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German Pages 363 Year 2010
Wieland/ Übersetzen
Wieland/Übersetzen Sprachen, Gattungen, Räume
Herausgegeben von Bettine Menke und Wolfgang Struck
De Gruyter
Der vorliegende Band geht in seiner Konzeption und der Mehrzahl seiner Beiträge auf die Tagung „Wieland/Übersetzen“ zurück, die von der DFG gefördert wurde. Lektorat: Sabine Frost Einbandabbildung: Gustave Doré, Illustration zu Dante Alighieri Inferno (Tafel 9, Gesang III, Charon), 1857 (Ausschnitt).
ISBN 978-3-11-024580-6 e-ISBN 978-3-11-024581-3 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Wieland, Übersetzen : Sprachen, Gattungen, Räume / edited by Bettine Menke, Wolfgang Struck. p. cm. Includes bibliographical references. ISBN 978-3-11-024580-6 (alk. paper) 1. Wieland, Christoph Martin, 1733-1813--Criticism and interpretation. 2. Translating and interpreting. I. Menke, Bettine. II. Struck, Wolfgang. PT2571.W48 2010 838‘.609--dc22 2010040677
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© 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Gesamtherstellung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen
∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Bettine Menke/Wolfgang Struck: Wieland/Übersetzen. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1. ÜBERSETZUNGEN (I): DER DEUTSCHE SHAKESPEARE Bettine Menke: Mit Steken-Pferden zum Deutschen Shakespeare. (Wieland, Goethe, A.W. Schlegel, sowie Benjamin) . . . . . . . . . . . . . . 13 Anselm Haverkamp: Pyrrhus’ Sieg. Shakespeare .. Wieland . Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Martin Jörg Schäfer: Machtübertragung, Metaübersetzung. Wielands Das Leben und der Tod des Königs Lear . . . . . . . . . . . . . . . 57 2. ÜBERSETZUNGEN (II): TECHNIKEN UND EFFEKTE, KOMMENTARE, PARATEXTE Armin Schäfer: Wieland liest die Briefe des Horaz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Katharina Roettig: Wielands Übersetzen. Versuch einer Neubewertung am Beispiel von Aristophanes’ Wolken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Daniel Ulbrich: O veteres mei, quos ego videre videor. Zur Relation von Vor-Augen-Stellen und Paratextualität in Christoph Martin Wielands Horaz- und Cicero-Übersetzungen . . . . . . . . . . . . . 122 Uwe Wirth: Der Herausgeber als Übersetzer und Autor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 3. ÜBERTRAGUNGEN – MASKERADEN – TRA(NS)VESTIEN Florian Gelzer: Wielands Übertragungen des Galanten. Am Beispiel von Gandalin oder Liebe um Liebe (1776) . . . . . . . . . . . 165
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Alexander Honold: Quijote im Wunderland. Wielands Don Sylvio als literarisches Sozialisationsmodell . . . . . . . . 179 Rüdiger Campe: Agathon und deutscher Shakespeare. Wielands Stellung im Wissen der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 4. TRANSLATIO (IMPERII): ROMANE DES STAATS UND ÜBERSETZUNGEN DES POLITISCHEN Wilhelm Voßkamp: Transzendentalpoetik. Zur Übersetzung utopischer Diskurse in Wielands Goldnem Spiegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Charlton Payne: Narrative Souveränität. Wielands parodistischer Erzähler als ‚Übersetzer‘ der Französischen National-Versammlung . . . . . . . . 237 Dietmar Schmidt: Spiel und Übersetzung. Wieland zum Zeitvertreib . . . . . . . . . . . . . . . 251 5. WUNDERBARE OPERATIONEN: ÜBER DIE GRENZEN VON LITERATUR UND WISSEN Volker Mergenthaler: Wieland über-setzen. Goethes „dreyfache Operation“ „zu brüderlichem Andenken Wielands“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Kristina Kuhn: Das augenfällig Geheime – Zur vermittelten Unmittelbarkeit spätaufklärerischer Historiographie. Wielands „Beyträge zu einer geheimen Geschichte der Menschheit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Stefan Rieger: ‚Bonifaz Schleichers Jugendgeschichte‘. Zur Selbstunzugänglichkeit bei Christoph Martin Wieland . . . . . . . . . 318 Wolfgang Struck: „(Die Fortsetzung künftig)“. Georg Forster und Christoph Martin Wieland auf der Reise nach Kythera . . . . . . . . . . . . 332 Zu den Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355
Bettine Menke/Wolfgang Struck
Wieland/Übersetzen. Einleitung Und siehe, zu uns kam auf einem Schiffe Ein Greis mit den von Alter weißen Haaren Und rief uns zu: „Weh euch, ihr schlechten Seelen. Hofft nicht, daß jemals ihr den Himmel sehet. Ich will euch an das andre Ufer führen In ew’ge Finsternis, in Frost und Hitze. Und du, die du dort stehst, lebendige Seele, Heb dich hinweg von denen, die gestorben.“
Ed ecco verso noi venir per nave Un vecchio bianco per antica pelo, Gridando: „Guai a voi, anime prave! Non isperate mai veder lo cielo: Io vegno per menavi all’altra riva Nelle tenebre eterno, in caldo e in gelo E tu, che sei costì, anima viva, Pàrtiti da costeti che son morti.“1
Charon, der Fährmann, der im Dritten Gesang von Dantes Inferno die Toten über den Acheron in die Hölle übersetzt, kann wohl als eine der düstersten Übersetzer-Figuren gelten. Was er übersetzt, ist für immer getrennt von dem, was es einmal war. Das 18. Jahrhundert Wielands scheint das Übersetzen optimistischer zu betrachten als das 14. Dantes. Und doch: Auch Wielands Szenen des Übersetzens – der Überschreitung, der Übertragung, der Übertretung – sind nicht ohne Abgründe. Zumindest sind sie selten risikofrei: Inzwischen bricht mit fürchterlichem Sausen Ein unerhörter Sturm von allen Seiten los; Des Erdballs Axe kracht, der Wolken schwarzer Schooß Gießt Feuerströme aus, das Meer beginnt zu brausen, Die Wogen thürmen sich wie Berge schäumend auf, Die Pinke schwankt und treibt in ungewissem Lauf, Der Bootsmann schreyt umsonst in sturmbetäubte Ohren, 2 Laut heult’s durchs ganze Schiff, weh uns! wir sind verloren!
Das Übersetzen, sei es die Überfahrt mit einem Kahn oder einem Schiff, sei es der Transfer zwischen den Sprachen und Kulturen, folgt seinen eigenen Regeln, kreiert seine eigene Welt, ein Zwischenreich, nicht immer und nicht unbedingt, so wie hier im dramatischen Moment der Seefahrt Hüons und Amandas im Versepos Oberon, zwischen Leben und Tod, aber doch geeignet, die Ahnung einer anderen Welt zu evozieren – und wie hier der
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Dante Alighieri: Göttliche Komödie, italienisch/deutsch, übers. und kommentiert von Hermann Gmelin, Stuttgart 1949, Reprint München 1988, Die Hölle, Dritter Gesang, Vers 82–89, S. 40f. Christoph Martin Wieland: Oberon, 7. Gesang, Strophe 18, in: ders.: Sämmtliche Werke (1794–1811), Reprint Hamburg 1984 (=SW), Bd. 7/23, S. 15.
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Bettine Menke/Wolfgang Struck
unerhörte Seesturm die selbst- und vor allem weltvergessen Liebenden wieder auf den schwankenden Boden der Tatsachen zurückzuholen. Wer ein Gebirge oder eine Wüste durchquert, so wie der Emir aus dem Yemen im Goldnen Spiegel, gerät in Gefahr, von Räubern überfallen zu werden und sich unversehens „in einem wilden, unbekannten Gebirge auf einmahl ohne Zelten, ohne Geräthe, ohne seine Weiber und Verschnittene, ohne Küche und sogar ohne Kleider“ zu befinden3, wer sich dem noch unsichereren Element des Wassers überlässt, läuft Gefahr, den Verführungskünsten affenköpfiger Feen-Prinzessinnen zu erliegen, so wie der Titelheld in Timander und Melissa, von Delfinen entführt und von Walfischen verschlungen zu werden, so wie es dem Prinzen Biribinker in seinem Märchen geschieht.4 Eben dieses Geschick war in Bonifaz Schleichers Jugendgeschichte auch dem alten Schlosser Gadriga in seinen jungen Wanderschafts-Jahren widerfahren, der, nachdem er sich in Delft und Rotterdam „in frischem Häring und Lachs und Austern dick gefressen“ in „einem großen Boote nach Harwich in England überfahren wollen“, dabei aber Schiffbruch erlitten hatte, und „just da ich vor Mattigkeit nicht einen Augenblick länger hätte schwimmen können, von einem ungeheuern Wallfisch verschluckt“ worden war, in dessen Bauch „unsre große Pfarrkirche mit sammt dem Thurm und den Seitenkapellen […] Platz gehabt hätte!“5 Berichtet wird uns noch, wie er sich dort von der zentnerschweren Leber – „so groß wie fünf oder sechs von den größten Elsasser Mastschweinen, die ihr in eurem Leben gesehen habt“ – ein Stückchen abgeschnitten und daraus Leberklößchen gekocht hat. Wie er aber den Weg aus dem Bauch des Wals zurück in die deutsche Kleinstadt gefunden hat, in deren Wirtshaus er Sonntag für Sonntag das Abenteuer seines Lebens einem ungläubigen Publikum vorträgt, bleibt uns vorenthalten – da seine Geschichte leider vom Erzähler als allzu schlecht gewähltes Exempel zur Diskursivierung eines moralisch-psychologischen Problems abgetan wird. Klar ist aber hier, wie auch in den anderen Fällen, dass das Unglück auf der vergleichsweise unspektakulären Überfahrt von Rotterdam nach 3 4
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Christoph Martin Wieland: Der goldne Spiegel oder Die Könige von Scheschian. Eine wahre Geschichte aus dem Scheschianischen übersetzt, SW, Bd. 2/6, S. 77. Christoph Martin Wieland: Timander und Melissa, in: ders.: Dschinnistan oder auserlesene Feen- und Geistermärchen, hg. von Hannelore Schlaffer, München 2007; ders.: Der Sieg der Natur über die Schwärmerei. Oder Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva. Eine Geschichte worin alles Wunderbare natürlich zugeht (1764): Das Märchen vom Prinzen Biribinker, Leipzig 1795. Christoph Martin Wieland: Bonifaz Schleichers Jugendgeschichte, oder Kann man ein Heuchler seyn ohne es selbst zu wissen? Eine gesellschaftliche Unterhaltung, SW, Bd. 5/15, S. 123ff.
Wieland/Übersetzen. Einleitung
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Harwich nicht das Ende einer Geschichte sein kann, sondern einen Anfang markiert, der eigentlich zu einer Erzählung werden müsste – und das in der Regel bei Wieland auch wird. Ihrer vertrauten Welt entrissen, haben sich die Protagonisten dieser Geschichten in einer neuen Umgebung zu behaupten. Davon erzählen die Geschichten ebenso wie von eben jenen Unfällen, die dafür allererst verantwortlich sind. Erst das Unglück rückt die Passage selbst in den Blick, setzt frei, was im Dazwischen liegt – ein Medium. Das gilt nun auch für das Übersetzen im engeren, nämlich in dem Sinn, in dem es die Passage von der einen Sprache in die andere, von der einen Literatur in die andere, bezeichnet. Der Rest dieser Szene läßt sich nicht wol übersetzen. Speed, der, nach dem löblichen Gebrauch der Comödien, gescheidter als sein Herr ist, belehrt denselben mit vielen Umschweiffungen von Wortspielen und kühlen Spässen, daß dieser Auftrag den ihm Silvia gemacht, und die Zurükgabe des Briefs nichts anders als ein Kunstgriff sey, wodurch ihm diese Dame auf eine feine Art ihre Liebe habe erklären wollen. Valentin, welcher dieses nicht gemerkt hatte, begnügt sich hierauf zu sagen: Ich wünsche, es möge nichts schlimmers seyn; und sie gehen endlich ab, weil 6 es, nach Speeds Beobachtung, Mittag-Essens-Zeit ist.
Mit diesem Übersetzer-Kommentar endet in Wielands Übersetzung, Die zween edle Veroneser, die 1. Szene des 2. Akts von Shakespeares The Two Gentlemen of Verona. Wenn ein Diener seinem Herrn die höchst ökonomischen und gar nicht so geheimen Zeichen der Liebe erklären muss, dabei aber die (Laut-)Zeichen des Englischen in einen semiotischen Exzess treibt, dann mag das das Misstrauen des Hermeneutikers erregen. Es zwingt aber vor allem den Übersetzer zur Kapitulation. Wenn Wieland eben dieses Eingeständnis dem Text selbst hinzufügt, wo er das Übersetzen unterließ, dann bekennt er sich dazu, der Gefangene seiner Sprache zu sein, einer Sprache, die alles andere als universell und transparent ist und die ihre eigene, dem Englischen nicht ohne weiteres folgende Dynamik entfaltet. Es ist die deutsche Sprache, mehr noch aber die Sprache, die Wieland allererst erzeugt auf der Suche nach einem deutschen Shakespeare. Die zahlreichen Kommentare, die Wielands Shakespeare-Übersetzungen durchziehen, rücken, wie die Unglücke, die den Reisenden zustoßen, den Prozess der Übertragung selbst als einen riskanten, für Verfehlungen und Fehlgänge anfälligen in den Blick. Hier wird eben nicht einfach angeeignet, sondern der Prozess der Aneignung offengelegt. In Romeo und Juliette findet sich der folgende Kommentar: In dieser Rede, der Antwort des Romeo, und etlichen folgenden Zeilen, die man gänzlich weglassen mußte, dreht sich alles um Wortspiele mit Bound und bound, 6
William Shakespeare: Die zween edle Veroneser (II/1), in: ders.: Theatralische Werke (=TW), übers. von Christoph Martin Wieland, in 21 Bde., hg. von Hans und Johanna Radspieler, Zürich 1995, Bd. 16, S. 30.
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soar und sore, und ein paar eben so frostige Antithesen herum. Alles dieses armselige Zeug findet sich, wie Pope bemerkt, nicht in der ersten Ausgabe dieses Stüks 7 von 1597.
Hier soll eine philologische Operation etwas heilen, das dem Text geschehen ist – es soll wieder getilgt werden, was laut Pope eine Verunreinigung durch Schauspieler darstellt, die dem Text Versatzstücke ihrer Bühnenpraxis hinzugefügt hätten. Was aber tatsächlich geschieht, ist, dass Wieland die Wunde, die diese Operation hinterlässt, nur um so deutlicher exponiert, als eine Narbe, um die dann seine Paratexte zu wuchern beginnen. Ein solches Wuchern findet sich auch dort, wo Wieland nicht – wirklich – übersetzt, sondern wo er Szenen des Übersetzens fingiert. Bereits im Untertitel findet sich eine solche Szene in Der goldne Spiegel oder Die Könige von Scheschian. Eine wahre Geschichte aus dem Scheschianischen übersetzt. Dieser Titel stellt jedoch nicht nur eine grobe Verkürzung, sondern eine Verfälschung dar. Tatsächlich nimmt die Chronik der Könige von Scheschian ihren Weg über „die besten Köpfe von Indostan“, die ein Werk schaffen, „welches Hiang-Fu-Tsee, ein wenig bekannter Schriftsteller, in den letzten Jahren des Kaisers Tai-Tsu, unter dem Namen des goldnen Spiegels ins Sinesische, – der ehrwürdige Vater I.G.A.D.G.I. aus dem Sinesischen in sehr mittelmäßiges Latein, und der gegenwärtige Herausgeber aus einer Kopie der Lateinischen Handschrift in so gutes Deutsch, als man im Jahre 1772 zu schreiben pflegte, übertragen würdig gefunden hat“.8 Einen ‚scheschianischen‘ Urtext also würde man, selbst innerhalb der Fiktion, vergeblich suchen. Ihn haben „die besten Köpfe von Indostan“ fingiert. Aber auch all die weiteren Übersetzer greifen nicht nur mehr oder weniger stark – in jedem Fall aber philologisch unkontrollierbar – in den Text ein, sie schalten sich auch kommentierender Weise immer wieder ein. Und nicht nur sie, auch die ihnen jeweils vorliegenden Dokumente selbst zeigen Lücken, Unlesbarkeiten oder auch, wie das ‚sehr mittelmäßige Latein‘, sprachliche Mängel, die den Sinn kaum unangetastet lassen dürften. Und dieses ganze Szenario sei nur erfunden worden, um (wie es bereits Zeitgenossen Wielands bemerkt haben, wie es ein Zeitgenosse unserer Gegenwart vor kurzem noch einmal hervorgehoben hat) uns ein Reich vor Augen zu führen, das mit seinen 130 Klein- und Kleinstfürstentümer ein allzu getreues Pendant des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nationen von 1772 darstellt?
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TW, Bd. 17, S. 31. Wieland: Der goldne Spiegel, S. 30f.
Wieland/Übersetzen. Einleitung
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Wieland markiere, so Walter Erhard, in solchen Szenarien nicht die Distanz zu einem zu übersetzenden Fremden, sondern er zerspiele sie gleichsam, er „entwertet und ironisiert […] die Topographien und Zeichen des Fremden“, modelt sie gemäß „dem Drehbuch aufklärerischer Psychologie, also einem Vorgang der Übersetzung und der Übersetzbarkeit des Fremden ins Eigene.“9 Ein psychologisierend-anthropologischer Universalismus also sei in Wielands Konstruktionen des Fremden am Werk, auf den alles hochgerechnet wird. Was dabei herauskommt, sind Psychen, die ohne weiteres dem Autor oder seinem mitteleuropäischen Leser – qua Einfühlung – zugänglich sind. Wie sollte es auch anders sein? Sind sie doch – etwa im Goldnen Spiegel – nichts anderes als eine Erfindung eben dieses Autors. – Oder? Das nämlich, wie es anders sein könnte, ist die Frage Wielands, und daher sind die Figuren der Fremdheit und die Prozesse der Übersetzung (so unsere These) keineswegs so einfach abzutun. – Oder? Uns scheint, dieses Oder ist ein für Wieland sehr typischer Gestus, es ist einer des Einspruchs (auch gegen sich selbst), einer Unterbrechung und anderen Fortfahrens. Wielands Frage, oder besser: eine der Fragen, die wir an und mit Wieland stellen wollen, lautet: wie könnte etwas seinen Weg in den Text finden/gefunden haben, das nicht einfach Produkt des Autors ist? In eben den Universalismus, der alles in alles übersetzbar macht, interveniert das Bewusstsein – oder vielmehr: das Unbewusste – des Mediums, wie es sich etwa in den Kommentaren des Shakespeare-Übersetzers äußert, im wiederkehrenden Eingeständnis der Unübersetzbarkeit, sei es aufgrund grundsätzlicher Sprachprobleme oder einfach nur eigener mangelnder Sach- oder Sprachkenntnis. Und auch bei den fingierten Szenen des Übersetzens ist es ja keineswegs so, dass diese Prozesse des Übersetzens einfach aufgehen. Sie sind vertrackt, umwegig und laufen in die Irre, so wie etwa in die Paradoxien, die die paratextuellen Rahmungen erzeugen: in die Vorrede, die man eigentlich dem ‚gegenwärtigen Herausgeber‘ des Goldnen Spiegel zuschreiben müsste, schaltet sich mit einmal der lateinische Übersetzer ein; und wenn der Untertitel will, dass es sich um eine Übersetzung aus dem Scheschianischen handelt, besagt der früheste der Übersetzer, der chinesische, dass es die gar nicht gibt. Die Chronik der Könige von Scheschian ist eine Erfindung des indostanischen Philosophen Danischmend, also keineswegs eine Übersetzung aus dem Scheschianischen, erst dann schließt sich der verschlungene Prozess des Übersetzens an. Auch wenn das Ganze also eine Erfindung eines deutschen Autors des 18. Jahrhunderts ist, scheint es keineswegs überflüssig, nachzufragen, warum und 9
Walter Erhart: „Wüste in Tyrol“. Die Fremdheit des Schwärmers, in: Wieland-Studien 4, Heidelberg 2005, S. 138.
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wie der sich gleichsam von sich selbst distanzieren muss, um sich dann erst in einem zweiten Schritt in sich selbst einfühlen zu können. Und neben diesen Erfindungen bleibt die Vielzahl wirklicher Übersetzungen und mit ihnen ein widerstreitendes Material, das sich Wieland keineswegs vollständig aneignet. Szenen des Übersetzens also erzählen von sich selbst und damit von der Intervention eines Mediums, das von der gradlinigen Erledigung ablenkt. Das ist, einer etwas veralteten, aber lange Zeit autoritativen Lehrmeinung zufolge, ein Wissen des Rokoko: Es war eine dichterisch schwache Zeit. Vorüber waren die Ordnungen des Barock, die von Gott, von dem hierarchischen Aufbau der Welt, von dem Stufenbau sämtlicher Künste und Wissenschaften ausgingen und als Poetik und Rhetorik dem Kunstwerk durch Jahrhunderte tradierte objektive Gesetze gaben. Geblieben war davon nur, daß Dichten immer noch bedeutete, überlieferte Motive geschickt neu zu formen, geblieben war auch das Rationale und Artistische dieser Kunst. Noch nicht erschienen waren die Ordnungen der folgenden Jahrzehnte des Idealismus: der Glaube an das Genie, das aus innerem Müssen eine eigene Welt schöpferisch hinstellt im symbolkräftig-ausdruckshaften Werk, unmittelbar, aus der Tiefe des Herzens, in dem es mit dem Göttlichen zusammenhängt. So fehlte der Dichtung der objektiv-metaphysische Hintergrund des Barock und der subjektiv-metaphysische der Zeit des Idealismus. Sie blieb Literatur, Spiel des „Witzes“, Ausformung galanter Motive, bezogen auf die Gesellschaft des Rokoko. Ihr fehlt die Tiefe, 10 doch sie besitzt Formgewandtheit, Treffsicherheit und Leichtigkeit.
Es geht hier nicht darum, sich darüber lustig zu machen, wie jemand der Literatur vorwerfen kann, Literatur zu sein; eine solche Polemik käme schlicht zu spät. An die Umwertung, die es nicht mehr als Makel betrachtet, wenn Literatur eben Literatur ist, haben wir uns lange genug gewöhnt, die von Trunz eingeklagte Überforderung des Mediums, dem seine Selbstauslöschung abverlangt wird zugunsten einer Metaphysik Gottes oder einer Metaphysik des genialen Subjekts, ist längst ihrerseits in die Defensive geraten. Dem literarischen Rokoko aber – und seiner Physik –, und damit einem guten Teil des Wielandschen Werkes, ist das nicht zugute gekommen. Interessant ist an dem Zitat, dass und wie hier das Rokoko selbst zum Medium wird, das in temporalisierter Form zwischen die Epochen einer zweifachen Metaphysik tritt, ein Medium, das die notwendige Grenze markiert zwischen Gott und modernem Subjekt, das aber eben auch, wenn man das positiv wendet, geeignet ist, zwischen den beiden zu vermitteln: das ältere Wissen der Rhetorik in ein neueres Wissen des Subjekts zu übersetzen. Als Medium aber tut es zugleich mehr und anderes, als vom einen ins andere zu übersetzen. 10 Erich Trunz: Nachwort, in: Johann Wolfgang von Goethe: Werke, Hamburger Ausgabe in 14 Bde., Bd. 1: Gedichte und Epen 1, München 121981, S. 448.
Wieland/Übersetzen. Einleitung
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Hier setzt unser Interesse an Wieland an: Wieland als Übersetzer zu betrachten heißt in erster Linie, das gängige Bild von Wieland als Anfänger und – notwendig: überholten – Vorläufer (des modernen Romans, des modernen Übersetzens…) zu revidieren, das ein wohlmeinendes literaturgeschichtliches Urteil in ihm in erster Linie sieht. Ihm komme, so formuliert es etwa Wolfgang Preisendanz, das Verdienst zu, „tatsächlich die ersten modernen Romane in deutscher Sprache geschrieben“11 zu haben. Eine solche (gattungs-)geschichtliche ‚Rettung‘ eines schon zu Lebzeiten als anachronistisch verrufenen Autors ist jedoch nicht ganz unproblematisch: zum einen blendet sie (fast) alles aus, was Wieland außer Romanen noch geschrieben hat, zum anderen beschränkt und verstellt sie auch den Blick auf die Romane selbst. Wenn Wieland an den Anfang einer Entwicklung rückt, wird er zugleich in ein Stadium des ‚noch nicht‘ entrückt, in das Anfangsstadium einer Gattung, die erst noch ‚zu sich‘ finden muss, die eigentlich etwas anderes geworden sein wird und dann erst das Kriterium für das bereits überholte Vorhergehende abgibt. In gesteigertem Maße vorläufig wirkt aus einer auf die Teleologie einer Gattungsgeschichte wie die Geschlossenheit eines literarischen Werks gerichteten Perspektive Wielands Projekt der Shakespeare-Übersetzungen. Unfertig erscheinen die zur Diskussion und Disposition gestellten Übersetzungsproben, das Offenlassen von nur im paratextuellen Kommentar wieder geschlossenen Lücken im Text, der Hinweis auf Unübersetzbarkeiten, und schließlich das schlichte Eingeständnis mangelnder Sach- oder Sprachkenntnis. All dies verschiebt, verwischt und thematisiert die Grenzen zwischen Text, Übersetzung, Paratext und Kommentar. Auch im Teutschen Merkur prägte Wieland eine spezifische, u.a. von Goethe mit der Treffsicherheit der Bösartigkeit parodierte, Praxis des Übersetzens und Kommentierens aus, die Übersetzungen als unfertiges Projekt ausstellte und auszeichnete. Gerade diese Verfahren, das Werk in seinen paratextuellen Umstellungen aufzulösen und zugleich als etwas Unfertiges zu markieren, charakterisiert nun aber nicht nur die Übersetzungen, sondern es scheint uns spezifisch für das Schreiben Wielands, eines Schreibens, das sehr viel stärker auf experimentelle Offenheit gerichtet ist, als es eine gattungsgeschichtliche Teleologie oder auch eine einseitige Vereinnahmung unter dem Etikett der literarischen und philosophischen Aufklärung suggeriert, und das damit nicht zuletzt in signifikanter Weise doch auch gerade den literarischen Kontext seiner Zeit in Blick bekommt –
11 Wolfgang Preisendanz: Die Auseinandersetzung mit dem Nachahmungsprinzip in Deutschland und die besondere Rolle der Romane Wielands, in: Nachahmung und Illusion, hg. von Hans-Robert Jauß, München 1964, S. 93.
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literaturgeschichtlich heißt das: das Rokoko, als eine Epoche, die in besonderer Weise an Konzepten des Spiels orientiert ist. Wenn wir mit dem Titel des vorliegenden Bandes den Blick auf Wielands Übersetzungen richten, dann sollen damit zum einen, versteht sich, die Übersetzungen Wielands selbst zum Thema werden, darüber hinaus seine Übersetzungskommentare und damit eine Verdoppelung des Verhältnisses von Text und Übersetzung in der Relation von Text und Paratext. Die Shakespeare-Übersetzungen, einer der Kerne unseres Interesses an Wieland, weisen darüber hinaus in ein weites Feld der Übertragungen und Wirksamkeiten – wie auch der gerade in diesem Feld auftretenden Verstellungen und Blockaden. Das Feld des auf Wielands Übersetzungen zu datierenden Deutschen Shakespeare ist namentlich durch die brisante Konstellation von Wieland – Goethe – Romantik abgesteckt. Es kann hier, ebenso wenig wie um die historische Verortung in einer gerichteten Geschichte (der Literatur), gerade nicht darum gehen, die Positionen Wielands etwa als Aufklärer, gegen die vermeintlichen Schwärmer usw. zu rekonstruieren und derart Wieland zu vereinnahmen, um ihn in Stellung zu bringen gegen diverse vermeintliche Irrationalismen. Statt dessen sollen Wielands Operationen selbst, seine diversen Vereinnahmungen und Verwerfungen beobachtet und hinterfragt werden. Daher schenken die folgenden Beiträge neben den Leistungen Wielands als Übersetzer und Kulturvermittler auch gerade den Missverständnissen und Verstellungen, die seinen Verfahren selbst abzulesen sind, ihr Interesse. Die ans Übersetzen sich anschließenden Übersetzungen: Übertragungen, Transvestien, Translationen ermöglichen Zugänge auch zu dem Wieland, der dann vermeintlich überholt war. Mit ihnen rückt etwas ins Zentrum der Aufmerksamkeit, das für gewöhnlich in Hinsicht des Konzepts des Autors einem Werk marginal, nur hinzugefügt wäre: seine Übersetzungen eben, Kommentare, Paratexte, Gattungs-Übernahmen und -Übertragungen, Travestien/Maskeraden der Texte und in den Texten. Wielands Übersetzungen finden statt zwischen Sprachen, aber auch zwischen Räumen, Zeiten und ‚Kulturen‘, zwischen literarischen Genres und Traditionen, zwischen Wissenschaften, Wissenskulturen und deren spezifischen ‚Sprachspielen‘; sie bewegen sich ebenso zwischen Abstraktion und Konkretion, Einzelnem und Universellem, Teil und Ganzem. Wichtiger als der jeweilige Ausgangs- und Zielbereich erscheint jedoch in jedem Fall das, was sich an deren Rändern und an den Grenzen abspielt und was in beide vermeintlich getrennten ‚Bereiche‘ zurückwirkt. Insofern beschreiben die folgenden Lektüren auch eine Topik und Topologie der Grenze. Unter dem Titel Übersetzungen (I): Der deutsche Shakespeare werden Wielands Shakespeare-Übersetzungen wie auch deren Relation zu konkur-
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rierenden Übersetzungen betrachtet. Goethes „Wilhelm Meister“ und die Romantik (A.W. Schlegel, Adam Müller) bezeichnen dabei Positionen, die, an Wieland anknüpfend und zugleich sich gegen ihn wendend, entscheidend Shakespeare für die deutsche Dramatik aufgreifen. Übersetzungen (II): Techniken und Effekte, Kommentare, Paratexte richtet sich auf die Beiträge Wielands Praxis und (wenn es sinnvoll ist, davon zu sprechen) Theorie des Übersetzens – jenseits der Integration in ein nationales Kulturmodell, z.B. im Blick auf Horaz und Pindar. Gefragt wird, ob die Differenzen zwischen ‚Ausgangs‘- und ‚Zielkultur‘ und damit eine letztlich nicht zu überbrückende Fremdheit hervorhebt und auf welche Wiese Kommentare und Paratexte daran teilhaben. Übertragungen – Maskeraden – Tra(ns)vestien meinen Genre-Experimente, die als Maskeraden/Travestien in den Texten stattfinden wie auch die Texte selbst sowie das System der Texte betreffen. Signifikant ist das im Blick auf die ‚kleinen‘ (‚rokokohaften‘) Genres (u.a. Feenmärchen), aber auch auf die Romane (Wieland als Romanübersetzer: Don Sylvio von Rosalva ‚übersetzt‘ Don Quichote, versetzt ihn aber zugleich aus der Welt des Ritterromans in die des Feenmärchens und verfehlt damit in gewisser Weise gerade die teleologische Linie ‚des Romans‘) und schließlich auf die literaturkritischen Schriften (als ‚experimentelle Theorie‘ der Genres, wie sie dann am Beispiel Wielands Blanckenburgs Versuch über den Roman fortschreibt). Mit translatio (imperii): Romane des Staats und Übersetzungen des Politischen wird nach den Genres, den publizistischen Orten, oder allgemeiner nach den Medien gefragt, in denen Szenarien des Politischen entworfen werden. Das Einholen utopischer Diskurse spielt hier ebenso eine Rolle wie die Beobachtung politischer Kulturen, etwa des revolutionären Frankreich durch und für ein deutsches Lesepublikum. Dabei stellen sich nicht zuletzt grundsätzliche Fragen nach Vergleichbarkeit und Inkommensurabilität von Kulturen. Wunderbare Operationen: Über die Grenzen von Literatur und Wissen meinen Übersetzungen von und zwischen Ordnungen und Kulturen des Wissens, etwa im Blick auf die Grenzen von Abstraktion und Konkretion, von Allgemeinem und Besonderem, von Gesetz und (Einzel-)Fall. Involviert, und als Gegenspielerin der philosophischen Spekulation in Szene gesetzt, ist hier nicht allein empirische, sondern auch ästhetische Erfahrung, oder, anders gesagt, ein Wissen der literarischen Formen, etwa der Anekdote. Hier kann Wieland schließlich – durch Goethe – auch selbst zum Gegenstand eines Wissens der Literatur werden, das ihn in ein Archiv einschreiben und damit die künftige Geschichte seines Veraltetseins begründen wird.
1. ÜBERSETZUNGEN (I): DER DEUTSCHE SHAKESPEARE
Bettine Menke
Mit Steken-Pferden zum Deutschen Shakespeare (Wieland, Goethe, A.W. Schlegel sowie Benjamin) Um die Lage, die mit dem Stichwort des Deutschen Shakespeare abgerufen werden kann, zu exponieren, werde ich einige (meiner) Steckenpferde auftraben lassen, so etwa: die philologische Praxis (der Texte), das, was durchs Übersetzen geschieht, und was Fußnoten tun, sowie das Theater (mit dem das Drama im Widerstreit steht) und die Komik (die das Theatrale akzentuiert). Mit den Steckenpferden bin ich zugleich schon beim Thema, bei den Shakespeare-Übersetzungen Wielands, nutze ich doch ein Wort in jener Verwendung, die mir Wielands Shakespeare-Übersetzungen möglich machen. Denn bekanntlich gehört Steken-Pferd unter die „Neologismen Wielands, vornehmlich aus seinen Shakespeare-Übersetzungen“.1 Christoph Martin Wieland übertrug als Steken-Pferd das Hobby-Horse, von dem Shakespeare Hamlet sagen lässt: „whose epitaph is, For oh, for oh, the hobby-horse is forgot“, so Hamlet am Ende der zweiten Szene im dritten Aufzug (act III. scene 2), direkt vor der berühmten dump-show, die als Theater-Aufführung auf dem Theater als vermeintliche mousetrap inszeniert wird. Offenbar zitiert er damit, was als Redeweise seiner anspielungsreichen Formulierung bereits vorausgeht und mit seinem Diktum vorausgesetzt ist: „the hobby-horse is forgot“, das sei „a phrase app. taken from some old ballad“.2 In Wielands Übersetzung heißt es (nach Warburtons Edition von 1747): Aber, bey unsrer Frauen! in diesem Fall muß einer wenigstens eine Kirche gebaut haben; sonst mag er leiden, daß man nicht mehr an ihn denkt, wie das StekenPferd; dessen Grabschrift ist: Au weh! das ist beklagens werth, Man denkt nicht mehr ans Steken-Pferd.(*)3 1
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Vgl. Kyösti Itkonen: Die Shakespeare-Übersetzung Wielands (1762–1766). Ein Beitrag zur Erforschung englisch-deutscher Lehnbeziehungen, Jyväskyla 1971, hier: S. 90f., S. 14–31; eine „Reihe der Neologismen Wielands, vornehmlich aus seinen Shakespeare-Übersetzungen“ bei Jan Philipp Reemtsma: Urvertrauen in der Poesie ist das höchste Zivilisationsprodukt. Laudatio zur Verleihung des BüchnerPreises, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.01.2004, S. 33. Art. „Hobby-Horse“, in: The Oxford English Dictionary (=OED), hg. von J.A. Simpson/E.S.C. Weiner, Oxford 22000, Bd. VII, S. 277. William Shakespeare: Hamlet, Prinz von Dännemark. Ein Trauerspiel, in: ders.: Theatralische Werke (=TW), übers. von Christoph Martin Wieland, in 21 Bde., hg. von Hans und Johanna Radspieler, Zürich 1995, Bd. 20, III/5, S. 106; bzw. Christoph Martin Wieland: Hamlet. Prinz von Dänemark, in: Wielands Gesammel-
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Verloren ist in Wielands Prosa-Übersetzung – ausnahmsweise – nicht die Versifikation der beiden letzten Zeilen Shakespeares und die Differenz, die die Verse machen, die vielmehr durch den Reim, der vielleicht den Verlust des, die Shakespeareschen Worte „For oh, for oh, the hobby-horse is forgot“ regierenden Lautes „oh“, über die Nachstellung in „e“ hinaus, kompensieren sollte, eher unterstrichen ist.4 In Versform findet sich das (versteht sich) auch in A.W. Schlegels als Versübersetzung sich Wielands und nachfolgenden Prosa-Übersetzungen entgegensetzender Übersetzung: Kirchen muß er stiften, sonst denkt man nicht an ihn, es geht ihm wie dem Steckenpferde, dessen Grabinschrift ist: „Denn o! denn o! Vergessen ist das Steckenpferd.“5
Aber im einen, Wielands, wie im andern, Schlegels, Falle fehlt jener Echoraum, den der übersetzte Satz als zitiertes gängiges Diktum, als umlaufende Redensart hatte und zitiert ebenso benötigt wie erzeugt.6 Wieland allerdings macht an der Stelle dieses Fehlens eine Anmerkung, die in der Fußnote steht und im Text einen Asterisk „*“ als Markierung für das Fehlende und Supplementierte hinterließ. Es handle sich, sagt die Fußnote, um einen satirische[n] Stich auf die damaligen Puritaner, welche man in den Gassen-Liedern, die über sie gemacht und gesungen wurden, ihren bekannten scheinheiligen Eifer gegen alle Spiele bis gegen das Steken-Pferd treiben ließ, auf welchem doch sie, und ihres gleichen, bis auf den heutigen Tag, so weydlich herumtraben.7
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te Schriften (=GS), Abt. II: Wielands Übersetzungen, hg. von Ernst Stadler, Bd. 3: Shakespeares theatralische Werke (6–8), Berlin 1911, Reprint Hildesheim 1987, S. 391–493, hier: III/5, S. 445. „But, by’r-lady, he must build churches then; or else shall he suffer not thinking on, with the hobby-horse; whose epitaph is, For oh, for oh, the hobby-horse is forgot.“ (William Shakespeare: Hamlet. Prince of Denmark, in: The Works of Shakespear in 8 volumes, hg. von William Warburton/Alexander Pope [=W/P], Bd. 8, London 1747, S. 113–273, hier: III/5, S. 191f.) Umgekehrt akzentuiert Wieland in einer Fuß-Note zu Der Sturm oder: die bezauberte Insel: „Ariel sagt dieses im Original in kleinen Versen, die sich alle in O reimen, und weil sie alle ihre Artigkeit daher haben, sich nicht in Reime übersetzen lassen.“ (TW, Bd. 5, IV/2, S. 87; GS, Abt. II, Bd. 1 [1909], S. 315–372, hier: S. 357) Shakespeare’s dramatische Werke nach der Übersetzung von August Wilhelm Schlegel und Ludwig Tieck, Einl. von Hermann Ulrici, hg. durch die deutsche Shakespeare-Gesellschaft, Bd. 6: Hamlet. Prinz von Dänemark, Berlin 1869, hier: III/2, S. 89. Vgl. OED, VII, S. 277: 2b; The Complete Works of William Shakespeare, hg. von John Dover Wilson (Cambridge Text), London 1990, Glossar S. 1098; ders.: dass., hg. von G.R. Hibbard, Oxford/New York 1994, III/2, S. 255; ders.: dass., hg. von Harold Jenkins, London/New York 1982 (The Arden Shakespeare), Glossar zu III/2, S. 500f. Offensichtlich bezieht Wieland sich auf Warburtons Fußnote: „Amongst the country may-games, there was an hobby-horse, which, when the puritanical humour of
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Bemerkenswert ist, dass erst in Wielands Fußnote die übertragene Verwendung des Steckenpferds ausgeprägt wird, erst, wenn die Puritaner ihr Steckenpferd reiten und ihr Eifer, mit dem sie die Stecken-Pferde verfolgen, als eine Laune kenntlich wird, was in Warburtons Anmerkung, die Wielands Vorlage war, „puritanical humour“ und dann „ridiculous“ hieß8: Die Puritaner reiten, wie „ihres gleichen, bis auf den heutigen Tages“, ihr Steckenpferd, indem sie gegen jene Steckenpferde/Hobby-horses vorgehen, die sie offenbar als Synekdochen für „alle [theatralen] Spiele“ vertrieben sehen wollten. Hobby-horses, „formed by [men] inside a frame with the head and tail of a horse“9, waren ein theatrales Requisit bei Maifeier-Spielen und deren morrisken Tanz-Aufführungen, „performed by persons in fancy costumes“10, und zwar u.a. „a figure of a horse, made of wickerwork, or other light material“ an einem Gurtwerk über den Schultern des Auftretenden befestigt.11 Dies gibt hobby-horse die Funktion des Theater-Zeichens und eines Zeichens fürs Theater und macht es zum commonplace des Ersatzes überhaupt, der bezeichnet, was nicht da ist, „a type of what is not there“. Offenbar wurde das hobby-horse gerade durch die puritanische „omission of the hobbyhorse“12, durch die Verdoppelung des Fehlens, die durch seine Austreibung (als Synekdoche des Theaters) erzeugt wurde, zu einem Zeichen für das Fehlende – und damit für die theatralen Spiele als those times opposed and discredited these games, was brought by the poets and balladmakers as an instance of the ridiculous zeal of the sectaries: from these ballads Hamlet quotes a line or two.“ (Hamlet. Prince of Denmark, W/P, Bd. 8, S. 191f., Fn. 2; vgl. Hamlet, Prinz von Dännemark. Ein Trauerspiel, TW, Bd. 20, III/5, S. 106; GS, Abt. II, Bd. 3, S. 391–493, hier: III/5, S. 445) 8 Dies prägt „hobby-horse“ im Sinne des Launenhaften aus, wie es mit und nach Sterne auch im Deutschen herumtrabt. Im Gedächtnis des Grimmschen Wörterbuches wird für die Wortverwendung im Deutschen nicht Wieland, sondern nur Sterne geblieben sein, und „Steckenpferd“ auf die Übersetzung (Bode 1774) des Tristram Shandy (1760–1767) zurückgeführt; demnach überwiege das Launische in Verknüpfung mit Yorick; vgl. Art. „Steckenpferd“, in: Jacob Grimm/Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 17, Leipzig 1877, Reprint München 1984, Sp. 1352–1356; das auch Wielands Wortverwendung zugeschriebene „‚Steckenpferd‘ (für Hobby)“ (Viia Ottenbacher/Heinrich Bock: „…wie Shakespeare seinen Pyramus und Thisbe aufführen läßt.“ Wielands Komödienhaus in Biberach, Marbach a.N. 1991, S. 13) wird erst durch Sterne und Bode ausgeprägt (Grimms Wörterbuch, Bd. 17, Sp. 1353). 9 The Complete Works of William Shakespeare (Cambridge Text), Glossar S. 1098. 10 Art. „Morris-Dance“, in: OED, Bd. IX, S. 1096. 11 Art. „Hobby-Horse“, in: OED, Bd. VII, S. 277; vgl. Shakespeare: Hamlet (The Arden Shakespeare), Glossar zu III/2, S. 500; The Complete Works of William Shakespeare (Cambridge Text), Glossar, S. 1098. 12 Vgl. Dympna Callaghan: Shakespeare Without Women. Representing gender and race on the Renaissance stage, London/New York 2000, S. 10; Shakespeare: Hamlet (The Arden Shakespeare), Glossar zu III/2, S. 500.
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solche, als deren Aufführungen selbst ausfallen sollten. Im Umweg über die puritanischen ‚Launen‘, zugleich der über die Heterotopie der Fußnote, wird das von Shakespeare zitierend in Anspruch Genommene erinnert und derart mit dem Theatralen und dessen Auftritten die Shakespearesche Ironie des grabschriftlichen Bleibens gerade des Vergessenen und seines Vergessenseins doppelnd akzentuiert.13 Das Steken-Pferd hat bereits eine Reihe jener Aspekte auftreten lassen, denen, so marginal diese sein mögen, im folgenden die Aufmerksamkeit gelten soll: Aufgaben und Problemen der Übersetzung, die u.a. im Verhältnis Prosa und Poesie verhandelt wurden, Praktiken der Übersetzung, die durch die Fußnoten bezeichnet werden, wie der Bezug der annotierten Übersetzungen und der Shakespeare’schen Schauspiele zum Theater. I. Deutscher Shakespeare. Aufgaben des Übersetzens Shakespeare ist im 18. Jahrhundert der Name, unter dem im Deutschen die Querelle der Alten und der Modernen ausgetragen wurde.14 Daran haben die Übersetzungen teil: die Übersetzungen Wielands, und zwar schon die Tatsache, dass Wieland, nachdem er von Bodmer aus Zürich (nach Biberach) zurückgekehrt war, ab 1761 22 Dramen des Shakespeare übersetzte, eine Prosaübersetzung, die als Shakespeares theatralische Werke von 1762 bis 1766 (achtbändig) in Zürich erschien, und die Abwehr, die dies von jenen Gottschedianern, deren Regel-Poetik mit Shakespeare getroffen werden sollte, erfährt, wie dann auch umgekehrt die heftigen Anwürfe ‚der anderen Seite‘, die dieser Übersetzung als ‚französischer‘, reglementierender (und in diesem Sinne insbesondere ihren Fußnoten) gelten werden. Und doch wird diese Wielandsche Übersetzung im deutschen Sprachraum Epoche gemacht haben15, so merkt etwa Lessing an: Wir haben einen deut-
13 „From its frequent use we seem to have an instance of a catch-phrase continuing in popularity after the original point of it had been lost. What is certain is that the hobby-horse, while very much remembered, became a byword for being forgotten and as such the occasion for numerous jokes in Elizabethan plays“ (Shakespeare: Hamlet [The Arden Shakespeare], Glossar zu III/2, S. 500f.). 14 Vgl. Michael Eskin: 1796, April. The „German“ Shakespeare, in: A New History of German Literature, hg. von Judith Ryan/David E. Wellbery u.a., Cambridge 2004, S. 460–65, hier: S. 461. 15 „Nun erschien Wielands Übersetzung. Sie ward verschlungen, Freunden und Bekannten mitgeteilt und empfohlen. […] Shakespeare prosaisch übersetzt, erst durch Wieland, dann durch Eschenburg, konnte als eine allgemein verständliche und jedem Leser gemäße Lektüre sich schnell verbreiten, und große Wirkung hervorbringen.“ (Johann Wolfgang von Goethe: Dichtung und Wahrheit, in: Goethes
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schen Shakespeare, als er sie 1767 als schon fast vergessene Übersetzung in Erinnerung ruft.16 Teil hat daran auch noch die 1797–1810 erscheinende Vers-Übersetzung A.W. Schlegels, die an der Etablierung Shakespeares als romantischer Dichter arbeitet, die u.a. durch seine Vorlesungen über dramatische Kunst und Litteratur (1808 in Wien, 1809–1811 publiziert) ratifiziert wird. Anhand des ‚deutschen Shakespeare‘ ließe sich die Geschichte der deutschen Poetik und Poetologie des 18. bis ins 19. Jahrhundert hinein explizieren.17 Für die Problematik von Wielands Übersetzungen, die sich in diesen zeitgenössischen Auseinandersetzungen abzeichne, folgen Darstellungen gerne Goethes Fortschrittsgeschichte der Übersetzungstypen, die in seinen Noten zum West-Östlichen Divan und, in einer bezeichnenden Verschiebung, in seinen Bemerkungen Zu brüderlichem Angedenken Wielands zum Tode C.M. Wielands (1813) vorliegt. Bekommen in der dreistufigen, teleologisch angelegten Typologie der Noten Wielands Übersetzungen ihren Platz in der zweiten sogenannten französischen „Epoche“ angewiesen18, so mildert Goethe in Zu brüderlichem Angedenken Wielands diese Verrechnung zum „Mittelweg“ zweier wie folgt angegebener Maximen des Übersetzens: Es gibt zwei Übersetzungsmaximen: die eine verlangt, daß der Autor einer fremden Nation zu uns herüber gebracht werde, dergestalt, daß wir ihn als den Unsrigen ansehen können; die andere hingegen macht an uns die Forderung, daß wir uns zu dem Fremden hinüber begeben und uns in seine Zustände, seine Sprechweise, seine Eigenheiten finden sollen. […] Unser Freund, der auch hier den Mittelweg suchte, war beide zu verbinden bemüht, doch zog er als Mann von Gefühl und Geschmack in zweifelhaften Fällen die erste Maxime vor.19
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Werke, Hamburger Ausgabe in 14 Bde. [=HA], hg. von Erich Trunz, Bd. 9, München 1974, S. 493) „So wie er uns den Shakespear geliefert hat, ist es noch immer ein Buch, das man unter uns nicht genug empfehlen kann.“ (Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie, 15. Stück, Bd. 1, Bremen 1767, S. 113–121, hier: S. 117) Vgl. Bianca Theisen: The Drama in Rags: Shakespeare Reception in EighteenthCentury Germany, in: MLN 121, 2006, H. 3, S. 505–513. Johann Wolfgang von Goethe: Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divan, HA, Bd. 2, S. 126–268, hier: S. 255f. Johann Wolfgang von Goethe: Zu brüderlichem Andenken Wielands 1813, in: Goethes Werke, Weimarer Ausgabe (=WA), Abt. I, Bd. 36: Tag- und Jahres-Hefte als Ergänzung meiner sonstigen Bekenntnisse II. Theil, Weimar 1893 (1887), S. 311–347, hier: S. 329f. Zum „Mittelweg“ vgl. Klaus Reichert: Im Hinblick auf eine Geschichte des Übersetzens, in: ders.: Die unendliche Aufgabe. Zum Übersetzen, München/Wien 2003, S. 42–63, hier: S. 46 (zuerst in: Sprache im technischen Zeitalter 79, 1981, S. 196–207).
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Goethes Kennzeichnung Wielands „als Mann von Gefühl und Geschmack“ ist die seiner historischer Gebundenheit und Beschränktheit.20 Das Stichwort, das von der, gemäß Goethes Typologie, ersten Übersetzungsmaxime (des Angedenkens, die zweite der Noten) zur Kennzeichnung Wielands bezogen wird, ist das der Aneignung des Übersetzten aus einer anderen Sprache, aus einem anderen Zeitalter, aus einem anderen kulturellen Raum, die als „französischer“ Modus in Verruf gebracht wird, „[bemüht,] eigentlich nur fremden Sinn sich anzueignen und mit eignem Sinne wieder darzustellen“.21 Demgegenüber ist bemerkenswert, dass zwar Wieland 22 Dramen des Shakespeare ins Deutsche übertrug, und zwar bis auf vereinzelte Ausnahmen als Erster22, aber doch der „Deutsche Shakespeare“ (mit Majuskel – wie es auch die Überschrift unserer ersten Sektion will) offenbar nicht mit Wielands Shakespeares theatralische Werke, sondern in der Übersetzung A.W. Schlegels vorliegt, die das Gegenmodell zu der Wielands abzugeben bestimmt war. Als „The ‚German‘ Shakespeare“ handelt auch das neue angelsächsische Handbuch New History of German Literature A.W. Schlegels Übersetzung ab.23 Wenn, Goethe zufolge, die erste der beiden typologisierend aufgeführten und teleologisch angelegten Übersetzungsmaximen24 „verlangt, daß der Autor einer fremden Nation zu uns herüber gebracht werde, dergestalt, daß wir ihn als den Unsrigen ansehen
20 „Dieser vorzügliche Mann darf als Repräsentant seiner Zeit angesehen werden; er hat außerordentlich gewirkt, indem gerade das, was ihn anmutete, wie er sich’s zueignete und es wieder mitteilte, auch seinen Zeitgenossen angenehm und genießbar begegnete.“ (Goethe: Noten und Abhandlungen zum West-östlichen Divan, S. 256) 21 In Noten zum West-östlichen Divan schlägt Goethe Wieland dieser ‚französischen‘ Übersetzungsform zu: „Der Franzose, wie er sich fremde Worte mundgerecht macht, verfährt so auch mit den Gefühlen, Gedanken, ja den Gegenständen, er fordert durchaus für jede Frucht ein Surrogat, das auf seinem eignen Grund und Boden gewachsen sei.“ (Goethe: Noten und Abhandlungen zum West-östlichen Divan, S. 255, vgl. S. 256). Diese Umformung nennt er parodistisch. 22 Vgl. Eva Maria Inbar: Funktion der Fußnoten in Wielands Shakespeare-Übersetzung, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch im Auftrag der Görres-Gesellschaft 21, 1980, S. 57–73. 23 Eskin: 1796, April. The „German“ Shakespeare, S. 460–65. Zu Schlegels Übersetzung und deren Sonderstellung „im Spannungsfeld einer kontroversen, engagierten ‚Verdeutschungskampagne‘, die mehr als nur artistische Hintergründe hatte: den Kampf um Shakespeare“, vgl. Jürgen Wertheimer: „So macht Gewissen Feige aus uns allen“: Stufen und Vorstufen der Shakespeare-Übersetzung A.W. Schlegels, in: Das Shakespeare-Bild in Europa zwischen Aufklärung und Romantik, hg. von Roger Bauer, Bern u.a. 1988, S. 201–226, hier: S. 201. 24 Dem teleologischen Zug von Goethes Fassung der zwei Maximen setzt Reichert deren funktionale Auffassung entgegen (vgl. Reichert: Im Hinblick auf eine Geschichte des Übersetzens, S. 46ff.).
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können“, so wurde das, entgegen Goethes Zurechnungen25, also viel eher durch A.W. Schlegels Übersetzung realisiert, vor allem aber nach ihr. Der Schlegel-Tiecksche Shakespeare wird ein ‚deutscher Klassiker‘ geworden sein.26 Shakespeare, so ratifiziert H. Ulrici (1874) die „Geschichte des Shakspeare’schen Dramas in Deutschland“, wurde „in Deutschland […] allmälig eingebürgert, nationalisirt, zu einem deutschen Dichter von ausgebreitestem Namen und allgemeinster Anerkennung“.27 Wollte A.W. Schlegel – mit einer eigentümlich schrägen Metaphorik – Shakespeare als „Verlorenen Sohn“ der Engländer bei den Deutschen aufgenommen sehen28, so kennt ihn Ulrici als „Adoptivsohn“, der er mit und nach A.W. Schlegel der deutschen Dichtung geworden sei. 29 Wielands „Shakespear“ ist so deutsch nicht geworden, allerdings ist er auch nicht sonderlich „französisch“, wie doch die typologisierenden Anwürfe wollten, sondern er schließt vorrangig an die englischen Diskussionen an. Er ist dem englischen Stand der Dinge verpflichtet und an diesen – mit einiger Verspätung – verhaftet. Wieland übersetzt die Edition Warburtons von 1747, die die Namen Warburtons und Popes als Editorennamen trägt, und gibt seiner Ausgabe mit den Paratexten dieser Edition ihren Rahmen. Als Einleitung zu seinen Shakespeare-Übersetzungen übernimmt Wieland etwas gekürzt als Alexander Pope’s Vorrede zu seiner Ausgabe des Shakespears das übersetzte „Preface“ Popes zu seiner Ausgabe von 1725, die auch von Warburtons Ausgabe von 1747 eingebunden wurde. Als ein Abschluss von Wielands achtbändiger Übersetzung, von einer Art Schlussklammer ist gesprochen worden, findet sich als Einige Nachrichten von den Lebens-Umständen des Herrn Willhelm Shakespeare30 die bearbeitete Übertragung von N. Rowes’ Darstellung zu dessen eigener 25 Goethe: Zu brüderlichem Andenken Wielands, S. 329f.; vgl. ders.: Noten und Abhandlungen zum West-östlichen Divan, S. 255ff. 26 In Ausgaben des 19. Jh.s heißt die Schlegel/Tiecksche Übersetzung die unüberholte, die nicht überholt werden solle, sondern nachzudrucken sei (vgl. Hermann Ulrici: Shakspeare’s dramatische Kunst: Geschichte u. Charakteristik des Shakespeareschen Dramas, Bd. 3, Leipzig 31874, S. 206f.). 27 Ulrici: Shakspeare’s dramatische Kunst, S. 179–220, hier: S. 179. 28 August Wilhelm Schlegel: Die neuere Komödie, in: ders.: Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst 2: 1802–1803, in: Kritische Ausgaben der Vorlesungen, hg. von Ernst Behler, Bd. 1: Vorlesungen über Ästhetik I (1798–1803), Paderborn u.a. 1989, S. 771–780, hier: S. 775; vgl. ders.: Etwas über William Shakespeare bey Gelegenheit Wilhelm Meisters, in: Die Horen. Eine Monatsschrift, hg. von Friedrich Schiller, 4. Stück, 1796, Reprint Darmstadt 1959, S. 57–113, hier: S. 79. 29 Ulrici: Shakspeare’s dramatische Kunst, S. 219; vgl. ebd. auch seine „Geschichte des Shakspeareschen Dramas in England“ mit den „Punkte[n], an welchen die deutsche Forschung und das deutsche Urtheil in die englische Geschichte der Shakespeare’schen Dichtung eingriff“ (ebd., S. 123–179, insb. S. 167ff.). 30 GS, Abt. II, Bd. 3, S. 558–570.
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Edition von 1709, die Warburtons (und Popes) Edition direkt auf Popes Preface folgen ließ.31 Der Prätext, den jede Übersetzung hat, wird derart mit den und als die Editionen, die ‚Shakespares Werke‘ hervorgebracht haben, mitzitiert. Die Voraussetzung, die die Werke-Edition war, ist als konstitutive Rahmung durch die Paratexte und das Anmerkungswesen Wielands Shakespear eingetragen. Auch das, was an Wielands Übersetzung und vor allem deren Annotation dann die so heftige Ablehnung erfahren wird, sind commonplaces der englischen (dann der deutschen) Diskussionslage. Der Klassizist Pope zitierte auch damals bereits gemeinplätzige Beauties and Faults Shakespeares, wie Wieland die „Schönheiten“ und „Fehler“.32 Eine Vielzahl der inkriminierten Fußnoten Wielands sind Übernahmen aus den Editionen Popes und vor allem Warburtons. Wenn Shakespeare, mit einem Argument, das Wieland mit Pope teilt, nach seinen eigenen Maßstäben zu nehmen sei, dann ist er vor allem nicht „nach den Regeln des Aristoteles zu beurteilen“33, d.i. nicht nach den französischen Regularien, wie Boileaus ominösen drei Einheiten.34 Die Apologie der Un-Regel-mäßigkeit Shakespeares gilt in der von Wieland übersetzten „Vorrede“ Popes der charakteristischen „Manchfaltigkeit“.35 Es sei die der Natur, die Shakespeare nicht nachahme, sondern die „aus ihm“ spreche, d.i. die Natur des Menschen, der vielfältigen menschlichen Charaktere, die Shakespeare als solche darzustellen vermöge36, weil es die Shakespeares als Genius ist, der wie kein 31 Nicholas Rowe: Some Account of Life of Mr. William Shakespear, in: The Works of Shakespear, W/P, Bd. 1, S. xlv–lxiv. 32 Christoph Martin Wieland: Alexander Pope’s Vorrede zu seiner Ausgabe des Shakespears, GS, Abt. II, Bd. 1, S. 1–12, hier: S. 1. „Man muß gestehen, daß er bey allen diesen grossen Vorzügen, unstreitig eben so grosse Fehler hat; und daß, so wie er ganz gewiß besser, er vielleicht auch schlimmer geschrieben als irgend ein anderer.“ (ebd., S. 2) 33 Wieland: Alexander Pope’s Vorrede, GS, Abt. II, Bd. 1, S. 3. 34 „[S]eine Stücke sind ungeheure Zwitter von Tragödie und Possenspiel, […] ohne Plan, ohne Verbindung der Scenen, Ohne Einheiten; ein geschmackloser Mischmasch von Erhabnem und Niedrigen, von Pathetischem und Lächerlichen, […]“ (Christoph Martin Wieland: Der Geist Shakespears, in: Der Teutsche Merkur 3, 1773, H. 2, S. 183–195, hier: S. 184). 35 Wieland: Alexander Pope’s Vorrede, GS, Abt. II, Bd. 1, S. 1. 36 „Welcher Schriftsteller hat jemals so tief in die menschliche Natur gesehen? Wer ihre geheimsten Triebräder, ihre verdecktesten Bewegungen, alle ihre Gesetze, Abweichungen und Ausnahmen, – wer das Unterscheidende jeder Leidenschaft, jedes Temperaments, jeder Lebensart, jeder Classe, jedes Geschlechts besser gekannt als Er? Wer besitzt einen grössern Reichthum an Bildern, die von der Natur unmittelbar abgedruckt sind? […] Wer hat jemals jede Art und Classe von Menschen, jedes Alter, jede Leidenschaft, jedem einzelnen Charakter die ihm eigenthümliche Sprache so meisterlich reden lassen?“; „er schildert mit gleich meisterhaftem Pinsel den
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anderer dem „Genius der Natur“ gleichkomme.37 Denn diesen macht die Vielheit der Hervorbringungen aus, deren Weite Wieland in seinem Beitrag Der Geist Shakespeares für Der Teutsche Merkur (1773) als heterogene Fügung des einander Widerstrebenden vor- und ausstellt38, als Schauspiele, denen „die große und die schwache, die reizende und die häßliche Scene der menschlichen Natur“ angehören, „gleich dem großen Schauspiele der Natur [sind], voller anscheinenden Unordnung […] alles seltsam durcheinander geworfen – und gleichwohl, aus dem rechten Standpuncte betrachtet, alles zusammen genommen, ein großes, herrliches, unverbesserliches Ganzes!“.39 – So wenig unerwartet all’ das ist, stellt die Verhandlungslage des Wielandschen Shakespeare sich auf dieser Grundlage, der Natur als Maß der ästhetischen Wahrscheinlichkeit, dann doch unerwartet unübersichtlich dar: Die „Manchfaltigkeit“ der Natur des Menschen, die gerade Wieland im Sinne der Charakterisierungskunst Shakespeares ins Feld führte, wird gegen Wielands vermeintlich vereinheitlichende, dem Geschmack seiner Zeit sich anbildende und Shakespeares charakteristische Verschiedenheit verfehlende Prosa-Übersetzungen ein-gewendet. Zwar konnte die von Goethe, in seinen wohlwollendsten Statements, an Wielands Übersetzungen gelobte sogenannte Natürlichkeit des Ausdrucks einerseits die Prosa-Form der Wielandschen Übersetzung rechtfertigen40, aber andererseits wurde die Wielandsche Prosa als Angleichung aller Formen und Sprechweisen Shakespeares aneinander und als die ans Vertraute
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Menschen und den Caliban, den Mann und das Weib, den Helden und den Schurken, den Weisen und den Narren, die große und die schwache, die reizende und die häßliche Seite der menschlichen Natur“ (Wieland: Der Geist Shakespears, S. 185; vgl. Paul Böckmann: Der dramatische Perspektivismus in der deutschen Shakespearedeutung des 18. Jahrhunderts. Ein Stück Selbstverständnis des handelnden Menschen, in: Vom Geist der Dichtung, Gedächtnisschrift für Robert Petsch, hg. von Fritz Martini, Hamburg 1949, S. 65–120). Wieland: Alexander Pope’s Vorrede, GS, Abt. II, Bd. 1, S. 1. Seine Stücke seien „ungeheure Zwitter“, ein „Mischmasch […] von Pathetischem und Lächerlichen, […] von Gedanken die eines Weisen, und von Possen die eines Pickelherings würdig sind; von Gemählden die einem Homer Ehre brächten, und von Karrikaturen deren sich ein Scarron schämen würde“, den Wieland rechtfertigt (Wieland: Der Geist Shakespears, S. 184). Ebd., S. 185. „Eben diese hohe Natürlichkeit ist der Grund, warum ich den Shakespeare, wenn ich mich wahrhaft ergötzen will, jedesmal in der Wieland’schen Übersetzung lese“, soll Goethe gesprächsweise (gegenüber Eckermann) geäußert haben, 1813, aus Anlass des Todes Wielands (Johann Wolfgang von Goethe: Goethes Gespräche, hg. von Woldemar Freiherr von Biedermann, Bd. 1–10, Leipzig 1889–1896. Bd. 3: 1811–1818, Leipzig 1889, S. 56f.; vgl. Kenneth E. Larson: Wieland’s Shakespeare: A Reappraisal, in: Lessing Yearbook 16, 1984, S. 229–51, hier: S. 229).
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und Heimische, an die bürgerliche Prosa (seines Zeitalters) inkriminiert.41 „Natürlichkeit“ wird als die Zurückstellung oder als Absehen von der Form überhaupt aufgefasst, sei es von Wieland selbst als die gegenüber dem „Geist des Shakespear“, sei es von Goethe als die gegenüber dem „Gehalt“, auf den es doch eigentlich ankomme.42 Dem (vermeintlich) Prosaischen der Prosa gegenüber stellen offenbar Vers und Reim die Synekdochen der Poesie, die Parameter der sprachlichen Verfasstheit oder Form überhaupt, so Goethe, auch wo er Wieland lobt, und so A.W. Schlegel, etwa als er mit Etwas über William Shakespeare bei Gelegenheit Wilhelm Meisters seine Versübersetzung gegen die Prosaübersetzung annoncierte (1796). Dem ist zu entgegnen, dass auch die Prosa-Übersetzung Wielands selbst, auch wenn sie (meist) die Unterschiede, die der Vers als solcher und die dessen Formen in Shakespeares Schauspielen erzeugen, verloren gehen lässt, doch eine Entscheidung über die Form43 und als Form (auch wenn im Namen der „Natur“ argumentiert wird) eine Entscheidung ist – hier etwa gegen die Diktion und die regulierte Stillage der französischen klassischen Tragödie. A.W. Schlegel platziert seine Versübersetzung demgegenüber als – um es etwas überzogen zu formulieren – anti-naturalistisches Argument44: Mit Poesie statt Prosa ist es um die Sonderung zu tun, die der Einheit der alten Tragödie notwendig war, die gerade Schlegel zufolge aber der ‚modernen Tragödie‘ oder dem Trauerspiel doch als eine neuartige, als Mischung von Poesie und Prosa möglich sei und diese als gemischte eine ‚romantische‘ wäre.45 Umgekehrt ist gerade an A.W. Schlegels Vers-Übersetzungen (und deren Überarbeitungen) zu beobachten, dass sie die Unterschiede der Versifikation, und diese selbst zunehmend im durchgängigen Blankvers vereinheitlichen, den Alexandriner ebenso wie alle Prosaformen ausmerzen. Die Entgegensetzung von Prosa, als (vermeintliche) ‚Nicht-Form‘, als Verpflichtung allein auf den „Gehalt“, wie Goethe (noch) zugute halten
41 „Hamlet, Richard II, Lear, Othello – sie alle sprechen aufklärerisch, maßvoll, trocken, mit temperierten Herzen.“ (Urs Helmensdorfer: Wielands deutscher Shakespeare, in: Der Deutsche Shakespeare, hg. von Walter Muschg, Basel u.a. 1965, S. 59–74, hier: S. 69) 42 Goethe (im Rückblick): Dichtung und Wahrheit, S. 493 – und zu Wieland generell: „Es ist ein unvergleichliches Naturell, was in ihm vorherrscht: alles Fluß, alles Geist, alles Geschmack!“ (Goethe: Goethes Gespräche, Bd. 3, S. 56f.) 43 Ich folge mit dem Einwand Reichert: Im Hinblick auf eine Geschichte des Übersetzens. 44 Schlegel: Etwas über William Shakespeare bey Gelegenheit Wilhelm Meisters. 45 Vgl. Schlegel: Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur, in: ders.: Kritische Schriften und Briefe, hg. von Edgar Lohner, Stuttgart u.a. 1967, Bd. 6, 25. Vorlesung, S. 107–120, hier: S. 111ff.
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mag46, und Poesie, des Verses als Synekdoche aller poetischen Formen, greift im Besonderen der genannten Konstellation wie im Allgemeinen der poetischen Sprache zu kurz.47 Wie auch immer Wieland selbst die Form seiner Übersetzung begründen mag, es handelt sich um die Form, in der die Auseinandersetzung der Übersetzung Wielands mit der Sprache Shakespeares und mit dem Übersetzen selbst statthat.48 Wird die Poesie, deren Fehlen gegen Wielands Übersetzungen angeführt wird, grenzsichernd auf den Vers verkürzt, so werden viele Dimensionen der Sprache vergessen (gemacht), die sich gerade im Übersetzen, weil sie sich gerade im Übersetzen in ihrer Uneinstimmigkeit zeigen: die Wörtlichkeit und der Sprachlaut, der Resonanzraum, den jedes Wort in der Sprache hat, die Syntax, deren Gebrochenheit (in Shakespeares Englisch) in Wielands Übersetzungen merklich wird49, die ebenso in Widerstreit mit Metrum und Rhythmus zu stehen vermag, wie diese beiden untereinander (wie gerade Schlegels VersÜbersetzungen merklich machen). Entgegen Goethes Verbuchung der Übersetzungen Wielands hatten diese Shakespeare keineswegs so „wieder mit[ge]teilt“, dass er „seinen Zeitgenossen angenehm und genießbar begegnete“.50 Vielmehr erweiterte Wielands in die deutsche Sprache über-gesetzter „Shakespear“ diese, und
46 Goethe: Dichtung und Wahrheit, S. 493. 47 „The nearly universally-held tradition of the unpoetic quality of Wieland’s translation is extraordinarily misleading. It reveals more about the history of German Shakespeare translation and about the process of literary reception in general than about the special qualities of Wieland’s Shakespeare.“ (Larson: Wieland’s Shakespeare, S. 234) Diese wird in Goethes Maximen, A.W. Schlegels Programm der Versübersetzung und den Urteilen des 19. und 20. Jahrhunderts kenntlich; für letztere symptomatisch: „Form war für ihn [Wieland] ein zufälliges Gewand der Gedanken, Wahrheiten, Empfindungen. Diese Auffassung der Form, vereinigt mit Wielands Läßlichkeit, genügte ihm, um auf die Wiedergabe Shakespeares in Versen zu verzichten.“ (Friedrich Gundolf: Shakespeare und der deutsche Geist vor dem Auftreten Lessings, Heidelberg 1911, S. 154) 48 Vgl. Reichert: Im Hinblick auf eine Geschichte des Übersetzens, S. 55. 49 „Paradoxically, Wieland’s freedom from concerns of meter and his absolute literalness lead him to reproduce Shakespeare’s own uneven rhythm more closely than subsequent translators“; die Vers-Übersetzungen tendieren zur Homogenisierung von „Shakespeare’s own uneven rhythm“ „in protecting what they perceived as the play’s poetic qualities they almost always imposed a metrical uniformity on the passage that was at odds with Shakespeare’s […] actual rhythms.“ (Larson: Wieland’s Shakespeare, S. 230f.) 50 Goethe: Noten und Abhandlungen zum West-östlichen Divan, S. 256; vgl. Helmensdorfer: Wielands deutscher Shakespeare, S. 69; „Wieland’s immediately contemporary critics, commenting on the translation as it was still in progress, found it to be exactly the opposite of the language of the time.“ (Larson: Wieland’s Shakespeare, S. 236)
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zwar nicht nur – wie das Steken-Pferd – deren Lexikon.51 Vielmehr reizte die Übersetzung auch deren (des Deutschen) syntaktische Un-Möglichkeiten aus und artikulierte allein derart Shakespeares eigene syntaktische Unebenheiten52, irritierte erheblich, verstörte Rezensenten durch das Unverständlichwerden der eigenen Sprache, das deutsche Leser der Wielandschen Übersetzung ins Deutsche zwingen werde, einen „Dollmetscher“ beizuziehen.53 Gerade darin kommt diese Übersetzung Shakespeares Dichtung nah, die das Englische neu erfand. Der Vorwurf Goethes ging dahin, dass Wieland Shakespeare Kriterien unterworfen habe, die diesem fremd seien, dem eigenen ‚bürgerlichen Zeitalter‘ oder dem bloßen Verstand angehörten, und ihn daher nur in entsprechender um- und neugeschriebener Gestalt zugelassen habe. Aber gegen Wielands Eingriffe ist mit dem dafür immer wieder bemühten Postulat der Treue der Übersetzung wenig auszurichten, zumal sich dieser wörtlich Wieland selbst auch verpflichtet sah.54 Vielmehr müssen die so Postulierenden sich die Frage gefallen lassen, wem oder was die Treue zu gelten habe. Traditionell wird dies als „Geist“ oder „Gehalt“ berufen. Wenn Goethe die andere, der vermeintlich „französischen“ An-Eignung nicht nur entgegengesetzte, sondern diese überholende und überwindende, Maxime der Übersetzung kennzeichnet durch „die Forderung, daß wir uns zu dem Fremden hinüber begeben und uns in seine Zustände, seine Sprechweise, 51 Vgl. Itkonen: Die Shakespeare-Übersetzung Wielands. Wielands Übersetzung „adopts English or foreign words instead of using ordinary German“, „particularly in his creative invention of adjectives ending in ‚ig‘ or ‚-icht‘“ (Larson: Wieland’s Shakespeare, S. 236f.); z.B.: „Für einen Schlingel, einen Schurken, einen Tellerlekker, einen niederträchtigen, hochmüthigen, holen, bettlermässigen, drey-rokichten, schmuzigen, lumpichten Schurken, einen weißleberichten, maußköpfigen Schurken, einen Huren-Sohn von einem glas-augichten, überdienstfertigen, abgefeimten Galgenschwengel“ (Das Leben und der Tod des Königs Lear, TW, Bd. 2, II/5, S. 64; GS, Abt. II, Bd. 1, S. 89–180, hier: S. 119). 52 Larson: Wieland’s Shakespeare, S. 230f. Gerade in „the syntax and sentence rhythm that, because in prose, are generally perceived as typical of forcing Shakespeare to fit 18th-century preconceptions“, finde sich „Wieland’s closeness to his original“ (ebd., S. 237). 53 Christian Felix Weiße: Shakespears theatralische Werke. Aus dem Englischen übersetzt von Hrn. Wieland. Erster Band, Zürich bei Orell, Geßner und Compagnie. 1762, in: Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste 9/2, 1763, S. 257–270, hier: S. 270; vgl. Christoph Friedrich Nicolai: Shakespear theatralische Werke. Aus dem Englischen übersetzt von Herrn Wieland, 4 und 5ter Band, Zürch, bey Orell, Geßner und Compagnie, 1764, in: Allgemeine deutsche Bibliothek 1, 1765, H. 1, S. 300. 54 „Der Verbesserer […] möchte […] sich vor der Verschönerungssucht hüten, unter welcher Shakespears Genie mehr leiden würde, als unter meiner vielleicht allzu gewissenhaften Treue!“, so Wieland 1773, mit Ankündigung einer verbesserten Neuausgabe seiner Übersetzung, im Rückblick (Der Geist Shakespears, S. 187).
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seine Eigenheiten finden sollen“55, so ist diese kaum tauglich, als Gegenmodell zur Wielandschen Übersetzung, ‚Gerechtigkeit‘ gegenüber dem ‚Fremden‘ zu begründen, weil sie die Gegebenheit jenes „Fremden“ anderswo, „zu dem [wir uns] hinüber begeben sollen“, unterstellt. W. Benjamin hat demgegenüber in Die Aufgabe des Übersetzers (der Paratext zu einer eigenen Übersetzung mit Anlehnung an – und Abwendung von Goethes Noten zum Divan) mit der Topologie des Über-Setzens, diese als solche kenntlich machend, gerade nicht das Hineinversetzen ins anderswo abgeschlossene Fremde, sondern die Eintragung der fremden in die eigene Sprache zum Modell gemacht. Dieser Eintrag macht die sogenannte eigene Sprache zu einer (nicht einen) anderen, ‚fremd‘, wie es Zeitgenossen in Wielands Übersetzungen in die ‚deutsche Sprache‘ begegnete, die dies mit „ekel und unverständlich“ in Gesten heftiger Abwehr kennzeichneten.56 Was Benjamin im Zitat von R. Pannwitz postulierte, dass in der Übersetzung nicht der „zufällige[] stand der eignen sprache fest[gehalten]“ werde, sondern diese selbst sich „durch die fremde sprache [müsse] gewaltig bewegen […] lassen“57, lassen Wielands Übersetzungen erkennen: Die ‚eigene Sprache‘ wird nicht nur – kontinuierlich – erweitert, wie Wielands Übersetzungen dies mit einer Fülle neuer Worte und Wortbildungen taten, sondern die Übersetzung macht, wie die Auseinandersetzung an Wielands (und u.a. Schlegels) Shakespeare-Übersetzungen ins ‚Deutsche‘ zeigt, an der ‚eigenen Sprache‘ deren verschiedene Dimensionen als einander und als dem Gemeinten ‚fremde‘ merklich. Übersetzen vollzieht eine Dissoziation von Gehalt und Form. Denn die Übersetzung lässt, weil sie die jeweilige „Art des Meinens“ nicht aufs „Gemeinte“, sondern (vorrangig) auf eine andere „Art des Meinens“ bezieht und die Relation zwischen verschiedenen „Arten des Meinens“ her- und 55 Goethe: Zu brüderlichem Andenken Wielands, S. 329f.; vgl. ders.: Noten und Abhandlungen zum West-östlichen Divan, S. 256. 56 Die „allzu sclavische wörtliche Übersetzung, die gar nicht den Geist der eigenen Muttersprache zu Rathe gezogen“, mache „sie oft ekel und unverständlich“ (Weiße: Shakespears theatralische Werke, S. 262). 57 Walter Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers, in: ders: Gesammelte Schriften (=WBGS), Bd. IV.1: Kleine Prosa, Baudelaire-Übertragungen, hg. von Tillman Rexroth, Frankfurt a.M. 1991, S. 9–22, hier: S. 20; zit. ist Rudolf Pannwitz: Die Krisis der Europäischen Kultur, in: ders.: Werke, Bd. 2, Teil 1, München-Feldafing 1921, Anhang, S. 242f. Wieland zufolge: „Ein Homer, ein Lukrez (wo er Dichter ist) ein Shakespear, muß getreu copiert werden (sollte auch der Sprache dadurch einige Gewalt geschehen) oder gar nicht. Und wer könnte dies letzte bey Shakespears Werken wünschen?“ (Der Geist Shakespears, S. 188); Goethe zufolge: „Der Übersetzer, der sich fest an sein Original anschließt, giebt mehr oder weniger die Originalität seiner Nation auf, und so entsteht ein Drittes, wozu der Geschmack der Menge sich erst heranbilden muß“ (Noten und Abhandlungen zum West-östlichen Divan, S. 256).
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herausstellt, die Inkohärenz von „Art des Meinens“ und dem „Gemeinten“ auftreten.58 Insofern tritt die Übersetzung je auch ins Verhältnis zur Sprache als solcher und wendet sich auf sie. Sie ist (auch) Metatext. Auch insofern geht die Übersetzung – wie die Kritik – auf Kosten jener ‚Einheit‘, die die des „Sinn“ wäre und die, so Benjamin hier, das „Dichtwerk“ als „bestimmte[r] sprachliche[r] Gehaltszusammenhang“ ausmache.59 Durchs Übersetzen wird Einsicht in die Sprache gewonnen, die die (sog. ‚eigene‘) Sprache überhaupt betrifft, die in jeder Sprach-Verwendung ‚fremd‘, dem ‚eigenen‘ Meinen inkompatibel begegnen kann. II. Annotationen Wieland bezog sich übersetzend, auslassend, annotierend auf eine bereits geläufige Rede von der Sprache der Schauspiele ‚des Shakespeare‘, die diese als problematische vorfand, und sich daher in Scheidungen in terms of beauties and faults übte.60 Die wörtliche Wiedergabe wäre, so Wieland, der sich doch (wenigstens nachträglich) seine ‚wörtliche Treue‘ rühmt61, eine Preisgabe Shakespeares an diejenigen, die ihn verwerfen. So vermerkt Wieland etwa in der Fußnote, die das Fehlen einer von ihm nicht übersetzten Wendung in Romeo und Juliette markiert und kommentiert: (*) […] Es ist nichts leichters, als durch eine allzuwörtliche Uebersetzung den Shakespear lächerlich zu machen, wie der Herr Voltaire neulich mit einer Scene aus
58 Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers, S. 14; vgl. Paul de Man: „Conclusions“. Walter Benjamin’s „The Task of the Translator“, in: ders.: The Resistance to Theory, Minneapolis 1986, S. 73–105. 59 Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers, S. 16; dieser Zusammenhang ist nicht jene Einheit und Totalität, wie sie verfehlt durchs Symbol der Klassik vorgestellt wird. 60 Vgl. Alexander Pope: Preface to Shakespeare, in: The Works of Shakespear, in 6 Bde., hg. von Alexander Pope, Bd. 1, London 1725, S. [1]; Wieland: Alexander Pope’s Vorrede, GS, Abt. II, Bd. 1, S. 1. Weiße, der kritisierte, dass Wieland Shakespeare übersetzt, empfiehlt, „wenn ja mit dem Shakespear in unsrer Sprache etwas vorzunehmen wäre,“ eine poetische Blütenlese im Stile von Dodds Beauties of Shakespeare, einen „Auszug von Scene zu Scene“ verbunden durch Inhaltsangaben („um die Oeconomie des Stücks, und die Situationen, die Shakespear oft so glücklich herbey zu führen weiß, nicht zu verliehren“), „die schönsten und besten Stellen und Szenen aber ganz zu übersetzen“ (Weiße: Shakespears theatralische Werke, S. 260f.); dem entsprechen Wielands „Auszüge aus dem Hamlet“ (Der Geist Shakespears, S. 188–194). 61 Wieland: Der Geist Shakespears, S. 187.
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dem Hamlet eine Probe gemacht, die wir an gehörigem Ort ein wenig näher untersuchen wollen.62
Daher hält Wieland für geboten, übersetzend Redewendungen oder ganze Partien der Shakespeareschen Stücke „dem Genius des Shakespears“ ‚aufzuopfern‘.63 Pope, auf den Wieland sich bezieht, bezeichnete in Hinsicht der sprachlichen Verfasstheit den Shakespeareschen „wit in fashion“ als für dessen Zeitalter kennzeichnenden Fehler, für den dieser darum besonders anfällig gewesen sei, weil es sich bei „unserem Autor“ um einen Schauspieler, einen Player, handelte.64 Wenn Pope die Mängel relativiert, indem er sie auf die zufälligen Umstände, die „playhouses“ und den Geschmack ihres pöbelhaften Publikums, zurückführt65, so folgt Wieland dem insofern nicht, als der „Genius“ durch solche Umstände nicht bestimmt sei – und sich durch den „falschen Geschmack seiner Zeit“ „nicht so leicht anstecken“ lasse.66 Die Entgegensetzung von Player und Poet, von playhouse 62 Shakespeare: Romeo und Juliette, I/2, TW, Bd. 17, S. 11f.; GS, Abt. II, Bd. 3, S. 186–262, hier: S. 189. 63 So rechtfertigt Wieland in der Fußnote die Streichung von zwei Reden in: Romeo und Juliette, IV/5, TW, Bd. 17, S. 127; GS, Abt. II, Bd. 3, S. 249; Pope fand „mean conceits and ribaldries“ gerade in Romeo and Juliet (Preface to Shakespeare, S. [22]). 64 „As they live by the Majority they know no rule but that of pleasing the present humour and complying with the wit in fashion“ (Pope: Preface to Shakespeare, S. [13]); Schauspieler zu sein, nötigte „unseren Autor“, „dem schlechtesten Theil des Volkes gefällig zu seyn, und in der schlimmsten Gesellschaft zu leben“ (Wieland: Alexander Pope’s Vorrede, GS, Abt. II, Bd. 1, S. 3f.). 65 „It will be but fair to allow that most of our Author’s faults are less to be ascribed to his wrong judgement as a Poet than to his right judgement as a Player.“ (Pope: Preface to Shakespeare, S. [13]) 66 Wieland: Der Geist Shakespears, S. 184. Wieland übersetzt Pope: „Im Lustspiel war nichts das unfehlbarer gefallen konnte, als die niedrigste Art von Possen, pöbelhafter Zoten, und ungesittete Scherze von Narren und albernen Bauern. Aber auch hierinnn erhebt sich der Wiz unsers Autors über seinen Gegenstand; sein Genie gleicht in diesen niedrigen Scenen irgend einem Prinzen in einem Ritterbuche, der in einen Schäfer oder Bauern verkleidet ist“ (Wieland: Alexander Pope’s Vorrede, S. 3). Wieland entzieht die Möglichkeit der Scheidung der Mängel von den Schönheiten, wenn „alles zusammen genommen“ ein „herrliches, unverbesserliches Ganzes“ ergebe (Der Geist Shakespears, S. 185). Inbezug auf die geplante verbesserte Neuausgabe seiner Übersetzung hält Wieland im Rückblick fest: „Mein Vorsatz […] war, meinen Autor mit allen seinen Fehlern zu übersetzen; und dies um so mehr, weil mir däuchte, daß sehr oft seine Fehler selbst als eine Art von Schönheiten sind.“ (ebd., S. 187); das erläutert Wieland als Verhältnis zum Original: „wer in dem Falle ist sich an der Copie von dem Gemählde eines großen Meisters begnügen lassen zu müssen, wird eine getreue Copie, die mit den Schönheiten des Originals auch seine Fehler darstellt, einer von fremder Hand vermeyntlich oder auch wohl wirklich verschönerter Copie, die eben dadurch keine Copie mehr ist vorziehen.“ (ebd., S. 188)
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oder Theater, das mit seinen zufälligen Umständen und Bedürfnissen die Texte verdorben habe, und dem Text, der seinem Autor zu Recht zugerechnet werden dürfe, während umgekehrt nicht der Author verantwortlich gemacht werden dürfe für das, was Sache der Players war, hatte Popes editorische Interventionen zu rechtfertigen: Die Eingriffe wollen emettieren, was im playhouse hinzugefügt: am Rande, auf die Ränder notiert wurde, um den ‚Innenraum‘ des gedruckten Textes zu usurpieren.67 Sie rechtfertigen sich als ‚Wiederherstellung‘ der unterstellten und berufenen Hierarchie von auktorialem Text und Rand oder Marginalität, der player und playhouse sich nicht fügen wollen. Indem die Edition einerseits das (vermeintlich) in den Theatern am Rande verderblich Hinzugefügte, das das ‚Innere des Werks‘ mit Verderben bedrohe, zu emendieren sich erlaubt, bezeichnet sie andererseits die Ränder als solche, die zur Sicherung von Auktorialität der Hierarchie von Text und Rand unterstellt werden müssen. Sie sind der Ort der Annotationen, der Glossen, der Einträge jener philologischen Operationen der Editionen, die des Shakespeares Werk konstituiert haben werden. Wie Popes editorische Eingriffe sehr schnell als völlig willkürlich der Kritik verfallen sein werden, so trugen die Fußnoten Wielands Übersetzungen die heftigsten Ablehnungen ein, sie gaben die Anhaltspunkte dafür, Wielands Übersetzung überhaupt als verfehlt und obsolet abzutun: „Der Kreis um Herder und Goethe quittierte sie mit Empörung, und bis heute“ (in den 1980ern) verbuche „die Kritik sie als peinliche faux pas in einem sonst anerkennenswerten Werk“.68 Jeder editorische Eingriff wird je wieder, als Supplement, die Einheit des Werkes bedrohen. Wenn daher die
67 Pope spricht von einem Exemplar „(which seems to have belonged to the playhouse, by having the parts divided with lines and the Actor’s names in the margin) where several of those passages were added in a written hand, which are since to be found in the folio“. „Those passages (the additions of trifling and bombast passages)“, „whatever had been added since those Quartos by the actors, or had stolen from their mouths into the written parts, were from thence conveyed into the printed text and all stand charged upon the Author.“ (Pope: Preface to Shakespeare, S. [22]) Shakespeares Theaterstücke seien durch die Eingriffe unbefugter Hände erzeugtes Stückwerk: „Many verses are omitted entirely and others transposed; from whence invincible obscurities have arisen, past the guess of any Commentator to clear up“ (Pope: Preface to Shakespeare, S. [27]); „[…] divided according as they play’d them, often when there is no pause in the action, or where they thought fit to make a breach in it for the sake of Musick, Masques, or Monsters.“ (ebd., S. [25]); „the scenes are transposed and shuffled backward and forward; a thing which could no otherwise happen but by their being taken from seperate and piecemeal-written parts“ (ebd., S. [26]); das Werk des Autors muss wiederhergestellt werden. 68 Inbar: Funktion der Fußnoten, S. 57; Larson: Wieland’s Shakespeare, S. 246.
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„Funktion der Fußnoten in Wielands Shakespeare-Übersetzung“69 in den Blick kommen muss, wird allerdings nicht nur zu beachten sein, was in ihnen jeweils gelesen werden mag, sprachlich erläuternd angemerkt, kommentiert oder inkriminiert wurde oder welche Kriterien für übersetzende Interventionen in ihnen gefunden werden können. Vielmehr muss mitgelesen werden, dass es sich um Fußnoten handelt70, also der Ort, wo diese Kommentare sich finden, und wie diese Örtlichkeit selbst die Relation zwischen übersetzendem Text und Kommentar und damit zugleich das Konzept der Übersetzung ausarbeitet. Was da zu lesen ist, das sind Kommentare Wielands, die in merklicher Anlehnung an Warburtons Fußnoten71 auf psychologisch wahrscheinliche Entwicklung der Charaktere setzen – statt unnatürlicher coups de théâtre, gezwungener Verse und Sprachspiele, die unnatürlich, schwülstig oder frostig, ekelhaft, albern, pöbelhaft heißen müssen.72 All’ das ist vorrangig typisch für die deutsche Shakespeare-Auffassung zwischen 1750 und 1770. Als Fußnoten aber kennzeichnen die Annotationen Wielands Übersetzung als eine genuin schriftliche. Sie treten „in ein räumliches Verhältnis zu dem Text […], auf den sie sich bezieh[en]“; der „Ort der Anmerkung ist […] ein Phänomen der gedruckten Seite“73, er selbst ist nicht-sprechbar und geht im Mitgeteilten nicht auf.74 Fußnoten verweisen die Lektüre an den schriftlichen Text als spatiale Anordnung, durch und als die der Text 69 So der Titel von Inbar. 70 Als Fußnoten sind sie ja gerade kein „laufender Kommentar Wielands zu seiner Arbeit“ (so aber Inbar: Funktion der Fußnoten, S. 57), sondern diskontinuierliche Hinzufügungen. 71 Vgl. Larson: Wieland’s Shakespeare, S. 246. 72 Inbar: Funktion der Fußnoten, S. 66f. 73 Michael Cahn: Die Rhetorik der Wissenschaft im Medium der Typographie. Zum Beispiel die Fußnote, in: Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur, hg. von Michael Hagner/Hans-Jörg Rheinberger/Bettina Wahrig-Schmidt, Berlin 1997, 91–109, hier: S. 95f. u. S. 100; vgl. Michael Twyman: Articulating Graphic Language: A Historical Perspective, in: Towards a New Understanding of Literacy, hg. von Gerald Wrolstad/Dennis Fisher: New York 1983, S. 188–251, hier: S. 190–210. 74 Vgl. Jacques Derrida: This is not an oral footnote, in: Annotation and its Texts, Oxford 1991, hg. von Stephen A. Barney, S. 192–205, hier: S. 193–96, S. 198. „Jede Fußnote beruht auf dem dort [im Raum der Seite] visuell realisierten Zusammenspiel von Trennung und Zuordnung und kann nur dann wirklich verstanden werden, wenn diese Beziehung im Raum der Seite ‚gesehen‘ wird.“ (Cahn: Die Rhetorik der Wissenschaft im Medium der Typographie, S. 95f.); „eine Philologie, die diese […] allein in Hinsicht auf den Wortlaut ihres Textes betrachtet“ und „die Fußnote […] in Hinsicht auf das in ihr Gesagte“, verfehlt deren „materielle typographische Realisierung auf der gedruckten Seite“ (ebd., S. 98f.). Sie sagt aber „nicht einfach etwas […], sondern [jeder Text als spatiale Anordnung] alles an einer bestimmten Stelle und in einer besonderen Form“ (ebd., S. 101).
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durch die Grenzziehung, Ausschluss oder Unterordnung seiner Ränder erst konstituiert wird. Wenn also immer wieder seit Goethe für die Übersetzungen Wielands von der Rücksicht aufs Publikum die Rede ist, dann ist dem ein genauerer Sinn zu geben und meint statt der Theaterzuschauer Leser. Ich habe mich genöthigt gesehen, einige ekelhafte Ausdrüke aus diesem Gemählde in Ostadens Geschmak, wegzulassen. Ein Dichter, der nur für den Zuhörer arbeitete, hat sich im sechszehnten Jahrhundert Freyheiten erlauben können, die sein Übersetzer, der im achtzehnten für Leser arbeitet, nicht nehmen darf.75
Gewiss ist mit der von Wieland explizit gemachten anderen Rücksicht auf Leser zum einen Popes hierarchische Opposition von Actors und Author erinnert wie zum anderen eine Entsprechung in Goethe erkannt werden kann, der Shakespeares der Poesie statt dem Theater zurechnen will, und um der Imagination willlen das Lesen seiner Werke (‚mit geschlossenen Augen‘) dem Beschauen von theatralen Aufführungen vorzieht.76 Wieland scheint aber auch die schriftliche Persistenz im Blick zu haben, die Lesern ermöglicht (und erzwingt), wiederholend auf den Text mit allem, was an ihm ‚ekelhaft‘ begegnet, zurückzukommen.77 Annotationen, die einen Platz am Rande einnehmen, haben, obwohl sie sich bloß an- und hinzuzufügen scheinen, in bezug auf den Text, den sie glossieren, eine Text-konstitutive Funktion. Die Glossen am Rande werden (erst) den Text als Text, als den kanonisierten und daher annotationswürdi-
75 Zu: Ein St. Johannis Nachts-Traum, GS, Abt. II, Bd. 1, S. 12–89, hier II/1, S. 27; vgl. die Verwerfung der „Falstaffischen Scenen“, die „einen grossen Theil dieser gegenwärtigen Haupt- und Staats-Action aus[machen], ob sie gleich als blosse Zwischen-Spiele, die dem Pöbel für sechs Pfennige was zu lachen geben sollen, mit dem Stük selbst keinen nothwendigen Zusammenhang haben“, mit Bezug auf Leser des 18. Jahrhunderts: „Wir werden fortfahren, uns damit die nemliche Freyheit zu nehmen, wie in dem vorigen Stüke; und wir sind desto mehr hiezu genöthiget, da der Humor und das Lächerliche, so darinn herrscht, gröstentheils in sehr pöbelhaften Schwänken, Zoten, Wortspielen und einer ekelhaften Art von falschem und schmuzigem Wiz besteht, und wir vermuthlich keine Leser von derjenigen Classe haben werden, zu der die Zuhörer gehörten, die man damit belustigen wollte.“ (Der zweite Teil von König Heinrich dem Vierten, I/4, TW, Bd. 13, S. 134; GS, Abt. II, Bd. 2 [1909], S. 551) Dennoch wird Wieland von zwei Seiten her attackiert: Die Gottschedianer und Aufklärer, Weiße, Nicolai finden zu wenige reglementierende Eingriffe, Gerstenberg, Herder, Goethe, die Göttinger zu viele. 76 Johann Wolfgang von Goethe: Shakespeare und kein Ende!, WA, Abt. I, Bd. 41, Weimar 1902, S. 52–71. 77 Das wäre auf verschiedene Fassungen der Paragone der Künste im 18. Jahrhundert zu beziehen, auf den Vorrang der flüchtigen Dichtkunst vor der Plastik (zur Laokoon-Gruppe: Lessing, Herder u.a.) oder auch die Differenz zwischen Text und Darstellbarkeit auf der Bühne.
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gen Text, wie es die der Klassiker der Antike waren, etabliert haben78; sie sind Supplemente in einem präzisen Sinne. Als ein solcher neben die antiken Autoritäten tretender Autor wurde Shakespeare durch die kommentierten Editionen seines Werkes etabliert, in deren Nachfolge sich Wielands Übersetzung situiert.79 Einen Platz am Rande einnehmend bezeichnen Fußnoten (als solche) zugleich diese ihre Stelle, damit die Seite als Fläche, der sie angehören und an deren Organisation, als spatialer nicht-sprechbare Anordnung des Textes, sie teilhaben. Eingeräumt wird ein anderer Raum, an dem der Kommentar hinzugefügt, an den aber zugleich ab-sondernd und separierend ausgelagert wird, was dem Text selbst nicht (mehr) zugehören soll. Indem Marginalien auf der Seite den Schau-Platz der philologischen Tätigkeiten schufen, wurden diese zugleich aus dem Text ausgeschlossen: ausgesondert angefügt. Erst durch die parergonalen Hinzufügungen wird der Text als Werk hervorgebracht – und als ein solches, in sich und mit sich abgeschlossen, vorgestellt.80 Die Hinzufügung von Fußnoten bringt einen Doppeltext hervor; diese Doppelung, die zugleich eine Spaltung im ‚Innern‘ ist, wird durch die traditionelle An-Ordnung von Text und Glosse reguliert und dargestellt. Konventionell eingeführt ist beider Relation als aufteilende Etablierung von zwei Stimmen, des Autors und des Kommentators.81 Aber die Wielandschen Übersetzungen geben nicht bloß, wie aber Goethe folgend vermeint wird, mit dem Abstand von übersetzendem Text und Fußnoten das Symptom oder den Ausdruck „of the gap that necessarily separated him [Wieland] from Shakespeare“82, unabhängig davon, ob dieser als historischer oder als funktionaler von Autor und Kommentator aufgefasst wird. 78 Zur Relation glossae – textus, vgl. Ute Kleine/Ludolf Kuchenbuch (Hg.): Textus im Mittelalter. Komponenten und Situationen des Wortgebrauchs im schriftsemantischen Feld, Göttingen 2005; darin insb.: dies.: Textus im Mittelalter. Erträge, Nachträge, Hypothesen, S. 417–453; Wolfgang Raible: Die Semiotik der Textgestalt: Erscheinungsformen und Funktionen des kulturellen Evolutionsprozesses, Heidelberg 1991, S. 5f., S. 40. 79 Vgl. Inbar: Funktion der Fußnoten, S. 60. 80 „Die wichtigste Leistung der typographischen Techniken der Zweistimmigkeit ist […] nicht die Schaffung eines zusätzlichen Raumes, um etwas zu sagen, was sonst keinen Platz hätte, sondern umgekehrt die Abschließung und Isolierung des ersten Stratums des Textes von dem zweiten.“ (Cahn: Die Rhetorik der Wissenschaft im Medium der Typographie, S. 105) 81 Demnach träte Wieland „sozusagen“ „in doppelte[r] Rolle“ auf: „Im Text spricht er als Medium seines Autors, in den Anmerkungen in eigener Sache, als Kritiker, Kommentator, repräsentativer Leser“ (Inbar: Funktion der Fußnoten, S. 65). 82 Larson: Wieland’s Shakespeare, S. 246. Goethe befand: „Er stand mit seinem Autor allzusehr in Widerstreit, wie man genugsam erkennt aus den übergangenen und ausgelassenen Stellen, mehr noch aus den hinzugefügten Noten, aus welchen die
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Übersetzerkommentare, die sog. Übersetzungsprobleme benennen, erklären zu einem bloßen lokal angeb- und begrenzbaren Problem83, was als die Relation zwischen „Arten des Meinens“ von den Übersetzungen bearbeitet wird, aber als Fußnoten haben sie graphisch sich verankernd im übersetzenden Text eine Unterbrechung hinterlassen, teilen sie diesen und machen den übersetzten im Verweis anderswohin als nicht-in-sich-geschlossenen kenntlich. Die Übersetzung Wielands hat in der/als Simultaneität von Text und Annotation statt, die sowenig durch ein hierarchisierendes Regularium lesender Linearität zu unterstellen wie sie als solche in irgend einem (jeweiligen) Lesen ausführbar wäre. Es gibt keine Regel, nach der die lineare Abfolge des Lesens von Text und Fußnoten gesichert, die Doppeltextualität aufgelöst werden könnte, auch dann nicht, wenn der Fußnotentext, wie sehr häufig in Wielands Übersetzungen, eine „Lüke“ im übersetzenden Text namhaft macht, die sie supplementiere. So lässt Wielands Übersetzung des Hamlet beispielsweise in dessen „Todtengräber-Scene“ weiträumig aus, um eine Fußnote wie folgt „*“ einzulassen: „man würde diese ganze Scene ebenso gern ausgelassen haben, wenn man dem Leser nicht eine Idee von der berüchtigten Todtengräber-Scene hätte geben wollen“.84 „Berüchtigt“ ist die „Todtengräber-Scene“ vor allem wegen ihren grotesken Verstößen gegen das Reglement psychologischer Wahrscheinlichkeit durch unregierte Gemischtheit und jenen Spaß, für den nicht nur die „clowns“, die die Totengräber sind, im Trauerspiel des Hamlet auftreten, deren Nicht-Übersetzung durch Wieland das Wort „Clown“ ins Deutsche eintrug, sondern den, irritierender, auch Hamlet, des Trauerspiels Held, mit wit und puns einträgt. Abwesend – wird diese Scene, die dem gewiss nicht nur nach Goethes, sondern französische Sinnesart hervorblickt.“ (Zu brüderlichem Andenken Wielands, S. 326) 83 So etwa bei den topischen Unübersetzbarkeiten von Reim und anderem Lautspiel (Der Sturm oder: Die bezauberte Insel, IV/2, TW, Bd. 5, S. 87; GS, Abt. II, Bd. 1, S. 357; Der erste und zweyte Theil von König Heinrich dem Vierten, TW, Bd. 13, S. 121; Der erste Teil von König Heinrich dem Vierten, GS, Abt. II, Bd. 2, S. 482– 544, hier: V/13, S. 543); die „Schwierigkeit der Übersetzung“ Shakespeare ist u.a.: „Die beständige Vermischung der alten mit der neuern, unauflösliche Anspielungen auf die Sitten seiner Zeit, veraltete Sprüchwörter und Redensarten, Wortspiele, ungewöhnliche und fremde Bedeutungen der Worte machen ihn oft so undeutlich, dass er selbst seinen Landsleuten hin und wieder unverständlich ist […]. Was soll man von einem Übersetzer verlangen oder erwarten? Er wird nothwendig in den dunklen Stellen noch zehnmal dunkler als sein Original reden, oder ihm einen Verstand andichten, den jener nicht gehabt“ (Weiße: Shakespears theatralische Werke, S. 260f.). 84 Shakespeare: Hamlet, Prinz von Dännemark. Ein Trauerspiel, V/1, TW, Bd. 20, S. 173; vgl. III/6, S. 108; S. 112; GS, Abt. II, Bd. 3, S. 391–493, hier: S. 480, vgl. S. 447, S. 449.
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erst recht allen heutigen Standards völlig inakzeptablen Eingriff des Übersetzers und Editors zum Opfer fiel, doch anwesend gehalten.85 Soweit Shakespeares Text übersetzt ist, müssen die Sätze, die in Übersetzung auftreten dürfen, als Exempel für das im übersetzenden Text Fehlende einstehen und in der Übersetzung die Gründe für die Auslassung des dort nicht Lesbaren belegen86, während die Fußnote, die dies anweist, als dessen Supplement das Fehlen und mit diesem den Bezug auf den (nicht-)übersetzten, doppelt abwesenden Text Shakespeares markiert. Zu einer anderen Auslassung in Romeo und Juliette, für die die Fußnotenmarke steht, bemerkt Wieland in der Fußnote – anstelle ihrer: Hier [? – d.i. nicht „hier“ in der Fußnote, aber auch nicht ‚dort‘, an der Stelle im Text, an der die Fußnote ihre verankernde Marke, den Asterisk hinterließ] fängt sich bis zum Auftritt der Amme eine Art von witzigem Duell mit Wortspielen, und abgeschmakt-sinnreichen Einfällen zwischen Romeo und Mercutio an, welcher letztere zuweilen auch noch mit schmuzigen Scherzen um sich wirft, wenn er sich nicht anders mehr zu helfen weiß – man kennt schon diese Mode-Seuche von unsers Autors Zeit, und erlaube uns eine Lüke zu machen, wo es in unsrer Sprache unmöglich ist so wizig zu seyn wie seine Spaßmacher.87
Die „Lüke“, die die Übersetzung zu machen sich erlaubte, ist im übersetzenden Text durch die Einlassungs-Marke der Fußnote, die sich rhetorisch die Erlaubnis zur „Lüke“ holt, der schon längst vorgegriffen wurde, markiert, deren Supplementierung, Hinzufügung und Sonderung am Fuße der Seite, im Text, diesen unterbrechend, eingetragen. Die Supplemente, die kommentierend/begründend die Schuld der Intervention der Übersetzung (jede Übersetzung verschuldet sich gegenüber dem übersetzten Text), heilen müssten, werden doch als solche stets wieder die Nicht-Ganzheit der Übersetzung, ihre Nicht-Geschlossenheit vortragen. Die Übersetzung ist stets an jene Operationen verwiesen, und sei es die, „eine Lüke zu machen“, durch die sie in Relation zu ihrem Prätext tritt und diese Relation austrägt, die sie um der Ab-Geschlossenheit zum ‚Werk‘ willen (je wieder) ausschließen können müsste, deren Supplemente doch je wieder eine Spaltung hinterlassen haben werden. Das hat in Wielands Übersetzungen statt im spatial organisierten Verhältnis von Text und Fußnoten. Die Fußnoten, die sich anfügen und am Text, um diesen zu schließen, Ab-Scheidungen vorgenommen haben, die sichernd am Rande abgesondert sind, sind als Hinzugesetzte und Ausgeschiedene sichtbar; sie bezeichnen die Spatialität des Textes und mit der Marke, die ihre Anker im 85 Wielands Übersetzung widerstreitet also der im ganzen 18. Jahrhundert gebräuchlichen Praxis der stillschweigenden Auslassungen und Substitution (Larson: Wieland’s Shakespeare, S. 246). 86 Vgl. den Beitrag von Martin Schäfer im vorliegenden Band. 87 Wieland: Romeo und Juliette, GS, Abt. II, Bd. 3, S. 215.
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Text unterbrechend hinterlassen, die Operationalität, durch die des übersetzenden Textes Relation zum übersetzten Text gekennzeichnet ist. Die Übersetzung selbst, nicht nur der Kommentar, der ‚seinen Platz‘ in den Fußnoten finden soll, ist eine „philologische Technik“.88 Soll die typographische Sicherung der zweiten Schrift-‚Ebene‘ als Aufspaltung und Ausscheidung den Text rahmend konstituieren, so sind die vermeintlich ephemeren Beifügungen, die Paratexte, nicht nur konstitutiv für den Text, dessen Grenze sie angeben, indem sie dessen Rahmen abgeben, sondern sie sind als die vermeintlich ‚zweite Spur‘ des Kommentars Teil der Übersetzung, die sich derart ‚selbst‘ in sich teilt, indem sie sich auf sich selbst bezieht.89 Die Relation, die die Übersetzung als inter-textuelle Interaktion selbst ist und die sie nicht inkludieren wird, ist in der Spatialität des Textes auf der Seite ab-sehbar. Die Interaktionen von Text und Fußnoten tragen die Inter-Textualität der Übersetzung vor und bestimmen diese als einen Text, der nur gelesen werden kann in seiner Relation – oder weitergehend als Relation – auf den übersetzten anderen Text. Die Anmutung: „Sollte nicht eine Übersetzung für sich selbst sprechen?“ (Inbar), mit der Wielands Theatralischer Shakespear unter Vorbehalt gestellt wird, verfehlt dagegen mit der klassizistischen Unterstellung eines Werkcharakters der Übersetzung90 das, was Übersetzungen tun. Als Übersetzung würde sie für sich selbst nur sprechen, indem sie (auch) von sich selbst als Übersetzung spräche, sich als Rück-Wendung auf den – und Hinzufügung zum übersetzten Text ausbildet. Die Supplemente, die die Noten sind, markieren die Nicht-Geschlossenheit dessen, was kein Werk (geworden) ist. Goethe hat im Nachsatz zum toten Wieland 1813 vor allem die Vorläufigkeit bemerkt, die die sich
88 So Walter Benjamin in einer Replik auf die Antwort eines von ihm rezensierten Übersetzers; der Begriff Technik ist ernst zu nehmen: Die Übersetzung „ist eine der gar nicht wenigen Disziplinen, die Wissenschaft auf Kunst anwenden, genau so wie andere sie für die Industrie und die Architektur verwerten. In all solchen Fällen entsteht eine Technik“ (Ein grundsätzlicher Briefwechsel über die Kritik übersetzter Werke [1928], WBGS, III: Kritiken und Rezensionen, hg. von Hella Tiedemann-Bartels, Frankfurt a.M. 1991, S. 120ff.). 89 Für die Angewiesenheit von Übersetzung auf Paratextualität, vgl. die Beiträge von Uwe Wirth und Daniel Ulbrich im vorliegenden Band. 90 Schiller fragte rhetorisch, ob der Chor, den er als das theatrale Parergon des dramatischen Werks kennzeichnete, nicht müsse für sich selbst sprechen können (Friedrich Schiller: Ueber den Gebrauch des Chors in der Tragödie, in: ders.: Die Braut von Messina. Oder Die feindlichen Brüder. Ein Trauerspiel mit Chören, hg. u. eingel. von Karl Mickel, Marbach 1997, S. 161–175, hier: S. 163; vgl. Bettine Menke: Wozu Schiller den Chor gebraucht…, in: Tragödie. Trauerspiel. Spektakel, hg. von dies./Christoph Menke, Berlin 2007, S. 72–100).
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hinzufügenden Noten am Text kenntlich machen und vollziehen. Er sagt den Texten des verstorbenen Wieland überhaupt nach: es war Wieland in allen Stücken weniger um einen festen Standpunkt als um eine geistreiche Debatte zu thun. Zuweilen berichtigt er den Text in einer Note, würde es aber auch nicht übel nehmen, wenn jemand aufträte und wieder durch eine neue Note seine Note berichtigte. Übrigens muß man Wieland deswegen nicht gram werden; denn gerade diese Unentschiedenheit ist es, welche den Scherz zulässig macht, indeß der Ernst immer nur Eine Seite umfaßt und an dieser mit Ausschließung aller heitern Nebenbeziehungen festhält.91
Dass er überhaupt „zuweilen“ „in einer Note“, die sich hinzufügte, den Text berichtigte, das war, so muss sich Wieland vorhalten lassen, verfehlt, denn jeder Text bekennt mit den hinzugefügten Noten (s)eine Nicht-Ganzheit ein, die durch die Noten nie abgeschlossen, sondern gerade je wieder aufgehalten und durch das Supplement festgehalten wird. Unüberhörbar ist das Maß des Goetheschen Zugeständnisses, das zugleich das seiner Ungehaltenheit abgibt: Es ist durch Werk, Einheit, Ernst angegeben. Goethes Bestimmung gab (auch) für die letzte Stufe der Übersetzungskonzepte als deren telos vor, dass „man die Übersetzung dem Original identisch machen möchte, so daß eins nicht anstatt des andern, sondern an der Stelle des andern gelten solle“92; damit kämen – wenn denn je eine Übersetzung dem Original „identisch“ wäre – A.W. Schlegels Shakespeare-Übersetzungen überein, die Einheit und Geschlossenheit durch Versifikation erzeugen, die nach außen absondert und einen inneren Zusammenhang zu konstituieren hat. Als Regulativ der Übersetzung, die als Werk statt des Originals sich gültig behaupten solle, müsste gelten können, dass alle philologischen metafigürlichen Bezüge aus ihr ausgeschieden sein, die Übersetzung ‚selbst‘ (im ‚Innern‘) von allen philologischen Zügen gereinigt werden müsste. Umgekehrt aber würden Übersetzungen, wo sie Werkcharakter gewännen, verfehlen, was Übersetzungen tun und was sie vorführen müssen. Die spatiale Organisation des Textes, die die graphische Marke in dessen ‚Innern‘, als den Bezug woandershin einlässt, sondert in den annotierten Übersetzungen Wielands nicht Text und philologische Tätigkeit, trennt nicht Text und ‚Meta‘text auf, sondern die Paratexte, die Fuß-Noten sind, bezeugen, dass mit Übersetzungen ‚kein abgeschlossenes, sich mit sich selbst zusammenschließendes Werk‘ hervorgebracht worden sein wird. Die Übersetzung selbst ist in sich selbst geteilt, wendet sich aus sich selbst heraus. Sie ist nicht nur (auch) Meta-Text, sondern, mit W. Benjamin, wie die
91 Goethe: Goethes Gespräche, Bd. 3, S. 58f. 92 Goethe: Noten und Abhandlungen zum West-östlichen Divan, S. 256. So erläutert er: „Alles unterwarf er […] der Kritik. Auf diesem Wege gelangt man freilich zu keinem Resultate.“
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Kritik ein Modus des „Fortlebens“ des Werks93, das dessen Zusammenhang von Form und Gehalt zerfällt und es mortifiziert, wie die Kritik, Benjamin zufolge, die „Mortifikation der Werke“ ist.94 Das Stückwerk erinnern Fußnoten, auch wenn sie (nur) dieses supplementieren wollen: als ein solches ‚erzeugt‘ jede Übersetzung den übersetzten Text. Goethe, der auf die Ganzheit des Werkes setzt, die keine Intervention und keine Anfügung erlaube, ‚vergisst‘ die Operationen, die den Text als Ganzheit erst herstellen, bzw. hat sie schon vergessen gemacht. Wielands Texte dagegen werden durch ihre Fuß-Noten als je schon und je wieder aufs anderswo- und weiter-Schreiben verweisende, so las sie Goethe, als nicht-geschlossene charakterisiert. III. Schauplätze/Exterioritäten Werden durch Wielands annotierte „Leseübersetzung[en]“95 Shakespeares Stücke an den Schauplatz der Schrift gebunden, so kommt doch auf der anderen Seite als deren ‚anderer Schauplatz‘ auch für den Shakespeare des 18. Jahrhunderts das Theater in den Blick. Mit Popes u.a. Editionen sollte Shakespeare und sollten seine theatralischen Werke dem Theater erst abgewonnen werden. Bereits Popes Entgegensetzung von Poet versus Players, auktorialer gedruckter Text versus playhouse, das sich in Form von Schauspieler-Notaten, -Streichungen und -Hinzufügungen am Rande des Textes eintrug und diesen verderbend usurpierte, fasste die Heteronomie des Theaters auf. Entsprechend habe sich, „neben dem Theater und oft gegen die Bühne der deutsche Shakespeare-Mythos im 18. und sogar noch im 1. Drittel des 19. Jahrhunderts herausgebildet“.96 Das hat zwei zusammengehörende Seiten: Zum einen war „für die Deutschen Shakespeare […] schon lange ein Leseerlebnis [und zwar in Wielands Übersetzungen] […], bevor 93 Vgl. Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers, S. 10ff. 94 Vgl. Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, WBGS, Bd. I.1: Abhandlungen, hg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1974, S. 203–431, hier: S. 357. 95 Inbar: Funktion der Fußnoten, S. 65. 96 Eckhard Heftrich: Shakespeare in Weimar, in: Das Shakespeare-Bild zwischen Aufklärung und Romantik, hg. von Bauer, S. 182–201, hier: S. 188. „Denn während Shakespeare längst ein Schibboleth für Dichtung war, blieb von Weimar bis zum Berlin Ifflands jede Aufführung ein um so größeres Risiko, je näher sie sich ans Original hielt.“ (ebd.; vgl. S. 192) Wieland zufolge wird das Theaterpublikum adressiert durch „Humor und das Lächerliche“, das „gröstentheils in sehr pöbelhaften Schwänken, Zoten, Wortspielen und einer ekelhaften Art von falschem und schmuzigem Wiz besteht“ (Der zweite Teil von König Heinrich dem Vierten, TW, Bd. 13, S. 134; GS, Abt. II, Bd. 2, S. 551).
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sie ihn auf der Bühne sahen“97, zum anderen aber ‚gehörte Shakespeare – nach geläufiger Redeweise – überhaupt nicht auf die zeitgenössischen Bühnen‘. Dies Vorurteil hat am Vorwurf gegen Wielands Unternehmung teil, man hätte den Shakespeare gar nicht übersetzen sollen, denn das Publikum benötige Bildung, um mit Shakespeare zurechtzukommen, und wer die habe, lese am besten das englische Original.98 Dieser Vorbehalt richtet sich gegen das Theater selbst, auf dem „der deutsche Shakespeare unentbehrlich“ war und sich Wielands Übersetzung als die Vorlage für nahezu alle Bühnenbearbeitungen des 18. Jahrhunderts behaupteten.99 Er artikuliert sich als Misstrauen gegenüber dessen Publikum, da es „auf dem Theater […] auf Wirkung an[komme]“.100 Daher wird entweder befürchtet, dort werde die falsche erzeugt, lässt die Publikation von Wielands Übersetzung den Rezensenten besorgen, sie werde „alle die elenden Nachahmer […] hervorkeimen lassen, alle die deutsche Shakespeare, die die begrabenen Hanswürste aufwecken werden, Totengräberliedlein singen, Könige rasend werden, Gewitter und Stürme mit Hexentänzen in Calfonium aufführen, und Sterbeglocken zu Grabe werden läuten lassen“.101 Oder aber, da den Stücken Shakespeares die Wirkung im Sinne der ‚reizenden Rührung‘ durch das bürgerliche Drama nicht gelingen könne, wird vorgeschrieben, „alles was dem [dieser Wirkung] im Wege stehe, [müsse] beim Übertragen geändert werden“.102 Was auf der Bühne präsent war, das waren Bearbeitungen; das war Shakespeare als bürgerliches Drama103 , – 97 Inbar: Funktion der Fußnoten, S. 66; zwischen dem Abschluss von Wielands Übersetzung und den ersten Shakespeare-Aufführungen in Hamburg liegen zehn Jahre. 98 „Von Rechtswegen solte man einen Mann, wie Shakespeare, gar nicht übersetzt haben. Ohne Känntniß der englischen Sprache, der englischen Sitten, des englischen Humeurs, kann man an dem größten Theil seiner Werke wenig Geschmack finden; wer also das obige versteht, wird diesen trefflichen Schriftsteller englisch lesen, und wer es nicht versteht, sollte ihn billig gar nicht lesen.“ (Nicolai: Shakespear theatralische Werke, S. 300). „Anlaß zu diesem Zweifel“, „ob wir nicht lieber gewünscht hätten, daß Shakespeare niemals möchte übersetzt werden“, gab: „Was das Vergnügen anbetrifft, so muthmaßten wir, daß der größte Theil der Leser sich an den Fehlern des Shakespear ärgern werde, ohne seine Schönheiten zu fühlen; da zumal die wenigen Leute von Genie und Geschmack gewiß das Orginal lieber selbst lesen werden“, die anderen werden wegen der „Schwierigkeit der Übersetzung selbst“ doch nicht finden, worauf es ankäme (Weiße: Shakespears theatralische Werke, S. 259f.). 99 Inbar: Funktion der Fußnoten, S. 73. 100 Ebd., S. 66. 101 Weiße: Shakespears theatralische Werke, S. 260; vgl. Larson: Wieland’s Shakespeare, S. 241. 102 Inbar: Funktion der Fußnoten, S. 65f. 103 So etwa Christian Felix Weiße: Romeo und Julie: ein bürgerlicher Trauerspiel in fünf Aufzügen, Leipzig 1768; Karl Siegfried Guthke: Shakespeare im Urteil der
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durch Bearbeitungen nach dem Kriterium von Natürlichkeit und poetischer Wahrscheinlichkeit im Sinne der ‚psychologisch wahrscheinlichen Entwicklung der Charaktere‘, der nach Maßgabe der ‚Verinnerlichung‘ „Shakespeares Rhetorik, seine Wortspiele und seine ‚unrealistischen‘ Handlungen“ zum Opfer fallen müssen.104 Entweder also man machte Shakespeare zum bürgerlichen Drama – oder aber er kam gar nicht auf die Bühne. Wielands Übersetzung stellt die Vorlage noch für die dramaturgischen Versuche Wilhelm Meisters.105 Die Unterstellung, dass Shakespeare für die Bühne, und zwar durchaus entsprechend jener Gesichtspunkte, mit denen Wieland den Lesern des 18. Jahrhunderts zu genügen gedachte, zu bearbeiten sei, korrespondiert der Abwehr der Theatralität des Theaters, etwa in der Anti-Theatralität des bürgerlichen Dramas. Sie zeigt sich nicht zuletzt darin, dass Goethe sich veranlasst sah, Shakespeares Stücke als „Poesie“ zu retten, indem er sie dem Theater entzieht: „So gehört Shakespeare nothwendig in die Geschichte der Poesie; in der Geschichte des Theaters tritt er nur zufällig auf.“106 Anlässlich Shakespeares bekräftigt Goethe die, Aristoteles zufolge, dem Drama als Mimesis der Handlung widerstreitende opsis des Theaters107 im zeitgemäßen Gegensatz von Poesie und Theater, indem er der ‚inneren Vorstellung‘, die die „Lektüre“ der Poesie „mit geschloss’nen Augen“ bestimmt, den Vorrang gibt vor der theatralen äußeren Vorstellung, die der innern Logik des „poetischen Werks“ als Zufall, Heteronomie, „Begränzung“ entgegentrete.108 Goethe interessierte am Drama
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deutschen Theaterkritik des 18. Jahrhunderts, in ders.: Wege zur Literatur: Studien zur deutschen Dichtungs- und Geistesgeschichte, Bern/München 1967, S. 221– 246; „von Weimar bis zum Berlin Ifflands [blieb] jede Aufführung ein um so größeres Risiko, je näher sie sich ans Original hielt“ (Heftrich: Shakespeare in Weimar, S. 188; vgl. S. 192). Vgl. Inbar: Funktion der Fußnoten, S. 66; so vollzog sich vor allem des Hamlet „Verdeutschung“ (Wertheimer: „So macht Gewissen Feige aus uns allen“, S. 201). Vgl. die Beiträge von Anselm Haverkamp und Rüdiger Campe im vorliegenden Band. Trotz (oder wegen?) Wielands übersetzender Hamlet-Eingriffe griff auch Goethe „immer wieder gerne und lobend“ auf Wielands (auch nach Erscheinen der Schlegelschen) Übersetzung zurück (Klaus Schäfer: Christoph Martin Wieland, Stuttgart 1996, S. 70). Goethe: Shakespeare und kein Ende!, S. 65. Zum Widerstreit von Theater und Drama, das doch nur als dessen Form existiert, vgl. Bettine Menke/Christoph Menke: Tragödie – Trauerspiel – Spektakel. Drei Weisen des Theatralen, in: Tragödie. Trauerspiel. Spektakel, hg. von dies., S. 6– 15. Goethe: Shakespeare und kein Ende!, S. 67. „Shakespeare’s ganze Verfahrensart findet an der eigentlichen Bühne etwas Widerstrebendes“. Auf die Bühne gehöre Shakespeare gar nicht, weil das Theater „Bedingungen“ machte, weil es der Raum der Zufälle ist. „Die Unvollkommenheit der englischen Bretterbühne ist uns durch kenntnisreiche Männer vor Augen gestellt,“ – sagt Goethe: „keine Spur von der
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überhaupt und spezifisch an Shakespeare, „was besser imaginiert als gesehen wird“.109 Das Theater ausschließend hat er gleich auch das Medium der Lektüre, die Schrift, übersprungen, weil er sie als transparent voraussetzt. Es ist nicht zufällig Shakespeare, an dem Goethe die Entgegensetzung von „poetischem Werk“ und Theater vornimmt, hatten doch die barocken Schauspiele das theatrale Sehen auf die Bühne gebracht, aus dem sie den dramatischen Gehalt ziehen, den Goethe als poetischen der inneren Einbildung anvertrauen wollte, und die Ausstellung zum Strukturgesetz des Aufgeführten selbst gemacht.110 Wenn Goethe das Ideal der Shakespeare-Rezeption in die Lektüre verlegt, so verbannt er die Äußerlichkeit der Bühne und ignoriert die der Schrift. War auf der Bühne des 18. Jahrhundert Shakespeare in Wielandscher Übersetzung zu sehen, so damit etwas anderes als Wielands Übersetzungen, die durch die schriftliche Organisation ihrer Einlassungen und Hinzufügungen bestimmt sind. Diese theatrale Exterorität des Theaters, die dem 18. Jahrhundert in den barocken Schauspielen so präsent wie heftig abgewehrt war, wird durch die Komik, die an Shakespeare irritierte, akzentuiert. Shakespeares Schauspielen gelinge es, so Benjamin, die „Komik – oder richtiger: de[n] reine[n] Spaß“, ins Trauerspiel einzuspielen oder als der Trauer „Innenseite“ auftreten zu lassen.111 Das ermöglicht Benjamin selbst (was als ‚Benjamins Shakespeare‘ ausgewiesen werden könnte), das barocke Trauerspiel als Form aufzufassen, da es ‚seine Höhe‘ „nicht in den regelrechten Exemplaren“ erreiche, sondern dort, wo es „mit spielhaften Übergängen […] das Natürlichkeitsforderung“, nur die Zumutung des „Gerüste[s], wo man wenig sah, wo alles nur bedeutete“ , „sich das Publicum gefallen ließ, hinter einem grünen Vorhang das Zimmer des Königs anzunehmen“ (ebd., S. 68). 109 Ebd., S. 54. 110 So Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels; vgl. Bettine Menke: Das Trauerspielbuch, Bielefeld 2010, S. 27–68. Gundolf findet für „die Erbfeindschaft zwischen Theater und Drama […] historische Belege“ im Barock; wie der GeorgeKreis überhaupt verwirft er die ‚„theatermache“, will Shakespeare als ‚dramatisches Urphänomen‘ aufgefasst wissen, von dem umgekehrt die ‚Normen des Theaters‘ abzuleiten seien (Gundolf an K. Wolfskehl, 16. August 1910, zit. nach Maximilian Nutz: Messianische Ortsbestimmung und normative Menschenkunde. Gundolf und die Barockliteratur, in: Europäische Barock-Rezeption, hg. von Klaus Garber, Bd. 1, Wolfenbüttel 1991, S. 653–675, hier: S. 659). 111 Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 304. Pope taugte „Comedy” als Synekdoche fürs Theater überhaupt, allerdings durch die Orientierung am Publikum: „nothing was so sure to please, as mean buffoonery, vil ribaldry, and unmannerly jests of fools and clowns“ (Pope: Preface to Shakespeare, S. [9]); während zugleich eine ‚Erhebung‘ Shakespeares gegenüber der Comedy (im Sinne der Romanzen) zu vermerken ist: „sein Genie gleicht in diesen niedrigen Scenen irgend einem Prinzen in einem Ritterbuche, der in einen Schäfer oder Bauern verkleidet ist“ (Wieland: Alexander Pope’s Vorrede, GS, Abt. II, Bd. 1, S. 3).
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Lustspiel in sich anklingen macht“.112 Die merkbaren Vermischungen, Hybridbildungen des Tragischen, Komischen und Lyrischen wurden zu einem entscheidenden Argument der Shakespeare-Renaissance im deutschen 18. Jahrhundert113, wie dies bereits durch Wieland angezeigt ist, der von ihnen als „ungeheure Zwitter von Tragödie und Possenspiel, wahre Tragi-KomLyrico-Pastoral-Farcen“ spricht.114 Affirmativ fasst Wieland dies im Namen des „Genius“ auf, der „mit gleich meisterhaftem Pinsel den Menschen und den Caliban, den Mann und das Weib, den Helden und den Schurken, den wiesen und den Narr“ schildere: „den König Lear und Tom Bedlam, eine Miranda und eine Lady Macbeth, einen Hamlet, und einen Todtengräber“.115 Das ist darauf angelegt, wie das gattungsmäßig Hohe und Niedere so die komischen Personen und Szenen neben den ernsten oder traurigen aufzuführen. Von „Mischung“ spricht C.M. Wieland so gut wie der ihm nicht nur hinsichtlich der Shakespeare-Übersetzungen sich entgegensetzende A.W. Schlegel, der unter den „unauflöslichen Mischungen […] allen Entgegengesetzten“ die von „Ernst und Scherz“ nennt: Die antike Kunst und Poesie geht auf strenge Sonderung des Ungleichartigen, die romantische gefällt sich in unauflöslichen Mischungen; alle Entgegengesetzten, Natur und Kunst, Poesie und Prosa, Ernst und Scherz, Erinnerung und Ahnung, Geistigkeit und Sinnlichkeit, das Irdische und Göttliche, Leben und Tod, verschmilzt sie auf das Innigste miteinander.116
Das kann zum einen in Termini von Genres gehandelt werden; das wäre gerade für Wieland einschlägig genug, da eben jene Stücke, die Wieland zuerst die liebsten waren, Der Sturm oder Der Sommernachtsraum, z.B. Gerstenberg, von dem Wielands Übersetzungen sich so deutliche Abfuhren gefallen lassen mussten, derart in „Verlegenheit“ brachte, dass er diese „in die Classe der Pastoral [werfe], weil [er] nicht weiß, wo [er] sie eigentlich hinbringen soll, da sie sich fast ganz der Natur der Opern nähern.“117 In 112 Ebd., S. 306 und S. 303f. 113 Vgl. Theisen: The Drama in Rags: Shakespeare Reception in Eighteenth-Century Germany, S. 505; dies.: Der Bewunderer des Shakespeare: Kleists Skeptizismus, in: Kleist-Jahrbuch 1999, S. 87–108. 114 Wieland: Der Geist Shakespears, S. 184. 115 Ebd., S. 185; vgl. ders.: Alexander Pope’s Vorrede, GS, Abt. II, Bd. 1, S. 2. 116 Schlegel: Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur, Bd. 6, 25. Vorlesung, S.111ff.; vgl. die Gegensatzlehre von Adam Müller: Heinrich IV. oder von dem Verhältnis des Komischen und Tragischen (1808), in: ders.: Kritische, ästhetische und philosophische Schriften. Kritische Ausgabe, hg. von Walter Schroeder/ Werner Siebert, Bd. 1, Berlin 1967, S. 177–187. 117 Zit. nach Roger Bauer: „The fairy way of writing“: Von Shakespeare zu Wieland und Tieck, in: Das Shakespeare-Bild zwischen Aufklärung und Romantik, hg. von ders., S. 143–162, hier: S. 145. Wenn von den Komödien „in der damaligen Shakespeare-Kritik bestenfalls am Rande die Rede“ ist, so interessierte „sich die Kritik
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Perspektive eines neuen gemischten theatralen Genres wäre (zugegeben, eher nachträglich unterscheidend) in Anlehnung an die Romanzen und das Romanhafte, mit Anschluss an das für die Shakespeare-Rezeption so wichtige „Wunderbare“118, vom „Romanisch-Komischen“ zu sprechen.119 Da der „Ernst“, so Goethe anlässlich der Noten Wielands, so vor allem Adam Müller anlässlich Shakespeares, als Einheit im Sinne der Einstimmigkeit, als Un-Umkehrbarkeit, als Nicht-Revozierbarkeit aufgefasst ist, gehört die Mischung als solche dem „Scherz“ zu, wäre auch jede Verbindung von Ernst und Scherz nie wieder die ‚Einheit‘, in der allein der Ernst seine Form fände.120 Zum anderen aber ist das Komische im Trauerspiel romantisch in einem anderen, engeren Sinne, den Benjamin mit Shakespeare pointiert, und in dem ‚Benjamins Shakespeare‘ seine Pointe hat: Denn solcherart ist die Gemeinschaft jener beiden Formen, welche durch Übergänge nicht nur empirisch sondern dem Gesetz ihrer Bildung nach so streng aneinander gebunden sind, wie Tragödie und Komödie sich gegensätzlich verhalten, daß das Lustspiel ins Trauerspiel wandert […]. Dies Bild hat seinen guten Sinn: das Lustspiel macht sich klein und geht gleichsam ins Trauerspiel hinüber. […] Von neuem ist an die Verkleinerung der Reflektierten zu erinnern. Die komische Figur ist Räsonneur; sie wird sich selbst in ihrer Reflexion zur Marionette.121
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vorerst für Stücke wie Der Sturm oder Der Sommernachtsraum“ „noch weniger“: „Im gängigen Gattungssystem sind sie nicht unterzubringen!“ (ebd.) Vgl. etwa Über Shakespeares Behandlung des Wunderbaren von Tieck, der auch, unter dem Eindruck von Wielands Übersetzung, als erstes den Sturm, als eines der „Zaubermärchen“ übersetzte (Bauer: „The fairy way of writing“, S. 154). Den Ausdruck entnehme ich Florian Gelzer: „Romantisch-Komisch“: ein literarischer Modus in der deutschen Literatur zwischen Frühaufklärung und Klassik (Jacobi – Michaelis – Wieland), in: German Life and Letters 59, 2006, S. 323–343, hier: S. 325. Das Genre mit Mischcharakter, „welches sie das romanische nennen, ‚theils abentheuerliche Begebenheiten, und vorzüglich Begebenheiten der irrenden Ritter zum Inhalt hat‘, hat eine ernsthafte und eine scherzhafte Seite“ (ebd., S. 325); es eröffnet einen „Zwischenbereich zwischen dem ‚ernsthaften‘ Epos und dessen komisch-satirischem Pendant“ (ebd., S. 327; vgl. den Beitrag von Gelzer auch im vorliegenden Band), als „Mischung aus Komik und Pathos, Vaudeville und Heldenoper, Rittermärchen und Zauberspuk“ (ebd. S. 324). Die Anfangsstrophen von Wielands Versepos Idris ein „heroisch-comisches Gedicht“ (1768) sind als „Manifest für den Modus des ‚Romantisch-Komischen‘, wie ein Plädoyer für das Spielerische, Phantastische, Wunderbare, Märchenhafte und das ‚Unnatürliche‘“ zu lesen (ebd., S. 336). „[G]erade diese Unentschiedenheit ist es, welche den Scherz zulässig macht, indeß der Ernst immer nur Eine Seite umfaßt und an dieser mit Ausschließung aller heitern Nebenbeziehungen festhält.“ (Goethes Gespräche, Bd. 3, S. 58f.); vgl. Müller: Heinrich IV. oder von dem Verhältnis des Komischen und Tragischen. Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 306.
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‚Romantisch‘ ist das Trauerspiel durch die Reflexion, die das ins Trauerspiel gefaltete Lustspiel als dessen mise en abyme für das Trauerspiel vollzieht: Es exponiert das Spiel, das das Trauer-Spiel selbst ist.122 Die „Komik“ oder, wie Benjamin sich selbst ins Wort fällt, „– richtiger: der reine Spaß“, werde als die „Innenseite“ der Trauer-Spiele, so traurig deren Geschehen auch sei, wie die eines Mantels umschlagend sichtbar.123 Darin hat eine Wendung auf die Theatralität des Schauspiels statt. Mit der Komik verhält sich das Schauspiel exposititv zum Theater, während das Drama des 18. Jahrhundert, das doch nur als Form des Theaters existiert, diese seine Medialität zu verhehlen suchte. Mögen die Übersetzungen Wielands, die hinsichtlich Shakespeares die deutschen Bühnen des 18. Jahrhundert bestimmten, mit ihren Einwänden, die sie in den Fußnoten mitführen, die gerade die Komik der Shakespeare’schen Schauspiele als Possen-Einfügungen oder -Einfälle inkriminieren124, den Kriterien entsprechen, denen zufolge Shakespeares Stücke entweder von den Bühnen ausgeschlossen oder zum ‚bürgerlichen Drama‘, das der poetischen Wahrscheinlichkeit untersteht, umgeschrieben wurden, so stellen diese Annotationen als Fußnoten etwas anderes vor. Anders als Goethe, der die Stücke Shakespeares der Imagination empfahl, binden die Fußnoten (als solche) das Lesen an die Schriftlichkeit der Texte und an deren spatiale Organisation und halten diese als „Figur“ des Gelesenen fest.125 Sie stellen vor, was das „poetische Werk“, das sich vor oder jenseits der Bühne halten müsste, supplementiert und lädiert, was seine Schließung mit jeder Note, dessen Vorläufigkeit kenntlich machend, wieder und weiter aufschiebt. Wielands Übersetzungen bezeugen – entgegen dem Kriterium der ‚poetischen Verinnerlichung‘, das in den Noten vorgetragen wird, – die Äußerlichkeit, die nicht zu suspendieren ist.
122 Vgl. Bettine Menke: Reflexion des Trauer-Spiels. Pedro Calderón de la Barcas El mayor mónstruo, los celos nach Walter Benjamin, in: Literatur als Philosophie. Philosophie als Literatur, hg. von Eva Horn/Bettine Menke/Christoph Menke, München 2006, S. 253–280, hier: S. 269–277. 123 Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 304. 124 So am Hamlet, TW, Bd. 20, S. 173, S. 108, S. 112; GS, Abt. II, Bd. 3, S. 480, S. 447, S. 449; oder als Ausschluss der „Falstaffischen Scenen“, Wieland zufolge, „blosse Zwischen-Spiele“, Possen-Einlagen „dieser gegenwärtigen Haupt- und Staats-Action“ (Der zweite Teil von König Heinrich dem Vierten, TW, Bd. 13, S. 134; GS, Abt. II, Bd. 2, S. 551). 125 Der barocken Schriftbildlichkeit entspricht Benjamin zufolge das Sehen der Schauspiele als gerahmte Stücke einer Schaustellung (Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 361, S. 301; vgl. Menke: Das Trauerspielbuch, S. 189ff.).
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Pyrrhus’ Sieg Shakespeare .. Wieland . Hegel Für die Wortfolge „Shakespeare.. Wieland. Hegel“ ist Samuel Becketts „Dante… Vico.. Joyce“ vorbildlich, derzufolge Wieland wie weiland Vico als ein Scharnier fungiert, das gemeinhin unter dem Stichwort der Rezeption oder auch – Hegel entgegen kommend – der „Vermittlung“ verhandelt wird.1 Wieweit die Rezeption im exemplarischen Fall Wieland für Hegel Vermittlung war und gleichwohl – in den vielen Varianten der nach-heideggerschen Diskrepanzen von „Wahrheit und Methode“ – eine kaum markierte, unmerkliche Wendung blieb (mit Namen wie Ruinanz, Abbau, Dekonstruktion oder auch einfach nur Ironie, Zäsur und List der Vernunft) ist die Frage, die ich vorzubereiten versuche in der deutlichen Ahnung, in Wielands Rolle zwischen Shakespeare und Hegel ein kapitales Paradigma literarischer Wirkung vorzufinden. Die erste vorbereitende Überlegung muss der Verborgenheit dieser Art von Exemplarität gelten, für die Wieland in der Tat das viel bedauerte Beispiel ist. Es handelt sich um eine zwangsläufige, ja wesentliche Verborgenheit, die aus der durchgängigen Unmarkiertheit der Rezeptionsvorgänge resultiert, um sich sodann in der Übersetzung sistiert zu finden – aber um den Preis des Entscheidungsmomentes sistiert, das in der Übersetzung recht oder schlecht aufgehoben sein mag. Sie verhilft dem Fall Wieland, seiner bis zur Verkennung unterschätzten Rolle im literarischen Kanon, zu einer Erklärung, deren Logik in diesem Fall besonders rein ausgeprägt ist, aber durchaus allgemeinere Geltung hat: eine Geltung, die aus der Verborgenheit heraus Exemplarität beweist. Dass ich hier nicht nur aus der Not eine Tugend mache, beweist die Route Shakespeare—Hegel, die in Wieland ihre verborgene Trasse hat. Denn das ist zum Glück zweitens nicht von der Hand zu weisen, wenn auch bisher nur von rein anekdotischem Interesse gewesen, dass Hegel Shakespeare gelesen hat, ja dass Shakespeare für Hegel ein insgeheimer, wenn auch bislang nur schwer auszumachender Bezugspunkt geblieben ist. Hegels erster Biograph Karl Rosenkranz berichtet – und schon dieser erste Bericht ist von auratischer Qualität und als ein erstes Glanzlicht in Hegels 1
Samuel Beckett: Dante... Bruno. Vico.. Joyce, in: ders.: Our Exagmination Round his Factification for Incamination of Work in Progress, London 1929 (Reprint 1972), S. 22. Der gängigen Vermutung zufolge steht in Becketts Titel für jedes Jahrhundert ein Punkt.
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Leben gedacht – von dem Lieblingslehrer Löffler, dessen tiefer Einfluss im Tagebuch des Knaben Hegel nachlesbar ist und nicht zuletzt im Geschenk von Wielands Shakespeare-Übersetzung Ausdruck fand, die der Lehrer dem Achtjährigen mit auf den Weg gab: „Er (Löffler) schenkte ihm nämlich 1778 die Wieland’sche Uebersetzung Shakespeare’s mit den Worten: ‚Du verstehst sie jetzt noch nicht, aber du wirst sie bald verstehen lernen‘.“2 Das erste Stück, setzt Rosenkranz hinzu, das „den Knaben lebhaft ansprach“, sollen Die lustigen Weiber von Windsor gewesen sein, ein Titel, der Rosenkranz umstandslos zum nächsten Thema, des kleinen Hegels Gefallen am Umgang mit den Mädchen führt, einem Umgang im Widerstreit von Witz und Ernsthaftigkeit, der in den Augen der Freunde und des Biographen nicht immer glücklich war – ein shakespearisches Moment, das ich nicht an den lustigen Weibern verfolgen will, denn dies Stück gehört nicht zu den von Wieland übersetzten (Rosenkranz bezeugt hier nur Hegels gut bekanntes weitergehendes Interesse.) Hegel war von Shakespeare nachhaltig beeindruckt, und Rosenkranz versäumt nicht, den Kontrast anzudeuten, den das so voraussehende Geschenk des Lehrers Löffler angesichts der beiden Säulen der klassischen Erziehung, der christlichen Väter und der griechischen Autoren für Hegel bedeutete: eine ständig und verlässlich mitlaufende Provokation der antiken Überlieferung durch die moderne Welt. Wenn richtig ist, wie Emanuel Hirsch in einem denkwürdigen Artikel getan hat, geradezu von einer „Beisetzung der Romantiker in Hegels Phänomenologie“ zu sprechen – einer aufhebenden Bearbeitung, in der sich Hegel von Hölderlin in bemerkenswerter Weise unterschied – dann muss von Shakespeare als dem nicht beigesetzten Rest geredet werden, der in der Phänomenologie des Geistes den entscheidenden Unterschied macht – einen Unterschied, den dank Löfflers Intervention Wieland auf die Bahn gebracht hat.3 Die Verborgenheit Wielands in dieser Sache wäre mithin auch der Grund für Hegels wenig bekannte Schuld und Verpflichtung gegenüber Shakespeare. Sie tritt nirgends eindrücklicher, geballter, aber auch undurchschauter auf als gegen Ende der Phänomenologie, wo Shakespeare zwar gelegentlich durchscheint, aber nie im vollen Umfang der Verstrickung erkannt worden ist, ja auch nur erkennbar geworden ist, selbst da, wo eine Menge der dort verborgenen Einsichten und Pointen in die Vorlesungen zur Ästhetik hinein reichen und dort weiter ausgeführt worden sind.4 Wichtig ge2 3 4
Karl Rosenkranz: Georg Wilhelm Friedrich Hegels Leben, Berlin 1844, S. 7. Emanuel Hirsch: Die Beisetzung der Romantiker in Hegels Phänomenologie (1924), in: Materialien zu Hegels Phänomenologie des Geistes, hg. von Hans Friedrich Fulda und Dieter Henrich, Frankfurt a.M. 1973, S. 245–275. Emil Wolff: Hegel und Shakespeare, in: Vom Geist der Dichtung, hg. von Fritz Martini, Hamburg 1949, S. 120–179.
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nug, dass sie dort weitergewirkt haben und ihre ungelöste Stelle in der Phänomenologie ästhetik-relevant geworden ist. Was Wieland angeht, hat er neben der Übersetzung kaum eine auffällige Vorgabe hinterlassen, die über die äußerst geschickte und elegante Präsentation des allgemeinen Stands der Zeit hinausginge und auf Hegel vorausdeutete. Immerhin, der Titel des einen charakteristischen Stücks wielandscher Prosa, das hier der Rede wert ist, und mit dem der Autor in seiner Zeitschrift, dem Teutschen Merkur, auch kaum mehr verfolgt hat als die Ankündigung einer neuen Auflage seiner Übersetzung (die dann von Eschenburg besorgt worden ist), lautet „Der Geist Shakespears“ und belegt allerdings die Konjunktur eben des Geistbegriffs, den Hegels Phänomenologie des Geistes so gründlich vertiefen sollte, an der Konjunktur Shakespeares, so dass der Gedanke nahe liegt, dieser Geist könnte in dem „Geisterreich“ der Phänomenologie „Epoche“ in dem strengen, tieferen Sinne Hegels gemacht haben.5 Dringt man in die unauffällige Oberfläche der Präsentation Wielands tiefer ein – sie gibt sich bei aller Lebhaftigkeit zu einverständig mit dem gebildeten Selbstverständnis in dieser Sache, als dass sich dem späteren Leser eigene Pointen aufdrängten – so stößt man einzig auf „Herrn Leßing“ und seine „vortreffliche Dramaturgie“, während Herders Name unter den Tisch gefallen ist, vielleicht auch zu gleichzeitig war, um in Wielands Blick gekommen zu sein. In der Widerlegung des „Sophisten Voltaire“, mit der Wieland seine kurz gefasste Erinnerung des Stands der Dinge eröffnet – wir erkennen im Design zwischen Voltaire und Lessing den gewieften Umgang mit den Gemeinplätzen der Zeit eher als die in sie gelegte Gewichtung – spielt allerdings Herders Intervention der Sache nach die unausgesprochene Hauptrolle. Wieland übernimmt den von Herder gleichzeitig in Deutscher Art und Kunst ausgespielten Part und interpretiert ihn auf seine Weise.6 Auch Hegels Phänomenologie wird auf Herder reagieren, so dass sich fragt, ob Hegel in Wielands Übersetzung Herder mitgelesen hat oder von Wielands Interpretation ausgeht. Deren beider Differenz ist deshalb als nächstes ins Auge zu fassen. Wielands Anteil, den Zeitgenossen vermutlich durchsichtiger, ist der des Romanciers, und es ist deshalb in einem ersten Schritt naheliegend, den neuen Wirklichkeitsbegriff des Romans in der erkenntnispragmatisch 5 6
Christoph Martin Wieland: Der Geist Shakespears (urspr. in: Der Teutsche Merkur 3, 1773, S. 183-195), in: Werke, hg. von Fritz Martini und Hans Werner Seiffert, München 1967, Bd. 3, S. 275–284, gefolgt von „Auszügen aus dem Hamlet“. (Johann Gottfried Herder): Shakespear, in: Von deutscher Art und Kunst (1773), hg. von Edna Purdie, Oxford 1924, Reprint 1948), S. 97–121; in der neueren Werk-Ausgabe, Bd. II: Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767–1781, hg. von Gunter E. Grimm, Frankfurt a.M. 1993, S. 498–521, gefolgt von den Entwürfen von 1771.
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gewendeten Indienstnahme des „dramatischen Perspektivismus“, für die Wieland seit Wolfgang Preisendanz bekannt ist, als Folie des dramatistisch-romanhaften Fortschreitens von Hegels Phänomenologie zu postulieren – ihrer bekanntermaßen romanhaften und dramenähnlichen Momente nicht allein, sondern der subjektbildenden, subjektivitätsmodellierenden Funktion dieser Momente.7 Aber das wäre nur die allgemeinste, bei dem Preisendanz des Humorbuchs bereits mitspielende Vermutung. Tatsächlich ist die Darstellungsverschärfung, in der die neue Wirklichkeit des Romans Shakespeare folgt, keine der durchgehenden Wahrscheinlichkeit, sondern vielfältiger anamorphotischer Ent-stellungen.8 Die von Lessing an der einschlägigen Stelle der Hamburgischen Dramaturgie (73. Stück) bemühte camera obscura führt in die Irre. Dass Shakespeare für den Dichter „das sein (soll), was dem Landschaftsmaler die camera obscura ist: er sehe (nur) fleißig hinein, um zu lernen, wie sich die Natur in allen Fällen auf eine Fläche projektiert“, ist nicht so sehr treffend und bedeutend, was die Perspektive angeht, sondern darin, dass sie die Projektion hervorhebt. So zeichnet sich Wielands „Geist Shakespeares“ dadurch aus, dass er Herders Einschätzung des Genies, das „gleich dem Genius der Natur, mit gleich scharfem Blick“ die Welt der Erscheinungen „umfaßt“, von der offenbaren „Unordnung“, in der „alles seltsam durcheinander geworfen“ erscheint, in „ein herrliches, unverbesserliches Ganzes“ verwandelt sieht, und zwar: „aus dem rechten Standpuncte betrachtet“, wirft er ein. Welches wäre dieser Standpunkt der ausgebreiteten Natur gegenüber? Der der Phänomenologie als Modell von Phänomenologie womöglich? Die aufgeklärte Erwartung, die das Zeitalter von Voltaire bis Lessing verbindet, setzt auf die Plausibilität der Per-spektive, ihre integrative Wahrscheinlichkeit; Wieland setzt dagegen – in kalkulierter Parenthese – die entschlüsselnde Funktion des „rechten“, sistierenden Standpunktes hinzu. Wie die Ansicht der Natur in der camera obscura (Lessings probate Metapher), so sei das Leben auf der Bühne Shakespeares (Herders Schlüssel) erschlossen – und dies durch den projektiv tätigen „Geist Shakespeares“, der vorzüglich seine „Kenntnis des Menschen“ ist (Wielands Auffassung). Die „Subjektivierung der Ausdruckssprache“, germanistischer Gemeinplatz, den die Romane Wielands gegen den Strich zur „aspektgebundenen Wirklichkeit“ subjektiver, als solcher „empirischer Erfahrung“ raffinieren bei Preisendanz, ist ein verunsicherter Zustand prekärer Subjektivi7
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Wolfgang Preisendanz: Die Auseinandersetzung mit dem Nachahmungsprinzip in Deutschland und die besondere Rolle der Romane Wielands, in: Poetik und Hermeneutik I, München 1964, S. 72–95, hier: S. 78. Vgl. auch die Hintergrundkonstruktion in: ders.: Humor als dichterischer Einbildungskraft, München 1963. Vgl. hier und im Folgenden ausführlicher: Anselm Haverkamp: Hamlet, Hypothek der Macht (2000), Berlin 22004, S. 71ff.
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tät: der Subjektivität Hamlets zum wichtigsten Exempel, aus dem Wieland auszugsweise seine Belege für den „Geist Shakespeares“ anhängt. Vergessen wir nicht, dass Schröders durchschlagender Erfolg, der Wieland inszenierende Hamlet am 20. September 1776 gleich auf dem Fuße folgt. Auf dem Theater, denn Wielands Übersetzung, die doch eine Leseübung sein sollte, erweist ihre Qualitäten paradoxerweise im Theatererfolg – bis auf Hegel, der gelesen hat. Der „Geist Shakespeares“ offenbart für Wieland eine „Kenntnis des Menschen“, die ihn einem Montaigne oder Rousseau „ähnlich“ sehen lässt. Nun sind die Beispiele in Wielands Auszug abermals nicht so überzeugend, wie man sie im Blick auf Hegel oder auch nur auf Shakespeare selbst gerne hätte – sie schwanken zwischen hausväterlicher Weisheit und biederer Hypokrisie, lassen indessen in diesem Schwanken dank Shakespeares Geist – wessen sonst – auch gewaltige Untiefen ahnen, wenn es von den Polonius am Munde abgelesenen „Regeln eines Vaters für seinen auf Reisen gehenden Sohn“ stracks zum Vatergeist des alten Hamlet kommt und den unaussprechlichen „Geheimnissen seines Kerkers“; von der Parodie des akuraten, „staatsklugen Pedanten“, der noch in der „Tollheit“ die „Methode“ wittert, zur Parodie des Pyrrhus auf dem Theater, der in Shakespeares Talent zur „hohen Epopöe“ – eine ganz erstaunliche Stelle – Hamlets Entscheidungslosigkeit konterkariert. Es lohnt sich, dieser – wie notorisch bei Wieland – äußerst unauffälligen, auf die routinierte Gefälligkeit des Literaturimpressarios abgestellten und beschränkten Stelle eine größere Aufmerksamkeit zu widmen als es Wielands offenbare Begeisterung für Polonius als die Rückenfigur des zeitgenössischen Wahrscheinlichen nahelegt. Denn nicht nur lässt Wielands Wortlaut an Ort und Stelle im Stück keinen Zweifel am parodistischen Charakter der Szene; er streicht für die Zwecke des „Auszugs“ sogar den ironischen Beifall des Polonius, der innerhalb des Stücks die personifizierte dramatische Ironie des Theaters auf dem Theater gibt mit dem denkwürdigen, aber ebenso gelöschten trockenen Schluss: „Das ist zu lang“ – von Wieland in unübertrefflicher Lakonik getroffen.9 Nicht nur weiß Wieland das Theater auf dem Theater trefflich zu übersetzen; er weiß den Geist, der darin waltet, herauszupräparieren. Hamlets Theater auf dem Theater, auf dem soeben noch der Geist der Geschichte höchst selbst als Vatergeist erschienen war, ruft das Epos in Erinnerung, zitiert es herbei und markiert darin den dramatisch erheblichen Punkt, der den epischen Gang der Dinge momentan anhält, so wie ihn Hamlet in diesem Moment auf der Bühne anhält und Wieland dies Anhal9
Hier und im Folgenden nach der Hamburger Neuausgabe der Zürcher Ausgabe: William Shakespeare: Theatralische Werke (=TW), übers. von Christoph Martin Wieland, in 21 Bde., hg. von Hans und Johanna Radspieler, Zürich 1995.
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ten im Auszug festhält. Was Polonius dezidiert für zu lang, das heisst: im Epischen trivialerweise als dramatisch zu lang befindet, birgt in sich einen sehr kurzen Moment, auf den es ankommt, und um den sich, vom Moment seines Zitats an, dieses Drama dreht. Erlauben Sie mir das ausführlichere Zitat in Wielands Worten – es handelt sich um den schnöden Tod des Priamus, der auf Wunsch Hamlets frei nach Vergils Dido-Geschichte, also bereits bei ihm, dem Studenten aus Wittenberg in seiner geistgeschichtlichen Verwicklung zum besten gegeben wird. Der „Auszug“ beschränkt sich auf eine Pointe, die nicht nur Polonius’ Kommentar löscht, sondern auch noch Hamlets erklärte Absicht hintergeht: „Der rauhe Pyrrhus“ trifft auf den alten Priamus, der sich kaum seiner Gegner zu erwehren weiß – die ihn ihrerseits in die Enge treiben, um ihn lebend gefangen zu nehmen. Denn das ist der nicht unwichtige implizite Punkt der Erzählung: der blutrünstige Totschlag des hilflosen Greises kommt der tragischen Bestimmung des alten Königs nur entgegen, er bewahrt ihn vor dem ruhmlosen Untergang in der Gefangenschaft, nachdem ihm der Heldentod in der Schlacht verwehrt war; er rettet geradezu mit seinem wortlosen dramatischen Aufwand an Heldengestik dessen verfallene, verspielte Heldenbestimmung (ich zitiere weiter, kursive Hervorhebungen zum Zweck der weiteren Interpretation): Der Wüthrich holt zu einem tödtlichen Streich weit aus; aber von dem bloßen Zischen seines blutigen Schwerdtes fällt der nervenlose Vater zu Boden. Das gefühllose Ilion selbst schien diesen Streich zu fühlen: seine brennenden Thürme stürzen ein, und der entsetzliche Ruin macht sogar den Pyrrhus stutzen. Denn seht, sein Schwerdt, indem es auf das milchweisse Haupt des ehrwürdigen Alten herabfallen will, bleibt (so schien es) in der Luft stecken. Pyrrhus steht wie ein gemahlter Tyrann, unthätig, dem Unentschloßnen gleich, der zwischen seinem Willen und der That im Gleichgewicht schwebt. Aber, so wie wir oft, wenn ein Sturm bevorsteht, ein tiefes Schweigen durch die Himmel wahrnehmen; das Rad der Natur scheint zu stehen; die trotzigen Winde schweigen und unter ihnen liegt der Erdkreis in banger Todesstille; auf einmal stürzt der krachende Donner Verderben auf die Gegend herab: so feurt den unmenschlichen Pyrrhus, nach dieser kleinen Pause, ein plötzlicher Sturm von Rachsucht wieder zur blutigen Arbeit an; —
Wielands Auszug bricht ab vor dem brutalen Ende, das Hamlets Schauspieler folgen lässt, er klammert die kathartische Moral aus, die mit der Hekuba-Szene immer wieder zum thematischen Dreh- und Angelpunkt des Theaters auf dem Theaters erklärt worden ist. Indem sich Wieland stattdessen einem technischen Moment der Darstellung statt ihrer Wirkung widmet, kommt er Hegel, wie zu zeigen ist, näher – ohne dass dies mehr als ein Symptom sein könnte für Hegels Lektüre. Der zum stehenden Bild erstarrte „gemalte Tyrann“; das der Natur eingezeichnete Rad der Fortuna; der nach „banger Todesstille“ endlich losbrechende Sturm, der das theatralische Moment einer naturwüchsigen Erwartung zuordnet, zielen alle auf
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den Augenblick, in dem das Epos dramatisch wird und die Geburt der Tragödie aus dem Epos mit Händen zu greifen ist, und zwar als eine natur-teleologische Konsequenz. „Denn seht“, das Drama gibt zu sehen, was in der epischen Darstellung auf eine paradoxe Sichtbarkeit, die Sichtbarkeit gestellter, nur im Stillstand zu gewärtigender Bildhinsichten drängt. Denn Wielands Geist Shakespeares ist nicht so sehr die belebende und bewegende als die treffende und sistierende Kraft der Darstellung – kein perlokutionäres Genie ist zu bewundern, sondern ein illokutionäres Wunder, in dem das dargestellte Leben qua Darstellung Geist wird, in das Leben Geist kommt, Geist als teleologischer Zug im Leben der Natur zur Selbstdarstellung – nicht gleich Selbstbewusstsein – kommt. So schwer es fällt, nach Hegel den von Wieland vorgestellten Sachverhalt in seinem vorhegelischen Zustand zu fassen zu bekommen, so deutlich ist doch auch, dass in dieser Latenz beides, der Erfolg Hegels wie die Rolle Wielands undurchschaubar gegeneinander abgewogen und aufgehoben liegen. Bevor ich ins Detail gehe, muss ich mich bei der entscheidenden Not aufhalten, die hier kaum mehr zur Tugend zu bewegen ist, der Crux der Rezeption in ihrer undurchdringlichen Formlosigkeit. Es kann sich nicht darum handeln, Hegel in Wielandscher Vorform auf Shakespeare zurückzuführen und zu identifizieren. Der ausgezeichnete Wert dieses Exempels liegt darin, einen Rezeptionsvorgang zu bieten, der die Phänomenologie eines Geistes belegt, wie er Wieland selbst mit dem Geist Shakespeares vorschwebte. Wielands Übersetzung belegt und benennt mit dem Geist namens Shakespeare eine Rezeptionsweise, deren außerordentliche epochale Bedeutung Hegel als Epoche in der Phänomenologie des Geistes entwirft. Der Sachverhalt ist von weitaus größerer Komplexität als sich hier auch nur einigermaßen zuverlässig postulieren lässt. Er hat die Dimension eines ganzen Felds historischer Forschungen, die ich nur sehr unbefriedigend andeuten kann, denn die Quellen, soviel sie auch sagen, sagen dazu nur wenig, und selbst Hegel, der es selbst ja wissen musste und gewusst haben mag, sagt nicht, wie und was er, vom Lehrer Löffler angehalten, an Shakespeare verstehen und lesen gelernt hat. Das Wort Geist, das Wieland wie Herder, Hegel wie Hölderlin als Generalnenner benutzen und das Wilhelm Meister die Übersetzung Wielands, die in ihm durchgehend präsent ist, „geistvoll“ nennen lässt (Lehrjahre V.5), ist nur einer der Indikatoren, die weniger eine Begriffs- als eine Begreifensgeschichte nötig macht, bevor Hegel es zur Phänomenologie in seinem Sinne des Geistes bringt. Die pneumatologische Herkunft des Geistbegriffs, den Hölderlin am tiefsten geprägt hat, trifft die formativ sprachliche Seite der in die Wirklichkeit eines Vollzugs bringenden „Kraft“ – performative force – oder Tendenz, die in der Übersetzung das Moment
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der Rezeption auszeichnet.10 Indessen ist damit nur das Wunderbare des Genies im geistigen Selbstbild der Zeit getroffen und der technische Vorgang des Übersetzens bleibt dabei so gut wie verkannt. Was das eine angeht, machte Wieland keine gute Figur; was das andere angeht, hatte er einen umso erstaunlicheren Erfolg. Nichts kennzeichnet die Blindheit der Situation besser als die Aufnahme, die Wielands Übersetzung unter den Zeitgenossen erfahren hat und die ex negativo den exemplarischen Status des Komplexes Übersetzung doch erkennen lässt. Gerstenbergs erster Verriss hatte Shakespeares Genialität in seiner Unübersetzbarkeit gesehen, um diese an Wielands ganz unzulänglicher Leistung bestätigt zu finden. Tatsächlich sieht man sich bis heute erhaben über Wielands zeitbedingte Notlösungen und ist im double bind von sprachlichem Genie und stümperhafter Übersetzung weit davon entfernt, die Sprachsituation in den Blick zu nehmen, mit der es Wieland, selbst unbeleckt von solchen Erwägungen, zu tun hatte.11 Dabei ist im Nachhinein leicht zu sehen, wie sich die sprachschöpferische Wirkung der elisabethanischen Bühne, deren Personifi-kation der Geist Shakespeares wurde, in der Situation Wielands eigentümlich verdoppelt: wie Wieland, mit anderen, zu groben Worten, das Deutsche auf einen Stand wie den der englischen Entwicklung 200 Jahre zuvor zu bringen unternimmt; die große Menge der bis heute erfolgreichen Neuerfindungen – zum allergrößten Teil parallelen (wenn auch oft irrtümlichen) Wort-für-Wort-Entlehnungen des im Original nicht minder Ungewöhnlichen – beweist das.12 So dass wir uns hier in einer eigentümlichen Sackgasse befinden, für die Hegel wohl eine ganz erstaunliche, den Geist seiner Zeit versöhnende Theorie anbietet, aber keine Lösung, und selbst die Frage, auf die er eine Antwort entwirft, scheint in der „Unform der letztern Partien“ der Phänomenologie, die Hegel explizit beklagt hat, mit untergegangen zu sein.13 Halten wir also den durchaus eindrucksvollen Rahmen des Problems fest, bevor ich in ihn einige thematisierende Punkte eintrage. Die sprachliche Umwälzung des Englischen, die Shakespeares Werk darstellt und festhält, stellt eine bis heute offene Sprachsituation her, die im deutschen 10 Vgl. Wolfgang Binder: Vom Geist der Geschichte (1982), in: ders.: Friedrich Hölderlin, Frankfurt a.M. 1987, S. 31–49, hier: S. 32. Zur „ästhetischen Genealogie“ des Begriffs bei Herder inzwischen Christoph Menke: Kraft: Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, Frankfurt a.M. 2008, S. 47ff. 11 So schon Ernst Stadler: Nachwort des Herausgebers, in: Christoph Martin Wieland: Gesammelte Schriften, 2. Abt. Übersetzungen, Bd. II (3): Shakespeares theatralische Werke, Berlin 1916, S. 570–578. 12 Kyösti Itkonen: Die Shakespeare-Übersetzung Wielands (1762–1766): Ein Beitrag zur Erforschung englisch-deutscher Lehnbeziehungen, Jyväskylä 1971. 13 Wie hervorgehoben von Hans Friedrich Fulda: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, München 2003, S. 29.
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18. Jahrhundert nicht nachzustellen, sondern – das dämmerte den ersten Kritikern – erst herzustellen war. Der unverdrossene Versuch Wielands registriert die unüberwindliche Diskrepanz, aber er tut mehr, er erfindet ins Blaue, auf eine Weise, die eine Ahnung vermittelt, wie Shakespeares Theater sprachschöpferisch effektiv war. In der Semantik, für die das bei Wieland wie bei Shakespeare die skandalösen oder genial gefühlten Effekte einer unabsehbaren, sei es wilden, sei es erhabenen, sei es schon romantischen oder jedenfalls romantisierbaren Ambiguität hat, ist das nur punktuell zu fassen. Tatsächlich ist es eine bei Shakespeare längst theatralisch kultivierte, bühnenreif gemachte Ambiguität aus zweiter Hand, die sich der Ästhetisierung anbietet und dem Geschmacksurteil der Kunstrichter nur zu sehr liegt. Wieland entzieht sich Herders Idee, dass es doch wohl der „Gesamtzusammenhang des Lebens“ sein müsse, der hier zum „Ausdruck“ komme.14 Hegel wird dieser Idee hinzufügen, was Wielands Shakespeare fehlte und im „Geist Shakespeares“ inbegriffen war. Der Übergang vom Epos zur Tragödie ist das Paradigma, das Wielands Auszug aus dem Hamlet favorisiert und Hegels Phänomenologie in der phantastischen „Unform“ der letzten Kapitel informiert. Dort ist die Tragödie die „höhere“ Form als das Epos aufgrund ihres gewachsenen Selbstbewusstseins an Sprache, ihrer Sprache als Ort von Selbstreflexion.15 Hegel übernimmt diese These – fast schon in der ausgewachsenen Form – aus Hamlets Präsentation des Theaters auf dem Theater, die Wieland nicht nur übersetzt, sondern im Auszug zusätzlich gerahmt hat. Was dabei kaum gesehen worden ist, aber von entscheidendem Interesse sein müsste, ist die theatralische Form und Rahmung der Sprachsituation. Auch sie ist dem Hamlet zu entnehmen, und Wieland hat das, muss man zu seiner Ehre sagen, nicht nur gemerkt, sondern berücksichtigt bis in den Wortlaut hinein. Nun ist immer schon bemerkt und bewundert worden, wie Shakespeare an der zitierten Stelle nicht nur Hamlets Plot dient mit der Mausefallentheorie (die doch eher die Parodie einer theatralischen Wirkung ist und prompt wirkungslos bleibt im Stück), sondern wie er dabei Gelegenheit nimmt, die entscheidenden Momente der Tragödie, in der dies Theater auf dem Theater zur dramatischen Lösung – der Lösung für die Hamlets Zögern emblematisch geworden ist – gebracht werden soll, heraus zu vergrö-
14 Paul Böckmann: Formgeschichte der deutschen Dichtung, Hamburg 1949, Bd. I , S. 610. 15 Christoph Menke: Tragödie im Sittlichen: Gerechtigkeit und Freiheit nach Hegel, Frankfurt a.M. 1996, S. 56ff. und S. 135f.
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ßern.16 Das schließt eben den Moment des größten Kontrasts ein, an dem Wielands Auszug abbricht und den Effekt der reflexiven Zäsur heraushebt: bei dem er stehen bleibt. Sie erinnern sich: „Der Wüthrich holt zu seinem tödtlichen Streich weit aus“ (episches Präsens), und dabei bleibt es in Wielands Vorführung; „vom bloßen Zischen des blutigen Schwerdts fällt der nervenlose Vater zu Boden“ (Präsens), während „das gefühllose Ilion selbst … diesen Streich zu fühlen“ schien (grammatische Vergangenheit): „seine brennenden Thürme stürzen ein, und der entsetzliche Ruin macht sogar den Pyrrhus stutzen.“ Ostentativ wechselt das ostentative „Denn seht, sein Schwerdt“ die Seite: von der rhetorischen Vor-Augen-Führung im epischen Präsens zur buchstäblichen Präsenz auf der Bühne; von dem erzählten Schein – „so schien es“ in der Luft stecken zu bleiben – zum buchstäblichen Innehalten auf der Bühne, zum Stillstand im stehenden Bild des „gemalten Tyrannen“. Das Theater verdichtet und skandiert den epischen Fluß zu dem „dialektischen Bild“ (könnte Benjamin sagen) eines „Gleichgewichts“ zwischen „Willen und Tat“ – Hamlets Problem. Hamlets Theater auf dem Theater zeigt den Helden, der das Epos verlassen hat, als die ironisch bewusste Allegorie dieses Verlassens, welches das Theater ist. Und in der Tat, „so wie wir oft“ fährt das Theater fort und führt auf, wie die Dialektik im Stillstand Teil eines Naturgeschehens ist, das wir als Schicksal „wahrnehmen“ (übersetzt Wieland): „das Rad der Natur scheint zu stehen“. „Untätig“ stellt Hamlet das Theater, das auf dem Theater die Rolle des seiner Darstellung unbewussten Epos vor Augen führt. Der Gedankenstrich, mit dem Wieland seinen Auszug aus dem Hamlet abbricht, markiert die Grenze der Bühne: „so feuert den unmenschlichen Pyrrhus, nach dieser kleinen Pause (welche das Theater macht), ein plötzlicher Sturm von Rachsucht wieder zur blutigen Arbeit an“ – einer Arbeit, der Hamlet sich entzieht. Hamlet entkommt der Rache auf dem Theater: nicht das Theater verlangt die Rache, sondern es bietet im Innehalten des Vollzugs – das Schwert bleibt in der Luft stecken – die momentane Einsicht in ihren tragischen Verlauf, dem sie sich gegen alle Wahrscheinlichkeit entzieht. Während die Mausefalle dem Zuschauer den Spiegel einer paradoxen Verschreibung vorhält. „This is too long“, beschwert sich da Polonius, Kenner der politischen Bühne, und was er meint, das bringt Wieland klar heraus, ist der offenbarte Kern der Darstellung, „a painted tyrant“, der dem blutigen Geschehen, vergeblich, weil nur Theater, sein Gegenteil einzeichnet: „like a neutral to his will and matter, (he, the painted tyrant) Did nothing“ 16 Harold Jenkins: Long Note II.ii. 448–514 „The Player’s Speech“, Kommentar zur maßgeblichen Arden-Ausgabe des Hamlet (London 1982, 1989), S. 478ff. Dazu jüngst Margreta de Grazia: Hamlet without Hamlet, Cambridge 2007, S. 201.
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(II.ii, S. 476ff.). Auf dem Theater geschieht nichts – „nothing“ – das episch vor-vollzogen sein könnte oder im Epos vorgeschrieben vorläge.17 „Diese höhere Sprache, die Tragödie“, zeichnet sich für Hegel dadurch aus, dass sie „in wirklichem, nicht erzählendem, sondern eigenem Sprechen (darstellt).“18 Gleichwohl bleibt als ein wesentliches Mittel die Maske, welche die in diesem Buch aporetische Mittelstellung behauptet, „daß die Kunst das wahre eigentliche Selbst noch nicht in ihr enthält.“ Was diese Diagnose Hegels Shakespeare verdankt, ist dem dann folgenden Tragödienkapitel zu entnehmen. Wielands Anteil eher denn Herders im allgemeinen liegt nicht in einem Leben, das gegenläufig zum Geist verläuft. Dass die Phänomenologie des Geistes das Leben nicht los wird, dessen Klebrigkeit wie die Libido Freuds in den histori-schen, geschichtsträchtigen Verstrickungen Shakespeares zu einer tragischen Erscheinung kommt, ist nur die eine, unabweisbare Seite. Wielands wie auch Shakespeares tiefere Pointe ist aber eine andere und Hegels Geist um einiges näher als dem Leben Herders; zu den Bildungsprozessen, die Herders Erkenntnisinteresse leiten, liegt Hegels Geist quer.19 Hamlets Tafelrede zum Beispiel, das hat Wieland untrüglich verstanden, auch ohne Hegel antizipieren zu wollen und zu können, handelt von nichts anderem. In ihr vergewissert sich Hamlet der Erscheinung des Vatergeistes, dem er sich eben gestellt hat und dessen Auftrag er sich ins Buch schreibt – auf die zeitüblichen Schreibtafeln, nach denen der Monolog benannt ist. „Er schreibt“ registriert Wielands Übersetzung korrekt, und das ist bis heute nicht selbstverständlich, weil zu viele Interpreten den Vorgang rein metaphorisch nehmen für die verinnerlichende Aufnahme des Racheauftrags. Indessen, das ist es nicht. Shakespeare spielt mit der Tradition der Schriftexegese, als er Hamlet das, was er schreibt auf seine Tafeln, sein „Wort“ nennen lässt – „Now to my word“ – sind des Geistes letzte Worte. Das „Wort“ erhält so einen Anflug von Losung oder Stichwort. Wieland legt es in bemerkenswerter Weise aus, die uns stracks in Hegels Enzyklopädie führen könnte, die viel später ihre Konsequenz ausführen sollte.20 Wieland übersetzt Hamlets „Wort“ mit „Wortzeichen“ und 17 Zur politischen Aufladung dieses Ausdrucks von Hamlets Witz bis hin zum Wintermärchen: Anselm Haverkamp: Shakespearean Genealogies of Power: A Whispering of Nothing, Oxford 2010. 18 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, hg. von HansFriedrich Wessels und Heinrich Clairmont, Hamburg 1988, S. 478ff. (die weiteren Zitate im Text). 19 Christoph Menke: Geist und Leben: Zu einer genealogischen Kritik der Phänomenologie, in: Von der Logik zur Sprache, hg. von Rüdiger Bubner und Gunnar Hindrichs, Stuttgart 2007, S. 321–348, hier: S. 335ff. 20 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enyzklopädie der philosophischen Wissenschaften, Hamburg 1959, S. 369 (§ 458).
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verlässt damit entschieden den Boden der ihm gemeinhin unterstellten flachen Lehnübersetzungen: denn kein Auftrag wird aufgezeichnet auf Hamlets Schreibtafeln, ein Abschied wird vollzogen, und was bleibt in den Händen des Sohnes, ist nur die abgelebte Zeichenhülle des Wortes, Schrift in dem Buch, das Hamlets Gedächtnis ist.21 Die „begriffene Geschichte“, mit der Hegel die Phänomenologie schließt (letzte Seiten), ist „Erinnerung und Schädelstätte des absoluten Geistes“ (S. 531). Die „begriffene Geschichte“ Hegels enthält Hamlet als einen Zurückgebliebenen auf eben der Schädelstätte, auf der er den Schädel Yoricks – berühmteste Szene der Zeit – meditiert hatte. In der Phänomenologie hatte Hegel, noch bevor er zur Tragödie kam, Hamlets meditatio mortis gegen den Strich ihrer oberflächlichen Attraktion vertieft als ein „Zeichen“ auf „diejenige Wirklichkeit, welche an der Individualität eine solche andere Seite darstellen sollte, die nicht mehr in sich reflektierendes Sein, sondern rein unmittelbares Sein wäre“ (S. 222f.). Am Ende der Vorlesungen zur Ästhetik, welche das Ende der Phänomenologie repetieren, erkennt Hegel Shakespeares Gestalten, Hamlet und Julie allen voran, „von Anfang an dem Tode geweiht“. „Die Sandbank der Endlichkeit genügt ihm nicht“, sagt er von Hamlet, so „zufällig“ dieser sein Ende auch gefunden haben möge (dasselbe sagt er von Julia).22 Die Sandbank, auf der Hamlets Auftrag nach den Befürchtungen des Vatergeistes liegen zu bleiben drohte und dort in Gestalt der vom Sohn aufgezeichneten Wortzeichen besiegelt lag, war die vom Geist beschworene: „Lethe’s wharf“ (I.v.33), von Wieland als „Lethes Werft“ erhalten. „Wenn Du nicht in diese Bewegung (der Rache) kämest“, argwöhnte der Geist in Wielands Worten, „bliebest Du sitzen auf dieser Werft“. Zwar wissen die Neuherausgeber anmerkungsweise zu bemängeln, dass „wharf“ auch „Ufer“ heißen konnte, doch ist der schiffstechnische Ausdruck angesichts von Charons Nachen ungleich prägnanter (S. 481): weil er dem Vatergeist misstraut, der aus der Hölle kommen mag und folglich, mit guten Gründen „andere Beweise“ nötig macht (das Experiment der Mausefalle). Hamlets „Mißtrauen (so fährt Hegel fort) ist darum begründet, weil das wissende Bewußtsein (weiß), daß sein Wissen (perspektivbedingt) einseitig ist“, weil nämlich „die Handlung selbst diese Verkehrung des Gewußten in sein Gegenteil“ vollzieht (S. 482). Das teleskopische Ineinanderschieben von Ödipus und Orest, Hamlet und Macbeth an dieser Stelle resultiert – vollends im Auseinanderdifferenzieren der neuzeitlichen Tragödie in die exemplarischen Gestalten von Hamlet und Macbeth – in der Verdopplung der „Lethe der Unterwelt im 21 Vgl. Frances A. Yates: The Art of Memory, London 1966, S. 321. 22 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik, hg. von Friedrich Bassenge (1955), Berlin 21965, Bd. 2, S. 581.
Pyrrhus’ Sieg. Shakespeare .. Wieland . Hegel
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Tode“ durch „die Lethe der Oberwelt“, von der Hegel weiter ausführt, das sie zur „Freisprechung“ bestimmt ist: „Freisprechung, nicht von der Schuld, denn diese kann das Bewußtsein, weil es handelte, nicht verleugnen, sondern vom Verbrechen, und (folglich als) seine sühnende Beruhigung“ (S. 483). Im einen Fall, Macbeth, wird der Rückfall in die klassische Lethe handgreiflich als die Instanz unüberwindlicher, mythisch blinder Latenz „der sich verbergenden und im Hinterhalte lauernden Macht“, sagt Hegel (S. 481), während in dem anderen Falle, Hamlet, die „schon in der Tragödie überhaupt“ (S. 484) angebahnte „sühnende Beruhigung“ greift. Das „reinere Bewußtsein“, das Hamlet deshalb ist – wenn der „kindlich Vertrauende“ dem „Geist des Vaters“ zuerst auch auf den Leim zu gehen drohte wie Macbeth den „doppelsinnigen Schicksals-schwestern“ (S. 481) – ist der alten Tragödie entwachsen.23 Zwar bleibt es ein „entfremdetes“, aber darin doch ein seiner „Negativität“ mächtiges (S. 350f.) und der „Hypokrisie“ des tragischen „Mitleids“, von der Hegel ausdrücklich spricht, überlegenes (S. 485). Der Maske, unter der „die Kunst das wahre eigentliche Selbst noch nicht in ihr enthält“ (S. 479), hat sich Hamlet nicht entledigen können, aber er hat sie – „I have that within which passes show“ (I.ii.85) – am Ende doch durchschaut: „bei mir scheint nichts“, ist Wielands treffliche Übersetzung der Stelle, die, das Prosagewand sprengend, in Paraphrase zurückfällt und dabei Hegel entgegeneilt: „was ich innerlich fühle, ist über allen Ausdruck“. Jenseits des Theaters ist nicht diesseits des Epos; was „über allen Ausdruck“ geht, hinterlässt nichts als eine Wortspur. Das Theater, das in Hamlet die letzten epischen Züge hinter sich gelassen hat, zeichnet der „Sandbank der Endlichkeit“, der die Werft nun nur noch ist, das zum „Wortzeichen“ erstarrte Wissen der Schädelstätte ein; von der „Mortifikation der Werke“ spricht deshalb Benjamin, der in diesem Punkt Hegel am nächsten ist.24 Von der Theorie einer Geschichte des Geistes, die Hegel als eine 23 Hegels Text ist an dieser Stelle undurchsichtig oder doch überkomplex. Werner Hamacher: (The End of Art with the Mask), in: Hegel after Derrida, hg. von Stuart Barnett, New York 1998, S. 105–130, S. 319–323, der den Kontext durchaus präzise auf den Punkt bringt, verwechselt Hamlet und Macbeth in Ausgangsvergleich Hegels (S. 110), was umso leichter passieren kann, als Hegel keine Namen verwendet, sondern nur auf charakteristische Motive anspielt: So kann der „kindlich Vertrauende“, in dem das Orest-Motiv fortlebt, im Blick auf den auf dem Fuße folgenden „Geist des Vaters“ nur Hamlet sein (Ästhetik, S. 481), während die im selben Zug mit ins Spiel gebrachten „Schicksalsschwestern“ des Macbeth dem falschen Vatergeist, der „auch der Teufel sein könnte“ (ebd., S. 482), in seiner „trügerischen“ Macht äquivalent sind, der Hamlet um den tragischen Restpreis seines Todes Hegel zufolge, dessen Phänomenologie hier zur Allegorie wird, entgeht. 24 Bettine Menke: Sprachfiguren: Name – Allegorie – Bild nach Walter Benjamin, München 1991, s.v.
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Phänomenologie verstanden wissen wollte, hatte Wieland also eher gegen als mit Herder eine Ahnung.
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Machtübertragung, Metaübersetzung Wielands Das Leben und der Tod des Königs Lear Mit Das Leben und der Tod des Königs Lear stellt Wieland einen Text an den Anfang seiner Shakespeare-Übersetzungen, der das Übersetzen selbst thematisch und problematisch macht. Wielands Lear-Version reflektiert auf die Problematik seines Shakespeare-Projekts insgesamt, auf dessen sprachliche Eigenarten und poetische Verfahren. Nicht zuletzt findet sich dabei, obwohl die Stücke als Lesedramen präsentiert werden, eine theatrale Dimension Shakespeares herausgearbeitet, die der ‚deutsche Shakespeare‘ später so oft überblendet: Im Falle des Lear-Texts handelt es sich um eine dem politischen Machtvollzug inhärente Theatralität, welche den romantischen Shakespeare-Übersetzungen mit ihrer Orientierung an einer inneren Geschlossenheit von Shakespeares Charakteren entgeht. I. „Bastardisation“ Zwar gehen Wielands Lear eine unveröffentlichte deutsche Bühnenfassung von The Tempest (1761 für eine selbst angeleitete Biberacher Schauspielgruppe) und die die Shakespeare-Publikationen einleitende Übersetzung des Midsummernight’s Dream voraus. Als zweiter Teil des ersten der acht Bände und als zweites der 21 Stücke markiert Das Leben und der Tod des Königs Lear jedoch spezifischer den Einstieg in Wielands ShakespeareProjekt der Jahre 1761 bis 1766: Die Wahl der ersten beiden Texte orientiert sich an einem während des Zürcher Literaturstreits in Stellung gebrachten Shakespeare. The Tempest und A Midsummernight’s Dream stellen für eine Poetik des Wunderbaren paradigmatische Stücke dar. Ihre Auswahl folgt anscheinend noch der Autorität Bodmers, um dessen bevorzugte Stücke von Shakespeare es sich handelt. Diese Stücke eröffnen auch Wielands Vorlage, die ihm wohl ebenfalls von Bodmer ans Herz gelegte Edition William Warburtons aus den 1740ern. Lear liefert hingegen den Einstieg in einen Shakespeare abseits vom bereits von einer Autorität Gesicherten. Und auch übersetzungstechnisch hat die Auseinandersetzung sich im Lear verschoben: Die durchgehenden Reime von Wielands Ein St. Johannis Nachts-Traum wandeln sich im Lear in fast durchgehende Prosa, die dann bis zum Ende des Übersetzungsprojekts beibehalten wird.
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Es entbehrt nicht eines gewissen Witzes, Das Leben und der Tod des Königs Lear an den Anfang eines Übersetzungsprojekts zu stellen. Die Übersetzung des Lear stellt insofern eine Metaübersetzung dar, als sie eine im Stück statthabende Übersetzung übersetzt – bzw. deren katastrophales Fehlgehen, mit welcher das Stück seinerseits beginnt: mit dem Nichtgelingen der Übertragung der Macht König Lears auf seine Lieblingstochter Cordelia. Der zweite Körper des Königs als die sozialen Zusammenhalt und Sinn generierende, also die Bedeutung garantierende und organisierende Instanz schlechthin1, soll von seinem ersten, stofflichen Körper auf einen anderen stofflichen Körper übergehen. König Lear sucht, qua seiner souveränen Macht, eben diese Macht auf seine drei Töchter zu übertragen. Der zweite Auftritt zeigt die merkwürdige Mischform von Spiel und Ritual (nämlich ein vom Souverän ausgedachtes Ritual), das diese Übertragung und die neue Aufteilung des Landes regeln soll. Die Aufteilung der Macht ist allerdings, so besagt es der erste Auftritt des Stücks, schon abgemachte und allseits bekannte Sache. So impliziert es das den Text eröffnende Gespräch zwischen den Königsgetreuen Kent und Gloster, das in Wielands Übersetzung folgendermaßen lautet: Kent. Ich dachte, der König liebe den Herzog von Albanien mehr als den von Cornwall. Gloster. So schien es uns allezeit; allein izt, bey der Theilung seiner Königreiche kann man nicht sehen, welchen von beiden er höher schäze […].2
Das Quasiritual soll die Machtaufteilung nachträglich bestätigen – und so dem Souverän Lear bestätigen, dass die Abgabe seiner Souveränität nach Maßgabe eben dieser Souveränität erfolgt. Jede Tochter soll ihrem Vater die Größe ihrer Liebe offenbaren, sich so zum letzten Mal seiner souveränen Macht unterwerfen und dafür die bereits vorher feststehende Belohnung erhalten, einen Teil des zweiten Körpers dieser Macht. Wie in einem Dichterstreit überbieten sich die beiden ältesten Töchter Goneril und Regan in Zuneigungsbekundungen. Nur Lears Liebling, Cordelia, fällt aus der vom Quasiritual vorgeschriebenen Rolle. Sie widersetzt sich der Macht des Souveräns:
1
2
Vgl. Ernst H. Kantorowicz: The King’s Two Bodies. A Study in Mediaevel Political Theology, Princeton 1957, S. 7–23. Vgl. Albrecht Koschorke/Susanne Lüdemann/Thomas Frank/Ethel Matala de Mazza: Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, Frankfurt a.M. 2007. William Shakespeare: Das Leben und der Tod des Königs Lear, in: ders.: Theatralische Werke (=TW), übers. von Christoph Martin Wieland, in einem Bd., hg. von Hans und Johanna Radspieler, Frankfurt a.M. 2003, S. 49–100, hier: S. 51.
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Lear. Nun du, unsere Freude: […] was sagst du, ein drittes noch reicheres Loos zu ziehen als deine Schwestern? CORDELIA. Nichts, Milord. Lear. Nichts? Cordelia. Nichts! Lear. Aus Nichts kann nichts entspringen. Rede noch einmal. CORDELIA. Ich Unglückliche, daß ich mein Herz nicht in meinen Mund hinauf bringen kann! Ich liebe Eu. Majestät so viel als meine Schuldigkeit ist, nicht mehr und nicht weniger.3
Die verweigerte Unterwerfung unter den Souverän lässt die Übertragung der Souveränität scheitern. Der zweite Körper des Königs wird sich im Quasiritual nicht von Lears stofflichen auf Cordelias stofflichen Körper übertragen haben. Den infrage gestellten Souverän verlassen die seinem zweiten Körper gemäße Einsicht und Weitsicht, die er bei der Aufteilung des Landes gerade noch bewiesen hatte – oder ihn verlassen Einsicht und Weitsicht, weil seine Souveränität als deren Grund infrage steht.4 In einem Wutanfall verstößt Lear Cordelia. Das außer Kontrolle geratene Quasiritual bestimmt die weitere dramatische Handlung, die sozialen Sinn gewalttätig zersetzt und so das Auseinanderfallen der beiden Königskörper bezeugt: von der Demütigung des stofflichen Lear-Körpers durch seine beiden undankbaren älteren Töchter über Lears vom Wüten der Natur gespiegelten Wahnsinn bis hin zum Tode sowohl Lears als auch aller seiner drei Töchter und einiger weiterer Figuren mehr. In Das Leben und der Tod des Königs Lear hat die vom Fehlgehen der Übertragung ausgehende Gewalt neben dem Körper der Übersetzung (Cordelias) auch den des Originals (Lears) befallen, und den von einem stofflichen Träger zum anderen zu übertragenden Gehalt der Königswürde sowieso. Die vom scheiternden Übersetzungsversuch im Stück ausgelöste Gewalt steht zu Wielands Programmatik bezüglich der eigenen ShakespeareÜbersetzungen in einem eigentümlichen Verhältnis. Dieser geht es, nach Wielands häufig wiederholter simpler Formel, darum „das Original […] so zu übersetzen, wie es ist“. Wo die Übersetzung das Original somit nicht 3 4
Shakespeare: Das Leben und der Tod des Königs Lear, TW, S. 52. Vgl. die Lesart Björn Quirings, nach der Lears Sprechhandeln die Dualität der beiden Körper, welche es überwinden soll, stets reproduziert: Shakespeares Fluch. Die Aporien ritueller Exklusion im Königsdrama der englischen Renaissance, München 2009, S. 188–196.
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den eigenen poetischen Standards anzugleichen hat, ergreift Wieland eindeutig Partei in der Debatte um den Sinn bzw. nach Gottscheds Meinung den Unsinn von Shakespeare-Übersetzungen überhaupt. Mit zu übersetzen wäre demnach auch, was der an den englischen Autoritäten des 18. Jahrhunderts, insbesondere Alexander Pope, orientierte Wieland als Shakespeares „Fehler“ und „grosse Mängel“ wahrnimmt, sollen denn Shakespeares „viele[] grosse[] Schönheiten“5 überhaupt zum Zuge kommen. Diese für die zeitgenössische Debatte ungewöhnliche Ausrichtung am Original reicht soweit, dass zugunsten der Genauigkeit der Übersetzung auch die Bedeutungsträger der Zielsprache in Mitleidenschaft gezogen werden dürfen: „[E]in Shakespear muss getreu kopiert werden (sollte auch der Sprache dadurch einige Gewalt geschehen) oder gar nicht. Und wer könnte dies letztere des Shakespears’ Werken wünschen?“6 Damit reagiert Wieland auf die zeitgenössische Rezeption seines Shakespeares, die seiner Übersetzung die „Ungelenkigkeiten“7 ihres Deutschs vorwirft. Die Treue der Kopie geht soweit, dass sie einer als einheitlich und festen Konventionen folgend imaginierten Zielsprache ebenso Gewalt anzutun bereit ist, wie Gewalt bereits die Übertragungsproblematik zum Auftakt des Lear, d.h. zum Auftakt von Wielands Shakespeare-Übersetzung prägt. Diese Gewalt äußert sich allerdings nicht bloß wie im Lear zerstörend, sondern konstruiert in der Zerstörung auch Neues: Wielands Shakespeare wimmelt von kühnen Metaphern und Neologismen.8 Teilwiese werden diese in den deutschen Sprachverschiebungen Ende des 18. Jahrhunderts so schnell zum Teil der veränderten Sprachkonvention, dass Autoritäten der folgenden Jahrhunderte wie Goethe oder Gundolf Wieland eine Verharmlosung des englischen Originals durch Anpassung an ein konventionelles Deutsch vorwerfen können.9 Aus dem Blick gerät dabei die Dynamik, die Wielands ‚Shakespeare, wie er ist,‘ durch seine ‚Treue‘ zum Original in der eigenen Sprache entwickelt: Diese unterwirft es, mit einer von Wielands Shakespeare-Konstruktionen gesprochen, einer „Bastardisa5
6 7 8 9
Christoph Martin Wieland: Einige Nachrichten von den Lebensumständen des Herrn Wilhelm Shakespear, in: Wielands Übersetzungen, Bd. 3: Shakespears theatralische Werke, Sechster, siebenter und achter Teil, Berlin 1911, S. 558–569, hier: S. 566. Christoph Martin Wieland: Der Geist Shakespears, in: Wielands Werke, Bd. 21: Kleine Schriften I. 1773–1771, Berlin 1939, S. 64–67, hier: S. 66f. Heinrich Wilhelm von Gerstenberg zitiert nach Sabine Kob: Wielands Shakespeare-Übersetzung. Ihre Entstehung und ihre Rezeption im Sturm und Drang, Frankfurt a.M. 2000, S. 21. Aufgeführt bei Kyösti Itkonen: Die Shakespeare-Übersetzung Wielands (1762– 1766). Ein Beitrag zur Erforschung englisch-deutscher Lehnbeziehungen, Jyväskylä 1971. Vgl. Kob: Wielands Shakespeare-Übersetzung, S. 22f.
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tion“10 an der übersetzten Sprache; – und dies lässt die in Wielands eigenen Paratexten mitlaufende rationalistische Annahme einer übergeordneten Einheitlichkeit der unterschiedlichen Sprachen problematisch erscheinen. Die Wortkonstruktion ‚Bastardisation‘, mit welcher dem Deutschen zunächst ‚durchaus einige Gewalt geschieht‘, stammt eben aus dem Lear. Im ersten Auftritt, kurz vor der scheiternden Machtübertragung, stellt Gloster seinen unehelichen Sohn Edmund dem Kent vor. Kent beschreibt den Bastard mit den Worten, die Wieland später für Shakespeares Texte gebraucht: „[D]ie Würkung dieses Fehlers ist so schön, daß ich nicht wünschen kann, er möchte unterblieben sein.“11 Der Lear-Text, am Anfang von Wielands Shakespeare-Übersetzungen, erklärt im Anfangen und als Metaübersetzung die Faszination mit Shakespeare: Benannt findet sich der Modus dieser Übersetzung im Verfahren einer ‚Bastardisation‘; Im Fehlgehen der Übertragungen findet sich die ‚Gewalt‘ solcher ‚Bastardisation‘ im Stück ausgestellt. – Und ausgestellt findet sich dabei auch alles, was Wieland in Anschluss an die englischen Autoritäten ansonsten für Shakespeares ‚Fehler‘ und ‚grosse Mängel‘ hält. Denn für diese ‚Fehler‘ ist der Lear ebenso beispielhaft wie der Tempest und der Midsummernight’s Dream für eine Poetik des Wunderbaren. Die Erzählstimme in Wielands zeitgleich entstandenen Geschichte des Agathon fasst die von der zeitgenössischen englischen Kritik ausgemachten ‚Mängel‘ zusammen: Man tadelt an Shakespear […] daß seine Stücke keinen, oder doch nur einen sehr fehlerhaften unregelmäßigen und schlecht ausgesonnenen Plan haben; daß komisches und tragisches darin auf die seltsamste Art durch einander geworfen ist, […]. […] Wie [sehen wir] oft das Ernsthafte und Wichtige mit einer leichtsinnigen Art, und das Nichtsbedeutende mit lächerlicher Gravität behandelt?
Durch diese ‚Bastardisation‘ des Hohen und des Niedrigen entsteht die aus neoaristotelischer Sicht inakzeptable Mischform der „komischen Tragödien“12, unter welche der Lear fällt. Insbesondere die Gespräche zwischen Lear und seinem Narren erregen in diesem Sinne das Missfallen der Kritik. Ebenso unangemessen erscheint die Radikalität des 10 Shakespeare: Das Leben und der Tod des Königs Lear, TW, S. 56. „Bastardisation“ übersetzt „bastardizing“ (William Shakespear: The Life and Death of King Lear, in: The Works of Shakespear, Bd. 6, hg. von William Warburton, London 1747, S. 1–144, hier: S. 23). 11 Shakespeare: Das Leben und der Tod des Königs Lear, TW, S. 51. 12 Christoph Martin Wieland: Geschichte des Agathon, Franfurt a.M. 1986, S. 418. Allerdings findet sich durch den ironisierenden Kontext bereits das später gängige Argument zugunsten Shakespeares vorgeprägt: dass Shakespeare sich diese Verworrenheit bei der ‚Natur‘ selbst abgeschaut habe.
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königlichen Abdriftens in den Wahnsinn. In William Dodds einschlägiger Kompilation Beauties of Shakespeare, mit der Wieland wahrscheinlich arbeitet, ist Lears Wahnsinn etwa einzig mit der Szene an den Klippen zu Dover aufgenommen, in welcher der wahnsinnige König zum Philosophen mutiert.13 Wo Wielands Übersetzungsprojekt mit dem beispielhaft gelungenen Midsummernight’s Dream und dem Lear als einem beispielhaften Mängelstück beginnt – und so beide Seiten ‚Shakespeares wie er ist‘ vorstellt14 –, da werden diese Mängel auch bloß in Beispielen wiedergegeben: Wieland übersetzt bloß die von Dodd legitimierte Dover-Szene ‚getreu‘. Die anderen Wahnsinnsszenen werden entweder weggelassen oder extrem gekürzt, und zwar jedes Mal wenn Wielands-Vorlage, die an Pope orientierte und mit vielen Pope-Fußnoten ausgestattete Warburton-Ausgabe, den Sinn von Passagen anzweifelt oder davon ausgeht, sie seien zwar von Shakespeare geschrieben, wegen mangelnder Qualität aber bestimmt verworfen worden. Gestrichen sind so bei Wieland weite Teile der Sturmnachtdialoge auf der Heide zwischen dem ehemaligen König Lear, der dem Wahnsinn verfallen ist, und dem zukünftigen König Edgar, der Wahnsinn vortäuschen muss, um sein Leben zu erhalten. An ihre Stelle ist entweder ein „usw.“ mit einer erläuternden Fußnote gesetzt15 oder eine Pope variierende Fußnote, die lautet: „Hier folgen […] etliche Reden im tollhäusischen Geschmak, […] welche, wenn es auch möglich wäre sie zu übersezen, den wenigsten Lesern dieser Mühe würdig scheinen würden.“16 Wielands ‚Shakespeare, wie er ist‘, liefert in diesem Sinne nicht notwendig Shakespeare in Gänze. So wie der Körper der Zielsprache der gewalttätigen ‚Bastardisation‘ durch das Original unterliegt, erfährt der Körper des Originals eine ‚Bastardisation‘ durch editorische Eingriffe, Kürzungen und den ausufernden und (mit einem anderen ‚bastardisierten‘ Wieland-Shakespeare-Wort) ‚notorischen‘17 Fußnotenapparat, die neben Hinweisen auf Mängel, Kommentierungen und Fortführungen ein durch 13 Vgl. William Dodd: The Beauties of Shakespear. Regularly Selected From Each Play with a General Index Digesting Them under Proper Heads, New York 1971, S. 130–132. 14 Wieland „wollte seinem Publikum den ganzen Shakespeare präsentieren, vorbildlich oder nicht“ (Eva-Maria Inbar: Zur Funktion der Fußnoten in Wielands Shakespeare-Übersetzung, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 21, 1980, S. 57–73, hier: S. 63). 15 Shakespeare: Das Leben und der Tod des Königs Lear, TW, S. 75. 16 Ebd., S. 76f. 17 Für „notorious“ aus Measure for Measure in: Shakespeare: Maaß für Maaß oder Wie einer mißt, so wird ihm wieder gemessen, TW, S. 139–181, hier: S. 146.
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Wielands Übersetzungsarbeit hindurch immer komplexeres Verhältnis mit dem Haupttext eingehen und auch die Trennung von Text und Kommentar ‚bastardisieren‘ werden.18 Die dem Original vorgeworfene Mischform und ihr Ungleichgewicht kehren in einer Übersetzung wieder, die Lears Wahnsinnsszenen für keiner Übersetzung würdig erachtet, nur um sie an anderer Stelle Wort für Wort ‚getreu‘ zu übersetzen und andernorts in den Fußnoten wieder in eine wütende Distanzierung von Shakespeares antiaristotelischem Chaos umzuschlagen: Dieses nonsensikalische Gewäsche hat man beynahe so verworren, als es im Original ist, zu einer Probe stehen lassen wollen, von einer dem Shakespear sehr gewöhnlichen Untugend, seine Gedanken halb auszudrüken, übel-passende Metaphern durcheinander zu werffen, und sich von allen Regeln der Grammatik zu dispensieren.19
Das Fehlgehen der Machtübertragung im Lear ist in Wielands Übersetzungstext übertragen. Dieser nimmt die Disharmonie auf, welche im Lear die beiden Körper des Königs befällt: im Auseinander- und Ineinanderfallen der dem Original ‚getreuen‘ ‚Bastardisation‘ des Deutschen und der beschneidenden, distanzierenden oder schlicht mit dem Kommentartext zusammenwuchern lassenden ‚Bastardisation‘ des Originals. Ein Sprachkörper überlagert stets den anderen, nur um wieder in den einen zurückzukippen und unvorhergesehene Ergebnisse – wie etwa das Wort ‚Bastardisation‘ – entstehen zu lassen.20 Im Lear-Text zeichnet nicht zuletzt das Resultat dieser ‚Bastardisation‘, nämlich der ‚schöne Fehler‘ Edmund, für die katastrophalen Folgen der fehlgegangenen Machtübertragung verantwortlich. Der Edmund-Subplot wird auf den Hauptplot übergreifen. Fast scheint es zwischendurch als werde sich die Macht Lears auf diesen illegitimen Abkömmling übertragen. Doch König am Ende des Lear wird statt18 Vgl. den Beitrag von Bettine Menke im vorliegenden Band. 19 Shakespeare: Das Leben und der Tod des Königs Lear, TW, S. 92 20 Peter Kofler schreibt in einer der wenigen treffenden Charakterisierungen: „Wielands Anmerkungsapparat [hat] nicht nur das entscheidende Verdienst, in zahlreichen Fällen das translatorische Vorgehen transparent zu machen oder die Vorlage ästhetisch zu kommentieren und historisch zu erläutern. Er ist nicht nur Paraund Metatext, sondern zugleich Ergänzung und Fortsetzung des Übersetzungstexts, integrierender Bestandteil desselben […]. Text und Kommentarteil gehen […] auf diese Weise nahtlos ineinander über, stehen zugleich aber auch in einem komplexen dialektischen Verhältnis zueinander“ (Peter Kofler: Art. „Shakespeare“, in: Wieland-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Jutta Heinz, Stuttgart 2008, S. 394–403, hier: S. 398). Das ‚komplexe Verhältnis‘ wäre jedoch dahingehend zu präzisieren, dass es nicht bloß ‚integrierende‘ Effekte zeitigt. Nicht bloß drohen Haupttext und Kommentartext auch immer auseinander zu fallen und die Übersetzung scheitern zu lassen. In der kommentierenden Übersetzung der scheiternden Übertragung im Lear scheint der Text geradezu auf diese Gefahr zu reflektieren.
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dessen Edmunds legitimer Bruder Edgar, dessen gespielten Wahnsinn Wielands Fassung zuvor wegschneidet. Er ist kein rechtmäßiger Nachfolger Lears; die vom Quasiritual angezielte ‚getreue‘ Übertragung der Macht ist gescheitert. Sie hat aber, wenn auch verschoben, mit König Edgar ein legitimes Ergebnis gezeitigt. Solch eine verschobene Legitimität nimmt auch Wielands Shakespeare-Projekt mit seinem verschobenen Anfang, Das Leben und der Tod des Königs Lear, für sich in Anspruch. Als Metaübersetzung spielt der Text ergebnisoffen durch, was als Möglichkeiten und Grenzen der Shakespeare-Übersetzung erscheint – an einem Text, der diese Möglichkeiten und Grenzen verhandelt. II. „Schuldigkeit“ Die Verfahrensweise von Wielands Metaübersetzung wird an den Worten Cordelias explizit, welche das Quasiritual der Machtübertragung zum Entgleisen bringen: ‚Ich liebe Eu. Majestät so viel als meine Schuldigkeit ist, nicht mehr und nicht weniger.‘ Zwar sind der umständliche Titel von Wielands Das Leben und der Tod des Königs Lears und auch viele der an seiner Übersetzung oft bemängelten Schnitzer bekanntlich nicht auf die geringen Englischkenntnisse, die bloß dürftige Ausstattung mit Wörterbüchern oder deren fehlenden Apparate zum Englisch der ShakespeareZeit zurückzuführen.21 Vielmehr folgt Wieland den oft willkürlichen editorischen Entscheidungen der bereits in den 1760ern stark in die Kritik gekommenen William Warburton-Edition22, die Wieland – auch wo die eigenen Kommentare in den Fußnoten häufig Warburtons ausufernden Kommentare ironisieren – ‚getreu‘ übersetzt. Im Fehlgehen der Machtübertragung weicht Wielands Vorlage allerdings nicht von anderen Ausgaben ab: „I love your Majesty / According to my bond, no more, no less.“23 Mit ‚so viel als meine Schuldigkeit ist, nicht mehr und nicht weniger‘ fügt Wielands ‚Shakespeare, wie er ist‘ dem Original also durchaus das eine oder andere ‚ist‘ hinzu, ebenso das eine oder andere ‚und‘. Dem ‚Sein‘ von Shakespeares Text tut die Erweiterung um verdeutlichende Konjunktionen und Hilfsverben scheinbar keinen Abbruch. Ein solches ‚Sein‘ Shakespeares wäre demnach nicht im Sprachkörper Shakespeares zu finden, son21 Vgl. Kob: Wielands Shakespeare-Übersetzung, S. 19. 22 Bereits 1748 publiziert Thomas Edwards entsprechende Hinweise in A Supplement to Mr. Warburton’s Edition of Shakespear. Vgl. Thomas Edwards: The Canons of Criticism and Glossary. Being a Supplement to Warburton’s Edition of Shakespear. An Account of the Trial of the Letter Y, alias Y. And Sonnets, London 1970/1765. 23 Shakespear: The Life and Death of King Lear, S. 7.
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dern in dem, wofür dieser Körper einstehen soll. Diesen zweiten Körper hätte die Übersetzung dann mit größtmöglicher Deutlichkeit hervorzuarbeiten und transparent zu machen, durchaus auch ohne Bezug auf Shakespeares Vers und Sprachrhythmus. So sucht z.B. die ‚Schuldigkeit‘ in keiner Weise, die Kürze des englischen ‚bond‘ zu imitieren, etwa als ‚Schuld‘. Die beiden Suffixe heben ins Abstrakte, indem sie die Mehrdeutigkeit von ‚Schuld‘ beschneiden.24 Mit ‚Schuldigkeit‘ ist eine legale25 und Verschuldung quantifizierenden26 Dimension impliziert. Diese Bedeutungen kann Wieland in seinen wenigen Wörterbüchern verifizieren. Boyer (Englisch/Französisch), Bailey (Englisch/Deutsch) und Johnson (Englisch/Englisch) bieten für ‚according‘ wie für ‚bond‘ Entsprechungen, die ‚Schuldigkeit‘ als eine direkte Übersetzung von ‚bond‘ sinnvoll machen, z.B. „l’obligation“27, „Verschreibung“28, „a writing of obligation to pay a sum or perform a contract“29. Das ‚no more, no less‘ plausibilisierte die Semantik des quantifizierbaren Tauschs als ein ‚nicht mehr und nicht weniger‘: Cordelias Liebe zum Vater wird von Wielands Cordelia als eine quantifizierbare Schuldigkeit übersetzt und lässt sich als eine solche verrechnen. Eine entsprechende ‚Schuldigkeit‘ des Übersetzers bestünde in Wielands Metaübersetzung nicht zuletzt darin, diese nicht an die Stofflichkeit der Sprache gebundene Dimension herauszuarbeiten. Den ersten Band seines Shakespeare-Projekts durchziehen diesbezügliche Kommentierungen und Verweise – z.B. darauf, dass „das dem Shakespear so gewöhnliche Spiel mit dem Schall der Worte […] im Deutschen […] nur unvollkommen
24 Bei Adelung findet sich (einige Jahre nach Wielands Lear) „schuldig“ als „Beywort“ zu „Schuld“. „Schuldigkeit“ taucht als Hauptwort zum „Beywort“ allerdings nur „inder zweyten Hauptbedeutung desselben“ (Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen, von Johann Christoph Adelung Churfürstl. Sächs. Hofrathe und Ober-Bibliothekar, Dritter Theil, von M-Scr, Wien 1811, S. 1677) auf und hat so im Verhältnis zu Schuld eingegrenzte Bedeutungen: „Vermöge einer Pflicht zu etwas verbunden, in einer Pflicht gegründet. Du bist schuldig, mir zu gehorchen. Jemanden Gehorsam schuldig seyn.“ (ebd., S. 1676) 25 „Zustand der pflichtmäßigen Verbindlichkeit“ (Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, S. 1677). 26 „Im gemeinen Leben gebraucht man es auch wohl in engerm Verstande von einer Geldsumme, welche man einem andern schuldig ist“ (Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, S. 1677). 27 Abel Boyer: Dictionnaire anglais-français et français-anglais, Paris 1817, S. 84. 28 Nathan Bailey’s Dictionary English-German und German-English, Englisch-deutsches und deutsch-englisches Wörterbuch, Leipzig/Jena 1810, S. 85. 29 Samuel Johnson/John Walker: A Dictionairy of the English Language, London 1828, S. 90.
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ausgedrükt werden“30 kann und daher häufig ausgelassen wird. „Der Uebersezer bekennt“ in diesem Sinne freimütig, wo „er sich ausser Stande sieht“, Passagen zu übertragen, von denen gilt: „Mit dem Reim verlieren sie alles“31. Diese Passagen teilen die Fußnoten manchmal im Original mit32 oder überliefern sie um der Beispielhaftigkeit von ‚Shakespear, wie er ist‘ willen einem ‚bastardisierten‘ Deutsch: „Man hat, so seltsam diese Einfälle tönen, eine wörtliche Übersetzung derselben gut befunden, […] damit die Leser den Shakespear auch von dieser Seite kennen lernen“33, beispielhaft. D.h. im Umkehrschluss: Normalerweise gilt eine Übersetzung, die verdeutlicht und erklärt und so einen deutschen ‚Shakespear, wie er ist‘, aus einem Shakespeare wie er im Englischen erscheint, hervorarbeitet. Der Wechsel bereits in Wielands erstem Shakespeare-Band von einer Übersetzung des Midsummernight’s Dream in Reimen zur Prosa-Übertragung des Lear, die dann bis zum Auslaufen des Projekts beibehalten wird, scheint zunächst im Zeichen eines Desinteresses am Sprachkörper von Shakespeares Texten zu stehen: Der Übersetzungstext nimmt den Verlust des stofflichen Körpers des übersetzten Texts in Kauf. An die Stelle eines Übertragungsrituals wie im Lear tritt die manchmal spielerische, manchmal polemische Selbstkommentierung in den Fußnoten, die auf ein Ineinander von klingender Erscheinung und eigentlichem Sein bei Shakespeare verweist und diese so erst als Getrennte behauptet. Die der Deutlichkeit verpflichtete Zielsprache reflektiert auf eben jene dem Original zugeschriebene Bedeutung, die in dessen eigenem Erscheinen manchmal verwischt. Das kann auch dazu führen, dass die am Original ‚bastardisierte‘ Übersetzung stellenweise dessen radikale Umschrift vollzieht: Wielands klärende und erklärende Übersetzung von ‚according to my bond, no more, no less‘ als transparente Tauschrelation einer ‚Schuldigkeit‘ hat sich bereits gegen jene Metaphern entschieden, die den englischen Lear-Text geradezu organisieren. ‚Bond‘, so bieten es alle von Wieland benutzten Wörterbücher an, lässt sich auch als Verwandtschaftsbeziehung, als Bindung, ja geradezu als notwendige Verkettung lesen. „[C]hain“ und „cord“ 34 bietet etwa Johnsons Wörterbuch an und damit schon vom Klang eine Ähnlichkeitsbeziehung, die nicht als quantifizierbares Tauschverhältnis fassbar ist, zu ‚Cordelia‘. „Band, Strick, Kette“35 hat entsprechend Bailey. Der ‚Bond‘ ist bindet so an die beiden semantischen Felder gebunden, welche die Leit30 31 32 33 34 35
Shakespeare: Ein St. Johannis Nachts-Traum, TW, S. 7–47, hier: S. 16. Shakespeare: Das Leben und der Tod des Königs Lear, TW, S. 60. Vgl. ebd. Shakespeare: Ein St. Johannis Nachts-Traum, TW, S. 45. Johnson/Walker: A Dictionairy of the English Language, S. 90. Nathan Bailey’s Dictionary English-German und German-English, S. 85.
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metaphern im Lear strukturieren:36 Zum einen variiert der Text die Rede vom ‚kind‘, das gleichermaßen die Ähnlichkeit anspricht, wo Cordelia von Lears ‚kind‘ ist, wie auch Cordelias ‚kindness‘ als Güte. Im Unterschied zu ihren Schwestern wird sie grundlos ‚kind‘ zu Lear bleiben. Zum anderen variiert der Text das Motiv der ‚nature‘. ‚Natürlich‘ sind die Regeln der sittlichen Bindung und der sozialen, auf den zweiten Körper des Königs ausgerichteten Seinsordnung des ‚bond‘; natürlich im Sinne von tierhaft ist aber auch das gegen diesen ‚bond‘ gerichtete Verhalten Regans und Gonerils. Der ‚bond‘ als Ähnlichkeitsbeziehung benennt nicht zuletzt eine sprachliche Ähnlichkeit – von ‚kind‘ und ‚kind‘, von ‚nature‘ und ‚nature‘. Die Metaphern im Lear generieren sich nicht zuletzt über jenen ‚Schall der Worte‘, die Wieland für ‚Shakespeare, wie er ist‘, für zweitrangig, nicht der ‚getreuen‘ Übersetzung wert und es als seine ‚Schuldigkeit‘ befindet, sie weg zu übersetzen. Im Schall des Wortes ‚bond‘ schwingt hingegen eindeutig mehr mit. An seiner Vieldeutigkeit betont Wieland die quantifizierbare Klarheit und schneidet damit einen ‚bond‘ zu jenem ‚Schall der Worte‘ ab, durch den Shakespeare, wie die Fußnoten es ihm im Einklang mit Pope und Warburton vorwerfen, immer wieder zu ‚übelpassenden Metaphern‘ verführt wird. Eine Übersetzung von auf einem ‚bond‘ der Wörter beruhenden Metaphern verweigert Wieland meist, wie gleich zum Auftakt des Stücks: Bei der Vorstellung des ‚schönen Fehlers‘ Edmunds versteht Kent Glosters Andeutungen bezüglich Edmunds unehelichem Status nicht: „I cannot conceive you“37 , worauf Gloster mit „this young fellow’s mother could“38 und der sexuellen Dimension von ‚conceive‘ kontert. Wieland klärt das Wortspiel durch den Begriff auf – „Ich begreife Euch nicht.“39 – und verzichtet damit auf die Wiedergabe des mittels seiner Wörterbücher durchaus erklärbaren Wortwitzes.40 36 Vgl. John F. Danby: Shakespeare’s Doctrine of Nature. A Study of King Lear, London 1972, S. 43–53. 37 Shakespear: The Life and Death of King Lear, S. 3. 38 Ebd., S. 4. 39 Shakespeare: Das Leben und der Tod des Königs Lear, TW, S. 51. 40 Wieland folgt hier erneut den englischen Autoritäten. Addison hatte in der Nummer 61 des Spectator das ‚pun‘, das auf der Ähnlichkeit des Wort- oder Klangkörpers basiert und aus dieser Ähnlichkeiten oder gar Metaphern ableitet, für nicht literaturfähig erklärt (vgl. Ekkehard Knörer: Entfernte Ähnlichkeiten. Zur Geschichte von Witz und Ingenium, München 2007, S. 153–158, S. 162–168), sondern der Sprache der unteren Schichten und deren, wie es bei Wieland heißt, „pöbelhaften Scherzen“ (Christoph Martin Wieland: Theorie und Geschichte der Redkunst und Dichtkunst, in: Wielands Werke, Bd. 4: Prosaische Jugendwerke, Berlin 1916, S. 303–420, hier: S. 391) zugerechnet. Wieland hätte also wohl wenig Verständnis für ein Wortspiel mit der metaphorischen Di-
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Durch eine Metaübersetzung solcher Art wäre das, was das Original bedeuten wollen soll, bereits in die Übersetzung eingefügt; damit wäre der ‚getreue‘ Bezug der Übersetzung auf das Original gesichert. Und dieses wäre so abgesichert gegen ein Fehlgehen, wie es der Lear exponiert, wo der Körper der Übersetzung das Original entstellt: Besteht das Problem der Machtübertragung im Lear doch weniger im Verschwinden des stofflichen Königskörpers bei seinem Tod, also im ‚interregnum‘41. Vielmehr soll, während die Königswürde sich auf einen neuen stofflichen Körper überträgt, Lears Ausgangskörper seinen „königlichen Titel mit seinem Zugehör“ doch bewahren und neben den neuen töchterlichen Königskörpern bestehen: „mit Vorbehalt von hundert Edelknechten, die ihr unterhalten sollet“42. Die Katastrophe beginnt mit der völligen Ersetzung des Originals durch die Übersetzung, d.h. mit der steten Verringerung von Lears Gefolge durch die undankbaren Töchter. „Hört mich, Mylord, wozu braucht ihr fünf und zwanzig, zehen oder fünf […]? […] Wozu braucht ihr nur einen einzigen?“43. Hingegen geht Wielands Übersetzungsverfahren zunächst von der konventionellen rationalistischen Annahme einer Transparenz von Signifikanten auf ihre Signifikate aus, d.h. davon, dass Übersetzbarkeit vom Prinzip her unproblematisch und stets gegeben ist.44 Die demgegen-
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mension des Wortes ‚Begriff‘. Insbesondere von den sexuellen ‚puns‘ in den ansonsten sehr geschätzten Komödien Shakespeares distanziert Wieland sich in den Fußnoten: „Der Übersezer nimmt […] an diesen oder ähnlichen profanen Einfällen, die unserem Autor häufig genug sind, keinen Antheil.“ (Shakespeare: Theatralische Werke, S. 566) Keinen Anteil nicht nur im sittlichen, sondern auch im technischen Sinne. Denn ebenso häufig geben die Fußnoten zu: „Der Spaß liegt hier in einem Wortspiel, das sich nicht übersezen läßt.“ (ebd., S. 162) Zum Witz bei Wieland vgl. Thomas Hecken: Witz als Metapher. Der Witz-Begriff in der Poetik und Literaturkritik des 18. Jahrhunderts, Tübingen 2005, S. 93–100. Vgl. Kantorowicz: The King’s Two Bodies, S. 328–330. Vgl. Kristin Marek: Der Körper des Königs. Effigies, Bildpolitik und Heiligkeit, München 2009. Shakespeare: Das Leben und der Tod des Königs Lear, TW, S. 52. Ebd., S. 70. Vgl. Friedmar Apel: Sprachbewegung. Eine historisch-poetologische Untersuchung zum Problem des Übersetzens, Heidelberg 1982, S. 36–39. Zur inneren Brüchigkeit dieser Annahme vgl. Franziska Münzberg: Die Darstellungsfunktion der Übersetzung. Zur Rekonstruktion von Übersetzungsmodellen aus dem 18. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2003. Der Bruch zwischen Wielands und Shakespeares Text entspricht in etwa dem von Foucault zwischen Mittelalter und Aufklärung ausgemachten Bruch im Verhältnis von ‚verba et res‘ zwischen einem Verhältnis der Ähnlichkeiten und einem Verhältnis der gegenseitigen Durchsichtigkeit. Allerdings mit der Differenz, dass die Ordnung der Ähnlichkeiten bei Shakespeare immer ihre eigene Kontingenz und Zerstörbarkeit mitbesagt ist. Und der Differenz, dass der Anspruch auf eine transparente Übersetzung des Originals die Zielsprache alles andere als transparent erscheinen lässt. Vgl. Michel Foucault:
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über völlig unkonventionelle Avanciertheit45 von Wielands Übersetzung und ihres Verfahrens der ‚Bastardisation‘ entsteht, wo die Signifikate nicht nur vom englischen Sprachkörper in den deutschen übertragen werden sollen. Darüber hinaus sollen diese Signifikate im Deutschen bereits auf Signifikantenebene ihren eigentlichen zweiten Körper zur Erscheinung bringen: als eine Metaübersetzung in der Übersetzung, die das Original nicht ersetzen, sondern auch in seiner eigentlichen Bedeutung erst eigentlich hervorarbeiten soll. Und dieser Doppelanspruch an den deutschen Sprachkörper muss sich, so folgerichtig wie paradox, auch im Umkippen der Metaübersetzung in die ‚Bastardisation‘ des Deutschen vollziehen: in der manchmal ‚gewaltsam‘ anmutenden Erzeugung von ‚Ungelenkigkeiten‘ im erklärenden Sprachkörper.46 III. Theatralität der Macht Die Verfahrensweise von Wielands Metaübersetzung steht quer zum ‚deutschen Shakespeare‘, wie er sich im 19. Jahrhundert konstituiert. Markant tritt dies in Cordelias Verweigerung der Machtübertragung hervor. Baudissins König Lear aus der Schlegel/Tieck-Ausgabe gibt ‚I love your Majesty / According to my bond, no more, no less.‘ wieder mit: „Ich lieb Eur’ Hoheit / Wie’s meiner Pflicht geziemt, nicht mehr, nicht minder.“47 Das ‚minder‘ betont das Graduelle einer Intensität, keine transparente Quantifizierbarkeit. Auch Baudissin verzichtet auf das semantische Feld der Bindung und Verkettung. Hervorgehoben ist die liebende Tochter. Mit der für eine Tochter ‚ziemlichen‘ Liebe scheint für Cordelias Fall der kantische Begriff des (einer strengen Pflicht entspringenden) ‚Guten‘ mit Schillers natürlicher Neigung, der Pflicht als Sorge, parallel geführt. Schon vor Baudissins Übersetzung hatten Schlegel und Tieck die Figur durch ihre „himmlische[] SeelenschönDie Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a.M. 1974, S. 74–97. 45 So z.B. Kenneth E. Larson: Wieland’s Shakespeare: A Reappraisal, in: Lessing Yearbook 16, 1984, S. 229–251, hier: S. 247. 46 Deshalb geht die einschlägige Kritik Stadlers, obwohl denkbar präzise, nur auf einen Teilaspekt von Wielands Metaübersetzung: „So mußte andererseits das Streben nach Deutlichkeit um jeden Preis, die Tendenz, Shakespeares bildkräftige Dichtersprache in eine oft allzurationalistische Prosa umzugießen und den nackten Sinn aus der metaphorischen Verhüllung herauszulösen, einen tiefen Wesenszug der Shakespearschen Diktion verwischen.“ (Ernst Stadler: Wielands Shakespeare, Straßburg 1910, S. 51) 47 William Shakespeare: Sämtliche Dramen (nach der 3. Schlegel-Tieck-Gesamtausgabe von 1843/44), Teil 3: Tragödien, München 1988, S. 188.
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heit“48 gekennzeichnet, welche in ihrer Reinheit dem greisen Vater selbst die Verbannung immer schon verziehen hat und ihm, ‚wie’s ihrer Pflicht geziemt‘, gegen die bösen Schwestern zur Hilfe eilt.49 Gekennzeichnet ist dabei nicht die Teilnehmerin eines fragilen Rituals der Machtübertragung. Markiert ist die Figur ganz im Stile des sich etablierenden ‚deutschen Shakespeares‘ als ein eigenständiger Charakter, die auf andere ebenso eigenständige Charaktere trifft. Bei allen Unterschieden in der deutschen Shakespeare-Rezeption ist diese Auffassung doch übergreifend. Hegel bringt sie auf den Punkt: „Gerade Shakespeare gibt uns […] die schönsten Beispiele von in sich festen und konsequenten Gestalten, die sich eben durch dieses entschiedene Festhalten an sich selbst und ihren Zwecken ins Verderben bringen.“50 In Baudissins Lear findet sich entsprechend das fragile Quasiritual der Machtübertragung in ein Familiendrama übersetzt: in den Konflikt eigenständiger Figuren aus dem Inventar des bürgerlichen Trauerspiels. An der Etablierung dieses Shakespearebildes sind Wielands Ausführungen zu Shakespeare nicht ganz unbeteiligt: Der Rückbezug auf die englischen Autoritäten verstärkt zunächst den englischen Diskurs über Shakespeare als Naturkind und über sein Werk entsprechend als Naturgewalt.51 Denn auch der englische Neoaristetolismus sieht gleich der Gottsched-Schule Probleme darin, dass Shakespeare nicht der aristotelischen Handlungseinheit gerecht wird. Popes Vorwort zu seiner und auch später Warburtons Ausgabe, das Wieland seinem ersten Band vorausstellt, nimmt diesen Naturdiskurs auf, um die Verschränkung von ‚Schönheiten‘ mit offensichtlichen ‚Fehlern‘ zu rechtfertigen und Shakespeare geradezu als einen Enzyklopädisten menschlicher Verhaltensweisen, eben auch der verfehlten, zu präsentieren.52 Im Einklang mit Lessing verstärkt Wieland 48 August Wilhelm von Schlegel: Vorlesungen über Dramatische Kunst und Literatur, Bd. II, Bonn/Leipzig 1923, S. 185. 49 Das ist ein Phänomen des ‚deutschen Shakespeares‘: In den Diskussionen der englischen Romantik geht es darum, ob Cordelia sich nicht in der Eingangsszene auch einer Charakterschwäche, nämlich des Stolzes, schuldig macht. Vgl. „Early Comments and Critiques“, Samuel Taylor Coleridge, in: Shakespeare. King Lear. A Casebook, hg. von Frank Kermode, London 1969, S. 38. 50 G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik III, in: ders.: Werke, Bd. 15, Frankfurt a.M. 1970, S. 564. 51 Vgl. Wolfgang Weiß: „Shakespeare, Nature’s Child“: Der ästhetische Naturbegriff in der Shakespeare-Kritik des 18. Jahrhunderts“, in: Das Shakespeare-Bild in Europa zwischen Aufklärung und Romantik, hg. von Roger Bauer, Bern u.a. 1988, S. 21–36. 52 Vgl. Alexander Pope: Preface to „The Works of Shakespeare“ (1725), in: Eighteenth Century Essays on Shakespeare, hg. von D. Nichol Smith, Oxford 1963, S. 44–58.
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diesen Diskurs mit den dramentheoretischen Pro-Shakespeare-Argumenten aus den deutschsprachigen Debatten der Gottsched-Schule. Hier hatte Johann Elias Schlegel gegen Gottsched eingebracht, in Shakespeares Stücken hätten zwar offensichtlich die aristotelischen Einheiten keine Geltung und dementsprechend auch nicht die daraus abgeleitete Wahrscheinlichkeit der Handlung. Shakespeare rette aber die Erfüllung eines anderen aristotelischen Kriteriums: die Wahrscheinlichkeit der nachgeahmten Personen53 – ihre, wie Wieland es nennt, „Wahrheit“54 und deren „Reichtum“55, das schier Enzyklopädische „gleich dem Schauspiele der Natur“56. 1773, in „Der Geist Shakespears“, präsentiert Wieland in eben diesem Sinne eine Kompilation herausragender Stellen aus dem Hamlet57, ganz wie dies in Frankreich mit bekannten Autoren und in England auch mit Shakespeare geschieht. Wielands Begleittext zu seiner an Dodd orientierten Auswahl enthält fast die identischen Elemente wie Herders die Diskussion radikal verändernder Shakespeare-Aufsatz aus demselben Jahr. Auch für Herder zeigen Shakespeares Texte eine Fülle der Natur. Allerdings hat Herder die Diskurselemente rekombiniert. Sein Text schließt von dem Ergebnis, nämlich der Wahrscheinlichkeit weil Naturhaftigkeit der Personenführung, auf eine Ursache: Aus den naturgemäßen Personen auf der Bühne wird die Person Shakespeares, durch welche die Natur sich ausdrückt: „[D]ie ganze Welt ist zu diesem grossen Geiste alleine Körper: alle Auftritte der Natur an diesem Körper Glieder, wie alle Charaktere und Denkarten zu diesem Geiste Züge“58. Popes und Wielands naturhafte Nachahmung kehrt sich ins von der Person Shakespeare vorgegebene Naturgesetz. Wo Wieland in „Der Geist Shakespeares“ noch beispielhafte Dialogstellen aufführt, verweist Herder nicht mehr auf partielle Situationen sondern auf ganzheitliche Charaktere: „Lear der rasche, warme, edelschwache Greis, wie er da vor seiner Landcharte steht, und Kronen wegschenkt und Länder zerreißt, – in der Ersten Szene der Erscheinung trägt er schon allen Samen seiner Schicksale zur Ernte der dunkelsten Zukunft in sich.“59 Aus dem Blick gerät das für den Staatskörper so notwendige Ritual der Machtübertragung und seiner theatralen, nicht auf eigenständige Figuren rückführbaren Situiertheit. Shakespeares Texte werden den deutschen Shakespearekult als Vehikel für die Überperson Shakespeares wie für die in diesen 53 54 55 56 57 58
Aristoteles: Poetik, Stuttgart 1987, 1451b, S. 29. Wieland: Der Geist Shakespears, S. 65. Ebd., S. 64. Ebd., S. 65. Vgl. den Beitrag von Anselm Haverkamp in diesem Band. Johann Gottfried Herder: Shakespeare, in: ders.: Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767–1781, Frankfurt a.M. 1993, S. 498–521, hier: S. 515. 59 Ebd., S. 510.
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Texten auftretenden Charaktere bestimmen:60 Hamlet, Macbeth, Julia, Romeo usw. Wo Wieland nicht immer den ganzen Text übersetzt, sondern das, was nötig ist, um Shakespeare zu zeigen, ‚wie er ist‘, da gilt nun jedes Detail als eines von Shakespeares Naturausdruck.61 Während das Ritual der Machtübertragung bei Shakespeare die Frage nach der Aufrechterhaltung einer fragilen Ordnung der Ähnlichkeiten aufwirft und Wieland diese Ordnung als ein quantifizierbares Tauschverhältnis erklärt, erscheint im ‚deutschen Shakespeare‘ der natürliche ‚Reichtum‘ seiner Personendarstellung als eine nie ganz aufklärbare Tiefe der einzelnen Charaktere.62 Der ‚Same der dunklen Zukunft‘ des Lear-Charakters trifft auf einen Cordelia-Charakter, dessen ‚bond‘ als ‚Pflicht‘ auf die Uneinsehbarkeit der sittlichen Freiheit nach Kant hindeutet. Aus deren Unerschöpflichkeit bestätigt das Subjekt sich immer wieder und stellt sich als in sich konsequente ‚freie‘ Person neu her.63
60 Vgl. Anselm Haverkamp: Hamlet. Hypothek der Macht, Berlin 2004, S. 13–16. 61 Wilhelm Meister füllt im Namen solcher Ganzheitlichkeit zunächst die Lücken in Wielands Hamlet. Seine widerwillige eigene Kürzung für die Bühne ist unter anderem so erfolgreich, weil sie neben dem ‚Charakter der Hauptfigur‘ auch einige Nebencharaktere in ihrer inneren Konsequenz und in ihrer Konsequenz für das Stück hervorarbeitet. Vgl. das fünfte und zwölfte Kapitel des fünften Buchs von Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, in: Goethes Werke, Bd. VII: Romane und Novellen II, Hamburger Ausgabe, München 1999, S. 298–302, S. 323–327. Vgl. Kurt Ermann: Goethes Shakespeare-Bild, Tübingen 1983, S. 149– 182. Vgl. auch den Beitrag von Rüdiger Campe zu Blanckenburg in diesem Band. Denn markanterweise bezieht sich Blanckenburgs Lektüre von Wielands Shakespeare in weiten Teilen auf den Lear – und zwar indem er die von Wielands Übersetzung gelassenen Lücken schließt, um so die Lear-Figur als bemitleidenswerten Charakter zu beschreiben. 62 Diese Tradition der Shakespeare-Interpretation greift auf das europäische 19. Jahrhundert aus und reicht bis in die Gegenwart zu Harold Bloom: Shakespeare. The Invention of the Human, New York 1998. (Für Lear vgl. S. 476–515.) Sie organisiert auch noch die Interpretation Stanley Cavells, die statt von der Tiefe von Shakespeares Figuren von einem ihnen konstitutiven Unwissen ausgeht. Für Lear vgl. Stanley Cavell: Disowning Knowledge in Seven Plays of Shakespeare, Cambridge 2003, S. 29–129. Wie gerade durch den Fokus auf das Unwissen die theatrale Dimension in Cavells Lektüre wieder Einzug findet zeigt Katrin Trüstedt: An Art Lawful As Eating: Cavell, King Lear und das Theater, in: Happy Days: Lebenswissen nach Cavell, hg. von Kathrin Thiele/Katrin Trüstedt, München 2009, S. 107–130, hier: S. 111–113. 63 Die Differenz zu Shakespeare wie Wieland verläuft hier erneut sehr nahe am historischen Schema Foucaults: Auf die mittelalterliche Ordnung der Ähnlichkeiten (Shakespeares ‚bond‘) und die Transparenzbehauptung der Aufklärung (Wielands ‚Schuldigkeit‘) folgt der romantische Verweis auf eine unterliegende, uneinholbare Produktivkraft (Baudissins ‚Pflicht‘).Vgl. Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 396–404.
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Diese Festlegung von Lear und Cordelia auf ‚Charaktere‘ eines Familiendramas zeitigt ein Problem für die Lear-Interpretation des ‚deutschen Shakespeare‘: Die fehlgehende Machtübertragung der Eingangssequenz wird nicht mehr den nunmehr an die Charaktere anzulegenden Wahrscheinlichkeitskriterien gerecht; Lear erscheint als alberner Haustyrann. Die Extremposition nimmt hier der späte Goethe ein, der die Lear-Figur in dieser Szene als „so absurd, daß man seinen [älteren] Töchtern in der Folge nicht ganz unrecht geben kann“64 , bezeichnet. Daher erscheint Goethe der Verzicht auf diese Eingangsszene in den Bühnenbearbeitungen des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts65 durchaus gerechtfertigt, denn die theatrale Dimension des Quasirituals wird für den Gesamttext zum Problem: In der Machtübertragungsszene erscheint Shakespeare laut Goethe nicht als „Dichter überhaupt“, sondern zu sehr als „Theaterdichter“66 . Auch Goethe nimmt hier den von Pope geprägten Diskurs des englischen 18. Jahrhunderts auf, der das Theatermilieu für zahlreiche von Shakespeares ‚Fehlern‘ verantwortlich macht: Demnach habe der Dichter sich am Massengeschmack orientieren müssen oder ungebildete Darsteller haben seinen Text nachträglich durch das übertriebene Spiel mit dem ‚Schall der Worte‘ entstellt. Für Goethes Diktum „Nichts so Natur als Shakespeares Menschen.“67 stellt die Gebundenheit des Lear-Texts an das Theater allerdings mehr dar als das laut Pope den Texten von außen aufgestülpte Problem: Die Theatralität der Machtübertragung, in der jedes Familienmitglied eine schwierige Rolle im zerbrechlichen Gefüge des Staatskörpers übernimmt, stört Shakespeares ‚Natur‘ schon durch eben dieses politische Rollenspiel, in welchem der zweite Königskörper einer souveränen Macht den stofflichen Körper verlassen soll, ohne die Königsmacht oder den stofflichen Körper zu beschädigen. Wielands seine Übersetzungen begleitenden Paratexte zur Bedeutung Shakespeares bereiten die antitheatrale Haltung des ‚deutschen Shakespeare‘ mit vor. Demgegenüber stellt die die metaphorische Dynamik von Shakespeares Sprache ausblendende Tauschsemantik in Wielands Übersetzung jedoch präzise diese theatrale Dimension der 64 Johann Wolfgang von Goethe: Shakespeare und kein Ende!, in: Goethes Werke, Große Weimarer Ausgabe (=WA), Abt. I, Bd. 41/1, München 1987, S. 69. 65 Vgl. Wolfgang Drews: König Lear auf der deutschen Bühne im 17. und 18. Jahrhundert, Berlin 1931, S. 27–123. Vgl. Aban Gazdar: Deutsche Bearbeitungen der Shakespeare-Tragödien „Othello“, „Macbeth“, „Hamlet“ und „King Lear“ im achtzehnten Jahrhundert, München 1979, S. 210–253. 66 Goethe: Shakespeare und kein Ende!, S. 68. 67 Johann Wolfgang von Goethe: Zum Shakespeare-Tag, in: WA, Abt. I, Bd. 41/2, München 1987, S. 254–259, hier: S. 259.
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Machtübertragung heraus. Mit der Auslassung der Ähnlichkeitsdimension des ‚bond‘ tritt auch die Dimension der familiären Pflichten in den Hintergrund: Wielands ‚Schuldigkeit‘ unterschlägt den ‚bond‘, der an der Spitze der elisabethanischen Gesellschaft politisches Ritual und Familiendrama zusammenfallen lässt. Die so verschärfte Situation verläuft quer zu sowohl Baudissins bürgerlichem Familienkonflikt als auch zu Shakespeares Tragödie der Souveränität. Geschärft wird die Dimension des Rollenspiels.68 In Shakespeares Tragödie der Souveränität sind die sozialen Rollen noch naturgegeben, im ‚deutschen Shakespeare‘ sollen sie als naturalisierte keine sozialen Rollen mehr sein. Mit ‚Schuldigkeit‘ liefert Wieland eine durch Überspitzung verdeutlichende Übersetzung eben für jene Stelle, an der Cordelia aus der ihr vom väterlichen Ritual zugeschriebenen Rolle fällt und dadurch enthüllt, dass auf dem Theater bis eben Theater, nämlich soziales und politisches Theater, gespielt wurde. Anstelle der repräsentativen Spitze der elisabethanischen Gesellschaft oder der sich gerade konstituierenden Privatheit der bürgerlichen Familie zeigt Wieland im Lear Politik und Gesellschaft als ein Rollenspiel, das immer dort in seiner Theatralität zutage tritt, wo sein geregelter Ablauf sich unterbrochen findet. Hierbei handelt es sich um eine allgemeine Eigenschaft von Wielands Shakespeare-Projekt: Stets operiert die Übersetzung mit einem zu- bis leicht überspitzenden, verschiebenden, erklärenden und verdeutlichenden Wortgebrauch an den bei Shakespeare so zahlreichen Stellen, welche die Theatralität des Theaters durch Brüche oder Verdoppelungen ausstellen. So z.B. auch anhand des Theaters auf dem Theater des Hamlet69 oder bezüglich der durch die Hosenrollen der Komödien ausgelösten Verkomplizierungen70. Im elisabethanischen Drama betrachtet eine stratifizierte Ge68 Die Lear-Figur als eine, die nach der Machtabgabe verschiedene Rollen durchprobiert (bis hin zur Ablegung jeglicher Rollen in der Nacktheit), liest Katrin Trüstedt: An Art Lawful As Eating, S. 124–130. 69 Vgl. für die Übersetzung von „word“ mit „Zeichen“ den Beitrag von Anselm Haverkamp im vorliegenden Band. 70 So betont Wielands Übersetzung von Twelfth Night durchgehend, dass Viola einen Mann spielt – und damit Theater auf dem Theater. Die Übersetzung tut dies auch, wo es bei Shakespeare höchstens implizit mitschwingt: Wenn Viola verkleidet als Cesario zum ersten Mal Einlass bei der von Cesarios Herrn umworbenen Olivia begehrt, entspannt sich ein Dialog zwischen dieser und ihrem Haushofmeister. Wegen dessen dröger Eitelkeit sind ihm aber keine näheren Informationen über den Boten zu entlocken: „Olivia: What kind o’ man is he?“ / Malvolio: „Why, of mankind.“ / Olivia: „What manner of man?“ (William Shakespear: Twelfth Night, or, What You Will, in: The Works of Shakespear, Bd. 3, hg. von William Warburton, London 1747, S. 115–206, hier: S. 133). Bei Shakespeare besteht der Witz darin, dass Malvolios Antwort die bereits allgemeine Frage Olivias noch erweitert und so ganz und gar informationslos bleibt. Wieland kehrt Spezifik und Allge-
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sellschaft sich selbst: gleichzeitig in einem Längsschnitt durch ihre Gänze aber auch beispielhaft an ihrer obersten Schicht. Im Drama des ‚deutschen Shakespeare‘ betrachtet das Bürgertum sich selbst in seiner in der neuen Privatheit erfundenen Natürlichkeit und Menschlichkeit.71 Wielands Shakespeare-Projekt, zwischen beiden Gesellschaftsformen und ihren Theatern angesiedelt, zielt zwar auf eine nicht mehr über den ‚bond‘ der Ähnlichkeiten geschichtete und verbundene Gesellschaft. Die Perspektive schwenkt aber noch nicht um auf eine Privatheit, die von den sich ausdifferenzierenden und nunmehr wechselnden sozialen Rollen entlastet. In Wielands Shakespeare-Projekt nehmen Figuren vielmehr an den Rollenspielen vor allem politischer Kommunikation teil – und stellen diese als Rollenspiel aus, gerade wo der Versuch souveränen Handelns72 die Kommunikation mit Scheitern bedroht. Wielands Übersetzung der Machtübertragung als einen fehlgehenden Austausch von ‚Schuldigkeiten‘ erklärt, erläutert – und schreibt die Szene dabei leicht um. Die Übersetzung tut in der Quantifizierung der Liebe zum Tauschobjekt so, als antwortete Cordelia eben indem sie das Quasiritual verweigert, tatsächlich auf Lears Forderung nach messbaren Liebesbekundungen – „Saget mir, meine Töchter […], von welcher unter euch sollen wir sagen, daß sie uns am meisten liebe“73 . Ihre Widerrede verweist auf den ‚bond‘ zu Lear als auf eine politisch gegebene ‚Schuldigkeit‘, die durch das Ritual der Übertragung nicht hervorgebracht werden kann und die von jedem rhetorischen ‚Mehr‘ bloß in Zweifel gezogen würde – wie sich dies später am Verhalten der Schwestern bestätigt. Cordelia könnte bloß aufrichtig antworten, hätte sie schon die souveräne Macht. Und deswegen kann sie sich hier der souveränen Macht des Vaters nicht beugen. Lear muss und will qua dieser seiner souveränen Macht auch noch deren Übertragung steu-
meinheit von Frage und Antwort um, indem er mit der Doppelbedeutung des englischen ‚man‘ spielt. Damit betont die Übersetzung das augenscheinliche aber bloß simulierte Geschlecht des Boten: „OLIVIA. Von was von einer Gattung MenschenKindern ist er? / MALVOLIO. Von der männlichen.“ (Shakespeare: Was ihr wollt, TW, S. 767–789, hier: S. 772) 71 Für die Differenz der gesellschaftlichen Organisationsformen vgl. Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1998, S. 678–776. 72 Für die Verschiebung der unter der absoluten Herrschaft dem Souverän vorbehaltenen Akte in ein alltägliches und je individuelles Handeln, das sich an den verselbständigten Strukturen der modernen Gesellschaften bricht, vgl. Michel Foucault: Das Leben der infamen Menschen, Berlin 2001, S. 32–42. Vgl. (in Weiterführung Foucaults) Friedrich Balke: Figuren der Souveränität, München 2009. 73 Shakespeare: Das Leben und der Tod des Königs Lear, TW, S. 51.
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ern.74 Er beharrt auf seinem Ritual, Cordelia auf dessen Leere. Ihre Widerrede weiß um die Gefahr, dass der zweite Körper der Macht mit oder ohne Ritual aus der Bahn geworfen werden könnte, vermag dieser Gefahr mit dem ausgleichenden ‚nicht mehr und nicht weniger‘ aber nicht entgegenzusteuern. Lear hat recht, Cordelia hat recht – und von Anfang bis Mitte des Stücks ist in der Tat, eben wie Goethe es Shakespeare vorhält, das Handeln der über Lears Doppelstrategie unglücklichen Schwestern noch durchaus gerechtfertigt.75 Die jeweilige Legitimation der Figuren liegt in ihrer Rolle im Quasiritual und lässt sich kaum als Charakterfrage fassen. Es stehen Rede gegen Rede und Körper gegen Körper – noch bevor Lear sich als ‚greises Kind‘ oder Cordelia sich als die ‚seelenschöne‘ Cordelia entpuppt. Erst rückblickend werden sie es in ihrem Agon um die Macht geworden sein, ohne bereits Herders ‚Samen einer dunklen Zukunft‘ in sich zu tragen. Wielands Metaübersetzung, der insbesondere bezüglich Shakespeares Tragödien gerne jegliche Relevanz abgesprochen wird76, arbeitet, wenn auch für ein Lesepublikum gedacht, die theatrale Grundkonstellation deutlicher hervor, als es dem ‚deutschen Shakespeare‘ 74 Die Übertragung scheitert letztlich an der konstitutiven Unbeschneidbarkeit von absoluter Macht, wie sie sich bei Louis Marin beschrieben findet: „Es gibt keine guten oder schlechten Könige, es gibt sie nie in der Macht; es gibt, ihrem Wesen nach, nie anderes als das bedingungslose Begehren, das weder Prinzip, noch Regel, noch Gesetz kennt – das bedingungslose Begehren der absoluten Macht […].“ (Louis Marin: Das Porträt des Königs, Berlin 2005, S. 270) 75 Dass alle Figuren in gewisser Weise in ihrem Handeln gerechtfertigt sind gilt im Bezug auf die prekäre Balance zwischen den beiden Königskörpern. Dabei ist nichts über die komplizierten Rechtsverhältnisse und -bezüge gesagt, die der LearText ausstellt. Für diese vgl. Quiring: Shakespeares Fluch, S. 177–264. 76 Das vom ‚deutschen Shakespeare‘ institutionalisierte Motiv einer durch die Überperson Shakespeare wirkenden Naturkraft kulminiert bei Gundolf und wird explizit gegen Wielands Tragödienübersetzung gerichtet: „Wenn wir Shakespeares sprachliche Welt unter dem Bilde einer Kugel sehen, welche Sprachkräfte ausstrahlt, so werden wir dem Zentrum zunächst die Zone der eigentlichen Leidenschaft, der Tragödien finden, wo die Sprache noch ganz glüht, wallt und zittert von der innersten Erschütterung des Werdens: das ist die Sprache des […] Lear […].“ Es gibt für Gundolf noch die zentrale Schicht der Historien. Und dann die „äusserste, gewissermassen schon abgekühlte, minder kernhafte, lockerste, spielende, flimmernde Schicht bildet die Diktion der Komödien, die wohl noch immer das innere Feuer ahnen lässt, aber nur in leichten, lichten Schwingungen, in farbige Luft verwandelt.“ Das Urteil Gundolfs über Wieland: „Von den drei dichterischen Sphären Shakespeares war dem Empfinden Wielands eine einzige zugänglich, die oberste, dünnste“ (Friedrich Gundolf: Shakespeare und der deutsche Geist, Berlin 1920, S. 159). Die von Wieland stark gemachte Doktrin von Shakespeare als herausragendem Nachahmer natürlicher Personen fällt also mit voller Wucht auf die Person Wielands zurück. Zu König Lear, dem Stück wie der Figur und auch alle anderen Tragödien Shakespeares, fehlt Wieland (als Person) demnach der Zugriff.
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seine an geschlossenen Charakteren orientierten Prämissen gestatten. Wielands Lear ist, indem er das politische Theater der Macht ausstellt, ein auf Theater angewiesener Text. Die offene Ausrichtung der theatralen Situation kommt Goethes ‚Menschen‘ und Hegels sich im Konflikt verändernden selbstidentischen ‚Gestalten‘ zuvor. Für Wielands Lear gilt Hegels Definition nicht, weil Wielands erklärende Übersetzung eine theatrale Situation Shakespeares schärft, und dies gerade, indem sie den für das Original so entscheidenden ‚Schall der Worte‘ – und das heißt hier auch den familiären ‚bond‘ – schlicht wegerklärt hat. Dies geschieht bisweilen auch, wo die Metaübersetzung jene Wieland häufig vorgeworfen Fehler begeht, manchmal sogar als ‚schöne Fehler‘: Ernst Stadlers ihrerseits ‚notorische‘ Auflistung von Wielands Schnitzern beginnt mit dem Ende der Machtübertragungsszene aus Das Leben und der Tod des Königs Lear.77 Der Bannspruch über Cordelia ist ausgesprochen, die Macht an Töchter und Schwiegersöhne übergeben; da versucht der treue Vasall Kent zugunsten Cordelias einzugreifen. Vom König, der eigentlich gerade seine Königswürde abgetreten hat, wird auch er mit einem Bannfluch belegt. Lear aktualisiert im Akt der Verbannung eben jene Macht, von der er sich kurz zuvor durch das eigens erfundene Ritual gelöst hat. Für eine an ‚in sich festen und konsequenten Gestalten‘ orientierte Lektüre wird hier eine moralische Unfähigkeit und charakterliche Schwäche Lears sichtbar, der seine Macht nicht wirklich abgeben kann.78 Wieland übersetzt hingegen: Lear. Höre mich, Abtrünniger! Weil du uns hast bereden wollen, unsern Eyd zu brechen, […] welches […] selbst unsere Macht nicht gut machen kann; so empfange deinen Lohn.79
Für: Hear me, recreant! Since thou hast sought to make us break our vow, […] Which […] Our potency [cannot] make good; take thy reward.80
Die Shakespeare-Stelle ist in Wortlaut und Bedeutung umstritten. Wieland hält sich zunächst an Warburtons Erläuterung zur (wohl korrumpierten) Textfassung seiner Ausgabe.81 Dabei wird er jedoch seiner77 78 79 80 81
Vgl. Stadler: Wielands Shakespeare, S. 40. Vgl. „Early Comments and Critiques“, Samuel Taylor Coleridge, S. 39. Shakespeare: Das Leben und der Tod des Königs Lear, TW, S. 53. Shakespear: The Life and Death of King Lear, S. 10. Die meisten Ausgaben geben hier „made good“ (z.B. R. A. Foakes in William Shakespeare: King Lear. The Arden Shakespeare, London 1997, S. 170): Die
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seits durch den ‚Schall der Worte‘ verführt. Keines von Wielands Wörterbüchern enthält für ‚to make good‘ eine Bedeutung, die sich im Deutschen als die von Wieland hier verwendete ‚Wiedergutmachung‘ verstehen ließe. Johnson etwa hat „maintain, defend, justify, fullfill, accomplish“82 . Wielands Übersetzung ‚bastardisiert‘ sich stattdessen an jenen klanglichen Ähnlichkeiten, von denen die erklärende Metaübersetzung Shakespeare doch eigentlich befreien sollte. Zwar schilt sein Herausgeber Stadler entsprechend die „grobe Verwechslung ähnlich lautender Worte und Formen“83 ; der inhaltliche Unterschied scheint jedoch bloß minimal: Warburtons Shakespeare problematisiert an dieser Stelle die Selbsterhaltung der Macht im Zeichen ihrer Infragestellung. Vor der königlichen Macht gibt es demnach keine Rechtfertigung für Kents Einspruch. In einer leichten Verschiebung bei Wieland kann Lears persönliche Macht Kents Verfehlung nicht wiedergutmachen. Sie betont die Unmöglichkeit, Kent als Person und Charakter gegen die Eigenlogik der Macht zu verteidigen. Diese Übersetzung verdeutlicht und erklärt, was Shakespeares Text nach Warburton impliziert: dass der Einspruch gegen Lears Verbannung die Macht selbst im Kontext des fragilen Prozesses ihrer Übertragung in Frage gestellt hat und dass dies aus der Perspektive des zweiten Körpers unverzeihlich bleiben muss. Wielands ‚Wiedergutmachung‘ personalisiert zwar das Verhältnis zwischen Lear und Kent. Sie betont aber in keiner Weise die Charakterfrage, ob und inwieweit Lear hier seine gerade abgegebene Macht wieder aneignen möchte. Sie stellt auch nicht nur aus, dass im fragilen Prozess ihrer Übertragung die absolute Macht des zweiten Körpers ihre Infragestellung nicht akzeptieren kann. Wieland betont mit ‚Wiedergutmachung‘ zusätzlich die Differenz zwischen den Charakteren Lear und Kent einerseits und andererseits den abstrakten Rollenspielen einer Macht, für die es gleichgültig ist, wessen stofflichen Körper der majestätische Plural bezeichnet oder von wessen Körper die Infragestellung ausgeht – und vielleicht auch gleichgültig, ob die für das Shakespearetheater noch gültige direkte Macht des Königs sich zum Zeitpunkt von Wielands Übersetzung auf Verwaltungen und Sekretäre
Verbannung wäre demnach eine Aktualisierung der Macht und nicht, wie Warburton liest, auf die Frage des Verhältnisses von Macht und Kents Infragestellung bezogen. 82 Johnson/Walker: A Dictionairy of the English Language, London 1828, S. 444. 83 Stadler: Wielands Shakespeare, S. 40f. Allerdings übersieht Stadler, dass Wieland sich an Warburtons fehlerhafter Erläuterung orientiert. Darauf weist zwar Radspieler hin (vgl. Shakespeare: Das Leben und der Tod des Königs Lear, TW S. 97). Stadlers Schlussfolgerung bezüglich der Korrektheit der Übersetzung ist von Wielands Orientierung an Warburton aber nicht betroffen.
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verlagert hat.84 ‚Selbst unsere Macht‘ wird durch Wielands Fehlübersetzung machtlos gegen die politischen Rollenspiele. Sein Lear betont statt des Familienkonflikts zwischen Charakteren die Reibungen zwischen diesen und den Eigenlogiken politischer Verfahren. Das Leben und der Tod des Königs Lear thematisiert und vollzieht an sich Wielands Verfahren einer in der Treue zum Original ‚bastardisierenden‘ wie ‚erklärenden‘ Metaübersetzung. Die Metaübersetzung der Machtübertragung übersetzt und verdeutlicht dabei auch eine theatrale Verfasstheit von Macht – weil diese Übersetzung, indem sie die metaphorische Dynamik von Shakespeares Sprache meist ausblendet, die Theatralität von Shakespeares Text zuspitzt, statt sie wie oft im ‚deutschen Shakespeare‘ zu übergehen.
84 Vgl. Bernhard Siegert/Joseph Vogl: Vorwort, in: Europa. Kultur der Sekretäre, hg. von dens., Zürich/Berlin 1999, S. 7–10.
2. ÜBERSETZUNGEN (II): TECHNIKEN UND EFFEKTE, KOMMENTARE, PARATEXTE
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Wieland liest die Briefe des Horaz Christoph Martin Wieland veröffentlichte erste Proben seiner Übersetzung der Episteln des Horaz in Der Teutsche Merkur und legte 1782 deren vollständige Ausgabe als Briefe des Horaz vor.1 Die Episteln sind in zwei Büchern überliefert, wovon das erste Buch zwanzig, das zweite drei Versbriefe umfasst. In den Kodizes wurden die Schriften des Horaz nach Gattungen angeordnet und das Korpus zumeist durch die Episteln beschlossen.2 Und seit der Renaissance wurde diskutiert, ob die Episteln Briefe oder Dichtung seien, ob die Ars poetica zu den Episteln gehöre und wo sie in einer Ausgabe einzuordnen sei. Die Editio princeps erschien in Italien ohne Angabe des Druckorts um 1470. Henricus Stephanus führte in seiner maßgeblichen Ausgabe von 1549 die Ars Poetica nicht unter ihrem durch Quintilian überlieferten Titel, sondern als Epistula ad Pisones. Er platzierte den Brief nicht, wie in älteren Ausgaben üblich, entweder zwischen dem Carmen Saeculare – einem Preisgedicht auf Rom für einen gemischten Kinderchor aus Anlass einer öffentlichen Staatsfeier – und den Satiren oder zwischen den Oden und Epoden, sondern am Ende des gesamten Korpus. Wieland folgte dieser Anordnung. Er reihte die Ars Poetica unter die Briefe ein und rückte sie als Brief an die Pisonen an den Schluss seiner Ausgabe. Der Übersetzung ist ein umfangreicher Apparat beigefügt: Es gibt zu jedem Brief eine Einleitung, nachgestellte Erläuterungen und häufig auch Fußnoten. Wieland rekonstruierte, soweit es die Quellenlage zuließ, für jeden Brief eine spezifische Kommunikationssituation: Die Briefe sind Hälften von Dialogen mit abwesenden Gesprächspartnern. Übersetzung und Kommentar geraten zur Ermittlung der Umstände, unter denen die Briefe entstanden sind.3
1 2 3
Vgl. Wolfgang Monecke: Wieland und Horaz, Köln, Graz 1964; Jane Veronica Curran: Horace’s Epistles, Wieland and the Reader: A Three-Way Relationship, London 1995. Vgl. Karl Büchner: Überlieferungsgeschichte der lateinischen Literatur des Altertums, in: Die Textüberlieferung der antiken Literatur und der Bibel, hg. von Herbert Hunger u.a., München 1975, S. 309–422, bes. S. 395. Zu Horaz und Augustus vgl. Victor G. Kiernan: Horace. Poetics and Politics, New York 1999; Niklas Holzberg: Horaz. Dichter und Werk, München 2009.
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I. Das moralische Urteil Seit dem Mittelalter wurde Horaz immer wieder als Feigling und wollüstiger Heide angeschuldigt. Und auch noch im 18. Jahrhundert wurde die moralische Integrität des Horaz angefochten.4 Suetons Vita Horatii, die in zahlreichen Ausgaben des Horaz mit abgedruckt wurde, war ein Kompendium des Klatsches über die augusteische Hofkultur und versammelte Anekdoten über ein freizügiges Leben, das Horaz geführt habe: die Prostituierten; das Spiegelzimmer, in dem Horaz sich selbst beim Geschlechtsverkehr beobachtete; die Knabenliebe. Die meisten Lektüren favorisierten im 18. Jahrhundert die biographische Deutung, und obwohl unter Philologen strittig war, wie welche Aussagen des Werks auf das Leben zu beziehen seien, bestand weitgehend Einigkeit, dass Horaz seine moralische Gesinnung unverstellt ausspreche. Obwohl die Wanderanekdoten, die über ihn kursierten, als freie Erfindungen entlarvt werden konnten, die genauso auch über andere Dichter im Umlauf waren, blieb die biographische Deutung vorherrschend. In Zedlers Universal-Lexicon heißt es: Sein Leben anlangend, so soll solches nicht viel getaugt haben: Dann ob er sich wohl einen Wächter und Beschützer der wahren Tugend genennet, so ist er doch nichts weniger als dieses gewesen; sondern auch so gar in seinem Alter sich nicht geschämet Unzucht und Knabenschänderey zu treiben.5
Lessing versuchte in seinen Rettungen des Horaz (1754) die moralische Verurteilung, die aus dem Werk und aus Suetons Biographie herausgelesen wurde, zu widerlegen.6 Seine Vindicatio demonstrierte, dass mit Hilfe einer geschickten Zitatkompilation verschiedene Lesarten der Gedichte erzeugt werden können. Er parierte in einer philologischen Argumentation Punkt für Punkt die Vorwürfe: So berichtet Horaz (carm. 2.7), dass er in der Schlacht bei Philippi seinen Schild weggeworfen und geflohen sei. Wer deswegen den Vorwurf der Feigheit erhob, übersah, dass das Zurücklassen des Schilds auf dem Schlachtfeld ein literarischer Topos war, den schon Archilochus, Alkaios und Anakreon verwendet hatten. Und er bemerkte ebenso wenig, mit welcher Selbstironie Horaz sich als Feigling präsentiert. Dem Vorwurf, dass Horaz wollüstig gewesen sei, begegnete
4 5
6
Vgl. Ernst A. Schmidt: „Auf den Flügeln des Choriambs“: Herder und Horaz, in: International Journal of The Classical Tradition 10, 2004, H. 3, S. 416–437. Großes Vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste […]. Dreyzehenter Band: Hi – Hz, Leipzig, Halle 1739, Sp. 838. Zur moralischen Verurteilung des Horaz vgl. auch Volker Riedel: Lessing und die römische Literatur, Weimar 1976, S. 129. Vgl. Hugh Barr Nisbett: Lessing. Eine Biographie, aus dem Englischen übers. von Karl S. Guthke, München 2008, S. 190–200.
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Lessing mit der Unterscheidung zwischen persona bzw. lyrischem Ich und Verfasser: Der Odendichter pflegt zwar fast immer in der ersten Person zu reden, aber nur selten ist das ich sein eigen ich. Er muß sich dann und wann in fremde Umstände setzen oder setzt sich mit Willen hinein, um seinen Witz auch außer der Sphäre der Empfindungen zu üben. Man soll den Rousseau einstmals gefragt haben, wie es möglich sei, daß er ebensowohl die unzüchtigsten Inschriften als die göttlichsten Psalme machen könne? Rousseau soll geantwortet haben: er verfertige jene ebensowohl ohne Ruchlosigkeit, als diese ohne Andacht.7
Die Unterscheidung zwischen persona und Verfasser, die Lessing in apologetischer Absicht traf, diente auch zur Begründung einer verschärften moralischen Verurteilung. Das Urteil kam im Gewand der Hofkritik daher: Horaz sei nicht allein feige, sondern auch käuflich, nicht bloß wollüstig, sondern auch abhängig von Augustus und Mäcenas, nicht nur von schwacher Tugend, sondern auch noch opportunistisch gewesen. Die Frage „Was ist das verächtlichste Geschöpf auf der Welt?“ diente Louis Sebastien Mercier zum Anlass einer Applikation des einschlägigen Topos, der den Dichter als Schmeichler am Hofe denunziert:8 Der Dichter, welcher Hofmann ist, welcher sein Genie nach dem Ton der Knechtschaft biege, welcher durch seine Gesänge, die erhaben und kriechend zu gleicher Zeit sind, seine Niederträchtigkeit verewigt, welcher des wahren Ruhms vergißt, um die schändliche Bezahlung eines feilen Gedichts zu erbetteln, das einem Kayser schmeichelt, den er fürchtet oder verachtet, und das die Nachwelt zu betrügen sucht, das er sich selbst nicht betrügen kann. Nun wohl, dieser Mann, dieser verächtliche Dichter ist Horaz.9
Das Urteilssystem, das die moralische Verurteilung in Gang setzte, wurde verschärft und zugleich ausgeweitet. Verschärft, weil Intention und Selbstaffirmation die Verderbtheit des feigen und wollüstigen Charakters steigern. Ausgeweitet, weil die Errichtung einer persona mangelnder moralischer Grundsätzlichkeit verdächtig ist: Jetzt wird nicht mehr nur ein Verhalten, sondern auch dessen Authentizität bewertet. Wielands Strategie zur Verkomplizierung des moralischen Urteils setzte Lessings philologische Argumentation in erweitertem Rahmen fort. 7 8
9
Gotthold Ephraim Lessing: Rettungen des Horaz, in: ders.: Werke, Bd. 3: Frühe kritische Schriften, hg. von Herbert G. Göpfert, München/Wien 1972, S. 589–629, hier: S. 618f. Vgl. Helmut Kiesel: „Bei Hof, bei Höll“. Untersuchungen zur literarischen Hofkritik von Sebastian Brandt bis Friedrich Schiller, Tübingen 1979; Wolfgang Martens: Der patriotische Minister. Fürstendiener in der Literatur der Aufklärungszeit, Weimar u.a. 1996. Louis Sebastien Mercier: Mercier‘s Nachtmütze. Erster Band. Mit chursächsischem Privilegium, Berlin 1784, S. 19. Vgl. hierzu Schmidt: „Auf den Flügeln des Choriambs“, S. 420.
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Lessing hatte die Differenz zwischen persona und Verfasser als ein scherzhaftes Spiel aufgefasst: Horaz sei keineswegs feige gewesen, sondern stelle sich aus Gründen der literarischen Tradition nur als feige dar. Mercier war die Inkongruenz von persona und Verfasser schon hinreichender Grund zur Verurteilung. Wieland zielte mit seiner Argumentation auf eine Grundsatzdebatte: Worauf es ihm ankam, war nicht so sehr die Rettung (oder Anklage) des Horaz, sondern das Aussetzen des Urteilssystems, das sich in immer neuen Wiederholungen der Topoi modernisiert hatte. Die Frage lautete nicht, wie verkommen ein Dichter sei, der vom Republikaner zum kaiserlichen Höfling wurde oder aber seine wahre Gesinnung stets dissimulierte. Die Frage lautete vielmehr, wie eine Literatur, die in einem Patronagesystem entstand, überhaupt zu lesen sei und welche Beziehung zwischen Leben und Werk des Horaz bestehe. Hierzu mussten bekannte Fakten ihrer Selbstverständlichkeit und das Selbstverständliche seiner Trivialität entkleidet werden. II. Streit über den Hexameter Wieland substituierte die Hexameter der Episteln durch fünfhebige Jamben. Horaz selbst führt in seinen hexametrischen Episteln die niedrige Stilhöhe an, um sich der Ansprüche des Kaisers zu erwehren: Er könne, so Horaz an Augustus, keine Panegyrik verfassen, weil es ihm nicht möglich sei, die angemessene Stilhöhe zu erklimmen. Während der Hexameter, der aus dem Gesang herstammt, einen hohen Ton produziert, produziert der Jambus wegen seiner Prosanähe den Effekt einer niedrigen Stilhöhe. Wielands Transmetrisierung bewahrt die Episteln vor einer unfreiwilligen Transstilisierung, die mit dem deutschen Hexameter einherging.10 Wieland verzichtete von vornherein auf den Hexameter, der die größte Stilhöhe codierte. Seine fünfhebigen Jamben etablieren eine schwach ausgeprägte Form, die kaum greifbare Anhaltspunkte für eine Unterscheidung von Form und Inhalt bietet und insofern als Manier oder Ton gefasst wurde: Um sich von der Manier seines Originals weniger entfernen zu müssen und dessen Ton besser treffen zu können, wich er von der Form ab, und wählte statt des Hexameters, an den man doch damals eben keine strengen Anforderungen machte, den freieren Jambus, der sich der Gewandtheit und Leichtigkeit des Umgangstones
10 Zur Transmetrisierung und Transstilisierung vgl. Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, aus dem Französischen von Wolfram Bayer und Dieter Hornig, Frankfurt a.M. 1993, S. 305–312.
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besser fügte, und ihm immer gestattete, den Kommentar, wo es nötig schien, sogleich in den Text aufzunehmen.11
Das griechische bzw. lateinische Metrum des Hexameters mit bis zu sechs Daktylen pro Vers, erfordert, ins Deutsche gebracht, vielfach eine Dehnung der Syntax und regiert Klang, Lexik und Wortstellung in weitaus höherem Maß als der prosanahe Jambus. Der Formbegriff, der für die fünfhebigen Jamben in Anschlag zu bringen wäre, ist also nicht so sehr am Metrum festzumachen, sondern allenfalls am Verhältnis von Syntax und Vers: Der Jambus etabliert eine Versinstanz, die es dem Vortragenden bzw. dem Leser überantwortet, ob und wie er sie verwirklicht; die zahlreichen Enjambements können überlesen oder aber herausgestellt werden. Die Inkongruenz von quantifizierender Metrik und dem deutschen System von Hebungen und Senkungen reizte eine Debatte über die korrekte Wiedergabe der griechischen Namen in den Übersetzungen an: Was ist das Äquivalent der Artikulation von kurzen und langen Silben im Deutschen? Anlass hierfür waren die Übersetzungen aus dem Griechischen, die Johann Heinrich Voß vorlegte. 1777 veröffentlichte er Pindaros erster püthischen Chor; nebst einem Brief an Herrn Hofrath Heyne im Deutschen Museum und fügte seiner Übersetzung auch Erklärungen bei, die er wie folgt ankündigte: „Die Erklärungen sind für diejenigen, für welche die Uebersetzung, für Ungriechen.“12 Voß prätendierte mit seinen Übersetzungen eine Vergegenwärtigung, die den historischen Abstand zwischen Griechenland und Deutschland aufhebt, indem sie ihn überbrückt. Er stellte der ersten Ausgabe seiner Übersetzung der Odüßee, die 1781 in Hamburg „auf Kosten des Verfassers“ gedruckt wurde, ein Widmungsgedicht an Friedrich Leopold Graf zu Stolberg voran, das seine Übersetzung rechtfertigt. Die Szene ist folgende: Voß erinnert sich an eine Vision während eines Besuchs beim jüngeren Stolberg, als er, abends Homer lesend, am Ufer des „schiffbaren Busen der Ostsee“ sitzend, „ein flüchtiger Schimmer der Sonne“ „blendend aufs Lied des grauen ionischen Sängers“ fiel. Homer ist nach Deutschland gereist, um Voß zur Übersetzung zu ermuntern: Aber mit Einmal, siehe! da leuchtet es; Hain und Gefilde Schwanden im Licht; es erscholl, wie von tausend Nachtigallchören; Und ein Gedüft, wie der Rosen, doch duftender, athmete ringsum.
11 C.M. Wielands Leben, Neu bearbeitet von J.G. Gruber, Mit Einschluß vieler ungedruckter Briefe Wielands, Dritter Theil, V. und VI. Buch, Leipzig 1828, S. 412. 12 Johann Heinrich Voß: Pindaros erster püthischer Chor; nebst einem Brief an Herrn Hofrath Heyne von Johann Heinrich Voß. Auf den Wagensieg Hierons, des Aitnaers und Sürakosers, in: Deutsches Museum, Januar 1777, S. 78–93, hier: S. 85. Die folgenden Ausführungen beruhen auf der Dokumentation von Petra Nettelbeck/Uwe Nettelbeck: French Fried Potatoes, in: Die Republik Nr. 98–108, 1999.
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Und nun trat aus dem Licht ein Unsterblicher: seine Gestalt war Morgenglanz, sein Gewand ein feurigwallender Nordschein.13
Dass ein Übersetzer keine Verse von Homer, sondern nur seine eigenen machen kann, wollte Voß nicht wahrhaben. Er fand seine Legitimation darin, dass er in die Rolle eines autorisierten Senders schlüpfte. Seine Übersetzung in Hexametern kündigte den Grundsatz auf, dass der Empfänger, nicht aber der Sender über den Sinn eines Texts entscheidet: Seine Übersetzung etabliert eine formal definierte Versinstanz, die der Kontrolle des Silbenzählens unterstellt ist, und versucht mit Hilfe der Orthographie die Vortragsinstanz zu regieren. Das forderte eine Kritik heraus, die sich zunächst an den Details der Versifikation entzündete, die unablässig mit dem Original verglichen wurde. Voß rezensierte eine Rezension der Bodmerschen und Stolbergschen Übersetzungen des Homer in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek, deren ungenannter Verfasser einige Beispiel der Hexameter verbessert hatte.14 Voß verteidigte die Leistung seines Freunds Stolberg und bemerkte Hexameter mit fünf Füßen; Hexameter mit siebentehalb Füssen: Hexameter mit sieben und einem Viertelfuß; und, was vor allem überrascht, Hexameter, die keine Hexameter scheinen, die es aber doch wirklich sind, wenn man sie nach des Verfassers Absicht zu lesen versteht.15
Im Gelehrtenstreit, der hierüber anhob, trat Voß, der als Direktor einer Schule in Otterndorf lebte, in der Rolle des Philologen als Beckmesser auf: Weil den Konkurrenten und Kritikern es an philologischen Wissen mangele, verfielen sie auf unzulängliche metrische Lösungen. Voß eigene Übersetzung versuchte den formal korrekten Hexameter nicht zuletzt durch eine Abänderung der Schreibweisen jener griechischen Namen zu verwirklichen, die noch nicht im allgemeinen deutschen Sprachgebrauch verankert waren. Das erforderte heikle Operationen in unerforschten Gebieten, wie Voß in seinem Beitrag Über deutsche Monatsnamen im Deutsche Museum auch eingestand: Er zitierte „VSUS, QUEM PENES ARBITRIUM EST ET IVS ET NORMA LOQUENDI“ als Maxime und erkannte den „mächtigen unumschränkten Titanen, den Sprachgebrauch“16 als einzige Richt13 Johann Heinrich Voß: An Friedrich Leopold Grafen zu Stolberg. 1780, in: Homers Odüßee, übers. von Johann Heinrich Voß, Hamburg 1781, o.P. 14 Vgl. [J.B. Köhler:] Rezension [von Homers Werke und Homers Ilias], in: Allgemeine Deutsche Bibliothek 37, 1779, H. 1, S. 131–169. 15 Johann Heinrich Voß: Verhör über einen Rezensenten in der allgemeinen deutschen Bibliothek, in: Deutsches Museum, Bd. 2, 1779, S. 158–172, hier: S. 159; vgl. Nettelbeck: French Fried Potatoes, S. 80. 16 Johann Heinrich Voß: Über die deutschen Monatsnamen, in: Deutsches Museum, Bd. 1, 1781, S. 447–445, hier: S. 453; vgl. Nettelbeck: French Fried Potatoes, S. 148.
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instanz einer Übersetzung an: „Nur der darstellende gute Skribent kan zuweilen, nicht mit Gewalt, aber mit tief durchdachter und stil ausgeführter List, dem Despoten eine Neuerung unterschieben.“17 Lichtenberg beantwortet Voßens Entscheidung, statt Antigone nur mehr Antigonä zu schreiben und die Schreibweise der Vokale in den griechischen Namen abzuändern, mit seinem Aufsatz Über die Pronunciation der Schöpse des alten Griechenlands, verglichen mit der Pronunciation ihrer neuern Brüder an der Elbe; oder über Beh, Beh oder Bäh, Bäh, eine litterarische Untersuchung von dem Concipienten des Sendschreibens an den Mond. Lämmer, die blöken, weisen Lichtenberg den Weg in die Sprachgeschichte und durch den Lautwandel: Die Griechen drückten den Laut ihrer Schöpse durch , aus, die Lateiner zuweilen das durch ae; das sowohl als das der Griechen verwandelt sich öfters in derselben Wörtern in , […] aus diesen Gründen zusammen schließt Hr. Voß, mit andern: die Griechen haben ihr weder wie a noch wie e, sondern wie beydes zugleich, also wie ä, oder weil die Schöpse an der Elbe bey ihm ein votum decisivum in der Sache haben, wie äh ausgesprochen […]. Allein Hr. Voß geht sehr viel weiter, er will die Griechischen Nahmen im deutschen auch so schreiben, also nicht mehr Athen, sondern Athän, nicht mehr Hebe, sondern Häba, nicht mehr Thebe, sondern Thäba setzen, und alles das thut er, auf jene Gründe hin, mit einer Zuversicht und Ruhe als seine ursprüngliche griechische Seele ehmals selbst am Piräus geweidet oder mit vor Troja gestanden. Hier merke der Leser, wie Hr. Voß von einer sinnreichen Muthmaßung, wovon der die Ehre mit andern theilt, mit eignem lächerlichen Pedantismus, zu moderner Rechtschreiberey übergeht, und auf diese blos sinnreiche Muthmaßung hin, eine fast über ganz Europa angenommen Orthographie ohne den mindesten Gewinn ändert.18
Voß war gefragt worden, „ob er auch Hr. Jäsus und Amän statt Amen schreiben wolle“, und hatte erklärt, wie Lichtenberg schreibt: „Bey den durch Religion geheiligten Nahmen behält er das durch den Gebrauch geheiligten e bey, hingegen für die profanen Helden seines Homer glaubt er, wäre ein profanes ä schicklicher.“19 Lichtenbergs Polemik gipfelt in folgenden Angriff: „Es wäre im Ganzen also wohl billig, Hr. Voß liesse vor die Exemplare seiner Odyssee, die er für seine Gelehrten bestimmt, von Hrn. Chodowiecky irgend etwas stechen, das blöckt, mit der Unterschrift: Sic VOSS; non VOBIS.“20 Voß verteidigte sich gegen die Attacke mit 17 Voß: Über die deutschen Monatsnamen, S. 454. 18 Georg Christoph Lichtenberg: Über die Pronunciation der Schöpse des alten Griechenlands, verglichen mit der Pronunciation ihrer neuern Brüder an der Elbe: oder über Beh, Beh oder Bäh, Bäh, eine litterarische Untersuchung von dem Con– cipienten des Sendschreibens an den Mond, in: Göttingisches Magazin der Wissenschaften und Litteratur 2, 1781, H.1, S. 454–479, hier: S. 456f.; vgl. Nettelbeck: French Fried Potatoes, S. 154–166. 19 Lichtenberg: Über die Pronunciation, S. 458. 20 Ebd., S. 474.
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einer minutiösen Rechtfertigung seiner Entscheidung: „Warum meine Antwort auf den so heftigen Angriff eines gelehrten, wizigen und berühmten Mannes [Lichtenberg] so ruhig ist? Weil ich von der sicheren Anhöhe der Wahrheit und Rechtschaffenheit auf ihn herabsehe.“21 Wielands Teutscher Merkur interveniert im Oktober 1782 erneut mit einer kurzen Satire, die zur strikten Historisierung der Argumente aufforderte.22 Unterdessen war Lichtenberg zur erneuten Attacke geschritten: Im Dezember 1782 wurde das Göttingische Magazin der Wissenschaften und Litteratur ausgeliefert. Unter dem Motto „To Bäh or not to bäh, that is the Question“ steht unter anderem folgendes Gespräch zwischen „einem Schüler und dem Herrn Rector selbst“: S. Also sagen Sie mir doch, lieber Hr. R., wie hieß der Mann in dem Nordscheinenden Schlafrock, der Ihnen in dem Wäldchen bei Flensburg erschien? R. Der hieß Homäros. S. Sie sprechen die mittlere Sylbe so breit aus, war das kein heiliger oder bekannter Mann? R. Kennst du den Homäros nicht? Der Homäros ist der Homer. S. Also ist der Homer der Homäros? Will das so viel sagen, daß er nicht sehr verehrungswürdig war, da er ihnen erschien. oder was ist das? R. Nun merke ich erst, wo der Schuh drückt. Höre also: Für die bekannten Nahmen habe ich zweyerley Orthographie, und für die unbekannten – – warte, ich weiß es selbst manchmal nicht recht – Ja, richtig, für die bekannten Namen zweyerley, eine poetische, d.i. polüsüllabilisch-numerose und dann für die Rede zu Fuß eine minder bepackte. Ich schreibe also in den Noten Homer und im Text Homäros. S. Wie schreibt den der Rector im Index? R. Junge, spotte nicht. Der Index reimt sich von vornen, und was sich reimt ist keine Poiäsie. S. Aber wenn nun das Wort Jesus im Text vorkäme? R. (er holt aus, um ihm eine Ohrfeige zu geben.) S. (zurücktretend.) Nun versteh ichs. Ich danke gehorsamst. Aber nun, bester, sanftmütigster Hr. R., erlauben Sie mir nur noch eine einzige Frage. Sie sagen in eben dem Museo S. 238 (denn ich habe es gelesen, verstand aber vor der angedrohten Ohrfeige manches nicht recht), der Übersetzer könne nichts weiter, als die hörbarsten Haupttöne der Griechen, nach der wahrscheinlichsten Bestimmung mit der nächsten deutschen oder, wenn diese in ihre Verbindung übel lauten, mit der nächst folgenden oder nächst vorhergehenden ausdrücken. […] R. Junge, ich verstehe dich nicht.
21 Johann Heinrich Voß: Verteidigung gegen Herrn Prof. Lichtenberg, in: Deutsches Museum, Bd. 1, 1782, S. 213–251, hier: S. 250; vgl. Nettelbeck: French Fried Potatoes, S. 171–199. 22 F. Schulz: Einziges Mittel, die gelehrten Partheien auseinanderzubringen, wovon die eine lieber Hebe als Häbä und die andre lieber Häbä als Hebe sagt, in: Der Teutsche Merkur, 1782, Viertelj. 4, S. 15–18; vgl. Nettelbeck: French Fried Potatoes, S. 214–216.
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S. Ich meine, weil sie doch, zuweilen wenigsten, das Ohr zum Schiedsrichter bey schweren Fällen ihrer Rechtschreibung machen, ob sie nicht einem andern eben dieses Recht bewilligen wollten? Zumal das es ausgemacht ist, Häbä und Härä häßliche Wörter sind, welche Augen und Ohren beleidigen. R. Wer sagt das, impertinenter Bube? S. Das hat, wie ich sicher weiß, ein Mann gesagt, den man so ziemlich allgemein für den einzigen eigentlichen deutschen Original-Dichter hält. R. Für den einzigen deutschen Originaldichter? Das wäre also einer von Uns? S. Nein, er gehört nicht zu ihnen? R. Nein? Nicht? Macht er Hexameter? S. Nein. (Hier erfolgt die Ohrfeige.)23
Wieland griff in den Streit mit zwei Beiträgen in Der Teutsche Merkur ein. Der erste Beitrag lobte Eine neue hexametrische Übersetzung der Illiade: Der unbekannte Übersetzer der fingierten Übersetzung habe in den Griechischen Namen die richtigen Sylben-Quantitäten immer beachtet, und nicht nach Convienenz des Uebersetzers nehmliche Sylbe bald kurz bald lang gebraucht, welches allerdings zu loben ist. Hingegen wird vermuthlich den meisten Lesern, sehr wohlgefällig zu vernehmen seyn, daß in dieser neuen Uebersetzung nicht alle Griechische Namen mit Griechischen (würklichen oder angeblichen) Orthographie beybehalten, sondern, wo es der alte Gebrauch mit sich bringt, die Lateinischen, welche sich unser Auge und Ohr von Kindheit an gewöhnt hat, substituirt sind; und also die Gemahlin des Zeus nicht Hära, sondern Juno, Vulkan nicht Häfaistos, Diomedes nicht Diomädes, Ulyß nicht Odüsseus, Eneas nicht Aineas heißt, u.s.f.24
Und in einem zweiten, unmittelbar daran folgenden Beitrag empfahl er Voß unter Berufung auf die Verse „Usus / quem penes arbitrium es et jus norma loquendi“ (epist 2.1.71f.) auf Schreibweisen wie „Häbäh“ statt „Hebe“ zu verzichten.25 Der Streit über den Hexameter war auf den Gebieten von Orthographie nicht zu entscheiden, weil die Verslehre an Grundsatzfragen der Sprachtheorie und Sprachgeschichte rührt, die nicht zu beantworten waren.
23 Georg Christoph Lichtenberg: Über Hrn. Vossens Vertheidigung gegen mich im März/Lenzmonat des deutschen Museums 1782, in: Göttingisches Magazin der Wissenschaften und der Litteratur 3, 1782, H. 1, S. 100–171, hier: S. 105–108; vgl. Nettelbeck: French Fried Potatoes, S. 223–261. 24 Christoph Martin Wieland: Eine neue hexametrische Uebersetzung der Illiade, in: Der Teutsche Merkur, 1781, Viertelj. 3, S. 185–191, hier: S. 188f. 25 Christoph Martin Wieland: Ein Wort von Herrn Voßens Einwendungen gegen die teutschen Monatsnamen (S. No 6 im Wonnemond des deutschen Museums 1781), in: Der Teutsche Merkur, 1781, Viertelj. 3, S. 191f.
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III. Die Kunst der Versifikation Wieland konnte seine Einsicht, dass der Streit über die Versifikation nicht aufzulösen, sondern allenfalls der Verzicht auf den Hexameter einen tragfähigen Kompromiss ermöglichte, in seiner Übersetzung des Horaz demonstrieren: Auch Sprach‘ und Versebau und Rhythmus sei dem wohl empfohlen, der ein echtes Werk zu schaffen wünscht. Er kann nicht leicht zu viel Bescheidenheit und Vorsicht in der Wahl der Wörter zeigen. Öfters wird ein Vers vortrefflich bloß wenn ein alltäglich Wort durch eine schlaue Stellung unverhofft zum neuen wird. Wo neuentdeckte Dinge zu sagen sind. da ists mit Recht erlaubt, auch unerhörte Wörter zu erfinden. wenn diese Freiheit mit Bescheidenheit genommen wird. Auch können neue Wörter und Redensarten, die vor kurzem erst aus griech‘schem Quell auf unsern Grund und Boden geleitet worden sind, mit Sparsamkeit gebraucht, ein Recht auf gute Aufnahm‘ fordern. […] Immer wars und bleibst erlaubt, ein neugestempelt Wort von gutem Korn und Schrot in Gang zu bringen. So wie von Jahr zu Jahr mit neuem Laube der Wald sich schmückt, das alte fallen läßt: so lässet auch die Sprache unvermerkt die alten Wörter fallen, und es sprossen neue ins Leben auf, und füllen ihren Platz. (H, S. 512ff.)26
Wieland rechtfertigt seine Übersetzung mit dem Hinweis: „Ich habe den Horaz hier, um des Zusammenhangs willens, ein paar Worte mehr sagen lassen, als er ausdrücklich sagt: aber um in das Ganze Zusammenhang zu bringen, müßte man ein neues Werk daraus machen.“ (H, S. 512) Der Dichter arbeitet nicht unmittelbar mit der Lexik, sondern mit einer Rückwirkung der Versifikation auf die Semantik. Gewisse Regeln der Versifikation können aus der Pragmatik erschlossen werden, die in den Voraussetzungen des Sprechens, der Akustik und des Hörens verankert sind: Die Wahl des Metrums antwortet zunächst auf die verschiedenen akustischen Dispositive der Dichtung. So ist beispielsweise der Jambus wegen seiner 26 Christoph Martin Wieland: Werke, Bd. 9: Übersetzung des Horaz, hg. von Manfred Fuhrmann, Frankfurt a.M. 1986. Die Ausgabe wird im Folgenden mit der Sigle H und arabischer Seitenzahl zitiert.
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Prosanähe am besten für große Bühnen geeignet: „Man fand, er [der Jambus] schicke sich zum Dialog / am besten, sei zur Handlung, wie gemacht, / und übertöne leichter als ein andrer / des Volksgetös’ im hallenden Theater.“ (H, S. 516) Die Versifikation ist nicht schwierig, weil die metrischen Regeln kompliziert sind, sondern weil sie die Unterscheidungen von Klang und Sinn, Stoff und Form oder Aussage und Aussageweise unterläuft. Wenn Horaz Hexameter und Wieland fünfhebige Jamben schreiben, tritt in den Versen nichts zur Sprache hinzu. Vielmehr greift ihre Versfikation, die keineswegs auf die Euphonie einzugrenzen ist, insgesamt in die Sprache ein und bringt den Effekt eines Gewebes hervor. Friedrich Nietzsche wird die spezifische Beschaffenheit des horazschen Textgewebes als Mosaiktechnik erläutern: Bis heute noch habe ich an keinem Dichter dasselbe artistische Entzücken gehabt, das mir von Anfang an eine horazische Ode gab. In gewissen Sprachen ist Das, was hier erreicht ist, nicht einmal zu wollen. Dies Mosaik von Worten, wo jedes Wort als Klang, als Ort, als Begriff, nach rechts und nach links und über das Ganze hinaus seine Kraft ausströmt, dies minimum in Umfang und Zahl der Zeichen, dies damit erzielte maximum in der Energie der Zeichen – das Alles ist römisch und, wenn man mir glauben will, vornehm par excellence. Der ganze Rest von Poesie wird dagegen etwas zu Populäres, – eine blosse Gefühls-Geschwätzigkeit […].27
Wie die Mosaiktechnik, in der jedes Wort eine Perspektive auf jedes andere eröffnet, funktioniert, veranschaulichen vielleicht zwei Verse aus der Schlussstrophe einer alkäischen Ode, in der, so die Szene, ein verliebtes Mädchen in der Ecke einer römischen Piazza wartet, aber sich durch ein Gekicher verrät: „Nun et latentis proditor intimo / gratus puellae risus ab angulo“ (carm. 1.9). Versifikation und lateinische Syntax setzen hier ein Spiel von Antizipation und Aufdeckung in Gang, das vorführt, was es beschreibt: Man hört zuerst das Wort „latentis“, um dann im nachfolgenden Vers zu erfahren, wer oder was verborgen ist; man erfährt, dass etwas verräterisch ist, bevor man im nachfolgenden Vers erfährt, dass es ein Lachen ist; und schließlich erfährt man, dass die Quelle dessen, was man hört, so verborgen ist wie das Wort „angulo“, das als letztes ertönt. Man kann solche Effekte im Deutschen nicht wiedergeben, sondern allenfalls erläutern. Der Theologe, Philologe und Altertumsforscher Friedrich Christian Karl Heinrich Münter, der aus Kopenhagen zu Gast bei Wieland war, notierte am 4. April 1782 in seinem Tagebuch: „[Vormittags] zu Wieland. seine Ideen über Horazens Ars poetica. Es sei mit dem Vater der Pisonen verabredet, den einen Piso von der Poesie abzuschrecken, deswegen zeigt 27 Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt, in: ders.: Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe, Bd. 6, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München u.a. 21988, S. 55–161, hier: S. 154f.
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er alle Fehler die man so leicht begehen könne, und wie schwer es sei, sie zu vermeiden.“28 Indem Wieland die Ars Poetica unter die Briefe einreihte und sie an den Schluss seiner Ausgabe rückte, nahm er zugleich eine implizite Datierung und Festlegung in der strittigen Frage vor, wer jener Piso und seine Söhne waren, an die der Brief gerichtet ist. Der spätantike Kommentator Pomponius Porphyrio hatte in einer Fußnote zum ersten Vers des Gedichts den Vater der Pisonen als Lucius Calpurnius Piso (48 v. Chr. – 32 n. Chr.) identifiziert und mitgeteilt, dass der Konsul des Jahres 15 selbst ein Poet war. Dessen Söhne wollte Horaz vor einer Karriere als Dichter – und besonders als Tragödiendichter – warnen: Der Brief sei eine „Abschreckungspoetik“.29 Der Brief gibt tatsächlich keine Anleitung, wie zu dichten sei, und lässt die Gesichtspunkte ineinanderfließen, unter denen die Dichtung verhandelt wird.30 Man könne allenfalls vor Fehlern warnen, nicht aber angeben, wie ein geglücktes Werk beschaffen sei: Der „Genius des Sokrates“, merkt Wieland an, „sagte ihm immer nur, was er nicht tun sollte.“ (H, S. 497) Die Versifikation ist eine Kunst, die nicht lehrbar ist: „Aus lauter jedermann bekannten Wörtern / wollt’ ich mir eine neue Sprache bilden, so, / daß jeder dächt’, er könnt’ es auch, und doch, / wenn er’s versucht und viel geschwitzt und lange / sich dran zermartert hätte, doch zuletzt es bleiben lassen müßte!“ (H, S. 533f.) Horaz formuliert im Brief an die Pisonen nur allgemeine Regeln, die keinen unmittelbaren Aufschluss über konkrete Lösungen geben, was erkläre, so Wieland, „warum bis auf den heutigen Tag noch kein Pfuscher aus dieser Epistel etwas gelernt hat“ (H, S. 495). So gibt es zwar eine Regel, die eine Stoffwahl anleitet und einer Verallgemeinerung fähig ist, nämlich die Warnung vor der Erfindung im Dramatischen. Aber solche Regeln sind nichtssagend, wie Wieland im Kommentar der Verse „Ihr, die ihr schreiben wollt, vor allen Dingen, / wählt einen Stoff, dem ihr gewachsen seid“ (H, S. 511) auch festhält: „Eine vortreffliche Regel für den Lehrling, der einen Genius hat, der ihn die Regel verstehen und anwenden lehrt! aber unbrauchbar für jeden andern. Und so ists mit allen Regeln.“ (H, S. 511) Die Regeln des Horaz werden ihrer Trivialität nur entkleidet, wenn die Art und Weise, wie sie formuliert sind, als ihre Spezifikation begriffen wird.
28 Christian Karl Heinrich Münter: Tagebuch, 4. April 1782, zit. nach Thomas C. Starnes: Christoph Martin Wieland. Leben und Werk, Bd. 1: Vom Seraph zum Sittenverderber, Sigmaringen 1987, S. 714. 29 Fuhrmann: Kommentar, in: Wieland: Übersetzung des Horaz, S. 1136. 30 Zu Themen und Gliederung der Ars poetica siehe Manfred Fuhrmann: Die Dichtungstheorien der Antike. Aristoteles – Horaz – ,Longin‘. Eine Einführung, Düsseldorf/Zürich 2003, S. 121–144.
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IV. Der „mimus vitae“ Wieland setzt mit seiner Strategie zur Verkomplizierung des moralischen Urteils über Horaz an der Unterscheidung von Verfasser und persona an. Die Errichtung einer persona kennzeichnet insbesondere den Adressaten jenes Briefs, den Horaz gegenüber allen anderen Empfängern als „maiestas tu“ (epist. 2.1.258) auszeichnete: Kaiser Augustus. Wieland knüpfte damit an eine Kritik des Kaisers an, die ihn der Zerstörung der republikanischen Tradition anklagte und den Vorwurf mit Angriffen auf die Person des Princeps zu untermauern suchte. Im Frankreich und England des 18. Jahrhunderts war die moralische Verurteilung des Prinzipats weit verbreitet. Montesquieu erkannte in seinen Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence im Kaiser einen Usurpator der Souveränität: Toutes les actions d’Auguste, tous ses règlements, tendaient visiblement à l’établissement de la monarchie. Sylla se défait de la dictature; mais dans toute la vie de Sylla, au milieu de ses violences, on voit un esprit républicain: tous ses règlements, quoique tyranniquement exécutés, tendent toujours à une certaine forme de république. Sylla, homme emporté, mène violemment les Romains à la liberté ; Auguste, rusé tyran, les conduit doucement à la servitude. Pendant que, sous Sylla, la République reprenait des forces, tout le monde criait à la tyrannie, et, pendant que, sous Auguste, la tyrannie se fortifiait, on ne parlait que de liberté.31
Edward Gibbon bezeichnete im ersten Band seiner History of the Decline and Fall of the Roman Empire den Kaiser als einen „subtile tyrant“32 und entdeckte in ihm einen Charakter, der reine Maske ist. A cool head, an unfeeling heart, and a cowardly disposition, prompted him, at the age of nineteen, to assume the mask of hypocrisy, which he never afterwards laid aside. With the same hand, and probably with the same temper, he signed the proscription of Cicero, and the Pardon of Cinna. His virtues, and his vices, were artificial; and according to the various dictates of his interests, he was at first the enemy, and at last the father, of the Roman Word.33
Gibbons Charakterisierung bezieht sich auf Suetons Vita des Augustus, die auch Wieland als Ausgangspunkt seiner Darstellung dient. Sueton berich31 Charles de Montesquieu: Considérations sur les sauses de la grandeur des romains et de leur décadence, nouvelle édition par L’Abbé C. Blanchet, Paris 31907, S. 122f. Vgl. Eckhard Levèvre: Wielands Augustusbild, in: Römische Geschichte und Zeitgeschichte in der deutschen und italienischen Altertumswissenschaft während des 19. und 20. Jahrhunderts, hg. von Karl Christ, Como 1989, S. 71–87. 32 Edward Gibbon: The History of the Decline and Fall of the Roman Empire, Volume the First, London 1776, S. 72. Vgl. hierzu Jasper Griffin: Horace in England, in: Zeitgenosse Horaz. Der Dichter und seine Leser seit zwei Jahrtausenden, hg. von Helmut Krasser und Ernst A. Schmidt, Tübingen 1996, S. 182–206. 33 Gibbon: The History of the Decline and Fall of the Roman Empire, S. 72.
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tet, dass die letzten Worte des sterbenden Kaisers zu seinen Vertrauten gelautet haben: „Ecquid iis videretur mimum vitae commode transegisse?“34 Wieland übersetzt: „dünkt euch, daß ich den Mimus des Lebens leidlich gespielt habe?“ (H, S. 333) Dieser Satz sei der„Schlüssel“ zu dem „Rätsel“ des Kaisers, „den uns Augustus selbst in dem einzigen aufrichtigen Augenblick seines Lebens – in seinem letzten – gegeben hat.“ (H, S. 333)35 Dass Augustus ein Schauspieler war, soll folgenden Widerspruch erklären: Wer, der die Begebenheiten der funfzehn Jahre seines Triumvirats, unter dem Namen Octavianus, und der Geschichte der zwei und vierzig Jahre seiner Regierung, in einem anderen Buche unter dem Namen Augusts gelesen hätte, könnte sich vorstellen, daß er das Leben einer und derselben Person gelesen habe? (H, S. 332f.)
Die Verwandlung des Octavian in Kaiser Augustus sei die Geschichte einer unvergleichlichen Zähmung: Daß der feigherzige, undankbare, treulose, kaltblütiggrausame junge Bösewicht, dem keine Bande der Natur, keine Gesetze der menschlichen Gesellschaft, keine Verhältnisse des Lebens, mit einem Wort, dem nichts Göttliches noch Menschliches heilig, dem zur Beruhigung seiner mißtrauischen Furchtsamkeit, und zur Erreichung seiner ehrsüchtigen Plane kein Bubenstück zu schändlich war, eben derjenige sei, der unter dem Namen August eine den Römern von jeher so verhaßte Autokratie durch eine Mäßigung, durch eine Klugheit, eine Aufmerksamkeit und Tätigkeit für das allgemeine Beste, die fast ohne Beispiel ist, beliebt und zu einer Wohltat für die Welt gemacht; – eben derjenige sei, mit dessen Namen die Römer ihre folgenden Beherrscher zu jeder Tugend eines guten Fürsten, eines allgemeinen Vaters, eines wohltätigen Genius, zu verpflichten und einzuweihen glaubten? – Es scheint unbegreiflich, und doch ist nichts gewisser, als daß der nämliche Mann in verschiedenen Perioden seines Lebens beides war. Die Geschichte der Menschheit kennt kein andres Beispiel einer solchen Verwandlung. (H, S. 333)
Kurzform dieser Verwandlung ist der Ausdruck „mimus vitae“. Wielands übersetzt „mimus“ nicht mit Posse oder Nachspiel und liest „mimus vitae“ auch nicht als eine Metapher, mit der Augustus sein Leben in einem Begriff des Theaters gedeutet hätte: So wenig der „mimus“ eine Posse ist, so wenig kann das Leben des Augustus mit einem Schauspiel der niederen Gattung gleichgesetzt werden. Und der „mimus“ ist auch kein Nachspiel, wie es nach dem Schluss einer Tragödie gegeben wurde, damit die Zuschauer nicht allzu bedrückt nach Hause gehen: Augustus würde, dieser Lesart zufolge, seine Freunde angesichts seines bevorstehenden Todes bitten, nicht traurig zu sein, sondern heiter Abschied zu nehmen. „Mimus“ erläutert Wieland wie folgt: Gebärdenspiel, oder, wie wirs nennen Pantomime. Tragische oder komische Süjets wurden in diesem damaligen Lieblingsschauspiel der Römer, wo nicht bloß, doch 34 Sueton: Divus Augustus, 99.1. 35 Vgl. hingegen die Kritik, die Levèvre an Wieland übt; vgl. Levèvre: Wielands Augustusbild, S. 71.
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hauptsächlich durch Gebärden und Bewegungen gespielt, oder getanzt, wie man es damals hieß, weil alles seinen gewissen Rhythmus hatte, und mit Musik begleitet war. (H, S. 333)
Der Mimus steht der Sprache fern, wie Wieland in seinen Kommentaren zu Horaz mehrfach unterstreicht. So heißt es zum Beispiel zu Sat. 1.10.5,6: Davon allen den mimis, woran sowohl die griechische als römische Schaubühne überflüssig reich war, nicht ein einziges Stück auf uns gekommen ist: so können wir uns keinen hinlänglichen Begriff von der Form dieser Gedichte machen. Soviel erhellet indessen aus allem, was die neuern Philologen in alten Schriftstellern über diesen Gegenstand aufgetrieben haben: daß es Monodramen waren; daß es darin hauptsächlich um bürleske Darstellung niedrig-komischer Charakter und Leidenschaften, und um Erschütterungen des Zwerchfells zu tun war; daß der Verfasser daher auch größtenteils in der Wahl der Mittel, diesen Zweck zu erhalten, wenig Delikatesse gebrauchten, und der Freiheit, die man ihnen zum Vergnügen des Publikums zugestand, eine Ausdehnung gaben, wobei züchtige Ohren wenig geschont wurden –. (H, S. 825)36
Wenn Augustus also seine „ganze glorwürdige Regierung durch, nur Komödie mit den albernen Römern“ (H, S. 335) spielte, ist der Begriff der Komödie, den Wieland in Anschlag bringt, nicht in der Einteilung der Stücke nach hoher und niederer Gattung aufzufinden. Die Poetiken, die einen Kaiser einzig unters Personal der Tragödie rechneten, unterschieden Charaktere, deren Ständezugehörigkeit die Gattungen festlegen, nicht aber Darstellungsweisen.37 Komödie heißt die Herrschaft des Augustus, weil sie mittels einer Abfolge von Täuschungen ihre Ziele verwirklichte: [Augustus] war nur Komödiant, wenn er sich die unbeschränkte Herrschaft, die er schon besaß und nie im Ernst abzutreten Lust hatte, stückweise und nach und nach unter allen möglichen legalen Titel vom Senat und Volk aufzwingen ließ; Komödiant, wenn er die Mäßigung eines Privatmannes affektierte, und dich erlaubte, daß ihm Altäre gebaut und Tempel gewidmet wurden; Komödiant, wenn er einen bis auf die unbedeutendsten Kleinigkeiten ausgedehnten Respekt gegen die alten Gesetze und Formen spielte, denen er doch alle Augenblicke mit Gewandtheit zu entschlüpfen wußte. (H, S. 335)
Unter den Mitteln, die den Anschein von Legalität und Tugend aufrechterhielten, stach das theatrale Spiel hervor: Wieland sieht den Kaiser als einen Schauspieler an, der zu vollendeter Simulation und Dissimulation fähig war. Während im 18. Jahrhundert die eloquentia corporis als dasjenige Re36 Wieland übersetzt den allgemeinen Terminus „minus“ jeweils nach dem Zusammenhang, in dem er auftritt: So spricht Horaz in Sat. 1.2 von „mimae“, die Wieland als „Tänzerinnen“ (H, S. 618) übersetzt und unter die „H**n“ rechnet (H, S. 624). 37 Vgl. Peter Szondi: Die Theorie des bürgerlichen Trauerspiels im 18. Jahrhundert. Der Kaufmann, der Hausvater und der Hofmeister, Studienausgabe der Vorlesungen, Bd. 1, hg. von Gert Mattenklott, Frankfurt a.M. 1973, S. 34–42.
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gister des Ausdrucks gilt, das dessen Authentizität verbürgt38, vermag Augustus sogar seine Körper- und Gebärdensprache der Simulation und Dissimulation zu unterstellen. Der Kaiser hat die erste und wichtigste Lektion der antiken Fürstenspiegel bzw. des Machiavellismus gelernt und beherrscht seine Affekte, indem er wie ein Schauspieler agiert, der nicht von demjenigen Affekt, den er darstellt, beherrscht wird.39 Und diese Maske des Mimen habe sich im Laufe des Lebens schließlich ins Fleisch des Kaisers gesenkt: Augustus wurde nach und nach zu dem, dessen Rolle er spielte. Die Verwandlung des Octavian in Augustus war ein metamorphotischer Prozess, der mit dem Begriff des Charakters gerade nicht zu fassen ist: Ich weiß nicht, ob die Geschichte in ihrem ganzen Umfang einen Sterblichen aufzuweisen hat, dessen Charakter zweideutiger, rätselhafter und schwerer unter einen Hauptbegriff zu fassen wäre, als eben dieser Augustus. (H, S. 332)
V. Der Dichter und der Kaiser Wieland enthält sich in seiner Rekonstruktion des Verhältnisses von Dichter und Kaiser der schlichten Apologie, die Horaz als Exemplum der Beständigkeit präsentierte: Unter den „willkürlichen Dichtungen“, die „den Mangel historischer Nachrichten“ (H, S. 330) kompensieren wollen, ist die Vermutung, dass Augustus „dem armen Dichter diese Epistel mit dem Dolch auf der Brust abgezwungen“ (H, S. 320) habe, die unwahrscheinlichste: Sie ruft in apologetischer Absicht das Schema von Tyrann und Märtyrer auf, ohne aber die „Verwandlung des Usurpators Octavianus“ in einen „gesetzmäßig regierenden August“ zu erfassen (H, S. 330f.). Die pauschale Entgegensetzung von Tyrann und Dichter überschätzt die Wirkung der Dichtung und verkürzt sie gerade dadurch um ihre spezifische Mächtigkeit: So wenig eine Herrschaft ohne ihre Anerkennung im Volk auf Dauer zu stellen ist, so wenig macht der Dichter den Ruf eines Herrschers und vermag die „Infamie in der Nachwelt“ (H, S. 331) abzuwehren. Und auch die Variante des antagonistischen Schemas von Tyrann und Dichter, der zufolge Augustus Horaz nahegelegt habe, sein „Talent“ auf „eine patriotischere Art“ (H, S. 331) anzuwenden und sich „unmittelbarer um den Staat verdient“ (H, S. 331) zu machen, gibt nur eine scheinbare „Auflösung des Knotens“ (H, S. 332). Stattdessen stellt Wieland den Dichter als einen ehemaligen Parteigänger des Brutus vor, der in den Bannkreis 38 Vgl. Ursula Geitner: Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 1992; Alexander Koenina: Anthropologie und Schauspielkunst. Studien zur ‚eloquentia corporis‘ im 18. Jahrhundert, Tübingen 1995. 39 Vgl. hierzu Seneca: De ira, 2.17
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des Hofs geriet. Horaz wurde vom Feind des Octavianus, gegen den er in Philippi noch als Heerführer gekämpft hat, zu einem Höfling, der sich der Aufforderung des Augustus, das Prinzipat zu verherrlichen, stellen musste. Die pauschale Abwertung von Panegyrik und Herrscherlob als Schmeichelei und Opportunismus übersieht, wie die Oden gemacht sind. Die Amplifikation von „omnis“ ist zwar ein bewährtes Verfahren des epideiktischen Genus.40 Inbegriff von „allen“ ist aber das Volk. Wenn Horaz die „kurze Rolle, die er unter der Anti-Cäsarischen Partei gespielt hatte“, aufgab und eine Ode auf den Kaiser verfasste, „vereinigte er seine Stimme mit der allgemeinen“ (H, S. 345) Stimme des Volkes. Horaz schlägt sich also auf die Seite des Volkes: Er ist kein Dichter, der sich dem ,absolutistischen‘ Herrscher entgegenstellt oder ihm schmeichelt, sondern eine „allgemeine“ Stimme artikuliert. Auch wenn Wieland keine Gelegenheit versäumt, Horaz als einen Anhänger der Republik zu präsentieren und herausstellt, dass der Dichter das Angebot des Kaisers ablehnte, sein Privatsekretär zu werden, erfolgt die größte Verkomplizierung der moralischen Bewertung auf dem Feld der Dichtung. Das Herrscherlob des absolutistischen Fürsten gipfelte in einer performativen Überschreitung der Rede: So konnte Daniel Casper von Lohenstein in seinem Roman Großmüthiger Feldherr Arminius (1683) beispielsweise folgende Szene fingieren. Während des Trauerzugs für den verstorbenen Kaiser Augustus werden Vergil und Horaz, die ihre Werke dem Herrscher gewidmet haben, im Gegenzug von einem Darsteller des Augustus, der wiederum Apollo darstellt, gekrönt. Die Szene wird in einer bildlichen Darstellung, die im Festzug mitgeführt wird, wiederholt. Die Dichtung geht hierbei in ein allegorisches Spiel über: Darauf stand das Bild des Kaysers/ in Gestalt des Apollo; Um ihn sassen die neun Musen/ welche nach den süssesten Seitenspielen das Lob des Augustus sangen. Hierbey waren auch Vergilius und Horatius zu sehen; jener überreichte dem Apollo seine Eneis/ dieser seine Lieder; wofür Apollo iedem einen Lorbeer-Krantz aufsätzte.41
In solcher Allianz von Dichter und Kaiser, die einander wechselseitig ihren Nachruhm sichern, verstummt die Dichtung zugunsten von Bild und Szene. Wie Horaz sich gegen die Vorherrschaft des Spektakels verwahrte, ist für Wieland Anlass einer ausführlichen Erläuterung: Unter den Gründen, die Horaz anführt, warum er so zögerlich der Aufforderung des Princeps, etwas Neues zu schreiben, nachkomme, hebt er folgenden hervor. Horaz schildert in seinem Brief an Augustus die übliche Situation im Theater während einer Aufführung und fährt dann fort: 40 Vgl. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Tübingen/Basel 111993, S. 168–175. 41 Daniel Casper von Lohenstein: Grossmüthiger Feldherr Arminius, Bd. 2, mit einer Einführung von Elida Maria Szarota, Hildesheim/New York 1973, S. 950b.
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Noch ist ein Ungemach, das auch den kühnsten Poeten abzuschrecken fähig ist. Wenn alles gut ging, unverhofft beliebts dem ungelehrtsten Teil, doch leider! immer dem größten an der Zahl, und der, wofern die Ritter etwa andrer Meinung sind sogleich die harten Fäuste weiset – mitten im Stück, nach Fechter oder einem Bärentanz zu schreien: denn dergleichen Possen klatscht das kleine Volk am liebsten zu. Wiewohl auch bei dem Adel hat die Reizbarkeit und das Vergnügen aus den Ohren gänzlich sich in die Flatteraugen hingezogen. Geistloses Schaugepränge unterhält am besten. (H, S. 385)
Wieland gibt die Erläuterung, dass „auch die höhern Klassen“ durch des Kaisers Neigung zu Schauspielen angesteckt [wurden], wo bloß die Augen unterhalten werden. Sie kommen ins Amphitheater, um zu sehen, nicht um zu hören. Was der Dichter bei einem Stück getan, ist für sie bloßes Nebenwerk: der Dekorateur und die Theaterschneider sind die wahren Hauptpersonen. Sogar der Schauspieler ist nichts mehr! er könnte eben sowohl als eine stumme Person auftreten: denn wenn er applaudiert wird, so ist es nicht das, was er sagt, sondern die Kostbarkeit und das ausländische Costum seiner Kleidung, was den großen Beifall erhält. (H, S. 450)
Horaz habe, indem er sich gegen das Spektakel auf der römischen Bühne ausspricht, den Kaiser angegriffen. „Das Merkwürdigste“, so Wieland, bei dieser ganzen Stelle ist wohl dies, daß Mäcenas und August selbst dabei sehr stark betroffen waren; und mich deucht, Horaz hätte dem letzteren nicht wohl deutlicher zu verstehen geben können, daß Er allein die Schuld habe, wenn der bessere Geschmack und die Musenkunst […] in Rom gänzlich zu Grunde ginge. (H, S. 431)
Vom Hang des Kaisers zum Spektakel berichtet Sueton: Alle seine Vorgänger übertraf er an Zahl, Mannigfaltigkeit und Glanz der Schauspiele. Er selbst sagt, daß er in seinem Namen viermal Spiele veranstaltet habe, im Namen anderer Beamten, die entweder von Rom abwesend waren oder nicht die nötigen Mittel hatten, dreiundzwanzigmal; manchmal fanden diese sogar in den einzelnen Quartieren statt und auf mehreren Bühnen mit Schauspielern aller Sprachen. (Gladiatorenspiele*) gab er nicht nur auf dem Forum und im Amphitheater, sondern auch im Zirkus und auf dem Wahlplatz; manchmal beschränkte er die Spiele auf eine Jagd. Athletenwettkämpfe veranstaltete er auf dem Marsfeld, wo hölzerne Sitzbänke errichtet wurden, ebenso eine Seeschlacht, für die er in der Nähe des Tiber, wo heute der Park der Caesaren ist, einen See ausheben ließ. An den Tagen, an denen solche Feste stattfanden, wurden Wachen in der Stadt ausge-
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stellt, damit nicht bei der geringen Zahl von zuhausegebliebenen Diebe ihr Unwesen treiben könnten.42
Wieland spitzt seine Erläuterung der übersetzten Stelle schließlich in dem Vorwurf zu, daß es August war, der teils, weil er selbst die Schauspiele für die Augen vorzüglich liebte, teils aus Popularität, und aus der politischen Absicht, dem Volke, durch eine aufs höchste getriebene Gefälligkeit gegen ihren herrschenden Geschmack, seine Regierung angenehm zu machen – daß es, sage ich, August war, der die Römer durch alle Arten von neuen, sonderbaren, und in die Augen fallenden Schauspielen gar nicht zu sich selbst kommen ließ. (H, S. 431)
Wielands Lektüre entdeckt in den Oden und Briefen statt des opportunistischen Herrscherlobs die Analyse einer Theatrokratie.43 Augustus war ein Schauspieler und herrschte als ein Schauspieler: Das Spektakel triumphierte über die Dichtung und der Mimus verdrängte den Logos. Die Biographie des Augustus, die Wieland rekonstruiert, legt also eine ästhetische Legitimationsstrategie von Herrschaft offen. Nicht theologisch-politische Legitimation oder juristische Rechtfertigung weisen Augustus als Herrscher aus, sondern seine souveräne Beherrschung der theatralischen Mittel. Auch wenn deren Effekte sie denen des absolutistischen Theaters vergleichbar machen, ist ihr Modus operandi verschieden. Augustus bringt mit schauspielerischen Mitteln die Differenz zwischen den zwei Körpern des Herrschers zum Verlöschen, insofern er sich einen öffentlichen Körper schafft, der seinen privaten nach und nach einhüllt und an dessen Stelle tritt: Der Herrscher wird intransparent, so dass ihm ein leeres ,Innen‘ zuwächst. Insofern ist das Verhältnis von öffentlichem und privatem Körper, das Augustus herstellte, das Gegenteil jenes Verhältnisses, das der Diskurs des Absolutismus vorsah.44 Die Operation des Souveränmachens, wie sie Augustus betreibt, exponiert gerade nicht die Differenz zwischen privatem und öffentlichem Körper, um sie zu überspielen. Während im absolutistischen Diskurs das Ausstellen des privaten Körpers die ästhetische Operation des Souveränmachens ist, demonstriert Augustus seine Souveränität in vollständiger Verhüllung seines privaten Körpers. Während der absolutistische Diskurs aus der Entdeckung, dass es keine vollständige Beherrschung des privaten Körpers des Herrschers geben kann, die Konsequenz zieht, ein ausgeklügeltes Zeremoniell zu entwickeln, das den privaten Körper als öffentlichen exponiert, ist der öffentliche Körper des Augustus voll42 Vgl. Sueton: Augustus, in: ders.: Leben der Cäsaren, übers. und hg. von André Lambert, München 31980, S. 55–1230, hier: S. 82. 43 Zum Begriff der Theatrokratie siehe Samuel Weber: Theatrocracy; or, Surviving the Break, in: ders.: Theatricality as Medium, New York 2004, S. 31–53. 44 Vgl. Louis Marin: Das Porträt des Königs, aus dem Französischen von Heinz Jatho, Berlin 2005.
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ständig mit seinem privaten verschmolzen. Der Modus operandi des Souveränmachens ist in keinem Zeremoniell, der den herrscherlichen Körper erfassen würde, sondern in der Person selbst verankert.45 Das Spektakel, das Augustus inszeniert, übt keine kompensatorische Funktion aus, indem es die Entzweiung zwischen privatem und öffentlichem Körper des Herrschers überspielt, sondern es kann gänzlich in den Dienst der Präsentation seiner Macht treten. Augustus ist kein Herrscher, der des Theaters bedarf, um das Geschäft der Repräsentation zu betreiben: Niemals stellt er sich zur Schau, indem er sich als Person thematisch werden oder sich gar durch einen Schauspieler auf einer Bühne vertreten lässt. Er entzieht seine Person den spaltenden Kräften jeder theatralischen Repräsentation. Denn die Repräsentation des Herrschers auf der Bühne ist nicht nur eine Ausstellung seines öffentlichen Körpers, die dessen Fähigkeit zur Beherrschung des privaten demonstriert, sondern sie versenkt stets auch eine Differenz in die Person des Herrschers. Wenn in der Repräsentation des Herrschers auf dem Theater jene Keimzelle einer Spaltung und Entzweiung der Macht angelegt ist, hat Augustus diese Keimzelle nicht genährt. Stattdessen war er Regisseur und Zuschauer von Spektakeln, die seiner Person äußerlich blieben. Der historische Abstand, der Augustus vom Absolutismus trennt, wird in Wielands Rekonstruktion der Theatrokratie nicht in eine Geschichtsschreibung der Kaiserzeit aufgelöst, sondern als die Differenz zweier Modelle ausgewiesen. So sehr der absolutistische Diskurs auf eine Ausstellung und Überhöhung des privaten Körpers des Herrscher zielte, so sehr zielte er auch auf eine Erfassung des privaten Körpers des Dichters. Der Dichter schien, im Gegensatz zum Herrscher, gerade nicht zur Selbstbeherrschung und Kontrolle seiner Affekte fähig: Die moralische Verurteilung des Horaz als einer „der ausgelassensten und unordentlichsten Wollustsclaven seiner Zeit“46 leistet auch eine implizite Erhöhung des Augustus. Von dieser schematischen Gegenüberstellung von souveränem Herrscher und liederlichem Dichter rückte Wieland ab und setzte an deren Stelle eine Analyse der ästhetischen Strategien des Souveränmachens: Horaz entkoppelte die Dichtung vom Supplements des Spektakels. Die Briefe sind ein Exempel des angemessenes Verhaltens des Dichters gegenüber dem Fürsten, in dem es weder um Angleichung noch um Schmeichelei, noch um Verbündung zum Zwecke wechselseitiger Erhöhung geht: Horaz gibt sich nicht (mehr) der Illusion hingibt, der Fürst warte nur darauf, an die Tugend erinnert zu werden. Horaz konnte dem „August die45 Vgl. Friedrich Balke: Figuren der Souveränität, München 2009, S. 346–356. 46 Gottfried Ephraim Müller: Histroisch-critische Einleitung zu nöthiger Kenntnis und nützlichem Gebrauche der alten lateinischen Schriftsteller, Theil 3, Dresden 1747, zit. nach Volker Riedel: Lessing und die römische Literatur, Weimar 1976, S. 129.
Wieland liest die Briefe des Horaz
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jenigen Dichter, die nicht für Zuschauer, sondern für Leser arbeiten, seiner Aufmerksamkeit“ empfehlen, obwohl er „seinen August, gerade bei der Stelle seines Werks, die ihn am meisten Mühe gekostet, oder bei dem, was er selbst für das Beste daran erkennt, gähnen, oder mit seinem kleinen Maurischen Zwerge spielen sieht.“ (H, S. 366) Die Beziehung zwischen Horaz und Augustus war weder korrumpierte Freundschaft noch übertriebene Höflichkeit, sondern wie eine Vereinbarung ohne Vertrag. Dichter wie Fürst wissen zwar um den unausgesprochenen Vertragscharakter ihrer Beziehung, aber verzichten dennoch auf die Demaskierung: Man durchschaut die Spielregeln und spielt trotzdem mit, denn Konsequenz wäre langweilig. Wieland widmete die Buchausgabe seiner Übersetzung der Briefe dem Fürsten Carl August, der ihm eine Pension ausgesetzt hatte, die es ihm nicht zuletzt erlaubte, seine Übersetzung anzufertigen. Der Fürst war ein genauer Leser und bemerkte selbstverständlich den Affront. An Johann Heinrich Merck schreibt er am 24. April 1782: „Wieland’s Horaz ist heraus, mir sehr unwürdiger Weise zugeeignet und von Wieland in einem prächtigen Exemplar, schön gebunden, mir geschenkt worden. Wie sind Sie mit der Übersetzung zufrieden?“47
47 Carl August an Merck, Weimar, den 24. April 1782, zit. nach Starnes: Wieland, Bd. 1, S. 716.
Katharina Roettig
Wielands Übersetzen Versuch einer Neubewertung am Beispiel von Aristophanes’ Wolken Wielands Übersetzung der Aristophanischen Wolken zählt zwar zu den bekannteren seiner Aristophanes-Übersetzungen, dennoch gibt es bislang noch keine Studie, die sich mit Fragen ihrer Übersetzungstechnik näher beschäftigte. Daher möchte ich im Folgenden in einer ersten Annäherung an dieses Thema Briefauszüge aus der Zeit der Arbeit an den Wolken vorstellen, die Licht auf Wielands Gedanken zum Übersetzen werfen können. Diese will ich mit einigen allgemeinen Urteilen und Beurteilungen des Wieland’schen Übersetzungsstils kontrastieren. Um eine Gesamtwürdigung von Wielands Übersetzung der Wolken oder um einen grundsätzlichen Versuch zu Wielands Übersetzungsmaximen kann und soll es hier nicht gehen, sondern lediglich um den Hinweis auf einige Einzelheiten, die helfen können, den Übersetzer Wieland etwas differenzierter sehen zu lernen. Wielands Übersetzung der Aristophanischen Wolken entsteht in den letzten Wochen des Jahres 1797. Wieland arbeitet so intensiv daran, dass er mit der Rohfassung des Stückes nach nur vier Wochen fertig ist. Schon am 19. Dezember meldet er, dass er an diesem Tag um 10 Uhr mit der Übersetzung fertig geworden sei, die er am 23. November begonnen habe. Es fehle allerdings noch die Feile.1 In den ersten Monaten des Jahres 1798 ist Wieland dann mit dem Ausfeilen beschäftigt und arbeitet an Noten und Kommentaren. Die Übersetzung erscheint schließlich im Frühjahr 1798 im zweiten und dritten Heft des zweiten Bandes des Attischen Museum. Während der Arbeit an den Wolken bittet Wieland hin und wieder seinen Freund und altertumswissenschaftlichen Berater Karl August Böttiger um Hilfe bei der Übersetzung schwieriger Passagen. In einem Brief vom 24. November 1797 bittet er Böttiger, ihm alle möglichen „Subsidia zu dieser Herkulischen Arbeit zu suppeditieren“, und lässt ihn wissen, dass ihm „das Scherwenzelwort &&(“ und die Wiedergabe des mehrfach vorkom-
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Wieland in einem Brief an Böttiger, in: Wielands Briefwechsel, hg. von der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1913–2007, 14.123, S. 131.
Wielands Übersetzen am Beispiel von Aristophanes’ Wolken
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menden Wortes '&$!'!&$ zu schaffen machten.2 Dieses Problem beschäftigt Wieland länger und führt zu einem Disput mit Böttiger3, der uns Einblick in Wielands Überlegungen verschafft. Wieland schreibt in dem eben genannten Brief an Böttiger: Noch eins. Wie würden Sie das mehrmahls vorkommende Wort '&$!'!&$ geben? +)*,$ &,$ &) ! '&$!'!&$ Wer einen Sinn für Aristofanes hat, möchte sich über solchen Versen dem *** übergeben. Die Art u[nd] Weise, wie ich mich aus diesen Knoten extricire, wird von vielen sehr getadelt werden; aber ich hoffe wenigstens daß meine Gründe sich hören lassen, und ich behaupte sogar, sie müssen so lange gelten, bis jemand zeigt, daß man es besser machen könne – als z.B. phrontisterion durch S c h o l a , oder O b s e r v a t o i r e oder l i e u d e s M e d i t a t i o n s oder c o n c i l i a b u l u m zu übersetzen. – An P r i m a n e r n laß’ ichs gelten – und gewiß, mißlingt einem Übersetzer der Alten manches bloß darum, weil er sich fürchtet, man möchte glauben, er verstehe das Wort nicht das er übersetzen soll, und darüber vergißt, daß der Buchstabe tödtet, und nur der Geist lebendig macht.4
Der Vers, nach dem Wieland fragt, ist der 94. Vers der Komödie. Sprecher ist der Alte, Strepsiades, der seinen Sohn Pheidippides auf das Haus aufmerksam gemacht hat, in dem Sokrates und seine Schüler leben und lernen. Dabei nennt er dieses Haus ein ‚'&$!'!&$ gelehrter Seelen‘. Die verschiedenen Möglichkeiten, die Bezeichnung '&$!'!&$ wiederzugeben, die Wieland aufführt und verwirft, entstammen Übersetzungen, die Wieland für seine eigene Arbeit zu Rate zieht. ‚Schola‘ findet sich in der lateinischen Übersetzung von Brunck, die französische Übersetzerin Ma-
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Ebd., 14.104, S. 113. Das Wort '&$!'!&$ – Wieland schreibt es bisweilen auch in Umschrift Phronstisterion oder Fronstisterion – und das stammverwandte Wort '&$!( – bei Wieland auch Frontist – werden im Folgenden mehrfach vorkommen. Da Wieland es sich gerade zur Aufgabe macht, die präzise Bedeutung dieser Worte zu erfassen und dabei auch die gelehrte Tradition, die sich in Lexika und Wörterbüchern widerspiegelt, zu hinterfragen, schien es nicht sinnvoll, diesen Worten gleich eine – vermeintlich richtige – Übersetzung beizugeben. Da Wielands Überlegungen aber zitiert oder paraphrasiert und erläutert werden, dürfte im Verlauf des Aufsatzes die Bedeutung dieser Worte deutlich und zugleich einsichtig werden, warum es nicht angemessen wäre, vorgreifend eine Wörterbuch-Übersetzung anzugeben. Daher werden auch in anderen Fällen Aristophanische Verse und Ausdrücke, die auf Griechisch abgedruckt sind, nur in Wielands Übersetzung gegeben oder paraphrasiert. Vgl. dazu Wielands Briefe an Böttiger vom 30. November (ebd., 14.110, S. 116– 120) und 4. Dezember 1797 (ebd., 14.113, S. 121). Ebd., 14.104, S. 113f.
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dame Dacier schreibt ‚l’Observatoire‘, ein jüngerer französischer Übersetzer ‚lieu des Meditations‘.5 Was tadelt Wieland an diesen Lösungen? All diese Vorschläge folgen antiken Erläuterungen, die behaupten, '&$!( sei nichts anderes als ‚der Philosoph‘, und '&$!'!&$ dementsprechend ‚die Philosophenschule‘.6 Diese Erläuterung legen die Übersetzer ohne weiteres ihren Übersetzungen zugrunde. Sie zeigen damit ihre Kenntnis der gelehrten Tradition, so dass ihnen nicht vorgehalten werden kann, sie ‚verstünden das Wort nicht, das sie übersetzen sollen‘. Und doch, so meint Wieland, treffen sie den Geist der Stelle nicht. Das führt er im Anschluss an die eben zitierte Stelle folgendermaßen aus: Mir springt es in die Augen, daß '&$!'!&$ ein von Aristofanes ganz neugebaknes Wort ist […] und sich auf den Ü b e r n a h m e n '&$!( bezieht, den die faceten Spaßvögel und naseweisen Kindsköpfe zu Athen dem Sokrates gaben; und wenn dies ist, so ist (däucht mich) klar, daß man dieses Wort, (womit Strepsiades das Häuschen des Sokrates bezeichnet), als ein nomen proprium traktieren u[nd] eben so wenig übersetzen muß, als man Museon, Odeon, Obelisk, Basilika, Akademie, Panathenäon, u[nd] hundert andrer dergleichen Wörter übersetzt, wiewohl sie 7 übersetzbarer sind als Phrontisterion.
Wieland geht damit einen Schritt weiter als die antiken Erklärer, auf die sich seine Vorgänger in ihren Übersetzungen berufen. Er hat den Eindruck, dass es sich bei dem Wort '&$!'!&$ um eine Wortschöpfung handelt, die sich aus einem Spitznamen herleitet. Er belässt es aber nicht bei diesem ersten Eindruck, der ihm ‚in die Augen gesprungen‘ ist, sondern versucht, ihn zu belegen.8 So stellt er zunächst durch lexikalische Studien den ge5 6
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Vgl. Wielands Anmerkung in seinen Erläuterungen (Christoph Martin Wieland: Attisches Museum II 3 (=AM II 3), 1798, S. 1–124, hier: S. 46) und den Kommentar der Briefausgabe zu dieser Stelle (Wielands Briefwechsel, 14.2, S. 126). Wieland verweist in seinen Erläuterungen besonders auf Hesych und Pollux (Wieland: AM II 3, S. 39, vgl. auch S. 45). Hesych gibt für '&$!*· !#,&&! (Hesychii Alexandrini Lexicon post Ioannem Albertum recensuit Mauricius Schmidt, Ienae 1861, S. 259 Nr. 911, ['&$!: Philosophen]), für '&$!('!&$· !'!(. ") + &"μ ,"'%&)(. ") + *( )3&$. ") μ&$('!&$ (ebd., S. 259 Nr. 912, ['&$!'!&$: philosophische Unterweisung, auch Haus des Sokrates, auch Schule, auch Kloster]). Pollux schreibt unter dem Eintrag &!(( (Pollucis: Onomasticon e codicibus ab ipso collatis denuo edidit et adnotavit Ericus Bethe, Lipsiae 1900, 4,41; S. 213): [Sophist]: &-( & &!&.&)(, "/ ' ") &-( !#&,&)(, "%#&)$ '&$!%(, ") $ ! "# 3 & /! , 3 μ,$&$ ") ,# &-( ##$ ") '&$!('! [Man nannte diese, ebenso wie die Philosophen, '&$!, und ihre Lehrstätten nicht nur Schulräume und Schulen, sondern auch '&$!'!]. Zudem zitiert Wieland jüngere Erläuterungen dieser antiken Lexikoneinträge (vgl. Wieland: AM II 3, S. 36 zu Rudolf Walther). Wielands Briefwechsel, 14.104, S. 114. Für Wielands Argumentation vgl. seine Erläuterungen in: Wieland: AM II 3, S. 36–46.
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wöhnlichen Gebrauch der beiden Begriffe '&$!( und '&$!'!&$ fest. Dabei findet Wieland heraus, dass die den beiden Begriffen zugrunde liegenden Worte – das Verb '&$, und das Substantiv '&$( – immer mit dem Wortfeld ‚Sorge, Bekümmernis‘ bzw. ‚sorgen, sich um etwas kümmern, sich sorgliche Gedanken um etwas machen‘ zu tun haben. Bei Aristophanes könne es dann ‚meditieren‘ oder ‚mit Anstrengung nachdenken‘ bedeuten. Wieland schließt daraus, dass das Wort erst bei Aristophanes in Bezug auf Sokrates eine Nuance von ‚Grillenfängerei‘9 bekommen habe, er spreche davon „als von einer langweiligen, trübseligen, jämmerlichen Art von Beschäftigung, oder vielmehr Müßiggang“.10 Insofern sei '&$!( mitnichten ein neutrales Synonym für ‚Philosoph‘, sondern sei von Aristophanes als maliziöser Spitzname für Sokrates geprägt worden. Als scherzhaft-spöttische Ableitung von diesem Spitznamen habe Aristophanes dann in Analogie zu Worten wie !"'!&$ oder &)# )'!&$ das Wort '&$!'!&$ gebildet. Erst später seien diese beiden Wörter auf Grundlage des Aristophanischen Textes zu ‚Synonymen‘ für Philosoph und Philosophenschule geworden. Die Pointe der Aristophanischen Wortprägung und Neuschöpfung ist den früheren Übersetzern entgangen, da sie sich bei der Gleichsetzung ‚'&$!( = Philosoph‘ beruhigten und die Worte nicht auf ihren eigenen Gehalt befragten. Ihre Übersetzung ‚Philosoph/Philosophenschule‘ ist daher im Deutschen so unauffällig, dass jeder Leser darüber hinweggeht und niemand auf die Idee kommen kann, dass das Wort im Griechischen einen Anstoß oder eine Pointe birgt. Insofern haben sie in der Tat zu sehr auf den Buchstaben geachtet, und zu wenig den Geist – der in diesem Fall nahezu mit Aristophanischer Laune gleichzusetzen ist – im Blick gehabt. Was folgert Wieland aus diesen Wortstudien? Die erste Folgerung liegt auf der Hand: Wieland wird diese Worte natürlich nicht, wie es die Kommentare und einige Übersetzer der Wolken vorschlagen, einfach mit Philosoph oder Weisheitsschüler und Philosophenschule wiedergeben. Das erstaunt nicht, hat er doch herausgefunden, dass die Gleichsetzung von '&$9
Adelung erklärt, dass ‚Grille‘ in übertragener Bedeutung „eine mühsame mit Nachdenken verbundene Beschäftigung des Gemüthes“ bezeichne und unterscheidet vier Arten. Zur dritten Art schreibt er: „In noch engerer Bedeutung sagt man, doch nur im Plural, im gemeinen Leben und der vertraulichen Sprechart von jemandem, er habe Grillen, oder er mache Grillen, wenn er tiefsinnigen verdrießlichen Gedanken nachhängt, wenn er mürrisch, verdrießlich, eigensinnig ist, und diesen Zustand seines Gemüthesäußerlich merken lässet, da man denn einen solchen Menschen selbst auch wohl eine Grille zu nennen pflegt.“ (vgl. Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen, Leipzig 1793–1801) 10 Christoph Martin Wieland: Die Wolken des Aristofanes, in: AM II 3, S. 38.
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!( und Philosoph auf spätere Kommentatoren zurückgeht, die die spöttische Wortprägung des Aristophanes nicht mehr verstanden haben. Erstaunlich aber ist, wie Wieland diese Worte nun seinerseits wiedergibt: Wenn dies letztere [d.h. ‚Phrontisterion‘] ja verdeutscht werden müßte, so weiß ich nur Einen Weg: man müßte es das D e n k e r h a u s , (ad analogiam von Irrenhaus, Armenhaus, Waisenhaus, Krankenhaus, Spinnhaus, u.s.w.) dollmetschen; aber da brauchte es denn doch eben so gut eine Note, als wenn man es (wie ich zu thun gesonnen bin) geradezu beybehielte.11
Wieland also übersetzt das Wort gar nicht. Stattdessen lässt er es so, als griechisches Fremdwort, oder vielmehr als unübersetzbaren Eigennamen in seiner Übersetzung stehen. Der fragliche Vers in dem Dialog zwischen dem alten Strepsiades und seinem Sohn Pheidippides heißt bei ihm: „Siehst du das Pförtchen an dem Häuschen dort? / Ich seh es, und was ists damit, mein Vater? / Das ist ein F r o n t i s t e r i o n , mußt du wissen, / Da halten dir gar hochstudierte Männer Schule.“12 Mit dieser Art der Übersetzung war Böttiger durchaus nicht einverstanden. In einem nicht überlieferten Brief scheint Böttiger Wieland ernsthafte Vorhaltungen über seine Wiedergabe dieser Worte gemacht zu haben. Dies geht aus zwei Antwortbriefen Wielands an den Freund hervor. Zum einen scheint Böttiger Wieland vorgehalten zu haben, dass seine Kritiker ihm die Fähigkeit zu übersetzen absprechen würden, beließe er das griechische Wort in seinem Text. Dies hatte Wieland in seinem ersten Brief vom 24. November schon vorweggenommen, als er schrieb, seine Art und Weise, wie er sich ‚aus diesen Knoten extricire‘, würde wohl von vielen sehr getadelt werden. Dabei schien Wieland an den Vorwurf mangelnder Sprachkenntnis zu denken, denn er fügte hinzu: „[…] und gewiß, mißlingt einem Übersetzer der Alten manches bloß darum, weil er sich fürchtet, man möchte glauben, er verstehe das Wort nicht das er übersetzen soll“.13 Wenn Böttiger hingegen vor Kritikern warnt, scheint er eher an den Vorwurf mangelnder Einfallskraft beim Verdeutschen zu denken.14 Wieland lässt sich aber weder von dem einen noch dem anderen beirren. Er bleibt bei seiner Entscheidung, legt aber in einer ausführlichen Erläuterung15 zu dieser Stelle minutiös Rechenschaft von seinen Überlegungen ab, 11 12 13 14
Wielands Briefwechsel, 14.104, S. 114. Wieland: Die Wolken des Aristofanes, AM II 2, S. 77. Wielands Briefwechsel, 14.104, S. 114. Dies legt Wielands Antwort vom 4. Dezember nahe, in dem er Böttiger beruhigt, es werde niemand spotten, er, Wieland, habe sich bei seiner Übersetzung ‚nicht anders zu helfen gewusst‘ als mit dieser Art der Übersetzung. Für den genauen Wortlaut des Briefes vgl. das folgende Zitat. 15 Neben den Fußnoten gibt Wieland seiner Wolken-Übersetzung am Ende ausführliche Erläuterungen bei. Die erste trägt den Titel ‚Ueber die Wörter '&$!(, '&-
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die ihn dazu geführt haben, so zu übersetzen (oder eben nicht zu übersetzen), wie er es an dieser Stelle tut. Am 4. Dezember 1797 schreibt Wieland dann an Böttiger: Caro amico, die Steine des Anstoßes sind nun, wie ich glaube, weggeräumt; Sie werden die Unlust nicht haben, die Detractoren Ihres Freundes Wieland darüber hohnlachen zu sehen, daß er sich in seinen alten Tagen nicht anders zu helfen wußte als '&$16 !'!&$ u[nd] '&$!( durch Frontisterion und Frontist […] zu übersetzen.
Nach Wielands Antwort zu urteilen, muss Böttiger zum anderen aber auch einen sachlichen Einwand geäußert haben; denn er scheint Wielands Überlegungen zu '&$!( damit erschüttert zu haben, dass er ihm entgegenhielt ‚'&$!( ist ein Grübler‘.17 Gegen Böttigers Gleichsetzung von '&$!( und Grübler wendet sich Wieland in einem ausführlichen Brief vom 30. November. Ihm sei keine Stelle in der griechischen Literatur bekannt, in der das Verb '&$ !$ notwendig mit ‚grübeln‘ übersetzt werden müsse. Auch seine Lexika gäben die Bedeutung ‚grübeln‘18 nicht an. Grübeln sei nicht zu verwechseln mit sinnieren, staunen, nachsinnen. Und er schließt: Da Frontistes weder mehr noch weniger ist als einer, der f r o n t i z i e r t , so bedeutet es also nicht einen Grübler, sondern einen tiefsinnigen, spekulativen Menschen, dem das meditieren u[nd] staunen habituel geworden ist, der orden[t]lich Profession davon macht; und so wurde dies Wort auch in spätern Zeiten genommen, da $! !$, '&$!( und '&$!'!&$.‘ und umfasst nicht weniger als 11 Seiten, vgl. Wieland: Die Wolken des Aristofanes, AM II 3, S. 35–47. Dort führt Wieland etliche Belegstellen für den Gebrauch des Wortfeldes in der Literatur vor und nach Aristophanes’ Wolken an und legt ausführlicher dar, was er in dem Brief an Böttiger zum Teil nur andeutet. 16 Wielands Briefwechsel, 14.113, S. 121. 17 Nachdem Wieland bereits eine Weile der Frage nachgegangen ist, ob '&$!( Grübler heißen könne, schreibt er in einer Art Nachschrift: „Verzeihen Sie mir, liebster Böttiger, alle dies Gesudel, und besonders nichts für ungut, vor allem was ich über Frontist u[nd] Frontisterium gekakelt habe. Gott weiß daß ich mir nicht im Traum einfallen lasse, in solchen Dingen etwas besser zu wissen als Sie – Indessen konnte doch alle meine Bescheidenheit nicht verhindern, daß mich das peremtorische ‚ ' & $ ! ( i s t e i n G r ü b l e r ‘ (wodurch meine Zweifel über dieses Wort und die viele Mühe, die ich mir bereits damit gegeben hatte, auf einmahl mir selbst in einem sehr lächerlichen Licht erscheinen mußten) ein wenig in die Nase biß pp. –“ (Wielands Briefwechsel, 14.110, S. 119). 18 Adelung nennt als ‚figürliche‘ Bedeutung des Verbs ‚grübeln‘ „einer Sache nach allen auch den kleinsten Umständen mühsam nachdenken, so wohl im guten Verstande, als auch im nachtheiligen, mühsame aber unnütze, vergebliche Betrachtungen und Untersuchungen anstellen.“ Ein ‚Grübler‘ ist demnach laut Adelung „eine Person, welche zu mühsamen, und in engerer Bedeutung zu mühsamen und unnützen Untersuchungen und Betrachtungen geneigt ist“ (vgl. Adelung: Grammatischkritisches Wörterbuch).
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man die dem k o n t e m p l a t i v e n L e b e n , nicht dem Grübeln, ergebenen christlichen Einsiedler u[nd] Mönche F r o n t i s t e n , u[nd] ihre monasteria gelegentlich auch F r o n t i s t e r i a nannte. Eben so bin ich intime persuasus, daß Sokrates den 19 Übernahmen (Nick-name) Frontistes, der ihm, teste Xenophonte , zu Athen von einigen aufgebracht worden, nicht wegen seiner Neigung zum G r ü b e l n erhielt, sondern wegen seiner bekannten, von seinen besten Freunden selbst eingestandnen 20 habitude , sich oft mitten in Gesellschaft ja sogar auf der Straße einer Folge von Gedanken dergestalt zu überlassen, daß er (für eine kurze Zeit vermuthlich) nicht wußte oder nicht zu wissen schien, wo er war und was um ihn vorging; eine Art von Distrakzion, die ihm, wenn sie ihn befiel, das Ansehen eines Verzückten Men21 schen, c‚u‘jus animus peregre est sine corpore velox, gaben, und dem großen Haufen der alltäglichen Menschen, zumahl der immer lebhaften, flüchtigen, sinnlichen Athener ungleich mehr a u f f a l l e n mußte, als seine ihm weit weniger ge22 wöhnliche Neigung zu grübeln.
Um das rechte Wort für seine Übersetzung zu finden, bezieht Wieland also verschiedene Überlegungen ein. Zunächst betreibt er Wortstudien – er konsultiert Lexika und Kommentare und versucht, sich Klarheit über die Geschichte des Wortes zu verschaffen. Er greift aber auch auf Platons und Xenophons Beschreibungen des Sokrates zurück, um sich eine präzise Vorstellung davon zu machen, was Aristophanes meinen könnte, wenn er Sokrates als '&$!( bezeichnet. Zudem stellt Wieland den Kontext des Wortes in Rechnung: es steht in einer Komödie, die eine Person dem Spott preisgibt. Dabei sind dem Komiker Aristophanes Wortschöpfungen, die diese spöttische Note unterstreichen können, durchaus zuzutrauen.23 Es ist 19 Vgl. Xenophon, Symposium, Smp. 6,6–8; auf diese Stelle verweist Wieland in seinen Erläuterungen zu den Wolken (Wieland: Die Wolken des Aristofanes, AM II 3, S. 40ff.). 20 So z.B. Platons Erzählung einer solchen Situation zu Beginn seines Symposium, Smp. 174 d 5. 21 In der Briefausgabe steht an dieser Stelle ‚cajus‘. Dies muss verlesen sein für ‚cujus‘. 22 Wielands Briefwechsel, 14.110, S. 116f. Ein wenig später, S. 119, fügt Wieland noch ein weiteres Argument an: „Wegen Frontistes fällt mir noch bey, daß der Aristofanische Sokrates im 266 Verse in der feyerlichen Citation der Wolken sich s e l b s t so nennt; und daß es also wenigstens an d i e s e r Stelle nicht durch Grübler gegeben werden kann.“ 23 Vgl. Wieland in seiner Erläuterung (Wieland: Die Wolken des Aristofanes, AM II 3, S. 35f.): es sei zu prüfen, ob die Wörter „nicht durch ihn [d.h. Aristophanes] selbst, und den Gebrauch, den er in dieser Komödie von ihnen gemacht, einen neuen Sinn, den sie zuvor nicht hatten, bekommen haben könnten? Es wäre doch wohl nicht das erste Mahl, daß ein allgemein beliebter populärer Schriftsteller seine Sprache auf diese Weise bereichert, und die Ehre (wenn es eine ist) gehabt hätte, daß ein von ihm zuerst unter einem besondern Stempel ausgemünztes Wort für gültig anerkannt, und unter dieser Bedeutung in der Sprache gäng und gäbe geworden wäre.“ Und einige Seiten später, S. 40: „Meiner Meinung nach war das Wort F r o n t i s t e s , bevor unser Dichter den Sokrates und seine Freunde (oder S c h ü l e r ,
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also mit der Möglichkeit eines ungewöhnlichen Wortgebrauches zu rechnen. All diese Überlegungen gehen aus einem ersten Eindruck hervor, der Wieland ‚in die Augen gesprungen‘ ist und den er dann zu belegen versucht. Dabei legt er dar, was ihn hat aufmerken lassen, und begründet seine Überlegungen – zunächst in seinem Brief an Böttiger, später sehr viel ausführlicher und mit zahlreichen Belegstellen in seiner Erläuterung. Ebenso, wie er selbst Gründe für seine Überlegungen und seine Übersetzung angibt, fordert Wieland sie auch von anderen, ehe er sich überzeugen ließe, dass eine Übersetzung wie ‚Weisheitsschule‘ zu billigen sei.24 Eine solche Übersetzungsmethode, die ohne größere Bedenken eins durchs andere ersetzt, scheint nicht nur in diesem einen Fall, bei der Verdeutschung des Wortes '&$!(, sondern grundsätzlich Wielands Missfallen zu erregen. Dies wird an seiner ersten Reaktion auf die WolkenÜbersetzung von Christian Gottfried Schütz aus dem Jahre 1784 deutlich. Wieland notiert seinen ersten Eindruck in dem bereits zitierten Brief vom 30. November an Böttiger: Da das Heft der Litterarischen Spaziergänge, das Sie so gütig waren mir mitzutheilen, noch u n a u f g e s c h n i t t e n war, und also zu vermuthen ist, daß Sie dieses stupendum opus nicht selbst gelesen haben, so will ich Ihnen zu einer Probe, nur etliche kleine Stellen abschreiben. Das Stück fängt gleich so an:
vers 210–12.
vers 219.
„O Ha! O J e m i n e ! A c h d u l i e b e s V ä t e r c h e n ! Sind doch die Nächte heuer ganz abscheulich lang! – P o t z N a c h t u n d k e i n E n d e “ – – etc. etc. etc. „ – Da liegt die Insel Euböa; siehst du, wie sie sich da in d i e L ä n g e h i n s t r e c k t ? S t r e p s i a d e s . Ey es wäre ja kein Wunder, w e n n s i e a l l e v i e r e v o n s i c h s t r e c k t e ; wir und Perikles haben, sie ja wohl g e n u g z e r z a u ß t “ etc. „O ihr Diener mein theuerster Herr Sokrates! –
wie er sie nennt, wiewohl Sokrates keine Schule hielt,) zum S p o t t e damit belegte, noch kein ü b l i c h e s Wort, wiewohl '&$! !$ aber immer in Verbindung mit einer dunkeln Vorstellung von Sorge, Kummer, saurer oder gar vergeblicher Mühe und dergleichen, auch im gemeinen Leben schon gewöhnlich seyn mochte. Und eben wegen dieser N e b e n b e d e u t u n g schickte sich das vom Aristofanes ausdrücklich für den Sokrates gestempelte Wort F r o n t i s t e s vortreflich zu der Absicht, ihn nicht nur für den Moment lächerlich zu machen, sondern ihm einen im Munde des großen Haufens b l e i b e n d e n S p i t z n a h m e n anzuhängen.“ 24 Vgl. S. 106. Vgl. auch Wielands Briefwechsel, 14.110, S. 116; dort schreibt Wieland, er lasse sich „vermöge meines angebohrnen Unglaubens, nur durch augenscheinliche Citata aus Attischen Schriftstellern handgreiflich des Irrthums“ überführen und davon überzeugen, dass '&$ !$ doch grübeln heißen könne.
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Hör er doch, Junkerchen, ruf er doch laut, daß ers hört“ etc. etc. vers 280. „S o k r a t es. Nun höre doch, willst du dich m i t d e m r e i n e n D e i s m u s recht gründlich bekannt machen.“ / etc. 340.41. Strepsiades. Aber mit Verlaub daß ich fragen mag, wie gehts denn zu, wenn das die Wolken sind, daß sie wie o r d e n t l i c h e W e i b s m e n s c h e n aussehen?“ / etc. Aus der Anrede des Wolken-Chors / an die Spectatores „ – Ihr laßt von dummen Gecken Euch blenden, übertölpeln, necken Und führen an der Nas herum Und überlaßts den Göttern, was ihr dumm Habt angefangen, klug hinaus zu führen. etc. 587.f. ! ' )&)#$ 2 2 /,# ! /'& 3$!: ) μ $ &)( $ μ 3( %μ', /! #!&$ / ' / !$ Man muß gestehen, Aristofanes, in diesem gusto verdeutscht, wird zu einem so schnakischen Kerl, daß er sich sogar in der Wiener Neustatt producieren dürfte: aber wie Hr. Schütz schreiben konnte, ‚er habe sich so genau an das Original gehalten, als es der g u t e G e s c h m a c k e i n e r Ü b e r s e t z u n g eines k o m i s c h e n S t ü c k s erlaube‘ geht über meinen Verstand. Wenn das der g u t e Geschmack ist, was mag wohl der schlechte seyn? F r o n t i s t e s giebt Hr. Schütz durch W e i s h e i t s s c h ü l e r , und Frontisterion durch Filosofenschule. – So könnt’ ichs freylich auch, wenn’s seyn müßte, und so flekts auch, und man wird fein bald fertig. In eben dieser bequemen Manier heißt ihm der !"!&( u[nd] !"&( #&&(, Worthalter der Justiz und Worthalter der Schikane. Das braucht, wie Sie sehen, nicht viel Kopfzerbrechens. Wenn ich es über mich gewinnen könnte, auf diesem breiten Wege einher zu traben, wie viel kostbare Zeit und undankbare Mühe könnt’ ich 25 mir ersparen!
Was ruft Wielands Kritik an der Schütz’schen Übersetzung hervor? Er meint, dass Schütz zum einen den guten Geschmack verfehle und dass er sich zum anderen die Arbeit zu leicht mache. Er nimmt einen ‚breiten Weg‘ und übersetzt in einer ‚bequemen Manier‘. Diese Manier bezeichnet
25 Wielands Briefwechsel, 14.110, S. 117f. Die Versangaben, die Schütz selbst nicht verzeichnet, beziehen sich (jedenfalls annäherungsweise) auf den griechischen Text (die Versangabe 280 muss verschrieben sein für 250; in moderner Verszählung handelt es sich um die Verse 1–3; 211–213; 219f.; 250f.; 340f.; 587ff.). Ich folge in allem der Abschrift Wielands. In einigen Punkten weicht sie vom Schütz’schen Original ab. So sind alle Hervorhebungen (im Sperrdruck markiert) und alle Versabtrennungen (außer in dem zuletzt zitierten Stückchen des Chores) von Wieland. Weitere Abweichungen gebe ich hier für jedes der Zitate einzeln an, jedoch nicht geringere Abweichungen in der Orthographie (z.B. wol/wohl u.ä.). An erster Stelle ist jeweils der Wortlaut bei Schütz genannt. 2. Zitat ‚wär‘ statt ‚wäre‘. 4. Zitat: ‚höre nur‘ statt ‚höre doch‘. 5. Zitat: ‚geht es‘ statt ‚gehts‘.
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Wieland als ‚quid pro quo‘26, als ein gedankenloses Ersetzen des Einen durch das Andere, die dem Übersetzer nicht allzu viel Kopfzerbrechen bereitet. Für sich selber nimmt Wieland eindeutig anderes in Anspruch: „[…] denn, was den Übersetzer von anno 1784. betrift (daß es Schützius noster sey höre ich von Ihnen zum er[s]tenmahl mit Schrecken) so gebe ich es auf, etwas von dem Liebling der Grazien [d.h. Aristophanes] zu übersetzen, wenn die S c h i k a n e d e r s c h e M a n i e r , worin er ihn offenbar t r a v e s t i e r t 27 hat, die r e c h t e ist.“28 Detailkritik übt Wieland nicht. Er belässt es bei der eben zitierten allgemeinen Einschätzung. Gleichwohl kann man, meine ich, versuchen, ein klareres Bild von den Dingen zu gewinnen, an denen Wieland Anstoß nimmt, indem man Wielands eigene Übersetzung der entsprechenden Verse heranzieht und sie besonders mit den von Wieland markierten Ausdrücken in der Schütz’schen Version kontrastiert. Dabei fällt auf, dass Wieland gerade solche Stellen hervorhebt, an denen Schütz allzu sehr in die Sprache und Ausdrucksweise seiner eigenen Zeit verfällt, wobei er mitunter auch vor umgangssprachlichen Ausdrücken oder gar Jargon nicht haltmacht. Dazu seien im Folgenden einige wenige Hinweise gegeben. Die Anfangsverse der Komödie lauten im Griechischen: &- &.. # 4 !# 4, + *'1μ 5$ $)"5$ &$· /''$&$. & '/& μ'' $( !;
Wieland übersetzt: I-u! I-u! – Allmächt’ger Jupiter! 26 Vgl. Wielands Briefwechsel, 14.110, S. 119 im selben Brief: „Ich liebe aber die quid pro quo, à la Schütz nicht, und werde nicht ruhen, bis ich auf die eine oder andre Art, den bestmöglichsten Weg aus der Sache zu kommen, gefunden habe.“ 27 Wieland bezeichnet Schütz’ Übersetzung hier und an einer weiteren Stelle in diesem Brief sowie in einem Brief vom 19. Dezember 1797 (Wielands Briefwechsel, 14.123, S. 131) als ‚Travestie‘. Seine eigene Übersetzung nennt er, soweit ich sehen kann, nirgends so. 28 Wielands Briefwechsel, 14.110, S. 117. Dies ist Wielands erster Eindruck. Schon in einer Nachschrift desselben Briefes, schreibt er, S. 119f.: „Ich habe nun das letzte Drittel der Ritter nochmahls überarbeitet u[nd] ausgefeilt, und hoffe nicht so copios in cineres Aristophanis mingiert zu haben als Illustrissimus Schützius, dem übrigens doch die Gerechtigkeit gebührt zu bekennen daß seine Travestierung, den g u t e n G e s c h m a c k abgerechnet, das Werk eines Meisters, u[nd] nicht, wie die des eingebildeten Herwigs, eines Pfuschers u[nd] Stümpers ist.“ Im Vorbericht der Wolken (Wieland: Die Wolken des Aristofanes, AM II 2, S. 62) lobt Wieland Schütz als „einen der gelehrtesten und talentvollsten Koryfäen der griechischen Musen unsrer Zeit“. Er kritisiert zwar auch hier, dass Schütz sich vom ‚guten Geschmack‘ einen „allzu l a t i t u d i n a r i s c h e n Begriff gemacht hätte“, bekennt aber, dass er ihm vieles zu verdanken habe und auch manchen Ausdruck von ihm abgeborgt habe. So auch Wielands Briefwechsel, 14.123, S. 131.
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Was das für ewig lange Nächte sind! Wird’s denn nie wieder tagen?29
Er folgt dem griechischen Text also sehr genau: der Klageruf i-u, i-u wird beibehalten, ebenso der Name des Götterkönigs, wenn auch in der latinisierten Form. Schütz hingegen gibt den griechischen Klageruf und die Anrufung des Zeus mit „O ha! O Jemine! Ach du liebes Väterchen!“ wieder. ‚Jemine‘ ist jedoch im Deutschen eher ein Ausruf des Erstaunens oder des Schreckens.30 Schütz schlägt also einen völlig anderen Ton an. Zudem ebnet er mit seiner Übersetzung einen möglichen Anstoß ein, indem er den für die griechische Tragödie typischen Ausruf durch einen anderen ersetzt, der seiner eigenen Zeit angehört. Damit wird bei Schütz zu Anfang nicht deutlich, dass es sich bei diesen Versen um eine Übersetzung handelt, dass also der Ausgangstext einer fremden Kultur und Zeit angehört. Zudem geht die Pointe verloren, dass eine Komödie mit einem Ausruf beginnt, der eigentlich der Tragödie zugehört, wodurch der Sprecher in einer bestimmten Weise charakterisiert wird. Wieland hingegen signalisiert all dies gleich im ersten Vers, indem er das für die griechische Tragödie typische Wehgeschrei, das hier am Anfang der Komödie steht, belässt. Auch Schütz’ ‚Väterchen‘ lässt sich als eine Einebnung und Glättung verstehen. Er meidet den Namen des Götterkönigs, der klar in die andere, fremde Vorstellungswelt der Antike verwiese. Wieland hebt sodann ‚Potz Nacht und kein Ende!‘ hervor; denn diese Fügung ist zum einen recht zeitspezifisch31, zum anderen hat sie keinerlei Entsprechung im Aristophanischen Text, an den sich Wieland sehr genau hält. Zu dem zweiten Beispiel, das Wieland mit „und siehst du, hier daneben / Z i e h t sich E u b ö a mächtig weit hinaus. // Ich weiß es; wir und Perikles, wir haben / Sie brav g e z o g e n .“ wiedergibt, äußert er sich in einer Fußnote folgendermaßen: „Wieder einmahl ein doppelsinniges Wort, das sich zum Glück auch in unsrer Sprache findet.“32 Mit ‚zieht sich‘ und ‚gezogen‘ gibt Wieland recht glücklich ein Wortspiel mit dem griechischen Wort /' $, wieder.33 Schütz versucht zwar, es mit ‚in die Länge hin29 Wieland: Die Wolken des Aristofanes, AM II 2, S. 69. 30 Vgl. Jacob Grimm/Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Leipzig 1854–1954, Art. „Jemine“, Bd. 10, Sp. 2304. 31 Vgl. die Beispiele, die Grimms Deutsches Wörterbuch zu „potz“ anführt. Hingewiesen wird u.a. auf Lessings Minna von Barnhelm (III/4): „potz geck und kein ende!“ Oder auf „eine sammlung alter gesetze! potz! da müssen auch wohl die zehen Gebote drinne stehen.“ aus der Szene „Der Bischöfliche Palast in Bamberg. Im Speisesaal“ in Goethes Götz, u.ä. (Grimm: Deutsches Wörterbuch, Art. „potz“, Bd. 13, Sp. 2039). 32 Wieland: Die Wolken des Aristofanes, AM II 2, S. 89. 33 Im Griechischen lauten die Verse: ' &!, ( '0(, / ) /''! μ"'$ /,'', /%$). / & · /+ $'μ5$ /' % ") '!"#'&)(.
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streckt‘ und ‚alle viere von sich streckte‘ ebenfalls beizubehalten, fügt dann aber paraphrasierend ein weiteres Verb, zerzausen, hinzu, das wiederum seinem eigenen Sprachregister entstammt. In der dritten Passage hebt Wieland keinen Ausdruck besonders hervor. Es lohnt sich aber, einen Blick auf den Originaltext und Wielands eigene Version zu werfen. Im Griechischen steht: # /"' (.34 / &&(, $,&$ ,$ μ&! μ'. Wieland übersetzt: „O Sokrates! - / Du, schrey für mich, so laut du kannst, zu ihm / Hinauf.“ Wiederum bleibt Wieland sehr eng am Griechischen. Er beginnt wie Aristophanes mit dem schlichten, direkten Anruf ‚O Sokrates‘. Bei Schütz wird daraus ‚mein theuerster Herr Sokrates‘, eine Fügung, die ohne erhebliche Erweiterungen des Wortlauts nicht auskommt und überdies ganz ungriechisch ist. ‚Hör er doch, Junkerchen, ruf er doch laut, daß ers hört‘ ist dadurch etwas schwierig, dass das Pronomen ‚er‘ sich in den beiden ersten Fällen auf das ‚Junkerchen‘ (damit meint Schütz einen der Schüler des Sokrates!) bezieht, das hier in der 3. Person angesprochen wird, während es sich beim dritten Mal auf Sokrates bezieht. Wenn Schütz den Schüler hier in der 3. Person anspricht, mag er damit dem griechischen &&( Rechnung tragen. Das Demonstrativum hat jedoch, wenn es in der Anrede verwendet wird, die Bedeutung von ‚he, du da‘. Das findet bei Wieland in seinem ‚du, schrey für mich‘ einen sehr angemessenen Ausdruck. In den beiden folgenden Beispielen hebt Wieland in der Schütz’schen Übersetzung ‚reiner Deismus‘ und ‚ordentliche Weibsmenschen‘ hervor. Mit diesen Wendungen gibt Schütz $ 3 /'%μ, das Wieland sehr wörtlich mit ‚die göttlichen Dinge‘ übersetzt, und $3( )$!%*$, bei Wieland ‚sterbliches Frauenvolk‘, wieder. Beide Male nimmt sich Schütz einige Freiheit in der Wahl der Attribute; ‚rein‘ fügt er von sich aus hinzu, ‚ordentlich‘ schreibt er statt ‚sterblich‘. In Verbindung mit diesem Attribut hat seine Fügung einen eher derben Ton, den es im Original an dieser Stelle nicht gibt. ‚Deismus‘ statt ‚göttliche Dinge‘ wiederum bringt nicht nur einen fremden Ton hinein, sondern einen Begriff, der deutlich in Schütz’ eigene Zeit gehört, eine völlig eigene Vorstellung hervorruft und daher in der Übersetzung einer griechischen Komödie ganz unverständlich ist. Schließlich schreibt Wieland eine letzte Passage ab. Entgegen seiner sonstigen Praxis setzt er hier zu der Schütz’schen Übersetzung den griechischen Text hinzu; wohl in der Absicht, dass gleich ersichtlich wird, wie sehr Schütz das Original erweitert hat. Wieland selbst übersetzt etwas frei, aber gleichwohl sehr viel wörtlicher als Schütz: „denn wie die Rede / Geht, so hat nun einmahl Eure Stadt das Unglück / Schlecht berathen zu seyn; 34 Wilson druckt ! ,"'%(. Ich behalte den Vokativ im Text, da Wieland ihn in seiner Übersetzung zugrunde legt.
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hingegen / Auch das Glück, daß wenn ihr etwas / Dummes macht, die Götter es immer zum Besten kehren.“35 Schütz gibt hier eher eine Erläuterung als eine Übersetzung. Er erklärt, worin die personifizierte )&)#, das personifizierte Schlecht-Beratensein, besteht: in der Neigung, sich von dummen Gecken blenden, übertölpeln, necken und an der Nase herumführen zu lassen. Dieses paraphrasierende, auslegende ‚Übersetzen‘ geht Wieland – wie seine eigene, textnähere Übersetzung zeigt – offenbar zu weit. Mir scheinen Wielands Hervorhebungen in der Schütz’schen Übersetzung und der Vergleich der von ihm ausgewählten Stellen mit seiner eigenen Übersetzung sehr erhellend für ein besseres Verständnis von Wielands Überlegungen zum Übersetzen zu sein. Abgesehen von den beiden Beispielen, in denen Wieland einmal ein verlorengegangenes Wortspiel anmerkt und einmal eine allzu freie erläuternde Paraphrase heraushebt, scheint seine Kritik zumeist darauf zu gehen, dass Schütz manches allzu unbekümmert in der Sprache seiner eigenen Zeit sagt bzw. dass er seine eigene Gegenwart in das Fremde hineinträgt und es dadurch nicht mehr als fremd erscheinen lässt. So wird der Anstoß bei '&$!'!&$ beseitigt, der fremdartige Jammerlaut i-u fällt ebenso weg wie der fremde Göttername und wird durch Eigenes ersetzt; mit Deismus wählt er an anderer Stelle einen Begriff aus den Diskursen seiner Zeit. Gegen ein derartiges Einebnen der Unterschiede verschiedener Zeiten und Kulturen hat sich Wieland verschiedentlich gewendet. Er bekundet sein Unbehagen an Übersetzern, die ihre eigenen Zeitverhältnisse und ihr zeitspezifisches Vokabular in ihre Übersetzungen hineintragen, beispielsweise in einem Brief an Böttiger. Darin bittet er ihn um eine Beurteilung seiner Cicero-Übersetzung und nennt ihm unter verschiedenen Punkten, die Böttinger besonders im Auge behalten solle, auch den folgenden: 2) Ob ich, wo nicht immer, doch meistens, den rechten M i t t e l w e g zwischen einer ängstlichen, schulgerechten, wörtlichen, und einer so freyen, daß sie sich an Ciceros Ausdrücke gar nicht kehrt, beobachtet habe. Ich möchte eben so wenig übersetzen wie der brave, gelehrte u[nd] verständige Rector Damm vor 70 Jahren, noch wie Melmoth, der den Cicero durchaus schreiben läßt wie er geschrieben hätte wenn er etwa ein Addison oder Richardson oder Walpole gewesen wäre und an36 no 1750 zu London gelebt hätte. 35 Wieland: Die Wolken des Aristofanes, AM II 2, S. 124f. 36 Brief vom 30. September und 4. Oktober 1807, Wielands Briefwechsel, 17.245, S. 257f. Vgl. eine ähnliche Bemerkung Wielands, die Böttiger am 24. Januar 1796 im Zusammenhang mit der rechten Art, den Isokrates zu übersetzen, notiert (Karl August Böttiger: Literarische Zustände und Zeitgenossen. Begegnungen und Gespräche im klassischen Weimar, Berlin 1998, S. 178): „Meine Uebersetzung soll möglichste Approximation zum Autor selbst seyn. So haben aber z.B. weder Auger noch Gillis den Isokrates übersetzt. Jener hat einen vornehmen Prälaten, der eine eloge funebre halte, dieser einen Landkanzler Thurlow aus ihm gemacht.“
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Dass er vermeiden wollte, dass sein Cicero in einem zeitgenössischen Ton spricht, wiederholt Wieland in der Vorrede zu seiner Cicero-Übersetzung: Klarheit und Verständlichkeit ist mein erstes Augenmerk, und vermuthlich auch die erste Foderung der Leser, die ich zu finden hoffe. Indem ich dem Cicero so gutes Deutsch als ich selbst gelernt habe, leihe, bin ich weit von dem Gedanken entfernt, ihn schreiben zu lassen, wie er vielleicht geschrieben hätte, wenn er ein 37 Deutscher unsrer Zeit, zumahl der neuesten, gewesen wäre.
Obwohl sich Wieland hier sehr deutlich gegen Übersetzungen ausspricht, die die Sprache der eigenen Zeit sprechen, hat dies in Äußerungen zu Wielands Übersetzungsstil nicht hinreichend Beachtung gefunden. So schreibt etwa Manfred Fuhrmann: Wieland „stimmte in letzter Instanz mit Georg Venzky, der um die Jahrhundertmitte maßgeblichen Autorität in puncto Übersetzen, überein: eine Version ins Deutsche solle nach Möglichkeit das Aussehen eines Originals haben; der übersetzte Autor müsse so reden, wie er geredet hätte, wenn er ein zeitgenössischer Deutscher gewesen wäre.“38 Wenn Fuhrmann Wieland hier zusammen mit Venzky nennt, entspricht dies seiner Auffassung, dass Wieland noch ganz den Übersetzungsprinzipien der Aufklärung verpflichtet gewesen sei.39 Die Übersetzer dieser Zeit hätten großen Wert auf gute Lesbarkeit und leichte Verständlichkeit im Deutschen gelegt, daher aber auch Abweichungen vom eigentlichen Original in Kauf genommen – etwa Auslassungen, Paraphrasen oder eine „ex37 Christoph Martin Wieland: M. Tullius Cicero’s sämmtliche Briefe, Bd. 1, Zürich 1808, S. XXI. 38 Manfred Fuhrmann: Von Wieland bis Voss: Wie verdeutscht man antike Autoren?, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1987, S. 1–22, hier: S. 5. Dieses Fuhrmann’sche Missverständnis ist seltsam, er wiederholt es jedoch auch in seiner Dankrede für die Verleihung des Johann-Heinrich-Voss-Preises für Übersetzung, der ihm 1990 für seine Cicero-Übersetzung zuerkannt wurde. Es heißt dort (ders.: Rehabilitierung der Beredsamkeit und Rhetorik. Dankrede, in: Jahrbuch der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 1990, S. 59–62, hier: S. 60), dass nach Wielands Auffassung ein ins Deutsche übersetzter Autor so sprechen müsse, „wie er gesprochen hätte, wenn er sich von Hause aus des Deutschen bedient hätte, und zwar des Deutsch, das dem Übersetzer und seinem Publikum geläufig ist.“ Er selber wolle sich, wenn er auch Wirkungsäquivalenz anstrebe, nicht auf Wieland berufen, denn ein zeitgenössisches Deutsch habe er seinen Cicero nicht sprechen lassen wollen. In ihrer Besprechung dieser Dankrede verweist Nina Mindt zwar auf das Wieland-Zitat aus der Cicero-Vorrede, bemerkt aber lediglich: „Fuhrmann hätte sich in diesem Punkt also ohne weiteres auf den späteren, zeitkritischeren Wieland berufen und konsequenter eine ‚Neue Aufklärung‘ […] ankündigen können.“ (Nina Mindt: Manfred Fuhrmann als Vermittler der Antike. Ein Beitrag zu Theorie und Praxis des Übersetzens, Berlin/New York 2008, S. 99) In Anmerkung 440 fügt sie hinzu: „Der Zusatz, sich nicht vollkommen dem zeitgenössischen Sprachstand des Deutschen anzupassen, hätte Fuhrmanns Distanzierung von Wieland überflüssig gemacht.“ 39 Fuhrmann: Von Wieland bis Voss, S. 3.
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plizierende Ausweitung des Originals“.40 Ihr Bestreben sei nämlich gewesen, „durch ‚freies‘, auf die Gegebenheiten der Zielsprache Bedacht nehmendes Übersetzen ein dem Original in etwa ebenbürtiges Werk zu schaffen.“41 Dies erreichen zu können, sei für sie vorstellbar gewesen, da sie von der ‚prinzipiellen Unübersetzbarkeit‘ literarischer Texte noch nichts gewusst hätten.42 Wenn Fuhrmann hier von einem ‚noch nicht‘ spricht, denkt er im Gegensatz zu dieser frühen Praxis an die Übersetzer des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Da habe man eingesehen, dass in der Übersetzung kein dem Original ebenbürtiges Werk geschaffen werden könne. Eine Übersetzung „sollte nur noch zu ihm hinführen dürfen, indem sie die Eigentümlichkeiten des ursprünglichen Sprachgewandes im Medium der Zielsprache abzubilden suchte.“43 Für diese zweite Art des Übersetzens verweist Fuhrmann auf Schleiermacher und Humboldt als wichtigste Repräsentanten. Fuhrmann unterscheidet also zwischen einer frühen Übersetzungspraxis der Aufklärung, die sehr frei mit ihrem Original umgegangen ist, durch Paraphrasen u.ä. den Text leichter verständlich und für die Zeitgenossen leichter zugänglich machen wollte, und einer späteren, die auf die Gegebenheiten des Originals eher Rücksicht genommen habe und zu ihm hinführen sollte. Wieland erscheint ihm eindeutig als Vertreter der frühen Zeit: „Offensichtlich redete Wieland einem glättenden, einebnenden Anpassen an den Geschmack der eigenen Zeit das Wort“.44 Damit scheint Fuhrmann ganz unter dem Eindruck dessen zu stehen, was Goethe 1813 in seiner Logenrede „Zu brüderlichem Andenken Wielands“ zu Wielands Übersetzen formulierte: Es gibt zwei Übersetzungsmaximen: die eine verlangt, daß der Autor einer fremden Nation zu uns herüber gebracht werde, dergestalt, daß wir ihn als den unsrigen ansehen können; die andre hingegen macht an uns die Forderung, daß wir uns zu dem Fremden hinüber begeben, und uns in seine Zustände, seine Sprachweise, seine Eigenheiten finden sollen. Die Vorzüge von beiden sind durch musterhafte Beispiele allen gebildeten Menschen genugsam bekannt. Unser Freund, der auch hier den Mittelweg suchte, war beide zu verbinden bemüht, doch zog er als Mann von 45 Gefühl und Geschmack in zweifelhaften Fällen die erste Maxime vor. 40 Manfred Fuhrmann (Hg.): Christoph Martin Wieland. Übersetzung des Horaz, Frankfurt a.M. 1986, S. 1093, vgl. auch Fuhrmann: Von Wieland bis Voss, S. 6. 41 Fuhrmann: Christoph Martin Wieland, S. 1089. 42 Vgl. Fuhrmann: Von Wieland bis Voss, S. 5. 43 Fuhrmann: Christoph Martin Wieland, S. 1089. 44 Fuhrmann: Von Wieland bis Voss, S. 6. 45 Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, Münchner Ausgabe, hg. von Karl Richter, München 1985–1998, Bd. 9, 1987, S. 955. Fuhrmann (Christoph Martin Wieland, S. 1093f.) beruft sich ausdrücklich auf diese Goethe’sche Formulierung. Während Goethe ganz allgemein zwei verschie-
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Zwar konzediert Goethe hier, dass Wieland beide Maximen zu verbinden bemüht war, sagt aber doch, dass Wieland in zweifelhaften Fällen die erste Maxime bevorzugt habe; diejenige nämlich, durch die das Fremde ins Eigene geholt würde. Goethes Unterscheidung dieser zwei Maximen und sein Urteil über die von Wieland bevorzugte hat sich als sehr prägend erwiesen46 und ist auch später in ähnlicher Weise formuliert worden. So schreibt etwa Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: „Wieland hat gewiß das Richtige zu leisten versucht; aber er hat als der richtige Sohn des unhistorischen Jahrhundert ohne Arg die eigene Weise in alles Fremde hineingetragen.“47 Selbst wenn in Bemerkungen zum Wieland’schen Übersetzen zugestanden wird, dass Wieland mitunter auch der zweiten Goethe’schen Maxime gefolgt sei und Fremdes als Fremdes habe stehen lassen, dass er manche Schwierigkeit der Übersetzung differenzierter betrachtet habe als die rigorosen Aufklärer48, ist gleichwohl vor allem das ‚Aneignende‘ seines Übersetzungsstils betont worden, der ganz dem 18. Jahrhundert zugehöre. Solchem Urteil hat Wieland allerdings selbst Vorschub geleistet. Denn er hat in Vorbemerkungen, Anmerkungen u.ä. immer wieder betont, ‚Klarheit und Verständlichkeit‘ seien sein erstes Anliegen und er mache sich „nicht das geringste Bedenken daraus […], wenn ich auch eine oder zwey Zeilen nötig haben sollte um das zu sagen, was der Grieche oder Römer dene Übersetzungsverfahren unterscheidet, historisiert Fuhrmann diese Unterscheidung. Er ordnet das eine Verfahren dem frühen 18. Jahrhundert, das andere dem späten 18. und frühen 19. Jahrhundert zu. Dass Goethe eine derartige Historisierung nicht fremd war, zeigen seine Gedanken zu ‚Übersetzungen‘ in den Noten zum West-östlichen Divan (Sämtliche Werke, Bd. 11.1.2, S. 262–265). Er spricht dort zunächst von ‚dreyerley Arten Übersetzung‘. Schon die zweite Art bezeichnet er dann aber als ‚Epoche‘. Die dritte Art schließlich wird einem ‚Zeitraum‘ zugeordnet. 46 Der Einfluss dieses Goethe’schen Ausspruchs, dem sich kaum entziehen kann, wer über den Übersetzer Wieland schreibt, geht bis in Formulierungen. So schreibt z.B. Manuel Baumbach: „Wieland sieht sich häufig zu Paraphrasen des griechischen Textes gezwungen, die über das für einen ursprungssprachlich orientierten Übersetzer vertretbare Maß an Texteingriffen […] hinausgehen. Im Zweifelsfall gestattet sich Wieland einen ‚freyen Schwung‘ der Paraphrase, der dem Deutschen mehr als dem Griechischen gerecht wird.“ (Manuel Baumbach: Wielands Lukianübersetzung, in: Wieland-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung, hg. von Jutta Heinz, Stuttgart/Weimar 2008, S. 411–419, hier: S. 413; Hvhg KR) Baumbach betont die „Janusköpfigkeit, durch die Wielands Übersetzungen zugleich ziel- und ursprungssprachlich orientiert sind“ (ebd., S. 412f.). Er verweist zwar auf Elemente der ursprungssprachlichen Orientierung, betont jedoch insgesamt stärker die zielsprachliche Ausrichtung der Wieland’schen Übersetzung. 47 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Was ist übersetzen?, in: ders., Reden und Vorträge, Berlin 41925, S. 10 Anm. 1. 48 Vgl. Fuhrmann: Von Wieland bis Voss, S. 5.
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mit zwey oder drey Worten gesagt hat.“49 Eben diese Freiheit hat Fuhrmann als problematisch empfunden und als Merkmal der alten Schule des Übersetzens festgehalten. Entscheidend aber ist, wie Wieland diese Freiheit begründet. Sie dient, so Wieland, seinem ‚letzten Zweck‘, „von dem Sinn und Geist einer Stelle nichts, oder doch so wenig als möglich, bey meinen Lesern verlohren gehen zu lassen.“50 Da wir uns daran gewöhnt haben, bei der Beschreibung und Charakterisierung von Übersetzungen in Gegensatzpaaren zu denken, verstehen wir ‚dem Sinn und Geist‘ nach zu übersetzen als freies paraphrasierendes Übersetzen im Gegensatz zu wörtlichem, textnahem Übersetzen.51 Diese Alternative scheint auch Wieland geläufig zu sein, wenn er 1792 in seinen ‚Anmerkungen über eine Probe einer Uebersetzung des Lukrez’ zu den Pflichten des Übersetzers das Folgende schreibt: Treue und Deutlichkeit sind die ersten und wesentlichsten: eine Treue, die so viel, als es nur immer möglich ist, den S i n n und G e i s t des Originals w i e e i n r e i n e r S p i e g e l darstellt und sich an die Worte desselben nur insofern bindet, als es ohne Nachtheil der Sprache, in welche man übersezt, und des Autors, der durch eine ängstliche und buchstäbliche Uebersetzung fast immer entstellt und verunziert 52 wird, geschehen kann.
Diese Passage ist der oben zitierten zur Schütz’schen Übersetzung von '&$!'!&$ sehr ähnlich: … und gewiß, mißlingt einem Übersetzer der Alten manches bloß darum, weil er sich fürchtet, man möchte glauben, er verstehe das Wort nicht das er übersetzen soll, und darüber vergißt, daß der Buchstabe tödtet, und nur der Geist lebendig 53 macht.
An beiden Stellen gibt Wieland dem ‚Geist-Übersetzen‘ den Vorzug vor dem ‚Buchstaben-Übersetzen‘ und weist darauf hin, dass das allzu buchstäbliche Übersetzen einer Ängstlichkeit oder Furcht des Übersetzers geschuldet sei. Doch aus dem Kontext des zweiten Zitats können wir lernen, dass Wieland nicht immer das uns geläufige Gegensatzpaar ‚wörtlich/dem 49 Christoph Martin Wieland: Sokratische Gespräche aus Xenofons denkwürdigen Nachrichten von Sokrates, AM III 1, 1799, S. 101–168, hier: S. 105. 50 Ebd. 51 Vgl. Josefine Kitzbichler: Nach dem Wort, nach dem Sinn. Duale Übersetzungstypologien, in: Übersetzung und Transformation, hg. von Hartmut Böhme u.a., Berlin/New York 2007, S. 31–45, dort bes. S. 31: „Mit der Entgegensetzung von wörtlicher und sinngemäßer Übersetzung lieferte Hieronymus die geläufigste Ausprägung jener dualen Typologie, die die Diskussion übersetzungstheoretischer und – praktischer Fragen seit je dominierte.“ 52 Christoph Martin Wieland: Anmerkungen über eine Probe einer Uebersetzung des Lukrez, in: ders.: Gesammelte Schriften, 2. Abt.: Übersetzungen, Bd. III (4), Berlin 1913, S. 700–710, S. 704. 53 Wielands Briefwechsel, 14.104, S. 114. Für den Kontext vgl. S. 106.
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Sinn und Geist nach‘ meint, wenn er von Geist und Sinn spricht. Denn in diesem Fall bedeutet ‚dem Sinn und Geist nach übersetzen‘ für Wieland ein im wahrsten Sinne des Wortes buchstäbliches Übersetzen, indem er '&$!'!&$ mit Frontisterion wiedergibt. Vor dem Hintergrund der vorgestellten Briefe und Wielands Auseinandersetzung mit der Schütz’schen Übersetzung wollen mir manche Urteile der Kritik nicht recht einleuchten. Ich meine, dass nicht die Rede davon sein kann, dass Wieland „einem glättenden, einebnenden Anpassen an den Geschmack der eigenen Zeit das Wort“ redete, wie Fuhrmann urteilte.54 Ebenso wenig kann ein Urteil wie jenes von Wilamowitz-Moellendorff Geltung beanspruchen. Gegen derartige Urteile spricht nicht allein Wielands Praxis – die in den hier vorgeführten Beispielen eher eine Tendenz zum Fremden hin hat –, sondern weit mehr noch die Tatsache, dass Wieland an Schütz gerade dann Kritik zu üben scheint, wenn er frei paraphrasierend übersetzt oder allzu sehr in der eigenen, vertrauten Sprache spricht, die das Fremde verschwinden lässt. Gerade die Dinge also, die Fuhrmann veranlassen, Wieland als typischen Vertreter der älteren, aufklärerischen Übersetzungspraxis zu beschreiben, hebt Wieland seinerseits in der Schütz’schen Übersetzung hervor. So denke ich, dass die Übersetzungskritik sich bislang zu sehr von stereotypen Begriffen und Alternativen hat leiten lassen und Wieland allzu eilig der alten Generation der Übersetzer zugeordnet hat. Dabei ist zweierlei zu wenig berücksichtigt worden. Zum einen dass bestimmte Begriffe bei Wieland eine ganz andere Bedeutung haben können, als man zunächst annehmen würde. Zum anderen dass Wieland in dem, was er versucht hat, sehr viel weiter von den aufklärerischen Übersetzungsmaximen eines Venzky entfernt ist, als es dargestellt wird. Daher wäre es für eine eingehendere und differenziertere Beschreibung des Übersetzers Wieland nötig und wünschenswert, ihn nicht unter dem Aspekt des ‚noch nicht‘ von der Übersetzungspraxis des 19. Jahrhunderts abzugrenzen, sondern eher zu versuchen, seinen – sehr eigenen – Standpunkt in der Entwicklung der Übersetzungstheorie und -praxis von Gottsched und Venzky bis zu Humboldt und Schleiermacher zu bestimmen.
54 Vgl. S. 118.
Daniel Ulbrich
O veteres mei, quos ego videre videor Zur Relation von Vor-Augen-Stellen und Paratextualität in Christoph Martin Wielands Horaz- und Cicero-Übersetzungen I. In der Vorrede zu seiner Übersetzung von Marcus Tullius Ciceros De officiis (1783) gibt der Popularphilosoph Christian Garve eine aufschlussreiche Erklärung für das beständige Ungenügen, das man beim Lesen einer Übersetzung verspürt, mit deren Vorlage man bereits vertraut ist.1 Den Grund für dieses Ungenügen erkennt er dabei in einem grundlegenden Unterschied zwischen den Voraussetzungen, denen die Lektüre eines in der eigenen Muttersprache vorliegenden Textes unterliegt, und den Bedingungen, denen die Rezeption einer fremdsprachigen Schrift unterworfen ist. Anders als der Leser eines muttersprachlichen Textes, der durchgängig über einen „gewissermaßen anschauenden Begriff“2 aller Wörter verfüge, gehe nämlich dem Leser eines in einer fremden – und zumal in einer alten – Sprache abgefassten Textes ein entsprechendes „unmittelbares Gefühl“3 für die Wörter ab, so dass er allein durch Nachdenken – also allein auf begrifflichem Wege – zum Verständnis kommen könne. Während nun dieser ‚anschauende Begriff‘ unter allen Sprachgenossen jeweils nahezu identisch und somit ein weitgehend einhelliges Verständnis muttersprachlicher Schriften im Schoße der Sprachgemeinschaft garantiert sei, führe umgekehrt die Lektüre fremdsprachiger Texte zu einer Vervielfältigung der Textinterpretationen, weil die mangelnde Anschaulichkeit nicht-muttersprachlicher Begriffe die unterbeschäftigte Einbildungskraft dazu veranlasse, gleichsam von selbst in die Bresche zu springen und die jeweils fehlenden Anschauungen durch von Leser zu Leser variierende Nebenvorstellungen zu ersetzen – und eben deshalb könne der mit der entsprechenden Vorlage bekannte Leser einer Übersetzung angesichts der Differenzen zwischen seinen eigenen und den in der Übersetzung aufgerufenen Neben1
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Vgl. Marcus Tullius Cicero: Abhandlung über die menschlichen Pflichten in drey Büchern aus dem Lateinischen des Marcus Tullius Cicero übersetzt von Christian Garve, neue verbesserte und mit einigen Anmerkungen vermehrte Ausgabe, 2 Bde., Breslau 1787. Ebd., Bd. 1, S. VIII. Ebd., S. IX.
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vorstellungen nichts anderes als ein Gefühl der Enttäuschung verspüren. „Die Leser der Alten“, so setzt Garve schließlich das Verhältnis der Anschaulichkeit halber ins Bild, seien nämlich in vielem Betrachte Personen ähnlich, welche entfernte Gegenstände von einem Berge sehen. Jeder sieht etwas anderes: aber alle finden die Aussicht schön. Der Übersetzer bringt ihnen eben diese Objecte ganz in die Nähe. Nun sehen alle dasselbe: aber sie finden das, was sie sehen, nicht mehr so groß, so reizend, und so reichhaltig, als es ihnen in jenen schwimmenden, ineinander laufenden Umrissen einer dunklen Ferne, zu seyn schien.4
Spätestens mit diesem Vergleich schreibt Garve das Übersetzen im Allgemeinen und das Problem der unterschiedlichen Wirkungsweise von Ausgangs- und Zieltext auf den Leser in das Paradigma des Vor-Augen-Stellens ein und gibt damit einem weiteren Wiedergänger der – wie Rüdiger Campe gezeigt hat – spätestens bei Johann Christoph Adelung dem Imperativ der „Lebhaftigkeit“ unterstellten Varianten der evidentia, als affektloser virtus der Klarheit der Erzählung im Ganzen, und der hypotyposis – als der Figur, die das Geschehene oder das, was geschehen wird, detaillierend in seine einzelnen Abschnitte zerlegt – Raum.5 Übersetzen erscheint demnach ebenso wie das Lesen fremdsprachiger Texte als hypotypotisches Verfahren: Der Unterschied zwischen beidem, so wäre nach Garve zu konstatieren, liegt einzig darin, dass der sorgfältige Übersetzer nur das der Einbildungskraft zur Anschauung bringt, was vom Ausgangstext auch begrifflich gedeckt ist, während der gewöhnliche Leser des fremdsprachigen Tex-
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Ebd., S. IXf. Vgl. Rüdiger Campe: Vor Augen Stellen: Über den Rahmen rhetorischer Bildgebung, in: Poststrukturalismus, hg. von Gerhard Neumann, Stuttgart u.a. 1997, S. 208–225. Meine Darstellung der Beziehung zwischen evidentia und hypotyposis folgt im Wesentlichen Campes Rekonstruktion des Verhältnisses bei Quintilian: „Evidenz und Hypotypose sind einander zugekehrte Spiegel: Sie sind dasselbe – aber einmal als deskriptive Qualität der Narration, einmal als figurative Narrativierung der Deskription. […] Evidenz ist das ununterbrochene Vorangehen der Beschreibung durch die Erzählung der Taten, Hypotypose ist die von vorneherein gerahmte Stelle erzählender Beschreibung.“ (ebd., S. 219.) Zur Unterordnung des Vor-Augen-Stellens unter den Begriff der „Lebhaftigkeit“ in der „Psycho-Stilistik“ Adelungs (ebd., S. 210) siehe darüber hinaus: Rüdiger Campe: Die zwei Perioden des Stils, in: Comparatio. Revue internationale de littérature comparée 2, 1991, H. 3, S. 73–101, hier: S. 79–84. Weitere Lotsenkungen in die Geschichte des VorAugen-Stellens (mit besonderem Fokus auf dem Barock) finden sich daneben in den Arbeiten Elmar Lochers, so etwa in Elmar Locher: Hypotypose und memoria in der Ästhetik Harsdörffers, in: Seelenmaschinen. Gattungstraditionen, Funktionen und Leistungsgrenzen der Mnemotechniken vom späten Mittelalter bis zum Beginn der Moderne, hg. von Jörg Jochen Berns und Wolfgang Neuber, Wien u.a. 2000, S. 67–88.
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tes mit seinen Anschauungen für gewöhnlich über die Grenzen des Begriffs hinausschießt. Ich möchte diese Konstellation zum Ausgangspunkt nehmen, um die Frage zu stellen, inwieweit und in welcher Form sich auch das Übersetzungswerk von Christoph Martin Wieland, der Garves Übersetzung von De Officiis übrigens 1784 im Teutschen Merkur – und zwar unter ausführlicher Bezugnahme auf ihre Vorrede – ausgesprochen positiv rezensiert hat6, im Sinne von Verfahrensweisen des Vor-Augen-Stellens begreifen lässt, und werde mich daher im Folgenden mit dieser Fragestellung in einem ersten Ausgriff (II.–III.) Wielands Übersetzung der Epistulae von Quintus Horatius Flaccus und in einem zweiten Ausgriff (IV. –VIII.) seiner Übertragung der sämtlichen Briefe von und an Marcus Tullius Cicero zu nähern versuchen. Sowohl in der Horaz- als auch in der Cicero-Übersetzung tritt das Vor-Augen-Stellen in engem Zusammenspiel mit paratextuellen Elementen auf, und so möchte ich im Folgenden das Augenmerk insbesondere auf die differierenden Konfigurationen lenken, in die VorAugen-Stellen und Paratextualität in diesen beiden Unternehmungen jeweils eintreten. II. Ähnlich wie bereits seine Shakespeare-Übertragungen (1762–1766) ist Wielands Übersetzung der Horazischen Epistulae aus dem Jahre 1782 ausgesprochen reich an Paratexten.7 Der eigentlichen Übersetzung jeder einzelnen Epistel geht jeweils eine ausführliche Einleitung voran, die die Hintergründe der Abfassung erhellen und dem Leser den richtigen Blickwinkel auf den Text ermöglichen soll. In der Übersetzung selbst wiederum verweisen jeweils Kleinbuchstaben auf kürzere, zumeist knappen Wort- und Sacherklärungen gewidmete Noten am Fuße der Seite, und arabische Zahlen auf einen Apparat mit ausführlicheren Anmerkungen, der sich jeweils im Anschluss an den Übersetzungstext der einzelnen Episteln findet. Während die erste Ausgabe der Briefe von 1782 ausschließlich Wielands Text abdruckte, wurde in die zweite, verbesserte Ausgabe der Episteln von 1790 6 7
Vgl. Christoph Martin Wieland: (Rez.) M.T. Cicero’s Abhandlung von den menschlichen Pflichten in drey Büchern; aus dem Lateinischen übers. von Christian Garve, in: Der Teutsche Merkur, 1784, H. 2, S. XVII–XXIII. Christoph Martin Wieland: Horazens Briefe aus dem Lateinischen übersetzt und mit historischen Einleitungen und andern nötigen Erläuterungen versehen, in: ders.: Werke in zwölf Bänden, Bd. 9: Übersetzung des Horaz, hg. von Manfred Fuhrmann, Frankfurt a.M. 1986, S. 9–573. Die lateinischen Horaz-Zitate erfolgen im Weiteren ebenfalls nach dieser Ausgabe.
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nach dem Vorbild der Erstausgabe von Wielands Übersetzung der Sermones (1786) auch der lateinische Grundtext mit aufgenommen, und erlaubte von diesem Zeitpunkt an also einen unmittelbaren Abgleich von Ausgangsund Zieltext.8 Was die Charakteristik des Übersetzungstextes im engeren Sinne betrifft, so hat bereits Manfred Fuhrmann darauf hingewiesen, dass das „weitaus wichtigste und aufdringlichste Mittel der Umwandlung“ der Horaz-Übersetzung die „Paraphrase, die explizierende Ausweitung des Originals“ sei: „[J]ede Epistel und jede Satire enthält Beispiele für das Bestreben Wielands, Motive, die Horaz nur mit knappsten Strichen und in äußerster Konzentration angedeutet hat, auszumalen und dem Leser – bisweilen überdeutlich – vor Augen zu stellen. Hierbei kommen nicht selten konkrete Details ins Spiel, die sich im Original nicht finden; Horazens pointierte Anspielungen zeigen bei Wieland Neigung, sich zu kleinen Szenen zu entfalten.“9 Dieses paraphrasierende Verfahren ist in der Tat auch in Wielands Übersetzung der an Kaiser Augustus gerichteten Epistel II.1. allgegenwärtig, die ich im Folgenden ins Zentrum meiner Analyse rücken möchte – ein Text, der übrigens vor dem Hintergrund eines ausgeklügelten Spiels der Selbstsituierung von Horaz (als Dichter) gegenüber Augustus (als Kaiser) vor allem poetologische Fragestellungen aufwirft, unter denen die Diskussion des Verhältnisses zwischen der alten und der neuen römischen Dichtung ebenso wie der Beziehung zwischen griechischer und lateinischer Literatur (gerade auch unter dem Gesichtspunkt von Nachahmung und Übertragung) nicht den geringsten Anteil ausmacht. Freilich lassen keinesfalls alle Paraphrasen aus Epistel II.1. ein Ausmaß an Detaillierung und szenischer Ausfaltung erkennen, das es erlauben würde, sie als Instanzen hypotypotischer Vergegenwärtigungsstrategien zu klassifizieren. Zumindest zwei Passagen in Wielands Übersetzung von Epistel II.1. allerdings, die sich besonders weit vom Ausgangstext entfernen, scheinen die Kriterien des Vor-Augen-Stellens geradezu überdeutlich zu erfüllen. Ein erstes Beispiel gibt dabei eine Stelle, die sich im Kontext einer scharfen Polemik gegen die neumodische Verbreitung des furor poeticus unter den „indocti doctique“10 eines ursprünglich eher nüchternen Volkes 8
Vgl. Manfred Fuhrmann: Zu Textgestalt und Kommentaranlage, in: Wieland: Übersetzung des Horaz, S. 1096–1102, hier: S. 1097. 9 Manfred Fuhrmann: Wielands Horaz-Übersetzungen, in: Wieland: Übersetzung des Horaz, S. 1061–1095 (Hvhg. DU). Eine hilfreiche neuere Analyse von Wielands Übersetzungspraxis in seinen Horaz-Übertragungen bietet daneben in monographischer Form Jane Veronica Curran: Horace’s ‚Epistles‘, Wieland and the reader. A three-way relationship, London 1995. 10 Horaz: Epistulae, II.1.17, S. 379.
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findet, die sich kurz darauf ziemlich überraschend in eine vollmundige Eloge von Nutzen und Vorteil der Dichtkunst für das Gemeinwesen verkehrt. Der enthymematische Zwischenschritt, der diese Verkehrung möglich macht, diagnostiziert eine weitgehende Harmlosigkeit des Dichtens, die wiederum aus einer dem Dichtenden zugesprochenen Selbstvergessenheit resultiert, welche Horaz unter anderem wie folgt charakterisiert: „vatis avarus / non temere est animus; versus amat, hoc studet unum; / detrimenta, fugas servorum, incendia ridet.“11 In seiner Übersetzung dieser Stelle zerlegt Wieland nun Horaz’ Aufzählung der Fährnisse, die dem Dichter zustoßen können und ihn gleichwohl unbekümmert lassen, nicht nur in weitere Bedeutungsaspekte – die „detrimenta“ zerfallen etwa in die Einzelaspekte „[s]chlimme Zeiten, Geldverlust, / Vermögensabfall“ und werden in dieser Form zugleich als depravierende Folge lesbar –, sondern überführt Horaz’ Substantiv-Aufzählung durch ihre Ausgestaltung als verbale Fügungen im gleichen Zuge narrativierend in eine Erzählung im engeren Sinne und gibt die Verfahrensweise somit in der Tat als Exempel hypotypotischer Technik12 zu erkennen: Ein Dichter – überhaupt ein Versemann – hat selten eine andre Leidenschaft / als seine Lust an Versen. Die allein / beherrscht ihn ganz, darauf geht all sein Dichten / und Trachten. Schlimme Zeiten, Geldverlust, / Vermögensabfall, / all dies kränkt ihn wenig. / Lass seine Sklaven ihm auf einen Tag / entlaufen, lass sein Haus ihm niederbrennen, / er lacht dazu.13
Noch deutlicher treten die Charakteristika von Wielands hypotypotischem Übersetzen in einer zweiten Passage hervor, die unmittelbar an die Lobrede auf die Dichtung anschließt. Horaz lässt hier die römische Dichtung aus den karnevalesken Verbalinjurien anlässlich von kultischen Feierlichkeiten hervorgehen, wobei die Schilderung der Auswüchse dieses Brauches und ihrer gesetzlichen Eindämmung ihm dann in der Folge Gelegenheit gibt, gegen diejenigen zu polemisieren, die beim Dichten das Ausstreichen stur für schändlich halten und es scheuen („sed turpem putat 11 Ebd., II.1.119–121, S. 379. 12 Vgl. die Definition des Vor-Augen-Stellens bei Quintilian: „Die Figur nun, die Cicero als Unmittelbar-vor-Augen-Stellen (‚sub oculos subiectio‘) bezeichnet, pflegt dann einzutreten, wenn ein Vorgang nicht als geschehen angegeben, sondern so, wie er geschehen ist, vorgeführt wird, und nicht im Ganzen, sondern in seinen Abschnitten (‚cum res non gesta indicatur, sed ut sit gesta ostenditur, nec universa, sed per partis‘). […] [B]ei [A]nderen heißt sie ὑ/&-/,!( (Ausprägung), eine in Worten so ausgeprägte Gestaltung von Vorgängen, daß man eher glaubt sie zu sehen, als zu hören (‚forma rerum ita expressa verbis, ut cerni potius videantur quam audiri‘).“ Marcus Fabius Quintilianus: Institutionis oratoriae libri XII – Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher, hg. und übers. von Helmut Rahn, Darmstadt 1975, IX.2.40, Bd. 2, S. 286f. 13 Wieland: Horazens Briefe, II.1, S. 379.
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inscite metuitque lituram“).14 Die Darstellung dieser Verwandlung der Schmähreden aus der harmlosen Neckerei in eine ernsthafte Bedrohung gesellschaftlicher Ordnung liest sich freilich im Einzelnen bei Horaz und Wieland ziemlich unterschiedlich: Fescennina per hunc inventa licentia morem / versibus alternis opprobria rustica fudit, / libertasque recurrentes [recurrentis] accepta per annos / lusit amabiliter, donec iam saevos [saevus] apertam / in rabiem coepit verti iocus et per honestas / ire domos impune minax.15 Mit bäurischroher Ungebundenheit / erschallte dann, in lust’gen Wechselzeilen, / der Fescenninen muntrer freier Scherz. / Der gute Tag kam alle Jahre doch / nur einmal! Sollte nicht dies einz’gemal / die Freude alle Fesseln von sich werfen? / Man tanzte, sang, und brachte gute Schwänke / hervor, und lautes Lachen wieherte / dem gröbsten Spaß, dem tollsten Schwank entgegen. / Erst war’s nur Fröhlichkeit: allmählich ward / der Scherz zu grob, begann, anstatt zu kitzeln, / zu beißen, und die ungestrafte Frechheit / verschonte selbst der besten Häuser nicht.16
In der Tat lassen sich schärfere Diskrepanzen zwischen Ausgangs- und Zieltext, als diejenigen, die hier zu Tage treten, wohl schwerlich vorstellen. Es ist, als ob mit dem Aufruf der im Ursprung der Dichtung herrschenden ‚libertas‘ zugleich auch die Lizenz zur freien Amplifikation erteilt und die Erlaubnis, der Einbildungskraft die Zügel schießen zu lassen, gegeben sei – ganz so, wie auch schon der ‚nicht leichtfertig mit Geist geizende Dichter‘, der „selten eine andre Leidenschaft / als seine Lust an Versen“ hat, Wieland Anlass zur Nachahmung gegeben zu haben schien –, um erst dort wieder mühsam unter Kontrolle gebracht zu werden, wo der „Scherz zu grob“ wird bzw. ‚in offene Raserei umzuschlagen‘ beginnt. Eingeleitet von der sermocinatio „Der gute Tag kam alle Jahre doch / nur einmal! Sollte nicht dies einz’gemal / die Freude alle Fesseln von sich werfen?“, die mit ihrem augenscheinlichen lateinischen Ausgangspunkt „recurrentes […] per annos“ höchstens noch den Bezug auf die Zeitlichkeit gemeinsam zu haben scheint, greift zusehends eine szenische Ausgestaltung dessen Raum, was bei Horaz selbst nur in die kurze Formulierung „lusit amabiliter“ gefasst war, und wird erst dort wieder zu einem vorläufigen Halt gebracht, wo sich dieses „lusit amabiliter“ in Wielands „[e]rst war’s nur Fröhlichkeit“ gleichsam im Begriff wieder einfangen zu lassen scheint.
14 Horaz: Epistulae, II.1.167, S. 383. 15 Ebd., II.1.145–150, S. 381f. Hinsichtlich der zwei Lesarten recurrentes/recurrentis und saevos/saevus herrscht in den Editionen bis heute Uneinigkeit. Die lateinische Fassung, die Wieland im Jahre 1790 seiner Neuausgabe der Episteln beigegeben hatte, hat sich dabei zwar einerseits für die gleichsam schulsprachlich normalisierende Lesart recurrentes entschieden, andererseits aber die letztlich unverständliche Lesart saevos unangetastet gelassen. 16 Wieland: Horazens Briefe, II.1, S. 381f.
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Dabei unterliegt diese Bewegung selbst noch einer Steigerungsdynamik. Während das ‚freundlich-liebenswürdig-fröhliche Spiel‘ nämlich im ersten Teilsatz zunächst nur (gut quintilianisch) in einzelne Handlungsbestandteile – das ‚Tanzen, Singen, Schwänke Hervorbringen‘ – zerlegt wird, die dann der Reihe nach aufgezählt und jeweils einem zwar unterbestimmten, aber doch unverkennbar menschlichen „man“ zugerechnet werden, nähern sich die Zuschreibungsverhältnisse bei der Fortführung der Aufzählung im zweiten Teilsatz den Charakteristika der (gewissermaßen aristotelischen) energetischen Metapher17, durch die etwa das Unbeseelte als beseelt und das Unbelebte als belebt vorgestellt wird: „lautes Lachen wieherte / dem gröbsten Spaß, dem tollsten Schwank entgegen.“ Das Lachen wird nämlich gleichsam von seinem natürlichen menschlichen Agens abgetrennt und als autonom behandelt – beinahe so, als ob es selbst die wiehernden Laute hervorbringen und diese aus eigener Kraft den Späßen und Schwänken zu- und entgegentragen würde – und gibt sich damit selbst wiederum als Instanz von Verselbstständigungsprozessen zu erkennen, von denen auch Horaz’ Epistel an dieser Stelle spricht, und wie sie sich in Wielands Übersetzung an analoger Stelle vollzieht. Freilich bleibt die energetische Aufladung mit dem ‚wiehernden Lachen‘ hier noch in den Grenzregionen des fast schon Habitualisierten. Das ändert sich allerdings im folgenden Satz, der nach der zwischenzeitlichen Wiedereinfassung der szenischen Ausfaltung in den Begriff der (vom „lusit amabiliter“ des Ausgangstextes zumindest partiell gedeckten) „Fröhlichkeit“ noch ein letztes Mal zur ausgeprägten Inszenatorik, und in ihr zur energetischen Metapher ansetzt, bevor der übersetzerischen Lizenz fürs Erste ebenso ein Ende gesetzt zu werden scheint, wie sich das Zwölftafelgesetz Horaz’ Erzählung zufolge gegen die Auswüchse des Spottliedermachens durchgesetzt haben wird. Denn dieser Nachsatz stellt das Umschlagen von Neckereien in offene Raserei als „Scherz“ ins Bild, der (in fernem synekdochischem Nachhall der ‚aperta rabies‘) „anstatt zu kitzeln, / zu beißen“ beginnt, und fügt mit der Zuschreibung des Kitzelns und Beißens an einen verselbstständigten Scherz der Übersetzung somit noch eine weitere energetische Metapher hinzu. Bemerkenswert dabei ist nicht zuletzt auch, dass die thematischen Rollen, die zunächst das „Lachen“ in der ersten (noch von weitgehender Harmlosigkeit bestimmten) Phase und sodann der „Scherz“ in der zweiten (nunmehr von ausgemachten Grobheiten geprägten) Phase jeweils einnehmen, in symmetrischer Verkehrung zueinander stehen: Verharren „Spaß“ und „Schwank“ in der ersten Phase in der Rolle des Patiens, während das 17 Zum Schicksal der „energetischen Metapher“ im Umfeld des Vor-Augen-Stellens zwischen Aristoteles und Paul Ricœur vgl. Campe: Vor Augen Stellen, S. 213–217 und Locher: Hypotypose, S. 195f.
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„Lachen“, das diese eigentlich erst erwidern sollte, gleichsam kontraintuitiv in der Rolle des Agens erscheint, so übernimmt der „Scherz“ in der zweiten Phase die aktive Rolle – und legt damit auch auf der Ebene der Grammatik Zeugnis von der zusehenden Verselbstständigung des energetischen Potentials ab. III. Damit ist die Lektüre an einen Punkt gekommen, an der es sich noch einmal der sermocinatio zuzuwenden gilt, mit der die Abwendung vom Ausgangstext an dieser Stelle einsetzt und mit der der Prozess des ungedeckten Vor-Augen-Stellens mitsamt der ihm einbeschriebenen Steigerungsdynamik anhebt. Wieland schreibt: „der gute Tag kam alle Jahre doch / nur einmal! Sollte nicht dies einz’gemal / die Freude alle Fesseln von sich werfen?“ Zwar ist es durchaus denkbar, dass dieser sermocinatio eine Lesart des Ausgangstextes zugrunde liegt, die ‚recurrentes per annos‘ nicht als instrumentale, sondern als temporale Bestimmung versteht und somit nicht so sehr die sukzessive und unvermerkte Annahme eines Brauchs (‚die über die Jahre hinweg angenommene Freizügigkeit‘), sondern vielmehr die zu einem bestimmten Zeitpunkt je wiederkehrenden Akte des Annehmens oder Bewillkommnens (‚die alle Jahre hindurch willkommen geheißene Freizügigkeit‘) in den Vordergrund rückt. Das allein aber vermag nicht hinreichend zu erklären, welchem Anlass sich diese Zuspitzung auf die Einmaligkeit und Einzigartigkeit verdankt. Die Erklärung versteckt sich zu guten Teilen im Anmerkungsapparat, deren Konsultation Wielands Übersetzung für die Horazische Erzählung von den Ursprüngen der römischen Dichtung vermittels einer gehäuften Zahl von Verweisen besonders nachdrücklich anzuempfehlen scheint. Zentral ist dabei vor allem eine Passage im unmittelbaren Vorfeld des verselbstständigten Vor-Augen-Stellens, die Wieland mit einem Anmerkungsverweis ausgeflaggt hat, und die sich im lateinischen Ausgangstext folgendermaßen liest: „[Agricolae prisci post frumenta tempore festo] Tellurem porco, Silvanum lacte piabant, / floribus et vino Genium, memorem brevis aevi.“18 Wieland, der die Eigennamen der drei Schutzgeister dabei erläuternd durch ihre Funktionen bzw. Zuständigkeitsbereiche ersetzt, übersetzt: „[Unsre alten Ackerleute] machten [am Erntefest] vorerst / mit Opfrung eines Mutterschweins die Erde, / mit Milch den Waldgott, und mit Wein und Blumen / den Genius des Lebens sich gewogen.“19 – und lässt 18 Horaz: Epistulae, II.1.140f., S. 381. 19 Wieland: Horazens Briefe, II.1, S. 381.
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die Verweismarke dem Schlusspunkt der Periode nicht ohne Grund auf dem Fuße folgen. Denn die zugehörige Anmerkung lautet wie folgt: Es liegt eine unbeschreibliche Schönheit in dem Beiwort: Genium memorem brevis aevi, und gerade diesen schönen Zug – worin die so natürliche und auf eine so rührende Art zur Freude aufmunternde Empfindung liegt: Wer weiß, wer übers Jahr noch lebt? ob wir diesen frohen Tag wieder sehen? – mußte ich weglassen, weil er nur durch eine Umschreibung, die den Perioden schleppend machte und dadurch das ganze Gemälde verderbte, zu übersetzen war. Ich habe mich aber bemüht, die Wirkung dieses Zugs auf das Gemüt durch den Ton, den ich dem ganzen Gemälde gegeben habe, hervorzubringen, und vielleicht finden Leser von feinerm Sinn, daß Horaz nichts dabei verliert.20
Das die Vorgaben des Ausgangstextes überschreitende Vor-Augen-Stellen mitsamt der es einleitenden exklamativen sermocinatio, die ihrerseits auf die interrogative sermocinatio der Anmerkung zu antworten scheint, gibt sich somit als kompensatorische Maßnahme zu erkennen, durch die eine notwendig gewordene Lücke in der Übersetzung an anderer Stelle wiederaufgefüllt werden soll. Die Situation des Übersetzers wird dabei von Wieland als dilemmatisch charakterisiert: Die Verluste, durch die Horaz sich durch eine „Umschreibung“ bedroht sieht, wiegen um keinen Deut leichter als die Einbußen, die er durch eine vollständige Tilgung der Fügung aus dem Übersetzungstext erleiden würde. Dabei liegt freilich eine tiefe Ironie darin, dass es gerade ein memento mori ist (denn nichts anderes als ein memento mori will die Rede vom ‚Lebensgeist, an die Kürze des Lebens gemahnend‘ in letzter Instanz ja besagen), das um des Erhalts von Lebhaftigkeit und Wirksamkeit willen aus dem Zieltext getilgt und kompensatorisch durch die besonders lebhaft wirkenden Figuren und Techniken der sermocinatio und des Vor-Augen-Stellens substituiert werden musste. In ihrer spezifischen Relationierung von Inhalt und Form und in ihrem Bemühen, die Erinnerung an die Vergänglichkeit im Medium der sermocinatio lebendig zu halten, beginnt Wielands Übersetzung nicht nur zwischen einer prosopographischen und einer epitaphischen Lesart21 zu oszillieren, sondern lässt – vom Paratext der Anmerkung angeleitet – in der hypotypotisch vorgeführten einmaligen Überschreitung im Angesicht der Vergänglichkeit, die in eine gleichsam verselbstständigte und gesteigerte Wiederkehr der Abweichungen und Überschreitungen umschlägt (und sich in den gesteigerten Abweichungen der sich steigernden Hypotypose spiegelt), zugleich den prekären Modus der Wiederkehr der einmaligen Urschrift in ihrer Übersetzung aufscheinen. 20 Ebd., Anm. 21, S. 421. 21 Vgl. für diese Begrifflichkeit Bettine Menke: Prosopopoiia. Stimme und Text bei Brentano, Hoffmann, Kleist und Kafka, München 2000, S. 139–150 („prosopographische Lektüre“) und S. 192–203 („epitaphisches Lesen“).
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IV. Eine vergleichbare Problemkonstellation, in der sich die Frage nach dem Modus des Wiedererscheinens des Ausgangstextes im Zieltext in eine Schreibpraxis eingebettet findet, die sich der Techniken des Vor-AugenStellens ebenso bedient, wie sie sie problematisiert, kehrt ein knappes Vierteljahrhundert später in Wielands Übersetzung der sämtlichen Briefe von und an Marcus Tullius Cicero zurück. Ihre Wiederkehr geht dabei freilich mit signifikanten Verlagerungen in der Konfiguration des Verhältnisses zwischen Vor-Augen-Stellen und Paratextualität einher, die sich zugleich auch in einem gegenüber der Horaz-Übersetzung veränderten Grad an Explizitheit in der Thematisierung der im Verfahren des vor-Augenstellenden Übersetzens implizierten Prämissen auswirken. Im Kontext der Horaz-Übersetzung kann Vor-Augen-Stellen seine Funktion als rhetorisches Verfahren nämlich durchaus unabhängig von etwaigen paratextuellen Elementen erfüllen, die ihrerseits erst als Ort der Legitimation und Reflexion von Vor-Augen-Stellen relevant werden und nur insofern ein Abhängigkeitsverhältnis zum vor-Augen-stellenden oder genauer: hypotypotischen Übersetzungsverfahren etablieren, als sie es einerseits legitimieren bzw. decken und es andererseits in seiner Supplementarität dekouvrieren bzw. entdecken. Im Rahmen der Cicero-Übersetzung hingegen wird Vor-Augen-Stellen schon als rein technisches Verfahren nicht mehr unabhängig von paratextuellen Rahmungen zu denken sein, sondern sich – gleichsam noch bevor diese Rahmungen auch der Problematisierung und Reflexion des Vor-Augen-Stellens als Übersetzungsmodus den Raum eröffnen – überhaupt nur im Medium und dank der Paratexte realisieren. Und während die Horaz-Übersetzung die Wirkungsweise des Verfahrens des Vor-Augen-Stellens in ihrem Beziehungsgeflecht von Hypotypose und Paratext letztlich bloß auf versteckte Weise thematisieren konnte, wird – wie sich im Folgenden zeigen wird – die Thematisierung und Problematisierung solcher Effekte zugleich mit den Verschiebungen in der Konfiguration von Vor-Augen-Stellen und Paratextualität zum zentralen Thema von Wielands Projekt der Übersetzung des Cicero-Briefwechsels avancieren. Dieses Unternehmen, dem sich Wieland ab 1806 zuzuwenden beginnt, und dessen erster Band im Jahre 1808 erscheint, vereinigt dabei in insgesamt achtzehn Büchern (von denen die letzten fünf allerdings erst nach Wielands Tod von Friedrich Daniel Gräter vollendet und herausgegeben wurden) die Gesamtheit des ursprünglich auf vier separate Corpora verteilten nachgelassenen Briefwechsels des Arpinaten.22 Wieland hat die Briefe 22 Christoph Martin Wieland: M. Tullius Cicero’s sämmtliche Briefe, übersetzt und erläutert von C.M. Wieland, Bd. 1–5, Zürich 1808–1812 und ders.: M. Tullius Ci-
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(zum Teil unter Rückgriff auf entsprechende Vorarbeiten des RenaissancePhilologen Girolamo Ragazzoni) für seine Übersetzung in eine chronologische Reihenfolge gebracht, wobei er bei der Einteilung des Stoffes in separate Bücher seinem eigenen Bekenntnis zufolge, wie „der Augenschein“ lehre, „nicht nach bloßer Willkühr verfahren“ sei.23 Die Abfolge der Bücher selbst wiederum wird in unregelmäßigen Abständen – insgesamt fünf Mal – von überblicksartigen Einführungen in den historischen Kontext und die Rolle, die Cicero in den jeweils fraglichen Geschehnissen spielt, unterbrochen. So ist dem ersten Buch ein „Chronologischer Auszug aus Ciceros Lebensgeschichte“ vorangestellt, der gleichsam annalistisch geordnet die Biographie Ciceros von seiner Geburt im Jahre 647 ab urbe condita über das Jahr 685, in dem der Briefwechsel mit Atticus anhebt, bis in das auf das Konsulat Ciceros folgende Jahr 692 nachzeichnet.24 Unter dem romanhaften Titel „Kurzer Bericht über das, was sich mit Cicero seit dem letzten Brief an Atticus bis zum ersten des dritten Buches zugetragen“ folgt zu Beginn des dritten Buches ein weiterer historischer Überblick, in dem die Vorgeschichte erzählt wird, die zu Ciceros Verbannung führte.25 Dieser Bericht erfüllt einerseits die Funktion, eine Lücke im Briefwechsel zu schließen. Über das Nachreichen der historischen Prämissen hinaus hat ihn Wieland aber ganz offenkundig auch dazu bestimmt, das Interesse des Lesers ganz besonders auf den privaten Cicero und seine charakterlichen Schwächen zu lenken, und damit seine – im Rahmen des dritten Buches selbst durch Fußnoten und Anmerkungen deutlich gekennzeichnete – Lesart von Ciceros Verhalten im Exil vorzubereiten. Demgegenüber betont die „Historische Einleitung“, die dem sechsten Buch vorangestellt ist26, und die auf die Geschehnisse von der Zeit der Statthalterschaft Ciceros in Kilikien bis hin zum Ausbruch des Bürgerkrieges vorbereitet, eher das „große politische Spiel, welches der Senat und das Volk zu Rom auf der einen, Pompejus und Julius Cäsar auf der andern Seite – zum Schein gemeinschaftlich, im Grunde aber Jedes bloß zu seinem eignen Vortheil – seit mehrern Jahren spielten, und wobey nichts geringers als das ganze un-
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cero’s sämmtliche Briefe, übersetzt und erläutert von C.M. Wieland, vollendet und zum Druck befördert von F.D. Gräter, Bd. 6–7, Zürich 1818–1821. Zitate aus dem lateinischen Original erfolgen im Weiteren nach den folgenden Ausgaben: Marcus Tullius Cicero: Epistulae ad familiares, Libri I–XVI, hg. von David Roy Shackleton Bailey, Stuttgart 1988 und Marcus Tullius Cicero: Epistulae ad Atticum, 2 Bde., hg. von David Roy Shackleton Bailey, Stuttgart 1987. Wieland: Cicero’s Briefe, Bd. 1, S. XIX. Ebd., Bd. 1, S. 1–118. Ebd., Bd. 2, S. 3–32. Ebd., Bd. 3, S. 3–32.
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geheure Römerreich auf dem Spiele stand,“27 mit anderen Worten den „mit immer zunehmender Geschwindigkeit“ erfolgenden Niedergang nicht der „Republik, sondern […] ihre[r] unermeßlichen Verlassenschaft.“28 Es ist daher folgerichtig, wenn auch im neunten Buch, das die Briefe aus der Zeit des endgültigen Ausbruchs des Bürgerkrieges umfasst und von einer weiteren „Historischen Einleitung“ gerahmt wird29, eher die politischen Reflexionen Ciceros in den Fokus der begleitenden Paratexte rücken. Eine fünfte und letzte Instanz überblicksartiger Einführungen findet sich schließlich zu Beginn des elften Buches unter dem nackten Titel „Einleitung.“30 Obgleich sich eingangs anzudeuten scheint, dass hier die sich anbahnende Verschwörung gegen Cäsar und die zu seiner Ermordung führenden Ereignisse in Erinnerung gerufen werden sollen, legt diese Einleitung den Akzent wieder eher auf Ciceros privates Schicksal: etwa die (von Wieland ausgesprochen missfällig kommentierte) Scheidung von seiner ersten Frau Terentia samt der darauffolgenden kurzen Ehe mit der vierzehnjährigen Publilia, oder aber den (von Wieland gleichsam in utramque partem begutachtete) Umgang mit dem Tod der geliebten Tochter Tullia.31 Darüber hinaus betont diese Einleitung jedoch auch – und das ist im Rahmen der allgemeinen erzählerischen Dynamik der Übersetzung nicht unbedeutend – die schriftstellerisch-philosophische Arbeit, der sich Cicero zu dieser Zeit in der Zurückgezogenheit seiner Landgüter gewidmet habe. Ähnlich wie schon bei den Horaz-Übersetzungen werden die Briefe selbst von zahlreichen Fußnoten begleitet und jedem Buch ist ein ausführlicher Anmerkungsapparat hinzugegeben. Abgesehen vom Kriterium der Länge lässt sich allerdings – wie mir scheint – vorderhand kein wirklich schlüssiger inhaltlicher Unterschied zwischen Fußnoten und Anmerkungen erkennen. So entfällt zwar ein Großteil der Fußnoten auf knappe Sprachund Sacherklärungen, die den Leser etwa über die Identität einer Person oder einer Örtlichkeit orientieren, während sich Wieland im Rahmen der Anmerkungen zuweilen auch längere historische Exkurse erlaubt, die (zumindest auf den ersten Blick) nicht unmittelbar dem Verständnis oder dem Nahelegen einer bestimmten Interpretation zu dienen scheinen. Umgekehrt allerdings können – wie sich im Weiteren zeigen wird – Fußnoten wie Anmerkungen gleichermaßen narrative Funktionen übernehmen.32 27 28 29 30 31 32
Ebd., S. 3. Ebd. Ebd., Bd. 4, S. III–XXX. Ebd., Bd. 5, S. I–XIV. Vgl. ebd., S. IXf. Sehr nachdrücklich betont werden die narrativen Funktionen von Fußnoten und Anmerkungsapparat auch von Arnd Kerckhecker: Wielands Cicero-Übersetzung, in: Wieland-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Jutta Heinz, Stuttgart
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V. Eine ausgesprochen durchkomponierte Vorrede, die keinesfalls die Eilfertigkeit aufweist, die Wieland ihr selbst zuspricht33, orientiert schließlich über das Gesamtunternehmen und sucht entscheidende Hinweise zum Zweck der Übersetzung und die ihr angemessene Lektürehaltung zu geben. Gleich eingangs artikuliert Wieland seine Ansicht, dass die Briefe Ciceros „für Leser aller Classen, zumahl in der Zeit, worin wir leben, nicht nur der anziehendste und unterhaltendste, sondern in mehrern Rücksichten sogar der gemeinnützlichste Theil seiner Schriften sind.“34 Damit wird die Wirkungsfunktion seines Übersetzungsprojektes zwar unverkennbar in der überkommenen Begriffsdualität von prodesse und delectare verankert, das Kriterium der Nützlichkeit zugleich aber durch die Betonung des Gemeinnutzens als vornehmlich öffentlich-politisches – die res publica betreffendes – Interesse ausgewiesen und im selben Atemzuge durch die Referenz auf die ‚Zeit, worin wir leben‘ in besonderer Weise auf einen imminenten Aktualitätsbezug hin zugespitzt.35 Die Begründung der Vorzüge der Cicero-Briefe erfolgt gleichsam in einem zweifachen Kursus. Zunächst wendet Wieland seine Aufmerksamkeit dem „geschichtlichen und weltbürgerlichen Gesichtspunct“ zu, der mit dem gemeinen Nutzen offenkundig in besonders engem Zusammenhang zu stehen scheint.36 Demgegenüber scheint das Unterhaltende und stärker noch: das Anziehende vor allem in einem zweiten Ausgriff der Vorrede zu dominieren, der dem Menschen und Individuum Cicero gewidmet ist, oder wie Wieland sich ausdrückt: „ihm selbst und seinem Charakter als Bürger, Staatsmann, Redner, und vornehmlich als Mensch.“37 Dabei macht Wieland von Anfang an klar,
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36 37
2008, S. 433–445. Daneben befassen sich zwei neuere Monographien zur Paratextualität ausführlich und programmatisch mit der narrativen Rolle von Vorreden und Anmerkungen in Wielands Romankunst und geben mit ihren Analysen der autorschaftlichen Praktiken Wielands zugleich wichtige Anregungen für eine Rekonstruktion seines Konzepts der Übersetzerschaft, vgl. Till Dembeck: Texte rahmen. Grenzregionen literarischer Werke im 18. Jahrhundert (Gottsched, Wieland, Moritz, Jean Paul), Berlin u.a. 2007, hier: S. 117–126 und S. 195–241 sowie Uwe Wirth: Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. Editoriale Rahmung im Roman um 1800: Wieland, Goethe, Brentano, Jean Paul und E.T.A. Hoffmann, Paderborn u.a. 2008, hier: S. 191–231. Vgl. Wieland: Cicero’s Briefe, Bd. 1, S. XXIV. Ebd., S. IV. Damit ist natürlich auf die Doppelschlacht bei Jena und Auerstedt von 1806 – in dem Jahr, in dem Wieland seiner eigenen Aussage in der Vorrede zufolge seine Arbeit an der Übersetzung aufnimmt – im Besonderen und auf die Napoleonischen Kriege im Allgemeinen angespielt. Wieland: Cicero’s Briefe, Bd. 1, S. VII. Ebd., S. XI.
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dass er den Wert der Briefe – bzw. seiner Übersetzung – vor allem in der in ihnen beschlossenen Fähigkeit verortet, die Anschauung des Lesers anzusprechen und eine gewisse Distanz zwischen den Verfassern und Protagonisten der Korrespondenz und ihrer Leserschaft zu überbrücken. So wird bereits in dem zentralen Satz, der zum Thema ‚Cicero als Mensch und Individuum‘ überleitet, in einer einzigen Bewegung der soeben noch im Fokus stehende ausgezeichnete quellenkritische Wert der Briefe, durch die sich die „spätern Geschichtsschreiber“ ergänzen und korrigieren ließen, nahtlos in den Quellenwert einer „wahrern und anschaulichern Kenntniß der merkwürdigsten Menschen dieses Zeitraums“ überführt, als diese „die genannten Schriftsteller selbst“ bieten könnten.38 Und wenig später heißt es, dass der Briefwechsel geeignet sei, den Leser mit Cicero in eine „so genaue und vertraute Bekanntschaft [zu] bringen, daß sie nicht sowohl mit Handzeichnungen oder Abbildungen, als mit unmittelbar auf das lebendige Urbild gemachten Abgüssen zu vergleichen sind.“39 Eine gewisse Spannung ist freilich in dieser Formulierung, die zunächst einen gleichsam persönlichen Umgang von (lebendem) Mensch zu (lebendem) Mensch zu suggerieren scheint, sich dann aber auf die ‚vertraute Bekanntschaft‘ mit einem (wenngleich vom ‚lebendigen Urbild‘ gemachten) unbelebten ‚Abguss‘ zurückziehen muss, nicht zu verkennen. Gleichwohl verweist bereits die damit aufgerufene Vorstellung der Plastizität und die durch sie gewährte Detailliertheit und Allseitigkeit der Ansicht, auf das Ansinnen, die Briefe als gleichsam hypotypotisches Medium zu funktionalisieren. Noch deutlicher wird diese Ausrichtung, wenn Wieland wenig später bemerkt: Wenn sich an dem gemeinsten Menschen, sobald er genau und ganz gekannt wird, irgend etwas entdeckt, wodurch er uns interessant werden kann: in welchem hohen Grade muß dies von einem Manne gelten, der durch den Reichthum seiner außerordentlichen Naturgaben und die unbegreifliche Größe seiner Virtuosität unter den Heroen der Menschheit auf einer der obersten Stufen steht?40
Indessen macht Wieland keinerlei Hehl daraus, dass er davon ausgeht, dass seine Leserschaft Cicero gerade in den „zufälligen Briefen, woran Kunst, Weltklugheit, oder versteckte Absichten nicht den mindesten Antheil hatten“ besonders „anziehend und liebenswürdig“ finden wird41, mit anderen Worten dort, wo er weder als Rhetor noch im Rahmen dissimulativer Strategien spricht, selbst wenn dies – und in gewisser Hinsicht sogar: genau in dem Maße wie dies – auf Kosten seiner Größe geht. Anders gesagt: Das Unternehmen der anschaulichen Vergegenwärtigung ist selbst wiederum eingelassen in eine ausgesprochene De-Rhetorisierungsstrategie. Das 38 39 40 41
Ebd., S. Xf. Ebd. Ebd., S. XIII. Ebd.
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Gelingen der hypotypotischen Vergegenwärtigung und die Erfüllung des Versprechens, dass sich die Briefe als anziehend erweisen werden, hängen gleichsam aufs Engste davon ab, dass es glückt, Briefe aufzufinden und als solche auszuzeichnen, in denen sich Cicero nicht hinter einer „künstlich angepaßten Larve“42 zu verbergen scheint. VI. Wenn es demnach also gerade ein aufs menschliche Maß zurückgestutzter, seine Schwächen freimütig offenbarender Cicero ist, der in besonderem Maße ‚anziehend und liebenswürdig‘ auf den Leser wirken soll, und damit jener Cicero, der sich Wieland zufolge vor allem dort zeigt, wo er bar allen strategisch-dissimulativen Kalküls und allen rhetorischen Pompes entkleidet sprechen zu können vermeint, nämlich vor allem in den vertraulichen Briefen an Atticus und seine Familienangehörigen, dann ist es allerdings bemerkenswert, welchen Brief Wieland – konsultiert man einmal mehr das dritte Buch, das die Zeit von Ciceros Exil zum Gegenstand hat – vermittels einer unzweideutigen Anmerkung zum tiefsten Punkt erklärt, auf den Cicero in Bezug auf Besonnenheit und Standhaftigkeit sinken konnte – ein Tiefstpunkt, der damit im Rahmen des dritten Buches zugleich zum narrativen Höhepunkt und zur Krisis stilisiert wird. Es handelt sich dabei um die letzte von vier aus diesem Zeitraum erhaltenen Episteln, die Cicero aus dem Exil an seine Gattin Terentia schreibt. Ausnahmslos jeder dieser Briefe hebt mit der Eigenbeschreibung eines beim Lesen oder Abfassen der vertrauten Briefe weinenden Cicero an – eine Darstellung, die zumeist mit einer Entschuldigung für die Spärlichkeit der abgehenden Korrespondenz verknüpft wird. Zwei davon, nämlich die Briefe 24 und 29, enthalten auch Beispiele für Ciceros eigene Berufung des ‚gleichsam-Vor-Augen-Stehens‘.43 In Brief 29 wird das Vor-Augen-Stehen sogar gleich zweimal evoziert. So heißt es bereits relativ zu Beginn des Briefes: „nam mi ante oculos dies noctesque versatur squalor vester et maeror et infirmitas valetudinis tuae. spes autem salutis pertenuis ostenditur.“44 Wieland übersetzt wie 42 Ebd., S. XIf. 43 Die Figur des Vor-Augen-Stehens setzt die affektrhetorischen bzw. epistemologischen Annahmen über die Effekte von vor-Augen-stellenden Verfahren voraus. Sie benennt diese gleichsam, ohne detailliert das hypotypotische Verfahrens durchzuführen, verlässt sich vielmehr offenbar darauf, dass diese Effekte sich schon durch bloße Evokation oder Benennung des Vorgangs einstellen werden. Es handelt sich um die Figur einer Figur. 44 Cicero: Ad familiares, XIV.3.2, S. 528. In der von Wieland als 24. Brief von Buch III. verbuchten Epistel Ciceros findet sich entsprechend eine vergleichbare Passa-
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folgt: „Tag und Nacht schwebt mir das Bild deiner abnehmenden Gesundheit und des Jammers, worin ihr alle schmachtet, vor den Augen; die Hoffnung unsrer Wiederherstellung hingegen schwindet immer mehr dahin.“45 – wobei die Fortsetzung der optischen, genauer noch: der Zeigemetaphorik des Ausgangstextes, die in dem Ausdruck ostenditur (‚zeigt sich‘, ‚erweist sich‘) beschlossen liegt, von Wieland jedoch ausgespart wird. Der Brief schließt wiederum wie folgt: „vale, mea Terentia; quam ego videre videor itaque debilitor lacrimis. vale.“,46 eine Schlussformel, die von Wieland folgendermaßen wiedergegeben wird: „Lebe wohl meine Terentia, – ich glaube dich vor mir zu sehen und zerfließe in Thränen. Lebe wohl.“47 Auch hier hat Wieland offenkundig dafür optiert, die durch die Worte videre videor (‚ich scheine zu sehen‘) evozierte Doppelung des optischen Motives abzumildern. Dieser letzte Brief an Terentia also ist es, den Wieland durch die folgende Anmerkung zum narrativen Höhepunkt des dritten Buches erklärt, und der damit zugleich in die engere Wahl jener „zufälligen“ Briefe kommen könnte, in denen sich der noch in seinen Schwächen anziehende Cicero – wie Wieland zu sagen beliebt – „enthüllt“ oder „entdeckt“48: In diesem letzten Brief scheint der unbegreifliche Mann wirklich das non plus ultra der widersinnischen Verkehrtheit erreicht zu haben, in welche ein Mann von Genie, dem es unglücklicher Weise in laeva parte mamillae fehlt, gerathen muß, wenn er seine Einbildungskraft und seine Leidenschaften wie kollerende Pferde, mit seinem Kopfe davon rennen läßt. Lesern, die diesen Brief mit kaltem Blute zu lesen und zu analysieren vermögen, kann er viel Vergnügen machen; denn er ist in seiner Art ein wahres Meisterstück: ich muß gestehen, daß ich diese Gabe nicht empfangen habe, und es mir so unbeschreiblich sauer geworden ist, diesem in der Übersetzung sein Recht anzuthun, daß ich besorge, ihn noch zu sehr geschont zu haben.49
Zweierlei an dieser Anmerkung lässt aufhorchen. So ist – zum Ersten – zwar unübersehbar, dass sie einerseits antritt, den Brief an Terentia als
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ge: „mihi ante oculos dies noctesque versaris. omnes labores te excipere video; timeo, ut sustineas. Sed video in te esse omnia; quare, ut id, quod speras et quod agis, consequamur, servi valetudini.“ (Cicero: Ad familiares, XIV.2.3, S. 527) Wieland gibt die Stelle wie folgt wieder: „Du schwebst mir Tag und Nacht vor den Augen; ich sehe mit welchem Eifer du dich aller Geschäfte annimmst; ich fürchte du werdest es nicht aushalten können; und doch seh’ ich nur zu wohl daß alles auf dir beruht. Damit wir also das Ziel unsrer Hoffnung und deiner Arbeiten nicht verfehlen, so trage die möglichste Sorge für deine Gesundheit.“ (Wieland: Cicero’s Briefe, III.24, Bd. 2, S. 90f.) Wieland: Cicero’s Briefe, III.29, Bd. 2, S. 103. Cicero: Ad familiares, XIV.3.5, S. 529. Wieland: Cicero’s Briefe, III.29, Bd. 2, S. 105. Ebd., Bd. 1, S. XIII. Ebd., III.29, Anm. 16, Bd. 2, S. 124f.
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einen narrativen Höhepunkt im Rahmen der Schilderung des inneren seelischen Zustandes des Briefeschreibers auszuzeichnen („non plus ultra der widersinnischen Verkehrtheit“), und insofern vor allem die Funktion einer Erzählerreflexion erfüllt. Andererseits aber gibt sie sich dabei in erster Linie als erklärende Entschuldigung für mögliche übersetzerische Unzulänglichkeiten und – damit einhergehend – als Versuch einer Rechtfertigung der faktisch gewählten Art und Tongebung dieser Übersetzung. Im gleichen Zuge allerdings fällt – zum Zweiten – ebenfalls auf, dass die Intention anzugeben, warum dem Übersetzer sein Übersetzen „so unbeschreiblich sauer geworden ist“, seltsamerweise in zwei nur schwer miteinander zu vereinende Erklärungsweisen auseinanderzufallen scheint. Da findet sich auf der einen Seite der Versuch, das Verhalten Ciceros auf die Wirkung übermäßiger „Einbildungskraft und Leidenschaft“ zurückzuführen, gegen die Verstand und Urteilskraft nicht mehr ankommen können, womit die Analyse nicht nur in die Terminologie und das Erklärungsschema der zeitgenössischen Anthropologie eingetragen wird, sondern mit den unteren Seelenvermögen im Sinne der stilistischen Theorie des 18. Jahrhunderts – namentlich bei Adelung50 – zugleich auch jene Instanzen benannt sind, von denen Figuren vom Typus des Vor-Augen-Stehens und Vor-Augen-Stellens ausgehen und auf die sie wirken sollen. Auf der anderen Seite aber erscheint der Brief Wieland als etwas, was ‚in seiner Art ein wahres Meisterstück‘ ist – ein Prädikat, das mit überhitzter Einbildungskraft und Schwärmerei eigentlich nur schwer vereinbar ist. Und in der Tat 50 Vgl. Johann Christoph Adelung: Ueber den Deutschen Styl, 3 Bde., Berlin 1785. Unter dem Lemma „Lebhaftigkeit“, die als eine der zwölf „Vollkommenheiten der Rede“ (in die die ursprünglich vier virtutes elocutionis hier ausdifferenziert werden) erscheint, versammelt Adelung – der im Kern „alle Figuralität als Hypotypose“ denkt (Campe: Vor Augen Stellen, S. 210) – die gesamte Lehre von den Figuren, die er dabei (nicht ohne diese Leistung stolz hervorzuheben) jeweils den vier unteren Seelenvermögen (Aufmerksamkeit, Einbildungskraft, Gemütsbewegungen und Leidenschaft, Witz und Scharfsinn) zuordnet. Die Eigenschaften, die von Quintilian der hypotyposis näherhin zugeschrieben wurden, verteilen sich auf zwei Unterabschnitte der „Figuren für die Einbildungskraft“: 1) „Auflösung eines Ganzen in seine einzelnen Theile“ mit den Instanzen „Beschreibung und Schilderung“ (hier fällt der Ausdruck „hypotyposis“) und „Individualisierung allgemeiner Begriffe“ (Adelung: Ueber den Deutschen Styl, Bd. 1, S. 340–357), 2) „Darstellung eines abwesenden Dinges als gegenwärtig“ mit den Instanzen „Gebrauch des Präsentis anstatt des Präteriti“ und „Die Vision“ (ebd., S. 442–450). Die „Lebhaftigkeit“ selbst definiert Adelung wie folgt: „Ein Ausdruck ist lebhaft, wenn er eine der unteren Kräfte der Seele in Bewegung setzt. Die Lebhaftigkeit des Styles ist folglich diejenige Vollkommenheit desselben, nach welcher er auf die untern Kräfte der Seele wirkt, oder dieselben in Bewegung setzt; oder mit anderen Worten, welche eine anschauende Erkenntniß gewähret, bey welcher man Bezeichnete klärer denkt, als das Zeichen oder Bezeichnende.“ (ebd., S. 279).
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lässt sich – bei kaltem Blute – sagen, dass der Brief tatsächlich ein Meisterstück ist. Er ist es aber nicht zuletzt vor allem aufgrund des in ihm aufgebotenen ausgeklügelten rhetorischen Decorums. So ist der Brief voll von Figuren der Wiederholung: sei es nun auf der Ebene der Phonetik, etwa in stabreimartigen und vokalmodulierenden Phrasen wie „conficior enim maerore, mea Terentia, nec meae me miseriae magis excruciant quam tuae vestraeque“51, oder sei es auf der lexikalischen Ebene, wie bei den mehrfach aufgerufenen Ausdrücken conficior, miseria, maeror, oder sei es schließlich auf der Ebene von Kolon, Periode und Paragraph, wo sich das repetitive Moment vor allem in Form einer ganzen Reihe von (zum Teil in Antithesen umschlagenden) Parallelismen bemerkbar macht. Abgesehen von den schwer zu umgehenden Strukturen auf der syntaktischen Ebene hat Wieland es offenbar ebenso sehr vermieden, ein Äquivalent für die lautlichen Eigenschaften des Briefes zu geben, wie er sich bemüht hat, die Wortwiederholungen (die unverändert zu übertragen sicherlich nahe gelegen hätte) zu vermeiden oder zu mildern – womit zugleich ein erster Hinweis gegeben wäre, was ihm beim Übersetzen „so unbeschreiblich sauer“ angekommen sein und inwiefern er den Brief „noch zu sehr geschont“ haben könnte. Dass der Brief in der Tat „in seiner Art ein Meisterstück ist,“ wird schließlich endgültig deutlich, wenn man den Kontext berücksichtigt, in den die beiden Okkurrenzen der Figur des Vor-Augen-Stehens eingebettet sind. Im unmittelbaren Vorfeld ihrer ersten Evokation stellt Cicero nämlich zunächst eine Parallele zwischen dem Leid seiner Gattin und seinem eigenen Leid her. Dieser Reziprozität suggerierende Parallelismus wird dann zunächst in einer diaphoretischen Wendung in ein Steigerungsverhältnis überführt, demzufolge er selbst das größere Leid trage, weil er das ihrige verschuldet habe, um schließlich mit dem Aufruf des ante oculos die Möglichkeit einer chiastischen Lesart zumindest zu streifen, durch die die Schuldenlast von ihm auf seine Gattin gleichsam zurücküberschrieben werden kann: steht sie ihm doch in ihrem Leid stets vor Augen und löst in diesem Vor-Augen-Stehen gleichsam seine Schuld aus. Die zweite Okkurrenz der Figur des Vor-Augen-Stehens erfolgt demgegenüber in engem Zusammenhang mit dem Anerbieten Terentias, Rom zu verlassen und sich mit ihrem Gatten am Ort des Exils zu vereinen, was von Cicero jedoch mit der Begründung abgelehnt wird, er werde entweder nach Rom kommen, falls sie und die Ihrigen dort etwas für ihn ausgerichtet hätten, oder aber – und hier endet die Phrase in Anakoluth und Aposiopese: „Si perficitis, quod agitis, me ad vos venire oportet; sin autem – sed nihil opus est reliqua scribere,“52 die von Wieland – der zwar nicht an 51 Cicero: Ad familiares, XIV.3.1, S. 528. 52 Ebd., XIV.3.5, S. 529.
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dieser Stelle, aber bereits zuvor mehrfach in Fußnoten auf Ciceros Drohen mit Selbstmord aufmerksam gemacht hatte – hier im Übrigen getreulich (wenngleich etwas gemildert) nachgebildet wird: „Bringt ihr das Werk zu Stande, so ists an mir, zu Euch zu kommen; wo nicht, so – ists überflüssig mehr zu sagen.“53 Und an eben dieser Stelle des Abschieds, an der sich der zuvor nur andeutende Chiasmus der Schuldüberschreibung endgültig vollzogen zu haben scheint, bemüht Cicero erneut die Figur des VorAugen-Stehens: „mea Terentia, quam ego videre videor.“ Einerlei, ob man dieses videre videor etymologisierend als ‚ich werde gesehen wie ich dich sehe‘ liest, womit es gleichsam zur Fortsetzung des schuldüberschreibenden Chiasmus geriete, oder ob man in ihm bloß das paronomastische Spiel am Werk sieht: Spätestens hier wird klar, warum Wieland diese Stelle (ebenso wie diejenige, die das Vor-Augen-Stehen in einem ostenditur verlängert) nicht wörtlicher wiedergegeben hat und was ihn an diesem Brief so besonders irritiert: Er lässt sich nämlich – unabhängig davon, ob man ihn eher als Exempel forensischer oder eher als Beispiel epideiktischer Beredsamkeit versteht – gerade nicht als einer jener ‚zufälligen Briefe‘ lesen, in denen Cicero ohne „künstlich angepaßte Larve“ spricht, und von dessen Existenz das Gelingen der hypotypotischen Vergegenwärtigung ebenso wie die Erfüllung des Versprechens abhängt, dass sich die Briefe als ‚anziehend‘ erweisen werden. Durch seine Anmerkung hat ihn Wieland gleichwohl ausgezeichnet, und durch eben diese Anmerkung bleibt es – jedenfalls Lesern von kaltem Blute – möglich, durch Wielands Übersetzung hindurch zwar nicht den wahren Cicero, aber die Machart seines Briefes zu entdecken. VII. Allerdings lässt sich zeigen, dass diese Privilegierung der hypotypotischen Nahschau, als der Möglichkeit durch den Briefwechsel zu einer „wahrern und anschaulichern Kenntniß“ des Menschen und Individuums Cicero zu gelangen und seine „genaue und vertraute Bekanntschaft“ zu erlangen, bereits zu Beginn der Vorrede – also wenige Seiten bevor Wieland eben dies als besondere Leistung seiner Übersetzung anpreisen wird – letztlich von ihm selbst mit Zweifeln belegt worden ist. In Hinblick auf das Kriterium der Gemeinnützigkeit des Übersetzungswerks nämlich schreibt er: Alles Vergangene kommt, wie es scheint, in einer Art von Kreislauf der Zeiten, in mehr oder minder veränderter Gestalt wieder. Die alte Geschichte ist eine Art von Orakel zur Belehrung und Warnung derjenigen, deren Geschichte in tausend Jah53 Wieland: Cicero’s Briefe, III.29, Bd. 2, S. 105.
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ren die alte seyn wird: nur Schade, daß diese prophetische Stimme das Schicksal der Weissagungen der Trojanischen Cassandra hat: man versteht sie nicht, weil man sie nicht verstehen will; man glaubt ihr nicht, weil man keine Lust hat ihr zu gehorchen. Nichts kann für Leser von hellem Kopfe unterhaltender seyn als aus dem hohen Standpunct, worauf uns achtzehn verflossene Jahrhunderte gestellt haben das ganze Spiel derjenigen zu überschauen, die einst in der Gegenwart dessen, was für uns Vergangenheit ist, wie in einem großen unsichtbaren Netze befangen waren: zu sehen, wie oft sie mit den schärfsten Augen bloß deßwegen falsch sahen, weil die Gegenstände ihnen zu nahe waren, oder weil das Große, worauf ihr Blick unverwandt hätte geheftet seyn sollen, durch kleine sie umgebende Dinge verdeckt oder durch krumme Pfade aus ihren Augen gerückt wurde. Wie oft, wenn man sie verlegen und ängstlich nach dem rechten Weg oder sichersten Ausweg hin und her rennen sieht, möchte man ihnen von oben herab zurufen: Hieher! Hieher!54
Auffällig ist an dieser Passage zunächst einmal, dass sich hier offenbar zwei unterschiedliche Geschichtsmodelle gegenüberstehen. Auf der einen Seite ist vom ‚Kreislauf der Zeiten‘ die Rede, in der ‚alles Vergangene in mehr oder minder veränderter Gestalt wiederkehrt‘. Damit wird als Prämisse die Möglichkeit, wenn nicht einer Identität, so doch einer Ähnlichkeit der Zeiten und Umstände vorausgesetzt, und Wieland scheint zunächst einmal keinen Zweifel daran zu lassen, dass die zumindest prinzipielle Möglichkeit der Belehrung der Gegenwart durch die Vergangenheit in eben dieser Ähnlichkeit der Zeiten und Umstände liegt: „Die alte Geschichte ist eine Art von Orakel zur Belehrung und Warnung derjenigen, deren Geschichte in tausend Jahren die alte seyn wird.“55 Auf der anderen Seite allerdings spricht Wieland von „dem hohen Standpunct, worauf uns achtzehn verflossene Jahrhunderte gestellt haben“. Damit aber avanciert nunmehr offenbar die in räumliche Metaphorik überführte, und damit als Verhältnis einer räumlichen Distanz ausgezeichnete Differenz zwischen den vergangenen und gegenwärtigen Zeiten und Umständen zur zentralen Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis. Nur aufgrund der Distanz zum Geschehenen, nur durch die zeitliche Differenz, die die Gegenwart von der Vergangenheit trennt, wird es demnach möglich, „das ganze Spiel […] zu überschauen.“ Wenn Wieland im Rahmen der sich hier unmittelbar anschließenden syntaktischen Einschachtelung all das aufzählt, was die Protagonisten des Briefwechsels falsch oder gar nicht sahen, und die Begründung für diese Blindheit der „schärfsten Augen“ gerade in der übergroßen Nähe der Gegenstände verortet, ja sogar davon spricht, dass die Akteure „in der Gegenwart dessen, was für uns Vergangenheit ist, wie in einem großen unsichtbaren Netze befangen waren“, so ist darin eigentlich bereits eine Absage an alle Versuche impliziert, sich der Erkenntnis des Ver54 Ebd., Bd. 1, S. VIIff. 55 Ebd., S. VII.
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gangenen durch Techniken detaillierender Vergegenwärtigung (als die aber doch die „anschaulicher[e] Kenntnis“ gewährenden Briefe wenig später erscheinen werden) versichern zu wollen. Doch Wieland rückt selbst die Auffassung, dass sich damit der Überblick über das Ganze – gleichsam die evidentielle, auf der durchgängigen Klarheit und Durchsichtigkeit des Erzählten bestehende Lesart des Briefcorpus – als privilegierter Zugang zur Vergangenheit erweist, sogleich in die Nähe negativ besetzter moralischer Kategorien – beinahe so, als ob sich im höheren Standpunct zugleich auch die Hochmut verbergen könnte – etwa wenn er bemerkt: Ein sinniger Leser, der diese Briefe nicht bloß zum Zeitvertreibe durchblättert, würde nicht selten in Versuchung kommen, Männer vom größten Geiste, die in den größten Verhältnissen und Geschäften grau wurden, einer unbegreiflichen Schwachsinnigkeit zu beschuldigen, wenn er nicht bedächte, daß die Anscheinungen, von welchen sie sich irre führen ließen, ihn selbst bloß darum nicht täuschen, weil der vor seinen Augen liegende Zusammenhang der Dinge, die Jenen als abgerißne Bruchstücke erschienen, ihm viel richtigere Ansichten giebt, weil keine Leidenschaften sein Urtheil trüben, und kein persönliches Interesse ihm die Dinge in ein verfälschendes Helldunkel stellt.56
VIII. In der Tat ließe sich sagen, dass Wieland das hier artikulierte doppelte Programm eines Spiels von evidentia und hypotyposis, von evidentiellem Gesamtüberblick und hypotypotischer Nahaufnahme einerseits und der im Schlagschatten dieses Spiels sich einstellenden Sophrosyne des Lesers – der hier die Gestalt des Übersetzers, Anmerkungs- und Fußnoten-Verfassers Wieland annimmt – im neunten Buch seiner Cicero-Übersetzung umgesetzt hat.57 Gegenstand des neunten Buches sind – daran sei noch einmal erinnert – die aus der Zeit des einsetzenden Bürgerkrieges stammenden Briefe. Eine ganze Reihe dieser Briefe (vornehmlich an Atticus), sind dabei der Frage gewidmet, ob sich Cicero offen dem Pompeius anschließen soll, oder ob er nach Rom zurückkehren soll, auch auf die Gefahr hin, damit zumindest den Eindruck zu erwecken, er habe sich auf die Seite Cäsars geschlagen. Anders als im dritten Buch treten damit die politischen Ereignisse und ihre Beurteilung viel stärker in den Fokus der Paratexte. So häu56 Ebd., S. IXf. 57 In dieser Bereitstellung einer doppelten – evidentiellen und hypotypotischen – Lesart rückt die Cicero-Übersetzung nicht zufällig in die Nähe des Spiels mit disjunkten Wahrscheinlichkeitskonzepten, das sich – als Figur der „unwahrscheinlichen Wahrscheinlichkeit“ – zwischen den verschiedenen Erzählinstanzen des Agathon entfaltet. Vgl. dazu: Rüdiger Campe: Spiel der Wahrscheinlichkeit. Literatur und Berechnung zwischen Pascal und Kleist, Göttingen 2002, S. 309–343.
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fen sich zum einen die Fußnoten, die die Aufmerksamkeit auf die allgemeine unsichere Informationslage, die Gerüchte und Falschmeldungen, die gewollten oder ungewollten Fehlinformationen lenken, und präsentieren damit gleichsam die in der Vorrede benannten „abgerissenen Bruchstücke.“ So etwa wenn Wieland Ciceros Referat von soeben eingetroffenen Informationen über angebliche militärische Erfolge der Pompejaner und über das Überlaufen ehemaliger Cäsarianer zur Partei des Pompeius bemerkt: „Alle diese Nachrichten befanden sich in der Folge falsch.“58 Parallel dazu trifft man am Fuße der Seiten mit zunehmender Frequenz auf Ausrufe des Erstaunens über die offenkundige – bzw. dadurch als offenkundig ausgewiesene – Unfähigkeit der Beteiligten, namentlich Ciceros, zu einer angemessenen Beurteilung der politischen Lage im Allgemeinen und der Absichten Cäsars im Besonderen zu kommen. Ciceros optimistische Annahme, man werde jetzt angesichts Cäsars Angebot, seine Besatzungen (unter der Bedingung, dass er zum Konsul gewählt werde) aus den italienischen Städten abzuziehen, „vor der Hand Frieden“ haben, weil dieser es womöglich schon bereue, „einen so tollkühnen Schritt“ wie den Einfall in Italien getan zu haben und auch Pompeius wohl bereits zu ahnen beginne, „daß er seiner Macht zu viel zugetraut haben könnte“59, kommentiert Wieland in einer Fußnote wie folgt: „Sonderbar, dass Cicero mit allem seinem Scharfsinn sich an Cäsarn immer irrt!“60 Und die im darauffolgenden Brief geäußerte Ansicht Ciceros, dass er dieses Manöver Cäsars nicht für eine Finte halte, weil Cäsar „wenn wir ihn zum Consul gemacht haben werden, den Sieg über uns erhalten [hätte], und einen Sieg, der ihm wenigstens ein geringeres Verbrechen gekostet hätte, als sein Einfall in Italien war“61 quittiert Wieland mit der Bemerkung: „Da irrt er sich schon wieder gröblich an Cäsarn, der sich eben so wenig einfallen ließ, seine Besatzungen aus den Grenzstädten wieder heraus zu ziehen, als ihre Einnahme für ein Verbrechen zu halten.“62 Demgegenüber scheinen – anders als im dritten Buch – jene Fußnoten und Anmerkungen, die sich anstatt auf das Erkenntnis- oder Divinationsvermögen Ciceros in politischer Hinsicht eher auf sein Verhalten im Privaten beziehen, deutlich zurückzutreten. Gleichwohl nutzt Wieland auch hier zuweilen die Gelegenheit, etwa auf die finanziell desolate Lage Ciceros an58 Ebd. IX.44, Fn. 1, Bd. 4, S. 148 (vgl. Cicero: Ad Atticum VIII.3, Bd. 1, S. 293). Diesen Brief erklärt Wieland im Übrigen zum „wichtigste[n] in diesem Buch“, weshalb er „mit besonderer Aufmerksamkeit erwogen zu werden“ verdiene. (Wieland: Cicero’s Briefe, IX.44, Fn. 1, Bd. 4, S. 140) 59 Ebd. IX.28, Bd. 4, S. 99f. (vgl. Cicero: Ad Atticum VII.14, Bd. 1, S. 269). 60 Wieland: Cicero’s Briefe, IX.28, Fn. 2, Bd. 4, S. 99. 61 Ebd. IX.29, Bd. 4, S. 108 (vgl. Cicero: Ad Atticum VII.15.3, Bd. 1, S. 271). 62 Wieland: Cicero’s Briefe, IX.29, Fn. 1, Bd. 4, S. 108.
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zuspielen (und zwar zum Teil selbst dort, wo der Brieftext einen Zusammenhang nicht unmittelbar hergibt)63 oder scheinbar unauffällige Randbemerkungen über Cicero missfällige Sklaven und Diener zu machen, die dieser schon in vorangegangen Briefen loswerden wollte, die aber nach wie vor in seinen Diensten zu stehen scheinen64 – womit denn gleichsam die in der Vorrede benannten „kleine[n] sie umgebende[n] Dinge“, die das Große verdeckten, exemplifiziert wären. Schließlich setzt Wieland mit Zuverlässigkeit auch immer dann eine Fußnote, wenn Cicero auf den ihm als siegreicher Statthalter von Kilikien eigentlich zustehenden, vom Senat jedoch vorläufig verweigerten Triumphzug im Rahmen eines zwanzigtägigen Dankesfestes, an dessen Durchführung nach Lage der Dinge nun gar nicht mehr zu denken ist, zu sprechen kommt, und kommentiert etwa: „Das zwanzigtägige Dankfest spukt, wie wir sehen, noch gewaltig in seinem Kopf herum?“65 – ein Kommentar, der offensichtlich an die in der Vorrede als erkenntnisobstruierend identifizierten Interessen und Leidenschaften gemahnen soll. Gleichwohl erreichen diese Fußnoten nie den Grad an Explizitheit moralischer Beurteilung wie diejenigen im Dritten Buche, und Wieland scheint es hier eher dem Leser zu überlassen, seine eigenen Schlüsse aus diesem Füllhorn unterschiedlich gearteter Paratexte zu ziehen: Etwa die Frage zu beantworten, ob man die Fehlsichtigkeit der Akteure eher in der schlechten Informationslage oder eher in nebenbei anfallenden Irritationen zu verorten hat, ob man sie eher ihren Charakterschwächen oder aber eher ihrem Edelsinn – wie es etwa die Fußnote über den die Finten Cäsars nicht erkennenden Cicero insinuiert – zuzurechnen hat. Damit aber ist es nicht mehr so sehr die ‚wahrere und anschaulichere Kenntnis‘ des Charakters von Cicero, die sich beim Leser einstellt, sondern es ist der desorientieren63 Auf Ciceros Geldnöte weist Wieland etwa in Paratexten zu IX.37, IX.58 und IX.59 hin. Ein Beispiel für eine nahezu unmotivierte Erwähnung der monetären Zwangslage lautet etwa wie folgt: „Cicero scheint, als er diesen Brief schrieb, etwas übellaunig und nicht sonderlich zufrieden mit Atticus gewesen zu sein; vermuthlich weil dieser, da ihm die Geldbedürftigkeit seines Freundes doch sehr wohl bekannt war, sich nicht selbst erboten hatte, ihm seine Casse aufzuschließen.“ (ebd., IX.48, Fn. 1, Bd. 4, S. 156f.) 64 Siehe vor allem Ciceros Äußerungen und Wielands Kommentare zu einem Freigelassenen Terentias namens Philotimus in den Briefen VIII.31. und VIII.32 (vgl. Cicero: Ad Atticum, VI.4 und VI.5), die später ihre Fortsetzung in den mit einem wahren Feuerwerk von Fußnoten und Anmerkungen versehenen Briefen IX.3., IX.5 und IX.4 finden (vgl. Cicero: Ad Atticum, VI.9 und VII.1 sowie Cicero: Ad familiares, XIV.5). 65 Wieland: Cicero’s Briefe, IX.6, Fn. 2, Bd. 4, S. 32. Für weitere Kommentare zu Ciceros Obsession mit dem Triumphzug siehe auch: ebd., IX.35 und IX.43, Bd. 4, S. 120 bzw. S. 139 (vgl. Cicero: Ad Atticum, VII.2.8, VII.20.2 und VIII.2.4, Bd. 1, S. 246, S. 277 bzw. S. 289).
O veteres mei, quos ego videre videor
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de Charakter seiner unterschiedlichen und womöglich disjunkten Beweggründe selbst, der sich dem Leser im Gewimmel der Fußnoten vor Augen zu stellen beginnt. IX. Vor-Augen-Stellen findet also, so viel sollte deutlich geworden sein, in der Tat in Wielands Übertragung des Cicero-Briefwechsels – anders als in seiner Horaz-Übersetzung – schon als Verfahren selbst nur im Medium und dank der Paratextualität statt, derer es sich als Rahmungen bedient, um sein Potential an Effekten ausspielen zu können. Zugleich allerdings lässt diese veränderte Konfiguration von Vor-Augen-Stellen und Paratextualität – und auch das unterscheidet sie von derjenigen, die sich in der Horaz-Übersetzung ausgeprägt findet – Vor-Augen-Stellen in seinen dispositionellen Aspekt (als evidentia) und seinen tropologischen Aspekt (als hypotyposis) auseinanderfallen und gibt – indem sie ein intrikates Spiel zwischen einer evidentiellen und einer hypotypotischen Lesart des Textes entfaltet – diese beiden Aspekte als disjunkte Wahrnehmungs- oder Erkenntnismodi zu erkennen. Möglich wird das dadurch, dass die Vorrede als allgemeiner paratextueller Rahmen diese beiden verschiedenen Rezeptionsweisen vorschlägt, und die Fußnoten und Anmerkungen als paratextuelle Einzelrahmungen jene ‚Blickwinkel‘ generieren, durch die einmal die hypotypotische Nahsicht (und ihre Probleme) und einmal der evidentielle Gesamtüberblick (und seine Probleme) in den Fokus rücken. So tendieren – wie gezeigt – die Fußnoten und Anmerkungen des dritten Buches (den Vorgaben der ersten von der Vorrede vorgeschlagenen Lesart entsprechend) dazu, die einzelnen Briefe jeweils als paratextuelle Rahmungen zum Gegenstand einer hypotypotischen Nahschau zu erklären, durch die sich Ciceros Person und Charakter dem Leser in all seinen Facetten jeweils besonders freimütig offenbaren und wie ‚lebendig‘ vor Augen stellen sollen. Als Höhepunkt dieser Reihe von Nahschauen entpuppt sich dann allerdings ein Brief, in dem durch die begleitende Anmerkung und durch die mildernde Übersetzungsweise, auf die die Anmerkung zugleich die Aufmerksamkeit lenkt, gerade die beredende Kraft und der illusorische Effekt hypotypotischer Verfahrensweisen aufgedeckt wird. In seiner inhaltlich-moralischen Distanzierung, die seine rein formale Distanz gegenüber dem eigentlichen (Ausgangs-)Text explizit macht, rückt der Paratext hier also nicht erneut die Person Ciceros, sondern den Ausgangstext in seiner Differenz zum Zieltext näher an den Leser heran. Umgekehrt versuchen die Fußnoten und Anmerkungen des neunten Buches (indem sie die Vorgaben der zweiten der von der Vorrede vorgeschlagenen Lesart umsetzen) als paratextueller
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Rahmen einen evidentiellen Überblick über die gesamte Reihe der Briefe in ihrem nachträglich ‚vor Augen liegenden Zusammenhang‘ zu eröffnen, indem sie sich durch die Anführung von Informationen, die den Akteuren selbst unbekannte Tatsachen nachtragen oder proleptisch auf die spätere historische Entwicklung verweisen, von dem ursprünglichen Textkorpus als privilegierter Quelle distanzieren. Weit entfernt davon allerdings, eine grundsätzliche Überlegenheit gegenüber der hypotypotischen Nahschau zur Schau zu stellen, gibt sich auch der paratextuell erzeugte Gesamtüberblick in seinen nicht selten mit Fragezeichen versehenen und die Motivlagen der Akteure bisweilen auch widersprüchlich ausdeutenden Äußerungen bei näherer Betrachtung – und ganz im Einklang mit der Warnung der Vorrede vor der Hybris der sich gleichsam auf dem Feldherrenhügel wähnenden Nachgeborenen – selbst als rhetorischer Effekt zu erkennen. Dass sich Wieland in dieser Versuchsanordnung als Inbegriff der Sophrosyne (ein Prädikat, das er in der Rezension von De officiis übrigens einst Garve zuerkannt hatte)66 inszenieren kann, mag ihm gegönnt sein – lässt seine Übersetzung im Medium ihrer Paratexte doch beständig durchblicken, dass sein Verständnis der alten Geschichte ebenso wie seine Übersetzung der Texte der Alten stets der Effekt von Figuren der aktualisierenden Vergegenwärtigung ist, die sich selbst wiederum nur in der paratextuellen Entfernung von den Texten der Alten realisiert. Mit anderen Worten: dass und inwiefern er die Alten stets nur zu sehen scheint.
66 Vgl. Wieland: (Rez.) Cicero’s Abhandlung, S. XXII.
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Der Herausgeber als Übersetzer und Autor Wielands 1764 erschienener – zeitgleich mit den Shakespeare-Übersetzungen und einer ersten Version der Geschichte des Agathon entstandener – Roman Don Sylvio von Rosalva beginnt mit einem „Nachbericht des Herausgebers, welcher aus Versehen des Abschreibers zu einem Vorberichte gemacht worden“. Die beiden ersten Sätze des „Nachberichts“ lauten: Ich muß es dem guten Willen der Leser überlassen, ob sie glauben wollen oder nicht, daß dieses Buch den Don Ramiro von Z***, der einige Jahre Gesandtschafts-Secretarius bei einem bekannten Spanischen Minister an einem deutschen Hofe gewesen, zum Verfasser habe. Ich meines Orts gestehe, daß ich die spanische Handschrift nicht selbst in Händen gehabt; allein mein Freund, der Herr Übersetzer, erzählt mir in einem Schreiben, worin er mir aufträgt, die Ausgabe dieses Werks zu besorgen, eine so umständliche und wohlzusammenhangende Geschichte der besagten Handschrift und ihrer seltsamen Schicksale, der Ursachen warum, ungeachtet des günstigen Urteils, so der Erzbischof von T*** davon gefällt, dieselbe in Spanien niemalen zum Druck gelangen können, und auf was Art sie, vor einigen Jahren in seine Hände gekommen; daß ich mir die Mühe nicht geben mag, an der Wahrheit seiner Erzählung zu zwei1 feln.
Was geschieht in diesen beiden Sätzen? Wir erfahren durch den Vorredenverfasser, dass er von seinem Freund, dem „Herrn Übersetzer“, den Auftrag erhalten hat, die Erzählung des „Don Ramiro von Z***“ herauszugeben. Und das heißt, dass er die bis dato noch ungedruckte Geschichte, die sein Freund aus dem Spanischen übersetzt hat, nun in Deutschland veröffentlichen soll. Der Umstand, dass die spanische Handschrift eine eigene, „umständliche“, aber „wohlzusammenhangende“ Geschichte hat, die ihm von seinem Freund, dem Übersetzer, erzählt worden ist, wird für den Herausgeber zu einem Indiz für die Wahrheit der Erzählung. Mit einem Wort: die ersten Sätze – einschließlich der Überschrift – dienen offensichtlich dazu, den Vorredenverfasser als Herausgeber auszuweisen, dessen Funktion es ist, für ein aus dem Spanischen ins Deutsche übersetztes Manuskript einen Verleger zu finden, der dieses drucken lässt. Dabei fällt nun aber die merkwürdige Überschrift ins Auge, die auf ein „Versehen des Abschreibers“ verweist, sich aber bei näherer Betrachtung
1
Christoph Martin Wieland: Der Sieg der Natur über die Schwärmerei. Oder Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva. Eine Geschichte worin alles Wunderbare natürlich zugeht (1764), Leipzig 1795 (Reprint München 1964), S. 9.
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als „fausseté significative“2 entpuppt, mit dem ein performativer Widerspruch in Szene gesetzt wird. Das Performative dieses Widerspruchs leitet sich von dem im Titel protokollierten drucktechnischen Unglücksfall her: Liegt ein Versehen des Abschreibers vor, dann wurde dieses entweder vom Herausgeber vor dem imprimatur oder vom Drucker vor dem Druck entdeckt. Beides wäre möglich. Unwahrscheinlich erscheint dagegen der mit der Überschrift behauptete Fall, dass das Versehen des Abschreibers bemerkt, aber nicht korrigiert, sondern lediglich protokolliert und kommentiert wird. Verstärkt wird dieser Widerspruch dadurch, dass der Verfasser im Rahmen des „Nachberichts“ auf sich selbst als „Vorredner“ Bezug nimmt, wenn er schreibt: „[I]ch kenne die Ehrerbietung sonst ganz wohl, die ein Vorredner dem hochansehnlichen Publico schuldig ist“.3 Die poetische Funktion dieses performativen Widerspruchs besteht offenbar in einer Ironisierung der Manuskriptfiktion: nicht nur die Zuverlässigkeit des Abschreibers, auch die des Herausgebers muss in Zweifel gezogen werden. Mit anderen Worten: Die Unzuverlässigkeit betrifft sowohl die kopierenden Transkriptionen des Abschreibers als auch deren transkriptive Weiterverarbeitung durch den Herausgeber oder den Drucker. Bongjie Lee stellt in ihrer von Gérard Genette inspirierten Untersuchung zum Roman à editeur fest, dass in den Brief- und Manuskriptfiktionen des 18. Jahrhunderts die Rolle des Übersetzers und die des Kopisten insofern vergleichbar sind, als es sich um zwei Modi handelt, in denen sprachliche Transkriptionen vorgenommen werden.4 Ich möchte diesen Gedanken aufgreifen und mit dem von Ludwig Jäger eingeführten Begriff der „transkriptiven Weiterverarbeitung“ verbinden5, der in die gleiche Richtung zielt, aber sehr viel weiter reicht: Transkription bezeichnet danach alle nur denkbaren Formen der Umschrift, aber auch der Übersetzung. Dabei ist die transkriptive Bearbeitung einer Äußerung – sei es durch ihren Produzenten, sei es durch ihren Rezipienten – die Reaktion auf eine Störung des Verstehens. Diese Störungen können unterschiedlichste Gründe haben – Unverständlichkeit, Unlesbarkeit, Unrichtigkeit eines Wortes, aber auch die falsche Unterstellung, dass Wissen situationell geteilt wird, das von den Interaktanten de facto nicht geteilt 2 3 4 5
Pierre Daniel Huet: Traité de l’origine des romans, Faksimiledrucke nach der Erstausgabe von 1670 und der Happelschen Übersetzung von 1682, Stuttgart 1966, S. 86f. Wieland: Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva, S. 11. Bongjie Lee: Le Roman à editeur: La fiction de l’editeur dans ‚La Religieuse‘, ‚La Nouvelle Heloise‘ et ‚Les Liaisons dangereuses‘, Bern u. a. 1989, S. 28. Ludwig Jäger: Störung und Transparenz. Skizze zur performativen Logik des Medialen, in: Performativität und Medialität, hg. von Sybille Krämer, München 2004, 35–74, hier: S. 46.
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wird.6 So kann man auf einer medialen Ebene einen handschriftlichen Text in einen gedruckten Text transformieren respektive transkribieren, um ihn besser lesbar und damit besser verständlich zu machen. Hierbei handelt es sich um eine simple Form medialer Transkription. Als linguale Transkription könnte man ganz allgemein eine sprachliche Überarbeitung innerhalb einer Sprache fassen. Eine interlinguale Transkription liegt hingegen vor, wenn man einen fremdsprachlichen Text in die eigene Sprache transformiert – oder umgekehrt. Die interlinguale Transkription nimmt also die „geregelte Transformation einer Sprache mittels einer anderen“7 vor, wobei sich die grundsätzliche übersetzungstheoretische Frage aufdrängt, ob im Vollzug dieser Transformation der Wortlaut der ausgangssprachlichen Textvorlage ‚übertragen‘ werden soll, oder ob sich der Übersetzer an der Wirkungsdimension der Zielsprache orientiert, sich also in den Verstehenszusammenhang des intendierten Publikums versetzt, um zum Beispiel durch eine bestimmte Wortwahl äquivalente konnotative Effekte auszulösen.8 Im ‚Dazwischen‘ dieser beiden Orientierungsmöglichkeiten wird die Frage nach dem Verhältnis von Treue und Freiheit verhandelt, den beiden „althergebrachten Begriffe in jeder Diskussion von Übersetzungen“, wie Walter Benjamin in seinem Essay „Aufgabe des Übersetzers“ schreibt, nämlich: „Treue gegen das Wort“ und „Freiheit der sinngemäßen Wiedergabe“.9 Benjamin will sich von dieser Diskussion lösen. Seine These lautet, dass eine Übersetzung „niemals, so gut sie auch sei, etwas für das Original zu bedeuten vermag“10, auch wenn sie mit dem Original „kraft seiner Übersetzbarkeit“ in einem „lebendigen“ Zusammenhang steht: „So wie die Äußerungen des Lebens innigst mit dem Lebendigen zusammenhängen, ohne ihm etwas zu bedeuten, geht die Übersetzung aus dem Original hervor“.11 Dieses ‚Hervorgehen‘ wird von Benjamin später als eine Form der Ableitung beschrieben12, das heißt als Resultat einer transkriptiven Weiterverarbeitung des Übersetzers, bei der ein geäußerter sprachlicher Gestalt-
6 7
Ebd., S. 42. Jacques Derrida: Semiologie und Grammatologie. Gespräch mit Julia Kristeva 1, in: ders.: Positionen, Graz/Wien 1986, S. 52–82, hier: S. 59. 8 Vgl. Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, hg. von Ansgar Nünning, Stuttgart 42008, Art. „Übersetzungstheorien“, S.736ff. 9 Vgl. Walter Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers, in: ders.: Gesammelte Schriften (=WBGS), Bd. IV.1: Kleine Prosa. Baudelaire-Übertragungen, hg. von Tillman Rexroth, Frankfurt a.M. 1991, S. 7–64, hier: S. 17. 10 Ebd., S.10. 11 Ebd. 12 Ebd., S.16.
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zusammenhang – das Original – in einen anderen sprachlichen Kontext „versetzt“ respektive „verpflanzt“13 wird, um dort zu „überleben“.14 Bemerkenswert scheint mir hier die Überblendung organischer respektive botanischer und räumlicher Konnotationen des Übersetzungsbegriffs zu sein. So wird in Zedlers Universallexikon die „translatio in aliam linguam“ als „Versetzung aus einer Sprache in eine andere“ bezeichnet15 – und auch bei Schleiermacher ist vom Übersetzen als einer Form des Versetzens die Rede, nämlich der Fertigkeit, „was eine Sprache im Gebiet der Wissenschaften und der redenden Künste hervorgebracht hat, in fremden Boden zu verpflanzen und dadurch den Wirkungskreis dieser Erzeugnisse des Geistes zu vergrößern“.16 Die Übersetzung stellt also einen lebendigen Zusammenhang zwischen dem morphologischen Aspekt der Umformung und dem topologischen Aspekt des Versetzens unter dem Vorzeichen eines Umschreibens her. Wir werden am Ende sehen, wohin dies führen kann. Zunächst aber zurück zu Wielands Don Sylvio: Vor dem Hintergrund des bisher Gesagten liegt die Vermutung nahe, dass der „Nachbericht des Herausgebers, welcher aus Versehen des Abschreibers zu einem Vorberichte gemacht worden“, die Spur einer paratextuellen Verhandlung über die Rahmenbedingungen des Übersetzens ist, bei der die offenbar verunglückte mediale Transkription des Abschreibers und die offenbar geglückte interlinguale Transkription des „Herrn Übersetzers“ in einen lebendigen – metadiskursiven – Kommunikationszusammenhang gebracht werden. Der Abschreiber setzt den Nachbericht „aus Versehen“ an den Anfang und transformiert ihn dadurch zu einem Vorbericht, nimmt also eine fehlerhafte mediale Transkription im Zuge der Drucklegung vor, indem er den Nachbericht vom Ende an den Anfang versetzt. Der Herausgeber verweist in der Überschrift auf diese fehlerhafte Transkription, ohne den Fehler zu „reparieren“.17 Er begnügt sich mit dem Indizieren dieses medialen ‚Übersetzungsfehlers‘, durch den Textteile an einen ‚falschen Ort‘ – von hinten nach vorne – versetzt wurden. Dabei – und dies betrifft noch einmal den oben erwähnten performativen Widerspruch – bleibt unklar, wann sich der mediale Transkriptionsfehler ereignet hat: Offensichtlich nach der interlingualen Transkription des „Herrn Übersetzer“ und nach dem Verfassen 13 Ebd., S. 15. 14 Ebd., S. 10. 15 Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste, 64 Bde. u. 4 Suppl.bde., Halle/Leipzig 1732–1754 (Reprint Graz 1961–1964), Art. „translatio“. 16 Friedrich Schleiermacher: Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersezens (1813), in: Das Problem des Übersetzens, hg. von Hans Joachim Störig, Stuttgart 1963, S. 39. 17 Jäger: Störung und Transparenz, S. 46.
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des Nachberichts. Aber wie sollte es dem Herausgeber dann noch möglich sein, die vom Abschreiber vorgenommene, fehlerhafte mediale Transkription zu kommentieren? Und vor allem: Warum greift er nicht ein, warum korrigiert er diesen Fehler nicht im Rahmen einer editorialen transkriptiven Weiterverarbeitung? Der performative Widerspruch betrifft also auch einen paradoxen Sprung in der Logik der transkriptiven Weiterverarbeitung – ein Sprung, der sich im space between zwischen medialer und editorialer Transkription ereignet. Ich denke, es ist kein Zufall, dass dieser performative Widerspruch Hors Texte, im Rahmen des Vorworts in Szene gesetzt wird. Zum einen stellen Paratexte den „szenischen Rahmen des Schreibens“18 dar, zum anderen erscheint das Vorwort, wie Genette in seinem Buch Paratexte betont, als „‚unbestimmte Zone‘“.19 Mit dieser Formulierung rekurriert Genette auf eine Überlegung von Compagnon, der in La Seconde main den Bereich zwischen dem Hors-Texte und dem Text als Périgraphie bezeichnet, als „zone intermédiaire“20, die der Leser passieren muss, um Zugang zum Text zu erhalten. Auf diesem Wege wird der Leser auch über die Rahmenbedingungen der transkriptiven Bearbeitung und Weiterverarbeitung des vorliegenden Textes unterrichtet. Vorworte, Nachworte, Überschriften und Fußnoten sind aber auch die Orte, an denen die unterschiedlichen Akte editorialer Transkriptionen transparent gemacht werden. So besehen könnte man Paratexte als Rahmendiskurse bezeichnen, in denen alle Akte medialer, lingualer, interlingualer und editorialer transkriptiver Weiterverarbeitung protokolliert werden: alle Eingriffe in den Text, alle Fehlerkorrekturen, alle Ergänzungen, die Abschreiber, Übersetzer und Herausgeber vornehmen – aber freilich auch die Nicht-Eingriffe, also die Entscheidung, einen Text mit Fehlern, ohne Ergänzungen, das heißt ‚originalgetreu‘ wiederzugeben. Im Fall der Herausgeberfiktion wird das Protokollieren der verschiedenen Akte transkriptiver Bearbeitung respektive Nicht-Bearbeitung zu einem wichtigen Bestandteil der Authentizitätssuggestion, die freilich zumeist durch offensichtliche performative Widersprüche – wie oben gezeigt 18 Vgl. Rüdiger Campe: Die Schreibszene. Schreiben, in: Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie, hg. von Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer, Frankfurt a.M. 1991, S. 759–772, hier: S. 764. 19 Gérard Genette: Paratexte, Frankfurt a.M. 1992, S. 10. 20 Antoine Compagnon: La Seconde main ou le Travail de la citation, Paris 1979, S. 328. Ganz ähnlich argumentiert übrigens auch Ehrenzeller in seinen Studien zur Romanvorrede, wo er behauptet, die Vorrede schütze das Werk in einem poetischeren Sinn, „als eine Art Schwelle nämlich, die Schein und Sein auseinander hält und die Welt des Buchs gegen die Wirklichkeit hin abgrenzt. Die Vorrede ist die Bühnenrampe des Romans, könnte man sagen“ (Hans Ehrenzeller: Studien zur Romanvorrede von Grimmelshausen bis Jean Paul, Bern 1955, S. 138).
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– ironisch gebrochen wird. Mit Hilfe dieses Kunstgriffs wird auf ein zentrales poetologisches Problem des 18. Jahrhunderts verwiesen, nämlich auf das Verhältnis von Authentizität im Sinne einer beglaubigten, historischen Wahrheit und poetischer Wahrscheinlichkeit im Sinne einer glaubwürdigen Geschichte. Dieses Problem wird im Rahmen von Manuskript- und Brieffiktionen zum einen durch mehr oder weniger ausführliche „Vorredenreflexionen“21 verhandelt, in denen der Vorredenverfasser das poetische Konzept seines Werks und den logischen Status des nachfolgenden Haupttextes zu bestimmen versucht. Zum anderen wird dieses Problem durch eine performative Geste markiert, nämlich durch den Bruch zwischen der Funktion Autor und der Funktion Herausgeber22, genauer gesagt, durch den Bruch23 zwischen einer auktorialen Instanz, die eine Handschrift oder einen Brief verfasst hat und einer editorialen Rahmungsinstanz, deren Aufgabe die Beglaubigung der Echtheit einer Handschrift, ihre transkriptive Weiterverarbeitung und ihre anschließende Veröffentlichung ist. Dabei wird die Verantwortung für den propositionalen Gehalt des Geschriebenen, also für die Wahrheit der Erzählung, der auktorialen Instanz übertragen, während die editoriale Instanz für die Echtheit des Manuskripts einstehen muss, also für die Behauptung, dass es ein Manuskript gibt – was ja die Voraussetzung jeder Authentizitätsfiktion ist. Die Frage ist nun, was in diesem Spiel der „Ebenendifferenzierung“24 die Aufgabe des Übersetzers ist. Meine Hypothese wäre, dass der Übersetzer eine spezifische Vermittlungsfunktion zwischen der auktorialen und der editorialen Instanz zu übernehmen hat: Der (fiktive) Übersetzer vermittelt gewissermaßen zwischen zwei Unwahrscheinlichkeiten: der Unwahrscheinlichkeit der fiktiven Erzählung und der Unwahrscheinlichkeit der Rahmenfiktion. Ich möchte diese Hypothese kurz plausibilisieren: Der unschwer zu erratende Prätext des Don Sylvio ist der Don Quixote, der sowohl mit Blick auf den Haupttext als auch mit Blick auf den Paratext eine intertextuelle Transkription erfährt. Diese intertextuelle Umschrift folgt der Doppelbe-
21 Ernst Weber: Die poetologische Selbstreflexion im deutschen Roman des 18. Jahrhunderts. Zur Theorie und Praxis von ‚Roman‘, ‚Historie‘ und pragmatischem Roman, Stuttgart u.a. 1974, S. 20. 22 Vgl. hierzu Uwe Wirth: Die Geburt das Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. Editoriale Rahmung im Roman um 1800: Wieland, Goethe, Brentano, Jean Paul und E.T.A. Hoffmann, München 2008. 23 Michel Foucault: Was ist ein Autor? (Vortrag), in: ders.: Dits et Ecrits. Schriften, Bd. 1, Frankfurt a.M. 2001, S. 1003–1041, hier: S. 1015. 24 Matthias Bickenbach: Von der Möglichkeit einer ‚inneren‘ Geschichte des Lesens, Tübingen 1999, S. 206.
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wegung von „Absorption und Transformation“25: Im Don Sylvio wird der Protagonist aus der Welt der Ritterromane in die Welt der Feenmärchen versetzt. Zugleich bleibt das Leitmotiv dieser Modulation erhalten: in beiden Romanen werden die höchst ‚unwahrscheinlichen Weltanschauungen‘ der Protagonisten dargestellt. Die intertextuelle Umschrift betrifft aber auch die paratextuelle Rahmung: Die Besonderheit der Manuskriptfiktion des Don Quixote besteht darin, dass zunächst noch gar nicht klar ist, ob es sich um eine Herausgeberfiktion handelt. Dies stellt sich erst am Ende des ersten Buchs heraus, als der Text abrupt abbricht. Es folgt der lapidare Kommentar: Das ist nun aber schade und zu beklagen, daß in diesem Moment und Zeitpunkt der Autor dieser Historie diese Schlacht abbricht, mit der Entschuldigung, daß er nichts Weiteres von Don Quixotes Taten vorgefunden, als was er bereits erzählt 26 habe.
Der Hinweis auf den Autor dieser Historie impliziert, dass die Instanz, die bisher als Erzählinstanz auftrat, ‚in Wirklichkeit‘ die Funktion eines Herausgebers hat: ein Herausgeber, der das Manuskript des Autors dieser Historie lediglich als mediale Transkription wiedergibt, und zwar so originalgetreu, dass er auch den Abbruch des Manuskripts protokolliert. Eben dadurch wird der Bruch zwischen der Instanz des Autors dieser Historie und des Herausgebers dieser Historie in Szene gesetzt: ein Bruch, der durch die Figur des Übersetzers ‚geheilt‘ werden muss. Im nächsten Kapitel berichtet nun der Herausgeber des Don Quixote, wie er auf einem Bazar ‚zufällig‘ eine Handschrift findet. Ebenso ‚zufällig‘ taucht ein „halbspanischer Morisk“ auf, der beauftragt wird, die „ganze Makulatur zu übersetzen […] ohne etwas auszulassen noch hinzuzufügen“.27 Der Zufall will es, dass es sich bei diesem Manuskript um die Fortsetzung der Geschichte des Don Quixote handelt. Dies wird dem Herausgeber in dem Moment klar, als der Übersetzer über eine Randbemerkung des arabischen Manuskripts lachen muss, in der es heißt, Dulcinea von Toboso verstehe sich vortrefflich darauf, Schweinefleisch einzupökeln. Allerdings bleiben Zweifel an der Zuverlässigkeit des Übersetzers, der als halbspanischer Moriske eben auch ein halber Araber ist, denn, wie der Herausgeber, der sich bis dato als Autor ausgab, feststellt: „dieser Nation“ ist es eigentümlich „zu lügen“.28 Hier kommt ein weiterer zentraler Aspekt der Übersetzung ins Spiel, nämlich der Aspekt der Interkulturalität. Der Abbruch des Manuskripts lässt nicht nur mittels einer ‚monumentalen Leer25 Julia Kristeva: Sèméiôtiké – Recherches pour une sémanalyse, Paris 1969, S. 146. 26 Miguel de Cervantes: Leben und Taten des scharfsinnigen Edlen Don Quixote von La Mancha (1605–1615), 2 Bde., übers. von Ludwig Tieck, Berlin 1986, S. 68. 27 Ebd., S. 71. 28 Ebd., S. 72f.
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stelle‘ den Bruch zwischen dem spanischen Herausgeber dieser Historie und dem arabischen Autor dieser Historie sichtbar werden, sondern offenbart auch einen Abgrund an Vorurteilen. Dieser Abgrund erweist sich als interkultureller Zwischenraum, als „space between cultures“29, der durch die Übersetzungsproblematik zunächst einmal überhaupt markiert wird. Zugleich eröffnet die Notwendigkeit, einen „halbspanischen Morisken“ mit der Übersetzung zu betrauen, aber auch einen „Übersetzungsraum“30, in dem kulturelle Differenzen, respektive Differenzzuschreibungen, vorgetragen und verhandelt werden. Wenngleich es in erster Linie um die Unzuverlässigkeit des anderen geht – hier vollzieht sich ein „cross-cultural interchange“31, der letztlich auch die Zuverlässigkeit des spanischen Herausgebers in Frage stellt. Immerhin präsentiert er ja – trotz aller Zweifel – die Geschichte des arabischen Autors, des Historienschreibers Cide Hamete Bengali in der unzuverlässigen Übersetzung des halbspanischen Morisken und macht sich damit zu einem Komplizen der Unzuverlässigkeit. Das im Don Quixote thematisierte Problem des unzuverlässigen Übersetzers erscheint im Don Sylvio entschärft: An die Stelle einer mutmaßlich verfälschenden interlingualen Transkription tritt die fehlerhafte mediale Transkription des Abschreibers. Umgekehrt ist der Übersetzer des Don Sylvio ein Freund, dessen Glaubwürdigkeit vom Herausgeber bekräftigt wird. Zudem ist im Don Sylvio der Übersetzer der Auftraggeber, nicht etwa der Herausgeber. Nun betrifft das Problem der Unzuverlässigkeit im Don Quixote aber keineswegs nur den ‚halbspanischen Morisken‘ als interlingualen Transkripteur, sondern auch den arabischen Historienschreiber Cide Hamete Benengeli – auch er steht ja aufgrund seiner Herkunft unter dem interkulturellen Generalverdacht, ein Lügner zu sein. Dabei stellt sich eine merkwürdige Analogie zwischen der Aufgabe des Übersetzers und der Aufgabe des Geschichtsschreibers her: Der Zusammenhang zwischen Original und Übersetzung wirft implizit auch die Frage nach dem Verhältnis von ‚historischer Wahrheit‘ und ‚Geschichtsschreibung‘ auf. Diese Frage wird von Wieland explizit in der Geschichte des Agathon verhandelt, wobei hier die Funktion des Übersetzers bemerkenswerterweise ostentativ implizit bleibt: In der Geschichte des Agathon (1766-67) übernimmt der Herausgeber nämlich selbst eine interlinguale Transkriptionsfunktion: Diese wird mit der Funktion Herausgeber gekoppelt. So lesen wir im „Vorbericht“ der Geschichte des Agathon:
29 Vgl. Wolfgang Iser: On Translatability, in: Surfaces VI/106, 1994, S.8. 30 Vgl. Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierung in den Kulturwissenschaften, Reinbek 2006, S. 246. 31 Vgl. Iser: On Translatability, S. 8.
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Der Herausgeber der gegenwärtigen Geschichte siehet so wenig Wahrscheinlichkeit vor sich, das Publicum überreden zu können, daß sie in der Tat aus einem alten Griechischen Manuscript gezogen sei; daß er am besten zu tun glaubt, über diesen Punct gar nichts zu sagen, und dem Leser zu überlassen, davon zu denken, was er will.32
Mit diesem ersten Satz wird ein poetologisches Konzept angedeutet, das einen Übersetzungsprozess der Begriffe ‚historischer Wahrheit‘ und ‚Geschichtsschreibung‘ in Gang bringt. Die Strategie, mit der dieser Übersetzungsprozess initialisiert wird, besteht in der beinahe „aufdringlichen“33 Inszenierung eines performativen Widerspruchs, der in „mehreren Varianten“34 vorgeführt wird. Die erste Variante dieses performativen Widerspruchs besteht darin, dass sich der Vorredenverfasser als „Herausgeber der gegenwärtigen Geschichte“ beschreibt, kurz darauf jedoch eingesteht, dass die Geschichte gar nicht „aus einem alten Griechischen Manuskript gezogen“ ist, sondern vielmehr „so gedichtet sei, daß kein hinlänglicher Grund angegeben werden könne, warum es nicht eben so wie es erzählt wird, hätte geschehen können“ (A, S. 12), wobei er hinzufügt: „Diese Wahrheit allein kann Werke von dieser Art nützlich machen, und diese Wahrheit getrauet sich der Herausgeber den Lesern der Geschichte des Agathons zu versprechen“ (A, S. 12). Der mit diesen Aussagen angesprochene poetische Wahrheitsbegriff verknüpft Breitingers Auffassung von Dichtung als „Nachahmung der Natur in dem Möglichen“35, die einen Begriff möglicher Wahrscheinlichkeit impliziert, mit Wielands eigener, in seiner „Theorie und Geschichte der Rede-Kunst“ entfalteten Argumentation, welche die Relevanz des Prinzips der Wahrscheinlichkeit auch für die pragmatische Dimension poetischer Rede betont: Die wahrscheinlichen historischen Fictionen begreifen alle diejenigen besondren Umstände in sich, welche der Poet erfindet, um eine gewisse Begebenheit oder Handlung in einem Grad wahrscheinlich zu machen, d. i. dem Leser begreiflich zu machen.36 32 Christoph Martin Wieland: Geschichte des Agathon (1766–1767), hg. von Klaus Manger, in: ders.: Werke, hg. von Gonthier-Louis Fink u.a., Bd. 3, Frankfurt a.M. 1986, S. 11. Im Folgenden wird im Text mit der Sigle A zitiert. 33 Vgl. Sven-Aage Jørgensen: Warum und zu welchem Ende schreibt man eine Vorrede? Randbemerkungen zur Leserlenkung, besonders bei Wieland, in: Text und Kontext, 1976, S. 3–20, hier: S. 16. 34 Vgl. Walter Erhart: Entzweiung und Selbstaufklärung. Christoph Martin Wielands ‚Agathon‘-Projekt, Tübingen 1991, S. 110. 35 Johann Jakob Breitinger: Critische Dichtkunst, Zürich 1740, 2 Bde. (Reprint Stuttgart 1966, mit einem Nachwort von Wolfgang Bender), Bd. 1, S. 262. 36 Christoph Martin Wieland: Theorie und Geschichte der Rede-Kunst (1757), in: Gesammelte Schriften (=GS), hg. von Bernhard Seuffert/Wilhelm Kurrelmeyer
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Wahrscheinlichkeit wird hier als ein poetisches Verfahren des ‚Wahrscheinlich-Machens‘ vorgestellt, das produktionsästhetisch und rezeptionsästhetisch gefasst werden kann. Parallel zur rezeptionsästhetischen Kopplung des Prinzips der Wahrscheinlichkeit an das Leserbewusstsein, nimmt Wieland eine produktionsästhetische Bestimmung des Poeten als umständlichen Historicus vor. Beim Erfinden wahrscheinlicher historischer Fiktionen macht der Poet „nichts anders, als daß er dasjenige umständlich entwickelt […], was der Historicus nur mit wenigen Worten anzeigt“.37 Die Aufgabe des Poeten besteht nämlich darin, daß er von den Wirkungen, bey deren Erzählung der Historicus stehen bleibt, die Ursachen und Ressorts mit ihren besondersten Umständen auf eine psychologische Art und nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit entdeckt und endlich, dass er die Lücken ausfüllt, welche der Geschichtsschreiber gelassen hat. In diesen historischen Dichtungen ist also der Poet eigentlich ein Philosoph.38
Der poetisch-philosophische Geschichtsschreiber ergänzt mit seiner Erzählung der psychologischen Ursachen jene Leerstellen, welche die „Erzählung des Historicus“ hinterlassen hat. Dergestalt wird die poetische Tätigkeit zu einer poetischen Transkription der Geschichtsschreibung, insofern das Konzept des Historicus in das Konzept des ‚umständlichen Historicus‘ übersetzt wird. Das heißt: Unter dem Deckmantel der Übersetzungsfiktion im Sinne einer interlingualen Transkription wird ein ganz anderes Problem verhandelt, nämlich das Problem einer konzeptionellen Transkription, bei der es um die Transformation der Konzepte ‚Geschichtsschreiber‘ und ‚Wahrheit‘ geht. Die zweite Variante des performativen Widerspruchs begeht der „Herausgeber der gegenwärtigen Geschichte“, wenn er einerseits behauptet, er sehe „so wenig Wahrscheinlichkeit vor sich, das Publicum überreden zu können, die Geschichte sei in der Tat aus einem alten Griechischen Manuskript gezogen“ (A, S. 11), dass er die Beantwortung dieser Frage dem Leser überlassen wolle. Im weiteren Verlauf der Geschichte nimmt der Herausgeber jedoch andererseits immer wieder auf das Manuskript des griechischen Autors Bezug: sei es in Form romanpoetologischer Reflexionen über die narrative Wahrscheinlichkeit der Geschichte, sei es in Form editorialer Symptomkommentare, die sich auf ‚monumentale Leerstellen‘ des Manuskripts beziehen, so wenn der Herausgeber darauf hinweist, das Manuskript sei „an diesem Ort halb von Ratten aufgegessen“ (A, S. 493). Die Verantwortung für die „alte Handschrift“ (A, S. 494) und die gewaltsame Finalisierung des Erzähldiskurses obliegen eindeutig dem u.a., Abt. I, Bd. 4: Prosaische Jugendwerke, Berlin 1916 (Reprint Hildesheim 1986), S. 344. 37 Ebd. 38 Ebd.
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griechischen Autor. Er ist als narrative Instanz für die wahrscheinliche kausale Verknüpfung der Ereignisse im Rahmen der Geschichte zuständig. Der deutsche Herausgeber ist als editoriale Instanz lediglich dafür zuständig, die alte Handschrift zitierend und übersetzend anzuführen und gleichzeitig die Prinzipien seiner editorialen Transkription, also seine Politik der Übersetzung, transparent zu machen. Sein Rekurs auf das Prinzip der Wahrscheinlichkeit und die ‚historische Wahrheit‘ erfolgt dabei nicht nur mit Blick auf den Status der alten Handschrift als historisches Monument, sondern auch mit Blick auf die Erzählweise des griechischen Autors. Hierbei übernimmt der Herausgeber die Rolle eines Geschichtsschreibers, dessen Funktion von der des Romandichters scharf unterschieden wird. So lesen wir im romanpoetologisch zentralen achten Kapitel des fünften Buches: Wie groß ist in diesem Stücke der Vorteil eines Romanendichters vor demjenigen, welcher sich anheischig gemacht hat, ohne Vorurteil oder Parteilichkeit, mit Verleugnung des Ruhms, den er vielleicht durch Verschönerung seiner Charaktere, und durch Erhebung des Natürlichen ins Wunderbare sich hätte erwerben können, der Natur und Wahrheit in gewissenhafter Aufrichtigkeit durchaus getreu zu bleiben! Wenn jener die ganze grenzenlose Welt des Möglichen zu freiem Gebrauch vor sich ausgebreitet sieht; […] [s]o sieht sich hingegen der arme Geschichtschreiber genötiget, auf einem engen Pfade, Schritt vor Schritt in die Fußstapfen der vor ihm hergehenden Wahrheit einzutreten, jeden Gegenstand so groß oder so klein, so schön oder so häßlich, wie er ihn würklich findet, abzumalen (A, S. 159).
Auffällig ist nun aber, dass in der Geschichte des Agathon die Funktion des Herausgebers nicht auf die Rolle des Geschichtsschreibers begrenzt ist, sondern dass der Herausgeber zugleich als vermittelnder Übersetzer eines historischen Wahrheitsbegriffs in einen poetischen Wahrheitsbegriff auftritt. Dabei folgt Wieland offensichtlich Breitingers Auffassung, „daß ein jedes wohlerfundenes Gedichte, als eine Historie oder Erzehlung aus einer andern möglichen Welt anzusehen sey“.39 Der Poet, der die Gesetze kennt, „nach welchen alle Würckungen und Veränderungen in der gegenwärtigen Welt der würcklichen Dinge erfolgen“, und der die „Natur der Dinge“ versteht40, übernimmt insofern die Rolle eines Geschichtsschreibers als er sich bei seiner Darstellung an den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit orientiert. Die Dichtung besteht so besehen in der „neuen Zusammenordnung der würcklichen Dinge“41, wobei sie den „bekannten von der Natur eingeführten Gesetzen folget“.42 Hier zeigt sich, dass die „neue Zusammenordnung“ 39 40 41 42
Breitinger: Critische Dichtkunst, Bd. 1, S. 271. Ebd. Ebd. Ebd., S. 265.
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das Resultat einer Übersetzung ist, mit der der Dichter als poetischer Übersetzer „den Stof und die Materie aus der Welt der würcklichen Dinge entlehnen“ und das entlehnte Material „in eine willkürliche und vor ihre Absichten vortheilhaftere Verknüpfung versetz[t]“.43 Bei dieser versetzenden, sprich übersetzenden „Verwandlung des Würcklichen ins Mögliche“ muss sich der Dichter einerseits am „Beyspiel der Natur“44 orientieren, andererseits soll die Dichtung so möglich scheinen, „als die historischen Wahrheiten, die sich würcklich zugetragen haben, und durch glaubwürdige Zeugen bekräftigt sind“.45 Folglich muss der Poet eine doppelte Übersetzungsfunktion übernehmen: Er beschreibt zum einen, was „in veränderten Umständen, in die er seine Personen versetzet, wahrscheinlich hätte geschehen und erfolgen können“46, ist also derjenige, der als Dichter die Personen in „veränderte Umstände“ versetzt, mithin eine Übersetzung in eine mögliche Welt vornimmt. Zum anderen verhält sich der Poet seiner eigenen Erfindung gegenüber wie ein „Historien-Schreiber“, der ein „aufrichtiger Zeuge“47 des Geschehens ist. Das heißt, der Poet übernimmt die Rolle eines „Original-Historicus“48 und übersetzt dessen historischen Wahrheitsanspruch in einen poetischen Wahrscheinlichkeitsanspruch. Als poetischer Geschichtsschreiber ist er also dafür zuständig, die Logik der Geschichtsschreibung in die Logik der Dichtung zu übersetzen. Auch hier gilt es mithin einen ‚Übersetzungsraum‘ zu schaffen: Der Dichter beschreibt das Mögliche als Wirkliches und stellt dadurch eine „Verbindung des Erdichteten mit dem Wahren“ her. Wenn jedoch „die wahrhaften und die erdichteten Umstände mit einander streiten, so wird seine Erzehlung keinen Glauben finden, weil die Wahrscheinlichkeit einer Erzehlung eben in der Übereinstimmung aller Umstände gegründet ist“.49 Hier wird deutlich, dass das Prinzip der Wahrscheinlichkeit, dem die Dichtung hinsichtlich ihrer Bezugnahme auf die historischen Umstände unterworfen ist, das Prinzip der Widerspruchsfreiheit impliziert. Da die „Übereinstimmung aller Umstände“50 nicht als Korrespondenz mit der historischen Wirklichkeit gefasst wird, sondern als Konsistenz der wahrhaften und der erdichteten Umstände, gründet die Wahrheit der Dichtung in 43 44 45 46 47 48
Ebd., S. 272. Ebd. Ebd., S. 273. Ebd., S. 277. Ebd. Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger: Die Discourse der Mahlern, Nr. 1–3, Zürich 1721–1722 (Reprint Hildesheim 1969), Erster Theil, V. Discours, E 1, S. 37. 49 Breitinger: Critische Dichtkunst, Bd. 1, S. 279. 50 Ebd.
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einem Prinzip der Wahrscheinlichkeit, mit dem das extratextuelle Prinzip der Kausalität zu einem intratextuellen Prinzip der Konsistenz qua Widerspruchsfreiheit übersetzt wird. Umso bemerkenswerter erscheint es mir, dass dieses Prinzip der Konsistenz qua Widerspruchsfreiheit im Vorbericht zur Geschichte des Agathon nicht nur gefordert, sondern durch die performativen Widersprüche, in die sich der Vorbericht verstrickt, zugleich auch dementiert wird. Darüber hinaus frage ich mich, wie sich das Phänomen der Übersetzerfiktion – eine Fiktion, die den Übersetzer als vermittelnde Instanz zwischen Poet und Geschichtsschreiber einführt – zur Übersetzungsproblematik im Sinne einer interlingualen Transkription verhält. Und damit komme ich noch einmal auf die eingangs skizzierten übersetzungstheoretischen Implikationen zurück. Glaubt man Walter Benjamin, dann lässt sich die Aufgabe des Übersetzers „genau von der des Dichters unterscheiden“. Der Übersetzer hat die Aufgabe, „die Intention auf die Sprache, in die übersetzt wird, zu finden“; die Intention eines Dichtwerks geht dagegen niemals auf die Sprache als solche, sondern auf „bestimmte sprachliche Gestaltzusammenhänge“.51 Fast will es scheinen, als ob Benjamin die Aufgabe des Übersetzers höher schätzt als die des Dichters, denn die Intention des Dichters ist, „naive, erste, anschauliche, die des Übersetzers abgeleitete, letzte, ideenhafte Intention“.52 Dabei gleicht die Aufgabe des Übersetzers der eines Gärtners, der versucht, „in der Übersetzung den Samen reiner Sprache zur Reife zu bringen“.53 Eine unlösbare Aufgabe, wie es gleich im Anschluss heißt. Bemerkenswert scheint mir jedoch das botanische Register zu sein, das Benjamin mit dieser Formulierung zieht: da schwingt ein wenig Trauer mit über die Vertreibung aus dem Paradiesgarten und der in diesem Garten gesprochenen, ersten Sprache. Sehr viel bodenständiger, wenn auch nicht minder botanisch, heißt es an anderer Stelle: „Übersetzung verpflanzt das Original“.54 Die gleiche Metapher verwendet, wie bereits erwähnt, auch Schleiermacher, wenn er sich fragt, wie es dem Übersetzer gelingen solle, den Eindruck, den eine Verbindung von Wörtern in einer fremden Sprache beim Übersetzer hinterlassen hat, auf den Leser „fortzupflanzen“: „Wie soll nun der Uebersezer es machen, um eben dieses Gefühl, daß sie ausländisches vor sich haben, auch auf seine Leser fortzupflanzen, denen er die Uebersezung in ihrer Muttersprache vorlegt?“55 Hier fehlt der Bezug auf die 51 52 53 54 55
Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers, S. 16. Ebd. Ebd., S. 17. Ebd., S. 15. Schleiermacher: Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersezens, S. 54.
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‚reine Sprache‘, entscheidend ist die Wirkung, die die Übersetzung bei den Rezipienten hinterlässt. Die Beschreibung der Aufgabe des Übersetzers im Rekurs auf das Verpflanzen ist insofern bemerkenswert, als sie die botanische Metaphorik der ersten Geniekonzeption von Edward Young aufruft. Young schreibt in seinen 1760 ins Deutsche übersetzten Gedanken über die Original-Werke: Die Feder eines Original-Scribenten ist gleich Armidens Stabe, der aus einer dürren Wüste einen blühenden Frühling hervorbringt. Fern von diesem blühenden Frühlinge ist der Nachahmer, der die Lorberzweige nur verpflanzet, welche oft bey dieser Versetzung eingehen, oder doch allezeit in einem fremden Boden schwächer 56 fortkommen.
Auch hier wird – wie bei Wieland – das Versetzen zur Metapher des Übersetzens. Später nennt Young den Nachahmer explizit in einem Atemzug mit dem Übersetzer – beide erhöhen letztlich immer „den Ruhm ihres Originals mehr als ihren eigenen, indem sie zeigen, wie sie dasselbe nicht nachahmen können“.57 Die Nachahmung, die Kopie – aber offensichtlich auch die Übersetzung – verweisen als ‚sekundäre poetische Praktiken‘ auf die Ursprünglichkeit des Originals, indem sie dieses als Zweitschrift – bestenfalls als Umschrift – wiederholen: und in diesem Wiederholungscharakter liegt dann auch ihr wirkungsrhetorischer Nachteil: Die Nachahmung schläfert den Geist ein, wie eine Geschichte, die man zum zweiten Mal hört, während ein Original „unseren Geist erweckt“, weil es uns „einige Neuigkeiten aus einem fremden Lande“ mitteilt.58 „Solche ganz originale Schönheiten“, heißt es dann später bei Young, „können wir paradisische Schönheiten ohne Samen entsprossene Blumen nennen“: natos sine Semine flores wie Young in einer Fußnote erläuternd hinzufügt.59 Nun hat sich hier aber unter der Hand eine Verschiebung vollzogen: Während Benjamin den Übersetzungsbegriff im wahrsten Sinne des Wortes rein sprachlich fasst, wird die Übersetzung im Kontext der Genieästhetik – im Verein mit der Nachahmung – als sekundäre Praktik des Kopierens von Original-Werken ins Spiel gebracht, das heißt als Versetzen und Verpflanzen von bereits Geschriebenem, das mehr ab- als umgeschrieben wird. Mit anderen Worten: Hier ist von einer Praxis des ‚übersetzenden Dichtens‘ die Rede, die nicht selber den Samen gelegt hat, sondern die nur verpflanzt und versetzt. Im Vollzug dieser transkriptiven Praxis wird, so möchte ich behaupten, die ‚genaue‘ Unterscheidung zwischen Übersetzen 56 Edward Young: Gedanken über die Original-Werke (1759), übers. von H.E. von Teubern, Leipzig 1760 (Reprint Heidelberg 1977), S. 16. 57 Ebd., S. 50. 58 Ebd., S. 17. 59 Ebd., S. 61.
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und Dichten verwischt, sofern man Übersetzen und Dichten nicht als quasi-messianische Aufgaben, sondern als poetisches Transkriptionsverfahren begreift. Das Resultat ist eine „schöpferische Übertragung“60, die ihre Originalität hinter der Maske der sekundären poetischen Praktiken einer medialen, interlingualen, oder editorialen Transkription verbirgt. Ich denke, dass sich eben dies auch bei Wieland beobachten lässt: Er ist ein transkribierender, übersetzender Dichter, und das heißt: In seinen literarischen Werken überlagern sich die Strategien des Dichtens und des Übersetzens. Dies gilt sowohl auf der realen Ebene, insofern Wieland fremde Werke durch interlinguale, intertextuelle und konzeptionelle Übersetzung für sein eigenes Schreiben produktiv macht; es gilt aber auch auf der fiktiven Ebene, insofern sich hier eine ironische Inszenierung medialer, interlingualer und intertextueller Übersetzungsprozessen vollzieht. Doch damit nicht genug: Ich denke, der Verweis auf interlinguale Transkription bei Wieland fungiert zugleich als Metapher für die Übersetzung und Verknüpfung verschiedener poetologischer, insbesondere romanpoetologischer Konzepte. Dabei kommt – hier steht Wieland ganz in der Tradition des 18. Jahrhunderts – dem Herausgeber, genauer gesagt, dem fiktiven Herausgeber eine zentrale Rolle zu: Er übersetzt die Funktion des Geschichtsschreibers in die des Dichters, indem er in diesem konzeptionellen Übersetzungsraum als Prosopopöie unterschiedlichster Transkriptionsfunktionen auftritt.
60 Roman Jakobson: Grundsätzliche Übersetzbarkeit: Linguistische Aspekte der Übersetzung (1959), in: ders.: Semiotik. Ausgewählte Texte 1919–1982, Frankfurt a.M. 1988, S. 481–491.
3. ÜBERTRAGUNGEN – MASKERADEN – TRA(NS)VESTIEN
Florian Gelzer
Wielands Übertragungen des Galanten Am Beispiel von Gandalin oder Liebe um Liebe (1776) I. Die Geschichte spielt im Brabant des zwölften Jahrhunderts. Die bezaubernde Prinzessin Sonnemon wird von zahllosen Freiern umworben. Der unermüdlichste ist ein Ritter namens Gandalin, „[b]lauäugig, zärtlich, lieb und hold“.1 Nach einjährigem Minnedienst verlangt Sonnemon dem hartnäckigen Bewerber eine Liebesprobe ab: Drei Jahre lang soll er auf Abenteuer ausziehen, keiner Versuchung aus dem Weg gehen, aber „keine andre Kreatur / Noch Göttin in dieser Zeit […] lieben“ (S. 23). Gandalin besteht die Prüfung – da lernt er kurz vor Ablauf der Frist in Paris eine orientalische Schöne kennen, die sich ihm nur verschleiert zeigt. Nach mehreren Treffen mit der geheimnisvollen Je länger je lieber (so ihr sprechender Name) muss sich Gandalin eingestehen, dass er sich in sie verliebt und darüber Sonnemon allmählich vergessen hat. Nachdem er Je länger je lieber gegen einen Angreifer verteidigt hat, ist sie plötzlich verschwunden, nur ihr Schleier ist zurückgeblieben. Zuhause in Brabant gesteht Gandalin Sonnemon seine Zuneigung zur verschleierten Unbekannten – da taucht diese ebenfalls wieder auf. Verzweifelt hin- und hergerissen zwischen den beiden Frauen und „[u]nfähig mit getheilten Trieben / Euch glücklich zu machen“ (S. 159), will sich Gandalin das Leben nehmen. Da gibt sich die verschleierte Dame endlich zu erkennen: Sie ist niemand anderes als Sonnemon selbst, die Gandalin auf die Probe gestellt hat. Dies sind die Grundzüge einer längeren Verserzählung, die Christoph Martin Wieland 1776 unter dem Titel Liebe um Liebe im Teutschen Merkur veröffentlichte und die er später nach dem Protagonisten mit Gandalin betitelte.2 Wie viele seiner Versdichtungen erscheint auch Gandalin in 1 2
Christoph Martin Wieland: Gandalin oder Liebe um Liebe (1776), in: ders.: Sämmtliche Werke (1794–1811) (=SW), Reprint Hamburg 1984, Bd. 21, S. 1–160, hier: S. 16. Seitenangaben aus dieser Ausgabe fortan in Klammern direkt im Text. Der Erstdruck erfolgte in acht Büchern im zweiten, dritten und vierten Band des Teutschen Merkur von 1776. Gandalin gehört zu den wenig untersuchten Werken Wielands. Einführend: Florian Gelzer: Gandalin, in: Wieland Handbuch, hg. von Jutta Heinz, Stuttgart 2008, S. 237–242. Grundlegend ist die quellen- und entstehungsgeschichtliche Studie: Rudolf Germann: Wielands „Gandalin“, Leipzig 1914.
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einer Paraphrase so simpel, dass es fast schon etwas trivial, um nicht zu sagen albern, wirkt. Ein Mann steht zwischen zwei Frauen: einer unnahbaren Schönheit, deren Anblick die Männer zum ‚Überschnappen‘ bringt (S. 12f.), und einer mysteriösen Orientalin, die große Anziehungskraft ausübt, obwohl – oder weil – sie sich nie unverschleiert zeigt. Bei Sonnemon ist es vor allem ihr Blick, der Gandalin verzaubert. Fortan lebt er einem Traumbild von ihr nach, das sich von der eigentlichen Person mehr und mehr ablöst. An Je länger je lieber, das heißt an der verkleideten Sonnemon, nimmt Gandalin hingegen vor allem sinnliche Reize wahr. Erst als er beide Seiten Sonnemons erkennt und schätzen lernt: die Sonnenseite ihres Anblicks und die Sinnlichkeit ihrer Nachtseite, kommt es zu einer dauerhaften Verbindung (wie der Name ‚Sonne-Mon(d)‘ jetzt abzubilden scheint).3 Ähnliche Konstellationen von einem Mann zwischen zwei Frauen, moralischer Treue und sinnlicher Neigung, sind bei Wieland überaus häufig: Ich erinnere etwa an den Protagonisten in Don Sylvio von Rosalva (1764), der in einem Medaillon seiner vermeintlichen Geliebten das Bild einer verzauberten Prinzessin zu erkennen glaubt. In der Geschichte des Agathon (11767) wiederum vergisst der Titelheld seine „Seelenfreundin“ Psyche in den Armen der Kurtisane Danae, die er aber versucht, gedanklich mit dem Bild Psyches zu überblenden. Brisanter ist die Verwicklung in Aurora und Cephalus aus den Comischen Erzählungen (1765). Dort nähert sich der Hirte Cephalus verkleidet seiner Gattin Prokris, die sich von ihm in Gestalt des schönen Seladon verführen lässt. All diese Beispiele enden versöhnlich: Nach vielen Verwirrungen wird Don Sylvio endlich von einer realen Geliebten aufgeklärt, die sich als Enkelin der Dame auf dem Medaillon entpuppt, und auf den Boden der sinnlichen Tatsachen zurückgeholt.4 In
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Eine bemerkenswerte Interpretation findet sich im Schlussteil von: Karl-Heinz Kausch: Das Kulturproblem bei Wieland (1954), Würzburg 2001, S. 292–330. Ein Wort zu den Eigennamen: Ein „Fräulein Sunnemann“ kommt in einem im Teutschen Merkur veröffentlichten Gedicht Johann Wilhelm Ludwig Gleims vor (vgl. „Ein Minnegesang“, in: Der Teutsche Merkur 5, 1774, S. 23–25). In einem zeitgenössischen Lexikon wird „Je länger je lieber“ folgendermaßen definiert: „eine Benennung verschiedener Gewächse, theils wegen des angenehmen Geruches der Blüthen, theils wegen des Geschmackes der Wurzeln, je länger man dieselben käuet, je süßer sie schmecken“ (Art. „Je länger je lieber“, in: Johann Georg Krünitz: Oekonomisch-technologische Encyklopädie, oder allgemeines System der Staats-, Stadt-, Haus- und Landwirthschaft, und der Kunst-Geschichte, in alphabetischer Ordnung, Bd. 29, Leipzig 1784, S. 310). „[I]ch [Donna Felicia] versichere sie [Don Sylvio], daß dieses Bildniß, ungeachtet der Ähnlichkeit, die sie zu sehen glauben, nicht das meinige ist. […] Sie bemerkte die Verlegenheit, worein ihre Versicherung den guten Don Sylvio setzte, ob er gleich immer fort behauptete, daß er in diesem Bildniß, es möchte nun auch vorstellen sollen wen es wollte, niemand als sie selbst geliebt habe“ (Christoph Martin
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der Geschichte des Agathon erweist sich Psyche als Agathons Schwester und wird zur „Gespielin“ Danaes. So wird die ursprüngliche Freundschaftsliebe wieder hergestellt, und die beiden Frauen werden nahezu ununterscheidbar.5 Und in Aurora und Cephalus wird Cephalus damit zu trösten versucht, dass seine Gattin in Seladon ja eigentlich ihn geliebt habe.6 Es liegt nahe, auch Gandalins Schwanken zwischen der imaginierten und der tatsächlichen Geliebten als Parabel über den Konflikt zwischen geistiger und sinnlicher Liebe zu interpretieren. In keinem anderen Werk Wielands aber wird dieser Konflikt einer so eindeutigen Lösung zugeführt wie in Gandalin. Die beiden Geliebten sind dort zwei Seiten ein und derselben Person; und wer beide liebt, liebt demnach die eine voll und ganz. Nicht dass der Plot so schematisch verliefe: Das Schwergewicht liegt auf dem Verwirrspiel, dem der Held ausgesetzt ist, und nicht auf der vermittelnden Lösung. Dies lässt sich bereits an der subtilen Lichtregie beobachten: Immer wenn Sonnemon auftritt, tagt es, sie ist verbunden mit Helle und Klarheit. Die Gegenspielerin Je länger je lieber hingegen gehört der Nachtseite an, empfängt am Abend oder im Dunkeln. Dazwischen aber liegt ein weites Reich der Dämmerung, in dem alle Konturen verschwimmen. II. Eine leicht verständliche und vertraute Struktur, hinter der sich bei nachdenklicher Betrachtung Züge einer Parabel auf gewichtige Themen abzeichnen – diese Eigenschaft hat Gandalin mit vielen Verserzählungen Wielands im Teutschen Merkur gemein. Typisch ist auch etwas weiteres:
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Wieland: Der Sieg der Natur über die Schwärmerey, oder die Abentheuer des Don Sylvio von Rosalva, in: Wielands Werke, historisch-kritische Ausgabe, hg. von Klaus Manger und Jan Philipp Reemtsma, Bd. 7.1, bearb. von Nikolas Immer, Berlin, New York 2009, S. 323). „Niemalen hat vielleicht unter zwo Frauenzimmern, welche so geschikt waren, Rivalinnen zu seyn, eine so zärtliche, und vollkommne Freundschaft geherrschet“ (Christoph Martin Wieland: Geschichte des Agathon, in: Wielands Werke, historisch-kritische Ausgabe, hg. von Klaus Manger und Jan Philipp Reemtsma, Bd. 8.1, bearb. von Klaus Manger, Berlin, New York 2008, S. 450). „Du selbst war’st Seladon. Du suchtest sie zu trügen, / Nicht Procris, sich; ein großer Unterscheid! / Und doch gelang dir’s nur, ihr Auge zu belügen, / Nicht ihre Zärtlichkeit; / Selbst unter den geborgten Zügen / Entdekte dich ihr Herz; ihr Auge wandte sich / Von Seladon, ihr Arm umfaßte dich“ (Christoph Martin Wieland: Aurora und Cephalus, in: Wielands Werke, Bd. 7.1, S. 447).
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Die Motivik wirkt seltsam vertraut, ohne dass ein konkreter Prätext durch die Geschichte hindurchschiene oder ein bestimmter Stoff oder Mythos sich als Vergleichsgröße aufdrängte. Die Wahl gerade solcher Stoffe, die dunkel bekannt vorkommen, aber keinen konkreten Prätext assoziieren lassen, hat Wieland offenbar ganz bewusst getroffen. Auch ein gebildetes Publikum des 18. Jahrhunderts muss schon über außerordentliche Belesenheit verfügen, um Namen wie Sixt und Klärchen, Geron der Adeliche, Hüon von Bordeaux, Klelia und Sinibald oder eben Gandalin und Sonnemon mit entsprechenden Stoffen verbinden zu können. Die Entlegenheit der Prätexte hat sich auch auf die Rezeption des Gandalin ausgewirkt. Im 19. Jahrhundert machte man darin Züge von Erlebnis und Bekenntnis aus, symbolhafte Gestaltung und Gemüthaft-Inniges – kurz all das, was damals als ‚typisch deutsch‘ galt. Der Grund ist ebenso banal wie bezeichnend: Es wurde davon ausgegangen, dass Wieland für einmal keine der berüchtigten französischen Vorlagen benutzt, den Gandalin-Stoff also selbst erfunden habe.7 Die Annahme hat sich als Irrtum erwiesen: Wieland hat – wie gewohnt, muss man sagen – auf französische Stoffe zurückgegriffen.8 Bei diesem Abhängigkeitsverhältnis setzt meine Ausgangsfrage an: Wie gelingt es Wieland, einen Ursprungstext bis in die Einzelheiten ins Deutsche zu übertragen, dabei diesen zum Verschwinden zu bringen, die neue Erzählung aber vertraut und eingängig erscheinen zu lassen? Bei der Diskussion dieser Frage soll es aber wohlverstanden nicht um Spurensicherung von Quellen oder die ‚Originalitätsfrage‘ gehen. Vielmehr soll das an Gandalin Gezeigte beispielhaft für die Weimarer Verserzählungen insgesamt gelten.9 Es scheint nämlich angemessen, in Bezug auf diese von einem großen Übertragungsprogramm zu sprechen, der Übertragung französischer Novellen- und Romanstoffe in eine hybride Form der Versdichtung.10 Im Folgenden werden einige Verfahren dieser Übertragung herausgearbeitet, wobei insbesondere auch deren eigentümlicher Wirkung nachgegangen wird. Die Geschichte vom Ritter Gandalin beruht im wesentlichen auf zwei Prätexten. Beim einen handelt es sich um die Nummer 26 der Cent Nou7
Vgl. August Koberstein: Grundriß der Geschichte der deutschen National-Litteratur, 5 Bde., Leipzig 1872ff., Bd. 2, S. 148 („ganz von Wielands Erfindung“). Daneben wurde auch der Amadis als Vorlage vermutet: Vgl. Wielands Werke, hg. von Gotthold Klee, Bd. 1, Leipzig, Wien 1900, S. 270f.: „Die Quelle zum ‚Gandalin‘ aufzufinden dürfte meiner Überzeugung nach dem gelingen, der Zeit und Mühe nicht scheute, im ‚Amadis‘ von Frankreich zu suchen.“ 8 Zum ersten Mal nachgewiesen hat dies Germann (vgl. Germann: Wielands „Gandalin“). 9 Mit „Weimarer Verserzählungen“ sind die für den Teutschen Merkur entstandenen Verserzählungen, von Aspasia (1773) bis zur Wasserkufe (1795), gemeint. 10 Vielleicht sollte dieses umfangreiche Korpus in seiner Gesamtheit auch als eigenständiges Übersetzungs-Projekt gewürdigt werden.
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velles nouvelles, eine der bekannteren dieser Hundert neuen Novellen aus dem fünfzehnten Jahrhundert.11 Darin reist eine Dame aus Brabant ihrem Verlobten in der Verkleidung eines Pilgers nach, um festzustellen, dass er ihr untreu geworden ist. Enttäuscht kehrt sie nach Hause zurück und heiratet einen anderen. Da Wieland aus dieser Geschichte neben dem Schauplatz Brabant offenbar nicht mehr als das Motiv der verkleideten Geliebten entlehnt, kann sogleich zum zweiten, wichtigeren Prätext übergegangen werden. Es handelt sich um eine spanische novela von Alonso Castillo Solórzano mit dem Titel Los efectos que háce amór, die 1640 erstmals erschien.12 Ein spanischer Ritter, Don Carlos von Aragon, verliebt sich in Neapel in eine stets maskiert auftretende Dame. Er trifft sich mit ihr jeweils abends an einem vergitterten Fenster, ohne dass er ihr Gesicht je zu sehen erhielte. Eines Tages lässt ihn eine Rivalin, Prinzessin Porcia, in ihren Palast entführen. Don Carlos wehrt alle Verführungskünste dieser Prinzessin ab, um seiner maskierten Geliebten treu zu bleiben. Da eröffnet sie ihm, dass sie und die unsichtbare Neapoletanerin dieselbe Person sind – man heiratet sofort. Wieland hat diese spanische Novelle nicht im Original kennengelernt, sondern in einer Version von Paul Scarron. Dieser übersetzte Solórzanos Novelle kurz nach ihrem Erscheinen und baute sie in seinen berühmten Roman comique (1651/57) ein.13 Dort wird sie unter dem Titel L’Amante invisible (‚Die unsichtbare Geliebte‘) in einer Runde von Schauspielern vorgetragen.14 In Gandalin werden die beiden Novellen über Treue, Verwechslung und Verkleidung zusammengeführt: Das Motiv der verkleideten Geliebten, die ihrem Verlobten heimlich nachreist, um seine Treue zu prüfen, wird verbunden mit jenem der zwei rivalisierenden Frauen, die sich als dieselbe herausstellen. Die ingeniöse Art und Weise, auf die Wieland Motive und Konstellationen verschlingt, will ich hier nicht vorführen, aber doch an einem Beispiel illustrieren: Bei Solórzano (und entsprechend bei Scarron) 11 Die Novelle ist unter dem Titel La Dame cavalière bekannt (vgl. Les cent Nouvelles nouvelles [1461], hg. von Franklin P. Sweetser, Genève 1966, S. 163–181). 12 Benutzte Ausgabe: Alonso de Castillo Solórzano: Los alivios de Casandra, Barcelona 1640. Zur Rezeption Castillo Solórzanos in Frankreich vgl.: José Manuel Losada Goya: Bibliographie critique de la littérature espagnole en France au XVIIe siècle. Présence et influence, Genève 1999, S. 128–142. 13 Paul Scarron: Le Roman comique (1651/57), hg. von Jean Serroy, Paris 1985. 14 Ebd., S. 60–77. Mit den in den Roman comique integrierten spanischen novelas befassen sich u.a.: René Cadorel: Scarron et la nouvelle espagnole dans le „Roman comique“, Aix-en-Provence 1960 (zu L’amante invisible S. [9]–69); Roland Mortier: La fonction des nouvelles dans „Le Roman comique“, in: Cahiers de l’Association internationale des études françaises 18, 1966, S. [41]–51; Frederick Alfred de Armas: The four interpolated stories in the „Roman comique“. Their sources and unifying function, Chapel Hill 1971 (zu L’amante invisible S. 28–50).
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ist der Held einer unsichtbaren Geliebten hörig, während die Rivalin unverhüllt erscheint.15 In Gandalin ist es genau umgekehrt: Sonnemon bezaubert durch ihre Augen, während Je länger je lieber verschleiert auftritt – was durch ihre Zeichnung als Orientalin plausibel wird.16 Sonnemon selbst inszeniert somit ihre ‚geheime Geschichte‘ als orientalisches Märchen (S. 46–58). Ähnlich wie Don Sylvio durch die Überdrehtheit der bizarren Geschichte vom Prinzen Biribinker zur Vernunft gebracht wird, so soll Gandalin im Phantastischen der (wenn man so will) ‚orientalischen Fassung‘ Sonnemons das falsche Wunderbare erkennen lernen. Doch nicht die weiteren Implikationen dieses Maskenspiels sollen hier herausgearbeitet werden, sondern einige grundlegende Verfahren, die bei Wielands Übertragung zum Einsatz kommen. Drei Aspekte werden exemplarisch herausgegriffen: 1.) die Transposition oder Verfremdung des Kontexts; 2.) die Versifikation respektive Travestie der Prosa; 3.) die (bereits im Titel genannte) Übertragung des Galanten, die genauer erläutert werden wird.17 1.) Zunächst zur Transposition oder Verfremdung des Kontexts. Die beiden Novellen, die Gandalin zugrunde liegen, verbindet zwar das Motiv der Treueprobe und der Verkleidung. Wie bei den meisten Weimarer Versdichtungen dienten Wieland aber nicht Originalquellen als Vorlagen, sondern Nacherzählungen des 18. Jahrhunderts. Auch im Fall des Gandalin war es die bewährte Bibliothèque universelle des romans des Grafen Tressan, ein monatlicher Überblick über die gesamte europäische Romanlitera-
15 Vgl. zu dieser Umkehrung des romanesken Topos: Jean Rousset: La femme voilée. Les premières dans „Le Roman comique“, in: Il romanzo al tempo di Luigi XIII (Quaderni del Seicento francese 2), hg. von A[ndrea] Calì u.a., Paris 1976, S. 167– 178. 16 Als weitere Quelle ist hier Fleur d’Épine (1710), ein Feenmärchen von Antoine Hamilton, zu vermuten. 17 Als Orientierung diente: Gérard Genette: Palimpsestes. La littérature au second degré, Paris 1982, insbes. S. 64–73. Genettes Standardwerk ist regelmäßig entweder mangelnde oder aber übertriebene Systematisierung vorgeworfen worden sowie die unverhältnismäßig ausführliche Behandlung unbekannter (französischer) Transformations- und Travestieformen des 17. und 18. Jahrhunderts. Genau diese Kapitel sind jedoch im vorliegenden Zusammenhang von großem Interesse. Ferner noch immer aufschlussreich: Karlheinz Stierle: Werk und Intertextualität, in: Dialog der Texte, hg. von Wolf Schmid und Wolf-Dieter Stempel, Wien 1983, S. 7– 26; Ulrich Broich/Manfred Pfister (Hg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, Tübingen 1985 (darin v.a. die Beiträge von Werner von Koppenfels und Bernd Lenz). Die Anwendung eines formalistisch-strukturalistischen Ansatzes auf ausgewählte Wieland-Texte versucht Helmut Nobis: Phantasie und Moralität. Das Wunderbare in Wielands „Dschinnistan“ und der „Geschichte des Prinzen Biribinker“, Kronberg/Ts. 1976.
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tur, die ihn auf die Stoffe aufmerksam machte.18 Die Cent Nouvelles nouvelles und Scarrons Roman comique wurden 1775 und 1776 kurz nacheinander in der Bibliothèque vorgestellt.19 So lässt sich schrittweise verfolgen, wie Wieland die Motive der beiden Novellen, gleichsam parallel zu deren Erscheinen in der Bibliothèque, zu einer neuen Geschichte kombiniert. Dass seine Wahl gerade auf diese beiden Texte fiel, ist somit offensichtlich auch dem Zufall zu verdanken. Gewiss, es lässt sich hier schwerlich von Übersetzung oder Übertragung sprechen – vielleicht ist sogar noch Bearbeitung oder Nachdichtung zu eng gefasst, aber die beiden Novellen geben doch weit mehr als eine bloße Anregung, denn ihre zentralen Motive sind in Gandalin durchaus beibehalten.20 Wieland ist es offenbar nicht darum zu tun, Kolorit und Stil der Novellen nachzuahmen: Das Brabant des zwölften Jahrhunderts bleibt ohne nähere historische und geographische Konturierung. Er versucht aber auch nicht, die Novellen zu familiarisieren, sie in einen dem deutschen Publikum vertrauten Kontext oder in die Gegenwart zu transponieren.21 Vielmehr verlagert er die Stoffe in eine dritte, unbestimmte Sphäre. Der Held, Gandalin, ist aus dem Amadis-Roman rekrutiert (er ist dort der Schildträger des Amadis).22 Komische Einlagen wiederum, wie der Kampf mit dem blauen Ritter im sechsten Buch (S. 106–112), verweisen auf die Sphäre burlesker Ritterepen wie den Orlando furioso.23 Solche Namen und
18 Vgl. hierzu: Florian Gelzer: „Die Quintessenz aller Abentheuer der Amadise und Feen-Mährchen“. Die Rehabilitierung des Romanesken in Wielands Verserzählungen, in: Wieland-Studien 5, 2005, S. 54–65; ausführlich: Florian Gelzer: Konversation, Galanterie und Abenteuer. Romaneskes Erzählen zwischen Thomasius und Wieland, Tübingen 2007, S. 385–395. 19 Die Zusammenfassung der Demoiselle cavalière befindet sich in: Bibliothèque universelle des romans, juillet 1775, S. 115–122. Die Vorstellung von Scarrons Roman comique erfolgt in: Bibliothèque universelle des romans, fevrier 1776, S. 118–126. 20 Dazu gehören auch Details wie etwa die Dekoration des Hauses der Versucherin sowohl im Roman comique wie in Gandalin mit einschlägigen Bildern aus der Mythologie (in Gandalin: „Mose im Kästlein“, „Simon der Delila im Schooss“, „Bathseba in der Badewanne“, „Die schöne keusche Frau Susanne“ [S. 42]). 21 Über die Abstufungen von märchenhaften und ‚realistischen‘ Erzählformen verhandelt dann ausführlich Das Hexameron von Rosenhain (1805). 22 Auf den Amadis wird auch direkt angespielt: „Hatte den ganzen Amadis / In meinem Narrenparadies“ (S. 49). 23 Eine parallele Szene findet sich im zwanzigsten Gesang des Orlando furioso, als Marfisa auf den Ritter Pinabello trifft (Ludovico Ariosto: Orlando furioso. A cura di Lanfranco Caretti, hg. von Italo Calvino, Torino 1992 [11966], Bd. 1, S. 598– 601).
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Motive mit „ich weiss nicht was für eine[m] romantischen Klang“24 dienen als Chiffren, die bestimmte Assoziationsfelder eröffnen. Gandalin spielt zwar im historischen Brabant, aber ein Amadis-Ritter kämpft darin mit Gestalten aus Ariosts romanzo und trifft auf eine Schönheit aus Tausendundeiner Nacht. Dadurch werden die Stoffe ihres ursprünglichen Kontexts enthoben und in einen märchenhaften Bereich übertragen, in dem Fragen nach historischer Treue, Stimmigkeit der Handlung oder dem einen Prätext obsolet werden. Diese Art der distanzierenden Versetzung in eine ahistorische Sphäre ist gemeint, wenn hier von Verfremdung des Kontexts gesprochen wird. 2.) Zur Versifikation oder Travestie der Prosa. Für seine Weimarer Verserzählungen verwendet Wieland zur Hauptsache Prosatexte als Vorlage. Seine Hauptquelle, das gigantische intertextuelle Universum der Bibliothèque universelle des romans, präsentiert die Stoffe allesamt in Nacherzählungen, sogenannten miniatures. Bei der Vorstellung von Scarrons Roman comique etwa werden die eingelegten spanischen Novellen säuberlich aus der Rahmengeschichte herausgelöst und einzeln nacherzählt, linear und chronologisch. Die Bibliothèque reduziert die plots also auf die stories, respektive die discours auf ihre histoires. Wieland schöpft aus diesem riesigen Prosa-Reservoir und transponiert die stories in Verse. Ein erstaunlicher Vorgang: Nicht nur unterwirft er klassische Prosastoffe Konventionen epischen Erzählens in Versen, teilweise überträgt er (wie etwa im Oberon) Prosaauflösungen von Versdichtungen wieder in Verse zurück. Im Fall des Gandalin steht die Versifikation auch mit dem Autor der Vorlage, Paul Scarron, in Zusammenhang. Dieser hatte, wie gesagt, Solórzanos Novelle in seinen Roman comique integriert. Nun ist Scarron nicht nur Autor dieses legendären Romans über eine Komödiantentruppe. Er gilt auch als Erfinder der burlesken Travestie im Französischen. Dabei wird ein hoher epischer Stoff in eine näher vertraute Sprache gebracht, familiarisiert und aktualisiert. In seinem stilbildenden Virgile travesti (1648–52) etwa transponiert Scarron die gesamte Æneis Gesang für Gesang in ein niederes Sprachregister.25 Statt getragener Hexameter – beziehungsweise Alexan24 Vgl. hierzu die Erklärung zur Namensgebung des Neuen Amadis: „Die Laune, deren Ausgeburt das Werk selbst ist, hat ihm auch den Nahmen geschöpft, und es könnte schwerlich ein andrer Grund angegeben werden, warum dieses Gedicht nicht der Neue EPlandian [!] oder der Neue Florismarte genannt worden, als weil der Nahme Amadis bekannter ist, und ich weiss nicht was für einen romantischen Klang hat, der ihn vorzüglich geschickt macht, einen Abenteurer von so sonderbarem Schlage zu bezeichnen“ (Christoph Martin Wieland: Der neue Amadis, SW, Bd. 4–5, hier: Bd. 4, S. IX). 25 Paul Scarron: Le Virgile travesti (1648), hg. von Jean Serroy, Paris 1988. Wieland hat sich sehr für diese Tradition interessiert und nachweislich Scarrons Nouvelles tragi-comiques (1668) besessen sowie eine Fortsetzung des Roman comique von
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drinern – werden Octosyllabes verwendet, vierfüßige einfach gereimte Verse. Diese Art der burlesken Travestie wurde (nicht nur) in Frankreich ungemein beliebt. Kurioserweise wurde sogar Scarrons Roman comique einer solchen burlesken Versifizierung unterzogen: Le Tellier d’Orvilliers, ein ansonsten unbekannter Autor, hat 1733 den gesamten Roman comique in gereimte Achtsilbler übertragen („mis en vers“).26 Mit dieser eigentümlichen Fleißarbeit steht somit sogar eine Versfassung der von Wieland benutzten Quelle zum Vergleich zur Verfügung. Ich weise mit Nachdruck auf diesen Hintergrund hin, da Versmaß und Stilregister des Gandalin eben diesem der burlesken Travestie entsprechen. Zunächst ein Klangbeispiel aus dem versifizierten Roman comique: DOm Carlos d’Arragon étoit, Un gentil’homme qui sortoit D’une maison de consequence; L’on peut juger de sa naissance.27
Und jetzt eine Stelle aus dem zweiten Buch des Gandalin: Sie hält vor einer verschlossnen Pforte. „Hier, spricht sie, endet unser Lauf!“ Knack, Knack! Die Pforte thut sich auf. Und schliesst sich hinter ihnen wieder. „Da sind wir nun, Herr Ritter. Frisch! Was hängt ihr so die Kolbe nieder? So kleinlaut? so verdrossen? Risch Vom Pferd herab! mir nachgegangen! Man wartet euer mit Verlangen.“ (S. 36f.)
Passagenweise fügen sich Wielands Verse zu solchen hüpfenden Achtsilblern – beinahe zu Knittelversen, und es sind denn auch diese, die an Willhelm Busch erinnern. Meist werden Metrum und Strophenform aber mit großer Freiheit behandelt. Das Gleichmaß wird in einer Weise vermieden, Jean Monnet (1772) (vgl. Klaus-P. Bauch/Maria-B. Schröder: Alphabetisches Verzeichnis der Wieland-Bibliothek […], Hannover 1993). Die hohe Wertschätzung Wielands von Scarrons Travestie zeigt sich u.a. auch an einer beifälligen Rezension von Johann Aloys Blumauers Virgils Aeneis. Erstes Buch. Travestiert (1783), einer späten Nachahmung von Scarrons Vergil-Travestie: „Ein Werk wie die Aeneide auf den bürlesken Ton umzustimmen, ist ein Unternehmen das man einem Scarron nur zu gut hielt, weil er dadurch zu lachen machte, und weil einem Scarron würklich nichts übel zu nehmen war. Aber bey Hrn. Blumauer wird es, durch Zeit und Local-Umstände, und den gescheuten Einfall, seinen frommen Helden Aeneas nicht Virgils ROMANAM GENTEM, die uns wenig mehr interessirt, sondern den Vatican gründen zu lassen, sogar ein verdienstliches Werk“ ([Einleitung zu] Eine Probe der Blumauerischen travestierten Aeneis, in: Teutscher Merkur 3, 1783, S. 266–268, hier: S. 266f.). 26 Le Tellier d’Orvilliers: Le Roman comique, mis en vers, 2 Bde., Paris 1733. 27 Ebd., Bd. I, S. 85.
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dass das Metrum zunehmend nach vorne strebt – prorsus – und sich die Verse der Prosa annähern. Nicht der berichtenden Diegese allerdings, sondern der Rede, dem lockeren Gespräch.28 Diese Stileigenheiten sind hinreichend bekannt29; es kommt mir nur auf einen spezifischen Punkt besonders an: Die Verse, in die Wieland hier Prosa übersetzt, sind solche, die damals den burlesken Vers, wie ihn Scarron eingeführt hat, mithören ließen. Vierhebige Jamben sind unmissverständliches Signal für ein burleskes Register. Gandalin unterscheidet sich aber dadurch wesentlich vom Virgile travesti oder auch dem Orlando furioso, dass hier keine Kontrafaktur zu einer großen Epenform beabsichtigt ist. Virgile travesti verliert ohne Kenntnis der Æneis seinen Reiz (und auch beim Orlando furioso muss im Grunde immer ein ernstes RolandEpos mitgedacht werden). Bei Gandalin hingegen geht es nicht um die Verballhornung einer hohen epischen Form, auch wenn seine acht Bücher oder Gesänge den Umfang eines kleineren Epos erreichen. Gandalin ist eine Travestie ohne Original – es wird ja keineswegs ein hohes GandalinEpos oder ähnliches verkleidet. Travestie meint hier nicht die Übertragung hoher in burleske Verse, um einen erhabenen Stoff herunterzubrechen. Vielmehr werden Prosastoffe verfremdend in Verse übertragen, wobei mit den formalen Konventionen epischen Dichtens ironisch gespielt wird. Dies wird hier als Travestie der Prosa bezeichnet. 3.) Schließlich zum dritten, erklärungsbedürftigsten Aspekt, zur Übertragung des Galanten. Zur Illustration sei noch einmal die Novelle von der unsichtbaren Geliebten herangezogen. Solórzanos novela ist in einen streng bestimmten höfischen Verhaltenskodex eingebettet. Die Galanterie regelt den Umgang zwischen den Geschlechtern beim Tanz, bei Rendezvous und beim Verfassen von Briefen und Billets. Dabei kommt der Sprache und der Konversation zentrale Bedeutung zu, umso mehr, als die Geliebte ja zunächst unsichtbar bleibt und sich einzig durch ihre Galanterie im Sprechen und Schreiben hervortun kann. Anders verhält es sich bei Scarron. Die Novelle gilt dort bereits als ‚alte Erzählung‘, die in geselliger Runde dargeboten und mit ironischen Bemerkungen gespickt wird.30 Der Minnedienst an einer unbekannten Dame oder die Briefkunst, das galant28 Zur zeitgenössischen Bestimmung vgl.: Johann Jakob Engel: Über Handlung, Gespräch und Erzählung (1774), Faksimiledruck hg. von Ernst Theodor Voß, Stuttgart 1964. 29 Vgl. jetzt die konzise Einführung: Bernd Auerochs: Wielands Schreibweisen, in: Wieland Handbuch, hg. von Jutta Heinz, Stuttgart 2008, S. 141–149. 30 An anderer Stelle habe ich auf die Beziehungen zwischen dieser Konstellation im Roman comique und der ‚Paris-Episode‘ in Grimmelshausens Simplicissimus aufmerksam gemacht: Florian Gelzer: „Une simplicité dégoûtante“. Simplicissimus und das Problem des Realismus, in: Simpliciana IXX, 2007, S. 73–87.
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höfische Verhalten also, wird so zu einem Kontrastbild zu den burlesken Begebenheiten der Rahmengeschichte um die Komödiantentruppe. Nicht dass Roman comique ein bissiger Anti-Roman wäre, der den Ritterroman an sich als imaginäres Lügengespinst entlarvte. Vielmehr spielt Scarron zwei Erzähltraditionen gegeneinander aus: die drolligen Abenteuer der Komödiantentruppe einerseits – eine realistisch-niedere Sphäre –, und die Liebes- und Eifersuchtsintrigen der spanischen novelas andererseits – eine romanesk-idealisierte Sphäre. Dabei zeigt er, dass sich die beiden Ebenen nicht konsequent auseinanderhalten lassen. Romaneske Stoffe können verbindlichen Realitätsgehalt besitzen (gerade was die Frage der Treue angeht). Umgekehrt weisen scheinbar triviale Alltagsgeschichten romaneskes Potential auf: So nimmt die Vorgeschichte zweier Schauspieler, Destin und L’Étoile, romanhafte Dimensionen an.31 Die Geschichte der unsichtbaren Geliebten ist bei Castillo Solórzano mithin als klassische novela angelegt – als Roman en miniature –, die von einem unhinterfragten Ethos höfischer Galanterie geprägt ist. Bei Scarron wird sie als Binnengeschichte mit ironischer Distanz vorgetragen und kontrastiert mit Ereignissen des Rahmens. Dennoch, und hierin liegt das Raffinierte, gibt die spanische Novelle den Figuren Anregungen zum galanten Benehmen. Galanterie besteht bei Scarron nicht mehr in einem geschlossenen Verhaltensmuster, sondern verlagert sich auf das geistreiche Gespräch über dieses. Diese Konstruktion kommt derjenigen von Wielands Verserzählungen schon recht nahe. Auch diese sind geprägt von einer launigen Gesprächsatmosphäre, innerhalb deren Geschichten mit ironischer Distanz und galantem Witz dargebracht werden. Im Gegensatz zu Scarron ist dieses Gespräch aber nicht mehr als Rahmengeschichte angelegt, sondern wird auf das Verhältnis zwischen Erzähler und Zuhörer respektive Leser übertragen. Mit Apostrophen an die Leser, Zwischenkommentaren und ironischen Bemerkungen lässt der Erzähler eine Atmosphäre galanter Geselligkeit aufkommen. Diese Grundstimmung erlaubt es, die in der Erzählung geschilderte höfische Galanterie kritisch und ironisch zu beurteilen. Dass es sich dabei um eine künstliche Inszenierung handelt, mithin um sekundäre Mündlichkeit, wird durchaus mitreflektiert: Im Erstdruck von Gandalin ist noch von „Hörer und Hörerin“ die Rede, in späteren Auflagen aber von „Leser und Leserin“.32 31 Vgl. hierzu auch das instruktive Vorwort der Ausgabe von Jean Serroy in: Scarron: Le Roman comique. 32 Im Erstdruck im Teutschen Merkur erklärt eine Anmerkung, dass der mündliche Vortrag im 18. Jahrhundert noch sehr verbreitet gewesen sei: „Man beliebe sich diese Stelle zu merken, weil sie zu einem Beweise dienen kann, daß im achtzehnten Jahrhundert (wenigstens unter der Regierung Josephs II. in deren 12ten
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Wieland überträgt somit Stoffe, die auf einem bestimmten Ethos der Galanterie, verstanden als Regulativ der Höflichkeit und der Konversation, beruhen, in eine imaginäre Sphäre des Romanesken. Dadurch verlieren die Stoffe an Verbindlichkeit – das höfische Ethos eines Ritters Gandalin wird in einen Bereich des Märchenhaften verwiesen. Allerdings setzt Wieland durch die gesprächsartige Anlage der Verserzählungen einen Dialog mit dem Leser in Gang, der das Verhalten der Figuren problematisiert, aktualisiert oder ironisch betrachtet. Die Galanterie, die in der Ursprungsnovelle innerhalb der Erzählung zum Tragen kam, verlagert sich dabei auf das Verhältnis zwischen Erzähler und Leser. Dies wird hier als Übertragung des Galanten bezeichnet. III. Mit der Transposition als Verfremdung des Kontexts, der Versifikation als Travestie der Prosa und der Übertragung des Galanten sind exemplarisch drei Verfahren genannt, die bei Wielands Weimarer Verserzählungen als zentral erscheinen. Sie vermögen zumindest ansatzweise einsehbar zu machen, woran es liegt, dass diese einerseits eingängig und vertraut wirken, andererseits aber nie als bloße ‚Fassungen‘ oder ‚Nachdichtungen‘ erscheinen. Eine ihrer Besonderheiten ist die Gleichzeitigkeit von Distanzierung und Familiarisierung: Durch die Verlagerung novellistischer, oft zeitlich genau konturierter Stoffe in eine romaneske Phantasiewelt werden die Einzelfälle zu märchenhaften Archetypen vergrößert, die sich von den ursprünglichen Quellen entfernen. Überraschenderweise ist es die Versifikation mit ihrem vertrauten Umgangston, die die Distanzierung wieder aufhebt. Hinzu kommt die Übertragung des Galanten auf das Verhältnis zwischen Erzähler und Leser, was eine ironisch-spielerische Perspektive auf das Geschehen eröffnet. Damit ist deutlich geworden, dass man bei Gandalin zwar nicht von Übersetzung im engeren Sinn sprechen kann. Es kommen jedoch darin Verfahren zum Tragen, die mit der fortlaufenden Übertragung heterogener Prosastoffe einhergehen. Die Prosaminiaturen der ‚Universalbibliothek‘ werden frei kombiniert und in eine hybride Gattung Jahr dieses Gedicht geschrieben ist) dergleichen Gedichte bey den Teutschen in Gesellschaften vorgelesen wurden, und vermuthlich auch ein gewöhnliches Unterhaltungsmittel ausmachten; woraus sich auch wahrscheinlich schließen läßt, daß die Kunst Gedichte vorzulesen (die heutiges Tages leider so sehr vernachläßigt wird) damals ganz gemein gewesen und ohne Zweifel auf einen hohen Grad der Vollkommenheit getrieben worden. / Anmerk. eines zukünftigen Commentators. / Wie sich die Commentatoren nach etlichen hundert Jahren betrügen werden!“ (Der Teutsche Merkur 2, 1776, Anm. S. 222).
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der Verserzählung umgeschmolzen. Wie das neue Genre heißen mag, das dabei entsteht, ist schwierig zu sagen: Epyllion, conte oder einfach längere Verserzählung? Es gibt ja kein Gattungsmuster, das Wielands Verserzählungen erfüllen würden – allenfalls den Idealtypus der ‚Wielandschen Verserzählung‘. Die Frage nach der ‚richtigen‘ Gattungsbezeichnung ist deshalb wohl falsch gestellt. Aussichtsreicher ist es, nach dem zu fragen, was Jean-Marie Schaeffer als généricité bezeichnet, nach der ‚Gattungsmäßigkeit‘ oder Generizität, das heißt der Art und Weise, wie in Gandalin Gattungsmaterial dynamisiert wird.33 Bezüge zu einzelnen Texten treten in Gandalin in den Hintergrund; stattdessen wird mit dem Gattungsmaterial epischen Erzählens an sich frei gespielt. Proömium, epische Epitheta, „Avantür“ (S. 101), Minnedienst etc. – alles was zum Material des Epos dazugehört, wird bei Wieland aktiviert und dynamisiert. Nicht der Plot des Amadis soll mit dem Namen Gandalin aufgerufen werden, sondern die Gattungsmuster von Amadis-Romanen. Nicht an eine einzelne der Tausendundein Nächte soll Je länger je lieber erinnern, sondern an orientalisierende Feenmärchen an sich. Oder in der Terminologie von Gérard Genette: Es handelt sich weniger um ein Spiel mit hypertextuellen Bezügen, das heißt mit Verweisen auf konkrete Einzeltexte, als um ein Spiel mit architextuellem Material, also mit Formzitaten und Gattungsmustern.34 Es ließe sich leicht zeigen, wie die Vorannahmen über die Gattung die Lektüre von Gandalin prägen. Je nachdem, ob man ihn als Epyllion, als Versmärchen oder als conte liest, treten andere Aspekte in den Vordergrund – die epischen Elemente, das Wunderbare oder die philosophische Moral. Doch durch Wielands Technik der Übertragungen und die Dynamisierung des Gattungsmaterials erscheint alles mehrdeutiger und schillernder. Somit beschränkt sich der Gehalt des Gandalin auch nicht auf eine simple Moral. Denn die Verwirrung des Helden entsteht ja nicht einfach dadurch, dass er zwischen der Blonden und der Braunen hin- und hergerissen wird, bis sich alles aufklärt. Vielmehr sind die Konturen der imaginären und der wirklichen Geliebten, der Übergang zwischen Erinnerungsbild und tatsächlicher Erscheinung fließend. Eine entscheidende Rolle spielt dabei das Motiv des Schleiers. Einerseits verbirgt er ein Geheimnis, das enthüllt werden möchte; andererseits verschönert er, leicht durchsichtig, das Dahinterliegende. Die Lösung be33 Vgl. Jean-Marie Schaeffer: Du texte au genre. Notes sur la problématique générique, in: Poétique 53, 1983, S. 3–18; erweitert in: ders.: Qu’est-ce qu’un genre littéraire?, Paris 1989. 34 Vgl. Genette: Palimpsestes, S. 11: „la perception générique, on le sait, oriente et détermine dans une large mesure l’‚horizon d’attente‘ du lecteur, et donc la réception de l’œuvre.“
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steht offenbar nicht darin, kurzerhand den Schleier zu lüften, um das wahre Ich der Geliebten zu ent-wickeln. Der eigentliche Bereich der Liebe, so lehrt Gandalin, liegt vielmehr in der Dämmerung, in der die Spannung zwischen Schleier und Verschleiertem spielerisch aufrecht erhalten wird. So hat Gandalin im sechsten Buch einmal Gelegenheit, Je länger je lieber beim nächtlichen Bade zu beobachten (S. 93–98). Dass er im entscheidenden Moment die Augen schließt, so der Erzähler, macht ihn zu einem Helden (S. 96f.). Offenbar hat die Szene aber doch bleibenden Eindruck hinterlassen – Gandalin „[m]ochte wohl einmahl oder zwier / (Nur durch den Daumen) geblinzelt haben“ (S. 97). So versucht er, das Bild der nackten Je länger je lieber mit der Erinnerung an Sonnemon zu überlagern und es dadurch auszulöschen – mit der Pointe, dass es ja gerade Sonnemon war, die er gesehen hat. Was ist es denn eigentlich, das man am anderen liebt: äußere Schönheit oder Seelenschönheit? Und wenn, wie die Handlung nahe legt, Gandalin in der attraktiven Orientalin im Grunde Sonnemon geliebt hat: Wird diese Unterscheidung nicht überhaupt aufgehoben? Wieviel ist dabei unmittelbarer Eindruck und wieviel Projektion? Solche Fragen wirft die Geschichte von Gandalin auf; sie werden aber nicht als geklärt und erledigt ausgegeben, sondern – programmatisch – an den Leser zu weiterem Überdenken überwiesen. Und zwar indem Wielands Text das Ganze in der Schwebe lässt. In einem bekannten Aphorismus schreibt Goethe, Übersetzer seien als „geschäftige Kuppler“ anzusehen, die uns eine „halbverschleierte Schöne als höchst liebenswürdig anpreisen: sie erregten aber eine unwiderstehliche Neigung nach dem Original“.35 Das Bild der ‚halbverschleierten Schönen‘ lässt sich zwanglos auf Gandalin übertragen: Das Original Sonnemon verwandelt sich in eine halbverschleierte Schöne – so wie sich ein originaler Stoff auch als orientalisches Märchen erzählen lässt. Doch Wieland zeigt, dass die Entscheidung, welche Fassung vorzuziehen sei, keine einfache ist: Die verkleidete Version kann zwar auf denselben Kern zurückgehen, aber – je länger je lieber – weit reizvoller sein. Dadurch wird auch die Treue zur Urfassung auf die Probe gestellt. Somit lässt sich Gandalin auch als Allegorie auf das Problem des Übersetzens lesen. Die Frage ist dann nicht, ob Sonnemon oder Je länger je lieber vorzuziehen sei, Original oder Übertragung, Prosafassung oder orientalisches Märchen: Manchmal sind es zwei Seiten ein und desselben, interessant ist vor allem das Dazwischen.
35 Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Maximen und Reflexionen, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 13, hg. von Harald Fricke, Frankfurt a.M. 1993, S. 32 (vgl. auch S. 75).
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Quijote im Wunderland Wielands Don Sylvio als literarisches Sozialisationsmodell I. Ein „irrender Ritter“ geistert durch die Abenteuergeschichten und Romane der europäischen Neuzeit. Wielands Romanze Der neue Amadis von 1771 erheischt zu Beginn des 1. Gesangs den adäquaten, nämlich unsteten Musenbeistand für seinen tapfer umherschweifenden Helden: Von irrenden Rittern und wandernden Schönen Sing, komische Muse, in freier irrenden Tönen!1
Die Bücher des Amadis von Gallien waren, worauf Wieland ausdrücklich hinweist, die ersten, welche „bei dem Inquisitions-Gerichte“, das der „Bibliothek des preiswürdigen Ritters Don Quichotte von Mancha“ widerfuhr, für den Feuertod bestimmt wurden; freilich auch die ersten, die dann ob ihres literarischen Wertes Verschonung fanden.2 Nur die unstatthaften Nachahmer und Fortsetzer der Rittergeschichten landen bei Cervantes unerbittlich auf dem Scheiterhaufen. Das enge Verhältnis von Vorläuferschaft und Nachahmung, von gegenwartsferner Ritterfiktion und ihrer fehlgeleiteten Übersetzung ins wirkliche Leben beschäftigt seit den Abenteuern Don Quijotes sowohl die Nachfolger des in diesem Roman inaugurierten Erzählverfahrens wie erst recht auch die Wiederbelebung der Ritterund Feenbücher. Im Falle von Wielands Amadis, einem sich arglos gebenden Vorläufer oder Randgänger solcher Lektürekonflikte, gilt: Das Irren des Ritters darf zwar, es muss aber nicht zweideutig gelesen werden; denn zunächst ist damit nichts anderes gemeint als die unregelmäßige, weit ausgreifende Bewegungsform rastlosen Herumziehens auf der Suche nach Abenteuern und Bewährungsproben. Der solcherart Irrende ist ein Wanderer, dessen Unterwegssein von keinem übergeordneten Programm oder Auftrag gelenkt ist. Der Weg ist das Ziel, weil er Geschichten und damit auch den Faden eines Erzählganges hervorbringt. Zum strukturbildenden Erzählmodell der Abenteuer- und Reiseliteratur, späterhin auch des Bildungsromans, leistet 1 2
Christoph Martin Wieland: Der neue Amadis, in: Werke, hg. von Fritz Martini und Hans Werner Seiffert, Bd. IV, München 1965, S. 366–563, hier: S. 377. Ebd., S. 367.
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die enge Verzahnung von äußerlicher Fortbewegung und diskursiver Linearität einen entscheidenden Beitrag, indem sie dem Handlungs- wie dem Lektürepfad eine unmittelbar evidente ästhetische Isomorphie von Weg und Schrift einprägt. An der Hand eines Erzählers, im Sog einer Geschichte geht es hinaus. Was draußen sich wirklich ereignen mag, sind die Abenteuer der aus ihren Büchern gefallenen Leser. Seit Don Quijote und von ihm ausgehend hat der moderne Roman – gemeint ist der im Sinne von ‚neuzeitlich‘ moderne Roman – immer wieder die strukturelle Analogie von Weg und Schrift, die Gestaltgleichheit von Reiseverlauf und Erzählfaden in Szene gesetzt. In Robert Musils Mann ohne Eigenschaften wird diese Form erzählender Sinnstiftung selbstreflexiv durch die romanpoetologischen Gedankengänge des Protagonisten eingeholt. „Wohl dem, der sagen kann ‚als‘, ‚ehe‘ und ‚nachdem‘“, befindet der „Mann ohne Eigenschaften“, bezeichnenderweise auf seinem Nachhauseweg. Und weiter: „Das ist es, was sich der Roman künstlich zunutze gemacht hat: der Wanderer mag bei strömendem Regen die Landstraße reiten oder bei zwanzig Grad Kälte mit den Füßen im Schnee knirschen, dem Leser wird behaglich zumute“.3 In dieser kausalen Verknüpfungsleistung sieht Musil (respektive sein alter ego) eine perspektivische Zurichtung von Geschehnissen durch ihre lineare Erzählform wirksam werden; zugleich glossiert der Autor damit eine philisterhafte Entschärfung des „Abenteuers“, die Domestizierung des Reisens und seiner Emphase des ‚großen Aufbruchs‘ zum wohligen Frösteln im Ohrensessel. Wärmestrom und Kälteraum sind am Ausgangspunkt dieses Romanparadigmas genau anders herum verteilt. Denn zum richtigen Abenteuer gehört die inkommensurable Größe von ungeahnten Herausforderungen, die Gefahr auch, sich in unermesslicher Weite oder in unwegsamstem Dickicht auf immer zu verlieren. Welch phantastische Hybris eines literarischen Textes, dieses Sich-Verlieren zum eigenen Darstellungsprinzip zu machen! Es ist nicht die Postmoderne des 20. Jahrhunderts mit Borges, Eco und Calvino, sondern Cervantes, der zuerst die Einsicht formuliert, das eigentliche Abenteuer bestehe in der Lektüre. Der irrende Ritter fällt heraus aus der transzendentalen Sinnwelt des vorgezeichneten Kursus, er entfernt sich von der Geltungskraft literarischer Konventionen und gerät in die scheinbar gesetzes- und geistlose Empirie der Prosa der Verhältnisse. Wenn der Roman der Neuzeit (mit Defoes Robinson) auf einer einsamen Insel oder (mit Cervantes’ Quijote) in einem kleinen Dorf der weiten und spärlich besiedelten Mancha seinen Ausgang nimmt, so folgt daraus im 3
Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, hg. von Adolf Frisé, Reinbek 1978, S. 650.
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Umkehrschluss: Fiktionale Prosa gewinnt ihren eigenständigen LiteraturStatus durch die Thematisierung fehlender textexterner Kommunikationsverhältnisse und durch deren fingierende Selbsterzeugung im literarischen Werk. Ist Cervantes damit eine Art Initialzündung für die selbstreferentielle Dimension der europäischen Literatur der Neuzeit geglückt4, so stiftet die Wiederkehr Don Quijotes im Zeitalter der Aufklärung einen Neubeginn der Romanpoetik, insofern literarische Kommunikation nun zum entscheidenden Binneneffekt der Erzählform avanciert.5 Für den deutschsprachigen Kulturraum ist die Herausbildung des modernen Romantyps durch Wielands paradigmatische Gattungs-Experimente des Don Sylvio und des Agathon markiert, die sich mit expliziten Verweisen wie auch in der kompositorischen Anlage vielfach auf das Muster des Cervantes beziehen. Zwar haben noch prominenter Henry Fielding und vor allem Laurence Sterne mit ihren Gestaltungen eines auktorialen Erzähler-Diskurses die Romanpoetik Wielands und späterer Autoren beeinflusst6, doch beruhen die selbstreflexiven bzw. metafiktionalen Narrationsformen bei Fielding und Sterne ihrerseits auf den von Cervantes etablierten Techniken der erzählerischen Instanzen-Verdopplung und des metaleptischen Spiels von Binnenund Rahmenbezügen. Indem die deutschsprachige Dichtungstheorie der Aufklärung (Gottsched, Bodmer und Breitinger) das literarische Nachahmungspostulat im Spannungsfeld des Möglichen und Wahrscheinlichen verortet7, rückt die von Cervantes literarisch reflektierte Grenzziehung und Arbeitsteilung von literarischer Fiktion und pragmatisch-didaktischer Fiktions-Vermittlung ins Zentrum einer gattungspoetischen Diskussion um die Möglichkeit und Wirklichkeit des Romans. Bemerkenswert an dieser Diskussion ist, dass sie fast zeitgleich im deutschsprachigen Raum zunächst 4
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„In der Zeit der ersten Ausgrenzung von ‚Literatur‘ zum sozialen Teilsystem ist der Quijote auch das, was man heute einen ‚Literaturroman‘ nennt […]. Die Vielfalt der Stellen, an denen der literarische Diskurs auf sich selbst Bezug nimmt, ist kaum zu überblicken“ (Hans-Ulrich Gumbrecht: Eine Geschichte der spanischen Literatur, Frankfurt a.M. 1990, Bd. 1, S. 415). Vgl. ferner Klaus Dirscherl: Lügner, Autoren und Zauberer: Zur Fiktionalität der Poetik im Quijote, in: Romanische Forschungen 94, 1982, S. 29–49; zur poetologischen Dimension literarischer Selbstreferenz vgl. Michael Scheffel: Formen selbstreflexiven Erzählens, Tübingen 1997, dort im Hinblick auf Cervantes bes. S. 68f. Jürgen Jacobs: Don Quijote in der Aufklärung, Bielefeld 1992. Peter Michelsen: Laurence Sterne und der deutsche Roman des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1962. Wolfgang Preisendanz: Die Auseinandersetzung mit dem Nachahmungsprinzip in Deutschland und die besondere Rolle der Romane Wielands (Don Sylvio, Agathon), in: Nachahmung und Illusion, hg. von Hans Robert Jauß, München 1964, S. 72–95.
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als normativ-literaturkritische Kontroverse geführt wird, während sie in der englischen Literatur hingegen mithilfe der Selbstexplikationen von Erzählern und Herausgebern, d.h. in literarisch-fiktionaler Diskursform verhandelt wird. Schon das Exempel des satirischen Lektürehelden hatte ein Problem ganz neuer Art darin erkannt, dass mit dem Druck fiktionaler Geschichten ein begleitender, fiktionsvermittelnder Rahmendiskurs einhergehen musste. Literarischer Erzählvorgang und Textlektüre sind als kategorial schief aufeinander bezogene Größen stets in der Gefahr, einander zu verfehlen; und doch ist seit Don Quijotes realer Wahnwelt der Ritterbücher mustergültig statuiert, dass genau diese beiden Elemente im doppelbödigen Kommunikationsraum der Romanliteratur zusammengehören. Erst der Rückgriff auf die quasi-hierarchischen Rahmungsmöglichkeiten, wie sie in der novellistischen Erzähltradition vorlagen oder auch in Herausgeber-Auftritten inszeniert werden konnte, gestattete es den fiktionalen Erzählformen, Wunderbares und Wirklichkeitsfähiges auch als diskrepante Ansprüche zugleich und in einem zusammengehörigen Werk zu berücksichtigen. „Writing, when properly managed, […] is but a different name for conversation“.8 Auch das literarische Schreiben soll eine Art von lebendiger Zwiesprache sein; dafür braucht der Text die personae von Autor respektive Erzähler und Leser. Die mit Wieland ins deutschsprachige Literatursystem eingeführten binnenfiktionalen Auftritte einer auktorialen Erzählerinstanz oder eines fingierten Herausgebers tragen mit zur Begründung eines selbstreflexiven literarischen Kommunikationsraumes bei und setzen in dieser Hinsicht sowohl das Projekt einer zunächst als „kritische Dichtkunst“ firmierenden literarischen Ästhetik fort, wie sie andererseits an den Gesprächsmodus textvermittelnder Autor-Auftritte in den Romanen Fieldings und Sternes anknüpfen. Wie Peter Michelsen im Hinblick auf den Tristram Shandy Sternes betont, „findet der ins Werk hineingenommene Leser seinen Gegenpart auf seiner eigenen Ebene im Erzähler, der im Werk auf gleiche Weise wie der Leser als Romangestalt figuriert.“9 Für diese neben dem Handlungsgang mitlaufende Ebene der „conversation“ ist relativ unbedeutend, ob der Erzählvorgang und seine Leser-Adressierungen durch eine rein auktoriale 8
9
Laurence Sterne: The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman, hg. von Melvin New und Joan New, London 2003, S. 96. „Das Schreiben, wenn es richtig betrieben wird, […] ist nur eine andere Art von Gespräch.“ (Laurence Sterne: Leben und Meinungen von Tristram Shandy Gentleman, übers. von Adolf Friedrich Seubert, durchgesehen von Hans J. Schütz, Frankfurt a.M. 1982, 2. Buch, 11. Kapitel, S. 125.) Michelsen: Laurence Sterne und der deutsche Roman des 18. Jahrhunderts, S. 17.
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(heterodiegetische) oder durch eine primär figürliche (homodiegetische) Sprach-Maske verkörpert werden. Die intrinsisch geschaffene Grenze der Literatur zu ihrem Außerhalb wird Gegenstand eines räsonierenden Geplänkels zwischen Erzählerinstanz und Publikum und wird dadurch einer moderierten Form literarischer Sozialisation dienstbar gemacht, womit exzentrische Lektürebahnen wie die des reitenden Lesers Don Quijote sich, wenn nicht vermeiden, so doch jedenfalls korrigieren lassen. Von Christoph Martin Wieland stammt übrigens auch der Vorschlag, den reitenden Caballero de la figura triste zum akademischen Thema zu machen. Im Teutschen Merkur erklärt er 1773: „Wir erdreisten uns, zu behaupten, daß ein Professor, der dazu angestellt würde, öffentliche Vorlesungen über Don Quischotte zu halten, der studierenden Jugend und dem gemeinen Wesen ungleich nützlicher seyn würde, als ein Professor des Aristotelischen Organons.“10 II. Was aber ist so studierenswert und nützlich an dieser Figur und ihrem literarischen Muster? Der reitende Narr Don Quijote de la Mancha ist ein Sinnbild dafür, wie stark Ideen und Imaginationen für Menschen handlungsleitend werden können. Für den Soziologen Alfred Schütz bildet der Quijote das mit literarischer Prägnanz veranschaulichte Extrembeispiel für die weitreichende These, dass Wirklichkeit nicht objektiv vorgefunden wird, sondern subjektiv – und dann vor allem auch: intersubjektiv – jeweils aus einer Pluralität von Sinnwelten durch kontrastiven Abgleich konstituiert werden muss.11 Literatur ist Teil eines umfassenden ästhetischen Vermögens, durch spielerische Akte des fungierenden Zeichenhandelns in die Welt einzugreifen. Je reflektierter der kulturelle Gebrauch dieses spielerischen Zeichenhandelns ausfällt, desto mehr können seine Hervorbringungen den Radius des Fühlens, Denkens und Glaubens erweitern. Die neuzeitliche Literatur ist geprägt vom Don Quijote-Paradigma; Cervantes bedeutet einen Einschnitt ästhetischer Art, wie ihn Descartes für die neuzeitliche Epistemologie darstellt. Die fiktionale Literatur der Neuzeit ist unter anderem dadurch gekennzeichnet, dass sie die Bedingungen ihrer Weltbeziehung (und zwar die kognitiven wie die institutionellen Bedingungen) nicht nur im ästhetischen Akt mitzureflektieren in der Lage ist, sondern – und das geschieht auf maßgebliche Weise im Don Quijote – dass 10 Christoph Martin Wieland: Vorbericht zum Anti-Cato, in: Der Teutsche Merkur 3, 1773, H. 2, S. 120. 11 Alfred Schütz: Don Quijote and the problem of reality, in: Collected Papers. Studies in social theory, Bd. II, The Hague 1964, S. 135–158.
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sie dieses ihr Fiktionalitätsbewusstsein als intertextuelles und selbstironisches Spiel im eigenen Handlungsgang wie auch in ihrer Darbietungsform, im Erzählerdiskurs also, zu integrieren und zu formulieren vermag. Die Koexistenz mehrerer Weltbezüge, darunter eben auch virtueller, ist eine Grundbedingung kultureller Produktivität, und ihre Errungenschaften sind selbstverständlich keineswegs nur literarischer Natur. Aber in der Geschichte der Virtualität nimmt die Einübung in den Umgang mit fiktionalen Welten, mit Figuren, Situationen und Geschichten imaginärer Provenienz, eine herausragende Rolle ein. Don Quijote hat im epochalen Prozess der Selbstvirtualisierung Europas zweifellos eine glanzvolle Vorreiterrolle. Der Ritter von der traurigen Gestalt, das kann man ohne Übertreibung sagen, zählt zu den prominentesten Figuren des europäischen Imaginariums, er ist einer der großen Mythos-Träger der Neuzeit. Wie nur wenige andere literarische Helden – Faust, Don Juan, Robinson Crusoe – hat Don Quijote eine von seinem Basistext weitgehend abgelöste kulturelle Existenz erlangt und sein aufregendes Leben in vielerlei künstlerischen Gestaltungen fortgesetzt, in der bildenden Kunst und in der Musik, in der Philosophie und natürlich auch in den verschiedensten Literaturen. Don Quijote hat, im Vergleich mit den anderen großen mythischen Akteuren, zwei Besonderheiten aufzuweisen, die für die literaturgeschichtliche und komparatistische Beschäftigung mit dem Stoff von hohem Reiz sind. Das ist zum einen die Tatsache, dass er mehr als andere mythogene Stoffe nicht nur zur Nachgestaltung Anlass gab, sondern auch das Nachdenken über die Eigengesetzte und Grenzen des Fiktionalen angeregt hat12; der Don Quijote-Stoff zieht, so scheint es, die an Dichtungslehre interessierten Autoren und Denker der Neuzeit mit einer fast magischen Intensität an, von Christoph Martin Wieland und Jean Paul über Jorge Luis Borges bis Vladimir Nabokov. In den Autoren-Poetiken und in der literarischen Ästhetik ist der Ritter aus la Mancha – und natürlich die Werkform, in welche Cervantes seinen Roman bringt –, stets eine der wichtigsten Referenzen. Romantheorie der Neuzeit kann schlechterdings kaum ohne Bezugnahme auf den Quijote und sein Literaturmodell auskommen. Die zweite Besonderheit des Quijote-Stoffes liegt darin, dass der Ritter von der traurigen Gestalt niemals alleine auftritt, sondern stets seinen drolligen Schildknappen im Schlepptau führt, den nicht minder famosen Sancho Pansa. Die beiden sind, auch in der Literaturgeschichte, so unzertrennlich geblieben, 12 Dem Urteil der aufklärerischen Poetik hält Cervantes’ Roman stand, „weil er sich als Kritik der eigenen Gattung lesen läßt“ (Friedhelm Marx: Erlesene Helden. Don Sylvio, Werther, Wilhelm Meister und die Literatur, Heidelberg 1995, S. 39); seine Selbstreflexivität verschafft dem Roman eine kritische Rezeptionsbasis, die rückwärts (als Traditionsbezug) und vorwärts (als Ausbildung eines metafiktionalen Bewusstseins) zugleich wirksam wird.
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wie sie Cervantes einst in die karge Landschaft Zentralspaniens hingestellt hatte; und warum dies so ist, stellt eine der wichtigsten Fragen an das semantische Wirkungspotential dieses Stoffes dar. Das erste Kapitel des ersten Teiles vom ersten Band mit den Abenteuern des „ingenioso hidalgo Don Quijote de la Mancha“ beginnt mit dem Satz: „En un lugar de la Mancha, de cuyo nombre no quiero acordarme, no ha mucho tiempo que vivia un hidalgo de los de lanza en astillero, adarga antigua, rocin flaco y galgo corredor.“ Ludwig Braunfels übersetzte: „An einem Orte der Mancha, an dessen Namen ich mich nicht erinnern will, lebte vor nicht langer Zeit ein Junker, einer von jenen, die einen Speer im Lanzengestell, eine alte Tartsche, einen hagern Gaul und eine Windhund zum Jagen haben.“13 Das Skandalon, auf welches schon dieser erste Satz das Augenmerk seiner Leser lenkt, ist die Tatsache, dass die weit hergeholten Zitate aus dem Ritterleben sich in eine Lebenswelt transponiert sehen, die von der Gegenwart des Erzählers gar nicht weit entfernt ist: „no ha mucho tiempo“, es ist noch gar nicht lange her. Der Anfang gibt demnach zu verstehen, dass hier eine angesichts der Kontemporaneität des berichteten Geschehens gewaltige Kluft sich auftut, ist doch der Held der Geschichte ein „hidalgo de los de lanza en astillero“, ein Adept also der sprachlich als weit, weit entfernt markierten Ritterwelt, die nicht mehr mit der Gegenwart des Sprechers und seiner Zuhörerschaft gemein hat, wie der Eröffnungssatz deutlich signalisiert. Das ganze Drama einer sowohl anachronistischen wie auch identifikatorischen Lektüre, an welcher der Ritterbegeisterte Don Quijote laboriert, einer pathologischen Lektüre fürwahr, wird mit dem Eingangssatz der Geschichte schon angesteuert, indem dieser die kulturelle Ungleichzeitigkeit der literarisch fortlebenden Rittergeschichten durch entsprechende Sprachsignale zu erkennen gibt. Wäre die Zeitdistanz zum berichteten Geschehen größer, so könnte es für Erzähler und Leserschaft eher in Kauf genommen werden, dabei auch in eine ganz anders konstituierte Sinnwelt einzutreten. Was Quijotes Anhänglichkeit an die Ritterbücher zum Problem werden lässt, ist die doppelte Interferenz zwischen Vorzeitigkeit der Ritterwelt und kritischem Distanzbewusstsein der Gegenwart und zugleich zwischen chimärischer Fiktion und pragmatischer Realität. Diese Interferenz erst ruft jenen zweifachen Situationsbezug hervor, in dem sich Held und Mitwelt über die meiste Zeit des Romans befinden. Der betontermaßen recht geringe Abstand zwischen erzähltem Geschehen und Erzählgegenwart lässt sogar die Möglichkeit offen, dass der Protagonist, um den es hier geht, in die Druck13 Miguel de Cervantes: El Ingenioso Hidalgo Don Quijote de la Mancha, hg. John Jay Allen, Madrid 1983, S. 85; dt.: Der sinnreiche Junker Don Quijote von der Mancha, übers. von Ludwig Braunfels, München 1979, S. 21.
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legung seiner eigenen Narration sogar noch hineinragt, bzw. dass umgekehrt der erste, 1605 erschienene Band des Quijote in einer bizarren Metalepse vom Protagonisten und seinem getreuen Diener im folgenden Band bestaunt und gelesen werden kann. Nicht zuletzt auf diese und vergleichbare selbstreflexive Volten des Romans gründet der poetologische Nachruhm des Werkes. Das für poetologische Aspekte in der Formengeschichte des Romans folgenreichste Element des Anfangs aber ist das nur indirekt sich zu erkennen gebende Ich der Erzählerstimme. Die Formulierung „no quiero acordarme“ charakterisiert ihren Sprecher als eine recht eigensinnige, aber durchaus bevollmächtigte Erzählerinstanz. Der Sprecher suggeriert, mehr zu wissen, als er sagen will; er macht sich zum Souverän des Erzählens, indem er selbstmächtig die Informationsregulierung übernimmt. Bekannt ist dergleichen aus der Blütezeit des auktorialen Erzählens, bei Fielding, Sterne, Wieland und Goethe. Auktorial ist eine Schöpfergeste, wenn sie von einer Instanz ausgeführt wird, der dies kraft Amtes eigentlich nicht zukommt – denn nicht der Erzähler, sondern sein Autor ist der Urheber der im Erzählvorgang dargestellten Geschöpfe. Im 1605 publizierten Ersten Band des Don Quijote wird das Spiel der Autor- und Erzählerinstanzen bereits in einer beachtlichen Komplexität entfaltet. Der Autor Cervantes scheut sich dabei nicht, die eigene Person einerseits als manifeste Textgröße auftreten zu lassen, seine kompositorischen Meriten andererseits aber auch empfindlich zu relativieren. Im Prolog des Romans wendet sich ein personalisiertes Autor-Ich an sein Publikum, welches sich ausdrücklich als Cervantes zu erkennen gibt. „Müßiger Leser!“ so heißt es da: Ohne Eidschwur kannst du mir glauben, daß ich wünschte, dieses Buch, als der Sohn meines Geistes, wäre das schönste, stattlichste und geistreichste, das sich erdenken ließe. Allein ich konnte nicht wider das Gesetz der Natur aufkommen, in der ein jedes Ding seinesgleichen erzeugt. Und was konnte demnach mein unfruchtbarer und unausgebildeter Geist anderes erzeugen als die Geschichte eines trockenen, verrunzelten, grillenhaften Sohnes, voll von mannigfaltigen Gedanken, wie sie nie einem andern in den Sinn gekommen wären.14
Kann man diesen Prolog noch im Sinne Genettes als eine Art semi-pragmatischen Paratext verbuchen, mit dem sich ein empirischer Autor fiktionsextern zu Wort meldet, so muss dann allerdings stutzig machen, dass zu dem Sprecher-Ich des oben wiedergegebenen Eröffnungssatzes der eigentlichen Romanhandlung kaum ein erkennbarer sprachlich-stilistischer Unterschied besteht. Ist es also abermals Cervantes, der höchstpersönlich durch das Romangeschehen und seine narrative Darbietung führt? Es darf bezweifelt werden; denn als textimmanente Größe wäre die Figur Cervan14 Cervantes: Der sinnreiche Junker Don Quijote von der Mancha, S. 7.
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tes Schöpfer und Geschöpf zugleich, damit aber seine semantische Extension einerseits größer, andererseits kleiner als er selbst, was zu einer logischen Aporie führen müsste. Im Grunde kennt die Literatur das Problem, wie ihre Autoren ihr fiktionales Gebilde begleiten, autorisieren und vor fremder Verfügung schützen können, schon seit der Antike. Cervantes löst es im Quijote auf originelle Weise, nämlich durch ironische Aufspaltung und Selbstverdopplung sowohl des Textes wie seiner Autorschaft. Im achten Kapitel des Ersten Buches befindet sich der wackere Ritter gerade mitten in einem hitzigen Schwertkampf (mit einem Biskayer), als sich plötzlich folgende Unterbrechung des Handlungsganges ergibt: Es ist jammerschade, daß gerade bei dieser Stelle und Sachlage der Verfasser unserer Geschichte den Kampf in der Schwebe läßt, indem er sich damit entschuldigt, er habe von den Heldentaten Don Quijotes nicht mehr geschrieben gefunden, als bis hierher erzählt sei. Indessen hat der zweite Verfasser dieses Buches nicht glauben mögen, daß eine so interessante Geschichte ins Reich der Vergessenheit versinken könnte und das die Literaten in der Mancha so wenig forschbegierig gewesen wären, daß sie nicht irgendwelche Papiere, die von diesem preisenswürdigen Ritter handelten, in ihren Archiven oder Schreibpulten aufbewahrt haben sollten; und in dieser Voraussetzung verzweifelte er nicht daran, das Ende dieser anziehenden Geschichte aufzufinden. Und da ihm der Himmel gnädig war, fand er dasselbe wirklich auf die Weise, wie im folgenden Kapitel erzählt werden soll.15
Dass ein Autor sich auf Quellenfunde und fremde Gewährsleute beruft, um für die Wahrhaftigkeit seiner Geschichte einerseits bürgen zu können, andererseits für ihren Sachgehalt nicht zur Verantwortung gezogen werden zu können, ist ein schon zu Cervantes’ Zeit wohletabliertes literarisches Rollenspiel. Aber man beachte, wie es hier gespielt wird. Der Erzähler spricht vom Verfasser (spanisch: autor) als einer nun plötzlich versiegenden Quelle – das schon ein flagranter Widerspruch in sich, denn entweder hat dieser Gewährsmann den Rang eines Autors und Schöpfers der erzählten Geschichte, oder er ist bloß deren Kompilator. Dann aber führt Cervantes wie aus heiterem Himmel „einen zweiten Verfasser“ des Buches ein, der sich mit dem Abbrechen des Manuskriptes nicht habe abfinden wollen. Dieser zweite Verfasser muss zeitlich und sprachlich dem ersten nachgeordnet sein, man wird ihn also eher als den Bearbeiter eines bereits vorliegenden Textes zu denken haben. Doch damit ist des Verwirrspiels noch längst nicht genug. Das folgende Kapitel setzt ohne viel Federlesens die Romanerzählung fort, ignoriert also schlichtweg die Textlücke bzw. setzt, indem nun der zweite Verfasser allein weiterspricht, den Erzählvorgang folgendermaßen fort: Im ersten Teil dieser Geschichte verließen wir den mutigen Biskayer und den preiswürdigen Don Quijote, die blanken Schwerter hochgeschwungen, wie eben 15 Ebd., S. 75.
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jeder von ihnen einen wütigen Hieb hoch herab führen wollte, so gewaltig, daß, wenn er voll gesessen hätte, beide von oben bis unten zerteilt und zerspalten und wie ein Granatapfel auseinandergeschnitten worden wären. Und in diesem Augenblick, wo der Ausgang so ungewiß war, hörte die anmutige Geschichte auf und blieb ein Bruchstück, ohne daß ihr Verfasser uns Nachricht gegeben, wo das Mangelnde zu finden wäre.
Der Sprecher fand, wie er im Anschluss nun berichtet, bei einem Seidenhändler in Toledo zufällig die Fortsetzung der Geschichte, freilich in arabischer Schrift, „die ich zwar kannte, aber nicht zu lesen imstande war.“ Er engagiert also fürs erste einen Vorleser und Dolmetsch, der dann auch „in etwas über anderthalb Monaten die ganze Geschichte so übertrug, wie sie hier erzählt werden soll.“16 Sidi Hamét Benengelí, das ist dann der neue Gewährsmann, der zweite Erstautor sozusagen, auf dessen Quelle sodann die Übersetzung und Textredaktion durch den zweiten bearbeitenden Autor erfolgt. Der Araber habe indes zwei Mängel in die Geschichte hineingetragen, moniert der segundo autor, einmal aufgrund der diesem Stamme notorischen Vorliebe zur Lüge, zum anderen wegen ihrer ebenso notorischen Missgunst gegenüber den christlichen Spaniern, die ihn die ruhmreichen Züge des edlen Ritters von der Mancha schmälern ließ. Vermutlich habe er dessen größte Ruhmestaten, argwöhnt der Erzähler, absichtlich mit Schweigen übergangen. Eine schlechte Handlungsweise […], denn der Geschichtsschreiber muß und soll genau, wahrhaftig und nie leidenschaftlich sein; weder eigensüchtige Zwecke noch Furcht, weder Groll noch Zuneigung dürfen ihn vom Weg der Wahrheit abbringen, deren Mutter die Geschichte ist, die Nebenbuhlerin der Zeit, Aufbewahrerin der Taten, Zeugin der Vergangenheit, Vorbild und Belehrung der Gegenwart, Warnung der Zukunft.17
Dieser Lobpreis auf die Geschichtsschreibung ist eine Art nachgeholter Musenanruf des Werkes, zugleich aber, wie gesehen, markiert die zitierte Passage die Nahtstelle zwischen dem ersten und dem zweiten Textzeugen, beide wiederum verbunden durch den Autor zweiter Ebene, der die Übersetzung anfertigen ließ, mit seinen eigenen Worten aber lediglich das Verbindungsstück zwischen den beiden Quellen herstellte. Just diese Textpassage aber wird ein folgenreiches Nachspiel haben, denn es sind genau dies die Formulierungen, die der von Jorge Luis Borges ins Spiel gebrachte Schriftsteller Pierre Menard noch einmal erfinden wird. Wortwörtlich schreibt Pierre Menard, autor del Quijote (so der Titel der Borges-Erzählung) noch einmal genau das nieder, was Cervantes einst selber schon zu
16 Ebd., S. 76ff. 17 Ebd., S. 79.
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Papier gebracht hatte.18 Er schreibt den Quijote (vielmehr: einige Zeilen daraus) ein zweites Mal, wird somit selbst buchstäblich zu seinem zweiten Autor. Der wahre Leser, heißt es bei Novalis, muss der erweiterte Autor sein.19 In diesem Sinne ist der fiktive Pierre Menard der wahre Leser Cervantes’, weil er zum zweiten Autor des Quijote wird. Jener Einfall des Pierre Menard, den Quijote noch einmal zu schreiben, als wäre es zum ersten Mal, ist vollkommen absurd – allerdings nur solange, bis man sich den Spaß macht, die von Pierre Menard original nachgeschöpfte Passage in ihrem ursprünglichen Zusammenhang zu lokalisieren. Dort nämlich erzählt sie, wie gesehen, von nichts anderem als von dem Paradox, dass ein Roman mehrere Autoren haben könne, und zwar sowohl mehrere Geschichtsquellen als auch mehrere Erzählinstanzen. Das klingt kompliziert; auch Cervantes selbst scheint bei diesem Verwirrspiel gelegentlich etwas die Übersicht verloren und, wie Homer (nach der einschlägigen Bemerkung in Horazens Poetik), zuweilen ein Schläfchen gemacht zu haben. „Aliquando bonus dormitat Homerus“.20 Insbesondere der zweite Teil, in welchem Sidi Hamét Benengelí die dritte Ausfahrt Don Quijotes erzählt, gibt dem Autor Gelegenheit zur Fehlerkorrektur auf metafiktionaler Ebene. Der Schildknappe Sancho Pansa hat für seinen Ritter aufregende Neuigkeiten parat: Gestern abend ist der Sohn des Bartolomé Carrasco angekommen, der hat in Salamanca ausstudiert und ist Baccalaureus worden; und als ich hinging und ihn willkommen hieß, da sagte er mir, daß die Geschichte von Euer Gnaden schon in Büchern steht unter dem Titel: Der sinnreiche Junker Don Quijote von der Mancha.21
Don Quijote braucht Sancho Pansa, wie ein Buch seine Leser und ein Held seine Bewunderer nötig hat. Hätte der Narr Quijote selbst diesen Fund getan, so würden wir ihm kein Sterbenswörtchen geglaubt haben. Nun aber geschieht genau das Umgekehrte: der vom vielen Lesen irre gewordene Ritternarr und Büchernarr zweifelt vehement an der Möglichkeit, selbst nichts anderes als ein Stück Literatur zu sein. In tiefes Nachdenken versunken saß Don Quijote, während er den Baccalaureus Carrasco erwartete, von dem er die Nachrichten über sich selbst zu hören gedachte, die laut Sanchos Angabe in einem Buche standen. Er konnte nicht glauben, daß ein
18 Jorge Luis Borges: Pierre Menard, autor del Quijote, in: ders.: Ficciones, Barcelona 1983, S. 41–52. 19 „Der wahre Leser muß der erweiterte Autor seyn. Er ist die höhere Instanz, die die Sache von der niedern Instanz schon vorgearbeitet erhält.“ (Novalis: Blüthenstaub, Nr. 125, in: Werke, Tagebücher und Briefe, hg. von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel, Bd. 2, hg. von Hans-Joachim Mähl, München 1978, S. 282). 20 Cervantes: Der sinnreiche Junker Don Quijote von der Mancha, S. 571. 21 Ebd., S. 563.
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solches Geschichtswerk wirklich vorhanden wäre; denn an der Klinge seines Schwertes war das Blut seiner Feinde, die er getötet, noch nicht vertrocknet, und schon sollten seine großen Rittertaten im Druck veröffentlicht sein!22
Dass es sich bei ihrer ureigenen Geschichte wirklich um Literatur handelt, erfahren die Protagonisten durch Vorwürfe von kritischen Lesern, über die ihnen sodann der Baccalaureus Bericht erstattet. Tadel erntet beispielsweise der Einschub der Novelle vom törichten Vorwitz23, beanstandet werden aber auch sachliche Fehler im Handlungsaufbau. Einige jedoch haben das Gedächtnis des Verfassers der Schwäche oder der böslichen Absicht beschuldigt, da er zu erzählen vergißt, wer der Spitzbube war, der Sanchos Esel stahl; denn der wird dort nicht genannt, und man kann nur aus der Erzählung schließen, daß der Esel dem Sancho gestohlen worden; und gleich darauf sehen wir ihn auf dem nämlichen Esel reiten, ohne daß er erst wieder zum Vorschein gekommen wäre.24
Ein solcher Fehler ist natürlich nicht etwa die Schuld des zweiten Verfassers oder gar des empirischen Autors, denn sie kann ja gemäß der im 9. Kapitel des ersten Teils eingesetzten Arbeitsfiktion vom arabischen Manuskript dem notorisch unzuverlässigen Sidi Hamét Benengelí angelastet werden. Inkonsistenzen wie die vom Baccalaureus angeprangerten sind handwerkliche Mängel, die freilich nicht ein Defizit an Informationsvermittlung, sondern ein Defizit an kompositorischer Sorgfalt verraten. Kein Autor allerdings ist in der Lage, eine komplett ausgestattete, widerspruchsfrei und kohärent verfabelte Welt vor seine Leserinnen und Leser hinzustellen. Meistens kommt deren Vergesslichkeit seinen Mängeln zugute, oder vielmehr die Neigung, dasjenige, was wir nicht ausdrücklich gehört haben, aus eigenen Beständen zu ergänzen. Der Kunstfaktor besteht darin, das Spiel mit der Leerstelle, oder, wie hier bei Cervantes, das Spiel mit den Inkonsistenzen des Erzählens explizit in die Narration einzubauen. Denn worauf die ausgiebige Diskussion solcher Ungereimtheiten die Aufmerksamkeit des Publikums unweigerlich lenkt, das ist die Tatsache, dass man sich so oder so, will sagen: auf verlässlicher oder auf verderbter Textbasis, in einer Welt der Fiktion bewegt, es mit Geschöpfen aus Sprache zu tun hat. Und dieses Bewusstsein, sich in einem durch und durch artifiziellen Gebilde zu bewegen, in einem Imaginations-Raum, dessen Wirklichkeit sich nur bis zu den Grenzen des vom Autor produzierten literarischen Werkes erstreckt, sorgt als fiktionskritisches Element zuverlässig dafür, dass eine allfällige Identifikationsbereitschaft des einfühlungswilligen Publi-
22 Ebd., S. 564. 23 Vgl. ebd., S. 569. 24 Ebd., S. 571.
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kums von den Literarizitätsmerkmalen des Textes wirkungsvoll unterbunden oder zumindest massiv gestört wird. Don Quijote selbst ist also kein den Verstand gefährdendes Stück Literatur, wie es die vom Pfarrer auf den Scheiterhaufen geworfenen und dort verbrannten Ritterromane des lesefreudigen Junkers gewesen waren. Der Roman inkorporiert die Trennung zwischen Fiktion und Realität innerhalb der Romanfiktion selbst, er thematisiert mithin seine Außenbeziehung, die er als literarisches Kunstwerk zur Umwelt pragmatischer Diskurse unterhält, indem er sie verdoppelt.25 Modellbildende, selbstreflexive Verdopplung: Das ist die Lösung, die Cervantes für die Legitimationsprobleme der neuzeitlichen literarischen Fiktion parat hat. Verdopplung, wie gesehen, der Autorinstanz, Verdopplung aber auch des Protagonisten, der auseinandergefaltet wird in ein literarisches Figurengespann, dessen je eine Hälfte sich einer fiktionalen Welt hingeben darf, dieweil die andere Hälfte erdenschwer an ihr hängt und dafür sorgt, dass zwischen Ernst und Spiel eine heitere Equilibristik gewahrt wird. III. Die Bedeutung des Quijote-Paradigmas in der Formengeschichte des neuzeitlichen Romans ist beispielhaft zu beleuchten an Christoph Martin Wielands Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva. In diesem 1764 erschienenen Roman wird dem Protagonisten, so die gängige Einschätzung, eine veritable Schwärmerkur zuteil, die seine in quijotesker Manier übersteigerte Empfänglichkeit für Märchen- und Feengeschichten durch eine betont diesseitige und sinnliche Liebesbeziehung erfolgreich therapiert. Don Sylvio lernt am Ende, von seiner Obsession für übernatürliche Erklärungsmuster abzulassen, und wendet sich der empirischen Welt in ihrer Reichhaltigkeit zu. Auffallend bei Wieland ist der dezidierte Literaturbezug der gesamten Konfiguration: „Beinahe alle Romanfiguren zeigen eine bemerkenswerte […] Vertrautheit mit literarischen Werken, die von Ritterbüchern, Gespenstergeschichten und Schäfer-Idyllen über empfindsame Romane bis zu jenen Feenmärchen reicht, die Don Sylvio bevorzugt.“26 Das Don-QuijoteModell steht hierbei insofern Pate, als auch Don Sylvios Schwärmerei literarisch induziert ist, sich einem angelesenen Diskurs-Universum verdankt, 25 Vgl. Alexander Honold: Die Zeit als kanonbildender Faktor. Generation und Geltung, in: KANON MACHT KULTUR. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen, hg. von Renate von Heydebrand, Stuttgart 1998, S. 560–580. 26 Marx: Erlesene Helden, S. 54.
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welches in der Sozialisationsphase des als Halb- und dann als Vollwaise aufgewachsenen Protagonisten einen viel zu großen Einfluss auf sein Empfindungs- und Wahrnehmungssystem erlangt hatte. Und wie Don Quijote den angeworbenen Schildknappen Sancho Pansa für seine Bewährungsproben als Helfer und Begleiter in Anspruch nahm, so begibt sich auch Wielands Don Sylvio nicht allein auf Abenteuerfahrt. Er bedient sich der Hilfe seines Dieners Pedrillo, der den Narrheiten seines jungen Herrn zunächst ziemlich skeptisch gegenübersteht, dann aber aus Opportunitätsgründen beschließt, dem rasch aufbrausenden Fanatiker seinen Willen zu lassen und mit ihm hinauszuziehen in die wunderbare Welt der Feen und Zauberwesen. Jürgen Jacobs hat in seiner Studie über Don Quijote in der Aufklärung nachgezeichnet, dass und wie sich das Bild des närrisch-sinnreichen Junkers im Laufe der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sichtlich gewandelt hat. Nicht erst in der Romantik, sondern schon zu Zeiten der Aufklärung und der Empfindsamkeit, so Jacobs, habe die Gestalt des Narren Quijote eine markante Aufwertung erfahren. „In dieser Epoche entdeckte man mehr und mehr den Edelmut, die Aufrichtigkeit und die Tapferkeit in der von bizarrem Wahn getriebenen Gestalt des irrenden Ritters.“27 In der Frühaufklärung hingegen hatte noch die satirische Funktion des Plots überwogen, betont wurde seine Wirkung als abschreckendes Korrektiv übersteigerter Haltungen. Mangel an gesundem Menschenverstand, das konnte man dem fahrenden Ritter aus der Mancha durchaus attestieren. In diesem Sinne beziehen sich Lessing, Voltaire und weitere Aufklärer auf die Figur, als auf ein Negativbeispiel, das die Folgen störrischer Unbelehrbarkeit drastisch vor Augen führt. Für die Moralistik ist die Figur Quijotes gleichsam ein aus ihrem Werkzusammenhang herauslösbares Fallbeispiel, das im Rahmen einer Verhaltenslehre das Leiden an wahnhaften Einbildungen zu illustrieren hat. Weniger ausgeprägt ist hingegen bei dieser Adaption des satirischen Potentials der Figur das Interesse für die fiktionalitätskritische und zugleich fiktionalitätskonstituierende Kraft des Handlungsschemas. Eine Ausnahme bildet der Schweizer Pfarrer und Literarhistoriker Gotthard Heidegger, der den Umstand hervorhebt, dass im Quijote eine innerliterarische Vertilgung schöngeistiger Literatur durchexerziert werde, insofern die sittengefährdende Gattung des Romans bis zu ihrer textintern inszenierten Selbstabschaffung vorangetrieben worden sei. An metafiktionalen Episoden wie der Bücherverbrennungs-Szene hebt Gotthard Heidegger durchaus positiv hervor, so wörtlich, „daß nunmehr die Romans selbst / als wie die Cadmeische Brüder / einander fressen / und verschlingen wollen / und oft ein 27 Jacobs: Don Quijote in der Aufklärung, S. 9.
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Roman nichts anders ist / als eine Satyre oder Stachel-Schrifft wider den andren.“28 Was der Pastor im Sinne konservativer Kulturkritik für begrüßenswert hält, ist die Vorstellung, den Roman als Waffe gegen sich selbst zu richten, dem Motto getreu, man könne den Teufel mit dem Beelzebub austreiben. Pastor Heidegger hat dabei seinen Finger aber intuitiv auf die richtige Stelle gelegt, auf den bis dato kaum beachteten Umstand nämlich, dass die innovative Kraft des Quijote auf dem Felde des Romans sich der textinternen Abgrenzung von mehreren dominanten VorläuferGenres verdankt. Während Quijote sich als Anhänger der höfischen Ritterromane erweist – und durch seine Lektüre-Pathologie das ganze Genre kompromittiert, zugleich aber evoziert –, läuft die Einbindung seines Getreuen über die hedonistischen Verheißungen der Wiederkehr eines arkadischen Goldenen Zeitalters. Sancho Pansa werden die Freuden und Genüsse, die ihm nach bestandener Bewährungsprobe zuteil würden, von seinem Herrn in den leuchtendsten Farben geschildert, und Sancho erweist sich diesen arkadisch-bukolischen Lektürefrüchten gegenüber als ebenso anfällig wie sein Meister in Bezug auf die zu erlangende Ritterehre. Ein dritter, der zu Zeiten Cervantes innovativste Romantypus, der im Quijote als Vorlage einzitiert ist, kommt im Gespann von Diener und Herr selbst zum Tragen, es ist das Modell des pikaresken Romans, dessen Dynamik von der perspektivischen Brechung zwischen hierarchisch gegensätzlichen Positionen lebt.29 Ritter-, Schäfer- und Schelmenromane werden, mit absteigender kritischer Note und zunehmender Affirmation, als Gattungsmodelle im Quijote ausgewertet, ja ausgeschlachtet. Die Einverleibung anderer Romane als polemische Intertextualität, das Fressen und Gefressen-Werden gehört, wie Michail Bachtin in grundsätzlicher Weise dargelegt hat, zur assimilationsfreudigen Gattungsdefinition des neuzeitlichen Romans konstitutiv hinzu. Der Inhalt des Romans (cum grano salis: jedes Romans) ist somit – die Gattung des Romans selbst in ihrer Gattungspluralität. Und wenn es einen neuzeitlichen Roman gibt, auf den diese Bestimmung der Kannibalisierung des eigenen Gattungsdiskurses in idealtypischer Weise zutrifft, so ist es der Don Quijote. Vor dem Hintergrund dieser gattungspoetischen Überlegungen lässt sich nun argumentieren, dass Wielands Don Sylvio in seinem Don QuijoteBezug mehr und anderes leistet, als, wie das moralistische Programm im Obertitel des Romans es ankündigt, einen „Sieg der Natur über die Schwärmerey“ in Szene zu setzen. Eher schon ist es der Untertitel des Ro28 Gotthard Heidegger: Mythoscopia Romantica: oder Discours Von den so benanten Romans […], Zürich 1698, S. 71. 29 Matthias Bauer: Der Schelmenroman, Stuttgart 1994.
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mans, welcher die Sache trifft, indem er diese Quijote-Adaption deklariert als eine „Geschichte, worinn alles Wunderbare natürlich zugeht.“ Wieland ist mit seinem Don Sylvio eine Form von Selbstreflexivität gelungen, die das bis anhin von angelsächsischen Vorbildern dominierte Genre des empfindsamen Romans mit dessen eigenen empfindsamen Mitteln konterkariert und damit auf einen Grad höheren Selbst- und Gattungsbewusstseins erhebt.30 Wielands Don Sylvio und sein parallel hierzu entstandener Agathon „unternehmen als erste erfolgreich den Versuch, die europäische Kunstform des Romans in die deutsche Literatur zu übernehmen.“31 Nicht von ungefähr erzählen beide Werke von Lernerfolgen und Bildungsprozessen; es sind Lernvorgänge, die nicht zuletzt der kompetenten Mediennutzung von Virtualitätswelten gelten. Es ist die intertextuelle Referenz auf literarische Sozialisationsmodelle, die den Gegensatz von Buch und Leben, von Fiktion und Wirklichkeit zur konstitutiven Leitdifferenz neuzeitlicher und insbesondere dann auch moderner Literatur etabliert hat. Der Roman des späten 18. Jahrhunderts hat ein Faible für pädagogische Experimente32; das trifft vor Wieland insbesondere zu auf Jean-Jacques Rousseau, zum Ende des Jahrhunderts ist dann Jean Paul mit seinen vielfältigen Fallbeispielen literarischer Sozialisation zu nennen. Was diese Autoren eint und mit etlichen weiteren verbindet, ist ein starkes Interesse für den Werdegang von Menschen samt der Ausgangsbedingungen und Wirkungsfaktoren, welche den individuellen Lebenslauf vor allem in seinen Frühstadien beeinflussen. Weil unkalkulierbare Größen in der Wirklichkeit jede Versuchsanordnung zu einem singulären Anschauungsbeispiel für statistische Unwägbarkeiten machen – und zwar umso mehr, sobald Menschen im Spiele sind –, beschäftigen sich Theorie und Fiktion kontrafaktisch gerne mit solchen Verlaufsgeschichten, in welchen sämtliche Ausgangsbedingungen und Wirkungsfaktoren genau bekannt sind und strengster Kontrolle unterliegen. Das ist nützlich, denn es schult den Blick für jene Dimension, die Kunst und Theorie selbst nicht erzeugen können. Insofern ist der anthropologische Roman mit seinen idealiter durchgeführten Erziehungsprogrammen 30 Zur immanenten Romanpoetik des Don Sylvio vgl. Wolfgang Preisendanz: Die Auseinandersetzung mit dem Nachahmungsprinzip in Deutschland; Daniel W. Willson: The Narrative Strategy of Wieland’s Don Sylvio von Rosalva, Bern u.a. 1981; Walter Erhart: Entzweiung und Selbstaufklärung Christoph Martin Wielands „Agathon“-Projekt, Tübingen 1991, S. 62–86. 31 Norbert Miller: Die Rollen des Erzählers. Zum Problem des Romananfangs im 18. Jahrhundert, in: Romananfänge. Versuch zu einer Poetik des Romans, hg. von dems., Berlin 1965, S. 37–91, hier: S. 43. 32 Nicolas Pethes: Zöglinge der Natur. Der literarische Menschenversuch des 18. Jahrhunderts, Göttingen 2007.
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zugleich ein Testfall auf die edukative Kompetenz der Literatur selbst. Die zunehmende philosophische Aufmerksamkeit für ergebnisoffene Vorgänge der Edukation und Sozialisation gab gegen Ende des 18. Jahrhunderts zu Versuchen Anlass, solche exemplarischen Prozesse herauszugreifen und literarisch nachzumodellieren; hieraus erwuchs das mit Goethes Wilhelm Meister dann als spezifisch deutsche Traditionslinie etablierte Paradigma des Bildungsromans.33 Doch wäre davor und daneben noch ein wesentlich breiterer Formenbereich dessen ins Blickfeld zu nehmen, was im Hinblick auf die Autobiographik als „literarische Anthropologie“ des Aufklärungszeitalters bezeichnet wurde.34 Teils in Überlagerung mit disparaten Gattungsmustern wie demjenigen des Schelmenromans oder der erbaulichen Tugendlehren des Briefromans, erhielt mit Henry Fieldings Tom Jones (1749) das pädagogische Grundinteresse des Aufklärungs-Zeitalters eine herausragende literarische Gestaltungsform angeboten. Tom Jones ist nicht nur das Initialwerk der anthropologisch-pädagogischen Versuchsanordnungen in Romanform, der Roman setzt zugleich Standards im Hinblick auf die literarische Kommunikation zwischen Autor und Publikum, indem der kurvenreiche Lebensweg des ausgewählten Schützlings mit respektlosen, ironischen Erzählerkommentaren versehen wird, die man keiner anderen Instanz zuschreiben kann als dem räsonierenden Autor, der sie aber zugleich von der eigenen Person fernhält und an eine binnenliterarische Regieinstanz delegiert, die sich im pluralis majestatis zu Wort meldet. Mit Fieldings „Entdeckung des fiktiven Erzählers“ beginnt, wie Norbert Miller festhält, „der moderne Roman“ überhaupt; eine Errungenschaft, die in ihren Grundzügen freilich schon auf Fieldings Vorbild, den Don Quijote, zurückreicht. „Die Begegnung mit Cervantes offenbarte Fielding die Möglichkeiten einer solchen frei mit den Gegenständen waltenden Erzählkunst.“35 Die an Fieldings Tom Jones zu besichtigende Kopfgeburt des auktorialen Erzählers scheint dazu angetan, der prätendierten Faktizität des erzählten Handlungsgeschehens eine relativierende und damit auch idealisierende Erleichterung ins Heitere zu verschaffen. Jedoch gibt sich der kommen33 Friedrich A. Kittler: Über die Sozialisation Wilhelm Meisters, in: Dichtung als Sozialisationsspiel. Studien zu Goethe und Gottfried Keller, hg. von Gerhard Kaiser und Friedrich A. Kittler, Göttingen 1978, S. 13–124. 34 Vgl. Helmut Pfotenhauer: Literarische Anthropologie. Selbstbiographie und ihre Geschichte – am Leitfaden des Leibes, Stuttgart 1987. 35 Norbert Miller: Charaktere und Karikaturen. Über die Romankunst Henry Fieldings, in: Henry Fielding: Die Geschichte des Tom Jones, eines Findlings, Deutsch von Roland und Annemarie Pestalozzi, unter Benutzung der Übersetzung von Johann Joachim Christoph Bode (1786–1788), München 1966, S. 1178–1232, hier: S. 1214.
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tierende Erzähler in Tom Jones zugleich als ein so gnadenloser Skeptiker und Materialist, dass man bei der Lektüre dem rhetorischen Gefühlsüberschwang seiner Figurenwelt stets handfeste physiologische oder finanzielle Beweggründe zu unterschieben geneigt ist. Dem entspricht eine radikale Absage an jede Form teleologisch abgeleiteter Zukunftsgewissheit; Bildungs- und Handlungsziele sind ergebnisoffen, ihre finale Erreichbarkeit oder Verfehlung ist von kontingenten Faktoren und Entwicklungen abhängig, über die der vermeintlich allwissende Erzähler keine Dominanz zu haben vorgibt. Es handelt sich bei dem dezent ins Satirische ausgreifenden Sozialisationsroman über den Findling Tom Jones um ein dezidiert kontrapunktisches Gebilde, in welchem die mit Sympathie und zahlreichen Identifikationsmomenten abgespulten Abenteuergeschichten der Hauptfigur – und erst recht die defizienten Positionen des weiteren Personals – durch die eigenwilligen Begleitakzente des auktorialen Erzählers mal verstärkt, öfter aber gegenläufig kontrastiert werden. Während der Protagonist sich abarbeitet an seiner Mitwelt und formen lässt durch Herkunft, Gaben, Umstände und Begebenheiten, tritt zu diesem wechselvollen Fortgang der Handlung als komplementäre Spannungsdimension auf synchroner Achse der Zusammenklang mehrerer Darstellungsebenen hinzu. Den am diachronen Fortgang der Handlungsführung interessierten Lesern bleibt durch die retardierenden Kommentare und Exkurse der den Erzählvorgang organisierenden Stimme der Regie-Instanz stets bewusst, dass sie sich durch ein literarisches Artefakt bewegen, in dem keine objektivierten Fakten wiedergegeben, sondern Spielfiguren und -verläufe experimentell ausgehandelt werden. Doch auch dieses gleichsam komplizenschaftliche gemeinsame Experimentieren und Aushandeln zwischen Erzählerinstanz und lesendem Publikum ist selbstredend nur eine kommunikationstechnisch eingesetzte Fiktion. Der Regie führende Erzähler ist ebensowenig wie der empirische Autor zu irgendeiner Art von Kompromiss oder Abänderung der Romankonstruktion bereit, da naturgemäß hierzu gar nicht in der Lage. Die Präsenzform der Erzählerstimme ist konventioneller Bestandteil der narrationsvermittelnden Fiktion; sie suggeriert Nähe, Lebendigkeit und prozessuale Offenheit, wo in Tat und Wahrheit ein abgeschlossenes, als materieller Gegenstand gefertigtes Buch vorliegt, in dem kein Jota mehr abänderlich ist und auf keinerlei reales Publikum Rücksicht genommen werden kann. Das literarische Erzählen basiert auf einer medienästhetisch strikten arbeitsteiligen Trennung von Schreibvorgang und Rezeption, bzw. von textgenetischem Prozess und rezeptiv aktualisierbarem literarischem Produkt. Schreibt der Autor, ist der Leser abwesend und das Buch noch ein rein virtuelles Gebilde. Liest der Leser, ist der Autor abwesend und die Stimme des Erzählers eine rein virtuelle Größe.
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Gleichwohl oder vielmehr gerade deshalb gehört die mit Fieldings Regieinstanz einer auktorialen Erzählerstimme gestiftete Form der literarischen Kommunikation zwischen Romanautor und Lesepublikum gleichsam über die Köpfe und Schicksale des fiktiven Personals hinweg eine ästhetische Errungenschaft sondergleichen und mit höchst folgenreichen Wirkungen. Ganz bewusst markiert Fieldings Romanschaffen die Inauguration eines neuen Literaturparadigmas. Einen wichtigen Anhaltspunkt für diese Einschätzung bildet bereits der Debütroman dieses Autors, in dem Fielding eine Satire auf die Tugendromane Richardsons liefert, 1741 erschienen unter dem Titel The History of the Adventures of Joseph Andrews. Der Untertitel weist jenes Werk aus als „Written in Imitation of the Manner of Cervantes“36, womit ausdrücklich die satirische intertextuelle Gattungsreferenz des Quijote gemeint ist, ein Spiel, welches Fielding nun in analoger Weise mit den musterhaften Briefromanen Richardsons treibt. Am Erzähleingang Fieldings ist erkennbar auch die Romaneröffnung Wielands geschult. Es ist der Literaturgeschichte zu einer denkwürdigen Koinzidenz geworden, „daß sich der erste moderne englische und der erste moderne deutsche Roman unmittelbar, die Entwicklung der Romangeschichte übergreifend, auf Cervantes zurückbeziehen.“37 Wieland pädagogisches Experiment mit einem in seiner jugendlichen Naivität noch überaus formbaren Helden ist zwar inhaltlich von Cervantes klapprigem, ausgezehrtem Leseritter denkbar weit entfernt. Doch kann auch Don Sylvio, ganz im Sinne des Vorbildes, als eine Selbstanwendung und Binnendifferenzierung des literarischen Fiktionalitätsparadigmas verstanden werden, da eingebettet in die Reise- und Bildungsgeschichte Don Sylvios auch eine nicht minder abenteuerliche Exkursion in das Wunderland ästhetischer Imagination unternommen wird. Zum Testfall eignet sich der Roman Don Sylvio in einem dreifachen Sinne. Erstens im Hinblick auf die Geltungsgrenzen von Literatur, zweitens für die Möglichkeit, diese Grenzen selbstreflexiv in den Horizont der literarischen Fiktion hineinzunehmen und drittens als Probe auf den Anteil, welchen präexistente literarische Muster für die fiktional entworfene Sozialisation der Figuren haben können oder sollen. Ist die im Titel prominent ins Visier genommene „Schwärmerey“ der eine dominante Grundzug des Zeitalters, so ist der Schlüsselbegriff der „Aufklärung“ kennzeichnend für die komplementäre Gegentendenz. Schwärmerei steht für literarisch induzierten Realitätsverlust, Aufklärung für literarisch geschärftes Kritikvermögen. Die Grundspannung von Ver36 Henry Fielding: The History of the Adventures of Joseph Andrews […], hg. von Douglas Brooks-Davies, Oxford 2008. 37 Miller: Die Rollen des Erzählers, S. 47; vgl. bereits Wolfgang Kayser: Entstehung und Krise des modernen Romans, in: DVjs 27, 1954, H. 4, S. 5–36.
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nunft und Empfindsamkeit polarisiert sowohl das literarische Feld wie auch einzelne Werke entlang der Leitdifferenz des Natürlichen vs. des Übernatürlichen respektive des ‚Wunderbaren‘. Fiktiv im Sinne einer nur virtuellen Weltwahrnehmung sind für Wieland jene Produkte der Einbildungskraft, die einer psychologischen Erklärung sowohl fähig wie andererseits auch bedürftig sind. Hiervon zu unterscheiden wäre hingegen die fiktionale (mithin: fingierende) Diskursebene des Romans als eines Erzählvorgangs, der seine Verfahrensweise in doppelbödiger Kommunikation mit den Lesern offenlegt. Verabschiedet wird demnach ein gleichsam ontologisch naives Fiktionalitätsmodell, nicht das literarische Fingieren selbst. IV. Zur Einübung in diese Leitdifferenz dient schon der dem Roman vorgeschaltete Paratext, mit dem Wieland in der Maske eines fingierten Herausgebers den Text als das Werk eines spanischen Verfassers ausgibt, welches in der Originalsprache und am Ursprungsort nicht habe erscheinen können und vor Jahren in die Hände eines Übersetzers gelangt sei, der nun wiederum einen Freund, nämlich den Verfasser dieses Geleitwortes, darum ersucht habe, „die Ausgabe dieses Werks zu besorgen“.38 Damit wird die Geschichte der Textproduktion auf drei Instanzen verteilt, zu denen noch die in Binnenerzählungen wiedergegebenen Geschichten fremder Provenienz hinzutreten, ganz zu schweigen von den expliziten und impliziten intertextuellen Anspielungen, etwa auf Cervantes’ Don Quijote. Genauso wie der Don Quijote arbeitet Wielands Don Sylvio mit der Figuration eines fremdsprachigen Manuskripts und eines den Text der darin erzählten Geschichte im Wortlaut nachschreibenden Übersetzers, die beide nicht mit dem ebenfalls manifest auftretenden Subjekt der textvermittelnden Kommunikation (dort der ‚Autor‘, hier der ‚Herausgeber‘) identisch sind. Beide Werke benötigen, vom Textbeginn gerechnet, mehrere Zwischenschritte, um diese rückwärts greifende Darstellung der fingierten Textgenese zu implementieren und auf die Übersetzungsinstanz und die fremdsprachige Verfasserschaft des eben im Erzählen begriffenen Werkes zu sprechen zu kommen. Eigentlich könnte die Fiktion eines vorgeschalteten Herausgebers den Sinn haben, sämtliche Authentizitätsfragen – sei es zum Realgehalt der erzählten Geschichte, zum Status des angeblich zugrunde liegenden Manuskripts oder zum behaupteten Sprachtransfer vom Spanischen ins Deutsche – von der als Autor des Werks firmierenden Person abzuwälzen und an fik38 Christoph Martin Wieland: Die Abenteurer des Don Sylvio von Rosalva. Erste Fassung, hg. von Sven-Aage Jørgensen, Stuttgart 2001, S. 7.
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tive Instanzen zu delegieren. So geschieht es auch in Wielands Roman, zugleich aber unterläuft die paratextuelle Konstruktion diese säuberliche Trennung eklatant. Denn ein dem Entstehungsprozess nachgeordneter Herausgeber agiert hier gerade nicht, sondern eine ins kompositorische Gefüge massiv eingreifende Sprecherinstanz, und genauso war es vorgesehen. Wie Uwe Wirth hervorgehoben hat, ist im Titel der Herausgeber-Bemerkung die Aporie seiner camouflierten und eingestandenen Textbeteiligung deutlich markiert, denn dieses Begleitschreiben firmiert als „Nachbericht des Herausgebers, welcher aus Versehen des Abschreibers zu einem Vorberichte gemacht worden“.39 Abgedruckt ist der Nachbericht tatsächlich an der falschen Stelle, nämlich zu Beginn, sehr wohl aber versehen mit dem Hinweis, dass es sich um den falschen Ort handelt. Der angebliche Fehler, so Wirth, ist seltsamerweise demnach zwar bemerkt, aber nicht korrigiert worden, wodurch eine paradoxe, performativ selbstwidersprüchliche Aussageposition entsteht.40 Für die Position vor oder nach dem Werk ist nicht die räumliche, sondern die zeitliche Hierarchie entscheidend: Zu einem „Herausgeber“ würde der Freund des Übersetzers in der Tat erst ex post, also nach und vermittels der vollbrachten Edition: darum der „Nachbericht“. Liegt hingegen ein Fremdtext gar nicht vor und verbirgt sich im Herausgeber vielmehr ein in der persona des auktorialen Erzählers agierender Verfasser, so steht dieser Urheber ganz zu recht am Anfang des Textes. So gesehen, kommuniziert die den Bericht zur Quellenlage abschließende Herausgeber-Floskel „Ich lasse alles dieses an seinen Ort gestellt seyn“ auf selbstironische, verräterische Weise mit dem in der Überschrift (dem Paratext des Paratextes) protokollierten Fehler und bekräftigt dessen kompositorische Bedeutung. Der Begleittext soll der Geschichte beides zugleich mit auf den Weg geben, Fiktions-Signal und authentifizierende Bestätigung. „Ich muß es dem guten Willen der Leser überlassen, ob sie glauben wollen oder nicht“, leitet der „Herausgeber“ die fingierte Vorgeschichte der Publikation ein.41 Sich selbst als ‚unreliable editor‘ durchschaubar machend, beansprucht der Herausgeber um so nachdrücklicher, aber eben nicht explizit, den Rang eines den Schöpfer der Fiktion vertretenden auktorialen Erzählers. Seine Leser und seinen Helden schickt der folgende Handlungsgang auf eine Bildungsreise durch die Grenzgebiete von Erdichtung und Wirklichkeit. Der Jüngling Don Sylvio ist durch seine „natürliche Lauterkeit“ unfähig „des Argwohn, ob er etwan betrogen werde“.42 Zu einer naiven 39 Ebd., S. 7. 40 Uwe Wirth: Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. Editoriale Rahmung im Roman um 1800, München 2008, S. 193–196. 41 Wieland: Die Abenteurer des Don Sylvio, S. 7. 42 Ebd., S. 24.
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Grunddisposition tritt verstärkend die Abgeschiedenheit des Milieus, ferner die mit Ritterromanen und Feenmärchen so reich bestückte väterliche Bibliothek hinzu, welche sich im Gemüt des Heranwachsenden gleichsam als naturkonforme Prägung verankern konnte. Seine Einbildung faßte also die schimärischen Wesen, die ihr die Poeten und Roman-Dichter vorstellten, eben so auf, wie seine Sinnen die Eindrücke der natürlichen Dinge gefasset hatten. Je angenehmer ihm das Wunderbare und Übernatürliche war, desto leichter war er zu verführen, es würklich zu glauben, zumahl da er in der Möglichkeit auch der unglaublichsten Dinge keinen Zweifel setzte. Denn für den Unwissenden ist alles möglich.43
Im Kopfe des jugendlich unbedarften Helden Protagonisten nun paarte sich die Unwissenheit des Unerfahrenen mit einer einseitigen literarischen Vorbildung oder besser: Verbildung. Schon Sylvios Vater Don Pedro war ein Liebhaber märchenhafter Geschichten gewesen und hatte „eine Menge Feen-Märchen“ angeschafft und hinterlassen. Die Tante Don Sylvios mochte von den überkommenen reichhaltigen Bücherschätzen ihres verstorbenen Bruders hauptsächlich die Ritterbücher gelten lassen, „welche sie mit den Chronicken, Historien und Reisebeschreibungen in einerley Classe setzte“44; die Märchensammlung hingegen schien ihr leichter, wenngleich harmloser Kinderkram. Doch blieben „die Arabischen und Persianischen Erzählungen“, die „Novellen“ und „Feen-Märchen“, im Schutze der ehrwürdigen Folianten“ unscheinbar in hintere Reihen gerückt, der Bibliothek durch Unachtsamkeit erhalten und harrten dort ihrer Wiederentdeckung durch den Sohn des Gutsbesitzers, der alsbald mit gleicher Vorliebe wie einst der Vater die wundersamen Feenmärchen verschlingt. „Die Kürze dieser Erzählungen war das erste, wodurch sie ihm gefielen“45, und sodann beginnen ihre so fern und fremd wirkenden Schauplätze, Figuren und Requisiten einen bezaubernde Wirkung auszuüben, die den faszinierten Leser seiner äußeren Umgebung mehr und mehr entrückt, um ihn die wunderbare Welt der Feen und Zauberwesen als nahezu sinnlich erfahrbare, ja als wirklichere Wirklichkeit spüren zu lassen. Solcherart schob sich die poetische und bezauberte Welt in seinem Kopf an die Stelle der würklichen, und die Gestirne, die elementarischen Geister, die Zauberer und Feen waren in seinem System eben so gewiß die Beweger der Natur, als es die Schwehre, die Anziehungs-Kraft, die Elasticität, das electrische Feuer und andere natürliche Ursachen in dem System eines heutigen Weltweisen sind.46
Nur quasi als Nebenumstand fällt hierbei die in ihrer Konsequenz für die Selbstprogrammierung von Literatur bemerkenswerte (und an der Ästhetik 43 44 45 46
Ebd., S. 24. Ebd., S. 26; das folgende Zitat ebd. Ebd., S. 27. Ebd., S. 24.
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Bodmers und Breitingers geschulte) Bestimmung, das Poetische lasse sich als Vorgang der Bezauberung beschreiben, und die poetische Welt sei in eins zu setzen mit einer bezauberten Welt. Empfänglich sowohl für empirische wie eben auch für imaginierte Reize, ist der Jüngling nicht in der Lage, diese beiden Sinnesquellen erkenntniskritisch voneinander zu unterscheiden und bedarf hier, so die Ausgangslage, jener kräftigen Lektion, die ihm Wielands Schwärmerkur im Folgenden angedeihen lässt. Allerdings ist auch die Natur selbst voll von perspektivischen Illusionen und Simulakren, insofern das menschliche Naturverhältnis kaum ohne anthropomorphe Modelle und Gestaltungen auszukommen vermag. „Die Natur selbst, deren anhaltende Beobachtung das sicherste Mittel gegen die Ausschweiffungen der Schwärmerey ist, scheint auf der andern Seite durch die unmittelbaren Eindrücke, so ihr majestätisches Schauspiel auf unsre Seele macht, die erste Quelle derselben zu seyn.“47 So rufe beispielsweise der „Anblick des gestirnten Himmels“ in heiterer Nacht eine „gefühlte Erweiterung und Erhöhung unseres Wesens“ hervor, dass das hiervon bewegte Gemüt durchaus zu glauben geneigt sei, jener – so Wielands Erzähler wörtlich – jener „schimmervolle, mit unzählbaren nie erlöschenden Lampen erleuchtete Abgrund“ könne „eine Wohnung unsterblicher Wesen“ sein.48 Vorweggenommen wird mit diesem wirkungspsychologischen Argument Kants Trope der Anrufung des Sternenhimmels als Modell einer im Sittlichen aufzurichtenden Ideenwelt, wobei Wielands sanft ironischer Spott dem Rigorismus Kants nicht nur zeitlich, sondern ästhetisch einen wichtigen Schritt voraus ist. Denn die Formulierung vom gestirnten Abgrund führt die seelenkundige Einsicht in jene coincidentia oppositorum mit sich, welche das Oberste zuunterst kehrt und in Natur- wie Geisteserscheinungen gegensätzliche Bewertungen und Affekte auf engstem Raume sich vereinigen lässt. Im symbolischen Austausch mit einer als asymmetrischer Partner erlebten elementaren Natur sind anthropomorphe Sprachregelungen und imaginative Projektionen durchaus legitim, ja letztlich gar nicht zu vermeiden. Pathologisch und korrekturbedürftig wird – so Wielands implizites, an der Fallgeschichte eines irrenden Lesers vorgeführtes Argument – dieses imaginäre Naturverhältnis dann, wenn ihm eine fehlende fiktionskritische Vermittlungsebene und das subjektives Bedürfnis nach illusionärem Zauber zusätzlich und systematisch Vorschub leisten. Die Lektüre Don Sylvios trägt durchaus Züge eines Suchtverhaltens; sie bedarf quantitativ unablässiger Steigerung, und dies bei zunehmend kollabierender Differenz zwischen der pragmatischen Rezeptionssituation eines alltäglichen Lektürevorgangs und jenem rauschhaften Ausnahmezu47 Ebd., S. 24. 48 Ebd., S. 25.
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stand, in welchen der Leser durch seine eigene Phantasietätigkeit versetzt wird. Um die Entrückung als Lektüreeffekt der Feenmärchen geht es im Leseverhalten Don Sylvios ganz ausdrücklich. Dabei wird der feenhafte Zauber der Märchenwelt unterstützt durch die vom Helden gewählte Lesesituation. „So oft er konnte, begab er sich in den Garten oder in den angränzenden Wald, und nahm seine Mährchen mit. Die Lebhaftigkeit, womit seine Einbildungskraft sich derselben bemächtigte, war außerordentlich, er las nicht, er sah, er hörte, er fühlte.“49 Beschrieben ist hier eine im Zeichen der Empfindsamkeit stehende identifikatorische Lektüre, wie sie zehn Jahre später der junge Werther, ebenfalls die freie Natur zu seinem Lektüreschauplatz wählend, den Gesängen Homers und Ossians entgegenbringen wird. Doch während der sentimentalische Werther die extremen Amplituden-Schwankungen der eigenen Seelenzustände in die ganz andersgearteten Sinnwelten des von ihm usurpierten Textbestandes hineinprojiziert, können Don Sylvios Entrückungszustände hingegen mit dem medienästhetischen Begriff der Immersion gefasst werden, also eines den Rahmen und Kontext artistischer Gebilde abstreifenden Eintauchens in die virtuelle Welt der Simulakren. Das Wunderbare wird nicht mehr nur gelesen, es tritt so plastisch hervor, dass der hingebungsbereite Märchen-Eintaucher es in sinnlicher Unmittelbarkeit zu sehen, zu fühlen und zu spüren vermeint. Wielands Don Sylvio ist in breiter Anlage ein Roman über unterschiedliche Lektürehaltungen und über divergente Spielarten literarischer Sozialisation. Die Hauptfiguren sind „Leser […], die in unterschiedlichen Formen jeweils bestimmte literarische Genres rezipieren“.50 Es sind nicht zuletzt solche intertextuellen Bezugnahmen und gattungspoetischen Muster, welche die Konfigurations-Ordnung typologisch charakterisieren – auf die Spannung zwischen den Lektürepräferenzen für Ritterbücher oder Feengeschichten wurde bereits hingewiesen. Allerdings ist nun nicht etwa die Wahl eines bestimmten gattungspoetischen Sozialisationsparadigmas entscheidend für den glückenden oder misslingenden Prozess der Ausbildung ästhetischer Urteilskraft. Sowohl die Ritterbücher wie die Feenmärchen können ihre Anhänger fehlgehen lassen; indes gehört es zu den freimütigen ironischen Wendungen des Romans, just die von Cervantes inkriminierten Ritterbücher als würdige Nachbarn von Chroniken und Reiseberichten vermeintlich aus der Schusslinie der Kritik genommen zu haben.
49 Ebd., S. 28. 50 Marx: Erlesene Helden, S. 54.
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Für die selbstaufklärerische Dimension von Wielands Roman51, die dem modernen Roman in Deutschland zuallererst die Grundlagen seiner künftigen Entwicklung verschafft, ist der Quijote-Bezug ein entscheidender Impuls. Hierzu gehört, was den erzählperspektivischen Rahmen betrifft, die oben besprochene Fiktion der spanischen Handschrift und ihres Übersetzers, durch die im Don Sylvio ebenfalls eine Sequenz ‚zweiter Verfasser‘ zu Amt und Würden gelangt. Dazu gehören vor allem eine ganze Reihe expliziter Verweise auf Handlung und Hauptfiguren des Don Quijote, mit denen Wieland sein Publikum ausdrücklich auffordert, das Spiel dieser intertextuellen Bezüge mit- und weiterzuspielen. Forciert werden diese Anleihen durch eine deutliche Analogie von Figurenkonstellation und Handlungsführung selbst: vergleichbar sind das Gespann aus Herr und Diener, die von literarischen Truggebilden verklärten Ausfahrten des Helden, die dabei entstehende Interferenz mehrerer Ebenen von Kunst- und Realitätsbezug innerhalb des Handlungsganges und nicht zuletzt die Präsentation der Gattung des Romans als eines Mediums zur Verarbeitung intertextueller Vorlagen und polemisch inkorporierter früherer Gattungsmuster. Wie weiland Don Quijote und Sancho Pansa durchlaufen Don Sylvio und sein Knappe Pedrillo eine stellvertretende literarische Sozialisation, die dem Lesepublikum vorführt, auf welche Irrwege die identifikatorische Lektüre zu führen droht.52 In Abweichung vom Handlungsschema des Quijote ist die Zielperspektive des Romanendes freilich eine hoffnungsvollere, insofern vor allem der Titelheld das Schwärmertum aufgibt oder vielmehr mit einer gewissen Form von Realitätstüchtigkeit zu verbinden lernt, indem er sich der zivilisierenden Macht der Liebe unterwirft. Wie Don Quijote dem Traumbild seiner Dulcinea von Toboso nachjagt, so wandelt Don Sylvio auf den Spuren des Traumbilds einer geliebten Prinzessin, die durch bösen Zauber in mancherlei fremde Gestalt verhext worden sei. Zum Boten der Geliebten wird dem Helden die Erscheinung eines schönen Schmetterlings, der, wie nicht anders zu erwarten, auf flatterhafter, flüchtiger Bahn
51 Vgl. Sven-Aage Jørgensen/Herbert Jaumann/John A. McCarthy/Horst Thomé: Christoph Martin Wieland. Epoche – Werk – Wirkung, München 1994, S. 134f. 52 „Über das Spiel mit literarischen Fiktionen hinaus thematisiert der Text Funktion und adäquate Rezeption solcher Fiktionen. […] Der Kunst […] kommt eine kompensatorische Wirkung zu, mit der das von den Ansprüchen der Rationalität belastete Individuum einen Ausgleich im freien Spiel der Phantasie findet. Das Gelingen setzt freilich Fiktionsbewußtsein und Distanz zum Gelesenen voraus, die Don Sylvio fehlen. Hat er doch die Defizite seines Lebens durch eine identifikatorische Lektüre ausgeglichen, in der der spielerisch kontrollierte Tagtraum die Gestalt einer irrealen Wunschprojektion angenommen hat und an die Stelle des Lebens getreten ist.“ (Ebd., S. 136)
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davoneilt, während ihm ein zusehends frustrierter Don Sylvio zu folgen sucht. Der „Papilion“ oder auch Sommervogel glänzt in schönster Farbenpracht im Sonnenlicht, und Don Sylvio jagt eilends hinterher. „O, rief Don Sylvio, ich muß dich haben, und wenn ich dich auch bis in das unterirdische Reich des Königs Hammel verfolgen müßte, wo es kleine Pastetchen regnet, und gebratene Feldhühner auf den Bäumen wachsen.“ Der prächtige Schmetterling gilt ihm als ein Sendbote aus dem Fabel- und Märchenlande, der zwischen der Alltagswelt des Lesers und der Wunderwelt seiner Lektüren die ersehnte Verbindung herzustellen verspricht. Der Sommer-Vogel, der sich auf den Vortheil seiner Flügel verließ, schien ihm eine so weite Reise ersparen zu wollen. Kaum hatte Sylvio ihn aus dem Gesicht verloren, so fand er ihn wieder ein paar Schritte vor sich, auf einem RoßmarinStrauch sitzen. Er wollte ihn wieder haschen, aber es gieng wie das erstemal; der schöne Papilion schien seiner nur zu spotten; oft gauckelte er in kleinen Kreisen um ihn herum, dann setzt er sich wieder, aber entwischte allemal, wenn er im Begriff war gefangen zu werden.53
Präziser ist der Mechanismen der Verführung kaum zu beschreiben; die alternierenden Phasen von Präsenz und Entzug halten den Schwärmer auf Trab und lassen ihn beachtliche Wegstrecken zurücklegen – bis er endlich bemerkt, wie weit er sich aus den gewohnten Gefilden schon herausgewagt hat. Auch dies ist ein Analogmodell zu jenen Verführungsreizen, die von und in Büchern ausgeübt werden. Als sich die Vergeblichkeit dieses Nachjagens nicht länger leugnen lässt, beschließt Don Sylvio, sein junges Leben ganz der Suche nach dem verheißungsvollen Schmetterling und der von ihm vermeintlich angekündigten Prinzessin zu widmen. Wenn seine Suche am Ende von Erfolg gekrönt ist, und sich dabei überdies noch auf wundersame Weise das Rätsel der auseinandergerissenen Geschwisterkinder löst, indem Don Sylvio seine verlorenen Schwester wiederfindet, so ist – trotz der hierfür gebotenen natürlichen Erklärung, auf die der Titel so programmatischen Wert legt – ein literarischer Märcheneffekt glücklicher Wunscherfüllung diesem Romanschluss durchaus nicht abzusprechen. Dass Don Sylvio ‚kuriert‘ sei, ist deshalb nur die eine Hälfte der Bilanz; andererseits nämlich schlägt als ebenso bedeutsam zu Buche, dass die literarisch induzierten empfindsamen Triebkräfte, die den Helden überhaupt erst in Marsch setzten, durch das liebreiche Finale vollständig in ihr Recht gesetzt sind. Nur ein mehrschichtiger Realitätsbezug konnte die widerstreitenden Handlungsanforderungen unterschiedlicher Sinnebenen halbwegs konfliktfrei auflösen. Ein solches mehrschichtiges Verhaltensmodell entwirft Wielands Roman, den Vorbildern Cervantes’ und Fieldings folgend, in der 53 Wieland: Die Abenteurer des Don Sylvio, S. 36.
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textvermittelnden Kommunikation zwischen auktorialer Erzählerinstanz und apostrophiertem Publikum. Wir haben nunmehr, geneigter Leser, die Geschichte unsers Helden bis zu dem Zeitpunkt fortgeführt, wo sie aufhört wunderbar zu seyn, oder, welches eben so viel ist, wo sie in den ordentlichen und allgemeinen Weg der menschlichen Begebenheiten einzuschlagen anfängt, und also aufhört zu den Absichten geschickt zu seyn, die wir uns in diesem Werke vorgesetzt haben.54
Wielands Vorschlag zur Güte liegt nicht so sehr in der pädagogischen Nutzanwendung der so genannten „Schwärmerkur“, sondern darin, die Sprache der Empfindsamkeit als eine Façon de parler im Sinne eines gefühls- und handlungsleitenden Diskurses zu etablieren, dessen Regeln erlernbar und dessen Register entsprechend dosierbar sind. Feen, Zauberer und andere Elementargeister bevölkern zwar nicht die empirische Welt, wohl aber bewohnen sie das Denken, Empfinden, Sprechen und Handeln der Menschen – und insofern ‚gibt es sie‘ natürlich doch. Diejenige Dimension, in der die Geisterwesen in Wielands Roman fraglose Anerkennung finden, ist das zwischenmenschliche Wirken der Empfindsamkeit selber. Die wundersame Konkordanz, mit der sich liebende Herzen zusammenfinden, kann durch das Walten einer liebestiftenden Zauberkraft aufs Plausibelste erklärt werden, ohne dass die Vernunft daran Anstoß nehmen müsste.55
54 Ebd., S. 448. 55 „Die Liebe tritt als Form der Bezauberung an die Stelle der Schwärmerei; sie löst die Isolation eines Romanhelden, der sich in die Welt seiner Lektüre verstiegen hat, und bewahrt zugleich den Enthusiasmus der Begeisterung.“ (Marx: Erlesene Helden, S. 77)
Rüdiger Campe
Agathon und deutscher Shakespeare Zu Wielands Stellung im Wissen der Literatur Es ist eine Epoche in der Form- und Stilentwicklung des Autors, und es markiert zugleich eine Epoche für die Form- und Stilgeschichte der deutschen Literatur im Ganzen: Seit Anfang der 1760er Jahre arbeitete Christoph Martin Wieland an der Übersetzung von Shakespeares dramatischem Werk (seit 1761), und seit fast derselben Zeit schrieb er an dem großen Roman, der Geschichte des Agathon (1762). Ein deutscher Fielding sollte der Roman werden und als antikisierende Travestie des Tom Jones Maßstäbe des Klassischen setzen; der deutsche Shakespeare machte aber in Wahrheit viel nachhaltiger Geschichte und zwar so, dass sein Einsatz, die Idee der Natur als ästhetischer Gesetzgebung, noch vor Vollendung des Gesamtunternehmens Erfolg und Wirkung zeitigte.1 Für die modernen Form- und Stilgeschichten, die an diesen Jahrzehnten des achtzehnten Jahrhunderts die Bedingung ihrer Möglichkeit haben – das jedenfalls trifft sowohl auf Paul Böckmann wie auf Franco Moretti zu2 –, zeigen die beiden zeitgleichen Epochenzäsuren außer dem Namen Wieland aber wenig Gemeinsames. Was die Shakespeare-Übersetzungen auszulösen halfen, überholte schon, was der Agathon erst noch etablieren sollte. Dieses Bild der geschichtlichen Verhältnisse zeichnen jedenfalls – und sehr entschieden – Goethes Worte aus der Logenrede auf Wieland nach dessen Tod: Diese Übersetzung, so eine große Wirkung sie in Deutschland hervorgebracht, scheint auf Wieland selbst wenig Einfluß gehabt zu haben. Er stand mit seinem Autor allzusehr in Widerstreit, wie man genugsam erkennt aus den übergangenen und ausgelassenen 1
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Zum ‚deutschen Fielding‘ maßgebend: Norbert Miller: Der empfindsame Erzähler. Untersuchungen an Romananfängen des 18. Jahrhunderts, München 1968; zur Shakespeare-Übersetzung immer noch unumgänglich: Friedrich Gundolf: Shakespeare und der deutsche Geist, Berlin 51920. Zwei weit von einander entfernte formtheoretische Konzepte, die auf deutsche Verhältnisse reagieren und am 18. Jahrhundert Maß nehmen: Paul Böckmann: Formgeschichte der deutschen Dichtung, Bd. 1: Von der Sinnbildsprache zur Ausdruckssprache, Hamburg 1949; Franco Moretti: The Way of the World. The Bildungsroman in European Culture, London 1987.
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Stellen, mehr noch aus den hinzugefügten Noten, aus welchen die französische Sinnesart hervorblickt.3
Gegen Goethes Oppositionsbildung zwischen Shakespeare und französischer Sinnesart, aber auch zwischen der literarischen Wirkung und Wielands Absichten, lässt sich wenig einwenden. Nur soviel kann man anmerken, dass Goethe diese Zeilen aus zweifachem Rückblick und damit aus zweimal besserem Wissen schrieb. Nach der Straßburger Erfahrung, die mit Herder verbunden ist, und nach dem Weimarer Konsortium mit Schiller wendete er hier die Kategorien einer Form- und Stilgeschichte an, die seiner eigenen Dichtung und Wahrheit, seinem zu Literaturgeschichte gewordenen Werk, inzwischen zu Grunde lagen. Bekanntlich vervollständigt im Wilhelm Meister der Protagonist mit dem eingedeutschten Shakespeare-Vornamen, den er in Wielands Übertragungen durchweg führt, den Hamlet nach dieser Übersetzung.4 Das tut er in der Spur einer Form- und Stilgeschichte, die sich ihrerseits auf Wieland zurückbeziehen lässt: Wilhelm Meister ergänzt Wielands Hamlet-Übersetzung nämlich so, dass die Tragödie nun aus der inneren Geschichte ihres Helden hervorgehen soll. Damit folgt er Friedrich von Blankenburg und seinem Versuch über den Roman von 1774. Dessen erste deutsche Romantheorie5 hatte den Satz von der inneren Geschichte als Formvoraussetzung des Romans formuliert. Sie tat das vor allem im Namen von Wielands Agathon (und in zweiter Linie von Fieldings Tom Jones), und sie demonstrierte es am Beispiel von Shakespeares Tragödien, die Blankenburg aus Wielands Übersetzung zitierte (und mit gelegentlichem Hinweis auf Lessing und dessen Dramen). Wielands Agathon galt für den ersten Theoretiker des Romans als eines von zwei Beispielen oder sogar
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Johann Wolfgang Goethe: Zu brüderlichem Andenken Wielands, in: Goethes Werke, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Weimar 1887–1919, Bd. I.36, S. 311–346; hier: S. 326. Zur Rezeptionsgeschichte im 18. Jahrhundert vgl. Sabine Kob: Wielands Shakespeare-Übersetzung. Ihre Entstehung und ihre Rezeption im Sturm und Drang, Frankfurt a.M./Berlin u.a. 2000. „Wilhelm hatte sich schon lange mit einer Übersetzung Hamlets abgegeben; er hatte sich dabei der geistvollen Wieland’schen Arbeit bedient, durch die er überhaupt Shakespearn zuerst kennen lernte.“ (Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, in: Goethes Werke, Bd. I/22, S. 163; vgl. im Kontext auch: 3. Buch, Kap. 11; 4. Buch, Kap. 3; 5. Buch, Kap. 5; Goethes Werke, Bd. I/ 21, S. 309–316; Bd. I/22, S. 25–28, S. 103–108) Christian Friedrich von Blankenburg: Versuch über den Roman, Faksimiledruck der Originalausgabe von 1774, mit einem Nachwort von Eberhard Lämmert, Stuttgart 1965.
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das einzige Beispiel für die Gattung, deren Theorie er schreiben wollte.6 Im ersten Teil des Versuchs über den Roman aber, der dem poetischen Gegenstand, dem Stoff oder Material, des Romans gewidmet ist, kam dieses einzige Beispiel (fast) nur ein einziges Mal zur Sprache. An dieser Stelle behauptete Blankenburg, bislang gründe nur Wielands Roman die Einheit des Werks wirklich auf die innere Geschichte des Helden.7 Wieland kam aber dann doch über viele Seiten hinweg bei Blankenburg zu Wort – nicht mit seinem Roman allerdings, sondern im Mittel seiner Shakespeare-Übersetzung.8 Nur von Wielands programmatischem Roman9 kündigt Blankenburg zu sprechen an; aber keine Werke sind ausgiebiger Gegenstand der Erörterung bei ihm als das Trauerspiel von Macbeth, Das Leben und der Tod des König Lear oder Othello, der Mohr von Venedig, Tragödien und Historien Shakespeares von Wieland übersetzt. Zwischen das, was Wielands Roman sein soll und was in seiner Übersetzung Shakespeares Tragödien sind, tritt die Romantheorie. Sie erörtert das eine, die Shakespeare-Übersetzung, im Namen des andern, des Romans; und sie verdeutlicht, was sie hinsichtlich des deutschen Romans sagen will, durch die Kommentare zu den Dramen Shakespeares. In diesem Verhältnis zwischen Roman und Shakespeare-Übersetzung kann man eine weitere, oder genauer: eine erste Übersetzung sehen. Eine Übersetzung ist es aus Gründen und nach Maßgabe der Theorie nicht nur von einer Gattung in eine andere, sondern aus der herkömmlichen Poetologie der Gattungsformen in die Theorie einer ganz anderen Form, der des Lebens. Das wird mit diesen Worten aber erst Friedrich Schlegel sagen, wenn er Blankenburgs Arbeit an Wielands Agathon und Shakespeare-Übersetzung wiederholt. Er wird sich dafür an den Wilhelm Meister halten, den Roman, dessen Held Hamlet in Wielands Deutsch liest und nach Blankenburgs Theorie des Romans dramaturgisch verbessert. 6 7 8
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Ebd., S. VII. Ebd., z.B. S. 146, S. 162. Zu den Voraussetzungen von Blankenburgs Shakespeare-Bild insbesondere in Henry Homes Elements of Criticism vgl. Margarethe C. Schioler: Blankenburg’s Advocacy of Shakespeare, in: Monatshefte 42, 1950, S. 161–165. Für Wieland selbst ist die Auffassung Shakespeares entscheidend, die William Warburtons Ausgabe von 1747 zu Grunde lag. Als programmatisch im engeren Sinne hat Joachim Campe Wielands Agathon und andere Romane des 18. Jahrhunderts deshalb verstanden, weil in ihnen an realistisch disponierten Helden eine beispielhafte Entwicklung gezeigt werde; vgl. Joachim Campe: Der programmatische Roman. Von Wielands ‚Agathon‘ zu Jean Pauls ‚Hesperus‘, Bonn 1979.
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I. Wieland in Blankenburgs Versuch über den Roman Es geht nicht darum zu behaupten, in Wielands Agathon und seinen Shakespeare-Übersetzungen habe es doch eine geheime stilistische Einheit gegeben, die ihm und den Zeitgenossen nur verborgen blieb. Es geht auch nicht um eine ästhetische Theorie, die Blankenburg an Wielands Shakespeare-Übersetzungen gewonnen und dann dem Roman untergeschoben hätte. Die ganz andere Frage ist zu erörtern: Wie konnte Blankenburg, der durchweg noch die Sprache der traditionellen Poetik spricht, in der Auseinandersetzung mit Wielands Produktionen der 1760er Jahren überhaupt zu einem formtheoretischen Konzept kommen? Es geht damit um eine Wende im Wissen der Literatur, die zu den Kategorien einer Formgeschichte erst führt.10 Sie vollzieht sich in der Übersetzungsleistung, die Blankenburg erbringt, wenn er den Reichtum von Wielands Shakespeare in die von Wielands Agathon gelassene Leere füllt. Diesen Vorgang zwischen Agathon, deutschem Shakespeare und Romantheorie gilt es als Ereignis im Wissen der Literatur zu erfassen und zu analysieren. 1. Kommentar: Den Anfang sollen Beobachtungen zum ersten Teil von Blankenburgs Versuch über die Gegenstände des Romans, seine res, machen. Auf den zweihundertfünfzig Seiten, die Blankenburg dafür aufwendet, fällt wie gesagt einerseits die weitgehende Abwesenheit von Beispielen aus der Romanliteratur auf. Das gilt auch für Agathon, dem nur der eine, aber unüberbietbare Satz gilt: „daß der Punkt, unter welchem alle Begebenheiten desselben vereinigt sind, kein andrer ist, als das ganze jetzige moralische Seyn des Agathon […].“11 Das ist der Satz der Form und ihrer Einheit. Deutlich wird hier und im Folgenden aber auch, dass Blankenburg nicht weiß, wie er diesen Satz durch Beispiele und poetologische Verfahrensbeschreibungen belegen und ausführen könnte. Besonders, so scheint es, entgeht das ‚Jetzige‘ im ‚moralischen Seyn des Agathon‘ der Demonstration. Das ‚jetzige moralische Seyn des Agathon‘ legt nämlich den Nachdruck auf die Aktualität der Formstiftung. Von Aktualität ist einstweilen wohl nur im Sinne der theoretischen Feststellung die Rede; aber sie soll hier auch im Sinne einer Deklaration gelten. Diesem einen Satz stehen dann etwa fünfzig Seiten fortlaufenden Kommentars zu Shakespeare10 Zu dieser Überlegung vgl. ausführlicher: Rüdiger Campe: Form und Leben in der Theorie des Romans, in: Vita aesthetica. Szenarien ästhetischer Lebendigkeit, hg. von Armen Avanessian/Winfried Menninghaus/Jan Völker, Zürich/Berlin 2009, S. 193–211. 11 Blankenburg: Versuch, S. 10
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Tragödien gegenüber, zitiert im englischen Wortlaut und dann in Prosaübersetzungen, die hin und wieder als „Wiel.[ands] Übersetzung“ gekennzeichnet sind.12 Das Wort vom ‚Kommentar‘ verwendet Blankenburg in diesem Zusammenhang selbst. Genauer spricht er davon, dass die Theorie nur Proben und Bruchstücke des in seiner Fülle nicht vorzuführenden Kommentars bieten kann. „Wenn ich einen Kommentar über den Shakespear schriebe: so müßte ich noch viel sagen“, heißt es einmal. „Wenn ich es mir erlaubt hätte, weiter den Charakter des Macbeth aus einander zu setzen, und seine innere Geschichte zu entwickeln“ ein anderes Mal.13 Der Kommentar vollendet also sein eigenes Geschäft in der Theorie des Romans nicht zur Gänze. Aber gerade so vollzieht er indirekt das Geschäft der Theorie. In dem für ihn charakteristischen bloßen Weiterlaufen versteht der Kommentar, der darum tatsächlich niemals zu Ende kommen kann, die Einheit des Romans – den ‚Punkt‘, unter dem sich, wie für Agathon behauptet war, der Roman zu seiner Form zusammenschließt. In seiner elliptischen Weise bietet der Kommentar und nur er die ‚innere Geschichte‘ im Modus des vergegenwärtigenden ‚Jetzigen‘. Zuspitzend kann man sagen, dass der Kommentar die Sache, den Gegenstand, des Romans aus der Beobachtung und Erörterung der Dramenszene erzeugt. Die Sache des Romans ist, was der philosophische Kommentar auf der Bühne Shakespeares oder viel seltener auch im Text Wielands und anderer Romanautoren beobachtet. Das ist genau zu nehmen. Denn als lebhaft vergegenwärtigende Figuration stellt der Kommentar vor, was Blankenburg mit Lessings Dramentheorie Mitleid und mit Garves ästhetischer Theorie Teilnahme nennt. Die evidentielle Rede des Kommentators ist das Mitleid des Lessingschen Zuschauer in actu und die Teilnahme von Garves ästhetischem Betrachter im Vollzug. Mitleid und Teilnahme richten sich als vergegenwärti12 Blankenburg: Versuch, z.B. S. 103, S. 159 (Anmerkung p)): zu Macbeth; S. 151: zu Othello; S. 107, S. 109, S. 118: zu King Lear. Die Zitate folgen Wielands Text weitgehend wörtlich, gelegentlich mit kleineren Abweichungen oder Auslassungen. Das gilt aber auch für die längeren Passsagen auf Deutsch, die nicht mit Wielands Namen gekennzeichnet sind. Eine Regel, wann Blankenburg Wieland nennt und wann nicht, ist nicht zu erkennen. Grundlegend für die Beschäftigung mit Wielands ShakespeareÜbersetzungen sind weiterhin: Ernst Stadler: Wielands Shakespeare, Straßburg 1910 (zur Entstehung und zu Prinzipien der Übersetzung) und Kyösti Itkonen: Die Shakespeare-Übersetzungen Wielands (1762–1766). Ein Beitrag zur Erforschung englischdeutscher Lehnbeziehungen, Jyväskyla 1971 (zu Wortschatz und Morphologie). 13 Blankenburg: Versuch, S. 109 und 162.
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gender Kommentar, wie Blankenburg betont, auf ‚selbsthandelnde Wesen‘ in Umständen der Leidenschaft. Kommentiertes Drama, ist der Romanstoff teilnehmend beobachtete Passion. Zu einer eigenen großen Inszenierung wird diese Produktion des Romanstoffs vor allem in Blankenburgs King Lear-Kommentar.14 Das Kapitel, das insgesamt fast fünfzig Seiten einnimmt, ist dem Übergang von Leidenschaft zu Wahnsinn gewidmet. Blankenburg unterbricht diesen Kommentar zum Lear mehrmals für Hinweise zum Beispiel auf Senecas Hercules, Aeschylos’ Prometheus oder Lessings Emilia Galotti. Gerade die Unterbrechungen zeigen das Allgemeine, um das es diesem wie jedem Kommentierenden geht. An den jeweils einzelnen Stellen hat er doch das Allgemeine eines Typus im Blick. In diesem Fall ist es der große Bogen vom Zorn zum Irresein. Den Höhepunkt in der Lear-Kommentierung bildet die Szene im dritten Akt, wenn Lear die Hütte Edgars, des Poor Tom, betritt: Kent fährt fort zu bitten, daß der König doch hineingehen solle: „Ich bitte dich, (antwortet Lear) geh du selbst hinein; sieh, wie du dir helfen kannst. – Dieser Sturm ist gut; er erlaubt mir nicht an Dinge zu denken, die mich noch stärker angreifen würden.“ – Es hat das Ansehn, als ob er sich hier von der Idee seiner Leiden losmachen wollte. Solche Vorsätze faßt jeder Mensch, so lang’ er noch ein Quentchen Vernunft hat; allein hier sind sie schon zu genau mit dem Leidenden zusammengewachsen, als daß er es könnte, oder ernstlich wollte. – „Ich will hineingehen!“ – fährt er fort, und es dünkt mich, als ob ich in diesem Augenblick den Steuermann das Ruder des bestürmten Schiffs verlassen, und das Schiff den Wellen übergeben sähe. Shakespear hat diesen Sturm ganz vortreflich genützt. Indem dadurch die ganze Situation des Lear schrecklicher und bejammernswürdiger gemacht wird, so hat es zugleich das Ansehn, als ob dieser Sturm den alten Mann im Laufe zur Raserey dadurch aufhielte, und ihn über seine innern Leiden zerstreute. Er dient dem Dichter dazu, den König die verschiedenen Stufen zur Raserey allmählig hinaufzuführen; wir sehn sie ihn hierdurch eine nach der andern besteigen; denn dieser Sturm selbst treibt den König in die Hütte des gedachten Wahnsinnigen; und wie sehr, und wie sehr natürlich die Raserey des alten Lear hierdurch befördert wird, werden wir gleich sehen: In boy, go first. You houseless poverty – Nay, get thee in; I’ll prey, and then I’ll sleep – […] „Hinein, Junge, zuerst! (sagt er zum Kent) – Ihr Dürftigen, die ihr jetzt ohne Dach seyd – Nun, geht doch – ich will beten, dann will ich schlafen […]“.15
Blankenburg entfaltet im strukturell Endlosen des Kommentars und seiner Präsenzform ein phantasmatisches Spiel aus Theorie und Teilnahme und gewinnt 14 Ebd., S. 105–148. 15 Ebd., S. 126f.
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aus diesem Spiel die Sache, den Stoff, des Romans. Eine Spekulation der Theorie über Shakespeares Komposition dieser Szene ergibt sich, die ihrerseits die Genese der Theorie und der von ihr angeleiteten Beobachtung nachstellt. Sie führt vom Äußeren der theatralischen Situation zu einer Beobachtungssituation auf der Bühne und schließlich der Teilnahme an der Beobachtung des Zuschauers selbst. Der Kommentar setzt damit ein, den Sturm als Hintergrund und das Betreten der Hütte als aktuelle Situation darzulegen; er setzt sich fort in die Konfrontation Lears mit dem vorgeblichen Wahnsinn des Poor Tom; und er mündet in die Teilnahme letztlich des Zuschauers am Fortgang von Lears Leidenschaft zu dem, was Blankenburg den Unsinn nennt. Dorthin, gibt der Kommentator zu verstehen, laufe die Rede des Königs aus.16 2. Kritik: Blankenburg zitiert Shakespeares Text in der Regel zunächst englisch und fügt dann eine deutsche Übersetzung hinzu. Manchmal, besonders zu Anfang der Zitate, handelt es sich um Interlinearversionen aus eigener Übersetzung; dann immer öfter um mehr oder weniger wörtliche Zitate der Wielandschen Übersetzung. Manchmal kennzeichnet er, dass er Wielands Text zitiert, aber er tut es nicht immer. Mit der Aura wörtlichen Zitierens, die Blankenburg dabei in jedem Fall evoziert, greift sein Kommentar durchgehend auf die doppelte Bedeutung der Kritik17 zurück, die Wielands Übersetzung und seinen dann so rasch inkriminierten Noten zur Übersetzung zu Grunde lag. Wieland tadelte Shakespeare, wie seit Gerstenberg, Lenz und Goethe immer wieder hervorgeboben wurde, für die obszönen und (nach Wielands Ausdruck) ‚non-sensicalischen‘ Wendungen.18 Von einer „Grundsuppe des Londner-Pöbels“, spricht er, den Shake-
16 Zu einer poetologischen Kategorie wird der Unsinn allerdings erst bei den Frühromantikern und – wie Menninghaus betont – nur für kurze Zeit; vgl. Winfried Menninghaus: Lob des Unsinns. Über Kant, Tieck und Blaubart, Frankfurt 1995. 17 Zum Kritikbegriff der frühen Aufklärung, der eine moralisch zensierende und eine epistemologisch analytische Seite hat und in dieser Doppelheit den ‚critischen‘ Dichtungslehren Gottscheds, aber auch Bodmers und Breitingers zu Grunde liegt, vgl. Rüdiger Campe: Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 1990, S. 56–65. 18 Zu einer Passage Edgars in der Duellszene V, 7 merkt Wieland an: „Dieses Nonsensicalische Gewäsche hat man beynahe so verworren, als es im Original ist, zu einer Probe stehen lassen wollen […].“ (Christoph Martin Wieland: Das Leben und der Tod des Königs Lear, in: ders.: Gesammelte Schriften (=GS), hg. Ernst Stadler, 2. Abt., Bd. I, 1, S. 173, Anmerkung (*))
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speare mit seiner Sprache zum Lachen bringen wolle.19 Dass der Übersetzer Wieland sich in vielen Fällen weigert, Stellen unsinniger Redeweisen wiederzugeben, ist das eine. Andererseits sind seine Übersetzungen dort am stärksten, wo er in das Umgangssprachliche investiert, wo er Wortspiele nachbildet und kommentierend erklärt und damit in jedem Fall gerade hervorhebt. Es gibt Passagen, zu deren Übertragung Wieland anmerkt, er übersetze und behalte sie im Text bei, obwohl, aber auch weil sie Beispiele für das Zerfallen der Sprache in Unsinn seien. Dies ist die andere Seite der Kritik. Kritik wirkt in diesem zweiten Sinne nicht tadelnd und ausmerzend, sondern sie hält den Gegenstand der Kritik als anstößiges oder anziehendes Fundstück fest. Es ist eine Kritik, die ihrer Sache auf den Grund geht, bis sie auf ihre möglicher Weise problematische oder sinnlose Gegebenheit stößt. Die beiden Seiten der Kritik (dieses Wort noch in der Weise der ‚critischen Dichtkünste‘ Gottscheds und Bodmers genommen) widersprechen sich in ihrem tiefsten Grund nicht, wie das Gerstenberg und auch Goethe später glaubten. Die Kritik am leeren (obszönen, unsinnigen) Wort ist vielmehr gerade verbündet mit der Kritik, die das bloße Wort, den Wortlaut des Pöbels und des Irrsinns, aufgreift und in seiner Fremdheit festhält.20 Das Spiel der beiden Seiten dieser verurteilend-beurteilenden Kritik hat aber in einem wesentlichen Sinne mit dem Wielandschen Übersetzungstext zu tun, wie ihn Blankenburg im Auge hat, wenn er manchmal genau, manchmal ungenau, manchmal mit Namensnennung, manchmal ohne Namensnennung zitiert. Auf diese Ebene der kritisch produzierten ‚non-sensicalischen‘ Worte zielt Blankenburg zuletzt mit seiner Faszination für Lears Unsinnsrede. Diese Faszination ist genauso zweideutig, wie es Wielands Verwerfung und Herausstellen der ‚nonsensicalischen‘ Reden sind.21
19 Wieland: Das Leben und der Tod des Königs Lear, GS, 2. Abt., Bd. I, 1, S. 134, Anmerkung (*). 20 Die Rezeptionsgeschichte der puns, Vulgarismen und Öbszönitäten von Shakespeares Dramensprache in der deutschen Literatur ist noch nicht geschrieben. Lichtenbergs Studium von Shakespeares Sprache gehörte beispielsweise dazu; eine weitere Zuspitzung lässt sich Büchners Dantons Tod ablesen. Büchner protestierte gegen Gutzkows Reinigungen mit Berufung auf Shakespeare. 21 Während im Sturm und Drang Wieland seiner angeblichen Zensur von Shakespeares Sprache wegen kritisierte wurde (Kob: Wielands Shakespeare-Übersetzung), spricht die Forschung heute wieder etwas vereinfachend von Wielands Willen zur Wörtlichkeit, dem nur die Rücksicht auf das Lesepublikum im Wege gestanden habe; vgl. Peter Kofler: Übersetzungen, in: Wieland-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Jutta Heinz, Stuttgart/Weimar 2008, S. 394–403, hier bes.: S. 397.
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Die leeren oder bloßen Worte sind bei Wieland nicht als die letzten Endes vollen Worte gemeint. Sie sind keine Worte der emphatischen Natur, wie Gerstenberg und seine Nachfolger es verstehen wollten. In diesen Worten äußert sich nicht das Wesen einer Sache oder einer Person – auch nicht des Volkes, sondern höchstens die des Wielandschen ‚Pöbels‘. Der Pöbel besitzt aber keine Personalität. Blankenburg nimmt zu diesem Punkt, der seit Gerstenberg und Goethe so sehr den Vordergrund behauptet, nicht Stellung. Die zweiseitige Kritik, die das strukturelle Motiv von Wielands Übersetzung bestimmt, erinnert aber auf Blankenburg bezogen an ein Moment in der Romantheorie, das nun nicht mehr in der Untersuchung der Sache und der Erfindung des Romans, sondern in der elocutio oder Darstellungsweise im Roman zu Tage kommt. Eine solche Untersuchungsrichtung schlägt Blankenburg im zweiten Teil seines Versuchs ein, wo er nun durchaus auf Wielands Romane und gerade auch den Agathon eingeht. ‚Wie ist das möglich?‘, ‚Warum ist es so und nicht anders geschehen?‘ lauten die entscheidenden Fragen. Mit der Frage nach dem Grund der Ereignisse in der Kontingenz ihres Geschehens geht Blankenburg über die Shakespeare-Kommentierung im ersten Teil, die Erkundung der res oder der Sache des Romans, hinaus. ‚Wie ist das möglich?‘ und ‚Warum ist es so und nicht anders geschehen?‘ sind Blankenburg zufolge Fragen, die das Niveau bestimmen, das der Romantext in seiner Darstellungsweise erreichen soll.22 Das bedeutet aber nichts anderes, als dass die Darstellungsweise im Roman auch und gerade den Grund der Ereignisse zur Erscheinung bringen soll. Der kontingente Grund macht die Ereignisse verständlich, aber er ist seinerseits nicht verstehbar. Der erste Teil der Romantheorie, der sein Zentrum im Kommentar der Shakespeare-Übersetzungen hat, ist im Gegenteil gerade auf das Verstehen und die teilnehmende Beobachtung des Kommentators ausgerichtet. Die Frage nach dem kontingenten Grund wird im ersten Teil der Sache nach indirekt vorausgenommen, indem in seiner Faszination am Irresein und Irrereden Lears der Blankenburgs Kommentar die beiden Seiten der Wielandschen Kritik seiner Rekonstruktion der Sache des Romans wie einen abschließenden Zusatz anfügt. Die Kritik der Wörtlichkeit im doppelten Sinn bestimmt zwar Wielands Übersetzung Shakespeares und seine Noten zur Übersetzung. Aber erst in Blankenburgs Kommentar wird der Blick auf das ‚NonSensicalische‘ zu einer theoretischen Perspektive auf Shakespeare und auf das, was der Roman von einer Beobachtung Shakespearescher Dramen lernen kann. Denn das kommentierte Drama Shakespeares, aber auch erst das durch die 22 Blankenburg: Versuch, S. 273, S. 278.
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Teilnehmung und das Mitleiden des Kommentierenden hindurch beobachtete Drama, ist die Sache des Romans. In diesem Teilnehmen und Mitleiden macht Blankenburg nun aber auch noch Platz für die ‚non-sensicalischen‘ Reden, obwohl es bei ihnen kein eigentliches Teilnehmen und Mitleiden mehr geben kann. 3. Beobachtung: In Blankenburgs Versuch über den Roman folgt, wie gesagt, nach der Behandlung der res in einem zweiten Schritt die Erörterung der Darstellungsweise im Roman. Zu den wichtigsten Bestimmungen zählt es, dass Geschehnisse im Roman so erzählt werden sollen, dass der Grund der Kontingenz ihres Eintretens sichtbar wird. Die Shakespeare-Übersetzung verschwindet hier fast ganz aus der Theorie. Die eigentlichen Romanbeispiele treten hervor: Wielands Musarion, Sternes Sentimental Journey, deutsche Romane wie Sophies Reise durch Sachsen und Memel als weithin fehlerhaftes Beispiel, nun öfters auch der Agathon als das richtige. Aber das geschieht nicht weiter in der Art des Kommentars. Es geht nicht mehr um den produktiven Akt der teilnehmenden Beobachtung, durch die erst erzeugt wird, was die Sache des Romans ist. Auf der Ebene der Behandlungsweise, der Darstellung, kehrt sich die Blickrichtung um auf die Voraussetzung der Sache und das heißt auch: der Kommentierung. Warum ist eine Sache so und nicht anders? Wie konnte dieses Ereignis geschehen? Was war dafür verantwortlich, dass es so und nicht anders geschah? Es sind diese Fragen, die der Kommentar in seiner teilnehmenden und mitleidenden Art schon als beantwortet betrachtet hatte. Romane wie der Agathon stellen und beantworten aber diese Frage durch ihre dispositio und elocutio, modern gesprochen durch ihren discours. Hier gibt es nichts im Kommentar hervorzuholen. Man muss ablesen, was und wie es dasteht. Aber weil der Gegenstand des Romans der Dramenkommentar ist, kann man auch sagen: Der discours, die Darstellungsweise des Romans, ist die innere Befragung des Dramenkommentars, seiner Möglichkeit und seiner Implikationen. In einer einprägsamen Formulierung spricht Blankenburg von Verhör und von Schuld: ‚Wie konnte es geschehen?‘ ist die Frage an den Zeugen des Geschehens.23 ‚Warum ist etwas so und nicht anders geschehen?‘ lautet die Frage an einen richtenden Beobachter, der jede Situation unter dem Aspekt der Schuld betrachtet. Die Darstellungsweise des Romans ist also eine einzige Rückwendung der Theorie auf den Kommentierenden als Zeugen und richterlichen Beobachter. Der Agathon führt nun genau das vor: Teils an der Erzählführung, teils an 23 Ebd., S. 292f.
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der stilistischen Akzentuierung können wir ablesen, was es heißt, dass Agathon von Liebe zu Danae ergriffen oder auch nicht ergriffen werden kann; oder wie sein Aufstieg in Athen sich zu einem jähen Sturz umwenden kann oder auch nicht. Indem der Roman diese Momente des kontingent Möglichen in seiner Erzählweise sichtbar macht und sogar herausstellt24, zeigt er, wie der einfühlend Kommentierende als Zeuge und Richter fungiert. Der Roman ist, nach Sache und Darstellung, ein Dramenkommentar. Aber der Kommentator unterliegt wiederum einem tiefer liegenden und der Struktur nach ständigen Verhör. Im Rückblick von Blankenburgs Versuch über den Roman aus kann man Wieland an beiden Unternehmungen, der Shakespeare-Übersetzung und dem Agathon, gleichzeitig arbeiten sehen. Es erscheint aus dieser Perspektive, als ob der Shakespeare-Übersetzer die Voraussetzung für das erarbeitet, was im Roman einer theoretischen Reflexion unterliegt. Voraussetzung für dieses nachträgliche Gedankenexperiment ist aber, dass Wielands ‚Werk‘, um das es dabei zuletzt geht, weder die Shakespeare-Übertragung noch der Agathon ist, sondern eine Art phantasmatischer Text, der zwischen beiden schwebt. Greifbar wäre dieser Text nur in Blankenburgs paraphrasierenden Zitaten aus der Shakespeare-Übersetzung und ihrer Kommentierung, die sie zum Stoff eines Romans macht. II. Romantheorie Was heißt es, der Konstellation von Wielands Agathon und seinen Shakespeare-Übersetzungen innerhalb von Blankenburgs Romantheorie nachzugehen? Auf jeden Fall spricht man, wenn man so verfährt, nicht weiter über Rätsel innerhalb einer etablierten und verstandenen Stil- und Formgeschichte, wie sie Goethe hervorhob. Es geht nicht darum, dass mit den ShakespeareÜbersetzungen Wieland einer Sprache Eingang verschaffte, die im Gegensatz zur ‚französischen‘ Diktion des eigenen Agathon stehen mochte. Der Kommentar, der die Shakespeare-Übersetzungen vergegenwärtigt, und das Verhör, dessen Technik dem Agathon abgelesen ist, sind stattdessen Operationen, die das Literatur-Sein schon im Agathon und im deutschen Shakespeare betreffen.
24 Vgl. Sascha Michel: Ordnungen der Kontingenz. Figurationen der Unterbrechung in Erzähldiskursen um 1800 (Wieland – Jean Paul – Brentano), Tübingen 2006.
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Paradigmatisch betreffen sie das Literatur-Sein des modernen Romans, das sich von aller poetologischen Tradition grundsätzlich unterscheidet. Man kann sie als Operationen des Wissens der Literatur bezeichnen: das heißt, als Verfahren, in denen es um den Sinn der Form von Literatur geht. Wielands Roman und Shakespeare-Übersetzung und Blankenburgs Theorie des Romans bilden, so könnte man sagen, den ersten Schritt eines Revirements im Wissen der Literatur.25 Man müsste mindestens noch Friedrich Schlegels Rezension des Wilhelm Meister – des Romans, in dem der Protagonist den Hamlet in Wielands Übersetzung und mit Blankenburgs Romantheorie liest – hinzunehmen. Erst so erhielte man ein komplettes Funktionsmodell für den Übergang von dem, was Form in der Poetik bedeutet, zur Form des Lebens. Was den modernen Roman und seine Theorie zum Ereignis im Wissen der Literatur macht, ist eben dies: dass es hier nicht um eine weitere oder andere Gattung in der Poetik geht. Der Roman verlangt nicht andere poetologische Formen oder Stile als die bekannten; er hat nicht andere Akteinteilungen als das Drama oder andere Strophenformen als das Sonett; er braucht nicht einmal andere Stillagen als Komödie oder Tragödie. Der Roman hat anders Form. Dieses Anders-Form-Haben ist in den Kommentaren und Verhören ausgehandelt, die Blankenburgs Theorie des Romans teils an Wielands Übersetzung erprobt, teils aus seinem Roman heraushebt. Die Form, die der Kommentar als denjenigen „Punkt“ konstruiert, an dem „alle Begebenheiten vereinigt sind“26, und die das Verhör als Grund der Kontingenz befragt, ist, was hier Form des Lebens genannt worden ist. Sie ist die Form, die dem Leben auferlegt ist und ihm abgewonnen ist, wenn es ein Roman wird. Schlegel wird das in der Rezension über Goethes Wilhelm Meister dem Begriff und fast auch den Worten nach so sagen. Um diese These etwas genauer zu erläutern, sollen in aller Kürze die Karriere des Lebendigen aus Kommentar und Verhör, aus Wielands Übersetzungstext und seinem Romanprojekt, bis zu Schlegels Theorie des Romans als genuiner Formtheorie des Lebens wenigstens angedeutet werden. Mit dem Lebendigen der poetologischen Tradition hatte der Kommentar zu Wielands Shakespeare-Übersetzung in zweifachem Sinne zu tun: Zunächst verlebendigt der Kommentar selbst, er macht die Szene (durch Mitleiden und Teilnahme) wie gegenwärtig für den Leser. Das nannte die Poetik evidentia. Was hat aber das Gegenwärtige des Evidenten mit dem Lebendigen zu tun? Quintilian hat 25 Vgl. dazu noch einmal Campe: Form und Leben in der Theorie des Romans. 26 Blankenburg: Versuch, S. 10.
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die Frage in einer Seitenbemerkung so beantwortet: Bis zur intuitiven Präsenz gegenwärtig ist danach, was in Schilderung oder Beschreibung so weit detailliert und ausgeführt ist, dass wir das Geschehen oder die Sache ‚wie im Bild‘ erfassen. Die Schwelle der Ausführung, die es braucht, um uns in dieser Weise etwas wie bildlich anschaulich zu machen, bestimmt Quintilian durch das, was er die opera vitae nennt.27 Damit ist dasjenige gemeint, was wir hinsichtlich einer jeweils vergegenwärtigten Sachlage, eines jeweils relevanten Ereignisses zum Lebensvollzug brauchen. Das Leben, um das es der Vergegenwärtigung – der Vergegenwärtigung der Tragödie im Kommentar – geht, ist nicht ihr Gegenstand, sondern ihr Maß und Relevanzkriterium. Vergegenwärtigende Lebendigkeit ist Hinsichtnahme auf ein ethisches oder soziales Konzept gelebten Lebens: vita. Das Verhör, die Frage nach dem Grund des Kontingenten im zweiten Teil der Romantheorie führt dann weiter in die Semantik des Lebendigen hinein: Was Blankenburgs Verhör ermittelt (‚wie konnte das geschehen? warum dies und nicht jenes?‘), nennt er das Wirklichwerden der Ereignisse. ‚Wirklichwerden‘ übersetzt offenbar Aristoteles’ energeia, und energeia hatte Aristoteles zum ersten Konzept des Lebendigen in der europäischen Poetikgeschichte gemacht. Das war aristotelisch mit Blick auf die Metapher gesagt gewesen.28 Das Lebendige der Metapher aber war etwas anderes als die vita der römischen Rhetorik. Die Übertragung, die Lebendiges an die Stelle von Nichtlebendem setzt, hieß lebendig, weil sie einen Anfang der Bewegung einführte, wo keine war – eine selbstverursachte Bewegung also. Das war es aber auch, was Aristoteles in der Metaphysik die zoë nannte, das Leben als das Wesen der selbstbewegten Bewegung. Am Text der Shakespeare-Übersetzungen und mit dem Programm des Agathon arbeitend, bringt also Blankenburg das Lebendige des geprägten Lebens und das Lebendige des Lebens als selbstbewegter Bewegung zur Theorie des Romans zusammen. Er bringt vita und zoë zusammen, ohne einen beide Seiten ausdrücklich umfassenden oder darüber hinausgehenden Begriff des Lebens zu kennen, dessen Kunst der Roman wäre. Schlegel hat Blankenburgs romantheoretische Mühen am Anfang der Meister-Rezension wie spielerisch 27 „Alle Beredsamkeit hat es mit Aufgaben zu tun, vor die uns das Leben stellt, auf sich (und die eigene Lebenserfahrung) bezieht jeder, was er hört, und der Geist nimmt das am leichtesten auf, was er aus eigener Erfahrung kennt.“ (Quintilian: Institutio oratoria/Ausbildung des Redners, übers. von Helmut Rahn, Darmstadt 21988, VIII, 3, 71) 28 Aristoteles: The Art of Rhetoric, übers. von John Henry Freese, London/New York 1926, Buch 3, Kap, 10.
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wiederholt. Die Rezension beginnt mit einer vorspielartigen energeia, einem figuralen Wirklichwerden des Romans: „Ohne Anmaßung und ohne Geräusch, wie die Bildung eines strebenden Geistes sich still entfaltet, und wie die werdende Welt aus seinem Innern leise emporsteigt, beginnt die klare Geschichte.“29 Und nachdem solchermaßen das Dreieck der klaren Geschichte aus Wilhelm, Mariane und der Alten eingeführt ist, folgt die evidentia des im Bild vergegenwärtigten Lebens: Indessen steht alles gegenwärtig vor unsern Augen da, lockt und spricht uns an. Die Umrisse sind allgemein und leicht, aber sie sind genau, scharf und sicher […] die beweglichen Gemälde haften wie von selbst in dem Gemüte, welches eben zum ruhigen 30 Genuß heiter gestimmt war.
Aber das Leben, das die Einheit der Form des Romans ist, liegt noch einmal jenseits der werdenden Welt und der gegenwärtigen Bilder. Schlegel verdeutlicht sie an der Gestalt des Fremden, dem Wilhelm und seine neuen Schauspieler-Freunde begegnen, als sie zu einer Bootsfahrt mit theatraler Improvisation aufbrechen. Indem alle Personen nun eine Charaktermaske aufsetzen, um sich selbst als Rolle zu spielen, scheint sich zum ersten Mal der Roman als erzähltes Theater in sich zu schließen. In diesem Moment taucht – wie immer an entscheidenden Stellen des Wilhelm Meister – ein Fremder auf. Eine fremde Maske, die als Maske zugleich Teil des Spiels wie Ausstellung des Äußerlichen an diesem Spiel ist. Der Fremde, der – wie Schlegel sagt – „mit so vielem Rechte der Fremde heißt“31, verkörpert darum dasjenige Moment, das in jeder Form des Lebens, indem es schließt, auf das neue Außen der geschlossenen Form verweist. So wird es im Wilhelm Meister immer aufs Neue sein: Kaum scheint sich der Roman zu runden, wird ein Überschuss oder ein Ausgeschlossener sichtbar. Der (oder das) Fremde bilden den „Maßstab der Höhe, auf der vielleicht die Kunst eine Wissenschaft und das Leben eine Kunst sein wird“ (Schlegel).32 Lebenskunst (Schlegels Wort) oder Lebensform (der hier vorgeschlagene Begriff) ist nicht mehr poetologisches pattern oder eidos, sondern Funktion von Einschluss durch Ausschluss.
29 Friedrich Schlegel: Über Goethes Meister, in: ders.: Schriften zur Literatur, hg. von Wolfdietrich Rasch, München 1970, S. 260–278; hier: S. 260. 30 Ebd. 31 Ebd., S. 262. 32 Ebd.
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III. Verfahrensweisen der Romans Die Konsequenz dessen, was in der Konstellation aus Wielands Roman und Übersetzungsprojekt begann, zielt auf eine andere Daseinsform der Literatur. Damit ist ein Anderssein der literarischen Form des Romans gegenüber der Form- und Gattungsgeschichte der traditionalen Poetik gemeint. Das dafür notwendige Revirement schon in Wieland am Werk zu sehen, fällt, je weiter man sich von Wielands Zeit entfernt, umso schwerer. Heinrich Heine zum Beispiel hat Goethes Diktum vom Gegensatz zwischen dem übersetzten Autor Shakespeare und Wielands eigener Autorschaft noch einmal überboten und erklärt, mit seinen Shakespeare-Übersetzungen habe Wieland etwas in die Welt der Literatur gebracht, was schließlich sein eigenes Schreiben außer Kraft setzen sollte.33 Mit der Vorstellung von der Selbstabschaffung des eigenen Werks ist am deutlichsten gesagt, dass wir, vom Standpunkt der Literatur als Lebensform aus, Wielands doppelte Initiative der 1760er Jahren – und Blankenburgs sympathetische Relektüre – nur mehr als Katastrophe vor dem Revirement, nicht aber als dessen konstruktiven Bestandteil lesen können. Was wir dabei nicht mehr sehen, ist die Explizitheit dessen, was man die Rhetorik des Lesens oder aber die Poetik des Hermeneutischen bei Wieland nennen könnte. Verfahren wie der verlebendigende Kommentar und das Verhör des Wirklichwerdens, die man in Blankenburgs Theorie als Roman-generierende Verfahren erkennen konnte, lassen sich nämlich auf Wieland nicht nur nachträglich anwenden. Nach Fielding und Sterne und vor Jean Paul ist Wieland gerade ihr deutscher Erfinder. Matthias Bickenbach hat in seinem Buch Von den Möglichkeiten einer ‚inneren‘ Geschichte des Lesens zu Recht gesagt, dass Wielands Spiele mit der Erzählfunktion weder rhetorische Figuration im alteuropäischen Sinn noch Selbstreflexion des Textes im modernen seien.34 Es handelt sich stattdessen um die ihrerseits zwar figurale Konstruktion des Textes, die aber genau in dem Augenblick verschwindet, in dem sie ihr Werk getan hat. Es handelt sich, anders gesagt, um Verfahrensweisen des Wissens der Literatur als ein Stück Literatur. Um zum Abschluss eine solche Operation des literarischen Wissens im fiktionalen Selbstarrangement des Agathon beispielshalber wenigstens anzu33 Heinrich Heine: Shakespeares Frauen und Mädchen, in: ders.: Werke, Briefe, Lebenszeugnisse, Säkularausgabe, Bd. 9, Berlin 1979, S. 153–255; hier: S. 162. 34 Matthias Bickenbach: Von den Möglichkeiten einer ‚inneren‘ Geschichte des Lesens, Tübingen 1999, Kap. 4.
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deuten: Der Text, den wir lesen (1), erscheint im Agathon als für die Öffentlichkeit bestimmte Bearbeitung und Nacherzählung einer handschriftlich überlieferten Erzählung von Agathon (2), die ihrerseits auf dessen Tagebuch (3) beruhen soll.35 Interessant an dieser Konstruktion ist der mittlere Moment, der Moment der Roman- und Literaturwerdung des Agathon. Wir lesen die manifeste Bearbeitung (1), und wir können uns vorstellen, was (3) ein Tagebuch des Agathon ist. Kein Wort erfahren wir und nichts wissen wir über den Zwischentext, der weder das Original noch die ausgestellte Lesefassung ist, weder Tiefen- noch Oberflächenstruktur. Aber gerade im Moment der Übersetzung vom einen in das andere – wenn es überhaupt eine einzige und mit sich einige Übersetzung ist – steht, was uns am Ende eigentlich eine Erzählung zu lesen erlaubt. Es ist wie eine unsichtbare Zwischenschicht, eigentlich nur ein Verschiebemodus zwischen originalem Tagebuch und zugänglichem Roman. Diese Verschiebung selbst – von der wir aber aus dem Roman nichts weiter erfahren – ist einerseits die erzählerische Vergegenwärtigung des nichtnarrativen Originals, die aus ihm erst die wiederhergestellte vita macht. Zum andern ist es eigentlich dieser Umschlag in den Roman, auf den sich die verhörartige Befragung des manifesten Herausgebers richten kann, der in ihm dann die Spuren des Wirklichwerdens, die Bewegung der zoë, entdeckt. Hat man das verstanden – so wie Blankenburg es in Gestalt seiner Theorie des Romans verstanden und entwickelt hat – dann werden Teilnahme und Sympathie des Lesenden nur noch dem unsichtbaren, konturlosen Textphantasma in der Mitte gehören. Es ist diese unsichtbare Zwischenschicht der Erzählung und ihre Übersetzungsleistung, in der Leben im Roman Form annimmt.
35 Vgl. dazu Rüdiger Campe: Spiel der Wahrscheinlichkeit. Literatur und Berechnung von Pascal bis Kleist, Göttingen 2002, S. 331–338; und Uwe Wirth: Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. Editoriale Rahmung um 1800, München 2008, S. 201–229.
4. TRANSLATIO (IMPERII): ROMANE DES STAATS UND ÜBERSETZUNGEN DES POLITISCHEN
Wilhelm Voßkamp
Transzendentalpoetik Zur Übersetzung utopischer Diskurse in Wielands Goldnem Spiegel I. In den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts (Christoph Martin Wielands Roman Der Goldne Spiegel oder die Könige von Scheschian erscheint 1771/72 und in einer späteren Fassung – nach der Französischen Revolution – 1794) ist das Repertoire aller wichtigen utopischen Diskurse präsent: nicht nur die ausdifferenzierten Modelle der klassischen Raum- und Zeitutopien (von Thomas Morus [1516] bis Louis Sébastien Mercier [1771]), sondern ebenso deren satirische Umkehrungen (Francois Rabelais [1535], Jonathan Swift [1726]) bis hin zu ersten (negativen) Dystopien (in Deutschland Johann Carl Wezel [1776], den Wieland zu ‚mäßigen‘ suchte). Damit einher geht ein Grad von poetologischer Selbstbeobachtung und Reflexion, der selbst im 20. Jahrhundert nur in wenigen Beispielen utopischer Texte erreicht wird.1 Wieland ist einer der wenigen zeitgenössischen Autoren des 18. Jahrhunderts, die sich dieser ebenso praktisch-literarischen wie poetologisch-theoretischen Herausforderung stellen.2 Pointiert zusammengefasst könnte man for1 2
Vgl. dazu insgesamt Wilhelm Voßkamp (Hg.): Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, 3 Bde., Stuttgart 1982; vor allem Bd. 3. Zur neueren Wieland-Literatur in Hinsicht auf den Goldnen Spiegel vgl. Herbert Jaumanns Kommentar im Anhang zu seiner Edition: Der Goldne Spiegel und andere politische Dichtungen, München 1979, S. 724–790; Jürgen Fohrmann: Utopie, Reflexion. Erzählung: Wielands Goldner Spiegel, in: Utopieforschung, hg. von Wilhelm Voßkamp, Bd. 3, S. 24–49; John A. McCarthy (Hg.): Sonder-Nr. der Modern Language Notes, German Issue 99, 1984; Sven-Aage Jørgensen/Herbert Jaumann/John A. McCarthy/Horst Thomé: Christoph Martin Wieland. Epoche-Werk-Wirkung, München 1994; Bernhard Budde: Aufklärung als Dialog. Wielands antithetische Prosa, Tübingen 2000; Merio Scattola: Politisches Wissen und literarische Form im Goldnen Spiegel Christoph Martin Wielands, in: Scientia Poetica 5, 2001, S. 90–121; Helge Jordheim: Der Staatsroman im Werk Wielands und Jean Pauls. Gattungsverhandlungen zwischen Poetologie und Politik, Tübingen 2007; Sandra Richter: Der Goldne Spiegel oder die Könige von
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Wilhelm Voßkamp
mulieren: Es geht um die Suche nach neuen fiktionalen und pragmatischen Genres, in denen die traditionalen utopischen Diskurse ihren verwandelten literarischen Ort finden. In einem komplizierten intertextuellen Übersetzungsprozess wird Der Goldne Spiegel deshalb etwa zum Startpunkt für den „Staatsroman“ und zugleich für den „Bildungsroman“.3 Dies allerdings in einem Rahmen, der bei Wieland grundsätzlich durch das Oszillieren zwischen ‚phantastischen‘ Genres (Feenmärchen oder Märchen aus Tausend und einer Nacht) und satirischen Gattungstraditionen (in der Nachfolge Lucians) geprägt ist. Hinzukommt, dass sich Wieland vornehmlich französischer prototypischer Muster bedient, wie Fénelons Les aventures de Télémaque, fils d’Ulysse (1699; 1717) und Crébillons Tanzai et Néadarné (1733). Die Gesamtstruktur des Romans präsent und im Auge zu behalten, ist nicht einfach, weil Wieland mit einer Fülle von Textmodellen, paratextuellen Kommentaren, Fußnoten und Reflexionen spielerisch verfährt. (Poetische) Übersetzung, Transkription und Dialog bleiben die dominanten erzählerischen Merkmale des Textes. Dass es auch um linguale Übersetzungen gehen soll, macht der Roman zu Beginn auf elegant-ironische Weise in einer Stufen- und Staffelungstechnik sichtbar, indem die vorliegende deutsche Schriftform auf eine lateinische Fassung zurückgeführt wird und diese wiederum auf eine chinesische, wobei die chinesische schließlich auf eine indische Fassung verweist. Genauer: In Abwandlung der Sheherazade-Situation wird […] die scheschianische [Haupt]-Geschichte dem indischen Sultan Schach-Gebal erzählt, zunächst von einer Mätresse, dann vom Hofphilosophen, dem ‚Doctor‘ Danischmend – Gelegenheit genug, um dabei die sultanische und höfische Welt mit ihrer gefährlichen Brüchigkeit vorzustellen. Auf der nächsten Stufe hält ein chinesischer Übersetzer wiederum diese Geschichte seinem Kaiser Tai-Tsu als Spiegel vor. Die chinesische Übersetzung passiert dann noch ein lateinisches Stadium, bevor sie schließlich der gegenwärtige Herausgeber-Erzähler aus einer Kopie der lateinischen Handschrift, in so gutes Deutsch, als man im Jahre 1772 zu schreiben pflegte, überzutragen würdig befunden hat.4
3 4
Scheschian, Geschichte des Philosophen Danischmend und der drey Kalender, in: Wieland-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Jutta Heinz, Stuttgart 2008, S. 284– 295. Vgl. dazu vor allem Hans-Jürgen Schings: Der Staatsroman im Zeitalter der Aufklärung, in: Handbuch des deutschen Romans, hg. von Helmut Koopmann, Düsseldorf 1983, S. 151–169 und Jordheim: Der Staatsroman im Werk Wielands und Jean Pauls. Aus der Einleitung zum Goldnen Spiegel, zit. in: Schings: Der Staatsroman im Zeitalter der Aufklärung, S. 166.
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Dass diese komplizierte Staffelungstechnik stets auf eine vertrackte ‚Übersetzung‘ verweist, macht die Fiktionsironie des Ganzen sichtbar. Die ironische Thematisierung der utopischen Traditionen ist deshalb nur die eine Seite, die andere jene (ironische) Fiktion in der Fiktion, die zugleich auf die aktuelle, zeitgenössische Gegenwart (1772) bezogen wird. Dass der Leser bei dieser ebenso wenig linearen wie teleologischen Erzählkonstruktion die Übersicht behält, hängt mit dem zweiten, durchgehend vorherrschenden Strukturmerkmal zusammen, dem des Dialogs. In der Tradition des Dialogromans des 18. Jahrhunderts (vgl. den außerordentlich beliebten Briefroman)5 macht Wieland selbst auf dieses Konzept aufmerksam. Meine natürliche Geneigtheit, Alles (Personen und Sachen) von allen Seiten und aus allen möglichen Gesichtspunkten anzusehen und ein herzlicher Widerwille gegen das mir allzu einseitige Urtheilen und Partheynehmen, ist ein wesentliches Stück meiner Individualität. Es ist mir geradezu unmöglich, eine Parthey gleichsam zu heyrathen.6
Nur eine „sokratische Schule“ kann der Intention Wielands gerecht werden, Gegenstände und Themen (vor allem wenn sie durchaus politisch heikel sind) angemessen darzustellen. Anders formuliert, der Leser ist in diesem dialogischen Spiel stets als Gesprächspartner präsent. Wieland hat ihm deshalb in seiner „Selbstanzeige des ‚Goldnen Spiegels‘ durch den Autor“ eigens eine bemerkenswerte Differenzierung gewidmet: Da das Buch vornämlich dreierlei Gattungen von Lesern finden wird, so ist in Absicht ihrer auch ein dreifacher Wunsch zu tun. Der Prinzenmentor lerne daraus die wichtigen Kapitel der Staatskunst vom Ursprung der Reiche, vom Luxus, von der Tyrannei, von der Religion, von der öffentlichen Erziehung, von der Gesetzgebung usf., deren er keines übergangen finden wird […]. Der gemeine Leser, der seine Hoffnung, ein Märchen von der gewöhnlichen Art zu finden, getäuscht sieht, schreibe seine Langeweile auf seinen Mangel an Patriotismus. Eine Anwendung auf sein eigen Vaterland sollte ihn nicht kalt lassen. Sollte endlich ein Schach auf die Gedanken kommen, es zu seiner Lektüre vor der Mittagsruhe zu machen, und dankbar die rührenden Stellen bezeichnen, wo ihm die Gedanken in Schlaf übergingen […], so möchten wir den etwanigen Entschließungen, die es in ihm erweckte, eine etwas längere Dauer oder schnellere Vollziehung wünschen als die von Schach-Gebal gehabt haben sollen. Mehr traurig als vergnügt werden alle drei Klassen von Lesern von dieser Lektüre zurückkommen über die 5
6
Vgl. Wilhelm Voßkamp: Dialogische Vergegenwärtigung beim Schreiben und Lesen. Zur Poetik des Briefromans im 18. Jahrhundert, in: DVjs 45, 1971, S. 80–117; Gabriele Kalmbach: Der Dialog im Spannungsfeld von Schriftlichkeit und Mündlichkeit, Tübingen 1996 und vor allem Budde: Aufklärung als Dialog. Der Neue Teutsche Merkur I, 1800, H. 3, S. 256; zit. in: Kalmbach: Der Dialog im Spannungsfeld von Schriftlichkeit und Mündlichkeit, S. 206.
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Schwierigkeiten der Regierungskunst, und über die schaudernden Folgen, welche die Fehler in derselben über das Geschlecht der Sterblichen verbreiten.7
Bei allen ironischen Vorbehalten, die der Text zu erkennen gibt, ist der – im Medium der Satire – beobachtbare Gestus des Didaktischen nicht zu überhören. Dies gerade dann nicht, wenn im Dreieck bzw. im Viereck der inszenierten Stimmen – die vorlesende Sultanin, der Dialogpartner Schach-Gebal (der Sultan), der gelehrte Gesprächspartner Dr. Danischmend (als der Philosoph des Hofes) und der gelegentlich einbezogene Kanzler – die Fiktion einer geistreichen Gesprächs- und Kommunikationsgemeinschaft aufgebaut wird, die an Utopien „auserlesener Zirkel“ in den „Ästhetischen Briefen über die Erziehung“ von Friedrich Schiller erinnert, aber nicht herrschaftsfrei sein kann.8 Reaktionen des fiktiven Lesers oder ergänzende Kommentare machen deutlich, dass es Wieland weniger um die konkrete Darstellung einer idealen Kommunikationsgemeinschaft geht als vielmehr um die Konstruktion der Bedingungen der Möglichkeit über gesellschaftliche Ordnungsmodelle zu diskutieren. Der literarische Übersetzungsprozess Wielands besteht deshalb darin, von Darstellungen unterschiedlicher Modelle gesellschaftlicher Ordnung zu einer „Darstellung der Möglichkeit der Rede über die gesellschaftliche Ordnung“ zu kommen.9 Diese transzendentalpoetische Verschiebung bietet Möglichkeiten, unterschiedliche Diskurse und Gattungen (Chroniken, Fürstenspiegel, Raumund Zeitutopien) zu dynamisieren und selbst zur Disposition zu stellen bzw. in einen Dialog zu bringen im Sinne von „Gattungsverhandlungen“ (Helge Jordheim) und damit eine zusätzliche Reflexionsebene einzubauen. Von einer „Summe der Erfurter ‚Staatsbelletristik‘“10 zu sprechen, ist nur dann legitim, wenn hinzugefügt wird, dass auch diese durchgehend unter einen ironischen Reflexionsvorbehalt gestellt und einer dauernden Beobachtung (zweiter Ordnung) ausgesetzt ist.
7 8
Zit. im Anhang zur Edition von Herbert Jaumann, S. 73f. Vgl. Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, in: ders.: Sämtliche Werke, hg. von Gerhard D. Fricke und Herbert G. Göpfert, Bd. 5 (am Ende der „Briefe“), München 1958. Schon bei Thomas Morus wird am Anfang der Utopia eine gelehrt-gesellige Gesprächssituation inszeniert, in der über die aktuelle zeitgenössische Situation in England und den Bericht des (fiktiven) Weltreisenden Hythlodäus diskutiert wird. 9 Vgl. Horst Thomé: Utopische Diskurse. Thesen zu Wielands „Aristipp“ und einige seiner Zeitgenossen, in: MLN 99, 1984, German Issue, S. 503–521; hier: S. 516. 10 Vgl. Jørgensen u.a.: Christoph Martin Wieland, S. 87.
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II. Wendet man sich nach dieser Vorverständigung über die narrativen, ironisch konnotierten Übersetzungstechniken und paratextuellen Konfigurationen den von Wieland thematisch eingebauten utopischen Diskursen zu, fällt zunächst ein für das 18. Jahrhundert eher traditionales Triasmodell auf. Die Negativfolie bildet eine Schilderung der tyrannischen Zustände einer „unumschränkten Monarchie“11, der ein dezidiert kontrafaktisches, arkadisches Modell der „Kinder der Natur“12 entgegengestellt wird. Eine dritte Variante vergegenwärtigt schließlich die Zustände im Reich Tifans, dem „Wiederhersteller des Vaterlandes“ (II, S. 205ff.).13 In diesem Dreischritt lässt sich weder eine teleologisch-zielgerichtete Entwicklung noch ein zyklisch-regelhafter Verlauf erkennen.14 Die drei diskutierten Modellvorstellungen sind vielmehr perspektivisch gegeneinander gestellt und der Leser wird ausdrücklich ermuntert, „glauben [zu] dürfen, was ihm beliebt“ (I, S. 24).15 Die Form der selbstironischen Anspielung, in der Wieland die drei Modelle im Rahmen seiner arrangierten Gesprächssituation kommentieren lässt, bedeutet eine strikte Absage an jede idealistische Trias-Vorstellung. Im Folgenden kann nicht auf alle subtilen Einzelheiten der Wielandschen ‚Übersetzungs‘-Techniken im Goldnen Spiegel in der Tradition utopischer Diskurse eingegangen werden. Ich konzentriere mich auf das arkadische Modell der „Kinder der Natur“ und das der ‚Tifan‘-Utopie, dem Idealtypus einer „aufgeklärten“ ‚Reform‘-Monarchie. In beiden Fällen ist die zuvor skizzierte Staffelungstechnik einer mehrfach vermittelten Vermittlung als transkriptiver Übersetzungsvorgang zu Grunde gelegt. 11 Christoph Martin Wieland: Der Goldene Spiegel und andere politische Dichtungen, hg. von Herbert Jaumann, München 1979, S. 35. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe zitiert. Die Seitenzahlen der Wieland-Zitate finden sich jeweils im fortlaufenden Text. 12 Vgl. Wieland: Der Goldne Spiegel, S. 46–66. Vgl. dazu insgesamt Frank Baudach: Planeten der Unschuld – Kinder der Natur. Die Naturstandsutopie in der deutschen und westeuropäischen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts, Tübingen 1993. 13 Diesem reformabsolutistischen Modell wird allerdings „keine lange Fortdauer über die physische Existenz des Regenten hinaus“ zugestanden (Budde: Aufklärung als Dialog, S. 201). 14 Vgl. Dietrich Naumann: Politik und Moral. Studien zur Utopie der deutschen Aufklärung, Heidelberg 1977, S. 173; Budde: Aufklärung als Dialog, S. 225. 15 Vgl. dazu die Parallele zur romanpoetischen Vorrede in Johann Gottfried Schnabels Die Insel Felsenburg (1731).
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1. Das Tal der „Kinder der Natur“ als Arkadien Eingefügt in den Bericht des Großphilosophen Danischmend beschwören die Erläuterungen des weisen Psammis „vom Tal der Kinder der Natur“ (I, S. 45ff.) die Bilderwelt Arkadiens. Der status naturalis ist die Grundbedingung jenes seit Vergils Arkadien beschworenen idealen Raums (auf den auch Rousseau zurückverweist) als einer Enklave, die in unterschiedlichen historischen Kontexten angesiedelt und funktionalisiert werden kann. Es handelt sich um eine „Zwischenwelt, die sich gerade durch ihre Zuwendung zur Welt bestimmt“.16 In der Negation historischer Wirklichkeit bleibt diese präsent. Arkadien, so hat Ernst Bloch formuliert, ist eine […] durchaus sanfte Gemeinschaft, idyllisch vorhandenes einfaches Glück, von wölfischem A limine fern. Wärme, Sicherheit, Heiterkeit, Unschuld blühen stattdessen. Eine Gruppe Gleichgesinnter bewohnt ihr Tal in ebenso freundlicher Natur. Solche Idylle wurde nicht grundlos als ländlich, hirtenhaft dargestellt. Derart spielte noch ein anderes Fluchtwunschbild hinein, das zur guten Natur verklärte Bild des Gartens.17
Wieland überträgt diesen Topos der pastoralen Fiktion in das Bild von einem durch Berge verborgenen, hinter der Wildnis gelegenen bezaubernden Ort. Hier lebt „eine kleine Anzahl von glücklichen [Menschen], um sich vor der Missgunst und den ansteckenden Sitten der übrigen Sterblichen zu verbergen“ (I, S. 55). Traditionsanalog bietet dieser paradiesische Ort in der Bewahrung der Natur den adäquaten Raum menschlicher Selbstverwirklichung. Grundlage ist die „Liebe zur Musik und ein gewisser angeborener Hang zum Schönen und zu geselligen Vergnügungen, welcher die Grundlage abgab, worauf der weise Gesetzgeber ihrer Nachkommen einen seligen Menschen aufzuführen wusste“ (I, S. 55). Nicht nur koinzidieren Schönheit, Weisheit und naturgerechte Gesetze der „Mäßigung“ und „freiwilligen Enthaltung“ (I, S. 59) – auch körperliche Schönheit („die schönsten unter den Menschenkindern“ [I, S. 61]) sind die Voraussetzung für die „Bildung [des] Meisterstücks [der Natur] des Menschen“ (I, S. 60). Die Versöhnung mit der Natur kann indes nur konfliktfrei gelingen, wenn dem Menschen eine Tätigkeit zugerechnet wird, die in der Balance von richtigem Empfinden als Bedingung für „richtig[es] Denken“ (I, S. 55) Arbeit als 16 Wolfgang Iser: Ikonologie Arkadiens, in: Akzente. Zeitschrift für Literatur 37, 1990, S. 224–229; hier: S. 227. 17 Ernst Bloch: Arkadien und Utopien, in: Europäische Bukolik und Georgik, hg. von Klaus Garber, Darmstadt 1976, S. 1–7.
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unentfremdete Tätigkeit bestimmt. Arbeit, so lässt der Erzähler wissen, sei „eine unsern Kräften angemessene und von keinen verbitternden Umständen begleitete Arbeit, [sie sei] mit einer Art von sanfter Wollust verbunden, deren wohltätige Einflüsse sich über unser ganzes Wesen verbreiten“ (I, S. 54). Damit wird ein zentrales Motiv in der Diskussion über die Ablösung der biblischen Vorstellung von Arbeit als Mühsal zitiert, das auch Schiller in seinem Aufsatz „Über naive und sentimentalische Dichtung“ zum Ausgangspunkt einer Zukunftsperspektive der unentfremdeten Moderne macht. Man solle sich, so Schiller, nach einer Klasse von Menschen umsehen, welche ohne zu arbeiten tätig ist und idealisieren kann ohne zu schwärmen; welche alle Realitäten des Lebens mit den wenigstmöglichen Schranken desselben in sich vereiniget und vom Strome der Begebenheiten getragen wird, ohne der Raub desselben zu werden.18
Charakteristisch für Wielands mittels erzählerischer Staffelung zwar gebrochener, aber durchaus nicht ohne Sympathie transformierter Arkadien-Bilder ist nun, dass er die (immer zugleich Rousseaus ‚status naturalis‘ aufrufende) Arkadien-Topograhie mit Traditionen der klassischen Sozialutopie in der Nachfolge von Thomas Morus verbindet. Auffallenderweise erfolgt dies nicht über staatstheoretische Reflexionen nach dem Vorbild der Utopia von Thomas Morus, sondern über die Thematisierung von Familienstrukturen. Dies ist umso naheliegender als die Utopieliteratur in der Robinsonadentradition (auf die hier angespielt wird) die Geschichte des einzelnen Überlebenden – nach einem Schiffbruch – hin zu einer sich etablierenden Gesellschaft darstellen muss.19 Diese neue Gesellschaft, die sich Schritt für Schritt über komplizierte demographische Prozeduren (vgl. entsprechende Fortpflanzungstechniken) aufbaut, ist kein Thema in Arkadien, aber konstitutiv für die gesamte sozialutopische Tradition bis in die Moderne, auch in der dystopischen Variante (Huxleys Brave New World). Die ironische Verknüpfung zwischen Arkadien und Sozialutopie gelingt Wieland über das Motiv der Erziehung. Unsere Kinder werden vom dritten bis zum achten Jahr größtenteils sich selbst, das ist der Erziehung der Natur überlassen [Arkadientradition]. Vom achten bis zum zwölften empfangen sie so viel Unterricht, als sie von Nöten haben, um als Mitglieder unserer Gesellschaft glücklich zu sein. [Glücksgebot, Melancholieverbot] Wenn sie richtig ge-
18 Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. V, S. 694–780; hier: S. 768. 19 Vgl. beispielhaft Johann Gottfried Schnabel Die Insel Felsenburg.
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nug empfinden und denken, um unsere Verfassung für die beste aller möglichen zu halten, so sind sie gelehrt genug. Jeder höhere Grad von Verfeinerung würde ihnen unnütze sein. [Anspielung auf Leibniz’ Lehre von der prästabilierten Harmonie in der besten aller möglichen Welten und deren Umkehrung in Voltaires Candide]. Mit Antritt des vierzehnten Jahres empfängt jeder angehende Jüngling die Gesetze des weisen Psammis [der weise Berichterstatter aus der Erzählung des Hofphilosophen Danischmend]; er gelobet vor den Bildern der Huldgöttinnen, ihnen getreu zu sein; und dieses Gelübde wiederholt er im zwanzigsten, da er mit dem Mädchen, welches er in seinem Hirtenstande geliebt hat, vermählt wird. Denn die Liebe allein stiftet unsere Heiraten. [Utopie der Übereinstimmung von Liebe und Ehe/ „Liebesheirat“ um 1800]. Im dreißigsten Jahr ist ein jeder verbunden, zu seiner ersten Frau die zweite, und im vierzigsten die dritte Frau zu nehmen, wofern er nicht hinlängliche Ursachen dagegen anführen kann, wovon wir kein Beispiel haben. [politische Anspielung auf die Populationspolitik („Peuplierung“) des ‚Aufgeklärten Absolutismus‘] (I, S. 65).
Nun würde in dieser komplexen Übersetzungs- und Vermittlungstechnik utopischer Leitmotive das Epikureische zu kurz kommen (vgl. die Rahmenhandlung von Tausend und eine Nacht), wenn nicht auch das „Vergnügen“ gebührende Berücksichtigung fände. So erscheinen plötzlich in der Erzählung des weisen Psammis „Sklaven und Sklavinnen; aber mehr zum Vergnügen [!] als um einen anderen Nutzen von ihnen zu ziehen“ (I, S. 65). Damit spielt Wieland auf ein ebenso vertrautes wie beunruhigendes Moment in der Geschichte literarischer Utopien im 18. Jahrhundert an. Im Zeichen von Inklusion und Exklusion sind Sklaven (seit Morus’ Utopia) Bestandteile utopischer Systeme, die im Zuge ihrer Modernisierung Vergnügungen oder Arbeitsentlastungen durch Sklaven nicht mehr zulassen und akzeptieren können (ein Musterbeispiel findet sich in Johann Gottfried Schnabels Insel Felsenburg, wo die traditionell durch Sklaven geleistete schwere körperliche Arbeit von Affen übernommen wird). Sowohl in der Parodie des Erziehungsmotivs (Demographie) als auch in der subtilen ironischen Vergegenwärtigung des Themas der Sklaverei zeigt sich, dass Wieland die Essenzen utopischer Diskurse in einer Weise ins Ironisch-Parodistische ‚übersetzt‘, dass man von einer Travestie von Utopien in den Konstruktionen utopischer Fiktionen sprechen kann. Wie in einem Palimpsest werden die Motive aller wichtigen utopischen Themen erkennbar, ohne dass sie fortgeschrieben, sondern nur noch im Sinne einer kritischen Archivpoetik ironisch zitiert werden. In der Verbindung und im dauernden Oszillieren zwischen Utopischem und Dystopischem entsteht eine neue Form der selbstreflexiven Utopie.
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2. Tifan: Der ‚vollkommene‘ Herrscher oder ist gesellschaftlicher Fortschritt möglich? Das kaleidoskopartige Vergegenwärtigen utopischer Diskurse ändert sich prinzipiell nicht, wenn ein gegenüber dem Arkadienmodell differentes Muster zitiert wird. Das lässt sich – gerade im Kontrast zu an den klassischen Raumutopien orientierten Vorstellungen der „Kinder der Natur“ – vornehmlich am Modell Tifans beobachten, das im Horizont von Zeitutopien steht. Wieland übersetzt 1771 Louis Sébastien Merciers Das Jahr 244020 und spielt häufig auf diesen Basistext einer Verzeitlichung von Raumutopien an. Wenn am Ende der Tifan-Darstellung (hier dominiert ein eher narrativer Gestus) die Perspektive einer konstitutionellen Monarchie erkennbar ist, so zielt diese Erzählung deutlicher auf den zeitgenössischen politischen Kontext; Wieland sieht in Friedrich dem Großen und Joseph II. – ohne dass das überzubewerten wäre – respektierte ‚Diskussionspartner‘. Die zu Anfang biographisch veranschaulichte Geschichte Tifans bietet dem Erzähler insbesondere Möglichkeiten der Hypothesenbildung im Blick auf die durch Rousseau bestimmte Diskussion über den Wechsel der utopischen Vorstellung von ‚perfection‘ (Vollkommenheit) zur ‚perfectibilité‘ (Vervollkommnung).21 Auch wenn zunächst die Vision eines vorgesellschaftlichen Zustands der idealen Natur skizziert wird – Tifan sei „in einer kleinen Gesellschaft von unverdorbenen, arbeitsamen und mäßigen Menschen“ aufgewachsen und auf diese Weise in den ersten dreißig Jahren „zu jeder königlichen Tugend gebildet“ worden (II, S. 205), – so ist diese Wunschvorstellung über einen Staffettenlauf vom „Schäferstab“ zum königlichen „Zepter“ (II, S. 207) als ironische Pointe für jeden Leser leicht durchschaubar. Die Hoffnung auf den besten Menschen statt des mächtigsten Königs (vgl. II, S. 208) bleibt – auch noch in einer distanzierenden Perspektive – ein Hauptmoment aufklärerischer Hoffnung. In den „Grundsätzen“ zur Erziehung Tifans, die der weise Danisichmend vorträgt (II, S. 84f.) findet sich dann folgerichtig auch ein Katalog der bürgerlichen Freiheits- und Menschenrechte: „[…] alle Menschen sind Brüder, und haben von Natur gleiche Bedürfnisse, gleiche Rechte und gleiche Pflichten […]“ (II, S. 209). Damit entfällt der Anspruch auf Gewaltausübung 20 Louis-Sébastien Mercier: L’an deux mille quatre cent quarante. Rêve s’il en fut jamais, London 1771. 21 Vgl. vor allem Reinhart Koselleck: Die Verzeitlichung der Utopie, in: Utopieforschung, hg. von Wilhelm Voßkamp, Bd. 3, S. 1–14.
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und Unterdrückung („kein Mensch hat ein Recht, den anderen zu seinem Sklaven zu machen“ [II, S. 210]); mehr noch: es soll auch – im Zeichen einer anthropologischen Hoffnung auf den idealen Menschen – eine ausbalancierte, vernünftige Geselligkeit entstehen, in der jeder und jede zu ihrem Recht kommen. („Kein anderer Titel [sei] von Nöten, als dass er Mensch ist“ [II, S. 210]). Nun darf die Präsentation einer Charta der aufgeklärten Menschenrechte aus dem Munde des Philosophen nicht zu der Auffassung verleiten, dass Wieland utopische Programmatiken in staatstheoretische Reformpolitik umschriebe. Wenn der Sultan, dem dieses Programm vorgetragen wird, bei ‚moralischen‘ Themen einschläft (Moral hat „immer und allezeit eine […] narkotische Kraft“ [II, S. 209]), dann liefert es den anschaulichsten Kommentar zu einer ironischen Distanzierung des Vorgetragenen. Gerade im Blick auf die Postulate der Vervollkommnungsfähigkeit und – möglichkeit des Menschen („Bildsamkeit“) steht Wieland unter dem Eindruck der Diskussion über das Projekt von Rousseauscher ‚perfectibilité‘. Auffallend genug folgen die (zu Wort kommenden) Stimmen im Meinungsstreit über menschlichen und gesellschaftlichen Fortschritt weniger den in Deutschland vorherrschenden optimistischen (Um-) Deutungen, die allein die Seite der Progression im ‚perfectibilité‘-Konzept Rousseaus betonen (Lessing, Herder)22, vielmehr wird die Dialektik im Begriff der ‚perfectibilté‘ (perfectibilité und corruptibilité) hervorgehoben (so etwa bei Lichtenberg) und Tifans Wille zur Verbesserung der Verhältnisse als etwas durchaus „Romanhaftes“ charakterisiert (vgl. II, S. 226). In den dargestellten Äußerungen im Roman spiegelt sich die gesamte Bandbreite der durch Rousseau ausgelösten Fortschrittsdiskussion. Es handelt sich bei Wieland, wie Walter Erhart betont hat, insgesamt um ein Konglomerat unterschiedlichster theoretischer Ansätze. Zwar werden in Wielands Werken fast alle Geschichtstheorien des 18. Jahrhunderts referiert, die Widersprüchlichkeit der dabei meist nebeneinander aufgeführten Theorien erlaubt jedoch keinerlei Mutmaßungen über eine konsistente Theorie, vielmehr den Eindruck einer wenig durchdachten Zusammenstellung heterogenster Theoriefragmente.23
Genau das ist im Goldnen Spiegel kalkuliert und in der literarischen Fiktion dargestellt. 22 Vgl. Günther Hornig: Perfectibilität, in: Archiv für Begriffsgeschichte 24, 1980, S. 221–257. 23 Walter Erhart: „Was nützen schielende Wahrheiten?“ Wieland, Rousseau und die Hermeneutik des Fremden, in: Rousseau in Deutschland, hg. von Herbert Jaumann, Berlin 1995, S. 47–78, hier: S. 52.
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Es kann deshalb auch nicht darum gehen, im Einzelnen nachzuweisen, welche Diskursfragmente utopischer Traditionen im Zeichen von ‚perfectibiltié‘ jeweils zitiert werden (dazu gehört etwa die deutliche Präferenz für eine paternalistische Struktur, die sich auch in Vorschlägen zur Gesetzgebung darstellt); Wieland ist offensichtlich bemüht, eine Diskussion zu präsentieren, die im Horizont der vorliegenden Utopietraditionen im zeitgenössischen politischen Kontext durchaus Wirkungen erzielen soll. Das lässt sich auch daran ablesen, dass angesichts des Terreurs in Frankreich in der zweiten Fassung des Romans 1794 ein resignativer Ton vorherrscht und der Optimismus vorgetragener Fortschrittsideen im Blick auf eine aufgeklärte konstitutionelle Monarchie zu einer Geschichte der „unglücklichen Scheschianer [als Verfallsgeschichte] führt“: „[…] eines der mächtigsten Königreiche des Orients verschwand so gänzlich von der Erde, daß es schon zu Zeiten des Sinesischen Kaisers Tai-Tsu den gelehrtesten Alterthumsforschern unmöglich war, die ehemaligen Gränzen desselben zuverlässig anzugeben“ (II, S. 329). Die angedeutete Verfallsgeschichte liefert den dystopischen Spiegel. III. Was bleibt: Hat Utopie Zukunft bei Wieland? Gerade wenn man die unterschiedlichen Vergegenwärtigungstechniken utopischer Diskurse einerseits am Arkadienmodell der „Kinder der Natur“ und andererseits in der Tifan-Geschichte miteinander vergleicht, lässt sich das gesamte Spektrum fiktionaler utopischer Diskurse der abendländischen Tradition in einer höchst subtilen ironischen Vermittlung und Verknüpfung finden. Wieland thematisiert diese Selbstreferenz der utopischen Tradition an einer Stelle seines Buches selbst, wenn er im Gespräch zwischen dem Sultan und seinem Hofphilosophen Danischmend die Möglichkeit von „Utopien“ (mit „idealischen Menschen“) dem einzelnen „wirklichen“ Staat gegenüberstellt. Gleichwohl ist auch diese Kontrastierung Teil der narrativen Fiktion des Goldnen Spiegels. Wielands Übersetzen kultureller Semantiken der utopischen Tradition bleibt – selbst in unterschiedlicher Nähe zur zeitgenössischen politischen Wirklichkeit (insbesondere zur konstitutionellen Monarchie) – stets in einer durch ironische Distanz geprägten polyperspektivischen Vermittlung. Die damit verbundene dauernde Selbstkorrektur des utopischen Denkens und der utopischen Diskurse kann als beständige konzeptuelle und mediale Erneuerung bezeichnet werden. Die Thematisierung der utopischen Fiktion in der Fiktion
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als ‚Fiktionsironie‘ ist das durchgehende Merkmal einer beginnenden, künftig höchst skeptischen Selbstaneignung utopischer Fiktionen. Wieland nimmt hier jenes transzendentalpoetische Programm historisch vorweg, das Friedrich Schlegel zwanzig Jahre später für die frühromantische Literatur formulieren wird. Die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit utopischen Schreibens in einem polyperspektivisch arrangierten utopischen Text zu stellen, scheint – für Wieland – die einzige Möglichkeit der ‚Rettung‘ der Utopie zu sein. Diese Frage stellen heißt aber, miteinander im „auserlesenen“ geselligen Zirkel darüber zu reden. Gemeinsam darüber zu reden gilt Wieland als eine Möglichkeit der Kunst des Lebens.
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Narrative Souveränität Wielands parodistischer Erzähler als ‚Übersetzer‘ der Französischen National-Versammlung Dieser Aufsatz behandelt Wielands Arbeit als ‚Übersetzer‘ der Französischen Revolution und konzentriert sich auf die narrativen Strategien, die Wielands Text anwendet, um eine Debatte der Französischen Nationalversammlung darzustellen. Der Text wurde unter dem Titel „Ausführliche Darstellung der in der Französischen National-Versammlung am 26 u. 27 Nov. 1790 vorgefallenen Debatten“ im Januar und Februar 1791 in Der Neue Teutsche Merkur veröffentlicht. Thema der Debatte war der Protest eines provinziellen Priesters gegen ein revolutionäres Dekret. Der Bischof von Nantes hatte sich geweigert, das Dekret und die Autorität der Nation in Bezug auf klerikale Belange anzuerkennen. Funktionäre des Departements sind daraufhin zur Versammlung gekommen, um um seine Verhaftung zu bitten. Jedoch sind für diesen Aufsatz weniger die inhaltlichen Aspekte der Debatte von Interesse, als vielmehr die narrativen Strategien, die ihre Darstellung bestimmen. Die spielerische Erzählhaltung seiner Versepen und Romane scheinbar revidierend behauptet Wieland, eine „getreue Darstellung“ der Debatte zu überliefern. Wie Wielands Einsatz der Theatermetaphorik (des Vorführens und Zuschauens) nahelegt, zielt seine ‚Übersetzung‘ darauf ab, eine Beobachterperspektive gegenüber den republikanischen Ereignissen einzunehmen. Wie jedoch zu zeigen sein wird, ‚fällt‘ er schnell wieder in eine parodistische Haltung ‚zurück‘. Die französische Revolution – von Wieland zunächst als ‚politisches Drama‘ interpretiert und inszeniert – führt dazu, dass sowohl multiple Beobachter- als auch Teilnehmerperspektiven zusammenbrechen und Wielands ‚Übersetzung‘ zusätzlich das deutsche Publikum mit ‚auf die Bühne‘ bringt. Diese Einbeziehung kann aber nur als Verschiebung der diskursiven Register Wielands stattfinden. Anhand der „Ausführlichen Darstellung“ möchte ich zeigen, wie der Erzähler in Wielands ‚Übersetzung‘ als Zentrum fungiert, das mittels der Funktionalisierung parodistischer Strukturen die Irreguläritäten dieser ‚Übersetzung‘ bzw. ‚Darstellung‘ der Französischen Revolution zu kontrollieren ver-
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sucht.1 Auf diese Weise setzt Wielands Text eine Art narrativer Souveränität ein, die als ‚kosmopolitisches‘ Korrektiv zur politischen Staatsmacht – und insbesondere der republikanischen Demokratie – ‚herrschen‘ soll. Wie erwähnt, wird dieser Diskurs durch das Zusammenbrechen von Beobachter- und Teilnehmerperspektive gestört, das mit der Frage nach der Partizipation an Herrschaft zusammenhängt. In dem, was man als ‚Vorwort‘ zur „Ausführlichen Darstellung“ begreifen könnte, rahmt Wieland seine Darstellung der Debatte mit einer Rechtfertigung, die gleichzeitig Grenzen zieht: Je weniger aber unser eigenes Vaterland bey den dermahligen Nazional-Begebenheiten unsrer westlichen Nachbarn politisch interessiert ist, desto größer ist das moralische Interesse, welches wir bloß als Menschen dabey haben, bloß als unbefangene Zuschauer eines vor unsern Augen vorgehenden Drama’s, mit welchem keine andere ähnliche Weltbegebenheit an Größe und Wichtigkeit zu vergleichen ist: eines Drama’s, wobey nicht nur das Interesse unzählicher Privatpersonen, und der ehmals vornehmsten Stände, Classen und Gemeinheiten des Reichs, sondern das Wohl und Weh der jezigen Generation und der künftigen, ja die Existenz oder der Untergang des Staats auf dem Spiele liegt.2
Das Verfahren der Nationalversammlung ist für sein deutschsprachiges Publikum aus moralischen Gründen von Bedeutung, es betrifft das Interesse, „welches wir bloß als Menschen dabey haben“, als Zuschauer eines „kosmopolitischen Dramas“.3 Im ersten Schritt wird die Übersetzung damit als eine Metaebene der Beobachtung4 in Szene gesetzt, in welcher Wielands Erzähler 1 2
3 4
Jurij Lotman: Über die Semiosphäre, in: Zeitschrift für Semiotik 12, 1990, H. 4, S. 287–305. Ich beziehe mich im Folgenden vor allem auf seinen Begriff der „Semiosphäre“. Christoph Martin Wieland: Ausführliche Darstellung der in der Französischen National-Versammlung am 26 u. 27 Nov. 1790 vorgefallenen Debatten, in: ders.: Politische Schriften, insbesondere zur Französischen Revolution (=PS), hg. von Jan Philip Reemtsma, Hans und Johanna Radspieler, 3. Bde., Nördlingen 1988, Bd. 2, S. 215–295, hier: S. 216. Ebd., S. 217. Vgl. dazu: Niklas Luhmann: Kultur als historischer Begriff, in: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1999, S. 31–54: „Überhaupt war die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Zeit, in der viele gesellschaftliche Bereiche auf eine Beobachtung zweiter Ordnung umgestellt wurden und die dafür erforderlichen Begriffe, was immer ihre Vorgeschichte, erstrangige Prominenz erhalten. Das gilt zum Beispiel für den Begriff der öffentlichen Meinung als heimlicher Souverän oder als Richter, jedenfalls als Beobachter der Politik“ (ebd., S. 34).
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sich und das deutsche Publikum von den politischen Begebenheiten in Frankreich distanziert, um sich in die Position des moralischen Beobachters, „als unbefangene[r] Zuschauer eines vor unsern Augen vorgehenden Drama’s“, zu versetzen. Strukturell verdoppelt sich die Theatermetaphorik in der poetischen Anlage des Textes, insofern Wieland seine ‚Übersetzung‘ paratextuell – mit Vor- und Nachwort – rahmt, und auf diese Weise Akteure und außerhalb des Bühnengeschehens (des Textes) situierte Beobachter (Zuschauer) voneinander separiert. Mittels des Paratextes distanziert sich die lediglich übersetzende Beobachterperspektive verstärkt vom politischen Geschehen. In einem zweiten Schritt wird die Perspektive der distanzierten Beobachtung dann wieder zurückgenommen, indem nicht nur ein moralisches Urteil positioniert, sondern auch die politische Aktivierung des Volkes sanktioniert wird (obgleich diese ‚Aktivität‘ im Text lediglich rein lautlich artikuliert auftritt). Den Begebenheiten in Frankreich widerfährt letztlich keine reine Beobachtung mehr, insofern sie moralisch sanktioniert werden. Jene von Wieland postulierte moralische Dimension der Zurückhaltung, die den Unterschied zu den Verhältnissen in Deutschland lediglich unter kosmopolitischer Perspektive in Augenschein nimmt, mithin rein publizistisch beobachtet, ist bereits unterwandert. Wieland suggeriert eine politische Trennungslinie zwischen Deutschland und Frankreich, zwischen moralischen und politischen Interessen, zwischen kosmopolitischen und nationalen Dramen. Ein gemeinsamer Bezugspunkt wäre hingegen im Blick auf kosmopolitische und moralische Interessen einzuräumen, die man als Mensch hat. Jene kosmopolitische Perspektive entfaltet Wielands Erzähler mit Hilfe der Parodie, auf die ich weiter unten näher eingehe. Dem Aufrufen der Theatermetaphorik in der zitierten Passage folgt also in einem zweiten Schritt das Zurückfallen in die Position eines Teilnehmers des vor den „Augen vorgehenden“ Dramas. Die publizistische Beobachtung, die aus moralischen Interessen die Form einer ‚Übersetzung‘ annimmt, transformiert sich nun in die Rolle des teilnehmenden Beobachters. Denn es geht in dieser Debatte tatsächlich um „das Wohl und Weh der jezigen Generation und der künftigen, [da] ja die Existenz oder der Untergang des Staats auf dem Spiele liegt“. Die Beobachtung dieser Debatte äußert letztlich doch ein politisches Interesse am Beobachteten, ebenso wie das deutsche Publikum nicht nur im Zuschauerraum sitzt, sondern auch am Politischen beteiligt ist. Wielands ‚Vorwort‘ zur „Ausführlichen Darstellung“ behauptet, dem Leser eine „getreue“ Rekonstruktion der Debatte wiederzugeben: anknüpfend an die unvoreingenommene Aufzeichnung und Veröffentlichung der Debatten in
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den Französischen Zeitschriften Gazette Nationale und Moniteur. Damit verspricht er dem Leser, „wahre und anschauende Begriffe von dieser Versammlung zu geben“.5 Jedoch nimmt die Darstellung zügig die parodistische Haltung seiner Versepen und Romane an, obgleich die Erzählerstimme in diesem Fall nur in Form eines Paratextes situiert wird.6 Nach Gérard Genette ist der Paratext ein textuelles Beiwerk, das einem lesenden Publikum einen Text einrahmt. Paratexte sind häufig Ausdruck einer Autorintention mit der Zielsetzung, einen Text in einem auktorialen Kontext zu gründen, um dadurch seine Rezeption zu beeinflussen. Während das ‚Vorwort‘ die „Ausführliche Darstellung“ als eine unvoreingenommene Wiedergabe einrahmt, führen die Fußnoten Parodie und Spott wieder ein, die für die narrative ‚Stimme‘ von Wielands Dichtkunst charakteristisch sind. Der Kommentar liegt innerhalb der zahlreichen Fußnoten eingebettet, die den Text schmücken. Sie werden in Form von wortreicher, hypotaktischer Prosa übertragen, reflektieren die Aussagen der verschiedenen Sprecher, und geben diese oft dem Spott preis. Beispielsweise kommentiert Wieland Mirabeaus Rhetorik, die ihn als einen „Demagogen“ ausweist.7 Er kommentiert die Unverständlichkeit einiger Bemerkungen der Sprecher8, stellt die anstößige Natur einiger Reden heraus, und konstatiert die mangelhafte Rhetorik eines Redners.9 Er rechtfertigt sogar die Schwierigkeiten seiner eigenen Übersetzung mit dem Hinweis auf die sprachliche Unfähigkeit eines Redners, sich deutlich auszudrücken.10 Der Kommentar gipfelt in einem Epilog zur „Ausführlichen Darstellung“, in dem Wieland als Herausgeber die nachteiligen Wirkungen des „Murmelns und Applaudierens“ kritisiert, da dieses wie „zwey Druck- und Triebwerke in der politischen Maschine“ funktionieren würde, die das Ergebnis einer Debatte entscheiden.11 Meines Erachtens fasst Wieland das „Murmeln“ und „Applaudieren“ in der Nationalversammlung als nicht-organisierte, externe Grenze zur Souveränität seiner parodistischen Narration auf. Dieser Schritt hat zur Folge, dass eine imaginierte Einheit auf eine Metaebene projiziert wird: eine Projektion, die die internen Irregularitäten um einen zentralen Erzähler organisiert. 5 6
Wieland: Ausführliche Darstellung, PS, Bd. 2, S. 217. Vgl. Gérard Genette: Paratexte, mit einem Vorwort von Harald Weinrich, übers. von Dieter Hornig, Frankfurt a.M./New York 1989. 7 Wieland: Ausführliche Darstellung, PS, Bd. 2, S. 246. 8 Ebd., S. 251. 9 Ebd., S. 263. 10 Ebd. 11 Ebd., S. 291.
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Das produziert im Endeffekt einen dynamischen Prozess zwischen den Ebenen: es finden reziproke Effekte zwischen der Einheit auf der Metaebene und der ‚realen‘ semiotischen Landschaft statt, die im Verhältnis zu den Grenzen des Diskurses konstruiert wird.12 Gleichzeitig markieren „Murmeln“ und „Applaudieren“ das Zusammenbrechen der Theatermetapher, die vorgibt, Wielands Übersetzung der französischen Revolution wie die Betrachtung eines Dramas zu inszenieren. Dass die Zuschauer beginnen sich einzuschalten, bezeichnet sowohl die Grenze des kommentierenden Erzählerdiskurses als auch die Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum, die durch den Einbruch des (republikanischen) Publikums in das vorgeführte Drama verletzt wird. Murmeln und Applaudieren funktionieren wie Störfaktoren der theatralen Vorführung, indem sie die Grenze zwischen Vorführung und Zuschauerraum ineinanderfließen lassen und die Paradoxie der Beobachterperspektive zum Ausdruck bringen. Was Wielands Erzähler auf der Metaebene des Textes auszugrenzen sucht, findet wiederum Eingang auf inhaltlicher Ebene. Was Wieland in seinen politischen Schriften als „Masse“, „Pöbel“ oder sogar „Volk“ bezeichnet, markiert die diskursiven Grenzen in der Störung der Vorführung, und bezeichnet das Auftreten des Publikums auf der politischen Bühne. Als neues Moment der Partizipation an Herrschaft, das zum Teil des Schauspiels wird und die Unmöglichkeit der distanzierten Beobachtung in einer Demokratie bloßlegt, tritt die amorphe unartikulierte Stimme des Volks durch eine Verschiebung in den Diskurs ein – d.h. als Wiedereintritt der Unterscheidung zwischen (moralischem) Zuschauer und (politischem) Drama. Wielands Übersetzung respektive Darstellung wird auf diese Weise qua Souveränität eines parodistischen Erzählers konstituiert, jedoch gleichzeitig 12 Lotman: Über die Semiosphäre, S. 294f. Herbert Jaumann hat die Funktion der Metakritik in Wielands politischen Schriften sichtbar gemacht (Herbert Jaumann: Politische Vernunft, anthropologischer Vorbehalt, dichterische Fiktion. Zu Wielands Kritik des Politischen, in: MLN 99, April 1984, H. 3, S. 461–78): „Die eigentliche Sphäre der Metakritik des Politischen ist die ästhetische Erfahrung der konkreten Subjektivität“ (ebd., S. 475). Wieland verschiebt die Fragen nach Souveränität und Recht auf eine Anthropologie, die auf der Metaebene zum Tragen kommt: „Die Rede ist von Naturgesetzen statt von Naturrechten. Indem er so eine Begründungsstufe tiefer ansetzt, begibt er sich auf die Position einer Metakritik u.a. auch naturrechtlicher Normen und davon wiederum abgeleiteter politischer Konzepte und juridischer Sätze“ (ebd., S. 473). Jaumann scheint bereits auf meine Adaption Lotmans hinzuweisen, wenn er Wielands ironische Praxis als ein „Streben nach Raum für Fiktionalität“ bezeichnet, da es die humanistische Semiosphäre ist, die ich hier beschreibe (ebd., S. 476).
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über den Zusammenbruch von Beobachter – und Teilnehmerperspektiven durch das Auftreten des Publikums auf der politischen Bühne unterwandert. Die Spuren dieses Dilemmas sind in Wielands politischen Schriften generell nachvollziehbar. Die Aufgabe der politischen Schriften ist es, diese Perspektivenverschiebung dem literarisch-politischen Diskurs wieder einzuschreiben: also das deutsche Publikum auf die Bühne zu bringen, ohne die literarische Souveränität des Erzählers aufzugeben. Die ‚Souveränität‘ von Wielands Erzähler liegt in dem Verfahren begründet, die Souveränität anderer in Frage zu stellen – z.B. diejenige der Protagonisten eines Romans, der Versepik oder die der Vertreter der Nationalversammlung.13 Die Ridikülisierung sowohl der literarischen Konventionen und Mythen einerseits als auch der politischen Demagogie und des revolutionären Populismus andererseits ergibt sich in erster Linie aus dem formalen narrativen Verfahren. Durch seine einleuchtende Analyse der Romane Agathon und Don Sylvio de Rosalva zeigt Steven R. Miller, wie Wieland spielerisches Erzählen funktionalisiert, um den Akt des Erzählens zum Objekt der fiktionalen Darstellung selbst zu machen: sozusagen als poetologische Antwort auf das moderne epistemologische Problem der Wahrheitsfindung: In fast jedem Satz ist sein beobachtendes, bewertendes Ich zu spüren. Ein höchst subjektiver, persönlicher Ton ist die Folge davon. Diese neue Ich-Freiheit des Erzählers entsteht aus dem Bewusstsein seiner begrenzten Perspektive—eine Begrenztheit, die jeder individuellen Sicht innewohnt und die der Erzähler gar nicht mehr durch eine illusionäre allwissende Haltung zu vertuschen versucht.14
Anstatt der Allwissenheit erstrebt Wielands Erzähler das „Gespräch“ und die „Bescheidenheit“. Lässt sich die Bescheidenheit des Erzählers an Augenblicken selbstverkündeter Ungewissheit ablesen, dann erwächst das Gespräch 13 Albrecht Koschorke zeigt am Beispiel von Hans Christian Andersens Märchen Des Kaisers neue Kleider, wie literarische Souveränität sich etabliert: „Gegen die Kleiderweber, die er autoritativ als Betrüger denunziert, obwohl er sie doch auch als Künstlerkollegen hätte begrüßen können, schlägt er sich auf die Seite des Kindes und spricht mit dessen Stimme, die der Text bekräftigend als ‚Stimme der Unschuld‘ ausweist. Der literarische Souverän, der allein und selbstherrlich darüber entscheiden kann, seinen Lesern den Märchenkaiser nackt oder angekleidet vor Augen zu führen, authentifiziert sich dadurch, dass er den politischen Souverän de-authentifiziert.“ (Albrecht Koschorke: Macht und Fiktion, in: Des Kaisers neue Kleider. Über das Imaginäre politischer Herrschaft, hg. von Thomas Frank/Albrecht Koschorke/Susanne Lüdemann/Ethel Matala de Mazza, unter Mitwirkung von Andreas Kraß, Frankfurt a.M. 2002, S. 83) 14 Steven R. Miller: Die Figur des Erzählers in Wielands Romanen, Göppingen 1970, S. 95.
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mit dem Leser im Zuge einer jovial-plauderhaften Einladung des Erzählers, doch an der Narration teilzuhaben.15 Allerdings geht dieser Schritt in Richtung des Gesprächs und der Bescheidenheit nur so weit: „Die Beteiligung des fiktiven Lesers ist zum grössten Teil illusorisch“.16 Entweder äußert sich dessen unartikulierte tierische Seite oder er tritt bereits als politisch inaktiver Experte in die Diskussion ein, der sich die Richtung seiner Argumentation vom souveränen Erzähler vorschreiben lässt bzw. einfach in dessen Darstellung untergeht. Sobald es darum geht, nicht nur die Vorzüge der Monarchie, sondern auch diejenigen der Republik herauszustellen, setzt Langeweile ein; die Diskussionspartner wechseln das Thema und widmen sich der Frage ihrer Abendgestaltung. Unterhalten werden sie wiederum von Seiten derjenigen, die sich als kosmopolitische Berater profilieren könnten. Jene beziehen die Stimmen aus dem Volk jedoch keineswegs in die Expertendiskussion ein, sondern stellen sie mit Hilfe der ‚Unterhaltungsindustrie‘ still – eine Figur, die sich in Bezug auf die Zauberflöte übrigens im gestiefelten Kater wiederholt. Sobald die Ebenen der verschiedenen Bühnen vollends durcheinander zu geraten drohen und sich der revolutionäre Charakter des Stückes zu offenbaren droht, beschließt der Dichter, zügig einen Ausschnitt aus der Zauberflöte zu geben – eine Maßnahme, die das Publikum von revolutionären Gedanken ablenkt. Am Ende hat der Erzähler das Ruder seiner Erzählung wieder in der Hand. Diese Investitionen in Parodie und Spott drohen Wielands Darstellung auf einen Weg in die ‚Tyrannei‘ zu führen. Ein Hauptangriffsziel von Wielands Spott ist die (revolutionäre) „Masse“. Wielands Argwohn gegen das Volk taucht überall in seinen Schriften zur Französischen Revolution auf. In einem weiteren Beitrag des Neuen Teutschen Merkur, einem Dialog mit dem Titel „Nähere Beleuchtung der angeblichen Vorzüge der repräsentativen Demokratie vor der monarchischen Regierungsform“ (1799), behauptet einer der Sprecher, Wilibald, seinem Gesprächspartner Heribert gegenüber: „Sie wissen aber, wie das Volk ist. Sich in weitläufige und tiefsinnige Untersuchungen, Abstrakzionen und Distinkzionen einzulassen, ist seine Sache nicht“.17 Wilibald führt weiter aus:
15 Ebd., S. 104. 16 Ebd., S. 107. 17 Christoph Martin Wieland: Nähere Beleuchtung der angeblichen Vorzüge der repräsentativen Demokratie vor der monarchischen Regierungsform (1799), in: PS, Bd. 3, S. 451–69, hier: S. 456.
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Das Volk ist ein vielköpfiges, vielsinniges, vielzüngiges Thier, voller Leidenschaften und Vorurtheile; hitzig und brausend, wo es kalt und gelassen seyn, eigenwillig und starrsinnig, wo es auf Vernunft hören, wankelhaft, wo es unbeweglich stehen, unentschlossen, wo es schnellbesonnen und muthvoll seyn sollte.18
Aufgrund dieser Ansichten über das Volk formuliert sich ein Misstrauen gegenüber der Volkssouveränität innerhalb der politischen „Antworten“ auf die französische Revolution in Der Neue Teutsche Merkur. Die Pointe ist, dass Wielands Erzähler seine Souveränität dadurch gewinnt, dass er sich von einer ‚fragwürdigen‘ Masse unterscheidet. Dem „Volk“ wird keine Stimme geliehen, sondern es wird stattdessen als Geräusch figuriert — als kaum mehr als Murmeln und Applaudieren. Der Dialogpartner Heribert beschreibt den allgemeinen Willen zu „allgemeiner Vernunft“ als eine Eigenschaft einer ganzen Nation, „in so fern sie über ihre eignen Rechte und Vortheile aufgeklärt ist, oder (was auf das nehmliche hinaus läuft) in so fern sie durch den aufgeklärtesten und von echtem Gemeingeist beseelten Theil des Volks repräsentiert wird“.19 Das Ziel des Dialogs besteht in der gemeinsamen Wahrheitsfindung beider Sprecher, „da wir gemeinschaftlich Wahrheit suchen“20 — und kondensiert in der Erkenntnis, dass ein Monarch diese Bedingungen ebensogut wie eine republikanische Regierung erfüllen könnte, wenn nicht sogar besser. Später im Dialog behauptet Wilibald: Monarchie und Demokratie haben beide ihre Vorteile und Nachteile, aber: „wenn sie genau gegen einander abgewogen werden, so dürfte wohl, wie ich mir zu behaupten getraue, der Vorzug auf Seiten der Monarchie seyn“.21 Der verbleibende Dialog zielt darauf ab, Argumente für Wilibalds Position zur Verfügung zu stellen, und Heribert entpuppt sich dabei eher als Komplize denn als Antagonist, weil seine Bemerkungen Wilibalds Behauptungen lediglich unterstützen. Eine Bemerkung Wilibalds stellt den narrativen Stil der Prosafiktion heraus, nämlich das Anliegen, eine Sache von vielen Seiten aus zu erwägen. Wilibald behauptet, dass die Betrachtung der Frage nach dem Vorzug der Monarchie oder Demokratie von „allen Seiten“ uns zur Überzeugung führt, dass eine Monarchie genauso vorteilhaft wie eine Demokratie sein könnte.
18 19 20 21
Ebd., S. 460. Ebd., S. 458. Ebd., S. 460f. Ebd., S. 462.
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Je genauer wir die Sache von allen Seiten betrachten, desto einleuchtender, däucht mir, muß es uns werden […] Es lebt sich ganz leidlich in der Republik, wie in der Monarchie, vorausgesetzt, daß beide mit Gerechtigkeit und Weisheit regiert werden. Wenn der Monarch die Tugenden Mark-Aurels mit der Klugheit Augusts und der Tapferkeit und Mäßigung Trajans in sich vereiniget; wenn in der Republik das Direktorium und seine Ministerialen, die gesetzgebenden Kollegien, die Gerichtshöfe und die Heerführerstellen mit lauter Männern, wie Aristides, Perikles, Epaminondas, Facion, Timoleon, Paul Ämil, Regulus, Kato, u.s.w. besetzt sind: so werden gute und verständige Menschen (die nicht mehr verlangen als was billig ist) sich unter beiderley Regierungsformen wohl genug befinden um keine Änderung zu wünschen.22
Freilich scheint das Argument, dass Monarchie und Demokratie gleichermaßen vorteilhaft sein könnten, Wilibalds vorherige Behauptung, dass die Monarchie vorzuziehen sei, nicht zu unterstützen. Er zieht allerdings den Schluss, dass es keinen Grund dafür gäbe, von der monarchischen Staatsform zur Demokratie zu wechseln. Die implizite Kritik an der republikanischen Regierungsform bleibt bestehen, insbesondere mit dem Hinweis auf die Liste der prominenten Vertreter, die als Funktionäre der Republik arbeiten müssten, wenn diese erfolgreich sein sollte. Kurz bevor Wilibald seine Bedenken gegenüber der Republik äußern kann („In der Republik hingegen—“) wird das Argument unterbrochen. Durch diese narrative Technik der Unterbrechung, ein Stilmerkmal, das Wielands Vers-und Prosafiktion gemeinsam ist, wird ein Augenblick der Langeweile eingeführt. Heribert gähnt und erkundigt sich, was heute Abend vorgeführt würde, woraufhin Wilibald antwortet: „Die Zauberflöte“.23 Wie Bernd Weyergraf argumentiert: „Der ideale Staatsmann ist für Wieland der vielseitig gebildete Monarch, der die Mittel und die Möglichkeiten seines Landes zu überblicken vermag“.24 Bildung und distanzierter Überblick sind an dieser Stelle jedoch nur dem souveränen Erzähler zugänglich. Wielands Erzähler nutzt den vernünftigen Standpunkt zur situativen Analyse, der argumentative Streit über das staatspolitische System wird mit den Waffen der Vernunft, des Erzählens, ausgetragen. Sein Erzähler agiert mit der Attitüde eines Herrschers – freilich wie einer, dem man nach Wielands eigener theoretischer Maßgabe die Einlösung des kosmopolitischen Projektes zutraut. Weder dem Erzähler noch dem eigentlichen Monarchen ist jedoch diese distanzierte Einstellung gegenüber seinem eigenen Projekt zugänglich. Diese Fähigkeit zu 22 Ebd., S. 467f. 23 Ebd., S. 468. 24 Bernd Weyergraf: Der skeptische Bürger: Wielands Schriften zur Französischen Revolution, Stuttgart 1972, S. 6.
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souveräner Lenkung durch die Instanz des idealen Staatsmannes weist eine Parallele zum Verfahren des beweglichen, raffinierten Erzählens auf, dessen hypotaktischer Stil den Vorsitz über Versepen und über Berichte der Nationalversammlung gleichermaßen führen hilft. Man könnte sagen, dass Wielands Übersetzung einen monarchischen Erzähler benötigt, der eine Art aufgeklärte absolutistische Narration formulieren hilft.25 Wielands eigene Positionierung identifiziert diesen Erzähler als Kosmopoliten. In einer weiteren politischen Abhandlung des Teutschen Merkur, „Das Geheimniß der Kosmopoliten“ (1788), definiert Wieland einen Kosmopoliten als einen „Weltbürger“, der sich der Aufgabe widmet, alles, was den Menschen schadet, zu begrenzen und die Summe des Guten zu vermehren.26 Dieses kosmopolitische Ziel bringt die Beförderung der Humanität und die Herrschaft der Vernunft „über den thierischen Theil der menschlichen Natur“ mit sich.27 Der Kosmopolit gehört jedoch einer Sphäre außerhalb der Politik an. Die ‚gemeinsame Sache‘ der Beförderung von Humanität vereinigt Kosmopoliten als Weltbürger, und deshalb stehen sie über entzweiender Parteipolitik.28 Ferner „lebt er immer als ein guter und ruhiger Bürger“, und soll nie Gewalt üben.29 Dieses ist eine wichtige Einschränkung der Tätigkeit des Kosmopoliten, weil sie ihm verbietet, dass die Sphäre seiner Tätigkeit unbefugt in staatliche Hoheitsakte eindringt. Wielands Kosmopolit darf sich nicht in die Fragen politischer Verwaltung einmischen, sondern soll eine unmittelbare, moralisch motivierte Wirkung auf die Politik mit den Mitteln der Kritik ausüben. Wielands Gedanke spiegelt sich im folgenden Argument Reinhart Kosellecks in Kritik und Krise wider: Wie sich die Maurer kraft des Geheimnisses vom Staat absetzen, zunächst, um sich seinem Einfluß zu entziehen, dann aber, um gerade auf Grund dieses Entzuges den Staat scheinbar unpolitisch zu okkupieren, so spart sich die Kritik zunächst aus dem Staate
25 In seinem ‚Staatsroman‘ für Joseph II, Der Goldne Spiegel, thematisiert Wieland eine moderne Form des Patronats: Der Intellektuelle bildet den Herrscher aus und bietet ihm kritischen Rat an. Vgl. dazu: W. Daniel Wilson: Intellekt und Herrschaft. Wielands Goldner Spiegel, Joseph II. und das Ideal eines kritischen Mäzenats im aufgeklärten Absolutismus, in: MLN 99, April 1984, H. 3, S. 479–502. 26 Christoph Martin Wieland: Das Geheimniß der Kosmopoliten (1788), in: PS, Bd. I, S. 333. 27 Ebd., S. 339. 28 Ebd., S. 332. 29 Ebd., S. 334.
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aus, um dann gerade auf Grund dieser Aussparung sich scheinbar neutral auf den Staat auszuweiten und ihn ihrem Richterspruch zu unterwerfen.30
Dieser Gestus bestätigt sich in der oben zitierten Textpassage aus der „Ausführlichen Darstellung“, wenn Wieland die Grenze zwischen einem „politischen“ und einem „moralischen“ Interesse an der Französischen Revolution zieht: „Je weniger aber unser eigenes Vaterland bey den dermahligen Nazionalbegebenheiten unsrer westlichen Nachbarn politisch interessiert ist, desto größer ist das moralische Interesse, welches wir bloß als Menschen dabey haben“.31 Aus dieser Trennung von Kritik und Politik folgt, dass die kosmopolitische Kritik die öffentliche Sicherheit und Ordnung keinesfalls stören darf; kein Kosmopolit, behauptet Wieland, hätte je an einer Verschwörung, einem Aufstand, einem Bürgerkrieg, einer Revolution oder einem Königsmord teilgenommen.32 Nach Wieland ist die Französische Revolution strenggenommen kein kosmopolitisches Ereignis, obgleich sie in der „Ausführlichen Darstellung“ als „kosmopolitisches Drama“ betitelt wird. Diese paradoxale Verschiebung von Wielands diskursiver Logik kann dem Zusammenbrechen der dramatischen Struktur der ‚Übersetzung‘ der Französischen Revolution zugeschrieben werden, die nach einer strikten Trennung von Kritik und Politik strebt, jene aber nicht durchhalten kann. Insofern waren weder Brutus noch Milton Kosmopoliten.33 Wieland schreibt dem Kosmopoliten die „Pflicht“ zu, politischer Ungerechtigkeit Widerstand zu leisten: aber solcher Widerstand muss auf die Vernunftsausübung beschränkt werden. In solchen Fällen ist Widerstand sogar eine ihrer Ordenspflichten; nur sind ihnen dazu keine andere Waffen als die Waffen der Vernunft erlaubt. Diese mögen sie mit so viel Witz, Beredsamkeit, Scharfsinn und Stärke, als sie nur immer in ihrer Gewalt haben, zum Besten der guten Sache brauchen und in dieser Art von Krieg, vertheidigungs- und angriffsweise so viel Verstand, Klugheit, Standhaftigkeit, Freymüthigkeit und Beharrlichkeit zeigen, als nur immer möglich ist: wenn sie alles gethan haben, so haben sie weiter nichts als ihrer Kosmopolitenpflicht genug gethan.34
„Die Waffen der Vernunft“ – „Witz, Beredsamkeit, Scharfsinn und Stärke“ – sind nichts Anderes als die Instrumente von Wielands narrativer Souveränität. 30 Reinhart Koselleck: Kritik und Krise: Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg/München 1959, S. 81. 31 Wieland: Ausführliche Darstellung, PS, Bd. 2, S. 216. 32 Wieland: Das Geheimniß der Kosmopoliten, PS, Bd. 1, S. 336. 33 Ebd. 34 Ebd.
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Souveränität beinhaltet hier nicht die Befähigung oder Befugnis, einen Ausnahmezustand entscheiden zu können, was beispielsweise eher einer Behauptung Wilibalds im Dialog „Nähere Beleuchtung“ entspräche: „Der wahre Suverän im Staat ist derjenige, der das Recht hat die höchste Gewalt auszuüben“.35 Die Souveränität des Erzählers kommt im raffinierten narrativen Akt zum Ausdruck, mit dem dieser die Ausübung der Macht des politischen Souveräns parodiert. Der Gestus der Parodie setzt einen infiniten Regress der Einführung neuer normativer Ansprüche in Gang, bis zu dem Punkt, an dem sich alle normativen Ansprüche auflösen; entleert von allen inhaltlichen Aspekten der normativen Diskussion übt der Erzähler die bloße Macht (Potenz) der Kritik aus. Der parodistische Erzähler und seine narrativen Techniken sind in Wielands Vokabular „kosmopolitisch“. Der Dichter zahlt für die Durchsetzung seiner narrativen den Preis der politischen Souveränität; wie aber schon gezeigt wurde, kann er dem Politischen nicht aus der Perspektive eines Beobachters zuschauen. Die Dichtkunst ist nach Wielands Auffassung in keinem Fall autonom. In dem Aufsatz „Über Nationalpoesie“ von 1773 stellt Wieland die Poesie in den Zusammenhang des Kosmopolitismus und identifiziert ihre soziale Funktion. Gegen das Lob einer isolierten nationalen Identität formuliert er eine dialektische Beziehung zwischen National- und Weltkulturen: Je ungeselliger ein Volk ist; je mehr es, wie die alten Egyptier, und noch jetzt die Chineser und Japaner, für sich selbst und von allen andern abgeschnitten lebt: je besser er-
35 Wieland: Nähere Beleuchtung, PS, Bd. 3, S. 461. Wieland würde vor allem mit Schmitts Betonung einer konstitutiven Souveränitätsgewalt kollidieren. Der Verweis auf „das Recht“ des Souveräns, Gewalt auszuüben, unterscheidet sich von Schmitt insofern, als dass jener darauf insistiert, dass der gewalttätige Akt der souveränen Entscheidung die Basis jedes normativen Systems ausmache. „Die Ausnahme ist das nicht Subsumierbare; sie entzieht sich der generellen Fassung, aber gleichzeitig offenbart sie ein spezifisch-juristisches Formelement, die Dezision, in absoluter Reinheit. In seiner absoluten Gestalt ist der Ausnahmefall dann eingetreten, wenn erst die Situation geschaffen werden muß, in der Rechtssätze gelten können“ (Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin 51990, S. 19). Immerhin nähert sich Wieland einer nicht-säkularisierten politischen Theologie in „Über das göttliche Recht der Obrigkeit“ (1777) an, indem er behauptet, souverän sei derjenige Herrscher oder diejenige Gruppe, der bzw. die die Gewalt ergreift – denn der Mächtigste sei derjenige, der fähig sei, jegliche Funktion zu erfüllen. Vgl. dazu: Jaumanns Artikel „Politische Vernunft, anthropologischer Vorbehalt, dichterische Fiktion. Zu Wielands Kritik des Politischen“.
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hält es sich freylich in seinem National-Charakter; aber desto unvollkommner bleibt auch sein National-Zustand.36
Eine Nation ist desto „entwickelter“, je mehr Kontakt sie zu anderen Nationen hat, der einen Prozess von kulturellem Austausch über Grenzen hinweg erfordert. Deshalb gibt es für Wieland keinen Grund dafür, dass die zeitgenössischen deutschen Dichter ausschließlich an ‚deutschen‘ Materialien und Themen arbeiten sollten. Es ist die soziale Aufgabe der Poesie, die menschliche Natur zu verschönern und zu veredeln: Der Dichtkunst wahre Bestimmung ist die Verschönerung und Veredlung der menschlichen Natur; und wenn sie auf diesen grossen Zweck in Vereinigung mit der Philosophie und mit ihren andern Schwester-Künsten, den bildenden sowohl als den musicalischen arbeitete, wer kan die Grenzen des wohl-thätigen Einflusses ziehen, den sie auf die menschliche Gesellschaft haben könnte? Aber damit sie diesen Zweck erreiche, muß sie sich über die blosse Nachahmung der individuellen Natur, über die engen Begriffe einzelner Gesellschaften, über die unvollkommnen Modelle einzelner Kunstwerke erheben, aus den gesammelten Zügen des über die ganze Natur ausgegossenen Schönen sich ideale Formen bilden, und aus diesen die Urbilder zusammen setzen, nach denen sie arbeitet.37
In Zusammenarbeit mit der Philosophie und anderen Künsten könnte die Dichtung eine wertvolle soziale Funktion erfüllen, wenn sie richtig ausgeübt wird. Was genau „die Verschönerung und Veredlung der menschlichen Natur“ mit sich bringt, bleibt hier vage. Aber wenn wir die Funktion von Wielands Poetik in Hinblick auf seine ‚Übersetzung‘ der Französischen Revolution berücksichtigen, so können wir vermuten, dass die Dichtkunst Hand in Hand mit dem kosmopolitischen Ideal geht, ‚das Volk‘ durch eine Art ästhetischer Erziehung zu bilden. Wir konnten jedoch feststellen, dass dieses Projekt sich in seiner parodistischen Haltung und durch den Verzicht auf politische Macht dennoch als souverän etabliert, selbst wenn der ideale Staatssouverän indirekt vom Dichter profitieren könnte und dabei erfolgreich agieren würde. Die Dichtung entscheidet, wer, wie und wann etwas ‚zugunsten‘ der menschlichen Natur parodiert wird. Daher möchte ich dafür plädieren, vorsichtig mit parodistischen Verfahren umzugehen, da Parodie und Spott, wie spielerisch sie auch immer inszeniert sein mögen, zu einer wirkmächtigen Waffe der narrativen und politischen Souveränität werden können. Schließlich hat die Dichtung es nach dem Auftritt des Publikums auf der politischen Bühne – als 36 Christoph Martin Wieland: Über Nationalpoesie, in: Ausgewählte Prosa aus dem Teutschen Merkur, hg. von Hans Werner Seiffert, Marbach 1963, S. 19. 37 Ebd.
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Teil dieses Spiels – mit der Aufgabe des Übersetzens und Versammelns zu tun, die das Paradoxon von Wielands oben zitierter Metapher eines ‚zusammengesetzten Urbilds‘ tatsächlich bildet. Wenn es im Projekt der ästhetischen Erziehung darum geht, sich dessen eigene Störfaktoren durch „Verschönerung“ einzuschreiben und dadurch das Publikum auf die Bühne zu bringen, würde das gesamte Volk (als „Urbild“) überhaupt nur als versammeltes „vielzüngiges Thier“ auf der Bühne erscheinen können.
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Spiel und Übersetzung Wieland zum Zeitvertreib Während daß der Iman diese schöne Rede hielt, sang der Sultan im Tone der langen Weile und mit halb geschloßnen Augen, la Faridondäne la Faridondon, Dondäne Dondon Dondäne, Dondäne Dondäne Dondon […]. Wieland, Der goldne Spiegel (1772)
Wielands 1781 in Der Teutsche Merkur veröffentlichter Aufsatz „Über die ältesten Zeitkürzungsspiele“ thematisiert Praktiken des Zeitvertreibs.1 Der Text verfährt dabei seinerseits spielerisch, als Zeitvertreib; er erscheint ziellos, ohne tieferen Sinn. Gerade dadurch aber, so kann die Lektüre zeigen, wird ein elementares Verhältnis von ‚Spiel‘ und ‚Übersetzung‘ etabliert. Das ‚Spiel‘ erweist sich als ein anthropologischer Sachverhalt, der die Abstände zwischen Geschlechtern, Ständen, Parteien, Völkern, Kulturen und historischen Zeiten zwar nicht zu beseitigen, aber zu überbrücken vermag. „Bloß in der Beschaffenheit der Spiele und in der Art zu spielen liegt der Unterschied“; „eben dieß ists, was sie in der Karakteristik der Völker und Zeiten bedeutend und merkwürdig macht.“ (S. 129) Der doppelte Unterschied ihrer spezifischen Konstitution und ihrer jeweiligen Durchführung, der den Spielen innewohnt, ermöglicht es, dass sie, sich modifizierend, in immer weiteren Kreisen zirkulieren können. Dies macht Wieland vor allem am „Königsspiel“ (dem Schachspiel) deutlich. Von einem Brahmanen als eine Art Fürstenspiegel erfunden, zum Zwecke eines ‚übertragenen Sinns‘, einer Wahrheit, die dem unduldsamen König nur auf Umwegen, getarnt als Zeitvertreib, beigebracht werden kann, um ihn zu einem achtungsvollen Umgang mit seinen Untertanen (seinen ‚Bauern‘) zu bewegen, hat sich das Schachspiel von seiner Ursprungssituation abgelöst, enorm verbreitet und ist vom ‚Morgenland‘ bis nach Europa gelangt. Wieland folgt den Spuren, die die Geschichte des Schachs in Texten und in den wechselnden Namen des Spiels, die im wesentlichen Übersetzungen der Bezeichnung ‚Königsspiel‘ in andere Sprachen sind, hinterlassen hat. Dabei verfährt er einerseits philologisch: Er übt Quellenkritik 1
Christoph Martin Wieland: Über die ältesten Zeitkürzungsspiele, in: ders.: Sämmtliche Werke (1794–1811) (=SW), Reprint Hamburg 1984, Bd. 24: Vermischte Aufsätze, literarischen, filosofischen und historischen Inhalts, S. 93–138. Zitate aus diesem Text werden im Folgenden durch Angabe der Seitenzahlen nachgewiesen.
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und korrigiert sinnverstellende Übersetzungen, die etwa zur Verwechslung des Schachs mit dem römischen ‚Soldatenspiel‘ geführt haben. Andererseits verfährt Wieland anekdotisch. Indem er erzählt, hofft er, dass „Leser […] sich vielleicht nicht verdrießen lassen, bey dem Spiele […] noch ein wenig zu verweilen“. In Anekdoten, die immer wieder von Fürsten und Edelmännern handeln (den „Herren der Welt“), nähert sich sein Text jenem Prinzip, das alle Spiele teilen: der Kürzung von Zeit. Dabei wird der Müßiggang des Souveräns, den das Schachspiel anfänglich bedeutet hat, zur Metafigur menschlichen Zeitvertreibs erweitert. Wielands Schreiben engagiert sich in genau dieser proliferierenden Bewegung, in der Spiel und Übersetzung einander durchdringen. Er verfolgt eine Strategie der Kürzung von Zeit, deren Hoffnung weniger auf eine spezifische Moral als auf die Anteilnahme an einer allgemeinen Natur des Menschen gegründet ist. I. Anfänge Wie lässt sich ein Aufsatz über spielerische Praktiken des Zeitvertreibs eröffnen? Welche Frage, welcher Blickwinkel, welches Detail gehören an den Beginn? Die Wahl, die Wieland trifft, und für die kein Grund angegeben wird, fällt auf „[d]ie Erfindung der Würfel“. Bereits mit diesem ersten Zug seines Textes wird die grundlegende Korrespondenz etabliert, in der die Darlegungen über die „ältesten Zeitkürzungsspiele“ ihren Gegenstand adressieren. Die Laune des Zufall regiert, wie es scheint, den Aufsatz schon in seinem Anfang (der daher eigentlich kein Anfang ist), und sie ist zugleich ein wesentliches Moment allen Spiels. Wie der Text keinen richtigen Anfang hat, so hat er auch kein rechtes Ende; mit Mutmaßungen über das historische Verhältnis von Dame- und Schachspiel bricht er einfach ab. Wieland grenzt das Feld seiner Erörterungen nicht näher ein; er gibt keine Rechenschaft darüber, welche Spiele aus dem weiten Spektrum von Beschäftigungen, die behandelt werden könnten, von Interesse sein und welche ignoriert werden sollen. Die spielerische Beschaffenheit dieses Textes über Spiele wird durch keine Ausschlusskriterien, keinen Ordnungszwang, keine spielphilosophische Prämisse beschränkt. Auch die zeitliche Festlegung, mit der im Titel des Aufsatzes ausdrücklich auf die „ältesten“ Zeitkürzungsspiele verwiesen wird, scheint wenig verpflichtend, denn nirgends im Text wird Wert darauf gelegt oder auch nur behauptet, dass die erwähnten Spiele tatsächlich die ältesten sind. Indem Wieland Platons Phaidros zitiert, wo das Würfelspiel auf Theut, den „angeblichen Erfinder aller Künste und Wissenschaften“, zurückgeführt wird, begnügt er sich mit der Feststellung, dies beweise, „daß die Erfindung dieser Spiele
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sich in dem grauesten Alterthume verliert“ – ein Beweis, der, so scheint es, zu nichts führt. Das Schreiben über den Zeitvertreib will sich von seinem Gegenstand nicht distanzieren; mehr noch, es beginnt selber ein Spiel. Nun deutet gerade die Stelle im Phaidros, auf die Wieland sich bezieht, in eine ganz andere Richtung. Dort geht es um ein Verhältnis von Schreiben und Spiel, durch welches das Schreiben infrage gestellt wird. Wenn Theut nicht nur die Buchstaben, sondern auch die Würfel erfunden hat, dann hat er damit, ohne es zu wollen, für Sokrates zugleich eine Anschauung für den Wert oder vielmehr den Unwert des Schreibens geliefert. Man muss wissen, sagt Sokrates, „daß in einer geschriebenen Rede über jeden Gegenstand vieles notwendig nur Spiel sein muß“, sofern es nämlich „ohne tiefere Untersuchung und Belehrung nur des Überredens wegen zusammengearbeitet […] worden ist“.2 Es muss wie ein „Schriftgärtchen“ sein, das man „nur des Spieles wegen, wie es scheint, besäen und beschreiben“ wird.3 Die Buchstaben mit all ihrer Äußerlichkeit, in denen der Bezug der Rede zur Wahrheit ebenso verlorengeht wie die Bindung an den Redner und an diejenigen, für die sie bestimmt war, sind notwendig unfruchtbar. Sie können nicht leisten, was die „lebende und beseelte Rede des wahrhaft Wissenden“4 vermag: Sie sind nicht von jenem „herrliche[n]“ „Ernst“ begleitet, der gegeben ist, „wenn jemand nach den Vorschriften der dialektischen Kunst, eine gehörige Seele dazu wählend, mit Einsicht Reden säet und pflanzt“.5 Dass, nach dem Zeugnis Platons, die Würfel und die Schrift in Theut den gleichen Urheber haben, adelt also nicht das Spiel (paidiá) – im Gegenteil, dies setzt die Schrift herab.6 Gerade daran erinnert Wieland, wenn er auf den Phaidros verweist. Sein Aufsatz über die Zeitkürzungsspiele 2 3 4 5 6
Platon: Phaidros, in: ders.: Sämtliche Werke, übers. von Friedrich Schleiermacher, hg. von Ursula Wolf, Reinbek b.H. 1994, Bd. 2, 277e. Ebd., 276d. Ebd., 276a. Ebd., 276e–277a. Vgl. Stefan Matuschek: Literarische Spieltheorie. Von Petrarca bis zu den Brüdern Schlegel, Heidelberg 1998, S. 13: „Spiel dient hier als Resümeewort, mit dem die Verurteilung der Dichtung insgesamt auf einen Begriff gebracht wird. Sie steht bei Platon auf zwei Füßen, auf einem ontologischen und einem psychologischen Argument. Das erste verurteilt die Dichtung gemäß der Ideenlehre als doppelt weit von der Wirklichkeit, von der Wahrheit entferntes Trugbild, das zweite warnt vor ihr als dem Erreger alles Unvernünftigen, der emotionalen und sinnlichen Verführung zum Falschen. Das Wort Spiel faßt beide Argumente zusammen. Es bedeutet zugleich Unwirklichkeit, d.h. für Platon immer Unwahrheit, und Leichtfertigkeit, d.h. unvernünftiges Tun. Das griechische Wort dafür ist an dieser Stelle paidiá, das, wenngleich seine Verwendung sich davon löst und allgemein Spiel bedeutet, durch seine so offenkundige Etymologie (von pais = Kind) mehr als das deutsche Wort das Kindische konnotiert.“
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kann als eine Stellungnahme gelesen werden, die dieser sokratischen Lehre von der Gleichursprünglichkeit von Würfelspiel und Buchstabenskepsis begegnen will. Ihr zum Trotz affirmiert der Text das Schreiben als Spiel; er folgt nicht den „Vorschriften der dialektischen Kunst“, will sich nicht, nach sokratischer Art, in eine ausgewählte „Seele“ ‚hineinsäen‘. Indem er zugleich vom Zeitvertreib spricht und Zeitvertreib ist, macht er aus seinem Anliegen keinen Hehl; er operiert nicht im Verborgenen. Die „Ergetzung“, der sich der Text verschreibt, ist kein Trick, um seinen Lesern insgeheim Einsichten unterzuschieben oder sie auf unlautere Weise von etwas zu überzeugen. Wielands Text verfügt nicht nur – entgegen der dialektischen Kunst des Sokrates, der zufolge eine Rede ein gegliedertes Ganzes zu sein habe7 – über keinen Anfang und keinen zwingenden Schluss, sondern er konterkariert auch jeglichen Willen zur Ordnung durch die Vielfalt der historischen Überlieferungen. Die Erzählung der Würfelspiel-Erfindung nach Platon ist nur eine von vielen Geschichten. Eine andere besagt, so Wieland, dass dieses und andere Spiele in der zehnjährigen Zeit der Belagerung von Troja aufgekommen seien: Sie seien wegen der vielen müßigen Stunden „zur Gemüthsergetzung der Achäischen Feldherrn und Hauptleute“ von dem Griechen Palamedes wenn nicht erfunden, so doch zumindest eingeführt worden (S. 97). Dem locus classicus einer philosophischen Kritik des Spieles und der Schrift bei Platon8 wird hier also unverzüglich ein – im Vergleich banal erscheinender – Topos der Langeweile hinzugesellt, der sich bei Homer ausgeprägt hat. So soll auch Helena, innerhalb der Stadtmauern Trojas, Spiele erfunden haben, um sich die Zeit zu vertreiben; und darüber hinaus verweist Wieland auf die Freier im Palast des Odysseus, die mit Spielen nicht nur aus Langeweile beschäftigt waren, sondern auch, um die Zukunft zu befragen und zu erfahren, wer von ihnen Penelope für sich gewinnen werde. Für sie war das Spiel zugleich „eine Art von Sortilegium“, „eine Art von Anfrage bei dem Schicksal durch gewisse Handlungen, deren Erfolg für eine Antwort desselben aufgenommen wurde“ (S. 101). Zu Theut und Palamedes als mögliche Erfinder ältester Spiele gesellt sich als dritter Kandidat der lydische König Atys hinzu, von dem Herodot im ersten Buch seiner Historien berichtet. Wieland paraphrasiert: Eine große Hungersnoth hatte das Reich dieses Fürsten aufs äußerste gebracht. Die Unmöglichkeit der gemeinen Noth abzuhelfen, drang ihn endlich auf ein Mittel zu 7 8
Vgl. Platon: Phaidros, 263e–264e. Vgl. auch die Dichterkritik in Platons Politeia: „Dieses also, wie sich zeigt, ist uns ziemlich klargeworden, daß der Nachbildner nichts der Rede Wertes versteht von dem, was er nachbildet, sondern die Nachbildung eben nur ein Spiel ist und kein Ernst“ (Platon: Politeia, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 2, 602b).
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denken, dem Volke wenigstens das Gefühl seines Elends zu erleichtern. Zu diesem Ende erfand er (vermuthlich mit Hülfe seiner Minister und schönen Geister) die besagten Spiele als ein Zerstreuungsmittel, das durch die Leidenschaften, die dabey erregt und beschäftigt werden, geschickt schien, ihre Aufmerksamkeit von den Gedanken an ihren Zustand abzukehren. Das Volk wurde in zwey Klassen abgetheilt, welche Tag um Tag entweder zu essen bekamen oder spielten. Heute spielte die eine Klasse während die andere gespeist wurde; den folgenden Tag wurde der Tisch für die gestrigen Spieler gedeckt, und jene mußten indessen ihrem Magen mit Würfeln oder Ballschlagen die Zeit vertreiben. (S. 98)9
In der Vielzahl der Ursprünge des Würfelspiels und der Zeugen, die dafür bereitstehen (Platon, Homer und Herodot), vervielfältigt und dehnt sich zugleich der Begriff des Zeitvertreibs. Die spielerische Kürzung von Zeit ist nicht nur ein Problem der rechten philosophischen Erkenntnis, ein Notbehelf erzwungenen Müßiggangs und ein orakelhafter Vorgriff auf die Zukunft, sondern er ist zugleich ein Nahrungs-Surrogat, ein Überlebensmittel. All dies aber umfasst auch die „Ergetzung“ durch Wielands Schrift. Sie offeriert sich, zum Zeitvertreib, ironisch als Alternative zur Philosophie und zur Langeweile; sie spielt mit Möglichkeiten der Prophetie10; und sie könnte überdies von einem knurrenden Magen ablenken. II. Die Diversität des Spiels Die diversen Ursprünge des Würfelspiels – und des Spielens überhaupt – verweisen auf verschiedene elementare Bedürfnislagen, denen sie korrespondieren. Die spielerische Zeitkürzung, zum Gegenstand der Betrachtung erhoben, fördert nichts anderes zutage als Aspekte der menschlichen Natur. Wielands Leser werden an diese Natur erinnert, indem ihre Lektüre zugleich mögliche Aspekte des Menschlichen aktualisiert: Denn auch der Text ist zunächst einmal Zeitvertreib, welche Dauer er seinem Leser auch immer verkürzt – und sei es die bis zur nächsten Mahlzeit. Wieland ist interessiert an den historischen Wirklichkeiten des Spiels, nicht an einem Ideal oder einer Norm des Spielens. 9
Bei Herodot (Historien 1, 94) ist es allerdings nicht der König, der seinen Untertanen den Zeitvertreib verordnet, sondern es sind die Lyder selbst, die die Spiele erfinden. Vgl. Herodot: Historien, Erstes Buch, griech./deutsch, übers. von Christine Ley-Hutton, hg. von Kai Brodersen, Stuttgart 2007, S. 123. 10 Im Anschluss an die Anekdote von König Atys schreibt Wieland: „Und wer weiß. ob nicht wir selbst die Zeit noch erleben, wo irgend ein schlauer Plusmacher auf den Einfall kommt, diese alte Erfindung des König Atys von Lydien zur Grundlage einer neuen Finanzspekulazion zu machen, welche die Einkünfte seines Herrn durch die bloße Abschaffung von 182 Mahlzeiten des Jahrs, um drey bis vier hundert Procent – jährlich wenigstens, vermehren würde.“ (S. 99)
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Die verschiedenen Lagen zu untersuchen, in denen in der Vergangenheit, den historischen Quellen zufolge, Menschen oder sogar ganze Bevölkerungen begonnen haben zu spielen, bedeutet in Wielands Aufsatz der Verzicht darauf, die verschiedenen Arten des Spielens zu werten und zu hierarchisieren. Dieser Verzicht ist umso signifikanter, als der Text zwar mit der „Erfindung der Würfel“ beginnt, in seinem Zentrum jedoch das Schachspiel steht. Gerade das Schachspiel gilt gewöhnlich nicht einfach als ein Zeitvertreib neben anderen, sondern es scheint vor anderen Spielen in besonderer Weise ausgezeichnet. So heißt es etwa in S. F. Günther Wahls Der Geist und die Geschichte des Schach-Spiels aus dem Jahre 1798: „Unter allen vernünftigen Spielen, deren sich die alte und neue Welt von Anbeginn menschlicher Kultur bis jetzt bedient hat, scheint das Schachspiel in der That das zweckmäßigste zu seyn, und in allem Betrachte vor jedem andern einen wohlverdienten Vorrang zu behaupten“.11 Diese Privilegierung ergibt sich für das Schachspiel vor allem durch den Gegensatz, in dem es zum Würfelspiel steht: .! ! & /&$&) )μ, sagt Plutarch, „Spiel ist die Würze (der Honig das Salz) der Arbeit.“ Kein Spiel trifft der Ausspruch des Weisen wol mehr, als eben unser Schachspiel […]. Denn alle übrigen Spiele, die wir kennen, sind gemeiniglich nur Glücksspiele, bei denen man die vornehmste Absicht im Gewinn zu erreichen suchet. Ganz anders ist es mit unsern Schachspiel. Es ist dem Glücksfall in mindesten nicht unterworfen, da alles vom Verstande des Spielers und seiner eignen Willkühr abhänget […]. […] [U]nermüdete Uebung in diesem Spiel erreichet zuletzt unfehlbar den […] Zweck, das Gemüth zu kaltblütiger und bedächtlicher Fassung zu gewöhnen, und so den wirklichen großen Spieler zu bilden, dessen dieser schöne Zeitvertreib werth ist.12
In diesen Formulierungen sind all jene Konventionen der Hochschätzung des Schachspiels versammelt, die aus seiner vermeintlichen Entferntheit vom Glücksprinzip des Würfelspiels hergeleitet werden und von denen Wielands Aufsatz über die Zeitkürzungsspiele sich distanziert. So ist Wielands Verständnis des Schachspiels – und allen Spiels – zunächst einmal nicht den gegensätzlichen Bestimmungen von Arbeit und Müßiggang unterworfen, die dazu tendieren, „sich beständig zu vervielfältigen und immer weitere innere Unterscheidungen zu produzieren“13, in denen das eine nur im Lichte des anderen gerechtfertigt erscheint: Die Arbeit wird zu Mühsal und Plackerei, wo sie keinerlei Müßiggang unterbricht oder begleitet, und der Müßiggang seinerseits ist nur akzeptabel, wenn er im Rahmen 11 S.F. Günther Wahl: Der Geist und die Geschichte des Schach-Spiels bei den Indern, Persern, Arabern, Türken, Sinesen und übrigen Morgenländern, Deutschen und Europäern, Halle 1798, S. 1f. 12 Ebd., S. 17ff. 13 Martin Schäfer: Arbeit, Muße, Faulheit, Ästhetik. Literarische Figuren der Gewalt, Habilitationsschrift Erfurt 2010, S. 12.
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bleibt, das heißt einen Bezug auf Arbeit bewahrt. Während in diesem Sinne der Müßiggang des Spiels bei Wahl nur als „Würze der Arbeit“ hinnehmbar ist, so findet sich bei Wieland eine gänzlich andere Perspektive. Denn bei ihm sind verschiedene Ursprungssituationen des Spielens im Blick, in denen – wie bei der Belagerung Trojas – die Arbeit als Option nicht zur Debatte steht. Die existenziellen Lagen des Wartens, durch die das Spielen anfänglich motiviert worden ist, lassen nicht die Möglichkeit zu, anstatt auf das Schicksal oder auf das Glück auf den eigenen Verstand und auf eigenes Handeln zu vertrauen. Auf paradoxe Weise wird hier der mangelnde Spielraum, der im Realen besteht, durch das Spiel kompensiert. Die Art des Spiels ist dabei nicht von Belang, ebenso wenig wie das Maß der Handlungsfreiheit, die das Spiel den Akteuren einräumt. Ob es sich um den agôn handelt, bei dem alles von der Befähigung des Spielers abhängt, oder um alea, in dem die Entscheidung, um die es geht, nicht im mindesten vom Spieler beeinflusst werden kann, und in dem dieser sich „völlig passiv“ verhält und „weder sein Können noch seine Talente ein[setzt]“14, bedeutet gleich viel. Das Spiel, sei es das Würfelspiel oder das Schachspiel, die Wieland beide zur Sprache bringt, ist weder auf eine Entgegensetzung von Arbeit und Nichtarbeit reduzierbar noch lässt sich, im Sinne Günther Wahls, danach fragen, was „dieser […] Zeitvertreib werth ist“15. Auch einem zweiten Motiv der Aufwertung des Schachspiels gegenüber anderen Formen des Zeitvertreibs folgt Wieland nicht. Dieses Spiel, so betont Wahl nicht als erster, dient der Erziehung. Es hilft, „den wirklichen großen Spieler zu bilden“.16 Das Schachspiel gibt der Entfaltung von Leistungen Raum, wie sie für kaum ein anderes Spiel denkbar ist. Man hat, so berichtet Wahl, blinde Schachspieler gekannt, oder solche, die mit verbundenen Augen spielten und dennoch gewannen. Dies zeige, „mit welchem Ernst, welchem Fleiß und mit welcher Kunstfertigkeit man zu allen Zeiten auf dieses vortreffliche Spiel seine Aufmerksamkeit gerichtet habe“.17 Es ist vor allem das Gedächtnis, das im Schachspiel eine hohen Schule durchläuft – gerade jenes Vermögen also, das im Zeitvertreib eher vernachlässigt wird und das schon bei Platon durch das Spiel des Schreibens gefährdet erscheint, weil die Schrift als Kehrseite einer technisch implementierten Hypermnesie einen Gedächtnisschwund hervorbringt.18 Entsprechend findet sich schon bei Platon der Versuch, im Zeichen des Gegensatzes von Spiel und Ernst eine bestimmte Art des Spiels, nämlich das 14 Roger Caillois: Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch, Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1982, S. 15. 15 Wahl: Der Geist und die Geschichte des Schach-Spiels, S. 19. 16 Ebd. 17 Ebd., S. 28. 18 Vgl. Bernard Stiegler: Von der Biopolitik zur Psychomacht, Frankfurt a.M. 2009.
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Brettspiel (petteía), als Objekt eines Vergleichs mit der sokratischen Methode zu privilegieren: O Sokrates, hiergegen wäre freilich keim Mensch imstande dir etwas einzuwenden. Allein dieses begegnet jedesmal denen, welche hören, was du […] sagst […] Und wie die im Brettspiel Ungeübten von den darin Starken am Ende eingeschlossen werden und nicht wissen, wie sie ziehen sollen: so glauben auch sie am Ende eingeschlossen zu sein und nicht zu wissen, was sie sagen sollen in diesem anderen Spiel, nicht mit Steinen, sondern mit Reden […].19
Wie bei Platon die zwingende Kraft der sokratischen Methode im Vergleich mit dem Brettspiel vor Augen geführt wird, erscheint im späten 18. Jahrhundert auch das Schachspiel als ein Mittel der Erziehung, das die Beschäftigung eines profanen Zeitvertreibs zu einem Erkenntnisprozess hypostasiert. Wie kein anderes Spiel ist das Schachspiel ein Vergnügen um der Belehrung willen. Es ist kein bloßes Spiel, sondern es will die Spielenden zu einem „nützlichen Wetteifer“20 verführen. Daher misst man ihm eine spezifisch rhetorische Beschaffenheit bei, die, in der Nachfolge jenes Tropus, als welcher das Brettspiel bei Platon fungiert, zur Verbesserung des Menschen beiträgt. Das Schachspiel soll die Zeit nicht verkürzen oder vertreiben, sondern es ermöglicht im Gegenteil eine erfüllte Zeit. Gerade diese Rhetorik der Belehrung aber, die das Schachspiel aus der Vielzahl zeitvertreibender Spielereien hervorheben soll, wird von Wieland in seinem Aufsatz bezweifelt. Die Infragestellung vollzieht sich schon dadurch, dass Wieland seinen Text mit dem Pleonasmus des ‚Zeitkürzungsspiels‘ überschreibt, einer Wortprägung, die offenbar nur bei ihm bekannt ist.21 Auf dem Aspekt des Zeitvertreibs wird so beharrt; die sprachliche Neuschöpfung markiert, ebenso wie die Wendung „Ergetzungsspiel“, dass es bei den Spielen, die verhandelt werden, und also auch beim Schachspiel, nicht um mehr und nicht um anderes geht als sie selbst. Es handelt sich um eine Art verdoppelnder Übersetzung dessen, was im Begriff des ‚Spiels‘ ansonsten ‚übertragene‘ Bedeutungen erhält. Im Titel des Aufsatzes ist damit ein Verfahren angezeigt, das für die Beschaffenheit des Textes insgesamt Geltung besitzt: Es lässt sich beobachten, wie Wieland ‚übertragene‘ Signifikanzen spielerischen Zeitvertreibs durchkreuzt, indem er Bedeutungsprozesse in Übersetzungsvorgänge verlagert. Gerade in Bezug auf das Schach, das ‚Königsspiel‘, wird diese Strategie verfolgt. Wieland zeigt, wie, überlieferten Erzählungen zufolge, das Schachspiel am Hofe des in19 Platon: Politeia, 487b–c. Vgl. dazu auch Matuschek: Literarische Spieltheorie, S. 26ff. 20 Wahl: Der Geist und die Geschichte des Schach-Spiels, S. 1. 21 So Jörg Seidel: Von Zeitkürzungs- und Ergetzungsspielen – Christoph Martin Wieland, in: ders.: Metachess. Zur Philosophie, Psychologie und Literatur des Schachs, Rostock 2009, S. 257–266, hier: S. 258.
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dischen Herrschers unter Bedingungen erfunden worden ist, die ihm besondere Bedeutung verliehen, wie aber diese Bedeutungen durch Weiterverbreitung des Spiels – seiner ‚Übersetzung‘ in Lebenslagen sowohl von anderen Kreisen des Volkes als auch von anderen Ländern – notwendig verlorenging. Bevor jedoch dieser Spur nachgegangen werden soll, ist ein dritter Zusammenhang einzubeziehen, zu dem Wielands Darstellung der Zeitkürzungsspiele sich verhält. Auch dieser Zusammenhang wird in der SchachMonographie Wahls aufgerufen, wenn er das Schachspiel einen „schöne[n] Zeitvertreib“22 nennt. Die Würdigung des Schachs aus ästhetischen Gesichtspunkten verweist auf den zentralen Stellenwert des Spiel-Begriffs innerhalb der Kunstphilosophie des 18. Jahrhunderts, so wie er sich in den klassischen Formulierungen Kants und vor allem Schillers ausgeprägt hat. In der Kritik der Urteilskraft grenzt Kant in spiegelbildlichen Formulierungen Rhetorik und Dichtung voneinander ab. „Beredsamkeit“, so heißt es dort, „ist die Kunst, ein Geschäft des Verstandes als ein freies Spiel der Einbildungskraft zu betreiben“. Die Dichtung hingegen begreift er als die Kunst, „ein freies Spiel der Einbildungskraft als ein Geschäft des Verstandes auszuführen.“ Im einen Fall, dem der Rhetorik, wird der Verstand unter der Vorspiegelung, es ginge um seine Angelegenheiten, in ein bloßes „Spiel mit Ideen“ verstrickt: Die Beredsamkeit verspricht also per definitionem zu viel. Sie treibt ein Spiel zur Unzeit. Die Kunst hingegen „verspricht wenig“, denn sie „kündigt ein bloßes Spiel mit Ideen an“; dafür leistet sie es aber, dem Verstand eine Betätigung zu verschaffen und ihn so zu bereichern.23 Auf dem einen Wege verliert man nur Zeit, aber auf dem anderen, dem der Dichtung, erlebt man, wie es scheint, einen wahren und edlen Zeitvertreib. Doch Kant hatte zuvor noch eine andere Abgrenzung vorgenommen, die verdeutlicht, das er, im Unterschied zu Wieland, an ‚Zeitkürzungsspielen‘ kein sachliches Interesse hat. Diese Abgrenzung betrifft die sogenannten „[a]ngenehme[n] Künste, […] welche bloß zum Genusse abgezweckt werden“, etwa alle die Reize […], welche die Gesellschaft an einer Tafel vergnügen können: als unterhaltend zu erzählen, die Gesellschaft in freimütige und lebhafte Gesprächigkeit zu versetzen, durch Scherz und Lachen sie zu einem gewissen Tone der Lustigkeit zu stimmen, wo, wie man sagt, manches ins Gelag hinein geschwatzt werden kann […] weil es […] nicht auf einen bleibenden Stoff zum Nachdenken oder Nachsagen angelegt ist. […] Dazu gehören ferner alle Spiele, die weiter kein Interesse bei sich führen, als die Zeit unvermerkt verlaufen zu machen.24 22 Wahl: Der Geist und die Geschichte des Schach-Spiels, S. 19. 23 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M. 61983, § 51, S. 258f. 24 Ebd., § 44, S. 239f.
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Es gibt also für Kant zweierlei Spiel: jenes Spiel, das, als theoretische Abstraktion, die philosophische Ästhetik begrifflich bestimmt; und das ‚Gesellschaftsspiel‘, das ganz dem Augenblick der Unterhaltung verhaftet ist. Bei Kant „trennt sich das ästhetische Prinzip von der Empirie des Spiels“.25 Gerade die Empirie des Spiels aber ist es, die Wieland interessiert. Seine Aufmerksamkeit gilt den kulturellen Entstehungszusammenhängen von Spielen und ihrer Verbreitung, die sich in Übersetzungsbewegungen vollzieht. In den Formulierungen von Schiller, der in Anknüpfung an Kant sehr viel stärker als dieser die Idee des Spiels zugunsten einer für die Kunst und die Dichtung konstitutiven Autonomie exponiert, besteht hingegen eine größere Offenheit für die konkreten Formen, in denen ‚Befriedigungen‘ des „Spieltriebs“26 erfolgen. „Wenn man“, so Schiller, die Wettrennen in London, die Stiergefechte in Madrid, die Spectacles in dem ehemaligen Paris, die Gondelrennen in Venedig, die Tierhatzen in Wien, und das frohe schöne Leben des Korso in Rom gegeneinander hält, so kann es nicht schwer sein, den Geschmack dieser verschiedenen Völker gegeneinander zu nuancieren.27
Beobachtungen spielerischer Praktiken fördern demnach kulturelle Differenzen zutage, die sich als verschiedenartige ästhetische Dispositionen zu erkennen geben. Gerade diese Unterschiede ermöglichen allererst, was bei Schiller als eine nicht mehr rhetorisch belehrende, sondern ästhetisch beschaffene Erziehung verstanden wird. Die frühesten und elementarsten Formen solcher Diversität entdeckt Schiller, der seine Ästhetik auf das Fundament einer Trieblehre gestellt hat, allerdings nicht in kulturellen Zusammenhängen des Menschen, sondern in der Natur und vor allem im Tierreich: Wenn den Löwen kein Hunger nagt, und kein Raubtier zum Kampf herausfordert, so erschafft sich die müßige Stärke selbst einen Gegenstand; mit mutvollem Gebrüll erfüllt er die hallende Wüste, und in zwecklosem Aufwand genießt sich die üppige Kraft. Mit frohem Leben schwärmt das Insekt in dem Sonnenstrahl; auch ist es sicherlich nicht der Schrei der Begierde, den wir in dem melodischen Schlag des Singvogels hören. Unleugbar ist in diesen Bewegungen Freiheit, aber nicht Freiheit von dem Bedürfnis überhaupt, bloß von einem bestimmten, von einem äußern Bedürfnis. Das Tier arbeitet, wenn ein Mangel die Triebfeder seiner Tätigkeit ist, und es spielt, wenn der Reichtum der Kraft diese Triebfeder ist, wenn das überflüssige Leben sich selbst zur Tätigkeit stachelt.28
25 Matuschek: Literarische Spieltheorie, S. 193. 26 Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, in: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 8: Theoretische Schriften, hg. von Rolf-Peter Janz, Frankfurt a.M. 1992, S. 613. 27 Ebd. 28 Ebd., S. 668f.
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Von diesen Naturszenen des idyllischen Spiels, die zugleich „Vorspiel“29 eines „Unbegrenzten“, nämlich des Schönen sind, unterscheidet sich Wielands Ansatz in zweierlei Hinsicht. Erstens sind ‚Zeitkürzungsspiele‘, wie Wieland sie thematisiert, Surrogate; sie schöpfen nicht aus der Fülle. Sie entspringen nicht dem ‚Trieb‘ oder freiheitlichen Drang eines Überflusses, sondern sind in den historischen Momenten ihrer Entstehung durch eine bestimmte Lebenslage bedingt. Gerade dies entbindet sie aber, wie sich gezeigt hat, aus den normativen Polaritäten von Arbeit und Müßiggang, deren Entgegensetzungen bei Schiller bis ins Tierreich hinein verfolgt wird: Selbst das Tier arbeitet entweder oder spielt. Daher erstaunt es nicht, wenn Schiller schließlich nicht zögert, seine Idealvorstellung des Spiels, die im Zeichen der Freiheit von Bedürfnissen steht, einer Empirie des Spiels entgegenzusetzen, so dass etwa das „Chartenspiel“ im Unterschied zum „Trauerspiel“ den Namen des Spiels eigentlich nicht verdient: „Freilich dürfen wir uns hier nicht an die Spiele erinnern, die in dem wirklichen Leben im Gange sind, und die sich gewöhnlich nur auf sehr materielle Gegenstände richten“.30 Zweitens ist die spezifische Weise, in der sich bei Schiller die Arbeit mit der Ästhetik31 und beide wiederum mit der Erziehung verbinden, Wielands Interesse an Zeitkürzungsspielen durch ihre ‚biologische‘ Fundierung entgegengesetzt. In Wielands Aufsatz über die ältesten Zeitkürzungsspiele haben Betrachtungen über die Spiele von Tieren nicht den geringsten Platz. Der Grund dafür lässt sich sehr einfach benennen: Tierische Spiele werden nicht übersetzt. Der Löwe brüllt ‚mutvoll‘, und die Insekten ‚schwärmen‘, aber alles hält sich getrennt; denn das ist ja gerade Natur: dass der eine nicht die Spiele der anderen übernimmt, ja dass allein schon der Versuch undenkbar wäre. Die Übernahme von Spielen, das heißt ihre verändernde, kulturell umformende Weiterverbreitung ist aber genau das, was Wieland interessiert. Von den ältesten Zeitkürzungsspielen, so zeigt er, wissen wir nur durch Übersetzungen. Nur weil das Schach bis zu uns gelangt ist – in unser Land und in unsere Zeit – wissen wir von diesem morgenländischen Königsspiel. Es sind die Wege des Schachspiels, die Spuren, die es in verschiedensprachigen Namen und in Anekdoten hinterlassen hat, denen Wielands Aufmerksamkeit gilt. Damit aber entzieht sich Wielands Erörterung des Spiels jenem Bereich, den Schiller als Ästhetik definiert. Das Spiel ist für Wieland keine ästhetische Kategorie. Das Problem der Übersetzung, das ihn so sehr interessiert, bedeutet vielmehr eine beharrliche Herausforde29 Ebd. 30 Ebd., S. 613; zum Vergleich von Karten- und Trauerspiel vgl. ebd., Fn. 8. 31 Vgl. dazu Schäfer: Arbeit, Muße, Faulheit, Ästhetik.
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rung für die ästhetische Autonomie, wie Kant und Schiller sie unter Berufung auf das Spiel propagieren. Wielands im strengen Sinne des Wortes anästhetische Auffassung des Spiels – schließlich geht es darum, die Zeit zu verkürzen, sie nicht mehr wahrzunehmen – ist vor allem auch deshalb bemerkenswert, weil sich sein eigener Text zum Spiel solidarisch verhält. Was ist das für ein Schreiben, das nicht mehr einfach nützlich oder belehrend sein will, aber auch nicht ästhetisch? Was ist das für ein Schreiben, das das Spiel bejaht, aber damit keinen Hedonismus verbindet?32 Was ist das für ein Schreiben, das sich ganz ins Zeichen der Übersetzung stellt? Mit den Weimarer ‚Klassikern‘ hat es vielleicht, bei aller räumlichen Nähe, vergleichsweise wenig zu tun, denn deren Motto lautet: „Man sagt immer, die Lebenszeit ist kurz; allein der Mensch kann viel leisten, wenn er sie recht zu benützen weiß. Ich habe keinen Tabak geraucht, nicht Schach gespielt, kurz, nichts betrieben, was die Zeit rauben könnte.“33 III. „Eine Geschichte, die nicht zur Geschichte gehört“: Anekdota (geheime Geschichte) Im Aufsatz „Ueber die ältesten Zeitkürzungsspiele“ ist es vor allem die Form der Anekdote, die die Beschaffenheit von Wielands Schreiben hervortreten lässt (von der Bezeichnung ‚Anekdote‘ macht er vielfach Gebrauch34). Einer ihrer Wesenszüge ist es, zu unterhalten, und wenn ihr dies gelänge, „ohne weiter zu schaden“ – so heißt es in einem kurzen Beitrag in Wielands Teutschem Merkur von 1784, der „den Werth der Anekdoten“ untersucht – so wären sie schon allein dadurch gerechtfertigt.35 Darüber hinaus aber, so fährt der Text von A. C. Kayser fort, sind Anekdoten durch eine Besonderheit gekennzeichnet, welche sie zu Leistungen befähigt, die über die „Unterhaltung“ hinausgehen. Anekdoten „zeichnen uns keine Gegenstände der idealischen Welt“, wie dies etwa bei „Feenmährchen“ der Fall ist, und sie sind auch nicht nur, wie seit Aristoteles von der Dichtung verlangt, ‚wahrscheinlich‘ – sondern sie „erzählen von wirklichen, und
32 Vgl. dazu Thomas Anz: Literatur als Spiel, in: ders.: Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen, München 2002, S. 33–76. 33 Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, in 40 Bde., hg. von Dorothea Schäfer-Weiss, Frankfurt a.M. 1999, II. Abteilung, Bd. 9, S. 279f. (Gesprächsnotiz von Joseph Sebastian Grüner vom 21.8.1822). 34 Vgl. Wieland: Über die ältesten Zeitkürzungsspiele, S. 98, 112, 113, 114, 124, 125, 126. 35 A.C. Kayser: Ueber den Werth der Anekdoten, in: Der Teutsche Merkur, 1784, Viertelj. 2, S. 82–86, hier: S. 82.
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wenn sie öffentlich gedruckt werden, von wichtigen Personen“.36 Demnach erhalten Anekdoten nicht zuletzt dadurch Geltung, dass sie Einsichten in reale ‚Charaktere‘ ermöglichen. Die Weise, wie sie auf Wirklichkeit Bezug nehmen, zeichnet sie vor anderen, erdichteten Erzählungen aus und nähert sie zugleich den spezifischen Bedingungen des Zeitschriftenmarktes im 18. Jahrhundert an.37 Ein ganzes Dutzend Anekdoten (S. 103–126) werden von Wieland allein über das Schachspiel erzählt (eine dreizehnte Geschichte nicht mitgerechnet, die sich auf das römische Soldatenspiel bezieht, auf die Wieland in einer Fußnote aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit Schach-Anekdoten verweist). In jeder dieser Erzählungen rücken „wichtige[] Personen“ in den Blick, deren eigentümlicher Umgang mit dem Schachspiel nicht nur ihren Charakter, sondern zugleich auch die Geschichte des Spiels offenbart, die unscheinbar oder verborgen neben der Geschichte der großen politischen und kriegerischen Ereignisse verläuft oder sich unbemerkt mit ihr überkreuzt: Von dem Kalifen Al-Amir, dem sechsten unter den Abbassiden, erzählt der Geschichtschreiber Elmakin eine Anekdote, die für einen sehr heroischen Beweis seiner Leidenschaft für dieses Spiel gelten kann. Er spielte eben im Innersten seines Palastes mit seinem Liebling Kuter Schach, da einer von seinen Dienern ihn erinnerte, daß es Zeit wäre seine Aufmerksamkeit wichtigern Angelegenheiten zu widmen; denn die Feinde, welche Bagdad seit geraumer Zeit belagerten, wären im Begriffe sich von der Stadt Meister zu machen. – „Gut, ich komme ja, sagte der Kalif zu dem Officier, laß mich nur erst Kutern matt machen.“ (S. 112)
Es scheint, als würde der Kalif von der Geschichte gerufen; doch bleibt er einer anderen Geschichte, einem anderen Schauplatz, dem Bemühen um den Ausgang eines anderen Geschehens zugewandt. Damit hätte er also das, was man für die historische Wirklichkeit hält, verfehlt. Und doch ist gerade diese Orientierung, die der Kalif in seiner Hingabe an das Schachspiel wählt, Gegenstand des Erzählens. Das heißt: Indem sich die Anekdote auf das Spiel bezieht, eröffnet sie nachdrücklich die Möglichkeit einer zweiten Realität. Daraus ergeben sich für die Einschätzung der Anekdote Komplikationen, von denen Kayser in seinem von Wieland im Teutschen Merkur veröffentlichten Aufsatz noch kaum etwas ahnt. Für Kayser sind mit Anekdoten, sofern er sie als problematisch befindet, vor allem Gefahren des Irrtums und der Täuschung verbunden, und zwar dort, wo der Eindruck entsteht, eine Anekdote könnte die wahre Natur einer Persönlichkeit zur Anschauung bringen. „Auch ein Wüthrich kann nach einem Freuden36 Ebd. 37 Vgl. Sonja Hilzinger: Anekdotisches Erzählen im Zeitalter der Aufklärung. Zum Struktur- und Funktionswandel der Gattung Anekdote in Historiographie, Publizistik und Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1997.
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mahle am wallenden Busen einer reitzenden Buhlerin gütig und gerecht seyn. Ist er darum tugendhaft?“38 Die Anekdoten, die man sich von Menschen erzählt, müssten also auf ihre außergewöhnlichen Umstände hin überprüft werden, die ihren Aussagewert zu reduzieren drohen. Im Zeichen einer solchen Sorge um ihre referentielle Funktion und um die falsche Überzeugungskraft, die sie durch ihre Behauptung von Wirklichkeit entfalten39, geraten die Anekdoten bei Kayser noch zum Gegenteil jener ästhetischen Autonomie, die sie um 1800 in den Reflexionen der Romantiker entfalten. Für Friedrich Schlegel kann die Gattung der Anekdote gerade aufgrund ihrer Referenz auf die Historie eine eigentümliche poetische Prägung gewinnen, durch die sie Unabhängigkeit von der Geschichte erhält: Sie ist, so schreibt er anlässlich von Boccaccio, eine noch unbekannte Geschichte, so erzählt, wie man sie in Gesellschaft erzählen würde, eine Geschichte, die an und für sich schon einzeln interessieren können muß, ohne irgend auf den Zusammenhang der Nationen oder der Zeiten […] zu sehen. Eine Geschichte also, die streng genommen nicht zur Geschichte gehört, und die Anlage zur Ironie schon in der Geburtsstunde mit auf die Welt bringt.40
Schlegel verweist hier zunächst auf die Etymologie des Wortes Anekdote, von griech. an-ekdidomi = $ " ! &μ!, zu übersetzen ungefähr mit ‚nicht herausgegeben‘, ‚das Nicht-Herausgegebene‘.41 Der Begriff der Anekdota, der gewöhnlich auch als ‚geheime Geschichte‘ (historia arcana) übersetzt wird, hat schon in Wielands Beyträgen zur geheimen Geschichte der Menschheit (1769–77) einen programmatischen, titelgebenden Status.42 Für Schlegel kann die „Kunst des Erzählens“, die die Anekdote begründet, in zweierlei Weise zugespitzt werden: indem der Erzähler „mit einem an38 Kayser: Ueber den Werth der Anekdoten, S. 83. 39 Für den hartnäckigen Glauben der Menschen an übersinnliche Tatbestände findet sich bei Wieland etwa die folgende Erläuterung: „[A]lles was einer Anekdote aus der Geisterwelt ähnlich sieht, und die Wirklichkeit dieser fantastischen Wesen zu bestätigen […] scheint, wird den meisten immer willkommen seyn.“ (Christoph Martin Wieland: Über den Hang der Menschen an Magie und Geistererscheinungen zu glauben, in: SW, Bd. 24, S. 71–92, hier: S. 73f. 40 Friedrich Schlegel: Nachricht von den poetischen Werken des Johannes Boccaccio, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. von Hans Eichner, Bd. 2, Abt. 1: Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801), München u.a. 1967, S. 371–396, hier: S. 394. 41 Heinz Grothe: Anekdote, Stuttgart 21984, S. 7. 42 Vgl. Walter Erhart: Poetik der „geheimen“ Geschichte, in: ders.: Entzweiung und Selbstaufklärung. Christoph Martin Wielands „Agathon“-Projekt, Tübingen 1991, S. 226–242: „‚Geheime Geschichten‘ konstituieren immer eine doppelte Geschichte, eine Spaltung und Verdoppelung des Textes zugleich: Gegenüber einem offiziellen oder öffentlichen Text wird eine darunter verborgene ‚geheime Geschichte‘ zum Vorschein gebracht“ (S. 239).
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genehmen Nichts, mit einer Anekdote, die genau genommen, auch nicht einmal eine Anekdote wäre, […] zu unterhalten […] weiß“; oder indem der Erzähler „bekannte Geschichten durch die Art, wie er sie erzählt und vielleicht umbildet, in neue zu verwandeln scheine“.43 In dem Maße also, in dem die ‚unbekannte Geschichte‘, als welche die Anekdote erscheint, ein Nichts oder etwas Bekanntes enthält, ist sie ironischerweise poetisch. Sie ist poetisch, weil sie das Erzählen als eine Kunst der fingierten Bezugnahme auf Reales entfaltet, ohne auf das von außen kommende Interessante, Wirkliche angewiesen zu sein. Altes oder sogar Nichtiges umbildend, umwandelnd kokettiert sie mit dem Neuen, das als noch unbekannt erscheint. Im ersten seiner Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit, in der „mexikanischen Geschichte“ von „Koxkox und Kikequetzel“, kündigt Wieland die Erzählung einer „interessanten Begebenheit“ an, „welche der Leser, wofern er noch nicht eingeschlafen ist, […] mit allen Grazien der Neuheit, deren eine so alte Geschichte nur immer fähig ist, beschrieben finden wird“.44 Auch bei Wieland also gibt es die angeborene Ironie des Anekdotischen, die „Neuheit“ dessen, was ein hohes Alter hat, jene ‚Umwandlung‘, in der sich das Erzählen vom Erzählten bewusst abgelöst zeigt. Nicht zuletzt sein Aufsatz über die Zeitkürzungsspiele ist von dieser Ironie geprägt. Aber sie muss gleichwohl von jener Auffassung des Poetischen abgegrenzt werden, wie sie später nicht nur bei Schlegel, sondern auch bei Novalis in der Anekdote ein prägnantes Anschauungsmaterial gefunden hat. Obwohl Wieland in seinem Essay über die Zeitkürzungsspiele eine andere, eine ‚vertriebene‘ Zeit der Geschichte anvisiert, ist er von einer romantischen Ästhetisierung der Historie weit entfernt. „Geschichte ist eine große Anekdote“, schreibt dagegen Novalis 1798. „Eine Anekdote ist ein historisches Element – ein historisches Molecule“. Daraus gewinnt er, Schlegels ironischem Geschichtsbegriff vorgreifend, eine doppelte Klassifikation. Eine große Classe von Anecdoten sind diejenigen, die eine menschliche Eigenschaft auf eine merckwürdige, auffallende Weise zeigen […] eine Gallerie mannichfaltiger, menschlicher Handlungen – eine Caracteristik der Menschheit. Sie sind Anekdoten zur Wissenschaft d[es] Menschen und also didaktisch. Eine andere große Classe begreift diejenigen, die Effect hervorbringen, unsre Einbildungskraft angenehm beschäftigen sollen. Sie sind vielleicht überhaupt poëtische Anekdoten zu nennen, wenn auch nur die Wenigsten schöne (absolute) Poësie sind –
43 Schlegel: Nachricht von den poetischen Werken des Johannes Boccaccio, S. 394f. 44 Christoph Martin Wieland: Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit, in: SW, Bd. 14, S. 7.
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So hätten wir also 2 Hauptklassen – Caracteristische – und poëtische Anecdoten. […] Beyde können vermischt seyn – und sollten es gewissermaßen seyn. Je poëtischer die caracteristischen Anecdoten sind, desto besser. Umgekehrt sind alle poëtische Anecdoten – wenigstens, als Kunstwerke, und poëtischer Stoff, in Beziehung auf Poëtik – oder die Wissenschaft von der Poësie, karacteristisch. […] Karacteristische Anecdoten beziehn sich auf einen interressanten Gegenstand – sie haben nur ein fremdes Interresse – die rein poëtische Anecdote bezieht sich auf sich selbst – Sie interressirt um ihrer selbst willen. Mathematische Anekdote vom Schachspiel.45
Die „mathematische“ Anekdote, auf die Novalis hier rekurriert, wird von Wieland ausführlich erzählt.46 Es handelt sich um die bekannte Geschichte von dem leichtfertig eingegangenen Versprechen des Königs von Indien, für das erste Feld des Schachbretts zwei Getreidekörner, für das zweite vier usw. bis zur 64. Potenz zu geben, das sich als unerfüllbar erweist. Die belehrende Funktion der Anekdote ist mehr als deutlich, aber für Novalis kann sie gleichwohl zu den „poëtische[n] Anecdoten“ zählen, ja ist als beispielhaft für diese „Classe“ von Geschichten anzusehen. ‚Charakteristisch‘ und also ‚belehrend‘ ist sie bezüglich der Poesie höchstselbst, „in Beziehung auf Poëtik“ – indem sie das formale mathematische Kalkül mit der Anschaulichkeit des Erzählens zur ästhetischen Erfahrung von Unermesslichkeit verbindet.47 Der „Gegenstand“, für den die Anekdote sich interessiert, liegt dabei allein in ihr selbst, nicht in der Welt; das „historische Molecule“ hat sich verselbständigt. Für Wieland hingegen ist die Anekdote weder einfach „didaktisch“ noch „schöne (absolute) Poesie“, und sie ist auch keine Vermischung von beidem. Vielmehr bildet sie die Form, in der Prozesse der Überlieferung zur Erzählgattung werden. Dabei geht es Wieland nicht einfach nur um die Einsicht, dass Tradierung sich im Erzählen von Geschichten vollzieht. Der Sachverhalt, um den es sich handelt, ist grundlegender und komplizierter: Es zeigt sich bei Wieland, dass Überlieferung in der Zweideutigkeit der Anekdote, in ihrer Ironie – das heißt in der Kluft zwischen dem Realen und dem Poetischen, die von der Anekdote umschlossen wird – ein konstitutives Modell gewinnt: das Ineinander von Erinnern und Ersetzen, das als Übersetzen bezeichnet werden könnte.
45 Novalis: Anekdoten, in: Novalis, hg. von Hans-Joachim Mähl, Bd. 2: Das philosophisch-theoretische Werk, München/Wien 1978, S. 355–358. 46 Wieland: Über die ältesten Zeitkürzungsspiele, S. 106ff. Vgl. auch Wahl: Der Geist und die Geschichte des Schach-Spiels, S. 130–137. 47 Zur Relevanz der Mathematik für die Vorstellung einer ‚höheren Anschaulichkeit‘ des Poetischen um 1800 vgl. Thomas Glaser: Grundrisse der Verständlichkeit. Physikalische, anthropologische und mathematische Modellierungen ästhetischer Mitteilung 1790–1805 (Kant, Schiller, F. Schlegel, Novalis), Diss. Erfurt 2010.
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Die Anekdoten reichen weiter zurück als die Namen. So jedenfalls, hebt Wieland hervor, ist es beim Schachspiel. Anhand der Namen, die dem Schachspiel gegeben worden sind, lassen sich die Spuren seiner Verbreitung zurückverfolgen, doch man gelangt so nicht bis zu seinem Ursprung. „Ich finde nicht, wie dieses Spiel in Indien und von seinem Erfinder genannt worden sey.“ (S. 109) Nachrichten über die Erfindung des Spiels geben vor allem die Anekdoten. Sie verbinden sich mit den Überlieferungen aus späterer Zeit, die dem Schachspiel in anderen kulturellen Kontexten seine verschiedenen Bezeichnungen verleihen: Als es nach Persien kam, erhielt es daselbst den Namen Schatreng, oder Schatrangschi, das Königsspiel; und diesen Nahmen behielt es auch bey den Arabern, durch welche es vermuthlich in den mittleren Zeiten zu den Spaniern gekommen, die es Xadrang, oder auch mit dem Arabischen Artikel AlXadres und Axadres nennen. Die Griechen, die es vermuthlich erst von den Arabern, vielleicht in den Zeiten der Kalifen zu Bagdad, kennen lernten, nannten es Zatrikion, die Franzosen le Jeu des Echecs, die Deutschen das Schachspiel, (jene von dem Arabischen Schek oder Scheik, diese von dem Persischen Schah oder Schach) die neuern Lateiner Ludum Scachorum, und die Italiäner Scacchi. (S. 109f.)
Die sprachliche Bewegung, die Wieland hier nachvollzieht, ist zweifach bestimmt. „Schatrangschi, das Königsspiel“: Dies bezeichnet einen Vorgang der Übersetzung. Wenn Wieland jedoch die Beziehungen des französischen Ausdrucks für das Schachspiel zum Arabischen und die des deutschen Wortes zum Persischen thematisiert, so geht es um Vorgänge der Entlehnung, durch die Worte von einer Sprache in eine andere übernommen werden. Die Auffassungen dieser beiden Prozesse, wie Wieland sei bei älteren Autoren vorfindet, unterliegen der philologischen Kritik. Handelt es sich, so Wieland, tatsächlich um eine richtige Übersetzung, wenn „unsre neuern Lateiner das Schachspiel ludum latrunculorum [Soldatenspiel] zu nennen pflegen“, obwohl doch die alten Römer unter dem gleichen Namen ein ganz anderes Spiel gekannt haben (S. 102)?48 Und wenn dieses Soldatenspiel der Römer tatsächlich, wie der englische Orientalist (und Begründer der „Schachgeschichtsforschung“49) Thomas Hyde50 behauptet, mit dem heutigen Damespiel verwandt ist, wie erklärt sich wie48 Vgl. auch Wieland: Über die ältesten Zeitkürzungsspiele, S. 127: „[W]ie beynahe alle neuere Filologen sich so fest haben in den Kopf setzen können, die dem Palamedes (wiewohl ohne Grund) zugeschriebene Petteia der Griechen (das oben beschriebene Kegelspiel der Homerischen Freyer) und den ludum latrunculorum der Römer mit dem morgenländischen Schachspiele zu vermengen, würde unbegreiflich seyn, wenn man nicht wüßte, daß ein einziger Mann wie Saumaise Ansehen genug hatte, hundert andre auf sein bloßes Wort irre zu führen.“ 49 Joachim Petzold: Das königliche Spiel. Die Kulturgeschichte des Schach, Leipzig 1987, S. 11. 50 Thomas Hyde: De ludis orientalium, 2 Bde., Oxford 1694.
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derum die Bezeichnung ‚Damespiel‘ – „ist es mit dem Griechischen Worte μ !$ einerley Ursprungs“? (S. 136f.) Die unterschiedlichen Überlieferungsvorgänge der Übersetzung und Entlehnung von Worten verweisen auf Beziehungen zwischen verschiedenen Sprachräumen und sind insofern Gegenstände der Philologie; dabei darf jedoch die Frage der Geltung von Bezeichnungen in gegebenen kulturellen Kontexten niemals mit der Frage der Herkunft von Bezeichnungen aus älteren Sprachzusammenhängen vermengt werden. Wenn die neueren Lateiner vom ludum latrunculorum sprechen, so mögen sie historisch im Unrecht sein; aber in jedem Fall ist von ihnen das Schachspiel gemeint. Wieland bezieht die literarischen Überlieferungen, und namentlich die Anekdoten, in diese philologischen Umgangsformen mit ein. Wenn arabische Autoren, so Wieland, „die Geschichte der Erfindung des Schachspiels“ in Indien erzählen, dann muss man „gestehen, wenn es gleich nur ein Mährchen sein sollte, so ist es wenigstens gut erfunden, und die ganze Beschaffenheit dieses edeln Spieles stimmt aufs vollkommenste mit dem Zweck überein, der dem Erfinder beygelegt wird“ (S. 106). Die Stimmigkeit oder ‚Wahrheit‘ einer Anekdote, ihre Praktikabilität, das heißt ihre Übereinstimmung mit einem ‚Zweck‘, hängt nicht von ihrer Wirklichkeitstreue ab, sondern sie ergibt sich aus der internen Plausibilität des Zusammenhangs der Erzählung. Die Anekdote ist jene narrative Form, die kraft ihrer konstitutiven referentiellen Funktion noch im Modus der Fiktion als ein Substrat kultureller Überlieferung, als die Spur einer ‚geheimen Geschichte‘ fungieren kann. Im Wissen um den unüberbrückbaren Abstand, der sie von ihren Objekten, die einer anderen Zeit, einer anderen Kultur, einer anderen Sprache entstammen, notwendig trennt, werden die Anekdoten selbst entlehnt und übersetzt; und ohne je für sich selbst stehen und sich ihres alten Gegenstandsbezuges entledigen zu können, treten sie in neue Funktions- und Bedeutungszusammenhänge ein. Diese Konstellation von ‚alt‘ und ‚neu‘, die die Anekdote nicht, wie etwa bei Schlegel, in die autonome Sphäre des Ästhetischen versetzt, sondern die sie als eine Bewegung der Entlehnung und Übersetzung mit den Kriterien historisch-philologischer Kritik in eine heteronome Verbindung bringt, teilt das anekdotische Erzählen mit dem Spiel. Das Schachspiel, schreibt Wieland, ist ein „morgenländisches Spiel“ (S. 103). Es ist ein Spiel, so insistiert er, „in dem alles morgenländisch ist“ (S. 110). Dennoch konnte es, als Spiel, nachhaltig in die abendländischen Kulturen eingeführt werden. Der Abstand, ja der begrifflich angezeigte Gegensatz zwischen ‚Orient‘ und ‚Okzident‘ wird mit der Weiterverbreitung des Spiels übersprungen, ohne überwunden oder auch nur relativiert zu werden. Wie die Anekdote, die oft einem „Mährchen sehr ähnlich sieht“ (S. 125) und doch zugleich einen Bezug zum wirklich Gewesenen herstellt, und die demnach
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eine Kluft umschließt, in dem das Einst, das sie darstellen will, von dem Jetzt, in dem sie Vergnügen bereitet, getrennt bleibt, so impliziert auch das Spiel einen Abstand zweier Zeitlichkeiten: zwischen der Aktualität des Spielverlaufs, das heißt dem Zeitvertreib, und der ‚geheimen Geschichte‘ früherer Zeiten. So ergibt sich in Wielands Aufsatz über die Zeitkürzungsspiele eine streng motivierte dreiwertige Relation zwischen 1. dem Spiel, das unterhält, indem es den Ausstieg aus der historischen Zeit ermöglicht; 2. der Anekdote, die, aus der ‚Wirklichkeit‘ kommend, Vergnügen bereitet; und 3. der Übersetzung, die sich auf eine andere Sprache bezieht und diese zugleich ersetzt. Spiel, Anekdote und Übersetzung kürzen die Zeit, indem sie eine Wendung von Diachronie in Synchronie betreiben. Vielleicht ist es kein Zufall, dass später Ferdinand de Saussure zur Erläuterung des Unterschieds von Diachronie und Synchronie ausgerechnet einen Vergleich mit dem Schachspiel bemüht hat. „Eine Partie Schach“, so sagt er, „ist gleichsam die künstliche Verwirklichung dessen, was die Sprache in ihrer natürlichen Form darstellt“.51 Ein einzelner Spielzug verändert die gesamte Konstellation auf dem Schachbrett – eine Veränderung, mit der es eine sehr eigentümliche Bewandtnis hat. Bei einer Partie Schach hat jede beliebige Stellung die Besonderheit, daß sie von den vorausgehenden Stellungen völlig losgelöst ist; es ist ganz gleichgültig, ob man auf diesem oder jenem Wege zu ihr gelangt ist; derjenige, der die ganze Partie mit angesehen hat, hat nicht den leisesten Vorteil vor dem, der neugierig hinzukommt, um im kritischen Moment die Stellung auf dem Schachbrett zu überblicken; um diese Stellung zu beschreiben, ist es ganz unnütz, zu berichten, was auch nur zehn Sekunden vorher sich abgespielt hat.52
Das Schachspiel und die Sprache gleichen sich, insofern beide, als ein Gefüge von Regeln betrachtet, in jedem ihrer systemischen Zustände gänzlich abgelöst von früheren Zuständen gültig und doch vollkommen von diesen determiniert sind. Jede Schachpartie ist, so gesehen, ein Musterbeispiel der Ahistorizität, und sie hat zugleich eine Geschichte. Jedes Versetzen einer Figur ist eine Übersetzung, ist die Herstellung einer anderen Konstellation in einer Gesamtheit von Werten; und sie ist anekdotisch – sie ist ‚kurzweilig‘ und charakteristisch für den Spieler und für das Spiel. Die Kohäsion von Spiel, anekdotischem Erzählen und Übersetzen, die sich bei Wieland beobachten lässt, verdeutlicht zugleich einen eigenen geschichtlichen Ort. Weder das Spiel noch die Anekdote verweisen bei Wieland auf eine Eigengesetzlichkeit der Poesie, wie es um 1800, nicht nur bei Schlegel und Novalis, der Fall sein wird. Es spricht vieles dafür, dass Wielands zentraler Terminus statt der Poesie die Übersetzung ist. Von daher 51 Ferdinand de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin 2 1967, S. 105. 52 Ebd., S. 105f.
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lässt sich die dialogische Struktur vieler seiner Schriften53 erhellen, und auch ihre intertextuelle Beschaffenheit; sowie die zahlreichen Fußnoten, die seine Texte begleiten, und die als historisch-philologischer Anmerkungsapparat selbst noch in Wielands Übersetzungsarbeiten präsent sind, um die Illusion der Geschlossenheit poetischer Werke gar nicht erst zu evozieren. IV. Schläfrigkeit: Der Leser als Souverän Das Vertreiben von Zeit kann auch der Zeit bis zum Einschlafen gelten. Die Prinzessin Anna Komnena etwa, so weiß Wieland zu berichten, erzählt von ihrem Vater, dem Kaiser Alexius, „daß er gewohnt gewesen sey, wenn er des Nachts nicht schlafen konnte, mit einem seiner nächsten Verwandten Schach zu spielen“. Dadurch sei es ihm gelungen, eine gegen ihn gerichtete Verschwörung zu vereiteln (S. 111). Dass er wach geblieben ist, hat dem Kaiser also sein Leben gerettet – aber dies kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass er normalerweise gerade durch sein Einschlafen seine Souveränität zu sichern vermag. Wem sonst stünde es zu, einzuschlafen, während ihm jemand die Zeit vertreibt? Dies ist, von Kindern abgesehen, das alleinige Recht des Souveräns; und nie wird der literarische Text deutlicher an seine Heteronomie erinnert als aus Anlass solcher Schläfrigkeit. Der souveräne Schlaf des Lesers oder Zuhörers ist gerecht; er konfrontiert das Spiel der Literatur mit einer Grenze, die es nicht überwinden kann, und die ihm durch die Gesetze der Physis gesteckt wird. Es geht um die Gewährleistung und Aufrechterhaltung eines Kontakts, das heißt um jene Komponente der Rede, die nach Jakobson die phatische Funktion bedingt, welche „dem bloßen Zweck [dient], Kommunikation zu verlängern“.54 Bei Wieland müsste die Literatur daher in erster Linie nicht über Träume verfügen können (wie später die Literatur der Romantiker55), sondern über den Schlaf – was sie jedoch nicht vermag. Wieland hat darüber einen ganzen Roman verfasst. Der goldne Spiegel (1772, in einer überarbeiteten Fassung in den Sämmtlichen Werken 1794) erzählt von den Bemühungen des „philosophischen Zeitvertreibers“56 Danischmend, der am Bette des Schach-Gebal, des Herrschers von In53 Bernhard Budde: Aufklärung als Dialog. Wielands antithetische Prosa, Tübingen 2000. 54 Roman Jakobson: Linguistik und Poetik, in: ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971, Frankfurt a.M. 1979, S. 83–121, hier: S. 91. 55 Friedrich Kittler: Lullaby of Birdland, in: ders.: Dichter – Mutter – Kind, München 1991, S. 103–118. 56 Budde: Aufklärung als Dialog, S. 187.
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dostan, erbauliche Gedanken zu äußern hat, um diesem beim Einschlafen behilflich zu sein. Wenn Schach-Gebal dreimal gähnt, dann hat er seine Schuldigkeit getan und darf gehen. Doch mit dieser Aufgabe allein gibt sich Danischmend nicht zufrieden. Seine Rede ist überaus ambitioniert: Er erzählt die Geschichte der Könige von Scheschian – nicht etwa nur, um die „schlafsüchtige Einbildungskraft“57 seines Herrn zu befriedigen, sondern um ihn mit Hilfe „didaktische[r] Exempel guten und schlechten Fürstenbrauchs“58 zu erziehen und ihm zu einer besseren Auffassung seiner Macht und seiner Verantwortung zu verhelfen. In zahllosen Nächten – der Sultan ist ein Nachfahre jenes Fürsten, der sich einst von den Geschichten Scheherazades hat bestricken lassen – liefert er einen Staatsroman ab, der (ganz nach dem Wunsch seines Herrn, der keinerlei Märchen und Erdichtungen mehr hören mag59) nur mit den Handlungen und Unterlassungen der Regierenden von Scheschian befasst ist und daran Reflexionen über Prinzipien einer weisen Regentschaft knüpft.60 Der Erfolg, den der Philosoph mit seinen Vorträgen erzielt, ist für ihn immer wieder verblüffend: Danischmend war, wie wir sehen, in einer vortrefflichen Stimmung, den Königen Moral zu predigen; aber zum Unglück ermangelten seine Predigten niemahls, den Sultan seinen Herrn einzuschläfern. Der gute Doktor wollte eben einen neuen Anlauf nehmen, als er gewahr wurde, daß seine Zuhörer, jeder in einer eigenen Stellung, in tiefem Schlummer lagen. Daß doch meine Moral immer und allezeit eine so narkotische Kraft hat! sprach er zu sich selbst; ich begreife nichts davon. Einer von den Zauberern, meinen Feinden, muß die Hand im Spiele haben: es ist nicht anders möglich.61
Der goldne Spiegel macht die Gegenprobe auf das Prinzip jener Zeitkürzungsspiele, von denen Wieland in seinem Aufsatz berichtet hat. Von Spielen ist im Roman nicht die Rede, und von dem Philosophen Danischmend 57 Christoph Martin Wieland: Der goldne Spiegel oder Die Könige von Scheschian. Eine wahre Geschichte aus dem Scheschianischen übersetzt. Erster Theil, in: SW, Bd. 6, S. 194. 58 Helge Jordheim: Der Staatsroman im Werk Wielands und Jean Pauls. Gattungsverhandlungen zwischen Poetologie und Politik, Tübingen 2007, S. 154. 59 Wieland: Der goldne Spiegel. Erster Theil, SW, Bd. 6, S. 29: „Er erklärte sich, daß er keine Erzählungen wolle, wofern sie nicht, ohne darum weniger unterhaltend zu seyn, sittlich und anständig wären: auch verlangte er daß sie wahr und aus beglaubigten Urkunden gezogen seyn, und (was er für eine wesentliche Eigenschaft der Glaubwürdigkeit hielt) daß sie nichts Wunderbares enthalten sollten; denn davon war er jederzeit ein erklärter Feind gewesen.“ 60 Zur Konvergenz von ‚Romanform‘ und ‚Staatsform‘ bei Wieland vgl. Joseph Vogl: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, München 2002, S. 207–222. 61 Christoph Martin Wieland: Der goldne Spiegel oder Die Könige von Scheschian. Eine wahre Geschichte aus dem Scheschianischen übersetzt. Zweiter Theil, in: SW, Bd. 7, S. 115.
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wird darin keine einzige Anekdote zum Besten gegeben. Die einzige kürzere und in sich geschlossene Geschichte, die der Philosoph zu erzählen weiß, berichtet von den „Kindern der Natur“, der Utopie einer menschlichen Gemeinschaft, die, abgeschieden von der übrigen Zivilisation, menschliche Bedürfnisse und menschliche Pflichten harmonisch in Einklang zu bringen weiß62 – eine Geschichte, die zwar kurz und in gewissem Sinne eine ‚geheime Geschichte‘, jedoch per definitionem nicht anekdotisch ist, weil sie keinerlei realhistorischen Bezug in Anspruch nimmt. Kurzweilig wird die Rede des Danischmend paradoxerweise allein durch das Gähnen seines Herrn. Nur mittels der Unterbrechungen der langatmigen Rede durch die Zeichen der Schläfrigkeit des Souveräns unterteilt sich der Roman – wenn schon nicht in Geschichten, so wenigstens in Kapitel. Während seinerzeit Scheherazade sich immer selbst unterbrach, um die Spannung bis zur nächsten Nacht aufrechtzuerhalten, findet Danischmend niemals von selber ein Ende, sondern es dauert, bis der müde Körper des Königs sich meldet. Auch der König ist ein Mensch mit Bedürfnissen, mit denen der Roman, ob er will oder nicht, zu rechnen hat; und im Zeichen dieser Bedürfnisse wird der Roman zum Surrogat, zum Spiel.63 Doch ist Schach-Gebal – „ein Feind von allem, was anhaltende Aufmerksamkeit und Anstrengung des Geistes erforderte“64 – in seiner ostentativen Unbelehrbarkeit nicht die einzige Instanz, die die Rede des Philosophen und zugleich Geschichtsschreibers der Könige von Scheschian zäsuriert. Der Roman stellt sich insgesamt als eine Kaskade von Übersetzungen dar, die in der Einleitung des „gegenwärtige[n] Herausgebers“ der Schrift folgendermaßen skizziert wird: [Man kam] auf den Einfall, aus den merkwürdigen Begebenheiten eines ehemaligen benachbarten Reiches eine Art von Geschichtsbuch verfertigen zu lassen […] [S]o kam in kurzer Zeit dieses gegenwärtige Werk zu Stande, welches Hiang-FuTsee, ein wenig bekannter Schriftsteller, in den letzten Jahren des Kaisers Tai-Tsu, unter dem Nahmen des goldnen Spiegels ins Sinesische, – der ehrwürdige Vater
62 Wieland: Der goldne Spiegel. Erster Theil, SW, Bd. 6, S. 74–137. Vgl. dazu Christine Weder: Poesie als/statt Polizei. Zum Verhältnis von Sexualität und Gesetz in Wielands „Goldnem Spiegel“ und im polizeiwissenschaftlichen Kontext, in: Sexualität – Recht – Leben. Die Entstehung eines Dispositivs um 1800, hg. von Maximilian Bergengruen/Johannes F. Lehmann/Hubert Thüring, München 2005, S. 217–235. Zu utopischen Diskursen in Wielands Roman vgl. auch den Beitrag von Wilhelm Voßkamp im vorliegenden Band. 63 Im müden Körper des Königs bekundet sich hier eine „politische Anthropologie, die […] eine Mechanik und eine weitläufige Kommunikation von Leidenschaften, Begierden und Interessen konstatiert“, welche auch den Regenten mit einschließen (Vogl: Kalkül und Leidenschaft, S. 213). So wird die Aufgabe, den Kontakt mit dem König aufrechtzuerhalten, zum vordringlichsten Problem. 64 Wieland: Der goldne Spiegel, Erster Theil, SW, Bd. 6, S. 17.
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I.G.A.D.G.I. aus dem Sinesischen in sehr mittelmäßiges Latein, und der gegenwärtige Herausgeber aus einer Kopie der Lateinischen Handschrift, in so gutes Deutsch, als man im Jahre 1772 zu schreiben pflegte, überzutragen würdig gefunden hat.65
Jeder der verschiedenen Herausgeber und Übersetzer unterbricht auf seine Weise den Fortgang des Textes. Dies geschieht jeweils in Fußnoten, in denen der Chinese, der Lateiner und der Deutsche den Erzähler oder die Figuren des Romans und deren Rede kommentieren, ja in denen – in Fußnoten zu Fußnoten – der jeweils jüngere den älteren Übersetzer kommentiert.66 Als weitere Komplikation kommt hinzu, dass der deutsche Herausgeber offenbar zu verschiedenen Zeiten Anmerkungen hinzugefügt hat, nämlich 1772 und 1794, die durch eine Differenz der zeitgeschichtlichen Erfahrungen geprägt sind, ohne dass sich allerdings durchgehend mit Gewissheit sagen ließe, welche Fußnote aus welchem Jahr datiert. Zudem stößt man noch auf die Anmerkung eines „Ungenannten“67, bei dem es sich entweder um die Maskerade eines der Übersetzer handelt (warum auch immer) oder aber um eine weitere Person, die als Bearbeiter des uns überlieferten Textes fungiert. Und schließlich ist schon von allem Anfang an die Überlieferung prekär: Denn Danischmend, so wird behauptet, trägt dem Sultan aus einer Chronik der scheschianischen Könige vor, die zu diesem besonderen Anlass abgefasst worden sein soll, und genau diese Chronik will der chinesische Herausgeber übersetzt haben; aber bei dem Text des Goldnen Spiegels, so wie er vorliegt, handelt es sich um einen Dialog, bei dem unklar bleibt, wo das Vorlesen des Danischmend aufhört und wo seine in freier Rede dem Sultan gegebene Antwort beginnt. Der Text als ein ursprünglicher erscheint unverfügbar; er ist von Überlieferungsschwellen, von Interventionen durchzogen, die keinerlei kritische Lektüre mehr auseinanderzuhalten vermag. Und zugleich zeichnet sich damit die Genealogie einer Leserschaft ab, die in Schach-Gebal ihren Urahnen hat. Wie der Verfasser der scheschianischen Chronik und wie der vorlesende und zeitvertreibende und zugleich von eigenen Überzeugungen sprechende Philosoph Danischmend auf die Wünsche des Sultans und seine Schläfrig65 Ebd., S. 30f. 66 Vgl. Martin Disselkamp: Ohnmacht und Selbstbehauptung der Vernunft. Zu Christoph Martin Wielands „Goldnem Spiegel“, in: Zwischen Empirisierung und Konstruktionsleistung: Anthropologie im 18. Jahrhundert, hg. von Jörn Garber/Heinz Thoma, Tübingen 2004, S. 287–305, hier: S. 304f.: Zu Wort melden sich „der vor allem an politischen Lehren interessierte chinesische Übersetzer, der lateinische Übersetzer, offenbar ein Jesuit, der einen gewissen Hang zu polyhistorischer Belesenheit zeigt und zugunsten des christlichen Glaubens gegen eine Relativierung von Religionswahrheiten votiert, der deutsche Herausgeber und ein ‚Ungenannter‘“. 67 Ebd., S. 199.
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keit Rücksicht zu nehmen hatte, so gaben und geben auch alle späteren Bearbeiter auf ihr Publikum acht. Dessen Schläfrigkeit ist ihnen Befehl, sie dienen seinem Zeitvertreib. Unterbrechung wird hier zum Wesen der Übersetzung: eine Zäsur, die Abwechslung, Unterhaltung verspricht. Wielands Roman Der goldne Spiegel bietet die Möglichkeit, seine Überlegungen zum Zeitvertreib in weiteren Zusammenhängen seines Schreibens zu situieren. Denn im Zentrum des Aufsatzes Über die ältesten Zeitkürzungsspiele steht eine Anekdote, die die Erfindung des Schachspiels mit einer Ausgangslage verbinden, die genau derjenigen, in der sich Danischmend gegenüber Schach-Gebal befindet, entspricht. Arabische Quellen berichten davon, so erzählt Wieland, dass das Schachspiel zur Belehrung eines jungen und mächtigen indischen Königs erfunden worden sei. Dieser König namens Behiib oder Behram sei „in den ziemlich gewöhnlichen Fehler der Könige [gefallen], von sich selbst zu groß und von den Menschen unter ihnen zu gering zu denken“. Ein „Bramine, Nahmens Nassir“ habe versucht, ihn auf gute Art von der Wahrheit zu überzeugen: „daß ein Fürst matt werden muß so bald er von seinen Unterthanen verlassen wird, oder keine mehr hat.“ Hunderte andre wackre Leute, Raja‘s und Braminen, hatten dieß dem jungen Fürsten geradezu gesagt, aber waren damit so übel angekommen, daß mehrere ihre Freymüthigkeit mit dem Leben hatten bezahlen müssen. […] Nassir […] erfand also das Königsspiel; wo der Schach oder König, wiewohl der wichtigste unter allen Steinen, zu dessen Beschützung alle übrigen da sind, doch weder zum Angriff geschickt ist, noch sich selbst gegen seine Feinde schützen kann, wenn seine Unterthanen nicht das Beste dabey thun; und wo die gemeinen Soldaten die wichtigsten Dienste thun, und eben deswegen auch auf alle mögliche Weise geschont werden müssen, weil der unzeitige Verlust eines einzigen genug ist, den Untergang des Königs nach sich zu ziehen oder zu beschleunigen. (S. 105)
Dieser Anekdote zufolge war das Schachspiel also ursprüngliche als eine Art Fürstenspiegel – oder als ein goldner Spiegel – gedacht. Während der König glaubte, sich die Zeit zu verkürzen, sollte er eigentlich etwas lernen. Wieland kommentiert diese Geschichte mit dem lakonischen Satz: Ob der gute Bramine Nassir die Könige durch sein Königsspiel viel weiser und besser gemacht habe, wollen wir – nicht fragen: aber wenigstens darin hat er seinen Zweck erreicht, daß es viele Jahrhunderte lang ein Lieblingsspiel der morgenländischen Fürsten und Großen gewesen, und es noch auf diesen Tag ist. (S. 112)
Der Gedankenstrich hält die Möglichkeit der Belehrung in der Schwebe, und zugleich wird damit alle Möglichkeit des Fortschritts, sofern sie von den „Großen“ abhängt, zweifelhaft. Nassir kam auch nicht weiter als Danischmend mit seinem Staatsroman. Dienst am Schlafe der Mächtigen, das ist alles. Aber zugleich ist da doch etwas gewesen, und bleibt bestehen: das Spiel. Die gute Absicht, die es hatte, mag scheitern, aber es leistet und erhält den Kontakt. Das ist nicht viel, wenn man an den pädagogischen
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Ambitionen der Aufklärer festhalten will, und es ist erst recht wenig im Lichte der hochfliegenden Pläne für eine ästhetische Erziehung oder für eine absolute Poesie. Aber es ist genau das, was das Spiel und was die Übersetzung bestenfalls leisten können. Und mehr als Spiel und Übersetzung zusammen vermag auch der Dichter nicht. Sein Goldner Spiegel ist kein „Spiegel für die Plastizität des Menschen“68, sei es im Sinne aufklärerischer Bildsamkeit oder romantischer Grenzüberschreitung. Der Dichter ist kein singender69, er ist ein sprechender Vogel: „Das Bestreben, Kommunikation zu erstellen und zu verlängern, ist typisch für sprechende Vögel; die phatische Funktion der Sprache ist so die einzige, die sie mit menschlichen Wesen teilen.“70 „La Faridondäne la Faridondon, Dondäne Dondon Dondäne, Dondäne Dondäne Dondon“71…
68 So Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt a.M. 1992, S. 11. „Spiegel für ein ständiges Sich-selbstÜberschreiten des Menschen“ (ebd., S. 12) zu sein, sieht Iser als die bleibende Bestimmung der Literatur, nachdem andere ihrer Funktionen, zu denen er auch den „Zeitvertreib“ (ebd., S. 10) rechnet, zugunsten anderer Medien ausgedient haben. Iser gründet darauf seine anthropologische Theorie der Literatur als ein eigenständiges, grenzüberschreitendes Spiel, dessen produktives Verweisen auf erweiterte Möglichkeiten des Menschen durch eine „sprachliche Unübersetzbarkeit“ (ebd., S. 34) charakterisiert sei. Bei Wieland hingegen koinzidiert die Literatur mit dem Spiel, sofern mit beidem notwendig Unterbrechungen verbunden sind, die in Praktiken des Übersetzens anerkannt werden müssen, bevor eine Gesamtschau der ‚Natur‘ des Menschen, geschweige denn deren ‚Überschreitung‘, überhaupt auch nur denkbar sein kann. 69 Vgl. Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, S. 669. 70 Jakobson: Linguistik und Poetik, S. 91. Zum Topos des sprechenden Vogels (jedoch ohne Verweis auf Jakobson) vgl. auch Bernhard Siegert: parlêtres. Zur kulturtechnischen Gabe und Barre der anthropologischen Differenz, in: Politische Zoologie, hg. von Anne von der Heiden/Joseph Vogl, Zürich, Berlin 2007, S. 23– 38. 71 Wieland: Der goldne Spiegel, Erster Theil, SW, Bd. 6, S. 131.
5. WUNDERBARE OPERATIONEN: ÜBER DIE GRENZEN VON LITERATUR UND WISSEN
Volker Mergenthaler
Wieland über-setzen Goethes „dreyfache Operation“ „zu brüderlichem Andenken Wielands“1 I. Trauerloge: Goethes „flüchtige Stunde“ „zu brüderlichem Andenken Wielands“ „Nah an 100 Personen“2 versammeln sich am 18. Februar 1813 im Saal der nach ihrer Stifterin benannten Weimarer Freimaurerloge „Anna Amalia zu den drei Rosen“. „Traurig ist […] die Veranlassung“3 für das Treffen: Man ehrt den nicht einmal vier Wochen zuvor, in der Nacht des 20. Januar verstorbenen Bruder Wieland. Ungewöhnlich ist, wie man dem im zweiten Heft der „Freimaurer-Analecten“ 1813 abgedruckten „kleinen Grundriß“ der „Einrichtung des Logen-Locals“ entnehmen kann, die Besetzung. Es finden sich nämlich nicht nur, so entspräche es den maurerischen Gepflogenheiten4, die „Brüder“ der Loge im großen Saal des Wittumspalais ein, sondern zudem deren Ehefrauen, die „Schwestern“, und eine Reihe von Angehörigen des regierenden Fürstenhauses, namentlich, in der Skizze durch die Ziffer „1)“ repräsentiert, „Der Durchl[auchtigste] Protector“ Herzog Carl August, als Ziffer „2) S[eine] Durchl[auchtigst] der Erbprinz“ Carl Friedrich, „3) I[hre] Durchl[auchtigst] die Frau Herzogin“ Luise sowie „4) I[hre] K[önigliche] Hoh[eit] die Frau Erbprinzessin Großfürstin“ Maria Pawlowna.
1 2 3 4
Für wertvolle Unterstützung danke ich Irene Rapp und Marga Reis (Tübingen). Wieland’s Todtenfeier in der Loge Amalia zu Weimar am 18. Februar 1813. Gedruckt als Manuscript für Brüder (=Freimaurer-Analecten; 2), Weimar 1813, S. 6. Worte, gesprochen während der Trauer-Feierlichkeit vom Meister vom Stuhl, dem S. E. Br. Ridel, in: Wieland’s Todtenfeier, S. 14. „Am 5. Februar 1813 erklärt Goethe dem Meister vom Stuhl, daß seine Rede nicht auf die Gegenwart von Frauen berechnet sei, und äußert sein Bedenken gegen die Teilnahme der Frauen an der Totenfeier für Wieland“ (Gotthold Deile: Goethe als Freimaurer, Berlin 1908, S. 188).
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Besondere Erwähnung verdient der unter Ziffer „9)“ aufgeführte „Br[uder] v[on] Goethe“, dem „als Redner“ der Platz vis-à-vis des „S[ehr] E[hrwürdigen] M[ei]st[e]rs“ vom Stuhle, Johann Cornelius Ridel, zugewiesen ist.5 Auch das ist ungewöhnlich, zum einen weil Goethe zwar langjähriges Mitglied der Loge ist, sich aber zuletzt zu beschäftigt findet, um den Treffen noch persönlich beiwohnen zu können, zum anderen weil er Trauerfeierlichkeiten zeitlebens, wofern es irgend ging, gemieden hat.6 Das gilt 5 6
Sämtliche Angaben folgen Wieland’s Todtenfeier, S. 11f. Hierzu z.B. Albrecht Schöne: Schillers Schädel, München 2002, S. 7f.: „So ist er lebenslang den Sterbelagern auch der ihm Nahestehenden ferngeblieben, hat sich dem Anblick der Toten entzogen, Begräbnisfeyern gemieden, die Grabstätten nie besucht. Als 1782 sein Vater, selbst als 1808 seine Mutter starb, kam er nicht nach Frankfurt. Bei Christianes Tod heißt es am 6. Juni 1816 im Tagebuch: ‚Meine Frau um 12 Nachts ins Leichenhaus. Ich den ganzen Tag im Bett.‘ Im Januar 1827 wurde der Sarg der Charlotte von Stein nicht einmal an seinem Haus vorbeigetragen; um ihn zu schonen, hatte sie selber es so verfügt. Als im Juli 1828 sein Großherzog bestattet wurde, flüchtete Goethe nach Dornburg“. Vgl. Elisabeth Herrmann: „Man denkt nicht den Tod, die Leere, das Nicht-Seiende, sondern deren unzählige Metaphern“. Überlegungen zu Goethes Verhältnis zum Tod, in: Grenzgänge, hg. von Horst Lickert, Zürich 2003, S. 199–221, insbes. S. 199 und S. 204–214.
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auch für die Bestattung Wielands am 25. Januar in Oßmannstedt, die durch die rituelle Aufladung der Trauerloge7 noch einmal in Erinnerung gerufen, ja vermittelst der „blauseidene[n] Decke […], welche Wieland’s Sarg geziert hatte“, nachgerade in die Gegenwart zitiert wird: Als der 18. Februar zur Trauer-Feierlichkeit bestimmt war, wurde der Saal der Loge Amalia vorher schwarz ausgeschlagen. Hinter dem Sitze des S[ehr] E[hrwürdigen] M[ei]st[e]rs (A) erblickte man zwischen zwei großen blauen Säulen (B), welche durch schwarze Draperien mit silbernen Spitzen halb verdeckt waren, die Chiffre der Loge auf dunkelblauem Sammt in Golde. In der Mitte der Loge lag, auf dem schwarzen Boden ausgebreitet die blauseidene Decke (C), welche Wieland’s Sarg am 24. Januar geziert hatte. In der Mitte der Decke zeigte sich das pythagoreische Fünfeck in Gold, und an den Ecken (D) standen vier große brennende Kerzen. Zwischen dem Sitze des S[ehr] E[hrwürdigen] M[eisters] und der eben erwähnten Decke lagen, erhöht auf einem blauseidenen Kissen (E) mit Gold, des verewigten Br[uder] Wieland’s maurerische Bekleidung, durch einen großen Blüthenzweig des Dichters gedeckt.8
Durch die Trauerfeier führt der Geheime Kammer-Rat Ridel, der nach der Begrüßung der „Schwestern“ und nach dem „Eintritte des Hofes“ den Anlass der „Todtenfeier“9 benennt, ein Gebet spricht, ein Lied von Friedrich von Einsiedel, „Ernstes feierliche Gepränge“, singen lässt, eine kurze Ansprache hält und schließlich Goethe adressiert: „Ehrwürdiger Bruder von Göthe! Im Namen unseres edeln Bundes, der Sie als einen seiner theuersten Eingeweihten und Veteranen schätzt, Kraft des mir, von meinen Brüdern durch freie Wahl anvertrauten, Amts und zur Ehre unseres Verstorbenen ersuche ich Sie jetzt, uns die treue Schilderung seines Lebens mitzutheilen.“10 Eine „flüchtige Stunde“ lang, nach eigenem Bekunden, spricht Goethe „Zu brüderlichem Andenken Wielands“.11 Bereits am 22. Januar hatte er sich mit Logenmeister Ridel „wegen der Wielandischen Todtenfeyer“ beraten und notiert unter dem Datum des folgenden Tages: „Überlegung der beyden Aufsätze für Agnese und Wieland“.12 Bis zum Tag der Trauerfeier finden sich fast täglich Tagebuchnotizen13 oder Briefzeugnisse, 7 8 9 10 11 12 13
Zum Begriff der Trauerloge vgl. Art. „Trauerloge“, in: Freimaurer-Lexikon, hg. von Johann Christian Gädicke, Berlin 1818, S. 497. Wieland’s Todtenfeier, S. 11. Worte, gesprochen während der Trauer-Feierlichkeit vom Meister vom Stuhl, S. 14. Ebd., S. 22. Carl Bertuch zufolge sprach „Goethe Stunden lang […] zum Andenken des Gefeierten“; Bertuch an Böttiger, 21.2.1813, in: Goethe-Jahrbuch 4, 1883, S. 329. Zit. nach Irmtraut Schmid: Kommentar, in: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, 1. Abt., Bd. 17, hg. von Irmtraut Schmid, Frankfurt a.M. 1994, S. 493–800, hier: S. 766. Eine fast tägliche Beschäftigung mit der Trauerrede ist im Tagebuch nachgewiesen für die Zeit vom 22.1.1813 bis zum 18.2.1813; vgl. Johann Wolfgang Goethe: Ta-
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die auf eine so kontinuierlich wie intensiv betriebene Auseinandersetzung mit dieser Aufgabe schließen lassen. Das Ergebnis der Bemühungen ist von der Goethe- wie von der Wieland-Philologie bisher kaum gewürdigt worden – neben verstreuten, zumeist auf wenige Zeilen, seltener Seiten beschränkten, fast ausnahmslos affirmativen14 Bemerkungen sind ein 1984 veröffentlichter Aufsatz von Friedrich Sengle und ein zwölf Jahre jüngerer Beitrag von Jörn Steigerwald zu verzeichnen. Der eine bemüht sich um den Nachweis der poetischen wie rhetorischen Qualitäten des Nekrologs, gelangt zur Einschätzung, man könne die Rede „unmöglich dilettantisch nennen“, und rät generalisierend zur intensiven Beschäftigung auch mit der „Gebrauchsliteratur“, mit den „höfisch-repräsentative[n] Dichtungen oder prosaische[n] Arbeiten“ Goethes15, der andere lauscht der Trauerrede in einer subtilen Lektüre ambivalente und in ihrer Ambivalenz wenig schmeichelhafte Spitzen gegen den Geehrten ab, klassifiziert den Nekrolog als Zeugnis der Selbstmusealisierungspolitik Goethes und fragt am Ende, ob nicht „Schiller letztlich dankbar sein [sollte], daß Goethe keine Grabrede auf ihn hielt“.16 gebücher, Historisch-kritische Ausgabe, Bd. V,1, hg. von Wolfgang Albrecht, Stuttgart/Weimar 2007, S. 12–22. 14 Sven-Aage Jørgensen/Herbert Jaumann/John A. McCarthy/Horst Thomé: Christoph Martin Wieland. Epoche – Werk – Wirkung, München 1994, S. 190, zählen „die Logenrede zum Einsichtsvollsten, das über Wieland geschrieben wurde“; für Christoph Siegrist „gibt G[oethe] in diesem Nachruf ein einfühlsames Porträt, eine Würdigung der Persönlichkeit Wielands und von dessen literarischer Tätigkeit und Wirkung, die er auf eindrucksvolle Weise in die literarischen und historischen Zeitverhältnisse einbettet“ (Christoph Siegrist u.a.: Kommentar, in: Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, Bd. 9, hg. von Christoph Siegrist u.a., München 1987, S. 1062–1449, hier: S. 1417); Gert Ueding erkennt darin ein „Glanzstück repräsentativer Beredsamkeit“ (Gert Ueding: Reden durch die Sache. Goethes rhetorische Theorie und Praxis, in: Goethes Reden und Ansprachen, hg. von dems., Frankfurt a.M. 1994, S. 175–197, hier: S. 186); Effi Biedrzynski spricht von einer „großen Rede“ (Effi Biedrzynski: Goethes Weimar. Das Lexikon der Personen und Schauplätze, Zürich 1992, S. 481); Klaus Manger zufolge „weiß“ „Goethe […] Wieland und sein Werk im Nekrolog vom 18. Februar 1813 angemessen zu würdigen“ (Klaus Manger: Klassizismus und Aufklärung. Das Beispiel des späten Wieland, Frankfurt a.M. 1991, S. 35). 15 Friedrich Sengle: Goethes Nekrolog „Zu brüderlichem Andenken Wielands“. Die gesellschaftliche und historische Situation. Goethes Rücksicht auf sie in der Beschreibung und Wertung Wielands, in: MLN 99, 1984, H. 3, S. 633–647, hier: S. 647. 16 Jörn Steigerwald: „Zu brüderlichem Andenken Wielands“. Darstellung und Selbstdarstellung eines Dichters, in: „Mir ekelt vor diesem Tintengleksenden Sekulum“. Beiträge des Studentenkolloquiums im Rahmen der Weimarer Schiller-Tage 1995, hg. von Michael Klees und Gerhard Nesdala, Fernwald 1996, S. 91–111, hier: S. 111.
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II. Wielands „dreyfache Operation“: übersetzen Für das Problemfeld ‚Übersetzen‘ ist Goethes Nekrolog zunächst deshalb von Interesse, weil darin viel, auffallend viel von Wielands reger Übersetzungstätigkeit die Rede ist. Über die poetischen Texte des Verstorbenen spricht Goethe, wohlwollend beurteilt: passim, kühler in der Einschätzung: bloß sporadisch. Und der publizistischen Leistung des Verstorbenen widmet der Sprecher mit Mühe zwei Absätze, mehr als dreimal so viel Zeit investiert er dagegen in die Würdigung des Übersetzers. Man könnte dies mit Goethes starkem Interesse an Weltliteratur17 zu erklären versuchen, müsste dann allerdings unterstellen, dass dem Trauerredner trotz intensiver Ausarbeitung und Gegenlektüre durch Ridel offenbar eine Verletzung des aptum unterlaufen ist. Gegen diese Erklärung spricht zudem die Art und Weise, in der Goethe den Übersetzer Wieland so ausgiebig verhandelt. Er belässt es nicht bei der Nennung (von Wieland bevorzugt) übersetzter Autoren – aufgeführt werden Shakespeare, Lukian, Aristophanes, Horaz und Cicero –, auch bleibt es nicht bei Bemerkungen zu Qualität und Wirkung der Übersetzungen oder bei der Würdigung der Wielandschen Verdienste um die Weltliteratur; Goethe (man möchte mit Blick auf den Anlass fast sagen) verliert sich in Reflexionen über das Geschäft des Übersetzens, Reflexionen, die Wielands Übersetzungspraxis, wenn nicht unzureichend, so doch stark homogenisiert charakterisieren.18 17 Vgl. hierzu maßgeblich Manfred Koch: Weimarer Weltbewohner. Zur Genese von Goethes Begriff „Weltliteratur“, Tübingen 2002. 18 Vgl. hierzu die Beiträge im vorliegenden Band von Bettine Menke, die die konzeptuelle Heterogenität und Komplexität der Shakespeare-Übersetzungen Wielands herausarbeitet, von Katharina Roettig, die an Wielands Aristophanes- und Xenophon-Übersetzungen zu ähnlichen Befunden kommt, und von Armin Schäfer, der demonstriert, dass es Wielands Horaz-Übersetzung als subtiles Instrument der Herrschaftskritik zu entziffern gelte. Die Nachwirkung der von Goethe vorgenommenen Unterscheidung hält bis heute an. Die Textstelle wird zumeist dann herangezogen, wenn es gilt, Goethes Verständnis von Übersetzung zu bestimmen, oder wenn Wieland als Übersetzer charakterisiert werden soll, wie es z.B. an überaus prominenter Stelle Manfred Fuhrmann tut: „Wieland blieb auch auf dem Felde der Übersetzungstheorie und -praxis dem 18. Jahrhundert, der Aufklärung verhaftet“ (Manfred Fuhrmann: Wielands Übersetzungsmaximen, in: Christoph Martin Wieland: Werke in zwölf Bänden, Bd. 9, hg. von Manfred Fuhrmann, Frankfurt a.M. 1986, S. 1089–1095, hier: S. 1090); später wird im Rekurs auf Goethes Trauerrede herausgestrichen, „wie genau Goethe sah, als er die Übersetzertätigkeit seines Freundes […] charakterisierte“ (ebd., S. 1093). Dabei ist zweierlei nicht ausreichend im Blick: zum einen, dass Goethes Nekrolog Genrekonventionen unterworfen ist, wie sie von Monika Wulf-Mathies (Typologische Untersuchungen zum deutschen Gelehrten-Nekrolog des 19. und 20. Jahrhunderts dargestellt am Beispiel des Historiker-Nachrufs, Diss. Hamburg 1969), herausgearbeitet worden sind: „Der Tod zwingt dem Verfasser eines Nachrufs Überlegungen auf, die die Behandlung
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Es giebt zwey Uebersetzungsmaximen. Die eine verlangt, daß der Autor einer fremden Nation zu uns herüber gebracht werde, dergestalt, daß wir ihn als den unsrigen ansehen können; die andere hingegen macht an uns die Forderung, daß wir uns zu dem Fremden hinüber begeben und uns in seine Zustände, seinen Styl, seine Eigenheiten finden sollen. Die Vorzüge von beyden sind durch musterhafte Beyspiele allen gebildeten Menschen genugsam bekannt. Unser Freund, der auch hier die Mittelstraße suchte, war beyde zu verbinden bemüht, doch zog er, als Mann von Gefühl und Geschmack, in zweifelhaften Fällen die erste Maxime vor. Niemand hat vielleicht so innig empfunden, welch ein verwickeltes Geschäft eine Uebersetzung sey, als er. Wie tief war er überzeugt, daß nicht das Wort, sondern der Sinn belebe. Man betrachte, wie er in seinen Einleitungen uns erst in die Zeit zu versetzen und mit den Personen vertraut zu machen bemüht ist. Wie er alsdann seinen Autor auf eine uns schon bekannte, unserm Sinn und Ohr verwandte Weise sprechen läßt; da er denn sodann noch manche Einzelnheit, welche dunkel bleiben, Zweifel erregen, anstößig wirken könnte, in Noten auszulegen und zu beseitigen sucht. Durch diese dreyfache Operation sieht man recht wohl, hat er sich erst seines Gegenstandes bemächtigt, und so giebt er sich denn auch die redlichste Mühe, uns in den Fall zu setzen, daß seine Einsicht uns mitgetheilt werde, damit wir auch den Genuß mit ihm theilen können.19 (ZBA, S. 438f.) der Wahrheit entscheidend beeinflussen“ (ebd., S. 120). „Das Erlebnis des Todes richtet die Aufmerksamkeit des Nekrologschreibers auf die Gemeinsamkeiten zwischen sich und dem Verstorbenen sowie allen Mitgliedern seiner Gruppe und läßt die Bedeutung des Individuellen zurücktreten. Die Charakterisierung des Verstorbenen unterliegt also einer doppelten Verallgemeinerung, und zwar durch die Gruppe und durch das Zusammenrücken menschlicher Verhaltensweisen im Angesicht des Todes. Damit wird eine starke Typisierung erreicht und die Persönlichkeit der sozialen Funktion des einzelnen untergeordnet. Das Ergebnis dieses Prozesses ist nicht das Bild eines Individuums, sondern der Entwurf eines Prototyps, der ein Recht auf Tradition hat, weil er alle Seiten und Tugenden der Gruppe, die er repräsentiert und die sein Fortleben gewährleistet, in sich aufgenommen hat. Damit sind die Elemente bestimmt, die eine Transformierung der Wahrheit im GelehrtenNekrolog bewirken“ (ebd., S. 121). „Die Form der Wahrheit, über die der Gelehrte im Nekrolog gebieten kann, ist also weniger die authentische Wiedergabe von Tatsachen und individuellen Eigenschaften als die konsequente Übertragung eines vorgeprägten Tugendkatalogs auf den Verstorbenen. Da dieser Wertekanon ein Konglomerat aus Postulaten der Gruppe und beobachteten Verhaltensweisen einzelner Mitglieder oder gar des Verstorbenen selbst ist, läßt sich schwer der Nachweis führen, wo die Wahrheit aufhört und wo die Stilisierung beginnt“ (ebd., S. 122). Zum anderen bleibt unberücksichtigt, dass Goethes Darstellungen möglicherweise (auch) ein literaturpolitisches Ziel verfolgen. Dass dies im Bereich der Sepulkralkultur durchaus üblich ist, hat zuletzt betont: Philipp Zitzlsperger: Das Grabmal als Zukunftsinvestition, in: Totenkulte. Kulturelle und literarische Grenzgänge zwischen Leben und Tod, hg. von Patrick Eiden/Nacim Ghanbari/Tobias Weber/Martin Zillinger, Frankfurt a.M./New York 2006, S. 37–52, hier: S. 40). 19 Ich folge der von der Frankfurter Ausgabe nach Maßgabe der Handschrift dargebotenen Fassung: Johann Wolfgang von Goethe: Rede zu Wielands Andenken, gehalten in der Trauerloge, den 18ten Februar 1813, in: ders.: Sämtliche Werke. Briefe,
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Die Tätigkeit des Übersetzens sucht Goethe zunächst unabhängig von Wielands Praxis in einer probaten Raum-Metapher zu verhandeln: Es gelte (erste und von Wieland angeblich favorisierte Möglichkeit), den „Autor einer fremden Nation zu uns herüber“ oder umgekehrt (zweite Möglichkeit) „uns zu dem Fremden hinüber“ zu bringen. In beiden Fällen wird ‚übersetzen‘ als μ -&', als ‚über-setzen‘ gefasst.20 III. „versuchsweise über die so scharf gezogenen Linien wo nicht hinauszuschreiten, doch hinüber zu blicken“ – Wielands Interesse am „Leben nach dem Tode“ Den aufmerksamen unter Goethes Zuhörerinnen und Zuhörern in der Loge wird es nicht entgangen sein, dass diese Metaphorik und die ihr zugrundeliegende Raumordnung zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal aufgegriffen werden – allerdings in einem ganz anderen, im Zusammenhang einer, wie es heißt, „ernste[n] Betrachtung“. Eingeleitet und getragen wird sie vom Hinweis auf den Tod „einer theueren mitwohnenden Freundinn“ Wielands, Sophie Brentano, im Jahr 1800, auf den „Tod seiner werthen, sorgsamen Lebensgefährtinn“ (ZBA, S. 443) im Jahr darauf, auf den „schmerzlichen Verlust Amaliens“ (ZBA, S. 445), die 1807 gestorben war, und schließlich auf den Unfall, den Wieland 1811 erst erlitten hatte. Denn so sehr auch jederzeit sein Blick auf das Irdische, auf die Erkenntniß, die Benutzung desselben gerichtet schien, so konnte er doch, als ein vorzüglich begabter Mann, des Außerweltlichen, des Übersinnlichen keineswegs entbehren. Auch hier trat jener Widerstreit […] merkwürdig hervor: denn indem unser Freund alles abzulehnen schien, was außer den Grenzen der gemeinen Erkenntniße liegt, außer dem Kreis dessen, was sich durch Erfahrung bestätigen läßt, so konnte er sich doch niemals enthalten, gleichsam versuchsweise über die so scharf gezogenen Linien wo nicht hinauszuschreiten, doch hinüber zu blicken und sich eine außerweltliche Welt, einen Zustand, von dem uns alle angeborenen Seelenkräfte keine Kenntniß geben können, nach seiner Weise aufzuerbauen und darzustellen. Einzelne Züge seiner Schriften geben hierzu mannigfaltige Belege, besonders aber darf ich mich auf seinen Agathodämon, auf seine Euthanasie berufen, ja auf jene schönen, so verständig als herzlichen Aeußerungen, die er noch vor kurzem offen und unbewunden dieser Versammlung mittheilen mögen. (ZBA, S. 446f.)
Das hier benannte ontologisch-erkenntnistheoretische Problem, dass „uns alle angeborenen Seelenkräfte keine Kenntniß geben können“ von „eine[r] außerweltliche[n] Welt“, dass es mithin nicht gelingen könne, „über die so Tagebücher und Gespräche, 1. Abt., Bd. 17, S. 426–448. Stellennachweise in Klammern im Text. 20 Vgl. hierzu Christiaan L. Hart Nibbrig: Übergänge. Versuch in sechs Anläufen, Frankfurt a.M. 1995, S. 183–225.
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scharf gezogenen Linien wo nicht hinauszuschreiten, doch hinüber zu blicken“, wird wie zuvor das sprachlich-hermeneutische des Übersetzens in der Raum-Metaphorik verhandelt. Goethe attestiert dem späten Wieland ein verstärktes Interesse an die letzten Dinge betreffenden Fragen und ruft den 1796 bis 1799 erschienenen „Agathodämon“21, die 1805 unter dem Titel „Euthanasia“ veröffentlichten „Drey Gespräche über das Leben nach dem Tode“22 und schließlich „jene schönen, so verständig als herzlichen Aeußerungen“ in Erinnerung, die Wieland „noch vor kurzem offen und unbewunden dieser Versammlung mittheilen mögen“. IV. Wielands ‚Fürbitte‘ im Profanen: „Ueber das Fortleben im Andenken der Nachwelt“ Dieser letzte Hinweis wird, obschon Goethe keinen Titel nennt23, für die anwesenden Brüder unschwer zu entschlüsseln gewesen sein, bezieht er sich doch unmissverständlich auf den letzten von drei Vorträgen24, die Wieland im Kreis der Weimarer Freimaurer gehalten hatte oder halten ließ, und zwar am 24. Oktober 1812, als die Loge mit dem 73. Geburtstag der Herzogin von Sachsen-Weimar zugleich den 48. Stiftungstag feierlich begeht. Zur Feier von Logenbegründung und -begründerin liest der achtzigjährige Wieland, und zwar zum Thema „Ueber das Fortleben im Andenken 21 Vgl. Christoph Martin Wieland: Agathodämon. In sieben Büchern, Leipzig 1799, worin u.a. „die Erweckung eines Todten“ (S. 140) und ein „Gespenst in Gestalt einer schönen Frau“ (S. 153) verhandelt werden. 22 „Was aber der wichtigste von allen Vortheilen ist, die jener Glaube schaffen würde, welch ein mächtiger Antrieb, dieses kurze Daseyn wohl anzuwenden, es mit guten Handlungen anzufüllen, uns um die Menschheit verdient zu machen, und in allem, was wir thun und hervorbringen, nach Vollkommenheit zu streben, müßte die Gewissheit seyn, dass es für uns, als Menschen, keine andere Unsterblichkeit gebe, als im Andenken unserer Freunde und Zeitgenossen, – und da auch diese so vergänglich sind wie wir selbst – im Gedächtniss und der Achtung einer nie aussterbenden Nachwelt fort zu leben“; Euthanasia. Drey Gespräche über das Leben nach dem Tode. Veranlaßt durch D. I. K. W * * L S. Geschichte der wirklichen Erscheinungen seiner Gattin nach ihrem Tode, hg. von C. M. Wieland, Leipzig 1805, S. 226. 23 Am 24. Oktober 1812 geht Goethe „ein kleiner Aufsatz“ zu, „den ich“, so Wieland, „heute in der Loge vorlesen lasse“; Wieland an Goethe, 24.10.1812, in: Wielands Briefwechsel, Bd. 18,1, Berlin 2004, S. 415. 24 Die beiden anderen waren: „Betrachtungen über den Zweck und Geist der Freimaurerei“ (24.10.1809) und: „Wie verhält sich das Ideal der Freimaurerei zu ihrer dermaligen Beschaffenheit, und was ist in dieser Rücksicht die Obliegenheit der Gesammtheit derselben sowohl als ihrer einzelnen Glieder?“ (3.9.1811). Vgl. hierzu: H[ugo] W[ernekke]: Wieland und die Loge Amalia, Weimar 1902 (=Weimarische Freimaurer-Analecten), S. 14.
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der Nachwelt“. Den Ausgangspunkt der bei dieser Gelegenheit vorgetragenen und Goethes Zuhörern wohl vertrauten Überlegungen bildet eine erkenntnistheoretische Prämisse, derzufolge „der Mensch bloss dadurch, dass er wirklich lebt, einen Begriff vom Leben hat, und also erst gestorben seyn müsste, um von dem, was der Tod ist, das heisst, von dem, was aus seinem Ich wird, wenn sein Herz auf immer zu schlagen aufhört, eine Vorstellung zu haben“ (UFA, S. 5).25 In unmittelbarer Anschauung zu erfahren, ob und, wenn ja, „wo und wie dieses Leben nach dem Tode fortgesetzt werde“ (UFA, S. 8), ist daher, zumindest im von Wieland aktivierten Differenzparadigma26 kategorisch ausgeschlossen. „Erfreulich dünkt mich doch der Gedanke“, so leitet Wieland vor dem Hintergrund dieser Überlegungen über zum offenbar eigentlichen Gegenstand seiner Rede, dass es noch eine andere Art von Leben nach dem Tode giebt, die in gewissem Sinne von uns selbst abhängt, und, anstatt allen unsern Verhältnissen mit den Lebenden auf einmal ein Ende zu machen, uns vielmehr in einer höchst ange25 Ueber das Fortleben im Andenken der Nachwelt. Eine Vorlesung in der [Loge] Amalia im Orient von Weimar, gehalten an ihrem 48. Stiftungstage den 24. October 1812 vom Br. Wieland in seinem 80sten Jahre, in: Wieland’s Todtenfeier, Beilage VII, S. 1–15, hier: S. 5. Nachweise im Text, Sigle UFA. Es ist in diesem Zusammenhang schwerlich als Zufall einzustufen, dass Wieland sein Singspiel „Alceste“ alludiert, dessen Protagonistin bekanntlich zu den wenigen gehört, die aus dem Totenreich zurückgekehrt sind. Diese Erfahrung ist allerdings nicht kommunizierbar: „Admet. […] O erkläre mir / Ein Wunder, das mir noch […] / Unglaublich ist. / Hercules. Begehr’ es nicht zu wissen! / Ein heil’ger Schleier, den die Götter selbst / Nicht wegzuziehen wagen, liegt / Auf den Geheimnissen des Geisterreichs. / Alceste. Der Eumeniden Hand schließt meinen Mund! / Genug für dich, dass dir Alceste wieder / Gegeben ist. Geneuß der wundervollen Wohlthat / Der Götter, Freund, und fessle deinen Vorwitz. […] / Admet. Du hast Elysiums Glück empfunden! / Sprich, ist es unsrer Wonne gleich?“ (Christoph Martin Wieland: Alceste, ein Singspiel in fünf Aufzügen, in: Wielands Gesammelte Schriften (=GS), 1. Abt., Bd. 9, Berlin 1931, S. 343–377, hier: S. 375ff.). „Indessen“, schreibt er hierzu noch in seinem Festvortrag, „findet sich unter den Wenigen, die aus diesem Lande zurückgekommen seyn sollen, außer dem Ulysses des Homer und seinem Nachbilde, dem Virgilischen frommen Aeneas, nur der einzige Armenier, Er, (dessen wundervolle Geschichte uns Plato im letzten Buche seiner Republik erzählt) der uns von dem, was er in diesem unbekannten Lande gesehen, gehört oder selbst erfahren haben will, nähere Nachricht gäbe. Da aber der göttliche Plato aus dem Munde seines vorgeblichen Sokrates selbst gesteht, dass dieser Bericht einem Ammenmährchen ähnlicher sehe, als einer glaubwürdigen Erzählung; so können wir sicher behaupten, dass der allgemein scheinende Glaube der Menschen an eine Art von Leben nach dem gegenwärtigen schlechterdings auf keinem statthaften historischen Zeugnisse beruhe“ (UFA, S. 5f.). 26 Das Leben, so ließe sich, die Opposition von Leben, das nur im Leben, und Tod, der nur im Tod zu fassen ist, unterlaufend, argumentieren, kann erst aus dem Tod, vom Feld des ganz anderen her gefasst und auf den Begriff gebracht werden, wie umgekehrt der Tod nur vom Feld des Lebens aus sich bestimmen lässt.
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nehmen Verbindung mit ihnen erhält; ich meine, das Fortleben im Angedenken der Nachwelt, wozu wir uns durch ausgezeichnete Verdienste um unser Vaterland, unsre Mitbürger, unser Volk, und um die Menschheit überhaupt, durch öffentliche und Privattugenden und durch den edlen Gebrauch, den wir von vorzüglichen Geisteskräften und Talenten gemacht, ein Recht erworben haben (UFA, S. 9).
Im Kreis der Logenbrüder zu erörtern, wie sehr die mit dem Stiftungstag der Loge zu feiernde, im April 1807 verstorbene Stifterin sich um „diese Art von Unsterblichkeit“ (UFA, S. 12) verdient gemacht habe, sei freilich nicht „nöthig“ (UFA, S. 13), denn „gewiss“, so Wieland weiter, ist keiner unter uns, dem es nicht süsse und heilige Pflicht wäre, das Gedächtniss einer Fürstin in unserer Mitte lebendig zu erhalten, die Sich nicht nur um unsere ehrwürdige Verbrüderung, nicht nur vielfach und unvergeßlich um diese Stadt und dieses Land, sondern durch eifrige Beförderung aller, das gesellschaftliche Leben verschönernden Künste, und das Beispiel, womit sie allen Fürsten Deutschlands hierinne vorleuchtete, um die ganze Nation hochverdient gemacht hat. (UFA, S. 13)
Und kaum jemand – auch das wird mitgeteilt, wenn auch mit der gebotenen Dezenz – wäre berechtigter, eine solche Einschätzung abzugeben, als der Vortragende selbst, der die Herzogin (wie all denjenigen deutlich wird, die eine Anspielung auf Wielands „Alceste“ zu entschlüsseln vermögen)27 bereits vor vierzig Jahren mit einer Laudatio und seither kontinuierlich weiter gewürdigt habe. „Wie unverlierbar“, so schließt Wieland, „ist Ihr Recht, in unserm und unsrer Nachfolger dankbarem Andenken ewig zu leben; und wie heilig ist die Pflicht aller Glieder derselben, Sich durch ächten Maurersinn und maurerische Tugenden und Bestrebungen möglichst auszuzeichnen, und des Namens Ihrer unsterblichen Stifterin würdig zu zeigen“ (UFA, S. 14). Die argumentatio, so scheint es, ist abgeschlossen, die conclusio gezogen, und doch hört Wieland noch nicht zu sprechen auf: „Nach einem solchen Gegenstande noch zum Schlusse von mir selbst zu reden, dürfte wohl kaum geziemend genug scheinen“ (UFA, S. 14). Wieland tut es dennoch, allem Anschein nach, um den Logenbrüdern, wie er sagt, seinen „wärmsten Dank […] abzustatten“ (UFA, S. 15) für die Ehre, die man ihm wenige Wochen zuvor, bei Gelegenheit seines 80. Geburtstages nämlich mit einem „schöne[n] Denkmal“ der „Werthschätzung und Liebe“ (UFA, S. 15), um genau zu sein, mit der Prägung einer sein Konterfei tragenden Gedenkmünze, erwiesen hatte. „Ich bin“, diese Einschätzung leitet Wieland daraus ab, zu weit im Leben vorgerückt und dem Ziele meiner Laufbahn zu nahe, um mir so große Auszeichnung nach Pflicht und Wunsch verdienen zu können. Nehmen Sie also, gel[iebte] B[rü]d[e]r, den guten Willen für das Werk selbst, und erlauben Sie 27 Bezugspunkt ist die Uraufführung der „Alceste“ 1773, worin sich auf die Herzogin gemünzte, in Wielands Vortrag zitierte Verse finden.
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mir noch die Versicherung hinzuzuthun, daß Ihr edles Geschenk in meinen Augen einen unschätzbaren Werth dadurch erhalte, wenn ich es als ein Unterpfand betrachte, dass ich, auch wenn ich dereinst aus Ihrer Mitte genommen werde, des Glücks, in Ihrer aller liebevollem Andenken fortzuleben, mich mit Gewissheit zu erfreuen habe (UFA, S. 15).
Es bleibt mit Blick auf diese selbstsorgende Fokus-Verschiebung am Ende des Vortrags ein wenig in der Schwebe, worauf Wielands Rede „Ueber das Fortleben im Andenken der Nachwelt“ tatsächlich gezielt haben mag und ob nicht die Laudatio auf die Fürstin (ich zitiere eine von Wieland selbst eingeführte Denkfigur), „unserm eigentlichen Gegenstand bloß zur Unterlage dienen“ (UFA, S. 7) sollte.28 Auf der Hand liegt eine solche Lesart freilich nach Wielands Tod im Januar 1813, nicht einmal drei Monate nach den Stiftungsfeierlichkeiten also, wie an der Einleitung in die wenig später gedruckten „Freimaurer-Analecten“ abzulesen ist: Wielands „letzte Rede“ erwecke neuerdings, so heißt es dort, „doppeltes Interesse, da wir, was er damals sagte, leider! nun schon auf ihn selbst anwenden müssen“.29 Der auf Anna Amalia gemünzte Vortrag – der Meister vom Stuhl bezeichnet ihn in einer vaticinatio ex eventu als „fast ahndungsvoll“30 – wird spätestens jetzt, in teleologischer Retrospektive als verkappte Fürbitte des Vortragenden um Aufnahme in die diesseitige ‚Ewigkeit‘ brüderlichen Andenkens entzifferbar; in der durch Goethes Trauerrede etablierten Perspektive ist dies kaum zufällig zu nennen, da Wieland an seinem Lebensabend, wie Goethe betont, „von so vielen werthen Freunden und Zeitgenossen auf der Erde zurückgelassen, sich in manchem Sinne einsam fühlend, […] sich unserem theueren Bunde“ (S. 447) genähert habe. V. Wieland übersetzen wie Wieland übersetzt: Goethes „dreyfache Operation“ Im Horizont der durch Goethes Rede vorgenommenen Engführung von Übersetzen einer Sprache oder Kultur in eine andere und sepulkralem Übersetzen von einer ontologischen Sphäre in eine andere gewinnt das von Goethe demonstrierte überproportionale Interesse an Wielands Arbeit als Übersetzer eine neue Richtung: Über Maximen und Verfahren des Übersetzens zu sprechen, heißt nun eben auch, darüber nachzudenken, wie es gelingen könnte, „über die so scharf gezogenen Linien wo nicht hinauszu28 Dass sich, was Wieland über Anna Amalia gesagt hatte, „mit gleichem Recht auf sein eigenes Leben und Werk beziehen“ lasse, legen bereits dar: Jørgensen u.a.: Christoph Martin Wieland. Epoche – Werk – Wirkung, S. 118. 29 [Anonym:] Einleitung, in: Wieland’s Todtenfeier, S. 3–6, hier: S. 5. 30 Worte, gesprochen während der Trauer-Feierlichkeit vom Meister vom Stuhl, S. 21.
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schreiten, doch hinüber zu blicken“ in „eine außerweltliche Welt“, in „einen Zustand, von dem uns alle angeborenen Seelenkräfte keine Kenntniß geben können“; die in den Augen Goethes für Wielands Übersetzungstätigkeit so charakteristische „dreyfache Operation“ gibt daher Aufschluss darüber, wie das Überführen der (sagen wir vorläufig) Persönlichkeit des Verstorbenen in „diese Art von Unsterblichkeit“, in das brüderliche Andenken zu bewerkstelligen wäre. Die „dreyfache Operation“ beschreibt daher nicht nur die Übersetzungspraxis Wielands, wie Goethe sie zu diesem Zeitpunkt darstellt, sondern zugleich auch das vom Trauerredner gewählte Verfahren, den Grundstein „zu brüderlichem Andenken“ zu legen, Wieland mithin überzusetzen in einen im folgenden näher zu bestimmenden, Ewigkeit in der Immanenz gewährenden Gedächtnisraum. Die Trauerrede vollzieht mithin, wovon sie spricht. Oder umgekehrt, mit dem Fokus nicht auf ihrem performativen, sondern reflexiven Charakter: Sie erklärt zugleich, was sie tut. 1. Erste „Operation“: „uns erst in die Zeit zu versetzen und mit den Personen vertraut zu machen“ Man mag es zunächst den rhetorischen Gepflogenheiten31 zuschreiben, dass Goethe im exordium, vor allem aber in der narratio wichtige Stationen von Wielands Leben auszubreiten beginnt, in harmonischer Übereinstimmung mit der Anmoderation seiner Trauerrede durch den Meister vom Stuhl, der ihn unmittelbar zuvor ersucht hatte, den versammelten Logenbrüdern und -schwestern sowie den ebenfalls anwesenden Angehörigen des Weimarer Hofes eine „treue Schilderung“ von Wielands „Leben mitzutheilen“.32 „Begleiten wir unsern Freund auf dem Stufengange seiner Tage“ (ZBA, S. 427), heißt es zu Beginn, „sehen wir ihn als Knaben, Jüngling, Mann und Greis“ (ZBA, S. 427). Wenig später folgen die angekündigten Biographica: die frühen Lebensjahre werden stark gerafft präsentiert, eingehender dargelegt finden sich dagegen die Phasen der intellektuellen Sozialisation durch unmittelbar fördernde Personen wie den „Abt Steinmetz“, den „churfürstlich Maynzische[n] Minister“, den „Churfürst[en]“ selbst, „Carl von Dalberg“, die „Herzoginn Regentinn von Weimar“ (ZBA, S. 429) und schließlich Carl August. Größeres Gewicht misst Goethe allerdings Gelehrten und Literaten bei. Besonders exponiert aber werden „Shaftesbury“ (ZBA, S. 433), „Shakespear“ (ZBA, S. 435), „die 31 Zum Stellenwert der Rhetorik bei Goethe vgl. Helmut Schanze: Goethes Rhetorik, in: Rhetorik zwischen den Wissenschaften. Geschichte, System, Praxis als Probleme des „Historischen Wörterbuchs der Rhetorik“, hg. von Gert Ueding, Tübingen 1991, S. 139–147. 32 Worte, gesprochen während der Trauer-Feierlichkeit vom Meister vom Stuhl, S. 22.
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Griechen“ und „Römer“, namentlich „Horaz“ und „Cicero“ (ZBA, S. 437), und zwar indem deren Spuren im Schaffen Wielands, etwa in Gestalt erkenntnistheoretischer oder ethischer Standpunkte nachgezeichnet und die entsprechenden Texte und Titelhelden auf diese Weise zur epochengeschichtlichen Würdigung herangezogen werden.33 Goethes Nekrolog folgt durchaus den zeitgenössischen Anforderungen an das Genre34, sein Vorgehen entspricht zugleich allerdings auch exakt (und darauf kommt es mir an) der ersten Übersetzungs-„Operation“, deren Ziel Goethe zufolge darin bestehe, „uns erst in die Zeit zu versetzen und mit den Personen vertraut zu machen“. Verdeutlicht wird dieses Prozedere am Beispiel der Beschäftigung Wielands mit Horaz und Cicero: „Wie gern mag sich unser Freund, indem er sich mit dem Wirken dieser beyden Männer beschäftigt, in ihr Jahrhundert, in ihre Umgebungen, zu ihren Zeitgenossen versetzen, um uns ein anschauliches Bild jener Vergangenheit zu übertragen, und es gelingt ihm zum Erstaunen“ (ZBA, S. 438). Was Wieland „zum Erstaunen“ gelungen sei, die Übertragung eines „anschauliche[n] Bild[es] jener Vergangenheit“ in den Erfahrungshorizont der Rezipienten seiner Übersetzungen nämlich, beschreibt zugleich präzise das Vorhaben der Trauerrede Goethes35; Goethes Nekrolog und Wielands Übersetzungspraxis werden mithin in wirkungsästhetischer Hinsicht parallelgeschaltet. Gegeben wird demnach nicht nur, genre-konform, eine ‚verklärte‘ „Schilderung“ von Wielands Leben, es wird zudem das ihr zugrundeliegende, aus der Übersetzungstätigkeit Wielands abgeleitete, auf die tätige Imagination der Zuhörer zielende wirkungsästhetische Programm mitgeteilt: Goethe „würde“ gerne, wie er sagt, stünde mir der Zauberstab wirklich zu Gebote, den die Muse unserm abgeschiedenen Freunde geistig anvertraut, […] diese ganze düstere Umgebung augenblicklich in eine heitere verwandeln, dieses Finstere müßte sich gleich vor ihren Augen erhellen und ein festlich geschmückter Saal, mit bunten Teppichen und munteren Kränzen, so froh und klar als das Leben unseres Freundes sollte vor ihnen erscheinen. Da möchten die Schöpfungen seiner blühenden Phantasie Ihre Augen, Ihren
33 Steigerwald hat sehr pointiert herausgearbeitet, dass diese Würdigung Wieland subtextuell als Autor des 18. Jahrhunderts zu archivieren sucht (Steigerwald: Zu brüderlichem Andenken Wielands). 34 Goethes Worte seien, so Christoph Siegrist, „am Genre der Trauerrede orientiert“ (Siegrist u.a.: Kommentar, S. 1417). Dass die Rede „am Muster der Funeralrhetorik orientiert“ sei, bemerkt Ueding (Ueding: Reden durch die Sache. Goethes rhetorische Theorie und Praxis, S. 186). Zu den genrespezifischen Konventionen vgl. Franz M. Eybl: Art. „Nekrolog“, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 6, hg. von Gert Ueding, Tübingen 2003, Sp. 207–210. 35 Folgt man Olaf Kramer (Goethe als Redner, Diss. Tübingen 2008, Kap. 9.2.1.), so „gelingt “ Goethe „die Herstellung von evidentia“ in der Trauerrede „am eindrucksvollsten und konsequentesten“.
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Geist an sich ziehen […]. Was sich jedoch den äußeren Sinnen nicht darstellen kann, sey dem inneren dargebracht. (ZBA, S. 427)
2. Dritte „Operation“: „noch manche Einzelnheit, welche dunkel bleiben, Zweifel erregen, anstößig wirken könnte, in Noten auszulegen und zu beseitigen“ suchen Die dritte „Operation“ eines am Beispiel Wielands geschulten Übersetzers besteht nach Goethe darin, „noch manche Einzelnheit, welche dunkel bleiben, Zweifel erregen, anstößig wirken könnte, in Noten auszulegen und zu beseitigen“ (ZBA, S. 438), ja mitunter „bey Seite“ zu lassen, „was […] nicht übertragbar“ (ZBA, S. 435) erscheint. Auch hier kommen Übersetzungstätigkeit und Nekrolog, kommen histoire und discours36 zur Deckung, denn nichts anderes tut Goethe selbst, wenn er Wielands Haltung in der Frage nach dem Stellenwert des Wunderbaren in der Literatur einzuordnen, seinen Umgang mit „manche[r] Anfechtung“ (ZBA, S, 441) zu erklären, das Wechselhaft-Spannungsreiche seiner eigenen Beziehung zu Wieland zu verschleiern37 oder die Vorwürfe auszuräumen sucht, die auf Wielands Gepflogenheit zielen, hin und wieder „die Linie des Anständigen und Schicklichen zu überschreiten“ (ZBA, S. 437).
VI. Zweite „Operation“: das „anschauliche Bild“ Wielands übersetzen Erheblich komplexer angelegt ist indes die zweite „Operation“, deren Ziel darin besteht, den „Autor auf eine uns schon bekannte, unserm Sinn und Ohr verwandte Weise sprechen“ zu lassen, entweder indem er in einem Akt hermeneutischer Akkulturation, wie es heißt, „zu uns herüber gebracht“ wird oder indem „wir uns zu dem Fremden hinüber begeben und uns in seine Zustände, seinen Styl, seine Eigenheiten finden“. Was allerdings entspräche in der Logik dieser Engführung von Übersetzen und Übersetzen dem „Autor“, den Goethe hier ins Feld führt? Etwa „Wieland“? Und was bildete das Äquivalent der durch das Personalpronomen „uns“ markierten Sphäre? Etwa das als kommunikatives oder kulturelles Gedächtnis38 zu bestimmende „brüderliche Andenken“? Und was 36 Im Sinne von Tzvetan Todorov: Die Kategorien der literarischen Erzählung, in: Strukturalismus in der Literaturwissenschaft, hg. von Heinz Blumensath, Köln 1972, S. 263–294. 37 Vgl. Fritz Ernst: Vorrede, in: Goethe, Johann Wolfgang: Reden, hg. von Fritz Ernst, Basel 1943, S. 9–18. hier: S. 15f. 38 Vgl. hierzu Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und poli-
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wiederum hätte man sich unter „Wieland“ vorzustellen, was genau gälte es in den genannten Gedächtnisraum zu überführen? Als Überzusetzendes ist einzig das von Goethe gezeichnete „anschauliche Bild“ Wielands im Spiel, mithin ein durch das Logenzeremoniell, vor allem aber durch die vom Logenmeister erbetene „treue Schilderung seines Lebens“ bei den Rezipientinnen und Rezipienten aktivierter Vorstellungskomplex. Entscheidend ist nun die Frage, ob Goethes Rede als performativer Sprechakt den Vorstellungskomplex ‚Wieland‘ überzusetzen vermag in die Sphäre des Andenkens, des zunächst kommunikativen, später dann kulturellen Gedächtnisses, ob er mithin die Wielands Übersetzungstätigkeit abgehorchte oder unterstellte „dreyfache Operation“ erfolgreich zu vollziehen vermag. VII. … den „Aufsatz“ in die „Lade […] niederzulegen“ Aufschluss hierüber gibt, wie ich meine, das Ende von Goethes Rede: Vor dieser so ehrwürdigen und hochgeschätzten Versammlung, obgleich von unseren Meistern aufgefordert, über den Abgeschiedenen wenige Worte zu sprechen, würde ich wohl haben ablehnen dürfen, in der Betrachtung, daß nicht eine flüchtige Stunde, leichte unzusammenhängende Blätter, sondern ganze Jahre, ja manche wohl überdachte und geordnete Bände nöthig sind, um sein Andenken würdig zu feyern, neben dem Monumente, das er sich selbst in seinen Werken und Wirkungen würdig errichtet hat. Auch übernahm ich diese schöne Pflicht nur in der Betrachtung, daß das von mir Vorgetragene zur Einleitung dienen könne dessen, was künftig, bey wiederholter Feyer seines Andenkens von andern besser geleistet werden kann. Wird es unsern verehrten Meistern gefallen, mit diesem Aufsatze in ihre Lade alle dasjenige niederzulegen, was öffentlich über unsern Freund erscheinen wird, mehr noch aber dasjenige, was unsere Brüder, auf die er am meisten und am eigensten gewirkt, welche eines ununterbrochenen näheren Umgangs mit ihm genoßen, vertraulich äußern und mittheilen möchten, so würde hierdurch ein Schatz von Thatsachen, Nachrichten und Urtheilen gesammelt, welcher wohl einzig in seiner Art seyn dürfte. Hieraus könnten denn unsere Nachkommen schöpfen und mit standhafter Neigung, zu unserer, auch die werthesten Erinnerungen gar leicht verwehenden Zeit ein so würdiges Andenken immer fort beschützen, erhalten und verklären. (ZBA, S. 448)
tische Identität in frühen Hochkulturen, München 21997. Vgl. zum Begriff „Andenken“ im Sprachgebrauch Goethes: Art. „Andenken“, in: Goethe Wörterbuch, Bd. 1, Stuttgart u.a. 1978, Sp. 489–490: „1) Denk- und Erinnerungsvorgang, bzw. -inhalt a teilnehmendes Denken an etw Entferntes“; „b Erinnerung oder Erinnerungsbild, bes im Hinblick auf Vergangenes“, „c mehr das Erinnerungsvermögen betr; in Bez auf Denken, Gedächtnis als Funktion“.
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Am Anfang seiner Rede und gegen Ende betont Goethe das „Flüchtige“ seiner „Worte“, spricht dann (den Akzent bereits auf das Materielle seines Beitrags legend) immerhin schon von „leichte[n] unzusammenhängende[n] Blätter[n]“ und schließlich – an der Schwelle von der Vergänglichkeit der Standrede zur Unvergänglichkeit des literarischen Denkmals – von seinem „Aufsatze“, den es (er bleibt hier im Konjunktiv) in der „Lade“ zu verstauen gelte als Fundament eines zukünftigen Wieland-Archivs, als Sammlung von „Thatsachen, Nachrichten und Urtheilen“. Es ist, wie ich meine, kein Zufall, daß Goethe seinen „Aufsatz“ in der „Lade“ archiviert wissen möchte, an demjenigen Ort mithin, dem in der Logenpraxis identitätsstiftende Funktion zukommt. In der Bedeutung, die der Lade zugewiesen ist, verraten sich nämlich zwei von der Freimaurerei beerbte Traditonen: zunächst diejenige des Handwerks: „Bey den Handwerkern“, so steht es in Krünitz’ „Oekonomisch-technologischer Encyklopädie“ nachzulesen, wird der Kasten, oder das Behältniß, worin sie ihre Freyheits-Briefe, Urkunden, Rechnungen, Briefe und Gelder der Innung, oder gemeinschaftliche Casse, verwahren, die Lade, oder Meister-Lade genannt, welchen Nahmen auch figürlich die Zusammenkunft der Vorsteher und Meister einer Zunft führt, weil sie an dem Orte, wo diese Lade sich befindet, geschieht, und dieselbe dabey geöffnet wird. Daher rührt der Ausdruck: bey offener Lade; denn so oft das Gewerk zusammen kommt, und die Gilde versammelt ist, etwas zu verhandeln, muß solches bey offener Lade geschehen, und diejenigen, die bey der Innung etwas vorzubringen haben, müssen solches, wenn es gültig seyn soll, vor offener Lade thun.39
Die in dieser Praxis verankerte, das Kollektiv begründende, sicherstellende und Rechtssicherheit verbürgende Bedeutung der Lade wiederum bezieht diese rituelle Aufladung aus der altestamentlichen Bundes-Lade, die „in dem ersten Tempel der Juden, ein zierlicher Kasten [war], worin die Gesetz-Tafeln aufbewahrt wurden, und auf welchem die Herrlichkeit Gottes ruhete“.40 Ihre Bezeichnung rührt „von dem Bunde, welchen Gott mit seinem Volke aufgerichtet hatte. […] Sie stand in dem Allerheiligsten der Stifts-Hütte; gleichsam in dem Innersten des Pallastes des Herrn“.41 Das am Ende der Goetheschen Trauerrede unterbreitete Ansinnen – die Logen39 Art. „Lade“, in: D. Johann Georg Krünitz: Oekonomisch-technologische Encyklopädie, oder allgemeines System der Staats-, Stadt-, Haus- und Landwirthschaft, und der Kunst-Geschichte, in alphabetischer Ordnung, Bd. 58, Berlin 1801, S. 623–636, hier: S. 631. 40 Ebd., S. 625. „Die Bundeslade deutet auf’s alte Testament“, schreibt Goethe am 4.7.1817 an J.H. Meyer (Goethes Werke, IV. Abth., Bd. 28, Weimar 1903, S. 166– 170, hier: S. 169). Dass Goethe mit der „Bundeslade“ die Lade der Freimaurer meint, geht z.B. aus einem Brief an Kayser vom 15.3.1783 hervor (Goethe an Kayser, in: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Bd. 29, hg. von Hartmut Reinhardt, Frankfurt a.M. 1997, S. 472–473). 41 Art. „Lade“, in: Krünitz: Oekonomisch-technologische Encyklopädie, S. 625f.
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meister mögen, wenn es ihnen gefalle, „mit diesem Aufsatze in ihre Lade alle dasjenige nieder[...]legen, was öffentlich über unsern Freund erscheinen wird“ – bleibt von diesen Zusammenhängen nicht unberührt, im Gegenteil: Hinter Goethes Formulierung, die mit kaum verhohlenem Nachdruck42 um die Archivierung seiner „Worte“ ersucht, schimmert die Geste Gottes auf, die das Volk Israel begründet: die Gabe des Gesetzes.43 In der unbescheidenen Logik dieser Verknüpfung rückt sich der Sprecher selbst an die das Kollektiv begründende und diesem das Gesetz gebende Stelle Gottes. Er ist es demnach, der in der Schwellensituation der Totenfeier das ‚Volk‘ der Wielands Andenken fortan pflegenden Freimaurer und ihrer „Nachkommen“ begründet und ihm das ‚Gesetz‘ der Erinnerungsarbeit: das „anschauliche Bild“ Wielands zur Aufbewahrung in der „Lade des Bundes“ übergibt. Goethe spricht so ausführlich über die Übersetzungstätigkeit Wielands eben nicht nur, um die Leistungen des Verstorbenen auf diesem Gebiete zu würdigen. Er verhandelt den Übersetzer Wieland unter diesem Deckmantel, um im Subtext seiner Trauerrede auf die eigene Position des Sprechens zu reflektieren, auf eine Artikulation an der Schwelle von der Vergänglichkeit des Leibes zur Unvergänglichkeit der Person im kulturellen Gedächtnis und an der Schwelle von der Flüchtigkeit der Rede zur Unvergänglichkeit des literarischen Denkmals. Als „Mann von Gefühl und Geschmack“ vollzieht er zu diesem Zweck nur die erste und dritte „Operation“ des Über-Setzens, um die zweite vorzubereiten und in einem konjunktivisch so bescheiden anmutenden wie diskursiv autoritären Gestus an die Logen-Brüder zu delegieren, um „über die so scharf gezogenen Linien“ zwar „nicht hinauszuschreiten, doch hinüber zu blicken“. Dass Goethes latenter Imperativ Wirkung zeitigt, dass er es im Fall des Wieland-Nekrologs glänzend verstanden hat, „das Monopol auf Durchsetzung legitimer Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien“44 für sich zu beanspruchen, ist daran abzulesen, dass die Trauerrede bereits „im März […] in der Bertuchschen Buchdruckerei […] vervielfältigt“45 worden ist. 42 Man hat es mit einem konditionalen Verb-Erst-Satz zu tun. Dass der Charakter des Bedingungsgefüges und damit die Abhängigkeit des erwünschten Ereignisses von der Erfüllung der Bedingung (dass es den Meistern nämlich gefallen muss) verschleiert wird, ist auf die Verwendung des Verb-Erst-Satzes ohne die Konjunktion „wenn“ oder „falls“ und auf die Verwendung des Indikativs anstelle des Konjunktivs im Antezedens zurückzuführen. 43 Vgl. vor allem Ex 25,16 und Dtn 10,1–5. 44 Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt a.M. 2001, S. 253. 45 Hans Radspieler: Nachwort, in: Johann Wolfgang von Goethe: Wieland’s Andenken in der Loge Amalia zu Weimar, gefeyert den 18ten Februar 1813, hg. von Werner Friedrich Allmann, Biberach 1984, o.P. Am 10.3.1813 schreibt Goethe an Knebel: „Leider kann ich auch heute noch nicht überschicken, was ich zu Wielands
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„Die intensive Arbeit“, so lautet die Einschätzung des Münchner Kommentars, „die G[oethe] auf den Nachruf verwandte, läßt den Schluß zu, daß er darin über den offiziösen Anlaß hinausgehend seine endgültige Einschätzung Wielands darlegen wollte.“46 Dem bleibt nur hinzuzufügen, dass diese Einschätzung, die Wieland als Repräsentant der „menschenfeindliche[n] Epoche“47 der Aufklärung bestimmt, das Fundament des brüderlichen Wieland-Archivs wie (für die „Nachkommen“) des kulturellen Gedächtnisses bilden soll. Zugleich hat man es freilich mit einem literaturpolitischen Distinktionsgestus zu tun, mit einer Form des „Epoche machen[s]“, bei der es darauf ankommt, „eine neue Position jenseits der etablierten Positionen […] entstehen zu lassen“.48 Nicht in einer prosperierenden Wieland-Rezeption (die ja gerade ausgeblieben war) spiegelt sich daher die Effizienz der Goetheschen Rede, sondern in der wirkungsmächtigen Rubrizierung Wielands als Autor des vom Standpunkt des sprechenden Goethe aus defizitären 18. Jahrhunderts, der „wäßrigen, weitschweifigen, nullen Epoche“.49
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Andenken gesprochen habe. Der Druck geht langsam“ (S. 295–297, hier: S. 295); am 23.3.1813 schreibt er an Charlotte von Stein: „Verzeihen Sie, verehrte Freundinn, daß beyliegendes so spät erscheint, der Druck ist sehr langsam gegangen. Ich bitte die Blätter vorerst nicht aus Händen zu geben“ (S. 299). Die Bitte um Diskretion äußert Goethe in den folgenden Tagen in Briefen an andere Adressaten (an Schlosser, 26.3.1813, und an Knebel, 27.3.1813) mehrfach und stets in Bezug auf die Veröffentlichung seiner Rede. Beide Briefe in: Goethes Werke, IV. Abth., Bd. 23. Weimar 1900. Anfang April (Nr. 87, 12.4.1813, bis Nr. 92, 17.4.1813) wird der Text (allem Anschein nach ohne das Wissen Goethes) im „Morgenblatt für gebildete Stände“ veröffentlicht. Siegrist u.a.: Kommentar, S. 1417. Diese Bestimmung findet sich im siebten Buch des 1812 abgeschlossenen und zum Zeitpunkt der Trauerfeier bereits publizierten zweiten Teils der Autobiographie (Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, in: ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, 1. Abt., Bd. 14, hg. von Klaus-Detlef Müller, Frankfurt a.M. 1986, S. 297. Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 253. Vgl. hierzu: Wilfried Barner: Über das Negieren von Tradition. Zur Typologie literaturprogrammatischer Epochenwenden in Deutschland, in: Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, hg. von Reinhart Herzog und Reinhart Koselleck, München 1987, S. 3–51. Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, S. 295.
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Das augenfällig Geheime – Zur vermittelten Unmittelbarkeit spätaufklärerischer Historiographie Wielands „Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit“ I. Augen-Schein Wenn der Erzähler der „Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit“1 seinen (impliziten) Leser darauf hinweist, dass ein Tatbestand ganz unmittelbar und evident vor Augen läge, dann bleibt hinsichtlich allzu emphatischer Begeisterung für Empirie und Evidenz zunächst einmal Vorsicht geboten. Jener Hinweis findet sich als Element textimmanenter Kommunikation2 vor allem dann, wenn der Leser als Figur des Textes Skepsis oder Unverständnis zum Ausdruck bringt3 oder eine solche Nachfrage angesichts vorangegangener, komplizierter Erläuterungen nahe läge. Polemisch gefasst: je komplizierter das Argument ist, desto mehr betont der Erzähler in kompensatorischer Geste dessen Zugänglichkeit. In der Auseinandersetzung mit Rousseaus Thesen inszeniert sich der Erzähler etwa in argumentativer Einheit mit dem Leser als intellektuellem Partner und nimmt „natür-
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Alle „Beyträge“ siehe: Christoph Martin Wieland: Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit, in: ders.: Gesammelte Schriften (=GS), 1. Abt.: Werke V (Bd. 7, 8/2) Verserzählungen, Gedichte und Prosaschriften, hg. von Siegfried Mauermann, Hildesheim 1986, S. 315–483 (=Beyträge). Aus Gründen der Übersichtlichkeit habe ich die Titel teilweise sinngemäß verkürzt. Allerdings ist es erhellend, sich die vollständigen Titel mit ihren Untertiteln genauer anzusehen, welche bei den folgenden Zitaten ggf. in der Fußnote angeführt werden. Ferner ist zu erwähnen, dass die Titel im Inhaltsverzeichnis von denen im Text mehr oder minder abweichen. Der Vorbericht zu den Beyträgen inszeniert sich als Antwort des fiktiven Autors auf ein Gespräch mit potentiellen Lesern, die sich mit didaktischen, gesellschaftlichen und poetologischen Forderungen an die Literatur auskennen. Er beginnt wie folgt: „Ueberhaupt, meine wehrtesten Leser, ist es wie Ihr saget: […].“ (Christoph Martin Wieland: Vorbericht, in: Beyträge, GS, Bd. 7, 8/2, S. 315) Vgl. dazu folgenden Dialog zwischen Erzähler und implizitem Leser: „‚Das ist wunderlich.‘ – Es ist nicht anders, mein Herr.“ (Christoph Martin Wieland: Koxkox und Kike–quetzel, in: Beyträge, GS, Bd. 7, 8/2, S. 329)
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liche“ Erklärungen für sich in Anspruch, die wechselseitig den gesunden Menschenverstand der ‚Kommunikationspartner‘ bestätigen.4 Wielands Texte verkehren jedoch in eigentümlicher Weise die epistemologischen Positionen von Empirie, apriorischem Rationalismus, metaphysischer Erkenntnis, sowie der Psychologie und der Theorie der Einbildungskraft. Dabei ‚offenbart‘ sich der jeweils verborgene Charakter des Augenscheinlichen, sowie im Gegenzug die Tiefendimension einer Erkenntnis als Banalität entlarvt wird. Anhand einiger Beispiele aus den Texten „Reise des Priesters Abulfauaris ins innere Afrika“ und „Die Bekenntnisse des Abulfauaris […]“ sowie „Über die von J.J. Rousseau vorgeschlagenen Versuche […] nebst einem Traumgespräch mit Prometheus“ möchte ich dieses merkwürdig verschränkte Verhältnis illustrieren, um abschließend zu zeigen, welchen Stellenwert jene Art der Übersetzung auf Ebene der metahistoriographischen Reflexion bei Wieland einnimmt. Das Geheimnis des Priesters Abulfauaris offenbart sich in der Wiederholung sowie Konfrontation zweier (textueller) Varianten desselben ‚historischen‘ Sachverhaltes. In diesem Zusammenhang spielen die Fähigkeit bzw. Möglichkeit des Zitierens eine besondere Rolle. Denn gerade das Zitat funktioniert im Modus des gleichzeitigen Ver- und Entbergens und gibt damit Auskunft über die Leistungsfähigkeit und die Grenzen einer historiographisch basalen Operation. Das synthetisierende ethnologische bzw. historische Ideal einer Annäherung bei gleichzeitiger wissenschaftlich-objektiver Distanz erweist sich als Traumbild – ob mit prometheischem Potential oder nicht, bleibt offen. Auch konzeptuell stehen die Beyträge dem Verfahren des Zitats näher als einem umfassenden Gesamtentwurf. Verschiedene Themen, aber auch variante Textgattungen werden durch sie zitiert und miteinander verschränkt. Obgleich die Beyträge sich grundlegend mit Fragen der Geschichtsphilosophie auseinandersetzen, organisieren und arrangieren sie diese in einer Form, welche die Grenzen literarischer Gattungen überschreitet. Das lockere Zusammenspiel der einzelnen Beyträge und deren dennoch auf mehreren Ebenen durchkomponierter intertextueller Dialog tragen nicht allein dazu bei, thematisch differenzierte Perspektiven zu gewinnen, sondern diese metahistoriographisch zu variieren und zu reformulieren.
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Christoph Martin Wieland: Betrachtungen über J.J. Rousseaus ursprünglichen Zustand des Menschen, in: Beyträge, GS, Bd. 7, 8/2, S. 377: „Doch, wir wollen ihm nicht Unrecht thun: […].“
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II. Eine Schrift aus lauter Beyträgen Die hybride poetische Anlage der Texte „Koxkox und Kikequetzel“ (1769/70), „Betrachtungen über J.J. Rousseaus ursprünglichen Zustand des Menschen“ (1770), „Über die von J.J. Rousseau vorgeschlagenen Versuche […] nebst einem Traumgespräch mit Prometheus“ (1770), „Über die Behauptung, daß ungehemmte Ausbildung der menschlichen Gattung nachtheilig sey“ (1770), „Über die vorgebliche Abnahme des menschlichen Geschlechts“ (1777), die „Reise des Priesters Abulfauaris ins innere Afrika“ und „Die Bekenntnisse des Abulfauaris […]“ (beides o.J.)5 als Beyträge steht in spezifischem Zusammenhang mit der Frage nach dem Geheimnis, das die „Geschichte der Menschheit“ geschichtsphilosophisch sowie historiographisch stellt. Auf beide Aspekte – den Beytragscharakter und das Geheime – weist der Titel nicht nur dezidiert hin, vielmehr fungieren sie als zentrale Kompositionsprinzipien der poetischen Gestaltung und historiographischen Umsetzung. Die sieben Beyträge zu variierenden Themen sind locker mit dem gemeinsamen Grundthema des ‚ursprünglichen Standes der Menschheit‘ und der Frage nach dem (notwendigen) Austritt aus diesem Stand verknüpft. Dabei ist der Gestus der Texte recht unterschiedlich. Gerahmt werden die Beyträge durch zwei Erzählungen am Anfang und am Ende, wobei die letzte Erzählung eine (wichtige) Spaltung in eine vermeintlich objektive Erzählung und dem sie relativierenden autobiographischen Bekenntnis aufweist.6 Die vier mittleren Beyträge setzen sich in der Form von Abhandlungen kritisch mit der Frage nach dem arkadischen Ursprung des Menschengeschlechts auseinander. Die Frage nach der Entwicklung sozialer Regeln innerhalb entstehender Natur-Gesellschaften sowie die Diskussion von Verfalls- bzw. Abfallsszenarien bieten den kritisch-polemischen Angelpunkt einer Auseinandersetzung mit J.J. Rousseau dar. Für die Anlage der Beyträge ist es dabei von Bedeutung, dass Reaktionen dieser Auseinandersetzung oder Thesen zur Widerlegung Rousseaus nicht allein innerhalb dieser Abhandlungen diskutiert werden.
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Vgl. Fn. 1. Es handelt sich jeweils um abgeschlossene Elemente: eben um Beyträge. Ich nehme bezüglich des Gesamtarrangements auf die Editionssituation und die Varianten der Zusammenstellung der Beyträge an dieser Stelle keine Rücksicht. Auch der mancherorts abweichende Titel „Geheime Geschichte des menschlichen Verstandes und Herzens“ scheint mir nicht gegen meine Interpretation zu sprechen, sondern betont vielmehr die Möglichkeit von beständiger Variation im Dienste didaktischer Bedeutungsverschiebung und -erweiterung.
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Einerseits tauchen sie in den Erzählungen wieder auf, etwa als Erzählerkommentar, Exkurs oder ungekennzeichnetes Zitat, andererseits bilden sie Teile der erzählten Welt selbst. Eine Mitteilung als Beytrag zu betiteln bzw. zu inszenieren, stellt auf verschiedenen Ebenen den Charakter ihrer Partikularität heraus, beispielsweise thematisch, diskursiv oder diskursgeschichtlich. In besonderem Maße gilt dies jedoch auf der poetologischen Metaebene von Komposition und Kommunikation. Dabei ist besonders daran zu denken, dass ein Beytrag zunächst keiner literarischen Gattung, ja nicht einmal der Schriftform selbst verpflichtet ist. Welchen Bezug stellt dieser Gestus – und ich würde sagen, dass es sich im Blick auf geschichtsphilosophische Problemstellungen um einen Bescheidenheitsgestus handelt – zum Gegenstand der Texte her, und was kann es hinsichtlich dieses Gegenstandes bedeuten, verschiedene Beyträge miteinander zu verknüpfen oder gleichsam zu verklammern? Stellt die Klammer in Bezug auf historiographische Problemstellungen wiederum den Versuch einer akkumulativen Annäherung an ganzheitliche Repräsentation des nicht-repräsentierbaren Gegenstandes dar? Oder geht es vielmehr darum, eine Art dynamisches Gleichgewicht zwischen metahistoriographischer Reflexion und literarischer Annäherung respektive literarischem Experiment einzustellen? III. Offensichtliches und Verborgenes In der folgenden Untersuchung möchte ich zeigen, dass sich in der Struktur des Verhältnisses von Offensichtlichem und Verborgenem die poetologische Organisation der Beyträge insgesamt ‚widerspiegelt‘. Offensichtliches und Verborgenes sind strukturell aufeinander angewiesen. Die Annahme des einen schließt das andere Moment immer schon mit ein. Dabei wäre es jedoch zu kurzschlüssig, anzunehmen, ein Moment bilde das logische Pendant oder die Quelle des jeweils anderen. Die Korrelation von Offensichtlichem und Verborgenem ist nicht eindimensional aufzufassen, sondern ergibt sich jeweils über eine komplizierte Verweisstruktur innerhalb der Texte. Insofern geht es nicht darum, die Art ihres Bezuges eindeutig aufzuklären, sondern die Beobachtung ernst zu nehmen, dass ihr reziprokes Verhältnis beständig in der Schwebe bleibt. Somit stellt ein Moment die ihm jeweils verborgenen Dimensionen mit dar, ohne sie vollständig zu offenbaren. Jene Korrelation ist für die poetologische Organisation des Textes von Bedeutung und transportiert damit eine metahistoriographische Antwort auf die Frage der Erzählbarkeit von Geschichte.
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IV. Epistemologie In meiner Untersuchung der Relation von Offensichtlichem und Verborgenem gehe ich von der Annahme einer epistemologischen Funktion der beiden Elemente aus. Erfahrung und Wissen können als Bereiche des Bekannten – des Gewussten und Bewussten – und Unbekannten – des Unbewussten und Unentdeckten – aufgefasst werden. Ein epistemisches Feld wie die Historiographie hat wiederum ein spezifisches epistemologisches Verständnis von den Bedingungen und Möglichkeiten sowie den Grenzen seines Erkenntnisgegenstandes und seines Erkenntnisvermögens selbst. Wenn hier von Offensichtlichem und Verborgenem die Rede ist, geht es mir jedoch weniger um die tatsächlichen Bereiche des Wissbaren und (noch) Unbekannten. Vielmehr stelle ich mir die Frage nach der Koexistenz oder Interaktion der Dinge und Verhältnisse, die vor Augen liegen, mit ihren Pendants, die verborgenen – (noch) unbekannt oder geheim – bleiben. Jenes konträre Verhältnis wird literarisch in Szene gesetzt und als poetisches Prinzip in den Text eingeführt. Dabei liefern nicht allein die einzelnen Beyträge verschiedene Grade und Medien von Verborgenheit und Offensichtlichkeit in den Geschichten, die sie erzählen. Sondern der Zusammenhang der Beyträge insgesamt wird auf mehreren Ebenen wie Erzählerkommentar (Exkurse), Figurenrede, Interaktion mit den Lesern und den ‚Stimmen der Zeit‘7 vom Streit zwischen Empirismus, Rationalismus und Skeptizismus durchzogen. Insofern man etwa die Emphase der Offensichtlichkeit einer positivistisch-empirischen Position oder die Persistenz des Verborgenen dem philosophischen Idealismus zurechnet, bzw. das Changieren beider Behauptungen im Text als Hinweis auf endlose Spekulation und philosophischen Skeptizismus liest, deutet sich bereits eine Wissenschafts- (und damit Philosophiegeschichte) en miniature an. Aufschlussreich in dieser Hinsicht ist der Einsatz der Metapher des Sehens, welche als Seismograph feinster wissenschafts- und disziplingeschichtlicher Differenzierungen gel-
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Im Blick auf Moralphilosophie und Positionen der Tugendlehre etwa in: Christoph Martin Wieland: Reise des Priesters Abulfauaris, in: Beyträge, GS, Bd. 7, 8/2, S. 465. Hier werden die Positionen einer natürlichen Moral mit einer strengen Tugendlehre – welche an eine populär-polemische Deutung des kantischen PflichtGrundsatzes erinnert – konfrontiert. Kennzeichen dieser Einschübe der ‚Stimmen der Zeit‘ sind häufig ‚unmotivierte‘ Anführungszeichen, die einen Dialog kennzeichnen, der nicht von bereits etablierten Figuren im Text getragen wird. Nach einem kurzen ‚Schlagabtausch‘ verschwinden diese stichischen Einschübe wieder aus dem Text.
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ten kann. So fungieren die Augen in metaphorischer Übertragung als Organe des natürlichen unmittelbaren Erfassens und Begreifens. Bereits der Vorbericht kennzeichnet mittels dieser Metaphorik die Rezeptionshaltung, die der fiktive Herausgeber vom Leser erwartet. In diesem Sinne kennzeichnet die optische Metaphorik sogar eine besondere hermeneutische Fähigkeit, welche weitestgehend auf diskursive Erkenntnisgewinnung verzichten kann. Mich deutlicher und näher über das Wesen und die Form dieses Werkes […] vernehmen zu lassen, däucht mir, […], wo nicht überflüßig, doch entbehrlich; und diejenige unter euch müßten blöde Augen haben, welche dies alles nicht eben so gut als ich selbst wissen sollten, wenn sie bis zum letzten Blatt des letzten Theils gekommen seyn werden.9
In den Vordergrund tritt die differenzierte ambivalente Positionierung des Erzählerkommentars, der auf den Charakter der Offensichtlichkeit insistiert, während er angesichts der Frage nach dem menschlichen Ursprung und seiner Ausdifferenzierung sowohl fortschrittsgläubigen Optimismus als auch romantische Verfallsmelancholie zurückweist. Am stärksten polemisiert er allerdings gegen abstrahierende philosophische Spekulation und Deduktion, indem er die Leistungen erfahrender Erkenntnis sowie des gesunden Menschenverstandes herausstellt. Der Apell, lediglich „die Augen aufzuthun“10, folgt dem Paradigma unmittelbarer sinnlicher Evidenz, man solle aus dem lernen, „[…] was uns die allgemeine Erfahrung, mit der unwidersprechlichsten Evidenz, […] zuruft.“11 Sieht man im Zuge einer Analyse jedoch genauer hin, dann scheint das Plädoyer für die Unmittelbarkeit eines empiristischen Weltverständnisses nicht mehr ganz so eindeutig auszufallen. Das Medium, dem der Text verpflichtet ist, organisiert sich aufgrund der Zurückweisung reflexiver Techniken der Wirklichkeitserkenntnis primär literarisch. Dabei wird die narrative Form nicht allein in den Erzählungen von „Koxkox und Kikequetzel“ und des Priesters Abulfauaris instituiert. In gleicher Weise wie die Narrationen keine reinen Erzählformen darstellen, da sie etwa Exkurse zu philosophischen oder ästhetischen Fragestellungen
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Vgl. dazu grundlegend Ralf Konersmann (Hg.): Kritik des Sehens, Leipzig 1997; die Einleitung. 9 Wieland: Vorbericht, Beyträge, GS, Bd. 7, 8/2, S. 316. 10 Christoph Martin Wieland: Über die von J.J. Rousseau vorgeschlagenen Versuche den wahren Stand der Natur des Menschen zu entdecken nebst einem Traumgespräch mit Prometheus, in: Beyträge, GS, Bd. 7, 8/2, S. 392–416, hier: S. 402). 11 Ebd., S. 403. Ich nehme hier keine Rücksicht auf das Wandern der Metaphorik vom Bereich des Gesichtssinns in den des Hörsinns.
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ausbilden12, sind auch die Abhandlungen nicht ausschließlich Traktate, sondern werden durch erzählerische und tropologisch-rhetorische Elemente unterbrochen.13 Mittels dieser Praxis gelingt es den Texten einerseits, ihre Themen und Thesen durchweg präsent zu halten. Bestimmte Kernthemen tauchen an unterschiedlicher Stelle in leicht modifizierter Form fortwährend auf. Andererseits garantieren diese Brüche die Lebhaftigkeit der Texte; die theoretischen Exkurse des Erzählers behalten als Metaebene eines Textes kaum das letzte Wort. Als programmatisch unumgänglich kündigt sich dieses Mischungsverhältnis bereits im Vorbericht an, der sich implizit auf den horazischen Grundsatz delectare et prodesse bezieht.14 Die Form der Beyträge richtet sich nicht allein als thematisches Konvolut an den interessierten Leser – etwa wie eine Zeitschrift –, sondern der Eindruck des Konvoluts ergibt sich auch für die Binnenebene der einzelnen Beyträge. Im folgenden Teil widme ich mich den Erscheinungsformen des Verborgenen, deren paradoxer Charakter anhand einiger Beispiele expliziert wird. Dabei gilt zwei Elementen der Beyträge, in denen das Verhältnis von Offensichtlichem und Verborgenem in Szene gesetzt wird, besondere Beachtung. Es handelt sich zum einen um das Geheimnis, das prominent bereits im Titel auftaucht. Zum anderen geht es um den Einsatz von gekennzeichneten, dabei allerdings unkenntlich gemachten Zitaten, welche auf diese Weise wiederum einen geheimen Status erhalten.15 V. Geheimnis Die „Reise des Priesters Abulfauaris ins innere Afrika“16 ist die Erzählung der Kolonisationsbestrebungen eines ägyptischen Priesters, der „eine klei12 Zum Verhältnis Kunst/Natur (ästhetische Theorie), Sprachentstehung (Semiotik), zu Fragestellungen der Anthropologie, Repräsentation usf. 13 Als letztere verstehe ich z.B. die ‚Stimmen der Zeit‘: das sind zwar gekennzeichnete, aber nicht auf einen Äußerungs-Ursprung zurückführbare Zitate. Man könnte diese Praxis als eine Art von Prosopopoiia auffassen. 14 Wieland: Vorbericht, Beyträge, GS, Bd. 7, 8/2, S. 315: „Meine geringste Absicht ist, daß es euch amüsieren, meine vornehmste, daß es euch besser machen möchte.“ 15 Das genannte Verhältnis spiegelt sich auch in der Sprachursprungsthematik – im Verhältnis von Augen- und lautlicher Sprache – wider, die in der Erzählung von „Koxkox und Kikequetzel“ aufgenommen wird. 16 Wieland: Reise des Priesters Abulfauaris ins innere Afrika, Beyträge, GS, Bd. 7, 8/2, S. 458–468; Bekenntnisse des Abulfauaris gewesenen Priesters der Isis in ihrem Tempel zu Memfis in Nieder-Ägypten. Auf fünf Palmblättern von ihm selbst geschrieben und aus des berühmten E v e m e r u s Beschreibung s e i n e r Reise in die Insel Panchäa gezogen (ebd., S. 468–483). In Bezug auf die „Bekenntnisse“ sei nur
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ne Völkerschaft von fingernackten Leuten“17 im inneren Afrika policiert. Er ‚schenkt‘ – tatsächlich handelt es sich um Tauschhandel – ihnen Kleidung und trägt auf diese Weise zum moralischen Verfall der Völkerschaft bei. Als Regulativ dieses Verfalls führt er die ägyptische Religion ein. Wie sich jedoch in den nachfolgenden autobiographischen Bekenntnissen offenbart, verdankt sich diese Missionstätigkeit eigentlich der Leidenschaft für „die schöne Mazulipa“18 und dient ihrer Verführung mittels der fingierten Einführung in die Mysterien der Isis. In der Gegenüberstellung beider Erzählungen, denen zwei verschiedene Erzählgattungen und drei Erzählerstimmen zuzuordnen sind19, wird deutlich, dass die vermeintlich objektiven Versionen der Geschichte immer auch mit ihren subjektiven Varianten zu konfrontieren sind. Das Subjekt, das als Verantwortlicher für die sozialen Vorgänge einsteht, wird nicht in erster Linie durch äußere Umstände in der Durchsetzung seiner Ziele korrumpiert, sondern – bei aller Reflexivität und Selbsterforschung – durch „alle die geheimen Winkel des Herzens“. „Die geheimen Umstände dieser Hauptepoche [des] Lebens […]“20 werden nicht einfach durch das geständige Subjekt offenbart, sondern eröffnen eine weitere
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angedeutet, dass allein durch diesen Titel eine komplexe, metahistorisch sowie metahistoriographisch ‚reiche‘ Überlieferungsfiktion eingesetzt wird, die über Evemerus (Euhemerus) sogar auf semantischer Ebene in weitere Tiefenschichten hinabführen könnte. Im Blick auf die diskutierte Frage der Überlieferung ist bedeutsam, dass das autobiographische subjektive Bekenntnis nur zufällig in einer anderen Schrift aufgehoben ist – und zwar rein materiell (hier fiktiv in der „Reise zur Insel Panchäa“. Jene Schrift ist wiederum real nur bruchstückhaft in späteren Konvoluten als Sammlung erhalten. Etwa in Peter Wesseling: Diodoros von Sizilien, Amsterdam 1747, Bd. 2). Wieland: Reise des Priesters Abulfauaris ins innere Afrika, in: Beyträge, GS, Bd. 7, 8/2, S. 458. Beide Zitate vgl. Wieland: Reise des Priesters Abulfauaris ins innere Afrika, Bekenntnisse des Abulfauaris […], Beyträge, GS, Bd. 7, 8/2, S. 479; „policiert“ (ebd.). Die erste Erzählung (der „Reise“) beginnt im ersten Kapitel mit einem allwissenden Erzähler, um dann bis zum zweiten Kapitel in eine Ich-Erzählung überzugehen, deren Erzähler der Priester Abulfauaris selbst ist (im dritten Kapitel setzt dann wieder die allwissende Erzählung ein). Beide Erzählformen werden von Einschüben wörtlicher Rede durchsetzt, was im (zweiten) Fall der „Bekenntnisse“ den Eindruck entstehen lässt, dass sich Abulfauaris tatsächlich einem Gegenüber offenbart. Am Ende der ersten Erzählung meldet sich dann ein Herausgeber-Erzähler zu Wort, der die Veröffentlichung der „Bekenntnisse des Abulfauaris […]“ rechtfertigt. Das dann folgende autobiographische Bekenntnis ist wiederum als Ich-Erzählung, als eine Art Zwiegespräch, gehalten – irritierend ist dabei, dass jene erste Erzählung der „Reise […] “ dieses Element bereits enthält. Wieland: Reise des Priesters Abulfauaris ins innere Afrika, Bekenntnisse des Abulfauaris […], Beyträge, GS, Bd. 7, 8/2, S. 480 u. S. 477.
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Dimension, die zunächst verborgen bleiben muss und erst der Retrospektive zugänglich ist. Abulfauaris steht in mehrfacher Hinsicht im Bezug zum Geheimen. Als Priester der Isis beherrscht er „[…] die Kunst, [s]eine Leidenschaften zu verbergen“21 und ist zudem mit der ‚Aufbewahrung‘ der Gesetze und „Mysterien“22 betraut. In der Konstellation der Kolonialgeschichte hat er sowohl Geheimnisse vor dem ägyptischen Kolonialherren, seinem König, als auch vor den „armen Negern“ sowie gegenüber seinen Ordensbrüdern.23 Allerdings ist er damit nicht der einzige, der sich über sich selbst aufklären könnte. Das Geheimnis des Abulfauaris verdoppelt sich gewissermaßen, denn die Ursachen seines Handels sind zum Teil auch vor ihm selbst verborgen. Dabei wird es undurchsichtig, ob das Spiel der Verstellung, das er inszeniert, Ursache oder Wirkung dieses Selbst- sowie Fremdbetrugs darstellt. Über die Bekleidung der „Weiber und Mädchen“24 führt er dieses Spiel der Verstellung in die „Völkerschaft“ ein, er ‚hilft‘ verbergen, was im Wortsinn nackte Wahrheit war, und insinuiert damit den Reiz des Verborgenen25 innerhalb einer Gesellschaft, deren Einbildungskraft und „Geschlechtstrieb“ zuvor noch schlummerten26. Die Kleidung befördert in einem Modus der Verstellung den moralischen Verfall, den sie eigentlich verhindern (hemmen) sollte, ebenso wie die Mysterien helfen, die Sublimierung von Abulfauaris’ Leidenschaften schließlich doch ihrer sinnlichen Erfüllung zuzuführen.27 Wie „geheim“ ist das „Geheime“ nun aber tatsächlich, und was bedeutet es, ein Geheimnis zu offenbaren? Im jugendlichen Skeptizismus des Priesters findet „eine gewisse Aufrichtigkeit des Herzens“ ihren Ausdruck, die über den Teil der „exoterischen“ Religion28 der Ägypter Aufschluss gibt.
21 Ebd., S. 468. 22 Christoph Martin Wieland: Gesetze des Hermes Tresmegistos, in: Beyträge, GS, Bd. 7, 8/2, S. 473; ders.: Mysterien des Osiris und der Isis, in: Beyträge, GS, Bd. 7, 8/2, S. 469. 23 Vgl. ebd., S. 478 u. S. 469. 24 Wieland: Reise des Priesters Abulfauaris […], Beyträge, GS, Bd. 7, 8/2, S. 459. 25 Vgl. ebd., S. 464. 26 „schlafen gelegt“ heißt es im Text (ebd., S. 463). 27 An zwei Stellen wird davon gesprochen, dass Abulfauaris beabsichtigt, sich zu einem „neuen Hermes“ aufzuschwingen, vgl. Wieland: Bekenntnisse des Abulfauaris […], Beyträge, GS, Bd. 7, 8/2, S. 478. 28 Ebd., S. 469.
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Du bist überzeugt, sagte ich zu mir selbst, daß alle diese Götter, […], weder mehr 29 noch weniger gewesen sind, als Menschen wie du ; […]. Die Aufschlüsse sind unwidersprechlich, welche du durch die Iniziazion von dieser Wahrheit bekommen 30 hast, von der dich schon die bloße Vernunft hätte überzeugen sollen.
Der ‚Freydenker‘ sähe die Aufgabe seines Priesteramtes darin, „[…] diesem Pöbel bessere Begriffe beyzubringen“, ihn aus dem Aberglauben herauszuführen und aufzuklären.31 Gegen diese „Aufklärung“32 spricht die eigentlich politische Funktion der Religion, welche in staatserhaltender Moralisierung besteht. Die „geheime Lehre“ des Hermes Tresmegistos „[müsse] aus einem politischen Gesichtspunkte betrachtet werden […]“ und ist aus diesem Grund auch nicht für alle Zeiten gültig, sondern modifizierbar und historisierbar.33 Insofern ihnen alltägliche Naturerscheinungen zu Zeichen werden, weisen die Ägypter Züge eines abergläubischen Volkes auf. Ihre spezifische Lektürefähigkeit scheint sich gerade dem zivilisatorischen Stand als Hochkultur zu verdanken. Sie leben in einem „Land der Wunder“, inmitten lauter „Seltenheiten der Natur und der Kunst“, sowie „[…] geheimnißvoller Denkmähler eines die Geburt aller andern Völker übersteigenden Alterthums“.34 Kein mystisches Element ist der Offenbarung der hermetischen Schriften inhärent. Vielmehr säkularisiert sich das Priesteramt sogar als Regulativ der exekutiven Gewalt des Königs.35 Einerseits gibt sich die Religion etwa in ihrer exoterischen Götterverehrung aus vernünftigen Gründen mystisch, da das abergläubische Volk und sein abergläubischer König noch nicht zur Aufklärung fähig sind. Andererseits ist gerade diese vernünftige politische Funktion aus Gründen politischer Stabilität zu verheimlichen. Demgegenüber verhält sich der missionierende Freydenker in seiner Situa-
29 Vgl. die Überlegungen zum heroischen Zeitalter, in: Christoph Martin Wieland: Über die vorgebliche Abnahme des menschlichen Geschlechts, in: ders.: Beyträge, GS, Bd. 7, 8/2, S. 438–457. 30 Wieland: Die Bekenntnisse des Abulfauaris […], Beyträge, GS, Bd. 7, 8/2, S. 469f. 31 Dass hier die gesamte Kolonialgeschichte als Spiegel europäischer Selbstverständigung und Expansion zu lesen ist, ist besonders reizvoll, da das Setting ‚Ägypten‘ diese Geschichte in eine Vorzeit verlegt, die zugleich als europäische Vorzeit verstanden werden muss, insofern Griechenland hier als Adept und Vermittler ägyptischer Hochkultur fungiert. 32 Wieland: Die Bekenntnisse des Abulfauaris […], Beyträge, S. 470. 33 „Er fügte hinzu: Alles was er an den Ägyptern hätte thun können, sey nur ein roher Entwurf, der von uns, seinen Nachfolgern, ausgearbeitet und poliert werden müsse; welches nicht anders als nach und nach geschehen könne.“ (ebd., S. 473) 34 Ebd., S. 474. 35 Vgl. ebd., S. 471.
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tion korrupt, selbstherrlich und ‚leidenschaftlich‘.36 Dennoch agiert er nicht skrupellos. Ihm ist tatsächlich jederzeit bewusst, was für eine Gefahr von seinem ‚Geschenk‘ der Bekleidung ausgeht. Diese skeptische Position wird in der ersten Erzählung deutlich markiert, nicht zuletzt durch die zivilisationskritischen Einwände des griechischen Philosophen Diagoras, der als ‚schlechtes Gewissen‘ des Priesters fungiert. Die Irritation, dass Einsicht nicht zwangsläufig zu entsprechendem Handeln führt, wird dann in den „Bekenntnissen“ ihrer Auflösung zugeführt. Abulfauaris befindet sich in ständigem Widerstreit mit sich selbst und seinen Motiven, was ihn dazu zwingt, diese nicht nur vor anderen Menschen, sondern auch vor sich selbst zu verbergen. Er arbeitet gegen seine ihm durchaus bewusste Leidenschaft für die schöne Mazulipa an, deren sinnlicher Ursprung kein Geheimnis für ihn darstellt. Jedoch setzt sich der Plan ihrer Verführung unbeirrt im Innern fort, so dass jegliche Maßnahme der Verdrängung des Begehrens umso stärker an seiner Verwirklichung mitarbeitet.37 Die Initiation der schönen Mazulipa in die Mysterien hat ebenso wenig mystische (kultische) Funktion wie die Verkleidung des Abulfauaris als Anubis. Tatsächlich offenbaren sich die geheimen Absichten des Abulfauaris in der Zelebrierung der Mysterien als profan, bleiben jedoch weiterhin verborgen für die schöne Mazulipa. Was Abulfauaris an Mazulipa reizt, ist ihre topische Naivität, die sie als „fanatische“ und „bethörte Unschuld“ „der Willkühr der Götter“38 überlässt. Ich würde mir selbst Unrecht thun, meine Brüder, wenn ich sagte, daß ich mir der Absicht, welche mich so reden machte [dass man sich der Willkür der Götter überlassen solle, KK], deutlich bewußt gewesen sey; aber ich mußte doch fühlen, daß ich eine Absicht hatte, und ich getrauete mir nicht sie aus meinem Busen hervor zu ziehen.“ „Aber, ach! wer kennt, eh’ ihn seine eigene Erfahrung belehrt hat, alle die geheimen Winkel des Herzens, in deren sicherm Hinterhalte die versteckte Leidenschaft, indessen wir von Triumfen träumen, auf Gelegenheiten lauert, uns unge39 warnt und unbewaffnet mit verdoppelter Wuth zu überfallen?
Die Frage nach der subjektiven Motivation als Ursache gesellschaftlichen Handelns scheint mir hier insofern relevant, als deutlich wird, dass der reflektierende Aktant eine Dimension seines Handelns zu berücksichtigen hat, die sich reflexiv gerade nicht auf den Begriff bringen lässt. Zugang zur verborgenen Dimension ermöglicht in der gegenwärtigen Situation allein 36 „[…] der Geitz, der Stolz und die Üppigkeit des Priesters Abulfauaris die wahren Ursachen […].“ (ebd., S. 477) 37 Und wirkt auf diese Weise ähnlich durchschlagend wie die Religion auf die politische Verfassung der Ägypter. 38 Wieland: Die Bekenntnisse des Abulfauaris […], Beyträge, GS, Bd. 7, 8/2, S. 482– 483. 39 Ebd., erstes Zitat S. 482; zweites Zitat S. 480.
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das Gefühl, das in seiner Bedeutung diffus bleiben muss. Durch die Furcht vor seinen unbewussten Motiven ist der Handelnde in seiner konsequenten Selbstaufklärung gehemmt.40 Qua Reflexion lässt sich der ‚Weg zur Wahrheit‘ nicht antizipieren, sondern er führt über die historische Erfahrung der missgeleiteten Handlung, die – in diesem Fall – durch den Akt des autobiographischen Schreibens eingeholt werden muss. Erst als es zu spät ist, stellt sich die Einsicht ein. Verspätung als Symptom historischer Nachträglichkeit bringt damit jedoch die Einforderung von Offenbarung gegenüber der Nachwelt mit sich (im Sinne der historia magistra vitae). Dabei ist das moralische Exemplum, das Abulfauaris mit seiner geheimen Biographie gibt, nur als Warnung für seine Ordensbrüder gedacht. Insofern sie – wie die Mysterien – nur für einen begrenzten Kreis Eingeweihter bestimmt ist, bliebe sie also weiterhin geheim. Interessant ist nun, wie der Erzähler in Anknüpfung an diesen ‚letzten Willen‘ die Veröffentlichung des ‚Dokumentes‘ rechtfertigt. Diese Hochachtung, – […] scheint uns die fromme Pflicht aufzulegen, diese Bekenntnisse in der Dunkelheit, […] – ungestört ruhen zu lassen. Und doch – wenn wir auf der andern Seite bedenken, daß der Priester Abulfauaris kein Recht hatte, uns, die wir über zwey tausend Jahre später in die Welt kamen als er, eine Verbindlichkeit aufzulegen, wodurch wir einer höhern Pflicht genug zu thun verhindert werden; […] Daß der Nutzen, welchen wir der Nachwelt durch die Bekanntmachung seiner Bekenntnisse, so viel an uns ist, verschaffen, vermuthlich das einzige Mittel ist, den Schaden, den seine Fehler und Verirrungen der Menschheit zugefügt haben, einiger Maßen zu vergüten: so verschwinden alle unsere Bedenklich41 keiten wieder; […].
Diese Textpassage formuliert eine reziproke Verbindlichkeit, die die drei Zeitebenen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verklammert. Was Abulfauaris an Fehlern begeht, wirkt sich nicht nur auf sein unmittelbares Handlungsumfeld aus, sondern zeitigt eine Tiefendimension, die gleichermaßen historische wie regionale Grenzen transzendiert. Im Umkehrschluss bedeutet das für die historische Langzeitperspektive, dass vergangenes Handeln ebenso positive überzeitliche Effekte bewirken könnte. Als Konsequenz dieses Arguments löst sich dann die Verpflichtung, welche die Gegenwart gegenüber der Vergangenheit hat, angesichts der Verpflichtung, die sie im Blick auf zukünftige Generationen bin40 Wie Erhard es treffend mit Fokussierung auf Mechanismen der Kolonisation feststellt, führt die Auseinandersetzung mit dem Fremden zur Konfrontation mit der unbekannten Dimension des eigenen Selbst (ins innere Afrika). Vgl. Walter Erhard: „Was nützen schielende Wahrheiten?“ Rousseau, Wieland und die Hermeneutik des Fremden, in: Rousseau in Deutschland. Neue Beiträge zur Erforschung seiner Rezeption, hg. von Herbert Jaumann, Berlin/New York 1994, S. 47–78, hier: S. 64. 41 Wieland: Reise des Priesters Abulfauaris […], Beyträge, GS, Bd. 7, 8/2, S. 467f.
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det, auf („so viel an uns ist“). Die Argumentation verläuft weitgehend utilitaristisch42 und stellt die historisch-pragmatische Konstruktion in den Rahmen einer Universalgeschichte, deren integrativer Begriff die Menschheit ist. Man kann dieses nahezu topische Argument geschichtsphilosophisch lesen: das ist hier meines Erachtens jedoch sekundär. Nachhaltiger scheint sich einerseits die rhetorische Einlösung dieser Prämisse auszuwirken, die darin besteht, den Einspruch des Lesers dem Text selbst einzuschreiben. Andererseits hebt die geschichtsphilosophische Argumentation den Bereich des Esoterischen und Arkanen auf, insofern nicht mehr nur die – in die Mysterien der Isis – Eingeweihten Zugang zu dieser ‚Geheimschrift‘ haben können und dürfen. Mysteriöses sakrales Leben wird säkularisiert und zu einem Zeugnis humanistischen Wissens stilisiert (damit jedoch zugleich zum common sense abgeschwächt). Die Offenbarung des Geheimnisses – und das ist hier das, was unmittelbar vor Augen liegt43 – die Plausibilität der sinnlichen Affektion des Priesters, löst den Status des Geheimen auf. Weil es mit den Instrumenten menschlicher Selbsterkenntnis – in Form der Autobiographie – bzw. durch die Reflexion historischer Erfahrung aufgeklärt werden kann, büßt das Geheimnis seinen arkanen Charakter ein. Insofern gilt: das Geheime ist das Offenbare. Und im Umkehrschluss zeigt sich: das Offenbar(t)e ist das Geheime. VI. Zitierpraktiken Anhand eines zweiten Beispiels gilt es diese These zu erläutern, welches das Thema der Zitierpraktiken aufgreift. Abgesehen von der ‚notorischen‘ Vielstimmigkeit von Wielands Text, die sich unter anderem in Überlieferungsfiktionen und der damit verbundenen Vervielfältigung von Erzählerpositionen sowie in der Einbeziehung des Lesers spiegelt, lassen sich unbestimmte Reste bemerken, die offenbar als Zitate präsentiert werden, insofern sie nämlich in Anführungszeichen gesetzt sind, deren Ursprung hingegen im Dunkeln bleibt. Ihnen wird kein Aussagesubjekt (kein Autor) zugeschrieben, ihnen fehlt die Quellenangabe in Form einer Fußnote. Tatsächlich irritieren diese ‚Zitate‘ auf den ersten Blick kaum: analog zur Einbeziehung des Lesers wären sie als ‚Stimmen der Zeit‘ lesbar. Diesen Stimmen eignet der Ton philosophischer Paraphrasen, die häufig in einer Art 42 Und steht damit im Kontrast zum vorangehenden Diskurs über mögliche Handlungsmotivationen, etwa aus Pflicht oder Neigung, vgl. Wieland: Die Bekenntnisse des Abulfauaris […], Beyträge, GS, Bd. 7, 8/2, S. 466. Man ist geneigt, eine Auseinandersetzung mit Kant im Hintergrund anzunehmen. 43 Dem gesunden Menschenverstand (vgl. das Zitat zu den Mysterien) und Sentiment (dem moralischen Gefühl) zugänglich.
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Diskussion, die bis zum Streitgespräch führen kann, im Text gegeneinander geführt werden. Größtenteils ‚versäumt‘ es die Erzählinstanz dabei eindeutig festzulegen, was denn nun die richtige Meinung sei. Formal wäre also davon zu sprechen, dass der ‚Diskurs der Zeit‘ einbezogen wird. Inhaltlich, auf Ebene der Aussagen, scheint diese Deutung ebenfalls zulässig. Angesichts des Themas der Tagung Wieland/Übersetzen könnte man fragen, ob es sich hier um ein ‚philologisches‘ Problem handelt. Sind es das nachlässig angefertigte Exzerpt zirkulierender Schriften oder der elaborierte Duktus des gelehrten Diskurses selbst, welche die Frage nach der Autorschaft ex post aufwerfen? Wäre es also die Aufgabe sorgfältiger philologischer Forschung und gewissenhafter Edierung, Aufschluss darüber zu geben, wer hier eigentlich spricht? Ich denke nicht. Das gekennzeichnete, dabei jedoch unkenntliche Zitat, ist speziell dann, wenn Grade von beabsichtigter oder unbeabsichtigter Verschleierung bzw. überdeutlicher Markierung von Quellen im Text vorkommen, als eine literarische Technik zu qualifizieren, die sich mit der der Einbeziehung der Stimmen der Leser vergleichen lässt. Zur näheren Erläuterung dienen zwei Textstellen, die ein der Indistinktion (Verunklärung) ähnliches Verfahren anwenden, indem sie das konträre Verfahren – sozusagen den ‚Klartext‘ – behaupten. Sie greifen die Frage nach dem Umgang mit den Quellen auf: es wird verhandelt, auf wen man sich als Schriftsteller und Herausgeber eigentlich bezieht, bzw. wen man zitiert. Beide Stellen fingieren, dass sie ganz genau kennzeichnen, auf wen sie sich beziehen, sie sagen „es gerade heraus“. Tatsächlich spiegelt sich in der undifferenzierten Sprechinstanz des „Wir“ oder „Man“ die Komplexität von Quellenbezügen wider. Hier ‚spricht‘ lediglich der Erzähler, der jedoch über sich und seine Funktion hinausweist und damit die Bedingungen des Erzählens überhaupt fokussiert. Die Konstitution des Wissens liegt im Dunkeln, selbst wenn es so scheint, als würde man alle Quellen offen legen: „[…] – doch, was hindert uns, gewissen spitzfindigen Forschern eine Mühe zu ersparen, und es gerade heraus zu sagen, daß es ein alter Ägyptischer Priester, aus den Zeiten des Königs Psammuthis des Dritten, war?“44 Sieht man davon ab, sich als „spitzfindiger Forscher“ die Mühe zu ersparen, dann eröffnen sich nicht allein die ‚Abgründe‘ ägyptischer Geschichte, sondern ferner die Abgründe von Wielands kompositorischen Verfahren. Psammuthis – der ‚wievielte‘ ist unklar, soweit ich das überblicken kann, gab es nur einen – war König der 29. Dynastie, ein Gegen44 Wieland: Die Bekenntnisse des Abulfauaris […], Beyträge, GS, Bd. 7, 8/2, S. 458. Nämlich derjenige, dessen offizielle und geheime Version seiner Lebensgeschichte wir in den Händen halten. Was wiederum einen offensichtlichen Widerspruch darstellt; es ist nämlich unklar, wer eigentlich für die Verfassung der ‚offiziellen Version‘ zuständig ist; sie ‚wechselt‘ zwischen drei Erzählern hin und her.
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könig, der nur ein Jahr regierte, nämlich von 393–392 v.Chr. Zeitlich deckt sich diese Angabe tatsächlich ungefähr mit den Lebensdaten des Hof- und Unterhaltungsphilosophen Diagoras (von Melos, der Atheist, ca. um 410 v. Chr.). In der ‚Liste der Pharaonen‘ ist Psammetichos, der III. (26. Dynastie, 526 v.Chr.) verzeichnet, welcher ebenfalls sehr kurz – nur ein halbes Jahr – regiert hat; interessanter Weise zu einer Zeit, in der man den Beginn des Transsaharahandels vermutet. Von Herodot wird jedoch überliefert, dass er ein Experiment mit Kindern durchgeführt haben soll, um herauszufinden, welches Volk das Ältere sei: die Ägypter oder die Phryger. Bezeichnender Weise dient die Sprache hier als ‚Beweis‘ der Ursprünglichkeit. Beide Themen werden in den Beyträgen an prominenter Stelle aufgegriffen: das Kinderexperiment in einer der Abhandlungen zu Rousseau und die Sprachursprungsthematik in der Erzählung von „Koxkox und Kikequetzel“. Ferner wäre genauer zu bestimmen, was für eine Art von Kolonialhandel es ist, den Abulfauaris unabsichtlich initiiert. Auf welche Weise nun hängen diese Fragmente historischer Übermittlung mit den Themen und Erzähltechniken der „Beyträge zu einer geheimen Geschichte“ zusammen, und inwieweit sind die ‚Offenbarungen‘ des Erzählers tatsächlich als solche zu qualifizieren? Das Offenbare oder Offenbarte tritt hier meines Erachtens als Hinweis auf eine tiefer liegende Schicht des ‚Geheimen‘ ein: als Hinweis auf das ‚Geheimnis‘ historischer Diskurse selbst. Denn nur, wenn man beide Könige als Sedimente eines historischen Untergrundes zusammenführt, konstituiert sich Sinn, der zwar nicht historisch korrekt (schlüssig) ist, jedoch metahistoriographisch Aufschluss über die ‚Wahrheit‘ der Verfahren historischer Diskurse gibt. Nur implizit wird der Akt der Synthetisierung der Quellen hier angesprochen. Wer diese durchführt, handelt gegen die Anweisung (Lektüreempfehlung) des Textes, der vorgibt, bereits eindeutige Informationen zu vermitteln, welche keiner philologischen Nachforschung mehr bedürfen. Der ungehorsame, forschende Leser begibt sich auf unsicheres Terrain, beschäftigt sich mit Dingen, zu denen es nur subsidäre Quellen gibt und die, vorsichtig formuliert, epistemologisch keinen eindeutigen Registern folgen.45 Indem er die geheimen Dimensionen des Diskurses ausfindig machen muss, wird das Problem historischer Synthetisierung dem Leser zugespielt. Wenn ihn das in Verwirrung setzt, dann hat er sich das selbst zuzuschreiben. Weiter zugespitzt präsentiert sich das Zusammenspiel des Ver- und Entbergens in der zweiten Textpassage zur „Büchse der Pandora“. Das 45 Die Überlieferung des Kinderexperiments findet sich bei Herodot: Historien, 2. Buch, 2. Kapitel. Als Quelle bestehen die „Historien“ aus verschiedenen narrativen, historiographischen und mythischen Elementen.
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„Traumgespräch mit Prometheus“46, das als Antwort zum Kinderexperiment konzipiert ist, expliziert die Frage nach der Ursache des Verfalls des glücklichen Zustands der Menschen. Mythologisch eindeutig wird diese mit der „Büchse der Pandora“47 identifiziert. Nun versucht der Erzähler zu erläutern, was es mit der Büchse der Pandora auf sich habe. Er verwirft einige Hypothesen der „Gelehrten“ Hagedorn, Porphyrius und Horaz – bezeichnenderweise werden sie mit Namen und Quellenangabe angeführt –, um dann „[…] aus einem alten Buche ohne Titel, welches wir vor uns liegen haben“ zu zitieren und uns mitzuteilen, dass „[d]er unbekannte Verfasser […] alle allegorische Erklärungen [verwirft].“48 Hier stehen die bekannten Quellen wiederum im Gegensatz zu dem, was direkt vor Augen liegt, jedoch sowohl dem Erzähler als auch den Lesern unbekannt bleiben muss: das sind hier Titel und Autor des Buchs. Beide gelangen lediglich zur Kenntnis seines Inhalts: in Form einer Aussage oder These. Was ist nun aber der Inhalt der „Büchse der Pandora“? Selbst diese Information bleibt verborgen. Gesichert sei lediglich, dass es sich um eine Büchse „im eigentlichen Wortverstande“, nämlich eine „Schminkbüchse“49 handle. Anstelle der Explikation des Inhalts setzt ein Vorgang der – zuvor vehement zurückgewiesenen – Re-Allegorisierung ein: das Schminken des Gesichts wird zum Zeichen des geschminkten Charakters und führt zur „großen Maskerade“50 und zu den Rollenspielen der menschlichen Gesellschaft: „Scheinen und Seyn, […], wurden zweyerley.“ Diese Hypothese beurteilt der Erzähler als die „natürlichste“51 und sie deckt sich mit der Interpretation des Motivs des Putzes und der Verkleidung in den beiden Rahmenerzählungen. Etwas zu verbergen, indem man es verkleidet, schminkt oder verdeckt und damit verheimlicht, scheint also für den Verfall des natürlichen und glücklichen Zustands der ersten menschlichen Gesellschaft verantwortlich zu sein. Im Kontrast zu dieser im Text wiederkehrenden Deutung steht die ebenfalls wiederholte Behauptung, „[…], daß die Geschöpfe des Prometheus nach und nach um ihre ursprüngliche Einfalt und Unschuld gekommen seyn würden, wenn gleich Pandora und ihre Büchse nie gewesen wären; […].“52 Analog zu diesem kulturkritischen Widerspruch bezüglich der Verstellung, die auf der Aussageebene des Textes als Sündenfall der 46 Wieland: Über die von J.J. Rousseau vorgeschlagenen Versuche […], Beyträge, GS, Bd. 7, 8/2, S. 403–415 unten. 47 Ebd., S. 411. 48 Vgl. ebd., S. 413f. 49 Ebd., S. 414. 50 Ebd., 415. 51 Zitate ebd., S. 414. 52 Ebd., S. 415.
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Menschheit verteufelt wird, verhält sich die Konversion und damit die Konfusion der Kategorien des Geheimen und Offenbaren auf der metahistoriographischen Ebene des Textes. Meines Erachtens erklärt sich diese Konfusion aus dem Misstrauen gegenüber dem ‚Zitat‘ aus dem oben erwähnten autor- und titellosen großen anonymen Buch der Natur. Viel zu selten ist die Unmittelbarkeit der empirischen Erkenntnis unmittelbar, sie vermittelt sich vielmehr über die Lektüre von Texten. „Es würde Undankbarkeit seyn, wenn ich mir die Miene geben wollte, als ob ich die Gabe, mit den Augen zu sehen, nicht (nächst der guten Mutter Natur) den besagten Weisheitsliebhabern oder weisen Meistern größten Theils zu danken hätte.“53 „Die Gabe, mit den Augen zu sehen“, verdankt sich also der Lektüre, und insofern verfährt der Text im Blick auf seine erkenntnistheoretischen und historiographischen Prämissen mimetisch – nämlich in seiner Anlage als Beyträge. Das instrumentierte poetische Verfahren kann man als Hybridisierung bezeichnen, die auf verschiedenen Ebenen durchgeführt wird. Beschreiben lässt sich die erste als Ebene der Variation von Textgattungen. Das „Traumgespräch mit Prometheus“ im dritten Beytrag stellt eine Alternative zum Gedankenexperiment der Versuchsanordnung von Kinderpopulationen dar, das dazu dienen soll, die Frage nach der geselligen bzw. ungeselligen Natur der Menschen empirisch zu beantworten. Dabei modifiziert sich der „Scherz“ des Erzählers zum „angenehmen Traum“.54 Ich erinnerte mich nicht etwa bloß der Fabel vom Ursprung der Menschen, wie ich sie in den alten Dichtern gelesen hatte; sie wurde in dem nehmlichen Augenblicke zur Wahrheit für mich. […]. Kurz, ich fühlte mich gänzlich in die Fabelzeit versetzt, ohne darum weniger nach den Begriffen eines Menschen aus meinem 55 Zeitalter zu sprechen.
Damit stellt der Traum selbst ein erzählerisches Experiment dar. Da das empirisch konstruierte Experiment einen Zeitindex erhält, der es eigentlich als historisch ausweisen müsste, tritt er als Alternative ein. Insofern ist der Anspruch der Empirie gezwungen, sich entweder zugunsten der Spekulation (eines hypothetischen Experiments) oder der historischen Erfahrung aufzulösen. In seiner literarischen Organisation nimmt der Traum einen epistemologischen Standpunkt zwischen Empirie, a-priorischer Systematik und dichterisch-mythischer Fiktion ein. Er ist keinen Gattungsbeschränkungen unterworfen und behauptet in einer Art ästhetischem Spiel die gleichzeitige Existenz zweier historiographischer Heuristiken, die logisch eigentlich miteinander unvereinbar bleiben: die Möglichkeit der Einfüh53 Dieses Zugeständnis gilt – trotz aller philosophiekritischen Polemik – den Philosophen; ebd., S. 392. 54 Ebd., S. 403. 55 Ebd., S. 405.
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lung bei gleichzeitig präsenter Standortgebundenheit.56 Insgesamt steht dieses epistemische Ideal dem Verfahren der Beyträge isomorph gegenüber. Man könnte auch sagen: der Traum stellt ein Symbol für das Verfahren der Beyträge dar. Einerseits dient er der Erzeugung von Illusion (Evidenz), ohne den Leser andererseits über den Charakter dieser Illusion täuschen zu wollen. So aufrichtig sind nicht alle Schriftsteller – und dann werden Sie sehen, daß es nur an mir lag, aus meinem Traum ein so gutes, ernsthaftes und kunstmäßig zugeschnittenes System zu machen, als irgend eines […]. Was für ein Ansehen hätte ich mir damit geben können! […]. Andere geben ihre Träume für wirkliche Erscheinungen, oder träumen wohl bey hellem Tageslichte mit offnen Augen, […]: ich hingegen gebe meinen Traum für – einen Traum […]; und das heißt doch, denke ich, Ehrerbietung für seine Leser tragen, und den Leuten zutrauen, daß sie – 57 Augen haben.
Dieses Verhältnis kann man als poetologisches Ideal der Beyträge selbst identifizieren, insoweit der Text ‚illusionistisch‘ verfährt, aber andererseits – etwa in der betrügerischen Offenheit, die Psammuthis anbelangt – bestimmte Praktiken anwendet, die dem Leser das eigene Denken nicht nur ermöglichen, sondern geradezu aufzwingen. Auf einer zweiten Ebene wird die Hybridität der Beyträge sichtbar in Bezug auf Darstellungen von Positionalität. Der Text versucht, textintern verschiedene textexterne Positionen in Form von vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Wirklichkeitsebenen mit einzubeziehen, die ihm eigentlich bis zu einem gewissen Grad unzugänglich (verborgen) bleiben müssten. Dabei handelt es sich auf der einen Seite um das Material, das für die Textproduktion selbst von Relevanz ist. Dieses Material sind die Quellen des Textes, denen jeweils verschiedene epistemische Gattungen (Disziplinen) zuzuordnen sind, die in sich wiederum gattungsspezifische Spaltungen aufweisen. Diese ‚Gattungen‘ finden sich einerseits in den Disziplinen wieder, insofern jene verschiedene Regeln für ihre je spezifische Wirklichkeitskonstruktion kennen, wie es bei Philosophie, Historiographie und Literatur der Fall ist. Eine Disziplin ‚spricht‘ jedoch in der Regel in mehreren Gattungen: mag es sich bei diesen Gattungen auch sehr reduziert um das handeln, was man literarische Kleinform oder einen Textgestus nennen könnte. Aber auch der zeitgenössische Diskurs als Gespräch, Dialog oder
56 Vgl. Erhard: „Was nützen schielende Wahrheiten?“, vgl. meinen Text Fn. 40, S. 62. 57 Wieland: Über die von J.J. Rousseau vorgeschlagenen Versuche […], Beyträge, GS, Bd. 7, 8/2, S. 404f., vgl. Erhard: „‚Was nützen schielende Wahrheiten?‘“ (Fn. 40, S. 72), vgl. mein Text S. 315: die Gabe, mit Augen zu sehen.
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sophistische ‚Gardinenpredigt‘ läuft als unbestimmte Folie seiner Reflexionen mit. Auf der anderen Seite wendet der Text sich der Frage der Rezeption zu, indem er die Notwendigkeit der Offenbarung, wie sie etwa vom ‚Herausgeber‘ der Bekenntnisse des Abulfauaris behauptet wird, in die Organisation des Textes selber einführt. Dieses Pathos der Offenbarung exponiert ein geschichtsphilosophisches Prinzip, das dann metahistoriographisch mit der Einbeziehung der (zukünftigen) Leser rhetorisch eingelöst wird. Die oberste poetologische Prämisse, den Lesern ihre eigenen Augen zuzutrauen, hat eine epistemologische sowie ethische Dimension, die sich auf drei verschiedenen Ebenen ausdifferenzieren: Erstens in der literarischen Evidenz, die der Gestus, etwas zu sehen zu geben, erzeugen soll. Zweitens in der rhetorischen Einbeziehung sowohl der Leser als auch des Diskurses der Zeit, welche selbst ‚Einsprüche‘ von beiden Seite zu ermöglichen scheint; und drittens in der Verlagerung des synthetisierenden historischen Aktes auf die Seite des Rezipienten. Tatsächlich bietet sich die Einbeziehung mehrerer Textgattungen im Blick auf Geheimes und Verborgenes (Ursprüngliches) als adäquates Verfahren an. Besonders die literarische Inszenierung muss angesichts des Verborgenen als einzige Form verstanden werden, die das Geheime geheim bleiben lässt, seinen Status also perpetuiert – und sei es auch als Offenbarung in ständigem Schwanken zwischen diesen Polen. Die Forderung, das Geheime zu offenbaren, führt zu der Erkenntnis, dass das Offenbarte Züge des Banalen trägt, so wie im Gegenzug die komplizierte Struktur des Offenbarten und Offensichtlichen bei genauerem Hinsehen aufgedeckt wird. Nachweisen lässt sich dieses Verhältnis für das „Geheimnis“ und für die Zitierpraxis. In ihrer ‚Multimedialität‘ oder Hybridität steht die poetologische Konstruktion der Beyträge m. E. in kompositioneller Nähe zur Oper, so wie Linda Simonis’ Interpretation der „Zauberflöte“ im Kontext masonischer Geheimbünde nahe legt.58 Die Didaktisierung des Arkanums tritt im „Zitatcharakter“ des Librettos zu Tage, rein formal in Darstellungsformen des „Common sense“. Das Geheimnis ist zugleich Offenbarung, für die Eingeweihten hat es den Charakter der Evidenz, der Epiphanie. Als solches Erlebnis ist es nicht vermittelbar oder mitteilbar. Das Texterlebnis konstituiert sich innerhalb seiner hybriden literarischen Form, insoweit der Leser sich darauf einlässt bzw. in den Text hineingezogen wird. Dass dabei tatsächlich Evidenzen erzeugt werden, deren
58 Vgl. Linda Simonis: Die Kunst des Geheimen. Esoterische Kommunikation und ästhetische Darstellung im 18. Jahrhundert, Heidelberg 2002, S. 273–276.
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konstruktiver Charakter zugleich präsent und absent gehalten werden könnte, offenbart sich rhetorisch als Traum der Historiographie. In den Beyträgen werden Sachverhalte beständig in ihr Gegenteil übersetzt, man könnte sagen, widerrufen. Ein Geheimnis gehört zum Alltagswissen, eine empirische Erkenntnis entpuppt sich als Ergebnis aufwendiger Lektüreoperationen, das Profane tarnt sich als kulturelle Zivilisationsleistung oder Mystik. An dieser Stelle bleibt der Text jedoch nicht stehen. Die Oppositionen lösen sich nicht in eine Richtung auf, werden nicht dialektisch überformt, sondern punktuell als Kippfiguren eingefroren. Dabei kann dieses Moment nicht viel mehr als eine Warnung sein, die auf die allfällig mögliche Veränderung eindeutiger Auflösungen und sogar auf die instabile Festlegung solcher binären Konstrukte selbst hinweist. Nicht allein Skepsis aus historischer Perspektive speist diesen Hinweis, vielmehr ist es ein grundlegender Widerspruch in den Dingen selbst, der für diese Unentschlossenheit ursächlich ist. Das Geheime lässt sich in das Offensichtliche übersetzen. Ohne das Offensichtliche gäbe es jedoch keine Vorstellung vom Geheimen, ebenso wie es keine Offensichtlichkeit ohne Verborgenes gäbe. Dennoch scheint die Frage nach der Wirklichkeit hier nicht unüberwindbar: wir haben es nicht mit bloßer Beliebigkeit von Interpretation zu tun. Eher scheint es so zu sein, als zeige Wieland in seinen Texten, dass immer beide Teile der Übersetzung bestehen bleiben und Gültigkeit für sich beanspruchen können, jedoch zu irgend einem Zeitpunkt unüberschaubar wird, ob man nun Original oder Übersetzung vor sich liegen habe. Selbst darin besteht aber kein eigentliches Problem. Interessant und weiterzuverfolgen wäre, inwieweit das Ineinanderkippen von literarischen Gattungen, das ganz grundlegend durch ihre Vermischung und ihre interne Brechung initiiert wird, auf diese Unentschlossenheit respondiert. Geschichtsphilosophie wird als Gattung aus Beyträgen zunächst einmal in spezifische Textformen geschieden, die jedoch in sich selbst diese Hybridität wieder reproduzieren und aufrufen. Als strenge Grundform wird sie spielerisch immer wieder aufgebrochen und variiert. Dass die Gattung aber eine ist, die in diesem Fall zu erkennen gibt, dass sie innerlich gespalten ist, scheint mir ihre permanente Übersetzbarkeit in viele andere Diskurs- und Repräsentationsformen zu bedingen. Anhand des Titels der „Beyträge“ offenbart sich bereits ihr grundlegendes Paradox. Zum „Geheimen“ kann im strengen Sinne gar nichts beigetragen werden. Dennoch ist immerhin denkbar, dass sich Geheimnisse über die späte Entdeckung historischer Zeugnisse offenbaren. Werden diese jedoch entdeckt, dann decken sie nicht nur auf, sondern entdecken zugleich neue Geheimnisse. Vermutlich liegt das Geheimnis der Geschichte weniger in noch unentdeckten Zeugnissen beschlossen, sondern besteht vielmehr in der Verknüpfung der Zeugnisse und Quellen. Die Eigendynamik des Zitierens ver-
Das augenfällig Geheime
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weist darauf, dass der „Traum“ der Historiographie in der Verschränkung von Zitat und Zitieren bereits in Erfüllung gegangen ist – allerdings ohne dass es möglich wäre, jene Verschränkung wieder eindeutig aufzulösen.
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‚Bonifaz Schleichers Jugendgeschichte‘ Zur Selbstunzugänglichkeit bei Christoph Martin Wieland „mit unsinnlicher bedeutung des verbalbegriffs, meist der heimlich verfährt, heuchler, leisetreter, schönthuer, duckmäuser, latens, latitans, delitescens, clandestinus, opertus, insidiator.“1 „Notorische Lügner haben eine andere Hirnstruktur als normale Menschen. Das haben Forscher der Universität von Südkalifornien anhand von KernspinAufnahmen nachgewiesen. Demnach besitzen Dauerlügner mehr weiße Hirnmasse in einem bestimmten Hirnareal, die für die Verknüpfung der Nervenzellen zuständig ist.“2
I. Einleitung Der Begriff der Übersetzung, der im Folgenden zugrunde gelegt wird, ist von dem in den bisherigen Beiträgen verwendeten verschieden. Das gilt sowohl für den Vorgang als auch für den Gegenstandsbereich. Bei dem, was hier interessiert, sind Quell- und Zieltext als die vermeintlich unerlässlichen Bezugspunkte einer Übersetzung ersetzt durch anthropologisches Wissen auf der einen Seite und die Frage, wie dieses Wissen Gegenstand von Operationen der Übersetzung, der Transkription oder Translation wird, auf der anderen. Es kann sich also der Sache nach dabei weder um eine reale noch um eine fiktionale Übersetzung handeln. Und dennoch, wie zu zeigen sein wird, macht die Rede von der Übersetzung Sinn, dann nämlich, wenn man sie als Sachlage einer historischen Semantik mit unterschiedlichen Strategien ihrer technischen Lösung liest. Damit stellt sich folgende Frage: Wie wird im Umgang mit einer anthropologischen Quelle – in diesem Fall: der Lüge – das Problem der Unwahrheit verhandelt und wie wird diese Verhandlung etwa aus der Morallehre oder der Literatur gelöst und im Kontext der Wissenschaften vom Menschen einer alternativen Lösung 1 2
Jacob Grimm/Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Leipzig 1854ff., Art. „Schleicher“, Bd. 15, Sp. 571ff. Zur größtmöglichen Streubreite: Otto Lipmann/Paul Plaut (Hg.): Die Lüge in psychologischer, philosophischer, juristischer, pädagogischer, historischer, soziologischer, sprach- und literaturwissenschaftlicher und entwicklungsgeschichtlicher Betrachtung, Leipzig 1927.
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zugeführt – und dadurch in andere Aussageräume und deren zeitliche Situierung versetzt? Was passiert, wenn die Lüge nicht mehr ausschließlich im Dispositiv der Erzählung verhandelt wird?3 Als anthropologische Größe ist die Lüge zwangsläufig Gegenstand einer Literatur, die vom Menschen handelt. Erzählbar und bewertbar im Rahmen von Charakterzuschreibungen wird die intentionale Verstellung in Verhaltensregister von Falschheit und Heuchelei, von Simulation und Dissimulation, von List und Verschlagenheit eingetragen, in ihrer Gradualität bemessen, philosophisch reflektiert, alltagspragmatisch bewertet, psychologisch plausibilisiert oder moralisch verworfen. Die Verpflichtung zur Aufrichtigkeit ist dabei so dominant, dass selbst immer wieder diskutierte Grenzfälle wie in Immanuel Kants kurzer Abhandlung Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen vom Grundprinzip einer Aufrichtigkeitspflicht nicht abzulassen bereit sind. Ganz im Gegenteil und aller kasuistischen Rabulistik zum Trotz kommt bei Kant ein rigider Rigorismus zum Tragen. Dieser überschreitet das einigermaßen mühsam konstruierte Juristenexemplum über die wahrhaftige Auskunftspflicht gegenüber einem ersichtlich mordlüsternen Gesellen bezüglich des Aufenthaltes seines potentiellen Opfers und gipfelt in einer sehr grundsätzlichen Bestimmung: „Unwahrhaftigkeit ist Verletzung der Pflicht gegen sich selbst“ – jedenfalls wäre sie es, wenn Kant diesen Befund als Grundsatz festschreiben würde, was er sich allerdings expressiv verbis verkneift.4 Eine derartige Schärfung, wie es bei Kant heißt, auf den Grundsatz einer Selbstpflichtverletzung bleibt ausgespart, weil sie nicht in den Zuständigkeitsbereich des Rechtes, sondern in den der Ethik fällt. Damit zieht der Philosoph eine Differenz zwischen Juristerei und Tugendlehre ein, die zugleich eine Differenz in den Zeitdimensionen eröffnet – der Momenthaftigkeit (und womöglich Einmaligkeit) einer justiziablen Einzellüge stellt er eine auf Dauer gestellte Kategorie der Unwahrhaftigkeit entgegen, die, weil sie den Lügner im Modus der ethisch belangbaren Selbstpflichtverletzung betrifft, diesen auch über den Einzelfall hinaus nicht loszulassen braucht. Die Literatur erreicht die Lüge aber sowohl auf dem Weg der isolierbaren, justiziablen und erzählbaren (Einzel-)Fehltat als auch auf dem der Charakterologie. Dabei tritt eine zusätzliche Verschärfung auf – entlang der Frage nämlich, ob die Lüge, allen Tugendbestimmungen zum Trotze, unintentional erfolgen kann, wie ein solches gleichermaßen vorsatzloses wie unbewusstes Lügen auszusehen hätte, und nach welcher Maßgabe die3 4
Vgl. dazu Harald Weinrich: Linguistik der Lüge, Heidelberg 1966. Immanuel Kant: Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen, in: Werkausgabe, hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. VIII (Die Metaphysik der Sitten), Frankfurt a.M. 111997, S. 635–643, hier: S. 638.
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ses dann zu behandeln wäre. Die alte Ordnung stabiler Zuschreibungen, wie sie Kant vor dem Hintergrund seiner Ausgangsfrage Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen erörtert, ist einer komplexen Lage psychologischer Verwirrungen und möglicher Instanzen gewichen. Darin macht vor allem das Unbewusste von sich reden und das auf eine Weise, die, alle historische Markierungen, technische Grundierungen und theoretische Formulierungen einmal außer Acht lassend, in Begriff und Sache der Selbstunzugänglichkeit kulminiert.5 Auf dem Weg einer solchen Konzeptualisierung ist die Lüge in der Literatur auf mehrfache Weise angekommen, dabei aber so, dass die Lüge die Literatur zur Disposition stellt und diese nicht bloß von ihr erzählt. Verhandelt wird kein Sujet unter Sujets, sondern ein Sachverhalt, der, weil in nachgerade tautologischer Manier ein Regelkreis der Zuschreibungspflicht zwischen Anthropologie und Autorschaft geschlossen ist, diesen nunmehr literarischen Grundsatz selbst betrifft. Mit der Selbstunzugänglichkeit steht nicht mehr nur die Autorisierung individueller Lebensführung zur Disposition, sondern in letzter Konsequenz auch die Selbstunzugänglichkeit von Stil und Autorschaft. II. Seemannsgarn Die Dichter lügen seit Platons Diktum nicht nur von Amts wegen und daher immer schon. Gerade Schriftsteller wie Christoph Martin Wieland wissen um die Unvermeidlichkeit der Lüge im Systembestand einer flexiblen Anthropologie, die nicht auf einfache Oppositionen und deren ebenso einfache moralische Bewertung setzt, sondern Zwischentöne zulässt, die in ‚Zwischentinten‘ malt. Und so ist es nicht weiter verwunderlich, dass das Phänomen der Lüge unter entsprechenden Auspizien und im Vorhof einer zunehmenden Psychologisierung zum Thema erhoben, dabei auf seine selbstunzugängliche Variante hin zugespitzt und hinterfragt wird. Wieland, dessen Selbstvermarktung als Berufsschriftsteller ausgesprochen findig, selbstbewusst und ökonomisch erfolgreich das Spiel mit der Autorisierung spielt, tut das exemplarisch in einem Text, der sich dieser Frage im Wortsinn verschrieben hat, Bonifaz Schleichers Jugendgeschichte, oder kann
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Zur Karriere des Unbewussten und seiner medial-technischen Grundierung vgl. Peter Fuchs: Blindheit und Sicht: Vorüberlegungen zu einer Schemarevison, in: ders./Niklas Luhmann: Reden und Schweigen, Frankfurt a.M. 1989, S. 178–208 sowie ders.: Das Unbewußte in Psychoanalyse und Systemtheorie. Die Herrschaft der Verlautbarung und die Erreichbarkeit des Bewußtseins, Frankfurt a.M. 1998.
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man ein Heuchler seyn ohne es selbst zu wissen?6 Der weitere Untertitel weist das Unterfangen als Eine gesellschaftliche Unterhaltung aus, die ihren Ursprung in einer im Oktober 1775 im Teutschen Merkur aufgeworfenen Frage haben soll. Wie der Erzähler, Landsmann S., angelegentlich der gesellschaftlichen Unterhaltung im Kreis von ihrerseits mit allerlei Selbstunzugänglichkeiten geplagten Teilnehmer berichtet, hat die Frage „einiges Aufsehen gemacht, und es war hier und da viel dagegen und dafür gesprochen worden.“7 Auf die derart in den Raum geworfene Frage nach der Möglichkeit sowie der Tragweite einer solchen Blindheit sich selbst gegenüber antwortet Herr S. mit einem Exemplum, eben mit der besagten Jugendgeschichte Bonifaz Schleichers. Fleischgeworden wird dort, nach Maßgabe etwa des Karl Philipp Moritzschen Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, ein Fall von Selbstunzugänglichkeit geschildert, zunächst durchaus vergleichbar den Fällen der präpsychologischen Beispielmagazinierung, die von Träumen, Ahndungen, Anwandlungen und anderen Spielarten der Selbstunzugänglichkeit handeln. Über eine solche Kasuistik hinaus wird die Geschichte allerdings sowohl mit einer schlüssigen Erklärung als auch mit einem bündigen Narrativ versehen. Die Selbstunzugänglichkeit wird als Biographem ausgewiesen, was Bonifaz Schleicher allerdings nicht davor bewahrt, einen sprechenden Namen tragen zu müssen und kein Sympathieträger sein zu dürfen. Wenngleich psychologisch plausibilisiert, wird er dennoch als Schurke und Fiesling entlassen. Schlimmer noch: Er wird auf seine Jugendgeschichte reduziert, weil diese, so der Erzähler, bereits hinreichend sei, um sein Verhalten generell erschließen zu können.8 Die Fallgeschichte hebt ebenso umstritten wie gesättigt an Bemerkungen anderer Gesprächsteilnehmer an. Ein Diskutant verwirft die Grundmöglichkeit einer unwissentlichen Heuchelei in Bausch und Bogen – nicht zuletzt mit Hinweis auf die strafrechtliche Konsequenz, die er ausgerechnet am justiziablen Beispiel der Falschmünzerei verdeutlicht. 6 7
8
Zu Wieland als Autorisierungsexperten und seinem Spiel mit den jeweils letzten Händen vgl. Wolf Kittler: Literatur, Edition und Reprographie, in: DVjs 65, 1991, S. 205–235. Christoph Martin Wieland: Bonifaz Schleichers Jugendgeschichte, oder kann man ein Heuchler seyn ohne es selbst zu wissen? Eine gesellschaftliche Unterhaltung, in: ders.: Sämmtliche Werke (1794–1811) (=SW), Reprint Hamburg 1984, Bd. 15: Vermischte prosaische Aufsätze, S. 117–166, hier: S. 119 (im Folgenden die Seitenzahl in Klammern im Text). Zum spezifischen Stellenwert der Jugendgeschichte sind die Arbeiten von Charlotte Bühler einschlägig. Vgl. dies.: Der menschliche Lebenslauf als psychologisches Problem, Leipzig 1933. Vgl. ferner für Eigenheiten kultureller Produktion dies.: Erfindung und Entdeckung. Zwei Grundbegriffe der Literaturpsychologie, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 16, 1921, S. 43–87.
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Er fand die Frage überflüssig und ärgerlich. Es wäre (behauptete er) gerade als wenn man fragte, ob jemand ein Falschmünzer seyn könne ohne es zu wissen? Da hätten die Schelme gut Schelme seyn, meinte er, wenn es noch zweifelhaft wäre, ob man wohl gar mit gutem Gewissen ein Schelm seyn könne? (SW, Bd. 15, S. 120)
Wie intrikat der ganze Fall ist, zeigt die Kommentierung durch den Ich-Erzähler, der diesen Beiträger als einen „der ausgemachtesten Tartüffen“ schildert, die „jemahls von Sonne und Mond beschienen wurden“ und die Abgründe von dessen eigener Selbstunzugänglichkeit vorführt: „Der Mann war desto unpartheyischer, da er wider sich selbst zeugte; wiewohl diess freylich eben nicht seine Absicht seyn mochte.“ (SW, Bd. 15, S. 119f.) Die nächste Stimme, die sich ins Gespräch mischt, ist die der Frau von A. Was mit ihr sichtbar wird, sind der Eigenliebe geschuldete Strategien des geschönten Selbstbildes: die Blindheit der weiblichen Selbstwahrnehmung etwa gegenüber den Prozessen des Alterns und Nicht-Gewahr-Werdens dieser Veränderung. Für die schleichenden Übergänge des biologischen Lebens gibt es eine besondere Form der Blindheit, mit der auch die Frau A. hochgradig geschlagen ist. Ohne es selbst zu merken, zeugt sie mit ihrem Beispiel allererst gegen sich selbst – was von anderen Teilnehmern des kleinstädtischen Kränzchens, durchaus gesehen und mit einem Argument ad hominem schnippisch repliziert wird. Herr D. jedenfalls hat dafür eine geschlechtsspezifische Lesart parat, die er als der Eigenliebe geschuldete Besonderheit junger Frauenzimmer ausweist: Man wird dreysig, man wird vierzig, ohne es gewahr zu werden. Der Übergang von einem Augenblick zum andern ist so unmerklich, dass man sich natürlicher Weise in jedem noch immer für das hält, was man im vorhergehenden war; und so geht es ganz begreiflich zu, dass eine Venus von zwanzig, die so nach und nach von Augenblick zu Augenblick vierzig geworden ist, noch immer die nehmliche Venus zu seyn glaubt. Was ihre Runzeln auch dagegen einwenden mögen – schnarrte die junge Frau C. indem sie einen anspielenden Seitenblick auf die Frau von A. warf. (SW, Bd. 15, S. 121f.)
So ist es nach der des Tartüffen die zweite Wortmeldung in eigener Sache, die ihre Aussage Lügen straft. Daraufhin ergreift der Tartüff selbst noch einmal das Wort und erklärt die Kunst der Heuchelei pauschal zu einer bewusst und wissentlich ausgeübten Kunst. Diese Tätigkeit wird internalisiert, habitualisiert, schlägt Wurzeln, senkt sich ins Fleisch, kann gar zu einer zweiten Natur werden – mit dem Effekt, dass Sein und Schein die Position vollständig vertauschen. „Sollten wir nicht lieber sagen, versetzte Herr D. es ginge dem Heuchler wie einem in seiner Profession grau gewordenen Lügner, der seine Lügen so oft für wahr erzählt, bis er sie endlich selbst glaubt?“ (SW, Bd. 15, S. 123) Zum Beleg dieser Auffassung darf ebenfalls ein entsprechendes Exemplum nicht fehlen und dieses steuert ein
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ältlicher Herr bei, der unlängst zum Rate avancierte, „weil ihn die gute Mutter Natur mit einem herrlichen Vollmondgesicht und einem stattlichen Bauch begünstiget hatte, und weil er auf alles was man sagte ein Kopfnicken, ein he, he, he, und ein Exempelchen bereit hatte“ (SW, Bd. 15, S. 123). Sein Beispiel schwimmt im Kielwasser der Seefahrerei sowie des dort gesponnenen Garns und handelt von einem Schlosser namens Gadriga. In jungen Jahren durch die Welt gekommen, schwadroniert er am heimischen Biertisch von den Denkwürdigkeiten seiner Reisen – allen voran unterhält er das staunende Publikum mit der wunderlichen Geschichte eines seesturmbedingten Schiffbruchs. Wie der biblische Jonas von einem gigantischen Wal verschluckt, stellt sich ihm im Inneren des Tiers die Frage nach dem Überleben. Aber, potz Wetter! Wozu hälf’ einem ehrlichen Kerl auch der Verstand, wenn einem in solchen Umständen nichts einfiele? Der Wallfisch hatte eine Leber, wohl so gross wie fünf oder sechs von den grössten Elsasser Mastschweinen, die ihr in euerm Leben gesehen habt. Es war eine schöne frische Leber meiner Seel! Das Wasser lief mir ins Maul, wenn ich sie ansah. Ha, denk’ ich, wer da eine gute Schüssel von Leberklössen von dieser Wallfischleber hätte! – Ihr hättet ihm Stücke zentnerweise wegschneiden können, ohne dass ers gewahr worden wäre. (SW, Bd. 15, S. 125f.)
Mittels eines einfachen Sackmessers weiß Gadriga sich im Magen des Wales zu behelfen und aus der Leber seines Wirts besagte Klöße zu bereiten, die ihn am Leben halten. Mögliche Zweifel seiner Zuhörerschaft an der Glaubwürdigkeit des Berichteten werden kurzerhand im Keim erstickt – durch zunehmende Detailanreicherung und allerlei verbale Kraftmeierei. In diesem Ton erzählte nun Gadriga fort, wie er Feuer in des Wallfisches Bauch angemacht, und sich Leberklösse dabey gekocht hätte, besser als er sie je in seinem Leben gegessen; und auf jede Frage, die seine Zuhörer an ihn thaten, wo er diess und das dazu hergenommen, und wie es ihm weiter im Wallfischbauch ergangen, und wie er den Weg wieder heraus gefunden, hatte er eine Antwort in Bereitschaft; und wenn ihm dann die älteren Bürger ins Gesicht lachten, schwor er Himmel und Hölle zusammen, dass alles Zug für Zug so wahr wäre wie Amen. (SW, Bd. 15, S. 126)
An dieser Stelle unterbricht der berichterstattende Herr mit dem Vollmondgesicht und den stets zuhandenen Exempelchen seine Ausführungen und versichert, dass erst jetzt jener Punkt erreicht sei, weswegen er die umständliche Geschichte überhaupt anführe. Über die ständige Wiederholung wurde bei dem nunmehr achzigjährigen Schlosser ein Zustand erreicht, dass er seine Geschichte zuletzt hätte im Schlafe erzählen können. Aber mehr noch: Sein kundenorientiertes Erzählverhalten unterliegt einer Eigenlogik der Aemulation, der er selbst zunehmend zum Opfer fällt. Da sein nachwachsendes Auditorium gegenüber dem von ihm zusammen gesponnenen Seemannsgarn immer ungläubiger wurde,
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so log er binnen funfzig Jahren nach und nach so viele Umstände hinzu, und bekräftigte die Wahrheit davon bey jedem Worte mit so vielen Straf mich Gott, Sappermenten und Legionen Teufeln, dass er sie endlich selbst zu glauben anfing, und in den letzten Jahren seines Lebens sich darauf hätte sengen und brennen lassen, dass ihm alles von Wort zu Wort wirklich so begegnet sey. He, he, he! (SW, Bd. 15, S. 127)
Dieses Moment der Verselbständigung ist kennzeichnend für das Symptombild der später so genannnten Pseudologia phantastica. Unter dieser Bezeichnung systematisiert die Psychologie am Ende des 19. Jahrhunderts Verhaltensweisen, die in der Alltagssemantik dem Seemannsgarn oder Jägerlatein angedichtet werden und die im Typus des Hochstaplers, Aufschneiders und Renommisten ihre (auch literaturtaugliche) Verkörperung finden. Der Titel, in dem die entsprechende Formulierung geprägt worden sein soll, ist Anton Delbrücks Abhandlung Die pathologische Lüge und die Schwindler. Eine Untersuchung über den allmählichen Übergang eines normalen psychologischen Vorgangs in ein pathologisches Symptom von 1891, eine Arbeit, die dem Moment des entzogenen Gewahrwerdens (‚allmählich‘) schon in ihrem Titel gerecht wird.9 Wie andere Arbeiten aus dem psychopathologischen Umfeld ausführen, ist für die Pseudologia phantastica „eine krankhaft gesteigerte Autosuggestibilität“ kennzeichnend.10 Und selbstredend darf auch ein literarisch verbürgter Fall dieses Krankheitsbildes nicht fehlen – mit Fritz Reck – Malleczewen hat die ‚Pseudologia phantastica‘ symptomatisch, und in der Person eines pathologisch spintisierenden Literaten und dessen Biographie, Einzug in die deutsche Literatur genommen.11 III. Bonifaz Schleichers Jugendgeschichte Im Fall des Schlossers jedoch bleibt es nicht bei ostentativen Beglaubigungsbeteuerungen, bei Beschwörungen, Flüchen und Heerscharen angerufener Teufel. Im Weiterspinnen der psychologischen Seite der Kommunikationssituation wird diese zu einer Theorie hochgerechnet, die sehr viel weitreichendere Konsequenzen hat. Auf dem Weg von der Selbstsuggestion durch Strategien der wiederholten und variierten Erzählung wird eine Struktur der Selbstunzugänglichkeit gezeichnet, die als Nebenprodukt Stra9
Anton Delbrück: Die pathologische Lüge und die Schwindler. Eine Untersuchung über den allmählichen Übergang eines normalen psychologischen Vorgangs in ein pathologisches Symptom, Stuttgart 1891. 10 Ernst Ludwig Brückner: Zur Pseudologia phantastica, Rostock 1903, S. 8. 11 Alphons Kappeler: Ein Fall von ‚Pseudologia phantastica‘ in der deutschen Literatur: Fritz Reck – Malleczewen, Mit Totalbibliographie, Göttingen 1975.
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tegien des Erzählens in aller psychologischen Grundsätzlichkeit nach sich zieht. Diese allen Erzählern so natürliche Begierde erwärmt seine Einbildungskraft; der Widerspruch erhitzt sie immer mehr; die Begierde Recht zu behalten schürt nach; man überzeugt andre nur in dem Masse wie man selbst überzeugt scheint; er spricht also immer aus einem stärkern Tone; erdichtet immer neue Umstände, um seine Erzählung wahrscheinlicher zu machen; sie wird es endlich für ihn selbst, wird’s mit jeder Wiederholung mehr; und zuletzt kommt heraus, dass er der Narr von sich selbst geworden, und der einzige ist, den er mit seiner Lüge betrogen hat. (SW, Bd. 15, S. 128)
Nach dem umständlichen Beleg für die These vom sich selbst belügenden Lügner spitzt sich das Gespräch auf den Landsmann S. und die Frage zu, ob er das im Titel Stehende bejaht oder verneint. Damit ist innerhalb der Rahmenhandlung der Punkt erreicht, an dem endlich die Jugendgeschichte von Bonifaz Schleicher ins Spiel gebracht wird: Ich ging in Bejahung dieser Frage so weit, dass ich mich zu behaupten vermass: es könnte wohl einen Menschen geben, dessen ganzes Leben eine immer währende Lüge wäre, und der sich gleichwohl selbst für den ehrlichsten Mann von der Welt hielte. Weil ich einen solchen Menschen persönlich kannte, so konnt’ ich diess um so zuversichtlicher behaupten. Ich versprach Ihnen also, als den überzeugendsten Beweis meines Satzes, die Geschichte des Herrn Bonifazius Schleicher. (SW, Bd. 15, S. 164)
Das darauf folgende Psychogramm handelt vom jüngsten von elf Söhnen einer hochgradig bigotten Schweizer Ratsfamilie. Aus falscher Rücksichtnahme wird Bonifaz verzärtelt und gegenüber den zahlreichen anderen Geschwistern bevorzugt. Die ihm eigene Hasenherzigkeit gepaart mit seinem Hang zu lauschen führt zur Annahme jenes schleichenden Ganges, der ihm seinen Namen beschert. Als Schleicher und Horcher prädestiniert, nimmt der kleine Bonifaz sein Geschäft auf – erhebt heimlich Wissen, spielt die Familienmitglieder systematisch gegeneinander aus und wird auf eine Weise skizziert, die weder Gutes verheißt noch positive Veränderung in Aussicht stellt. Entgegen des Erzählers Vorsatz, in ‚Mittelfarben‘ zu malen und ‚Zwischentinten‘ zur Anwendung zu bringen, erfolgt die Schilderung des kleinen Schleichers in fast schon auffälliger Einseitigkeit. Wieland spart in seiner Beschreibung nicht mit Adjektiven, um den kleinen Schurken frühzeitig zu charakterisieren: „weichlich, feigherzig, einbildisch, selbstisch, rachgierig, falsch und tückisch“ (SW, Bd. 15, S. 146). In Abarbeitung der Liste seiner Negativeigenschaften findet in seiner Selbsttäuschung eine komplette Umcodierung statt, die es Schleicher erlaubt, sich selbst nachgerade vollständig in ein anderes Register einzutragen und entsprechend falsch zu lesen: [E]r gewöhnte sich an, seine sinnliche Weichherzigkeit für Güte, seine Feigheit für Behutsamkeit, seinen Hochmuth für Ehrliebe, seine Ränkesucht und Arglist für
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Witz und Klugheit zu halten. Kurz, Bonifazchen war in seinem zwölften Jahre bereits ein ausgemachter kleiner Schurke, ohne dass ihm nur der mindeste Argwohn darüber in den Sinn kam. (SW, Bd. 15, S. 147)
Der weitere Verlauf ist schnell erzählt: Vor allem der Einfluss zweier Hofmeister tut ein Übriges, den Knaben vollends zu verderben. Einer davon, ein Herr Spitzelius, wird ihm zum Anlass der Imitation eines religiösen Habitus’. Dabei werden nicht nur Denkweise und Geisteshaltung seines Lehrers übernommen, sondern auch dessen stark moralisch und religiös geprägte Sprechweise. Derart ausgerüstet steht der allmählichen Ausbildung zum vollständigen Heuchler und damit einer habitualisierten Selbstunzugänglichkeit nichts im Wege. Er hatte sich durch seine Furchtsamkeit einen schleichenden Gang angewöhnt, und war dabey von Natur mit sehr feinen Ohren begabt. Durch die Gelegenheiten, die ihm seine Brüder gaben diese Talente zu entwickeln, bracht’ er es in kurzem in der Kunst auf den Zehen zu schleichen, durch Schlüssellöcher zu gucken, und vor den Thüren oder in einem Winkel, wo ihn niemand vermuthete, zu horchen, zu einer bewundernswürdigen Fertigkeit; und weil Gewohnheit endlich zur andern Natur wird, so blieb ihm auch diese so lang’ er lebte. (SW, Bd. 15, S. 144)
Damit schließt sich der Kreis zur Ausgangsfrage, zu deren Bejahung die Geschichte beitragen sollte. Die Beschränkung auf Schleichers Jugend folgt einer Erzählökonomie, die auf dem kürzesten Wege die These des Erzählers belegt und die Zuhörer in die Situation versetzt, auf dieser charakterologischen Grundlage Schlüsse auf die ganze Bandbreite künftiger Verhaltensweisen zu ziehen. Ich glaubte also, der kürzeste Weg aus der Sache zu kommen wäre, wenn ich Ihnen bloss die Geschichte seiner ersten Jugend erzählte. Denn so könnten Sie der Entstehung und Bildung des künftigen Selbstbetrügers gleichsam unmittelbar zusehen, und lernten die Grundlagen seines Karakters so gut kennen, dass Sie nun in jedem Verhältnis, in welchem Sie sich mit ihm denken wollten, ganz genau voraus wissen könnten, wessen Sie Sich zu ihm zu versehen hätten. Kurz, ich glaube Ihnen gerade so viel von Schleichern gesagt zu haben, als zu Auflösung unsers Problems nöthig ist: und so, denk’ ich, hätt’ ich mein Versprechen erfüllt. (SW, Bd. 15, S. 164f.)
IV. Kryptomnesie Die Frage, wie blind man sich selbst gegenüber sein kann, betrifft aber nicht nur Aspekte von Charakterentwicklung und Lebensführung (oder eben justiziabler Einzeltaten). Die Selbstunzugänglichkeit und die Frage nach dem systematischen Ort blinder Flecken werden zur zentralen Herausforderung einer Psychologie, die ihre Schubkraft aus den Autorisierungsirritationen eines wie auch immer historisch und theoretisch hergelei-
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teten Unbewussten bezieht. Vom frühen Mesmerismus bis zur Psychoanalyse Freuds wird so ein Aussageraum erschlossen, dessen kleinster gemeinsamer Nenner eine gesteigerte Komplexität im Geschäft der Zuschreibung ist. Zur Disposition steht somit die Selbstunzugänglichkeit, als deren epistemischer Ort ein Unbewusstes belangt wird. Die Ausgangsfrage bei Wieland scheint sich an solchen Orten der Verwissenschaftlichung des Unbewussten zu einem positiven Befund verdichtet zu haben und die einzige Frage, die bleibt, ist die nach operativen Lösungen für das Phänomen. Was Wieland in den Endstadien biographischer Verfestigung für den seefahrenden Schlosser Gadriga wie für den heuchelnden Bonifaz Schleicher vorführt, wird von Psychologen und anderen Sachbearbeitern des Unbewussten vor allem technisch gelöst: Für Falldokumentationen der (Selbst-)Täuschung sind nicht mehr Exempla und Narrationen zuständig, sondern Experimente und Medientechnik. Das betrifft nicht nur gesellschaftliche Schaltstellen intentionaler Simulation, sondern es betrifft das Aussagesystem der Literatur selbst.12 Auch die Literatur gerät dabei unter einen Generalverdacht. Die Frage, ob das, was schlussendlich den Text formiert, von einem selbstmächtigen Autor autorisiert oder Textteile sich auf anderen Wegen eingeschlichen haben könnten, wird im Rahmen von Plagiatsvorwürfen immer wieder verhandelt. Um die Möglichkeit einer wissenschaftlich ausgewiesenen Selbstunzugänglichkeit gesteigert, verwirrt sich auch hier die Lage ins schier Unermessliche. Der biographisch belangbare Befund, dass man sich selbst belügen kann, ohne es zu wissen, ereilt das Reich der Texte. Auf der Suche nach den Spuren von Schreiberhänden wird das Wissen der Anthropologie durch Strategien der Verwissenschaftlichung sowie durch den Einsatz moderner Medientechnik ersetzt. Wie sehr der Zugriff auf das Schreiben selbst unter den Druck von Verwissenschaftlichung und Objektivierung gerät, zeigen frühe Strategien der philologischen Autorschaftszuschreibung. Deren Sachwalter greifen dafür nicht zuletzt auf Verfahren wie die Statistik zurück. Der amerikanische Experimentalphonetiker Edward Wheeler Scripture (1864–1945) schlägt den Rhythmus und das Metrum unisono über den Leisten des Un12 Neben einer erwartbareren Geschichte des Lügendetektors sei stellvertretend für eine technische Lösung auf ein Verfahren zur Enttarnung simulierter Gehörschäden hingewiesen, das der k.u.k. Stabsarzt Dr. J. Kalcic zur Enttarnung militärdienstunwilliger Gehörsimulanten einsetzt. Vgl. dazu das Sammelreferat von Arnold Löwenstern: Über die Section XIIa für Ohrenkrankheiten des XII. internationalen medicinischen Congresses in Moskau (August 1897), in: Monatsschrift für Ohrenheilkunde sowie für Kehlkopf-, Nasen-, Rachenkrankheiten. Organ der Oesterr. Otologischen Gesellschaft 31, 1897. Zu Kalcics Handtelefon vgl. S. 443– 46.
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bewussten und unterfüttert dies mit großem Aufwand. In Reihenbefragungen unter deutschen und englischsprachigen Schriftstellern lässt Scripture ermitteln, wie bewusst rsp. unbewusst deren Treiben vonstatten geht – nicht zuletzt das Wissen um Formaspekte findet dabei besondere Berücksichtigung.13 Beruhigend geben die Schriftsteller ihre Unkenntnis zu Protokoll, was Scripture Anlass zur dichterischen Pauschalnobilitierung des Unbewussten gibt: „Alle Forschungen über den Bau des Verses sind Untersuchungen über die Arbeitsweise des Unbewußten“.14 Aber auch ohne solches Rüstzeug sollte derlei Unkenntnis oder Unzugänglichkeit von sich reden machen. So als ob es eines Nachweises noch bedurft hätte, dass für das Unbewusste eigene Regeln und eigene Observierungsstrategien gelten, gelangen Verfahren und Überprüfungen zum Einsatz, die ein Lehrstück moderner Anthropologie vor Augen stellen. Friedrich Gropp greift 1916 in einem Text Zur Ästhetik und statistischen Beschreibung des Prosarhythmus eine historisch verbürgte Begebenheit aus der Romantik auf, um diese sogleich experimentell nachzustellen.15 Vor aller verfahrenstechnischen Nobilitierung von Genialität ist diese Gegenstand bloßer Erläuterung. In einer Debatte, die zwischen Friedrich Schlegel, Dorothea Schlegel und Friedrich Schleiermacher über den Prosarhythmus unter anderem bei letzterem selbst geführt wird, fördert die gesellschaftliche Verhandlung den Befund von der stilistischen Selbstunzugänglichkeit zu Tage: Schleiermacher wusste viel, doch kaum darüber Bescheid, wie er schrieb – so jedenfalls stellt sich dem geselligen Kreis einiger Romantiker Schleiermachers Schreiblage dar. Gropp will es genauer wissen und greift zu psychologischem Equipment, der Marbeschen Rußmethode und einem Versuchsaufbau, um so – als bestätigt und objektiviert – zu Tage treten zu lassen, was den geselligen Romantikern eine bloße Ahndung und darum Meinung war. Interessiert an Selbsteinschätzungen und Selbstfehleinschätzungen geraten Texte wie Friedrich Schleiermachers Monologen ins Visier, „die seinerzeit in rhythmischer Hinsicht viel Interesse erregten“. Seine Untersuchungen sollen nachweisen, 13 Edward Wheeler Scripture: Ein Einblick in den unbewußten Versmechanismus, in: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 102, 1927, S. 307– 309, hier: S. 307. Vgl. ferner ders.: Whence does the Poet get the Form of his Verse?, in: Modern Languages. A Review of Foreign Letters, Science, and the Arts V, 1924, H. 6, S. 163–173, sowie zur standardisierten Reihenbefragung ders.: Die neue Metrik, in: Archiv für die gesamte Psychologie 64, 1928, S. 463–474. 14 Edward Wheeler Scripture: Äußerungen deutscher Dichter über ihre Verskunst […], in: Archiv für die gesamte Psychologie 66, 1928, S. 216–251, hier: 463f. 15 Friedrich Gropp: Zur Ästhetik und statistischen Beschreibung des Prosarhythmus, in: Fortschritte der Psychologie und ihrer Anwendungen, Bd. 4, Leipzig 1916, S. 43–96.
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inwieweit eine richtige Beurteilung eines Textes ohne Statistik möglich ist. Sie liefern somit einen Beitrag zur Lehre vom ästhetischen Eindruck, soweit derselbe auf rhythmischen Tatsachen beruht. Sie können aber zugleich auch als Beiträge zum Stil Hülsens und Schleiermachers gelten. Denn wie wir sahen, ist ja auch der Rhythmus eine wesentliche Komponente des Stils.16
In beiden Fällen der Selbstunzugänglichkeit – bei Schleiermacher wie bei Schleicher und dem Schlosser – ist eine Option allerdings wenig probat: die der direkten Befragung. Wie Wieland wusste, darf oder kann man vor dem Hintergrund der verhandelten Frage den Betroffenen nicht selbst fragen, Unzugänglichkeit oder Verstellung, also Intention oder ihr Gegenteil hätten das Sagen, in keinem der beiden Fälle jedoch ein gewünschtes Ergebnis. Stattdessen müsse man sich dem einschleichenden Unbewussten selbst auf Schleichpfaden annähern. Weil dem so ist, hat Schleicher keine Stimme, kommt nicht zu Wort, weil dem so ist, unterliegt die Rede des Schlosser der Aemulationslogik nachmaliger Pseudologen, und weil dem so ist, fragen die Psychologen ihre Probanden und die Schriftsteller nicht auf direktem Wege, sondern an ihrem Wissen und an ihren Sachständen gezielt vorbei. Die Unmöglichkeit der zielgenauen Frage stellt im Prozess psychologischer Forschung einen Allgemeinplatz dar, dem ein Bündel an Verfahren, Techniken, Empfehlungen sowie methodischen Überlegungen korrespondiert, die anderweitig beglaubigte Antworten zu ihrem Ziel haben. Und das ist mit ein Grund, warum in der wissenschaftlichen Rede über das Unbewusste eine Semantik des Schleichens und Einschleichens kultiviert wird, die vor allem auf Technik setzt – auf Medien, die das Unbewusste umgehen. In der Entkopplung von der Lüge als einer moralischen Größe und ihrer Ausdehnung auf einen Dunstkreis sowohl unwillentlicher wie unwissentlicher Phänomene liegt eine epistemologische Pointe, die Wieland im Rahmen seiner Anthropologie anzugehen wusste. Die Psychologie des frühen 20. Jahrhunderts beginnt zu wissen und in ihr Kalkül zu ziehen, dass Lügen, Erinnerungs- und sonstige Täuschungen eine conditio humana jenseits mutwilliger Verstellung und dem Vorsatz zur Vorteilnahme darstellen, die es mittels Medientechnik und Versuchsanordnung zu umgehen gilt: Dies jedenfalls werden die Lektionen sein, mit denen die Wissenschaften auf Unwissentlichkeit und Selbstunzugänglichkeit reagieren.17 Diese Lage macht auch vor den Zuschreibungsbehauptungen und Falschmünzereien der Literatur nicht Halt. Löst man die Autorisierungsirritationen von der Ebene intentionalen Plagiierens (und seinen durchaus 16 Ebd., S. 57. 17 Zu konstitutiven Formen der Selbstverborgenheit und ihrem Bild, der Drehtüre, vgl. Viktor von Weizsäcker: Der Gestaltkreis. Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 4, Frankfurt a.M. 1997.
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zugestandenen Nuancierungen) einmal ab, so gerät man sehr schnell an die Abgründe der Zuschreibung und ihrer Möglichkeit überhaupt. Mit dem pathologischen Plagiat, wie es die Psychologie im Rückgriff auf ein nach Maßgabe welcher Theorie auch immer zugeschnittenes Unbewussten ausarbeitet, sind die geregelten Verhältnisse erhobener Zeigefinger abgegolten und stattdessen ist ein ganz eigenes und verwirrendes Phänomen auf dem Tapet.18 Es ist die Psychologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die im Vollzug ihrer Zuschreibungspolitik, fußend auf den Möglichkeiten des Unbewussten und im Rückgriff auf die ihnen gewidmeten Theorien unterschiedlicher Couleur entsprechende Erklärungsanbote unterbreitet: Mit Kryptomnesie oder Paramnesie als pathologisierender Erklärung dafür, warum man plagiieren kann, ohne es selbst zu wissen, sind diese gefunden. In umständlicher Kasuistik werden solche Dinge an den Rändern (un-)einholbarer Vorwürfe verhandelt und, wie häufig bei Plagiatsvorwürfen, über Wahrscheinlichkeitskalküle plausibilisiert.19 Signifikante Häufungen entscheiden dann darüber, ob plagiiert wurde, und das unabhängig davon, ob selbstbewusst findige Vorteilnahme oder eine selbstunzugängliche Störung am Werk waren. Vor dem Hintergrund dieser Zuschreibungsverunsicherung nimmt Arno Schmidt die Umtriebe und den Schleichhandel des Plagiierens ins Visier und gelangt zu Schlussfolgerungen, die in Einzelbefunden der Wielandschen Erzähltheorie anlässlich des Schlosser Gadriga zu entsprechen scheint. Ausgerechnet Schmidt, der mit dem Argument des Plagiierens ebenso gekonnt wie penetrant seine literaturwissenschaftlichen Kenntnisse ins rechte Licht rückt, gerät im Fall Edgar Allan Poes zu minutiösen Beobachtungen über die Stilmerkmale des Plagiats. Den Anlass bietet dessen Erzählung The Fall of the House of Usher von 1839 und die vermeintliche Vorlage Das Raubschloß des deutschen Schriftstellers Heinrich Clauren von 1812. Nach umständlichen Einzelnachweisen steht für Schmidt das Ergebnis fest: „Ergebnis: die Identität der Fabel & des Details ist geradezu niederknüppelnd; die für den stillen Umbildner typischen psychischen Mechanismen sind nachweisbar. (Ei verflucht, schreibt sich das schwer, daß POE ein Dieb sey!) –“20 Ausdrücklich wird Clauren das Primat zugesprochen und Poe ebenso ausdrücklich auf Intentionalität verpflichtet: „Ob schon das Primat einwandfrei CLAUREN gehört, und es sich bei POE 18 Otto Juliusburger: Giebt es ein pathologisches Plagiat?, in: Neurologisches Centralblatt 24, 1905, H. 2, S. 155–158. 19 Für den Fall der Literatur hat Arno Schmidt dies am Beispiel Edgar Allan Poes durchgespielt. Vgl. Arno Schmidt: Der Fall Ascher, in: ders.: Aus julianischen Tagen, Frankfurt a.M. 1979, S. 128–140. Zur Entscheidungsschwierigkeit verweist Schmidt auf Poes A questionable plagiarism, ebd., S. 133. 20 Schmidt: Der Fall Ascher, S. 137.
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nicht um ein bloßes kryptomnestisches Versehen handeln kann – vielmehr um ein sich deutlich & mehrfach wiederholendes, asymptotisches Heranschlängeln an eine Vorlage“.21 Und auch Schmidt greift zu der häufig benutzten Entschuldigungsstrategie, dass die Qualität der literarischen Durchführung das moralische Manko des Plagiierens wettmache.22 Allen moralisierenden Argumenten zum Trotz verweist Schmidt auf Beobachtungen Poes, die nicht auf das Faktum des Plagiierens, sondern auf dessen sprachliche Eigenarten hindeuten. Ähnlich wie im Fall der verbalen Kraftmeiereien von Wielands Schlosser wird das Plagiat zum unbewussten Ort sprachlicher Renommisterei. POE hat auffällig oft & hart Andere des Plagiats bezichtigt, und nicht unfeine Bemerkungen über dessen Mechanismen mitgeteilt; wie z.B. die, daß man den Nachbildner prinzipiell an der Überhöhung der Adjektive & und des Details erkennen könne – wodurch uns also faßlich wird, daß bei CL [= Clauren; SR] jenes geheimnisvolle Buch ‚kleines Taschenformat‘ hat, während Meister P daraus ein ‚quarto gothic‘ machen mußte; und CL sich mit einem ‚höchst merkwürdig‘ begnügen kann, welches P zu ‚exceedingly rare and curious‘ aufschwellen läßt; aha.23
Der Gipfel literarischer Selbstunzugänglichkeit ist in einem Fall erreicht, von dem der Psychiater Arnold Pick 1909 unter dem Titel Das pathologische Plagiat, eine Form von Störung der Erinnerung handelt. Nicht mehr in einem Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, sondern in der Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane wird von einem Schriftsteller und Theaterkritiker berichtet, dem das merkwürdige Kunststück gelungen sein soll, ausgerechnet sich selbst zu plagiieren.24 Dass derlei Falschmünzerei nur über die schleichenden Kanäle des Unbewussten erfolgen konnte, versteht sich vor dem Hintergrund der Anthropologisierung des Wissens von selbst.
21 Ebd. 22 Das gipfelt in einer moralischen Pflicht zum Plagiat. Vgl. dazu Leo Berg: Zur Psychologie des Plagiats, in: Das litterarische Echo. Halbmonatsschrift für Litteraturfreunde 7, 1904, H. 6, S. 385–395. 23 Schmidt: Der Fall Ascher, S. 136. 24 Arnold Pick: Das pathologische Plagiat, eine Form von Störung der Erinnerung, in: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 50, 1909, S. 401–21 sowie ders.: Ueber eine neuartige Form der Paramnesie, in: Jahrbücher für Psychiatrie und Neurologie, Bd. 20, Leipzig, Wien 1901, S. 1–35. Zu diesen Verwirrungen der Autorschaft Stefan Rieger: Die Individualität der Medien. Eine Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, Frankfurt a.M. 2001.
Wolfgang Struck
„(Die Fortsetzung künftig)“ Georg Forster und Christoph Martin Wieland auf der Reise nach Kythera I. Traumwelt Romeo. I dream’d a dream to-night. Mercutio. And so did I. Romeo. Well, what was yours? Mercutio. That dreamers often lie. Romeo. In bed asleep, while they do dream things true. Mercutio. O, then, I see Queen Mab hath been with you. She is the fairies' midwife, […] Romeo. Peace, peace, Mercutio, peace! Thou talk’st of nothing. Mercutio. True, I talk of dreams, Which are the children of an idle brain, Begot of nothing but vain fantasy, Which is as thin of substance as the air And more inconstant than the wind, who wooes Even now the frozen bosom of the north, And, being anger’d, puffs away from thence, 1 Turning his face to the dew-dropping south.
Es ist eines jener Spiele an und mit den Abgründen der Sprache, die Wieland bei Shakespeare immer wieder provoziert haben; provoziert, die Lektüre abzubrechen – und etwa derartige Passagen nicht nur für unübersetzbar, sondern auch für frostig, armselig und belanglos zu erklären2; provoziert aber auch, das Spiel fortzusetzen. In Romeo und Juliette geraten beide Haltungen sehr nah aneinander. Wieland findet sich hier auf der Seite Romeos, der einen nicht enden wollenden Sermon Mercutios über die Fee Mab und ihre Stricke, die Träumenden zu verzaubern, unterbricht und abbrechen möchte. Aber Wieland findet sich auch auf der Seite des Unterbro1 2
William Shakespeare: Romeo and Juliet, hg. von Brion Gibbons, London 1980 (The Arden Shakespeare), Bd. I/4. So etwa in: William Shakespeare: Romeo und Juliette. Ein Trauerspiel, in: ders.: Theatralische Werke (=TW), übers. von Christoph Martin Wieland, 21 Bde., hg. von Hans und Johanna Radspieler, Zürich 1995, Bd. 17, S. 31.
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chenen, der unverdrossen das Traumgeflecht weiterspinnt, indem er einfach nichts in etwas übersetzt – genauer: in ein etwas, das zugleich etwas und nichts ist – und es so schafft, Romeo in der gleichen Aussage zuzustimmen und zu widersprechen: „Thou talk’st of nothing. – True, I talk of dreams“. In einer Fußnote zu seiner Übersetzung von Romeo and Juliet hat Wieland das dieses Traumgespräch einleitende „Wortspiel mit lie und lye, liegen und lügen, welches sich zu gutem Glück übersetzten läßt“, im Gegensatz zu seiner häufigen Kritik an solchen Spielen einmal ausdrücklich affirmiert, so dass seine Übersetzung folgendermaßen lautet: Romeo. Mir träumte vergangne Nacht - Mercutio. Mir auch. Romeo. Gut, was träumte euch? Mercutio. Daß Träumer manchmal lügen. Romeo. Ja, in ihrem Bette, (*) wo sie oft wahre Dinge träumen. Mercutio. O, dann seh ich, daß ihr einen Besuch von der Königin Mab gehabt habt. Sie ist die Heb-Amme der Phantasie […] (*) Wortspiel mit lie und lye, liegen und lügen, welches sich zu gutem Glück 3 übersetzten läßt
Weitergespielt hat Wieland das Spiel um Worte und Träume dann an einem Ort, wo das nicht unbedingt erwartbar wäre: in seinem kommentierten, oder in Wielands eigenen Worten, dem „ausführlichen raisonnierten Auszug“ aus einem „der merkwürdigsten Bücher unsrer Zeit“, Hrn. D. Johann Reinhold Forsters, Reise um die Welt, während den Jahren 1772–75, beschrieben, und ins Teutsche übersetzt von dessen Sohn, Hrn. Georg Forster, erschienen von Juli bis November 1778 in drei Folgen in den Heften 7, 8 und 11 des Teutschen Merkur.4 In einer Mischung aus Zitat, Paraphrase und Kommentar durchläuft Wieland hier die ersten acht Hauptstücke von Georg Forsters Reise um die Welt, deren erster Band im gleichen Jahr, ein Jahr nach der englischen Ausgabe, auf Deutsch erschien.5 Die keltische Feen-Königin Mab führt 3 4
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Ebd., S. 31f. Der Teutsche Merkur, 1778, Viertelj. 3, No 7, S. 59–75; No 8, S. 144–164; 4. Viertelj., No 11, S. 137–155 (zit. im Text als No 7, No 8, No 11 und Seite); die Ankündigung eines „der merkwürdigsten Bücher unsrer Zeit“ in ebd.: 2. Viertelj., No 6, S. 295; vgl. Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke (1794–1811) (=SW), Reprint Hamburg 1984, Bd. 14/Supplemente V, S. 175–246. Zu einer grundsätzlichen Verortung von Wielands Auszug im Kontext der zeitgenössischen Reiseliteratur vgl. Alan Menhennet: Wieland as Armchair Traveller, in: MLN 99, 1984, S. 522–538. Georg Forster: Reise um die Welt, Berlin 1778–1780; vgl. Georg Forsters Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe, hg. von Georg Steiner, Bd. 2 und 3, Berlin 1965f.
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Wieland in der dritten Folge seines Auszugs ein, auf dem Höhepunkt der Reise, bald nach der Ankunft auf der „Zauberinsel“ Tahiti – und kurz bevor der Auszug mit den Worten „Die Fortsetzung künftig“ abbricht, ohne je fortgesetzt zu werden. Dieser Abbruch wirkt etwas abrupt. Eine mögliche Erklärung wäre, dass Wieland die Übersetzung nicht vollständig vorlag, aber für die 3. Folge seines Auszugs hatte er zumindest noch ein ausführliches Referat der 8. und 9. Hauptstücke angekündigt, die dem ersten Tahiti-Aufenthalt Forsters gewidmet sind. Der Auszug ist jedoch kaum bis zur Mitte des 8. gelangt, als er unmittelbar vor einer der berühmtesten Passagen aus Forsters Werk endet. Wielands Aufmerksamkeit für eines „der merkwürdigsten Bücher unserer Zeit“, so scheint es, „puffs away“, gerade in dem Augenblick, in dem er in seiner (Re-)Lektüre „the frozen bosom of the north“ zurückgelassen und, endlich, „the dew-dropping south“ erreicht hat, oder, wie Wieland das übersetzt, das Buhlen „um den kalten Busen des Nords“ aufgegeben und „sein Gesicht dem thauichten Sud“ zugewendet hat.6 Gerade in dieser Wendung hatte Wieland „lebendige Beweise“ erwartet, „daß die Natur in einigen kleinen Inselchen der Südsee würklich gemacht hat, was bey mir und andern ehrlichen Wünschern und Träumern bloßer Wunsch und Traum der freundlichen Einbildung war“ (No 11, S. 146). Zwar scheint hier eine Ernüchterung – das Erwachen? – zu folgen, wenn Wieland nach einem Gedankenstrich fortsetzt: „Freylich geht etwas, und ziemlich viel davon ab, daß Würklichkeit je so schön, so glänzend, so erwünscht sey als was Fee Mab mit einem Schlag ihres Mohnstengels vor unserm innern Sinn vorbeyzaubert“ (ebd.). Aber auch unter dieser Maßgabe könne keine „gute Seele“ den Tahitianern die Sympathie entziehen. Um so überraschender ist es, dass den Leserinnen und Lesern des Teutschen Merkur Forsters ausführliche Schilderungen eben dessen, was diese Sympathie erweckt, weitgehend vorenthalten bleiben. Wenn statt dessen in einem Satz, der Desillusionierung und (erneute) Verzauberung eng zusammenführt und in einer erläuternden Fußnote auf „Shakespeares Romeo und Julie, erster Act, Scene zwischen Romeo, Mercutio und Benvolio“ zurückgeführt wird, eine keltische Feenkönigin auftritt, dann ist damit, so meine These, ein Hinweis gegeben auf Wielands Lektüre-Strategie, dem ich folgen möchte. Nicht allein Shakespeares Fee ist hier, auf dem Höhepunkt von Wielands Forster-Lektüre, präsent, sondern in der Figur des ‚ehrlichen Träumers‘ ist auch das „zu gutem Glück“ zu übersetzende Wortspiel mitzulesen, das über die aus Shakespeares Englischem herübergeholte (annähernde oder doch nur vermeintliche?) Homonymie von liegen und lügen auch Lüge und Wahrheit, Traum und Wirk6
Shakespeare: Romeo und Juliette, TW, Bd. 17, S. 33.
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lichkeit und, in einer weiteren Wendung, nichts und etwas ineinander verschränkt und damit in gewisser Weise ineinander übersetzbar erscheinen lässt. Damit aber geben auch die „children of an idle brain, begot of nothing but vain fantasy“, die Mercutio in einem rasanten Prozess der Substitutionen über die Welt wandern lässt, nicht allein die geographische Bewegungsrichtung von James Cooks Schiff Resolution in die Südsee vor, die Wielands Auszug, Forsters Chronologie mit leichten Abweichungen folgend, auf vier Episoden verdichtet wiedergibt. Die Reise, Wielands Reise, führt noch in ein anderes Territorium, indem sie einer Spur der Träume folgt, „diesen Kindern die ein müßiges Hirn mit der eiteln Phantasie erzeugt“. Es ist das Territorium einer literarischen Phantasie, die Shakespeare entscheidende Anregungen verdankt. Dass Wieland versucht, das eigentlich gar nicht so glücklich zu übersetzende Wortspiel um liegen und lügen im Deutschen nachzubilden, scheint mir auf eine grundsätzlichere Bedeutung der darin angelegten Verschränkung von Wort- und Traumspiel zu deuten. Was in Romeo und Juliette nur angesprochen wird, ist handlungsbestimmend in dem ersten von Wieland übersetzten ShakespeareDrama, Ein St. Johnnis Nachts-Traum. Hier gelingt es ja, gleich ein ganzes Bündel von Konflikten, die auf der politischen Ebene der Handlung, der Ebene des patriarchalen Staates und des Gesetzes des Vaters, unlösbar erscheinen, durch die Verlagerung in die Traumwelt zu einer glücklichen Auflösung zu bringen und so auch in der Tageswelt die gestörte Ordnung zu restituieren. Was bleibt, ist allerdings die Frage, wie diese Lösungen so stabilisiert werden können, dass man ihnen tatsächlich zutrauen kann, über die Traumwelt hinaus Bestand zu haben.7 So ist es ausgerechnet Theseus, dem vehementen Kritiker des von „alten Fabeln, Feen-Mährchen/Und Zaubereyen […] erhitzten Hirn[s]“, vorbehalten, die Leistung solcher „Einbildungskraft“ durchaus adäquat zu beschreiben: sie „giebt dem lüftigen Unding/Verbindung, Ort und Zeit, und einen Namen.“8 Berührt sind hier gleichermaßen poetologische wie epistemologische Fragen, die das Verhältnis von Einbildungskraft und Wirklichkeit betreffen. Forsters Reise um die Welt bietet nun einen Anlass, noch einmal nach dem epistemologischen Status jener Zeugungen des müßigen Hirns mit der eitlen Phantasie zu fragen, scheint hier doch ein verlässlicher Zeuge aus einer Welt zurückge-
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In A Midsommer Night’s Dream gelingt die Lösung des Konflikts letztlich nur durch einen kolonialistischen Akt, der sich gleichzeitig versteckt: die Entführung und den Tausch des „Indian Boy“, an dem sich der Streit zwischen Oberon und Titania entzündet hatte; vgl. dazu Shankar Raman: Framing ‚India‘. The Colonial Imaginary in Early Modern Culture, Stanford 2002 (S. 239–279: Indian Boys and Buskin’d Amazons: The Oedipal Exchanges of ‚A Midsummer Night’s Dream‘). William Shakespeare: Ein St. Johannis Nachts-Traum, in: TW, Bd. 1, V/1, S. 96.
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kehrt, in der die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit weit weniger scharf gezogen zu sein scheint als im Europa der Aufklärung. Ihm wäre es zuzutrauen, dem „lüftgen Unding“, der Südsee-Utopie nämlich, „Ort und Zeit, und einen Namen“ zu geben. Dass aber eine solche Kartographierung des Utopischen ein zum Scheitern verurteiltes Unternehmen ist, arbeitet Wielands Forster-Lektüre heraus, indem sie die Aufmerksamkeit auf die verschiedenen darin involvierten Prozesse der Übersetzung lenkt. II. Konfiguration Von einem Traum ist bereits ganz am Anfang – und dann immer wieder – die Rede. Der Auszug beginnt mit einem ausgiebigen, aber nicht ganz wörtlichen Zitat der berühmt gewordenen (und auch später viel zitierten) Absätze aus Forsters Vorrede, in denen dieser den hohen Anspruch einer „Philosophischen Geschichte der Reise“ formuliert, die nicht nur „frey von Vorurtheil und gemeinen Trugschlüßen […], ohne Rücksicht auf willkührliche Systeme“ sein soll, sondern statt des „Unkraut trocknen[den] und Schmetterlinge fangen[den]“ Naturkenners den ganzen Menschen fordert, der „alle seine Talente in diesem Fache anwenden“ kann und soll (No 7, S. 60). Hier, nach etwa einer Seite Zitat, schaltet sich erstmals der Kommentator ein, der bezweifelt, dass ein solcher Anspruch einzulösen wäre, und der dabei eine überraschende Analogie von Philosophen, Entdeckern und Träumern herstellt: Aber welcher Mensch, welcher Künstler, welcher andre Unternehmer, von dem, der es versucht einen bloßen Traum seiner Seele im Vorübergehen zu erhaschen, und, was er auf einmal gesehen und gefühlt, uns stückweise in Worten vorzubilden, bis zu dem der auf Entdeckung neuer Welten oder auf Philosophische Berichtigung älterer Entdeckungen ausgeht, hat jemals seine Idee volkommen ausgeführt, seinen Zweck ganz erreicht? (No 7, S. 60)
Weiterverfolgt wird in den einleitenden Bemerkungen zunächst nur das Verhältnis der zweiten und dritten Figur dieser Konfiguration, das Verhältnis also von eigentlicher, geographischer Entdeckungsreise und deren philosophischer Korrektur. Insbesondere das letztere sei „unendlich kompliziert“, da hier ein Gebiet betreten werde, das der Rationalität nur bedingt zugänglich wäre. Dass ausgerechnet die Tätigkeit des Philosophen „ausser den Grenzen menschlicher Gewalt oder Klugheit liegen“ soll, scheint zwar auf den ersten Blick überraschend, könnte man hier doch eher den Träumer und auch den der Kontingenzen der Elemente unterworfenen Entdeckungsreisenden erwarten. Es erklärt sich aber im vorliegenden Kontext daraus, dass die Reise des Philosophen der des Entdeckers nachgeordnet und/oder
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nachträglich bleiben muss, zugleich aber in ihrem Anspruch über diese hinausgeht. Auf der einen Seite stehen die Ansprüche an „Erdbeschreibung und Schiffahrt“, repräsentiert durch die britische Admiralität, deren „dem Kap. Cook vorgeschriebene Verhaltungsbefehle […] den Hauptzweck der ganzen Reise“ definieren. Auf der anderen Seite finden sich „Leser, denen es vorzüglich um Erweiterung und Berichtigung ihrer Natur- und Menschenkenntnis und überhaupt um Bilder und Schilderungen einer für uns noch immer neuen Welt zu thun ist“ (No 7, S. 63) – Leser wie Wieland also. Dass ihre Interessen denen der Admiralität deutlich nachgeordnet sind, dürfte einer der Gründe für die Unwägbarkeiten der philosophischen Reise sein. Schon Forster selbst wendet gerade diese Nachrangigkeit in ein positives Argument, das seine, nach John Hawkesworth’ von Cook selbst autorisiertem Account of the Voyages undertaken by the order of his present Majesty for making Discoveries in the Southern Hemisphere9, zweite Reisebeschreibung legitimiert. Wieland referiert Forsters Argumentation, in der sich der Übersetzung vom Englischen ins Deutsche eine zweite, zwischen den Interessen einer Seemacht und der theoretischer Neugierde vermittelnde, überlagert, um dann das entscheidende Argument zu zitieren: Bekanntermaßen ist zwar auch aus den Papieren und unter der Aufsicht des Kapt. Cook eine Beschreibung eben dieser Reise um die Welt zusammengetragen worden. Allein man würde sich sehr irren, wenn man um derentwillen Hrn. Forsters Arbeit für überflüssig halten wollte. ‚Man muß in Erwägung ziehen, daß wichtigere Vorfälle durch die verschiedne Erzählung zweier Augenzeugen in stärkeres Licht gesetzt werden. Auch (fährt Hr. Forster fort) waren unsre Beschäftigungen im Haven sehr verschieden, Kapit. Cook hatte alle Hände voll zu thun, um das Schiff mit Lebensmitteln zu versehen, und wieder in Stand zu setzen: dagegen ich den mannichfaltigen Gegenständen nachgieng, welche die Natur auf dem Lande ausgestreuet hatte. Ueberdies bemerkt er sehr richtig, daß der Gesichtspunkt woraus ein Seemann […] die Gegenstände ansieht, von denjenigen eines Landmanns – und wir setzten hinzu, eines jungen Mannes von so vielen Talenten und von so ausgebreiteter Wissenschaft als Hr. Forster ist – sehr verschieden seyn müßte. (No 7, S. 61f.)
Der für den ganzen Auszug charakteristische gleitende Übergang von Referat und Zitat – nach den Anführungszeichen vor „Man“ wird keineswegs wörtlich zitiert, dafür ist die Klammer im zweiten zitierten Satz eigentlich überflüssig, da das Zitat hier nicht unterbrochen war, nach „Ueberdies“ geht dagegen ohne Markierung, erkennbar nur durch den Wechsel von 9
John Hawkesworth: Account of the Voyages undertaken by the order of his present Majesty for making Discoveries in the Southern Hemisphere, 3 Bde., London 1773. Bereits 1774 und 1775 erschienen zwei deutsche Übersetzungen: Geschichte der See-Reisen und Entdeckungen im Süd-Meer, 3 Bde., Berlin 1774; Ausführliche und glaubwürdige Geschichte der neuesten Reisen um die Welt, 4 Bde., Berlin 1775.
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‚ich‘ zu ‚er‘, das Zitat in Paraphrase über – lässt sich durchaus lesen als eine Art anschmiegende Lektüre, in der sich Wieland mit Forster identifizieren und entsprechend von Cook distanzieren würde.10 Im Spannungsfeld zwischen dem Geschäftsträger eines expandierenden Kolonialreichs, dessen kartographierendem Blick die Welt zum Netzwerk aus schiffbaren Passagen und brauchbaren Relaisstationen gerät, und dem aufgeklärten Philanthropen gelten die Sympathien des Lesers Wieland dem zweiten (der, genauer betrachtet, nochmals aufgespalten ist in die von Vater und Sohn Forster repräsentierten Varianten des älteren Philosophen und Naturforschers und des jüngeren Enthusiasten, der sich mit Neugier und Hingabe dem Studium fremder Länder und Kulturen überlässt). Allerdings ist im Gegensatz von ‚Seemann‘ und ‚Landmann‘ die von Wieland eingesetzte Konfiguration nicht erschöpft. Auch der vorläufig beiseite getretene Träumer, oder genauer: der, „der es versucht einen bloßen Traum seiner Seele im Vorübergehen zu erhaschen, und, was er auf einmal gesehen und gefühlt, uns stückweise in Worten vorzubilden“, spielt weiterhin eine Rolle. Steht der Philosoph vor dem Problem, die Erfahrungen des Seemanns in die des Landmanns zu übersetzen, also zwischen zwei Positionen zu vermitteln, so wird dem Träumer die verstetigende Darstellung der eigenen Erfahrung zum Problem. Auch hier ist eine Übersetzung gefragt, die allerdings (fast) vor der Aufgabe Mercutios zu stehen scheint, nichts in etwas zu übersetzen, oder, in den Worten des St. Johannis Nachts-Traums, „dem lüftigen Unding/Verbindung, Ort und Zeit, und einen Namen“ zu geben. Während Forster das unbestrittene Verdienst zuzukommen scheint, die Reise zugleich aus dem Englischen ins Deutsche und aus der nautischen in die philosophische Wirklichkeit übersetzt zu haben, sind Leistung und Ansprüche der „Einbildungskraft“ zunächst jedoch weit weniger deutlich erkennbar. Wieland scheint sie probeweise einzuklagen, wenn er Forsters Reise nach Madeira, ins antarktische Eismeer, zur Dusky Bay auf Neuseeland und schließlich auf die „Zauberinsel“ Tahiti folgt und dabei zugleich übersetzt in eine Reise durch die literarischen Welten des Rokoko. In allen vier Episoden wird immer wieder die Frage nach der Vermittlungsfähigkeit der geschilderten Ereignisse gestellt, die Frage also, die mehr den Träumer als den Philosophen zu betreffen scheint und die auch im Rekurs auf literarische Genres eine Antwort findet.
10 So etwa Bernhard Budde: Die „ganze Büchse der Pandora“? Zur Reflexion von europäischer Zivilisation und Fremderfahrung in Forsters „Reise um die Welt“ und im „raisonnierten Auszug“ Wielands, in: „Der Teutsche Merkur“ – die erste deutsche Kulturzeitschrift?, hg. von Andrea Heinz, Heidelberg 2003, S. 170–187.
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III. Etappen einer Reise in die Zauberwelt In der ersten Episode findet sich „unser philosophischer Seefahrer“ in die „Gärten der Semiramis“ und auf eine „Zauberinsel“ (No 7, S. 64) versetzt: die erste Zwischenstation der Reise, Madeira, scheint bereits eine Vorahnung jenes (wieder-)gefundenen Kythera zu vermitteln, das am Ende der Reise wartet – bei der Ankunft auf Tahiti wird dann auch zum zweiten Mal von einer „Zauberinsel“ die Rede sein (No 11, S. 147), diesmal in Anlehnung an den französischen Seefahrer Bougainville, der seine ‚Entdeckung‘ als Île de la Nouvelle Cythère für Frankreich in Besitz nehmen wollte. Auf Madeira ist der vermeintliche Zauber allerdings trügerischer Schein. Kein glückliches Volk von göttlichen Hirten genießt den Wein, dessen Anbau das Erscheinungsbild der „bezauberten Insel“ prägt. Vielmehr erscheint er als Wirtschaftsgut, das die Insel in der ökonomischen Realität einer sich globalisierenden Welt verankert. Ausführlich werden Ausfuhrmengen sowie die für verschiedene Qualitäten in Europa, Nordamerika, Ost- und Westindien zu erzielenden Preise referiert, anschließend wird geschildert und ebenfalls mit statistischen Daten belegt, wie der zurückfließende Gewinn nur einer kleinen Schicht an Grundbesitzern zugute kommt, während die Weinbauern selbst inmitten des natürlichen Reichtums in tiefer Armut leben. Eine Erkenntnis, für die es, wie der Kommentator den Berichterstatter erinnert, keiner Fernreise bedurft hätte: „und ists nicht beynahe in ganz Europa eben so?“ (No 7, S. 66) Hier scheint sich das Interesse des Lesenden (Wieland) vor allem auf verlässliche Informationen zu richten. Wenn bei Forster davon die Rede ist, dass Dorfbewohner abends „nach dem Schall einer einschläfernden Guitarre zu tanzen und zu springen“ pflegen, dann spitzt unfehlbar eine Fußnote den Widerspruch zwischen munterem Tanz und einschläfernder Musik auf, um am Beispiel von norddeutschen Sackpfeifen und alpenländischen Zithern auf die Relativität des musikalischen Eindrucks hinzuweisen, die ein Attribut wie ‚einschläfernd‘ notwendig subjekt- und kulturgebunden erscheinen lässt (No 7, S. 66). Und wenn Forster schreibt, dass der beobachtete Bevölkerungsrückgang auf der Insel „vermuthlich“ auf eine epidemische Krankheit zurückzuführen sei, kommentiert Wieland: „Dies vermuthlich ist unangenehm: Warum fragte er nicht nach?“ (No 7, S. 64) Dies ‚vermuthlich‘ ist noch nicht einmal ein wörtliches Zitat. Bei Forster heißt es: „es ist sehr wahrscheinlich, daß dies von einer epidemischen Krankheit hergerührt hat, denn sonst müßte die Insel längst entvölkert seyn“.11 Während Forster also aufgrund empirischer Angaben, nämlich der Geburts- und Sterbestatistik, einen Vernunftschluss zieht, verweist Wieland das in den Bereich bloßer Vermutung. 11 Forster: Reise um die Welt, Bd. 2, S. 54.
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Eine mögliche, wenn auch möglicherweise sentenzhaft über das Ziel hinausschießende, Antwort auf die Frage nach der ausgebliebenen Frage gibt Wieland mit einer Beobachtung, mit der er die zweite Folge seines Auszugs einleitet: „Der Mensch glaubt leicht was er hoft, und sieht bald was er sehen will“ (No 8, S. 144). Das bezieht sich allerdings nicht mehr auf das Rokoko-Kythera. Mit ihrem Vorstoß in den „Antarktischen Zirkel“ sind die Reisenden mittlerweile in ein Territorium gelangt, das auf eine andere Weise und in anderer Intensität die Einbildungskraft stimuliert als die Zauberinsel. Zwar finden sich auch hier wieder Zahlen, etwa über Größe und Rauminhalt von Eisbergen, aber sie scheinen nicht mehr geeignet, die Einbildungskraft zu korrigieren: „Die Menge der Eis-Massen hatte bisher täglich zugenommen, und die Einbildung des Schiffsvolks stieg in gleichem Verhältnis“ (ebd.). Diese Äquivalenz übersetzt die spärlicher werdenden statistischen Angaben in eine Ästhetik der Erhabenheit, die in Eis, Nebel, Regen, Sturm und Polarlicht ihre Topoi findet und die nicht mehr nachfahrende Philosophen, sondern „künftige Mahler und Dichter“ ihr Material, „die Skizze zu mehr als Einer großen Schilderey“, finden lässt (No 8, S. 148f.). Die Übersetzung ist notwendig vage: für die Einbildung(skraft) steht offenkundig nicht der gleiche Maßstab zur Verfügung wie für die Eismassen. Bereits Wielands Auszug selbst hat hier deutlich die Register gewechselt und die „Reise eines Philosophen“ (No 7, S. 62) zur „Vollendung des großen Abentheuers“ (No 7, S. 71) mutieren lassen, ein „edles Daransetzen seines Lebens“ (No 7, S. 72), und damit die „neuen Argonauten“, „im Bauch des künstlichen hölzernen Sturmvogels“ (No 7, S. 71), in eine neue literarische Konfiguration eintreten lassen: das heroische Epos. Die Ankunft auf Neuseeland lässt wiederum ein anderes Genre in den Vordergrund treten: den Staatsroman. Ausgiebig diskutiert wird hier die Möglichkeit, die im Kampf mit einer kargen Natur lebenden Einwohner zu fördern, verbunden mit der Notwendigkeit, sie dann aber auch „völlig zu polizieren“, was hieße, „die ganze Büchse der Pandora, mit allem Guten und Bösen, was sie enthält“ (No 11, S. 139) über sie auszugießen. Damit schließt Wieland unverkennbar an seine Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit an, vor allem an Die Büchse der Pandora und Die Reise des Priesters Abulfauaris ins Innere Afrika, die das Problem an eine Auseinandersetzung um Rousseau anschließen.12 Wie dort stellt Wieland auch hier ein Gedankenexperiment an, mit dem er sich sehr weit von Forsters Text löst (No 8, S. 157ff.). Es handelt sich um die Herkunft einer rätselhaften, scheinbar isoliert auf einer unwirtlichen, der Küste vorgelagerten Insel lebenden Familie. Vielleicht, so Wieland, habe es sich dabei um Flücht12 Christoph Martin Wieland: Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit, in: SW, Bd. 5/15. Vgl. den Beitrag von Kristina Kuhn.
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linge gehandelt, die aus ihrer angestammten Wohngegend vertrieben worden seien, und zwar durch Feinde, die ihre plötzliche Überlegenheit den von Cook bei seinem ersten Aufenthalt auf Neuseeland verschenkten Eisenwaffen verdankten. Angesichts dieser durch eine solche „Revolution“ (No 8, S. 159) unvermittelt aus der vertrauten Welt Vertriebenen stellen sich nun Fragen über Ursprung und Beharrungsfähigkeit von Kultur, wie sie Wieland bereits in der Eröffnungserzählung der Beyträge, Koxkox und Kikequetzel, aufgeworfen hatte, sowie über die Steuerungsfähigkeit des Zivilivsationsprozesses, wie sie etwa die Reise des Priesters Abulfauaris ins Innere Afrika thematisiert. Verbindliche Antworten sind aber von den Neuseeländern, die Forster getroffen hatte, ebensowenig zu erwarten wie von Wielands Experimentalanordnungen, denn: „An Menschen, mit denen man nicht reden kann, wird alles zum Räthsel“ (No 8, S. 160). Zwar kann Wieland eine weitere von Forster mitgeteilte Anekdote anführen, die seine „Vermuthung […] wahrscheinlicher macht“ (ebd.), aber damit hat er sich in genau jenes terminologische Feld von Vermutung, Wahrscheinlichkeit und empirisch nicht gedecktem Vernunftschluss begeben, das ihm in der Madeira-Episode „unangenehm“ gewesen war. Ein Nachfragen kann diesmal nicht erwartet werden, da Forster ja gerade vom Scheitern der Kommunikation berichtet. Dass nicht einmal der Dolmetscher der Expedition sich mit den Fremden verständigen kann, macht einen guten Teil des Rätsels aus. Eine Möglichkeit, es zumindest teilweise aufzulösen, deutet Wieland hier in seiner Forderung an, an die Stelle des Gesprächs eine diszipliniertere Beobachtung und Beschreibung zu setzen und beispielsweise festzustellen, ob es sich bei bestimmten körperlichen Besonderheiten um „ein Werk der Natur oder zufälliger Umstände“ handle (No 8, S. 159). Was sich hier abzeichnet, ist ein später explizit geforderter „Menschenforscher“ (No 11, S. 138), der an die Stelle stets (nämlich auch dann, wenn Beobachter und Beobachteter vermeintlich die gleiche Sprache sprechen) unzuverlässiger Selbstauskünfte die objektivierende Beobachtung setzen würde. Zugleich zeichnet sich jedoch ein Zweifel ab, dass eine solche Datensammlung wirklich jenen Glauben untermauern könnte, den Wieland im Blick auf die Neuseeländer und stärker noch auf die Tahitianer gerne bestätigt sehen würde: „so glaubt man doch, selbst durch die Hülle der höchstunvollkommenen Nachrichten, die uns unsre Europäische Abentheurer von ihnen geben können, das Selbstgefühl einer edlern Natur duchscheinen zu sehen“ (No 11, S. 138). Der Zweifel gegenüber den Berichterstattern ist grundsätzlicher geworden. „Europäische Abentheurer“ können nur unvollkommene Nachrichten geben, und Forster, auf der Polarfahrt zum heroischen Seefahrer und Abenteurer geadelt, kann hier keine Sonderstellung mehr beanspruchen. Wie aber wären vollkommenere Nachrichten beschaffen?
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IV. Mit dem Strich lesen Die folgende Episode verfolgt den Weg, der der Weg in die physische Anthropologie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts wäre, nicht weiter. Stattdessen nimmt sie einen erneuten Registerwechsel vor, mit dem der staatstheoretische Diskurs wiederum mit einem Traum überschrieben wird. Und sie nimmt einen neuen Anlauf, dem „Menschenforscher“ sein Material bereitzustellen. Wir eilen, mit unsern Argonauten, nach diesem berühmten O-Tahiti, welches seit der ersten Nachricht, die uns Hr. von Bougainville davon gegeben, eine Art von Schlaraffenland, oder Pais de Cocagne für unsre Europäer geworden ist – nach dieser glücklichen Insel, wo wir mit Recht so erstaunt sind, unsre Lieblingsträume von Arkadischer Unschuld, Einfalt, Ruhe, und Kummerfreyem Wohlleben eines Volkes, das in ewiger, unbesorgter lieblicher Kindheit an den Brüsten der Natur hängt – realisiert zu sehen – nach dieser Insel, wo der weniger dichterische Menschenforscher selbst, so unbefriedigend er alle bisherige Nachrichten von ihren Bewohnern findet, doch immer genug sieht, um nach einer genauen vollständigen, durchaus wahren Kenntnis derselben, lüstern zu werden. (No 11, S. 140)
Im Widerspruch zu seinem Prädikat scheint dieser Satz, der mit den Argonauten, der arkadischen Insel und dem Menschenforscher noch einmal die zentralen Motive der bisherigen Episoden aufruft, keineswegs besonders zu eilen, wenn er in parataktischer Reihe dreimal ansetzt, das Ziel zu benennen und es dabei immer mehr aus den Augen zu verlieren scheint. Mit dem zweiten Gedankenstrich, vor „realisiert zu sehen“, geht dabei auch die syntaktische Logik verloren. Dienen die anderen beiden Gedankenstriche dazu, die Parataxe zu strukturieren und die Lesenden auf das anfängliche Prädikat zurückzuverweisen, so steht dieser an einer Stelle, wo ein Komma zu erwarten wäre. Einer allzu eiligen Lektüre könnte es nun erscheinen, als stünde „realisiert zu sehen“ in Paranthese, als würde die Realität gleichsam aus dem Satzgefüge herausfallen oder herausweisen. Zögerlicher gelesen, scheint es dagegen eher die (narrative) Spannung zu steigern, bevor ‚unser‘ Erstaunen tatsächlich ins Recht gesetzt wird. So eilt der Satz vielleicht doch, aber ohne sich seines Ziels so ganz sicher zu sein. Genau dieses Zögern, das Wieland vor „realisiert zu sehen“ einen Gedankenstrich setzen lässt, bestimmt auch den Duktus seiner weiteren Forster-Lektüre, in der Traum und Realität keineswegs unproblematisch zusammenfinden. Am Anfang steht hier ein Versprechen, das Bougainville auf eine etwas fragwürdige Weise, nämlich unter dem Verdacht der „Schwärmerey einer verschönernden Imagination“, gegeben hatte und das Forster jetzt einlösen soll, indem er „durch viele kleine Anekdoten, und individuelle Züge […] uns diesen holden Geschöpfen, in denen wir die Natur sich verjüngern und das kindliche Alter der Menschheit wiederkehren sehen, näher bringen“ soll. Im Anekdotischen sieht Wieland den Eigenwert von Forsters
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Bericht gegenüber seinen literarischen Vorfahren, neben Bougainville natürlich in erster Linie Hawkesworth’ Account. Für die kleine Form spricht dabei eine Art mimetisches Verhältnis zu ihren Objekten, in dem sie dem Ideal „ächter Geschichtserzählungen und lebendiger Bilder“ sehr viel mehr entgegen komme als „abgezogene Resultate, studierte Hypothesen und idealisierte Abbildungen oder vielmehr Vorspiegelungen“ (No 11, S. 140f.). Frei von dem Zwang, ihre Gegenstände in eine narrative Synthese oder in ein philosophisch-anthropologisches System einzufügen, ähnelt die Anekdote in ihren gelockerten Kohärenzanforderungen und ihrer relativen Geschlossenheit bei gleichzeitigem Über-sich-Hinausweisen zugleich dem Traum. Und genau hier, nachdem erste Beispiele solchen anekdotischen Erzählens präsentiert worden sind, tritt nun, im Verein mit der Fee Mab, der ‚ehrliche Träumer‘ auf, in einem Wechselspiel mit dem ‚kalten‘ Verstand, in dem er geradezu trotzig seine Position zu behaupten versucht: Ich weiß, wenn ich wieder kalt bin, so gut als ein anderer, in welche Classe ein solcher Wunsch gehört, und was mir jeder hochgelehrte Knabe, der so eben seinen Cursum von Logik, Metaphysik, Moral, Dogmatik, u.s.w. absolviert hat, mit dem magistralischen Ton, den ich von solchen Knaben so gewohnt worden bin dagegen einwenden kann – Aber ich freue mich doch zu denken, daß wenigstens der beste und glücklichste Theil der Bewohner der Gesellschafts-Inseln lebendige Beweise sind, daß die Natur in einigen kleinen Inselchen der Südsee würklich gemacht hat, was bey mir und andern ehrlichen Wünschern und Träumern bloßer Wunsch und Traum der freundlichen Einbildung war. – Freylich geht etwas, und ziemlich viel davon ab, daß Würklichkeit je so schön, so glänzend, so erwünscht sey als was Fee Mab mit einem Schlag ihres Mohnstengels vor unserm innern Sinn vorbeyzaubert. (No 11, S. 145f.)
Was also träumt der ehrliche Träumer? Zunächst einen nicht enden wollenden Satz – nicht minder endlos als Mercutios Sermon, der Romeo aus der Fassung bringt –, der all die reizvollen Momente der „menschlichen Natur im zweyten und dritten Jahre der Kindheit“ abschreitet, bevor er dann, nun fast schon eine volle Druckseite alt, beim Beobachter des Kinderglücks selbst anlangt und auch hier noch einmal ein ‚Jetzt‘ und ein ‚Einst‘ unterscheidet: – wenn ich sag’ ich, das alles, in der so unbeschreiblich kleinen und lieblichen Mischung, wie es in den ersten Jahren des kindlichen Lebens sich äussert, sehe, es zu einer Zeit sah, da – noch von keinem O-Tahiti die Rede war – wie oft dacht ich dann: was für Geschöpfe wären wir, wenn wir zur Blüthe und Kraft des Jünglingsalters heranwachsen, und die Vollkommenheit unsrer Natur erreichen könnten, ohne von allem, was die Kindheit so liebenswürdig, so glücklich macht, mehr zu verliehren, als, vermöge der absoluten Nothwendigkeit der Sache verlohren gehen muß, wenn Dämmerung zum Morgen, und Knospe zur Blume wird! (No 11, S. 144f).
Das vermeintliche Ziel dieses Satzes, Tahiti, ist so lange aufgeschoben worden, bis es sich gleichsam verflüchtigt hat – und von ihm nur noch in
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Paranthese und im Irrealis die Rede sein kann. Von der Beobachtung der Kinder führt die Bewegung zu einer Hypothese („wie oft dacht ich dann“), in der das Modell Tahitis schon ausformuliert ist, bevor die Zauberinsel am Horizont europäischer Seefahrer aufgetaucht ist. Damit ist dann der Satz nach über einer Seite gleichsam heißgelaufen, und es folgt, mit dem zuvor zitierten Absatz („wenn ich wieder kalt bin“) der Kälteschock rationaler Überlegung, der die Hypothese – oder das Traumgespinst – beiseite wischt, bis, angeregt durch die Nachrichten aus der Südsee, eine erneute Erwärmung erfolgen kann, da nun empirische „Beweise“ vorzuliegen scheinen, denen sich die spekulativen Wissenschaften, „Logik, Metaphysik, Moral, Dogmatik, u.s.w.“, zu beugen hätten. Vollkommen sicher aber scheint der Status dieser „Beweise“ doch (noch) nicht zu sein, denn sie sind einer eher trotzigen Rückkehr zum Denkmodell zumindest syntaktisch nachgeordnet: „Aber ich freue mich doch zu denken…“ – und nicht, wie im ‚kalten‘ Satzteil: „Ich weiß“. Nach einem Gedankenstrich schließt sich nun der Nachsatz an, der die „Würklichkeit“ von der Schönheit des Traumgespinstes der Fee Mab abgrenzt. Wenn der Verstand in die Welt des Traums interveniert, dann setzt sich zugleich der ‚ehrliche Träumer‘ gegen solche Interventionen zur Wehr. Er bedient sich dabei ähnlicher Mittel wie Mercutio, wenn er eine Bewegung der Sprache in Gang setzt und hält, die kaum weniger kontingent erscheint als die von den Elementen beherrschte Bewegung des Schiffes. Eine wichtige Funktion haben dabei die Gedankenstriche. Sie sind es, durch die das Spiel der Interventionen in Szene gesetzt wird, das nicht allein der ‚ehrliche Träumer‘ mit seinem ‚kalten‘ Gegenpart auszutragen hat, sondern das alle Positionen der anfänglichen Konfiguration erfasst und das dabei insbesondere auch das Verhältnis von Leser (Wieland) und Text (Forster) berührt. Je näher Forster und Cook, Landmann und Seemann, in der Lektüre zusammenrücken, um so mehr drängt die Differenz zwischen Text und ‚räsonnierendem‘ Leser in den Vordergrund. Nach einem ausführlichen Zitat der enthusiastischen Schilderung des ersten Sonnenaufgangs, den Forster vor Tahiti erlebt – hier, so Wieland, „singt Hr. Forster im höhern Ton“ (No 11, S. 141) – kehrt der Auszug zur dritten Person zurück: „Hr. Forster fieng sogleich an durch die CajütenFenster mit seinen neuen Freunden – um Naturalien zu handeln.“ (No 11, S. 143) Auch dieser Satz entspricht bis auf den eingefügten Gedankenstrich und den Wechsel vom zitierten ‚ich‘ zum referierten ‚er‘/‚Hr. Forster‘, dem Wortlaut Forsters. Ebenso die folgende Schilderung, wie Forster sich beeilt, die erhandelten Naturalien abzuzeichnen und so seinen ersten Vormittag vor Tahiti zeichnend in seiner Kajüte verbringt. Erst dann wird sich nach einem erneuten Gedankenstrich wieder ein ‚Ich‘, diesmal das des
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Kommentators, einschalten, um den bereits in der Neuseeland-Episode geforderten ‚Menschenforscher‘ einzuklagen: Ich bemerke diesen Umstand nicht um Hrn. F. zu tadeln; er war nun einmal Naturalien-Forscher und Sammler […]. Ich bedaure nur, daß bey einer solchen Reise nicht auch einmal einer bestellt wird, der keine andere Pflicht noch Bestimmung hat, als die neuen Menschen die ihm vorkommen, zu forschen und nach dem Leben abzuzeichnen. (No 11, S. 143)
Hier funktioniert der erste Gedankenstrich also wie ein Asterisk, der auf eine Art Fußnote verweist, die dann nach dem nächsten Gedankenstrich folgt. Was dort steht, ist natürlich keineswegs als Entschuldigung Forsters zu lesen, denn dessen eigener Anspruch der philosophischen Reisebeschreibung sollte sich ja gerade von einer bloßen Naturaliensammlung abgrenzen. Wielands ‚Fußnote‘ schreibt Forster also auf eben die Rolle fest, die er nicht einnehmen wollte. Die Polemik, die in dem Gedankenstrich vor „um Naturalien zu handeln“ verborgen ist, geht aber darüber noch hinaus. Man kann ihn nämlich nicht nur als Verweis auf den folgenden, sondern auch auf einen vorangehenden Gedankenstrich lesen, der sich nur einen Absatz vorher findet. Hier hatte sich Wieland schon einmal in Forsters „höhern Ton“ eingeschaltet: Mich, ich gesteh es unverhohlen, wenn ich mir den Contrast denke zwischen der offenen, warmen, kunstlosen Gutherzigkeit dieser Kinder der Natur, und aller der Freundlichkeit und Gutartigkeit, denen ein Schiff voll – Engländischer Seeleute fähig ist, mich wandelt dabey ein Schauder an. (No 11, S. 142)
Diese Unterbrechung öffnet einen Resonanzraum, in dem all das anklingt, was bisher über englische Seefahrer gesagt wurde, vor allem also das, was die für die Konfiguration entscheidende Differenz zum (deutschen) Landmann begründet hatte. Genau die aber löst sich im folgenden Strich auf, der den Menschenforscher zum Naturalienhändler herabstuft. Gedankenstriche trennen die Welt Tahitis gleichermaßen von den englischen Seeleuten wie vom Naturalienhändler. Sie verweisen darauf, dass in den hier geschilderten Begegnungen etwas Ungehöriges – ‚Schauderhaftes‘ – geschieht, das sie nicht zu benennen vermögen, das sie aber im Moment des Zögerns, der Unterbrechung evident werden lassen. V. Ey, ey, lieber Herr Forster Der Schauder intensiviert sich in einem Ereignis, das bei Forster tatsächlich als eine Anekdote (von weniger als einer Druckseite) neben zahlreichen anderen steht, das bei Wieland aber, ganz gegen seine Präferenz des Anekdotischen, zur Peripetie einer weltgeschichtlichen Tragödie zu werden droht, oder das, anders formuliert, die Anekdote übersetzt in eine
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große Erzählung und dabei die Erzählung grundlegend neu konfiguriert. Ein Tahitianer, der als Gast auf der Resolution empfangen und bewirtet worden war, hatte ein Messer und einen Zinnlöffel an sich genommen und war, als man ihn wegen dieses vermeintlichen Diebstahls zur Rede stellen wollte, über Bord gesprungen. Cook lässt mehrere Gewehrschüsse auf den Flüchtenden abfeuern und, als das keine Wirkung zeigt, lässt er ihn mit einem Boot verfolgen, das jedoch von einer Gruppe Tahitianer vom Ufer aus mit Steinen beworfen wird. Daraufhin lässt Cook mit einem Vierpfünder feuern. Ob dabei jemand zu Schaden gekommen ist, ist nicht überliefert, aber das Kanonenfeuer erweckt bei den Tahitianern „ein solches Schrecken“, dass die Engländer ungehindert zwei Boote an sich nehmen und als Kompensation für den Diebstahl aufs Schiff bringen können (No 11, S. 149f.). Es ist gerade die Beiläufigkeit, in der Forster diese Episode schildert und dabei allein die Perspektive der europäischen Seefahrer einnimmt, die Wielands Einspruch provoziert. Schon bevor er die Details der Eskalation präsentiert, verteilt er die Sympathien anders. Er spricht von einem „Anstoß übler seemännischer Laune“, in dem Cook angesichts „eines sogenannten Diebstals“ völlig unangemessen reagiert habe, so dass er „um einer Beleidigung willen, die in O-Tahiti gar keine Beleidigung war“, den Frieden und das Vertrauensverhältnis zwischen den Völkern nachdrücklich gestört habe. Dann greift Wieland gezielt Formulierungen Forsters auf, in denen implizit die europäisch-‚seemännische‘ Perspektive hervortritt, und macht sie zu expliziten Argumenten in einem fiktiven Streitgespräch: ‚Was? (wendet man ein) Man hatte dem Kerl schon ohnentgeltlich eine Menge Sachen gegeben, und da hat er noch die Unverschämtheit, die Gesetze der Gastfreyheit auf eine so häßliche Art zu übertreten‘ und – ein Messer und einen zinnernen Löffel zu mausen! War es bey solcher Bewandniß des Herrn Captains Hochwohlgebohren zu verdenken daß Wohlderselbe ‚aus Unwillen über das schändliche Betragen dieses Kerls‘ sich nicht enthalten konnte, ihm eine Flintenkugel über den Kopf hinzufeuern – und als sogar der dritte Schuß nichts fruchten wollte, und die entfernten Indianer (die von alle dem Spuk nichts begriffen, und nur einige der Ihrigen mit Flintenschüssen von den fremden Herren verfolgt sahen) vom Strand aus mit Steinen nach den Herren zu werfen anfiengen, sie durch einen Vierpfünder in Respekt zu setzen, auch ihnen zu wohlverdienter Strafe und andern zum Schrecken, für Kosten, Schaden und Satisfaction, zwey doppelte Canots wegnehmen zu lassen! – O des herrlichen Europäischen Natur und Völkerrechts! – Ey, Ey, lieber Herr Forster, – wo war in diesem Augenblicke ihre Philosophie? – Wie können Sie von dem jungen Menschen verlangen, daß er ihren Puffendorf und Bar13 beyrac gelesen haben soll? (No 11, S. 150) 13 Bei Forster heißt es: „Nach Tische nahm einer der Gelegenheit wahr, ein Messer und einen zinnernen Löffel zu mausen, ob ihm gleich der Capitain, ohne alles Gegengeschenk, eine Menge von Sachen gegeben hatte, daran er sich allerdings hätte
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„Frey von Vorurtheil und gemeinen Trugschlüssen“ (No 7, S. 60) zu sein, war ja die Bestimmung des philosophischen Reisenden, der Forster hier in Wielands Urteil nicht mehr gerecht zu werden vermag. Sein Verzicht, während seiner Naturalienstudien das Schiff zu verlassen, entspricht einer mangelnden Flexibilität gegenüber den (zu) abstrakten naturrechtlichen und -philosophischen Annahmen. Zwar scheint der ‚ehrliche Träumer‘ eine nicht weniger eurozentrische Position einzunehmen, wenn er den ‚vermeintlichen Diebstahl‘ zu erklären versucht mit einem (noch) nicht ausgebildeten Eigentumsverständnis, das er in Europa bei zwei- bis dreijährigen Kindern findet (No 11, S. 150f.). Er bewegt sich hier auf heiklem Terrain, auch wenn sein Argument, genau gelesen, nicht besagt, dass er Tahitianer und europäische Kinder auf die gleiche Entwicklungsstufe stellen will. Es geht ihm vielmehr darum, das europäische Sozialisationsmodell zu relativieren, das allein auf „positives bürgerliches Gesetz“ gegründet sei, also auf ein Gesetz, dessen Gültigkeit man nicht von selbst erschließen könne, sondern das man erlernt haben muss. Was bei den Tahitianern zu finden wäre, sind Belege für alternative Formen des Erwachsenwerdens, hinter den nicht ausgebildeten Eigentumsbegriffen wäre also gerade kein (womöglich durch europäische Pädagogik zu kompensierendes) ‚noch nicht‘ auszumachen.14 Aber er gelangt dabei doch immer wieder zu Formulierungen, in denen „die trauliche Sorglosigkeit dieses Volks von Kindern“ (No 11, S. 149) verherrlicht, es damit aber gleichermaßen in einen anthropologischen Entwicklungs-Diskurs wie in die Welt des ‚ehrlichen Träumers‘ eingerückt wird. Doch das scheint mir an dieser Stelle nicht das Entscheidende zu sein. In der Klammer, die den Fokus vom Schiff auf die am Strand das Geschehen beobachtenden „Indianer“ verlagert, deutet sich an, wie eine ‚Menschenforschung‘ vorzugehen hätte, der es gelingt, das Schiff zu verlassen. In dem rekonstruierten Szenario, das die Wartenden zu Steinewerfern werden lässt, spielt lediglich eine Rolle, wer was sehen und wissen konnte. Auch für die Tahitianer wird hier alles zum Rätsel, vor allem die Aggression der Engländer, die für sie völlig überraschend kommen genügen lassen und die Gesetze der Gastfreyheit nicht auf eine so häßliche Weise übertreten sollen. […] Capitain Cook konnte sich aus Unwillen über das schändliche Betragen dieses Kerls nicht enthalten, ihm eine Flintenkugel übern Kopf hinzufeuern […] Man feuerte zum zweytenmal nach ihm, allein, so bald er das Feuer von der Pfanne aufblitzen sahe, tauchte er unter, und eben so machte ers beym dritten Schuß.“ (Forster: Reise um die Welt, Bd. 2, S. 257) 14 Dies entgegen einer gängigen Lesart, für die etwa Gerhard Steiner im Nachwort seiner Forster-Ausgabe steht, wenn er Wielands Zustimmung für Forsters „Bemühen, in den Bildern von den Vorgängen grundlegende Aspekte der menschlichen Vanitas Vanitatum, aber auch der Menschheitsentwicklung widerzuspiegeln“ reklamiert (Gerhard Steiner: Nachwort, in: Georg Forsters Werke, Bd. 4, S. 180).
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muss. Sie müssen keine Kinder sein, um darauf so zu reagieren, wie sie es tun, und es bedarf keiner naturrechtlichen und keiner anthropologischen Theorie, um ihr Verhalten plausibel zu finden. Was das Szenario enthüllt, ist eine Wirklichkeit, die ein schwer zu entwirrendes Geflecht aus Standpunkten, Beobachtungen und Hintergrundannahmen ist – und mehr noch aus Praktiken, wie sie etwa aus der Verfügungsgewalt über Schiffe und Schiffskanonen resultieren. Darüber keine Rechenschaft abgelegt zu haben, ist, was sich Forster vorwerfen lassen muss und was seinen Reisebericht nachhaltig entwertet. Der eigentliche Fokus von Wielands Aufmerksamkeit liegt nun nicht mehr auf den Tahitianern, sondern auf den Europäern. Sie sind die eigentlichen Räuber. Kein wie auch immer ambivalentes Recht wird von ihnen exekutiert, sondern bloße Gewalt. Man kann sich des Unwillens schwerlich enthalten, wenn man (wie nur zu oft Gelegenheit ist) dergleichen Probestückchen liest von dem herrischen Betragen, das die Europäischen Seemänner sich über Menschen herausnehmen, die von ihnen nicht abhängen, und nur durch den Vorzug tödlicherer Waffen gezwungen sind sich von ihnen mißhandeln zu lassen. Aber freylich ist es – ihrer würdig, und ganz von Einem Stücke mit der Unverschämtheit, womit diese Herren, im Nahmen ihrer allergnädigsten Könige, von jeder Insel und Halbinsel der Südsee, auf die sie Wind und Wetter oder Bedürfnis sich zu erfrischen verschlägt, feyerlich Besitz nehmen, ohne daß es ihnen einfällt, die uralten Einwohner derselben zu fragen, was sie zu dieser Besitznehmung zu sagen haben. Ein herrliches Völkerrecht! Und das sind die aufgeklärten, philosophischen, rechtshochgelahrten Herren, die einen weggemausten zinnernen Löffel mit Vierpfündern rächen! (No 11, S. 151)
So gerät die Anekdote zur Allegorie auf die Begegnung der Europäer und der Südsee-Insulaner, damit aber auch der Europäer und ihrer eigenen Träume. Denn, und das ist an dieser Stelle nicht mehr abzustreiten, es ist der gleiche Bougainville gewesen, der dem ‚ehrlichen Träumer‘ einen – letzten? – Einspruch gegen den Einspruch des Verstandes ermöglicht hatte und der diesen Traum für die französische Krone reklamiert hatte. Sein Pech – oder Glück – war es lediglich, dass diese Krone über weniger effiziente Schiffskanonen verfügte als die englische. Nicht nur die Kontingenzen von Wind und Wetter sowie das seemännische Bedürfnis (ver-)führen zur Landnahme, sondern auch die Träume. So wie es das gleiche Schiff ist, das Cook und Forster nicht verlassen (können), so vermag sich auch der ‚ehrliche Träumer‘ nicht von einer Bewegung zu lösen, die mit einem Traum beginnt und mit Kanonenschüssen endet. Nach dieser Episode findet der Auszug nicht mehr zur ‚mimetischen‘ Lektüre zurück. Zwar rafft sich Wieland auf, die „unangenehmen Betrachtungen“ beiseite zu schieben und noch einige „nicht ohne Liebe nach dem Leben gemahlte O-Tahitische Familienstücke“ zu präsentieren, mit denen „Herr F. […] uns wieder mit sich“ versöhne, aber gut zwei Seiten später
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bricht der Bericht ab. So erfahren die Leser und Leserinnen des Teutschen Merkur nichts von dem Landausflug, auf dem Forster eine literarisch-mythologische Topographie durchwandert, die „frugale Gleichheit“ und Gastfreiheit des Landes kennenlernt, auf einen „trägen Wollüstling“ trifft, der ihn an eine Schilderung Mandevilles, und zwei „gastfreye Alte“, die ihn an Philemon und Baucis erinnern.15 Eigentlich hätte hier das Material bereitgestanden für eine jener Travestien, in denen sich Wielands Vorliebe für die ‚kleine Form‘ in erster Linie realisiert. In der ersten der Komischen Erzählungen von 1765 etwa, Das Urtheil des Paris, überzeugt der pfiffige Hirte die „gefällige Cythere“, mit ihm eine „hübsche Nacht“ zu verbringen – und verzichtet dafür auf die versprochene Helena. Nicht allein wird damit die „hübsche Nacht“ der dauernden Eroberung, oder genauer: dem Raub vorgezogen. Es wird auch dem trojanischen Krieg der Grund entzogen. „Die Fehde, ohne die Fürst Priam unbezwungen, / Achillens Zorn und Hektor unbesungen, / Herr Menelas am Vorhaupt ungeziert, / Und seine schöne Frau, zu ihrer grössern Ehre / Uns unbekannt geblieben wäre“, würde schlicht ausfallen.16 Glücklicher als die besungenen Heroen sind die Antihelden der Komischen Erzählung allemal. Sie travestiert nicht nur die Form des heroischen Epos, sondern sie setzt sich an dessen Stelle, indem sie ihm die (kausale) Grundlage entzieht. Ähnlich hätten möglicherweise auch die neuen Argonauten nach ihrer heroischen Polarfahrt in die idyllischen Gefilde der Südsee und dort in die Zauberwelt des Rokoko zurückkehren können und sollen. Wielands einleitende Äußerungen zur Tahiti-Episode deuten das zumindest an. Das von ihm immer wieder inszenierte Wechselspiel aus Traum, ernüchterndem Erwachen und der erneuten Rückkehr in die Traumwelt folgt einem Topos der Rokoko-Literatur, der insbesondere in der Anakreontik (im Rückgang auf Anakreon, Nr. VIII, Sein Traum) weit verbreitet ist. Ebenfalls auf die Insel Kythera versetzt sieht sich das träumende ‚Ich‘ in einem Gedicht von Johann Peter Uz: Da sah ich durch die Sträuche Mein Mädchen bei dem Teiche. Das hatte sich, zum Baden Der Kleider meist entladen, Bis auf ein untreu weiß Gewand, Das keinem Lüftchen widerstand. […] Sie fing nun an, o Freuden! Sich vollends auszukleiden: Doch ach! indem ’s geschiehet, 15 Forster: Reise um die Welt, Bd. 2, S. 276ff. 16 Christoph Martin Wieland: Das Urtheil des Paris, in: SW, Bd. 3/10, S. 155.
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Erwach ich, und sie fliehet. O schlief' ich doch von neuem ein! 17 Nun wird sie wohl im Wasser sein.
Es ist jedoch nicht allein der Nachhall des Vierpfünders, der in Wielands Forster-Lektüre eine Rückkehr in den Traum verhindert. Bereits bei Uz kündigt sich eine andere Problematik an, die sich einer solchen Bewegung aus dem Traum und in den Traum stellt. Dass der Träumende etwas sehen kann, das dem Wachenden nicht zugänglich ist, ist die eine Pointe, dass das aber ein Produkt seines eigenen Begehrens ist, eine zweite. Und so spricht ja auch Wieland von dem ‚ehrlichen Wünscher und Träumer‘. Vor allem aber scheint hier das „untreu weiß Gewand, / Das keinem Lüftchen widerstand“ eine Grenze zu bezeichnen, die zu überschreiten das ‚Wünschen und Träumen‘ nicht übersteht. Das Erwachen „indem ’s geschiehet“ lässt sich gleichermaßen als zeitliches wie als kausales Zusammentreffen lesen. Kausal gelesen hieße das: der völlig entborgene, nackte Körper präsentiert sich keinem Blick des Träumens/Begehrens mehr, sondern dem medizinisch-anthropologischen Blick des Naturforschers. Vor diesem Blick hatte Wieland seinen „Menschenforscher“ zurückschrecken lassen, dem es gelingen soll, „selbst durch die Hülle der höchstunvollkommenen Nachrichten […] das Selbstgefühl einer edlern Natur durchscheinen zu sehen“. Das ist kaum von einer bloßen Ausdehnung der Naturaliensammlung auf Ethnographika zu erwarten, und so kann der Menschenforscher seine Beweise auch nicht in Form sorgfältig konservierter Präparate vorlegen. Einen Menschen „nach dem Leben abzuzeichnen“ erfordert nicht nur, wie Wieland aus Forsters Vorrede entnommen hat, einen Forscher, der „alle seine Talente“ anzuwenden weiß, sondern es umfasst mit dem „Selbstgefühl“ und nicht zuletzt wohl auch mit dem Traum Dimensionen des Dargestellten, die die Aufgabe des Darstellenden nun tatsächlich „unendlich kompliziert“ erscheinen lassen. Fast von selbst verlagert sich damit die Aufmerksamkeit und die Rätselhaftigkeit von den Südsee-Insulanern zu den europäischen Reisenden und schließlich zum räsonnierenden Leser ihrer Berichte. Die – epistemologische – (Grund-)Frage, „kann man ein Heuchler seyn ohne es zu wissen?“, die Wieland aufgeworfen und in seiner von der notorischen Lüge zum Selbstbetrug führenden Psychopathographie von Bonifaz Schleichers Jugendgeschichte mit einem nachdrücklichen Ja beantwortet hat, wäre nun auch an den Forschungsreisenden zu richten, der sich fragen lassen muss, ob er nicht doch weit mehr ein Seemann ist als er selbst es wahrhaben
17 Johann Peter Uz: Ein Traum, in: ders.: Sämtliche poetische Werke, Stuttgart 1890, S. 25f.
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möchte.18 Nur ist Forster damit noch lange kein Bonifaz Schleicher, dessen Charakter ja bereits am Namen abzulesen ist und dessen Pathogenese Wieland allein deshalb so minutiös ausbreiten kann, weil er sie selbst erfunden hat. Forsters Jugendgeschichte wird nie in vergleichbarer Weise zugänglich sein und Auskunft geben können. Stattdessen haben wir es unbestrittenermaßen zu tun mit einem „Mann von vorzüglichen Fähigkeiten, von aufgeklärtem Geiste, von Kenntnissen die ihn in den Stand setzten besser zu sehen, scharfsinniger zu vergleichen, richtiger zu schließen als gemeine Seefahrer“ (No 7, S. 63). Um so erschreckender muss es erscheinen, dass sein Urteil und Verhalten sich im entscheidenden Moment kaum von dem der Seefahrer unterscheiden. Der Blick hinter die Kulissen, soweit er hier überhaupt möglich ist, legt nicht, wie bei Schleicher, eine gründlich verpfuschte Ver-Bildungskarriere bloß, sondern er führt in den Kernbestand europäischen Bildungsgutes.19 Hier, in „Puffendorf und Barbeyrac“ etwa, finden sich die Ansätze, mit denen Wieland Forsters Missverstehen zu rekonstruieren versucht. Damit einher geht aber das Eingeständnis der begrenzten Reichweite einer solchen Rekonstruktion. Wie bereits im Fall der rätselhaften Neuseeländer, jener „Menschen, mit denen man nicht reden kann“, hat sich Wieland weit entfernt vom Modell eines anthropologischpsychologischen Universalismus, der das Verstehen – und die Übersetzbarkeit – über die Grenzen verschiedener Sprachen und Sprachspiele hinaus sichern würde. Der entscheidende Unterschied zu Bonifaz Schleichers Jugendgeschichte ist, dass es beim ‚Fall Forster‘ nicht um eine Charakterstudie geht, sondern um die Frage, wie unter solchen Voraussetzungen die Reise um die Welt gelesen werden kann. Ist es möglich, ihr etwas zu entnehmen, das sich gleichsam hinter dem Rücken des Reisenden und Schreibenden eingetragen hat, etwas über die Sicht der Tahitianer auf die Begegnung etwa? Die Fragestellung verschiebt sich damit von einer psychologischen zu einer philologischen, in der nicht mehr die (In-)Transparenz eines Charakters verhandelt wird, sondern die eines Textes. Mit seinen (Gedanken-) Strichen gegen den Strich lesend, versucht sich Wieland solchen Momen18 Christoph Martin Wieland: Bonifaz Schleichers Jugendgeschichte, oder Kann man ein Heuchler seyn ohne es selbst zu wissen? Eine gesellschaftliche Unterhaltung, in: ders.: Sämmtliche Schriften, Bd. 5/15, S. 117–166. Zum hier verhandelten Problem der Selbst(un)zugänglichkeit vgl. den Beitrag von Stefan Rieger. 19 Einen ähnlich gelagerten Fall der Selbsttäuschung hat Wieland diskutiert anhand der Reise des Priesters Abulfauaris ins Innere Afrika aus den Beyträgen zur geheimen Geschichte der Menschheit. Die geheime Motivation hinter der Missionierung und Kolonialisierung eines afrikanischen Volkes wird hier im erotischen Begehren des vermeintlichen Zivilisationsbringers ausgemacht, eine Selbsttäuschung, über die der Protagonist erst in großem zeitlichen Abstand Rechnung abzulegen vermag.
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ten anzunähern. Worauf er dabei stößt, sind jedoch in erster Linie die Konstitutionsmechanismen des Textes selbst. So bleibt der ‚raisonnierte Auszug‘ angewiesen auf ein Material, das er nicht zu kontrollieren vermag. Und das gilt nicht nur für das, was Forster liefert, sondern auch für das, mit dem Wieland es konfrontiert: seinen Traum. Der ‚ehrliche Träumer‘ schließlich muss sich fragen (lassen), ob das, was die Fee Mab vor seinem „innern Sinn vorbeyzaubert“, tatsächlich einer uneingeschränkt „freundlichen Einbildung“ geschuldet ist. Wenn Hofschranzen von Sporteln träumen, Pfarrer von Zehend-Schweinen und besseren Pfründen oder Soldaten von „ausländischen Hälsen die [sie] abgeschnitten, von Friedens-Brüchen, Scharmüzeln, Spanischen Klingen, und fünf-Faden-tieffen Gesundheiten“20, wovon träumt dann der Menschenforscher? Um all das, was hier aufgeführt wird, „so schön, so glänzend, so erwünscht“ zu finden wie der ehrliche Träumer, braucht es jeweils eine sehr spezifische Perspektive. Es ist also Misstrauen angebracht, sind doch nicht allein die Träume Bougainvilles und Cooks die Träume von Eroberungen. Weder ist der Weg vom bloßen Wunsch und Traum zu trennen von dem Weg des kolonialisierenden Entdeckers, noch vermag (sich) der Träumer Rechenschaft über seine Träume abzulegen. Auch das dürfte dafür verantwortlich sein, dass der Auszug nach dem Kanonendonner auf Tahiti nicht mehr in die Zauberwelt des Rokoko zurückfindet. Die Zauberinsel ist entzaubert, aber nicht mehr, wie das vermeintliche Paradies Madeira, durch einen Blick hinter die Kulissen der sozialen Verhältnisse, sondern durch die Konfrontation der Europäer mit dem Paradies, durch ihre Unfähigkeit, es zu (be-)greifen, sich ihm auf angemessene Weise zu nähern. Bevor sich auch der Leser auf der Seite der Seeleute wiederfindet, bevor er auch seinen Traum auf eine Weise verstetigt sieht, die die Welt nach Maßgabe imperialer Machtsprüche neu ordnet, oder nach Maßgabe des Naturaliensammlers, der nun auch Menschen in die klassifikatorische Logik seiner Sammlungen einfügt, bleibt offenbar nur der Abbruch. Nachspiel: Herr Jacob Forster Dennoch ist Wielands Auszug eine Travestie. Sie beginnt mit einer unscheinbaren Verschiebung bereits am Ende der 2. Folge, die eigentlich ein Lob Forsters zu präsentieren vorgibt. Der hatte eine Schilderung des blühenden Lebens, das die zeitweilige Koloniebildung der Seefahrer während ihres längeren Aufenthalts in der Dusky-Bay hervorgebracht hatte, mit 20 Shakespeare: Romeo und Juliette, TW, Bd. 17, S. 32f.
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dem von römischen Triumphzügen überlieferten Ausruf „Sic transit Gloria mundi“ unterbrochen. Wieland setzt fort: Diese letzte Reflexion, wiewohl an sich nur ein Gemeinplatz, macht an dieser Stelle den letzten Strich, um das Gemählde zu vollenden: und Herr Jacob Forster ist um dieses Sic transit Gloria mundi willen, in meinen Augen, mehr Mann von Verstand und Gefühl, als wegen Neun Zehnteln seines ganzes Buchs. (Wird fortgesetzt.) (No 8, S. 164)
Fortgesetzt wird vor allem das Spiel, das hier mit einem möglichen Versehen in Gang geraten ist. Einen Herrn Jacob Forster gibt es in der Geschichte der Reise um die Welt nicht. Der einzige Jacob, der in ihr vorkommt, ist der englische Seemann James Cook. Was ein Druckfehler sein könnte, wird jedoch Eigenleben gewinnen. In der Ausgabe letzter Hand wird Herr Jacob Forster nicht nur häufiger, sondern bereits im Titel auftreten, der jetzt lautet: Auszuge aus Jacob Forsters Reise um die Welt.21 Dass keinem Abschreiber, Setzer oder Korrektor dieser Fehler aufgefallen sein sollte, erscheint angesichts der Bekanntheit Georg Forsters kaum wahrscheinlich. Es sei denn, es wäre eines jener „Versehen des Abschreibers“, wie es sich etwa in Wielands Roman Don Sylvio von Rosalva findet, wo es aus dem Nachbericht des Herausgebers einen Vorbericht macht, aus dem ganzen Text damit aber das Produkt eines tendentiell unzuverlässigen medialen Apparats.22 Wie dieses fingierte Versehen wird das Versehen des Auszugs verstetigt, im Unterschied zu ihm aber nicht protokolliert. Es sei denn, man liest jene Kette der Gedankenstriche als ein solches Protokoll, die sich an Forsters „letzten Strich“ anschließen, aber nicht, um ein „Gemählde zu vollenden“, sondern um die notwendige Einseitigkeit des Niedergeschriebenen festzuhalten und dabei einen Prozess der Lektüre zu inszenieren, der in seinen Stockungen und Unterbrechungen auf die Fülle des Ungesagten verweist, das hinter ‚Gemeinplätzen‘ verstellt zu werden droht. „Sic transit Gloria mundi“: so transitorisch wie der Ruhm der Welt, so vorläufig ist der Versuch, „uns stückweise in Worten vorzubilden“, was nur „im Vorübergehen zu erhaschen“ ist (No 7, S. 60). So öffnet das Versehen, in dem „eines der merkwürdigsten Bücher unserer Zeit“ unter der Hand (wessen auch immer) einen kaum weniger merkwürdigen VerfasserBastard erhalten hat, nach dem Landmann und Seemann nicht mehr zu trennen sind, einen Raum, in dem die Entdeckung Tahitis neu zu verhandeln ist.
21 Wieland: Auszuge aus Jacob Forsters Reise um die Welt, SW, Bd. 14/Supplemente V, S. 175. 22 Christoph Martin Wieland: Der Sieg der Natur über die Schwärmerei. Oder Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva. Eine Geschichte worin alles Wunderbare natürlich zugeht (1764), Leipzig 1795; vgl. den Beitrag von Uwe Wirth.
Zu den Autoren Rüdiger Campe ist Professor of German und Affiliate Professor of Comparative Literature an der Yale University. Veröffentlichungen u.a.: Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 1990 und Spiel der Wahrscheinlichkeit. Literatur und Berechnung zwischen Pascal und Kleist, Göttingen 2002. Das Arbeitsgebiet: die Wissensgeschichte der Literatur seit der Frühen Neuzeit; Schwerpunkte: barockes Theater, Ästhetik des 18. Jahrhunderts und der moderne Roman. Kontakt: [email protected] Florian Gelzer ist Oberassistent für Neuere deutsche Literatur am Institut für Germanistik der Universität Bern. Neuere Publikationen: Konversation, Galanterie und Abenteuer. Romaneskes Erzählen zwischen Thomasius und Wieland, Tübingen 2007; ‚Natur‘, Naturrecht und Geschichte. Aspekte eines fundamentalen Begründungsdiskurses der Neuzeit (1600–1900), Heidelberg 2010 (Mithg.). Kontakt: [email protected] Anselm Haverkamp lehrt Literatur und Philosophie an der New York University, der EU Viadrina und der LMU Muenchen. Kontakt: [email protected] Alexander Honold ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Basel. Ausgewählte Buchpublikationen: Die Stadt und der Krieg. Raum- und Zeitkonstruktion in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften, München 1995; Der Leser Walter Benjamin. Bruchstücke einer deutschen Literaturgeschichte, Berlin 2000; Kolonialismus als Kultur. Literatur, Wissenschaften und Medien in der deutschen Gründerzeit des Fremden, Tübingen 2000 (Mithg.); Mit Deutschland um die Welt. Eine Kulturgeschichte des Fremden in der Kolonialzeit, Stuttgart u.a. 2004 (Mithg.); Walter Benjamin: Erzählen. Schriften zur Theorie der Narration und zur literarischen Prosa, Frankfurt a.M. 2007 (Hg.); Ins Fremde schreiben. Gegenwartsliteratur auf den Spuren historischer und fantastischer Entdeckungsreisen, Göttingen 2009 (Mithg.). Kontakt: [email protected] Kristina Kuhn arbeitet an einer Dissertation zum Thema „Wir gewinnen im Kleinen, und verlieren im Großen. Literarisierung von Geschichtsphilosophie um 1800“ (Zu Kant, Herder und Wieland). Zur Zeit ist sie Doktorandin im Forum „Texte. Zeichen. Medien“ an der Universität Erfurt. Kontakt: [email protected] Bettine Menke ist Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Erfurt seit 1999. Wichtigste Publikationen Sprachfiguren. Name – Allegorie – Bild nach Walter Benjamin, München 1991 (Neuaufl. 2001); Prosopopoiia.
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Zu den Autoren
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Dietmar Schmidt ist Privatdozent für Neue Deutsche sowie Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Erfurt. Forschungsschwerpunkte: Poesie und Wissen, Repräsentationsformen des Animalischen, aktuelles Projekt zu Wiederholungsformen von Literatur und Film. Publikationen u.a.: Geschlecht unter Kontrolle. Literatur und Prostitution um 1900, Freiburg i.Br. 1998; Die Physiognomie der Tiere. Von der Poetik der Fauna zur Kenntnis des Menschen (erscheint in Kürze). Kontakt: [email protected]. Wolfgang Struck ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Erfurt. Er lehrte davor in Tübingen, Kiel und Charlottesville (University of Virginia). Publikationen erschienen zu historischen und theoretischen Aspekten von Literatur, Film und Fernsehen. Kontakt: [email protected] Daniel Ulbrich studierte Germanistik, Romanistik, Soziologie und Philosophie in Köln, San Sebastián und Barcelona. Von 2004 bis 2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter des SFB 482 „Ereignis Weimar–Jena. Kultur um 1800“ an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Publikationen zur Literatur des 18. Jahrhunderts, zur Geschichte der Übersetzung sowie zu Genese und Ausdifferenzierung wissenschaftlicher Darstellungsformen. Kontakt: [email protected] Wilhelm Voßkamp ist Professor für Neuere deutsche Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität zu Köln; 1978–82 Direktor am Zentrum für Interdisziplinäre Forschung in Bielefeld; 1999–2004 Direktor am Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg in Köln. Arbeitsschwerpunkte: Utopieforschung, Romantheorie, Klassik, Wissenschaftsgeschichte, Medien und kulturelle Kommunikation. Zuletzt erschienen: Der Roman des Lebens. Zur Aktualität der Bildung und ihre Geschichte im Bildungsroman, Berlin 2009. Kontakt: [email protected] Uwe Wirth ist Professor für Neuere Deutsche Literatur und Kulturwissenschaft an der Liebig Universität Gießen. Studium in Heidelberg, Frankfurt und Berkeley. Forschungsschwerpunkte sind zum einen die Literatur um 1800. Hierzu entstand die Habilitation mit dem Titel Die Geburt das Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. Editoriale Rahmung im Roman um 1800: Wieland, Goethe, Brentano, Jean Paul und E.T.A. Hoffmann, München 2008. Darüber hinaus gibt es ein starkes theoretisches Interesse, das auf Semiotik, Performanz- und Kulturtheorie gerichtet ist. Kontakt: [email protected]