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German Pages 250 [251] Year 2018
Der Autor Henning Börm (* 1974) studierte bis 2002 Geschichte und Deutsch an der Universität Kiel, wo er 2006 in Alter Geschichte promoviert wurde. Nach Tätigkeiten an den Universitäten Münster und Kiel lehrt er seit 2008 an der Universität Konstanz. 2017 erfolgte die Habilitation, an die sich Gastprofessuren in Berlin und Tübingen anschlossen. Seit 2018 ist er einer der Leiter eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Forschernetzwerks zu inneren Kriegen im Altertum. Seine Arbeiten befassen sich vor allem mit dem hellenistischen Griechenland, mit Kulturkontakten zwischen dem antiken Iran und der Mittelmeerwelt, mit antiker Geschichtsschreibung sowie mit dem römischen Kaisertum in Prinzipat und Spätantike.
Henning Börm
Westrom Von Honorius bis Justinian
2., erweiterte und aktualisierte Auflage
Verlag W. Kohlhammer
Meiner Familie
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Umschlagbild: Mosaikdarstellung Kaiser Justinians, Bischof Maximians und weiterer Personen in der Kapelle San Vitale in Ravenna. Bildrecht: Picture-Alliance.
2., erweiterte und aktualisierte Auflage 2018 Alle Rechte vorbehalten © W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Print: ISBN 978-3-17-033216-4 E-Book-Formate: pdf: ISBN 978-3-17-033217-1 epub: ISBN 978-3-17-033218-8 mobi: ISBN 978-3-17-033219-5 Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.
Inhalt
1
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2
Die Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3
Voraussetzungen: Der römische Westen bis 395 . . . . . . . . . . 3.1 Diokletian und die Tetrarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Die Konstantinische Dynastie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Die Valentinianische Dynastie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Theodosius I. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Das Römische Reich am Ende des 4. Jahrhunderts
21 24 28 32 35 39
4
Stilicho, der Kaiserhof und die Reichseinheit . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Stilicho und Konstantinopel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Stilicho als Regent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Stilichos Sturz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Alarich und die Plünderung Roms 410 . . . . . . . . . . . . .
42 46 50 53 57
5
Konsolidierung und Machtkämpfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Bürgerkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Flavius Constantius als Herr des Westens . . . . . . . . . . 5.3 Machtvakuum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Bonifatius und die Vandalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
63 64 68 71 75
6
Im Schatten des Heermeisters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Abfallbewegungen und Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Geiserich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Attila und die Hunnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
81 82 86 90 5
Inhalt
6.4
Der Mord an Aëtius und das Ende der Dynastie . . .
99
7
Die Agonie des Kaisertums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Petronius Maximus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Avitus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Majorian und Ricimer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Anthemius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5 Die letzten Kaiser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6 Völkerwanderung oder Bürgerkrieg? . . . . . . . . . . . . . .
105 105 111 114 119 124 127
8
Erben 8.1 8.2 8.3 8.4
131 132 136 143 150
9
Das Kaisertum und der Hof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 9.1 Der Kaiser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 9.2 Der Hof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160
10
Die Verwaltung des Reiches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 10.1 Die Verwaltungsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 10.2 Charakteristika und Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
11
Die weströmische Armee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1 Aufgaben, Aufbau und Versorgung . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2 Die »Barbarisierung« der spätrömischen Armee . . . . 11.3 Ethnogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
174 175 177 180
12
Zwischen Krise, Kontinuität und Wandel: Die Wirtschaft 12.1 Die Stadt in der Spätantike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2 Die Landwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.3 Gewerbe und Handel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
184 185 189 193
13
Religiöse Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 13.1 Christen und Nichtchristen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196
6
des Imperiums: 476 bis 568 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Odoaker und der Kaiser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nordafrika, Spanien und Gallien . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theoderich und der Kaiser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Justinian und das Ende Westroms . . . . . . . . . . . . . . . . .
Inhalt
13.2 13.3
Konflikte und Identitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Die Entwicklung des Papsttums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204
14
Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 14.1 West und Ost . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 14.2 Das weströmische Kaisertum nach 568 . . . . . . . . . . . . 209
15
Zeittafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212
16
Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216
17
Ausgewählte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221
18
Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244
19
Personen- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 19.1 Personenindex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 19.2 Sachindex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248
7
1
Einleitung
Dieses Buch hat die Geschichte des römischen Westens zwischen dem 3. und 6. Jahrhundert nach Christus zum Gegenstand, jene Phase also, in der die Welt des europäischen Mittelalters ihre Anfänge erlebte und die Zeit des antiken Imperium Romanum an ihr Ende gelangte. Wenngleich beide Aspekte untrennbar miteinander verknüpft sind, wird es auf den folgenden Seiten eher um Letzteres gehen. Selbstverständlich kann dabei nur eine Skizze geboten werden, und da ein solches Vorhaben eine bewusste Schwerpunktsetzung unumgänglich macht, soll vor allem die politische Geschichte im Mittelpunkt der Darstellung stehen. Der kulturgeschichtliche Ansatz, der insbesondere dank der Arbeiten Peter Browns lange Zeit die Forschung zur Spätantike (284 bis 641) bestimmt hat und auch weiterhin nachhaltig prägt,1 wird dagegen ebenso wie auch die Sozialgeschichte notwendig in den Hintergrund rücken müssen. Der knappe systematische Abriss, den die letzten Kapitel bieten, ist dabei vornehmlich dazu gedacht, jene Strukturen deutlicher hervorzuheben, ohne die die politische Geschichte des römischen Westens schwer verständlich bliebe. Unvermeidlich wird nicht jeder Leser mit der dem begrenzten Raum geschuldeten Auswahl einverstanden sein. Die Forschungsliteratur hat vor allem seit den 1980er Jahren einen unmöglich zu überblickenden Umfang angenommen. Historiker, Philologen und Archäologen auf der ganzen Welt beschäftigen sich intensiv mit der Spätantike. Gerade in den letzten Jahren ist die Diskussion darüber, ob das Weströmische Reich »gefallen« oder »transformiert« 1 Verwiesen sei hier nur auf die grundlegende Arbeit Brown 2003 sowie zuletzt Brown 2012.
9
1 Einleitung
worden sei, neu entbrannt, und auch über die Gewichtung innen- und außenpolitischer Faktoren herrscht keineswegs Einigkeit.2 Es bleibt hier daher nur die Möglichkeit, auf solche modernen Arbeiten zu verweisen, die entweder besonders anregend gewirkt haben oder einen guten Ausgangspunkt für weitere, vertiefende Studien bilden. Doch damit nicht genug der Hindernisse. Denn was ist eigentlich gemeint, wenn hier von »Westrom« oder vom »Weströmischen Reich« die Rede ist? Sowohl die zeitliche als auch die räumliche Eingrenzung des Gegenstandes fällt schwerer, als es zunächst den Anschein haben mag. Das ist vor allem dem Umstand geschuldet, dass die antiken Quellen in aller Regel bis zuletzt von einem einzigen Imperium Romanum ausgehen, das zwar selbstverständlich über einen Osten und einen Westen (pars Occidentis) verfügte, aber eben doch im Zweifelsfall ein ungeteiltes Ganzes darstellte. Auch wenn Identitäten, wie sich zeigen wird, mitunter schillernd und schwer bestimmbar waren, wäre es doch, soweit man sieht, keinem Zeitgenossen der Ereignisse eingefallen, sich selbst als »Weströmer« zu bezeichnen. Allenfalls sprach man den Bewohnern des Ostens mitunter ihr Römertum ab und bezeichnete sie als »Griechen«, etwas, das diesen selbst kaum in den Sinn gekommen wäre.3 Die Zeugnisse, die einer Bezeichnung wie »Weströmisches Reich« am nächsten kommen, sind selten und spät; am prominentesten ist in diesem Zusammenhang wohl der Chronist Marcellinus Comes, der um 520 in einem wirkmächtigen Satz seines Werkes vom »Ende« des Hesperium Romanae gentis imperium, also des »westlichen Reiches des römischen Volkes«, im Jahr 476 spricht.4 Die geographische Eingrenzung wird dadurch noch weiter erschwert, dass die Gefahr besteht, die Bedeutung sichtbarer, oft militärisch überwachter Grenzen (limites) zu überschätzen. Bekanntlich wa-
2 Vgl. Rutenburg/Eckstein 2007; Ando 2009. 3 Die Bewohner auch des griechischen Ostens nannten sich selbst stets »Römer« (Ῥωμαῖοι). Als »Hellenen« ( Ἕλληνες) bezeichnete man in der Spätantike die Anhänger der alten, nichtchristlichen Religion. »Byzantiner« und im Grunde auch »Rhomäer« sind moderne Begriffe. 4 Marc. Com. ad ann. 476.
10
1 Einleitung
ren viele Römer der Ansicht, ihnen sei ein imperium sine fine verliehen worden;5 und auch wenn man zwischen diesem Anspruch und der Realität in aller Regel sehr wohl zu unterscheiden wusste, bleibt es dennoch richtig, dass die Grenzen römischen Einflusses und kaiserlicher Macht oft viel schwerer bestimmbar waren, als man angesichts historischer Atlanten oder der Ruinen spätantiker Grenzkastelle meinen könnte. Dies gilt auch für die Zuschreibung ethnischer Identitäten, wenngleich im Folgenden die entsprechenden Bezeichnungen, die sich in den Quellen finden, bis zu einem gewissen Grad übernommen werden sollen. Wie problematisch Begriffe wie »Römer«, »Barbar«, »Gote« oder »Vandale« sind, hat die Forschung der letzten Jahrzehnte klar herausgestellt.6 Als Grundlage für die folgenden Ausführungen sei der geographische Rahmen dennoch wie folgt bestimmt: Westrom umfasste Britannien bis zum Hadrianswall, Gallien einschließlich der beiden »germanischen« Provinzen, Hispanien mit den Balearen, die Provinzen an der Oberen Donau, also insbesondere Raetia, Noricum und Pannonia, sowie das westliche Nordafrika und natürlich Italien mit Korsika, Sardinien und Sizilien. Das Illyricum war zwischen Ost und West, zumindest anfänglich, umstritten. Man könnte allerdings auch einen anderen Ansatz wählen, der die Fluktuation und Flüchtigkeit der Verhältnisse vor allem im 5. Jahrhundert stärker betont: Zu Westrom gehörten demnach jene Gebiete, die der tatsächlichen, wirksamen Kontrolle des in Italien residierenden Hofes unterstanden. Kaum weniger problematisch ist die Bestimmung des zeitlichen Rahmens. Traditionell wählt man zwei Daten als Epochengrenzen, nämlich zum einen das Jahr 395, als nach dem Tod des Kaisers Theodosius I. sein junger Sohn Honorius die Herrschaft über den römischen Westen übernahm, und zum anderen das Jahr 476, als der Heerführer Odoaker den Romulus Augustulus absetzte. Dieser gilt gemeinhin als der letzte weströmische Kaiser, denn Odoaker verzichtete demonstrativ darauf, für ihn einen Nachfolger zu bestimmen. Vielmehr schickte er den kai5 Verg. Aen. 1,278 f. 6 Vgl. Geary 2002; von Rummel 2013; Moorhead 2013: 14–27. Vgl. zum antiken Barbarenbegriff Brather 2004: 117–138; Gillett 2009.
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1 Einleitung
serlichen Ornat nach Konstantinopel, unterstellte sich dem dortigen Augustus und scheint zudem erklärt zu haben, der Westen benötige keinen eigenen Kaiser mehr.7 Dessen Position sollte damit also abgeschafft werden.8 Beide Daten, sowohl 395 als auch 476, sind als mögliche Epochengrenzen durchaus diskussionswürdig, und gegen beide kann man auch gewichtige Einwände vorbringen. Wenn im Folgenden die Zeit zwischen Honorius und Justinian, der 554 einen Schlussstrich unter der weströmischen Geschichte zog, in den Mittelpunkt gestellt wird, obwohl der Darstellung ein Überblick über die Vorgeschichte des Jahres 395 vorangestellt werden soll, so ist dies letztlich vor allem dem roten Faden geschuldet, der sich durch die Darstellung ziehen soll. Dieses Leitthema, das den Stoff ordnen und eine Interpretation der oft chaotisch anmutenden Ereignisse ermöglichen soll, ist das letztlich vergebliche Ringen der weströmischen Reichszentrale um Handlungsspielräume und um die Kontrolle des Imperiums. Es ist eine Geschichte davon, wie dem Zentrum im Zuge von endlosen internen Machtkämpfen und Bürgerkriegen9 die Herrschaft über die Peripherie entglitt, und wie schließlich andere Mächte an seine Stelle traten. Auch die Geschichte der »barbarischen« gentes bzw. Verbände wird in diesen Kontext eingeordnet werden. Denn dass äußerer Druck auf das Reich eine erhebliche, wenngleich erstaunlich schwer bestimmbare und wohl oft überschätzte Rolle spielte, soll nicht bestritten werden. Leider wird es sich nicht vermeiden lassen, dabei recht viele handelnde Personen einzuführen, denn die Zahl derer, die prominent an den Ereignissen beteiligt waren, ist groß. Jeder Historiker erzählt seine Geschichte bis zu einem gewissen Grad notwendig stets vom Ende her und konstruiert Kausalitäten. Was folgt, ist dennoch keine Dekadenzerzählung, keine Geschichte vom unausweichlichen Niedergang des Römischen Reiches. Vielmehr sollten zwei Fragen im Hintergrund stets mitgedacht werden: Welche Mechanismen
7 Malch. Frg. 14 (Blockley). 8 Vgl. Börm 2008a: 48–52. 9 Es ist der Forschung bislang nicht gelungen, sich auf eine Definition von »Bürgerkrieg« zu verständigen; vgl. Kalyvas 2007.
12
1 Einleitung
und Strukturen lassen sich als die Entwicklung mitprägende Faktoren benennen, die ihrerseits überhaupt erst die Voraussetzung dafür bildeten, dass zufällige Ereignisse weitreichende Folgen haben konnten? Und ab welchem Zeitpunkt war der Machtverlust der kaiserlichen Zentrale des Westens wirklich irreversibel geworden? Die Annahme, dass dieser langwierige Prozess im 4. Jahrhundert einsetzte – wobei entscheidende Voraussetzungen bereits zuvor geschaffen worden waren – und erst um die Mitte des 6. Jahrhunderts endgültig unumkehrbar geworden war, bestimmt den Rahmen der folgenden Darstellung.
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2
Die Quellen
Überblickt man die Quellenlage zur weströmischen Geschichte, so macht sich rasch Ernüchterung breit.10 Gerade für das 5. Jahrhundert, in dem sich entscheidende Entwicklungen im Imperium vollzogen haben müssen, ist die literarische Überlieferung mehr als lückenhaft. Dieser Umstand erschwert insbesondere die Rekonstruktion der politischen Geschichte erheblich. Zwar verfassten damals Autoren wie Sulpicius Alexander oder Renatus Profuturus Frigeridus lateinische Geschichtswerke in der Tradition der Klassiker dieses Genres, doch während das bedeutende, gegen 400 verfasste Werk des Ammianus Marcellinus aufgrund glücklicher Zufälle immerhin zur Hälfte erhalten geblieben ist, sind die Werke der westlichen Historiographen des 5. Jahrhunderts fast spurlos verloren gegangen. Spätere Generationen interessierten sich offenbar nicht mehr für sie. Allerdings scheinen sie Gregor von Tours noch vorgelegen zu haben, der im späten 6. Jahrhundert seine Historien verfasste, die teils höchst wertvolle Informationen liefern, und der aus diesen Werken zitiert.11 Erhalten geblieben sind immerhin die Historiae adversum paganos, die »Geschichten wider die Heiden« des Orosius, die von der Intention bestimmt sind, die naheliegende Vermutung, seit der Abkehr von den alten Kulten sei es mit dem Römischen Reich abwärts gegangen, zu entkräften: Zum einen sei Rom bereits vor der Hinwendung zum Christentum vielfach von Katastrophen heimgesucht worden, zum an-
10 Gute allgemeine Überblicke zu den Quellen zur Spätantike bieten Demandt 2007: 1–43 und Mitchell 2015: 15–50. Vgl. zur Geschichtsschreibung auch Whitby 2011. 11 Vgl. Becher 2011: 14–21.
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2 Die Quellen
deren seien die unerfreulichen Ereignisse, die das Imperium nach der Konstantinischen Wende 312 ereilt hätten, in Wahrheit halb so schlimm gewesen. Ungeachtet dieser durchsichtigen Wirkabsicht, die bei der Übernahme seiner Angaben zur steten Vorsicht mahnt, enthält das Werk des Orosius wichtige Informationen.12 Nur reicht es leider lediglich bis zum Jahr 417. Vor allem zwei Quellengruppen sind es, die diese Lücke – in unvollkommener Weise – schließen helfen. Zunächst sind dies lateinische Chroniken, die zumeist von Klerikern verfasst wurden.13 Diese bemühten sich im Unterschied zu den Geschichtsschreibern in der Regel nicht um eine kunstvolle Gestaltung des Stoffes oder um eine Erkundung der Hintergründe und kausalen Zusammenhänge, sondern listeten Einzelereignisse mit der zugehörigen Jahreszahl auf. Diese Datierung ist allerdings häufig ungenau oder unzuverlässig. Erst in jüngerer Zeit hat die Forschung stärker betont, dass die Autoren ihr Material oft dennoch durchaus bewusst auswählten und anordneten. Unter den zeitgenössischen Chronisten des römischen Westens ragen im 5. Jahrhundert vor allem Prosper Tiro, ein Mitarbeiter des Bischofs von Rom, und Hydatius von Aquae Flaviae (Chaves), selbst Bischof einer entlegenen civitas im Nordwesten der Iberischen Halbinsel, hervor. Ihre Angaben und Wertungen weichen teils erheblich voneinander ab.14 Hinzu kommen zwei anonyme gallische Chroniken sowie der bereits erwähnte oströmische Hofbeamte Marcellinus Comes, der um 520 ein Werk verfasste, das Ereignisse ab 379 aufzählte und später bis 548 fortgesetzt wurde. Überhaupt ist es die Überlieferung aus dem Osten des Imperium Romanum, die für die Rekonstruktion der weströmischen Geschichte eine oftmals zentrale Rolle spielt. An erster Stelle sind hier die Werke der griechischen Profanhistoriker zu nennen. Sie stellen die zweite wichtige Quellengruppe zur politischen Geschichte Westroms dar. Die Verfasser dieser Werke waren oftmals ehemalige kaiserliche Amtsträger, die sich nach dem Ende ihrer Laufbahn von der Abfassung zeitge-
12 Vgl. zu Orosius Rohrbacher 2002: 135–149 (mit weiterer Literatur); Cobet 2009; van Nuffelen 2012 (grundlegend). 13 Vgl. Burgess/Kulikowski 2013. 14 Vgl. Muhlberger 1990; Börm 2014.
15
2 Die Quellen
schichtlicher Darstellungen in der Tradition der großen Vorbilder – namentlich Thukydides und Polybios – offensichtlich einen Zugewinn an Sozialprestige versprachen. Ihre Texte waren der formalen Nachahmung der Klassiker so sehr verpflichtet, dass sie oft sogar jede Anspielung auf das Christentum vermieden, ohne dass ihre Verfasser deshalb notwendig Nichtchristen gewesen sein müssen. Die Werke von Geschichtsschreibern wie Eunapius, Olympiodor, Priscus, Malchus, Eustathius und Candidus erreichen vielfach ein hohes Niveau;15 leider sind sie nur in Fragmenten, also Zusammenfassungen und Zitaten bei späteren Autoren, erhalten.16 Nicht immer ist ersichtlich, ob diese den Inhalt ihrer Vorlagen richtig verstanden und korrekt wiedergegeben haben. All diesen Geschichtsschreibern scheint aber eine gewisse kritische Distanz zum Kaisertum (oder zumindest eine entsprechende Pose) gemein gewesen zu sein. Zu bedenken ist zudem, dass sie, auch wenn sie oft dem römischen Imperium gedient hatten, den lateinischen Westen letztlich mit griechischen Augen betrachteten. Die beiden für Westrom wichtigsten unter diesen Autoren sind zweifellos Olympiodor von Theben und Priscus von Panion. Ersterer verfasste sein Werk irgendwann zwischen 425, dem Jahr, mit dem sein Bericht geendet zu haben scheint, und 450, dem Jahr, in dem der Ostkaiser Theodosius II. starb. Olympiodor stammte aus Ägypten und scheint in kaiserlichen Diensten als Gesandter tätig gewesen zu sein. Obwohl sich unter den Fragmenten seiner Historien auch Berichte über Reisen nach Thrakien und Afrika finden, beschäftigten sich die meisten erhaltenen Abschnitte mit dem Westen des Imperiums. Olympiodor beherrschte offenkundig Latein und scheint zumindest Italien auch selbst bereist zu haben.17
15 Einen informativen, aber eigenwilligen Überblick zu diesen Geschichtsschreibern bietet Treadgold 2007: 79–107. Vgl. daneben Rohrbacher 2002: 64–92. 16 Nicht in allen Punkten unumstritten, aber nach wie vor grundlegend ist die Sammlung, Edition und englische Übersetzung dieser Autoren durch Roger Blockley: The Fragmentary Classicising Historians of the Later Roman Empire, Leeds 1981/83. 17 Vgl. Matthews 1970.
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2 Die Quellen
Der wohl begabteste griechische Geschichtsschreiber des 5. Jahrhunderts war Priscus, der um 475 ein umfangreiches Werk verfasste, das sich nach Ausweis der Fragmente vornehmlich mit den Kontakten zwischen den »Hunnen« und den beiden Hälften des Imperium Romanum beschäftigt zu haben scheint. Fortgesetzt wurde das Werk mutmaßlich von Malchus von Philadelphia, der insbesondere über die Beziehungen zwischen dem Ostkaiser und den Goten berichtet. Zusätzliche Nachrichten zur Geschichte Westroms lassen sich daneben auch den drei griechischen Kirchenhistorikern Sozomenos, Sokrates und Theodoret entnehmen, deren Werke vollständig überliefert sind.18 Die Reihe der klassizistischen griechischen Profanhistoriker setzte sich auch im 6. Jahrhundert fort. Anders als im Fall seiner Vorgänger blieb dabei die zu Beginn des Jahrhunderts verfasste »Neue Geschichte« des Zosimus zum großen Teil erhalten; sie schildert die Ereignisse bis 410 aus dezidiert nichtchristlicher Perspektive und enthält neben wichtigen Informationen auch zahlreiche Irrtümer und Verzerrungen.19 Zur Gänze erhalten ist sodann das Werk des wohl bedeutendsten griechischen Geschichtsschreibers der Spätantike, Prokop von Caesarea.20 Seine um 550 entstandenen Historien schildern in acht Büchern die Kriege Kaiser Justinians in Ost und West und enthalten auch einige – oft anekdotisch gehaltene – Nachrichten über die Geschichte des 5. Jahrhunderts. Etwa um dieselbe Zeit verfasste Jordanes in Konstantinopel seine lateinische »Gotengeschichte«, die Getica; wohl etwas früher entstand in Italien der als Anonymus Valesianus II bekannte kurze Text über die Zeit Odoakers und Theoderichs. Fortgesetzt wurden Prokops Historien von Agathias (um 580); an diesen schloss um 600 wiederum wahrscheinlich Menander Protektor an. Zu einem unklaren Zeitpunkt im 6. oder frühen 7. Jahrhundert entstand zudem das Werk des Johannes von Antiochia,21 und als letzter antiker Geschichtsschrei-
18 Vgl. Leppin 2003b. 19 Vgl. Paschoud 2006 (grundlegend). 20 Vgl. Cameron 1985. Eine lesenswerte, aber teils sehr problematische Analyse bietet Kaldellis 2004. 21 Eine Entstehung im 6. Jahrhundert gilt heute als wahrscheinlicher; vgl. Mariev 2006. Abgeschlossen ist die Diskussion jedoch nicht.
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2 Die Quellen
ber gilt schließlich gemeinhin Theophylakt, der um 630 ein Werk über die Herrschaft des Kaisers Mauricius (582–602) verfasste. Neben die lückenhafte und vielfach unzuverlässige historiographische Überlieferung treten literarische Zeugnisse mit explizit christlicher Wirkabsicht. Zu nennen sind hier Autoren wie der römische Bischof Leo »der Große«, Augustinus von Hippo oder Hieronymus. Wichtig sind zudem auch lateinische Heiligenviten, die nicht selten relevante historische Informationen enthalten. Ergänzt werden diese Quellen durch ebenfalls dezidiert christlich geprägte Werke ganz unterschiedlichen Charakters aus der Feder von Männern wie Paulinus von Pella, Salvian von Marseille, Victor von Vita oder Orientius.22 Etwas aus dieser Reihe fällt der gallorömische Senator Sidonius Apollinaris, der höchste Ämter im weströmischen Staat bekleidete, bevor er sein Leben als Bischof von Clermont-Ferrand beschloss. Insbesondere seine in stilbewusstem Latein verfassten Briefe, aber auch seine carmina bieten Informationen von teils unschätzbarem Wert.23 Zwei Generationen älter war Paulinus von Nola, der ebenfalls ein Bischof mit senatorischem Hintergrund war.24 Eine wichtige Quelle für die spätantike Herrscherideologie ist überdies die Panegyrik. Hier sind vor allem Claudian, der am Hof des Honorius wirkte, Ennodius, der den Ostgoten Theoderich pries, sowie Priscian, Prokop von Gaza und Coripp zu nennen, deren Lobreden allerdings oströmischen Kaisern gelten. All diesen Texten ist gemein, dass sie kein historisches Narrativ bieten, sondern überwiegend ergänzende Informationen, die allerdings vielfach Rückschlüsse auf die Zeitumstände erlauben. Eine bedeutende Quellengruppe zur spätrömischen Geschichte sind zudem die kaiserlichen Gesetze; eine Auswahl von ihnen hat sich in Novellensammlungen sowie insbesondere im Codex Theodosianus von 438 und im Codex Iustinianus von 534 erhalten. Neben dem Umstand, dass nur ein Teil der kaiserlichen Erlasse überliefert ist, erschwert auch die Neigung der Kompilatoren, die Gesetzestexte ohne den ursprüngli22 Vgl. Fuhrmann 1998: 282–291. 23 Vgl. zu Sidonius Harries 1994. 24 Vgl. Frend 1969.
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2 Die Quellen
chen Kontext aufzunehmen, die historische Auswertung. Unklar ist zum Beispiel oft, von wem die entsprechenden Initiativen (suggestiones) ausgingen.25 Erwähnung verdienen an dieser Stelle schließlich auch noch die Notitia Dignitatum, eine Art »Staatshandbuch«, das für den Westen zuletzt um 420 aktualisiert wurde, sowie die Variae Cassiodors, der den ostgotischen reges in Italien diente.26 Inschriften gehören zu den wichtigsten Quellen der Alten Geschichte. Doch ausgerechnet im späten 4. Jahrhundert nehmen Zahl und Qualität der weltliche Dinge betreffenden lateinischen Inschriften schlagartig ab; aus letztlich unklaren Gründen, denn im Osten wurde die antike epigraphische Tradition bis in justinianische Zeit fortgeführt. Grundsätzlich gilt dabei, dass die erhaltenen Inschriften stets nur einen zufälligen Ausschnitt darstellen. Obwohl ihre Bedeutung für die weströmische Geschichte des 5. und 6. Jahrhunderts vergleichsweise gering ist, gibt es nicht zuletzt aus Italien und Africa einige durchaus wichtige epigraphische Quellen.27 Auch der numismatische Befund ist für das 5. und 6. Jahrhundert weniger aussagekräftig als für die vorangegangene Zeit. Die Qualität der römischen Münzen verringerte sich alles in allem stark, ihr Bildprogramm nahm jetzt anders als zuvor kaum noch Bezug auf konkrete Ereignisse. Dennoch lassen sich ihnen einige interessante Informationen entnehmen, gerade was die Reichweite der Zentralgewalt betrifft: Wer das Bild eines Kaisers auf seine Münzen, vor allem auf die Goldmünzen (solidi), setzte, der ordnete sich zumindest äußerlich seiner Autorität unter. Überdies sind Hortfunde interessant, da sie oftmals ungefähr datierbare Hinweise auf unruhige Zeiten zulassen, in denen Menschen es für geraten hielten, ihr Vermögen zu verstecken. Und mitunter lassen Schatzfunde, etwa als Grabbeigaben, sogar Rückschlüsse auf politische Beziehungen zu – wenn sich etwa im Grab eines Militärführers in Gallien auffallend viele frischgeprägte oströmische Goldmünzen finden,
25 Einen guten Überblick über die (umfangreiche) neuere Forschung zum Codex Theodosianus verschafft Aubert 2009; erhellend ist auch Matthews 2000. Zum Codex Iustinianus vgl. Leppin 2006. 26 Vgl. Brennan 1998; Kakridi 2005. 27 Vgl. Trout 2009.
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2 Die Quellen
kann das ein Hinweis auf Subsidienzahlungen durch den Kaiser sein, und mithin auf ein entsprechendes Abkommen (foedus). Die Schatzfunde schließlich bilden eine gute Überleitung zur letzten wichtigen Quellengruppe: Nicht zuletzt aufgrund der zahlreichen Probleme, die mit der schriftlichen Überlieferung zu Westrom verbunden sind, ist in den letzten Jahren die Bedeutung der Archäologie für die Erforschung der Spätantike außerordentlich stark gestiegen.28 Gerade für die Wirtschaftsgeschichte, aber auch für viele andere Bereiche hat sie wichtige Erkenntnisgewinne ermöglicht und das Bild, das die schriftlichen Quellen vermitteln, in wesentlichen Punkten ergänzt, korrigiert oder zumindest in Frage gestellt.29 Dabei ist allerdings stets zu bedenken, dass nicht nur Texte, sondern auch materielle Hinterlassenschaften nicht etwa für sich selbst sprechen, sondern zwingend der Interpretation bedürfen. Gerade in Hinblick auf das, was man traditionell als die »Völkerwanderung« oder die »barbarischen Invasionen« bezeichnet,30 herrscht vielfach durchaus Uneinigkeit darüber, welcher Zugang methodisch zulässig ist.31 Insgesamt gilt, dass es bislang nur unvollkommen gelungen ist, das Bild, das die literarischen Quellen vermitteln, mit dem archäologischen Befund in Einklang zu bringen. Es ist aber zu hoffen, dass die Forschung der nächsten Jahre hier wesentliche Fortschritte erzielen wird.32
28 29 30 31 32
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Vgl. speziell für den römischen Westen Cleary 2013. Vgl. Swift 2000; Christie 2011. Vgl. Kulikowski 2013. Sehr gegensätzliche Positionen vertreten Brather 2000 und Bierbrauer 2004. Vgl. Brather 2004; Brandt 2009; Wickham 2009: 232–251.
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Voraussetzungen: Der römische Westen bis 395
In der Mitte des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts hatte das Imperium Romanum im Westen unter Kaiser Antoninus Pius (138–161) seine größte territoriale Ausdehnung erreicht. Ungeachtet mancher struktureller Schwächen waren die Provinzen in Gallien, Hispanien und Britannien, weitgehend ungestört durch kriegerische Ereignisse, damals so wohlhabend wie nie zuvor. Latein hatte sich hier, anders als im griechisch geprägten Osten des Reiches, längst als die unbestrittene lingua franca durchgesetzt, auch wenn andere, zumal keltische, Sprachen vielerorts fortbestanden. Kaiser Caracalla verlieh 212 der großen Mehrheit der freien Reichsbevölkerung das römische Bürgerrecht. Zahlreiche Elemente mediterraner Lebensweise hatten weite Verbreitung gefunden. Man trank Wein, setzte Inschriften, errichtete Basiliken, Foren, Bäder, Aquädukte und Theater.33 Bereits unter Marcus Aurelius (161–180) wurden allerdings innenund außenpolitische Probleme sichtbar, die sich in der Zeit der severischen Kaiser (193–235) spürbar verschärften.34 An den Reichsgrenzen an Rhein und Donau baute sich angesichts sich neu formierender »ger33 Dieses Phänomen wird oft mit dem problematischen Begriff der »Romanisierung« bezeichnet; vgl. die Skizze bei Geary 2007: 15–20. In der Regel ist davon auszugehen, dass die lokalen Eliten freiwillig die römische Lebensweise übernahmen und dies normalerweise nicht, wie Tacitus (Agric. 21) nahelegt, aktiv unterstützt wurde. 34 Die Ereignisgeschichte der Hohen und Späten Kaiserzeit ist durch Handbücher gut erschlossen. Empfehlenswert sind die Beiträge in den letzten drei Bänden der neuen Cambridge Ancient History (CAH), hinzu kommen z. B. Halsall 2007, Potter 2014, Pfeilschifter 2014 und Mitchell 2015. Inhaltlich konservativ, aber informativ, ist Demandt 2007. Nützlich ist daneben die Prosopography of the Later Roman Empire (PLRE).
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3 Voraussetzungen: Der römische Westen bis 395
manischer Großstämme« erheblicher Druck auf, dem Rom zunächst nur eingeschränkt gewachsen war, während es zugleich seit 226 im Orient in Gestalt der persischen Sasaniden mit einem neuen, gefährlichen Gegner konfrontiert war.35 Dabei scheinen die außenpolitischen Probleme zumindest teilweise eine Folge der gewachsenen innenpolitischen Instabilität gewesen zu sein: Seit Septimius Severus (193–211), der die Macht in einem blutigen Bürgerkrieg erlangt und sich dabei offensichtlicher als seine Vorgänger von seinen Legionen abhängig gemacht hatte, war das Ansehen des Kaisertums erkennbar beschädigt. Die Fassade des um die Zeitenwende von Augustus begründeten Prinzipats36 zeigte deutliche Risse, während Selbstbewusstsein und Einfluss der Armee zunahmen. Ansehen und Macht der senatorischen Elite, deren Angehörige auch nach der Etablierung des Kaisertums wichtige Funktionen in Verwaltung und Militär übernommen hatten, schwanden; die Bedeutung der römischen Ritter (equites) nahm derweil zu. Zugleich erhöhten die Severer, um insbesondere den steigenden Sold des Heeres aufbringen zu können, den Steuerdruck, was gerade den städtischen Gemeinwesen (civitates) des Imperiums zusätzliche Belastungen auferlegte.37 Um die Mitte des 3. Jahrhunderts waren die Probleme des Imperiums so unübersehbar geworden, dass Teile der Forschung von einer allgemeinen »Reichskrise« sprechen, die fast alle Regionen und Lebensbereiche betroffen habe. Zwar ist in diesem Punkt in den letzten 25 Jahren manches relativiert worden, und die Zeit der so genannten Soldatenkaiser von 235 bis 284 wird heute in der Regel differenzierter betrachtet als in der älteren Forschung.38 Insbesondere wird nun oft betont, dass nicht alle Reichsteile gleichermaßen von ökonomischen Problemen und militärischen Katastrophen betroffen waren.39
35 Vgl. Rubin 1986. Die traditionelle Annahme, die Sasaniden seien grundsätzlich aggressiver und schlagkräftiger gewesen als ihre Vorgängerdynastie, die Arsakiden, wird in letzter Zeit allerdings bezweifelt; vgl. Börm 2016: 617–624. 36 Eine konzise Einführung in das Prinzipat bietet Winterling 2017. 37 Vgl. Potter 2014: 125–172. 38 Vgl. den Forschungsüberblick bei Körner 2011. 39 Vgl. die Beiträge in Johne 2008 und die Zusammenfassung bei Alföldy 2011: 254–272.
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3 Voraussetzungen: Der römische Westen bis 395
Was allerdings angesichts einer enormen Zahl an Usurpationsversuchen und anschließenden Bürgerkriegen kaum zu leugnen ist, ist zumindest die Legitimitätskrise, in die das römische Kaisertum im 3. Jahrhundert geraten war. Überdies verloren die Römer, die unter Maximinus
Karte 1: Das Römische Reich 293–395.
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3 Voraussetzungen: Der römische Westen bis 395
Thrax (235–238) noch bis ins heutige Norddeutschland vorgestoßen waren, vor allem in den Jahren nach 250 an wichtigen Fronten zeitweilig die militärische Initiative und zogen hieraus nach einer Weile die entsprechenden Konsequenzen: Durch die Räumung Dakiens und der meisten rechtsrheinischen Gebiete (agri Decumates) wurden die Fronten verkürzt.
3.1
Diokletian und die Tetrarchie
Nachdem bereits die Kaiser Gallienus, Aurelian und Probus seit etwa 260 eine Reihe von Maßnahmen eingeleitet hatten, die der Effizienzsteigerung von Armee und Verwaltung dienen sollten, war es dann Diokletian (284–305), der die Ansätze seiner Vorgänger aufgriff und systematisierte.40 Es gelang ihm, das römische Kaisertum durch umfassende Reformen auf eine neue Grundlage zu stellen; nicht ohne Grund lässt man mit ihm daher traditionell die Epoche der Spätantike beginnen. Die faktische Trennung von zivilem und militärischem Apparat, die sich in den Jahren zuvor herausgebildet hatte, wurde nun weitgehend vollendet (u Kap. 10.1), die Entrückung und Sakralisierung der Herrscher, die nun als Iovii und Herculii eine besondere Nahbeziehung zu den Göttern beanspruchten, vorangetrieben. Kern der neuen Ordnung aber war die schrittweise Einführung eines institutionalisierten Mehrkaisertums. Die Erkenntnis, dass ein einziger Kaiser bzw. Augustus unter den damaligen Kommunikationsbedingungen angesichts der Vielzahl an Problemen nicht mehr genügte, war bereits älter. Schon Kaiser Valerian hatte daher 253 seinem Sohn Gallienus die Herrschaft über den Westen übertragen, um sich selbst der Verteidigung des Ostens widmen zu können. Das Bedürfnis des römischen Westens nach einem ei40 Vgl. zu Diokletian Jones 1964: 37–76; Barnes 1982; Rees 2004; Demandt 2007: 57–73 (mit weiterer Literatur).
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3.1 Diokletian und die Tetrarchie
genen Augustus war so groß, dass sich wohl im Jahr 260, nachdem Valerian in persische Gefangenschaft geraten war, unter dem Usurpator Postumus und seinen Nachfolgern ein eigenes Imperium Galliarum bildete.41 Es umfasste, abgesehen von Nordafrika und Italien, im Wesentlichen all jene Gebiete, die später Westrom ausmachen sollten, besaß sogar eigene Konsuln und bestand bis 274, als es Kaiser Aurelian wieder der Zentralgewalt unterwarf. Aber erst mit Diokletian, der 285 seinen Kampfgenossen Maximianus zunächst zum Caesar (Unterkaiser) und dann zum formal gleichgestellten Augustus erhob, wurde das Mehrkaisertum für fast zwei Jahrhunderte zur Regel. Der für den Westen zuständige Kaiser residierte nun meist in der Nähe der Grenzen, manchmal in York oder in Mailand, oft auch in Trier – wie bereits die Kaiser des Imperium Galliarum. 293 vollendete Diokletian das System der Tetrarchie (»Viererherrschaft«), indem er den beiden Augusti die Caesares Constantius und Galerius mit jeweils eigenen Zuständigkeitsbereichen an die Seite stellte.42 Er selbst genoss als dienstältester Kaiser (senior Augustus) weiterhin unbestritten die größte Autorität im Gesamtreich. Dieses institutionalisierte Mehrkaisertum erfüllte zunächst seinen Zweck. In teils harten Kämpfen sicherten die Mitglieder des Kollegiums die Grenzen und unterdrückten Rebellionen, darunter im Westen insbesondere die Usurpation des Carausius in Britannien sowie in Gallien und Hispanien die Bewegung der so genannten Bagauden,43 ein bis heute rätselhaftes Phänomen, das im 5. Jahrhundert nochmals auftreten sollte. Doch nach einigen Jahren gelang es den vier Kaisern, aller zentrifugalen Tendenzen vorerst Herr zu werden und das Restaurationswerk 298 überdies durch einen vorteilhaften Friedensschluss mit den Persern zu krönen. Wohl recht bald wurde zudem deutlich, dass die Caesares beizeiten in die Position der Augusti nachrücken sollten. Das war bemerkenswert. Denn der iunior Augustus Maximianus hatte einen Sohn, Maxentius. Der Caesar Constantius besaß sogar mehrere Söhne, darunter Konstantin, der allerdings wahrscheinlich ei41 Vgl. Drinkwater 1987. 42 Vgl. Kolb 1987. 43 Aur. Vict. 39,17.
25
3 Voraussetzungen: Der römische Westen bis 395
ner illegitimen Verbindung entstammte. Für Maxentius und Konstantin aber war zunächst kein Platz im Kaiserkollegium vorgesehen. Das war ungewöhnlich. Die römischen Kaiser bzw. principes hatten in Hinblick auf die Regelung ihrer Nachfolge von Anfang an eigentlich immer das dynastische Prinzip favorisiert. Doch da das Kaisertum seine Ursprünge als irreguläres Ausnahmeamt – formal war Rom stets eines res publica – niemals ganz verleugnen konnte, kam es nie zur Entstehung einer unbestrittenen Sukzessionsregelung (u Kap. 9.1). Der Anspruch der Soldaten, einen Kaiser ihrer Wahl ausrufen zu dürfen, war im Laufe der Jahrzehnte eher größer als kleiner geworden, obwohl es zugleich gerade im militärischen Milieu von jeher einen Hang zu dynastischer Loyalität gab: Wenn der nächste männliche Verwandte des princeps kein formales Anrecht auf die Nachfolge beanspruchen konnte, war der Herrscherwechsel eine gute Gelegenheit, Privilegien und Loyalitäten neu zu verhandeln.44 Zudem behielt ein Augustus, der noch keinen Nachfolger designiert hatte, die alleinige Macht und musste nicht fürchten, als ein Mann von gestern, als lame duck (»lahme Ente«), vorzeitig an den Rand gedrängt zu werden. Die meisten Herrscher versuchten zwar trotzdem, eine eigene Dynastie zu gründen, doch nach dem Ende der Severer gelang dies jahrzehntelang nicht mehr. Wie die meisten Soldatenkaiser vor ihm hatte Diokletian seine Herrschaft mit einer Usurpation gegen einen dynastisch legitimierten Kaiser begonnen. Dass die Vorstellung, Verwandtschaft spiele keine zentrale Rolle, in seinem Umfeld daher bereits vor der Erweiterung der Herrschaft zur Tetrarchie verbreitet wurde, zeigt der unter dem Namen Mamertinus überlieferte Panegyricus, der 289 in Trier auf Maximianus gehalten wurde.45 »Nun seid ihr beide die Großzügigsten, beide die Tapfersten; und durch genau diese Ähnlichkeit zwischen euch beiden seid ihr immer einträchtiger und, was zuverlässiger ist als jede Blutsverwandtschaft (consanguinitas), durch eure Tugenden wie Brüder.«
44 Vgl. Börm 2015a: 240–243. 45 Pan. Lat. X (II) 9,3.
26
3.1 Diokletian und die Tetrarchie
Zwar lag es in der Natur der Sache, dass ein System, das den Anspruch erhob, es seien herausragende Taten und Tugenden, die zur Herrschaft berechtigten, nicht frei von Rivalität blieb. Aber die Überlegenheit der beiden Augusti stand fest; und die auctoritas des senior Augustus Diokletian wurde von den übrigen drei Kaisern offenbar nie wirklich in Frage gestellt.46 Das Mehrkaisertum erleichterte die Kontrolle des Heeres und erhöhte die Effizienz der Verwaltung. Die zeitweilig drohende Desintegration des Imperiums war abgewendet worden. Vor allem aber verringerte Diokletians Arrangement die Wahrscheinlichkeit von Usurpationen und Bürgerkriegen, die das Imperium Romanum in den Jahren zuvor so massiv erschüttert hatten. So hatte es ein Prätendent jetzt gleich mit dem ganzen Kaiserkollegium zu tun. Und wichtiger noch: Wenn in überschaubaren Intervallen freie Plätze in der Tetrarchie zur Verfügung standen, konnte das neue System prinzipiell jedem eine Perspektive bieten, gewaltlos an die Macht zu kommen. Die Rolle als Imperator Caesar Augustus sollte offenbar in die reguläre militärische Laufbahn integriert werden. Diokletians Absicht, die Bedeutung der consanguinitas als Faktor für die Nachfolge im Kaisertum zurückzudrängen, wird oft als der entscheidende Fehler gesehen, der sein System bald nach seinem Rücktritt in den Kollaps geführt habe. Doch da dem Augustus, der ansonsten einen klaren Blick für die Realitäten bewies, bewusst gewesen sein muss, wie groß die entsprechenden Anhänglichkeiten gerade bei den Soldaten waren, darf man annehmen, dass er hierfür gute Gründe hatte: Die zumindest teilweise Abkehr vom dynastischen Denken war seine Antwort auf die Bürgerkriege des 3. Jahrhunderts. Denn ehrgeizige Feldherren konnten nun darauf hoffen, beizeiten friedlich in die Tetrarchie aufgenommen zu werden, ohne gegen eine herrschende Familie kämpfen zu müssen.47 Falls Vakanzen nicht auf natürlichem Wege, durch das Ableben der Kaiser, entstanden, mussten daher in gewissen Abständen Augusti abtreten, um zu gewährleisten, dass das System seine Hauptaufgabe, die 46 Aur. Vict. 39,29. 47 Vgl. Börm 2015a: 243–245.
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3 Voraussetzungen: Der römische Westen bis 395
Vermeidung von blutigen Machtkämpfen, erfüllen konnte. Genau dies geschah im Mai 305, als Diokletian und Maximianus zurücktraten;48 und genau aus diesem Grund konnte man anschließend unmöglich einfach die leiblichen Kaisersöhne Konstantin und Maxentius in das Kollegium aufrücken lassen und damit verdienten Männern den Aufstieg verwehren. Die weitgehende Hintanstellung der Blutsverwandten war ein notwendiger Teil des Systems. Neben die neuen Augusti Galerius und Constantius I. traten darum als Caesares Maximinus Daia (immerhin ein Neffe des Galerius) und Valerius Severus.49
3.2
Die Konstantinische Dynastie
Die Tetrarchie Diokletians scheiterte vor allem an dem Umstand, dass Constantius I. bereits im Sommer 306 starb, bevor sich sein Sohn Konstantin I. (306–337) eine reguläre Aufnahme in das Herrscherkollegium durch eigene Leistungen hätte verdienen können. Konstantin wurde in York von den Legionen seines Vaters zum Kaiser ausgerufen und etablierte seine Herrschaft zunächst im Westen. Während gelegentlich bezweifelt wird, dass er ein Usurpator war,50 steht fest, dass sich neue Machtkämpfe und jahrelange Bürgerkriege anschlossen, an deren Ende er ab 324 als alleiniger Augustus das Gesamtreich beherrschte. Er führte die administrativen Reformen Diokletians fort, reorganisierte die Armee und stabilisierte die römischen Grenzen.51
48 Zon. 12,32. Sehr feindselig ist die Darstellung der Vorgänge bei Lactanz (Mort. Pers. 18 f.). 49 Unklar ist, ob Diokletian vielleicht unterschiedliche Nachfolgeregeln für Iovii und Herculii vorgesehen hatte. Durften Iovii ihre Stellung vererben? 50 Prominent vertreten wird diese Position z. B. von Barnes 2011: 61–63. Vgl. dagegen z. B. Szidat 2010: 415. 51 An Literatur zu Konstantin herrscht kein Mangel. Einen innovativen Ansatz bietet van Dam 2007. Vgl. auch Barnes 2011, Bardill 2012 und Wienand 2012.
28
3.2 Die Konstantinische Dynastie
Vor allem aber entschied er sich für eine gezielte Förderung des Christentums52 und, kaum weniger wichtig, für eine ausdrückliche Betonung des dynastischen Prinzips: Da sein eigener Anspruch auf die Herrschaft zunächst vorwiegend auf seiner Abstammung von einem Kaiser beruht hatte, war es nur folgerichtig, dass nun im offenen Widerspruch zur diokletianischen Ordnung die Bindung der Macht an eine einzige Familie ausdrücklich propagiert wurde.53 Wenngleich es auch im weiteren Verlauf der Spätantike nie gelingen sollte, eine unumstößliche Thronfolgeregelung zu etablieren, so stand spätestens seit Konstantin dennoch fest, dass zumindest die leiblichen Söhne eines Augustus kaum auf unblutige Weise von der Macht ausgeschlossen werden konnten.54 Als der Kaiser im Mai 337 starb, hatte er noch weitere wesentliche Weichen gestellt. Die oft unruhigen Grenzen in Britannien, Nordafrika und am Rhein waren durch Machtdemonstrationen erneut gesichert worden, aber zugleich hatte er durch die Gründung der neuen Residenzstadt Konstantinopel (mit einem zweiten Senat, der später dem römischen formal gleichgestellt wurde) wesentliche Voraussetzungen dafür geschaffen, dass sich im Osten des Imperiums mittelfristig ein zweites Machtzentrum etablieren konnte. Nach seinem Tod blieb die Nachfolgefrage monatelang ungeklärt. Konstantin selbst hatte augenscheinlich eine Rückkehr zum tetrarchischen Mehrkaisertum vorgeschwebt, wobei seine beiden ältesten Söhne Constantius II. und Konstantin II. wohl die Rolle der Augusti hätten übernehmen sollen, unterstützt vom jüngeren Bruder Constans und ihrem Cousin Dalmatius als Caesares.55 Doch dazu kam es nicht. Wer die Hintermänner des Massakers waren, bei dem die meisten männlichen Verwandten des toten Kaisers ums Leben kamen, ist umstritten.56 Sicher ist nur, dass danach die Brüder Constans, Constantius II. und Konstantin II. das Reich als Augusti untereinander aufteilten.
52 Vgl. zur Konstantinischen Wende Girardet 2006 (teils umstritten) und Wienand 2016. 53 Vgl. z. B. Pan. Lat. VII (VI) 2,2.5. 54 Vgl. Börm 2015a: 246–251. 55 Vgl. Zos. 2,39. 56 Vgl. Burgess 2008.
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3 Voraussetzungen: Der römische Westen bis 395
Die beiden westlichen Drittel fielen dabei Constans und Konstantin II. zu, doch letzterer fand bereits 340 den Tod, als er vergeblich versuchte, Constans gewaltsam seine Oberhoheit aufzuzwingen.57 Fortan stand das Imperium Romanum unter der Samtherrschaft der beiden verbliebenen Brüder. Constantius II. herrschte im Osten, Constans im Westen, wobei sein Herrschaftsbereich größer war als der seines Mitkaisers. Ein Mehrkaisertum konnte aber nur unter der Voraussetzung funktionieren, dass die Hierarchie feststand, und auch ein Kollegium aus dynastisch legitimierten Herrschern barg stets Konfliktpotential, denn die Primogenitur (Erstgeborenenrecht) gab in Rangfragen keineswegs den Ausschlag. Dies hatte bereits 211 der tödliche Konflikt zwischen Geta und Caracalla, den Söhnen des Septimius Severus, gezeigt.58 Das Verhältnis zwischen den verbliebenen Brüdern war denn auch diesmal keineswegs spannungsfrei; neben die grundsätzliche Rivalität um das letzte Wort im Gesamtreich traten religiöse Konflikte, da die beiden Herrscher unterschiedlichen christlichen Lehren zuneigten.59 Obwohl er recht erfolgreiche Feldzüge am Rhein und in Britannien durchgeführt zu haben scheint, wurde Constans allerdings 350 ermordet, nachdem der nicht mit der Dynastie verwandte Offizier Magnentius in Autun von den Truppen zum Kaiser ausgerufen worden war. Damit war eingetreten, was das diokletianische System einst hatte verhindern sollen: Ein ehrgeiziger Militär griff gewaltsam nach dem Purpur, da ihm aufgrund der Bindung des Kaisertums an eine Familie kein friedlicher Weg an die Macht offenstand. Constantius II., der letzte überlebende Sohn Konstantins I., weigerte sich, den Usurpator anzuerkennen. Der damit unausweichlich gewordene Bürgerkrieg war besonders für den Westen des Römischen Reiches folgenreich, denn in der ungemein blutigen Schlacht bei Mursa fand im September 351 die Elite des weströmischen Heeres den Tod. Der byzantinische Geschichtsschreiber Zonaras berichtet unter Rück-
57 Vgl. Bleckmann 2003. 58 Herodian 4,3–6. Caracalla handelte damals zuerst, tötete seinen Bruder und Mitkaiser und bemühte sich in den Jahren bis zu seiner eigenen Ermordung vergebens darum, diesen Makel auszugleichen. 59 Vgl. Barceló 2004: 78–91.
30
3.2 Die Konstantinische Dynastie
griff auf ältere Quellen, zwei Drittel der Armee des Magnentius seien gefallen.60 Vielleicht hat man versucht, die dadurch gerissenen Lücken durch einen verstärkten Rückgriff auf Soldaten, die außerhalb des Imperiums geboren worden waren, rasch zu füllen. Zwei Jahre später wurde der Usurpator aber erneut geschlagen und nahm sich das Leben. Constantius II. war nun der alleinige Augustus. Doch da die östlichen Provinzen wieder von den Persern bedroht wurden, hatte er bereits 351 seinen Verwandten Gallus, wie er ein Enkel Constantius’ I., zum Caesar erhoben und mit der Aufsicht über den Orient betraut, bevor er in den Kampf gegen Magnentius gezogen war. Fränkische und alamannische Gruppen hatten den römischen Bürgerkrieg derweil ausgenutzt, um die entblößten Grenzen zu durchbrechen und plündernd in Gallien einzufallen, und Constantius II. vermochte es trotz erheblicher Anstrengungen nicht, die Lage nachhaltig zu stabilisieren.61 Dies gelang erst Julian (355–363), dem Bruder des Gallus, der nach dessen Absetzung und Hinrichtung 355 als Caesar in den Westen entsandt wurde, um dort als Vertreter des Herrscherhauses Präsenz zu zeigen.62 Denn andernfalls drohten neue Usurpationen, und es war nicht damit zu rechnen, dass diese immer so rasch zusammenbrechen würden wie jene des Silvanus, der kurz zuvor in Köln von seinen eigenen Männern erschlagen worden war.63 357 errang Julian nahe Straßburg einen Sieg über eine Koalition alamannischer Fürsten und kämpfte in den Folgejahren erfolgreich auch jenseits des Rheins.64 Diese Konsolidierung des Westens wurde aber wieder in Frage gestellt, als sich Julian im Jahr 360 von seinen Truppen gegen den Willen des Constantius II. in Paris zum Augustus ausrufen ließ und 361 mit einem Heer nach Osten aufbrach, um den Konflikt militärisch auszutragen. Der plötzliche Tod des Constantius verhinderte diesen erneuten
60 Zon. 13,8,17. 61 Vgl. Rollinger 1998. 62 Eine erhellende Skizze zur Zeit von Julian bis Theodosius bietet Errington 2006. 63 Amm. 15,5,15–31; Aur. Vict. 42,14–16. 64 Vgl. zu den Alamannen Drinkwater 2007 (grundlegend).
31
3 Voraussetzungen: Der römische Westen bis 395
Bürgerkrieg, doch Julian richtete seine Aufmerksamkeit fortan auf den Osten des Reiches und starb 363 während eines ebenso aufwändigen wie desaströsen Perserfeldzugs.65 Mit dem Tod seines kurzlebigen Nachfolgers Jovian im Februar 364 endete die nur gut zweijährige Phase einer Alleinherrschaft über das Gesamtreich, denn der neue Kaiser Valentinian I. (364–375) erhob bereits Wochen später seinen jüngeren Bruder Valens (364–378) zum zweiten Augustus. Er übertrug ihm die Herrschaft über den Orient und übernahm selbst den Westen, einschließlich des größten Teils des Balkanraumes. Fortan sollte es bis 423 niemals weniger als zwei Augusti im Gesamtreich geben.
3.3
Die Valentinianische Dynastie
Valentinian I. residierte zumeist in Trier und führte eine Reihe von Militäroperationen durch, die trotz mancher Rückschläge eine erneute Stabilisierung der Grenzen bewirkten. Flankiert wurden sie durch ein umfassendes Festungsbauprogramm am Rhein, das für lange Zeit ein Fundament weströmischer Grenzsicherung werden sollte. Daneben bemühte sich Valentinian nach Ausweis der erhaltenen Gesetze um eine Förderung und Stärkung der civitates. Obwohl die beiden Kaiser Brüder waren, kam es anders als zur Zeit der Söhne Konstantins offenbar nicht zu nennenswerten Spannungen, da Valens den Purpur allein seinem älteren Bruder als seinem auctor imperii verdankte. Gerade weil daher die Rangfrage nicht zur Diskussion stand, war es Valentinian möglich, seinen Bruder faktisch als gleichberechtigten Partner zu behandeln.66 Dieser Umstand überdeckte selbst etwaige Konflikte, die unterschiedliche religiöse Vorstellungen der beiden Kaiser provoziert haben mögen. Es hieß später, Valens habe sich in diesem Punkt bewusst zu65 Vgl. Mosig-Walburg 2009: 283–304. 66 Vgl. zum Regierungsstil Valentinians I. ausführlich Schmidt-Hofner 2008.
32
3.3 Die Valentinianische Dynastie
rückgehalten, solange sein Bruder lebte.67 Bedeutsamer war, dass die beiden Augusti, die einander nach 364 nie wieder begegneten, in den folgenden Jahren weitgehender denn je die beiden Herrschaftsgebiete jeweils unabhängig verwaltet zu haben scheinen. Die administrative Trennung war keineswegs vollkommen, da Truppenverschiebungen und der Austausch von Beamten in eingeschränktem Maß weiter vorkamen; de iure waren beide Kaiser Herrscher im ganzen, ungeteilten Römischen Reich, wie sich an Gesetzen und Inschriften ablesen lässt. Dennoch wurde durch die Maßnahme von 364 in der Praxis nicht wenig von dem vorweggenommen, was man traditionell zumeist erst mit dem Jahr 395 in Verbindung bringt.68 Bereits 367 wurde Valentinians 359 geborener Sohn Gratian zum Augustus erhoben, um die Nachfolge eindeutig zu regeln, doch faktisch regierte sein Vater bis zu seinem unerwarteten Tod im November 375 den römischen Westen alleine. Erst jetzt übernahm Gratian tatsächlich die Herrschaft im Westen, musste allerdings akzeptieren, dass die Truppen in Pannonien seinen erst vierjährigen Halbbruder Valentinian II. ebenfalls zum Kaiser ausriefen. Dass Herrscherkinder früh mit dem Purpur bekleidet wurden, war zu dieser Zeit bereits nichts Ungewöhnliches mehr,69 aber Valentinian II. stellt insofern eine wichtige Zäsur dar, als ihm tatsächlich ein eigener Reichsteil übertragen wurde: Während Gratian das Gebiet der gallischen Prätorianerpräfektur (Britannien, Hispanien und Gallien) übernahm, unterstanden Italien, Africa und das Illyricum fortan offiziell der Autorität Valentinians. Man kann ihn daher als den ersten in einer Reihe spätantiker Kaiser bezeichnen, die faktisch regierungsunfähig auf den Thron gelangten und darum zumindest anfangs ganz von ihrer Umgebung abhingen. Ohne die verstärkte Betonung dynastischen Denkens seit Konstantin wäre dies kaum möglich gewesen. Ein Augustus wie Valentinian II. war nun vor allem ein Symbol des Reichsgedankens, legitimiert vornehmlich durch seine kaiserliche Abstammung sowie, in zunehmendem Maße, durch den Anspruch auf Rechtgläubigkeit und göttliche Zustimmung. 67 Oros. 7,32,6. 68 Vgl. Drijvers 2015. 69 Vgl. zu den weströmischen Kindkaisern McEvoy 2013.
33
3 Voraussetzungen: Der römische Westen bis 395
Nach dem Tod Kaiser Valentinians I. verschlechterte sich das Verhältnis zwischen West und Ost, denn der nunmehrige senior Augustus Valens sah sich seinen beiden Neffen an Rang überlegen. Diese Spannungen traten zu einem für das Gesamtreich unglücklichen Zeitpunkt auf: 376 bat eine große Zahl an Menschen, die die Quellen als »Goten« bezeichnen, um Aufnahme in das Imperium Romanum. Kurz zuvor waren bislang unbekannte Kriegerverbände, die man »Hunnen« nannte, gewaltsam nach Westen vorgestoßen und hatten eine Fluchtbewegung ausgelöst. Der zuständige Kaiser Valens gewährte den Flüchtlingen Aufnahme und wies die lokalen Autoritäten an, die Donauüberquerung sowie die Versorgung und Ansiedlung der Neuankömmlinge zu organisieren. Doch die römischen Entscheidungsträger vor Ort versagten auf ganzer Linie, und ein großer Teil der Goten erhob sich in einer Rebellion und besiegte mehrere römische Einheiten.70 Valens sah sich schließlich gezwungen, selbst mit einem großen Heer nach Thrakien zu ziehen; zugleich rückte ungeachtet aller Rivalität auch Gratian mit weströmischen Truppen an, um seinen Onkel zu unterstützen. Es steht fest, dass Valens, der den erwarteten Sieg nicht mit seinem Neffen teilen wollte, angriff, ohne auf die herannahenden westlichen Legionen zu warten,71 und eine katastrophale Niederlage erlitt, bei der er gemeinsam mit dem größten Teil seiner Armee den Tod fand. Es war lange üblich, mit dieser Schlacht von Adrianopel die Zeit der »Völkerwanderung« beginnen zu lassen.72
70 Vgl. zu den Ereignissen Lenski 2002: 320–368; Heather 2005: 145–190; Kulikowski 2007: 123–143. 71 Amm. 31,12,7. 72 Vgl. z. B. Burns 1994; Martin 1995; Krautschick 2000; Pohl 2005; Halsall 2007; Fehr/Von Rummel 2011.
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3.4 Theodosius I.
3.4
Theodosius I.
Was sich anschloss, fasste ein unbekannter gallischer Chronist73 einige Jahrzehnte später knapp zusammen: »Da Gratian nur einen ziemlich kleinen Bruder als herrscherlichen Kollegen hatte, zog er einen Mann geeigneten Alters, Theodosius, als Mitherrscher heran.« Einige Monate nach Adrianopel wurde Theodosius I. (379–395) also zum Augustus des Ostens erhoben, wobei Gratian zweifellos nur in höchster Not darauf verfiel, einen Mann, der nicht mit dem Herrscherhaus verwandt war, mit dem Purpur zu bekleiden. Angesichts der Krise wurde in beiden Reichshälften ein tatkräftiger Militär benötigt, und nachdem Theodosius, der zunächst lediglich zum magister militum (Heermeister) ernannt worden war, erste Erfolge errungen hatte, hatte man wohl befürchtet, dass er früher oder später eigenmächtig nach dem Kaisertum streben würde. Theodosius konnte den Balkanraum vorläufig stabilisieren; ob er 382 ein foedus mit den Goten schloss, das als Prototyp der folgenden Abkommen zwischen Römern und »barbarischen« Verbänden gelten könnte, ist dabei seit langer Zeit umstritten.74 Während Valens noch oft in Antiochia residiert hatte, etablierte der neue Augustus zudem Konstantinopel endgültig als das Zentrum der östlichen Reichshälfte und profilierte sich als Religionspolitiker.75 Das Arrangement von 379 hatte nur wenige Jahre Bestand. Wohl im Frühjahr 383 erhob sich der dux Britanniae Magnus Maximus gegen Gratian und setzte mit dem Kern der britannischen Truppen nach Gallien über, wo er rasch Unterstützung gewann.76 Offensichtlich herrschte in wesentlichen Teilen des Westens große Unzufriedenheit mit Gratian, der sich augenscheinlich von einem erheblichen Teil der Truppen und Provinzialen entfremdet hatte. Als er dem Usurpator mit einem
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Chron. Gall. a 452 (ad ann. 379). Vgl. Martin 1995: 166 f.; Halsall 2007: 180–185. Die beste deutschsprachige Darstellung zu Theodosius I. ist Leppin 2003a. Vgl. zu Magnus Maximus Halsall 2007: 519–526; Leedham 2010 (populärwissenschaftlich). Laut Zosimus sah sich Maximus durch die Kaisererhebung des Theodosius provoziert, da er sich übergangen fühlte; Zos. 4,35.
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3 Voraussetzungen: Der römische Westen bis 395
Heer entgegen zog, desertierten so viele seiner Einheiten, dass es gar nicht erst zum Kampf kam. Dem flüchtenden Kaiser verschlossen mehrere civitates die Tore, und im August 383 wurde er nahe Lyon erschlagen. Wie schon im Zusammenhang der Erhebung des Magnentius hatte sich erneut gezeigt, wie fragil die Position der kaiserlichen Zentrale im Westen im Grunde war. Maximus etablierte seine Herrschaft wie zuvor Gratian in einem Gebiet, das ungefähr dem einstigen Imperium Galliarum entsprach, wählte als Hauptresidenz Trier und wurde nach Ausweis der Münzen zunächst von Theodosius und, notgedrungen, auch vom weitgehend machtlosen senior Augustus Valentinian II. anerkannt.77 Letzterer scheint sich zunehmend zu einer tragischen Gestalt entwickelt zu haben. Er und seine Berater gerieten in einen zumindest äußerlich konfessionell bedingten Konflikt mit dem machtbewussten Bischof Ambrosius von Mailand, in dem man zuletzt eine deutliche Niederlage und einen erheblichen Prestigeverlust hinnehmen musste.78 Der Hof hatte sich daher bereits nach Aquileia zurückgezogen, als die Nachricht eintraf, dass Magnus Maximus mit einem Heer heranrücke. 387 floh Valentinian II. vor ihm in den Reichsteil des Theodosius. Dieser heiratete Valentinians Schwester Galla und fand damit Anschluss an die valentinianische Dynastie. Der Ehe entstammte eine Tochter namens Galla Placidia, die ein bewegtes Schicksal erwartete. Anschließend begann man den Krieg gegen Maximus, der in zwei erneut sehr blutigen Schlachten besiegt und im August 388 öffentlich enthauptet wurde.79 Offensichtlich hatte sich die oströmische Armee inzwischen von ihrer Niederlage bei Adrianopel erholt. Obwohl Theodosius bereits 383 seinen Sohn Arcadius zum Augustus erhoben hatte, wurde diesem zunächst kein eigener Reichsteil zugewiesen; stattdessen setzte man Valentinian II. als nunmehr alleinigen Kaiser des Westens ein. Er residierte in Gallien. Doch nach Ausweis der Quellen lag die Macht in Wahrheit nicht bei ihm, sondern bei dem magister militum Arbogast.80 Oft wird vermutet, dieser habe sich, ge77 Vgl. Baldus 1984. 78 Soz. HE 7,13. 79 Vgl. Leppin 2003a: 113–115. Orosius spielt die Verluste demonstrativ herunter; Oros. 7,35,3–6. 80 Vgl. dazu Croke 1976 und Flaig 2005 (problematisch, aber anregend).
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3.4 Theodosius I.
stützt auf loyale Truppen, selbst zum Heermeister gemacht, doch ist dies umstritten und eher unwahrscheinlich.81 Folgt man dem – allerdings in manchen Punkten irreführenden – Bericht bei Zosimus, so beanspruchte Arbogast jedenfalls bald eine weitgehend unabhängige Stellung und quittierte den Versuch Valentinians, ihn seiner Stellung zu entheben, mit den Worten: »Weder hast du mir das Kommando übertragen, noch kannst du es mir entziehen«.82 Im Mai 392 fand man den Augustus des Westens erhängt in seinem Palast, und obwohl in den Quellen vielfach behauptet wird, sein Heermeister habe ihn ermordet, spricht alles dafür, dass der gedemütigte junge Kaiser schlicht keinen Ausweg mehr gesehen hatte.83 Arbogast und der Hof meldeten den Vorfall im Osten und warteten drei Monate lang auf die Entsendung eines neuen Kaisers für den westlichen Reichsteil. Als Theodosius nicht handelte, rief man schließlich einen gewissen Eugenius zum Augustus aus.84 Dieser bemühte sich, wie seine Münzen und eine berühmte Inschrift85 aus Köln belegen, monatelang um die Anerkennung durch den Ostkaiser, während er und Arbogast sich zugleich demonstrativ um die Sicherung der Rheingrenze kümmerten. Doch als im Frühling 393 bekannt wurde, dass Theodosius inzwischen seinen jüngeren Sohn Honorius zum Augustus erhoben hatte, statt Eugenius anzuerkennen, muss diesem bewusst geworden sein, dass ein erneuter Bürgerkrieg bevorstand. Der Kaiser des Ostens bereitete den Konflikt nicht nur militärisch, sondern auch ideologisch so gut vor, dass der anschließende Schlagabtausch jahrhundertelang als Kampf zwischen dem Christen Theodosius und seinen offen oder versteckt altgläubigen Feinden interpretiert worden ist. Doch in der wiederum äußerst blutigen Schlacht am Frigidus, in der im September 394 die Elite der weströmischen Armee gemeinsam mit 81 Auch wenn Zosimus (4,53,3) behauptet, Arbogast habe sein Amt usurpiert, ist wahrscheinlicher, dass er von Theodosius eingesetzt worden war, um Valentinian zu kontrollieren. 82 Zos. 4,53,3: οὔτε δέδωκάς μοι τὴν ἀρχὴν οὔτε ἀφελέσθαι δυνήσῃ. 83 Vgl. Szidat 2012: 371. 84 Vgl. Leppin 2003a: 205–212. 85 CIL XIII 8262.
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3 Voraussetzungen: Der römische Westen bis 395
einer großen Zahl für den Osten kämpfender Goten den Tod fand, ging es nicht um Religion, sondern um die Macht.86 Theodosius duldete keinen dynastiefremden Teilhaber am Kaisertum. Arbogast und Eugenius überlebten ihre Niederlage nicht. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass nun bereits zum dritten Mal in Folge die Truppen des Ostens jene des Westens geschlagen hatten. Früher hatte in Bürgerkriegen dagegen vielfach – nicht immer – jene Partei gesiegt, die Italien kontrollierte: Caesar schlug Pompeius, Octavian den Antonius, Septimius Severus den Pescennius Niger, zuletzt Konstantin den Licinius. Vielleicht lässt diese Entwicklung bereits Rückschlüsse auf eine grundlegende Verschiebung im Kräfteverhältnis zu. Nur Monate später trat dann überraschend jenes Ereignis ein, mit dem man traditionell die weströmische Geschichte im engeren Sinne beginnen lässt: Theodosius starb im Januar 395, kurz nachdem der zehnjährige Honorius bei ihm in Mailand eingetroffen war. Arcadius, der ältere Sohn und nunmehrige senior Augustus, war inzwischen knapp 18 Jahre alt und in Konstantinopel geblieben. Obwohl Theodosius zu keinem Zeitpunkt der alleinige Augustus im Imperium Romanum gewesen war, hatte er in den 16 Jahren seiner Herrschaft doch Ost und West seinen Stempel aufgedrückt87 und in zwei Bürgerkriegen seinen Anspruch, im Gesamtreich das letzte Wort zu haben, durchgesetzt. Das vergangene Jahrhundert hatte zugleich gelehrt, dass das Römische Reich stets mindestens zweier Kaiser bedurfte, um beherrschbar zu bleiben. Und so mochte es 395 den Anschein haben, als wiederholten sich nun die Zeiten, als die Brüder Constantius II. und Constans oder Valentinian I. und Valens gemeinsam das Imperium beherrscht hatten. Denn diesmal standen die beiden Söhne des Theodosius als Nachfolger bereit.
86 Vgl. bereits Szidat 1979. 87 Vgl. Leppin 2003a: 229–239.
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3.5 Das Römische Reich am Ende des 4. Jahrhunderts
3.5
Das Römische Reich am Ende des 4. Jahrhunderts
Blickt man zurück auf die römische Geschichte des 4. Jahrhunderts, so lässt sich bereits eine ganze Reihe von Phänomenen und Strukturen beobachten, die auch für die Zeit nach 395 bedeutsam sein sollten: Außer zwischen 324 und 337 und zwischen 353 und 364 herrschte niemals ein einziger Augustus über das Gesamtreich, vielmehr war ein Mehrkaisertum mit einer regionalen Arbeitsteilung die Regel. Seit 364 waren dabei alle Herrscher, die einen eigenen Zuständigkeitsbereich hatten, Augusti; sie verfügten über einen weitgehend eigenständigen Apparat. Das Mehrkaisertum erschien einerseits notwendig, um das Imperium Romanum überhaupt beherrschbar zu halten, trug aber andererseits fraglos dazu bei, die Bedeutung regionaler Sonderinteressen steigen zu lassen. Zugleich wurde allerdings an der Vorstellung, die Kaiser beherrschten gemeinsam ein einziges Reich, unbeirrt festgehalten.88 Dies provozierte Rangstreitigkeiten: Bald nach 400 beklagte Sulpicius Severus, das Mehrkaisertum habe ständige Konflikte zwischen den Herrschern zur Folge, was wiederum zum Eindringen barbarischer Krieger in das Reich führe.89 Wichtig war daneben der Umstand, dass das dynastische Prinzip seit Konstantin I. stärker denn je ein zentrales Element der Herrschaftslegitimation wurde. Darüber hinaus setzte man seit 312 mit wachsender Konsequenz auf eine Förderung des Christentums, eine Entscheidung, die fraglos (auch) dazu gedacht war, die Akzeptanz der prekären römischen Alleinherrschaft zu vergrößern,90 die durch die Verwicklung der Herrscher in dogmatische Konflikte aber gleichzeitig neue Probleme schuf. Spätestens mit Theodosius I. wurde die Verbindung zwischen Kaiser und Christentum so eng, dass man – mit gewissen Vorbehalten – von einer »Staatsreligion« sprechen kann.
88 So gab es weiterhin nur ein römisches Bürgerrecht für West und Ost. 89 Sulp. Sev. Chron. 2,3,2. 90 Vgl. zur komplexen Beziehung zwischen Monotheismus und Monarchie Rebenich 2012: 1188–1192.
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3 Voraussetzungen: Der römische Westen bis 395
Anders als spätere Kaiser zogen die Herrscher des 4. Jahrhunderts noch oft selbst als Feldherren in den Krieg.91 Dabei führten sie das Kommando über Armeen, deren Soldaten nicht nur »barbarischer« aussahen als während der Prinzipatsepoche, sondern die immer häufiger als formal reichsfremde foederati unter eigenen Anführern kämpften (u Kap. 11.2).92 Das Schicksal Valentinians II. machte zudem deutlich, dass sich dann, wenn der Kaiser nicht mehr selbst in die Schlacht zog, die Spielräume für hohe Militärs erheblich vergrößern konnten, sofern keine wirksamen Gegenmaßnahmen ergriffen wurden.93 Das Beispiel Arbogasts hatte dabei angedeutet, was einem erfolgreichen Heermeister unter diesen Bedingungen möglich war. Die Reformen Diokletians und Konstantins hatten faktisch eine Trennung zwischen dem militärischen und dem zivilen Arm des kaiserlichen Apparates bewirkt. Es gab nun also kaum noch Männer, die durch ihre Laufbahn mit beiden Sektoren verbunden waren, und die Machtbalance zwischen den Bereichen war empfindlich. Wiederholt zeigten sich überdies latente Spannungen zwischen der kaiserlichen Zentrale und der Peripherie, die im 3. und 4. Jahrhundert immer wieder zu offener Rebellion und Usurpationsversuchen eskalierten. Die Anerkennung der kaiserlichen Herrschaft war das wichtigste einigende Band, das verhinderte, dass Partikularinteressen übermächtig wurden. Insbesondere seitdem das Bürgerrecht (civitas Romana) dank Caracalla seine Relevanz als Distinktionskriterium teilweise eingebüßt hatte, war ein »Römer« vor allem derjenige, der die herrscherliche Autorität der Augusti anerkannte. Dies war die Klammer, die das Imperium Romanum zusammenhielt. Die Kaiser hatten dabei insbesondere die innere und äußere Sicherheit des Reiches zu gewährleisten. Sahen Soldaten und lokale Eliten ihren persönlichen Vorteil bedroht und zweifelten an der Macht der Zentralgewalt, so konnte ihre Loyalität ins 91 Vgl. zur Beziehung zwischen Kaiser und Soldaten im 3. und 4. Jahrhundert Hebblewhite 2017. Im 6. Jahrhundert behauptet Johannes Lydus (de Mag. 2,11,3 f.), Theodosius I. habe angeordnet, dass die Kaiser fortan die Heerführung den magistri militum überlassen sollten, aber hierbei dürfte es sich um eine nachträglich erfundene Erklärung handeln. 92 Vgl. Schwarcz/Steuer 1995. 93 Vgl. Lee 2015.
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3.5 Das Römische Reich am Ende des 4. Jahrhunderts
Wanken geraten. Gerade im Windschatten anderer Konflikte war die Versuchung groß, in solchen Fällen eigene Wege zu wählen, und zusammen mit der offenbar gewachsenen Unruhe an den römischen Grenzen ergab sich eine gefährliche Gemengelage.
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4
Stilicho, der Kaiserhof und die Reichseinheit
Stellt das Jahr 395 eine Zäsur innerhalb der römischen Geschichte dar? Überwiegen im Rückblick die Diskontinuitäten die Kontinuitäten? Es gibt gute Gründe, der »Reichsteilung« zwischen Honorius und Arcadius den Charakter einer Epochengrenze abzusprechen,94 nicht zuletzt deshalb, weil es sich im Grunde ja um eine Samtherrschaft zweier Brüder in einem ungeteilten Imperium handelte. Ungefähr 20 Jahre später sollte Orosius betonen, die Kaiser hätten gemeinsam geherrscht und seien nur räumlich getrennt gewesen.95 Er gab damit zweifellos die offizielle Sichtweise wieder: Es gab nur ein einziges Imperium Romanum. Die zunehmende Trennung zwischen den einzelnen »Regierungsbezirken« hatte lange zuvor eingesetzt und war letztlich eine unausweichliche Konsequenz des Mehrkaisertums mit seiner regionalen Aufgabenteilung. Der letzte Augustus, der kurzzeitig alleine das Gesamtreich beherrscht hatte, war gut 30 Jahre zuvor Jovian gewesen. Die weitgehende administrative Teilung war darum längst Normalität, als Theodosius I. starb. Auf den ersten Blick hätte man 395 sogar darauf hoffen können, dass die Reichsteile wieder enger zusammenrücken würden: Seit dem Tod des Valens 378 waren niemals alle Augusti blutsverwandt gewesen, und zweimal hatte diese Konstellation seither zu Bürgerkriegen geführt. Das neue Kaiserkollegium dagegen bestand aus zwei Brüdern. Es sollte sich allerdings sehr bald zeigen, dass gerade dies nicht zur Harmonie zwischen den beiden Reichshälften beitrug.
94 Vgl. dazu Sandberg 2008. 95 Oros. 7,36,1: commune imperium divisis tantum sedibus.
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4 Stilicho, der Kaiserhof und die Reichseinheit
Ausschlaggebend für die unübersehbaren, teils sogar gewaltsamen Konflikte zwischen Ost und West, die die Entfremdung zwischen den Reichsteilen ab 395 verstärkten, war paradoxerweise gerade das beharrliche Festhalten an der Einheit. Denn in einem geeinten Imperium Romanum unter mehr als einem Kaiser stellte sich genauso wie in den Jahrzehnten zuvor unausweichlich die Frage nach dem Vorrang. Auch in Zeiten eines Mehrkaisertums blieb das spätrömische Reich grundsätzlich eine Monarchie. Zumindest theoretisch musste daher immer einer der Augusti den Vorrang haben, denn in einer Ordnung, in der nach wie vor die Herrschaft des Besten, des optimus, propagiert wurde, konnte es auch in der Spätantike grundsätzlich nur einen princeps geben, also nur einen, der die größte auctoritas besaß.96 Dass auch das Mehrkaisertum durchaus als Monarchie aufgefasst wurde, belegt etwa Porphyrius, der feststellte, eine Alleinherrschaft (μοναρχία) sei nicht etwa dadurch definiert, dass es nur einen einzigen Herrscher gebe, sondern dadurch, dass nur ein einziger wirklich herrsche.97 Dies war unter Diokletian, Konstantin I. (ab 324), Valentinian I. und zuletzt auch unter Theodosius I. der Fall gewesen. Nun aber nicht mehr. Zumindest Honorius war in den ersten Jahren nach 395 politisch zweifellos nicht handlungsfähig und in noch größerem Maße als sein älterer Bruder von seiner Umgebung abhängig. Das ändert jedoch nichts an der Grundkonstellation. Es ging um die Frage, welcher der beiden Kaiserhöfe den Vorrang und damit im Zweifelsfall das letzte Wort beanspruchen durfte, und dies war in einer von Ehrdenken und Hierarchien geprägten Gesellschaft alles andere als nebensächlich. Verschärfend dürfte daher noch die Eifersucht zwischen der westlichen und der östlichen Senatsaristokratie hinzugekommen sein. Bis Valentinian I. war in der Regel die Westhälfte die prestigeträchtigere gewesen, schließlich gehörte zu ihr Italien mit der alten Hauptstadt, der das Reich seinen Namen verdankte. Da der Osten vor allem im Verlauf des 4. Jahrhunderts ein immer deutlicheres ökonomisches Übergewicht erlangt zu haben scheint (obwohl bei solchen Einschätzungen angesichts der Quellenlage Vorsicht geboten ist), war als Ausgleich zumeist 96 Vgl. Szidat 2010: 46–58. 97 Porphyr. apud Macarius Magnes 6,20.
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4 Stilicho, der Kaiserhof und die Reichseinheit
das Illyricum dem Westteil zugeschlagen worden, das insbesondere als Rekrutierungsraum für reguläre Truppen große Bedeutung besaß. Zuletzt aber hatten sich die Gewichte endgültig verschoben, zumal der Westen des Reiches dem Osten zweimal binnen weniger Jahre in bella civilia unterlegen war. Und nun saß der senior Augustus Arcadius auf einmal in Konstantinopel, während sich der westliche Hof, der gehofft haben dürfte, Theodosius werde nach dem Sieg über Eugenius seine Residenz dauerhaft in Italien oder Gallien nehmen, erneut mit dem iunior Augustus begnügen musste. Bedenkt man überdies, dass Westrom erst Monate zuvor auf der Verliererseite eines Bürgerkrieges gestanden hatte, so kann man erahnen, wie sehr sich der Hof gedemütigt gefühlt haben muss. Der Hofpoet Claudian stellte in seinem Panegyricus auf Honorius zwar einerseits fest, sein Leben und das Imperium habe der Kaiser an ein und demselben Tag erhalten.98 Doch zugleich legt er dem sterbenden Theodosius die Worte in den Mund, anders als in Persien werde von einem legitimen römischen Kaiser noch immer auch besondere virtus gefordert: »Sehr anders [als in Persien] ist der Zustand des römischen Herrschers. Es ist Tugend, nicht Blut, die ihn stützen muss.« Neben die Abstammung trat nun also zumindest in der Theorie wieder die persönliche Bewährung.99 Das ist kaum ein Zufall. Wenn man für Honorius, den jüngeren Bruder, trotz allem einen Vorrang beanspruchen können wollte, dann war das dynastische Argument hierfür nicht geeignet.100
98 Claud. 8,160–161. 99 Claud. 8,229–230. 100 Eine zusammenfassende Darstellung der Herrschaftszeit des Honorius bietet nun Doyle 2018.
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4 Stilicho, der Kaiserhof und die Reichseinheit
Karte 2: West- und Oströmisches Reich.
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4 Stilicho, der Kaiserhof und die Reichseinheit
4.1
Stilicho und Konstantinopel
Die außerordentliche Machtstellung im Westen, die sehr bald nach dem Tod des Theodosius der Heermeister Flavius Stilicho erlangte, ist ohne diese Rivalität zwischen den beiden Höfen schlecht erklärbar. Stilicho, Sohn eines romanisierten Vandalen und einer Römerin, war seit 384 mit Serena, der Kusine des Honorius, verheiratet und genoss augenscheinlich das Vertrauen des Theodosius, den er in den Westen begleitet hatte. Was tatsächlich geschah, kurz bevor dieser am 17. Januar 395 plötzlich starb, ist unklar. Gewiss ist nur, dass Claudian spätestens Anfang 396 behauptete, die Vormundschaft über Honorius und Arcadius sei von ihrem sterbenden Vater dem Stilicho übertragen worden, dazu der Oberbefehl über die Truppen.101 Nichts spricht dafür, dass diese Behauptung zutrifft. Allenfalls den kleinen Honorius mag Theodosius seinem Heermeister anvertraut haben, schwerlich aber den bereits fast achtzehnjährigen Arcadius. Ambrosius von Mailand erwähnt in seiner Leichenrede auf Theodosius nichts von einer Vormundschaft,102 die ohnehin nur einen informellen Charakter hätte haben können, da ein römischer Augustus grundsätzlich sui iuris war. Entscheidend ist: Der Anspruch Stilichos auf das letzte Wort im Gesamtreich muss von einflussreichen Kreisen am weströmischen Hof zumindest mitgetragen worden sein. Es ist sogar denkbar, dass es gar nicht der magister militum selbst war, der irgendwann im Verlauf des Jahres 395 auf diesen Einfall kam. Denn fest steht, dass die angebliche Vormundschaft des Heermeisters einen Weg wies, sich nicht dem senior Augustus in Konstantinopel unterordnen zu müssen, sondern den Vorrang des westlichen Hofes behaupten zu können. Es versteht sich, dass der oströmische Hof diesen Anspruch nicht anerkennen konnte.103 Vielmehr forderte man, letztlich erfolgreich, die Überführung des toten Theodosius an den Bosporus. 101 Claud. 5,4–6. Vgl. dazu Janßen 2004: 29–33; Heather 2005: 217 f.; Girardet 2008: 117–124. Allgemein zu Claudian vgl. Cameron 1970. 102 Ambros. de obit. Theod. 103 Vgl. Blockley 1992: 46. Dass Stilicho der »Aufseher« (ἐπίτροπος) beider Kaiser gewesen sei, berichtete später aber auch der Oströmer Olympiodor,
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4.1 Stilicho und Konstantinopel
Das, was man gemeinhin als den Beginn der weströmischen Geschichte begreift, war demnach also von Anfang an durch den Umstand belastet, dass man mit dem zweiten Kaiserhof in Konstantinopel offen um den Vorrang im Imperium Romanum rivalisierte. Wie bereits 378 kamen diese Spannungen auch diesmal höchst ungelegen. Denn die wohl vorwiegend gotischen foederati, die 394 unter schwersten Verlusten gegen Eugenius gekämpft hatten,104 wurden im Frühjahr 395, nach dem Tod des Theodosius, mit dem sie ihr foedus geschlossen hatten, entlassen, ohne sich angemessen entschädigt zu fühlen. Es kam zur Meuterei, und angeführt von Alarich begann man damit, das römische Reichsgebiet zu plündern. Der Charakter dieses Verbandes ist umstritten: Handelte es sich um föderierte Soldaten durchaus unterschiedlicher Herkunft, die Versorgung (annona) verlangten, oder um einen (west-)gotischen Stamm (gens oder natio) auf der Suche nach Siedlungsland?105 Vielleicht schließt das eine das andere nicht aus, denn die Grenzen sind fließend (u Kap. 11.3). Sicher ist, dass Stilicho die Revolte gerade militärisch zu unterdrücken versuchte, als ihn die Nachricht erreichte, der senior Augustus Arcadius fordere die unverzügliche Überstellung der oströmischen Truppen, die seinen Vater im Jahr zuvor in den Westen begleitet hatten. Die Verantwortung hierfür geben die Quellen dem Rufinus, der als praefectus praetorio per Orientem für die Verwaltung des römischen Ostens zuständig war und als der starke Mann am Hof in Konstantinopel galt.106 Hinter der Forderung, der Stilicho widerstrebend nachgab, stand allerdings vermutlich nicht nur Missgunst gegenüber dem Westreich. Denn kurz zuvor waren hunnische Krieger in großer Zahl in die östlichen Provinzen eingefallen.107 Es war also durchaus verständlich, dass man nun verlangte, die Elite der oströmischen Ar-
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mutmaßlich unter Bezug auf westliche Quellen; Olymp. Frg. 1 (Blockley). Vgl. auch Zos. 5,4,6. Oros. 7,35,19. Offenbar war etwa die Hälfte der Krieger im Kampf gegen die weströmische Armee umgekommen. Vgl. Liebeschuetz 1992, Halsall 2007: 189–194 und Fehr/Von Rummel 2011: 71. Vgl. zu Rufinus PLRE I: 778–781; Zos. 5,1,3–5. Sokr. HE 6,1,6 f.; Chr. 724,136,20–137,9; Ps.-Dion. 1,187,17–188,14.
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4 Stilicho, der Kaiserhof und die Reichseinheit
mee an dieser Front einzusetzen, statt einige rebellische foederati zu bestrafen. Doch als die Verbände im November 395 unter dem Kommando des comes Gainas am Bosporus eintrafen, töteten sie Rufinus, angeblich auf Anstiftung Stilichos.108 Die Hunnen hingegen wüteten noch zwei weitere Jahre im Orient, bis ein großer Teil von ihnen von einer persischen Armee besiegt wurde. Der Abzug der oströmischen Kontingente stellte Stilicho und den Hof in Mailand vor erhebliche Probleme, denn die schlagkräftigsten weströmischen Truppen waren, wie erwähnt, im Jahr zuvor in der Schlacht am Frigidus von Theodosius vernichtet worden. Die spätantiken Rekrutierungsmechanismen genügten nicht, um in kurzer Zeit eine ausreichende Zahl an Römern in die Armee aufnehmen zu können, daher sah man sich gezwungen, in großem Umfang foederati anzuwerben. Trotz der Erfahrungen mit Alarichs Goten gab es keinen Grund, prinzipiell an der Zuverlässigkeit dieser Gruppen zu zweifeln; und überdies kosteten sie nur einen Bruchteil dessen, was man für reguläre römische Truppen aufzuwenden hatte.109 Mit einem um diese Einheiten verstärkten Heer versuchte Stilicho wiederholt, Alarich zu stellen; doch seine Feldzüge im Illyricum und in Griechenland interpretierte der östliche Hof – vermutlich nicht ganz zu Unrecht – zugleich als Versuche, diese Gebiete unter westliche Kontrolle zu bringen. Konstantinopel reagierte, indem man Stilicho vom dortigen Senat in alter republikanischer Tradition zum Staatsfeind (hostis publicus) erklären ließ und zugleich Alarich, der vor allem nach Anerkennung und Versorgung durch die Reichsregierung strebte, zum magister militum per Illyricum ernannte. Damit, so schien es, war nicht nur ein Rebell in das System reintegriert worden, sondern zugleich konnte er nun sogar oströmische Ansprüche auf dem Balkan vertreten.110 Offensichtlich beabsichtigte der Hof in Konstantinopel, Stilicho und Alarich gegeneinander auszuspielen und so möglichst zu neutralisieren.
108 Zos. 5,6. 109 Vgl. Steinacher 2017: 124 f. 110 Vgl. Kulikowski 2007: 164–168. Die Frage, ob Alarich rex der Goten war, diskutiert Halsall 2007: 202–206.
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4.1 Stilicho und Konstantinopel
Nach dem Mord an Rufinus hatte der praepositus Eutropius die faktische Leitung der Geschäfte übernommen. Dieser demonstrierte seine diplomatische Raffinesse, indem er Stilicho zudem auch aus einer anderen Richtung in Bedrängnis brachte: Seit Jahrhunderten waren Italien und insbesondere die Stadt Rom von den Getreidelieferungen aus Africa, dem Gebiet um Karthago, abhängig; dies umso mehr, als seit einigen Jahren das ägyptische Korn nicht mehr in den Westen, sondern nach Konstantinopel verschifft wurde.111 Es scheint Eutropius gelungen zu sein, Gildo, den zuständigen Befehlshaber, zum Abfall von Stilicho zu bewegen. Doch als die Schiffe aus Karthago ausblieben, ließen sich der Heermeister und der weströmische Senat nicht erpressen. Gildo wurde zum Staatsfeind erklärt, von Truppen unter dem Kommando seines eigenen Bruders besiegt und im Sommer 398 hingerichtet.112 Anschließend gelang es, eine vorläufige Versöhnung zwischen den beiden Kaiserhöfen herbeizuführen. Am Bosporus war man in der Folgezeit mit sich selbst beschäftigt, da 399 zunächst ein drohender neuer Perserkrieg abgewendet und im Jahr darauf ein coup d’état unterdrückt werden musste, in dessen Zusammenhang auch Eutropius den Tod gefunden hatte: Offenbar hatte Gainas versucht, als magister militum in Konstantinopel eine Position einzunehmen, die derjenigen Stilichos im Westen entsprach, war aber zuletzt am Widerstand der Stadtbevölkerung gescheitert. Viele seiner Männer wurden dabei erschlagen. Aufgrund der Interpretation, die die Quellen vorgeben, versteht man die Ereignisse oft als Ausdruck einer feindlichen Haltung gegenüber nichtrömischen Kriegern in kaiserlichen Diensten. Wahrscheinlicher ist aber, dass es sich schlicht um einen gescheiterten Putsch handelte, zu dessen Abwehr es dem oströmischen Hof gelang, die Bevölkerung Konstantinopels zu mobilisieren.113 Vielleicht hatte Stilicho versucht, durch seinen Gefolgsmann Gainas die Kontrolle über den Osten zu erlangen?
111 Vgl. Tengström 1974. 112 Vgl. PLRE I: 395 f. 113 Sokr. HE 6,6; Soz. HE 8,4. Vgl. auch Faber 2011.
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4 Stilicho, der Kaiserhof und die Reichseinheit
4.2
Stilicho als Regent
Stilicho bekam durch diese Entwicklung jedenfalls Gelegenheit, sich demonstrativ um die Sicherung der Grenzen, vor allem aber um die Festigung seiner eigenen Position zu kümmern.114 Ersteres tat er, indem er 399 die letzte bezeugte römische Offensive in Nordbritannien durchführen ließ.115 Zudem scheinen mehrere Kastelle am Rhein um das Jahr 401 ausgebessert worden zu sein. Heikler war die Frage der Machtsicherung. Stilicho wurde lange Zeit, auch aufgrund entsprechender Urteile in den Quellen, als »Halbbarbar« verunglimpft, doch inzwischen ist man sich weitgehend einig darin, ihn als »Römer« zu sehen. Dennoch war seine Position grundsätzlich prekär, denn seine Machtstellung war, soweit sie über sein Amt als Heermeister hinausging, lediglich informeller Natur. Sie beruhte vor allem auf drei Faktoren: Auf militärischen Erfolgen, auf der Jugend und Lenkbarkeit des Honorius sowie auf dem höchstwahrscheinlich fiktiven Anspruch, Vormund auch des östlichen Kaisers zu sein. Nichts davon barg Sicherheit, und wie jeder, der unter besonderen Umständen eine Machtposition erlangt, musste auch Stilicho fürchten, von seinen Gegnern gestürzt zu werden, sobald sich die Umstände änderten. Folglich musste er sich Verbündete suchen und seiner Stellung Legitimität verleihen. Mit einflussreichen weströmischen Senatoren wie Symmachus pflegte Stilicho daher Freundschaft (amicitia),116 dem christlichen Klerus kam er derweil durch die ostentative Verschärfung der Maßnahmen gegen die Altgläubigen entgegen. Zudem umgab er sich mit einer großen bewaffneten Gefolgschaft. Durch eine umfassende »Kanzleireform« vereinigte er überdies schrittweise mehr und mehr Kommandogewalt auf sich, bis mit seinem Heermeisteramt schließlich faktisch der
114 Grundlegend zu Stilicho ist Janßen 2004, von dessen Positionen ich allerdings in mehreren Punkten abweiche. Vgl. auch O’Flynn 1983: 14–42. 115 Claud. 22,247–255. Zuvor war Stilicho bereits mit einem Heer am Rhein erschienen, wo er laut Claudian foedera erneuert, Geiseln empfangen und reges eingesetzt hatte; Claud. 21,188–243. 116 Vgl. Salzman 2006.
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4.2 Stilicho als Regent
Oberbefehl über den größten Teil der Truppen verbunden war.117 Ob er damit bereits den Posten den obersten Heermeisters schuf, der spätestens ab Constantius III. für Westrom charakteristisch werden sollte, ist zwar unklar; zumindest aber leitete er wesentliche Schritte in diese Richtung ein. Man hat vermutet, dass seine Maßnahmen ansonsten dazu gedient hätten, den Einfluss des Militärs auf die Regierung eher zurückzudrängen.118 An dieser Hypothese sind allerdings Zweifel erlaubt, zumal der Nachweis vielfach schwer fällt, dass wirklich Stilicho die treibende Kraft hinter diesem oder jenem Erlass gewesen ist. Es gab noch andere Kräfte am westlichen Hof. Man kommt der Wahrheit daher wohl am nächsten, wenn man annimmt, dass es Stilicho in erster Linie um sich selbst und um seine Sicherheit ging. Damit ist keineswegs gesagt, dass er nicht in zweiter Linie auch ein kompetenter Diener des Imperiums war, dessen Erfolg ja auch in seinem Sinne sein musste. Stilicho imitierte das Vorbild des Theodosius, indem er wie einst dieser Anschluss an die herrschende Familie suchte. Früh verheiratete er seine Tochter Maria mit Honorius, nach ihrem Tod dann auch ihre Schwester; sein Sohn Eucherius wurde mit Galla Placidia,119 Halbschwester des Kaisers und Enkelin Valentinians I., verlobt. All diese Maßnahmen dienten offensichtlich dazu, sich gegen Angriffe zu immunisieren. Später sollte sich zeigen, dass dies nicht ausreichte. Zunächst aber wurde Stilicho noch gebraucht. Denn aus nicht ganz geklärten Gründen – gut denkbar ist ein Zusammenhang mit der Niederschlagung der besagten Revolte des Gainas (u Kap. 4.1), in deren Verlauf zahlreiche gotische foederati in Konstantinopel erschlagen worden waren – beschlossen Alarich und seine Männer im Jahr 401, das Illyricum zu verlassen und in Italien einzumarschieren. Stilicho, der gerade mit der Sicherung der Nordgrenze befasst war, musste rasch handeln. Ein erheblicher Teil der römischen Truppen an Rhein und Donau wurde darum wohl abgezogen, um das Kernland des Imperiums zu verteidigen. Es war klar, dass damit die Grenzen teilweise entblößt wur117 Vgl. Scharf 1990. 118 Vgl. Janßen 2004. 119 Vgl. Oost 1968; Sirago 1996.
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4 Stilicho, der Kaiserhof und die Reichseinheit
den; und vielleicht gehört daher die Verlegung des Sitzes der gallischen Prätorianerpräfektur von Trier in das sicherere Arles in diesen Zusammenhang – möglich ist aber auch ein etwas früherer Zeitpunkt. Mit den rasch versammelten Truppen lieferte Stilicho Alarichs Männern drei Schlachten, ohne eine Entscheidung herbeiführen zu können. Der kaiserliche Hof scheint sich unter diesen Umständen in Mailand nicht mehr sicher gefühlt zu haben und zog sich Ende 402 erstmals nach Ravenna zurück. Die Stadt sollte fortan 350 Jahre lang eine bedeutende Rolle spielen. Aber Alarich zog aus Italien ab, und nach längeren Verhandlungen wurde er wohl 405 (oder später) wiederum zum magister militum oder comes ernannt – diesmal allerdings von Honorius, nicht von Arcadius. In Konstantinopel scheint man dies mit guten Gründen als erneute Aggression interpretiert zu haben. Die Beziehungen hatten sich bereits zuvor wieder verschlechtert, insbesondere aufgrund von Versuchen des Westens, demonstrativ im Reichsteil des Arcadius einzugreifen.120 Sollte Stilicho eine Militäraktion im Balkanraum geplant haben, so musste er dieses Vorhaben rasch aufgeben, denn im Herbst 405 wurde Italien erneut bedroht. Ein gotischer Heerführer namens Radagaisus hatte mit einer großen Zahl von offenbar nicht aus dem Imperium Romanum stammenden Kriegern die Alpen überquert.121 Die konkreten Hintergründe liegen im Dunkeln, aber die Bedrohung war real. Wieder mussten Truppen von den Grenzen abgezogen werden; im August 406 konnte Stilicho dann schließlich die Invasoren mit einem Heer aus Römern, Hunnen und Alanen entscheidend schlagen.122 Der Sieg wurde bejubelt, doch wenig später trafen erneut schlechte Nachrichten in Ravenna ein: Die verbliebenen römischen Truppen in Britannien hatten einen Offizier namens Konstantin (III.) zum Kaiser ausgerufen, und dieser war wie einst Magnus Maximus in Gallien gelandet.123 Gegen den Usurpator entsandte Stilicho foederati unter dem Feldherrn Sarus; dieser scheiterte aber, und in der Folgezeit konnte
120 121 122 123
52
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Janßen 2004: 172–181. Halsall 2007: 206–210. Wijnendaele 2016. Ehling 1996; Wynn 1997; Drinkwater 1998.
4.3 Stilichos Sturz
Konstantin sein Einflussgebiet bis nach Hispanien ausdehnen. Wahrscheinlich zur Jahreswende 406/7 überschritt zudem eine große Zahl von »Barbaren«, darunter vor allem Vandalen, Sueben und Alanen, den Rhein und verheerte die dortigen Provinzen. Ob sie selbst vor hunnischen Angriffen flohen, wie oft vermutet wird,124 ist unklar. Offenbar warfen die miteinander verfeindeten Römer einander vor, die Krieger ins Land gerufen zu haben,125 und auszuschließen ist dies in der Tat nicht. Auch die genaue Chronologie der Ereignisse ist umstritten.126 Fest steht aber, dass Britannien und große Teile Galliens und Hispaniens spätestens im Jahr 407 der Kontrolle der weströmischen Regierung entglitten waren.
4.3
Stilichos Sturz
Die folgenden Ereignisse sind in vielen Punkten nur unbefriedigend zu rekonstruieren, zumal die wichtigste erzählende Quelle, Zosimus, nur bedingt Vertrauen verdient.127 Nach dem Sieg über Radagaisus scheint die weströmische Regierung sich zunächst stark genug gefühlt zu haben, um im Illyricum aggressiv gegenüber dem Osten aufzutreten. Das Gebiet war ein wichtiger Rekrutierungsraum der römischen Armee, und da es im 4. Jahrhundert zumeist zum westlichen Reichsteil gehört
124 Vgl. Heather 2009. Dafür, das Ereignis ein Jahr früher zu datieren, plädiert Kulikowski 2000. 125 So behauptet Orosius (7,38,3), die Krieger seien von Stilicho zum Angriff angestiftet worden; der Grund sei gewesen, dass der Heermeister so seinem Sohn den Weg zum Kaisertum habe ebnen wollen. Hierbei mag es sich um reine Polemik handeln. Denkbar ist aber auch, dass Stilicho die Kriegerverbände rekrutiert hatte, um sie im Bürgerkrieg einzusetzen. Die unklare Chronologie der Ereignisse erschwert eine Antwort. 126 Vgl. Kulikowski 2000; Scharf 2005: 121–123; Heather 2005: 194–205; Halsall 2007: 210–212. 127 Zos. 5,31–35.
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4 Stilicho, der Kaiserhof und die Reichseinheit
hatte, sprachen neben dem Bestreben, sich als der übergeordnete Kaiserhof zu präsentieren, viele sachliche Gründe dafür, hier aktiv zu werden. Bei diesen Plänen spielte, wie erwähnt, Alarich eine wichtige Rolle. Dieser fiel mit seinen Männern in Epirus ein und löste damit einen offenen Krieg zwischen Ost und West aus – vielleicht erst 407, vermutlich aber schon vor dem Ausbruch der gallischen Krise. Denn Ende 407 kam es offenbar unter dem Druck der Ereignisse zu einer erneuten Versöhnung, dokumentiert dadurch, dass sich Honorius und Arcadius auf ein gemeinsames Konsulnpaar für 408 einigten. Alarich allerdings scheint sich unter diesen Umständen von Stilicho verraten gefühlt zu haben und zog erneut nach Westen.128 Stilicho gelang unterdessen eine erneute Konsolidierung seiner Stellung, indem er seine zweite Tochter mit dem inzwischen verwitweten Honorius verheiratete und überdies den Senat einberief, um von der Autorität des altehrwürdigen Gremiums zu profitieren. Der Heermeister erwirkte ein entsprechendes senatus consultum, das einem neuen foedus mit Alarich zustimmte; allerdings unter ganz erheblichen Unmutsäußerungen. So soll der angesehene Senator Lampadius ausgerufen haben, der Vertrag bedeute nicht Frieden, sondern Sklaverei.129 Mitten hinein in diese angespannte Lage platzte dann im Sommer die Nachricht, dass Arcadius überraschend gestorben sei. Neuer Kaiser des Ostens war sein siebenjähriger Sohn Theodosius II. (408–450).130 Mit Arcadius’ Tod änderte sich alles. Laut Zosimus plante Honorius, persönlich nach Osten zu ziehen, um die Aufsicht über seinen jungen Neffen zu übernehmen. Das hätte nun nichts anderes bedeutet als die endgültige Verlegung der Reichszentrale nach Konstantinopel, denn wer hätte dann als Augustus des Westens amtieren sollen? Konstantin (III.) wäre der nächstliegende Kandidat gewesen, er bemühte sich ohnehin um die Anerkennung durch Honorius; jedoch fanden zugleich Kämpfe zwischen ihm und Anhängern der Dynastie statt.131 Je-
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Vgl. Halsall 2007: 213. Zos. 5,29,14 f. Grundlegend zu Theodosius II. ist Millar 2006. In Hispanien scheint der Widerstand von Didymus und Verenianus getragen worden zu sein, die mit Honorius verwandt waren; Soz. HE 9,1. Oro-
4.3 Stilichos Sturz
denfalls gelang es Stilicho offenbar zunächst, stattdessen seinen eigenen, durchaus rationalen Plan durchzusetzen. Demnach wollte er sich selbst nach Konstantinopel begeben. Alarich sollte derweil gegen Konstantin ziehen, Honorius im Westen bleiben und dort die kaiserliche Autorität verkörpern. Es ist unklar, ob der Hof Stilichos Vorschlag nur noch zum Schein zugestimmt hat. Denn mit dem Tod des Arcadius war das Fundament, auf dem die Stellung des magister militum geruht hatte, weggebrochen. 13 Jahre lang hatte man seine Dominanz erduldet, weil dies die beste Möglichkeit zu bieten schien, einen Vorrang über den Hof des senior Augustus Arcadius beanspruchen zu können. Doch nun war Honorius selbst der dienstälteste Kaiser, und sein kleiner Neffe im Osten stellte keine Bedrohung dar. Im Vergleich zu 395 hatte sich die Situation also nachgerade umgekehrt, der Vorrang des Westens schien gesichert. Es kann angesichts der offensichtlichen Unbeliebtheit, die Stilicho inzwischen genoss, nicht allzu lange gedauert haben, bis dieser Umstand wesentlichen Akteuren bewusst wurde. Zweifellos hatte Stilicho viele Parteigänger, doch eindeutig auch nicht eben wenige Feinde. Diese müssen nun ihre Stunde gekommen gesehen haben. Die Truppen waren angesichts der schwierigen militärischen Lage ohnehin schon seit längerem unruhig. Stilicho war es zunächst noch gelungen, bei Bologna eine Meuterei zu beenden, indem er den Männern damit drohte, die uralte Militärstrafe der Dezimation, also der Tötung jedes zehnten Mannes, anzuwenden. Doch als wenig später Honorius persönlich das in Pavia versammelte Heer aufsuchte, kam es binnen Tagen zu einer Gewaltexplosion.132 Die Vertrauten Stilichos wurden erschlagen. Der Heermeister selbst war nicht anwesend, wurde aber Tage später, am 22. August 408, auf kaiserlichen Befehl in Ravenna enthauptet.133 Zosimus benennt insbesondere den Höfling Olympius als eine treibende Kraft hinter den Ereignissen. Dass dieser eine wichtige Rolle
sius deutet an, dass sie möglicherweise selbst nach dem Purpur griffen; Oros. 7,40,5 f. 132 Zos. 5,33 f. 133 Eine wohl auf Olympiodor beruhende Zusammenfassung bietet Soz. HE 9,4,4–8.
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4 Stilicho, der Kaiserhof und die Reichseinheit
spielte und die Soldaten in Pavia unter Verweis auf ihre Loyalität zur Dynastie, die Stilicho stürzen wolle, aufwiegelte, ist durchaus glaubwürdig. Die spätere Entwicklung belegt zumindest, dass er als Gegner einer allzu prominenten Rolle der Militärs bei Hofe und als Feind Stilichos galt. Ob auch Honorius aktiv in den Sturz des Heermeisters verwickelt war, lässt sich kaum sagen; alt genug wäre er inzwischen gewesen. Vielleicht sollte dies ein Befreiungsschlag des Kaisers sein, ein Versuch, nun endlich selbst die Regierung zu übernehmen? Allerdings soll Honorius während der Unruhen um sein Leben gefürchtet und sogar zeitweilig Diadem und Purpur abgelegt haben. Mitunter wird daher vermutet, das Heer selbst habe eine aktive Rolle gespielt, unter anderen, weil es nicht gegen Konstantin (III.) habe ziehen wollen.134 Es deutet aber alles darauf hin, dass sich die eigentlichen Nutznießer der Vorgänge am Kaiserhof befanden. Ganz unwahrscheinlich ist, dass die früher sehr populäre Hypothese zutrifft, es habe sich bei dem Blutbad um eine »antibarbarische« Reaktion gehandelt,135 nicht zuletzt deshalb, weil dies voraussetzt, dass Stilicho tatsächlich als Nichtrömer gesehen wurde. Zwar finden sich in den Quellen entsprechende Aussagen, aber sie dienen ebenso wie die (erneute) Erklärung zum Staatsfeind erkennbar der nachträglichen Rechtfertigung der im Namen des Kaisers erfolgten Tötung eines unbestreitbar verdienten Mannes, der Konsul und patricius gewesen war (u Kap. 9.1).136 Der Heermeister starb sehr wahrscheinlich nicht, weil er ein »Barbar« war. Er fiel, weil man glaubte, endlich nicht mehr auf ihn angewiesen zu sein.
134 Vgl. Janßen 2004: 240–259. 135 Vgl. Demougeot 1951: 423. 136 Cod. Theod. 9,42,22; Soz. HE 9,4. Zum Titel patricius seit Konstantin I. vgl. Heil 1966.
56
4.4 Alarich und die Plünderung Roms 410
4.4
Alarich und die Plünderung Roms 410
Es hat allerdings den Anschein, als habe man sich am weströmischen Hof in diesem Punkt sehr geirrt: Auf den Tod des Heermeisters folgte Chaos. Eine erhebliche Anzahl an foederati hatte sich offensichtlich weniger dem Kaiser als vielmehr Stilicho verpflichtet gefühlt; nach ersten Gewalttaten im Umfeld des Umsturzes schlossen sich viele von ihnen nun Alarich an.137 Dieser sah sich von der neuen Regierung, die sich nicht an das von Stilicho geschlossene Bündnis gebunden fühlte, enttäuscht. Nach gescheiterten Verhandlungen zog er mit seinen Männern wieder nach Italien und belagerte erstmals die Stadt Rom, um Honorius zum Entgegenkommen zu zwingen. Dieser gab zunächst nach und scheint laut Olympiodor überdies signalisiert zu haben, Konstantin (III.) als Mitkaiser anerkennen zu wollen,138 während man Alarich durch Versprechungen und die Überlassung erheblicher Schätze dazu bewog, von Rom abzuziehen. Angesichts dieser wenig erfreulichen Entwicklung scheinen die Feinde des Olympius an Einfluss gewonnen zu haben und erzwangen 409 wohl seine zwischenzeitliche Entlassung aus dem Amt des magister officiorum. Es kam zu Meutereien im Heer, während zugleich Gerontius, ein Feldherr Konstantins, gegen diesen rebellierte – und dann bemerkenswerterweise seinen Sohn Maximus zum Augustus ausrufen ließ, statt selbst nach dem Purpur zu greifen.139 Bald darauf überquerten vandalische, suebische und alanische Gruppen unter Ausnutzung der römischen Bürgerkriege die Pyrenäen und fielen in Hispanien ein.140 Dass sie den Auftrag hatten, dort Gerontius und Maximus zu attackieren, ist zumindest nicht auszuschließen.
137 Den letzten Ausschlag scheint die Hinrichtung von Stilichos Sohn Eucherius gegeben zu haben; Philostorg. 12,3. 138 Olymp. Frg. 13 (Blockley). 139 Vgl. Scharf 1992 und Laycock 2009: 19–40. Laut Gregor von Tours (Hist. 2,9) war Maximus lediglich ein Gefolgsmann des Gerontius. 140 Oros. 7,40,7–10; Hydat. Chron. 40 (Mommsen 48); Olymp. Frg. 29,2 (Blockley). Vgl. Thompson 1982.
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4 Stilicho, der Kaiserhof und die Reichseinheit
Die Machtkämpfe am Kaiserhof nahmen derweil an Heftigkeit zu; in rascher Folge wechselte nun die Besetzung wichtiger Ämter.141 Honorius, der zunächst offenbar tatsächlich versucht hatte, eigenständig zu agieren und vielleicht sogar selbst in die Schlacht zu ziehen, geriet angesichts der verworrenen Situation augenscheinlich wieder ganz unter den Einfluss seiner Umgebung. Immerhin war der faktische Nachfolger des Olympius aber erneut kein Militär, sondern der Prätorianerpräfekt (praefectus praetorio) Jovius. Das Kommando über die Truppen wurde hingegen Männern übertragen, von denen sich der Hof nicht bedroht fühlte, die sich aber auch als wenig kompetent erwiesen. Offenbar verfiel Jovius in seiner Not zuletzt auf den Gedanken, Alarich einfach als magister utriusque militiae in der Nachfolge Stilichos zu installieren. Doch scheiterte dies am Widerstand des Hofes und des Kaisers, und zwar kaum an einer Abneigung gegen den »Barbaren« Alarich, sondern viel eher am Unwillen, sich erneut der Dominanz eines übermächtigen Militärs auszusetzen.142 Alarich zog daraufhin erneut nach Rom und erzwang dort eine Usurpation: Auf seinen Druck wurde 409 der Stadtpräfekt (praefectus urbi) Priscus Attalus, ein hochrangiger Senator, zum Kaiser ausgerufen.143 Da sich die Regierung um Honorius seinen Wünschen verweigerte, schuf sich Alarich also ganz einfach einen eigenen Kaiser, der die gewünschten Maßnahmen zu veranlassen und die Forderungen des Militärs zu erfüllen hatte: ein innovatives Konzept, das Schule machen sollte. Sollten es übrigens tatsächlich Alarichs Männer gewesen sein, die die Kaiserakklamation vornahmen,144 so wäre der Vorgang zudem ein bemerkenswertes Indiz dafür, dass es Menschen gab, die die foederati für eine römische Armee hielten, die berechtigt war, einen Kaiser auszurufen.
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58
Vgl. Lütkenhaus 1998: 24–31. Soz. HE 9,7. Vgl. Matthews 1975: 284–306; PLRE II: 180 f. Die Quellen sind in diesem Punkt ungenau und nicht eindeutig. Während Sozomenos (HE 9,8) und Philostorgios (12,3) berichten, Alarich habe »die Römer« (Ῥωμαῖοι) veranlasst, die Kaisererhebung vorzunehmen, spricht Prokop (Hist. 3,2,28) davon, Alarich selbst habe Attalus erhoben.
4.4 Alarich und die Plünderung Roms 410
Attalus besaß jedenfalls zunächst durchaus Rückhalt, denn die Zahl jener, die mit Honorius unzufrieden waren, war verständlicherweise groß, und viele einstige Anhänger Stilichos dürften nach Rache verlangt haben. Attalus ernannte Alarich zum magister militum, und vielleicht ähnelte die Beziehung zwischen den beiden Männern jener, die zwischen Eugenius und Arbogast geherrscht hatte. Honorius scheint derweil bereits die Flucht nach Konstantinopel erwogen zu haben, während er Attalus zugleich eine Teilung der Herrschaft anbot. Dieser lehnte ab, doch dank einer kleinen, aber schlagkräftigen oströmischen Truppe konnte sich Honorius in Ravenna behaupten.145 Hinter ihrer Entsendung stand Anthemius, der inzwischen als Prätorianerpräfekt des Ostens de facto die Regierungsgeschäfte für Theodosius II. führte. Gegen die Feinde der Dynastie hielten die zerstrittenen Höfe in Ost und West zusammen. Gildos Rebellion hatte einige Jahre zuvor verdeutlicht, wie wichtig die Kontrolle Nordafrikas für jeden war, der Italien beherrschen wollte. In Karthago hatte inzwischen der comes Africae, Heraclianus, das Kommando; dieser hatte es wohl als Belohnung dafür erhalten, Stilicho eigenhändig erschlagen zu haben.146 Er hatte von Attalus nichts zu erhoffen, verteidigte sich erfolgreich gegen dessen Untergebenen Constans und unterband die Kornlieferungen nach Italien.147 Das Ansinnen Alarichs, nun einen großangelegten Krieg um Africa zu führen, lehnten der Usurpator und die Senatoren laut Zosimus empört ab.148 Nach einigem Zögern setzte Alarich »seinen« Kaiser wieder ab und nahm Verhandlungen mit Honorius auf, doch nach dem Sieg in einem kleinen Gefecht fasste dieser Mut und nahm wieder eine harte Haltung ein. Offenbar glaubte man am Hof weiterhin, gegenüber den verzweifelten Kriegern, die auf die Integration in das römische System angewiesen schienen, am längeren Hebel zu sitzen, und nahm ihre Drohungen daher nicht ernst.
145 146 147 148
Soz. HE 9,8. Zos. 5,37,9. Olymp. Frg. 10,1 (Blockley). Zos. 6,9.
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4 Stilicho, der Kaiserhof und die Reichseinheit
Doch Alarich, der um jeden Preis die Versorgung seiner Männer sichern musste, entschied sich in höchster Not zum Äußersten: Im August 410 plünderte er drei Tage lang systematisch die Stadt Rom, die ihm die Tore geöffnet hatte.149 Als er abzog, führte er nicht nur reiche Beute mit sich, sondern auch eine junge Frau kaiserlichen Blutes: Galla Placidia, die einst Stilichos Schwiegertochter hatte werden sollen und nun wohl als Alarichs Braut vorgesehen war. Orosius gab sich später alle Mühe, die Dramatik des Ereignisses nach Kräften herunterzuspielen, um dem Vorwurf zu begegnen, die Vorgänge seien der Beweis dafür, dass sich die Götter von den Römern abgewandt hätten; doch der Schock, den dieser Sacco di Roma auslöste, war in Wahrheit noch im fernen Palästina gewaltig, wie ein berühmter Brief des Hieronymus verrät.150 Auch für Honorius und die weströmische Regierung waren die Ereignisse eine Katastrophe.151 Der Versuch, mit der Beseitigung Stilichos Handlungsfreiheit zu gewinnen, war auf ganzer Linie gescheitert. Zwar hatte sich 408 gezeigt, dass die Anhänglichkeit vieler Soldaten gegenüber dem dynastisch legitimierten Kaiser noch größer war als die Loyalität gegenüber ihrem faktischen Oberbefehlshaber. Doch da sich Honorius offenbar außerstande sah, wie noch sein Vater selbst eine Armee zu kommandieren, fehlte Westrom nun ein kompetenter Militär, der die aktuelle Krise hätte bewältigen können. An diesem Dilemma scheiterte man. Über zwei Jahre lang hatten einflussreiche Männer bei Hof versucht, die Einsetzung eines neuen Heermeisters, dem zuzutrauen gewesen wäre, die Nachfolge Stilichos als starker Mann hinter dem Kaiser anzutreten, zu vermeiden.152 Wer kompetent war, war gefährlich; wer ungefährlich war, war nicht kompetent. Erst nach der Plünderung Roms durch die meuternden foederati musste man einsehen, dass man keine Alternative hatte, und begab sich notgedrungen erneut in die Abhängigkeit von einem Feldherrn.
149 150 151 152
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Vgl. Burns 1994: 224–246; Meier 2007. Oros. 7,37–40; August. Civ. Dei 2,3; Hieron. Epist. 127. Vgl. Bleckmann 1997. Vgl. zur politischen Rolle der Heermeister Kuhoff 2012, Stickler 2016 und Poguntke 2016.
4.4 Alarich und die Plünderung Roms 410
Wie sehr das Ansehen des Honorius, aber auch das des westlichen Kaisertums insgesamt durch die Ereignisse zu diesem Zeitpunkt bereits gelitten hatte, lässt die berühmte Anekdote erahnen, die Prokop etwa 140 Jahre später in seinen Historien erzählen sollte: Honorius sei feige und so dumm gewesen, dass er, als er vom Ende Roms erfahren habe, erschrocken geglaubt habe, seine Lieblingshenne Roma sei gestorben;
Abb. 1: Kaiser Honorius in spätrömischer Offizierstracht. Konsulardiptychon des Probus von 406.
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4 Stilicho, der Kaiserhof und die Reichseinheit
als man ihn aufklärte, es gehe vielmehr um die Ewige Stadt, sei der Kaiser erleichtert gewesen.153 Es ist unklar, seit wann die Geschichte, die ältere Motive aufgreift, kursierte. Aber es steht fest, dass sich das Kaisertum des Westens von diesem Ansehensverlust nie mehr erholen sollte. Und wenn die Autorität der Monarchie erschüttert war, dann betraf dies zugleich unmittelbar den Zusammenhalt des Reiches, den sie gewährleistete.
153 Vgl. Prok. Hist. 3,2,8–32.
62
5
Konsolidierung und Machtkämpfe
Der weströmischen Regierung war es über Jahre hinweg nicht gelungen, das Imperium zu befrieden, und sie hatte es nicht einmal vermocht, die Hauptstadt zu beschützen. Der Eindruck, den dieses Versagen zumindest in den Westprovinzen hinterlassen haben muss, dürfte verheerend gewesen sein. Die ureigenste Aufgabe der Kaiser war der Schutz ihrer Untertanen und die Sicherung des inneren Friedens. Warum sollte man sich der fernen Zentrale noch unterwerfen, wozu Steuern zahlen, wenn sie nicht einmal Italien, geschweige denn Gallien, Britannien oder Hispanien zu verteidigen verstand? Die civitates im römischen Britannien scheinen die ersten gewesen zu sein, die das Vertrauen in die kaiserliche Zentrale verloren. Man hat oft versucht, die Ereignisse auf der Insel in diesen Jahren zu rekonstruieren, vor allem anhand der problematischen, viel später entstandenen Darstellung des Gildas.154 Zosimus berichtet, die Briten hätten sich um 410 gegen die von Konstantin (III.) eingesetzten Verwalter erhoben und diese aus ihren Städten verjagt. Ob sie sich damit für die Unabhängigkeit entschieden, vielleicht sogar unter einem eigenen Augustus, oder für Honorius, liegt vollkommen im Dunkeln. Möglicherweise bildete sich auf der Insel nun, wie bereits im 3. Jahrhundert, ein Sonderreich. Der berühmte Brief jedenfalls, in dem der Kaiser – ebenfalls laut Zosimus – den Städten Britanniens geschrieben haben soll, sie müssten für ihre Sicherheit selbst sorgen, war vermutlich in Wahrheit an die civitates in Bruttium gerichtet.155
154 Vgl. Halsall 2013. 155 Zos. 6,5,2 f.; 6,10,2.
63
5 Konsolidierung und Machtkämpfe
Denn dorthin, an die Südspitze Italiens, war Alarich gezogen, um von dort nach Sizilien und dann weiter nach Africa überzusetzen.156 Die Erfahrung mit Heraclianus hatte ihm die strategische Bedeutung Karthagos ja erst kurz zuvor deutlich vor Augen geführt. Das Unternehmen scheiterte jedoch, und kurz darauf starb Alarich; sein Verwandter Athaulf übernahm die Führung des Verbandes und zog aus Italien ab. Was Britannien angeht, so scheinen die dortigen Provinzialen fortan zwar tatsächlich weitgehend sich selbst überlassen gewesen zu sein, aber zunächst versucht zu haben, an der römischen Lebensweise festzuhalten.157 Denn dass sich das ehrwürdige Imperium Romanum nicht – so wie nach den Wirren des 3. Jahrhunderts – erholen und wieder zu alter Größe aufschwingen würde, war 410 noch keineswegs abzusehen.
5.1
Bürgerkrieg
In Ravenna jedenfalls war man entschlossen, der Desintegration des Reiches, in dem es zwischenzeitlich mindestens sechs Augusti gleichzeitig gegeben hatte, nicht tatenlos zuzusehen.158 In dieser Stunde höchster Not übertrug man daher erneut einem Militär entscheidende Machtbefugnisse, nämlich dem aus dem lateinischsprachigen Balkanraum stammenden Flavius Constantius, der ein Anhänger Stilichos gewesen war.159 Wohl Ende 410 wurde er als magister peditum Kommandeur der Infanterie und zog Anfang 411 gemeinsam mit dem magister equitum Ulfilas nach Gallien, um dort die Usurpatoren zu bekämpfen. Man hatte also versucht, das Oberkommando zu tei156 Olymp. Frg. 16 (Blockley). 157 Gild. de Ex. Brit. 18. Vgl. Dark 2002; Wood 2004; Halsall 2007: 357– 368. 158 Vgl. zu diesem Bürgerkrieg Brown 2012: 385–407. 159 Grundlegend zu Constantius (III.) ist Lütkenhaus 1998. Dieser kommt allerdings zu einer deutlich günstigeren Einschätzung des Heermeisters als ich. Vgl. auch O’Flynn 1983: 63–73.
64
5.1 Bürgerkrieg
len, wahrscheinlich in der vergeblichen Hoffnung, so das Übergewicht eines Mannes zu vermeiden. Dass Constantius dennoch gefährlich war, hatte sich aber wohl bereits Ende 410 gezeigt: Dem Olympius, der inzwischen wieder magister officiorum geworden war, ließ er die Ohren abschneiden und ihn dann totprügeln – wahrscheinlich aus Rache für Stilichos Tod.160 Vielleicht geschah dies aber auch erst später. Constantius traf bei Arles auf gleich zwei Feinde, denn im Verwaltungszentrum Galliens wurde Konstantin (III.) gerade von seinem einstigen Weggefährten Gerontius belagert. Dessen Truppen wurden, soweit sie nicht übergelaufen waren, von Constantius geschlagen, und Gerontius stürzte sich nach alter römischer Feldherrensitte in sein Schwert, derweil sein Sohn Maximus entkam. Ulfilas vernichtete ein Entsatzheer unter Edobich, der rechts des Rheins alamannische und fränkische foederati angeworben hatte, um Konstantin zu helfen, woraufhin dieser aufgab und sich, um sein Leben zu retten, zum Priester weihen ließ. Er wurde aber dennoch getötet.161 Seine Anhänger allerdings gaben nicht sofort auf. Sein Prätorianerpräfekt Decimius Rusticus floh stattdessen noch vor der Kapitulation nach Norden. Wohl im Sommer 411 ließ er am Rhein den Aristokraten Jovinus von den dortigen Grenztruppen unter maßgeblicher Beteiligung burgundischer foederati zum Kaiser ausrufen.162 Dieser zog mit einem Heer nach Süden, wo er 412 auf Athaulf traf, der ihn zunächst als Augustus anerkannte, nach einigen Monaten aber doch lieber wieder auf Verhandlungen mit Ravenna setzte und Jovinus 413 an den Prätorianerpräfekten Dardanus auslieferte. Gegen den Wunsch des Honorius, aber offensichtlich mit Einverständnis des Constantius, ließ der Präfekt Jovinus und Rusticus hinrichten. Athaulf verhandelte derweil mit dem Hof, der vor allem die Freilassung Galla Placidias wünschte. Zunächst schien eine Einigung möglich, doch nahe Marseille kam es zu einem Gefecht mit ravennatischen Truppen unter dem comes Bonifatius, in dem Athaulf verwundet wurde. Da seinen Männern zudem die geforderte annona verweigert wur160 Olymp. Frg. 8,2 (Blockley). 161 Soz. HE 9,13–15; Oros. 7,42,1–5. 162 Vgl. Scharf 1993.
65
5 Konsolidierung und Machtkämpfe
de, zog er ab und eroberte unter anderem Toulouse und Narbonne, wo er Anfang 414 einen bemerkenswerten Schritt unternahm und die Kaisertochter heiratete. Orosius feiert dies als Versöhnung zwischen »Goten« und »Römern« und als Zeichen der Unterwerfung des Heerführers unter Honorius. In einer berühmten Passage berichtet er, Athaulf habe geäußert, einst habe er die Romania durch eine Gothia ersetzen und an die Stelle des Kaisers treten wollen; nun aber sei ihm bewusst geworden, dass die Goten römischer Gesetze und Ordnung bedürften. Daher wolle er in Zukunft alles daran setzen, die Macht und Herrlichkeit Roms durch seine Männer wiederherzustellen.163 Olympiodor betont, während der Zeremonie habe Placidia kaiserlichen Ornat getragen und Athaulf die Uniform eines römischen Feldherrn.164 Unklar bleibt, ob Honorius der Eheschließung tatsächlich zugestimmt hatte. Constantius jedenfalls kann über diese Entwicklung nicht sehr glücklich gewesen sein, verschaffte sie seinem Rivalen doch einen Anschein von dynastischer Legitimation. Dass Athaulf seinen Sohn aus der Verbindung mit der Prinzessin Theodosius nannte, unterstrich diesen Anspruch; umso mehr traf ihn zweifellos der frühe Tod des Kindes. Eigentlich hatten sich die Dinge bis zu diesem Zeitpunkt ansonsten ganz im Sinne des Constantius entwickelt. Der Erfolg über Konstantin (III.) und Gerontius hatte sein Ansehen fraglos enorm vergrößert, und 413 hatte er zudem einen weiteren gefährlichen Gegner ausschalten können: Heraclianus, der sich als comes Africae ja bereits 409 in den Machtkampf eingemischt hatte und als Mörder Stilichos zweifellos ein Todfeind des Constantius war, wollte den Aufstieg des Heermeisters nicht widerstandslos hinnehmen.165 Erneut stoppte er die Getreidelieferungen nach Italien, und diesmal machte er sich anschließend selbst mit einer großen Flotte auf den Weg und landete nahe Rom. Dort aber wurde er zurückgeschlagen, floh zurück nach Karthago und wurde bald darauf getötet. Dies bewirkte in Ravenna den endgültigen Sieg der Gruppierung um Constantius, und auch Africa brach163 Oros. 7,43,2–7. 164 Olymp. Frg. 24 (Blockley). 165 Vgl. Oost 1966.
66
5.1 Bürgerkrieg
te man nun unter Kontrolle.166 Symbolisiert wurde der Triumph, indem Constantius zum consul ordinarius für 414 ernannt wurde und den Amtsantritt am 1. Januar mit einer besonders prächtigen Feier beging, die er mit dem Vermögen des Heraclianus bezahlte, das ihm der Kaiser übereignet hatte.167 Der angebliche Usurpator verfiel nach alter Sitte der damnatio memoriae.168 Unter diesen Umständen konnte Constantius eine Annäherung zwischen Athaulf und Honorius natürlich nicht dulden. Der Bürgerkrieg ging also weiter. Constantius veranlasste 414 eine Blockade der südgallischen Häfen, und sein Rivale zog daraus schließlich die entsprechenden Konsequenzen und erhob, da sich Ravenna verweigerte, erneut einen eigenen Kaiser, und zwar einen alten Bekannten: Priscus Attalus. Der Respekt diesem gegenüber mag sich in Grenzen gehalten haben: Paulinus von Pella, der Attalus damals als comes diente, beklagte später, gotische Krieger hätten ihn entgegen den Befehlen Athaulfs restlos ausgeplündert.169 Doch es gelang Constantius, den rex und dessen neuen Augustus nach Hispanien abzudrängen, wo der Heerführer im Sommer 415 in Barcelona ermordet wurde. Der Täter scheint ein ehemaliger Gefolgsmann des comes Sarus gewesen zu sein, der 412 im Kampf gegen Athaulf umgekommen war. Doch Nutznießer und vielleicht auch Drahtzieher des Attentats war ohne Frage Constantius.
166 Vgl. Lütkenhaus 1998: 67–71. 167 Olymp. Frg. 23 (Blockley). 168 Cod. Theod. 15,14,13. Vgl. zur damnatio memoriae in der Spätantike Hedrick 2000. 169 Paul. Pell. Euch. 311–327.
67
5 Konsolidierung und Machtkämpfe
5.2
Flavius Constantius als Herr des Westens
Athaulfs Nachfolger wurde bald seinerseits getötet, und unter dem neuen Anführer Vallia versuchte man noch einmal, nach Africa überzusetzen, um so nicht nur die eigene Versorgung zu sichern, sondern auch Constantius unter Druck setzen zu können. Das Unternehmen scheiterte jedoch, und nun musste sich Vallia notgedrungen zu einer Verständigung bereitfinden. Man schloss ein erneutes foedus, erhielt die dringend benötigte annona in Höhe von 600 000 Scheffeln Weizen und lieferte dafür 416 nicht nur Priscus Attalus, den Honorius in einem Triumphzug vorführen durfte, sondern vor allem die verwitwete Galla Placidia an Constantius aus.170 Dieser fackelte nicht lange. Als er am 1. Januar 417 sein zweites Konsulat antrat, ließ er sich vom Kaiser mit der Prinzessin verheiraten, die darüber nicht sehr glücklich gewesen sein soll.171 Wenig später gebar Placidia dennoch eine Tochter namens Honoria, 419 dann einen Sohn, dem man erneut einen programmatischen Namen gab: Flavius Placidus Valentinianus. Das Kind wurde mithin nach seinem Urgroßvater Valentinian I. benannt. Nun hatte Constantius, der spätestens seit Anfang 416 den Titel patricius führte,172 endgültig das Erbe Stilichos angetreten und konnte sich, nachdem kein gefährlicher Rivale mehr in Sicht war, um die Befriedung des Reiches kümmern. Vallia und die foederati wurden beauftragt, gegen die Vandalen, Sueben und Alanen in Hispanien zu kämpfen, die das Land angeblich per Los unter sich aufgeteilt hatten, was Vallia mit erheblicher Brutalität und einigem Erfolg tat. Es scheint, als hätten die Vandalen in dieser Situation Maximus unterstützt, den Sohn des Gerontius, der 411 entkommen war und noch immer den kaiserlichen Purpur trug.173 Jedenfalls wies Constantius Vallia und seinen Männern 418 ein Gebiet in Aquitanien zu. Die Modalitäten sind seit Jahrzehnten heftig umstritten; fest steht eigentlich nur, dass das
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Burns 1994: 247–279 bietet die traditionelle Lesart der Vorgänge. Olymp. Frg. 33,1 (Blockley). Cod. Theod. 15,14,14. Vgl. Lütkenhaus 1998: 143–155. Vgl. Scharf 1992.
5.2 Flavius Constantius als Herr des Westens
Territorium den Kern dessen bildete, was sich später zum »Westgotenreich« entwickeln sollte.174 Wohl um die Finanzadministration des vom Bürgerkrieg schwer getroffenen Gallien zu reorganisieren, richtete Honorius derweil, mutmaßlich auf Initiative des Constantius, ein concilium septem provinciarum ein: Einmal im Jahr sollten sich künftig Vertreter südgallischer civitates mit den Statthaltern in Arles versammeln, um gemeinsame Probleme zu beraten und dem praefectus praetorio Galliarum vorzutragen. Man hat mit guten Gründen vermutet, dass es dabei darum ging, ungeachtet der Präsenz der gotischen foederati den Zusammenhalt Galliens unter kaiserlicher Kontrolle sicherzustellen.175 Als unbeabsichtigter Nebeneffekt mag sich ergeben haben, dass die gallorömische Aristokratie, die ohnehin über ein ausgeprägtes Gemeinschaftsgefühl verfügt zu haben scheint, aufgrund der jährlichen Treffen noch näher zusammenrückte. Constantius konnte mit seiner Bilanz zufrieden sein. Zwar war Britannien augenscheinlich nach wie vor der Kontrolle der weströmischen Regierung entzogen, und Vergleichbares galt auch für Teile Hispaniens, wo sich Maximus noch immer halten konnte, der wohl erst 421 durch den comes Hispaniarum Asterius besiegt und anschließend in Ravenna exekutiert werden sollte. Ansonsten aber erschien die Lage im Jahr 420, als der patricius Constantius sein drittes Konsulat bekleidete, bedeutend günstiger, als man es zehn Jahre zuvor hätte hoffen können, denn dank foedera mit vornehmlich burgundischen Kriegern kontrollierte man inzwischen sogar wieder die Rheingrenze.176 Der Preis für diesen Erfolg war die Dominanz des Constantius und, so darf man vermuten, damit einhergehend die weitgehende Entmachtung des Kaisers und die Schwächung des zivilen Apparates. Dem Heermeister, der das Schicksal Stilichos vor Augen gehabt haben muss, dürfte bewusst gewesen sein, dass auch seine Stellung trotz aller Ehrungen und Erfolge grundsätzlich prekär geblieben war. Zwar war er der Schwager des Augustus und der Vater des mutmaßlichen 174 Vgl. Burns 1992; Kampers 2008; Delaplace 2015. 175 Vgl. Lütkenhaus 1998: 113–121. 176 Vgl. zu den Burgundern insgesamt Kaiser 2004.
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5 Konsolidierung und Machtkämpfe
Thronerben, aber dies schien ihm offensichtlich noch nicht genug Sicherheit zu bieten. Im Februar 421 tat man daher den letzten Schritt: Honorius erhob den patricius zum Mitherrscher. Mit dieser Entscheidung waren, folgt man Olympiodor, beide Seiten nicht wirklich glücklich. Honorius musste selbstverständlich fürchten, nunmehr endgültig an den Rand gedrängt zu werden. Aber auch Constantius soll seine Erhebung bald bereut haben, als ihm bewusst wurde, mit welchen Beschränkungen die Stellung als Augustus inzwischen behaftet war (u Kap. 9.1).177 Die Position als informeller Machthaber war zwar permanent bedroht, bot aber gerade deshalb, weil es sie eigentlich gar nicht gab, erhebliche Handlungsspielräume, die ein spätantiker Kaiser in der Regel nicht besaß. Der Moment der Kaiserhebung des Constantius war gut gewählt. Es war nämlich nicht zu erwarten, dass der oströmische Hof die Aufnahme eines dynastiefremden Mannes in das Herrscherkollegium einfach hinnehmen würde. Aber 421 befand sich Konstantinopel in einer bedrohlichen Situation, da nach Jahrzehnten des Friedens im Jahr 420 ein neuer Perserkrieg ausgebrochen war, der mit heftigen Kampfhandlungen verbunden war.178 Theodosius II. und seine Berater mussten ihre Aufmerksamkeit daher eigentlich ganz auf die Verteidigung der reichen Orientprovinzen richten. Dennoch verweigerte man Constantius III. die Anerkennung als Augustus, und dieser scheint daraufhin nicht gezögert zu haben, Ostrom in einen Zweifrontenkrieg zu verwickeln. Er befand sich mitten in den Vorbereitungen für einen Bürgerkrieg gegen den Osten, als er im September auf einmal starb, angeblich an einer Krankheit.
177 Olymp. Frg. 33,1 (Blockley). 178 Vgl. Greatrex 1993. Offenbar war es bereits um 416 zu Kämpfen gekommen, aber erst jetzt eskalierte der Konflikt.
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5.3 Machtvakuum
5.3
Machtvakuum
Mit dem Tod des Constantius hätte eigentlich Stabilität einkehren können. Der Feldzug gegen den Osten war schlagartig überflüssig geworden, und die meisten Gebiete des Imperium Romanum erkannten Honorius und Theodosius II. als legitime Augusti an. Dass es am Hof in Ravenna dennoch binnen kurzer Zeit zu heftigen Konflikten kam, zeigt, wie sehr sich die Strukturen mittlerweile auf einen starken Mann im Zentrum ausgerichtet hatten. Als niemand an die Stelle des Constantius trat, brachen offene Machtkämpfe aus. Die beiden Parteiungen gruppierten sich dabei einerseits um Honorius, andererseits um die Augusta Galla Placidia und ihren Sohn. Die Behauptung der Quellen, der Kaiser habe auf einmal ein unsittliches Verlangen nach seiner Halbschwester verspürt, verdient keinen Glauben. Die angeblich obszönen Gesten und Küsse, von denen Olympiodor berichtet, lassen sich eher als vergebliche Versuche, ostentativ geschwisterliche Eintracht zu demonstrieren, interpretieren.179 Viel besser lässt sich das Geschehen nämlich verstehen, wenn man davon ausgeht, dass der Hof nach wie vor tief gespalten war und sich nun nach einem Freund-Feind-Schema organisierte, in das die kaiserliche Familie verwickelt wurde, ob sie es wollte oder nicht (u Kap. 9.2). Die einen setzten ihre Hoffnung auf den kleinen Valentinian, der zwar inzwischen durch den Titel nobilissimus faktisch als vorläufiger Thronfolger gekennzeichnet, aber bezeichnenderweise weder zum Caesar noch gar zum Augustus erhoben worden war. Zu seinen Unterstützern gehörten offenbar insbesondere viele foederati, die einst Athaulf oder Constantius gedient und ihre Loyalität nun auf deren Witwe übertragen hatten. Die andere Hofpartei sammelte sich um den aufgrund seiner bisherigen Kinderlosigkeit verwundbaren Honorius, der sich offensichtlich weigerte, seinen Neffen mit dem Purpur zu bekleiden. Eine Konfrontation wurde schließlich unvermeidbar, und nachdem sich die bewaffneten Gefolgschaften des Kaisers und seiner Schwester erste Gefechte geliefert hatten, mussten Placidia und 179 Olymp. Frg. 38 (Blockley).
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5 Konsolidierung und Machtkämpfe
ihr Sohn Anfang 423 das Feld räumen; sie flüchteten nach Konstantinopel. Zu ihren wichtigsten Unterstützern zählte Bonifatius, der ein Gefolgsmann des Constantius gewesen war, für diesen einst bei Marseille gegen Athaulf gekämpft hatte und mittlerweile den so wichtigen Posten des comes Africae innehatte.180 Doch erneut trat keine Ruhe ein. Nur Monate, nachdem der Machtkampf entschieden schien, starb Honorius Ende August 423, einige Monate nach seinen Tricennalien, dem 30. Thronjubiläum, und wenige Tage vor seinem 39. Geburtstag. Wie im Falle des Constantius III. wird in den Quellen »Wassersucht« als Todesursache genannt. Das mag zutreffen, aber gewiss ist auch, dass es nicht wenige Menschen gab, die dem Kaiser den Tod gewünscht haben müssen. Jedenfalls stellte der Chronist Hydatius später mit einigem Recht fest, mit dem Verscheiden des Honorius sei das Imperium Romanum wieder eine monarchia unter dem alleinigen Augustus Theodosius II. geworden.181 Es ist aber völlig unklar, ob man am Bosporus tatsächlich plante, selbst die Regierung im Westen zu übernehmen; sicher ist nur, dass man vier Monate lang wenig unternahm. Wahrscheinlich war man schlicht ratlos, denn seinen Vetter Valentinian scheint Theodosius zunächst nicht als kaiserfähig betrachtet zu haben, war Placidias Sohn doch zugleich auch das Kind des Constantius, der im Osten ja als Usurpator galt. Der oströmische Kaiser misstraute seinen beiden Verwandten vermutlich zutiefst, da sie für ihn, der keinen Sohn hatte, potentiell nicht weniger gefährlich werden konnten, als sie es für seinen Onkel Honorius gewesen waren. Wie bereits 392 beschloss der westliche Hof daher nach einigem Zögern auch diesmal, selbst aktiv zu werden. Im November 423 wurde ein Zivilbeamter, der primicerius Johannes, zum neuen Kaiser ausgerufen.182 Wer genau hinter ihm stand, lässt sich schwer ausmachen, denn der nunmehr mächtigste Militär, der Heermeister Castinus, scheint sich nicht aktiv eingemischt zu haben. Möglicherweise war seine Position
180 Vgl. zu Bonifatius Wijnendaele 2015. 181 Hydat. Chron. 73 (Mommsen 82). 182 Späten Quellen zufolge soll Johannes gotischer Herkunft gewesen sein; vgl. PLRE II: 594 f.
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5.3 Machtvakuum
noch zu geschwächt, da er kurz zuvor eine empfindliche Niederlage gegen die Vandalen hatte hinnehmen müssen. Immerhin wurde er aber von Johannes zum Konsul ernannt.183 In Gallien hingegen stießen die Beamten, die der neue Augustus entsandte, auf gewaltsamen Widerstand, und in Karthago erklärte sich Bonifatius für die theodosianische Dynastie. Sucht man daher nach dem Mann, der hinter der Erhebung des offenbar beliebten, aber in keiner Weise ausgezeichneten Johannes gestanden haben mag, so fällt der Verdacht auf eine Gestalt, die die weströmische Geschichte der folgenden drei Jahrzehnte prägen sollte: Flavius Aëtius.184 Dieser stammte aus einer Familie der Militäraristokratie – sein Vater Gaudentius war ein magister militum –, hatte in der kaiserlichen Garde gedient, war einige Jahre lang Geisel bei gotischen und hunnischen Gruppen gewesen und bekleidete 423 das Hofamt der cura palatii. Seine Mutter entstammte wohl dem Senatorenstand (ordo senatorius). Entweder er selbst oder, sollte dieser noch gelebt haben, eher sein Vater Gaudentius kommen am ehesten als die treibenden Kräfte hinter Johannes in Frage, da sie in der Lage waren, sowohl wichtige Gruppen bei Hof und im Senat als auch das italische Feldheer (exercitus Italiae) für sich zu gewinnen. Dafür, dass zumindest ein Teil der zivilen Elite hinter der Kaisererhebung stand, spricht das überaus wohlwollende Urteil über Johannes, das Prokop später fällte: Er habe seine Macht stets maßvoll gebraucht, Verleumdern kein Gehör geschenkt, keine ungerechten Hinrichtungen veranlasst und das Vermögen der Menschen verschont.185 Doch 425 begann ein neuer Bürgerkrieg, als sich Theodosius II. genau wie einst sein Großvater entschied, keinen dynastiefremden Augustus im Westen anzuerkennen. Da der Perserkrieg inzwischen beendet war, konnte man ein starkes, kampferprobtes Heer ausrüsten, das
183 Prosper behauptet ausdrücklich, Castinus habe die Usurpation geduldet; Prosp. Tiro ad ann. 424. 184 Eine sehr gründliche Untersuchung zu Aëtius bietet Stickler 2002. Von seiner Interpretation der Ereignisse weicht meine Darstellung allerdings in mehreren Punkten ab. 185 Prok. Hist. 3,3,6 f.
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5 Konsolidierung und Machtkämpfe
Italien angreifen sollte. Galla Placidia wurde erneut zur Augusta erhoben, der fünfjährige Valentinian im Oktober 424 zum Caesar. Überdies verlobte Theodosius seinen Vetter mit seiner kleinen Tochter Licinia Eudoxia; damit band er Valentinian nicht nur noch enger an sich, sondern konstruierte zudem einen künstlichen Generationenunterschied, der die Hierarchie verdeutlichen sollte: In Zukunft sollte es keine Diskussionen mehr darüber geben, welcher der beiden Kaiser der höherrangige war. Ähnlich war bereits Jahrhunderte zuvor Marcus Aurelius mit seinem Adoptivbruder Lucius Verus verfahren.186 Die oströmischen Truppen wurden von den drei Feldherren Candidianus, Ardaburius und Aspar geführt, wobei die beiden letztgenannten Vater und Sohn waren. Ardaburius allerdings geriet in Gefangenschaft und wurde inhaftiert, während Candidianus erfolgreich vorrückte. Vermutlich fand Gaudentius damals in Gallien den Tod. Der junge Aspar begleitete Valentinian und Placidia. Aëtius war unterdessen ausgeschickt worden, um hunnische foederati anzuwerben.187 Doch noch bevor er mit einem starken Heer in Italien eintraf, war Johannes gestürzt worden: Ardaburius, den man ehrenvoll behandelt hatte, hatte das Militär am Hof gegen den Usurpator aufgewiegelt. Mutmaßlich handelte es sich um Männer, die bereits 423 auf der Seite der Augusta gestanden hatten. Johannes wurde an Placidia ausgeliefert, verstümmelt und geköpft. Drei Tage später kam es trotzdem noch zu einer blutigen Schlacht zwischen Aspar und Aëtius, was ein Indiz dafür ist, dass Letzterer nun vor allem für sich selbst kämpfte. Das Gefecht endete ohne Sieger, führte aber zu dem Ergebnis, dass dem Sohn des Gaudentius nicht nur Pardon, sondern auch die Beförderung zum comes gewährt wurde.188 Damit war der Sieg der theodosianischen Dynastie vollkommen. Am 23. Oktober 425 wurde Valentinian III. (425–455) in Rom zum Augustus ausgerufen und von Helio, dem magister officiorum seines Vetters, mit dem Diadem gekrönt.
186 HA Marcus 7,7; Cass. Dio 71,1,2 (Xiphil. 258). 187 Greg. Tur. Hist. 2,8. 188 Olymp. Frg. 43,2 (Blockley).
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5.4 Bonifatius und die Vandalen
5.4
Bonifatius und die Vandalen
Erneut schien Stabilität im Römischen Reich eingekehrt zu sein, und erneut täuschte der Eindruck.189 Wahrscheinlich bereits 426 (nach anderer Chronologie erst 430) musste Aëtius einen Feldzug gegen die einstige Gefolgschaft Athaulfs, die nun unter Vallias Nachfolger Theoderich I. kämpfte und die man spätestens jetzt der Einfachheit halber als »Westgoten« (Visigothi) bezeichnen kann, unternehmen, die Forderungen erhoben und Arles belagert hatte. Auch andere foederati scheinen angesichts des Bürgerkrieges und des anschließenden Machtwechsels im Westreich rebelliert zu haben. Dies kann man als das Aufbegehren nur mühsam kontrollierter Barbaren interpretieren, und das ist in der Tat die traditionelle Lesart. Vermutlich aber waren die entsprechenden foedera einfach ad personam geschlossen worden – in diesem Fall hätte man es im Grunde mit meuternden Soldaten zu tun, die nach einem Regimewechsel neu verhandeln wollten (und mussten).190 Auch der Aufstand der gotischen foederati war ja 395 nach dem Tod des Theodosius unter ähnlichen Bedingungen ausgebrochen, und in der Folgezeit sollte sich dieses Muster wiederholen. Wie dem auch sei: 427 unterdrückte Aëtius einen Aufruhr unter fränkischen Truppen am Rhein, und möglicherweise wurde zu dieser Zeit erwogen, auch Britannien wieder der Autorität Ravennas zu unterstellen. Zumindest ist vorgeschlagen worden, die Mission des Bischofs Germanus von Auxerre in diesem Zusammenhang zu verstehen. Dieser war offenbar ursprünglich ein kaiserlicher Würdenträger gewesen und überquerte um 428 den Kanal, um romtreue Christen gegen »Pelagianer« zu unterstützen und zugleich Kämpfe gegen die Picten, Stämme im Norden Britanniens, anzuführen.191
189 Vgl. zu den folgenden Ereignissen auch Stickler 2002: 35–48; Heather 2005: 260–262. 190 Vgl. zur Diskussion Schulz 1993: 21–28, der allerdings annimmt, die Abkommen seien nicht mit dem Tod eines der Partner erloschen. 191 Prosp. Tiro ad ann. 429. Vgl. Halsall 2007: 238.
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5 Konsolidierung und Machtkämpfe
Doch während die Zentralregierung bemüht war, ihren Zugriff auf Gallien zu stabilisieren, kam es auf der Iberischen Halbinsel zu folgenreichen Entwicklungen: Die Vandalen hatten sich von den Verlusten, die sie 422 im Kampf gegen Castinus erlitten hatten, wieder erholt und begannen, die römischen civitates der Region zu attackieren. Der Krieg ernährte den Krieg, denn die Vandalen hatten keinen Anspruch auf annona. Selbst die Balearen waren vor ihrem Angriff nicht sicher, aber Kontrolle ließ sich dauerhaft nur herstellen, wenn man die Verwaltungszentren besetzte. Und so unternahmen es die Krieger wiederholt, Sevilla, die wichtigste Stadt der Baetica, einzunehmen, was schließlich 428 auch gelang. Kurz darauf starb ihr Anführer (rex) Guntherich und wurde in dieser Position von seinem Halbbruder Geiserich beerbt.192 Unterdessen hatte Galla Placidia offenbar versucht, als Nachfolger des verbannten Castinus in Gestalt des Flavius Felix einen Heerführer von ihren Gnaden zu installieren. Bereits 425, gleich nach dem Regimewechsel, scheint er zum magister utriusque militiae ernannt worden zu sein, und 428 wurde er consul ordinarius, nachdem er 427 hunnische Gruppen in Pannonien geschlagen hatte. 429 machte man ihn schließlich zum patricius. Unglücklicherweise führte sein Aufstieg dazu, dass er mit dem comes Bonifatius aneinandergeriet, der von der Augusta wohl eine etwas eindrucksvollere Belohnung für seine Treue erwartet hatte. Später wurde behauptet, es sei Aëtius gewesen, der Placidia und Felix durch eine Intrige zu der Annahme veranlasst habe, der comes Africae plane einen Aufstand.193 Jedenfalls kam es zum offenen Schlagabtausch zwischen Felix und Bonifatius, der mehrere Angriffe abwehren konnte. Jordanes und Prokop berichten über ein Jahrhundert später, Bonifatius habe in dieser Situation die Vandalen unter Geiserich hochverräterisch nach Africa eingeladen, damit diese ihn gegen die Angriffe der Zentrale unterstützen könnten.194 Diese Geschichte ist, wie in der Forschung längst gesehen wurde, verdächtig, denn das Motiv des Verrä192 Vgl. Walter 2007; Arce 2009. 193 Prok. Hist. 3,3,16–31. 194 Prok. Hist. 3,3,22–26; Iord. Get. 167.
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5.4 Bonifatius und die Vandalen
ters, der »barbarische« Feinde ins Land holt, ist in der antiken Historiographie stets beliebt gewesen. Es mag daher durchaus sein, dass die späteren Autoren die Geschichte von der Einladung der Vandalen erfunden haben, um im Rückblick erklärbar zu machen, wie das reiche Nordafrika dem Imperium Romanum verloren gehen konnte. Allerdings setzt dies voraus, dass auch die Zeitgenossen des Jahres 429 die vandalischen Krieger tatsächlich als gefährliche Feinde des Römischen Reiches sahen und nicht einfach als eine von mehreren bewaffneten Gruppen, die ihre Dienste feilboten. Possidius bezeugt, dass auch viele Krieger gotischer und sonstiger Herkunft Geiserich folgten.195 Zudem hielten sich die Vandalen und Alanen damals bereits seit über zwei Jahrzehnten im Imperium Romanum auf; die Vandalen wohl sogar noch länger, da ihre Vorfahren offenbar von Konstantin I. in Pannonien angesiedelt worden waren.196 Stilicho, Sohn eines Vandalen und einer Römerin, ist das beste Beispiel für ihre Verankerung in der römischen Gesellschaft. Es muss daher 429 nicht unbedingt als Hochverrat erschienen sein, einen solchen Verband im Rahmen eines Bürgerkrieges anzuwerben. Und eine Unterstützung durch eine römische Flotte würde auch erklären, wieso Geiserich die logistisch schwierige Überfahrt gelang.197 Gut denkbar ist aber selbstverständlich auch, dass Geiserich aus eigenem Antrieb handelte und ganz einfach eine naheliegende Idee umsetzte, an der Alarich und Vallia zuvor gescheitert waren.198 Jedenfalls setzten er und sein Verband – angeblich 80 000 Menschen – im Jahr 429 nach Nordafrika über. Sollten sie zuvor tatsächlich ein foedus mit Bonifatius geschlossen haben, so brachen sie es ziemlich unverzüglich, und der comes hatte nun an zwei Fronten zugleich zu kämpfen. Fragt man sich daher, wem die vandalische Invasion den größten Nutzen brachte, so kommt man nicht umhin, auch Felix und Aëtius als Verdächtige zu benennen.
195 196 197 198
Possid. Vita August. 28. Iord. Get. 115. Vgl. Steinacher 2016: 92 f. Vgl. Wijnendaele 2015: 87–89.
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5 Konsolidierung und Machtkämpfe
Denn der römische Bürgerkrieg setzte sich fort. Noch immer rangen mindestens drei Feldherren um die Position des eigentlichen Machthabers: Felix, Bonifatius und Aëtius. Vermutlich war es dieser, der im Mai 430 einen Soldatenaufstand in Ravenna provozierte, der zum Lynchmord an Felix führte.199 Jedenfalls rückte er nun in die Stellung auf, die er wohl bereits seit Jahren angestrebt hatte, und wurde magister utriusque militiae. 431 festigte er sein Ansehen bei den Soldaten durch einen Sieg über plündernde Juthungen und unterdrückte eine Rebellion im Noricum. Für 432 wurde er zum consul ordinarius ernannt. Inzwischen hatten sich die Kampfhandlungen in Nordafrika fortgesetzt, und zwar unter Beteiligung oströmischer Truppen: Theodosius II. hielt die Aktivitäten Geiserichs für so gefährlich für das Gesamtreich, dass er ein Heer unter Aspar entsandt hatte. Denkbar ist, dass man Bonifatius damit auch Rückendeckung gegenüber Aëtius geben wollte. Es sollte jedenfalls nicht das letzte Mal sein, dass Konstantinopel in Africa eingriff. Ungeachtet der bedrohlichen Situation verließ Bonifatius 432 Nordafrika und begab sich mit einem Heer nach Italien. Offenbar betrachtete Galla Placidia nun Aëtius als die hauptsächliche Bedrohung und suchte darum die Versöhnung mit ihrem alten Verbündeten Bonifatius, den sie zum Heermeister und vielleicht auch zum patricius ernennen ließ. Dieser führte einen offenen Bürgerkrieg gegen Aëtius, der sich wie einst Stilicho vor allem auf eine vielköpfige Leibgarde (bucellarii) stützte,200 aber zuletzt bei Rimini von seinem Rivalen geschlagen wurde und sich anschließend auf seine italischen Güter zurückzog. Damit schien die factio der Kaiserin obsiegt zu haben. Doch Bonifatius war in der Schlacht schwer verletzt worden und erlag nach drei Monaten Todeskampf seinen Wunden. Placidia gab noch nicht auf und ernannte seinen Schwiegersohn Sebastianus zum neuen magister militum,201 der Aëtius angriff und zur Flucht zu dessen hunnischen Verbündeten zwang. Gemeinsam mit diesen erschien er erneut in Italien,202 nötigte Sebastianus
199 200 201 202
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Ioh. Antioch. Frg. 201 (Müller); Prosp. Tiro ad ann. 430. Vgl. Schmitt 1994. Vgl. Scharf 1989. Chron. Gall. a 452 (ad ann. 433).
5.4 Bonifatius und die Vandalen
zum Ausweichen, bis dieser nach Konstantinopel floh, heiratete die Witwe des Bonifatius und bewog den Hof dazu, ihn 433 wieder zum obersten Heermeister zu ernennen.203 Der Machtkampf war vorüber. Der Versuch der weströmischen Regierung und ziviler Würdenträger, die Militärs gegeneinander auszuspielen, hatte keinen Erfolg gehabt. Im Gegenteil. Als Ergebnis des erneuten Bürgerkrieges standen unkontrollierbare vandalische und alanische Verbände in Nordafrika und bedrohten Karthago, von dessen Besitz Italien doch so abhängig war. Den Aufstieg des Aëtius zum neuen starken Mann im Westen hingegen hatte man nicht verhindern können. Die Politik der Augusta und ihrer Umgebung war katastrophal gescheitert. Weder sie noch gar der junge Kaiser Valentinian III. waren fortan diejenigen, die die tatsächlichen Entscheidungen treffen konnten.204 Bemerkenswert an den Bürgerkriegen nach 425 ist der Umstand, dass es diesmal, anders als noch in den Jahren um 410, keine Usurpationsversuche gegeben zu haben scheint. Sowohl Felix als auch Bonifatius und Aëtius konnten selbst jenen, die nur »geborene Römer« für kaiserfähig hielten, durchaus als mögliche Augusti erscheinen. Aber im Unterschied zu Konstantin (III.) scheinen sie, ähnlich wie wohl schon Gerontius, kein Bedürfnis verspürt zu haben, selbst nach dem Purpur zu greifen. Es war die Position des informellen Machthabers, des starken Mannes hinter dem Kaiserthron, um die nun gekämpft wurde. Die Bürgerkriege seit dem Tod des Honorius unterschieden sich damit strukturell von jenen, die für das 3. und 4. Jahrhundert typisch gewesen waren. Nichts verdeutlicht besser, wie geschwächt die weströmische Monarchie inzwischen war. Und war das Kaisertum schwach, dann waren langfristig auch der Zusammenhalt und die territoriale Integrität des Imperiums bedroht.
203 Vgl. auch Stickler 2002: 48–56. 204 Vgl. Heather 2005: 262; Krause 2018: 144.
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5 Konsolidierung und Machtkämpfe
Abb. 2: Das Mausoleum der Galla Placidia in Ravenna. Die Augusta wurde hier allerdings wahrscheinlich nicht beigesetzt.
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Im Schatten des Heermeisters
Wie bereits im Fall von Stilicho und Constantius ist kaum mit Sicherheit zu sagen, wie umfassend die großenteils informelle Machtfülle war, die Aëtius fortan auf sich vereinigen konnte. Zumindest scheint seine Stellung zunächst noch der Konsolidierung bedurft zu haben, denn erst im September 435 wurde ihm der Titel patricius verliehen, der – in Verbindung mit dem Posten als erster Heermeister – im römischen Westen spätestens jetzt zum Kennzeichen des faktischen Regenten geworden war.205 Gewissheit lässt sich auch in diesem Punkt nicht erreichen, aber die Vermutung liegt nahe, dass es bis 435 immer noch andere Militärs gab, auf die die Gegner des Aëtius ihre Hoffnungen setzten. Zunächst wird dies noch Sebastianus gewesen sein; aber warum sollten sich die Blicke dann nicht erneut auf das so wichtige Nordafrika gerichtet haben? Vieles spricht dafür, dass man Geiserich damals kaum von anderen Heerführern im Imperium Romanum unterscheiden konnte; und nachdem das Eingreifen Ostroms die Vandalen und Alanen nicht hatte aufhalten können, rückten sie nun auf Karthago zu. Genau wie zuvor Gildo, Heraclianus oder Bonifatius hätte Geiserich von dort aus wirksam Druck auf die jeweils in Ravenna herrschende Partei ausüben können. Aber 435 gelang es Aëtius, ein foedus mit Geiserich abzuschließen, dessen Vormarsch damit zunächst beendet war.206 Ein Zusammenhang zwischen diesem Vertrag und der wenige Monate später erfolgten Erhebung des Aëtius zum patricius ist zumindest wahrscheinlich.
205 Vgl. Stickler 2002: 58–70. 206 Prosp. Tiro ad ann. 435.
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6 Im Schatten des Heermeisters
6.1
Abfallbewegungen und Reaktionen
Die Stellung des magister militum in Ravenna konnte jetzt vorläufig als gefestigt gelten, aber für die Kontrolle der von ihm faktisch geführten Zentralregierung über das Weströmische Reich galt dies keineswegs: Bürgerkrieg und Regimewechsel führten wieder zu Abfallbewegungen und Meutereien, und die nach der scheinbaren Konsolidierung unter Constantius erneut offenbar gewordene Unfähigkeit Ravennas, für Frieden und Sicherheit im Imperium zu sorgen, führte zu Aufständen. In der wohl um diese Zeit entstandenen Komödie Querolus ist von Bauern (rustici) an der Loire die Rede, bei denen die Gesetze der Römer keine Geltung mehr besäßen.207 In Gallien und Hispanien traten nun wieder, wie bereits im 3. Jahrhundert, Bagauden auf, die nur mit Mühe und in jahrelangen Kämpfen besiegt werden konnten.208 Die Sueben, die inzwischen als foederati in der Provinz Gallaecia ansässig waren, begannen nun mit Plünderungszügen auf der Iberischen Halbinsel. Auch salfränkische Verbände in Nordgallien,209 die Aëtius bereits 428 bekämpft hatte, nutzten offenbar unter ihrem rex Chlodio die Schwäche der Zentralmacht aus und konnten erst nach 440, vielleicht 447, in einer Schlacht am vicus Helena vorläufig besiegt werden.210 Aremorica, die heutige Bretagne, scheint sich unter eigenen Anführern 435 von Ravenna losgesagt zu haben und konnte nicht wieder unterworfen werden. Die Westgoten erschienen erneut in Waffen vor Arles, um ein neues foedus zu erpressen, konnten aber 436 vom magister militum per Gallias Litorius im Auftrag des Aëtius besiegt werden, als sie versuchten, Narbonne einzunehmen.
207 208 209 210
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Quer. siv. Aulul. (ed. Ranstrand) 17,13. Vgl. León 1996; Stickler 2002: 190–198. Vgl. zu den Franken Nonn 2010. Sidon. Carm. 5,2,210–254; Greg. Tur. Hist. 2,9. Vgl. Geary 2007: 87; Becher 2011: 119 f.
6.1 Abfallbewegungen und Reaktionen
Auch die burgundischen foederati am Rhein sahen nun offenbar die Gelegenheit gekommen, den Bereich, aus dem sie ihre annona bezogen, auf eigene Faust zu vergrößern. Spätestens seit 413 überwachten sie in römischen Diensten loyal die Reichsgrenze.211 Nun aber versuchten sie unter ihrem rex Gunthahar, ihren Einflussbereich auf die wohlhabende Provinz Belgica Prima auszudehnen. Bereits 435 wurden sie von den Truppen des Aëtius ein erstes Mal besiegt und mussten sich zurückziehen; aber der patricius entschied sich offenbar dafür, ein Exempel zu statuieren und ein für alle Mal zu demonstrieren, was aufständischen Soldaten drohte. 436 sandte er eine große Zahl föderierter Hunnen gegen die Burgunder aus. Sie leisteten gründliche Arbeit, töteten Gunthahar und richteten unter seinen Männern ein Blutbad an, das in der Tat großen Eindruck unter den germanischen foederati hinterließ: Die Ereignisse gingen in die Sage ein und bildeten einen Kern des Nibelungenliedes.212 Weiterhin dunkel bleibt das Geschehen in Britannien. Dass zwischen der römisch-keltischen Bevölkerung auf der Insel und in Gallien noch Kontakte bestanden, steht fest, und glaubt man dem Bericht des Gildas, so baten die Briten wiederholt um kaiserliche Truppen. Als diese ausblieben, scheint man zu Anpassungsstrategien gegriffen zu haben. Bereits im späteren 4. Jahrhundert hatte Flavius Theodosius, der Großvater von Honorius und Arcadius, das römische Britannien im Auftrag Valentinians I. reorganisiert und dabei an den Grenzen offenbar vier Militärbezirke etabliert, deren Beziehung zu den damals fünf britannischen Provinzen unklar ist. Ihre Befehlshaber waren Römer, und nach dem Abzug der Feldarmee unter Konstantin (III.) scheinen sie ihre Position vererbt und sich in faktisch autonome warlords verwandelt zu haben.213 Vielleicht war es einer von diesen Männern, der die Macht über die civitates in Britannien an sich riss. Jedenfalls erscheint bei Gildas später ein superbus tyrannus, also ein »hochmütiger Usurpator«. Seit Beda Venerabilis (um 700) gibt ihm die Tradition den Namen »Vorti211 Prosp. Tiro ad ann. 413; Oros. 7,32. 212 Vgl. Stickler 2002: 180–185; Heinzle 2003. 213 Vgl. Vanderspoel 2009.
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6 Im Schatten des Heermeisters
gern«, was aber wahrscheinlich eher ein keltischer Titel ist und so viel wie Oberster Herr bedeutet.214 Bei aller Verzerrung kann man das, was Gildas im 23. Kapitel von De Excidio Britanniae berichtet, vor dem Hintergrund der weströmischen Geschichte des 5. Jahrhunderts zumindest recht plausibel rekonstruieren: Der namenlose Usurpator veranlasste die römischen Gemeinden Britanniens zu einem unklaren Zeitpunkt dazu, angesichts der Abwesenheit kaiserlicher Truppen germanische foederati anzuwerben. Das foedus kam zustande, und insbesondere Soldaten, die die Quellen als Angeln und Sachsen bezeichnen, traten in die Dienste der Römer. Zumindest ein Teil von ihnen hielt sich zuvor noch nicht auf der Insel auf; das Ausmaß der Zuwanderung ist aber umstritten. Die foederati kämpften tatsächlich eine gewisse Zeit gegen die Picten, doch dann geschah das, was auch auf dem Festland so oft passierte – aus einem unbekannten Anlass forderten die Krieger eine Neuverhandlung des Bündnisses. Mutmaßlich war der tyrannus gestorben. Laut Gildas genügte ihnen jedenfalls die monatliche annona, die man ihnen zugestand, nicht mehr. Sie rebellierten, und in langwierigen Kämpfen dehnten sie ihren Machtbereich aus. Wann genau das foedus zerbrach und die Militärrevolte begann, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Die anonyme gallische Chronik von 452 notiert allerdings für das Jahr 441, Britannien, das bereits seit einer Weile von Unheil heimgesucht worden sei, sei zu diesem Zeitpunkt unter sächsische Herrschaft gelangt; und Gildas erwähnt ein Hilfegesuch der Römer auf der Insel an Aëtius im Jahr 446.215 Kurzum, mit der faktischen Machtübernahme des Heermeisters entglitt der weströmischen Regierung erneut die Kontrolle über einige Gebiete sowie insbesondere über mehrere Verbände von foederati, und die Mittel genügten nicht, um all diese Probleme zugleich in den Griff zu bekommen. Unter den umherstreifenden Soldaten, die ihnen sämtlich als »Barbaren« galten, hatten vor allem die Provinzialen zu leiden.
214 Vgl. Traina 2009: 77 f. Anregend, aber teils hochspekulativ, ist Laycock 2009: 41–68. Eine allgemeine Darstellung der Dark Ages Britanniens bietet Halsall 2013. 215 Chron. Gall. 452 (ad ann. 441); Gild. De Ex. 20.
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6.1 Abfallbewegungen und Reaktionen
Es ist daher wohl vor allem diese chaotische Situation, die der Gallorömer Orientius um 435 in seinem Commonitorium beklagte.216 Dort heißt es: »Nicht dichte Wälder oder hohe, unerklimmbare Berge, nicht tobende Ströme mit ihren gewaltigen Wirbeln, nicht sorgfältig angelegte Festungen, nicht Städte, umgeben von Mauern, nicht Stellungen, umflutet von der See, nicht das Elend entlegener Verstecke, nicht die Finsternis von Höhlen, nicht unfreundliche Hütten zwischen Felsen – nichts hat etwas genützt, um uns vor den Barbaren zu beschützen, die uns in Horden jagen.«
Es waren die beiden römischen Feldarmeen in Gallien und Italien gewesen, die in den Bürgerkriegen den höchsten Blutzoll entrichtet hatten, und um rasch wieder an Schlagkraft zu gewinnen, blieb Ravenna gar nichts anderes übrig, als dem Vorbild von Stilicho und Constantius zu folgen und in erheblichem Maße neue foedera mit Kriegergruppen diesseits und jenseits der Reichsgrenzen zu schließen.217 Gerade Aëtius scheint dabei vor allem auf hunnische Krieger gesetzt zu haben. Doch waren diese nicht unbesiegbar: 438 oder eher 439 stellte Litorius an der Spitze eines starken hunnisch-römischen Verbandes die Westgoten erneut zur Schlacht, um Südgallien wieder fest unter die Kontrolle der Zentrale zu bringen, doch er erlitt eine schwere Niederlage und fand den Tod.218 439 schloss man einen ungünstigen Frieden mit den Goten. Es scheint dieser Moment der offensichtlichen Schwäche gewesen zu sein, der Geiserich dazu veranlasste, das foedus von 435 zu brechen.219 Ende 439 nahmen seine Männer im Handstreich Karthago und die reiche Africa Proconsularis ein. Vielleicht wollte er damit einer weströmischen Offensive zuvor kommen. Wie folgenreich dieser Schritt sein sollte, wird damals wenigen Beobachtern gleich bewusst gewesen sein. Doch dass sich in diesem Moment die Gewichte entscheidend verschoben, muss den Akteuren rasch klar geworden sein. Geiserich hatte die Hand an die Kehle des Westreichs gelegt. Gegen ihn war die Machtfrage künftig nicht mehr zu entscheiden.
216 217 218 219
Orient. Comm. 2, 167–172. Vgl. Halsall 2007: 242 f. Salv. Gub. dei 9 f. Prosp. Tiro ad ann. 439.
85
6 Im Schatten des Heermeisters
6.2
Geiserich
Tatsächlich griff eine vandalische Flotte bereits im Jahr 440 Sizilien an. Zumeist versteht man dies als Versuch, die reiche Insel zu plündern und zugleich Attacken auf Africa zuvorzukommen.220 In den Quellen erscheinen die Vandalen als wahllos zuschlagende Piraten.221 Doch ebenso plausibel ist die Annahme, dass Geiserich nun überdies in den Kampf um die Macht im Zentrum einzugreifen gedachte, so wie einst Gildo und Heraclianus. In diesem Fall hätte die Attacke in erster Linie Aëtius gegolten. Hinter einem solchen Plan könnte Sebastianus gestanden haben, der auf der Suche nach Unterstützung gegen die Machthaber in Ravenna zunächst nach Ostrom, dann zu den Westgoten und schließlich als hostis publicus weiter zu den Vandalen geflüchtet war.222 Möglicherweise wollte Geiserich aber auch einfach den Abschluss eines neuen foedus erzwingen, um so seine Stellung in Karthago zu legitimieren. Seine Männer stießen jedenfalls auf Widerstand, und 441 traf zudem eine große oströmische Flotte auf Sizilien ein, um in den Kampf gegen die Vandalen einzugreifen.223 Theodosius II. und seine Berater müssen entschieden haben, dass Geiserichs neu erworbene Machtposition die Sicherheit des Gesamtreichs und damit der Dynastie bedrohte, überdies scheinen sich die Vandalen in Africa gegenüber der römischen Aristokratie nicht eben zimperlich verhalten zu haben. Kurzum, Geiserich, der bald anfing, Münzen im eigenen Namen schlagen zu lassen, musste als Reichsfeind gelten und bekämpft werden. Aëtius hatte bereits vor 439 großen Wert auf die Verbesserung der Beziehungen zum Osten gelegt, denn an einer weiteren Front konnte ihm unmöglich gelegen sein. 437 war Valentinian III. daher nach 13 Jahren noch einmal in die andere Reichshälfte zurückgekehrt, um dort Licinia Eudoxia zu heiraten.224 Der Westkaiser war nun also der
220 221 222 223 224
86
Vgl. Clover 1999: 236 f. Prok. Hist. 3,5,24. Vgl. PLRE II: 983 f. Prosp. Tiro ad ann. 441. Die Hochzeit fand am 29. Oktober 437 statt; Chron. Pasch. ad ann. 437.
6.2 Geiserich
Abb. 3: Diese Goldmünze zeigt auf der Rückseite die Hochzeit Valentinians III. mit Licinia Eudoxia. Zwischen den Brautleuten steht Theodosius II.
Schwiegersohn seines Vetters im Osten. Man achtete in Ravenna zudem darauf, im offiziellen Kontext stets den Namen des senior Augustus Theodosius II. an erster Stelle zu nennen. Gut erkennbar ist dies etwa an der Vorrede zum Codex Theodosianus.225 Diese Gesetzessammlung war im Osten in mehrjähriger Arbeit erstellt worden, und die weströmische Regierung beeilte sich, das prestigeträchtige Werk 438 ohne Verzug in seiner Gesamtheit auch in ihrem Reichsteil in Kraft zu setzen. Der Codex sollte auf die leges, die später von fränkischen und gotischen reges erlassen wurden, großen Einfluss haben. Zudem gab der westliche Hof nun offenbar seine Ansprüche auf die seit Jahrzehnten umstrittenen Gebiete im Balkanraum auf. Es liegt nahe, dass Aëtius hoffte, im Gegenzug auf Unterstützung rechnen zu dürfen. Und zunächst sah es so aus, als ginge diese Rechnung auch auf. Doch nachdem die Oströmer eine Weile auf Sizilien gekämpft hatten, ohne nennenswerte Erfolge erzielen zu können, wurde die Flotte zurückbeordert. Anlass hierfür war ein erneuter Perserkrieg: Der neue sasanidische Großkönig Yazdgird II. hatte von Theodosius II. die Zahlung von Jahrgeldern verlangt, was zwar keine nennenswerte Belastung für die gut gefüllte Kasse des Ostreichs, wohl aber eine erhebliche Schmach dargestellt hätte. Für Theodosius, der ja schon gegenüber sei225 Cod. Theod. min. sen.
87
6 Im Schatten des Heermeisters
nem westlichen Kollegen peinlich genau auf Rangfragen achtete, kam eine derartige symbolische Unterordnung zunächst nicht in Frage. Nach längeren Verhandlungen antwortete Yazdgird mit Krieg und fiel überraschend mit einem Heer in den römischen Osten ein.226 Obwohl die Kämpfe nur wenige Wochen dauern sollten, da Theodosius II. angesichts einer sich auf dem Balkan formierenden neuen Bedrohung – Attila – rasch bereit war, nun doch der Zahlung von Jahrgeldern zuzustimmen, war der gemeinsame Kampf beider Kaiserhöfe gegen Geiserich damit vorerst beendet. Es dürfte Aëtius gewesen sein, der nun die Konsequenzen zog und Valentinian III. dazu bewog, 442 ein neues foedus mit Geiserich zu schließen, das diesem die Kontrolle der reichsten nordafrikanischen Provinzen zusicherte. Aus Sicht Ravennas blieb das Gebiet dabei formal selbstverständlich Teil des Römischen Reiches.227 Die Folgen waren dennoch erheblich. Zwar erreichten jetzt wieder Getreideschiffe Italien, aber nachdem aufgrund der kriegerischen Ereignisse und zentrifugalen Tendenzen bereits seit Jahren nur noch wenig Steuergelder aus Hispanien, Gallien oder gar Britannien in Ravenna eingetroffen waren, brachen nun auch die Einnahmen aus der wohlhabendsten Region Westroms ersatzlos weg. Wie sollte unter diesen Umständen die militärische Schlagkraft des Imperiums erhalten bleiben? Im Jahr 444 beklagte die kaiserliche Kanzlei in einem Gesetz folglich auch ganz offen, man könne kaum neue reguläre Truppen anheuern, da man nicht einmal mehr genug Mittel habe, um die annona der bereits bestehenden Einheiten zu gewährleisten.228 Unterdessen etablierte Geiserich seine Herrschaft in Africa. Er nannte sich wohl rex Vandalorum et Alanorum229 und führte eine neue Zeitrechnung ein, die mit dem Jahr des Einzugs in Karthago begann. Noch 442 scheint es zu einer Verschwörung gegen ihn gekommen zu sein, deren Hintergründe nicht klar sind und die blutig unterdrückt
226 227 228 229
88
Vgl. Greatrex 1993; Börm 2008b. Nov. Val. 12. Nov. Val. 15. Vgl. zur Finanzpolitik auch Stickler 2002: 291–296. Sicher belegt ist der Titel erst unter Geiserichs Nachfolgern; vgl. z. B. CIL VIII 17 412.
6.2 Geiserich
wurde.230 Anschließend fuhr Geiserich mit der Konsolidierungspolitik fort. Ein Teil der bisherigen Großgrundbesitzer wurde enteignet bzw. dem Kommando vandalischer Aristokraten unterstellt; die Krieger Geiserichs wurden auf steuerfreien Landgütern, den sortes Vandalorum, angesiedelt. Anstößig war offenbar die Religionspolitik der neuen Herren. Denn wie ein großer Teil der foederati waren auch die Vandalen in ihrer Mehrzahl zwar Christen, allerdings Arianer oder, wie man in der neueren Forschung lieber sagt, »Homöer«. Als Theodosius I. seinerzeit das trinitarische Christentum (mehr oder weniger) zur Staatsreligion erklärt hatte (u Kap. 13.1), galt dies nicht für die föderierten Truppen, und diese hatten die neue Religion in den Jahren zuvor vielfach in ihrer arianischen Spielart angenommen.231 Das antitrinitarische Bekenntnis der meisten Vandalen wich also von dem der »Katholiken« ab, und es hat den Anschein, als habe Geiserich dies zu einer Frage von Loyalität erklärt: Hielt man es mit seiner Konfession oder mit der des Kaisers? Das war in gewisser Hinsicht nur konsequent, denn die spätantiken Augusti hatten in dieser Beziehung oft nicht viel anders gehandelt. Jedenfalls scheint die Religion von Geiserich als eine Möglichkeit betrachtet worden zu sein, seinem Verband eine eigene, von der römisch-afrikanischen verschiedene Identität zu geben. Es ist bemerkenswert, dass er dies offenbar für notwendig hielt. Die literarischen Quellen, allen voran Victor von Vita, schildern die Ereignisse in Africa aus katholisch-römischer Perspektive und werfen den Vandalen vor, die blühende Provinz verwüstet zu haben. Der archäologische Befund scheint diese Aussagen allerdings nicht zu stützen.232 Dass es beim Einmarsch Geiserichs zu Brandschatzungen kam, liegt auf der Hand. Aber da der Heerführer offensichtlich von Anfang an plante, Karthago längerfristig als seine Basis und Hauptstadt zu wählen, ist kaum damit zu rechnen, dass er die Kuh schlachtete, die er
230 Vgl. neben dem allgemeinen Überblick Castritius 2007 insbesondere die Beiträge in Merrills 2004 sowie Steinacher 2011, Vössing 2014 und Steinacher 2016 (grundlegend). Zur Verschwörung: Prosp. Tiro ad ann. 442. 231 Vgl. Leppin 2003a: 169–181; Brennecke 2008. 232 Vict. Vit. Hist. 1,2–4. Vgl. Christie 2011: 1–3.
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6 Im Schatten des Heermeisters
zu melken gedachte. Die ökonomischen Strukturen des eroberten Gebietes scheinen daher trotz mancher Eingriffe insgesamt intakt geblieben zu sein und die Vandalen folglich ausreichend mit annona versorgt zu haben.233 Und obwohl eine erhebliche Zahl von Menschen aus Africa geflohen zu sein scheint, ist das tatsächliche Ausmaß der religiösen Verfolgungen schwer zu bestimmen, da es an einigermaßen unparteiischen Zeugnissen fehlt. Dass die Neuankömmlinge jedenfalls sehr bald selbst einen durchaus »römischen« Lebensstil zu pflegen begannen, bestätigt nicht nur die Archäologie, sondern auch Prokop, der den »barbarischen« Vandalen im Rückblick ausgerechnet deshalb den Vorwurf der Verweichlichung machen sollte.234
6.3
Attila und die Hunnen
Nicht nur der Perserkrieg war, wie erwähnt, für den Abbruch der oströmischen Flottenoperation gegen Geiserich verantwortlich gewesen, sondern auch die Formierung einer neuen Macht an der Peripherie des Imperium Romanum: die Hunnen Attilas.235 Seit ihrem ersten Auftreten im römischen Blickfeld 375 (u Kap. 3.3) hatten hunnische Gruppen eine schillernde Rolle gespielt. Die Herkunft der Hunnen und der Charakter des Verbandes, den seit etwa 434 Attila und sein Bruder Bleda führten, sind dabei in der Forschung seit langer Zeit umstritten. Die Annahme, die ersten Hunnen seien Nachfahren der aus Innerasien stammenden Hsiung-Nu gewesen, die in chinesischen und sogdischen Quellen erwähnt werden, ist derzeit zwar etwas aus der Mode geraten,236 hat aber noch immer Anhänger.237 Als sicher kann allerdings
233 234 235 236 237
90
Vgl. Lepelley 2006; Halsall 2007: 321–327. Prok. Hist. 4,6,5–9. Vgl. Fehr/Von Rummel 2011: 140–144. Theoph. AM 5942. Eine gute Zusammenfassung der Debatte bietet Brosseder 2018. Vgl. einführend zu den Hunnen Stickler 2007; Kelly 2008: 29–35.
6.3 Attila und die Hunnen
gelten, dass der Großverband, der um 440 als »Hunnen« bezeichnet wurde, inzwischen teilweise aus Menschen unterschiedlichster Herkunft bestand.238 Veranschaulicht wird dies durch den berühmten Augenzeugenbericht des Oströmers Priscus,239 der etwa 448 eine kaiserliche Gesandtschaft an Attila begleitet hatte: »Während ich die Außenmauer des Palastes [von Attila] entlang spazierte, trat jemand, den ich nach seiner barbarischen Kleidung für einen Hunnen hielt, auf mich zu und begrüßte mich auf Griechisch mit χαĩρε [»Sei gegrüßt«]. Ich war überrumpelt, einen Hunnen Griechisch sprechen zu hören. Da sie ein Gemisch aus vielen Völkern sind, sprechen sie zusätzlich zu ihrer jeweiligen Sprache Hunnisch und Gotisch oder, wenn sie mit Römern zu tun haben, Latein. Doch fast keiner kann Griechisch (…). Dieser Mann jedoch war ein gepflegter Hunne mit feiner Kleidung und Spangen im Haar. Ich erwiderte seinen Gruß und fragte ihn, wer er sei und woher er in das Land der Barbaren gekommen sei, um wie ein Skythe zu leben (…). Er lachte und sagte, er sei ein Grieche und nach Viminacium, eine Stadt an der Donau in der Provinz Moesia, gekommen, um dort Handel zu treiben. Dort lebte er lange und heiratete eine sehr reiche Frau. Als aber die Barbaren die Stadt einnahmen, verlor er seinen Besitz und wurde bei der Verteilung der Beute dem Onegesius zugesprochen (…). Nachdem er in einer Schlacht gegen die Römer und gegen die Akatiri seinen Mut bewiesen und, nach hunnischem Brauch, seine Beute seinem Herren überlassen hatte, war er von diesem freigelassen worden. Dann hatte er eine barbarische Frau geheiratet und wieder Kinder bekommen, und als Tischgenosse des Onegesius lebte er nun ein besseres Leben als je zuvor.«
Bereits Attilas Onkel Rugila (oder Ruga) war es offenbar gelungen, einen großen Teil der verschiedenen Gruppen, die sich als Hunnen verstanden, unter seiner Herrschaft zu vereinen; und er war es auch gewesen, mit dessen Hilfe Aëtius, der das Potential dieser Machtkonzentration früh erkannt haben muss, 433 seine Rückkehr nach Ravenna erzwungen hatte.240 Ziel der Hunnen, die zumindest halbnomadisch lebten, war es, auf die eine oder andere Weise am Reichtum des Imperium Romanum teilzuhaben. Im Grunde wählten sie dabei dieselben 238 Vgl. Geary 2002: 111–115. 239 Prisc. Frg. 11,2,405–435 (Blockley). Das anschließende Gespräch ist in hohem Maße stilisiert und erfüllt bestimmte Funktionen im Werk, darunter Kaiserkritik. Die Ausgangssituation halte ich dennoch für authentisch. 240 Chron. Gall. a 452 (ad ann. 433).
91
6 Im Schatten des Heermeisters
drei Strategien wie die germanischen gentes im Vorfeld der Reichsgrenzen, von denen sie im Laufe der Zeit viele unter ihre Kontrolle brachten: Sie boten erstens den Römern an, als foederati zu dienen. Sie unternahmen zweitens, sofern die Situation günstig schien, Plünderungszüge. Und sie versuchten drittens, Jahrgelder bzw. Tribute zu erpressen, um gesicherte Einkünfte zu haben. Man hat bereits früh vermutet, dass die oströmische Regierung die Machtkonzentration jenseits der Donau zunächst begrüßt und vielleicht sogar gezielt befördert haben könnte.241 Zu beweisen ist das nicht; aber ein solches Vorgehen hätte wohl in das Muster »imperialer Außenpolitik« gepasst: Bereits die »germanischen Großstämme« waren im 2. und 3. Jahrhundert wahrscheinlich (auch) dadurch zustande gekommen, dass die Römer einzelne Anführer gezielt gefördert und an sich gebunden hatten (u Kap. 11.3), um auf diese Weise eine indirekte Herrschaft über das Limesvorland zu etablieren. Die Kaiser hatten gewissermaßen das Chaos geordnet und damit unabsichtlich selbst wesentliche Voraussetzungen dafür geschaffen, dass das militärische Potential auf der anderen Seite der Grenze erheblich wachsen konnte.242 Trifft diese Hypothese zu, so mag der oströmische Hof im 5. Jahrhundert versucht haben, mit Hilfe der Etablierung eines hunnischen Großreichs eine Befriedung der Donaugrenze zu erreichen. Das wäre weniger paradox gewesen, als es zunächst klingt: Im 4. und 5. Jahrhundert hatten die Römer an Rhein und Donau nämlich weniger mit großen Heeren aus »Barbaren« zu kämpfen – Radagaisus war 405 eine Ausnahme gewesen –, als vielmehr mit einer ständigen Bedrohung durch eher kleine, nicht zentral organisierte Kriegergruppen, die die Grenze überschritten und Reichsterritorium plünderten. Wenn es gelang, nördlich der Donau einen zuverlässigen Vertragspartner zu etablieren, der das Vorland notfalls gewaltsam kontrollierte, so musste dies die Stabilität enorm erhöhen. Ist diese Annahme zutreffend, so stand dem oströmischen Hof dabei vermutlich das persische Sasanidenreich vor Augen. Dieses Großreich 241 Vgl. Wirth 1967. 242 Vgl. Geary 2002.
92
6.3 Attila und die Hunnen
war zwar ganz ohne Zutun der Kaiser entstanden.243 Doch seit 377 war es zwischen Römern und Persern, die sich anfangs unversöhnlich gegenüber gestanden hatten, nur noch zweimal zu heftigen, aber kurzen Kriegen gekommen. Ansonsten aber kontrollierten die beiden Großmächte gemeinsam die kaukasischen Völker und arabischen Nomaden,244 ein Arrangement, das nicht unwesentlich zum Wohlstand der römischen Orientprovinzen und damit letztlich zum Überleben der östlichen Reichshälfte beitrug.245 Das Problem der Kaiser bestand dabei darin, dass realpolitische Erwägungen die Zahlung von Jahrgeldern zwar sehr geraten erscheinen ließen, derlei »Tribute« aber – ganz gleich, ob sie an Perser, Hunnen oder Germanen entrichtet wurden – aus Sicht vieler Römer der Würde des Imperiums nicht angemessen waren.246 Sollte es also der Plan des Hofes in Konstantinopel gewesen sein, sich mit Hilfe Attilas eine Entlastung zu verschaffen, so wurde um 440 deutlich, dass dieses Vorhaben vorerst gescheitert war. Daran waren die Oströmer allerdings mindestens zum Teil selbst schuld, denn man scheint sich damals an ein 434 geschlossenes Abkommen mit den Hunnen nicht gehalten und die ausgemachten Zahlungen verweigert zu haben. 441 erfolgte daher eine hunnische Invasion, die letztlich den Abschluss eines neuen foedus nebst Jahrgeldern erzwang. Fortan kam es immer wieder zur Gewährung von Tributen durch die Römer, auf deren anschließende Verweigerung die Hunnen unter Attila, der spätestens seit 445 alleine herrschte, mit Angriffen reagierten. Der Kaiserhof lavierte,247 und schließlich verlor Attila, der zwischenzeitlich sogar zum Heermeister ernannt worden war, aber ähnlich wie einst Alarich gegenüber seinen eigenen Leuten in der Verantwortung stand (u Kap. 4.4), die Geduld und überzog die Balkanprovinzen mit Krieg. Die kaiserlichen Truppen verloren 447 eine große Schlacht am 243 244 245 246
Vgl. Wiesehöfer 2010. Vgl. Fisher 2011. Vgl. Börm 2016: 624–633. Vgl. zu den römischen Jahrgeldern in dieser Zeit Börm 2008b (mit weiterer Literatur). 247 448/9 versuchte man sogar, Attila durch einen bestochenen Gefolgsmann ermorden zu lassen; Prisc. Frg. 11,1,43–59 (Blockley).
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6 Im Schatten des Heermeisters
Fluss Utus, und Theodosius II. musste sich zu einem neuen foedus zu ungünstigen Bedingungen bereit finden.248 Die Beziehungen zwischen Aëtius und den Hunnen scheinen zunächst ebenfalls eher auf Kooperation denn auf Konfrontation ausgerichtet gewesen zu sein; der Römer setzte hunnische foederati seit 425, wie man gesehen hat, wiederholt ein, wobei es sich außer 433 durchaus nicht immer um jenen Verband gehandelt haben muss, den zuerst Rugila und dann Attila führten. Um 445 scheint es zu Konflikten zwischen Hunnen und Weströmern gekommen zu sein, deren Hintergründe aber unklar sind. Doch insgesamt war es fraglos dem Umstand, dass Aëtius auf hunnische Hilfstruppen zurückgreifen konnte, geschuldet, dass zumindest Italien und große Teile Galliens und Hispaniens zu diesem Zeitpunkt der Kontrolle Ravennas unterstanden. 446 pries der Dichter Flavius Merobaudes Valentinian III. und seinen patricius in hehren Worten für diese Leistung.249 Aber in den Jahren nach 447 begann Attila damit, erneut eine aggressivere Haltung gegenüber Ravenna einzunehmen. Ein Hintergrund mag gewesen sein, dass sein Drohpotential gegenüber Konstantinopel letztlich begrenzt war: Der Balkanraum bot nach Jahrzehnten der kriegerischen Unruhen nur noch wenig Aussicht auf Beute; doch die Kaiserstadt am Bosporus war durch die große Theodosianische Mauer geschützt, und an einen Übergang nach Kleinasien war aus logistischen Gründen nicht zu denken. Dafür, dass Attila dann 451 in Gallien einfiel, gab es einen Grund und einen Anlass. Zum einen hatte es in Ostrom 450 überraschend einen Herrscherwechsel gegeben. Theodosius II. war nach einem Sturz vom Pferd gestorben. Es ist bezeichnend für die Schwäche der weströmischen Regierung zu diesem Zeitpunkt, dass man in Konstantinopel nicht auf den Gedanken gekommen zu sein scheint, sich wegen der Nachfolge an den nunmehrigen senior Augustus Valentinian III. zu wenden, sondern eigenständig den Offizier Marcian (450–457) zum Kaiser ausrief. Der Westkaiser scheint wenig erfreut gewesen zu sein und erkannte seinen neuen Kollegen zunächst nicht an, konnte jedoch nichts unternehmen. Marcian festigte seine Herrschaft durch vier Maß248 Vgl. Stickler 2002: 114–124. 249 Merob. Pan. 2,5 ff.
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Korsika
Sizilien
Ost- und Weströmisches Reich Hunnen Reich der Sasaniden regna innerhalb des Weströmischen Reiches
VANDALEN
Rom
Mittelmeer
Straße von Kercˇ
Konstantinopel
Kreta
Athen
Alexandria
Amida
Rotes Meer
Jerusalem
Antiocheia
Edessa
Schwarzes Meer
Krim
n ba Ku
Don
ALANEN
Asowsches Meer
OSTRÖMISCHES REICH
Naissus Serdica Adrianopel
Caucalandensis locus? ge
a li i Vormr Ter w de
HUNNEN
Vormaliges Gebiet der Greutungen
Dnepr
0
Paß von Derbent
200
t
400
600 km
Ktesiphon
REICH DER SASANIDEN Eu ph ra
Paß von Dariali
Kaspisches Meer
is
Karthago
WESTRÖMISCHES REICH
e
Sav
ß ei Th Große Ungarische Tiefebene
K a r p a te n
Ravenna Sirmium Margus
Fiesole
n A lpe Mincio Aquileia
Sardinien
Marseille
Mailand Pavia
BURGUNDEN
u Dona
Koblenz Metz Trier
Troyes
Reims
Arles
Balearen
Toulouse
WESTGOTEN
Paris Orléans
FRANKEN
EURASISCHE GRASLANDZONE
r Tig
Grenze des Ost- und Weströmischen Reiches
Sevilla
SUEBEN
Atlantischer Ozean in
Rhe s ng G eb e n iet
Nordsee
6.3 Attila und die Hunnen
Nil
Mor ava
Karte 3: Das Römische Reich um 450 n. Chr.
95
6 Im Schatten des Heermeisters
nahmen: Er heiratete Pulcheria, die Schwester seines Vorgängers, und schloss damit oberflächlich an die theodosianische Dynastie an. Er pflegte gute Beziehungen zum mächtigen magister militum praesentalis Aspar, der 425 an der Einsetzung Valentinians III. beteiligt gewesen war. Er kam dem Klerus der Hauptstadt entgegen, indem er für das Folgejahr ein Konzil nach Chalkedon einberief, das den »Monophysitismus« verdammte. Und er trumpfte außenpolitisch auf, indem er Attila demonstrativ und auf provozierende Weise die Jahrgelder versagte. Damit herrschte Krieg zwischen Römern und Hunnen – Priscus schreibt ausdrücklich, dass Attila nun gegen Rom und Konstantinopel kämpfte. Und weil gegenüber dem östlichen Hof nicht mehr viel zu gewinnen war, wandte sich Attila nach Westen.250 Dass man dort wegen des Konflikts mit Marcian vorerst nicht auf oströmische Unterstützung hoffen konnte, spielte dem Hunnen dabei in die Hände. Den Anlass zum Eingreifen im Westen bot die so genannte »Honoria-Affäre«, die in ihren Einzelheiten kaum noch zu rekonstruieren ist.251 Es hat ganz den Anschein, als habe sich wie einst um ihre Mutter Galla Placidia auch um die Kaiserschwester Honoria eine Hofpartei geschart, und als sie von einem gewissen Eugenius geschwängert wurde, sah Valentinian III. – oder doch vielleicht eher Aëtius? – seine Stellung bedroht und reagierte mit Härte. Eugenius wurde 449 hingerichtet. Honoria versuchte man zu neutralisieren, indem man sie mit einem farb- und machtlosen Senator zwangsverheiratete. In dieser Lage wandten sich die Prinzessin und ihre Unterstützer offenbar an Attila, der neben den Vandalen und den Westgoten der einzige war, der mächtig genug schien, um zu ihren Gunsten einzugreifen. Sie und ihre Anhänger konnten sich dabei ausgerechnet auf das Vorbild des Aëtius beziehen, der ja vor Jahren selbst den Kampf um die Macht in Ravenna nur dank einer hunnischen Intervention für sich entschieden hatte. 250 Prisc. Frg. 21,1 (Blockley). Vgl. Hohlfelder 1984; Blockley 1992: 67–71. Prosper Tiro hingegen berichtet, Attila habe 451 während der Invasion Galliens verkündet, er kämpfe nicht gegen die Römer, sondern als Freund der Römer gegen die Westgoten; Prosp. Tiro ad ann. 451. Es stellt sich die Frage: Freund welcher Römer? 251 Prisc. Frg. 17 (Blockley). Vgl. Stickler 2002: 125–129, Rosen 2016: 196– 198 und Meier 2017.
96
6.3 Attila und die Hunnen
Es heißt, Honoria habe Attila ihren Siegelring geschickt, und der Hunne habe dies als Heiratsangebot interpretiert.252 Dass Honoria Derartiges intendiert hatte, kann man bezweifeln, und ob Attila wirklich die Hälfte des Westens für sich als »Morgengabe« forderte,253 lässt sich ebenfalls nicht mit Gewissheit sagen. Im Winter 450/1 kam es zu einem eifrigen Gesandtschaftsaustausch zwischen dem Hunnen und Ravenna, doch da sich der Hof weigerte, Honoria an Attila zu übergeben, begannen beide Seiten mit den Kriegsvorbereitungen. Attila scheint es gelungen zu sein, Geiserich, den alten Feind des Aëtius, auf seine Seite zu ziehen oder den Vandalen zumindest zu neutralisieren. Auch die Westgoten, die ebenfalls nicht als Freunde des Heermeisters gelten konnten, versuchte der Hunne gegen Ravenna zu mobilisieren.254 Überraschenderweise aber gelang es Aëtius, der das foedus zuletzt 439 erneuert hatte, offensichtlich, den gotischen rex in letzter Minute davon zu überzeugen, dass ein Bündnis gegen Geiserich und die Hunnen seinen Interessen eher entsprechen würde. Vermutlich wog die Feindschaft zwischen Goten und Vandalen letztlich schwerer: Wohl 442, vielleicht in Zusammenhang mit der erwähnten Verschwörung gegen Geiserich, hatte dieser die Frau seines Sohnes Hunerich, eine Tochter Theoderichs I., verstümmelt zurück zu ihrem Vater geschickt.255 Die fränkischen Anführer in Nordgallien schließlich waren offenbar uneins, und Franken kämpften auf beiden Seiten.256 So war es eine Koalition aus ravennatischen und westgotischen Truppen, die sich, ergänzt um weitere foederati, dem von Attila geführten großen Heer im Sommer 451 auf den nicht genau lokalisierbaren Katalaunischen Feldern (campi Catalaunici) in Gallien zur Schlacht stellte. Am Ende des überaus blutigen Gefechts scheinen vor allem drei Ergebnisse gestanden zu haben: Der gotische rex Theoderich I. war im 252 Vgl. Croke 2015: 112–116, der unter Berufung auf Johannes von Antiochia annimmt, Theodosius II. habe eine Heiratsverbindung zwischen Attila und Honoria befürwortet. 253 Prisc. Frg. 20,3 (Blockley). 254 Iord. Get. 185–188. Jordanes schildert die Ereignisse allerdings aus Sicht der Sieger. 255 Vgl. Walter 2007: 74; Becher 2011: 87 f. 256 Prisc. Frg. 20,3,1–8 (Blockley).
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6 Im Schatten des Heermeisters
Kampf gefallen, Attila selbst sah sich vorerst zum Rückzug gezwungen, und die Verluste unter den regulären weströmischen Truppen waren, wie die weiteren Ereignisse belegen, so gewaltig, dass sie sich davon nicht mehr erholt zu haben scheinen.257 Über den Umstand, dass man die Schlacht auf den Katalaunischen Feldern jahrhundertelang als heldenhaften Abwehrkampf des Abendlandes gegen asiatische Horden missverstanden hat, kann man zwei Punkte leicht übersehen: Zum einen handelte es sich um einen Konflikt zwischen zwei sehr bunt gemischten und teilweise ad hoc zusammengekommenen Machtbündnissen. Aëtius hatte weniger das christliche Europa als vielmehr sich selbst verteidigt. Und zum anderen war Attila keineswegs besiegt. Man kann sich ohnehin fragen, wieso er zunächst nach Gallien gezogen war. Hoffte er bis zuletzt, dass sich die Westgoten ihm statt dem Heermeister anschließen würden? Oder fürchtete er, der Zugang nach Italien könnte ihm allzu leicht verwehrt werden? Sollte Letzteres der Fall gewesen sein, so machten sich die Hunnen hierüber nach dem gallischen Feldzug offensichtlich keine Sorgen mehr. Als sich Attila 452 auf den Weg nach Italien begab, musste er nicht mit ernsthaftem Widerstand rechnen.258 Prosper Tiro wirft dem patricius Aëtius in diesem Zusammenhang Versagen vor: Nicht einmal die Alpenpässe habe der Heermeister gesperrt, und nur einer Gesandtschaft ziviler Würdenträger, an der neben hochrangigen Senatoren auch Leo, der Bischof von Rom, teilgenommen habe, sei es zu verdanken gewesen, dass Attila freiwillig abgezogen sei.259 In der Tat wäre es ein unbegreifliches Versagen des erfahrenen Heerführers Aëtius gewesen, den Hunnen nicht die Pässe zu verlegen – die beste Erklärung ist daher die Annahme, dass der patricius schlicht nicht mehr über die dafür notwendigen Truppen verfügte. Offenbar standen ihm die Westgoten unter ihrem neuen rex Thorismund nicht als Verbündete zu Verfügung.
257 Iord. Get. 197–201; Iord. Get. 207–213. Vgl. Stickler 2002: 135–145; Kelly 2008: 190–199. 258 Vgl. Stickler 2002: 145–150. 259 Prosp. Tiro ad ann. 452. Von der Rolle Leos berichtet auch Iord. Get. 219–224.
98
6.4 Der Mord an Aëtius und das Ende der Dynastie
Daran, dass die stadtrömische Gesandtschaft wirklich eine entscheidende Rolle spielte, sind Zweifel erlaubt. Plausibler klingt jedenfalls die Erklärung, die Hydatius für den Abzug Attilas bietet: Zum einen hätten Versorgungsschwierigkeiten und Seuchen dem hunnischen Heer sehr zu schaffen gemacht. Zum anderen habe Aëtius vom oströmischen Kaiser, den Valentinian III. in der Not nun doch anerkannt hatte, »Hilfstruppen« (auxilia) erhalten, mit denen er Widerstand leisten konnte. Und drittens habe der östliche Augustus jenseits der Donau eine erfolgreiche Entlastungsoffensive gegen die Hunnen durchführen lassen. Unter diesen Umständen habe Attila Frieden (pax) geschlossen und sei mit seinen Männern zu ihren Heimstätten zurückgekehrt.260 Im Folgejahr starb er.261 Und da es seinen Söhnen nicht gelang, den durch den Misserfolg sicherlich bereits gelockerten Zusammenhalt des hunnischen Großverbandes zu bewahren – 454 wurden sie in der Schlacht am Nedao von einstigen Bundesgenossen besiegt –, war die hunnische Reichsbildung bereits nach wenigen Jahren wieder in sich zusammengebrochen.262 Es schien, als könne Aëtius vorerst aufatmen.
6.4
Der Mord an Aëtius und das Ende der Dynastie
Valentinian III. hatte bis zu diesem Zeitpunkt ein sehr sonderbares Leben geführt. Nominell war er der mächtigste Mann im Hesperium Imperium, im Grunde sogar im ganzen Römischen Reich, denn er war ja der dienstältere der beiden Augusti. Überdies konnte er auf eine Reihe
260 Hydat. Chron. 146 (Mommsen 154). 261 Laut einer wenig beachteten Notiz bei Malalas (14,10) wurde Attila im Auftrag des weströmischen Heermeisters ermordet. Bedenkt man, dass die Römer bereits 449 versucht hatten, einen Anschlag auf den Hunnen anzustiften, erscheint dies in der Tat nicht unmöglich. 262 Iord. Get. 262. Vgl. Steinacher 2017: 94–99.
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6 Im Schatten des Heermeisters
an Vorfahren zurückblicken, wie sie keiner seiner vielen Vorgänger vorzuweisen gehabt hatte; denn sowohl sein Vater Constantius III. als auch sein Großvater Theodosius I. und sein Urgroßvater Valentinian I. waren ja ihrerseits römische Kaiser gewesen. Es war nicht zuletzt dieses gewissermaßen dunkelblaue Blut, das angesichts der Bedeutung, die das dynastische Denken mittlerweile für die Monarchie besaß, dem weströmischen Kaisertum einen Rest an Autorität bewahrt hatte. Darum war Valentinian für seinen patricius, den eigentlichen Machthaber, bis auf weiteres unverzichtbar. Die Zentralregierung hatte die Kontrolle über wichtige Provinzen faktisch an mehr oder weniger »barbarische« warlords und deren Heere abgeben müssen,263 vielerorts herrschte Anarchie, die Grenzen wurden von plündernden Banden überschritten, und Ravenna verfügte spätestens seit 439 nicht mehr über ausreichende Finanzmittel, um eine schlagkräftige eigene Armee aufzustellen. Doch immerhin konnte man einen dynastisch bestens legitimierten Kaiser vorweisen. Es ist etwas überraschend, wie positiv »der letzte Römer« Aëtius in vielen Quellen und auch in weiten Teilen der modernen Literatur dargestellt wird.264 Denn im Grunde unterschied er sich von anderen machtbewussten Militärs wie Geiserich vor allem dadurch, dass er sein Hauptquartier am Kaiserhof aufgeschlagen hatte und daher Zugriff auf die zentrale Verwaltung und den Augustus besaß. Aus diesem Grund neigen sowohl die Quellen als auch viele moderne Historiker dazu, seine Interessen mit denen Westroms zu verwechseln; diese waren aber nur teilweise deckungsgleich. Valentinian III., mittlerweile 35 Jahre alt, muss dagegen ein realistischeres Bild als manch ein späterer Autor von seinem obersten Heermeister gehabt haben, von dem Mann also, der ihn als Marionette gebrauchte, um seinem Regime den Anschein von Legitimität zu verleihen. Schließlich hatte er Aëtius’ Treiben seit Jahren aus nächster Nähe zusehen können. Im September 454 entschloss sich der Augustus des Westens, den Befreiungsschlag zu wagen. Priscus berichtet, Valentinian III., der wohl 263 Vgl. Jussen 2007: 144 f. 264 Vgl. O’Flynn 1983: 88–103. Eine regelrechte Eloge aus der Feder des Renatus Frigeridus überliefert Gregor von Tours; Greg. Tur. Hist. 2,8.
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6.4 Der Mord an Aëtius und das Ende der Dynastie
nicht zufällig des Öfteren wieder in Rom residierte,265 habe gerade im alten Kaiserpalast auf dem Palatin eine Audienz abgehalten, als der patricius aufgefordert wurde, über die katastrophale Finanzlage Bericht zu erstatten.266 Aëtius tat wie ihm geheißen, als sich die Ereignisse auf einmal überschlugen: »Als Aëtius soeben die Finanzen erläuterte und die Steuereinnahmen vorrechnete, sprang Valentinian plötzlich mit einem Schrei von seinem Thron auf und rief, er werde es nicht länger dulden, durch derlei Betrügereien beleidigt zu werden. Er behauptete, Aëtius wolle ihn, indem er ihm die Schuld an den Problemen zuschob, nun auch um die Herrschaft im Westen bringen, wie er es bereits mit dem Osten getan habe. Denn nur wegen Aëtius habe er ja seinerzeit darauf verzichtet, dort den Marcian vom Thron zu entfernen. Während Aëtius angesichts dieses Ausbruchs noch wie gelähmt dastand und nur versuchte, diesen unvernünftigen Anfall zu dämpfen, zog Valentinian bereits sein Schwert aus der Scheide und stürzte sich gemeinsam mit Heraclius – dieser war der primicerius sacri cubiculi –, der eine Axt unter seiner Chlamys verborgen hatte, auf ihn (…). Als er Aëtius erschlagen hatte, tötete Valentinian auch den Präfekten Boethius, der hoch in Aëtius’ Gunst gestanden hatte. Nachdem er ihre Leichen unbestattet auf dem Forum Romanum hatte ausstellen lassen, berief er unverzüglich den Senat ein, wo er gegen beide Männer schwere Vorwürfe erhob, da er fürchtete, es könne dort wegen Aëtius zu einer Rebellion kommen.«
Was war passiert? Natürlich erklären die antiken Quellen – neben Priscus vor allem Hydatius und Prokop – die Vorgänge wie üblich mit einer Intrige und identifizieren neben dem Eunuchen Heraclius auch den Senator Petronius Maximus als die Hauptverantwortlichen, die den Kaiser zu seiner Tat angestiftet hätten. Aber zugleich liegt die Vermutung nahe, dass es die Nachrichten vom Tod Attilas und dem anschließenden Zerfall seines Kriegerverbandes waren, die den Anlass für den Anschlag bildeten. Dass Valentinian III. den übermächtigen patricius und dreimaligen Konsul von Herzen hasste, muss man nicht bezweifeln.267 Aber wieso entschied er sich ausgerechnet jetzt zum Handeln?
265 Vgl. Gillett 2001; Humphries 2012. 266 Prisc. Frg. 30,1,13–42 (Blockley). 267 Durchaus ungewiss ist allerdings, ob der Kaiser den Heermeister von Anfang an als Gegner gesehen hatte oder sich die Feindschaft erst seit 452 entwickelte.
101
6 Im Schatten des Heermeisters
Zum einen könnte man meinen, dass Valentinian und seine Mitverschwörer erst jetzt, nachdem die Hunnengefahr gebannt schien, der Ansicht waren, den Heermeister nicht mehr zu benötigen. Dagegen spricht allerdings, dass sich Aëtius im Kampf mit Attila bei näherem Hinsehen gar nicht sonderlich ruhmreich geschlagen zu haben scheint. Plausibler ist eine andere Erklärung. Akzeptiert man die Hypothese, dass Attila 451/2 nicht so sehr gegen das weströmische Reich und gegen den Kaiser, sondern eher gegen Aëtius gekämpft hatte, dann war das Ende des europäischen Hunnenreichs vor allem ein Triumph für den Heermeister. Die Westgoten waren seit den Gefechten in Gallien geschwächt, und mit Geiserich alleine glaubte er wahrscheinlich fertig werden zu können. Schon begann er damit, seinen Machtbereich im Namen des Kaisers nach Hispanien auszudehnen. Diejenigen am Hof, die wie Honoria ihre Hoffnungen auf Attila gesetzt hatten, müssen über diese Entwicklung bestürzt gewesen sein. Dass sich der patricius nun sicher genug fühlte, die Verlobung seines Sohnes mit der Kaisertochter Eudocia durchzusetzen, muss das Gefühl der Ohnmacht noch verstärkt haben. In diesem Moment entschied sich ein offenbar sehr kleiner Kreis von Verschwörern zum Handeln. Dass Valentinian III. eigenhändig seinen obersten Heermeister und den Prätorianerpräfekten Italiens erschlug, also die Häupter der Militär- und Ziviladministration, war nicht nur ein symbolischer Tyrannenmord. Es war auch ein Zeichen dafür, dass es nach der zwanzigjährigen Dominanz des Aëtius fast niemanden mehr gab, dem der Kaiser noch trauen konnte. Absetzen konnte er Aëtius so wenig wie einst sein Großonkel Valentinian II. den Arbogast; doch es gab keine Bewaffneten, die das unerfreuliche Werk für ihn verrichtet hätten. Dies war ein deutlicher Unterschied zum Untergang Stilichos 408. Und auch der Loyalität der Senatoren konnte sich der Augustus, folgt man Priscus, nicht sicher sein. Dennoch gelang die Verzweiflungstat, und damit konnte es zunächst so aussehen, als sei eine entscheidende Wende in der Geschichte Westroms eingetreten. Denn Valentinian III. scheint entschlossen gewesen zu sein, selbst die Regierung zu übernehmen. Der Preis allerdings war hoch. Das zeigt schon die Überlieferung, denn Priscus, Prokop und Hydatius bewerten die Tat des Kaisers über102
6.4 Der Mord an Aëtius und das Ende der Dynastie
einstimmend negativ,268 und das ist kein Zufall. Valentinian hatte ein absolutes Tabu gebrochen: Ein Mord, zumal eigenhändig ausgeführt, an einem hochrangigen Aristokraten wie Aëtius war für einen spätantiken Kaiser nicht nur mit einem hohen Risiko verbunden, sondern auch mit einem gewaltigen Ansehens- und Legitimitätsverlust (u Kap. 9.1). Derlei rückte den Monarchen in die Nähe eines tyrannus.269 Kaum zufällig nahm der Feldherr Marcellinus wahrscheinlich diesen Mord zum Anlass, um sich vom Kaiser loszusagen und in Dalmatien einen eigenen Machtbereich zu etablieren.270 Augenscheinlich war Valentinian III. angesichts der außergewöhnlichen Umstände aber bereit gewesen, diese Einbuße an Autorität in Kauf zu nehmen. Doch er hatte offenbar nicht erwartet, dass die factio des Aëtius dessen Tod überdauern würde. Eben dies scheint aber der Fall gewesen zu sein. Im März 455, als der Kaiser, der offensichtlich bemüht war, sich nach dem Vorbild seines Urgroßvaters, Großvaters und Vaters wieder selbst ein soldatischeres Auftreten zuzulegen, gerade in Rom eine Truppeninspektion vornehmen wollte, näherten sich ihm Optila und Thraustila. Diese beiden waren hunnische oder gotische Krieger, die zu den bucellarii des toten Heermeisters gehört hatten. Keiner der Soldaten, die den Kaiser bewachten, rührte einen Finger, als die beiden auf Valentinian III. zustürzten und ihn und Heraclius niedermachten. Die Attentäter nahmen dem Leichnam das Diadem ab und ritten mit seinem Pferd davon. Priscus, dem wir diese Schilderung verdanken, berichtet im Anschluss davon, ein Schwarm Bienen habe sich auf der warmen Blutlache, in der der tote Augustus lag, niedergelassen und davon getrunken, bis alles verschwunden gewesen sei.271 Das ist zweifellos eine poetische Erfindung, doch die Kernaussage, die hinter ihr steht, trifft zu: Mit Valentinian III. starb der letzte männliche Nachfahre der Kaiser Valentinian I. und Theodosius I.; die kaiserliche Familie, die seit 364
268 Hydat. Chron. 152 (Mommsen 160); Prok. Hist. 3,4,25–28. 269 Vgl. Börm 2010: 168–172. 270 Vgl. zu Marcellinus Kulikowski 2002; MacGeorge 2002: 32–63; Anders 2010: 469–478. 271 Prisc. Frg. 30,1,58–71 (Blockley).
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6 Im Schatten des Heermeisters
die Geschicke des Reiches mitgeprägt hatte, hatte den Purpur verloren. Auch der Chronist Hydatius notierte einige Jahre später nüchtern, mit Valentinians Tod habe die Herrschaft der theodosianischen Dynastie geendet.272 Damit aber fiel die Loyalität der Reichsbevölkerung gegenüber dem altehrwürdigen Kaiserhaus fort, und mit ihr das stärkste einigende Band, über das das Imperium Romanum angesichts seiner fortschreitenden Desintegration noch verfügt hatte. Es sollte nicht gelingen, in Westrom noch einmal eine neue Dynastie zu begründen. Die Chancen, die Macht der weströmischen Zentralregierung zu erneuern, waren dramatisch gesunken.
272 Hydat. Chron. 157 (Mommsen 164).
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7
Die Agonie des Kaisertums
Der verzweifelte Versuch Valentinians III. und seiner Vertrauten, die Handlungsfreiheit des römischen Kaisertums im Westen wiederherzustellen, war gescheitert. Die Leichtigkeit, mit der der Anschlag auf ihn geglückt war, lässt vermuten, dass es ihm nicht gelungen war, gegenüber dem Militär, das jahrelang von Aëtius kommandiert worden war, ausreichende Akzeptanz zu gewinnen. Doch auch innerhalb des Senats, der mittlerweile wieder eine Versammlung der höchsten Würdenträger aus Militär und Zivilverwaltung war, scheint der Kaiser viele Feinde gehabt zu haben. Letztlich war die Lage nach dem Tod Valentinians so unübersichtlich, dass fast unverzüglich ein weiterer Machtkampf ausbrach.273 Dabei sah es zunächst so aus, als hätten die Männer, die hinter dem Anschlag standen, eigentlich alles sehr gut vorbereitet.
7.1
Petronius Maximus
Die Rolle, die der Senator Petronius Maximus in den Jahren 454 und 455 spielte, lässt sich kaum mit Sicherheit rekonstruieren, zumal bereits die antiken Quellen ihr Nichtwissen durch farbenfrohe Anekdoten zu überdecken suchen. Gewiss ist, dass er eine glänzende und aus-
273 Einen guten Ausgangspunkt für die nähere Beschäftigung mit den Jahren 454 bis 493 bietet Henning 1999. Auch sein Urteil weicht allerdings von meinem in mehreren Punkten ab.
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7 Die Agonie des Kaisertums
schließlich nichtmilitärische Ämter umfassende senatorische Laufbahn absolviert hatte. Diese hatte bereits ihren Anfang genommen, als Constantius den westlichen Hof dominierte: Etwa 415 war Maximus notarius geworden, um 417 amtierte er schon als Schatzkanzler (comes sacrarum largitionum), später je zweimal als praefectus urbi und praefectus praetorio Italiae, und 433 und 443 war er überdies consul ordinarius.274 Für einen Angehörigen der italischen Hocharistokratie war eine derart intensive Tätigkeit im Staatsdienst zu dieser Zeit recht ungewöhnlich.275 Wo Maximus politisch zu verorten war, ist nicht ausdrücklich belegt. Allerdings legt der Umstand, dass er unter Aëtius höchste Ämter bekleidet hatte, den Verdacht sehr nahe, dass er zu seinen Anhängern zu zählen ist. Für seine Designation zum Konsul des Jahres 433 könnten zwar noch Bonifatius und Galla Placidia verantwortlich gewesen sein, doch die Auszeichnung mit einem zweiten Konsulat zehn Jahre später – eine außerordentliche Ehrung – und insbesondere die Verleihung des Titels patricius 445 können unmöglich gegen den Willen des Aëtius erfolgt sein. Man kann zwar nicht ganz ausschließen, dass es zuletzt zu einem Zerwürfnis gekommen war, aber im Grunde spricht – abgesehen von bloßen Unterstellungen in den Quellen – nichts dafür, dass Maximus in den Anschlag auf den Heermeister 454 verwickelt gewesen sein könnte.276 Ganz anders verhält es sich mit dem Attentat auf Valentinian III. Die spätantiken Autoren behaupten, Maximus sei enttäuscht gewesen, weil er nach dem Mord an Aëtius nicht ausreichend belohnt worden sei, und habe daher beschlossen, selbst nach dem Purpur zu greifen.277 Diese erneut auf rein persönliche Motive hinauslaufende Erklärung ist ebenso wie die Stilisierung des Senators zu einem Meister der Intrige nur sehr bedingt glaubwürdig. Fest steht allerdings: Die Mörder des Kaisers waren gleich nach der Tat mit dem Diadem zu Petronius Maximus geeilt. Dass dieser in die Anschlagspläne eingeweiht gewesen
274 275 276 277
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Vgl. PLRE II: 749–751; Henning 1999: 28–32. Vgl. Wickham 2009: 27 f. Vgl. Henning 1999: 16 f. Prisc. Frg, 30,1,1–8 (Blockley); Prok. Hist. 3,4,24–28.
7.1 Petronius Maximus
war und als neuer Augustus schon bereitstand, ist daher durchaus wahrscheinlich, wenn auch nicht zu beweisen. Dass die einstigen Gefolgsleute des ermordeten Heermeisters ausgerechnet ihn zum neuen Herrscher machten, belegt aber zumindest, dass Maximus als treuer Parteigänger des Aëtius gegolten haben muss. Seine Kaisererhebung war demnach wohl von Anfang an Teil der gewaltsamen Reaktion der enttäuschten Anhänger des magister militum auf dessen Ermordung. Trifft diese Rekonstruktion zu, so war womöglich auch die Garde des Kaisers teilweise eingeweiht gewesen, was erklären würde, wieso niemand eine Hand gerührt zu haben scheint, um ihn zu schützen. Mit dem Mord an Valentinian III. übernahm die factio des Aëtius also erneut die Macht in Italien; andere Thronkandidaten, die im Chaos zunächst ins Spiel gebracht wurden, kamen nicht zum Zuge. Prosper Tiro, der sich zur fraglichen Zeit selbst in Rom aufgehalten haben dürfte, stellt fest, dass der neue Kaiser die Mörder Valentinians nicht etwa bestraft, sondern vielmehr amicitia mit ihnen geschlossen habe. Das passt sehr gut ins Bild.278 Versteht man Petronius Maximus also nicht, wie es bislang meist geschehen ist, als einen etwas zu ehrgeizigen Aristokraten, der in Verkennung der Machtverhältnisse aus Ehrsucht nach dem Purpur griff, sondern als das neue »Aushängeschild« einer Gruppierung am weströmischen Hof, so muss man anerkennen, dass diese kaum eine bessere Wahl hätte treffen können. Denn wer sonst sollte, wenn überhaupt, die Lücke füllen, die der Wegfall des hochadligen Valentinian III. gerissen hatte, wenn nicht das höchstrangige Mitglied des römischen Senats, selbst Angehöriger einer uralten Familie? Es war nur folgerichtig, dass man sofort im Anschluss bemüht war, den neuen Kaiser mit der theodosianischen Dynastie zu verbinden, um dem Regime damit die unter diesen Umständen größtmögliche Autorität zu verleihen. Maximus heiratete folglich sogleich Eudoxia, Witwe Valentinians III., Tochter von Theodosius II. und Urenkelin von Theodosius I.279 Sein
278 Prosp. Tiro ad ann. 455. Unwahrscheinlich ist, dass man Maximus als den Kandidaten der italischen Senatsaristokratie verstehen sollte; vgl. aber Czúth 1983. 279 Prisc. Frg. 30,1,80–82 (Blockley).
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7 Die Agonie des Kaisertums
Sohn Palladius wurde, um die Begründung einer neuen Dynastie und die Stabilität der Nachfolge zu demonstrieren, zum Caesar erhoben und mit einer Tochter Valentinians, wahrscheinlich Eudocia, verheiratet.280 Damit war alles so gut wie möglich arrangiert, wenngleich Marcian im Osten keine Anstalten gemacht zu haben scheint, die neuen Verhältnisse in Italien anzuerkennen. Unklar ist, ob es zu diesem Zeitpunkt, im Frühjahr 455, bereits einen neuen starken Mann hinter dem Kaiser gab. Nicht ganz auszuschließen ist, dass schon jetzt Flavius Ricimer angefangen haben könnte, eine wichtige Rolle zu spielen.281 Auch der comes domesticorum Majorian, der Kommandeur der Garde, käme hierfür auf den ersten Blick in Frage. Allerdings berichtet Priscus, dieser sei ein Anhänger der Eudoxia gewesen, die sogar vergeblich versucht habe, ihn statt Maximus zum Kaiser ausrufen zu lassen. Trifft dies zu, so muss Majorian zu den Gegnern der »Aëtius-Parteiung« gezählt werden. Für diese Annahme spricht auch der Umstand, dass Valentinian III. ihn erst nach dem Mord an dem Heermeister zum Befehlshaber der Leibwache gemacht hatte, laut Sidonius, um diese unter Kontrolle zu bekommen – wenn auch vergebens, wie sich gezeigt hatte.282 Angesichts der militärischen Schwäche der neuen Regierung musste man sich nun unbedingt um die beiden anderen zentralen Mitspieler um die Macht im Westen kümmern, also um die Westgoten unter ihrem Anführer Theoderich II. (453–466) – und um Geiserich. Daran, die Vandalen für sich gewinnen zu können, scheint man nach den Erfahrungen der letzten Jahre nicht geglaubt zu haben, aber mit den Westgoten, die ja schon 451 gemeinsam mit Aëtius gekämpft hatten, verhielt es sich anders. Zwar scheint Thorismund, der 451 seinen Vater Theoderich I. beerbt hatte, ein Gegner des Aëtius gewesen zu 280 Henning 1999: 22, nimmt dagegen an, es habe sich um die zweite Tochter Placidia gehandelt. Hierfür fehlen meines Erachtens die Belege, zumal Placidia damals wohl bereits verheiratet war. 281 Vgl. zu den Ereignissen – mit teils stark abweichender Interpretation – auch Henning 1999: 16–27; MacGeorge 2002: 178–185; Anders 2010: 40–47. 282 Prisc. Frg. 30,1,73–82 (Blockley); Sidon. Carm. 5,305–308.
108
7.1 Petronius Maximus
sein,283 doch war dieser 453 von seinem Bruder Theoderich II. getötet worden. Ein geeigneter Emissär wurde schnell gefunden: Eparchius Avitus stammte aus der gallorömischen Senatsaristokratie, hatte genau wie Petronius Maximus unter Constantius III. und Aëtius hohe Ämter bekleidet – ungewöhnlicherweise nicht nur zivile, sondern auch militärische – und war bereits erfahren im Umgang mit den Westgoten.284 Sowohl 439 als auch 451 war er wesentlich am Abschluss der beiden so wichtigen foedera zwischen Theoderich I. und Ravenna beteiligt gewesen. Auch die Entscheidung, Avitus nach Gallien zu schicken, zeugt also davon, dass der Staatsstreich vom März 455 sehr gut vorbereitet gewesen war. Gelang es, die Westgoten zur Anerkennung des neuen Regimes zu bewegen, so wäre die Situation des Jahres 454 oberflächlich wiederhergestellt gewesen. Doch Geiserich war nicht willens, dieser Entwicklung tatenlos zuzusehen. Er muss sofort erkannt haben, dass er jetzt oder nie handeln musste, wollte er Einfluss auf die Ereignisse in der Reichszentrale ausüben. Es ist nicht zu beweisen, aber möglich, dass er sich zuvor mit Valentinian III. verständigt hatte; dies würde zumindest die Heftigkeit seiner Reaktion erklären. Wie bereits 440 entschied er sich zu einem Angriff auf Italien, doch anders als 15 Jahre zuvor gab es nun niemanden mehr, der sich den Vandalen in den Weg stellen konnte. Der oströmische Chronist Malalas behauptet, Eudoxia habe Geiserich herbeigerufen, um den Mord an ihrem Mann zu rächen.285 Diese sehr oft bezweifelte Nachricht, die auch andere Quellen überliefern, ist im Kern durchaus glaubwürdig. So, wie sich einst Galla Placidia an Bonifatius und Honoria an Attila um Hilfe gewandt hatten, so scheinen nun die Witwe Valentinians III. und ihre Anhänger an Geiserich appelliert zu haben. Nichts spricht dafür, dass die Quellen die Kaiserfrauen 283 Thorismund scheint die westgotischen Einheiten unmittelbar nach dem Tod seines Vaters aus dem Kampf gegen Attila abgezogen zu haben; dass er dies auf Betreiben des Aëtius tat, wie Jordanes später berichtet, erscheint wenig plausibel; Iord. Get. 216. 284 Vgl. PLRE II: 196–198. 285 Mal. 14,26. Bereits Priscus berichtet davon, dass Eudoxia Geiserich herbeigerufen habe; Prisc. Frg. 30,1,83–90. Hydatius bezeichnet dies in seiner Chronik hingegen als »übles Gerücht« (mala fama).
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7 Die Agonie des Kaisertums
lediglich als Sündenböcke für die anschließende Katastrophe benutzen. Da die Westgoten mit ihren Feinden verbündet waren, das Hunnenreich zerfallen war und Marcian in Konstantinopel abwartend agierte, mussten sie ihre verbliebenen Hoffnungen notwendigerweise auf die Vandalen setzen. Diesmal wurden sie nicht enttäuscht.286 Damit soll nun keineswegs gesagt werden, Geiserich sei ein selbstloser Verteidiger hilfesuchender Frauen gewesen. Zweifellos war es neben machtpolitischen Erwägungen auch die Aussicht auf reiche Beute, die ihn zum Handeln und somit zur Teilnahme am Bürgerkrieg bewog. Bereits am 22. Mai 455, gut zwei Monate nach dem Mord an Valentinian, erschienen die Vandalen vor Rom. Petronius Maximus erkannte die Aussichtslosigkeit seiner Lage und erlaubte jedem, die Flucht zu ergreifen und sein Leben zu retten, statt Widerstand zu organisieren.287 Die Ewige Stadt war gegen die erfahrenen Kämpfer Geiserichs nicht zu verteidigen. Der Kaiser versuchte zu fliehen, wurde aber, nachdem er in seiner Not offenbar sogar formal dem Purpur entsagt hatte, dennoch erschlagen – bezeichnenderweise nicht etwa von Vandalen, sondern entweder von Zivilisten oder, folgt man Jordanes, von einem römischen Soldaten namens Ursus.288 Es scheint, als sei Maximus nicht nur Geiserich, sondern auch der plebs, bei der Valentinian III. offenbar beliebt gewesen war, und seinen inneren Feinden erlegen. Geiserich gestattete seinem Heer, Rom ausgiebig zu plündern, was dafür gesorgt hat, dass sein Name ebenso wie der der Vandalen insgesamt bis heute keinen sehr guten Klang hat. Allerdings wird in den Quellen ausdrücklich vermerkt, dass es, angeblich auf Bitten des Bischofs Leo, nicht zu Vergewaltigungen und Morden unter der Bevölkerung gekommen sei.289 Geiserichs Männer waren, sofern diese nicht ganz unverdächtige Nachricht stimmt, erstaunlich disziplinierte Soldaten, keine mordende Barbarenhorde. Als sie abrückten, wurden sie nicht nur von zahlreichen Gefangenen begleitet, sondern auch von Eu286 Die Annahme, Geiserich habe als Rächer Valentinians III. agiert, vertrat (mit abweichenden Argumenten) bereits Wirth 1986: 189–197; vgl. dagegen Henning 1999: 24 f. 287 Prosp. Tiro ad ann. 455. 288 Iord. Get. 235. 289 Prosp. Tiro ad ann. 455; Vict. Tun. ad ann. 455.
110
7.2 Avitus
doxia und ihren Töchtern. Da Pulcheria bereits 453 in Konstantinopel gestorben war, befanden sich damit alle wesentlichen Angehörigen der alten Kaiserfamilie in Geiserichs Gewahrsam.
7.2
Avitus
Bemerkenswerterweise versuchten die Vandalen nicht, sich in Italien zu etablieren. Für eine Einnahme der Festung Ravenna fühlte sich Geiserich vermutlich nicht stark genug, und da Rom, wie sich soeben gezeigt hatte, kaum zu verteidigen war, zog er sich in seine sichere Basis Karthago zurück. Dort verheiratete er seinen Sohn mit Eudocia – die beiden waren offenbar schon 442 miteinander verlobt worden – und gesellte sich damit zu der Reihe von mächtigen Militärs, die seit Stilicho eine Verschwägerung mit der theodosianischen Dynastie angestrebt hatten. Valentinians jüngere Tochter Placidia war bereits mit dem weströmischen Senator Anicius Olybrius verheiratet, der kurz zuvor nach Konstantinopel geflohen war.290 Meist wird angenommen, er habe den Angriff Geiserichs gefürchtet. Doch wahrscheinlicher ist die Annahme, dass er im Gegenteil vor Petronius Maximus und dessen Anhängern geflüchtet war, von deren Regime er als Schwiegersohn Valentinians III. nichts Gutes zu erwarten gehabt hatte. Da offenbar auch der Caesar Palladius umgekommen war,291 gab es nun im ganzen weströmischen Reichsteil niemanden mehr, der den kaiserlichen Purpur trug, denn Geiserich hatte darauf verzichtet, einen eigenen Augustus zu erheben. Mutmaßlich wollte er abwarten, wie sich Konstantinopel verhalten würde. Damit aber bot sich den Überresten der alten Aëtius-Gruppierung die Möglichkeit, wieder die Initiative zu ergreifen. Der hauptsächliche militärische Rückhalt, über den sie noch verfügen konnten, waren die Männer Theoderichs II. Und so war es nur folgerichtig, dass nun Avitus unter maßgeblicher Beteili290 Vgl. PLRE II: 796–798. 291 PLRE II: 821.
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7 Die Agonie des Kaisertums
gung der Westgoten und der gallorömischen Aristokratie, der er ja entstammte, zum Kaiser ausgerufen wurde. Bemerkenswerterweise scheint dabei das concilium septem provinciarum in Arles eine wichtige Rolle gespielt zu haben. Vielleicht sah die gallische Senatorenschaft, die im 4. Jahrhundert prominent an der Reichsverwaltung beteiligt gewesen war, seit der Verlegung der Kaiserresidenz nach Italien aber an Bedeutung eingebüßt hatte, nun ihre Stunde gekommen.292 Wichtiger dürfte allerdings der Umstand sein, dass Aëtius und seine Anhänger jahrelang in Gallien aktiv gewesen waren und auf diese Weise zweifellos viele persönliche Treueverhältnisse etabliert hatten. Zu den Männern, die sich dem neuen Augustus anschlossen, zählte auch sein Schwiegersohn Sidonius Apollinaris. Dieser betonte später, die Initiative für die Erhebung sei von Theoderich II. ausgegangen.293 Diese Behauptung soll wohl vor allem betonen, Avitus habe, ganz in der alten Tradition der recusatio imperii, keineswegs selbst nach dem Purpur gestrebt, sondern sich gesträubt. Es ist aber daneben durchaus wahrscheinlich, dass die Westgoten die Erhebung eines Kaisers tatsächlich aktiv betrieben, um wie einst im Falle des Priscus Attalus über einen Verhandlungspartner mit höchster Autorität zu verfügen, der mit ihnen im Namen des römischen Volkes foedera schließen konnte. Gestützt auf vornehmlich westgotische Truppen und mit einem Anhang aus gallischen Aristokraten machte sich Avitus auf den Weg nach Rom, ohne auf Widerstand zu treffen. Es hat den Anschein, als habe ihn der Senat dort im August 455 als Augustus akklamiert. Zum neuen ersten magister militum et patricius wurde bezeichnenderweise ein Westgote namens Remistus erhoben, und eine Gesandtschaft suchte in Konstantinopel um die Anerkennung des neuen Westkaisers nach. Aber Avitus sollte sich seines Kaisertums nicht lange erfreuen können, da ihm die Unterstützung wichtiger Gruppen gefehlt zu haben scheint: Zum einen kann Geiserich nicht froh darüber gewesen sein, dass nun nach Maximus erneut ein Exponent der einstigen factio des Aëtius Kaiser in Italien war. Gesandtschaften von Marcian und Avitus 292 Vgl. zu der Annahme, die Erhebung des Avitus sei als »Reaktion der provinzialen Elite« zu verstehen, Henning 1999: 122–134. 293 Sidon. Carm. 7,510–518.
112
7.2 Avitus
forderten ihn auf, die theodosianischen Frauen auszuliefern und sich von Italien fernzuhalten, doch scheint der Vandale im Gegenteil einen erneuten Angriff auf Sizilien und Süditalien befohlen zu haben.294 Zum anderen hat man oft vermutet, dass Teile der italischen Senatsaristokratie mit dem Regime unzufrieden gewesen seien, weil ihre Vertreter befürchteten, wie bereits im 4. Jahrhundert nun erneut von Gallorömern in den Schatten gestellt zu werden. Und drittens und vor allem gab es auch im Militär inzwischen mächtige Männer, die mit der Entwicklung seit der Ermordung Valentinians III. nicht einverstanden waren. Diese – namentlich Majorian und der zweite Heermeister Ricimer – waren dabei allerdings keine Verbündeten Geiserichs, den sie ebenfalls bekämpften. Die plebs urbana sympathisierte offenbar ohnehin nicht mit der herrschenden factio, wie sich schon unter Maximus gezeigt hatte. 456 aber eskalierte die Situation. Avitus hatte sich noch unbeliebter gemacht, indem er seinen westgotischen foederati auf Kosten der stadtrömischen Bevölkerung erhebliche Summen gezahlt hatte. Die meisten Westgoten scheinen allerdings mit Theoderich II. aus Italien abgezogen zu sein, um in Hispanien gegen die Sueben zu kämpfen, die unter ihrem rex Rechiarius in den zurückliegenden Jahren ihren Einflussbereich stark ausgeweitet hatten. Bereits 446 hatten sie den magister utriusque militiae Vitus entscheidend geschlagen.295 Tatsächlich konnten die Goten ihnen nun eine vernichtende Niederlage beibringen.296 Doch ihre Kampfkraft fehlte der weströmischen Regierung in Italien. Dort war inzwischen eine schwere Hungersnot ausgebrochen, zweifellos aufgrund der feindlichen Haltung Geiserichs, der die Getreidelieferungen aus Africa zurückgehalten haben dürfte. Vor diesem Hintergrund beschlossen Majorian und Ricimer, sich offen gegen Avitus zu erheben. Remistus wurde getötet. Der Kaiser erkannte, dass er sich unter diesen Bedingungen in Italien nicht halten konnte, und versuchte, zu den Westgoten zu flüchten. Aber dann kam es doch noch zum offenen Kampf, und bei Piacenza wurde Avitus in einer ungemein blutigen 294 Prisc. Frg. 31,1 (Blockley). 295 Hydat. Chron. 126 (Mommsen 134); vgl. Heather 2005: 344 f. 296 PLRE II: 935.
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7 Die Agonie des Kaisertums
Schlacht besiegt. Majorian und Ricimer zwangen ihn im Oktober 456, dem Purpur zu entsagen, und sorgten im Anschluss auf unklare Weise für sein zügiges Ableben.297 Seine Familie blieb verschont. Zum wiederholten Mal binnen zwei Jahren war es zu einem vollkommenen Umschwung gekommen. Erneut hatte Westrom keinen eigenen Kaiser mehr. Und Prosper Tiro298 klagte angesichts der Lage: »Wer einst mit hundert Pflügen den Acker umbrach, schwitzt nun, um zwei Rinder halten zu können (…). Alles stürzt jäh dem Ende entgegen. Ein und derselbe Tod rafft durch Schwert, Seuche, Hunger, Gefangenschaft, Hitze und Kälte tausendfach die Menschen dahin. Krieg tobt überall, Raserei packt alle, und mit zahllosen Waffen stürzen die reges aufeinander. Unheilige Zwietracht wütet in der verwirrten Welt. Der Friede hat die Welt verlassen.«
7.3
Majorian und Ricimer
Die soeben dargelegte Rekonstruktion, der zufolge sich zwischen der Ermordung des Aëtius 454 und jener des Avitus 456 ein etwa zweijähriger, wechselvoller Machtkampf um die Kontrolle der weströmischen Regierung zwischen zwei verfeindeten factiones abgespielt hat, lässt sich zwar aufgrund der lückenhaften Überlieferung nicht abschließend beweisen, sie kann jedoch zumindest eine erhebliche Plausibilität für sich in Anspruch nehmen. Trifft sie zu, so waren die westgotischen und vandalischen foederati an den Kämpfen nicht als äußere Feinde Roms, sondern als Verbündete der römischen Bürgerkriegsparteien beteiligt, und im Grunde hatten diese erneuten bella civilia dann bereits spätestens 450 mit der Honoria-Affäre und der Intervention Attilas begonnen. Doch selbst wenn die Ereignisse wirklich nur Ausdruck chao297 Prisc. Frg. 32 (Blockley). Laut Priscus ließ Majorian Avitus entweder verhungern oder erdrosseln. Gregor von Tours (Hist. 2,11) behauptet, Avitus sei nach seiner Absetzung zunächst gegen seinen Willen zum Bischof von Piacenza geweiht worden. Er fand wohl Anfang 457 den Tod. 298 Ps.-Prosp. Tiro poem. ad uxor. 17–30. Ob Prosper Tiro der Verfasser des Textes ist, ist umstritten.
114
7.3 Majorian und Ricimer
tischer, ungeordneter Entwicklungen gewesen sein sollten, steht eines fest: Sie hatten Italien und weite Teile Galliens in einen Zustand der Zerrüttung versetzt. Es hat den Anschein, als habe sich die Gruppe hoher Militärs, die sich schließlich zum Putsch gegen Avitus entschloss und zu der neben Majorian und Ricimer auch ihr alter Kampfgefährte Aegidius gezählt haben dürfte, vor allem angesichts der Hungersnot, die Geiserich in Italien provoziert zu haben scheint, zum Handeln entschlossen. Ricimer hatte offenbar noch im Namen des Avitus (und sehr wahrscheinlich mit oströmischer Unterstützung) einen eindrucksvollen Sieg über die Vandalen errungen,299 der zumindest Sizilien wieder unter die Kontrolle der weströmischen Regierung gebracht hatte. Doch da er dem Kaiser nicht zugetraut zu haben scheint, eine substantielle Verbesserung der Lage herbeizuführen, muss er sich zuletzt Majorian angeschlossen haben, der allem Anschein nach von Anfang an ein Feind des Avitus gewesen war. Das war auch deshalb bemerkenswert, weil Ricimer auf eine nicht genau zu bestimmende Weise – offenbar war er ein Enkel Vallias – selbst mit den westgotischen reges verwandt war.300 Nachdem Avitus ausgeschaltet worden war, unterstand das ganze Römische Reich formal einem einzigen Augustus, nämlich dem in Konstantinopel residierenden Marcian. Ob er am Sturz des Avitus Anteil gehabt hatte, bleibt im Dunkeln, denn am 27. Januar 457 starb der Kaiser überraschend, und zum ersten Mal seit 364 gab es im gesamten Imperium Romanum keinen Mann, der den Purpur trug. Die Thronvakanz dauerte bis zum 7. Februar. Der neue Augustus war Leo I. (457– 474). Er hatte sich in den Tagen zuvor unter anderem gegen Anicius Olybrius und Marcians Schwiegersohn Procopius Anthemius durchgesetzt, aller Wahrscheinlichkeit nach mit Unterstützung durch den magister militum Aspar, dessen Einfluss am östlichen Hof beständig wuchs. Möglicherweise plante Leo zunächst, keinen neuen Augustus des Westens einzusetzen, sondern den Rumpf des Hesperium Imperium von Konstantinopel aus zu regieren. Er muss es jedenfalls gewesen sein,
299 Hydat. Chron. 170 (Mommsen 177). 300 Vgl. zu Ricimer Anders 2010 (mit teils erheblich abweichenden Beurteilungen).
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7 Die Agonie des Kaisertums
der Ricimer im Februar 457 zum patricius und Majorian zum zweiten magister militum erhob. Doch das Zögern des Ostkaisers, einen neuen Kollegen für den Westen einzusetzen, führte auch dieses Mal dazu, dass man dort schließlich selbst aktiv wurde. Die Einzelheiten sind umstritten. Wohl im April 457 ließ sich Majorian von den Überresten der italischen Feldarmee zum Kaiser ausrufen, allerdings vielleicht noch nicht zum Augustus, sondern zunächst nur zum Caesar.301 Vieles spricht dafür, dass er nach längeren Verhandlungen im Dezember 457 schließlich von Leo als iunior Augustus (oder als Caesar) anerkannt wurde, denn 458 bekleideten Majorian und der Ostkaiser gemeinsam das Konsulat. Geiserich scheint sich nach seiner Niederlage auf Sizilien zunächst abwartend verhalten zu haben, doch Mitte 458 griffen die Vandalen erneut Italien an. Mit Hilfe einer neu ausgerüsteten Flotte konnten Majorian und Ricimer die Attacke aber abwehren. Bereits Anfang 458 richtete der neue Kaiser ein Schreiben an den Senat, in dem er betonte, gemeinsam mit ihm trage sein patricius die Verantwortung (cura) für das Heer.302 Doch obwohl die einflussreiche Rolle, die Ricimer spielte, nicht zu übersehen war, war Majorian keineswegs nur eine Marionette. Er ernannte seinen alten Freund Aegidius zum magister militum per Gallias303 und zog im Herbst 458 selbst an der Spitze eines Heeres nach Gallien, wo die verbliebenen Anhänger des Avitus offenbar zunächst an Widerstand gedacht hatten. Inschriften bezeugen, dass man Majorian hier anfangs weder als Kaiser noch als Konsul anerkannte,304 und möglicherweise gab es Versuche, nochmals einen eigenen Augustus auszurufen. Doch Majorian konnte die Mehrheit der gallischen Funktionsträger mit Druck und Überredung recht schnell auf seine Seite ziehen. Offenbar kam er Gallien unter anderem in Steuerfragen entgegen,305 und überdies war man zweifellos auf allen Seiten kriegsmüde.306 Die Westgoten mussten allerdings erst militärisch 301 Vgl. zu Majorian (wenngleich teilweise veraltet) Max 1975; Henning 1999: 36–40. 302 Nov. Maior. 1. 303 Greg. Tur. Hist. 2,11. 304 CIL XIII 2363. 305 Nov. Maior. 7,14; Nov. Maior. 2.
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7.3 Majorian und Ricimer
bezwungen werden, bevor sie sich zu einem foedus mit dem neuen Augustus bereitfanden. Majorian war der erste Kaiser seit Theodosius I., der selbst eine Armee kommandierte. Offensichtlich hatte er aus den Erfahrungen, die man im Westreich mit principes clausi gemacht hatte, die Lehre gezogen, dass angesichts der fortschreitenden Desintegration des Imperiums eine Rückkehr zum Typus der Soldatenkaiser geraten sei. Allerdings zeigen die Briefe des Sidonius, der ebenso wie die meisten gallischen Senatoren seinen Frieden mit Majorian gemacht hatte, dass der Kaiser den Aristokraten mit ausgesuchter civilitas begegnete, die Anklänge an die Prinzipatsideologie aufwies.307 Die Charmeoffensive blieb nicht ohne Wirkung. Noch Prokop lobte den Augustus Jahrzehnte später in den höchsten Tönen: Der Herrscher habe buchstäblich jeden, der jemals Kaiser der Römer gewesen sei, in Hinblick auf sämtliche Tugenden übertroffen. Niemals habe Majorian gezögert, und vor allem habe er Krieg nicht gefürchtet und dabei alle wichtigen Aufgaben selbst durchgeführt.308 Obwohl es zwischenzeitlich wieder zu Spannungen mit Ostrom gekommen zu sein scheint, bei denen es möglicherweise um die Frage ging, ob Majorian lediglich Caesar oder doch Augustus sei, scheinen diese Differenzen 460 wieder beigelegt gewesen zu sein. Der Westkaiser konnte sich nun, nachdem mit Westgoten und Sueben neue foedera geschlossen waren, der wichtigsten Aufgabe zuwenden: dem Angriff auf Africa. Solange Geiserich Karthago und die Getreideversorgung Italiens kontrollierte und solange Ravenna auf die Steuern aus Nordafrika verzichten musste, war an eine vollständige Erholung der Autorität der Zentralregierung nicht zu denken. Und da die Vandalen deutlich gemacht hatten, dass sie nicht mehr verhandlungsbereit waren, musste das Problem gewaltsam gelöst werden. Das Scheitern dieser Operation bedeutete den Anfang vom Ende Majorians. Es gelang Geiserich, die etwa 300 Schiffe zählende Flotte,
306 Vgl. Mathisen 1979. 307 Sidon. Epist. 1,11. 308 Prok. Hist. 3,7,4 f. Bezeichnenderweise verschweigt Prokop das unschöne Ende seines Helden.
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7 Die Agonie des Kaisertums
die der Kaiser in Südspanien nahe Cartagena versammelt hatte, durch einen Überraschungsangriff zu vernichten. Als Majorian zunächst dennoch nicht abzog, verwüsteten die Vandalen die gegenüberliegende afrikanische Küste, um eine Invasion endgültig unmöglich zu machen.309 Erst jetzt musste der Augustus sein Scheitern einräumen, schloss notgedrungen ein neues foedus mit Geiserich und zog sich nach Gallien zurück, wo er einige Monate lang in Arles residierte. Als er sich schließlich im Sommer 461 wieder auf den Weg nach Rom machte, entließ er, da er offensichtlich keine Schwierigkeiten erwartete, sein Heer. Dies erwies sich als Fehler. Denn kaum hatte der Kaiser Italien betreten, als ihn Soldaten abfingen. Majorian wurde vor ein Kriegsgericht gestellt, abgeurteilt und grausam hingerichtet.310 Der Mann, der hinter diesem Militärputsch stand, war sein alter Kamerad Ricimer. Über die Hintergründe dieser Tat wird vermutlich nie Gewissheit zu gewinnen sein.311 Die Erfolglosigkeit des Kaisers im Kampf gegen Geiserich mag Ricimer missfallen haben, aber sie genügt kaum als Erklärung. Dass der Heermeister der Ansicht war, Majorian agiere zu eigenständig und lasse sich nicht kontrollieren, ist denkbar, aber durch nichts zu belegen. Möglicherweise spielte auch die lange Abwesenheit des Kaisers eine Rolle, denn seit Honorius hatten die Augusti stets in Italien residiert, und dass sich Majorian augenscheinlich monatelang ohne ersichtlichen Grund in Gallien aufgehalten hatte, mag unter den Senatoren Italiens für Unmut gesorgt haben, da man im Reichszentrum nach Herrschernähe verlangte. Oder war es während der Abwesenheit des Kaisers den Überresten der factio von Aëtius, Maximus und Avitus gelungen, den patricius auf ihre Seite zu ziehen? Doch muss all dies letztlich Spekulation bleiben. Sicher ist nur, dass Ricimers Truppen einige Zeit nach den Ereignissen einen neuen Kaiser ausriefen. Die Chronologie ist erneut unklar; sollte der neue westliche Augustus aber tatsächlich erst im November ausgerufen worden sein, so wäre dies vielleicht ein Indiz dafür, dass man zuvor erneut vergeb-
309 Prisc. Frg. 36,1 (Blockley). 310 Ioh. Antioch. Frg. 203 (Müller). 311 Vgl. Anders 2010: 143–155, der einen Konflikt mit der italischen Senatsaristokratie für die Ursache hält.
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7.4 Anthemius
lich in Konstantinopel um die Entsendung eines Kaisers nachgesucht hatte. Bemerkenswerterweise scheint auch Geiserich einen Kandidaten unterstützt zu haben, nämlich Anicius Olybrius, den Schwippschwager seines Sohnes Hunerich. Er unterstrich seine Forderung erneut mit Angriffen, jedoch ohne Erfolg.312 Der Mann, den der patricius des Westens schließlich als Nachfolger Majorians auswählte, der Senator Libius Severus Serpentius (461– 465),313 wurde von Ostrom nie anerkannt. Und auch Aegidius sagte sich von Ricimer und Ravenna los und bemühte sich um ein Bündnis mit Geiserich.314 Neben den Anführern der vandalischen, suebischen und westgotischen »Barbaren« begannen in Gestalt von Marcellinus in Dalmatien, der sich ja irgendwann nach 454 von Ravenna gelöst hatte, und Aegidius in Nordgallien nun also auch römische Feldherren damit, sich als faktisch unabhängige warlords mit eigenen Machtbereichen zu etablieren. Die Desintegration Westroms gewann an Dynamik. Außer Teilen des Alpenraums, Hispaniens und Südgalliens umfasste es nun effektiv kaum noch mehr als Italien selbst.
7.4
Anthemius
Als sich herausgestellt hatte, dass der farblose Libius Severus, der immerhin für ein gutes Verhältnis zur Kirche gesorgt zu haben scheint, eindeutig nicht geeignet war, die Autorität der Reichszentrale jenseits des verbliebenen Kerngebietes zu vertreten, muss Ricimer erkannt haben, dass er in den sauren Apfel beißen musste. Der Tod seines machtlosen Kaisers im Jahr 465, ob nun natürlich oder gewaltsam, kam ihm daher wohl durchaus gelegen. Diesmal bestand der Heermeister offensichtlich darauf, einen neuen Kaiser aus Ostrom geschickt zu bekom-
312 Prisc. Frg. 38,2 (Blockley). 313 Theoph. AM 5955. Vgl. Anders 2010: 156–161. 314 Vgl. MacGeorge 2002: 82–110.
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7 Die Agonie des Kaisertums
men – und zwar nicht nur einen Kaiser, sondern auch eine Armee. Nach anderthalb Jahren, in denen es nur einen einzigen Augustus im Imperium Romanum gegeben hatte, entsandte Leo I. tatsächlich einen neuen Westkaiser: Im April 467 wurde in Rom Procopius Anthemius (467–472) zum Augustus des Westens ausgerufen. Er war nicht alleine gekommen, ein starkes Heer begleitete ihn.315 Für den Ostkaiser Leo bot diese Lösung die Möglichkeit, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Zum einen konnte man hoffen, dem durch jahrelange Bürgerkriege zerrütteten westlichen Reichsteil neue Stabilität zu verleihen, da Anthemius sich nicht nur auf militärische Unterstützung, also gewissermaßen auf eine Hausmacht, verlassen konnte, sondern überdies einem Geschlecht der Hocharistokratie entstammte, dessen Angehörige sich bereits seit dem 4. Jahrhundert in wichtigen Ämtern – sowohl militärische als auch zivile – bewährt hatten. So war sein gleichnamiger Großvater jener Prätorianerpräfekt gewesen, der in den Jahren um 410 faktisch die Regierungsgeschäfte für Theodosius II. geführt hatte, und dessen Großvater Philippus wiederum hatte bereits Constantius II. gedient.316 Auf eine nicht genau bestimmbare Weise war die Familie offenbar sogar mit der Konstantinischen Dynastie verwandt – oder behauptete dies zumindest. Anthemius schien also als erfahrener Staatsmann und dynastisch legitimierter Aristokrat ein idealer Kandidat für das Kaisertum zu sein. Und genau deshalb musste ihn Leo grundsätzlich für bedrohlich halten, schließlich war Anthemius als zweiter Heermeister und Schwiegersohn Marcians bereits 457 in den Augen vieler sicherlich der näherliegende neue Augustus des Ostens gewesen. Leo scheint nach einigem Zögern entschieden zu haben, dass ihm Anthemius, eingebunden in die Wirren des Westens, weniger gefährlich werden konnte als in Konstantinopel. Seine Entsendung nach Italien entfernte also einen potentiell bedrohlichen Mann vom oströmischen Hof und bot zugleich die Chance, den westlichen Reichsteil endlich wieder unter Kontrolle zu bekommen.317 315 Vgl. zu Anthemius Henning 2006 (mit teils abweichender Interpretation). 316 Vgl. Henning 1999: 42 f. 317 Vgl. Börm 2010: 165 f.
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7.4 Anthemius
In Ost und West war man sich darüber im Klaren, dass der Schlüssel zur Wiederherstellung des Friedens und der Autorität des Kaisertums im Hesperium Imperium in einem Sieg über Geiserich lag. Dieser forderte nach wie vor die Einsetzung des Olybrius, war dabei zu einer zunehmend offensiven Politik übergegangen und hatte zuletzt auch oströmisches Territorium attackiert. Seit nunmehr fast 30 Jahren kontrollierte er Karthago, er entzog der Reichsregierung die Steuern und Italien mitunter das Getreide, überdies konnte er mit seiner Flotte jederzeit in die römischen Bürgerkriege eingreifen. Wollte Ravenna Handlungsfreiheit gewinnen, so mussten die Vandalen, wollte man ihren Wünschen nicht Folge leisten, ausgeschaltet werden. Ob Ricimer die Entsendung ausgerechnet des selbstbewussten Anthemius gewünscht hatte oder nicht, lässt sich nicht mit Sicherheit entscheiden, auf jeden Fall aber arrangierten sich der neue Kaiser und der patricius zunächst. Letzterer heiratete die einzige Tochter des Augustus.318 Der Wunsch, Geiserich endlich als Machtfaktor auszuschalten, einte offensichtlich Leo, Anthemius und Ricimer. Gallorömische Senatoren traten in die Dienste des Kaisers, darunter Sidonius, der 468 praefectus urbi wurde. Selbst Marcellinus in Dalmatien konnte für die neue Koalition gewonnen werden, wurde magister militum und unternahm anscheinend im Herbst 467 einen ersten Angriff auf die Vandalen, wenn auch ohne Erfolg. Nur die Westgoten standen offenbar abseits und warteten ab. 468 begann dann der gesamtrömische Angriff auf Geiserich; die Hauptlast trug dabei der östliche Reichsteil, der im Gegensatz zu Ravenna noch über die entsprechenden Mittel verfügte. Unabhängige Quellen bezeugen, dass Konstantinopel alleine etwa 65 000 Pfund Gold und 700 000 Pfund Silber für die Ausrüstung einer Flottenexpedition aufbrachte, eine gewaltige Summe.319 Oströmische Einheiten unter dem Feldherrn Heraclius rückten von Osten kommend Richtung Africa vor, Marcellinus vertrieb vandalische Truppen von Sardinien. Doch das von Leos Schwager Basiliscus befehligte Unternehmen gegen Karthago selbst, das mit einem Seesieg über Geiserich begann, endete in einem Desaster, als es den Vandalen gelang, die an318 Sidon. Epist. 1,5,10 f. Vgl. O’Flynn 1991. 319 Ioh. Lyd. de Mag. 3,43; Suda Χ 245 (Candidus).
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7 Die Agonie des Kaisertums
kernde kaiserliche Flotte zu vernichten. Damit brach die gesamte Offensive in sich zusammen. Marcellinus fiel einem Attentat zum Opfer, und Heraclius, der wohl auf die Unterstützung durch eine Flotte angewiesen zu sein glaubte, trat den Rückzug an.320 Vieles spricht dafür, 468 als den entscheidenden Punkt zu betrachten, ab dem die Desintegration des römischen Westens unumkehrbar wurde. 467/8 hatte es zunächst so ausgesehen, als könne nun eine Wende eingeleitet und die Autorität des Kaisertums erneuert werden. Hydatius, dessen Chronik 468 abbricht, bezeugt die Hoffnungen, die selbst in der abgelegenen Gallaecia in die Offensive gegen Geiserich gesetzt wurden.321 Mit Anthemius war 468 auch im übrigen Hispanien nach einer Pause wieder ein Kaiser anerkannt worden, wie unter anderem eine Inschrift aus der Tarraconensis belegt.322 Umso größer muss der anschließende Schock gewesen sein. Die Quellen suchen nach Verantwortlichen für die Katastrophe. Gegen diverse Beteiligte, darunter neben dem östlichen ersten magister militum Aspar und seinem westlichen Gegenpart Ricimer auch der Admiral und spätere Usurpator Basiliscus, scheint früh der Vorwurf der Konspiration mit den Vandalen erhoben worden zu sein.323 Doch im Grunde verraten diese Verschwörungstheorien nur, dass die Menschen von der Kontingenz des Ereignisses überfordert waren. Wenn nicht einmal die geballte Macht der verbündeten Augusti in Ost und West eine Wende erzwingen konnte – warum sollten die Menschen jetzt noch ihre Hoffnungen auf die Zentralregierung setzen?324 Der Bürgerkrieg war zwar noch nicht vorbei, aber die Entscheidung war gefallen. Fortan musste es darum gehen, sich einen Anteil an der weströmischen Konkursmasse zu sichern. Kaum zufällig scheinen die Westgoten daher gleich 469 in die Offensive gegangen zu sein. Ihr neuer rex Eurich ging wohl davon aus, dass
320 Prok. Hist. 3,6,7–25. 321 Hydat. Chron. 241 (Mommsen 247). 322 CIL II 4109. Vgl. zur Anerkennung des Kaisers in der Gallaecia Henning 1999: 166. 323 Prok. Hist. 3,6,2–4; Theoph. AM 5961. 324 Vgl. Heather 2005: 399–430.
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7.4 Anthemius
es geraten sei, nun eine Zukunft ohne ein westliches Kaisertum zu planen und möglichst ganz Gallien unter seine Kontrolle zu bringen. Der praefectus praetorio per Gallias, Arvandus, wurde abgesetzt und bald darauf als Hochverräter angeklagt, da er mit Eurich konspiriert habe.325 Anthemius gelang es derweil offenbar, Kelten aus der Aremorica gegen die Goten in Marsch zu setzen, doch ohne Erfolg.326 470/1 befahl der Kaiser, dessen Rückhalt nun auch in der Senatsaristokratie zu bröckeln begann, eine letzte Offensive, die sein Sohn Anthemiolus mit dem Rest der regulären Truppen durchführen sollte. In einer Entscheidungsschlacht an der Rhone vernichtete Eurich dieses wohl letzte nennenswerte weströmische Heer.327 Spätestens jetzt war der einstige Hoffnungsträger Anthemius auch im Inneren bedroht; sein offenkundiges Scheitern machte ihn verwundbar. Über die genauen Vorgänge, die schließlich zu seinem Sturz führten, lässt sich trefflich streiten. Möglicherweise spielten Konflikte mit dem römischen Bischof Simplicius eine Rolle, den der aus dem Osten stammenden Kaiser in einer Weise behandelt haben mag, wie es die oströmischen Augusti mit den Patriarchen zu tun pflegten, was dem großen Selbstbewusstsein des westlichen Klerus aber nicht entsprach. Auch im Umgang mit den Senatoren könnte nun ein gewisser kultureller Unterschied zwischen dem »Griechen« Anthemius und den Italikern und Galliern Spannungen verstärkt haben. Bereits Ende 470 scheint es zu einer Verschwörung gekommen zu sein, die den Kaiser mutmaßlich durch den magister officiorum Romanus zu ersetzen suchte, aber aufgedeckt und unterdrückt wurde. Ricimer, der ein Freund des Romanus gewesen sein soll, stellte sich im Anschluss gegen Anthemius.328 Zunächst konnte der Bischof Epiphanius von Pavia wohl eine Versöhnung bewirken, doch 472 kam es ein weiteres Mal zum offenen Bürgerkrieg. Johannes Malalas berichtet, Leo I. habe seinem westlichen Kollegen in einem Brief geraten, mit dem patricius so zu verfahren, wie er selbst es soeben mit Aspar getan hatte: Diesen, der über-
325 326 327 328
Sidon. Epist. 1,7. Vgl. hierzu de Luca 2017. Sidon. Epist. 3,9; Iord. Get. 237 f. Chron. Gall. a 511 (ad ann. 471). Prisc. Frg. 64,1 (Blockley).
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7 Die Agonie des Kaisertums
mächtig zu werden drohte, hatte Leo im Palast überfallen und töten lassen.329 Dummerweise, so Malalas, sei dieser Brief Ricimer bekannt geworden, der sich entschlossen habe, Anthemius zuvor zu kommen.330 Die Anekdote muss nicht stimmen. Sicher ist: Mit einer Elitetruppe von etwa 6 000 Mann, die eigentlich einen letzten Angriff auf Geiserich hätte unternehmen sollen, attackierte Ricimer den Kaiser. Dieser verschanzte sich monatelang in einem Teil Roms, unterstützt von vielen Würdenträgern und der plebs urbana, und hoffte auf ein Entsatzheer, das aber zurückgeschlagen wurde. Zuletzt fand Anthemius den Tod.
7.5
Die letzten Kaiser
Ricimer wählte nun den letzten Ausweg, der noch blieb: Leo hatte Anicius Olybrius mit einem kleinen Heer nach Italien geschickt, und nun, im Sommer 472, erfüllte man endlich die Forderungen Geiserichs und erhob den Schwager seiner Schwiegertochter zum Augustus des Westens.331 Angesichts des Krieges mit den Westgoten war ein Bündnis mit dem alten Feind in Karthago der letzte Strohhalm. Doch kurz darauf starb Ricimer, und wenige Monate später war auch Olybrius tot. Ricimers Nachfolger, sein Neffe Gundobad, entschied sich nach einem Interregnum dazu, im März 473 den comes domesticorum Glycerius in Ravenna zum Kaiser ausrufen zu lassen. Dieser scheint von Konstantinopel nicht anerkannt worden zu sein, erzielte aber einen wichtigen Erfolg: Im Sommer 473 unternahm es Eurich, seinen Machtbereich auf Italien auszuweiten, und schickte ein Heer unter einem gewissen Vincentius, den er zum magister militum per Italiam (und vermutlich zum patricius) machen wollte. Dieser Versuch der Westgoten,
329 Vgl. Croke 2005; Börm 2010; Stickler 2016. 330 Mal. 14,45. 331 Vgl. PLRE II: 635 f.
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7.5 Die letzten Kaiser
erneut in den Machtkampf in Italien einzugreifen, wurde im Auftrag des Glycerius durch die comites Alla und Sindila vereitelt.332 Wenn die Namen der beteiligten Feldherren nicht täuschen, wehrten hier übrigens zwei Goten im Dienste eines Römers den Angriff eines Römers im Dienste eines Goten ab. Weniger erfolgreich war man hingegen gegenüber dem oströmischen Expeditionskorps, das der neue Ostkaiser Zeno (474–491) unter dem Feldherrn Julius Nepos entsandt hatte. Nepos war der Neffe des Marcellinus und hatte diesen als autonomer Machthaber in Dalmatien beerbt. Wohl auch mit dem Ziel, ihn aus dieser Position zu entfernen, hatte ihn Zeno als neuen Kaiser nach Italien geschickt. Glycerius konnte ihm nicht widerstehen; er wurde abgesetzt und zum Bischof von Solin ordiniert.333 Gundobad sah angesichts der unübersehbaren Agonie des westlichen Kaisertums für sich selbst offenbar keine Zukunft mehr in Italien und verließ den Reichsdienst, um stattdessen rex der Burgunder zu werden. Ein deutliches Zeichen für das Nahen des Endes. Nepos war der letzte Augustus des Westens, der von Konstantinopel anerkannt wurde. Über die Ereignisse während seiner kurzen Herrschaft kann man vielfach nur Vermutungen anstellen; allerdings scheint er, während die Vandalen wieder angriffen, zunächst versucht zu haben, zu einer Verständigung mit Eurich zu gelangen. Hierfür könnte zumindest sprechen, dass er Ecdicius,334 den Sohn des glücklosen Kaisers Avitus, zum patricius und magister militum erhob – mutmaßlich unterhielt dessen Familie noch immer gute Beziehungen zu den Westgoten. Allerdings kam es bald zu heftigen Kämpfen zwischen dem Heermeister und den Goten. Fest steht, dass Nepos 475 ein letztes foedus mit Eurich schloss, durch das er diesem die Kontrolle über die Auvergne überließ. Ecdicius scheint mit dem Vertrag nicht einverstanden gewesen zu sein; er wurde abgesetzt und durch Orestes ersetzt. Kurz zuvor hatte Kaiser Zeno 474 ein foedus mit dem greisen Geiserich geschlossen, das diesem und seinen Nachfahren für immer den Besitz von Africa garantierte.335 332 Chron. Gall. a 511 (ad ann. 473). 333 Iord. Rom. 338 f. 334 Vgl. PLRE II: 383 f.
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7 Die Agonie des Kaisertums
Vielleicht war all dies der Anlass dafür, dass Orestes, der einst ein Gefolgsmann Attilas gewesen war, putschte und nach Ravenna marschierte. Nepos zog sich wieder nach Dalmatien zurück, beanspruchte aber weiterhin die Kaiserwürde. Dessen ungeachtet erhob Orestes nun seinen jungen Sohn Romulus zum Augustus. Von Zeno nicht anerkannt, blieb der neue Kaiser im Grunde ein Usurpator.336 Genau wie Jahrzehnte zuvor bereits Gerontius scheint Orestes die Stellung als Kaiser für nicht erstrebenswert gehalten zu haben, zu sehr hätte der Purpur wohl seine Handlungsfreiheit eingeschränkt (u Kap. 9.1). Er wollte den Augustus kontrollieren, nicht selbst Augustus sein. Doch der patricius überschätzte die Machtmittel, die ihm noch geblieben waren. Als die in Italien dienenden foederati nach der Vertreibung des Julius Nepos eine Neuverhandlung der annona verlangten – wahrscheinlich forderten sie, man möge ihnen Land zuweisen, doch ist dies umstritten –, nahm er eine harte Position ein. Daraufhin meuterten die Soldaten, angeführt durch den Gardisten Odoaker. Am 28. August 476 kam es zur Schlacht, in der Orestes den Tod fand. Tage darauf marschierten die foederati in Ravenna ein und erschlugen auch Orestes’ Bruder Paulus.337 Wahrscheinlich Anfang September setzte Odoaker Romulus, den man Augustulus nannte, ab. Weder erhob er einen Nachfolger, noch tötete er den Jungen. Vor allem dies macht deutlich, dass diesmal nicht nur ein einzelner Augustus seinen Thron verlor, sondern dass das römische Kaisertum des Westens, das sich in den letzten Jahren als überflüssig und aufgrund dieser Schwäche sogar als destabilisierend erwiesen hatte, abgeschafft worden war. So war es nur folgerichtig, dass Odoaker nun die ornamenta palatii, die Insignien der Monarchie, nach Konstantinopel sandte. Nur der dortige Augustus Zeno, der soeben einen Usurpationsversuch des Basiliscus überstanden hatte, besaß noch Autorität.338 In Westrom wollte und brauchte man keinen eigenen Kaiser mehr.
335 Prok. Hist. 3,7,26. Vgl. Blockley 1992: 79 f. 336 Unwahrscheinlich ist, dass Romulus 475 vom oströmischen Usurpator Basiliscus anerkannt wurde. Doch scheint man im Westen umgekehrt Basiliscus akzeptiert zu haben; vgl. Prostko-Prostynski 2000. 337 Vgl. Henning 1999: 56–58.
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7.6 Völkerwanderung oder Bürgerkrieg?
7.6
Völkerwanderung oder Bürgerkrieg?
Was war geschehen? Die Auflösung der kaiserlichen Herrschaft im Westen des Imperium Romanum hatte sich über Jahrzehnte hinweg vollzogen. Es war kein Ansturm barbarischer Horden auf die Reichsgrenzen, der für die Ereignisse entscheidend gewesen war, auch wenn nichtrömische gentes und foederati in ihnen eine wichtige Rolle spielten. Aber auch die bewusst wertfreie Formulierung, das Westreich habe im 5. Jahrhundert einfach eine »Transformation« erlebt, wird den oft sehr gewalttätigen Vorgängen wohl nicht gerecht. Westrom wurde nicht von außen erobert wie einst das Achaimenidenreich durch Alexander den Großen, es fiel aber auch nicht innerer Dekadenz oder einer Überdehnung seiner Grenzen zum Opfer.339 Ein wenig erinnert das Geschehen im 5. Jahrhundert nach Christus stattdessen an den Zerfall des Alexanderreichs in den Diadochenkriegen: Eskalierende Machtkämpfe im Zentrum führten zu einer Schwächung des Zusammenhalts und der Abwehrkraft. Als schließlich die Entscheidung gefallen war, dass die Reichseinheit verloren war, bildeten sich auf den Trümmern Nachfolgereiche.340 Am weströmischen Hof rangen zumindest in der Zeit zwischen Honorius und Majorian zumeist zwei – nicht notwendig stabile – factiones um die Kontrolle der Kaiser, während umgekehrt die Augusti und ihre Familien vergeblich darum bemüht waren, selbst wieder an Handlungsfreiheit zu gewinnen (u Kap. 9.2). Dabei wuchs besonders der Einfluss der Militärs am Hofe rasch, zumal die internen Konflikte außenpolitische Probleme provozierten, deren Lösung wiederum kompetente Feldherren erforderte. Diese Machtkämpfe, die immer wieder zu Bürgerkriegen eskalierten, boten den foederati, die seit dem 4. Jahrhundert eine Normalität geworden waren, ebenso wie plündernden
338 Marc. Com. ad ann. 476; Anon. Vales. 64. 339 In eine ähnliche Richtung gehen ungeachtet mancher Unterschiede insbesondere die Überlegungen bei Halsall 1999 und 2007. 340 Vgl. zu den Diadochenkriegen einführend Errington 2008: 13–62.
127
7 Die Agonie des Kaisertums
Gruppen an den nun zunehmend ungesicherten Reichsgrenzen immer größere Spielräume. Die »Barbaren«, die die weströmische Provinzbevölkerung drangsalierten, waren in sehr vielen – nicht allen – Fällen marschierende Heere, die sich auf der Suche nach Nahrung und Beute so rücksichtslos und brutal verhielten, wie es marodierende Soldaten zu allen Zeiten zu tun pflegen.341 Für ihre Opfer war es dabei fraglos unwichtig, ob die Angreifer und Plünderer nun gerade gegen Rom, gegen eine bestimmte römische factio oder gegen andere reges kämpften. Dass es sich bei ihnen zunehmend nicht um reguläre Truppen, sondern um reichsfremde foederati handelte, die sich in ihren Bräuchen, ihrer Sprache und teils auch ihrer Religion von den »Römern« unterschieden, hat den Schrecken, den die Angehörigen dieser Soldateska verbreiteten, gewiss nicht verringert. Dabei ist allerdings zu bedenken, dass auch die regulären römischen Truppen schon seit der frühen Kaiserzeit von der Provinzbevölkerung gefürchtet wurden, weil sie nicht selten wie Eroberer und Besatzer auftraten.342 Wäre Westrom dem Angriff äußerer Feinde erlegen, bliebe unverständlich, wieso Ostrom im Jahr 476 territorial weiterhin intakt war. Dass Ostrom, das im Inneren um 400 nicht grundsätzlich anders strukturiert war als der Westen, das 5. Jahrhundert überstand,343 ist daher nur auf den ersten Blick ein Argument dafür, äußere Angriffe auf den westlichen Reichsteil für den Auslöser der Ereignisse zu halten. Es belegt nämlich vor allem, dass es nicht »spätrömische Dekadenz« oder moralischer Verfall waren, die die Entwicklung bestimmten, sondern der Umstand, dass man im Westen einen eskalierenden Bürgerkrieg trotz aller Versuche und zwischenzeitlichen Atempausen nicht in den Griff bekam. Die Entstehung der poströmischen Reiche war daher nicht so sehr Anlass, sondern eher Folge des Verfalls der weströmischen Zentralgewalt. Erst als dieser Prozess schon recht weit fortgeschritten war, 341 Eine spätantike syrische Chronik schildert eindrücklich, wie reguläre kaiserliche Truppen die Provinzbevölkerung in einer Weise drangsalierten und ausplünderten, die sich in nichts von dem unterschied, was man den foederati vorwarf; Jos. Styl. 86. 342 Vgl. Knapp 2012: 237–244. 343 Vgl. Friell/Williams 1999.
128
7.6 Völkerwanderung oder Bürgerkrieg?
nutzten zunächst die foederati und dann auch andere »Barbaren« die sich bietende Gelegenheit. Die geostrategische Lage Ostroms war dabei allerdings auch deutlich günstiger als die des Westens, da die Festung Konstantinopel einen Übergang feindlicher Verbände, ob nun föderiert oder nicht, von Europa zu den reichen kleinasiatischen und syrischen Provinzen wirksam verhinderte.344 Es waren die verfeindeten Gruppen innerhalb der weströmischen Oberschicht selbst, die die föderierten Westgoten, Vandalen, Sueben und sogar die Hunnen erst in ihre Konflikte hineinzogen, da sie sich ihrer Kampfkraft bedienen wollten. Die foederati wiederum verfolgten zunehmend eigene Interessen, so natürlich insbesondere Geiserichs Vandalen. Gewisse Parallelen zum Dreißigjährigen Krieg drängen sich auf – ein lange schwelender, dann wieder eskalierender Bürgerkrieg, an dem sich Söldnerheere und auswärtige Mächte beteiligen. Jene »Barbaren«, die angesichts der langsamen Auflösung der limitanei die Gelegenheit nutzten, die römischen Grenzen überschritten, um Beute zu machen, und sich schließlich in den Rhein- und Donauprovinzen niederließen, sollten darum nicht mit den föderierten Kriegerverbänden verwechselt werden, die sich im Inneren des Imperium Romanum aufhielten, ihre Dienste gegen die Gewährung von annona feilboten, um sich und ihren Familien ein sicheres Auskommen zu verschaffen, und nach dem Zerfall der Zentralgewalt schließlich ihre regna errichteten. Die traditionelle Rede von einer »Völkerwanderung« kann den Blick auf diese Vorgänge allzu leicht verstellen.345 Man kann gegen diese Interpretation den Einwand vorbringen, dass »Machtkampf« eine letztlich unbefriedigende und wenig komplexe Erklärung sei.346 In der Tat waren Ehre, persönliche Loyalitäten und das Bedürfnis nach Rache zwar sehr wichtige Faktoren, die gerade in vormodernen Gesellschaften oft eine durchaus handlungsleitende Bedeutung hatten, jedoch kamen sicherlich vielfach noch weitere Motive hinzu. Diese waren den Akteuren selbst nicht notwendig bewusst. Gab es zum Beispiel ökonomische Rivalitäten zwischen einzelnen Gruppen 344 Vgl. Ward-Perkins 2005: 58–62. 345 Vgl. zur Geschichte des Wanderungsnarrativs Kulikowski 2018. 346 Zu antiken Konzepten von »Macht« und »Herrschaft« vgl. Gotter 2008a.
129
7 Die Agonie des Kaisertums
und Regionen? Die Lückenhaftigkeit der Überlieferung macht es leider fast unmöglich, hier aussagekräftige Hypothesen zu entwickeln. Das Bürgerkriegsparadigma erklärt keineswegs sämtliche Entwicklungen, die Westrom im 5. Jahrhundert betrafen. Dass sich auch im Barbaricum Veränderungen ergeben hatten, die den Druck auf die römischen Grenzen erhöhten, ist nicht auszuschließen und sogar wahrscheinlich.347 Doch indem man konstatiert, dass einander damals innerhalb der Führungsschicht des Hesperium Imperium offenbar immer wieder zwei Gruppen feindlich gegenüberstanden, deren Konflikte die Abwehrkraft des Reiches schwächten und die sich zugleich nichtrömischer Kriegergruppen bedienten, deren Anführer wiederum angesichts der fortdauernden Kämpfe immer öfter Gelegenheit bekamen, eigene Ziele zu verfolgen, kann man zumindest bis zu einem gewissen Grad Ordnung in das scheinbare Chaos dieser Jahrzehnte bringen. Es dauerte lange, bis die Beteiligten verstanden, dass sich die weströmische Zentralregierung tatsächlich nicht wieder erholen würde. Schließlich hatten die Kaiser im 3. Jahrhundert ebenfalls mit Bürgerkriegen und Zerfallsprozessen zu ringen gehabt, diese aber zuletzt unter Kontrolle bekommen und daraufhin auch die Reichsgrenzen wieder stabilisiert. Dass dies 200 Jahre später im Westen nicht erneut gelingen würde, stand erst seit 468 fest, und ab diesem Zeitpunkt war der Zerfall des Hesperium Imperium nicht mehr aufzuhalten. In Gallien, Hispanien, Dalmatien, Britannien und zuletzt auch in Italien selbst traten nun ehrgeizige warlords an die Stelle des Kaisertums. Doch der Untergang dieser Institution war noch nicht das Ende Westroms. Einen römischen Westen konnte es auch ohne einen eigenen Kaiser geben. Denn das Imperium Romanum hat das Jahr 476 überdauert.
347 Vgl. zu den Veränderungen in Germanien Whittaker 1994: 132–191 und Nüsse 2013. Der derzeit wohl prominenteste Vertreter der Position, es seien äußere Angriffe, insbesondere das Auftreten der Hunnen, gewesen, die Völkerwanderungen und den »Untergang des Römischen Reiches« bewirkt hätten, ist Heather 2005.
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8
Erben des Imperiums: 476 bis 568
Blickt man auf die Ereignisse, die der Absetzung des Romulus vorangegangen waren, so überrascht es kaum, dass das Geschehen zunächst wenig Aufmerksamkeit erregt zu haben scheint. Es spricht alles dafür, dass viele Zeitgenossen die Abschaffung eines eigenen Kaisertums für den römischen Westen achselzuckend (und vielleicht sogar erleichtert) zur Kenntnis genommen haben, statt in ihr eine epochale Wende zu sehen. Diese Bedeutung wurde dem Ereignis offenbar erst im Nachhinein zugesprochen.348 Und in der Tat gibt es gute Gründe, das Jahr 476 nicht als Epochengrenze zwischen Antike und Mittelalter zu begreifen. Denn zum einen sollte die Idee eines eigenen weströmischen Kaisertums noch lange fortbestehen.349 Und zum anderen änderte sich strukturell zunächst nur wenig. Die meisten neuen Machthaber des Westens – man könnte geradezu von Diadochen (»Nachfolger«) sprechen – bezogen sich ganz selbstverständlich nach wie vor auf die jahrhundertealte Matrix des Imperium Romanum, in dessen Kontext sie sich wie zuvor einzuordnen bemühten, nur dass ihr kaiserlicher Ansprechpartner nun nicht mehr in Ravenna, sondern in Konstantinopel saß. Vielerorts existierte noch immer eine romanisierte Oberschicht, so vor allem in Hispanien und Südgallien. Der Name Roms genoss noch immer großes Prestige. In Italien selbst war zwar das Kaisertum, nicht aber die weströmische Regierung abgeschafft worden. Das ist entscheidend. Der Hof und seine Ämter (militia palatina) blieben bestehen: Es gab weiterhin einen 348 Vgl. nur Croke 1983; Brodka 2006; Goltz 2007 und Goltz 2009. Meier 2014 plädiert dafür, die Bedeutung der Ereignisse nicht zu unterschätzen. 349 Vgl. Wes 1967; Börm 2008a.
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8 Erben des Imperiums: 476 bis 568
magister officiorum, weiterhin einen quaestor sacri palatii, weiterhin einen comes sacrarum largitionum (u Kap. 9.2). Auch die Verwaltung bestand fort; es gab so weiterhin einen praefectus praetorio und auch weiterhin Steuereintreiber (exactores). In den Jahren vor 476 hatte in der Regel ein magister militum, der zugleich patricius war, die Geschäfte geführt, der westliche Augustus hingegen hatte zumeist nur noch als Symbol Roms fungiert und den Handlungen der Regierung Legitimität verliehen. Und an genau diese Konstellation gedachte Odoaker, der neue Machthaber in Italien, offenbar anzuknüpfen – dass längere Zeit kein Kaiser in Italien residierte, war dabei, wie das 4. Jahrhundert gezeigt hatte, kein grundsätzliches Problem.
8.1
Odoaker und der Kaiser
Odoaker,350 der wohl zu einem nicht genau bekannten Zeitpunkt von den meuternden foederati zum rex ausgerufen worden war,351 nahm sogleich Kontakt zum nunmehr einzigen römischen Kaiser, Zeno, auf. Wie bereits erwähnt, ließ er diesem die Insignien des westlichen Augustus übersenden. Über die weiteren Verhandlungen zwischen Ravenna und Konstantinopel herrscht größere Unklarheit, als die moderne Literatur vielfach vorgibt, denn die entscheidende Quelle, ein Fragment aus den Historien des zeitgenössischen griechischen Geschichtsschreibers Malchus von Philadelphia,352 ist lediglich in einer viel späteren byzantinischen Zusammenfassung erhalten, deren Verfasser offensichtlich manches nicht mehr verstand: »Als [Romulus] Augustus, der Sohn des Orestes, gehört hatte, dass Kaiser Zeno [den Usurpator] Basiliscus gestürzt und wieder die Macht im Osten übernommen hatte, da nötigte er den Senat dazu, eine Gesandtschaft an
350 Vgl. O’Flynn 1983: 129–149. 351 Vgl. Steinacher 2017: 124–127. 352 Malch. Frg. 14 (Blockley).
132
8.1 Odoaker und der Kaiser
Zeno zu schicken und festzustellen, dass es keinen Grund mehr für eine geteilte Herrschaft gebe und dass ein einziger, gemeinsamer Kaiser für beide Reichshälften genüge. Die Gesandten sagten überdies, sie hätten Odoaker, einen militärisch und politisch erfahrenen Mann, erwählt, ihre Interessen zu beschützen, weshalb Zeno ihm den Titel patricius verleihen und mit der Regierung über Italien betrauen solle. Diese Vorschläge also brachten die Vertreter des römischen Senates vor, als sie in Konstantinopel eintrafen. Zur selben Zeit kamen auch Gesandte des Nepos zu Zeno, um ihn zum Vollbrachten zu beglückwünschen und um wirksame Unterstützung für Nepos zu bitten, der ja ähnliches Unglück erlitten habe; er möge ihm mit Geld und einer Armee und jedweder Form von Beistand dabei helfen, ebenfalls seinen Thron zurück zu erlangen. Nepos hatte diesen Männern aufgetragen, dies vorzubringen. Jenen, die vom römischen Senat kamen, gab Zeno die folgende Antwort: Zweimal hätten sie in letzter Zeit Kaiser aus dem Osten gesandt bekommen, den einen hätten sie verjagt, den anderen, Anthemius, sogar getötet. Nun, sagte er, wüssten sie selbst, was sie zu tun hätten; da ihr Kaiser immer noch am Leben sei, sollten sie nicht weiter überlegen, sondern ihn bei seiner Rückkehr willkommen heißen. Den Vertretern des Barbaren erklärte er, es wäre besser, wenn Odoaker sich von Kaiser Nepos zum patricius erheben lassen würde, auch wenn er selbst dies tun würde, sollte ihm Nepos nicht zuvorkommen. Zeno fügte hinzu, er beglückwünsche Odoaker dazu, es unternommen zu haben, in Italien eine Regierung zu erhalten, die den Römern angemessen sei, und sei daher zuversichtlich, dass Odoaker, wenn er rechtmäßig handeln wolle, den Kaiser wieder aufnehmen werde, der ihn geehrt habe. Er schickte Odoaker ein offizielles Schreiben, in dem er ihm seine Wünsche mitteilte und ihn als patricius anredete.«
Die Lektüre des Textes ergibt zunächst, dass die Antworten des Kaisers nicht wirklich zu den in der ersten Hälfte angeführten Fragen zu passen scheinen. Sodann fällt auf, dass die erste Senatsgesandtschaft angeblich von Romulus Augustulus ausgesandt worden sein soll, der in der kaiserlichen Antwort dann gar nicht mehr erwähnt wird, während zudem auf einmal noch eine weitere Gesandtschaft aufgeführt wird, die der »Barbar« selbst – damit kann nur Odoaker gemeint sein – beauftragt zu haben scheint. Welche Antwort Zeno jenen gab, die Julius Nepos geschickt hatte, wird gar nicht gesagt. Dennoch darf man vermuten, dass sich 476 in etwa Folgendes ereignete: Sowohl der Senat – dieser nominell noch im Namen des Romulus – als auch Odoaker selbst schickten Gesandte nach Konstantinopel, wo gleichzeitig auch Männer eintrafen, die der 475 vor Orestes 133
8 Erben des Imperiums: 476 bis 568
nach Dalmatien geflohene Augustus Nepos beauftragt hatte, um seine Wiedereinsetzung in Italien zu bitten. Sowohl der römische Senat als auch Odoaker baten darum, Zeno möge den rex zum patricius (und wahrscheinlich auch zum magister militum) erheben; damit wäre in Hinblick auf die Struktur der weströmischen Regierung eigentlich alles beim Alten geblieben, nur hätte der Kaiser eben nicht vor Ort in Italien, sondern am Bosporus residiert. Zeno hingegen scheint der Ansicht gewesen zu sein, dass es noch immer einen Westkaiser gebe, nämlich Nepos; man solle also einfach wieder zu den Verhältnissen von 474/5 zurückkehren: Der iunior Augustus Julius Nepos solle in Ravenna residieren, sein patricius die Regierung führen. Damit, dass dieser patricius Odoaker sein solle, war der Ostkaiser ausdrücklich einverstanden. Er erhob den Militär zwar nicht selbst zum patricius, scheint aber davon ausgegangen zu sein, dass Nepos dies tun werde, und griff diesem voraus, indem er Odoaker bereits mit der entsprechenden Anrede bedachte. Diese von Zeno vorgeschlagene Lösung wurde nicht umgesetzt. Man kann davon ausgehen, dass der Grund hierfür in der Unfähigkeit Odoakers zu suchen ist, sich mit Julius Nepos zu verständigen. Dieser wollte Odoaker wahrscheinlich nicht zum patricius und Heermeister machen, jener hatte offensichtlich kein Bedürfnis, einen Kaiser nach Ravenna zu holen, zumal einen, der nicht von ihm gemacht worden war und sich vielleicht eines Tages zu einer Bedrohung entwickeln konnte. Ein Augustus in Italien schuf nur Unfrieden. Besser war es, wenn der Kaiser dem Zugriff der westlichen Machthaber entzogen war, so dass die Frage, wer ihn kontrollierte, keine Konflikte mehr provozierte. Der oströmische Hof war über diese Entwicklung nicht erfreut, fand sich aber zunächst mit der Situation ab, und ab 479 erkannte Konstantinopel auch die im Westen ernannten Konsuln wieder an, was stets ein Zeichen für grundsätzlich funktionierende Beziehungen war.353 Odoakers Bruder Onoulf diente Zeno als magister militum per Illyricum.354 Spä353 Vgl. Henning 1999: 209–212. Der Anonymus Valesianus II berichtet, man habe unter Odoaker in Rom Statuen für Zeno errichtet; Anon. Vales. 44. 354 Vgl. PLRE II: 806.
134
8.1 Odoaker und der Kaiser
testens 480 wurde zudem Julius Nepos getötet, so dass aus Sicht Odoakers ein wichtiger Störfaktor entfiel. Damit ist allerdings nicht gesagt, dass Zeno mit der Weise, in der sich die Dinge im Westen entwickelt hatten, einverstanden war. Doch da er selbst nur über einen zweifelhaften Anspruch auf das Kaisertum verfügte, war er jahrelang mit Rebellionen beschäftigt, die seine Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen, und zudem hatte es seine Regierung auf dem Balkan mit zwei rivalisierenden gotischen Verbänden, den »Ostgoten«, zu tun.355 Nach dem Ende des Hunnenreiches war die ganze Donauregion instabil geworden. Unter diesen Umständen konnte Zeno im Westen zunächst nicht eingreifen. Ab 484 verschlechterten sich die Beziehungen zwischen Ravenna und Konstantinopel aber wieder; unter anderem hatte dies einen religiösen Anlass: Zeno hatte, um die dogmatischen Streitigkeiten innerhalb der Christenheit beizulegen, den Patriarchen seiner Hauptstadt, Acacius, eine Art Glaubensbekenntnis formulieren lassen, das die umstrittenen Beschlüsse des Konzils von Chalkedon (451) einfach mit Schweigen überging. Dieses Henotikon, das eigentlich gar nicht reichsweit gelten sollte, bot interessierten Parteien in Ost und West einen willkommenen Anlass zur Eskalation, und zwischen den Kirchen von Rom und Konstantinopel kam es zum »Akakianischen Schisma«.356 Odoaker tat in der Zwischenzeit das, was auch seine Vorgänger getan hatten: Er bemühte sich um ein gutes Verhältnis zu wichtigen Senatoren – zudem ließ er Münzen ex senatus consulto prägen – und zur römischen Kirche. In Noricum, das, wie man dem eindringlichen Bericht in der Vita Severini des Eugippius entnehmen kann,357 inzwischen nicht mehr gegen plündernde Banden verteidigt wurde, nachdem sich die Grenztruppen (limitanei) angesichts ausbleibenden Soldes aufgelöst hatten, wurde er schließlich selbst militärisch tätig. Angeblich befahl er danach allerdings der römischen Bevölkerung von Noricum, die Provinz zu räumen. Vor allem aber konnte er sich früh mit den Vandalen verständigen, die ihm nun den größten Teil Siziliens zur Nut355 Vgl. Errington 1983; Wiemer 2018: 133–145. 356 Vgl. Meier 2009: 38–52 sowie Kötter 2013 (grundlegend). 357 Eugipp. Vita Sever. 20.
135
8 Erben des Imperiums: 476 bis 568
zung überließen.358 Die Lage stabilisierte sich wieder.359 Offensichtlich hatte man in Karthago nun, da es kein Westkaisertum mehr gab, auch kein Bedürfnis mehr, in Italien zu intervenieren, denn mit dem einzig verbliebenen Augustus Zeno hatte man sich ja bereits 474 verständigt.
8.2
Nordafrika, Spanien und Gallien
Im Januar 477 starb Geiserich als hochbetagter Mann. Zu diesem Zeitpunkt konnte der vandalische Verband auf eine erfreuliche Zukunft hoffen. Africa hatte sich als eine zumindest vom Meer aus scheinbar uneinnehmbare Bastion erwiesen, und mit weiteren Versuchen, die Vandalen von ihrer so komfortablen Versorgungsbasis zu trennen, war bis auf weiteres nicht mehr zu rechnen. Geiserichs Nachfolger konnten daher daran gehen, ein eigenes poströmisches regnum zu organisieren. Die Geschichte dieser Reichsbildung ist gerade in den letzten Jahren eingehend erforscht worden, weshalb hier nur kurz auf einzelne Aspekte eingegangen werden soll.360 Ungewöhnlich war die Nachfolgeregelung, die Geiserich in seinem Testament festgesetzt hatte. Diese griff vielleicht maurische Vorbilder auf, war aber so eigentümlich, dass es naheliegt, in ihr eine bewusste Reaktion auf die Probleme zu sehen, die der vandalische rex am Beispiel der römischen Kaiser hatte beobachten können. Denn Geiserich legte zwar, ganz im Einklang mit den in der Spätantike gängigen Denkmustern, das dynastische Prinzip als Grundlage fest, und wahrscheinlich hatte er sogar im foedus von 474 festschreiben lassen, dass dieses nicht ad personam gelten sollte, sondern für ihn und alle seine legitimen Nachfolger. Er band die Herrschaft also an seine Familie. Doch sprach sich Geiserich dabei ausdrücklich gegen die Primogenitur
358 Vgl. Clover 1999: 237–239. 359 Vgl. Humphries 2000. 360 Vgl. jetzt Steinacher 2016.
136
8.2 Nordafrika, Spanien und Gallien
und, mehr noch, allgemein gegen die Vererbung vom Vater auf den Sohn aus. Stattdessen sollte die Nachfolge bei den Vandalen künftig als Seniorat geregelt werden: Der jeweils älteste lebende männliche Nachkomme Geiserichs sollte das Recht auf die Krone haben.361 Der dahinter stehende Gedanke war offensichtlich der, zu verhindern, dass auch in Karthago wie einst in Ravenna und Konstantinopel hilflose Kinder den Thron besteigen könnten, die fast unausweichlich zum Spielball ihrer Umgebung werden und darum kaum in der Lage sein würden, die nach wie vor nicht ungefährdete Existenz des Vandalenreichs zu gewährleisten. Den Vandalen sollte also das Schicksal Westroms erspart werden. Zum anderen ist bemerkenswert, dass Geiserichs Nachfolger in Hinblick auf die Behandlung der Katholiken eine wechselhafte Politik verfolgten. Hunerich (477–484) zeigte sich anfangs wohl tolerant, möglicherweise auch deshalb, weil er nach dem Ende des westlichen Kaisertums eine Abgrenzung seiner Männer von der Provinzbevölkerung für weniger dringlich hielt. Eudocia war zwar inzwischen gestorben, doch war ihr Witwer Hunerich nun der Vater eines Enkels von Valentinian III., was seiner Herrschaft in den Augen mancher Römer eine gewisse zusätzliche Legitimität verschafft haben mag. Doch 484, kurz vor seinem Tod, kam es erneut zu Maßnahmen gegen die Katholiken, über die Victor von Vita eindringlich und fraglos übertreibend berichtet.362 Der konkrete Hintergrund ist unklar, aber augenscheinlich sah Hunerich seine Herrschaft zuletzt von mehreren Seiten bedroht. Sein Nachfolger wurde sein Neffe Gunthamund (484–496). Dieser beendete die Verfolgungen und widmete sich der inneren Konsolidierung des Reiches; so veranlasste er unter anderem eine Reform der Silber- und Bronzewährung. Die römische Goldwährung, der solidus, blieb hingegen gültig, so dass der Handel mit dem übrigen Mittelmeerraum nicht beeinträchtigt wurde. 496 folgte ihm sein Bruder Thrasamund nach (496–523), den seinerseits Hilderich (523–530) beerbte. Auf diesen wird noch zurückzukommen sein.363 361 Vgl. Castritius 2007: 122–126. 362 Vict. Vit. Hist. 2,4–8. 363 Vgl. Clover 1993.
137
8 Erben des Imperiums: 476 bis 568
Die Vandalen waren allerdings nicht die einzigen, die im westlichen Nordafrika die Nachfolge der Kaiser beanspruchten. Bereits die römischen Autoritäten hatten seit dem 3. Jahrhundert zunehmend mit plündernden Mauren und Berbern zu tun gehabt, und als sich die Vertreter der weströmischen Regierung aus diesen Gebieten zurückzogen, traten Mauren (Marusier) an ihre Stelle. Man weiß von mindestens sieben kleinen regna, die sich in der Folgezeit im Umfeld des von den Vandalen kontrollierten Gebietes bildeten und sich spätestens seit Hunerich mit diesen immer wieder Kämpfe lieferten.364 Die meisten Kastelle des spätrömischen Limes waren nun unbesetzt, und die vandalischen Krieger bekamen die Sicherheitsprobleme mit den dezentral operierenden plündernden Mauren, die sich ihren Anteil am Reichtum von Africa sichern wollten, niemals in den Griff. Offenbar war die Struktur der vandalischen Armee für die Verteidigung eines Limes nicht geeignet, und nach Geiserichs Tod scheinen die maurischen Stämme den Respekt vor den Vandalen verloren zu haben. Bemerkenswerterweise bedienten sich übrigens auch die Mauren für die ideologische Begründung ihrer Position, die oft genug die Herrschaft über römische Provinzbewohner beinhaltete, römischer Elemente. So bezeichnete sich ihr Fürst Masties, dessen Machtbereich in Numidia lag, in seiner Grabinschrift im späten 5. Jahrhundert als dux und imperator. Er beanspruchte, die erstgenannte Position 67 Jahre lang bekleidet zu haben, die zweite hingegen nur zehn.365 Und in der Mauretania Caesariensis setzte ein gewisser Masuna eine Inschrift, in der er sich rex gentium Maurorum et Romanorum nannte, also »rex des maurischen und römischen Volkes«.366 Dies klingt nachgerade wie eine Antwort auf den Titel der Vandalenherrscher, rex Vandalorum et Alanorum.
364 Vgl. den Überblick bei Halsall 2007: 405–411. 365 AE 1945, 97. Vgl. dazu Desanges 1996; Modéran 2003: 398–413; Morizot 2004. 366 CIL VIII 9835.
138
Sevilla Malaga
Córdoba
REICH DER WESTGOTEN
Cartagena
Valencia
ro
Lissabon
Eb
Toledo
A N
Narbonne
Barcelona
Basel
Ru
n
gi
K ar th ag o
Sardinien
au
Sa w e
Syrakus
Messina
Benevent
0
Pannonia
on
La n go ba e rD r
A d r i a
Sizilien
Palermo
Neapel
Rom
Ancona
Ravenna
Aquileja
Florenz
Po
REICH DER OSTGOTEN
Noricum
re
Regensburg
Ba juw a
Augsburg
n
en
REICH DER THÜRINGER
Raetia
Korsika
Turin
REICH DER VANDALEN
M i t t e l m e e r
Avignon Marseille
Orange
Lyon
n
Toul Straßburg
REICH DER BURGUNDEN
Dijon
Reims
Mainz
N K E Rhei
Soissons
R
Nîmes
Balearen
C aesarea
Zaragoza
Kan Toulouse ta b B re as r ke n
Bordeaux
Clermont
Tours
Paris
R
Orléans
E
F
ire
T a jo
Rouen
D
Tournai
d
eiß
S
Singidunum
REICH DER GEPIDEN
Th
N
100
200
300 km
Nicopolis
OSTRÖMISCHES REICH
n
REICH DER SUEBEN
A t l a n t i s c h e r O z e a n
Nantes
R E
I C
H
Cambrai
An g el sa c hs en
Lo
Rhône
an m
e
Ala
Das Bündnissystem Theoderichs d. Gr. umfasste auch das Vandalenreich und die Thüringer
8.2 Nordafrika, Spanien und Gallien
Karte 4: Der Westen um 510.
139
8 Erben des Imperiums: 476 bis 568
Was sich zu dieser Zeit auf der anderen Seite der Straße von Gibraltar, in Hispanien, ereignete, lässt sich bislang kaum sagen. Die Sueben hatten sich in den Jahren nach 456 von ihrer schweren Niederlage gegen die Westgoten langsam wieder erholt; ihr Verband hatte inzwischen wieder eigene reges und kontrollierte nach wie vor insbesondere die Gallaecia. Unklar ist, wann die Westgoten begannen, ihren Machtbereich auf die Iberische Halbinsel auszudehnen; ging man früher allgemein von dem Sieg des Jahres 456 als Anfangspunkt aus, ist dies heute umstritten.367 Weder die schriftlichen Zeugnisse noch der archäologische Befund liefern eindeutige Aussagen, doch darf man bis auf weiteres vermuten, dass Sueben und Westgoten nach etwa 468 schrittweise in das Machtvakuum vorstießen, das die Implosion der weströmischen Herrschaft erzeugt hatte: Bereits seit 461 waren hier keine kaiserlichen Beamten mehr eingesetzt worden. Dabei ist allerdings damit zu rechnen, dass viele civitates, nun oftmals unter prominenter Beteiligung der örtlichen Bischöfe, noch längere Zeit ihrer eigenen Wege gingen.368 Erst um 500 scheinen sich gotische Aristokraten und ihre Männer in größerem Umfang in Hispanien angesiedelt zu haben. Denn zunächst lag der Schwerpunkt des westgotischen regnum eindeutig im noch immer recht wohlhabenden Südwestgallien rund um die Residenz Toulouse.369 Hauptsächlicher Rivale waren anfangs die Burgunder. Die Überlebenden dieses Kriegerverbandes hatte Aëtius 443 als foederati in der Sapaudia (Savoyen?) ansiedeln lassen, acht Jahre später hatten sie ihn dafür gegen Attila unterstützt. Auch sie hatten inzwischen ein regnum gebildet, an dessen Spitze nun, wie erwähnt, der einstige weströmische patricius Gundobad stand, der wohl spätestens 480 die alleinige Führung des Verbandes übernahm. Er bemühte sich besonders intensiv um gute Beziehungen zum Imperium, führte nach wie vor den Titel eines magister militum und setzte das Bild des Kaisers auf die solidi, die er prägen ließ.370
367 368 369 370
140
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Kulikowski 2008. Collins 1983; Kulikowski 2004. Vallejo Girvés 1997. Kaiser 2004; Halsall 2007: 300–303.
8.2 Nordafrika, Spanien und Gallien
Unübersichtlicher war die Lage in Nordgallien. Hier scheint es zwei wesentliche Gruppen gegeben zu haben, die nach dem Zusammenbruch der kaiserlichen Herrschaft um die Macht rangen. Zum einen waren dies die Überreste der römischen Feldarmee Galliens, also der exercitus Gallicanus, dessen Befehlshaber Aegidius sich 461 von der Zentralregierung losgesagt hatte, aber nach wie vor als magister militum das Kommando führte. Zum anderen waren es fränkische foederati, die seit etwa 463 von ihrem rex Childerich geführt wurden. Über die Beziehung zwischen diesen beiden Gruppen ist viel gerätselt worden: Kämpfte Childerich für Aegidius oder bereits gegen ihn? Übernahm Aegidius eine Zeitlang auch das Kommando über die fränkischen foederati? Suchte Childerich, dessen Grab bezeugt, dass er in der Tracht eines römischen Offiziers beigesetzt wurde, zusammen mit zahlreichen frisch geprägten oströmischen solidi, zuletzt demonstrativ ein Einvernehmen mit dem Kaiser in Konstantinopel?371 Fest steht lediglich, dass sowohl Childerich als auch Aegidius in ihren jeweiligen Funktionen von ihren Söhnen beerbt wurden. Syagrius, der seinem Vater bereits um 465 als Kommandeur des exercitus Gallicanus nachfolgte, wird von Gregor von Tours im Abstand eines Jahrhunderts rex Romanorum, also »rex der Römer«, genannt.372 Es ist nicht sicher, aber möglich, dass dies in der Tat seine Eigenbezeichnung war, nachdem sich kein Kaiser gefunden hatte, der ihn zum Heermeister ernennen wollte. Wohl um 486 wurde er dann von Chlodwig, Childerichs Sohn, dem rex Francorum und administrator der Provinz Belgica Secunda, besiegt.373 Er floh zu den Westgoten, wurde aber ausgeliefert und getötet. Eine etwas rätselhafte Passage in Prokops Historien ist wohl so zu verstehen, dass sich die Reste des gallischen exercitus nach diesem Sieg dem Kommando Chlodwigs unterstellten, wobei der Geschichtsschreiber übrigens ausdrücklich anmerkt, diese Einheiten hätten noch Jahrzehnte später in römischer Tracht und unter römischen Feldzeichen gefochten.374
371 372 373 374
Vgl. Wood 1994; Geary 2007: 86–89; Becher 2011: 119–138. Greg. Tur. Hist. 2,27. Vgl. zu Chlodwig allgemein Jussen 2007; Becher 2011. Prok. Hist. 5,12,12–19. Vgl. Fehr 2010: 168 f.
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8 Erben des Imperiums: 476 bis 568
Chlodwig machte sich zielstrebig daran, seinen Machtbereich weiter zu vergrößern. Nach schwierigen Kämpfen gegen diverse Nachbarn, darunter insbesondere Alamannen, griff er 507 den westgotischen rex Alarich II. an, der eine schwere Niederlage erlitt und den Tod fand.375 Damit stand der größte Teil Galliens unter fränkischer Kontrolle, und die Westgoten wichen nun verstärkt nach Hispanien aus. Spätestens im Jahr zuvor hatte Chlodwig, der bis dahin Nichtchrist (oder vielleicht auch Arianer) gewesen war, demonstrativ das katholische Christentum angenommen, was die Kooperation zwischen seinen Männern und der gallorömischen Provinzbevölkerung entscheidend erleichtern sollte. Vermutlich war er zu diesem Zeitpunkt längst durch ein foedus mit dem römischen Kaiser verbunden. Dieser scheint ihn 508 sogar zum patricius erhoben und damit vielleicht dem Regenten Italiens gleichgestellt zu haben – die unsinnige Angabe bei Gregor von Tours, Chlodwig sei zum Konsul und Augustus ernannt worden, geht sehr wahrscheinlich auf ein Missverständnis zurück.376 Der fränkische rex starb bereits 511, doch auch seine Söhne scheinen sich zunächst um gute Beziehungen zum Kaiser bemüht und die Unterordnung unter diesen noch nicht aufgegeben zu haben.377 Und vor allem versuchten sie, die civitates Galliens zu fördern und die römische Verwaltung, so gut es unter den gegebenen Umständen eben ging, zumindest rudimentär zu erhalten. Schließlich sollten diese Strukturen ja für die annona sorgen, auf die es auch den Franken, mögen sie nun noch foederati gewesen sein oder nicht, vor allem ankam.378 Die Verhältnisse in Britannien schließlich sind angesichts des Fehlens aussagekräftiger Quellen kaum zu beschreiben. Zumindest im Westteil der Insel scheinen sich allerdings noch lokale Herrschaften gehalten zu haben, deren Einwohner lateinische Inschriften setzten, Christen waren und sich, wie etwa die Funde in Tintagel Castle (Cornwall) belegen,379 375 Greg. Tur. Hist. 2,37. 376 Vgl. Becher 2011: 235–239. 377 Erst Chlodwigs Enkel Theudebert suchte um 540 den Konflikt mit Justinian und trat in provozierender Weise selbst wie ein Kaiser auf; Prok. Hist. 7,33,6. 378 Vgl. Geary 2007: 95–102. 379 Vgl. Barrowman/Batey/Morris 2007.
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8.3 Theoderich und der Kaiser
um Kontakte mit dem Mittelmeerraum bemühten. Auch hier war das Imperium Romanum noch nicht vergessen. Von Ambrosius Aurelianus, der um 500 zeitweilig erfolgreich gegen die Angeln und Sachsen gekämpft haben soll, berichtet Gildas sogar, seine Eltern hätten »ohne Zweifel den Purpur getragen«, was vermutlich bedeuten soll, dass sie zum ordo senatorius gehörten.380
8.3
Theoderich und der Kaiser
Während sich also in Nordafrika, Hispanien und Gallien reges daran machten, das Machtvakuum zu füllen, das der Kollaps des weströmischen Kaisertums hinterlassen hatte, schien sich in Italien selbst, wie gesagt, kaum etwas verändert zu haben. Zwar residierte am westlichen Hof in Ravenna nun kein Augustus mehr, doch dürfte dies angesichts der Erfahrungen der vorangegangenen Jahre kaum noch als Problem empfunden worden sein. Am besten wird dies durch den Umstand verdeutlicht, dass es, soweit man sieht, nirgendwo im Westen einen Usurpationsversuch gab. Unterdessen machte die römische Monarchie unter Zeno auch im Osten eine schwere Krise durch, doch unterschied sich diese erheblich von dem, was sich nach 425 im Westen abgespielt hatte, da es bei den Kämpfen und Bürgerkriegen der Jahre nach 475 tatsächlich um das Kaisertum ging. Gerade die Usurpationsversuche belegen nicht nur das Legitimitätsdefizit des aktuellen Augustus Zeno, sondern vor allem die ungebrochene Anziehungskraft, die sein Amt auf machtbewusste Männer ausübte.381 Indem Leo I. 471 Aspar ausgeschaltet hatte, war ihm
380 Gild. de Ex. Brit. 25. Vgl. PLRE II: 200 f. und PLRE II: 68 f. 381 Vgl. Meier 2009: 33 f. und Meier 2012: 216–220. Meier interpretiert die Wirren dieser Jahre im Unterschied zu mir allerdings als Krise des Kaisertums. Vgl. zu Zeno allgemein Kosiński 2010 (mit einem Schwerpunkt auf der Religionspolitik).
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das geglückt, was Valentinian III. und Anthemius misslungen war. Das Kaisertum, das nach dem Ende der theodosianischen Dynastie auch im Osten zeitweilig Gefahr gelaufen war, vom magister militum praesentalis dominiert zu werden, hatte seine Unabhängigkeit verteidigen können und blieb daher erstrebenswert. Nachdem 488 auch die Revolte des Heermeisters Illus niedergeschlagen worden war, wandte sich Zeno wieder dem Westen zu. Möglicherweise war es im Verlauf der Kämpfe mit Illus zum Bruch zwischen Odoaker und dem Kaiser gekommen. Wie bereits Leo scheint dieser nun jedenfalls auf die Idee verfallen zu sein, einen mächtigen Mann, der ihm gefährlich werden konnte, in kaiserlichem Auftrag nach Italien zu senden, um dort entweder unterzugehen oder aber den Machtanspruch Konstantinopels durchzusetzen. Dieses Mal fiel die Wahl auf den Amaler Theoderich, der seit 481, als er die beiden bis dahin rivalisierenden gotischen Verbände auf dem Balkan vereinigt hatte, als ihr rex fungierte.382 Überdies war er inzwischen magister militum und sogar Konsular. Ganz ähnlich wie einst Alarich forderte Theoderich für seinen Verband ein foedus vom Kaiser, der ihm ein Gebiet zuweisen sollte, aus dem man annona beziehen konnte. Über die jahrelangen Verhandlungen, bei denen die kaiserliche Regierung derart auffällig lavierte, dass die misstrauischen Goten mehrfach zu den Waffen griffen, berichtet (für die Zeit vor der Vereinigung der beiden Verbände) Malchus von Philadelphia.383 Laut Prokop schlug Zeno Theoderich im Jahr 488 oder 489 schließlich vor, in seinem Auftrag mit seinen foederati nach Italien zu ziehen und Odoaker abzusetzen. Der Anonymus Valesianus II ergänzt, der Kaiser habe Theoderich zum patricius gemacht und erklärt, dieser solle im Falle eines Erfolges an seiner Stelle Italien regieren, bis er – Zeno – selbst dort erscheinen werde.384 Der Augustus hatte sich demnach damit abgefunden, dass die Erhebung eines neuen Westkaisers bis auf weiteres unmöglich war, und tat daher nun das, was er 476 noch ver-
382 Vgl. zu Theoderich Moorhead 1992; Ausbüttel 2003 (konservativ); Wiemer 2007; Wiemer 2018. 383 Malch. Frg. 18; 20; 22 (Blockley). 384 Prok. Hist. 5,1,9–11; Anon. Vales. 49.
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8.3 Theoderich und der Kaiser
weigert hatte: Er setzte selbst einen patricius und magister militum als Haupt der weströmischen Regierung ein. Als Theoderichs Männer Italien erreichten, muss Odoaker bewusst geworden sein, dass der Bruch mit dem Kaiser unheilbar war. Aufgrund der schlechten Überlieferungslage kann man es zwar nicht mit Gewissheit sagen, doch scheint der rex Italiae daraufhin zu einem unklaren Zeitpunkt seinen Sohn Thela zum Caesar gemacht zu haben.385 Sollte dies tatsächlich zutreffen, so änderte es allerdings nichts am Ausgang des jahrelangen Krieges, in den 491 auch die Vandalen eingriffen. Nach mehreren Schlachten und einer langen Belagerung Ravennas kam es schließlich 493 zum Friedensschluss zwischen Theoderich und Odoaker, den dieser aber nur einige Tage überlebte, da ihn der Gote bei der ersten sich bietenden Gelegenheit eigenhändig erschlug.386 Inzwischen allerdings war Zeno gestorben, und der neue Kaiser Anastasius (491–518) scheint sich an das foedus, das sein Vorgänger mit Theoderich geschlossen hatte, nicht gebunden gefühlt zu haben. Wiederholt bat der rex um die formale Anerkennung durch Konstantinopel, doch solange der Augustus mit der Bekämpfung der »Isaurier« beschäftigt war,387 kam es zu keiner Einigung. 498 gelang dann der Durchbruch: Der Anonymus Valesianus II berichtet, eine Gesandtschaft unter dem Senator Festus habe eine Versöhnung mit dem Kaiser erreicht, der daraufhin die ornamenta palatii, also die kaiserlichen Insignien, wieder nach Italien gesandt habe.388 In der Regel wird dies in der Forschung dahingehend interpretiert, dass Anastasius Theoderich hierdurch zu einer Art Vizekaiser erhoben habe.389 Doch wäre das die Absicht des Augustus gewesen, hätte es vollauf genügt, den Goten einfach als patricius und magister militum zu bestätigen – was Anastasius vermutlich auch getan hat. Die beste 385 Ioh. Antioch. Frg. 214a (Müller) = Frg. 307 (Roberto). Nicht auszuschließen ist, dass Johannes von Antiochia hier Caesar (Καῖσαρ) einfach im Sinne von »designierter Nachfolger« benutzt. 386 Prok. Hist. 5,1,24. 387 Vgl. Meier 2009: 75–84. 388 Anon. Vales. 64. 389 Vgl. Blockley 1992: 94; Ausbüttel 2003: 71; Haarer 2006: 88; Halsall 2007: 288.
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8 Erben des Imperiums: 476 bis 568
Erklärung für die Übersendung des Kaiserornats ist daher die, dass der Ostkaiser die Erhebung eines neuen Kollegen für den Westen wünschte oder zumindest ermöglichen wollte. Da die beiden Kandidaten, die Konstantinopel seit 467 geschickt hatte, gescheitert waren, dürfte der Realpolitiker Anastasius beschlossen haben, die Auswahl eines geeigneten Mannes dem weströmischen patricius zu überlassen.390 Doch Theoderich scheint ebenso wenig ein Bedürfnis nach einem in Ravenna residierenden Augustus verspürt zu haben wie bereits Odoaker. Zu einer Kaisererhebung kam es daher nicht. Und auch Theoderich selbst griff nicht nach dem Purpur; angeblich berief er sich dabei auf das Vorbild Aspars. Dass der Heermeister nur deshalb nicht Kaiser wurde, weil er »Barbar« und Arianer gewesen sei, ist übrigens mit guten Gründen bezweifelt worden.391 Theoderichs Rechtsstellung seit 498 ist in der althistorischen Forschung vielfach diskutiert worden.392 Im Grunde allerdings spricht wenig dafür, dass sie sich faktisch wesentlich von der früherer patricii des Westens unterschied. Die ostgotischen foederati, für deren reibungslose Unterbringung der praefectus praetorio Liberius sorgte, traten nun an die Stelle des exercitus Italiae und übernahmen die Verteidigung des weströmischen Rumpfstaates,393 die Zentralverwaltung arbeitete weiter, die Hofämter und auch die uralten senatorischen Magistraturen wie Praetur und Konsulat wurden weiterhin besetzt, und zwar mit Römern.394 Es ist kein scharfer Bruch erkennbar, auch wenn es natürlich durchaus Veränderungen gab und nun gotische Große (maiores domus 390 Vgl. Börm 2008a: 53–56. Wiemer 2018: 253 erwägt die Möglichkeit, Anastasius habe durch die Übersendung dokumentiert, dass er selbst keinen neuen Westkaiser einsetzen werde. 391 MGH Auct. Ant. 12: 425. Vgl. von Haehling 1988. 392 Vgl. die Zusammenfassung bei Haarer 2006: 80–89 sowie Wiemer 2014. Arnold 2014 nimmt an, Theoderich sei buchstäblich weströmischer Kaiser gewesen, was aber kaum haltbar ist. Jones 1962 hingegen verstand Odoaker und Theoderich als »kings pure and simple« (gegen Mommsen 1889). Letztlich aber ging es jenseits »staatsrechtlicher« Fragen darum, wie Theoderich bei den relevanten Gruppen in seinem Reich Akzeptanz generieren konnte; vgl. Wiemer 2018: 34. 393 Cass. Var. 7,3,3. 394 Vgl. zur Verwaltung Wiemer 2018: 260–329.
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8.3 Theoderich und der Kaiser
regiae) eine wichtige Rolle spielten. Theoderich, der einst eine Weile am oströmischen Hof gelebt hatte, spielte intensiv mit Elementen der kaiserlichen Repräsentation und näherte sich der Stellung eines Augustus so weit an, dass er in Akklamationen mit Trajan und Valentinian III. verglichen wurde – letzterer scheint in der stadtrömischen Bevölkerung noch immer besser beleumundet gewesen zu sein als in den literarischen Quellen.395 Ein Goldmedaillon nennt den Goten pius princeps, zeigt ihn allerdings ohne Diadem.396 Als patricius scheint er sich selbst nach 493 nicht mehr bezeichnet zu haben. In Inschriften wird der rex Theodericus oft als dominus noster (»unser Herr«) bezeichnet, eine Anrede, die normalerweise Kaisern vorbehalten war, und in einem berühmten Fall nennt man Theoderich sogar ausdrücklich Augustus.397 Obwohl Theoderich offenbar darauf achtete, dass die arianische Konfession seiner Männer als Unterscheidungsmerkmal von der römischen Zivilbevölkerung erhalten blieb, gab es in der Regel keine Repressalien gegenüber der katholischen Mehrheit: Religion, so der Gote, könne man nicht befehlen.398 Als es innerhalb der stadtrömischen Kirche zu einer Spaltung kam, wurde Theoderich sogar als Richter angerufen.399 Zur Entspannung mag dabei das bereits erwähnte Akakianische Schisma seinen Teil beigetragen haben, denn sowohl die gotischen foederati Italiens als auch der Kaiser befanden sich ja nicht in Gemeinschaft mit der römischen Kirche. Dass sich die Beziehungen zwischen Theoderich und Anastasius in den Jahren nach 500 zeitweilig wieder verschlechterten und es sogar zu Kampf395 Anon. Vales. 60. Die Quelle spricht nur von Valentinianus, doch ist am ehesten Valentinian III. gemeint, der längere Zeit in der Stadt residiert hatte. Zur Funktion spätantiker Akklamationen vgl. Wiemer 2004. Insgesamt bedienten sich die ostgotischen reges intensiv aus dem Inventar kaiserlicher Selbstdarstellung; vgl. Vitiello 2005. Prokop verstand Theoderich daher prinzipiell als Usurpator (τύραννος); Prok. Hist. 5,1,29. Vgl. Goltz 2008: 214–231. 396 Ennodius hatte (rückblickend) auch Ricimer princeps genannt; Vita Epiph. 53. Die Bezeichnung princeps war untrennbar mit dem Kaisertum verbunden, aber nicht Teil der offiziellen Herrschertitulatur. 397 CIL X 6850 f. = ILS 827. Vgl. dazu auch Moorhead 1992: 47 f. 398 Cass. Var. 2,27. 399 Vgl. Meier 2009: 238–249.
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handlungen kam,400 wirkte sich daher zunächst nicht dramatisch auf das Verhältnis zwischen Ostgoten und Italikern aus. Alles änderte sich, als Anastasius 518 starb. Sein Nachfolger Justin I. (518–527) stammte aus den lateinischen Balkanprovinzen Ostroms, also jenen Gebieten, die bis 395 zumeist von Italien aus regiert worden waren. Er war seit etwa 470 in der kaiserlichen Armee aufgestiegen und zuletzt comes der neuen, von Leo I. gegründeten Garde der excubitores gewesen.401 Fast unverzüglich scheint er seine Aufmerksamkeit Westrom zugewandt zu haben. Möglicherweise entstand jetzt bereits eine Art »Rückeroberungsideologie«, die die gotischen foederati als Fremdherrscher verstand, die es aus Italien zu vertreiben gelte. Sicher ist dies jedoch nicht.402 Denn zunächst verständigte sich der neue Kaiser mit Theoderich, indem dessen Nachfolge geregelt wurde. Es war ja stets ein Problem gewesen, dass die meisten foedera offenbar ad personam geschlossen wurden und also neu verhandelt werden mussten, wenn einer der Partner starb. Theoderich scheint daher versucht zu haben, Ähnliches zu erreichen wie 474 bereits Geiserich. Da er keinen Sohn hatte, wurde sein Schwiegersohn Eutharich von Justin I. im Jahr 519 durch eine adoptio per arma als »Waffensohn« angenommen.403 Damit schien eine reibungslose Sukzession in Italien gesichert. Denn grundsätzlich musste man im Westen mit kaiserlichen Interventionen rechnen. Theoderich scheint daher früh zu der Ansicht gelangt zu sein, es sei angesichts der drohenden Wolke im Osten geraten, sich mit den übrigen »Diadochen« im Westen enger zusammenzuschließen. Das geeignete Mittel schien ihm ein Netz aus Heiratsbündnissen zu sein: Er selbst ehelichte eine Tochter Chlodwigs, seine Töchter aus einer anderen Verbindung wurden mit den burgundischen und westgotischen reges verheiratet, seine Schwester Amalafrida mit dem rex der Vandalen, seine Nichte mit dem rex der Thüringer. Nachdem Chlodwig 507 Alarich II. getötet hatte, übernahm Theoderich durch einen Stellvertreter vorläufig die Führung des westgotischen Verbandes
400 401 402 403
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Vgl. Meier 2009: 223–238. Vgl. Rosen 1999. Vgl. Amory 1997: 135–147. Cass. Var. 8,1,3.
8.3 Theoderich und der Kaiser
und sorgte dafür, dass dessen Machtbereich nicht vollständig kollabierte.404 Doch 519 nötigte der Kaiser seinen Patriarchen dazu, dem römischen Bischof in allen wesentlichen Punkten entgegenzukommen, und beendete auf diese Weise das Akakianische Schisma.405 Fortan konnten die Katholiken im Westen wieder leichter in Verdacht geraten, mit dem Augustus gegen die foederati in ihren Provinzen zu konspirieren. Auch die Verfügung des Kaisers, nun dürften in der Armee nur noch Männer dienen, die die Beschlüsse von Chalkedon 451 anerkannten, muss auf die Arianer provozierend gewirkt haben. Als nach dem frühen Tod Eutharichs die Nachfolge des patricius in Ravenna wieder unklar geworden war, scheint sich Theoderich daher zunehmend bedroht gefühlt zu haben. Mutmaßlich bildeten sich in der italischen Senatsaristokratie und am Hof nun erneut zwei rivalisierende factiones, wobei die eine auf den Goten setzte, die andere hingegen auf eine Intervention des Kaisers hoffte. Die alten Mechanismen der Macht wurden reaktiviert. Offenbar im Zusammenhang dieser Konflikte fanden die beiden hochrangigen Senatoren Boethius und Symmachus um 525 den Tod; und angeblich wurde auch der römische Bischof Johannes I. nach seiner Rückkehr von einem Besuch beim Kaiser so brutal behandelt, dass er bald darauf starb.406 Als 526 dann auch der gotische patricius sein Leben beschloss, kam es in Italien zu jener Situation, die das weströmische Kaisertum dreimal entscheidend geschwächt hatte und die Geiserich unbedingt hatte vermeiden wollen: Ein Kind bestieg den Thron. Der neue rex der Goten war Theoderichs neunjähriger Enkel Athalarich. Er stand faktisch unter der Vormundschaft seiner Mutter Amalasuntha.407
404 405 406 407
Iord. Get. 295–303. Vgl. Wiemer 2018: 330–371. Vgl. Leppin 2011: 60–66. Vgl. Goltz 2008: 408–424. Vgl. PLRE III: 65.
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8 Erben des Imperiums: 476 bis 568
Abb. 4: Der rex Theoderich als pius princeps.
8.4
Justinian und das Ende Westroms
Vor dem Ende Westroms wurde Italien aber noch eine Atempause gewährt. Denn in Theoderichs Todesjahr brach im Osten ein neuer, heftiger Perserkrieg aus. Als Justin I. 527 starb, übernahm sein Neffe Justinian (527–565) nicht nur die Alleinherrschaft im Römischen Reich,408 sondern auch diesen Krieg, der nach verlustreichen und wechselvollen Kämpfen erst im Herbst 532 beendet werden konnte, nachdem es im Sasanidenreich zu einem Thronwechsel gekommen war. Auch Justinian blickte nun mit Interesse nach Westen, doch zunächst nicht nach Italien, sondern nach Africa. Im Vandalenreich war 523, wie erwähnt, Hilderich auf den Thron gekommen. Dieser war nicht nur ein Enkel Geiserichs, sondern auch Valentinians III., denn er entstammte der Ehe
408 Vgl. zu Justinian Meier 2003a; Meier 2004; Leppin 2011.
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8.4 Justinian und das Ende Westroms
zwischen Hunerich und Eudocia, und er hatte sich um gute Beziehungen zu Konstantinopel bemüht. 530 allerdings war er nach einer schweren Niederlage gegen maurische Stämme abgesetzt und durch Gelimer, einen nicht mit der theodosianischen Dynastie verwandten Urenkel Geiserichs, ersetzt worden.409 Nach längerer Diskussion entschied man sich 533 am Kaiserhof, diese Entwicklungen zum Anlass zu nehmen, 65 Jahre nach dem Scheitern der letzten Offensive einen erneuten Angriff auf die Vandalen zu unternehmen. Es spricht vieles dafür, dass Justinian weder hoffte noch beabsichtigte, Africa wieder unter direkte kaiserliche Kontrolle zu bekommen. Der Auftrag der römischen Truppen unter dem magister militum per Orientem Belisar dürfte vielmehr gewesen sein, den Abschluss eines neuen, günstigeren foedus und die Wiedereinsetzung Hilderichs zu erzwingen. Doch indem mehrere Zufälle zusammenkamen, gelang dem höchstens 20 000 Mann umfassenden kaiserlichen Heer überraschenderweise die Zerschlagung des vandalischen Machtbereichs.410 534 wurde der gefangene Gelimer im Rahmen eines typisch spätantiken Triumphes im Hippodrom von Konstantinopel zur Unterwerfung gezwungen.411 Noch im selben Jahr richtete Justinian eine neue Prätorianerpräfektur für Africa ein,412 und auch auf Sizilien versuchte man, wieder Fuß zu fassen. Durch diesen ebenso durchschlagenden wie überraschenden Erfolg veränderte sich die strategische Lage grundlegend. Es war ja nicht zuletzt die fehlende Kontrolle Karthagos gewesen, die eine wirkliche Stabilisierung Italiens seit 439 fast unmöglich gemacht hatte. Nun aber war es wieder der Kaiser, der Africa beherrschte. Das änderte alles. Und so ergriff Justinian offensichtlich dankbar die sich bietende Gelegenheit, als unter den Goten nach dem Tod Athalarichs im Jahr 534 ein Machtkampf ausbrach, in dem sich schließlich Theodahad als neuer rex durchsetzte und seine Kusine Amalasuntha umkam.413 Das Ge409 Prok. Hist. 3,9,3–9. Vgl. Steinacher 2016: 288–293. 410 Vgl. Meier 2004: 62–65; Leppin 2011: 150–156; Steinacher 2016: 299– 309. 411 Vgl. Börm 2013. 412 Cod. Iust. 1,27,1,1 f. 413 Vgl. zu Theodahad nun Vitiello 2014.
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8 Erben des Imperiums: 476 bis 568
flecht aus Intrigen lässt sich kaum noch entwirren, zumal Prokops Bericht im 5. Buch der Historien nicht in allen Punkten Vertrauen verdient. Entscheidend ist, dass die kaiserlichen Truppen unter dem Oberbefehl Belisars 535 Italien angriffen, dass die gotischen Soldaten nach den ersten Niederlagen den unkriegerischen rex Theodahad durch Witigis ersetzten, dass insbesondere die Stadt Rom in den Kämpfen schwer leiden musste, und dass es Belisar zuletzt gelang, Witigis 540 in Ravenna einzuschließen.414 Nun ereignete sich Erstaunliches. In ihrer verzweifelten Situation scheinen die gotischen Krieger, der Hof in Ravenna und offenbar auch der rex Witigis zu dem Entschluss gelangt zu sein, man wolle der Unterwerfung unter den Kaiser in Konstantinopel entgehen, indem man erstmals seit 65 Jahren wieder einen eigenen Augustus des Westens erhob. Über die entsprechenden ornamenta palatii verfügte man dank Anastasius ja bereits. Die einzige Quelle zu den Ereignissen, Prokop, gibt sich alle Mühe, die tatsächlichen Vorgänge zu verschleiern,415 doch es steht einigermaßen fest, dass man Belisar ein entsprechendes Angebot machte, und dass der Heermeister es annahm. Daraufhin öffnete ihm Ravenna die Tore. Doch der magister militum war erfahren genug um zu wissen, dass eine Erneuerung des weströmischen Kaisertums gegen den Willen Justinians nicht möglich war. Wie hätte man sich im geschwächten Italien halten sollen, zumal der östliche Augustus jetzt auch Karthago kontrollierte? Als Belisar daher erfuhr, dass Justinian den Plan ablehnte und seinen Heermeister aufforderte, unverzüglich nach Konstantinopel zurückzukehren, da er sonst als Usurpator behandelt werden würde, brach das Projekt sofort in sich zusammen. Nun wurde behauptet, Belisar habe das gotische Angebot zuvor nur zum Schein angenommen. Damit war der wohl letzte Moment, in dem die Erneuerung des weströmischen Kaisertums, und damit vielleicht langfristig auch eine erneute Etablierung der Herrschaft der Zentralregierung in den Provinzen, möglich gewesen wäre, verstrichen.416 414 Vgl. Leppin 2011: 161–165 und 215–223. 415 Prok. Hist. 6,29. 416 Vgl. Börm 2008a: 56–59.
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8.4 Justinian und das Ende Westroms
Die betrogenen Ostgoten nahmen den Kampf gegen den Kaiser wieder auf. Unter ihrem neuen rex Totila trat der Krieg in eine zweite, brutalere Phase, die sich umso länger hinzog, als Justinian seit 540 seine besten Truppen anderweitig benötigte, da in jenem Jahr der Perserkönig Chusro I. das römische Syrien verheert und damit einen neuen Krieg vom Zaun gebrochen hatte, der fast alle Kräfte band.417 Italien wurde verwüstet, die Stadt Rom entging nur knapp der völligen Zerstörung, und die Senatsaristokratie wurde zu großen Teilen ruiniert. Zu allem Übel wütete seit 541 eine furchtbare Seuche, die »Justinianische Pest«, im ganzen Mittelmeerraum. Erst 552, nach einem Waffenstillstand im Osten und etwa zeitgleich mit einem oströmischen Angriff auf die Westgoten in der Baetica, führte Justinians praepositus Narses eine starke Armee nach Italien.418 In zwei blutigen Schlachten wurde zunächst Totila getötet, dann sein Nachfolger Teja. Im Folgejahr konnte auch ein fränkischer Verband zurückgeschlagen werden.419 Obwohl sich einige gotische Gruppen noch bis 562 verteidigen sollten, war damit die kaiserliche Herrschaft über Italien hergestellt. Was sich anschloss, war das Ende Westroms. Es erfolgte in aller Stille, durch einen Verwaltungsakt, und wie so häufig bei Gesetzen ist seine wahre Bedeutung bislang in aller Regel übersehen worden. Denn im Jahr 554 erließ Justinian die so genannte constitutio pragmatica, also eine Verordnung, die die künftige Verwaltung Italiens regelte.420 Die Halbinsel wurde der direkten Kontrolle Konstantinopels unterstellt, und das heißt: der weströmische Hof (comitatus) wurde abgeschafft. All die Ämter, die das Jahr 476 überdauert hatten, wurden nun beseitigt. Nur die Stadtpräfektur von Rom – kein Hofamt – blieb bestehen. Das Konsulat hatte Justinian de facto bereits 542 abgeschafft, indem er es nicht mehr vergab. Damit aber wurde mittelfristig auch das Ende der ohnehin bereits schwer gebeutelten weströmischen Senatsaristokratie eingeläutet, denn wenn es keine senatorische Lauf-
417 418 419 420
Vgl. Börm 2006. Vgl. zu Narses PLRE III: 912–928. Agath. Hist. 2,4–9. App. Iust. 7.
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8 Erben des Imperiums: 476 bis 568
bahn (cursus honorum) mehr gab, wurde die Existenz des ordo senatorius endgültig überflüssig. Erst jetzt, 78 Jahre nach der Absetzung des Romulus Augustulus, wurde die weströmische Regierung aufgelöst. Justinian hielt sie augenscheinlich für unnötig, und vermutlich erschien ihm ein eigener Hof in Italien nach den Erfahrungen von 540 auch potentiell bedrohlich. Ravenna sollte nicht mehr als alternative Quelle legitimer weltlicher Macht in Frage kommen. Es sollte unwiderruflich nur noch einen einzigen Kaiser und einen einzigen Hof im Imperium Romanum geben. Die Zeit des institutionalisierten Mehrkaisertums war endgültig vorüber. Narses wurde damit betraut, das verwüstete einstige Kernland des Römischen Reiches wieder aufzubauen. Er scheint sich insbesondere der Infrastruktur gewidmet zu haben.421 Aber die ersten Erfolge wurden zunichte gemacht, als 568 ein großer Verband langobardischer Krieger unter ihrem rex Alboin in Norditalien einmarschierte. Die Hintergründe sind unklar. Zumeist wird angenommen, die Langobarden seien als »Spätlinge der Völkerwanderung« aus eigenem Entschluss oder auf der Flucht vor Feinden nach Italien gezogen. In späteren Quellen findet sich aber auch die Behauptung, Narses habe sie eingeladen, als er mit dem neuen Kaiser Justin II. (565–578) in Streit geraten sei.422 Steckt in dieser Geschichte der wahre Kern, dass Narses die Langobarden aufgefordert hatte, als foederati die Verteidigung der Halbinsel zu übernehmen? Blickt man auf die weströmische Geschichte, so ist man versucht, diese oft bezweifelte Angabe zumindest in Erwägung zu ziehen.423 Sicher ist nur, dass es sehr rasch zu Kämpfen kam. Die kaiserlichen Truppen konnten knapp die Hälfte Italiens halten, darunter Ravenna und Rom, doch weite Teile gelangten unter langobardische Kontrolle. Die kaiserlichen Reste Italiens wurden dann um 580 ebenso wie Africa als halbautonomes »Exarchat« reorganisiert. Damit aber war die staatliche Einheit der Halbinsel, die im 1. Jahrhundert vor Christus vollen421 ILS 832. 422 Paul. Diac. Hist. Lang. 2,5. 423 Vgl. zur Diskussion Christie 1991.
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8.4 Justinian und das Ende Westroms
det worden war, für 1300 Jahre zerbrochen.424 Es ist dabei vielleicht kein Zufall, dass nach den Langobarden offenbar keine weiteren reichsfremden Kriegergruppen mehr den Weg nach Italien und Gallien fanden: Mutmaßlich erklärt sich dies damit, dass sie zuvor in der Regel vom Imperium rekrutiert worden waren. Nun, da sich im Westen eine neue politische Ordnung gebildet hatte, gelangte zugleich auch das an ein Ende, was man traditionell die »Völkerwanderung« nennt.425
424 Vgl. Krause 2018: 211–213. 425 Vgl. Halsall 2014: 528–531.
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Das Kaisertum und der Hof
Das römische Kaisertum, das im Westen 476 oder, wenn man so will, 480 erlosch, während es im Osten noch bis zur Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen 1453 fortbestand, führte sich im Kern auf Augustus zurück. Dieser hatte in den Jahren ab 27 vor Christus eine Ordnung begründet, die die res publica, die eine legitime Herrschaft eines Einzelnen nicht vorsah, in eine faktische Monarchie (oder Monokratie) umwandelte, indem dem princeps bzw. Kaiser Sondervollmachten übertragen wurden.426 Diese Ursprünge des Kaisertums in einem Ausnahmeamt waren auch in der Spätantike noch erkennbar, auch wenn die Alleinherrschaft im Laufe der Zeit zur Normalität geworden war.427 Die Hauptaufgabe der Kaiser blieb die Gewährleistung des inneren Friedens (pax Augusta), denn schon Augustus hatte seine Position mit dem Anspruch gerechtfertigt, die Bürgerkriege beendet zu haben. Scheiterte ein Herrscher in diesem zentralen Punkt, führte dies kurzfristig zu Akzeptanzverlust und langfristig zu politischer Desintegration. Der besondere Charakter des Systems, der die römische Alleinherrschaft von den Monarchien des westeuropäischen Mittelalters und der Neuzeit unterschied, wird vor allem im Zusammenhang mit der Nachfolge deutlich: Obwohl das dynastische Prinzip, wie bereits dargestellt, hierbei seit Konstantin I. endgültig eine zentrale Rolle spielte, gelang es dennoch nie, eine unbestreitbare Sukzessionsordnung wie etwa die
426 Vgl. Winterling 2017. 427 Eine gute Einführung zur spätantiken Monarchie bietet Rebenich 2012. Vgl. auch Jones 1964: 321–329; Martin 1997; Demandt 2007: 251–274; Dinzelbacher/Heinz 2007: 122–131.
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9 Das Kaisertum und der Hof
Primogenitur zu etablieren.428 Da der Kaiser offiziell der Bewahrer der auch im 5. und 6. Jahrhundert formal weiterhin bestehenden res publica war, mussten ihm seine Vollmachten notwendigerweise erst von den Repräsentanten von Senat und Volk der Römer (senatus populusque Romanorum) übertragen werden. Er konnte sie nicht einfach erben. Und da der princeps in der ungeschriebenen Verfassung des Imperium Romanum bis zuletzt eigentlich nicht vorgesehen war, war die Stellung auch des spätantiken Augustus grundsätzlich prekär, denn seine Legitimität konnte leichter als in anderen Systemen in Frage gestellt werden.429 Dies erklärt die große Zahl an Usurpationsversuchen, denen sich die römischen Herrscher auch in der Spätantike ausgesetzt sahen.430 Die Existenz mehrerer Kaiser und Höfe änderte zudem nichts daran, dass das Römische Reich prinzipiell weiterhin als Monokratie aufgefasst wurde. Zumindest grundsätzlich musste daher stets klar sein, welcher Hof das letzte Wort hatte; denn in einem System, das nach wie vor die Herrschaft eines optimus princeps propagierte, konnte es letztlich nur einen geben, der die größte auctoritas im Gesamtreich besaß. Formal war dies der dienstälteste Kaiser, der senior Augustus. Doch nicht zuletzt unter Theodosius I., der mit dem formal höherrangigen Valentinian II. nach Belieben verfahren war, war deutlich geworden, dass Praxis und Theorie in diesem Punkt weit auseinanderklaffen konnten. Meritokratisches Denken blieb auch nach Diokletian lebendig, und dies barg Unruhepotential.
428 Vgl. Börm 2015a. 429 Diesen besonderen Charakter des Kaisertums hat man als »Akzeptanz-System« beschrieben; vgl. Flaig 1992. Dieses Modell ist in mehreren Punkten problematisch, benennt aber korrekt zentrale Aspekte und ist auch für das Verständnis der spätrömischen Monarchie produktiv. Vgl. auch Pfeilschifter 2013: 1–40. 430 Vgl. Elbern 1984; Szidat 2010.
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9 Das Kaisertum und der Hof
9.1
Der Kaiser
Wie fragil die Position der Kaiser war, hatte sich in den Bürgerkriegen des 3. Jahrhunderts deutlich gezeigt. Nachdem der drohende Zerfall der Zentralgewalt damals noch einmal verhindert worden war, gehörte es zu den Zielen Diokletians, den Herrscher zu entrücken, um ihn weniger angreifbar zu machen. Hierzu diente insbesondere das zunehmend ausgefeilte Hofzeremoniell. Die Augusti und Caesares wurden in einer Weise über die übrigen Menschen erhoben, die sich die Kaiser im frühen Prinzipat schwerlich hätten erlauben können. Auch trugen sie nun auffällige, kostbare Kleidung, wurden durch einen adoratio purpurae genannten Fußkuss begrüßt und dominus genannt, und sie trugen seit Konstantin auch das lange Zeit verpönte Diadem.431 Die Formen der monarchischen Repräsentation scheinen dabei wesentlich durch einen Austausch zwischen Römern und Persern, der zweiten Großmacht dieser Jahrhunderte, mitgeprägt worden zu sein.432 Abseits offizieller Auftritte – insbesondere Audienzen im Palast, der Vorsitz bei Circusspielen (ludi circenses) und die Teilnahme an Prozessionen (pompae) – müssen die Kaiser naturgemäß größere Spielräume gehabt haben, etwa beim gemeinsamen Mahl mit Höflingen und Aristokraten. Doch in der Öffentlichkeit repräsentierten sie die Majestät ihres Amtes und des römischen Volkes und hatten entsprechend hohen Erwartungen zu genügen. Als Symbole der Hoheit des Reiches und des Kaisertums wurden daher auch in christlicher Zeit in den Provinzen ihre Statuen verehrt.433 Alles, was mit dem Augustus zusammenhing, galt als »heilig« (sacer). Seit dem 4. Jahrhundert war zudem natürlich die Bezugnahme auf das Christentum von wachsender Bedeutung, allerdings schuf diese angesichts der dogmatischen Auseinandersetzungen der Spätantike auch Probleme. Zwar hatten bereits die Juristen der Severer die Lehre formuliert, dass der Kaiser über den Gesetzen stehe (princeps legibus solutus
431 Aur. Vict. 39,8. Vgl. Kolb 2001: 38–54. 432 Vgl. Canepa 2009. 433 Greg. Naz. or. 4,80.
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9.1 Der Kaiser
est),434 doch war gerade dieser Anspruch nur zu rechtfertigen, indem man umso höhere Erwartungen an die moralische Integrität des Herrschers richtete. Die römische Monarchie blieb diskursiv ein sekundäres Phänomen, das einer eigentlich nichtmonokratischen Ordnung gewissermaßen übergestülpt worden war.435 So gut wie jeder Kaiser stand daher zumindest in den Augen der gebildeten Eliten grundsätzlich im Verdacht, ein Despot zu sein: Herrscherkritik ist insbesondere in der spätantiken Geschichtsschreibung so omnipräsent, dass sie geradezu als Genremerkmal gelten kann.436 Man gewinnt daher den Eindruck, als habe ein Augustus immer wieder beweisen müssen, dass er kein Tyrann war. Dies schränkte seine Handlungsfreiheit, die grundsätzlich enorm war, in der Praxis spürbar ein. Erwartet wurde die beständige Inszenierung zentraler Herrschertugenden: Mannhaftigkeit (virtus), Gerechtigkeit (iustitia), ehrendes Verhalten gegenüber Gott und Mensch (pietas) sowie Milde (clementia). Bewies ein Kaiser in den Augen seiner Umgebung in dieser Hinsicht einen eklatanten Mangel, so büßte er an Legitimität ein und lief Gefahr, Widerstand zu provozieren. Indem etwa Valentinian III. 454 eigenhändig die beiden Aristokraten Aëtius und Boethius erschlug, also einen Doppelmord beging, ließ er gewissermaßen seine Maske fallen und wurde konsequenterweise wenig später selbst getötet. Unter normalen Umständen musste ein Kaiser daher dringend versuchen, nicht Hand an Senatoren zu legen. Der einzige Kontext, in dem es ihm unbestritten zustand, Aristokraten zu töten, war eine Usurpation.437 Lässt man die weströmische Geschichte Revue passieren, so kann leicht der Eindruck entstehen, es sei der Rückzug in den Palast gewesen, der jene Schwäche des Kaisertums hervorrief, die zunächst zu Machtkämpfen am Hof, dann zu Bürgerkriegen und schließlich zum
434 Dig. 1,3,31. 435 Vgl. Gotter 2008b: 185 f. 436 Vgl. Börm 2015b: 317–323. Ähnliches gilt für die Biographik: Die wohl um 400 in Italien entstandene Historia Augusta trägt unübersehbar antimonarchische Züge; vgl. Haake 2015. 437 Vgl. Börm 2010.
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9 Das Kaisertum und der Hof
Verlust der Kontrolle über die Provinzen führte.438 Doch obwohl dieser Faktor gewiss von Bedeutung war, sprechen zwei starke Argumente dagegen, das Phänomen der Palastkaiser (principes clausi) als entscheidend für den Untergang Westroms zu identifizieren. Zum einen ist dies der Umstand, dass gerade die tatkräftigen Soldatenkaiser des 3. Jahrhunderts die Entrückung des Herrschers als geeignete Strategie zur Rettung von Monarchie und Reich überhaupt erst entwickelten. Und zum anderen lehrt ein Blick auf den römischen Osten, wo sich insbesondere unter Theodosius II. ein immer ausgefeilteres Zeremoniell ausprägte, das unter Justinian seine Vollendung erreichte,439 dass aus principes clausi keineswegs machtlose Marionetten werden mussten. Der Rückzug der Kaiser in den Palast – den auch zeitgenössische Autoren wie Synesius durchaus kritisierten – musste mithin nicht destabilisierend wirken.440 Als Erklärung für die Ereignisse im weströmischen Reichsteil reicht er keinesfalls aus.
9.2
Der Hof
Der spätantike Kaiserhof (comitatus) setzte sich aus verschiedenen Personengruppen zusammen.441 Alle, die Zutritt zum Palast hatten, hießen palatini; diejenigen, die tatsächlich Zugang zum Herrscher hatten, comites. Neben der kaiserlichen Familie gab es die Angehörigen der Garden, unter denen die protectores domestici die wichtigsten waren, sodann Sklaven für die unterschiedlichsten Aufgaben, Eunuchen, die gerne eingesetzt wurden, wenn es um den persönlichen Umgang mit dem Augustus und seinen Angehörigen ging, und schließlich Funktio438 Vgl. Schneider 2000, der die »abgeschirmt im Palast« lebenden kindlichen Kaiser als entscheidenden Faktor für das Ende Westroms versteht. 439 Coripp. In Laud. Iust. 3,179–244. Vgl. McCormick 2000; Whitby 2001. 440 Synes. De regno 15 f.; Ioh. Lyd. De Mag. 3,95. Vgl. zu Synesius Brandt 2003. 441 Vgl. zu den Hofämtern Noethlichs 1997.
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9.2 Der Hof
näre einschließlich der hohen Würdenträger senatorischen Ranges. Den Eunuchen konnte dabei eine erhebliche Macht zukommen, da sie in den Augen des Kaisers den Vorteil besaßen, aufgrund mangelnden eigenen Sozialprestiges ganz von seiner Gunst abhängig zu sein und zudem nicht hoffen zu können, ihre Position an Erben weiterzugeben.442 Der wichtigste Eunuch am weströmischen Hof war in der Regel der primicerius sacri cubiculi, der dem Kaiser zumeist besonders nahestand. Es ist kein Zufall, dass dieser der letzte Mensch war, auf den sich Valentinian III. 454 noch verlassen zu können glaubte. Hierarchien waren äußerst wichtig und wurden insbesondere im Rahmen von Audienzen symbolisch inszeniert.443 Sehr bedeutsam war zum Beispiel, wer wem den Vortritt zu lassen hatte. Die wichtigsten der Hofämter (militia palatina) waren jene, deren Inhaber zum Kronrat (sacrum consistorium) zählten: Der magister officiorum führte die Oberaufsicht über die palatini – formal einschließlich der Garden – und war insbesondere für die kaiserliche Korrespondenz zuständig; im Laufe der Zeit entwickelte er sich, da er häufig mit diplomatischen Missionen betraut wurde, zudem zu einer Art »Außenminister«.444 War er abwesend, wuchs die Macht des curopalatus, dessen Position aber vor allem in Ostrom bedeutend war. Das zweite wichtige Amt war das des quaestor sacri palatii; dieser war wohl ursprünglich dafür zuständig gewesen, die Beschlüsse und Erlasse des Kaisers dem Senat mitzuteilen, und entwickelte sich, da er für die Abfassung der Gesetze zuständig war, zu einer Art »Justizminister«. An dritter und vierter Stelle kamen schließlich die beiden »Schatzkanzler«, also der comes rei privata, zuständig für das kaiserliche Vermögen und die Einkünfte aus dem herrscherlichen Grundbesitz, und der comes sacrarum largitionum, dem die Aufsicht über die Münzprägung und jene Staatsfinanzen oblag, für die nicht die Prätorianerpräfekten zuständig waren. Alle ehemaligen oder aktiven Inhaber dieser Ämter gehörten zur obersten Statusgruppe im ordo senatorius, den illustres. In
442 Vgl. Schlinkert 1994. 443 Vgl. zur Elitenkonkurrenz auch Schmidt-Hofner 2010. 444 Vgl. Clauss 1980; Delmaire 1995: 75–95.
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9 Das Kaisertum und der Hof
der Regel hielt sich als höchstrangiger Angehöriger der Zivilverwaltung (militia officialis) auch einer der Prätorianerpräfekten am Hof auf.445 Was den Westen nach 395 vom Osten bereits auf den ersten Blick unterschied, waren die Rolle und Macht der militärischen Funktionsträger (militia armata) bei Hof (u Kap. 7.6). Mindestens zweimal, nämlich um 400 und um 470, versuchten magistri militum auch in Konstantinopel, dauerhaft die Oberhand zu gewinnen.446 Doch Gainas und Aspar scheiterten. Die eigentliche Basis der kaiserlichen Macht war bereits seit Augustus die Kontrolle über die Armee gewesen. Da es den Herrschern im Osten – wenn auch nicht ohne Mühe – gelang, sich die Loyalität der Soldaten alles in allem zu erhalten, blieben sie den Heermeistern überlegen. Hinzu kam die Rolle der militärisch schier uneinnehmbaren Residenzstadt Konstantinopel, die die Kaiser bedrohen, aber, wie im Falle von Gainas, auch beschützen konnte. Im Westen hingegen konnten sich Männer wie Arbogast, Stilicho und Constantius früh eine eigene, vom Kaiser unabhängige bewaffnete Gefolgschaft zulegen. 408 sah es zunächst so aus, als würde der Gegenschlag gelingen, doch mit der Erhebung des Constantius zum ersten Heermeister und patricius war dann eine wesentliche Vorentscheidung getroffen worden. Spätestens mit Ricimer setzte sich in Westrom schließlich auch protokollarisch der Vorrang der Militärs durch, eine praerogativa partis armatae,447 die in Ostrom unbekannt blieb. Versuche, den westlichen Hof dauerhaft in der Stadt Rom zu etablieren und sich auf die plebs zu stützen, wie dies in Konstantinopel gelungen war,448 scheiterten. In Italien musste man sich zwischen dem gut zu verteidigenden Ravenna und der alten Metropole am Tiber entscheiden; beides bot Vor- und Nachteile. Dabei sollte allerdings bereits deutlich geworden sein, dass es im Grunde irreführend ist, von »dem Hof« oder »dem Senat« zu sprechen. Denn immer wieder wird sichtbar, dass diese beiden in Westrom spätestens seit Honorius dazu neigten, in zwei verfeindete Gruppen zu
445 446 447 448
162
Vgl. Jones 1964: 366–373. Vgl. Börm 2013: 75–84 und Poguntke 2016. Sidon. Epist. 1,9,2. Vgl. zum Kaisertum in Konstantinopel Pfeilschifter 2013.
9.2 Der Hof
zerfallen. Dieses Phänomen erinnert entfernt an das, was die Griechen »Stasis« nannten, also an die Neigung von Gemeinwesen, sich unter bestimmten Bedingungen in zwei Parteiungen aufzuspalten, die einander unversöhnlich gegenüberstehen und mitunter gewaltsam bekämpfen. Jene, die die Macht haben, verbünden sich untereinander; jene, die an die Macht wollen, ebenso. Je intensiver der Konflikt wird, je stärker also die Legitimität der aktuellen Ordnung in Frage gestellt wird, desto weniger Raum bleibt für Neutralität und konstruktive Politik. Die am weströmischen Hof und im Senat versammelten Eliten konkurrierten um Zugang zur Macht; man rang um Ämter, Ehrungen, Privilegien, Pfründen und Vermögen.449 Hierin unterschied sich das Imperium Romanum der Kaiserzeit nicht grundsätzlich von anderen Monarchien. Gerade im Kontext einer unklaren Nachfolge konnten sich diese Rivalitäten dabei leicht verschärfen; dies war schon im Prinzipat der Fall gewesen: Setzte man rechtzeitig auf den nächsten starken Mann, so war man gegenüber der Konkurrenz im Vorteil. Denn die einzig legitime Quelle aller Privilegien und Würden war der Augustus. Wer den Zugang zu ihm kontrollierte, besaß Macht, und zwar umso mehr, je weniger der Kaiser selbst handlungsfähig war. Es ist daher kein Zufall, dass zum Beispiel die westgotischen foederati wiederholt versuchten, ihrerseits Zugriff auf einen eigenen Augustus zu bekommen: Wer diesen kontrollierte, kontrollierte quasi das Römische Reich. In der Regel gelang es den spätrömischen Kaisern wohl, die Bildung stabiler factiones am Hof zu verhindern, indem sie einen allgemeinen Wettbewerb unter den Würdenträgern forcierten. Doch selbst mit der Existenz von zwei rivalisierenden Gruppen konnte ein Monarch unter Umständen erfolgreich umgehen, sofern es ihm gelang, diese im Sinne eines »Königsmechanismus« (Norbert Elias) gegeneinander auszuspielen.450 In der Regel dürften dauerhafte Bündnisse und Parteiungen am Hof die Ausnahme gewesen sein. Gefährlich wurde es hingegen, wenn sich nicht nur eine vergleichsweise stabile factio gebildet hatte, son449 Vgl. auch Jones 1964: 523–562; Kelly 2004: 64–104; Rebenich 2008. 450 Vgl. Elias 1997. Das Modell ist in der Forschung seit langer Zeit umstritten.
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9 Das Kaisertum und der Hof
dern wenn sich ihre Mitglieder gegenseitig in der Annahme bestärkten, derart ungerecht benachteiligt zu werden, dass letztlich nur Gewalt als Ausweg übrig zu bleiben schien. Eben dieser Fall scheint in Westrom um die Wende zum 5. Jahrhundert eingetreten zu sein. Denn damals muss mit der Zeit der – wohl durchaus gerechtfertigte – Eindruck entstanden sein, eine Gruppe von Männern rund um Stilicho, die überdies vielfach auch noch aus Ostrom stammten, verwehre den übrigen den Zugang zur alleinigen Quelle aller Ehren und Privilegien: dem kleinen Honorius. Das war fatal. Damit, aktuell nicht in der Gunst des Kaisers zu stehen, konnte ein Funktionär zur Not leben. Doch dass eine bestimmte Gruppe dauerhaft den Zugriff auf den Herrscher monopolisierte und so den Verdacht weckte, nicht der Augustus selbst entscheide, war inakzeptabel. Stilicho und seine Anhänger hatten eine Stellung usurpiert, die ihnen nicht zukam.451 Es war daher höchstwahrscheinlich diese Konstellation, die zu den Machtkämpfen am Hof ab 408 führte, die ihrerseits wiederum eine Kette von Ereignissen in Gang setzten, die schließlich zur Erosion der Macht der Zentralregierung führen sollten. Dass diese Rekonstruktion zutrifft, belegen die Ereignisse nach 476: Solange es einen weströmischen Hof gab, musste die Existenz eines Kaisers – gerade wenn er eine bloße Marionette war – immer wieder aufs Neue zum Ausbruch von Konflikten führen. Da Odoaker und die Ostgoten dies verstanden hatten, erhoben sie keinen eigenen Augustus mehr. Nur ein starker, handlungsfähiger Kaiser hätte keinen Kampf um seine Kontrolle provoziert; aber gerade an einem solchen Herrscher konnten zumindest die späten patricii natürlich nicht mehr interessiert sein. An diesem Punkt stellt sich die Frage, wieso es in Ostrom nicht zu einer analogen Entwicklung kam. Arcadius mag ungeachtet seiner Jugend noch als handlungsfähig gegolten haben, doch zumindest für die Anfangszeit der Herrschaft seines Sohnes Theodosius II. müsste man eigentlich eine ähnliche Entwicklung erwarten.452 Es hat so auch den Anschein, als habe der Prätorianerpräfekt Anthemius tatsächlich anfangs eine Rolle gespielt, die derjenigen Stilichos recht 451 Vgl. Jones 1964: 174 f. 452 Vgl. Millar 2006.
164
9.2 Der Hof
nahe kam.453 Doch seit 414 lag die Kontrolle über den jungen Kaiser offenbar bei dessen älterer Schwester Pulcheria,454 und diese Konstellation scheint für den Hof akzeptabel gewesen zu sein. Denn nicht einer aus dem Kreis der Funktionäre, sondern ein gebürtiges Mitglied der verehrten Kaiserfamilie kontrollierte nun den Zugang zur Macht. Entscheidend dafür, dass diese Regelung akzeptiert wurde, dürfte der Umstand gewesen sein, dass die Augusta Pulcheria demonstrativ unverheiratet blieb. Ein etwaiger Ehemann hätte wohl unweigerlich Missgunst auf sich gezogen, und indem sie Jungfräulichkeit gelobte, konnte sie sich den Begehrlichkeiten mächtiger Männer entziehen. Denn die Bedeutung, die der Verbindung mit der Kaiserfamilie beigemessen wurde, war so groß, dass unverheiratete Töchter, Schwestern und mitunter auch Witwen ansonsten stets ein gefährliches Element der Instabilität darstellen mussten.455 Ähnliches wie Pulcheria versuchte Galla Placidia wohl ab 425 in Westrom, doch da sich dort zu diesem Zeitpunkt die Stellung des magister militum et patricius bereits fest etabliert hatte, scheiterte sie. Und obwohl spätere Kaiser wie Avitus, Majorian und Anthemius keineswegs bloße Marionetten waren, gelang es auch diesen nicht, sich gegen die Strukturen, die sich bereits vor Jahrzehnten etabliert hatten, durchzusetzen.
453 Vgl. PLRE II: 93 f. 454 Soz. HE 9,1. Vgl. Holum 1982: 79–111 (teils überholt). 455 Vgl. Busch 2015: 213–230. Vgl. zur machtpolitischen Bedeutung von Heiratsverbindungen auch Schwarcz 2003.
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10
Die Verwaltung des Reiches
Als sich in den Jahrzehnten um 300 der spätrömische Staat ausprägte, stand hinter den Maßnahmen, die namentlich Diokletian und Konstantin I. zu verantworten hatten,456 vor allem die Absicht, die Effizienz des Systems zu erhöhen. Aus innen- wie außenpolitischen Gründen war insbesondere der Unterhalt der kaiserlichen Armee nun sehr viel kostspieliger geworden als zuvor,457 und als Antwort auf diese Herausforderungen vergrößerte man schrittweise den kaiserlichen Verwaltungsapparat. Vergleicht man es mit einem neuzeitlichen Staat, war das Römische Reich zwar auch in der Spätantike noch immer unteradministriert: Die Anzahl der Mitglieder der militia officialis im Gesamtreich ist auf nicht mehr als 35 000 geschätzt worden,458 und diese waren für mindestens 70 Millionen Menschen – wahrscheinlich erheblich mehr – zuständig. Verglichen mit der Zeit bis zu den severischen Kaisern kann man aber dennoch von einem erheblichen Ausbau der Reichsverwaltung sprechen, jedenfalls soweit dieser Begriff auf die Antike anwendbar ist.
456 Vgl. Pfeilschifter 2014: 26–31. 457 Vgl. Potter 2014: 40–51. 458 Vgl. Kelly 1999: 177.
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10.1 Die Verwaltungsstruktur
10.1
Die Verwaltungsstruktur
An der Spitze der Administration stand selbstverständlich der Kaiser des jeweiligen Reichsteils.459 Ihm direkt unterstellt war der Prätorianerpräfekt (praefectus praetorio). Dieses ursprünglich ritterliche Amt, das bereits von Augustus eingerichtet worden war, änderte in der Spätantike grundlegend seinen Charakter, vor allem seit 312, als Konstantin I. die Prätorianergarde auflöste. Im 4. Jahrhundert gab es drei bis vier Präfekten, seit 395 dann jeweils zwei pro Reichsteil. Während der für Italien und Africa zuständige Präfekt dabei zumeist am Kaiserhof residierte, hatte die für Gallien, Hispanien und Britannien zuständige Präfektur ihren Sitz, wie erwähnt, seit etwa 400 in Arles. Zu den Amtsinsignien der Präfekten, die illustres waren, gehörte ein besonderer Wagen (carpentum), wie ihn möglicherweise aus diesem Grund noch im 8. Jahrhundert auch die fränkischen reges verwendeten.460 Jede Präfektur war in zwei große Zweige unterteilt, die Finanzverwaltung (scriniarii) und die juristische Abteilung (exceptores). Besonders gut ist man über den Aufbau der neuen Präfektur unterrichtet, die Justinian 534 für Africa einrichtete.461 Die wichtigste Aufgabe der Prätorianerpräfekten, deren Entscheidungen normalerweise letztinstanzlich waren, wenngleich die Möglichkeit der Appellation an den Augustus nie beseitigt wurde, war die Sicherstellung der annona militaris. Im 4. Jahrhundert handelte es sich dabei fast ausschließlich um eine Naturalienabgabe, die der Versorgung der kämpfenden Truppe diente, im 5. Jahrhundert wurde es möglich, sie auch in Form von Geld zu entrichten. Das spätrömische Abgabensystem folgte dabei grundsätzlich dem seit Diokletian üblichen Prinzip der capitatio et iugatio, offenbar eine Kombination von Kopf- und Grundertragssteuer.462 Alle 15 Jahre (Indiktion) sollte, so
459 Vgl. zur Verwaltung Jones 1964: 366–410; Martin 1995: 85–93; Kelly 1999; Kelly 2004; Demandt 2007: 292–303; Mitchell 2015: 165–205. 460 Vgl. Becher 2011: 116 f. 461 Cod. Iust. 1,27,1. 462 Vgl. Mitchell 2015: 181–185.
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10 Die Verwaltung des Reiches
zumindest die Theorie, eine Steuerschätzung der abgabepflichtigen Bürger erfolgen; anhand der Qualität und Fläche ihres Grundbesitzes sowie ausgehend von der Zahl der Nutztiere und Arbeiter wurde die Höhe der in den folgenden Jahren zu leistenden annona festgelegt. Es versteht sich, dass es hierbei oft zu Unregelmäßigkeiten kam, die Steuereintreiber (exactores) waren im Reich nicht sehr beliebt; berühmt ist die polemische Schilderung der diokletianischen Reform durch Laktanz.463 Die capitatio-iugatio stellte daneben auch die Grundlage für die Rekrutierung neuer Soldaten dar. Insgesamt nimmt man heute zumeist an, dass die Steuern zwar deutlich höher als in den ersten beiden nachchristlichen Jahrhunderten waren, unter normalen Bedingungen aber nicht als ruinös gelten konnten: Über zu hohe Abgaben wurde zu allen Zeiten geklagt. Jede der beiden weströmischen Präfekturen war in Diözesen unterteilt, die jeweils einem vicarius unterstanden.464 Italien zerfiel dabei in zwei Diözesen, nämlich Italia suburbicaria, zuständig vor allem für die Versorgung der Stadt Rom, und Italia annonaria. Die übrigen westlichen Diözesen waren im Jahr 395 Britanniae, Hispaniae, Africa, Galliae, Viennensis (bzw. Septem Provinciae) und Pannoniae. Die Vikare, die eine Zwischenstellung zwischen den Präfekten und den Provinzstatthaltern einnahmen und meist zur senatorischen Rangklasse der spectabiles zählten, scheinen in der Regel keine besonders große tatsächliche Bedeutung gehabt zu haben, doch ist hier, wie so oft, manches unklar.465 Jede der Diözesen umfasste ihrerseits vier bis acht Provinzen, die Statthaltern unterstanden. Diokletian und Konstantin hatten ihre Gesamtzahl durch Teilungen auf zuletzt wohl 114 erhöht, von denen 53 im Westen lagen. Die Statthalter, die in der Spätantike in der Regel nicht mehr das Kommando über die Truppen führten, waren nicht gleich an Rang. So galt es nach wie vor als besonders prestigeträchtig, als proconsul der Africa Proconsularis zu amtieren – natürlich nur bis zu ihrer Eroberung durch Geiserich 439. Um 400 gehörten alle Statt463 Lact. Mort. Pers. 23. 464 Vgl. Migl 1994. 465 Cod. Theod. 1,15,1. Vgl. Noethlichs 1982.
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10.1 Die Verwaltungsstruktur
halter, die man nun meist als praesides, rectores oder iudices bezeichnete, mindestens zur niedrigsten Rangklasse der Senatoren und waren also clarissimi. Ihre vornehmliche Aufgabe war die Rechtsprechung. Obwohl auch die clarissimi und spectabiles weiterhin zum Senatorenstand zählten, scheint das Recht auf die tatsächliche Teilnahme an den Senatssitzungen unter Valentinian III. auf die illustres beschränkt worden zu sein. Der Senat als Gremium hatte inzwischen zwar kaum noch Kompetenzen und praktische Aufgaben, er symbolisierte aber die res publica und die Größe Roms. Zudem war er als Versammlung der höchsten aktiven und ehemaligen Würdenträger auf seine Weise durchaus bedeutend. Das Sozialprestige der Senatoren war immens. Nicht zufällig eilte Valentinian nach der Tötung des Aëtius sogleich in den Senat, um sich zu rechtfertigen. Das Gremium überdauerte, wie gesagt, das Jahr 476. Das letzte bekannte weströmische senatus consultum stammt aus dem Jahr 534.466 Wie bereits im Prinzipat bildeten die civitates die unterste Ebene der Verwaltung. In aller Regel handelte es sich bei einer civitas um ein mehr oder weniger großes urbanes Zentrum nebst zugehörigem Umland, wobei zwischen Stadt- und Landbevölkerung rechtlich nicht grundsätzlich unterschieden wurde. An der Spitze stand eine Honoratiorenschicht, die man »Ratsherren« (curiales) nannte. Diese geriet in der Spätantike allerdings unter zunehmenden Druck, und die erbliche Zugehörigkeit zum Rat (curia) wurde nun mitunter als Last empfunden. Als sich die Kaiser im 4. Jahrhundert darum bemühten, ihren Zugriff auf die Abgaben zu verbessern, entzogen sie den Städten weitgehend die Steuerhoheit; und obwohl den civitates später wieder eine etwas größere Finanzautonomie zugestanden worden war und man ihnen meist gestattete, ein Drittel der Einnahmen selbst zu verwalten, trug dieser Schritt dazu bei, dass die spätantiken Städte ihren Charakter veränderten.467 Dabei ist zu beachten, dass der Zentralregierung nicht daran gelegen sein konnte, die lokale Selbstverwaltung zu beseitigen; sie versuchte diesen Prozess offenbar aufzuhalten.
466 Vgl. Arnheim 1972; Näf 1995; Rebenich 2008; Cameron 2012. 467 Vgl. Jones 1964: 732–734.
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10 Die Verwaltung des Reiches
Zu den auffälligsten Neuerungen zählt in diesem Kontext sicherlich die zunehmend bedeutende Rolle, die die örtlichen christlichen Bischöfe gerade, aber nicht nur, in Gallien spielten. Da sie seit Konstantin I. eine Reihe von Privilegien besaßen, war das Episkopat bereits im 4. Jahrhundert attraktiver für Angehörige der Oberschicht geworden. Als dann nach 400 die Präsenz der weströmischen Zentrale in den Provinzen schwand, übernahmen Bischöfe in einem komplexen Prozess vielerorts Aufgaben, für die zuvor weltliche Autoritäten zuständig gewesen waren.468 Die Bischöfe zählten nun in der Regel zu den honorati und bestimmten gemeinsam mit den Großgrundbesitzern die lokale Politik.469 Als die reges der foederati im Verlauf des 5. Jahrhunderts im Westen schrittweise an die Stelle der kaiserlichen Regierung traten,470 mussten sie ein Interesse daran haben, diese Strukturen im Rahmen des Möglichen zu bewahren – ganz gleich, ob man sie nun als fremde Eroberer betrachtet oder als Söldnerführer, denen ihr Dienstherr abhanden gekommen war. Schließlich war es dieses System, das für die annona sorgte, die für die neuen Herren und ihre Männer von größter Bedeutung war. Die reges waren dabei in sehr unterschiedlichem Ausmaß erfolgreich, und zunächst bedienten sie sich vielfach römischer Verwaltungsexperten, die zu diesem Zweck mitunter die germanischen Dialekte erlernten.471 Doch auf Dauer wurden die römischen Strukturen im Laufe der Zeit schließlich überall transformiert bzw. durch andere, sehr viel weniger komplexe ersetzt.472 Man hat in Hinblick auf die postimperialen Nachfolgereiche Westroms sogar von failed states gesprochen, von einem »Typus politischer Organisation mit begrenzter Staatlichkeit«.473 Ob diese Diagnose zutrifft, sei dahingestellt.
468 Vgl. Heinzelmann 1976; Eck 1978; van Dam 1985; Baumgart 1995. Zur spätantiken bischöflichen Repräsentation vgl. nun Kritzinger 2016. 469 Vgl. Krause 2010: 448. 470 Vgl. Mitchell 2015: 206–241. 471 Sidon. Epist. 5,5. 472 Vgl. Heather 2000. Die Kontinuitäten betont Durliat 1990. 473 Vgl. Jussen 2007: 145.
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10.2 Charakteristika und Probleme
10.2
Charakteristika und Probleme
Seit Diokletian gab es eine grundsätzliche Trennung von ziviler Verwaltung und Armee. Sie kann als ein Charakteristikum der spätantiken Verwaltung gelten, denn weder im Prinzipat noch im Mittelalter lässt sich Vergleichbares beobachten. Allerdings war die Grenze zwischen der militia officialis und der militia armata zum einen nicht ganz so undurchlässig, wie es mitunter den Anschein hat; dies beweisen Karrieren wie die des Avitus, der hohe militärische und zivile Posten bekleidete, bevor er Augustus wurde. Und zum anderen ist es in gewisser Hinsicht irreführend, von einem »zivilen« Sektor zu sprechen. Denn jeder freie Mann, der im Dienst des Kaisers stand, galt grundsätzlich als Soldat (miles). Als Diokletian daran ging, die Reichsverwaltung auszuweiten und effizienter zu machen, muss er sich – ähnlich übrigens wie die Begründer der ersten Klöster – an jener Struktur orientiert haben, in der Befehlsketten und Hierarchien seit Jahrhunderten reibungslos funktionierten: der römischen Armee. Die Angehörigen der neuen, professionalisierten kaiserlichen Administration trugen daher fortan die beiden Accessoires, die seit Jahrhunderten einen Legionär gekennzeichnet hatten: zum einen den breiten Soldatengürtel (cingulum militare), zum anderen den Feldumhang, die Chlamys, die die Römer auch paludamentum nannten. Vielfach wurden sie überdies de iure Einheiten der kämpfenden Truppe zugewiesen. In gewisser Weise war also die spätantike Verwaltung von Anfang an militarisiert. Kennzeichen dafür, dass man ein Römer war, der im Dienste des Kaisers stand, war der Name Flavius, der sich im Verlauf des 4. Jahrhunderts zu einem Titel entwickelte. Die Toga hingegen, lange Zeit das Symbol des freien römischen Bürgers, geriet nun weitgehend außer Gebrauch; nur amtierende Prätoren, Konsuln und Stadtpräfekten trugen sie noch, ebenso wie die Senatoren, wenn sie in der Kurie oder vor Gericht zusammenkamen.474 Die vornehmste Aufgabe der kaiserlichen Verwaltung war die Gewährleistung des inneren Friedens; auf diesem Anspruch fußte, wie ge474 Cod. Theod. 14,10,1.
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10 Die Verwaltung des Reiches
sagt, im Grunde seit Augustus die Rechtfertigung der Alleinherrschaft. Zu diesem Zweck musste nicht nur eine Armee unterhalten werden, die äußere Feinde abwehrte, sondern auch das Zusammenleben der Reichsangehörigen durch Gesetze und Rechtsprechung geordnet werden. Umstritten ist dabei, ob die kaiserliche Regierung auch von sich aus gestaltet oder zumeist lediglich auf Vorschläge, Bitten und Initiativen reagiert hat.475 Obwohl nur ein Teil der Gesetze und Erlasse überliefert worden ist, stellt sich angesichts der großen Zahl, die noch immer vorliegt, leicht der Eindruck ein, die spätrömische Gesellschaft sei in ungewöhnlich hohem Maße reglementiert gewesen. Dies hat die Forschung früher zu der Annahme geführt, das spätantike Imperium Romanum sei ein »Zwangsstaat« gewesen, in dem ein übermächtiger, aufgeblähter Apparat darum bemüht gewesen sei, das Leben der Bürger bis ins Detail zu regeln. In den letzten Jahren hat man sich von dieser Einschätzung weitgehend verabschiedet.476 Zum einen betont man inzwischen, dass viele Gesetze zwar einer Rhetorik verpflichtet sind, die Allgemeingültigkeit suggeriert, aber in Wahrheit zumeist auf einen konkreten räumlichen und zeitlichen Kontext begrenzt waren. Zum anderen übersah man früher leicht die recht engen Grenzen, die der praktischen Umsetzung von Regierungsanweisungen unter vormodernen Bedingungen gesetzt waren. Mochte man auch mitunter versuchen, durch agentes in rebus vor Ort eine bessere Kontrolle auszuüben, so war man angesichts der im Grunde primitiven Verkehrs- und Kommunikationsbedingungen letztlich doch auf freiwilligen Gehorsam angewiesen.477 Die Möglichkeiten des Kaisers, tatsächlichen Zwang auszuüben, waren selbst unter idealen Bedingungen begrenzt – es sei denn, er setzte Soldaten und Gewalt ein. Derlei kam zwar vor, schuf aber seinerseits Akzeptanzprobleme, gerade unter den Bedingungen des christlichen Kaisertums. Da dieses Mittel also nur ausnahmsweise angewandt wer-
475 Diese Diskussion geht auf das einflussreiche Buch The Emperor in the Roman World von Fergus Millar zurück. Vgl. auch Schmidt-Hofner 2008. 476 Vgl. Meier 2003b. 477 Vgl. Heather 2005: 100–103 und das Beispiel der Affäre um den comes Africae Romanus (Amm. 28,6,1–27).
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10.2 Charakteristika und Probleme
den konnte, war die Zentralregierung darauf angewiesen, dass die Mächtigen (potentes bzw. honorati) vor Ort einen Nutzen darin sahen, sich auf den Kaiser zu beziehen.478 In gewisser Hinsicht könnte man sagen, dass der Hof lediglich Kommunikationsangebote machen konnte; das System funktionierte nur, solange die Menschen weitgehend freiwillig gehorchten. Die Möglichkeit, dass kaiserliche Soldaten eingreifen könnten, musste als hinreichend real wahrgenommen werden; und die Hoffnung, durch Gehorsam Vorteile zu erlangen, durfte nicht zu oft enttäuscht werden. Andernfalls wurde die Legitimität der Regierung bezweifelt. Es ist wiederholt vorgeschlagen worden, Korruption als einen Faktor zu benennen, der die Effizienz der spätrömischen Verwaltung entscheidend verringert habe. Dass es Nepotismus und Ämterkauf gab, ist ebenso wenig zu bestreiten wie der Umstand, dass die Zahlung von Bestechungsgeldern geradezu erwartet wurde.479 Allerdings war derlei nicht illegal, sofern es ein bestimmtes Maß nicht überstieg. Dass Menschen, die in der sozialen Hierarchie gut positioniert waren und über ausreichende finanzielle Mittel verfügten, bevorzugt behandelt wurden, galt vielen Römern als selbstverständlich. Man läuft daher wohl Gefahr, anachronistisch zu argumentieren, wenn man diese Ungleichheit ohne weiteres mit Ineffizienz gleichsetzt. Eine grundsätzliche Zweiteilung der Gesellschaft in privilegierte potentes (»Mächtige«) bzw. honestiores (»Ehrenwerte«) auf der einen und humiliores (»Niedrige«), die große Mehrheit, auf der anderen Seite, scheint für die Spätantike allgemein prägend gewesen zu sein, auch wenn nicht auszuschließen ist, dass die Quellen die praktische Relevanz dieser Unterscheidung übertreiben.480 Die soziale Mobilität war jedenfalls ungeachtet aller anderslautenden Bestimmungen, die vielfach eine Bindung an Stand und Beruf der Eltern vorsahen, prinzipiell hoch: Nach dem Ende der theodosianischen Dynastie konnten Männer einfacher Herkunft wie Majorian oder Justin I. sogar zum Augustus aufsteigen. 478 Vgl. Krause 2018: 261–263. 479 Vgl. Martin 1995: 193–195. 480 Vgl. Dinzelbacher/Heinz 2007: 11–16; Alföldy 2011: 283 f.
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11
Die weströmische Armee
Die spätrömische Armee unterschied sich deutlich vom Heer der Prinzipatsepoche.481 Das stehende Heer, das Augustus um die Zeitenwende geschaffen hatte, hatte aus etwa 30 Legionen bestanden, die eine Sollstärke von jeweils ungefähr 6 000 Mann besaßen und ihre Standlager an der Peripherie des Reiches hatten. Erst Septimius Severus hatte eine Legion in Italien, unweit von Rom, stationiert. Zwar dienten viele Legionäre abseits ihrer Standlager, etwa in Zollstationen oder im Stab der Statthalter; doch alles in allem war das Imperium Romanum der Frühen und Hohen Kaiserzeit im Inneren recht weitgehend demilitarisiert gewesen. Folgt man Tacitus, so wurden die ungefähr 150 000 Mann zählenden Legionen dabei um etwa ebenso viele Hilfstruppen (auxilia) ergänzt.482 Diese bestanden aus Nichtrömern, die normalerweise nach ihrer ehrenhaften Entlassung mit der civitas Romana belohnt wurden. Während die Legionäre in der Regel Fußsoldaten waren, stellten die Auxilien daneben oft auch Bogenschützen und berittene Truppen. Noch die Heere, die die Severer und die ersten Soldatenkaiser in die Schlacht führten, entsprachen im Prinzip diesem Muster.483 Doch die inneren und äußeren Kriege des 3. Jahrhunderts brachten die Herrscher schrittweise zu der Erkenntnis, dass es nun einer Armee bedurfte, die schnell reagieren und rasch bewegt werden konnte, während zugleich die Überwachung der Grenzen (limites) gewährleistet bleiben musste.
481 Gute Einführungen bieten Whitby 2002, Lee 2007 und Le Bohec 2010. Speziell die Entwicklungen im 5. Jahrhundert skizziert Elton 2015. 482 Tac. Ann. 4,5. 483 Vgl. Potter 2014: 125–134.
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11.1 Aufgaben, Aufbau und Versorgung
11.1
Aufgaben, Aufbau und Versorgung
Ein wichtiges Ergebnis der diokletianisch-konstantinischen Reformen war die systematische Unterteilung des Heeres in Feldarmeen (comitatenses) und Grenztruppen (limitanei oder ripenses). Die Aufgabe der Feldarmeen, die im Laufe der Zeit zu einem wachsenden Anteil aus Berittenen bestanden, sollte es sein, den Feind zu stellen oder, besser noch, im Rahmen von Abschreckungs- oder Rachefeldzügen sein Land zu verwüsten.484 Im 5. Jahrhundert scheinen diese allerdings weitgehend unterblieben zu sein, was die Sicherheitslage in den grenznahen Provinzen sehr verschlechtert haben muss. Die Grenztruppen besetzten die Kastelle, überwachten den alltäglichen Verkehr und sollten marodierende Banden abschrecken. Die Trennung zwischen comitatenses und limitanei war dabei wahrscheinlich weniger strikt, als es die Forschung lange annahm. Die Gesamtzahl der römischen Soldaten im Imperium Romanum dürfte um 395 bei über 500 000 gelegen haben, doch ist dies nur eine grobe Schätzung.485 Das Oberkommando der Truppen hatte grundsätzlich der Imperator Augustus inne, aber in Westrom scheint der magister militum et patricius ihm seit Majorian auch formal fast gleichgestellt gewesen zu sein. Es gab mehrere weitere magistri militum in Ost und West, die sich entweder am Hof aufhielten oder das Kommando über die comitatenses in einem größeren Gebiet führten.486 Seit Honorius waren sie (ebenso wie einige andere hohe Würdenträger) oft von einer vielköpfigen, nur ihnen selbst verpflichteten Garde umgeben, den bucellarii.487 Den Heermeistern im Rang nachgeordnet waren die comites, die in der Regel kleinere Verbände kommandierten. Seitdem den Statthaltern 484 Dies wird eindringlich geschildert bei Amm. 17,1,5–7. Mitunter konnten diese Strafexpeditionen natürlich auch scheitern, so etwa der Feldzug, den man 388 rechts des Rheins unternahm; damals fanden der magister militum Quintinus und zahlreiche Legionäre in einem fränkischen Hinterhalt den Tod; Greg. Tur. Hist. 2,9. 485 Agath. Hist. 5,13,7; Ioh. Lyd. De Mens. 1,27. 486 Vgl. Demandt 1970; Castritius 1984. 487 Olymp. Frg. 7,4 (Blockley).
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11 Die weströmische Armee
das Kommando über die in ihrer Provinz stationierten Truppen entzogen worden war, lag dieses in der Regel bei einem dux.488 Wie bereits wiederholt betont, war die annona von größter Wichtigkeit für die Soldaten, mochten sie nun Angehörige des regulären Heeres (exercitus) oder foederati sein.489 Als Westrom die Versorgung der Armee nicht mehr gewährleisten konnte, war dies daher verhängnisvoll. Auch für die Rüstungen und Waffen sorgte die Regierung, die in nicht allzu großer Entfernung von den Grenzen fabricae unterhielt, die unter offizieller Aufsicht standen. Dabei hatte sich die Ausrüstung der spätrömischen Armee im Vergleich zur Hohen Kaiserzeit nicht unwesentlich verändert. So war der gladius, das jahrhundertelang übliche Kurzschwert, nach etwa 260 endgültig durch ein schon zuvor bei den Hilfstruppen beliebtes Langschwert (spatha) ersetzt worden, der Schie-
Abb. 5: Die spätrömische Stadtmauer von Amida (Diyarbakır). Auch im Orient schützten starke Festungen das Imperium Romanum.
488 Vgl. Esders 2012 (mit Beobachtungen zur Transformation des Amtes in nachrömischer Zeit). 489 Vgl. Lee 2007: 85–89.
176
11.2 Die »Barbarisierung« der spätrömischen Armee
nenpanzer wurde zugunsten des Schuppen- oder Kettenpanzers aufgegeben, das pilum zugunsten der Lanze, der rechteckige Schild (scutum) zugunsten des runden clipeus. Der alte Legionärshelm verschwand, an seine Stelle trat ein Spangenhelm. Nur hohe Offiziere trugen noch Brustpanzer. Dies alles lässt vor allem auf eine veränderte Kampfweise schließen, in der der einzelne Krieger beweglicher agierte als zuvor. Aufgrund der wachsenden Bedeutung der Kavallerie wurden die Heere zugleich kleiner, da insbesondere die Versorgung der Pferde sonst logistisch kaum zu bewältigen gewesen wäre.
11.2
Die »Barbarisierung« der spätrömischen Armee
Nicht zuletzt angesichts mehrerer überlieferter Gesetze geht man vielfach davon aus, dass der Dienst in der spätantiken Armee in den Augen der meisten Römer unattraktiv geworden sei. Es habe daher zu wenig Rekruten gegeben, was die Abwehrkraft des Imperiums geschwächt und die Abhängigkeit von reichsfremden Soldaten erhöht habe.490 In der Tat rechnete man offenbar mit Deserteuren, weshalb die Rekruten zwangsweise tätowiert wurden. Auf den Versuch, sich durch Selbstverstümmelung dem Kriegsdienst zu entziehen, standen hohe Strafen.491 Man versuchte zudem, die Söhne von Soldaten (ebenso wie die Angehöriger mehrerer anderer Berufe) dazu zu verpflichten, ihren Vätern nachzufolgen.492 Ausgebildete, kampfkräftige Krieger waren kostbar, weshalb spätantike Militärhandbücher dazu rieten, offene Feldschlachten möglichst zu vermeiden, da der Ausgang grundsätzlich ungewiss sei und man im Falle einer Niederlage hohe Verluste riskiere, die man womöglich nicht wieder wettmachen könne.493 Da 490 491 492 493
Vgl. Boak 1974. Cod. Theod. 10,22,4; Cod. Theod. 17,18,1. Cod. Theod. 7,1,5. Veget. 3,26.
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11 Die weströmische Armee
aber andererseits noch Justinian konstatierte, in der Regel genügten Freiwillige, um den Bedarf an Rekruten zu decken, kann man vermuten, dass ein akuter Mangel an geeigneten Bewerbern nur punktuell und in besonderen Krisenzeiten auftrat.494 Angesichts der seit der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts auffällig steigenden Zahl an Soldaten, die vermutlich oder eindeutig »barbarischer« Herkunft waren, liegt der Schluss nahe, dass die kaiserliche Armee zwischen Konstantin I. und Theodosius I. wiederholt in besonders hohem Maße Reichsfremde rekrutiert hat.495 Die für Westrom verlustreichsten Schlachten wurden dabei ausnahmslos im Rahmen von Bürgerkriegen geschlagen. Wie bereits erwähnt, scheinen insbesondere die Zusammenstöße bei Mursa (351) und am Frigidus (394) große Lücken in den Reihen der westlichen Armee hinterlassen zu haben (u Kap. 3.4). Vor allem nach 395 griff man daher zweifellos verstärkt auf foederati zurück. Aber war auch das reguläre kaiserliche Heer jetzt »barbarischer« als in den Jahrhunderten zuvor? Gab es eine »Barbarisierung« der weströmischen Armee?496 Gegen diesen naheliegenden Eindruck, der nicht zuletzt von den literarischen Quellen vermittelt wird,497 lassen sich gewichtige Argumente vorbringen. Zum einen ist zu bedenken, dass ja bereits im Prinzipat etwa die Hälfte der kaiserlichen Truppen aus Nichtrömern bestand, die in den auxilia dienten, um auf diese Weise Anteil am Wohlstand und am Prestige des Imperium Romanum zu erlangen. Da diese Unterscheidung zwischen Hilfstruppen und regulären Einheiten in der Spätantike bald faktisch wegfiel, kann es grundsätzlich nicht überraschen, wenn nun viele »Barbaren« gemeinsam mit im Imperium geborenen Römern dienten und dieselbe Laufbahn absolvierten. Nicht wenigen gelang aufgrund erwiesener Loyalität der Aufstieg in höchste Positionen; anders 494 Dig. 16,4,10. Vgl. auch Leppin 2010. 495 Der Anteil der Soldaten nichtrömischer Herkunft an den Mannschaften des regulären Heeres scheint nach modernen Schätzungen dennoch bei höchstens 25 bis 30 Prozent gelegen zu haben; vgl. Pfeilschifter 2014: 126. 496 Vgl. Vittinghoff 1950 (für das 2./3. Jh.); Jones 1964: 619–623; Liebeschuetz 1993; Elton 1996. 497 Synes. De regno 21 f. Vgl. Cameron 2011: 52–57.
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11.2 Die »Barbarisierung« der spätrömischen Armee
als früher blieben ihre nichtrömische Wurzeln dabei wegen der gewandelten Praxis der Namensgebung allerdings oft sichtbar. Und zum anderen ist Archäologen in den vergangenen Jahren der Nachweis gelungen, dass der habitus barbarus, also der »unrömische« oder »barbarische« Kleidungs- und Ausrüstungsstil einer neuen Militärelite, dessen sich auch die regulären Truppen seit dem 4. Jahrhundert befleißigten, im Römischen Reich selbst seinen Ursprung hatte.498 Zwar verwendete man dabei viele Elemente, die aus dem Barbaricum stammten, doch erst in der kaiserlichen Armee wurden sie neu kombiniert und zu etwas Eigenem, das sich so jenseits der Reichsgrenzen in der Regel nicht fand. Es prägte sich also langsam ein neuer »Dresscode« für die Angehörigen der kämpfenden Truppe heraus, der – vielleicht gar nicht unbeabsichtigt – zumal auf Mitglieder der zivilen Elite vielfach abstoßend und barbarisch wirken musste. Mutmaßlich gehört in diesen Zusammenhang, dass man unter Honorius das Tragen von Hosen in der Stadt Rom gesetzlich untersagte.499 Dass die Empörung über den habitus barbarus durchaus kontextabhängig war, belegt Sidonius, der in einem Brief das Aussehen eines hochrangigen fränkischen Kriegers und seiner Begleiter voller Bewunderung beschreibt.500 Über den Grund für diese Entwicklung kann man bislang nur Vermutungen anstellen. Zumindest naheliegend erscheint aber ein Zusammenhang mit der Schaffung der militia officialis um das Jahr 300 (u Kap. 10.2). Wenn auf einmal auch Zivilisten und sogar Eunuchen cingulum und Chlamys trugen und als milites galten, lag es für die Angehörigen der militia armata nahe, schrittweise einen eigenen habitus zu entwickeln, der sie von diesen abhob. Mit der Zeit dürfte dies dazu geführt haben, dass sich reichsfremde foederati und reguläre römische Soldaten einander äußerlich immer mehr anglichen. Der in den Quellen so oft erhobene Vorwurf, bei bestimmten Gruppen oder Individuen handle es sich um »Barbaren«, ist daher mit Vorsicht zu behandeln.501 Man hat es hier vor allem mit einem kontextge-
498 499 500 501
Vgl. von Rummel 2007. Cod. Theod. 14,10,2. Sidon. Epist. 4,20. Vgl. Gillett 2009.
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11 Die weströmische Armee
bundenen Kampfbegriff zu tun und sollte stets bedenken, dass die Verfasser der vorliegenden Texte keine Soldaten, sondern Angehörige der zivilen Eliten oder des christlichen Klerus waren.502 Natürlich mussten solche Attacken bis zu einem gewissen Grad ein fundamentum in re haben, um überhaupt die gewünschte Wirkung entfalten zu können. Zweifellos sprachen viele Krieger, die im Dienst des Kaisers kämpften, neben Latein tatsächlich auch die unterschiedlichsten Muttersprachen, vornehmlich wohl germanische Dialekte, aber auch keltische, hunnische, semitische und iranische.503 Die entscheidende, doch kaum abschließend zu beantwortende Frage lautet daher, ob dies in der Zeit zwischen Augustus und Diokletian tatsächlich grundsätzlich anders gewesen war. Hatten die zivilen Eliten in der Spätantike vielleicht einfach mehr mit der Armee zu tun? Mit einer Armee überdies, die zumal in Westrom gegenüber der militia officialis eine zunehmend dominante Rolle spielte und (hilflose) Kritik und Ablehnung darum geradezu herausforderte?
11.3
Ethnogenese
In aller Kürze soll an dieser Stelle ein weiteres Problem angesprochen werden, das mit dem der »Barbarisierung« teilweise zusammenhängt. Was genau unterschied eigentlich einen Römer von einem Barbaren?504 Ethnische Identität ist, wie die Forschung im 20. Jahrhundert herausarbeiten konnte, grundsätzlich eine Konstruktion. Wichtig ist dabei die Selbstzuordnung eines Individuums, wobei Personennamen Indizien sein können, aber nicht müssen. Hinzu kommen Sprache, Bräuche, mit502 Zu beachten ist dabei, dass barbarus im spätantiken Latein auch die Bedeutung »kriegerisch, tapfer, wild« haben konnte und daher nicht notwendig immer einen Nichtrömer bezeichnete; vgl. Steinacher 2016: 363. 503 Man betrachte allein die Vielfalt, die in Justinians Armee in Africa herrschte; vgl. Riedlberger 2010. 504 Vgl. Greatrex 2000.
180
11.3 Ethnogenese
unter auch bestimmte Accessoires und eine bestimmte Religion. Gerade in der Antike war überdies der – in der Regel unzutreffende – Glaube daran, einer Abstammungsgemeinschaft anzugehören, bedeutsam.505 Herkunft war wichtig für die Stiftung einer Gemeinschaft. Und wie die Römer von sich behaupteten, Nachfahren der Trojaner zu sein, so nahmen viele nichtrömische gentes für sich in Anspruch, vor Zeiten aus Skandinavien ausgewandert zu sein. Es ist das Verdienst der »Wiener Schule«, die insbesondere mit dem Namen Herwig Wolfram verbunden ist, der lange Zeit unhinterfragten Vorstellung, es habe sich bei den föderierten Goten, Vandalen, Sueben oder Franken um »Völker« gehandelt, die über Jahrhunderte in gleichsam stabiler Form »gewandert« seien, widersprochen zu haben.506 An die Stelle dieser Vorstellung, mit der oft auch die Annahme einherging, man könne materielle Hinterlassenschaften aus diesem Grund eindeutig bestimmten Völkern zuweisen und daher ihre Wanderungsbewegungen archäologisch ohne weiteres nachweisen,507 trat das Konzept der Ethnogenese. Dahinter steht – grob gesprochen – die Annahme, dass die europäischen Völker des Frühmittelalters erst im Verlauf der Spätantike in einem komplexen Prozess entstanden seien, indem sich um eine Kerngruppe, die einen »Traditionskern« bewahrte, im Falle von Erfolgen immer weitere Menschen formierten, die eine gemeinsame Identität annahmen und zuletzt auch von sich behaupteten, einer Abstammungsgemeinschaft anzugehören.508 Dieser Prozess habe sich im unmittelbaren Vorfeld des Imperiums oder auf seinem Boden abgespielt und sei von den Römern zumindest teilweise bewusst gefördert worden.509 Das Konzept der Ethnogenese ist vielfach und teils mit Recht kritisiert worden,510 doch dürfte zumindest die Grundannahme zutreffen, dass es sich bei den »barbarischen« gentes, die vielfach foedera mit 505 506 507 508 509 510
Vgl. Gruen 2013. Vgl. Wolfram 1990; Pohl 2005. Vgl. Brather 2004. Vgl. die Beiträge in Pohl 1997; Gillett 2002. Vgl. Geary 2002: 115–120. Vgl. Bowlus 1995. Wolfram und seine Schüler gebrauchen den Terminus in späteren Arbeiten in der Regel nicht mehr.
181
11 Die weströmische Armee
dem Römischen Reich eingingen, nicht um unwandelbare, präexistente Einheiten oder Völker handelte, sondern um Verbände, deren Größe fluktuierte und deren Mitglieder sich ihnen teils erst kürzlich angeschlossen hatten. Parallelen zwischen foederati und Söldnertruppen liegen dabei auf der Hand. Prokop berichtet, dass sich in der gotischen Armee, die 552 bei den Busta Gallorum von Narses besiegt wurde, zahlreiche römische Soldaten befanden, die in den Jahren zuvor zu Totila übergelaufen waren.511 Erwähnung verdienen auch die mysteriösen Olibriones, die 451 mit Aëtius gegen Attila kämpften und bei denen es sich um ehemalige römische Soldaten gehandelt haben soll, die sich offenbar zu einem eigenen, unabhängigen Kriegerverband zusammengeschlossen hatten.512 Wenngleich die literarischen Quellen – auch Prokop – suggerieren, die ethnische Identität eines Individuums sei klar zu bestimmen gewesen, ist diese Aussage fraglos oft nicht zutreffend. Dies umso weniger, als ein Mensch durchaus mehrere Rollen, mehrere Identitäten auf sich vereinen kann. Man konnte als Germane zugleich ein stolzer, loyaler Soldat Roms sein. So heißt es in einer berühmten Grabinschrift aus dem 4. Jahrhundert in wackeligem Latein: Francus ego cives Romanus miles in armis. Egregia virtute tuli bello mea dextera sem(p)er.513 »Ein Franke war ich, römischer Bürger und Soldat unter Waffen. Durch herausragende Mannhaftigkeit habe ich im Krieg stets mein Versprechen gehalten.«
So bleibt zweierlei festzuhalten: Objektiv war ethnische Zugehörigkeit auch in der Spätantike keine feststehende, unwandelbare Größe. Wenn ein Franke Römer, ein Römer Gote und ein Grieche Hunne werden konnte, dann kann man nicht ohne Weiteres davon ausgehen, dass es sich bei »vandalischen« oder »westgotischen« foederati um wandernde Völker mit einer stabilen Identität oder gar einem »Volkscharakter« gehandelt hat. Mit der Zeit allerdings wurden die foederati fraglos von einem wachsenden Tross an Frauen und Kindern begleitet, so dass ein 511 Prok. Hist. 8,32,20 f. 512 Iord. Get. 191. Vgl. Scharf 1999 und Wakeley 2018: 14. 513 CIL III 3576.
182
11.3 Ethnogenese
marschierender Verband von foederati einem »wandernden Volk« sicherlich immer ähnlicher wurde. Eine definitive Unterscheidung ist daher oft unmöglich.514 Anders als »Barbar« war ein Begriff wie »Gote« oder »Franke« nicht nur Fremdzuschreibung, sondern Eigenbezeichnung. Subjektiv dürften die meisten Angehörigen dieser Verbände daher sehr wohl der Überzeugung gewesen sein, eine gemeinsame Identität zu besitzen, die nicht zuletzt durch die Treue zu ihrem Anführer, ihrem rex, bestimmt war. Und dies leitet zum zweiten Punkt über: Treue (fides) hatte in der Spätantike für Römer wie Nichtrömer eine große Bedeutung.515 Dies illustriert auch die oben zitierte Inschrift. Wer seine Ehre bewahren wollte, musste seine Versprechen und seinen Eid (sacramentum) halten. Überdies ist Zuverlässigkeit gewissermaßen die Geschäftsgrundlage jedes Söldners. Genau aus diesem Grund überrascht es nicht, dass die »Barbaren« in kaiserlichen Diensten alles in allem nicht weniger loyal gewesen zu sein scheinen als die Römer, im Gegenteil. Dass sie von sich aus ein foedus brachen, so lange derjenige, mit dem sie es geschlossen hatten, noch am Leben war, war, soweit man sehen kann, eine seltene, dann allerdings mitunter sehr folgenreiche Ausnahme. Die gotischen Krieger, die Aëtius dienten, hielten ihm sogar über den Tod hinaus die Treue. An der Aufnahme von Nichtrömern in seine Armee scheint Westrom daher nicht gescheitert zu sein.
514 Vgl. Halsall 2007: 190–194. 515 Vgl. Esders 2006.
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12
Zwischen Krise, Kontinuität und Wandel: Die Wirtschaft
Wenige Aspekte der spätrömischen Geschichte sind in den letzten Jahren so kontrovers diskutiert worden wie die Frage nach den wirtschaftlichen Entwicklungen dieser Zeit. Lange galt es als geradezu selbstverständlich, insbesondere das 5. Jahrhundert als eine Phase des massiven wirtschaftlichen Niedergangs zu betrachten.516 In der Tat beklagen die zeitgenössischen Quellen, wie man gesehen hat, vielfach Zerstörungen; und blickt man auf den archäologischen Befund, so deutet dieser vielerorts ebenfalls auf eine Verarmung der Bevölkerung hin und auf das Verschwinden vieler Dinge, die die materielle Kultur der klassischen Antike ausgemacht hatten.517 Zwar wurden in den Zentren des Weströmischen Reiches, allen voran Ravenna, im 5. und 6. Jahrhundert durchaus noch bedeutende, mit Mosaiken geschmückte Bauwerke errichtet, die zum Weltkulturerbe gezählt werden. Doch abseits davon ist kaum zu leugnen, dass sich die Qualität der Bauten, Inschriften und auch Gebrauchsgegenstände vielerorts dramatisch verschlechterte und die Einwohnerzahlen sanken. Angesichts der kriegerischen Ereignisse dieser Jahre ist dieser Befund nicht grundsätzlich überraschend. Inzwischen kann als gesichert gelten, dass Ostrom im 5. und 6. Jahrhundert keinen ökonomischen Niedergang erlebte, auch wenn einzelne Gebiete von teils gravierenden Krisen und Katastrophen betroffen waren.518 Doch auch für Westrom ist von ganz erheblichen regionalen Unterschieden auszugehen; so erging es Südgallien und, abgesehen von 516 Vgl. Jones 1964: 767–872. 517 Vgl. Ward-Perkins 2005 (teils etwas polemisch). 518 Vgl. Mitchell 2015: 356–379. Vgl. auch Banaji 2007.
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12.1 Die Stadt in der Spätantike
den Zerstörungen im Zusammenhang der vandalischen Eroberung, auch Africa insgesamt wohl deutlich besser als Nordgallien, Britannien oder Hispanien. Bedenkenswert ist die Hypothese, dass es ein weitgehender Zusammenbruch der überregionalen Kontakte gewesen sei, der dazu geführt habe, dass in der Folge auch das von einem recht hohen Grad an Arbeitsteilung und Spezialisierung geprägte Geflecht der römischen Wirtschaft im Westen kollabiert sei: Auf einmal hätten die Menschen lernen müssen, Dinge wieder selbst herzustellen.519 Trifft dies zu, so könnte man die nun unbestreitbar primitivere Lebensweise in vielen Provinzen letztlich auf die Schwäche der Zentralregierung zurückführen, die es nicht mehr vermochte, die pax Augusta aufrechtzuerhalten.
12.1
Die Stadt in der Spätantike
In besonderem Maße konzentriert sich die Forschung der letzten Jahre auf die Frage nach Kontinuitäten und Diskontinuitäten in den spätantiken Städten.520 Spätestens seit der Entstehung der griechischen Polis in archaischer Zeit hatte eine Vielzahl an urbanen Zentren den Mittelmeerraum geprägt.521 Die Gesamtzahl der Städte im Imperium Romanum wird dabei meist auf etwa 2 000 geschätzt. Da sich die antike civitas grundlegend von der mittelalterlichen Stadt unterscheidet, wird insbesondere an ihrem Beispiel intensiv diskutiert, ob es sich um einen graduellen Wandel und eine Transformation gehandelt habe, oder ob die Städte während der Spätantike insgesamt einen massiven Verfall erlebt hätten, so dass die mittelalterlichen Städte, die zunächst vielfach an römische Siedlungen anknüpften, im Grunde einen Neuanfang dargestellt hätten. Die Frage, ob man es mit einem Niedergang oder einem
519 Vgl. Ward-Perkins 2005: 123–137. Man hat für den Westen im 5. Jahrhundert den Ausdruck »local Roman Empire« geprägt; vgl. Brown 2012. 520 Vgl. Krause 2018: 237–263. 521 Vgl. Kolb 1984.
185
12 Zwischen Krise, Kontinuität und Wandel: Die Wirtschaft
bloßen Wandel zu tun hat, stellt sich hier mit besonderer Eindringlichkeit.522 Der Befund ist widersprüchlich: In Grenznähe, wo angesichts der Schwäche der Zentralregierung verstärkt mit Angriffen plündernder Gruppen zu rechnen war, erlebten die Städte früh einen kaum zu leugnenden Niedergang; Köln und Trier konnten ihren Wohlstand allerdings recht lange bewahren.523 Insgesamt setzte in Gallien, das ohnehin über vergleichsweise wenige Städte verfügte, aus archäologischer Sicht früh eine deutliche Verschlechterung ein, während aber zugleich unübersehbar ist, dass viele civitates bis ins 6. Jahrhundert weiterhin bedeutende Rollen spielten.524 Arles und andere südgallische Gemeinden scheinen lange Zeit prosperiert zu haben. Für die zahlreichen Städte im von den Vandalen kontrollierten Africa lässt sich, wie gesagt, weder anhand des archäologischen noch des epigraphischen Befundes ein signifikanter ökonomischer Niedergang konstatieren.525 Nahm man früher an, dass sich die Oberschichten in der Spätantike zumeist aufs Land zurückgezogen hätten, so gilt dies angesichts der Existenz prächtiger Stadthäuser heute als widerlegt. Man hat vorgeschlagen, diese repräsentativen Gebäude als Ausdruck eines Wettkampfs um clientes zu verstehen, ähnlich wie in früheren Epochen.526 Andererseits sind strukturelle Veränderungen kaum zu leugnen, die zumindest teilweise auch mit der Durchsetzung des Christentums in Verbindung stehen dürften. So ist vermutet worden, christliche Heiligenmemoria habe die herkömmlichen Mechanismen des städtischen Euergetismus (»Wohltätertum«), die jahrhundertelang wesentlich für den Bau und Erhalt öffentlicher Gebäude verantwortlich gewesen waren, schrittweise ausgehebelt, was dazu beitrug, den Charakter der Städte zu verändern.527 In gewisser Hinsicht allerdings stärkte die Christianisierung die Rolle der civitas-Hauptorte, da sie oft als Bi522 Vgl. insbesondere Liebeschuetz 2001; Krause/Witschel 2006; Witschel 2008; Christie 2011: 112–141. 523 Vgl. Kolb 1984: 230–238. 524 Vgl. Loseby 2006. 525 Vgl. Lepelley 2006. 526 Vgl. Bowes 2010. 527 Vgl. Diefenbach 2007.
186
12.1 Die Stadt in der Spätantike
schofssitze zu religiösen Zentren wurden. Nun wurden immer mehr Kirchen errichtet, und daneben gewannen Mauern erheblich an Bedeutung, während zuvor typische Bauten wie Theater, Kolonnaden und Basiliken (Markthallen) seltener errichtet wurden und teils verfielen. Die städtische Topographie wandelte sich.528 Bäder blieben vielerorts recht lange beliebt, während die Foren (Marktplätze) zum Beispiel in Nordafrika im 5. Jahrhundert oft aufhörten, in der bisherigen Weise genutzt zu werden. Dass die Städte seit dem 4. Jahrhundert nur noch eingeschränkt über ihre Einkünfte verfügen konnten und sich die einstige Ehre, zu den curiales zu zählen, vielfach in eine Last verwandelt hatte, wurde bereits geschildert. Hierbei scheint eine Rolle gespielt zu haben, dass gerade die reichsten und mächtigsten Mitglieder der Stadträte die Möglichkeit nutzten, in kaiserliche Dienste zu treten und so von vielen Verpflichtungen befreit zu werden. Damit rückten weniger wohlhabende Familien nach, die den finanziellen Belastungen oft nicht gewachsen waren, was die curia weiter schwächte. Eine Reihe von Gesetzen legt den Schluss nahe, dass ärmere curiales nun mitunter ihr Heil in der Flucht suchten.529 Die mit weitem Abstand größte Stadt des Hesperium Imperium war lange Rom. Zu Beginn der Spätantike wird die Ewige Stadt noch immer etwa 1 000 000 Einwohner gezählt haben; als sie im Verlauf des 4. Jahrhunderts endgültig aufhörte, ständige Residenz der Kaiser zu sein, setzte ein langsamer Bevölkerungsrückgang ein, doch 395 dürften noch immer bis zu 800 000 Menschen am Tiber gelebt haben.530 Die anschließenden Wirren, darunter natürlich die drei Belagerungen durch Alarich und die wiederholte Unterbrechung der Getreidelieferungen aus Africa, von denen Rom abhängig war, scheinen zu einem demographischen Einbruch geführt zu haben. Als 419 die Getreide-
528 Vgl. Prinz 2000: 275–288. 529 Cod. Theod. 12,1,63; Cod. Theod. 12,19,1. Vgl. Krause 2010: 448. 530 Amm. 14,6,4–25. Unter Honorius, der nahe St. Peter ein Mausoleum errichten ließ (ILS 800), scheint Rom zudem als Begräbnisstätte der kaiserlichen Familie gedient zu haben, und die Mauern der Stadt wurden verstärkt; CIL VI 1188–1190.
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12 Zwischen Krise, Kontinuität und Wandel: Die Wirtschaft
spenden (annona civica) an die plebs urbana neu geregelt wurden, scheint die Stadt noch etwa 500 000 Einwohner gezählt zu haben. Ein Teil der 410 zerstörten Gebäude wurde wieder aufgebaut.531 Doch insbesondere seit 439, als Geiserich Karthago einnahm, und nach 455 setzte dann ein rapider Bevölkerungsschwund ein.532 Dabei ist bemerkenswert, dass nun notgedrungen Italien selbst wieder einen immer größeren Anteil an der Versorgung der alten Hauptstadt übernehmen musste. Hier wurde in der Spätantike wieder viel Getreide angebaut. Bereits im 4. Jahrhundert hatte man zudem begonnen, verstärkt Vieh zu züchten. Kaiser wie Valentinian III. und Anthemius scheinen bewusst versucht zu haben, sich auf die plebs urbana Roms zu stützen. Aber die Stadt war viel schlechter zu verteidigen als Konstantinopel. Unter den Ostgoten, als sich die Verhältnisse stabilisiert hatten, lebten in Rom dann wohl noch etwa 100 000 Menschen; doch während der Kämpfe zwischen Witigis, Totila und den Oströmern wurde die Stadt, deren 14 Aquädukte nun durchtrennt wurden, schwer in Mitleidenschaft gezogen. Totila soll sogar erwogen haben, Rom ganz zu zerstören.533 Nach 550 hatte die Stadt wohl keinesfalls mehr als 50 000 Einwohner. Zumindest eine kurze Erwähnung verdient schließlich auch Ravenna. Ob es wirklich nur Sicherheitserwägungen waren, die den weströmischen Hof 402 dazu bewogen, von Mailand nach Ravenna zu wechseln, sei dahingestellt. Die strategische Lage der Stadt war fraglos sehr günstig, da sie von Gewässern und Sümpfen umgeben war, die eine Belagerung erschwerten. Zudem verfügte sie über einen ausgezeichneten Hafen, der früher einer der Hauptstützpunkte der römischen Flotte gewesen war und noch immer eine rasche Kommunikation mit dem östlichen Hof ermöglichte – und notfalls auch eine Flucht nach Konstantinopel.534 Der Hafen war es auch, über den im 5. und 6. Jahrhundert exotische Waren und Kostbarkeiten ihren Weg nach Italien
531 532 533 534
188
Vgl. Christie 2011: 146. Vgl. Lançon 2000: 14 f. Prok. Hist. 7,22,8–17. Vgl. Christie 2011: 153–156.
12.2 Die Landwirtschaft
fanden. Die theodosianische Dynastie verewigte sich im Stadtbild ebenso wie später die Ostgoten; in gewisser Hinsicht scheint Ravenna baulich mit Konstantinopel konkurriert zu haben, auch wenn von den säkularen Gebäuden aus dieser Zeit heute fast nichts mehr erhalten ist.535
12.2
Die Landwirtschaft
Wie in allen vorindustriellen Gesellschaften war auch in Westrom die Landwirtschaft der mit weitem Abstand wichtigste Erwerbszweig.536 Die Oberschichten bezogen ihr Einkommen zum größten Teil aus der Grundrente, desgleichen der Kaiser und die Kirche. Die wichtigsten Produkte waren Weizen, Bohnen, Oliven und Wein; bedeutend waren daneben Schweine- und Viehzucht. Wie gravierend das wiederholt in den Quellen erscheinende Problem des aufgegebenen Nutzlandes (agri deserti) war, ist unklar; man kann aber mit großen regionalen und zeitlichen Schwankungen rechnen.537 In jüngerer Zeit wird überdies verstärkt die Rolle diskutiert, die Klimaverschlechterungen im Zusammenhang der Entwicklung der spätantiken Agrikultur gespielt haben könnten.538 Der größte Teil des Bodens befand sich in der Hand des Kaisers, der Kirche oder der Großgrundbesitzer. Insbesondere die weströmische Senatsaristokratie besaß oft riesige Ländereien, die über das ganze Reich verteilt waren und von Verwaltern oder Pächtern bearbeitet wurden. Olympiodor berichtet, senatorische Familien in Rom hätten auf diese Weise gewaltige Einkünfte in Höhe von mehreren tausend Pfund Gold pro Jahr erwirtschaftet.539 Daneben gab es nach wie vor
535 536 537 538 539
Vgl. allgemein Mauskopf Deliyannis 2010. Vgl. Demandt 2007: 388–404; Krause 2018: 273–283. Vgl. Krause 2010: 453. Vgl. Harper 2017: 119–159 und 246–287. Olymp. Frg. 41,2 (Blockley).
189
12 Zwischen Krise, Kontinuität und Wandel: Die Wirtschaft
auch unabhängige, freie Kleinbauern, wobei schwer einzuschätzen ist, wie zahlreich und bedeutsam diese waren, da sie in den Quellen kaum Spuren hinterlassen haben. Anders als oft vermutet wird, war zudem auch in der christlichen Spätantike die Sklaverei weder verschwunden noch unbedeutend.540 Doch die auffälligste und in den spätantiken Gesetzen am häufigsten behandelte Beziehung zwischen dem Grundeigentümer und seinen Arbeitskräften war das so genannte Kolonat. Ursprünglich bezeichnete colonus ganz einfach einen Ackerbauern, und diese Wortbedeutung blieb bis in justinianische Zeit weiterhin möglich. In der modernen Forschung hingegen versteht man unter Kolonen meist Personen, die an den Boden gebunden waren, den sie zu bearbeiten hatten, da dessen Eigentümer für ihre capitatio aufkam (coloni adscripticii). Offenbar verschlechterte sich ihre Rechtssituation zunehmend und näherte sich vielfach der Sklaverei an, von der sie aber bis zuletzt ausdrücklich unterschieden wurde. Es scheint allerdings eine Vielzahl von unterschiedlichen Rechtsformen gegeben zu haben; und ungeachtet mehrerer erhaltener Edikte,541 die sich mit dem Kolonat befassen, ist bislang nicht davon auszugehen, dass es wirksame reichseinheitliche Regelungen gab. Wie bedeutsam das Kolonat tatsächlich war, ist daher schwer einzuschätzen, und es wurde sogar vermutet, dass man es im Grunde mit einem Forschungsmythos zu tun habe.542 Als im Verlauf des 5. Jahrhunderts deutlich wurde, dass die weströmische Regierung immer mehr an Autorität und Durchsetzungsfähigkeit verlor, kam es zu einem Phänomen, das man meist als Patroziniumsbewegung bezeichnet.543 Die Beziehung zwischen patronus und cliens hatte die römische Gesellschaft seit der Frühzeit geprägt; und in der Spätantike kam wieder der alte Begriff patrocinium auf. Damit war nun gemeint, dass sich Landbewohner in teils weitreichende Abhängigkeit vom Patron begaben, um im Gegenzug vor plündernden
540 Vgl. MacMullen 1987; Krause 2018: 285–292. Augustinus erwähnt um 420 einen blühenden Sklavenhandel; August. Epist. 10,2. 541 Cod. Iust. 11,48,23,2. Vgl. Jones 1964: 795–803. 542 Vgl. Goffart 1974; Carrié 1982; Mirkovic 1997; Schipp 2009. 543 Vgl. Andersen 1984; Krause 1987.
190
12.2 Die Landwirtschaft
Kriegern beschützt zu werden, aber auch vor Repräsentanten der Regierung, die die annona eintreiben oder Rekrutierungen vornehmen wollten.544 Salvian von Marseille beklagte um 450, dass die patroni die Not der Abhängigen oftmals ausnutzten, um deren Besitz an sich zu bringen.545 Das mag, der Intention des Werkes geschuldet, teilweise übertrieben sein. Aber fraglos war die Patroziniumsbewegung ein Symptom dafür, dass sich der Zugriff der Zentrale auf die Provinzen so sehr lockerte, dass Privatpersonen nicht nur ihre Aufgaben usurpierten, sondern es sogar wagen konnten, sich gegen ihre Repräsentanten zu stellen. Auch dass Bagauden und Circumcellionen jahrelang plündernd umherziehen konnten, verdeutlicht die Schwäche der Regierung. Die mitunter vertretene Position, das patrocinium markiere eine Vorstufe zum mittelalterlichen Feudalismus,546 ist allerdings schon allein deshalb problematisch, weil die Forschung in den letzten Jahren zunehmend annimmt, dass sich eine Feudalgesellschaft – wenn überhaupt – nicht vor dem Hochmittelalter entwickelt hat.547 Von einer Kontinuität ist daher kaum auszugehen. Die Frage nach den Besitzverhältnissen in den von foederati kontrollierten Gebieten schließlich ist Gegenstand einer intensiven Forschungsdebatte, die hier nur kurz angerissen werden kann. Lange Zeit wurde allgemein angenommen, dass die Krieger nach Abschluss der entsprechenden foedera anfangs auf ähnliche Weise wie reguläre römische Soldaten einquartiert worden seien, wobei man als rechtliche Grundlage ein Gesetz vermutete,548 das 398 erlassen worden war und die hospitalitas (»freundliche Aufnahme«) regelte: »Die Kaiser Arcadius und Honorius: Um jegliche Ungerechtigkeit zu vermeiden, die Einquartierte oder Gastgeber erleiden könnten in einer Gemeinde, in der Wir oder Unsere Soldaten sich aufhalten, befehlen Wir, dass der Eigentümer zwei Drittel seines Besitzes behalten muss, während das verbleibende Drittel der Bewirtung der Gäste zu dienen hat. Sobald ein Haus derart
544 Die Kanzlei Kaiser Majorians beklagte 458 in einem Gesetz, dies gelte sogar für curiales; Nov. Maior. 7. 545 Salv. gub. dei 5,35–46. 546 Vgl. Demandt 2007: 404. 547 Vgl. Reynolds 1994. 548 Cod. Theod. 7,8,5 = Cod. Iust. 12,40,2.
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12 Zwischen Krise, Kontinuität und Wandel: Die Wirtschaft
gedrittelt worden ist, soll der Eigentümer das Recht haben, das erste Drittel zu wählen, daraufhin darf der Gast wählen, und das verbleibende Drittel soll wiederum dem Gastgeber zufallen.«
Man nahm an, dass man diese Regelung in modifizierter Form angewandt habe, um den föderierten Verbänden ein Drittel des Landes in den betreffenden Gebieten zuzuweisen. Diese bereits im 19. Jahrhundert von Ernst Theodor Gaupp formulierte Position hat, bei Abweichungen im Detail, bis heute zahlreiche Verfechter. Bereits früh wurde sie dahingehend modifiziert, dass den foederati oft nicht das Land, sondern nur dessen Erträge zugesprochen worden seien. Als Quellengrundlage dienen dabei vor allem die Regelungen zu den Burgundern und Ostgoten. Diese und ähnliche Hypothesen werden seit 1980 von Walter Goffart und anderen vehement bezweifelt. Goffart machte unter anderem darauf aufmerksam, dass in den Quellen nur selten von Widerstand gegen die faktische Enteignung die Rede sei, und bezweifelte zudem, dass das Gesetz von 398 tatsächlich auf die foederati angewandt worden sei. Er und die Anhänger seiner Position vertreten dagegen die Hypothese, dass zwar in der Tat eine Drittelung vorgenommen worden sei, allerdings nicht etwa eine Aufteilung des Landes, sondern vielmehr des Steueraufkommens. Die foederati bekamen demnach ein Drittel der Steuereinnahmen einer Region zugesprochen, um damit ihre annona zu bestreiten. Da sich aus dieser Regelung für die Eigentümer der Ländereien, die ihre Abgaben weiter wie zuvor entrichteten, daher zunächst keine spürbaren Konsequenzen ergeben hätten, erkläre dies die Abwesenheit von Widerstand. Gegen Goffarts These wurde insbesondere eingewendet, dass die Quellen in aller Regel eben nicht von Steueranteilen, sondern ausdrücklich von Land sprechen.549 Goffart hat seine Argumentation in jüngerer Zeit noch einmal verteidigt und weiter verfeinert,550 doch bis auf weiteres stehen sich die Anhänger beider Positionen gegenüber, ohne dass ein Konsens in Sicht wäre.551
549 Vgl. Cesa 1982; Barnish 1986. 550 Vgl. Goffart 2013. Vgl. auch Durliat 1990: 95–188. 551 Vgl. Heather 2005: 423 f.; Goffart 2006; Goffart 2010; Halsall 2010.
192
12.3 Gewerbe und Handel
12.3
Gewerbe und Handel
Obwohl die Gesamtzahl der bezeugten Handwerksberufe in der Spätantike zurückgeht, kann man zumindest für die größeren Städte noch immer von einer erheblichen Vielfalt an teils hochspezialisierten Berufen ausgehen. Bekannt sind über 280.552 In der Regel waren die Ladenbesitzer und Handwerker in »Zünften« (collegia) organisiert, die insbesondere für das Steueraufkommen der Mitglieder verantwortlich waren. Wie bei coloni und Soldaten verordnete man auch bei vielen für wichtig erachteten Handwerken eine erbliche Bindung an den Beruf des Vaters, und ähnlich wie im Fall der curiales scheinen auch collegiati nach Ausweis der Gesetze des Öfteren versucht zu haben, sich ihren Verpflichtungen zu entziehen. Die ökonomische Lage der Handwerker scheint daher oft prekär gewesen zu sein, doch gab es daneben auch größere Manufakturen, in denen Sklaven die meiste Arbeit verrichteten. Diese Betriebe stellten zum Beispiel in recht großen Mengen Textilien her; am bedeutendsten aber war Töpferware. Seit dem 3. Jahrhundert dominierte dabei eine von Archäologen als African red slip ware bezeichnete Keramik aus Nordafrika den Markt, die auch in vandalischer Zeit noch bis Britannien exportiert wurde. Blickt man auf die Zahl der gefundenen antiken Schiffswracks, so scheint der auf dem Seeweg abgewickelte Fernhandel im 4., 5. und 6. Jahrhundert insgesamt zwar einen deutlich geringeren Umfang als im Hellenismus und der frühen Kaiserzeit erreicht zu haben. Gerade abseits der größeren Zentren scheint man nun wieder stärker auf sich gestellt gewesen zu sein. Dennoch bestand grundsätzlich weiterhin Austausch zwischen fast allen Regionen des Imperium Romanum, eingeschlossen Britannien.553 Die Getreidetransporte von Africa nach Italien wurden bereits wiederholt erwähnt, doch auch Luxuswaren aus dem Orient gelangten durchaus noch bis nach Westrom. Gemeinsam mit Gesandtschaften554 bildeten Händler (negotiatores) dabei gerade 552 Vgl. Demandt 2007: 404–421. 553 Vgl. Reynolds 1995; McCormick 2001; Christie 2011: 191–209. 554 Vgl. Gillett 2003.
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12 Zwischen Krise, Kontinuität und Wandel: Die Wirtschaft
für entlegenere Teile des Reiches vielfach die wichtigste Quelle für Informationen. So bezeugt Hydatius, dass oströmische Fernhändler im 5. Jahrhundert in Hispanien tätig waren und neben Waren auch begehrte Kunde über den Rest der römischen Welt mit sich brachten.555 Erst im 7. Jahrhundert ist hier ein wirklich dramatischer Einbruch zu beobachten, den heute allerdings kaum noch ein Forscher mit dem Aufkommen muslimischer Seeräuber erklären würde, wie es einst Henri Pirenne tat.556
555 Hydat. Chron. 170 (Mommsen 177). 556 Vgl. Moorhead 2013: 274–283.
194
13
Religiöse Entwicklungen
Die langfristig wohl folgenreichste Entwicklung, die sich während der Spätantike vollzog, war die weitgehende Durchsetzung des christlichen Monotheismus.557 Noch um 300 waren die Christen im Imperium Romanum eine kleine Minderheit, die bei starken regionalen Schwankungen kaum mehr als 5–10 % der Bevölkerung ausgemacht haben dürfte. Die meisten Gemeinden befanden sich zudem nicht im Westen, sondern im griechischen Osten des Reiches. Ein Grund, warum ihre Anzahl so schwer zu schätzen ist, ist dabei darin zu sehen, dass sich die Vorstellung, die Verehrung des christlichen Gottes sei notwendig exklusiv, anfangs wohl noch nicht allgemein durchgesetzt hatte. Wer Christ war, ist nicht zuletzt eine Definitionsfrage. Um die Mitte des 3. Jahrhunderts war es zu reichsweiten Verfolgungen gekommen, die Kaiser Gallienus 260 faktisch beendet hatte. Nach über vier Jahrzehnten ordnete Diokletian 303 noch einmal eine Christenverfolgung an, die überraschend kam und daher umso mehr Schrecken erregte. Sie wurde 311 von Galerius beendet, und mit der Entscheidung Konstantins, ab 312 eine zunehmend systematische Förderung des Christentums zu veranlassen, trat binnen weniger Jahrzehnte ein vollkommener Umschwung ein. Nach einer kurzzeitigen Renaissance der alten Religionen unter Kaiser Julian gerieten die Nichtchristen immer mehr in die Defensive, bis der praefectus urbi Symmachus 384 nur noch versuchen konnte, seinerseits um Toleranz und Respekt gegenüber den alten Göttern zu bitten.558 Dies wurde ihm von der Regierung Valentinians II. auf Drängen des Bischofs 557 Vgl. Jones 1964: 873–985; Brenk 2003 (archäologische Studie). 558 Symmach. rel. 3,9 f.
195
13 Religiöse Entwicklungen
Ambrosius von Mailand allerdings verweigert. Als Honorius 395 die Herrschaft in Westrom übernahm, war die Ausübung der wichtigsten nichtchristlichen Praktiken daher bereits verboten.559
13.1
Christen und Nichtchristen
Das Gegensatzpaar »christlich« versus »heidnisch« oder »pagan« ist grundsätzlich problematisch; nicht so sehr, weil zumindest »heidnisch« ein eher negativ besetzter Begriff ist, sondern deshalb, weil es sich vollständig einer Perspektive anpasst, nach der es nur Christen und »alle anderen« gibt.560 Damit werden die sehr vielfältigen nichtchristlichen Religionen auf ein einziges gemeinsames Merkmal reduziert, eben darauf, nicht christlich zu sein. Trotz mancherlei berechtigter Kritik ist es in der Forschung aber dennoch nach wie vor üblich, als »Heiden« oder »Pagane« alle Anhänger von in aller Regel grundsätzlich polytheistischen Religionen und Kulten zu bezeichnen – schon allein aufgrund des Mangels an sinnvollen Alternativen.561 Zu diesen Heiden zählten natürlich insbesondere die Anhänger der traditionellen römischen Religion, die Jupiter, Merkur, Apollo oder Juno verehrten.562 Ob die Pflege dieser Kulte, wie oft vermutet wird, bereits während der Prinzipatsepoche an Vitalität verloren hatte, lässt sich nicht pauschal beantworten. Immerhin versprachen sich Diokletian und seine Mitkaiser offenbar noch einen Vorteil davon, sich demonstrativ unter den Schutz von Jupiter und Herkules zu stellen. Die meisten nichtchristlichen Religionen – die prominentesten Ausnahmen waren der Manichäismus und das Judentum – schlossen die Verehrung
559 Einen Überblick über die religiösen Entwicklungen bietet Krause 2018: 293–357. 560 Vgl. Leppin 2008: 62 f. 561 Vgl. McLynn 2009; Cameron 2010: 19–24. 562 Die derzeit beste Einführung bietet Scheid 2003.
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13.1 Christen und Nichtchristen
bzw. Existenz anderer Gottheiten ohnehin nicht grundsätzlich aus. Wer Isis, Sol Invictus, Mithras oder Serapis verehrte, konnte durchaus auch dem Jupiter opfern, ohne damit seinen Glauben zu verraten. Es hat den Anschein, als sei um das Jahr 400 allen bewusst gewesen, dass die Christen »gewonnen« hatten. Die offizielle Religion der Kaiser, und mithin die des Reiches, war nun das »katholische« Christentum, dessen Glaubensbekenntnis 381 auf einem Konzil in Konstantinopel formuliert worden war. Im sechzehnten und letzten Buch des Codex Theodosianus sind unter dem Titel »Über Heiden, Opfer und Tempel« 25 Gesetze versammelt, die insbesondere Opfer und Eingeweideschauen verbieten. Stilicho soll um 407 angeordnet haben, die Sibyllinischen Bücher zu vernichten, was bei den Altgläubigen für Verbitterung sorgte.563 Teils kam es auch zu Tempelzerstörungen, oft gegen den Wunsch der Regierung.564 399 ließen allerdings die Statthalter des Honorius in Karthago die Tempel niederreißen, vielleicht im Zusammenhang mit der Revolte Gildos.565 Doch insgesamt blieben Gewaltmaßnahmen gegen Nichtchristen in Westrom zunächst eher eine Ausnahme. Die Kaiser begnügten sich meist damit festzustellen, dass es im Römischen Reich nur noch Christen gebe. Auch der Kirchenvater Hieronymus beteuerte um 400, das Kapitol und die übrigen Tempel Roms seien inzwischen mit Spinnweben und Schmutz bedeckt, und das Heidentum sei nur noch eine unwichtige Randerscheinung.566 Führt man sich allerdings vor Augen, wie begrenzt die Möglichkeiten des römischen Staates waren, Gesetze in der Weite des Reiches tatsächlich durchzusetzen, kommt der Verdacht auf, dass Hieronymus und die Kaiser hier zumindest teilweise einem Wunschdenken Ausdruck verliehen. Es ist seit langer Zeit umstritten, wie verbreitet und widerstandsfähig das Heidentum in der Spätantike war.567 Die gängige Annahme, es habe insbesondere in Senatskreisen bis ins frühe 5. Jahrhundert eine
563 564 565 566 567
Rut. Nam. 2,51–60. Vgl. Hahn 2011. August. Civ. Dei 18,54. Hieron. Epist. 107,1 f. Vgl. McLynn 2009: 572 f.
197
13 Religiöse Entwicklungen
organisierte, einflussreiche heidnische Gruppierung gegeben, die sich der Christianisierung entgegengestemmt habe, ist in jüngster Zeit vehement bezweifelt worden.568 Fest steht aber, dass es im 5. Jahrhundert in Westrom in allen Gesellschaftsschichten und allen Regionen des Reiches durchaus noch Nichtchristen gab. Rutilius Namatianus etwa äußerte sich um 416 abfällig über die christlichen Mönche und Einsiedler, die, von Furien besessen, Götter und Menschen verlassen und sich im Wahnsinn ein unwürdiges Asyl suchen würden.569 Stilichos Hofdichter Claudian scheint ebenfalls Heide gewesen zu sein, jedenfalls enthalten seine Werke zahlreiche Hinweise auf die alte Religion, aber keinen auf das Christentum – doch es ist nicht auszuschließen, dass dies lediglich literarischer Konvention geschuldet war. Überhaupt ist es schwierig zu entscheiden, wann das Beharren auf nichtchristlichen Bräuchen und Praktiken noch authentischer Ausdruck einer abweichenden Religiosität ist, und ab wann es als bloßes Festhalten an Traditionen gelten kann. Der römische Bischof Leo beklagte 451 in einer Predigt, dass sich noch immer viele Gläubige morgens vor der Messe in der Peterskirche vor der aufgehenden Sonne verneigten,570 doch fraglos handelte es sich bei diesen dennoch um Christen, nicht um Verehrer von Sol Invictus. Anders hingegen verhielt es sich noch längere Zeit mit jenen Landbewohnern, die in einigen Regionen Westroms an ihrer alten Religion und an den verbotenen Opfern festhielten. Insgesamt hatten sich regionale kulturelle Besonderheiten in der Landbevölkerung viel stärker erhalten als in den Städten, und dies wurde nun auch in religiöser Hinsicht deutlich. Maximus von Turin erwähnt um 410 rauchende Altäre, und fast 200 Jahre später sollte Gregor der Große anordnen, die noch immer zahlreichen Nichtchristen Sardiniens mit Prügel, Folter und Kerkerhaft zur Taufe zu zwingen.571 Als einzige nichtchristliche Religion blieb das Judentum in Westrom offiziell geduldet. 399 wurde den Juden zwar die Eintreibung der Patriarchensteuer verboten, da sie Ausdruck eines unwürdigen »Aberglau-
568 569 570 571
198
Vgl. Cameron 2010: 131. Rut. Nam. 1,518–522. Leo serm. 27,4. Max. Tur. serm. 107; Greg. Epist. 9,204. Vgl. Ghetta 2016.
13.2 Konflikte und Identitäten
bens« (superstitio) sei, doch bereits 404 wurde der Erlass aufgrund kaiserlicher clementia wieder aufgehoben. 412 erließ Honorius dann ein Gesetz, in dem das Recht der Juden, sich zu versammeln, ausdrücklich bestätigt wurde, und verbot zudem, sie an ihren Feiertagen zu öffentlichen Verpflichtungen heranzuziehen; die Privilegien, die ihnen frühere Kaiser gewährt hätten, sollten nicht angetastet werden.572 Insgesamt verschlechterte sich die rechtliche Stellung der Juden im weiteren Verlauf der Spätantike zwar, und wiederholt kam es zu gewalttätigen Ausschreitungen,573 dennoch blieb ihre Religion erlaubt.574
13.2
Konflikte und Identitäten
Gleich zu Beginn ihrer Herrschaft über das Imperium Romanum erließen Honorius und Arcadius 395 ein gemeinsames Gesetz, das die Politik ihres Vaters Theodosius I. bestätigte und bekräftigte, jeder, der in einem noch so unbedeutenden Punkt vom Urteil und Pfad der katholischen Religion abweiche, sei ein Häretiker.575 Da für das Christentum die Orthodoxie, also die »rechte Lehre«, von entscheidender Bedeutung für das Seelenheil ist, kam es früh zu dogmatischen Streitigkeiten. Diese wurden zwar im griechischen Osten des Imperiums aus vielfältigen Gründen erbitterter geführt als im Westen, dennoch waren die religiösen Konflikte innerhalb des Christentums für die Zeit nach 395 auch hier zweifellos weitaus wichtiger als die Auseinandersetzung mit der rasch sinkenden Zahl von Nichtchristen.576 Auffällig ist dabei die Tendenz, die Konflikte auch gewaltsam auszutragen, was die christli-
572 Cod. Theod. 16,8,14; Cod. Theod. 16,8,17; Cod. Theod. 16,8,20. 573 So berichtet etwa Severus von Menorca (de convers. Iud. 3,6–13,13) geradezu stolz von der Zerstörung einer Synagoge in Magona. 574 Vgl. Noethlichs 2001. 575 Cod. Theod. 16,5,28. 576 Vgl. Krause 2018: 347–357.
199
13 Religiöse Entwicklungen
chen Kaiser, die ja eigentlich den inneren Frieden im Reich zu gewährleisten hatten, vor erhebliche Probleme stellte.577 Um 420 listete Augustinus von Hippo in De haeresibus ad Quodvultdeum 88 christliche »Irrlehren« auf. Die für die weströmische Geschichte wichtigsten Häresien waren dabei der Donatismus, der Arianismus, der Pelagianismus und der Priscillianismus. Es versteht sich fast von selbst, dass es sich hierbei um polemische Bezeichnungen handelt, die diesen Bewegungen von ihren Gegnern gegeben wurden. Aus Gründen der Verständlichkeit sollen sie hier dennoch ebenso beibehalten werden wie der natürlich ebenfalls problematische Ausdruck »Häresie«. Der Donatismus entstand im frühen 4. Jahrhundert in Africa, als in der Kirche von Karthago ein Konflikt darüber eskalierte, ob der aktuelle Bischof rechtmäßig geweiht worden sei. Seine Gegner warfen ihm vor, an seiner Weihe sei ein traditor beteiligt gewesen, also jemand, der während der Verfolgungszeit christliche Objekte und Schriften ausgeliefert habe. In der afrikanischen Kirche gab es seit langem eine Strömung, die die Gültigkeit heiliger Handlungen von der Würdigkeit der Beteiligten abhängig machen wollte. Man sollte sich daher davor hüten, die religiösen Entwicklungen der Spätantike nur funktionalistisch zu interpretieren, denn persönliche Spiritualität lässt sich rational oder machtpolitisch nicht hinreichend erklären. Es ist allerdings auffällig, dass der Streit in dem Moment eskalierte, als der Kaiser 312 befahl, den christlichen Gemeinden ihr Eigentum zurückzugeben, denn nun bekam die Frage, wer der rechtmäßige Bischof sei, auch eine erhebliche praktische Bedeutung.578 Nachdem mehrere Synoden gegen die Gegner des Bischofs, die man nach einem ihrer Anführer Donatisten nannte, entschieden hatten, schwelte das Schisma weiter, obwohl die Kaiser teils gewaltsam einschritten. Besonders auf dem Land gingen in Africa so genannte Circumcellionen (»Herumtreiber«) ihrerseits plündernd gegen NichtDonatisten vor.579 Der Konflikt zog sich schließlich über Jahrzehnte
577 Vgl. Gaddis 2005; Gotter 2011. 578 Die Bedeutung von Besitzfragen für den Ausbruch der Konflikte betont Optatus von Mileve (contra Donat. 1,15–19). 579 Vgl. Shaw 2004.
200
13.2 Konflikte und Identitäten
hin. 411 fand auf Befehl des Honorius in Karthago ein Religionsgespräch (conlatio Carthaginiensis) zwischen romtreuen und donatistischen Geistlichen statt, an das sich 412 erneute Verfolgungsmaßnahmen anschlossen.580 Es geschah im Rahmen dieser Auseinandersetzungen, dass Augustinus einen für das christliche Mittelalter folgenreichen Sinneswandel durchmachte: Hatte er anfangs die Vorstellung abgelehnt, es seit nützlich oder erlaubt, im Rahmen religiöser Streitigkeiten Zwang anzuwenden, so berief er sich später auf eine berühmte Stelle der lateinischen Bibelübersetzung, in der es heißt: »Zwingt sie, einzutreten« (cogite intrare).581 Augustinus legte diese durchaus fragwürdig aus dem Griechischen übersetzte Passage dahingehend aus, dass es erlaubt sei, Häretiker zur Annahme des »richtigen« Glaubens zu nötigen, da dies nur zu ihrem eigenen Besten geschehe. Eltern würden ihre unvernünftigen Kinder schließlich auch zu Dingen zwingen, die gut für sie seien.582 Damit aber war im Grunde eine Legitimation religiöser Gewalt im Namen des rechten Glaubens formuliert. In Hinblick auf den Donatismus allerdings blieb Augustinus’ Kurswechsel weitgehend folgenlos; die Häresie ging erst im 7. Jahrhundert unter, als die Araber Africa eroberten. Während der Donatismus weitgehend auf Nordafrika beschränkt blieb, war der Arianismus für ganz Westrom bedeutsam. Was die Arianer von den meisten Christen unterschied, war, vereinfacht gesprochen, die Ablehnung der Trinität und der Göttlichkeit Jesu. Es gab allerdings eine Vielzahl von arianischen bzw. homöischen Glaubensbekenntnissen. Sie alle wurden 381 endgültig als häretisch verdammt. Entscheidend ist, dass die meisten germanischen gentes und foederati danach weiterhin dem arianischen Christentum anhingen.583 An diesem Beispiel lässt sich daher besonders gut erkennen, dass die Religion bzw. Konfession identitätsstiftend wirken konnte. Das vom
580 Cod. Theod. 16,5,52. Vgl. Wickham 2009: 76 f. 581 Luk. 14,23. 582 August. Epist. 93,5.17; August. contra Gaudent. 1,28. Vgl. Cazier 1998; Fuhrer 2004: 38–43. 583 Vgl. Berndt/Steinacher 2014.
201
13 Religiöse Entwicklungen
jeweiligen Kaiser vertretene Glaubensbekenntnis anzunehmen, kam einer Anerkennung seiner Oberhoheit zumindest nahe. Die Entscheidung der reges, entweder selbst die Konfession der zumeist »katholischen« römischen Provinzialen anzunehmen, wie dies Chlodwig und 589 schließlich auch die Westgoten taten, oder aber am Arianismus als Distinktionskriterium festzuhalten und die Katholiken teils sogar zu verfolgen, war daher von kaum zu überschätzender politischer Bedeutung. Umgekehrt konnten die Kaiser Angriffe auf arianische reges mitunter religiös legitimieren.584 Allerdings ist die Beziehung zwischen einer Gruppenidentität und einem bestimmten religiösen Bekenntnis natürlich hochkomplex und wird nicht allein von ratio bestimmt. Die Frage, ob die gemeinsame Konfession eine Gruppe erst definierte oder ob eine Gruppe eine bestimmte Religion annahm, weil sie sich bereits als eigene Entität begriff, ist in der Regel kaum zu beantworten. Weit verbreitet im weströmischen Reichsteil war auch der Pelagianismus, der, wiederum grob vereinfacht, insbesondere die Idee einer Erbsünde ablehnte und offenbar lehrte, seit Jesus seien die Menschen unschuldig geboren und bedürften der Erlösung nur, wenn sie sich versündigten. In den Augen ihrer Gegner missachteten die Pelagianer damit die Bedeutung der Gnade Gottes; ihr Glaube an die Fähigkeiten des Menschen sei Hochmut. Der Priscillianismus schließlich war eine asketische Bewegung, die nicht zuletzt dadurch Bedeutung gewann, dass ihr Gründer Priscillian in den Konflikt zwischen Gratian und Magnus Maximus verwickelt wurde. Letzterer ließ ihn 385 in Trier hinrichten, doch seine Häresie bestand danach noch jahrzehntelang fort. Dass sich Pelagianer und Priscillianer dabei insbesondere in Britannien und Hispanien lange halten konnten, hängt zweifellos damit zusammen, dass der Einfluss der Zentrale in diesen Gebieten besonders früh zu schwinden begann.585 Bedeutsam für das Verhältnis zwischen Ost und West waren schließlich das Konzil von Chalkedon 451 und seine Folgen. Das Konzil gehörte dabei in den Kontext einer vor allem in Ostrom erbittert geführ584 Vgl. Cameron 2011: 48 f. 585 Vgl. Burrus 1999; Fuhrer 2004: 44–49; Brown 2012: 311–314.
202
13.2 Konflikte und Identitäten
ten Auseinandersetzung über die Frage nach dem Verhältnis der göttlichen zur menschlichen Natur in Jesus.586 Auch Leo, der Bischof von Rom, hatte schließlich in die Diskussion eingegriffen. Seine als Tomus Leonis bekannten Ausführungen waren bei einem Konzil in Ephesos 449 noch ignoriert worden, zwei Jahre später aber prägten sie die Beschlüsse. Diese wurden von Leo folglich gerne akzeptiert, allerdings mit Ausnahme des Canon 28, der den 381 festgelegten Ehrenvorrang des römischen Bischofs vor dem Patriarchen von Konstantinopel relativierte.587 In weiten Teilen des römischen Orients hingegen stießen die Beschlüsse von Chalkedon auf erbitterten Widerstand, und die Versuche des Kaisers Zeno, den Antichalkedoniern bzw. Miaphysiten durch eine Kompromissformel entgegenzukommen, führten 484 zum bereits erwähnten Akakianischen Schisma. Früh wurde allgemein beklagt, dass sich das Christentum durch die Liaison mit dem Römischen Staat von seinen Wurzeln und einigen zentralen Werten entfernt habe. Die Kritik betraf zum einen das Verhältnis der Kirche zu Krieg und Gewalt. Dies hätte grundsätzlich ein Hindernis für die enge Verbindung zwischen Christentum und Imperium sein können, da sich auch christliche Kaiser einen völligen Gewaltverzicht, wie ihn die Evangelien fordern,588 nicht erlauben konnten. Hier war es nicht zuletzt Augustinus, der römische Vorstellungen vom »gerechten Krieg« (bellum iustum) in die christliche Lehre einführte und überdies erklärte, da letztlich nichts auf Erden gegen Gottes Willen geschehe, stehe es einem Gläubigen ohnehin nicht zu, die Berechtigung eines Krieges zu hinterfragen.589 Zum anderen warf man der Kirche teils Verweltlichung und eine unangemessene Anhäufung von Reichtum vor.590 Die Entstehung des Eremiten- und Mönchtums ist mitunter als eine Reaktion hierauf verstanden worden. Die Anfänge des Klosterwesens in Westrom sind da586 So behauptet Gregor von Nyssa (Pat. Graec. 46,577), man sei in Konstantinopel sogar beim Bäcker und im Bad ständig in entsprechende Diskussionen verwickelt worden. 587 Evagrius (HE 2,4) bietet eine knappe Zusammenfassung. 588 Matth. 26,52. 589 August. contra Faust. 22,74 f. 590 Amm. 27,3,14. Vgl. nun auch Brown 2012: 289–380.
203
13 Religiöse Entwicklungen
bei vor allem mit Honoratus von Arles und Johannes Cassianus verbunden.591
13.3
Die Entwicklung des Papsttums
In den anderthalb Jahrhunderten zwischen Honorius und Justinian vollzogen sich wesentliche Schritte auf dem Weg vom römischen Episkopat zum Papsttum.592 Die zeitliche Koinzidenz zwischen dem Machtzuwachs der Kirche und der Krise des Kaisertums ist dabei auffällig, doch ob eine direkte Beziehung besteht, lässt sich schwer sagen. Der römische Bischof beanspruchte bereits seit dem 3. Jahrhundert zunehmend einen Vorrang innerhalb der Christenheit, und insbesondere seit Leo dem Großen (440–461) ist es angebracht, vom Papsttum zu sprechen. 445 garantierte ein Gesetz Valentinians III. dem Bischof für den Westteil des Reiches die oberste Gerichtsbarkeit in religiösen Fragen und kirchlichen Belangen und erkannte ausdrücklich seinen primatus an.593 Im selben Jahr wurde der Bischof Hilarius von Arles abgesetzt, weil er sich Leo nicht bedingungslos unterordnen wollte. Dieser beanspruchte die höchste Lehrautorität und näherte seine Selbstdarstellung in auffälliger Weise an die der spätantiken Augusti an: Purpur, die Farbe der Herrschaft, spielte eine zunehmend wichtige Rolle, der Bischof legte sich ein eigenes consistorium zu, forderte bei Audienzen wie ein Kaiser die fußfällige Begrüßung und schmückte sich mit dem Titel pontifex, den die Augusti im 4. Jahrhundert offenbar abgelegt hatten.594 591 Vgl. zum Phänomen der »Heiligen Männer«, die vornehmlich im Osten auftraten, aber teils auch in Westrom intensiv verehrt wurden, Brown 2000. Zu den ersten Klöstern vgl. Melville 2012: 18–30. Zu Asketen und Mönchen im 5. Jahrhundert vgl. Elm 2015. 592 Vgl. Haendler 1987; Martin 1995: 217–221. 593 Nov. Val. 17. Vgl. Musumeci 1977. 594 Vgl. Henning 1999: 117; Demandt 2007: 546 f. Der erste römische Bischof, der als pontifex bezeichnet wurde, war bereits 380 Damasus; Cod. Theod. 16,1,2.
204
13.3 Die Entwicklung des Papsttums
Insgesamt orientierte sich die Kirche auch außerhalb der Stadt Rom stark an den Formen der weltlichen römischen Herrschaft. Die Grenzen der Bistümer richteten sich oft nach denen der civitates, und ihre eigene Diözesanstruktur sollte für die Kirche große Bedeutung erlangen. Selbst der Nimbus (»Heiligenschein«) entstammte der säkularen Kunst und war bereits seit langem ein Element der kaiserlichen Ikonographie, bevor er auch für die Darstellung Jesu und der Heiligen verwendet wurde.595 Einen Höhepunkt des päpstlichen Einflusses stellte, wie erwähnt, das Konzil von Chalkedon 451 dar. Bereits seit dem Vorjahr nannte sich Leo patriarcha Occidentis, »Patriarch des Westens«. Der päpstliche Primat, der im Westen seither lange Zeit kaum noch ernsthaft in Frage gestellt werden sollte, mag dazu beigetragen haben, dass die innerchristlichen Streitigkeiten hier anders als im Osten seltener eskalierten. In Ostrom nämlich waren die dogmatischen Konflikte in der Regel mit Rangstreitigkeiten zwischen den drei Patriarchaten von Konstantinopel, Alexandria und Antiochia verbunden; Jerusalem spielte dagegen nur eine Nebenrolle. Die politische Bedeutung des römischen Bischofs wuchs also während des 5. Jahrhunderts erheblich, so dass, wie erwähnt, sogar erwogen wurde, Konflikte zwischen Papst Simplicius und Kaiser Anthemius für das Scheitern des Letztgenannten mitverantwortlich zu machen.596 Bereits Leo der Große hatte sich an den Gesandtschaften an Attila 452 und Geiserich 455 beteiligt, auch wenn es gut möglich ist, dass sein Einfluss in dieser Beziehung von den Quellen übertrieben wird. Als die Päpste nach 476 längere Zeit dem Zugriff der Kaiser entzogen waren, begannen sie noch unabhängiger zu agieren; das berühmteste Beispiel hierfür ist sicherlich der Briefwechsel zwischen Gelasius und Kaiser Anastasius, den man traditionell (und womöglich irreführend) mit der Entwicklung einer »Zweischwerterlehre« in Verbindung bringt.597 Gregor der Große vollendete dann ein Jahrhundert später die Ver-
595 Vgl. Canepa 2009: 192–196. 596 Vgl. O’Flynn 1991: 127 f. 597 Gelas. Epist. 12. Vgl. Martin 1995: 220 f.; Meier 2009: 103–117.
205
13 Religiöse Entwicklungen
wandlung des antiken römischen Episkopats in das mittelalterliche Papsttum.598 Insgesamt fällt es schwer, den Einfluss, den die Christianisierung auf die weströmische Geschichte hatte, eindeutig zu benennen. Zum einen bot die neue Religion aufgrund ihres dogmatischen Charakters immer wieder Anlass zu erbitterten Konflikten, ein Phänomen, das seit Edward Gibbon oft als verheerend für die Stärke und den Zusammenhalt des Imperium Romanum verstanden worden ist. Diese Position wird heute allerdings mit guten Gründen kaum noch vertreten, insbesondere da der von religiösem Streit und Eifer noch stärker betroffene Ostteil des Reiches das 5. Jahrhundert überdauerte. Vielerorts übernahmen Bischöfe wichtige Aufgaben, als die Macht der Zentralregierung dahinschwand, bevor die reges in ihren Gebieten dann vielfach ihrerseits eine stärkere Kontrolle über die Kirche etablieren konnten; so insbesondere im Frankenreich.599 Zum anderen konnte das religiöse Bekenntnis sowohl zur Abgrenzung beitragen, wie es insbesondere am Beispiel des Arianismus zu beobachten ist, als auch umgekehrt die Grenzen zwischen »Römern« und »Barbaren« verwischen. Wer den Kaiser als seinen Herren ansah und seinen Glauben teilte, konnte prinzipiell als Römer gelten. Noch um 580 sollte daher der Geschichtsschreiber Agathias, der Fortsetzer Prokops, in seinen Historien feststellen, die Franken seien im Grunde Römer, die sich von diesen nur in ihrer Sprache und Kleidung unterschieden.600
598 Vgl. Eich 2016. 599 Vgl. Becher 2011: 242–250. 600 Agath. Hist. 1,2,4.
206
14
Ausblick
Auch mit dem Einfall der Langobarden 568 endete die Antike nicht in jeder Hinsicht und in jeder Region. Das gilt vor allem für den Osten des Römischen Reiches, wo sich erst im 7. Jahrhundert eine Reihe von so tiefgreifenden Veränderungen in so vielen Bereichen vollzog, dass es gerechtfertigt erscheint, fortan nicht mehr vom Imperium Romanum, sondern vom mittelalterlichen Byzanz zu sprechen.601 Doch auch im Westen dauerte es lange, bis sich schrittweise eine neue politische Matrix entwickelte, die sich von römischen Mustern emanzipierte. Die Spätantike blieb in vielen Lebensbereichen ein entscheidender Bezugspunkt, so dass es – wie immer bei historischen Periodisierungen – kaum möglich ist, klare Grenzen zu ziehen. Die Kontinuitätslinien blieben unübersehbar.
14.1
West und Ost
Zu den interessantesten Fragen für die Zeit vor und nach 476 zählt dabei jene nach der Einheit des Imperium Romanum und den Kontakten zwischen den beiden Reichshälften.602 Ohne Zweifel war es hier seit Einrichtung des institutionalisierten Mehrkaisertums zu einer zunehmenden Auseinanderentwicklung gekommen. Doch wie bereits er601 Vgl. Haldon 1997; Meier 2012. 602 Vgl. hierzu auch die Beiträge in Föller/Schulz 2016.
207
14 Ausblick
wähnt, sollte man die Intensität der Beziehungen im 5. und 6. Jahrhundert zugleich nicht unterschätzen. Bei aller unbestreitbaren Entfremdung hielt man zugleich unverbrüchlich an der Idee der Reichseinheit fest. Sowohl die Rivalitäten zwischen den Kaiserhöfen als auch das offensichtliche Interesse, das die östlichen Augusti auch nach 476 an den Ereignissen im Westen zeigten, lassen sich nur dann erklären, wenn die Vorstellung vom prinzipiell ungeteilten Imperium bei allen Differenzen noch immer so präsent war, dass sie konkrete politische Entscheidungsprozesse beeinflussen konnte. Die Kaiser am Bosporus haben den Westen keineswegs, wie man oft vermutet hat, bewusst anstürmenden Barbaren preisgegeben, um sich selbst zu retten. Selbst die so lückenhafte Überlieferung zum 5. Jahrhundert weiß von mindestens acht Fällen, in denen Konstantinopel mit Truppen im westlichen Reichsteil eingriff, und im Grunde gehört auch die Entsendung der ostgotischen foederati durch Zeno 489 in diese Reihe.603 Vor allem der Angriff auf die Vandalen 468 zeugt davon, dass zumindest Leo I. bereit war, im Namen und zum Wohle des Gesamtreichs immensen Aufwand zu betreiben. Überdies scheint der römische Osten den Westen lange Zeit finanziell unterstützt zu haben.604 Gerne übersehen wird im Übrigen, dass mindestens zweimal auch westliche Kaiser planten, ihrerseits militärisch im Osten zu intervenieren. Constantius III. bereitete 421 gerade einen großen Angriff auf den Osten vor, als er plötzlich starb, und noch Valentinian III. scheint 450 ernsthaft erwogen zu haben, gegen Marcian in den Krieg zu ziehen, wurde aber von Aëtius und den widrigen Umständen hieran gehindert. Ganz offensichtlich war man an beiden Kaiserhöfen nach wie vor der Ansicht, die Vorgänge im jeweils anderen Reichsteil seien von unmittelbarem Interesse. Der zweite Kaiserhof war ein alternativer Kristallisationspunkt legitimer weltlicher Macht, den man nach Möglichkeit zu kontrollieren versuchte. Erst seit dem Tod Valentinians III. war endgültig geklärt, dass die östlichen Augusti die überlegene Position einnahmen; doch noch Justinian scheint den verwaisten Hof in Ravenna als potentielle Bedrohung wahrgenommen zu haben. 603 Vgl. McEvoy 2014. 604 Vgl. Fischer/López Sánchez 2016.
208
14.2 Das weströmische Kaisertum nach 568
Die Sprache der Verwaltung, der Armee und des Kaiserhofs blieb auch in Ostrom noch bis um 600 das Lateinische. Zwar scheint Justinian der letzte römische Augustus gewesen zu sein, für den Latein tatsächlich die Muttersprache war, und zumindest für die Jahrzehnte nach der Mitte des 6. Jahrhunderts sollte man die praktische Bedeutung dieser Sprache im Osten wohl nicht überschätzen. Hier dominierten im Alltag Griechisch und Syrisch. Doch der Sprache Roms und des Römischen Reiches haftete nach wie vor ein großes Prestige an.605 Und solange sich daher in Konstantinopel noch in ausreichender Zahl Männer fanden, die Latein sprachen, war die Kommunikation mit dem Westen, dessen Elite das Griechische weitgehend verlernt hatte, weiterhin möglich. Gerade wenn es um komplizierte religiöse Sachverhalte ging, mögen nun zwar immer häufiger sprachliche und kulturelle Missverständnisse aufgetreten sein. Dennoch konnte sich ein gallorömischer Bischof wie Gregor von Tours noch um 580 als Untertan seines fernen dominus Tiberius Constantinus (574–582) fühlen, wenn man ihm ein Goldmedaillon dieses Herrschers präsentierte, auf dem in lateinischer Sprache stand: Tiberius Constantinus perpetuus Augustus und Gloria Romanorum.606 Nicht nur in den damals noch tatsächlich unter kaiserlicher Kontrolle stehenden Regionen in Südspanien, Nordafrika und Teilen Italiens war der römische Augustus nach wie vor als ein möglicher Bezugspunkt präsent, sondern auch in anderen westlichen Gebieten.
14.2
Das weströmische Kaisertum nach 568
Da das Römische Reich also auch nach Justinian nicht nur im Osten eine bedeutende Größe und wichtige Quelle von Prestige und Legitimität blieb, verwundert es nicht, dass in den folgenden Jahrzehnten wie605 Vgl. Cameron 2009; Kaldellis 2012. 606 Greg. Tur. Hist. 6,2.
209
14 Ausblick
derholt mit der Erhebung eines eigenen Augustus für den Westen geliebäugelt wurde.607 So berichtet Theophylakt, man habe einige Jahre nach dem gewaltsamen Tod des Kaisers Mauricius (582–602) dessen 597 verfasstes Testament gefunden, demzufolge der Herrscher geplant hatte, seinen älteren Sohn Theodosius als senior Augustus im Osten, seinen zweiten Sohn Tiberius aber als iunior Augustus im »alten Rom« einzusetzen. Seine beiden übrigen Söhne waren mutmaßlich als Caesares vorgesehen; der Kaiser plante demnach eine Erneuerung der Tetrarchie.608 Da Mauricius aber als erster oströmischer Kaiser überhaupt 602 einem Usurpator erlag und mit seinen Söhnen getötet wurde, wurde dieser Plan nie umgesetzt. Dieser Usurpator, der in den östlichen Quellen übel beleumundete Phocas, war es übrigens, dem das letzte antike Monument auf dem Forum Romanum gewidmet wurde, eine Säule, die der Exarch von Ravenna 608 für den piissimus princeps errichten ließ.609 610 wurde Phocas von Heraclius (610–641) gestürzt, dessen Herrschaft man mit einigem Grund als entscheidenden Schritt von der oströmischen zur byzantinischen Geschichte betrachten kann. Gegen diesen erhob sich 619 in Ravenna der patricius Eleutherius, der offenbar gerade auf dem Weg nach Rom war, um sich dort vom Papst zum Kaiser krönen zu lassen, als er in einem Gefecht getötet wurde.610 Um 645 kam es dann in Karthago zur Usurpation des dortigen Exarchen Gregorius, der sich gegen Constans II. (641–669) erhob,611 und 650 zur Kaiserakklamation des Olympius in Ravenna.612 Beide Prätendenten scheiterten. Bemerkenswert an ihren Fällen ist, dass ihre Rebellionen offenbar in den Kontext dogmatischer Streitigkeiten zwischen Ost und West gehörten. Constans II. hatte angesichts der Krise, die die islamische Expansion ausgelöst hatte, noch einmal versucht, das Christentum im Imperium durch eine Kompromissformel zu einen.613 Dies hatte wie bereits 484 heftigen Widerstand im Westen 607 608 609 610 611 612 613
210
Vgl. Börm 2008a. Th. Sim. 8,11,7–10. ILS 837. Vgl. zum spätantiken Forum Kalas 2015. Vgl. PLRE III: 435 f. Vgl. PLRE III: 554. Vgl. Haldon 2016: 39. Vgl. Haldon 1997: 304–313.
14.2 Das weströmische Kaisertum nach 568
ausgelöst, und in dieser Situation scheinen Teile des dortigen Klerus versucht zu haben, Konstantinopel durch die Erhebung eines alternativen Kaisers unter Druck zu setzen. Erwähnt seien schließlich noch zwei weitere Fälle: 661 residierte zum ersten Mal seit fast zwei Jahrhunderten wieder ein Kaiser in Rom. Constans II. hatte sich entschlossen, sich mit einem Heer nach Italien zu begeben.614 Unklar ist, ob es sich dabei um eine Verzweiflungstat handelte, um eine Flucht vor den weiterhin angreifenden Arabern, oder ob der Kaiser plante, im Westen eine Flotte aufzubauen, um einen entschlossenen Gegenschlag zu führen. Am Tiber jedenfalls hielt sich Constans II. offenbar nur einige Tage auf, bevor er sich nach Sizilien begab, wo er die folgenden Jahre in Syrakus residierte, bis er 668 oder 669 ermordet wurde. Nach seinem Tod scheint der Kommandeur der Leibgarde (comes obsequii) Mezezius zum Kaiser ausgerufen worden zu sein, doch wurde die Usurpation nach kurzer Zeit im Namen von Constans’ Sohn Konstantin IV. durch eine oströmische Flotte niedergeschlagen.615 Noch weitere Männer sollten im Westen in der Folgezeit nach dem Purpur greifen. Doch erst einige Jahrzehnte nach 751, dem Jahr, in dem langobardische Truppen Ravenna einnahmen und mit dem Exarchat die vorerst letzte oströmisch-byzantinische Bastion im Westen erobert hatten, gelang die erfolgreiche Erhebung eines eigenen Augustus für das Hesperium Imperium: Im Jahr 800 wurde der patricius Romanorum Karl, der rex der Franken, vom Papst zum Imperator Augustus gekrönt. Er wagte damit jenen Schritt, vor dem Theoderich noch zurückgeschreckt war. Der Westen hatte wieder einen eigenen Kaiser.
614 Theoph. AM 6138. 615 Liber Pont. 1,346; Theoph. AM 6160.
211
15
212: 235: 260: 284: 286: 293: 305: 306: 312: 324: 325: 337: 340: 351: 357: 361: 364: 375: 378: 212
Zeittafel
Kaiser Caracalla verleiht den meisten freien Einwohnern des Imperiums das römische Bürgerrecht Mit Maximinus Thrax beginnt die Zeit der »Soldatenkaiser« Etablierung des Imperium Galliarum (bis 274) Herrschaftsantritt Diokletians Maximianus wird zum Augustus des Westens ernannt Etablierung der Tetrarchie. Constantius I. wird im Westen, Galerius für den Osten zum Caesar erhoben Rücktritt Diokletians Tod des Augustus Constantius I. Sein Sohn Konstantin I. »der Große« wird zum Kaiser ausgerufen Im Zusammenhang mit einem Bürgerkrieg gegen Maxentius beginnt Konstantin mit der Förderung des Christentums Alleinherrschaft Konstantins Konzil von Nicaea Nach dem Tod Konstantins werden seine drei Söhne Augusti mit jeweils eigenem Reichsteil Constantius II. ist im Osten Augustus, Constans im Westen (bis 350) Schlacht bei Mursa: Sieg über den westlichen Usurpator Magnentius Der Caesar Julian sichert die Rheingrenze Julian wird alleiniger Augustus (bis 363) Valentinian I. wird Augustus im Westen (bis 375) und setzt seinen Bruder Valens als Kaiser im Osten ein Gratian und Valentinian II. werden Kaiser im Westen Niederlage des oströmischen Heeres bei Adrianopel
15 Zeittafel
379: 388: 392: 394: 395:
398: 406: 407: 408: 409: 410: 411: 413: 418: 421: 423: 425: 429: 433: 435: 438: 439: 441: 442: 450:
Gratian setzt Theodosius I. als iunior Augustus im Osten ein Sieg des Theodosius über den westlichen Usurpator Magnus Maximus Selbstmord des machtlosen Valentinian II. Schlacht am Frigidus: Sieg des Theodosius über den westlichen Usurpator Eugenius Nach dem Tod des Theodosius ist Arcadius senior Augustus im Osten, Honorius iunior Augustus im Westen. Beginn der Regentschaft Stilichos. Meuterei der gotischen foederati unter Alarich Revolte des Gildo in Africa Sieg Stilichos über Radagaisus Usurpation des Konstantin (III.); Vandalen, Sueben und Alanen in Gallien Tod des Arcadius, Nachfolger im Osten wird Theodosius II. Sturz Stilichos Usurpation des Attalus Alarich plündert Rom Tod Konstantins III. Beginn der Dominanz des Constantius in Ravenna Der comes Africae Heraclianus wird von Constantius besiegt Neues foedus mit den Goten, Ansiedlung (?) in Südgallien Constantius (III.) wird Mitkaiser und stirbt bald darauf Nach dem Tod des Honorius usurpiert Johannes das Kaisertum Nach einem Bürgerkrieg wird Valentinian III. neuer Westkaiser Ein vandalischer Verband unter Geiserich setzt von Hispanien nach Africa über Nach dem Sieg über seinen Rivalen Bonifatius wird Aëtius neuer starker Mann in Ravenna foedus mit den Vandalen, Aëtius wird patricius Codex Theodosianus Geiserich erobert Karthago; foedus mit den Westgoten Oströmischer Feldzug gegen Geiserich foedus mit den Vandalen Theodosius II. stirbt: Ende der theodosianischen Dynastie im Osten 213
15 Zeittafel
451: 452: 453: 454: 455:
457: 460: 461: 467: 468: 469: 472: 473: 474: 475: 476: 484: 493: 498: 519: 533: 535: 540: 552: 554:
214
Attila fällt in Gallien ein und wird von Aëtius und den Goten abgewehrt Attila fällt in Italien ein Tod Attilas Valentinian III. erschlägt Aëtius Valentinian III. wird ermordet: Ende der theodosianischen Dynastie im Westen. Petronius Maximus wird Westkaiser. Plünderung Roms durch Geiserich. Avitus wird neuer Westkaiser Majorian wird neuer Westkaiser, Leo I. neuer Ostkaiser Weströmischer Angriff auf Geiserich scheitert Der patricius Ricimer stürzt Majorian. Libius Severus wird neuer Augustus Ostrom entsendet Anthemius als neuen Westkaiser Gemeinsamer Feldzug beider Höfe gegen Geiserich scheitert katastrophal Westgoten brechen das foedus Ricimer stürzt Anthemius. Olybrius wird neuer Westkaiser Glycerius wird neuer Westkaiser Ostrom entsendet Julius Nepos als neuen Westkaiser; foedus zwischen Geiserich und Ostrom Nepos flieht nach Dalmatien. Romulus Augustulus wird neuer Kaiser Odoaker setzt Romulus ab und sendet den Kaiserornat nach Konstantinopel Das Akakianische Schisma beginnt Der Ostgote Theoderich tötet Odoaker Verständigung zwischen dem patricius Theoderich und Ostrom Schisma beendet. Kaiser Justin I. nimmt Theoderichs Schwiegersohn als Waffensohn an Belisar zerschlägt im Auftrag Justinians das Vandalenreich und erobert Africa Ostrom greift die Ostgoten in Italien an Ostgoten bieten Belisar das Kaisertum des Westens an Die letzten ostgotischen reges werden von Narses getötet constitutio pragmatica: Justinian schafft den weströmischen Hof ab
15 Zeittafel
568: 661: 751: 800:
Langobardeneinfall in Italien Constans II. residiert in Rom Die Langobarden erobern Ravenna Kaiserkrönung Karls des Großen
215
16
Glossar
annona:
Arianer:
Augustus:
Bagauden:
bucellarii:
Caesar: Circumcellionen:
216
annona bezeichnete ursprünglich den jährlichen Ernteetrag, in der Spätantike dann vor allem die Versorgung insbesondere militärischer Verbände mit Nahrungsmitteln und z. T. weiteren Gütern durch den römischen Staat (annona militaris). Die Versorgung der hierzu berechtigten Angehörigen der plebs urbana hieß annona civica. Polemische Bezeichnung für christliche Gruppen, die die Beschlüsse der Konzilien von 325 und 381 ablehnten (auch Antitrinitarier oder Homöer). »Oberkaiser«, dessen Titulatur in der Spätantike Imperator Caesar Augustus lautete. Gab es mehrere Augusti, konnte der dienstälteste (senior Augustus) den Vorrang beanspruchen. Plündernde Gruppen, die in Gallien und Hispanien im 3. und 5. Jahrhundert auftraten. Der Hintergrund ist umstritten. Bewaffnetes Gefolge hochrangiger Amtsträger, das im Extremfall mehrere tausend Mann umfassen konnte. »Unterkaiser« und in der Regel designierter Nachfolger eines Augustus. »Herumtreiber«; bewaffnete Gruppen, die im Namen des Donatismus plündernd durch Nordafrika zogen.
Glossar
civitas:
In römischer Zeit zumeist ein halbautonomes urbanes Zentrum (civitas-Hauptort) mit dazugehörigem Umland. curiales: Mitglieder des Rates (curia) einer civitas. Traditionell die Führungsschicht und seit dem 3. Jahrhundert haftbar für die Steuern der Gemeinde. In der Spätantike traten vielfach honorati oder potentes (»Mächtige«) an ihre Stelle, die meist informelle Machtpositionen innehatten. comes: »Begleiter«. Ein comes konnte sowohl ein ziviler Hofbeamter als auch ein hochrangiger, meist nur den magistri militum untergeordneter Militär sein. comes domesticorum: Kommandeur der wichtigsten kaiserlichen Garde comitatenses: Angehörige des kaiserlichen Feldheeres consul ordinarius: Auch in der Kaiserzeit wurden bis 541 noch Konsuln ernannt; nach den beiden »ordentlichen« Konsuln wurde das Jahr benannt. Ab 395 gab es meist je einen aus dem Osten und einen aus Westrom. Diözese: Untereinheit einer Prätorianerpräfektur, die ihrerseits mehrere Provinzen umfasste Donatisten: Christliche Gruppierung, die die Gültigkeit von Sakramenten an die Würdigkeit des Spenders band und in Africa vom 4. bis 7. Jahrhundert zahlreiche Anhänger hatte. dux: »Anführer«. In der Spätantike oft der Kommandeur der in einer Provinz stationierten Truppen; manche duces hatten einen größeren Zuständigkeitsbereich. Der Titel konnte auch unspezifisch benutzt werden. exercitus: Ein Heer des römischen Volkes In der Spätantike Verbände nichtrömischer foederati: Krieger, deren Anführer durch ein oft befriste217
Glossar
foedus:
gens:
illustres:
Kolonat:
limes: limitanei: magister militum:
magister officiorum: Miaphysiten:
patricius:
218
tes foedus an Rom bzw. den Kaiser (oder Heermeister) gebunden waren. Wahrscheinlich erloschen diese foedera meist beim Tod eines der beiden Partner. Bereits seit der Republik bezeichnete man so internationale Verträge bzw. Bündnisse zwischen Römern und Nichtrömern. »Geschlecht«. Als gens oder natio bezeichnen die spätantiken Quellen oft »barbarischen« Gruppen, denen man eine gemeinsame Abstammung zuschrieb. Mitglieder der höchsten Rangklasse im spätantiken Senatorenstand (ordo senatorius). Unter ihnen standen clarissimi und spectabiles. Als colonatus bezeichnen die Quellen eine Vielzahl von Rechtsverhältnissen, denen die Bindung eines Bauern (colonus) an das von ihm bearbeitete Land gemeinsam ist. Römische Reichsgrenze Grenztruppen Ein »Heermeister« war in der Regel Kommandeur größerer Verbände und nur dem Kaiser unterstellt. Ursprünglich befehligten die magistri entweder Kavallerie oder Infanterie; doch im 5. Jahrhundert war man zumeist magister utriusque militiae und kommandierte beide Truppengattungen. Aufseher der Hofämter und »Außenminister« Christen, die die Beschlüsse des Konzils von Chalkedon 451 ablehnten (auch Monophysiten). Insbesondere in Ägypten und Syrien weit verbreitet. Ein hoher Ehrentitel, der seit Konstantin I. als besondere Auszeichnung verliehen wurde. Im 5. Jahrhundert aktiven und ehemaligen magistri und Präfekten vorbehalten. In Verbindung
Glossar
patrocinium:
Pelagianer:
plebs urbana:
primicerius: praefectus praetorio:
praefectus urbi:
Priscillianer: quaestor sacri palatii:
rex:
mit dem Amt als erster Heermeister im Westen seit Constantius III. das Kennzeichen des faktischen Regenten. Besonders Schutzverhältnis, bei dem sich Bauern einem mächtigen Grundbesitzer unterstellten und dafür teils ihr Eigentum aufgaben. Christliche Gruppierung, die insbesondere in Hinblick auf die »Erbsünde« von der Mehrheitskirche abwich und verfolgt wurde. Grundsätzlich bildete die nicht der Oberschicht angehörende Bevölkerung der Stadt Rom (sowie in der Spätantike auch die Konstantinopels) die plebs urbana. Eine genauere Definition ist schwierig. Oberster Eunuch am Kaiserhof Der Prätorianerpräfekt war seit Konstantin I. das Haupt der Administration eines Reichsteils; seit 395 gab es in Ost und West je zwei. Die beiden weströmischen residierten in Arles und am Kaiserhof. Stadtpräfekt. Sowohl Rom als auch Konstantinopel hatten einen praefectus urbi. Neben dem Konsulat galt dies als eine der höchsten Ehren für einen Senator. Christliche Gruppierung mit asketischen Zügen, wiederholt verfolgt. »Justizminister«; hoher Hofbeamter, zuständig für Rechtsfragen und die Abfassung von Gesetzen. reges waren Anführer von gentes und föderierten Kriegergruppen. Die gängige Übersetzung »König« ist für die Spätantike oft problematisch, da sie viele irreführende Assoziationen mit den Herrschern des europäischen Mittelalters weckt.
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Glossar
Senat:
solidus:
vicarius:
220
Seit Konstantin I. gab es sowohl in Rom als auch in Konstantinopel einen Senat. Seit etwa 440 hatten nur noch illustres das Recht, an den Sitzungen teilzunehmen. Der weströmische Senat verschwindet nach 603 aus den Quellen. Von Konstantin I. eingeführte Goldwährung. Solidi zu prägen war ein kaiserliches Privileg, das bis weit ins 6. Jahrhundert auch von den reges im Westen zumeist geachtet wurde. Vorsteher einer Diözese
17
Ausgewählte Literatur
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243
18
Abbildungsverzeichnis
Umschlagbild: Picture-Alliance Abb. 1: Wikimedia Commons 61 Abb. 2: Henning Börm 80 Abb. 3: Wikimedia Commons 87 Abb. 4: Wikimedia Commons 150 Abb. 5: Henning Börm 176 Karten 1–4: © Peter Palm, Berlin 23, 45, 95, 139
244
19
Personen- und Sachregister
19.1
Personenregister
A Aegidius 115 f., 119, 141 Aëtius 73–79, 81–88, 91, 94, 96– 103, 105–109, 111 f., 114, 118, 140, 159, 169, 183, 208, 213 f. Alarich 47 f., 51 f., 54 f., 57–60, 64, 77, 93, 144, 187 Alarich II. 142, 148 Amalasuntha 149, 151 Ambrosius Aurelianus 143 Ambrosius von Mailand 36, 46, 196 Ammianus Marcellinus 14 Anastasius 145–148, 152, 205 Anthemius – Kaiser 115, 120–124, 133, 144, 165, 205, 214 – Präfekt 59, 164 Arbogast 36–38, 40, 59, 102, 162 Arcadius 36, 38, 42, 44, 46 f., 52, 54 f., 83, 164, 191, 199, 213 Ardaburius 74 Aspar 74, 78, 96, 115, 122 f., 143, 146, 162 Athaulf 64–68, 71 f., 75 Attalus 58 f., 67 f., 112, 213 Attila 88, 90 f., 93 f., 96–99, 101 f., 109, 114, 126, 140, 205, 214 Augustinus von Hippo 18, 200 f., 203
Aurelian 24 Avitus 109, 111–116, 118, 125, 165, 171, 214
B Belisar 151 f., 214 Bonifatius 65, 72 f., 75–79, 81, 106, 109, 213
C Caracalla 21, 30, 40 Childerich 141 Chlodwig 141 f., 148, 202 Chusro I. 153 Constans I. 29 f., 38, 59, 212 Constans II. 210 f., 215 Constantius I. 28, 212 Constantius II. 29–31, 38, 120, 212 Constantius III. – Heermeister und Kaiser 51, 64– 70, 72, 100, 109, 208
D Diokletian 24–28, 40, 43, 158, 166–168, 171, 180, 195 f., 212
245
Personen- und Sachregister
Hydatius 15, 72, 99, 101 f., 104, 122, 194
E Eudocia 102, 108, 111, 137, 151 Eudoxia 74, 86, 107–110 Eugenius 37 f., 44, 47, 59, 213 Eurich 122–125 Eutropius 49
F Flavius Felix
76–79
G Gainas 48 f., 51, 162 Galla Placidia 36, 51, 60, 65, 68, 71, 74, 76, 78, 80, 96, 106, 109, 165 Gallienus 24, 195 Geiserich 76–78, 81, 85 f., 88–90, 97, 100, 102, 108–113, 115–119, 121 f., 124 f., 129, 136–138, 148– 151, 168, 188, 205, 213 f. Gelasius 205 Gelimer 151 Gerontius 57, 65 f., 68, 79, 126 Gildas 63, 83 f., 143 Gildo 49, 81, 86, 213 Glycerius 124 f., 214 Gregor von Tours 14, 141 f., 209 Gundobad 124 f., 140 Gunthahar 83
H Heraclianus 59, 64, 66, 81, 86, 213 Hieronymus 18, 60, 197 Honoria 68, 96, 102, 109 Honorius 11, 18, 37 f., 42–44, 46, 50–52, 54–61, 63, 65–72, 79, 83, 118, 127, 162, 164, 175, 179, 191, 196 f., 199, 201, 204, 213 Hunerich 97, 119, 137 f., 151
246
J Johannes 72–74, 213 Jordanes 17, 76, 110 Jovinus 65 Jovius 58 Julian 31, 195, 212 Julius Nepos 125 f., 133 f., 214 Justin I. 148, 150, 173, 214 Justin II. 154 Justinian 12, 150–153, 160, 167, 178, 204, 208 f., 214
K Konstantin (III.) 52, 54, 56 f., 63, 65 f., 79, 83, 213 Konstantin I. 28, 39, 43, 77, 156, 167, 170, 178, 212 Konstantin II. 29 f.
L Libius Severus
119, 214
M Magnentius 30 f., 36, 212 Magnus Maximus 35 f., 52, 202, 213 Majorian 108, 113–118, 127, 165, 173, 175, 214 Malchus von Philadelphia 17, 132 f., 144 Marcellinus Comes 10, 15 Marcian 94, 101, 108, 110, 112, 115, 208 Mauricius 18, 210
19.1 Personenregister
N
T
Narses 153 f., 182, 214
Thela 145 Theoderich (Amaler) 144 f., 147– 149 Theoderich I. (Westgote) 75, 97, 108 f. Theoderich II. (Westgote) 108 f., 112 f. Theodosius I. 11, 35, 39, 42 f., 89, 100, 103, 107, 117, 178, 199, 213 Theodosius II. 16, 54, 59, 70–73, 78, 86 f., 94, 107, 120, 160, 164, 213 Thrasamund 137 Tiberius Constantinus 209 Totila 153, 182, 188
O Odoaker 11, 126, 132–135, 144, 146, 164, 214 Olybrius 111, 115, 119, 121, 124, 214 Olympiodor 16, 57, 66, 70 f., 189 Orestes 125 f., 132 f. Orientius 18, 85
P Palladius 108, 111 Paulinus von Pella 18, 67 Petronius Maximus 101, 105–107, 109–111, 214 Priscus 16 f., 91, 96, 100–103, 108, 112 Prokop 17, 61, 73, 76, 90, 101 f., 117, 144, 152, 182 Prosper Tiro 15, 98, 107, 114 Pulcheria 96, 111, 165
R Rechiarius 113 Ricimer 108, 113–116, 118 f., 121– 124, 162, 214 Romulus 11, 126, 131–133, 154, 214 Rufinus 47, 49
V Valens 32, 34 f., 38, 42, 212 Valentinian I. 32, 38, 43, 68, 100, 103, 212 Valentinian II. 33, 36, 102, 212 f. Valentinian III. 74, 79, 86, 88, 94, 96, 99–103, 106–110, 137, 144, 147, 159, 161, 169, 208, 213 f. Vallia 68, 77 Victor von Vita 18, 89, 137 Vortigern 84
W Witigis
152, 188
Z S Salvian von Marseille 18, 191 Septimius Severus 22, 30, 38, 174 Sidonius Apollinaris 18, 112 Stilicho 42, 46–52, 54–57, 59, 65, 77 f., 81, 85, 111, 162, 164, 197
Zeno 125 f., 132–135, 143–145, 203, 208 Zosimus 17, 37, 53–55, 59, 63
247
Personen- und Sachregister
19.2
Sachregister
A Africa 19, 33, 49, 59, 64, 68, 76, 78, 85 f., 88–90, 113, 117, 121, 125, 136, 138, 150 f., 167 f., 185– 187, 193, 200 f., 213 f. Alamannen 31, 142 Alanen 52 f., 68, 77, 81, 213 annona 47, 65, 68, 76, 83 f., 88, 90, 126, 129, 142, 144, 167, 170, 176, 188, 191 f. Arianer 89, 142, 146, 149, 201 Arles 52, 65, 69, 75, 82, 112, 118, 167, 186, 204
B
comes sacrarum largitionum 106, 132, 161 comitatenses 175 concilium septem provinciarum 69, 112 consul ordinarius 67, 76, 78, 106 curiales 169, 187, 193
D Dalmatien 103, 119, 121, 125 f., 130, 134, 214 Donatisten 200 Donau 11, 21, 51, 91 f., 99 dux 35, 138, 176
E Bagauden 25, 82, 191 Balkan 48, 88, 135, 144 Bischof 15, 18, 36, 98, 123, 125, 140, 149, 170, 198, 200, 203– 206, 209 Britannien 11, 21, 25, 29 f., 33, 52, 63 f., 69, 75, 83 f., 88, 130, 142, 167, 185, 193, 202 bucellarii 78, 103, 175 Burgunder 65, 69, 83, 125, 140, 148, 192
C Caesar 25, 31, 38, 71, 74, 108, 111, 116 f., 145, 212 Circumcellionen 191, 200 civitas 15, 40, 169, 174, 185 f. clarissimi 169 comes 48, 65, 67, 69, 74, 76, 106, 108, 132, 148, 161, 211 comes Africae 59, 66, 72, 76 f., 213 comes domesticorum 108, 124
248
Eunuch 101, 160, 179 exercitus 73, 141, 146, 176
F foederati 40, 47 f., 51 f., 57 f., 60, 65, 69, 71, 75, 82–84, 89, 92, 94, 113 f., 126–129, 132, 140–142, 144, 146–149, 154, 163, 170, 176, 178 f., 182, 191 f., 201, 208, 213 foedus 20, 35, 47, 54, 68, 77, 81 f., 84–86, 88, 93, 97, 117 f., 125, 136, 142, 144 f., 151, 183, 213 f. Franken 142, 181, 206, 211
G Gallien 11, 19, 21, 25, 31, 33, 35 f., 44, 52, 63 f., 69, 73, 76, 82 f., 85, 88, 94, 97 f., 102, 109, 112, 116,
19.2 Sachregister
118, 123, 130, 136, 143, 167, 170, 186, 213 f. gens 47 Gesetz 88, 191 f., 199, 204
H Handel 91, 137, 193 Heiden 14, 196 f. Hispanien 11, 21, 25, 33, 53, 57, 63, 67 f., 82, 88, 102, 113, 122, 130 f., 140, 142 f., 167, 185, 194, 202, 213 Hof (comitatus) 127, 153, 160, 162–165 hospitalitas 191 Hunnen 17, 34, 48, 52, 74, 83, 90 f., 93 f., 96–99, 129
I illustres 161, 167 Illyricum 11, 33, 44, 48, 51, 53, 134 Italien 11, 16, 19, 25, 33, 38, 43 f., 49, 51 f., 57, 59, 63 f., 66, 74, 78 f., 85, 88, 94, 98, 107–109, 111–113, 115 f., 118–121, 124– 126, 130 f., 133 f., 136, 143–145, 148–150, 152–154, 167 f., 174, 188, 193, 211, 214 f.
K Kaiser 11, 20, 25–27, 30, 38–40, 43 f., 52, 54 f., 58, 61, 63, 67 f., 70–72, 103, 124, 127, 130, 132, 134, 143, 146, 154, 156–158, 160–165, 167, 173, 187, 189, 197, 200, 202–204, 206, 210 f., 214, 216 Karthago 49, 59, 66, 73, 79, 81, 85 f., 88 f., 111, 117, 121, 124,
136 f., 152, 188, 197, 200, 210, 213 Kirche 119, 135, 147, 189, 200, 203–206 Kolonat 190 Konstantinopel 12, 17, 29, 35, 38, 44, 46–49, 51 f., 54, 59, 70, 72, 78 f., 86, 93 f., 110–112, 115, 119–121, 124–126, 129, 131– 135, 137, 141, 145 f., 151 f., 162, 188, 197, 203, 205, 208 f., 211, 214 Konzil 96, 197, 202, 205, 212
L Langobarden 154, 207, 215 limitanei 129, 135, 175
M magister militum 35 f., 46, 48 f., 52, 55, 59, 73, 78, 82, 93, 96, 107, 112, 115 f., 121 f., 124 f., 132, 134, 140 f., 144 f., 151 f., 165, 175 magister officiorum 57, 65, 74, 123, 132, 161 Mailand 25, 36, 38, 46, 48, 52, 188, 196 Miaphysiten 96, 203
O Ostgoten 18, 135, 148, 153, 164, 188 f., 192, 214 Ostrom 70, 86, 94, 117, 119, 128, 161 f., 164, 184, 202, 205, 209, 214
P patricius 56, 68–70, 76, 78, 81, 83, 94, 98, 100–102, 106, 112, 116,
249
Personen- und Sachregister
118 f., 121, 123–126, 132–134, 140, 142, 144 f., 149, 162, 165, 175, 210 f., 213 f. patrocinium 190 Pelagianismus 75, 200, 202 Perser 22, 25, 32, 48, 70, 87, 92 f., 150, 153, 158 Picten 75, 84 plebs 110, 113, 124, 188 praefectus praetorio 47, 58, 69, 106, 132, 146, 167 praefectus urbi 58, 106, 121, 195 primicerius 72, 101, 161 Priscillianer 202
Q quaestor sacri palatii 132, 161
R Ravenna 52, 55, 59, 64–67, 69, 71, 78, 80–82, 85–88, 94, 96, 100, 109, 111, 117, 119, 121, 124, 126, 131 f., 134 f., 137, 143, 146, 149, 152, 154, 184, 188, 208, 210 f., 213, 215 rex 67, 76, 82 f., 88, 98, 113, 122, 125, 132, 134, 136, 138, 141 f., 144 f., 147–154, 183, 211 Rhein 21, 29 f., 32, 50 f., 53, 65, 75, 83, 92 Rom 15, 49, 57 f., 60, 66, 74, 96, 98, 101, 103, 107, 110–112, 118, 120, 128, 135, 152–154, 168, 174, 179, 187–189, 203, 205, 210 f., 213, 215, 228
250
S Sachsen 84, 143 Senat 29, 48 f., 54, 73, 101, 112, 116, 132 f., 157, 161–163, 169 Severer 22, 26, 158, 174 Sklaven 160, 193 solidus 137 spectabiles 168 f. Sueben 53, 68, 82, 113, 117, 129, 140, 181, 213
T Trier
25 f., 32, 36, 52, 186, 202
U Usurpation 23, 25–27, 31, 40, 58, 79, 126, 143, 157, 159, 210 f., 213
V Vandalen 46, 53, 68, 73, 75 f., 81, 86, 89, 96 f., 108–111, 115–118, 121 f., 125, 129, 135–138, 145, 148, 151, 181, 186, 208, 213 vicarius 168
W Westgoten 75, 82, 85 f., 96–98, 102, 108, 110, 112 f., 116 f., 121 f., 124 f., 129, 140–142, 148, 153, 202, 213 f.