‘Aufbereitung’ umfasst folgende Kategorien und Schritte: 1. graphische Normierung (etwa von u/v, i/j/y, rundem und Schaft-s); 2. lautliche Normalisierung (sprachhistorisch wie dialektal, etwa durch Vereinheitlichung variierender Lautqualitäten und -quantitäten) – dies die mit Blick auf die Historizität des Textes und seiner Überlieferung fraglos heikelste Kategorie, die aber nicht isoliert von den anderen zu sehen ist; 3. paratextuelle Offenlegung und Reflexion des Verhältnisses von Überlieferung und Edition; 4. synoptische Übersetzung. Man mag es bedauern oder nicht, doch kommt die so ‘normalisierte’ Ausgabe dem nicht- und vorprofessionellen Nutzer auf halbem Wege entgegen, indem sie dialektale, metrische und schreiberindividuelle Hürden senkt, das Werk besser in seinem historischen Umfeld verortbar macht und insgesamt die Distanz zwischen den drei Zeitschichten, die an seiner Sinngebung mitwirken, reduziert: der Entstehungszeit im späten 13., der Überlieferungszeit im frühen 15. und der Rezeption im beginnenden 21. Jh. (de facto, mit Blick auf die späten Handschriften, auch eine Art sekundärer Rezeption). Nur sollte sich auch das Lesepublikum stets bewusst sein (und das Bewusstsein zu schärfen dienen diese Zeilen), dass ein solcher Text in hohem Maß rekonstruiert ist und nicht wie jeder Handschriftenabdruck als historische Momentaufnahme taugt. Überlieferungs-, sprach- und textkritische Analysen werden nie ohne die im Digitalisat heute relativ leicht zugänglichen Handschriftenbefunde auskommen. (b) Fach- und methodengeschichtlicher Zeugniswert: Die altgermanistische Philologie und Editionspraxis hat eine ehrwürdige Tradition, die schon vor Karl Lachmann einsetzt und zu keiner Zeit auf dessen folgenreiche Methode reduziert werden kann. ‘Ehrwürdig’ heißt auch, aber eben nicht unter jeder Perspektive zugleich ‘alt’ und ‘veraltet’. Denn jede kritische Arbeit mit tradierten Editionen konfrontiert über den edierten Text hinaus auch mit der eigenen Fachgeschichte und dem disziplinären Selbstverständnis, das sie jeweils bestimmte, mit Kanon- und Methodenprämissen, mit der Widerständigkeit der Überlieferung gegen herrschende Lese- und Deutungskonventionen. Diese Ausgabe will diese Konfrontation. Sie will die Dokumentation der Tradition zum Teil ihrer Aussage und ihres Nutzwerts machen. Dafür bietet sie das nötige Rüstzeug, namentlich durch die Integration aller sinnrelevanten Abweichungen des edierten vom leithandschriftlichen Text.
234 | Hinweise zur Ausgabe und zu ihren Paratexten
Die im Fortgang näher zu erläuternde Entscheidung, den Text Rosenfelds grundsätzlich intakt zu belassen und seine Abweichungen von der Überlieferung als kursivierte ‘Stolpersteine’ zu präsentieren, dient beidem: der Würdigung des edierten Textes als Dokument der Fach- und Editionsgeschichte und dem Aufweis seiner verdeckten Prämissen und philologischen Grenzen.
C. Übersetzung Ulrichs Roman versteht sich bei oberflächlicher Lektüre vergleichsweise gut, ist aber oft schwierig zu übersetzen, zumal wenn die Übersetzung zugleich Textnähe und Eleganz sucht. Dies hängt allgemein mit den Unterschieden der mhd. und gegenwartssprachigen Lexik, aber auch speziell mit dem ‘nachklassischen’ Epochenstil und individuellen Zügen Ulrichs zusammen. Pars pro toto seien nur einige Untiefen benannt, die jede Übersetzung zu einem Unterfangen ganz eigener Art geraten lassen: 1. Sprache ist Sprache im Wandel, nicht nur in der Lautung, sondern noch mehr in der Semantik. Nun entwickeln sich Bedeutungen, anders als Lautungen, nicht linear einsinnig (wîp > Weib), sondern dynamisch und kontextabhängig. Sie verengen, verschieben, erweitern ihr Bezugsfeld, ihre De- und Konnotationen, ihre ‘Valeurs’. Ein flüchtiger Blick in ein Wörterbuch reicht, um die abstrakte Feststellung zu konkretisieren. Die Kluft von gut 700 Jahren zwischen Ulrichs und unserem Deutsch zu schließen, gestaltet sich daher nicht nur der Überlieferungslage wegen schwierig. Mhd. werde ist (auch bei Ulrich) nicht immer richtig oder treffend mit ‘Würde’ (bzw. adjektivisch ‘edel, würdig’) übersetzt, wesen kann die angestammte Art (auch mhd. art, Herkunft, Stand), aber auch Charakter-, ja sogar situative Gemütsdispositionen meinen, clâr mit ‘schön, rein, lauter’ auf die äußere Erscheinung oder das innere Wesen zielen, und dergleichen mehr. Unabhängig von Autor-, Genre- oder Zeitstil ist das Bedeutungsspektrum im Mhd. meist weiter, die konkrete Bedeutung kontextabhängiger; und die historisch je gültige Bedeutung ist aufgrund der kulturellen Distanz nicht immer präzise zu bestimmen. Eine Übersetzung nähert sich daher immer nur tentativ an den Ursprungssinn an, trifft ihn nie eins zu eins. Daneben geraten die beiden Prinzipien Präzision und Eleganz in Widerstreit: Wer wollte jedes Füllwort, jedes redundante dô oder dâ, jedes Epitheton, jede im Vortrag womöglich gestisch vereindeutigte Unklarheit, jede syntaktische Eigenheit bis an die Grenze der Lesbarkeit in einer Übersetzung wiederfinden, die doch die Distanz zum Original mindern und nicht vergrößern soll? Jeder Einzelfall wird hier zum potentiell anfechtbaren Kompromiss. Der Übersetzer ist sich dessen bewusst und muss zu seinen Kompromissen stehen. 2. Zum Allgemeinen tritt das Spezielle. Ulrichs Wettstreit mit den höfischen Vorbildern, vor allem mit Wolfram, trägt nicht eben zu semantisch-syntaktischer brevitas und perspicuitas bei. Zumal in Pro- und Epilog, in Digressionen und Deskriptionen neigt der Dichter zum ‘Blümen’, zu komplexen Hypotaxen, gesuchten Metaphern, rhetorischen Spielereien
C. Übersetzung | 235
(Pleonasmen, Periphrasen, Anakoluthen, Apokoinu-Konstruktionen), dazu durchweg zu redundant-schönfärbenden Epitheta wie werde, hêr, wîplîch, clâr, süeze – nebst ihren Ableitungen und Synonymen. Es wäre hier ebenso verfehlt, als Übersetzer zwanghaft zu variieren, um offenbar gewollte Monotonien zu meiden, wie umgekehrt, die inflationären Begriffe stets mit dem gleichen nhd. ‘Äquivalent’ wiederzugeben, um Ulrichs Stil zu imitieren – scheinbar zu imitieren, nebenbei, denn die Rezeptionssituation ist eine andere und das je richtige Äquivalent etwa für werde kennen wir nicht, vgl. Punkt 1. 3. Der Erzähler unterbricht die Handlung kontinuierlich durch Kommentare und Reflexionen. Er räsoniert über Gott und die Welt, über die Helden, ihre Liebe, ihr Kalkül und ihre Gefühle, über Schönheit, Jugend, Tugend und Leid. Die ‘Scharnierstellen’ zur Diegese sind oft unklar markiert. Und gerade wo er sich selbst ins Spiel bringt, zieht der Erzähler auch alle Register seines rhetorischen Könnens. Die Übersetzung muss akzeptieren, dass dies mitunter bis an die Grenze der Verständlichkeit geht. Sie bleibt oft Sinnsuche, in manchen Fällen auch kontextgebundene Sinnunterstellung. 4. Konträr zum früheren ‘Alexander’ geizt Ulrich im ‘Wilhalm von Wenden’ mit Eigennamen. Betroffen sind Länder, Orte und insbesondere Figuren. Die Deutung deiktischer Partikel, Pronomina oder unbestimmt zugewiesener Namenssurrogate (herre, vrouwe, heide, gast, der/diu/die werde/n) ist daher oft schwierig, mitunter unmöglich. Zudem ersetzt eine Fülle formelhafter Epitheta und Metonymien, deren wörtliche Übersetzung erst nhd. hölzern und spröde wirkt, die Eigennamen (übersetzt man wîplîche wirde mit Schillers ‘Würde der Frauen’? Meinte Ulrich das wirklich?). Auch dies ist ein zeittypischer Zug ‘geblümter’ Rede. Am auffälligsten sind die Namenlosigkeit Benes, immerhin der zweiten Hauptfigur, bis zur Textmitte (v. 4025), der Zwillinge bis kurz vor Textende. In beiden Fällen liegen programmatische Intentionen nahe, aber das gilt nicht immer. Bene erhält ihren Namen kurz vor dem panegyrischen Exkurs, der ihn auf die Mäzenin Guta projiziert, und die Namenlosigkeit der Kinder steht für ihre fehlende Identität, ihre nicht individualisierbare Schicksals- und Lebenspaarung, in der das für den einen Erzählte implizit wie explizit unterschiedslos auch den anderen meint. An entscheidenden Stellen lässt der Erzähler sogar offen, wer von beiden spricht oder von wem er selbst spricht. Damit sind zumindest einige Gründe benannt, derentwegen eine Übersetzung das Original weder anderssprachlich abbilden noch gar ersetzen kann. Die rechte Spalte dieser Ausgabe will zur linken hinführen, ihr Verständnis erleichtern, die Distanz zu ihr mindern, aber nicht in literarischen Wettstreit mit ihr treten. Wo Glättungen und Redundanzabbau angezeigt erschienen, geschah beides nicht zur Verbesserung, sondern um die Übertragung auch für sich verständlich und gut lesbar zu halten. Bei Unklarheiten oder Leerstellen, die sich aus den oben exemplifizierten Eigenheiten ergeben, wurde zwangsläufig oft freier verfahren. In wichtigen Fällen gibt der Stellenkommentar dann Rechenschaft über allfällige Zweifel und Alternativen. Zu erwähnen ist auch, dass die im Lesartenapparat dokumentierte Überlieferung nicht selten problemloser, ja origineller und originaler erscheint:
236 | Hinweise zur Ausgabe und zu ihren Paratexten
In solchen Fällen ist unbedingt gegen Rosenfeld zu lesen. Daher sollten die im mhd. Text kursivierten Passagen auch bei einer auf die Übersetzung beschränkten Lektüre stets mit dem Apparat abgeglichen werden. Die Versgliederung ist im Druckbild der Übersetzung gewahrt, gleichwohl folgt der nhd. Text durchweg der heutigen Grammatik und Syntax. Archaisierende Effekte sind gemieden, allzu penetrant wiederholte Epitheta und Füllwörter unübersetzt geblieben, syntaktisch-grammatische Mehrdeutigkeiten wo möglich getilgt (indem zum Beispiel Pronomina durch Namen ersetzt sind) oder kommentiert. Die Interpunktion ist für mhd. Texte grundsätzlich Herausgeberzutat. Der Übersetzer weicht hier fallweise von Rosenfelds Vorgabe ab, wenn Logik, bessere Verständlichkeit und/oder heutige Sprachpraxis andere Satzgrenzen nahelegen. Dies soll auch Hinweis darauf sein, dass der mhd. Text selbst anders interpungiert werden kann, mitunter auch sollte.
D. Apparate Verzeichnis der Überschriften: Im ersten Apparat sind Überschriften und Textlücken für vorgesehene Überschriften nach D vermerkt. Die Transkriptionsprinzipien entsprechen denen des Lesartenapparats (s. u.). Gerade weil sie nicht Teil des Urtextes sind, interessieren die Überschriften als text- und rezeptionsgeschichtliches Zeugnis: Sie markieren Sinneinschnitte, die man um 1450 sah und die von den heutigen abweichen können. Im Regelfall gehen die Überschriften mit Abschnittswechseln und roter Folgeinitiale einher. Hs. H bietet als zusätzlichen Strukturmarker einen Illustrationszyklus aus der LauberWerkstatt (daraus die Umschlagabbildung).39 Verzeichnis der D-Lesarten: Für diese Ausgabe wurde Rosenfelds Text unter Mitarbeit von Frank J. Noll (Karlsruhe) nach D komplett neu durchgesehen. Es boten sich zwei Möglichkeiten, die Erträge zu dokumentieren: Rücknahme von Rosenfelds Änderungen im Haupttext oder Aufnahme des Überlieferten in paratextueller Form. Beides hat Vor- und Nachteile. Ich ziehe die zweite Option vor, weil sie die wechselseitige Zitierfähigkeit der Ausgaben garantiert und einen philologischen Zwitter vermeidet, wie ihn jede nur halbherzige Textrevision erzeugt hätte – zumal auch die Corrigenda nach Rosenfelds Methode hätten normalisiert werden müssen, um nicht aus dem sprachlichen Rahmen zu fallen. Die meisten Änderungen Rosenfelds lassen sich in vier Klassen einteilen: 1. graphische Normierung und lautliche Normalisierung; hier geht es v.a. um die Anpassung der dialektal und spätmittelalterlich überformten Schreibsprache an den ‘normalmhd.’ Lautstand;
|| 39 Zum Bildprogramm vgl. Saurma-Jeltsch 2001, Bd. 2, 47–49 (mit Lit.).
D. Apparate | 237
2.
metrische Vereinheitlichung; der zweithäufigste Eingriffstyp führt fallweise zur Tilgung oder zur Einfügung von Füllwörtern (dâ, dô, und, vil), zur Annahme oder zum Ausschluss von Enklisen/Kontraktionen/Apokopen, zu Wortersetzungen oder -umstellungen, mitunter auch zu komplexeren (selten versübergreifenden) Umformulierungen; 3. stilistische Glättung, etwa durch Beseitigung von Wortwiederholungen; 4. syntaktische Regulierung; sie ist oft mit Interpunktionsentscheidungen verbunden, so bei Auflösung von Apokoinu-Konstruktionen oder beim Austausch von Konjunktionen.
Wo Rosenfeld nach H emendiert, ist das Ergebnis zumindest historisch abgesichert (wiewohl es, wenn nicht zwingend begründet, dem Leithandschriftenprinzip zuwiderläuft). Methodisch heikler sind Konjekturen gegen D und H, die zwar nicht übermäßig oft vorkommen, dafür aber fast durchweg verzichtbar sind (vgl. im Lesarten-Verzeichnis die Fälle ‘DH’ bzw. ‘gegen DH’). Rosenfelds sprachlich-metrischen Eingriffen liegt eine idealisierte mhd. Sprachnorm zugrunde, der sich die Überlieferung des 15. Jahrhunderts, schon jenseits der Schwelle zum Frühneuhochdeutschen, nicht mehr fügt, die in dieser Konsequenz aber auch bei autornäherer Überlieferung nicht unterstellt werden kann, wie der besser überlieferte ‘Alexander’ zeigt. Einige Beispiele aus dem Beginn mögen den Charakter der zahlreichen, meist kleinteiligen, selten bedeutungsrelevanten Textänderungen andeuten: Metrisch bedingt wird hs. bottschafft zu boteschaft (v. 156), sym zu sîme (v. 148), endeten zu anten (v. 274), zu dinst zeme zu ze dienste gezæme (v. 285), Wilhalm oft, aber nicht systematisch zu Willehalm und vice versa. In der Regel zielen diese Änderungen auf regelmäßig alternierende Verse und ‘normalmhd.’ Lautung. Auch Kontraktionen (seit < saget, schicten < schicketen), Enklisen (zer < zu der) und die Auflösungen von Enklisen (ze der port < zur port) sind meist metrisch begründet und dementsprechend häufig. Hinzu treten Wortumstellungen im Vers, seltener Umstellungen ganzer Verse, die Schließung von Reimlücken, die Korrektur möglicher oder eindeutiger Schreibfehler. Aus Stilgründen sind zahlreiche Wiederholungen getilgt, obwohl gerade sie auch Stilmittel späthöfischen Blümens sein können. Im Lesartenverzeichnis sind alle Änderungen verzeichnet, die sich, auch niedrigschwellig, irgend sinnändernd oder -nuancierend auswirken. Das Verzeichnis ist damit weniger als philologischer Apparat denn als Dokumentation semantischer Varianz konzipiert.40 In Grenz- und in Einzelfällen waren Ermessensentscheidungen nötig, die im Zweifel für, nicht gegen die Aufnahme fielen. Daher sind auch minimale, sogar nur mögliche Nuancen sichtbar und damit evaluierbar gemacht (etwa bei scheinbaren Synonyma wie lieht/clâr, grammatikalisch-syntaktischen Varianten, nicht zweifelsfreien Fehlern). Gleiches gilt für Fälle, in denen der Herausgeber kein Urteil präjudizieren wollte. Um die Sinnabweichung zu erläutern, gibt das Lesartenverzeichnis von Fall zu Fall auch Überset-
|| 40 Lesartenapparate bieten dem jeweiligen Methodenstand entsprechend Rosenfeld 1957 (D, selektiv H nach Toischer) und Paul 1917, 351–359 (H).
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zungsalternativen an die Hand. Nicht vermerkt sind bloße satz- oder versinterne Wortumstellungen (wohl aber die Umstellung ganzer Verse). Generell verzichtet wurde auf kodikologisch-paläographische Hinweise zur Handschrift, wie Einrichtung, Schreiberwechsel u.ä., wofür leicht auf die einschlägigen Kataloge und die Marburger Repertorien rekurriert werden kann. Der Editionstext nach Rosenfeld erscheint im Lesartenapparat recte, der D-Text kursiv. Alle Kürzungen sind aufgelöst. In Spitzklammern stehen Rosenfelds Ergänzungen zum D-Text (meist metrisch, stilistisch oder syntaktisch bedingt), ‘DH’ bzw. ‘gegen DH’ markiert die Fälle, in denen das Edierte von beiden Textzeugen abweicht (Konjekturen). Um die Lektüre für editorische Eingriffe zu sensibilisieren und den Abgleich mit dem Überlieferten zu erleichtern, sind die dokumentierten Änderungen im Text kursiviert. Zur besseren Orientierung in der Handschrift sind Seiten- und Kolumnenziffern nach D ergänzt.
E. Stellenkommentar (im Anschluss an den Text) Der fortlaufende Stellenkommentar versteht sich in erster Linie als Sachkommentar. Er soll 1. das Textverständnis durch Erläuterung von Sach- und Fachtermini erleichtern, 2. wichtige intra- und intertextuelle Bezüge aufdecken (so die Struktur- und Motivzitate aus dem Werk Wolframs), 3. Deutungs- und gelegentlich Forschungshinweise bieten. Vollständigkeit ist dabei nicht angestrebt.
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Abbildungen | 249
Ulrich von Etzenbach, Wilhalm von Wenden, Hs. Dessau, Landesbücherei, Hs. Georg. 224.4°, fol. 113r: Schlusspassage (v. 8222–8310)
250 | Abbildungen
Ulrich von Etzenbach, Wilhalm von Wenden, Hs. Dessau, Landesbücherei, Hs. Georg. 224.4°, fol. 113v: Schlusspassage (v. 8311–8338) mit Schreibernachtrag und Kolophon.