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German Pages [594] Year 2023
Zusammen mit real- und sozialgeschichtlichen Erkenntnissen machen sie Jesu Bild in den Quellen als Auswirkung seines Wirkens verständlich. Innerhalb der Veränderungen und Spannungen seiner Zeit wirkt Jesus menschlicher, sozialer und politischer als sonst, während gleichzeitig seine charismatische Ausstrahlungskraft und seine Bedeutung für den Glauben klarer hervortreten. Neben einzelnen ‚Erinnerungsspuren‘ an ihn ermöglichen vor allem ganze ‚Erinnerungsmuster‘ in den Überlieferungen von ihm den Rückschluss auf sein Wirken. Unverwechselbar ist bei ihm z. B. die Verbindung der Erwartung einer neuen Welt und des Glaubens als Heilkraft in dieser Welt, des Dichters von Parabeln und des Lehrers einer grenzüberschreitenden Ethik, des Erfinders symbolischer Handlungen und des Märtyrers, der sein Leben riskierte und im Glauben seiner Anhänger weiter lebt.
Dies ist ein utb-Band aus dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehr- und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen.
ISBN 978-3-8252-6108-5
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Theißen | Merz
Während in der Gesellschaft die Erinnerung an Jesus verblasst, halten erinnerungshistorische Ansätze ‚kontrapräsentisch‘ an ihr fest.
Wer war Jesus?
Theologie | Religionswissenschaft
Gerd Theißen Annette Merz
Wer war Jesus? Der erinnerte Jesus in historischer Sicht
utb 6108
Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Brill | Schöningh – Fink · Paderborn Brill | Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen – Böhlau · Wien · Köln Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Narr Francke Attempto Verlag – expert verlag · Tübingen Psychiatrie Verlag · Köln Ernst Reinhardt Verlag · München transcript Verlag · Bielefeld Verlag Eugen Ulmer · Stuttgart UVK Verlag · München Waxmann · Münster · New York wbv Publikation · Bielefeld Wochenschau Verlag · Frankfurt am Main
Gerd Theißen / Annette Merz
Wer war Jesus? Der erinnerte Jesus in historischer Sicht Ein Lehrbuch
Vandenhoeck & Ruprecht
Dr. theol. Gerd Theißen ist Professor für Neutestamentliche Theologie an der Universität Heidelberg. Dr. theol. Annette Merz ist Professorin für Neues Testament an der Protestantisch-Theologischen Universität Amsterdam-Groningen.
Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2023 Vandenhoeck & Ruprecht, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Rembrandt Harmensz. van Rijn, Haupt Christi, Harvard Art Museums/ Fogg Museum, Schenkung von William A. Coolidge; Foto © President and Fellows of Harvard College, 1964.172 Umschlaggestaltung: siegel konzeption | gestaltung, Stuttgart Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com UTB-Nr. 6108 ISBN 978-3-8385-6108-0
in Erinnerung an Christoph Burchard 1931–2020
Vorwort
Unser Lehrbuch über den historischen Jesus ist die Neufassung eines Lehrbuches, das 1996 erschienen ist. Es ist nach einem Vierteljahrhundert ein neues Buch geworden. In dieser Zeit gab es in der historischen Jesus-Forschung eine „erinnerungshermeneutische Wende“, an der wir uns beide beteiligt haben. Wir haben alle Kapitel mit Hilfe erinnerungshermeneutischer Fragestellungen neu konzipiert, dabei die Ergebnisse der bisherigen Jesusforschung aufgenommen und weitergeführt – von der historisch-kritischen Jesus-Forschung des 19. Jh., der „neuen Frage“ nach dem historischen Jesus mit ihren existenzialen Anliegen bis hin zur third quest mit real- und sozialgeschichtlichen Erkenntnissen. Am Anfang jedes Kapitels stellen wir kurz die Forschungsgeschichte dar, um in die Probleme einzuführen, an denen die Forschung bis heute arbeitet. Das soll die Möglichkeit geben, Alternativen kennen zu lernen und auch unseren Beitrag kritisch einordnen zu können. Das Buch richtet sich als Lehrbuch an Unterrichtende und Studierende der Theologie. Wer sich für Unterricht, Predigt und Gemeindearbeit vorbereitet, soll in ihm die wichtigsten Informationen und Problemstellungen kennen lernen. Gleichzeitig hat unser Buch interessierte Gemeindemitglieder im Blick, die sich über die historische Forschung zu Jesus ein Bild verschaffen wollen. Deswegen setzen wir keine Griechischkenntnisse voraus, sondern transkribieren und übersetzen alle griechischen Begriffe. Jedes Kapitel schließt mit einem hermeneutischen Abschnitt, in dem wir umreißen, wie wir mit den historisch aufgearbeiteten „Erinnerungen“ an Jesus heute umgehen können. Wir trennen dabei bewusst an der Vergangenheit orientierte historische Arbeit von ihrer Anwendung für die Gegenwart. Wir wissen, dass diese hermeneutischen Überlegungen je nach Standpunkt anders ausfallen. Es ist gut, dass Ergebnisse geschichtlicher Arbeit einen Spielraum lassen, wie man sie in der Gegenwart verwertet. Aber diese Ergebnisse ermöglichen manchmal auch Widerspruch zu verzerrten Jesusbildern in der Gegenwart. Die Erinnerung an Jesus scheint in einer säkularisierten Gesellschaft immer mehr zu verblassen, aber gerade das weckt ein neues Interesse bei vielen an historischen, kulturellen und religiösen Fragen Interessierten. Viele wollen sich unabhängig von ihrer Einstellung zu Religion und Kirche über das informieren, was wir über Jesus wissen und nicht wissen. Unseren erinnerungshistorischer Zugang begründen wir daher nicht nur theologisch, sondern mit einem allgemeinen „erinnerungsethischen“ Interesse: Wir haben gegenüber Menschen der Vergangenheit eine moralische Pflicht, sie um ihrer selbst willen zu erforschen – besonders dort, wo ihre Nachwirkungen umstritten sind und ihre Erbe illusorisch verklärt oder zu inhumanen Zwecken missbraucht wird. Umso mehr muss historische Forschung sich bemühen, ihnen gerecht zu werden. Manche sind hier verständlicherweise skeptisch: Sind Theologinnen und Theologen in der Lage, in diesem allgemeinen erinnerungsethischen
Vorwort
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Sinn über Jesus urteilen zu können? Unsere Antwort ist: In einer säkularen und pluralistischen Gesellschaft haben gerade sie ein Interesse, dass das Gespräch zwischen Gruppen mit verschiedener Religionen und Einstellungen zur Religion möglich wird. Es muss heute sowohl Evangelikale und Liberale, Skeptiker und Religionskritiker, Christen und NichtChristen einbeziehen Der erinnerungshistorische Ansatz selbst ist keine Einheit. In ihm gibt es extrem konservative und radikal skeptische Einstellungen. Wir ordnen uns in der Mitte ein: Wir sind überzeugt, dass die Jesusüberlieferungen „milieuauthentisch“ in die Geschichte des Judentums im 1. Jh. hineinpassen und in ihnen „wirkungsauthentische“ Erinnerungsbilder erhalten sind, die ohne den historischen Jesus nie entstanden wären – in einzelnen auffallenden Erinnerungsspuren, vor allem aber in Erinnerungsstrukturen, die durch Zusammenschau vieler Überlieferungen erkennbar werden. Wir führen als erinnerungshistorischen Ansatz den an der Bibel gewonnen Gedanken der „kontrapräsentischen Erinnerung“ fort, erhellen mit Hilfe „kognitiver Ansätze“ Traditionsprozesse und folgen bei unserer Darstellung einem „erinnerungsethischen Motiv“. Dabei differenzieren wir zwischen dem „kommunikativen Gedächtnis“ der mündlichen Überlieferung in den ersten Generationen und deren Weg ins „kulturelle Gedächtnis“ durch Verschriftlichung als Vorstufe zur späteren Kanonisierung. Wir widmen des Buch Christoph Burchard, unserem Kollegen und Lehrer. Ihm war unser Lehrbuch von 1996 gewidmet. Er starb, nachdem wir 2020 mit der Neubearbeitung dieses Lehrbuchs begonnen hatten. Er ist ein Vorbild für nüchterne und sensible historische Arbeit in der neutestamentlichen Wissenschaft und für gute Zusammenarbeit. Aus unserem Buch von 1996 wurde ein neues Lehrbuch, bei dem wir viele Passagen in neuer Bearbeitung in unseren Text integriert haben. Das Buch ist Ergebnis einer langen Zusammenarbeit über ein Vierteljahrhundert hinweg. Die Vorlagen für die neue Fassung wurden von Gerd Theißen formuliert, von Annette Merz durch Gegenlektüre, Kritik und Anregungen bereichert. Sie sind das Ergebnis eines jahrzehntelangen Austauschs zwischen uns. Wir danken dem Verlag, vor allem Miriam Lux und Izaak de Hulster für die Betreuung des Buches. Peter Hansum und Zung Bawm waren eine große Hilfe bei der Erstellung des Stellenregisters. Bedingt durch Corona hat sich die Fertigstellung des Manuskripts verzögert. Das forderte von allen etwas Geduld. Heidelberg und Groningen im September 2022 Gerd Theißen Annette Merz
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 § 1 Die Geschichte der Leben-Jesu-Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
1. Die Aufklärung: H.S. Reimarus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 2. Kritik im Zeichen des Idealismus: D.F. Strauß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 3. Der Historismus und die liberale Leben-Jesu-Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 4. Die Krise der Leben-Jesu-Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 5. Die „neue Frage“ nach dem historischen Jesus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 6. Die „third quest for the historical Jesus“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 7. Der „erinnerte Jesus“ als kognitiver Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 8. Hermeneutische Reflexion und Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Erster Teil: Die Quellen und ihre Auswertung § 2 Nichtchristliche Quellen über Jesus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
1. Jüdische Zeugnisse über „Jesus“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 2. Römische Zeugnisse über Jesus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 3. Nicht-römische Zeugnisse über Jesus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 § 3 Christliche Quellen über Jesus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .54
1. Kanonische und außerkanonische Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 2. Mündliche Jesusüberlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 3. Synoptische Evangelien und apokryphe Evangelienfragmente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 4. Gnosisnahe Evangelien und gnostische Apokryphen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 5. Apokryphe judenchristliche Evangelien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 7. Hermeneutische Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 § 4 Die Auswertung der Quellen: Skepsis und Zuversicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .97
1. Vierzehn Argumente historischer Skepsis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 2. Kriterien der Jesusforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 3. Hermeneutische Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
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Inhalt
Zweiter Teil: Der Rahmen der Geschichte Jesu § 5 Der zeitgeschichtliche Rahmen des Lebens Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
1. Grundzüge des Judentums in hellenistisch-römischer Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 2. Jüdische Erneuerungsbewegungen des 2. Jh. v. Chr. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 3. Jüdische Erneuerungsbewegungen des 1. Jh. n. Chr. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 4. Zusammenfassung und hermeneutische Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 § 6 Der chronologische Rahmen des Lebens Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
1. Das Jahr der Geburt Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 2. Die Zeit des öffentlichen Wirkens Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 3. Der Tod Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 4. Zusammenfassung und hermeneutische Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 § 7 Der geographische und soziale Rahmen Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
1. Der Geburtsort Jesu: Nazareth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 2. Das Zentrum des Wirkens Jesu: Kapernaum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 3. Die Wanderungen Jesu: Galiläa und Umgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 4. Der Ort der Passion: Jerusalem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 5. Hermeneutische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 § 8 Johannes der Täufer: Vorläufer und Vorbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
1. Phasen der Forschungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 2. Die Quellen und ihre Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 3. Die Einordnung des Täufers in die Zeitgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 4. Die Verkündigung des Täufers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 5. Zusammenfassung und hermeneutische Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Dritter Teil: Das Wirken und die Verkündigung Jesu § 9 Jesus als Charismatiker: Seine sozialen Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193
1. Phasen der Forschungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 2. Die Quellen: Die Apophthegmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 3. Jesus und seine Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 4. Jesus und sein Lehrer: Johannes der Täufer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 5. Jesus und seine Anhängerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 6. Jesus und seine Diskussionspartner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 7. Zusammenfassung und hermeneutische Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220
Inhalt
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§ 10 Jesus als Prophet: Die Eschatologie Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223
1. Phasen der Forschungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 2. Die Tradition vom Königtum Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 3. Gegenwart und Zukunft in der Verkündigung Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 4. Gericht und Heil in der Verkündigung Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 5. Abhängigkeit und Aktivität in der Verkündigung Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 6. Das Vaterunser als Synthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 7. Hermeneutische Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 § 11 Jesus als Heiler: Die Wunder Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263
1. Die Forschungsgeschichte zu den Wundern Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 2. Die Motive urchristlicher Wundergeschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 3. Die Gattungen urchristlicher Wundergeschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 4. Die Wundergeschichten als Erinnerungsspur des historischen Jesus . . . . . . . . . . . . . . . 280 5. Jesus als Wundertäter im Kontext zeitgenössischer Wundertäter . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 6. Hermeneutische Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 § 12 Jesus als Dichter: Die Gleichnisse Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295
1. Die Forschungsgeschichte zu den Gleichnissen Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 2. Formen und Gattungen bildlicher Rede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 3. Gleichnisse als Erzählungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 4. Gleichnisse in den Evangelien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 5. Gleichnisse als Jesuserinnerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 6. Hermeneutische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 § 13 Jesus als Lehrer: Die Ethik Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334
1. Die Forschungsgeschichte zur Ethik Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 2. Das doppelte Liebesgebot als Zentrum der Thora . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 3. Die Radikalisierung der Liebe zu Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 4. Die Radikalisierung der Nächstenliebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 5. Jesu Ethik als Thoraauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 6. Jesu Ethik als weisheitliche Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 7. Jesu Ethik als eschatologische Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 8. Hermeneutische Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 § 14 Jesus als Gesandter: Sein Sendungsbewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379
1. Die Forschungsgeschichte zum Selbstverständnis Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 2. Historischer Jesus und christologisches Selbstverständnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385
12
Inhalt
3. Jesus als Lehrer und Prophet: Die implizite Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 4. Jesus als Messias: Die evozierte Christologie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 5. Jesus als Menschensohn: Die explizite Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 6. Hermeneutische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416 Vierter Teil: Passion und Ostern § 15 Jesus als Kultstifter: Symbolhandlungen Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423
1. Das Abendmahl in der Forschungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424 2. Die prophetischen Symbolhandlungen Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 3. Abendmahlstexte und Abendmahlstypen im Urchristentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432 4. Das letzte Mahl Jesu im Kontext des Passafestes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 5. Das letzte Mahl Jesu im Kontext seiner Todeserwartung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 6. Das letzte Mahl Jesu im Kontext des Konflikts mit dem Tempel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 7. Zusammenfassung und hermeneutische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 § 16 Jesus als Märtyrer: Die Passion Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456
1. Die Forschungsgeschichte zur Passion Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 2. Die Quellen und ihre Tendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 3. Die Rolle der Jerusalemer Aristokratie beim Vorgehen gegen Jesus . . . . . . . . . . . . . . . . 466 4. Die Rolle des Volkes beim Vorgehen gegen Jesus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 5. Die Rolle der Jünger: Flucht, Verleugnung und Verrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473 6. Die Rolle der Römer beim Vorgehen gegen Jesus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477 7. Objektive Ursachen der Hinrichtung Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 8. Subjektive Sinndeutung: Wie hat Jesus seinen Tod gedeutet? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484 9. Zusammenfassung und hermeneutische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 § 17 Jesus als Auferstandener: Ostern und seine Deutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489
1. Die Diskussion um den Osterglauben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489 2. Die Gattungen und Formen der Ostertexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495 3. Auswertung der Formelüberlieferung zu den Ostererscheinungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 499 4. Auswertung der Erzählüberlieferung zu den Ostererscheinungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 502 5. Historische Kritik der Erscheinungserzählungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 506 6. Historische Kritik der Grabeserzählungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511 7. Die Ostererfahrungen. Versuch einer Rekonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517 8. Hermeneutische Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 520
Inhalt
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§ 18 Vom historischen Jesus zum Christusglauben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527
1. Die Transformation der Jüngererwartungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 528 2. Die nachösterliche Verehrung Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 530 3. Altkirchliche Christologie als Modell religiöser Erfahrung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537 § 19 Wer war Jesus? Eine Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 542
1. Sein Herkunftsmilieu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 542 2. Der Nachfolger des Täufers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543 3. Der Charismatiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 544 4. Der Prophet: Die beginnende Gottesherrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 544 5. Der Wundertäter: Heilungen durch Glauben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545 6. Der Dichter: Gleichnisse und Symbolhandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 546 7. Der Lehrer: Das Doppelgebot der Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547 8. Jesus als Märtyrer: Der Konflikt in Jerusalem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 548 9. Die posthume Religionsstiftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 549 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 551
Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 551 Jesusdarstellungen (Auswahl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 558 Sammelwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 560 Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561 Sachregister (Auswahl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 584
§ 1 Die Geschichte der Leben-Jesu-Forschung
M.Baumotte (Hg.), Die Frage nach dem historischen Jesus. Texte aus drei Jahrhunderten, 1984; A.le Donne, Historical Jesus. What Can We Know and How Can We Know It? 2011; Th.Havukainen, The Quest for the Memory of Jesus: A Viable Path or a Dead End? 2020; S.Neill/T.Wright, The Interpretation of the New Testament 1861–1986, 1988; M.Reiser, Kritische Geschichte der Jesusforschung. Von Kelsos und Origenes bis heute, 2015; H.Graf Reventlow, Epochen der Bibelauslegung IV: Von der Aufklärung bis zum 20. Jahrhundert, 2001; E.D.Schmidt (Hg.), Jesus, quo vadis? Entwicklungen und Perspektiven der aktuellen Jesus forschung, 2018; J.Schröter/Chr.Jacobi (Hg.), Jesus Handbuch, 2017, 15–124; A.Schweitzer, Von Reimarus zu Wrede. Eine Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, 1906, ders., Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, 1913; R.L.Webb, The Historical Enterprise and Historical Jesus Research, in: D.L.Bock/R.L.Webb, Key
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Events in the Life of the Historical Jesus, 2009, 9–93; W.Zager, Jesusforschung in vier Jahrhunderten. Texte von den Anfängen historischer Kritik bis zur „dritten Frage“ nach dem historischen Jesus, 2014.
Die Frage nach dem historischen Jesus war nie interessenfrei. Viele suchten einen Verbündeten für ihre Zwecke, einige für Religionskritik, andere für eine Erneuerung des Christentums, die meisten aber für den überlieferten christlichen Glauben. Die Frage, wer Jesus war, wurde in der Antike schon von Kelsos, dem ersten bedeutenden Kritiker des Christentums ca. 180 n. Chr. gestellt. Origenes (185–254) antwortete auf seine Kritik. Damals kam die Frage von außen, spätestens in der Aufklärung kam sie von innen aus dem Christentum selbst, wurde historisch-kritisch mit Quellenkritik und geschichtlicher Kontextualisierung diskutiert. Im 19. Jh. verband der theologische Liberalismus mit ihr die Hoffnung, das Christentum in der modernen Kultur zu erneuern und zu bewahren. Oft wird diese liberale Forschung (sachlich unzutreffend) die „erste Frage“ nach dem historischen Jesus genannt. In der Krisenzeit Europas in der ersten Hälfte des 20. Jh.s begründete dagegen die Dialektische Theologie den christlichen Glauben bewusst nicht durch den historischen Jesus, sondern im „Kerygma“ von Kreuz und Auferstehung als Ruf aus dem Jenseits und verband ihn mit Kritik an der tradierten Kultur. Die Frage nach Jesu Leben vor seinem Tod trat zurück. Auch in der Theologie hatte dadurch eine radikale „kritische Frage“ nach dem historischen Jesus eine Chance. Als nach dem zweiten Weltkrieg aber erneut diskutiert wurde, wie Leben und Zusammenleben im Diesseits zu gestalten seien, interessierte sich die sogenannte „neue Frage“ nach dem historischen Jesus wieder dafür, wie dieser Ruf aus dem Jenseits Menschen hier und jetzt existenziell verwandelt und wie das schon in der Verkündigung Jesu spürbar war. Seit den 68 Jahren begnügte sich eine neue Generation freilich nicht mehr damit, die eigene individuelle Existenz zu gestalten, sondern wollte die Gesellschaft verändern. Sie stellte die „dritte Frage“ nach dem, was Jesus in seiner Gesellschaft gewollt und bewirkt hat. Seitdem hat sich die Gesellschaft stark verändert, in einer sich rapide säkularisierenden
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Gesellschaft wurde Jesus für viele Menschen zu einer verblassenden „kulturellen Erinnerung“. Auch deshalb trat um die Jahrhundertwende 2000 die Frage nach dem „erinnerten Jesus“ in den Vordergrund. Eine Minderheit hält an Jesus als „kontrapräsentischer Erinnerung“ fest, auch wenn sie damit moderner Mentalität widerspricht. Unser Lehrbuch will die wichtigsten Resultate aller Phasen der Leben-Jesu-Forschung für alle an Jesus interessierten Leserinnen und Leser zusammenführen. Die verschiedenen Fragen existierten auch in früheren Phasen oft nebeneinander.1 Wir beginnen mit einem Überblick über die Leben-JesuForschung von der Aufklärung bis heute.
1. Die Aufklärung: H.S. Reimarus Historisch-kritische Bibelwissenschaft begann mit zwei Veröffentlichungen, dem Tractatus theologico-politicus, 1670, von Baruch de Spinoza und der Schrift von J.Locke, The Reason ableness of Christianity, as delivered in the Scriptures, 1695, in dessen Nachfolge der eng�lische Deismus Jesus als Vertreter der wahren natürlichen Religion deutete. Beeinflusst von diesem Deismus entwickelte Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) in Hamburg in seiner „Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes“ eine grundsätzliche Kritik der Evangelien. Nach seinem Tod veröffentlichte G.E.Lessing 1774 bis 1778 daraus sieben anonyme Fragmente.2 Allgemein akzeptiert ist heute (1) der methodische Ansatz von Reimarus, der unterschied, „was die Apostel in ihren eigenen Schriften vorbringen, von dem, was Jesus in seinem Leben würklich selbst ausgesprochen und gelehret hat.“3 Zutreffend ist (2) seine historische Erkenntnis, dass die Verkündigung Jesu im Kontext der jüdischen Religion seiner Zeit zu verstehen ist. Ihr Zentrum ist die eschatologische Predigt von der Nähe des Himmelreiches und dem darin begründeten Ruf zur Umkehr. Umstritten ist (3) seine These, Jesus habe ein weltliches Königreich erwartet, „das Reich Christi oder des Meßias, worauf die Juden so lange gewartet und gehoffet hatten“.4 Reimarus lehnte diese politische Botschaft Jesu ab, bejahte aber Jesu Ethik der Nächstenliebe. (4) Provozierend war seine Erklärung der Diskrepanz zwischen Jesu Botschaft und der Verkündigung der Apostel durch seine Betrugstheorie: Die Jünger hätten, um sich nicht ihr Scheitern eingestehen zu müssen, den Leichnam gestohlen und nach 50 Tagen, als die Leiche nicht mehr identifizierbar war, seine Auferstehung und Wiederkunft verkündigt. Diese Theorie wurde von einem zweiten großen Kritiker korrigiert.
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2 3 4
Diese Phasen lassen sich z. T. nur in der protestantischen Forschung unterscheiden, sind aber seit der „dritten Frage“ interkonfessionell und international erkennbar. Sie sind keine Fiktion. Anders F.Bermejo Rubio, The Fiction of the ‚Three Quests‘: An Argument for Dismantling a Dubious Historiographical Paradigm, JSHJ 7 (2009) 211–253. Besonders das 6. und 7. Fragment („Über die Auferstehungsgeschichte“; „Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger“) sind für die Frage nach dem historischen Jesus wichtig. Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger, § 3; zit. n. M.Baumotte, Frage*, 1984, 12–21, S. 13. H.S.Reimarus, Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger, § 4.
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2. Kritik im Zeichen des Idealismus: D.F. Strauß David Friedrich Strauß (1808–1874) war ein Schüler F.W.Hegels (1770–1831) und F.Chr.Baurs (1792–1860), der 1835/36: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet, 2 Bde, veröffentlichte, das ihm lebenslang gesellschaftliche Ächtung beschert hat. (1) Strauß wandte den in der alttestamentlichen Forschung geläufigen Mythosbegriff auf die Evangelien an und entwarf seine mythische Deutung der Jesusüberlieferung als Synthese aus Supranaturalismus und Rationalismus. Rationalistische Leben-Jesu-Darstellungen wollten die Wunder Jesus „vernünftig“ erklären. H.E.G.Paulus (1789–1851) deutete z. B. die Auferweckung der Tochter des Jairus als Überwindung eines Scheintods, den Seewandel als Jüngervision, die Darstellung der Evangelisten als Konzession an „jüdische Wundersucht“.5 Diesem Jesusbild widersprach die traditionelle supranaturalistische Deutung: In Jesus wirke Gott selbst durch Eingriffe in die Natur. Strauß wollte die Mängel beider Richtungen durch eine mythische Betrachtungsweise überwinden: Überall, wo Naturgesetze außer Kraft gesetzt werden, Überlieferungen einander widersprechen oder alttestamentliche Motive auf Jesus übertragen werden, sei der Mythos als „absichtslos dichtende Sage“ am Werk. Unhistorisches wird nicht auf bewussten Betrug zurückgeführt. (2) Der Kern des christlichen Glaubens wird für den Hegelianer Strauß (in seiner Frühzeit) durch diese mythische Betrachtungsweise nicht berührt. Im historischen Individuum Jesus realisiere sich die Idee der Einheit von Gott und Mensch. Der Mythos sei die legitime „geschichtsartige“ Einkleidung dieser höchsten menschlichen Idee.6 (3) Strauß hielt in der Nachfolge von K.G.Bretschneider (1776–1848) das Johannesevangelium für historisch weniger wertvoll als die Synoptiker. Eine Schwäche seiner Kritik war aber seine literarische Verhältnisbestimmung der synoptischen Evangelien: Er vertrat nämlich die Hypothese, Mt und Lk seien die ältesten Evangelien, Mk ein Exzerpt aus beiden.7 Mit Klärung der Quellenverhältnisse durch die Zwei-Quellen-Theorie konnte daher die liberale Theologie im 19. Jh. hoffen, den von Strauß ausgelösten „Schock“ im Rahmen eines strikt an den Quellen orientierten Historismus, der die Geschichtstheorien des Idealismus ablöste, aufzufangen.
3. Der Historismus und die liberale Leben-Jesu-Forschung Der Historismus des 19. Jahrhunderts deutete die Geschichte als Ausdruck großer Individuen und überindividueller Entwicklungen. In seinem Rahmen wollte der theologische Liberalismus durch eine historisch-kritische Rekonstruktion der Geschichte Jesu den christlichen Glauben erneuern und das kirchliche Christusdogma durch den historischen Jesus ersetzen. (1) Methodische Basis war die literarkritische Rekonstruktion der ältesten Quellen. 5 6 7
H.E.G.Paulus, Das Leben Jesu als Grundlage einer reinen Geschichte des Urchristentums, 1828. Nach der spekulativen Christologie von Strauß realisiert sich eine Idee nicht in einem Exemplar, weshalb sich die Attribute Christi auf die Menschheit als ganze, d. h. die Gattung, beziehen. Das war die Hypothese von J.J.Griesbach (1745–1812) in: Commentatio qua Marci Evangelium totum e Matthaei et Lucae commentariis decerptum esse monstratur, 1789.
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F.Chr.Baur wies den Vorrang der Synoptiker vor dem Johannesevangelium nach, H.J.Holtzmann (1832–1910) verlieh der Zwei-Quellen-Theorie allgemeine Anerkennung:8 Mk und die Logienquelle (Q) gelten seitdem als die zuverlässigsten Quellen für Jesus, also eine Schrift, die wie das MkEv bisher im Schatten des Interesses gestanden hatte, oder wie die Logienquelle (Q) erst wissenschaftlich rekonstruiert worden war. Eine auf diesen ältesten Quellen basierende Emanzipation vom kirchlichen Jesusbild schien möglich. (2) Aus dem Markus evangelium übernahm Holtzmann den Aufriss des Lebens Jesu. Nachdem sich in Galiläa das messianische Bewusstsein Jesu gebildet habe, habe er sich in Cäsarea Philippi den Jüngern als Messias zu erkennen gegeben. In diesen biographischen Rahmen des MkEv fügte er die aus Q gewonnenen authentischen Worte Jesu ein. (3) Der Leitgedanke einer sich in den Quellen spiegelnden Entwicklung der Persönlichkeit Jesu blieb auch weiterhin die Grundlage der liberalen „Leben-Jesu-Darstellungen“, in denen sich freilich oft das Persönlichkeitsideal ihrer Verfasser widerspiegelt. Exkurs: Die Bestreitung der Geschichtlichkeit Jesu Gegen den historischen Optimismus des theologischen Liberalismus wandte sich der Zweifel, dass Jesus überhaupt existiert hat.9 Jesus galt entweder als literarische Schöpfung, historisierter Mythos oder Ausdruck einer Erlösungssehnsucht armer Schichten. (1) Der Hegelianer Bruno Bauer (1809–1882)10 wollte die geschichtliche Zuverlässigkeit der Jesusüberlieferung verteidigen, „bekehrte“ sich aber in: Kritik der evangelischen Geschichte der Synoptiker, 1841/42, zu einer radikalen Skepsis. Auch im ältesten Evangelium, dem MkEv, stoßen wir nur auf das Bild von Jesus, wie es sich im Bewusstsein des Evangelisten gebildet hat, nie auf Jesus selbst, der ein literarisches Produkt des Evangelisten sei. (2) Um 1900 mehrten sich Zweifel an der Geschichtlichkeit Jesu. Die Jesusüberlieferung wurde als ein historisierter Mythos gedeutet, der schon vor Jesus existiert habe. William B.Smith (1850–1934) dachte in: Der vorchristliche Jesus, 1906, u. a. an einen orientalischen Kult des Gottmenschen, der Karlsruher Philosophieprofessor Arthur Drews (1865–1935) in: Die Christusmythe, 1909/11, an antike Mythen von sterbenden und auferstehenden Göttersöhnen, die nachträglich in Palästina historisiert worden seien11 (3) Der Bremer Theologe Albert Kalthoff (1850–1906) sah in Jesus dagegen den Ausdruck der Erlösungssehnsucht armer Schichten in: Das Christus-Problem. Grundlinien zu einer Sozialtheologie, 1902. Kalthoff kämpfte gegen den Antisemitismus, öffnete seine Kanzel für eine Frau und war kurz vor seinem Tod Vorsitzender des Monistenbundes, in dem sich pantheistische und naturalistische Überzeugungen verbanden. Er starb kurz vor Eröffnung eines kirchlichen Lehrzuchtverfahrens gegen ihn. 8 Grundlegend für die Zwei-Quellentheorie war der Nachweis der Markuspriorität durch Chr.G.Wilke 1838 und der Logienquelle durch Chr.H.Weiße 1839. H.J.Holtzmann, Die synoptischen Evangelien. Ihr Ursprung und geschichtlicher Charakter, 1863, kombinierte beide Thesen. 9 Erste Zweifel finden sich bei den Franzosen C.F.Volney (1757–1820) und Ch.F.Dupuis (1742–1809). 10 B.Bauer, 1842 wegen seiner Kritik als Theologiedozent entlassen, wurde ein Anhänger der konservativen Rechten, Atheist und Antisemit. 11 Vgl. ferner A.Drews, Die Leugnung der Geschichtlichkeit Jesu in Vergangenheit und Gegenwart (1926). A.Drews begrüßte 1933 den Nationalsozialismus.
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In neuerer Zeit bestritt u. a. der englische Germanist G.A.Wells (1926–2017) die Geschichtlichkeit Jesu in: Did Jesus Exist? 1975.12 Jesus sei eine Historisierung des jüdischen Weisheitsmythos: Danach hat die Weisheit die Welt geschaffen und sich auf Erden in Menschen inkorporiert, hat hier leiden müssen und sei in den Himmel zurückgekehrt. Später hat Wells seine These widerrufen. Der historische Jesus habe existiert, sei aber in einen Mythos gekleidet worden. R.Carrier: On the Historicity of Jesus: Why we Might Have Reason for Doubt, 2014, vertritt nur noch als Hypothese, dass Jesus am Anfang des Urchristentums eine himmlische Figur vergleichbar Gabriel im Islam war, die sekundär historisiert worden sei.13 Dass der Schöpfer und Richter der Welt mit einem Menschen identisch ist, ist so unwahrscheinlich, dass man verständlicherweise immer wieder vermutet, hier sei ein Mythos historisiert worden. Doch Jesus ist historisch besser bezeugt als Paulus, der im Unterschied zu Jesus in keiner nichtchristlichen Schrift mit Namen erwähnt wird. Trotzdem zweifelt niemand daran, dass Paulus gelebt hat. Für die Jesusforschung war die grundsätzliche Skepsis um die 1900-Wende ein wichtiger Stimulus, erklärt aber auch eine Krise der Leben-Jesu-Forschung vor allem in der deutschsprachigen Forschung.
4. Die Krise der Leben-Jesu-Forschung Um die Jahrhundertwende führten vier Einsichten zu dieser Krise: (1) A.Schweitzer deckte in seiner „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“ den projektiven Charakter der Leben-JesuBilder auf.14 Sie zeigten die Persönlichkeitsstruktur, die ihren Verfassern als ethisches Ideal galt. (2) W.Wrede wies in: Das Messiasgeheimnis in den Evangelien, 1901, den tendenziösen Charakter der ältesten Quelle für das Leben Jesu nach. Schon das MkEv sei Ausdruck von Gemeindedogmatik, der nachösterliche Glaube an die Messianität Jesu werde in ihm in das unmessianische Leben Jesu zurück projiziert und die Messianität Jesu mit einem unhistorischen „Messiasgeheimnis“ umgeben. (3) Die Formgeschichte machte den fragmentarischen Charakter der Evangelien bewusst. Die Jesusüberlieferung bestehe aus „kleinen Einheiten“, deren chronologische und geographische Ordnung erst vom MkEv geschaffen worden sei. Damit entfiel die Möglichkeit, eine Entwicklung der Persönlichkeit Jesu aus der Reihenfolge der Perikopen herauszulesen.15 (4) M.Dibelius, Die Formgeschichte des Evangeliums, 1919, und R.Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition, 1921, erkannten ferner, dass diese „kleinen Einheiten“ primär durch Gemeindebedürfnisse geprägt sind. Sie wollen nicht historische Erinnerungen bewahren, sondern kerygmatisch in die Gegenwart hineinwirken. Damit brach das Zutrauen zusammen, durch Rekurs auf die beiden ältesten Quellen, Mk und Q, zwischen der Geschichte Jesu und dem nachösterlichen Christusbild unterscheiden zu können. 12 Vgl. auch G.A.Wells, The Jesus of the Early Christians, 1971. Seine Rückkehr zur Annahme der Historizität Jesu findet sich in: The Jesus Myth, 1998, und: Cutting Jesus Down to Size, 2009. 13 Vgl. D.N.Gullotta, On Richard Carier’s Doubts. A Response to Richard Carrier’s On the Historicity of Jesus: Why We Might Have Reason for Doubt, JSHJ 15 (2017) 310–346. 14 A.Schweitzer, Von Reimarus zu Wrede*, 1906; erweitert: Geschichte der Leben-Jesu-Forschung*, 19132. 15 K.L Schmidt, Der Rahmen der Geschichte Jesu, 1919.
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R.Bultmann (1884–1976) hat diese Skepsis historisch verschärft, theologisch aber fruchtbar gemacht. (1) Er schloss sich der Dialektischen Theologie an, in der Gott und Welt so radikal entgegensetzt wurden, dass sie sich wie die Tangente den Kreis nur in einem Punkt berühren, nämlich in der Tatsache, „dass Jesus gekommen ist“. Theologisch entscheidend sei nicht, was Jesus als Mensch gesagt und getan hat, sondern was Gott durch ihn in Kreuz und Auferstehung getan und gesagt hat. Das sei die Botschaft oder das „Kerygma“ des Neuen Testaments. (2) Ferner deutete Bultmann die Situation des Menschen existenzphilosophisch so, dass er seine „Eigentlichkeit“ erst in einer Entscheidung gewinnt, die er nicht durch Wissen absichern kann. Sie sei Antwort auf den Ruf Gottes im Kerygma, das der Mensch existenziell nachvollzieht, indem er mit Christus stirbt und ein neues Leben beginnt. Existenzialismus und Dialektische Theologie verband Bultmann (3) mit der historisch-kritischen Exegese der liberalen Tradition. Die profiliertesten neutestamentlichen Theologien zeigten kaum Interesse am historischen Jesus: Paulus bestreite in 2Kor 5,16, dass es von theologischer Bedeutung sei, Christus nach dem Fleisch gekannt zu haben. Das Johannesevangelium stelle Christus als Offenbarer dar, der vor allem offenbart, dass er der Offenbarer ist. Beide haben durch das Kerygma von Kreuz und Auferstehung alle vorösterlichen Erinnerungen „umgeschmolzen“. Wenn D.F.Strauß die Wahrheit des Christusmythos in einer „Idee“ sah, so Bultmann im „Kerygma“ als Ruf zur eigentlichen Existenz. (4) Die religionsgeschichtliche Forschung zeige zudem, dass der historische Jesus ins Judentum gehört und das Christentum erst mit Ostern beginnt. Aus der Erkenntnis von J.Wellhausen in: Einleitung in die ersten drei Evangelien, 21911, 102: „Jesus war kein Christ, sondern Jude“, zog Bultmann den Schluss, dass die Lehre des historischen Jesus für die christliche Theologie ohne wesentliche Bedeutung sei, konzedierte jedoch, dass die nachösterliche Christologie im vorösterlichen Entscheidungsruf Jesu implizit angelegt sei. Das motivierte seine Schüler, die Frage nach dem historischen Jesus neu zu stellen.
5. Die „neue Frage“ nach dem historischen Jesus Nachdem in Deutschland viele Traditionen durch den Nationalsozialismus kompromittiert waren, erneuerte der Philosoph H.G.Gadamer (1900–2002) das Vertrauen in die Tradition in seiner Hermeneutik: Wahrheit und Methode, 1960. Gleichzeitig rehabilitierten Schüler Bultmanns das Vertrauen in die Jesusüberlieferung. Während die liberale Forschung den „wirklichen Jesus“ kritisch gegen die Verkündigung der Kirche ausspielte, vertraute diese „neue Frage“ nach dem historischen Jesus darauf, dass der Offenbarungsanspruch Jesu „Anhalt“ in seiner Verkündigung hat. Genauso wie das Kerygma einst auf Erden angekommen war, sollte die urchristliche Botschaft auch im Leben des Einzelnen heute existenziell ankommen. Aufgeworfen wurde die „neue Frage“ durch den von E.Käsemann 1953 gehaltenen Vortrag: Das Problem des historischen Jesus, ZThK 61 (1954) 125–153,16 mit drei Thesen: (1) Das christologische Kerygma verpflichte zur „Rückfrage nach dem historischen Jesus“, 16 Auch in E.Käsemann, Exegetische Versuche und Besinnungen, 1960, 187–214.
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da es sich gegen die enthusiastische Frömmigkeit einer unmittelbaren Beziehung zu Gott auf eine irdische Gestalt beruft, von der die Evangelien erzählen. Die Identität des irdischen Jesus und des erhöhten Christus werde in allen urchristlichen Schriften vorausgesetzt. (2) Die methodische Basis der Rückfrage nach diesem historischen Jesus war die Zuversicht, man könne ein gesichertes Minimum echter Jesusüberlieferung finden, wenn man alles ausscheidet, was aus dem Judentum und aus dem Urchristentum ableitbar ist. An die Stelle der literarkritischen Suche nach den ältesten Quellen im theologischen Liberalismus trat methodisch ein religions- und traditionsgeschichtlicher Vergleich mit Judentum und Urchristentum als Differenzkriterium. (3) Einen vorösterlichen Anhalt des Christuskerygmas suchte man unabhängig davon, ob Jesus explizit christologische Titel wie Menschensohn, Messias, Sohn Gottes gebraucht hat. Sein Anspruch sei implizit in seinem Verhalten und seiner Verkündigung enthalten. Diese „implizite Christologie“ sah man 1. im Entscheidungsruf Jesu angesichts der Gottesherrschaft, so R.Bultmann, Das Verhältnis der urchristlichen Christusbotschaft zum historischen Jesus, Exegetica, 1967, 445–469, 2. in der Gesetzeskritik Jesu, die alle antiken Religionen in Frage stellt und Freiheit gegenüber ihren Forderungen gibt, in: E.Käsemann, Der Ruf der Freiheit, 1968, 3. in der Unmittelbarkeit Jesu, durch die er sich von Apokalyptik und Kasuistik seiner Umwelt unterscheidet, in: G.Bornkamm, Jesus von Nazareth, 1956, 4. in der Inanspruchnahme der Liebe Gottes für die Sünder im Verhalten und Wort Jesu bei E.Fuchs, Die Frage nach dem historischen Jesus, ZThK 53 (1956) 210–229, 5. in der Verbindung von radikalisierter Thora und radikaler Gnade in Jesu Verkündigung bei H.Braun, Der Sinn der neutestamentlichen Christologie, ZThK 54 (1957) 341–377, 6. in Jesu Glauben, der ihn an Gottes Allmacht partizipieren lässt: „Alles ist möglich dem, der glaubt“ bei G.Ebeling, Jesus und Glaube, ZThK 55 (1958) 64–110. Die theologische Intention, das Christuskerygma in nuce schon in der Verkündigung Jesu zu entdecken, führte zusammen mit dem Differenzkriterium (4) zur Wahrnehmung Jesu im Kontrast zum Judentum, berücksichtigte aber nur wenig Ergebnisse der jüdischen Jesusforschung. Exkurs: Jüdische Jesusforschung17 Während Dialektische Theologen mit ihrer Abkehr vom theologischen Liberalismus die Suche nach dem historischen Jesus abwerteten, setzten jüdische Jesusforscher diese Tradition fort. Ihre „Heimholung Jesu ins Judentum“ widersprach der Tendenz, Jesus gegen das Judentum auszuspielen. Sie stellten vielmehr Jesus als jüdischen Ethiker, Propheten und Rebellen dar. (1) J.Klausner, Jesus von Nazareth, 1934, hebr. 1907, sah in Jesus den Vertreter einer jüdischen Ethik. Er bezeichnete ihn als extremen „Nationalisten“ (S. 573), schrieb ihm aber einen „neuen Gottesbegriff“ zu (S. 527), der sich von der Bindung an Volk und Geschichte löst. 17 G.Lindeskog, Die Jesusfrage im neuzeitlichen Judentum. Ein Beitrag zur Geschichte der Leben-JesuForschung, 1938; W.Vogler, Jüdische Jesusinterpretationen in christlicher Sicht, 1988.
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(2) Nach C.G.Montefiore, The Synoptic Gospels, 1909 21927, setzt Jesus die Reihe der großen Propheten fort. Die alten Propheten mussten sich noch nicht mit dem Gesetz als einer fertigen Größe auseinandersetzen, sie polemisierten nur gegen den Opferkult. Der war in der Zeit Jesu auf den Jerusalemer Tempel beschränkt, während Sabbat-, Speise- und Reinheitsgebote das ganze Leben durchdrangen. Daher griff Jesus diese Riten an, weil sie in der Gefahr waren, sich zu veräußerlichen, und setzte so das Anliegen der Propheten fort. (3) Die These des Reimarus, Jesus habe ein weltliches Königreich gründen wollen, wurde von R.Eisler, ΙΗΣΟΥΣ ΒΑΣΙΛΕΥΣ ΟY ΒΑΣΙΛΕYΣΑΣ (Jesus Basileus ou Basileusas), 1929/30,18 erneuert. Zunächst habe Jesus eine gewaltfreie Lehre vertreten, dann mit Gewalt den Tempel erobert und sei im Konflikt mit den Römern gescheitert. (4) H.J.Schoeps, Jesus, in: Die großen Religionsstifter und ihre Lehren, 1954, 63–132, widersprach Zweifeln am messianischen Selbstbewusstsein Jesu und erklärte seine freie Gesetzesauslegung damit, dass für Jesus der Wille Gottes und das Gesetz nicht identisch sind, so dass er die Schöpfung gegen das Gesetz ausspielen konnte. (5) Nach D.Flusser, Jesus in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, 1968, war Jesus ein gesetzestreuer Jude. Nicht die Gesetzeskritik, sondern jüdische Traditionen wie das Liebesgebot, die Überwindung des Vergeltungsgedankens und die Erwartung des Reiches Gottes prägten seine Verkündigung. (6) G.Vermes, Jesus the Jew, 1973, ordnete Jesus in ein charismatisches Milieu in Galiläa ein. Wie Hanina ben Dosa im damaligen Galiläa verband er Wundertaten und Weisheitssprüche. „Menschensohn“ meine schlicht „einen Menschen“ (mit J. Wellhausen). Bei Jesus sei der Begriff Umschreibung für „ich“. Die jüdische Jesusforschung war von einseitigen theologischen Interessen nach dem historischen Jesus frei und berührt sich in Vielem mit der „third quest“ in der Jesusforschung.19
6. Die „third quest for the historical Jesus“ Das nach 1945 erneuerte hermeneutische Vertrauen in die Überlieferung wurde seit 1968 durch sozialgeschichtliche Zugänge in Frage gestellt. An die Stelle des Vertrauens in die Überlieferung trat eine „Hermeneutik des Verdachts“. Allzu oft hätten konservative Interessen die Jesusforschung bestimmt. So wurden Einseitigkeiten der „neuen Frage“ nach dem historischen Jesus bewusst. Sie war vom Interesse bestimmt, christliche Identität durch Unterscheidung vom Judentum und von christlichen „Häresien“ zu begründen, und bevorzugte „rechtgläubige“ kanonische Quellen. In der third quest 20 trat dagegen an die Stelle der theologischen eine sozialgeschichtliche Perspektive, an die Stelle der Abgrenzung Jesu vom Judentum seine Einordnung ins Judentum, an die Stelle der Bevorzugung kanonischer Quellen Offenheit für nicht-kanonische Quellen.
18 Der Buchtitel bedeutet: „Jesus ein König, der nicht König wurde“. 19 Jüdische und christliche Jesusforschung stehen heute in engem Austausch. Vgl. das Journal of the Je�sus Movement in its Jewish Setting: From the First to the Seventh Century (JJMJS). www.jjmjs.org. 20 Diesen Begriff prägten S.Neill/T.Wright, The Interpretation of the New Testament, 1988, 379 ff.
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Sozialgeschichtlich wurde Jesu Auftreten und Geschick in die jüdische Gesellschaft des 1. Jh. n. Chr. eingeordnet und seine Bewegung durch Vergleich mit „millenaristischen“ Erneuerungsbewegungen21 in anderen Kulturen gedeutet, die in Gegenreaktion zu imperialen Mächten von prophetischen Anführern geformt worden waren. Im Judentum führten heimatlose Wandercharismatiker den Predigt- und Lebensstil Jesu weiter und tradierten Jesu Lehre in seinem Geist. Zwischen dem vorösterlichen Jüngerkreis und dem nachösterlichen Christentum entdeckte man so eine soziale Kontinuität.22 Konsequent wurde Jesus als Gründer einer „Erneuerungsbewegung“ ins Judentum eingeordnet, seine Intensivierung von Thora und Eschatologie als radikaltheokratische jüdische Bewegungen durch G.Theißen, Soziologie der Jesusbewegung, 1977, gedeutet. Nach E.P.San ders, Jesus and Judaism, 1985, vertrat Jesus dabei eine „Restaurationseschatologie“, die auf Wiederherstellung des jüdischen Volkes zielte. Dass seine nachösterliche Hoheit weniger mit Hilfe paganer Erlöservorstellungen als durch jüdisch-biblische Rollen artikuliert wurde, zeigte M.Hengel, Der Sohn Gottes. Die Entstehung der Christologie und die jüdisch-hellenistische Religionsgeschichte, 1975. Unter den nicht-kanonischen Quellen gewann die Logienquelle zusammen mit dem als Logiensammlung formal verwandten, erst um 1945 gefundenen Thomasevangelium an Bedeutung – besonders wenn man es wie z. B. S.J.Patterson, The Gospel of Thomas and Jesus, 1993, für unabhängig von den synoptischen Evangelien hielt. Konsens wurde, dass urchristliche Jesusbilder jenseits der Kanons genauso berücksichtigt werden müssen wie Jesusbilder im Kanon. Innerhalb der third quest spaltete sich die Jesusforschung von Anfang an in verschiedene Strömungen. Einige entwickelten ein „nicht-eschatologisches Jesusbild“ wie J.D.Crossan, The historical Jesus. The Life of a Mediterranean Jewish Peasant, 1991. Für ihn war Jesus Vertreter einer paradoxen Weisheit am Rand des Judentums, die vom Kynismus beeinflusst war. Andere siedelten ihn mitten im Judentum an und deuteten seine Eschatologie entweder als Hoffnung auf die Wiederherstellung Israels (E.P.Sanders, Jesus and Judaism, 1985), auf die endzeitliche Bekehrung aller Völker zum Gott Israels (M.Hengel/A.M.Schwemer, Jesus und das Judentum, 2007) oder als Impuls für eine deviante Bewegung im Judentum (W. Stege mann, Jesus und seine Zeit, 2010). M.Ebner, Jesus von Nazareth in seiner Zeit. Sozialgeschichtliche Zugänge, 2003, ordnete Jesus zwischen jüdischer Weisheit und Eschatologie ein und wertete die Rolle der Frauen in der Nachfolge Jesu auf. Für alle Strömungen in der third quest gilt: Die Jesusforschung löste sich vom Differenzkriterium als methodischer Grundlage der Jesusforschung und tendierte zu einem historischen Plausibilitätskriterium: Danach kann historisch sein, was im jüdischen Kontext plausibel ist und die Entstehung des Urchristentums aus dem Judentum verständlich macht.
21 „Millenaristisch“ (von „Millenium“ = 1000) bezieht sich auf das 1000jährige Reich von Apk 20. Millenaristisch oder chiliastisch werden alle Bewegungen genannt, die einen grundsätzlichen Wandel der Dinge erwarten – oft als Protest gegen eine Kolonialmacht. 22 G.Theißen, Wanderradikalismus (1973), in: Studien zur Soziologie des Urchristentums, 1979, 79–105.
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Zwei vergleichbare Voten gegen die historische Jesusforschung kommen aus dem Katholizismus in den USA und dem Protestantismus in Europa: Als Katholik plädierte L.T.Johnson, The Humanity of Jesus: What’s at Stake in the Quest for the Historical Jesus?, 1999, in: Ders., Contested Issues in Christian Origins and the New Testament, 2013, 3–28, für ein vom Glauben motiviertes Vertrauen in die Evangelien, als Protestant plädierte dagegen K.Wengst, Der wirkliche Jesus? Eine Streitschrift über die historisch wenig ergiebige und theologisch sinnlose Suche nach dem „historischen“ Jesus, 2013, für eine Kerygmatheologie mit historischer Skepsis, die sich vor allem auf den biblischen Jesus stützt. D.F.Strauß kann er freilich nicht gegen die historische Jesusforschung ausspielen. Dessen Sicht hat W.Zager, Einleitung in: D.F. Strauß, Das Leben Jesu kritisch bearbeitet 1835, 2012, S. 24–27, in 23 Thesen zusammengefasst, die „mittlerweile zum Konsens gegenwärtiger historischer Jesusforschung gehören“. Dafür könnte sich K.Wengst auf den skeptischen Flügel der Suche nach dem „erinnerten Jesus“ berufen, nach dem Historisches in der Erinnerung tiefgreifend verwandelt wird.
7. Der „erinnerte Jesus“ als kognitiver Ansatz J.Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 1992, korrigierte durch eine erinnerungshermeneutische Wende23 Gadamers Hermeneutik, nach der das Verstehen eine Horizontverschmelzung ist, bei dem das Vergangene Teil der eigenen Welt wird. Charakteristisch für Erinnerungen ist vielmehr, dass sie bewusst die Vergangenheit von der Gegenwart unterscheiden, meist um der Gegenwart ein Fundament zu geben, manchmal um die Vergangenheit zu überwinden, oft aber auch, um Erinnerungen gegen gegenwärtige Tendenzen festzuhalten. Modell solcher „kontrapräsentischen Erinnerungen“ (G.Theißen)24 sind die biblischen Erinnerungen an Exodus und Sinai, die in Israel zur Deutung und Kritik der Gegenwart eingesetzt wurden. Dabei vollzieht sich Erinnerung in zwei Formen: als kommunikatives Gedächtnis, das von einer Gemeinschaft über ca. drei Generationen mündlich gepflegt wird, und als kulturelles Gedächtnis, das schriftlich fixiert wird. Beide Formen der Erinnerung wirkten im Urchristentum lange nebeneinander und aufeinander ein. Was ist neu an der erinnerungshistorischen Suche nach Jesus? Neu gegenüber der new quest ist, dass sie Texte nicht primär als gegenwartsbezogenes Kerygma, sondern als Rückgriff auf Vergangenes deutet. Neu gegenüber der third quest ist, dass sie weniger nach textexternen realen und sozialen Kontexten sucht, sondern nach kognitiven Strukturen in den Texten und ihrer Eigendynamik. Der memory approach ist dabei eingebettet in eine allge-
23 Vgl. R.Zimmermann, Geschichtstheorien und Neues Testament. Gedächtnis, Diskurs, Kultur und Narration in der historiographischen Diskussion, Early Christianity 2 (2011) 417–444. 24 Vgl. G.Theißen, Tradition und Entscheidung. Der Beitrag des biblischen Glaubens zum kulturellen Gedächtnis, in: J.Assmann/T.Hölscher (Hg.), Kultur und Gedächtnis, 1988, 170–196 = Die Bibel als kontrapräsentische Erinnerung. Ihr Beitrag zum kulturellen Gedächtnis, in: ders., Polyphones Verstehen, 2014, 176–194. J.Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 1992, hat diesen Gedanken aufgenommen (vgl. das Register).
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meine „kognitive Wende“ in den Geisteswissenschaften, die durch die parallele Entwicklung der Neurowissenschaften begleitet wurde. Eingeleitet wurde diese Wende durch J.Schröter, Erinnerung an Jesu Worte, 1997,25 exemplarisch durchgeführt in J.D.G.Dunn, Jesus Remembered, 2003, methodisch reflektiert von A.le Donne, der sie so zusammenfasst: „History, as a discipline of knowledge, is not what happened in the past, it is an accounting of how the past was remembered and why“, und: „The more significant a memory is, the more interpreted it will become“.26 Eine reife Form des erinnerungshistorischen Ansatzes ist D.C.Allison, Constructing Jesus. Memory, Imagi nation, and History, 2010. Entscheidend ist, die in den Texten selbst wirksamen mentalen Faktoren zu erkennen, wie es I.Czachesz, Cognitive Science and the New Testament. A New Approach to Early Christian Research, 2017, programmatisch durchgeführt hat.27 Erinnerungen verbreiten sich durch eine Verbindung von intuitiv einleuchtenden Inhalten mit minimal kontraintuitiven Abweichungen: Das Kontraintuitive weckt Aufmerksamkeit, das intuitiv Einleuchtende setzt sich im kollektiven Gedächtnis durch. Die Texte erhalten dadurch ein Eigengewicht. Der erinnerungshistorische Ansatz urteilt freilich sehr verschieden über die Historizität der Jesusüberlieferungen. Führt man sie auf individuelle Augenzeugen zurück, stärkt er die historische Zuversicht.28 Gilt der „erinnerte Jesus“ als Verschmelzung von Vergangenheit und Gegenwart, stärkt er die Skepsis. Folgende Darstellungen urteilen u. E. ausgeglichen: Nach J.D.G.Dunn, Jesus Remembered, 2003, werden mündliche Überlieferungen immer wieder neu aus einem Schatz von Formeln, Motiven und Strukturen geschaffen und von der Gemeinschaft umso stärker kontrolliert, je wichtiger sie für deren Identität sind. Das geschieht weit mehr bei pointierten Sprüchen als bei narrativen Texten. In den Jesuserinnerungen begegnen wir dem „impact Jesus made and which resulted in the emergence of Christianity.“ (S. 131). Hier wird die formgeschichtliche Frage nach dem Sitz im Leben erinnerungshistorisch erneuert. Für J.Schröter, Jesus von Nazaret. Jude aus Galiläa – Retter der Welt, 2006, passen Erinnerungen an den „Juden aus Galiläa“ gut zu Milieu, Archäologie und Topographie Galiläas in der Vergangenheit. Als „Retter der Welt“ aber ist die Erinnerung an ihn bis in die Gegenwart wirksam. Der Erinnerungsansatz wird hier in ausgeglichener Weise mit einem lokalgeschichtlichen Ansatz kombiniert. Ein dabei wirksames Kriterium nennen wir Milieu authentizität. D.C.Allison, Constructing Jesus. Memory, Imagination, and History, 2010, zeigt, dass sich trotz verzerrender Erinnerungen allgemeine Züge des historischen Jesus in mehreren Traditionen eingeprägt haben. Wenn im Neuen Testament der Tod Jesus immer wieder als 25 Vgl. J.Schröter, Der ‚erinnerte Jesus‘: Erinnerung als geschichtshermeneutisches Paradigma der Jesusforschung, in: Jesus-Handbuch, 2017, 112–123. 26 A.le Donne, Historical Jesus. What Can We Know and How Can We Know It? 2011, 35 und 36. 27 Vgl. I.Czachesz/G.Theißen, Cognitive Science and Biblical Exegesis, in: T.Biró u. a. (eds.), Language. Cognition and Biblical Exegesis. Interpreting Minds, 2019, 13–39. 28 „Konservativ“ argumentiert mit guten Argumenten z. B. R.Bauckham, Jesus and the Eyewitnesses. The Gospels as Eyewitness Testimony, 2006.
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freiwillige Selbsthingabe gedeutet wird, ist das eine Erinnerungsspur daran, dass Jesus seinen Tod riskiert hat. Solch ein Erinnerungsansatz arbeitet mit einem Kriterium, das wir Personauthentizität nennen. Er erkennt in verschiedenen Überlieferungen sich wiederholende Erinnerungsmuster. Vertreter des Erinnerungsansatzes kritisieren hin und wieder die traditionellen Authentizitätskriterien, mit der die Formgeschichte die ältesten kleinen Einheiten beurteilte.29 Sein Kriterium formulierte P.W.Schmiedel, Art. Gospels, in Encyclopedia Britannica vol. 2 (1901) 1761–1898, aber bewusst unabhängig von der Frage nach der ältesten Jesusüberlieferung:30 Was gegen Tendenzen zur Jesusverehrung in den Quellen überliefert wird, habe Anspruch auf Authentizität. Als E.Käsemann 1953/4 sein Differenzkriterium gegenüber dem Urchristentum durch die Unterscheidung vom Judentum ergänzte, argumentierte auch er gegen die formgeschichtliche Skepsis, nach der kerygmatische Intentionen die Texte historisch entwerten. Die traditionellen Kriterien sind nicht Bestandteil der Formgeschichte, sondern deren Korrektur. Sie werden auch nicht von allen Vertretern des memory approach abgelehnt.31
Der „erinnerungshistorische Ansatz“ setzt u. E. die formgeschichtliche Fragestellung fort, insofern er fragt, wie Glauben und Leben die Jesuserinnerungen geprägt haben, aber korrigiert sie auch: Jesusüberlieferungen begründen gewiss „kerygmatisch“ den Glauben der präsentischen Gemeinde, aber sie bewahren auch Erinnerungen kontrapräsentisch gegen deren Tendenz. Die Chance, in ihnen Historisches zu erkennen, ist besonders dort gegeben, wo wir verschiedene Erinnerungen vergleichen und geschichtlich durch Topographie, Archäologie und Geschichte kontextualisieren können, also durch Daten, die relativ unabhängig von Jesuserinnerungen sind. Kriterien sind daher: 1. Authentisch ist, was in Erinnerungsbildern von Jesus milieuauthentisch mit der Umwelt übereinstimmt und sich in ihr individuell abhebt. 2. Authentisch ist, was sich in den Erinnerungsbildern von Jesus mehrfach persontypisch wiederholt oder tendenzwidrig als Einzelüberlieferung erhalten blieb. Wir finden in Jesusüberlieferungen immer wieder einzelne Erinnerungsspuren von Jesus, die sich oft zu persontypischen Erinnerungsmustern kombinieren lassen Diese weisen besonders dann auf den historischen Jesus, wenn sie milieutypische Motive enthalten, die in das Galiläa und Judäa der ersten Hälfte des 1. Jh. n. Chr. passen. Sie lassen sich als Erinnerungsspuren Jesu dann erkennen, wenn sie individuelle Züge aufweisen, die in diesem Milieu auffallen und in der urchristlichen Überlieferung tendenzwidrig sind. Zusammen ergeben sie „wirkungsauthentische“ Erinnerungsbilder, die ohne Person und Wirken Jesu nicht entstan29 So Chr.Keith, The Indebtedness of the Criteria Approach to Form Criticism and Recent Attempts to Rehabilitate the Search for an Authentic Jesus, in: Chr.Keith/A.le Donne (Hg.), Jesus, Criteria, and the Demise of Authenticity, 2012, 25–48. Der „Kriterienansatz“ ist nicht überholt, jede Wissenschaft ist auf Kriterien angewiesen. 30 Dazu G.Theissen/D.Winter, Die Kriterienfrage in der Jesusforschung. Vom Differenzkriterium zum Plausibilitätskriterium, 1997, 83–87. 31 Vgl. z. B. A.le Donne, The Historiographical Jesus, 2009, 88–91.
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den wären. Wir führen in diesem Buch diesen erinnerungshistorischen Ansatz in vierfacher Weise weiter: 1. durch die theoretische Annahme eines langen Übergangs vom mündlichen kommunikativem zum schriftlich basierten kulturellen Gedächtnis im Urchristentum, 2. durch kognitive Methoden, die erklären, was in individuellen und kulturellen Erinnerungen eine Chance hat, sich durchzusetzen, dazu 3. durch eine Hermeneutik der kontrapräsentischen Erinnerung, die gegenläufig zur gegenwartslegitimierenden Erinnerung gerade in der biblischen Welt wirksam war, und 4. durch eine erinnerungsethische Motivation der historisch-kritischen Jesusforschung: Gegenüber Menschen, die die Geschichte geprägt haben, haben wir die menschliche Verpflichtung, sie gegen Verfälschungen in der Erinnerung zu schützen.32
Wir integrieren diesen erinnerungshistorischen Ansatz in die bewährten historisch-kritischen Fragestellungen von Form-, Traditions-, Redaktions- und Sozialgeschichte und arbeiten mit den bewährten Plausibilitätskriterien.
8. Hermeneutische Reflexion und Zusammenfassung Die Vielfalt der Jesusbilder legt den Verdacht nahe, Jesusdarstellungen seien Selbstdarstellungen ihrer Autoren. Dass sie mehr sind, zeigt folgendes Gedankenexperiment: Man nehme alle biographischen Darstellungen der Weltgeschichte und anonymisiere sie durch Tilgung der Eigennamen, trotzdem würden sich Jesusbücher aus ihnen herausheben. Sie müssten dieselben Quellen benutzen, dieselbe Konstellation von Personen erkennen lassen, dieselben Kernsätze zitieren. Schon die Stichworte: „zwölf Jünger“, die Mahnung „Liebet eure Feinde!“ und die Erwähnung der Kreuzigung reichten zur eindeutigen Identifikation aus. Dennoch bliebe ein Spielraum. Denn alle Jesusdarstellungen enthalten ein konstruktives Element, das über die in den Quellen enthaltenen Daten hinausgeht. Religiöse Symbole, Bilder und Mythen lassen sich immer wieder neu interpretieren, historische Hypothesen müssen immer wieder neu korrigiert werden. Dabei verfährt weder die religiöse noch die historische Konstruktion der Geschichte Jesu willkürlich, sondern folgt axiomatischen Überzeugungen. Die religiöse Imagination des Urchristentums wird von dem Glauben geleitet, dass durch Jesus eine Kontaktaufnahme mit Gott möglich wird. Die historische Imagination ist durch Grundüberzeugungen des historischen Bewusstseins bestimmt: Alle Quellen stammen von irrtumsfähigen Menschen und müssen historischer Kritik unterzogen werden. Alle müssen im Lichte eines historischen Relativismus gedeutet werden, der weiß: Alles hat Analogien. Schließlich gilt der Grundsatz, dass der historische Abstand eine anachronistische Deutung der Quellen im Rahmen unserer Werte und Überzeugungen verbietet. Wissenschaftliche Jesusdar32 A.Merz, Gibt es eine ethische Verpflichtung zur historischen Jesusforschung? Ein neuer Zugang zu alten Dilemmas (unveröffentlicht).
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stellungen sind methodisch geleitete Konstrukte historischer Imagination, d. h. willkürfreie, an Quellen korrigierbare und in ihren Voraussetzungen durchschaubare Gebilde. Geht es der religiösen Imagination um Zugang zu Gott, so der historischen Kritik um Zugang zur vergangenen Wirklichkeit. Der erinnerungshistorische Ansatz will den Weg zur Vergangenheit öffnen – nicht in naiver Weise, als könnten wir die historischen Fakten unabhängig von den Erinnerungen an sie rekonstruieren. Doch die Pluralität der Erinnerungen in den Quellen und ihre Einbettung in historische Kontexte ermöglicht es, Erinnerungsspuren und Erinnerungsmuster historisch auszuwerten und in ihrem historischen Kontext zu rekon struieren. Daher sind historische Quellen das entscheidende Kriterium für die historische Arbeit. Alles muss sich an ihnen messen, jeder Gedanke ihnen unterworfen werden. Mit einer Vorstellung der Quellen muss daher jede wissenschaftliche Jesusdarstellung beginnen. Wir beginnen mit den allgemeinen antiken Quellen, in denen Jesus Spuren außerhalb seiner Anhänger hinterlassen hat, und besprechen dann christliche Quellen, bei denen wir auch „apokryphe“ Quellen berücksichtigen, die nicht in den Kanon gelangten. Geschichte der Leben-Jesu-Forschung Phasen der Forschung
Methodischer Zugang
Theologischer Rahmen
Aufklärung H.S.Reimarus G.E.Lessing
Historische Frage Ȥ Historischer Jesus und kirchlicher Christus werden unterschieden. Ȥ Die Betrugstheorie erklärt deren Diskrepanz. Ȥ Der historische Jesus wird in jüdischem Kontext interpretiert.
Aufklärung fordert Anwendung historischkritischer Methoden auf biblische Texte.
Idealismus D.F.Strauß
Mythische Betrachtungs weise Jesusüberlieferung ist mythisch übermalt (im JohEv stärker als in SynEvv).
Idealismus Hegels Philosophie erkennt im Mythos den Ausdruck der Idee.
Historismus H-J.Holtzmann u.a,
Literarkritik Ȥ Das Leben Jesu wird aufgrund der ältesten Quellen rekonstruiert, Ȥ aufgrund des MkEv als Rahmen mit biographischer Wende in Mk 8,26ff, Ȥ in den aufgrund von Q die Lehren Jesu eingefügt werden.
Liberalismus Liberale Theologie will kirchenkritisch den Glauben vom Dogma befreien und von der Geschichte her durch Erkenntnis der Person Jesu erneuern.
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Phasen der Forschung
Methodischer Zugang
Theologischer Rahmen
Krise der Jesusforschung A.Schweitzer W.Wrede M.Dibelius R.Bultmann K.L.Schmidt
Form- und Religions geschichte zeigen den projektiven Charakter der Jesusbilder, den fragmentarischen Charakter kleiner Einheiten, deren kerygmatische Intention, ihre literarische Formung durch ihren „Sitz im Leben“.
Dialektische Theologie Die Diastase von Offenbarung und Geschichte verbindet sich mit dem Existenzialismus gegen Absicherung durch hist. Fakten. Die Religionsgeschichte ordnet Jesus dagegen ins Judentum ein
Hermeneutik der „neuen Frage“ E.Käsemann G.Bornkamm E.Fuchs H.Braun
Differenzkriterium kontrastiert Jesus mit Judentum und Urchristentum: Ȥ Die Identität von Jesus und Christus legitimiert die Rückfrage nach ihm. Ȥ Das Kerygmas hat Anhalt in seinem Vollmachtsanspruch. Ȥ Jesus wird im Kontrast zum Judentum wahrgenommen.
existenzialtheologie Vertreter der Bultmann-Schule bemühen sich um Überbrückung der Gräben zwischen Offenbarung und G eschichte. Die Offenbarung zeigt sich in der Besonderheit der Jesusüberlieferung.
Sozial- und Realgeschichte: The third quest E.P.Sanders M.Hengel G.Theißen J.D.Crossan G.Vermes
Plausibilitätskriterium Basiert auf jüdischem Kontext u. christl. Wirkungsgeschichte. Jesus ist Gründer einer „innerjüdischen Erneuerungsbewegung in Kontinuität zum nachösterlichen Glauben Ȥ soziologisch durch Wandercharismatiker, die Jesu Lebensstil fortsetzten, Ȥ theologisch durch Anwendung jüdisch-biblischer Interpretationsmuster.
Dialogtheologien nach Gal 3,28: Juden/Griechen; Freie/Sklaven; Männlich/ Weiblich: Ȥ Christen entdecken ihre jüdischen Wurzeln im jüd.christl. Dialog, Ȥ Benachteiligte aktivieren sich durch die Befreiungstheologie, Ȥ Frauen durch die feministische Theologie.
Erinnerungshistorische Ansätze: J.Schröter, J.D.G.Dunn D.J.Allison
Erinnerungsbilder von Jesus sind geprägt Ȥ von der sozialen Identität der Erinnerungsgemeinschaft Ȥ von allgemeinen Tendenzen des Denkens und Erinnerns.
Identität des Christentums wird durch Erinnerung an Jesus definiert, gleichzeitig sind alle Menschen zum fairen Erinnern geschichtlicher Personen verpflichtet. Alle haben einen Selbstwert.
Erster Teil: Die Quellen und ihre Auswertung
§ 2 Nichtchristliche Quellen über Jesus
F.F.Bruce, Außerbiblische Zeugnisse über Jesus und das frühe Christentum, 21992; C.A.Evans, Noncanoni cal Writings and New Testament Interpretation, 1992; P.Gemeinhardt, Außerchristliche Zeugnisse über Jesus, in: Ch.Markschies/J.Schröter, Antike christliche Apokryphen I/1, 2012, 209–218; Chr.Keith (ed.), The Reception of Jesus in the First Three Centuries, 3, 2020; J.Maier, Jesus von Nazareth in der talmudischen Überlieferung, 1978 21992; St.Mason, Nichtchristliche Texte, in: Jesus-Handbuch, 2017, 159–171; J.P.Meier, A Marginal Jew 1, 1991, 56–111; P.Schäfer, Jesus im Talmud, 2007, 32017; F.Schulthess, Der Brief des Mara bar Sarapion, ZDMG 51 (1897) 365–391; R.E.van Voorst, Jesus Outside the New Testament. An Introduction to Ancient Evidence, 2000; M.Williams, Lucian of Samosata, in: Chr.Keith (Hg.), The Reception of Jesus in the First Three Centuries, 3, 2020, 31–40.
Nichtchristliche antike Jesuszeugnisse sind weithin abhängig von dem, was Christen über Jesus sagten, aber können auch andere Traditionen bezeugen, denn von Jesus kursierten im Volk Überlieferungen nicht nur unter seinen Anhängern (Mk 1,29; 7,36). Die nicht-christlichen Quellen umfassen drei Gruppen: Jüdische Zeugnisse, lateinische Quellen von Schriftstellern aus dem Westen, die gleichzeitig römische Beamte waren, Zeugnisse von Schriftstellern aus dem Osten in Griechisch, dazu ein Text in syrischer Sprache. Diese Texte dokumentieren verschiedene Einstellungen der Umwelt gegenüber Jesus, so dass er in vielen „Spiegeln“ sichtbar wird. Hätten wir nur diese Quellen, würden Historiker kaum auf die Idee kommen, Jesus habe nicht existiert.
1. Jüdische Zeugnisse über „Jesus“ Unter den jüdischen Zeugnissen urteilt Josephus wohlwollend über Jesus. Spätere rabbinische Quellen sind viel kritischer, reflektieren aber darüber, warum er sich vom Judentum hat entfernen können. 1.1 Das Zeugnis des Josephus über Jesus S.Pines, An Arabic Version of the Testimonium Flavianum and Its Implications, 1971; P.Winter, Josephus on Jesus and James, in: G.Vermes/F.Millar (eds.), E.Schürer, The History of the Jewish People in the Age of Jesus Christ I, 1973, 428–441; J.P.Meier, A Marginal Jew 1, The Roots of the Problem and the Person, 1991, 56–88; F.W.Horn, Das Testimonium Flavianum aus neutestamentlicher Perspektive, in: Chr.Böttrich/J.Herzer u. a. (Hg.), Josephus und das Neue Testament: wechselseitige Wahrnehmungen, 2007, 117–136; J.W.van Henten, Testimonium Flavianum, in: H.K.Bond (ed.), The Reception of Jesus in the First Three Centuries, 1, 2020, 365–170.
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Erster Teil: Die Quellen und ihre Auswertung
Josephus (37/38 n. Chr.–ca. 100/10) geriet als aufständischer Befehlshaber im römischjüdischen Krieg in Gefangenschaft, wurde von Vespasian freigelassen, nachdem Josephus ihm die Kaiserwürde prophezeit hatte, und lebte danach als Klient der flavischen Kaiser in Rom, weswegen er Flavius Josephus genannt wird. Von zwei Erwähnungen Jesu in seiner um 93 n. Chr. erschienenen „Antiquitates Iudaicae, stammt die zweite Stelle (Ant 20,200) sicher von ihm, die erste (Ant 18,63f) ist umstritten. In Ant 20,200 berichtet er von der Hinrichtung des Herrenbruders Jakobus wegen „Gesetzesübertretungen“ im Jahr 62. Der verantwortliche Hohepriester Ananus war nach dem Tod des Prokurators Festus vor Eintreffen seines Nachfolgers vom jüdischen König ernannt worden. Josephus charakterisiert ihn als impulsiv und hartherzig: Zur Befriedigung einer solchen Hartherzigkeit glaubte Ananus auch jetzt, da Festus gestorben, Albinus aber noch nicht angekommen war, eine günstige Gelegenheit gefunden zu haben; er versammelte daher den hohen Rat zum Gericht und stellte vor denselben den Bruder des Jesus, der Christus genannt wird, Jakobus mit Namen, nebst noch einigen anderen, klagte sie als Übertreter des Gesetzes an und ließ sie zur Steinigung verurteilen. (Ant 20,200)
Josephus identifiziert Jakobus durch seinen bekannteren Bruder, von dem er so spricht, als hätte er ihn vorher erwähnt. Eine christliche Interpolation ist unwahrscheinlich; der Text lässt kein besonderes Interesse an Jesus erkennen. Seine Charakterisierung als „sogenannter Christus“ spiegelt einen allgemeinen Sprachgebrauch, da „Christus“ ohne Artikel auch in römischen Quellen als Eigenname erscheint.1 Jakobus wird positiv beurteilt: Seine Verurteilung sei von gesetzestreuen Juden (d. h. wohl von Pharisäern) missbilligt worden und habe zur Absetzung des Ananus geführt. Vier Jahre später war Ananus einer der Anführer im Aufstand gegen die Römer. Josephus hatte Jesus schon vorher im sogenannten Testimonium Flavianum (TestFlav = Ant 18,63f) erwähnt, das sich in allen Josephushandschriften ohne nennenswerte Abweichungen findet: Γίνεται δὲ κατὰ τοῦτον τὸν χρόνον Ἰησοῦς σοφὸς ἀνήρ, εἴγε ἄνδρα αὐτὸν λέγειν χρή· ἦν γὰρ παραδόξων ἔργων ποιητής, διδάσκαλος ἀνθρώπων τῶν ἡδονῇ τἀληθῆ δεχομένων, καὶ πολλοὺς μὲν Ἰουδαίους, πολλοὺς δὲ καὶ τοῦ Ἑλληνικοῦ ἐπηγάγετο· ὁ χριστὸς οὗτος ἦν. καὶ αὐτὸν ἐνδείξει τῶν πρώτων ἀνδρῶν παρ᾿ ἡμῖν σταυρῷ ἐπιτετιμηκότος Πιλάτου οὐκ ἐπαύσαντο οἱ τὸ πρῶτον ἀγαπήσαντες· ἐφάνη γὰρ αὐτοῖς τρίτην ἔχων ἡμέραν πάλιν ζῶν τῶν θείων προφητῶν ταῦτά τε καὶ ἄλλα μυρία περὶ αὐτοῦ θαυμάσια εἰρηκότων. εἰς ἔτι τε νῦν τῶν Χριστιανῶν ἀπὸ τοῦδε ὠνομασμένον οὐκ ἐπέλιπε τὸ φῦλον. 1
Um diese Zeit trat Jesus, ein weiser Mensch, auf, wenn man ihn denn einen Menschen nennen darf. Denn er war ein Vollbringer paradoxer Taten und Lehrer von Menschen, die mit Freuden die Wahrheit aufnahmen. So zog er viele Juden, aber auch viele Heiden an. Er war der Christus. Und obgleich ihn Pilatus auf Anzeige der Vornehmsten unter uns zum Kreuzestod verurteilte, hörten seine früheren Anhänger nicht auf ihn zu lieben. Denn er erschien ihnen am dritten Tage wieder lebend, wie gottgesandte Propheten dies und tausend andere wunderbare Dinge von ihm vorherverkündigt hatten. Und noch bis heute ist die Sippe der Christen, die sich nach ihm nennt, nicht verschwunden.
Josephus kennt ca. 13 Personen mit Namen Jesus und unterscheidet ihn mit „Christus“ von anderen. Kol 4,11 kennt einen „Jesus, der Justus genannt wird“.
Nichtchristliche Quellen über Jesus
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Früher wurde diskutiert, ob der Abschnitt von Josephus stammt oder von Christen interpoliert wurde, heute, ob ein Bericht des Josephus christlich überarbeitet wurde. a) Interpolation eines positiven Textes über Jesus?
Schon Lucas Osiander (1534–1604) erkannte, dass das TestFlav nicht von einem Juden stammen kann: „Wenn nämlich Josephus so gesonnen gewesen wäre, … wäre Josephus ein Christ gewesen“.2 Ein christlicher Abschreiber könnte den Abschnitt interpoliert haben.3 (1) Er wirkt im Kontext wie ein Fremdkörper. Josephus schildert die Amtszeit des Pilatus als Kette von Unruhen (Ant 18,55–64) und spricht vorher von einem „Aufruhr“ in 18,62 (vgl. 65). Solche Motive fehlen im Abschnitt über Jesus. (2) Einige Aussagen haben christlichen Charakter. Die Frage, ob man Jesus überhaupt einen Menschen nennen dürfe, wirkt wie eine dogmatische Korrektur der Aussage, Jesus sei (nur) ein „weiser Mensch“ gewesen.4 Wie ein Bekenntnis klingt der Satz: „Dieser war der Christus“, zumal Christus mit Artikel ein Hoheitstitel ist (vgl. Lk 23,35). Auch scheint am Ende ein Christ zu sprechen, wenn es heißt: „Denn er erschien ihnen am dritten Tage wieder lebend“. (3) Schließlich spricht die äußere Bezeugung für eine christliche Überarbeitung: Die Apologeten des 2./3. Jhs. zitieren das TestFlav nicht, obwohl sie Josephus für ihre Auslegung des AT heranziehen. Origenes (ca. 185–254) hat das TestFlav gekannt, sagt aber, Josephus habe nicht an Jesus als Christus geglaubt (cCels I,47),5 und kann daher den Satz: „Dieser war der Christus“ nicht gelesen haben. Da er erst bei Euseb h.e. 1,11,7-8 (260–339) begegnet, wurde er wahrscheinlich im 3. Jh. eingetragen. Das TestFlav wäre dann als Ganzes aber keine Interpolation. Doch was hat Josephus ursprünglich geschrieben? b) Rekonstruktion einer negativen Darstellung Jesu
Vor dem TestFlav berichtet Josephus von zwei Konflikten des Pilatus mit Juden (Ant 18,55– 62). Daraus wurde im frühen 20. Jh. die These entwickelt, Josephus habe auch unmittelbar danach in Ant 18,63f von einem Aufstand Jesu erzählt, den jüdische Autoritäten durch dessen Auslieferung an die Römer im Keim erstickt hätten.6 Josephus habe seinen Bericht etwa so eingeleitet: „Es trat aber um diese Zeit als Anführer eines neuen Aufstandes ein gewisser
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Zitiert nach R.Eisler, ΙΗΣΟΥΣ ΒΑΣΙΛΕΥΣ ΟΥ ΒΑΣΙΛΕYΣΑΣ, I, 1929, 19. So E.Norden, Josephus und Tacitus über Jesus Christus, 1913, in: A.Schalit (Hg.), Zur Josephusforschung, 1973, 27–69. A.v. Harnack, Der jüdische Geschichtsschreiber Josephus und Jesus Christus, 1913, 1053, meinte, hier werde ein verbreiteter Topos vom „göttlichen Menschen“, vom theios anēr, auf Jesus übertragen und weist auf Ap 1,232.236, wo Josephus von einem Ägypter berichtet, der „um seiner Weisheit und Prophetengabe willen im Rufe eines der Gottheit verwandten Mannes“ gestanden habe. Vgl. Origenes Kommentar zum MtEv 10,17: Josephus „erkennt nicht an, dass Jesus der Christus ist“; zit. nach P.Winter, Josephus on Jesus and James, 1973, 432 A.8. R.Eisler, Ihsous Basileus, 1929/30; Mit Einschränkungen auch E.Bammel, Zum Testimonium Flavianum (1974), in: ders., Judaica, 1986, 177–189.
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Erster Teil: Die Quellen und ihre Auswertung
Jesus auf“.7 Jesu Charakterisierung als „redegewandter Unruhestifter (sophistēs)8 und Scharlatan (goēs)“ sei durch seine positive Bezeichnung als „weiser Mann“ (sophos anēr) ersetzt worden,9 während er ursprünglich als sophistēs und goēs gegolten habe.10 Als Unruhestifter habe er das militärische Eingreifen der Römer provoziert. Mit seiner feindseligen Haltung gegenüber den Christen wolle Josephus den Römern signalisieren, dass auch die Juden zur Bekämpfung der Christensekte beigetragen hätten.11 Doch stimmt die Prämisse nicht, Josephus habe vorher von jüdischen Revolten geschrieben, er berichtet vielmehr von Übergriffen des Pilatus und gewaltfreien Protesten der Juden dagegen. Das ergibt ein anderes Bild. c) Rekonstruktion einer neutralen Darstellung Jesu
Beim ersten Konflikt protestierten Juden gegen die Verletzung religiöser Gebote durch Pilatus, der Kaiserbilder nach Jerusalem gebracht hatte. Josephus lobt ihren Sinn für „die Weisheit (sophia) der Gesetze“ (Ant 18,59). Die Juden ziehen unbewaffnet zur Residenz des Pilatus nach Caesarea. Als er droht, sie töten zu lassen, erklären sie, lieber sterben zu wollen, als Kaiserbilder in Jerusalem zu tolerieren. Pilatus verzichtet auf Gewalt. Beim zweiten Konflikt wendet sich der Protest der Juden dagegen, dass Pilatus den Tempelschatz für eine Wasserleitung für Jerusalem verwenden will. Die unbewaffneten Protestierenden werden von seinen Soldaten so heftig verprügelt, dass es Verletzte und Tote gibt (Ant 18,62).12 Wenn Josephus danach von Jesus als „weisem (sophos) Mann“ berichtet, den Pilatus hinrichten ließ, so ist das ein weiterer Übergriff des Pilatus, nur dass Josephus auch der jüdischen Oberschicht eine Mitverantwortung für Jesu Hinrichtung gibt. Er betrachtet dessen Hinrichtung auf jeden Fall als ein Unglück. Denn er fährt mit den Worten fort: „Gleichfalls um diese Zeit erregte noch ein anderes Unglück (deinon) die Juden“, nämlich die Ausweisung von Juden aus Rom (Ant 18,65).13 Der Kontext legt nahe: Josephus hat entweder neutral oder positiv über Jesus berichtet.14 Man muss freilich christliche Aussagen ausscheiden oder umformulieren. Die Einleitung: „Um diese Zeit lebte Jesus, ein weiser Mann“, der gut zum vorhergehenden Lob der Weisheit jüdischer Gesetz passt,15 könnte jemand korrigiert haben, indem 7 W.Bienert, Der älteste nichtchristliche Jesusbericht. Unter besonderer Berücksichtigung des altrussischen „Josephus“, 1936, 252 f. 8 Judas Galilaios wird ein sophistēs genannt (Bell 2,118.433), ebenso sind die rebellischen Lehrer Judas und Matthias sophistaí (Bell 1,648). 9 R.Eisler, Ihsous Basileus, I, 51–54. 10 R.Eisler, Ihsous Basileus, I, 39, 87f; E.Bammel, Zum Testimonium Flavianum, 1974, 11 f. 11 S.G.F.Brandon, Jesus and the Zealots, 1967, 364. 12 Nach Bell 2,176 hatte Pilatus den Soldaten befohlen, keinen Gebrauch von Schwertern zu machen, die Toten sind z. T. Opfer einer Panik. Der Bericht der Antiquitates ist gegenüber Pilatus kritischer, lässt aber erkennen, dass Pilatus auch ein Getriebener war. 13 So z. B. P.Winter, Josephus on Jesus and James, 1973, 440 f. 14 J.Klausner, Jesus von Nazareth, 31952, 68–72; P.Winter, Josephus on Jesus and James, 1973; G.Vermes, The Jesus Notice of Josephus Re-Examined, JJS 38 (1987) 1–10. 15 Der Hinweis auf die „Weisheit“ der Gesetze fehlt in der „Vorlage“ Bell 2,169–174. Wahrscheinlich wollte Josephus durch diesen Einschub in den Antiqitates eine Verbindung zum später auftretenden Jesus als „weisem Menschen“ schaffen – dann wäre das TestFlav gewiss keine sekundäre Interpolation.
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er hinzufügte: „wenn man ihn (Jesus) überhaupt einen Mann nennen darf.“ Der Satz: „Dieser war der Christus“ könnte eine neutrale Aussage: „Er wurde Christus genannt“ (so Ant 20,200) ersetzt haben.16 An Stelle einer Aussage über die Auferstehung könnte gestanden haben: „Sie erzählten, dass er auferstanden sei.“17 Solche Rekonstruktionen bekamen Auftrieb, als 1971 S.Pines eine arabische Fassung des TestFlav in die Diskussion einbrachte, die Agapius, der Bischof von Hierapolis (10. Jh.) in seiner christlichen Universalgeschichte zitiert: Josephus … sagt …, dass zu der Zeit ein weiser Mann war, der Jesu genannt wurde, einen guten Lebenswandel aufwies und als tugendhaft (oder: gelehrt) bekannt war und viele Leute von den Juden und von anderen Völkern als Jünger hatte. Pilatus hatte ihn zur Kreuzigung und zum Tode verurteilt, aber diejenigen, die seine Jünger geworden waren, gaben seine Jüngerschaft (oder: Lehre) nicht auf und erzählten, dass er ihnen drei Tage nach der Kreuzigung erschienen sei und lebe und daher vielleicht der Messias sei, in Bezug auf den die Propheten Wunderbares gesagt haben. (z.n. J.Maier, Jesus*, 19922, 42f).
In diesem Text fehlt alles, was als christliche Interpolation verdächtigt wurde. Die Menschheit Jesu wird nicht in Frage gestellt, seine Messianität nicht apodiktisch behauptet. Jesus wird nicht von jüdischen Autoritäten angeklagt.18 Wahrscheinlich ist der Text des Agapius eine christlich überarbeitete Fassung des Textes von Josephus, der ein relativ positives Bild von Jesus zeichnet, vergleichbar seinem Bild von Johannes dem Täufer (Ant 18,116–119). Als mögliche Rekonstruktion des TestFlav sei der von J.P.Meier erschlossene Text zitiert, der nur drei christliche Einschübe streicht:19 At this time there appeared Jesus, a wise man. For he was a doer of startling deeds, a teacher of people who receive the truth with pleasure. And he gained a following both among many Jews and among many of Greek origin. And when Pilate, because of an accusation made by the leading men among us, condemned him to the cross, those who had loved him previously did not cease to do so. And up until this very day the tribe of Christians (named after him) has not died out.
Es bleiben Fragen offen: Erfordert der letzte Satz des TestFlav über die Christen nicht eine vorherige Erwähnung des Christusnamens? Oder führt Josephus den Christusnamen erst an dieser Stelle ein, indem er sagt, dass die christianoi nach ihrem Lehrer „Christen“ genannt
16 In der Textüberlieferung des TestFlav haben sich Spuren davon erhalten. Hieronymus schreibt: credebatur esse Christus, und Michael der Syrer (12. Jh.): Er wurde für den Messias gehalten. Zit. nach S.Pines, An Arabic Version of the Testimonium Flavianum and Its Implications, 1971, 40.26 f.29 mit A. 109. 17 So E.Bammel, Zum Testimonium Flavianum, 1974, 20. 18 D.Flusser, Die letzten Tage Jesu in Jerusalem, 1982, 155–163, vermutet, dass der Hinweis auf die Beteiligung der jüdischen Aristokratie im TestFlav eine christliche Einfügung ist. 19 Übersetzung: J.P.Meier, A Marginal Jew 1, 1991, 61. Nach G.Vermes, The Jesus Notice of Josephus ReExamined, 1987, 9f, spiegelt das TestFlav die Volksüberlieferung über den Wundertäter und Weisheitslehrer Jesus, die Josephus als Pharisäer ohne Wertung wiedergibt, während die Rabbinen später dieselbe Tradition als Zeugnis über einen Magier und Betrüger auslegten.
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Erster Teil: Die Quellen und ihre Auswertung
wurden? Dann könnte auch diese Bemerkung echt sein. Auf jeden Fall wird bis heute die Meinung vertreten, das TestFlav sei weitgehend echt. d) Weitgehende Echtheit des TestFlav?20
Schon L.v. Ranke und A.v, Harnack21 hielten das TestFlav für authentisch – abgesehen vom christlichen Einschub, dass Jesus „am dritten Tage wieder lebend erschien“. Ihre Argumente sind: Die Jakobusstelle in Ant 20,200 setzt eine frühere Nennung Jesu voraus. Manche Formulierungen weisen eher auf Josephus als auf einen christlichen Autor. So ist die Bezeichnung Jesu als „weiser Mann“ christlich nicht geläufig, entspricht aber dem Sprachgebrauch des Josephus. Gleiches gilt für die Charakterisierung der Wunder Jesu als „unglaublicher Taten“ (paradoxa erga). Dass die Anhänger Jesu „die Wahrheit mit Lust aufnehmen“, wäre für Christen befremdlich, da „Lust“ (hēdonē) unter ihnen negativ konnotiert ist, während „mit Lust aufnehmen“ eine Vorzugswendung des Josephus ist. Dass Jesus Juden und Heiden anzog, könnte sich dadurch erklären, dass Josephus in Rom auch Heidenchristen kennen lernte. Die Verantwortung des Pilatus für die Hinrichtung Jesu aufgrund einer Anzeige jüdischer Autoritäten entspricht den Rechtsverhältnissen in Judäa und widerspricht der christlichen Tendenz, dessen Verantwortung zu relativieren. Die Bezeichnung der Christen als „Sippe“ (phylon) verrät eher eine jüdische als christliche Perspektive. Verständlicherweise wird bis heute immer wieder die (weitgehende) Authentizität des TestFlav vertreten. Das einzige schwer lösbare Problem ist die Aussage: „Dieser war der Christos“. Wahrscheinlich hat Josephus über Jesus genauso sachlich wie über Johannes den Täufer und den Herrenbruder Jakobus berichtet. Als zeitweiliger Anhänger eines am Jordan lebenden jüdischen Charismatikers Bannus war er für alternative Strömungen im Judentum offen (Vita 11f). Sein Jesusbild erinnert an das Jesusbild der lk Schriften.22 Anders als manchmal behauptet wird, bringt er relevante Informationen über Jesus:
20 Frühere Vertreter der Echtheit nennt J.P.Meier, A Marginal Jew 1, 1991, 73 f. A.Whealey, The Testamentum Flavianum, in: H.H.Chapman/Z.Rodgers (eds.), A Companion to Josephus, 2016, 345–355, hält das TestFlav bis auf die Aussage, er sei der Christus, für authentisch. U.Victor, Das Testamentum Flavianum. Ein authentischer Text des Josephus, NovTest 52 (2010) 72–82, schreibt selbst diese Aussage Josephus zu, der sagen will: „Dieser war der (wohlbekannte) Christus“. 21 L.v.Ranke, Weltgeschichte III,2, Leipzig 1883, 40f; A.v.Harnack, Der jüdische Geschichtsschreiber Josephus und Jesus Christus, 1913, 1037–1068. 22 G.J.Goldberg, The Coincidences of the Emmaus Narrative of Luke and the Testimonium of Josephus, JSP 13 (1995) 59–77: Auch in Lk 24,13–27 nennen die Emmausjünger Jesus einen „Menschen“, der „mächtig in Tat und Wort“ ist, den die „Hohepriester und Führer zur Todesstrafe ausgeliefert und gekreuzigt haben“ (Lk 24,19f). Sie differenzieren zwischen Anklägern und Pilatus Auch Lk nennt die Wunder Jesu paradoxa (Lk 5,26). Nach F.W.Horn, Das Testimonium Flavianum aus neutestamentlicher Perspektive, in: Chr.Böttrich/J.Herzer u. a. (Hg.), Josephus und das Neue Testament: wechselseitige Wahrnehmungen, 2007, 117–136, könnte Josephus Kontakt mit der Gemeinde in Rom gehabt haben.
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1. Jesus hat gelebt und gehört ins Judentum. 2. Sein Name ist Jesus, „Christus“ ist nicht sein Eigenname. 3. Er wirkte in der Zeit des Pilatus. Zutreffend ist, dass Jesus nicht an deren Anfang gekreuzigt wurde. 4. Jesu tat als weiser Mann Wunder und lehrte. 5. Seine Anziehungskraft deutet Josephus als „Liebe“ seiner Anhänger zu ihm, als habe er von der Hochschätzung der „Liebe“ unter den Christen gehört. 6. Beim Tod Jesu differenziert er zwischen der jüdischen Aristokratie als Anklägern und Pilatus als Richter. 7. Die Todesstrafe Jesu ist die Kreuzigung. 8. Er kennt die von Jesus ausgehende Bewegung nach seinem Tode. Dass sie auch Nichtjuden anzog, hat er vielleicht in das Leben Jesu zurückprojiziert.
1.2 Die rabbinischen Quellen: Jesus als Verführer (bSanh 43a) J.Maier, Jesus*, 1978 21992; ders., Jüdische Auseinandersetzung mit dem Christentum in der Antike, 1982; P.Schäfer, Jesus*, 2007 32017; ders., Jüdische Polemik gegen Jesus und das Christentum: Die Entstehung eines jüdischen Gegenevangeliums, 2017; Ch.M.M.Brady, Talmudim, in: Chr.Keith (ed.), The Reception of Jesus*, 3, 2020, 89–101.
Während Josephus ein positiv gefärbtes Bild von Jesus hat, ist sein Bild im Talmud negativ. J.Klausner war 1930 noch zuversichtlich, darin historische Traditionen zu entdecken,23 die heutige Forschung ist skeptischer.“24 Nach ihr wurde Jesu Name oft sekundär in bestehende Zusammenhänge als Reaktion auf christliche Jesusbilder eingefügt. Verständlicherweise enthält der Jerusalemer Talmud, der im 4. Jh. im christlich dominierten Römischen Reich entstand, weniger „Jesus-Stellen“ als der Babylonische Talmud aus dem Herrschaftsgebiet der nichtchristlichen Sassaniden im späten 7. Jh. a) Zur Geburt Jesu kennt schon Origenes die jüdische Legende von Jesus als unehelichem Kind eines römischen Soldaten „Panthera“ (c.Cels. I,32). Diese Legende persifliert seine Geburt aus einer Jungfrau, indem sie aus parthenos (Jungfrau) durch Wortspiel „Panthera“ macht. In rabbinischen Texten begegnet Jesus in diesem Zusammenhang als Ben Stada, Ben Padira oder Ben Pandera, dessen Mutter Miriam Ehebruch begangen habe (bSchab 104b/bSanh 67a). b) Jesu jüdische Erziehung scheitert. Als sein Lehrer Rabbi Yehoshua ben Perahyah eine Herberge lobt, deutet Jesus dieses Lob als Flirt mit der Gastwirtin. Der erzürnte Lehrer verstößt ihn. Danach betet Jesus einen Ziegelstein an und verweigert die Umkehr. Er behauptet, er habe von seinem Lehrer gelernt, dass keiner der sündigt und zur Sünde verführt, eine Chance zur Umkehr hat. Der Lehrer urteilt daraufhin: „Jesus hat gezaubert und Israel verleitet und verführt“ (bSanh 107b vgl. bSota 47a). Die rabbinische Überlieferung macht deutlich: Das Anblicken einer Frau als Sünde zu brandmarken (vgl. Mt 5,27f), ist lächerlich, zumal dann, wenn Jesus danach sogar Götzendienst treibt. 23 J.Klausner, Jesus von Nazareth, 1930, 31952, 17–57. 24 J.Maier, Jesus*, 1978 21992, 268; P.Schäfer, Jesus*, 2007.
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c) Die Wunder Jesu werden als Magie aus Ägypten kritisiert: „Hat denn nicht Ben Stada Zauberei aus Ägypten gebracht …?“ (bSabb 104b). Das ist ein Echo auf die „Flucht“ der Jesusfamilie nach Ägypten. Die aus Ägypten importierte Zauberkraft Jesu wirkt in seinen Anhängern weiter. Der von einer Schlange gebissene R. Eliezer b. Dama erhält von einem Christen, Jakob von Kefar Sama, das Angebot, ihn im Namen Jesu zu heilen. Während sie noch diskutieren, ob das akzeptabel sei, stirbt R. Eliezer. Der Verstorbene wird glücklich gepriesen (bAZ 27b). Auch hier findet man ein Echo der Jesusüberlieferung: Von Immunität gegen Schlangen ist im unechten Mk-Schluss die Rede (Mk 16,18). d) Der Tod Jesu 25 wird ganz anders als in den Synoptikern dargestellt. „Am Vorabend des Pesaḥfestes hängte man Ješu. Vierzig Tage vorher hat der Herold ausgerufen: Er wird zur Steinigung hinausgeführt, weil er Zauberei getrieben und Jisrael verführt und abtrünnig gemacht hat; wer etwas zu seiner Verteidigung zu sagen hat, der komme und sage es. Da aber nichts zu seiner Verteidigung vorgebracht wurde, so hängte man ihn am Vorabend des Pesaḥfestes.“ (bSanh 43a).
Auch wenn bSanh 43a erst sekundär auf Jesus bezogen wurde,26 ist der Text aufschlussreich: Die Datierung der Hinrichtung Jesu auf den Vorabend des Passafestes entspricht der johanneischen Chronologie. Ankläger und Vollstrecker des Urteils sind jüdische Autoritäten. Entsprechend wird Jesus gesteinigt, sein Leichnam aber danach aufgehängt, womit der Bericht daran angeglichen wurde, dass Jesus am Kreuz aufgehängt wurde. Man sucht vor der Hinrichtung nach Entlastungszeugen. Damit verteidigt man sich gegen den christlichen Vorwurf, Jesus sei mit falschen Zeugen im Gericht konfrontiert worden. Das Todesurteil wird zweifach begründet. Erstens habe Jesus Zauberei betrieben, ein Vorwurf, der schon im Beelzebulgespräch vorausgesetzt ist (Mk 3,22par.). Zweitens habe Jesus Israel verführt und (von Gott) abtrünnig gemacht. Dieser Vorwurf konnte erst entstehen, nachdem Christen Jesus als Kyrios und Gott verehrten.27 Fazit ist: Das Jesusbild der rabbinischen Texte ist eine Reaktion von Juden auf dessen Verehrung im Christentum. Es will verständlich machen, warum sich Jesus von seinem jüdischen Glauben abwandte. Das wird auf fremde Einfluss zurückgeführt – Jesus stamme von einem Römer ab und habe aus Ägypten Zauberei importiert, aber auch auf eine misslungene Sozialisation im Judentum. Seine Hinrichtung wird nicht den Römern angelastet, sondern ist Ergebnis eines korrekten jüdischen Prozesses. Er wurde nach jüdischen Normen erzogen und beurteilt. Seine Anhänger sind auch nicht Anhänger einer neuen Religion, sondern jüdische Häretiker. Eine offene Frage ist: Wie konnte sich das wohlwollende Jesusbild bei Josephus in die Verurteilung der Christen als Häretiker (als minim) verwandeln? War es
25 Vgl. R.E.van Voorst, Jesus*, 2000, 117–119. 26 J.Maier, Jesus*, 1978 21992, 219–237, meint, dass der Name Jesu erst sekundär in diesen Bericht über die Hinrichtung eines Zauberers und Verführers eingefügt wurde. 27 So J.Maier, Jesus*, 1978 21992, 234. Am Ende werden in bSanh 43a fünf Jünger Jesu (statt zwölf) genannt, deren Namen entfernt an die christliche Tradition erinnern: Mathaj wurde auf Matthäus, Naqaj auf Nikodemus oder Nikanor, Thoda auf Taddäus gedeutet; Neçer und Buni erfuhren Deutungen verschiedenster Art. Alle Jünger werden wie Jesus hingerichtet.
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eine Parallelentwicklung zur Ablehnung der christanoi im römischen Reich, die seit dem Trajanreskript ca. 110/11 allein aufgrund ihres Christseins verurteilt werden konnten?28
2. Römische Zeugnisse über Jesus R.Freudenberger, Das Verhalten der römischen Behörden gegen die Christen im 2. Jahrhundert dargestellt am Brief des Plinius an Trajan und den Reskripten Trajans und Hadrians, 1967; R.Klein (Hg.), Das frühe Christentum im römischen Staat, 1971; J.Speigl, Der römische Staat und die Christen. Staat und Kirche von Domitian bis Commodus, 1970; M.Whittaker, Jews and Christians: Graeco-Roman Views, 1984; R.L.Wilken, Die frühen Christen. Wie die Römer sie sahen, 1986; H.Botermann, Das Judenedikt des Kaisers Claudius. Römischer Staat und Christiani im 1. Jahrhundert, 1996; R.E.van Voorst, Jesus*, 2000, 19–74; M.Williams, Pliny the Younger, in: Chr.Keith (ed.), The Reception of Jesus*, 3, 2020, 41–50: dies., Suetonius, ebd., 51–59; dies., Tacitus, ebd., 61–70.
Zwischen 110/120 n. Chr. wird Jesus bei drei römischen Schriftstellern, Plinius d. J., Tacitus und Sueton, erwähnt. Alle halten „Christus“ (bzw. „Chrestus“) für seinen Eigennamen, bekleideten Regierungsämter, waren befreundet und hatten literarische Ambitionen. Sie kommen auf Jesus im Zusammenhang mit staatlichem Vorgehen gegen Christen zu sprechen, wollen also nicht über Jesus informieren. Dennoch erfahren wir von Tacitus, dass er in Palästina hingerichtet wurde und Anhänger in Rom hat, von Sueton, dass der Glaube an ihn in Rom Unruhe stiftete, von Plinius, dass Jesus in Bithynien wie ein Gott verehrt wurde. Plinius ist der einzige, der sagt, dass er mit Christen in Gerichtsverfahren direkt Kontakt hatte. Er schrieb seinen Christenbrief 111 n.Ch., Tacitus seine Annalen 116/117 n. Chr. Suetons vitae Caesarum erschienen zwischen 117 und 122. Weil sie in der Bewertung des Christentums als Aberglaube übereinstimmen, sind Unterschiede zwischen ihnen aufschlussreich. Das älteste Zeugnis, der Brief des Plinius, dokumentiert die Unterdrückung des christlichen Glaubens durch den römischen Staat, urteilt aber indirekt positiver als die späteren Zeugnisse. 2.1 Plinius der Jüngere (61 – ca. 113/15)
C.Plinius war Anwalt, hatte staatliche Ämter inne und wurde durch literarisch stilisierte Privatbriefe berühmt.29 Der zehnte Band dieser Briefe erschien erst nach seinem Tod und enthielt seine amtliche Korrespondenz mit Kaiser Trajan (98–117), der ihn um 111 n. Chr. als Legaten in die Provinz Bithynien und Pontus entsandt hatte. Als Plinius dort versuchte, 28 Vgl. P.J.Tomson, The Gospel of John and the ‚Parting of the Ways‘, in: P.J.Tomson, Studies on Jews and Christians in the First and Second Centuries, 2019, 621–661. 29 Vgl. den Kommentar A.N.Sherwin-White, The Letters of Pliny. A Historical and Social Commentary, 1966, 601–712.712–787, ferner A.Wlosok, Rom und die Christen. Zur Auseinandersetzung zwischen Christentum und römischem Staat, 1970, 27–39; R.Freudenberger, Das Verhalten der römischen Behörden gegen die Christen, 1967.
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ein Edikt des Kaisers umzusetzen, das illegale Vereine verbot, musste er sich auch mit den christiani befassen. Vielleicht hat erst sein Eifer bei der Durchsetzung dieses Edikts Anzeigen gegen Christen anschwellen lassen (M.Williams). Als er über sie an den Kaiser schrieb (Ep X,96), hatte er schon einige Christen zum Tode verurteilt. Zunächst berichtet er von seiner bisherigen Praxis: Wer beschuldigt wurde, Christ zu sein, konnte diesen Vorwurf widerlegen, indem er den Götterstatuen und dem Bild des Kaisers Weihrauch und Wein opferte und Christus lästerte. Einige, die sich vom Christentum wieder abgewandt hatten, beteuerten vor Plinius dabei die Harmlosigkeit ihres früheren Glaubens, dass sie gewöhnlich an einem festgesetzten Tag vor Sonnenaufgang sich versammelt, Christus wie einem Gott (quasi deo) im Wechsel Lob gesungen und sich mit einem Eid verpflichtet hätten, nicht etwa zu irgendeinem Verbrechen, sondern zur Unterlassung von Diebstahl, Raub, Ehebruch, Treulosigkeit und Unterschlagung von anvertrautem Gut. (Plinius Ep X,96)30
Plinius stellt diese „reuige Christen“ als vorbildliche Menschen dar. Dass ihr christlicher Eid drei Elemente umfasst, die den Besitz betreffen, Diebstahl, Raub und Unterschlagung, weist auf die Vorwürfe, die gegen sie in den Prozessen eine Rolle gespielt haben. Seine Informationen schöpft Plinius aus Gerüchten über sie, dass z. B. mit dem Christennamen bestimmte Verbrechen verbunden seien (flagitia cohaerentia nomini)31, vor allem aber aus Aussagen der Angeklagten, sowohl derer, die sich vom Christentum abgewandt hatten, als auch von zwei christlichen Diakoninnen (ministrae), die er als Sklavinnen unter Folter verhört, um die Aussagen der anderen zu überprüfen. Er beschreibt Christus, dem die Christen „wie einem Gott“ Lieder singen (carmen … quasi deo dicere), als einen zum Gott erhobenen Menschen, der im Widerspruch zu den römischen Staatsgöttern steht, da die Bindung an ihn zur Verweigerung des Kaiserkults führt. Seine Eingabe an den Kaiser zielt insgesamt darauf, Milde walten zu lassen. Denn er schließt mit der Empfehlung, dass man allen eine Chance zur Umkehr geben soll. Wer sich vom Christentum abgewandt habe, sei harmlos. Die Antwort des Kaisers kommt Plinius teilweise entgegen (Plinius Ep X,97). Christen können freigesprochen werden, wenn sie den Göttern opfern – von Opfern an den Kaiser schweigt Trajan. Anonymen Anzeigen soll nicht nachgegangen werden.32 Aber Trajan schreibt dabei eine einschneidende Verschärfung als Recht fest: Das nomen ipsum, d. h. allein die Tatsache, Christ zu sein, ist ein todeswürdiges Verbrechen, auch wenn er festhält, dass es keine klaren Vorschriften zum Umgang mit den Christen gibt.33 Christen wurden vorher z. B. 49 n. Chr. aus 30 Übersetzung: A.M.Ritter (Hg.), Alte Kirche. Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen I, 51991, 14–15. 31 Vgl. A.Wlosok, Rom und die Christen, 1970, 28.32 f. 32 Trajan korrigiert noch in einem anderen Punkt Plinius: Der Opfertest überprüft nicht nur früher abgefallene Christen. Ihre Abwendung vom Christentum kann während des Prozesses geschehen. 33 In Korinth will der Statthalter Gallio nicht über Fragen der Lehre, der „Namen“ und des Gesetzes urteilen. Das nomen ipsum ist kein Problem (Apg 18,15). König Agrippa bekennt, Paulus habe ihn fast zum Christianos gemacht (Apg 26,28f). 1Petr 4,16 kennt freilich Fälle, wo Christen als „Christiani“ leiden.
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Rom als Unruhestifter (als tumultuantes) ausgewiesen (Sueton, Claudius 25), 64 n. Chr. als Brandstifter hingerichtet (Tacitus, Ann 15,44,2–5). Bei seinem Regierungsantritt 96 v. Chr. hatte Nerva die Situation all derer verbessert, die wie die Christen eine jüdische Lebensweise angenommen hatten: „Niemand mehr durfte Anzeige wegen Majestätsbeleidigung und wegen Annahme jüdischer Lebensweise erheben“ (Cass Dio 68,1). Das Reskript des Trajans war ein herber Rückschlag. Es schrieb die Kriminalisierung des Christseins rechtlich fest. Ferner ist auffallend: Der jüdische Ursprung der Christen spielt im Pliniusbrief anders als bei Tacitus keine Rolle. 2.2 Tacitus (55/56 – ca. 120)
P.Cornelius Tacitus, ca. 112/113 Prokonsul von Asien, verfasste zwei Geschichtswerke, die „Historien“ um 105/110 und die „Annalen“ um 116/117, in denen er die Zeit des Prinzipats als Verfall darstellte. Der Verfall zeigt sich sowohl in der Tyrannei der römischen Kaiser wie im Eindringen nichtrömischer Kulte. Unter Nero sei nach fünf guten Regierungsjahren, dem quinquennium 54–58 n. Chr., eine Schreckensherrschaft gefolgt, zu der die Hinrichtung der Christen gehört.34 Nero habe sie für den Brand Roms im Jahr 64 n. Chr. verantwortlich gemacht, um den Verdacht von sich abzulenken, er habe den Brand gelegt (Ann 15,44,2–5).35 Obwohl Tacitus die Verachtung der Oberschicht gegenüber den Christen teilt, hält er sie nicht der Brandstiftung schuldig, wirft ihnen aber einen „Hass gegen das Menschengeschlecht“ (odium humani generis) vor (Ann 15,44,4) und überträgt damit ein Vorurteil gegen Juden, das er schon in Hist 5,5,1 vertreten hat, auf die Christen. Die Verurteilung der Christen hält er für gerechtfertigt und hätte sich dafür rechtlich auf das Trajanreskript berufen können – vorausgesetzt, man gibt angeklagten Christen im Gerichtsverfahren eine Chance zur Umkehr. Tacitus verurteilt das Vorgehen Neros gegen die Christen wegen der niedrigen Beweggründe der Anklage: Die verurteilten Christen riefen Mitleid im Volk hervor, „da sie nicht dem Gemeinwohl, sondern der Grausamkeit eines einzelnen geopfert“ wurden
34 Eine Christenverfolgung unter Nero erwähnt Sueton (Nero 16,2) unabhängig vom Brand Roms als eine seiner positiven Taten: „Mit Todesstrafen wurde gegen die Christen vorgegangen, eine Sekte, die sich einem neuen, gemeingefährlichen Aberglauben ergeben hatte.“ 35 Vgl. H.Fuchs, Tacitus über die Christen, VigChr 4 (1950) 65–93; A.Wlosok, Rom und die Christen. Zur Auseinandersetzung zwischen Christentum und römischem Staat, 1970, 7–26. M.Meier, Die neronische Christenverfolgung und ihr Kontexte, 2021, rekonstruiert überzeugend die mythologische Selbstinszenierung Neros, meint aber, erst Tacitus habe den Brand Roms mit dem Vorwurf der Brandstiftung gegen Christen verbunden, da sich die Christen nirgendwo gegen diesen Vorwurf verteidigten. Das ist ein Irrtum: Im Martyrium des Paulus 3 (in den Acta Pauli) sagt Paulus in direkter Konfrontation mit Nero über Christus: „Er wird an einem Tag die Welt im Feuer vernichten.“ Das motiviert die Verbrennung der Christen durch Nero! In der Ephesusperikope der Acta Pauli (Papyrus Hamburg 1) prophezeit Paulus, dass Gott mit Feuer die Götzendiener strafen wird. In Lk 9,51–56 kritisiert Jesus die Jünger wegen ihres Wunsches, Feuer vom Himmel möge ein ablehnendes Dorf zerstören. Das lk Doppelwerk, das in Rom endet, versichert hier: Christen sind keine Brandstifter.
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(Ann 15,44,5). Das passt ins Bild des Tacitus vom Verfall des Prinzipats. In diesem Zusammenhang schreibt er über den Stifter des neuen Aberglaubens:36 Dieser Name [chrestiani] stammt von Christus, der unter Tiberius vom Prokurator Pontius Pilatus (per Pontium Pilatum) hingerichtet worden war. Dieser verderbliche Aberglaube war für den Augenblick unterdrückt worden, trat aber später wieder hervor und verbreitete sich nicht nur in Judäa, wo er aufgekommen war, sondern auch in Rom, wo alle Gräuel und Abscheulichkeiten der ganzen Welt zusammenströmen und geübt werden (ebd.44,3).
Wahrscheinlich hat Tacitus seine Informationen über Jesus u. a. während seiner Statthalterschaft in Kleinasien durch Prozesse und Informationen gewonnen.37 Bei Akteneinsicht hätte er Pilatus weder für einen Prokurator halten können, da dieser nur „Präfekt“ war,38 noch „Christus“ für einen Eigennamen. Seine Notiz über diesen neuen „Aberglaubens“ zeigt eine Perspektive „von oben“. Aber er verbindet seine Vorurteile gegen die Christen mit präzisen Informationen. Er weiß: „Christus“ war ein durch Pontius Pilatus als Verbrecher hingerichteter Jude und Urheber einer aus Judäa stammenden religiösen Bewegung, deren Anhänger sich nach ihm „Christen“ nennen und zur Zeit Neros in Rom bekannt waren. Tacitus schreibt nur Pilatus die Verantwortung für Jesu Tod zu. Er wurde anders als in der christlichen Tradition nicht nur sub Pontio Pilato, sondern per Pontium Pilatum hingerichtet.39 Daraus kann man nicht schließen, dass jüdische Aristokraten nicht beteiligt waren. Denn Tacitus kritisiert die Christen als ein aus dem Judentum kommenden Aberglauben und unterstellt ihnen ebenso wie allen Juden denselben odium humani generis (vgl. Tac Hist, V,5,1). Eine Bekämpfung dieses „Aberglaubens“ durch Juden selbst würde sein negatives Bild vom Judentum in Frage stellen.
Die Aussagen des Tacitus unterscheiden sich grundlegend von denen seines Freundes Plinius d. J., der in den Christen zu seiner Überraschung den harmlosen Aberglauben „guter Menschen“ entdeckte und von ihrer Beziehung zum Judentum schweigt. Tacitus stellt sie dagegen als Juden mit „Hass auf alle Menschen“ dar und billigt ihre Hinrichtung. Diesen 36 Übersetzung nach Barrett/Thornton, Nr. 11, 16 f. Die Lesart „Christianos“ ist nicht gesichert, da sie in der zuverlässigsten Handschrift aus „Chrestianos“ korrigiert wurde. „Chrestiani“ ist von dem griechischen Sklavennamen „Chrestos“ (der Nützliche, Tüchtige) abgeleitet. 37 Nach St. Mason, Nichtchristliche Texte*, 2017,163, hat Tacitus möglicherweise das Geschichtswerk des Josephus über den jüdischen Krieg (in Hist 5,1–13) verwertet. – Doch bleiben Unterschiede: Josephus berichtet von keiner zeitweisen Unterdrückung der Bewegung. „Christus“ ist bei ihm ein messianischer Titel, Jesus ein Eigenname. 38 Dies ist durch die 1961 in Cäsarea entdeckte Pilatus-Inschrift bewiesen. M.Williams, Tacitus, in: Chr. Keith (ed.), The Reception of Jesus*, 2020, 66f, macht darauf aufmerksam, dass der militärische „praefectus“ und der administrative „procurator“ in Inschriften auf dieselbe Person bezogen werden (so A.H.M.Jones, Studies in Roman Government and Law, 1968, 115–125; 195–197). Tacitus ziehe den rangniedrigeren Titel vor, um Jesus abzuwerten. 39 So W.Reinbold, Der älteste Bericht über den Tod Jesu, 1994, 301.
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Umschwung in der Bewertung innerhalb derselben Oberschichtkreise wird durch die geschichtlichen Ereignisse verständlich. Nach Abfassung des Christenbriefes durch Plinius und dessen Tod (ca. 113/15) erschütterte der zweite römisch-jüdische Krieg (115/117) mit Aufständen in Kyrene, Ägypten, Zypern und Mesopotamien große Teile des Reiches. Tacitus schrieb in dieser Zeit seine Annalen. Seine schon vorher bestehende negative Bewertung des Judentums wurde dadurch verstärkt. Die Christen waren freilich damals schon als Unruhestifter in Rom aufgefallen. Das bezeugt etwas später Sueton. Bezieht man sein Zeugnis auf Christen, würde auch verständlicher, warum man auf sie den Verdacht der Brandstiftung lenken konnte. 2.3 Sueton (70 – ca. 130)
C.Suetonius Tranquillus stammte aus dem Ritterstand, arbeitete als Advokat, bis Plinius d. J. ihm den Weg zu höheren Verwaltungsämtern unter Trajan und Hadrian ebnete. Sueton hatte seitdem Zugang zu Archiven für seine Kaiserbiographien „De vita Caesarum“, die vermutlich zwischen 117 und 122 erschienen sind. Alle Biographien sind in einen chronologischen Teil mit Lebenslauf des Kaisers und eine sachlich geordnete Zusammenfassung seiner Tätigkeiten gegliedert. Sueton berichtet vom Verhalten des Claudius (41–54 n. Chr.) gegenüber verschiedenen Völkern, darunter auch gegenüber den Juden. Ihre Vertreibung aus Rom sei durch das Wirken eines „Chrestus“ veranlasst worden: „Judaeos impulsore Chresto assidue tumultuantes Roma expulit.“ „Die Juden, die durch einen Anstifter Chrestus fortwährend Unruhe erregten, vertrieb er aus Rom.“ (Claudius 25,4) Die wahrscheinlichste Deutung ist, dass es unter den römischen Juden aufgrund der christlichen Predigt wegen eines Messias (= Christus) zu Unruhen gekommen war, woraufhin Claudius die Wortführer der Christen ausweisen ließ. Sueton hätte den Glauben dieser Christen an den auferstandenen Christus dahingehend missverstanden, als habe ein lebender Chrestus in Rom Unruhe hervorgerufen. Doch hat er diesen Chrestus kaum mit dem von Christen verehrten Christus identifiziert. Denn er hatte einst seinen Förderer und Freund Plinius nach Bithynien begleitet und war möglicherweise über dessen Vorgehen gegen die Christen gut informiert.40 Er konnte dadurch wissen, dass die Christen einen Gott im Himmel namens „Christus“ verehrten, konnte aber eben deshalb einen in Rom auf Erden wirkenden Chrestus nicht mit dieser Gottheit der christiani identifizieren, sondern hielt diesen „Chrestus“ für einen Unruhstifter mit einem verbreitetem Sklavennamen. Das ist das Wahrheitsmoment einer alternativen Deutung der Notiz des Sueton, die sagt, Chrestus sei ein unbekannter Unruhestifter gewesen und habe mit den Christen nichts zu tun; denn es fehlten die üblichen Vorwürfe gegen den Aberglauben der Christen, vielmehr sei von einem Aufruhr die Rede, den ein in
40 Im Briefwechsel des Plinius mit Trajan steht ein Bittschreiben des Plinius zur Förderung des Sueton (Ep X,94 und 95) unmittelbar vor dem Christenbrief. K.Sallmann, Art. Suetonius [2] s. Tranquillus, DNP 11 (2001) 1084–1088, Sp. 1084, schließt wohl mit Recht: Sueton „genoß unter Traian die Protektion Plinius’ d. J. (Plin. Epist. 1,18; 3,24; 3,8; 10,94), den er anscheinend in die Prov. Bithynia begleitete.“
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Rom lebender jüdischer Zelot verursacht haben könnte.41 Richtig ist: Sueton wird subjektiv an solch einen Unruhestifter gedacht haben, bezieht sich aber objektiv auf Unruhen, die durch Christen verursacht waren. Denn deren Auftreten als Unruhestifter passt unwahrscheinlich gut in ihre damalige Situation.42 Sie wurden zu jener Zeit in Thessaloniki angeklagt, die ganze Welt in Aufruhr zu bringen (anastatōsantes) (Apg 17,6), da sie behauptet hätten, nicht der Kaiser, sondern „ein anderer sei König, Jesus“ (Apg 17,7). Die Anklage in Thessaloniki spricht von Jesus, als sei er ein lebender König. Der Vorwurf, sie würden gegen die Gesetze des Kaisers verstoßen, war dabei berechtigt: Claudius hatte am Anfang seiner Regierung zur Beruhigung von Konflikten zwischen Juden und Nichtjuden alle Religionsgruppen verpflichtet, bei ihren Traditionen zu bleiben. Dieses Gebot wurde von Paulus übertreten, wenn er für einen Verzicht auf Beschneidung und Speisegebote eintrat und dadurch in jüdischen Gemeinden Konflikte auslöste. Die Ausweisung von Juden aus Rom nach Sueton Claudius 25,4 ist mit der in Apg 18,2 berichteten Ausweisung von Juden aus Rom identisch, von der die Apg generalisierend sagt, Claudius habe angeordnet, dass alle Juden Rom verlassen müssten. Die Notiz bei Sueton muss man aber wohl so verstehen, dass er nur die Juden vertrieb, „die durch einen Anstifter Chrestus fortwährend Unruhe erregten.“43 Konkret hören wir in der Apg nämlich nur von zwei Christen, Aquila und Priscilla, die nach ihrer Ausweisung aus Rom nach Korinth kamen und sich dort dem aus Thessaloniki geflohenen Paulus anschlossen. Ausweisungen von Juden aus Rom hatte es früher schon gegeben, als Juden unter Heiden für ihren Glauben geworben hatten.44 Das war jetzt wieder der Fall. Christusanhänger hatten in Rom eine aus Juden und Heiden bestehende Gemeinde gegründet. Durch das Claudiusedikt wurde deren jüdischer Teil durch Vertreibung von Judenchristen geschwächt. Das alles geschah wahrscheinlich im Jahr 49 n. Chr.
3. Nicht-römische Zeugnisse über Jesus Nicht alle Gebildeten verurteilen die Christen so scharf wie die drei Vertreter der römischen Oberschicht, auch wenn bei Plinius eine andere Sicht kurz aufblitzt. Unter den Gebildeten finden wir zum ersten Mal bei zwei Syrern eine positive Bewertung Jesu, bei Lukian von Samosata eine ironisch gebrochene Sicht, bei Mara bar Sarapion eine sehr positive Bewer41 St. Benko, The Edict of Claudius of A.D. 49 and the Instigator Chrestus, ThZ 25 (1969) 406–418; St. Mason, Nichtchristliche Texte*, 2017, 161f; M.Williams, Suetonius, in: Chr.Keith (ed.), The Reception of Jesus*, 2020, 51–59. Die traditionelle Deutung, dass hier der Glaube an Christus unter den Christen gemeint ist, vertritt R.E.van Voorst, Jesus*, 2000, 29–39. 42 Vgl. G.Theißen/P.v.Gemünden, Der Römerbrief. Rechenschaft eines Reformators, 2016, 90–94. D.Alvarez-Cinera, Die Religionspolitik des Kaisers Claudius und die paulinische Mission, 1999. 43 Zum Claudiusedikt vgl. P.Lampe, Die stadtrömischen Christen in den ersten beiden Jahrhunderten, 2 1989, 4–8, dort S. 6f: „impulsore … tumultuantes schränkt als Attribut zu Judaeos den Kreis der ausgewiesenen Juden ein“. 44 Sie wurden 139 v. Chr. aus Rom vertrieben, weil sie Proselyten gemacht hatten (Val. Max. I,3,3) in: M.Stern, Greek and Latin Authors on Jews and Judaism, 1, 1980, S. 358, Nr. 147a.
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tung Jesu. Lukian verspottet zwar die Christen, aber beruft sich für seine Polemik gegen einen Scharlatan auch auf sie. Der syrische Stoiker Mara bar Sarapion erwartet ein Todesurteil und weiß sich dadurch Jesus nahe. Der Arzt Galen kritisiert die Lehre der Christen, respektiert aber ihre Lebensform. Erst der platonische Philosoph Kelsus legt die Evangelien seiner polemischen Schrift „Wahre Lehre“ (ca. 180 n. Chr.) zugrunde, in der er Christen wegen ihrer Feindschaft gegen Vernunft und Tradition ablehnt. Jetzt erst werden Christen, ihre Schriften und ihr Glauben ernst genommen. 3.1 Lukian von Samosata über den „gekreuzigten Sophisten“ H.D.Betz, Lukian von Samosata und das Christentum, NovTest 3 (1959) 226–237; M.Baumbach/P.Pilhofer u. a., Lukian. Der Tod des Peregrinos. Ein Scharlatan auf dem Scheiterhaufen, 2005. M.Williams, Lucian of Samosata, in: Chr. Keith (Hg.), The Reception of Jesus*, 2020, 31–40.
Lukian von Samosata im Syrien (ca. 120–180/200 n. Chr.) beschrieb das Leben des Peregrinus Proteus, eines kynischen Wanderphilosophen in satirischer Form. Dieser Kyniker hatte sich den Christen angeschlossen und war unter ihnen zu hohem Ansehen aufgestiegen. Doch wurde er nach Verstößen gegen die Normen ihrer Gemeinschaft ausgeschlossen und endete durch Selbstverbrennung bei den Olympischen Spielen 165 n. Chr. Die Satire Lukians schildert, wie er die Hilfsbereitschaft christlicher Gemeinden ausnutzte: Die Unglückseligen nämlich haben sich eingeredet, dass sie gänzlich unsterblich seien und in Ewigkeit leben würden, weswegen sie den Tod verachten und die meisten sich freiwillig ausliefern. Dann hat sie noch der erste Gesetzgeber davon überzeugt, dass sie alle Brüder seien, wenn sie erst übergetreten seien und den griechischen Göttern abgeschworen hätten, jenen gekreuzigten Sophisten anbeteten und nach seinen Gesetzen lebten. So verachten sie alle weltlichen Dinge in gleicher Weise und halten alles für gemeinsamen Besitz und nehmen solches ohne einen vertrauenswürdigen Beweis hin. Immer wenn also ein zauberkundiger oder gewitzter Scharlatan zu ihnen kommt, der die Gelegenheit zu ergreifen weiß, so wird er in kurzer Zeit sehr reich, indem er diese einfachen Leute zum Besten hält. (Lukian, Peregrinus, 13)
Der erste Gesetzgeber der Christen muss Paulus sein, denn er wird als „Heidenmissionar“ dargestellt, der zum Abfall vom griechischen Götterglauben wirbt. Der gekreuzigte Sophist, für den er wirbt, ist Christus. Typisch für dessen Anhänger sind hier (1) ein Fideismus, der sich nicht auf Argumente stützt, (2) die Ablehnung der Götter, (3) Besitzgemeinschaft und Verachtung des Reichtums, (4) Glaube an die Unsterblichkeit, (5) Martyriumsbereitschaft. Wichtig ist: Jesus wurde nach Lukian nicht als Krimineller hingerichtet, sondern weil er einen „neuen Kult“ (teletēn) gegründet hat (Per. 11). Das Ziel der Satire ist die Entlarvung des Peregrinus Proteus als Scharlatan. Dafür dienen Lukian auch die Christen als Zeugen dafür, dass selbst diese naiven „Gutmenschen“ Peregrinus Proteus aus ihrer Gemeinschaft ausgeschlossen haben. Er sei dabei ertappt worden, dass er ihre Speisegebote nicht einhielt (Peregrinus 16). Zwar werden die Christen lächerlich gemacht, doch nicht als Kriminelle,
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sondern als Opfer eines Kriminellen.45 Trotzdem spüren wir eine satirisch gebrochene Sympathie. Denn die Christen verwirklichen das verbreitete Ideal, dass Freunden alles gemeinsam haben. Die Möglichkeit eines positiven Bildes von Jesus und den Christen wird in dieser Zeit vor allem von einem anderen Syrer, Mara bar Sarapion, bezeugt. 3.2 Der Mara bar Sarapion über den „weisen König der Juden“ F.Schulthess, Brief* (1897); A.Merz/T.Tielemann, The Letter of Mara bar Serapion. Some Comments on its Philosophical and Historical Context, in: A.Houtman (Hg.), Empsychoi Logoi. Religious Innovations in Antiquity, 2008, 107–133; dies. (ed.), The Letter of Mara bar Sarapion in Context, 2012; M.A.Speidel, Making Use of History Beyond the Euphrates. Political Views, Cultural Traditions, and Historical Contexts in the Letter of Mara bar Sarapion, in: A.Merz/T.Tielemann (ed.), The Letter of Mara bar Sarapion in Context, 2012, 11–42; St. Mason, Nichtchristliche Texte* 2017, 159–161; K.McVey, Mara Bar Serapion, in: Ch.Keith (ed.), The Reception of Jesus*, 2020, 71–88.
Der heidnische Philosoph Mara bar Sarapion schreibt (an einem unbekannten Ort) aus römischer Gefangenschaft an seinen Sohn angesichts seiner möglichen Verurteilung zum Tode und empfiehlt ihm die Weisheit als oberstes Lebensziel. Zwar würden die Weisen verfolgt und getötet, die Weisheit selbst aber sei ewig. Das zeigten Sokrates, Pythagoras46 und Jesus, ohne dass er dessen Namen nennt: Was hatten die Athener für einen Nutzen davon, dass sie Sokrates töteten, was ihnen mit Hungersnot und Pest vergolten wurde? Oder die Samier von der Verbrennung des Pythagoras, da ihr ganzes Land in einem Augenblick vom Sand verschüttet wurde? Oder die Juden von der Hinrichtung ihres weisen Königs, da ihnen von jener Zeit an das Reich weggenommen war? Denn gerechtermaßen nahm Gott Rache für jene drei Weisen: die Athener starben Hungers, die Samier wurden vom Meere bedeckt, die Juden umgebracht und aus ihrem Reiche vertrieben, leben allenthalben in der Zerstreuung. Sokrates ist nicht tot: wegen Platon, noch Pythagoras: wegen der Herastatue, noch der weise König: wegen der neuen Gesetze, die er gegeben hat.47
Wann der Brief, geschrieben wurde, ist umstritten.48 Gegen eine Verfasserschaft im 1. Jh. spricht vor allem, dass er dann die älteste Schrift der syrischen Literatur wäre. Auch setzt der Brief die Vertreibung der Juden aus Judäa voraus, denen seit dem dritten jüdischen Krieg (132–135 n. Chr.) verboten war, Jerusalem zu betreten. Handschrift und literarischer Cha45 Anders M.Williams, Lucian*, 36: Das Bild, das Lukian von Christus zeichne, sei „wholly negative“. P.Pilhofer, Das Bild der christlichen Gemeinden in Lukians Peregrinos, in: M.Baumbach/P.Pilhofer u. a., Lukian“, 2005, 97–110, charakterisiert es als originell und nimmt differenziertere Kenntnisse an. 46 Die Angaben sind historisch ungenau. Wahrscheinlich hält Mara den Philosophen und Bildhauer Pythagoras für dieselbe Person. 47 F.Schulthess, Brief* (1897) 371 f. 48 A.Baumstark, Geschichte der syrischen Literatur, 1922, 10, verzichtet auf eine Datierung, da ihm die zeitgeschichtlichen Hinweise nicht hinreichend eindeutig erscheinen.
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rakter weisen nach M.A.Speidel in das 2. und 3. Jh.49 Der Brief könnte kurz nach 161– 166 n. Chr. entstanden sein, als die Parther nach Vernichtung eines römischen Heeres bis nach Kappadokien vorgestoßen waren, denn Mara berichtet von der Flucht antirömisch gesinnter Bürger der Stadt Samosata nach Seleukia. Bei dieser Datierung wäre der Brief, auch wenn er fiktional wäre, ein erstaunlich positives Zeugnis für Jesus und seine Anhänger. Eine Frühdatierung des Mara-Briefes gegen Ende des ersten Jhs. ist nicht ganz ausgeschlossen. Er wäre dann das älteste nicht-christliche Zeugnis über Jesus und er wäre vielleicht in syrischer Sprache erhalten, weil er von Jesus zeugte.50 Einige Daten passen zu solch einer Frühdatierung: Schon nach dem ersten römischjüdischen Krieg (66–70/4 n. Chr.) verloren Juden ihre Selbstverwaltung. Viele wurden deportiert, so dass der Eindruck entstehen konnte, sie seien aus ihrem Land vertrieben worden, eine Ansicht, die Josephus Titus in den Mund legt (Bell 7,109). Die im Brief erwähnte Flucht antirömisch gesinnter Bürger erinnert51 an die von Josephus Bell 7,219–243 berichtete Absetzung und Vertreibung des Königs Antiochus IV. von Kommagene (mit Hauptstadt Samosata) durch die Römer im Jahr 73. Der König floh freilich nicht nach Seleukia, sondern nach Kilikien, während andere Flüchtlinge bei den Parthern Zuflucht suchten. Für eine Frühdatierung spricht ferner, dass zwischen Juden und Christen nicht differenziert wird. Die „Gesetze“ des Königs der Juden gelten für alle Juden, nicht nur für eine besondere Gruppe im Judentum oder neben ihm. Nach 70 n. Chr. konnte man noch den Eindruck haben, das Christentum sei eine innerjüdische Bewegung. Die Form des Briefes als Abschiedsschreiben an eine vertraute Person mit einer allgemeinen Botschaft an einen weiteren Personenkreis spricht nicht gegen seine Authentizität. Dafür gibt es Analogien wie den Brief des Porphyrius an seine Frau Marcella.52 Jedoch sei betont: Die meisten Fachleute halten eine Frühdatierung des Briefes für unwahrscheinlich.
Unabhängig von Datierung und Authentizität kann man feststellen: Der Verfasser des Briefes war weder Jude noch Christ, denn er spricht von „unseren Göttern“, ist aber gegenüber dem Christentum aufgeschlossen. Seine Aussagen über Jesus könnten von christlichen Überlieferungen abhängig sein: Dass er Juden für Jesu Hinrichtung verantwortlich macht, entspricht 1Thess 2,15 und Apg 4,10. Dass deren Niederlage gegen die Römer als Strafe für die Kreuzigung Jesu gedeutet wird, entspricht Mt 22,7; 27,25. Dass Jesus als „weiser König“ der Juden gilt, hat Anhalt in christlichen Quellen. Im MtEv suchen die Weisen den neugebore49 Man hat den Brief des Mara bar Sarapion auch als Schreibübung eines christlichen Studenten im 3./4. Jh. gedeutet, der sich als konvertierter Heide ausgibt. Dann wäre er historisch wertlos. So K.E.McVey, A Fresh Look at the Letter of Mara Bar Sarapion, in: R. Lavenant S.J. (ed.), V Symposium Syriacum 1988, 1990, 257–72. 50 J.Blinzler, Der Prozeß Jesu, 41969, 53 f.; E.Barnikol, Das Leben Jesu der Heilsgeschichte, 1958, 251. 51 F.Schulthess, Brief*(1897), 368f, Z. 47–74. 52 So das Ergebnis von A.Merz, Mara’s Letter in the Context of Ancient Epistolary Practice, in A.Merz/ D.Rensberger/M.A.Speidel/T.Tieleman (ed.), Mara Bar Sarapion. Letter to His Son, (im Erscheinen begriffen) mit dem Resultat. „A hortatory personal letter from a philosophically minded father to his son in the perceived situation, where the letter would naturally become a memorial to the author who fa�ces imminenent death at the moment of writing, fits into the categories of authentic letters either suited or even intended for a broader audience easily.“
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nen König der Juden (Mt 2,1–12). Mara schreibt aus einer Außenperspektive: In seiner Paradigmenreihe erscheint Jesus als einer von drei Weisen.53 Die Auferstehung Jesu interpretiert er in seinem Sinne um, indem er sagt: „Das Leben der Menschen, mein Sohn, geht aus der Welt, ihr Lob und ihre Gaben bleiben in Ewigkeit“.54 Jesus lebt für ihn als Gesetzgeber in seinen Gesetzen weiter, denn die Christen leben nach den Gesetzen ihres „weisen Königs“. Wahrscheinlich hat Mara seine Nachrichten über Jesus aus dem syrischen Christentum. Das dort entstandene MtEv hat ein vergleichbares Jesusbild: Auch in ihm ist die Katastrophe des Judentums 70 n. Chr. Strafe für die Hinrichtung Jesu. Auch dort ist Jesus der weise „König der Juden“, der „neue Gesetze“ gibt. Auf jeden Fall ist der Sarapionbrief, unabhängig davon, ob er ein authentischer Brief aus dem 1. Jh. ist oder ein fiktionales Schreiben aus dem 2. Jh., ein Zeugnis dafür, dass der von Mt dargestellte „König der Juden“ für heidnische Weisen attraktiv sein konnte. Das sagt auch Mt 2,1–12 in legendarischer Form, wenn Weise aus dem Morgenland den neuen König aufsuchen. 3.3 Der Arzt Galen über die Moral der Christen
Aelius Galenus wurde 128/131 n. Chr. in Pergamon geboren und starb zwischen 199 und 216 in Rom. Auch dieser Arzt aus dem Osten des Römischen Reichs hat ein differenziertes Bild von den Christen. Er lehnt den „Fideismus“ von Juden und Christen, der alles auf den unerklärlichen Willen Gottes zurückführt, ab, aber respektiert Christsein als Lebensform einfacher Menschen und würdigt Gleichnisse als didaktische Mittel. Vor allem lobt er die Frauen unter ihnen: Die meisten Leute können keiner zusammenhängenden Beweisführung folgen; deshalb brauchen sie Gleichnisse, und sie ziehen daraus einen Nutzen; ebenso wie wir heutzutage Leute sehen, die man Christen nennt. Wie sie aus Gleichnissen und Wundern ihren Glauben ziehen; und doch handeln sie manchmal genauso wie diejenigen, die nach einer Philosophie leben. Denn ihre Verachtung des Todes und dessen Folge wird uns jeden Tag offenbar, und ebenso ihre sexuelle Enthaltsamkeit. Denn sie haben nicht nur Männer, sondern auch Frauen, die ihr ganzes Leben lang sexuell enthaltsam leben. Zu ihnen zählen auch einzelne, die in ihrer Selbstdisziplin und Selbstbeherrschung in Bezug auf Essen und Trinken sowie in ihrem Streben nach Gerechtigkeit einen Stand erreicht haben, der nicht geringer ist als der der echten Philosophen.55
Galen gehörte zur Oberschicht, war u. a. Arzt am kaiserlichen Hof in Rom. Die oben behandelten römischen Schriftsteller waren Teil des politischen Systems, Galen aber war kein Ver53 Sokrates wird im 2. Jh. neben Christus als exemplum genannt. Vgl. die Beispiele in K.McNey, Mara Bar Serapion, 2000, 76–83. Aber schon das lk Doppelwerk hat Sokrates als Vorbild vor Augen, wenn die Apostel bekennen: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Apg 5,29; vgl. 4,19). 54 F.Schulthess, Brief* (1897) 370, Z. 106 f. 55 R.Walzer, Galen on Jews and Christians, 1949, 15, zit. n. R.L.Wilken. Die frühen Christen. Wie die Römer sie sahen, 1986, 92.
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waltungsbeamter, sondern ein Empiriker, geübt darin, genau zu beobachten. Er hat das ausgewogenste Bild von den Christinnen und Christen. 3.4 Der Philosoph Kelsos über Jesus und die Christen (ca. 180 n. Chr.) M.Reiser, Kritische Geschichte der Jesusforschung, 22017,18–25; R.L.Wilken, Die frühen Christen, Wie die Römer sie sahen, 1986, 106–137.
Kelsos war der erste, der gegen die Christen um 180 ein Buch schrieb. Wir kennen es nur, weil Origenes lange Abschnitte daraus zitiert, ehe er sie zu widerlegen sucht. Kelsos kennt die Evangelien, aber auch jüdische Überlieferungen über Jesus wie die von seiner Zeugung durch einen Soldaten Panthera (c.Cels. 1,32). Die Wunder Jesu, an deren Historizität er keinen Zweifel hat, sind für ihn Magie. Worte Jesu fände man auch bei anderen antiken Autoren. Für die Gottesstimme bei der Taufe gebe es keinen Augenzeugen. Sein Haupteinwand gegen die Christen aber ist, dass sie die „wahre Lehre“ (so der Titel seiner Schrift) verlassen haben. Wahre Lehre kann für Kelsos nur sein, was auf alter Tradition basiert. Schon die Juden hätten sich von ihr getrennt, die Christen aber hätten dazu auch die Lehren des Judentums verraten. Wenn Jesus Moses korrigiert, dann könne sich nicht ein und derselbe Gott den Juden und Christen offenbart haben. Wahr ist für Kelsos nur, was durch Tradition legitimiert ist, für den Arzt Galen nur, was auf Beobachtungen basiert. Anhang: Thallus56
Umstritten ist, ob ein Historiker namens Thallus die Sonnenfinsternis bei der Kreuzigung Jesu im 1. Jh. n. Chr. erwähnt hat.57 Nach Euseb, Chron. I, 265, umfasst seine Chronik die Zeit vom Fall Trojas bis zur 167. Olympiade im Jahr 112–109 v. Chr. und könnte daher Ereignisse im 1. Jh. n. Chr. gar nicht gekannt haben. Jedoch datiert Phlegon von Tralles (im frühen 2. Jh. n. Chr.) diese Sonnenfinsternis in die 202. Olympiade. Astronomen errechneten aufgrund dessen den 24.11. des Jahres 29 n. Chr., das 15. Jahr des Tiberius, als Datum der Finsternis. Diese Spätdatierung der Chronik des Thallus wird mit der Hypothese abgesichert, dass Josephus in Ant 18,167 einen „anderen Samarier“ (allos Samareus) als reichen Freigelassenen des Tiberius erwähnt, ohne vorher einen Samarier erwähnt zu haben. Er könnte ursprünglich Thallos Samareus geschrieben haben. Sicher ist das nicht. Plausibel wäre, dass eine bei Thallus überlieferte Sonnenfinsternis sekundär auf die Finsternis bei der Kreuzigung Jesu bezogen wurde. Der christliche Chronograph Julius Africanus (um 170–240) will gegen Thallus „beweisen“, dass es keine natürlich erklärbare Sonnenfinsternis war, sondern ein Wunder, 56 F.Jacoby, Die Fragmente der griechischen Historiker II B, Berlin 1929. P.Prigent, Thallos, Phlegon et le Testimonium Flavianum: Temoins de Jesus ?, in A. Benoît (Hg.), Paganisme, Judaïsme, C hristanisme, Influences et affrontements dans le monde antique, 1978, 329–334. E.Schürer/G.Vermes u. a., The History of the Jewish People in the Age of Jesus Christ III, 1986, 543–545. Wir danken Ethan Bohr von der Penn State University für Hinweise auf Unstimmigkeiten in den Rückschlüssen auf Thallus. 57 Vgl. E.Schürer, Die Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi, III, 41909, 494 f.
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Erster Teil: Die Quellen und ihre Auswertung
da Jesus zum Passafest bei Frühlingsvollmond gekreuzigt wurde, aber ein Neumond unmöglich beim Passafest eintreten konnte. Julius Africanus würde damit für moderne Menschen freilich vor allem beweisen, dass die Finsternis bei der Kreuzigung unhistorisch ist.
4. Zusammenfassung Die voneinander unabhängigen außerchristlichen Nachrichten über Jesus zeigen: Gegner, neutrale oder sympathisierende Beobachter des Christentums haben keinen Zweifel an der Geschichtlichkeit Jesu. Ihre uns unbekannten Quellen sind wahrscheinlich von christlichen Überlieferungen beeinflusst, aber nichts weist auf die Evangelien als ihre Quelle. Sie bieten wertvolle Parallelen zur urchristlichen Jesusüberlieferung. Erst Kelsus setzt sich mit den Evangelien auseinander. Folgende Daten werden durch diese Überlieferungen bezeugt: Josephus
Rabbinische Texte:
Lateinischer Autor:
Griechische Autoren:
Syrischer Autor:
Tacitus
Lukian, Galen, Kelsus
Mara b. Sarapion
Jesus ist Sohn eines röm. Soldaten. Der Bruder Jesu ist Jakobus. Er hat Wunder gewirkt.
Wunder sind ägyptische Magie.
Er lehrte als weiser Mensch.
Er verführte zum Abfall.
Sein Titel ist „der Christus“.
Kelsus: Wunder sind Magie. Seine Lehre ist ein maßloser Aberglaube.
Galen: Jesus vertrat eine einseitige Philosophie. Kelsus: Seine Sprüche finden sich auch bei anderen Autoren.
Mara: Er ist ein weiser König.
Tacitus: Christus ist Eigenname.
Mara: Er ist König. Mara: Verantwortlich ist das jüdische Volk.
Die Hinrichtung verantworten jüd. Ankläger u. Pilatus als Richter.
Verantwortlich ist ein jüdisches Gericht.
Tacitus: Verantwortlich ist nur der Prokurator Pilatus.
Jesus wirkt weiter aufgrund postmortaler Ausstrahlung.
Er hat fünf Jünger.
Tacitus: Jesus wirkt im Aberglauben seiner Anhänger über Palästina hinaus.
Lukian: Jesus stiftete einen Kult mit Besitzgemeinschaft.
Mara: Jesus wirkt weiter durch seine Gesetze.
Nichtchristliche Quellen über Jesus
53
Wenn man die Zeugnisse betrachtet, fällt auf: Das älteste jüdische Zeugnis über Jesus von Josephus, der in Rom lebte, ist neutral bis wohlwollend. Wir erkennen in ihm Züge des lk Jesusbildes wieder. Dazu passt, dass die Christen Ende des ersten Jahrhunderts in Rom einige wenige Sympathisanten in der Oberschicht für sich gewinnen konnten. Eine Angehörige des Kaiserhauses, Flavia Domitilla, nach der eine Katakombe benannt ist, war wahrscheinlich Patronin der Christen.58 Von ihr wird berichtet, sie habe nicht am Kaiserkult teilgenommen und sei deshalb von Domitian auf eine Insel verbannt worden (Cass Dio 67,14,1f; Sueton Domitian 15,1; Euseb h.e. 3,18,4). Sie dürfte unter Nerva (96–98 n. Chr.) zurückgekehrt sein. Dessen Edikt zugunsten der Juden kam auch Christen zugute. Je sichtbarer die Christen für die Oberschicht wurden, umso umstrittener mussten sie werden. Viele Vertreter der römischen Oberschicht waren sich zwar bald einig darin, dass sie einen maßlosen Aberglauben verbreiteten. Umso bemerkenswerter ist, dass Plinius ihre moralischen Überzeugungen trotzdem positiv bewerten kann, während ihnen Tacitus eine feindselige Einstellung gegenüber allen Menschen unterstellt. Der zweite Römisch-jüdische Krieg (115/117) erklärt die deutliche Verschlechterung des Bildes von Christen zwischen Plinius und Tacitus.59 Aufschlussreich ist ferner der Unterschied zwischen den westlichen und östlichen Autoren. Die lateinischen Schriftsteller gehören den Herrschaftseliten an, die den christlichen Glauben als Aberglauben verachten. Die nicht zu dieser Elite gehörenden Schriftsteller aus dem Osten urteilen sehr viel differenzierter: Lukian hält die Christen für naive „Gutmenschen“ mit übertriebener Solidarität; Jesus begründete nach ihm keinen „Aberglauben“, sondern einen neuen Kult. Nach Galen vertreten die Christen eine Lebensform mit ethischem Wert, wenn auch mit theoretischen Defiziten, die sie freilich mit allen Juden teilen. Im MaraBrief repräsentiert Jesus sogar dieselbe zeitlose Weisheit wie Sokrates. Die dezidierte Ablehnung des christlichen Glaubens durch Kelsos aber zeigt: Auch die unabhängig denkenden Intellektuellen im Osten des Reiches waren in ihrem Urteil gespalten. Ein Ergebnis ist: Die Gestalt Jesu spiegelt sich in diesen frühen nicht-christlichen Zeugnissen so verschieden, dass diese Zeugnisse sicher meist unabhängig voneinander sind, aber dennoch genug übereinstimmen, um auf ein und dieselbe Person bezogen zu werden. Hätten wir nur diese Quellen, gäbe es keinen Zweifel daran, dass Jesus gelebt und gewirkt hat. Einzelheiten über Jesu Leben und Lehre enthalten freilich nur die christlichen Überlieferungen. Wir müssen daher weiter fragen, ob man aus ihnen historisch zuverlässige Aussagen erschließen kann. Zu diesem Zweck geben wir einen Überblick über die christlichen Quellen.
58 Zu Flavia Domitilla vgl. P. Lampe, Die stadtrömischen Christen in den ersten beiden Jahrhunderten, 2 1989, 166–172. Er kommt zu dem Ergebnis, dass „eine Flavia Domitilla senatorischen Ranges aus dem flavischen Hause Christin“ war (S. 171), nicht aber ihr Mann (oder Onkel) T. Flavius Clemens, den Domitian hinrichten ließ. 59 P.J.Tomson, The Gospel of John and the ‚Parting of the Ways‘, in: P.J.Tomson, Studies on Jews and Christians in the First and Second Centuries, 2019, 621–661, stellt die Hypothese zur Diskussion, dass auch das negative Bild der Christen in der rabbinischen Literatur durch die drei jüdischen Kriege bedingt ist. Juden und Christen grenzten sich in dieser Zeit gegenseitig deutlicher voneinander ab.
§ 3 Christliche Quellen über Jesus
W.Bauer, Das Leben Jesu im Zeitalter der Neutestamentlichen Apokryphen, 1909; M.Bockmuehl, Ancient Apocryphal Gospels, 2017; H.K.Bond (ed.), From Paul to Josephus. Literary Receptions of Jesus in the First Century CE, 2020; T.Burke/B.Landau (Hg.), New Testament Apocrypha: More Noncanonical Scriptures, 1, 2016; J.D.Crossan, Four Other Gospels. Shadows on the Contours of Canon, 1985; C.A.Evans, Noncanonical Writings and New Testament Interpretation, 1992; J.Frey/J.Schröter (Hg.), Jesus in apokryphen Evangelienüberlieferungen, 2010; O.Hofius, Art. Agrapha, TRE 2 (1978) 103–110; J.Jeremias, Unbekannte Jesusworte, 1948 41965; Ch.Keith/H.K.Bond/Ch.Jacobi/J.Schröter, The Reception of Jesus in the First Three Centuries, 3 vls., 2020; H.-J.Klauck, Apokryphe Evangelien. Eine Einführung, 1996; H.Köster, Ancient Christian Gospels. Their History and Development, 1990; H.Köster/J.M.Robinson, Entwicklungslinien durch die Welt des frühen Christentums, 1971; Chr. Markschies/J.Schröter (Hg.), Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, 2 Bd, 2012; J.P.Meier, A Marginal Jew, 1, 1991; H.-M.Schenke/H.-G. Bethge/U.U.Kaiser (Hg.), Nag Hammadi Deutsch, 2 Bde, 2001/2002; U.Schnelle, Einleitung ins Neue Testament, 1994 92017; J.Schröter, Die apokryphen Evangelien. Jesusüberlieferungen außerhalb der Bibel, 2020; J.Schröter/Chr. Jacobi (ed.), From Thomas to Tertullian. Christian Literary Receptions of Jesus in the Second and Third Centuries CE, 2020; G.Theißen, Die Entstehung des Neuen Testaments als literaturgeschichtliches Problem, 2007; ders., Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien, 1989; P.Vielhauer, Geschichte der urchristlichen Literatur, 1975; D.Wenham (Hg.), The Jesus Tradition Outside the Gospels, 1985; R.McL. Wilson, Art. Apokryphen II, TRE 3 (1978) 316–362.
Die nicht-christlichen Zeugnisse über Jesus sind kurze Notizen. Sie lassen den Initiator einer umstrittenen jüdischen Bewegung erkennen. Nur in christlichen Quellen wird sein inhaltliches Profil deutlicher. Dabei stoßen wir literaturgeschichtlich auf einen aufschlussreichen Sachverhalt: In den biblischen Schriften konzentrieren sich nur die Evangelien auf eine einzige Person. Das entspricht dem Modell eines antiken „Bios“, das damals auch an anderer Stelle in der jüdisch-hellenistischen Literatur aufgegriffen wurde.1 Wenn Jesuserinnerungen in einer im Judentum neuen Gattung aus der nicht-jüdischen Welt gestaltet wurden, belegt das seine Ausstrahlungskraft über kulturelle Grenzen hinaus. Dabei veränderten sich die Jesuserinnerungen durch den Übergang von mündlicher zur schriftlichen Tradition. Sie verwandelten sich aus „kommunikativen“ Erinnerungen einer Gemeinschaft mit persönlichen Kontakten in das „kulturelle“ Gedächtnis einer entstehenden Institution. Als kanonische Schriften wurden sie die normative Grundlage der Kirche. Dabei blieben sie bis ins 1
Die Vita des Moses von Philo (15/10 v. – nach 40 n. Chr.) ist Teil einer Darstellung, die mit der Schöpfung beginnt, die Vita des Josephus (37/38 – ca. 100 n. Chr.) eine Apologie seiner Beteiligung am jüdischen Krieg. Beide stehen literarisch zwischen Judentum und nicht-jüdischer Kultur.
Christliche Quellen über Jesus
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zweite Jahrhundert eingebettet in einen Strom mündlicher Jesusüberlieferungen. Gerade deshalb sind Jesuserinnerungen in außerkanonischen Überlieferungen historisch relevant.2 In ihnen könnte manches erhalten sein, was sonst „verdrängt“ wurde. Für alle Quellen gilt unabhängig davon: Sie haben historisch umso mehr Wert, je mehr Widersprüche zwischen ihnen ihre Unabhängigkeit wahrscheinlich machen, aber die Übereinstimmungen groß genug sind, dass man sie auf dieselbe historische Realität beziehen kann.
1. Kanonische und außerkanonische Quellen Am Anfang gab es keinen Unterschied zwischen kanonischen und außerkanonischen „apokryphen“ Quellen. Der Vier-Evangelienkanon ist erst bei Irenäus von Lyon um 180 sicher bezeugt.3 Vorher gab es nur Evangelien, die später kanonisch oder apokryph wurden.4 Über die Evangelien hinaus sind alle Quellen für die Forschung wichtig, auch wenn sie nicht den gleichen geschichtlichen Wert haben. Man teilt diese außerkanonischen Quellen traditionell in drei Gruppen ein, deren Benennung nicht unproblematisch ist: Apokryphen sind Schriften außerhalb des Kanons, deren Form und Inhalt sich auf das NT beziehen, aber nicht zu den apostolischen Vätern gehören. „Apokryph“ (apokryphos = verborgen) bedeutet neutral, dass sie nicht zum Kanon gehören, abwertend, dass sie häretisch sind, oder aufwertend, dass sie geheime Überlieferungen enthalten. Apostolische Väter sind eine im 17. Jh. festgelegte, mehrfach erweiterte Gruppe frühchristlicher Schriften, von denen man annahm, dass sie in apostolischer Zeit von Vertretern der apostolischen Lehre verfasst worden sind. Zu ihnen zählen: 1. Klemensbrief, Ignatiusbriefe, Polykarpbrief, Didache, Barnabasbrief, 2. Klemensbrief, Diognetbrief und der Hirt des Hermas. Agrapha (oder im Singular „Agraphon“ von ἄγραφος = ungeschrieben) meint Jesusworte, die nicht in den kanonischen Evangelien enthalten sind, aber durch mündliche Überlieferung ihren Weg zu Apokryphen, apostolischen Vätern, ntl. Schriften außerhalb der Evangelien oder zu Kirchenvätern fanden.
Die Jesusforschung hat die Apokryphen oft als spät und historisch minderwertig abgewertet, entdeckte in ihnen aber auch Jesusüberlieferungen, die älter als die kanonischen vier Evangelien sind. Ihre äußere Bezeugung entspricht im 1./2. Jh. den kanonischen Evangelien. Aus dieser Zeit kennen wir z. B. Papyri des JohEv (P52; P66) und MtEv (P64), Fragmente des Egertonevangeliums, Petrusevangeliums (POx 2949, 4009) und Thomasevangeliums (POx 1).
2
3 4
Die Alte Kirche sicherte die geschichtliche Nähe der Evangelien zu Jesus, indem sie das Mt- und JohEv Aposteln, das Mk- und LkEv Apostelschülern zuschrieb. Heute führt man allenfalls das MkEv auf den Petrusbegleiter Johannes Markus, das LkEv auf den Paulusbegleiter Lukas, das JohEv auf einen Jesusjünger und Presbyter Johannes zurück. Der unechte Mk-Schluss kennt unsere vier Evangelien: A.Moore, Longer Ending of Mark in: H.Bond (ed.), From Paul to Josephus*, 2020, 187–196. D.Lührmann, Die apokryph gewordenen Evangelien, 2004.
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Erster Teil: Die Quellen und ihre Auswertung
Kirchenväter zitieren neben kanonischen auch andere Evangelien.5 In der Jesusforschung gelten die Apokryphen aber teils als irrelevant, teils als Ergänzung kanonischer Schriften, nur selten als prinzipiell gleichwertig. 1.1 Die Irrelevanz der Apokryphen für die Jesusforschung
Gelegentlich wurde den außerkanonischen Apokryphen jeder Wert für die Jesusforschung abgesprochen.6 In ihnen werde Jesus von Legenden überlagert. Nach dem 39. Osterfestbrief des Athanasius (367 n. Chr.) sind nur die kanonischen Bücher „Quellen des Heils“, die Apokryphen ein „Trug der Häretiker“. „Sie schreiben ihnen eine (frühe) Abfassungszeit zu, damit sie sie als (angeblich) alte (Schriften) herausbringen können.“7 Doch sind auch in den Apokryphen alte Überlieferungen aus dem 1. Jh. erhalten, in kanonischen Evangelien auch „Legenden“. Die rechtgläubige Lehre wurde nicht erst nachträglich durch Irrlehren entstellt, vielmehr haben sich „Rechtgläubigkeit und „Ketzerei“ parallel zueinander entwickelt. 1.2 Die Suche nach unbekannten Jesusworten oder Agrapha
Verständlicherweise hoffte man, durch unbekannte Jesusworte die Evangelienüberlieferung zu bereichern. Nach ihrer ersten Veröffentlichung in A.Resch, Agrapha. Ausserkanonische Evangelienfragmente, 1889, entdeckte man durch Papyrusfunde weitere Bruchstücke verlorengegangener Evangelien. 1897 wurde der Oxyrhynchos-Papyrus 1 (POx 1) veröffentlicht.8 Im Jahr 1905 kam POx 840 mit einem bisher unbekannten Streitgespräch über Reinheitsfragen hinzu,9 1935 Papyrus Egerton 2 mit einem Fragment vom Streitgespräch Jesu über die Steuerzahlung.10 1948 schrieb J.Jeremias von 21 Agrapha aufgrund ihrer Verwandtschaft mit synoptischen Jesusworten zehn dem historischen Jesus zu.11 Eine neue Phase begann mit der Veröffentlichung der um 1945 in Nag-Hammadi gefundenen Manuskripte vor allem durch das Thomasevangelium (ThEv) mit vielen neuen Agrapha. Die Jesusworte in Oxyrhynchos-Papyri 1, 654 und 655 wurden nachträglich als griechische Fragmente des koptischen ThEv erkannt. Mit den vielen Worttraditionen im ThEv kam zweifellos die Möglichkeit historisch wertvoller außerkanonischer Traditionen in den Blick.
5 6 7 8
Vgl. H.Köster, Gospels*, 1990, bes. 108–111. So z. B. der katholische Exeget J.Gnilka, Jesus von Nazareth, 1990, 25. Chr.Markschies/J.Schröter, Apokryphen*, 2012, 159–162, S. 162. B.P.Greenfell/A.S.Hunt, Λόγια Ίησοũ: Sayings of Our Lord from an Early Greek Papyrus, 1897. Etwas später folgten POx 654 und 655. 9 B.P.Greenfell/A.S.Hunt, Fragment of an Uncanonical Gospel from Oxyrhynchus, 1908. 10 H.I.Bell/T.C.Skeat, Fragments of an Unknown Gospel, 1935. 11 J.Jeremias, Unbekannte Jesusworte, 1948 41965, 47.
Christliche Quellen über Jesus
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1.3 Die Gleichwertigkeit außerkanonischer Jesusüberlieferung
Dass wir kanonische und außerkanonische Schriften in gleicher Weise auswerten müssen, setzte sich aufgrund historischer Erkenntnisse, sowie form- und gattungsgeschichtlicher Beobachtungen durch. Historisch revidierte W.Bauer in: Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum, 1934, das Bild von den Anfängen des Christentums: In Ägypten und Ost-Syrien waren als „häretisch“ abgelehnte Formen des Christentums älter als „rechtgläubige“ Gemeinden. In Kleinasien und Makedonien existierten sie lange nebeneinander, ehe sich im späten 2. Jh. von Rom aus die „Orthodoxie“ durchsetzte. Formgeschichtlich entdeckte man in außerkanonischen Schriften Jesusüberlieferungen aus der Vorgeschichte der Evangelien. Nach H.Köster, Synoptische Überlieferung bei den Apostolischen Vätern, 1957, war noch in der ersten Hälfte des 2. Jh. mündliche oder schriftliche Jesusüberlieferungen neben den Evangelien lebendig. Gattungsgeschichtlich ordnete J.M.Robinson 1964 Sammlungen von Jesusworten in Q, Mk 4 und 1Clem 13,2 in die jüdische Weisheitstradition ein,12 die einen Höhepunkt im ThEv fand, in dem Jesus zum Offenbarer gnostischen Wissens geworden ist. Auch andere in die Evangelien aufgenommenen Gattungen begegnen in außerkanonischen Schriften: Dialoge in gnostischen Dialogevangelien, Kindheitsgeschichten in Kindheitsevangelien, die Passionsgeschichte im Petrusevangelium. In Nordamerika wurden außerkanonische Quellen aufgrund extremer Frühdatierungen durch J.D.Crossan, The Historical Jesus, 1991, überschätzt. In Europa spielten sie in der Jesusforschung nur eine untergeordnete Rolle als „Zeugnisse der späteren Rezeptionsgeschichte der Jesustradition.“13 Dennoch stellen wir neben kanonischen auch die wichtigsten außerkanonischen Quellen vor, die für die historische Jesusforschung relevant sind. Sie lassen Rückschlüsse auf mündliche Traditionen vor und neben den schriftlichen Quellen zu.
2. Mündliche Jesusüberlieferung S.Byrskog, Story as History – History as Story. The Gospel Tradition in the Context of Ancient Oral History, 2000; J.G.Dunn, Jesus Remembered, 2003; ders., The Oral Gospel Tradition, 2013; E.Eve, Behind the Gospels. Understanding the Oral Tradition, 2013; B.Gerhardsson, Tradition and Transmission in Early Christianity, 1964; W.Kelber, Jesus in Memory. Traditions in Oral and Scribal Perspectives, 2009; H.Schürmann, Die vorösterlichen Anfänge der Logientradition, in: H.Ristow/K.Matthiae, Der historische Jesus und der kerygmatische Christus, 21961, 342–370; T.Thatcher, Jesus, the Voice, and the Text. Beyond the Oral and Written Gospel, 2006; G.Theißen, Entstehung*, 2007, 40–57; A.Weissenrieder/R.B.Coote, The Interface of Orality and Writing. Speaking, Seeing, Writing in the Shaping of New Genres, 2010.
12 J.M.Robinson, LOGOI SOPHON. Zur Gattung der Spruchquelle Q, in: E.Dinkler (Hg.), Zeit und Geschichte, 1964, 77–96. 13 S.Gathercole, Außerkanonische Schriften als Quellen für den historischen Jesus? in: Jesus-Handbuch, 2017, 155–158, S. 158. Er spricht von einer „Kontinentalspaltung“.
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Erster Teil: Die Quellen und ihre Auswertung
Jesus lebte in einer weithin mündlich kommunizierenden Gesellschaft. Nur wenige konnten lesen und schreiben. Vielleicht waren es nur 10 % der Bevölkerung.14 Er selbst verbreitete seine Botschaft mündlich, nicht nur durch seine eigene Predigt und Lehre, sondern auch durch seine Jünger. Ihnen verhieß er: „Wer euch hört, hört mich!“ (Lk 10,16). Das LkEv beruft sich auf mündliche Zeugen, deren Überlieferungen sekundär verschriftlicht wurden (Lk 1,1f). Papias zieht noch Anfang des 2. Jh. n. Chr. das „lebendige und beständige mündliche Zeugnis“ den Schriften vor (Eus h.e. 3,39,4). Diese konstruktiven Rückschlüsse aus Aussagen über die mündliche Jesusüberlieferung werden durch analytische Rückschlüsse bestätigt: Kurze Perikopen mit Parallelismen, Alliterationen und Antithesen, wie wir sie in den Synoptikern vorfinden, zeichnen mündliche Texte aus, die so leichter memoriert wurden. Vergleichende Rückschlüsse zeigen darüber hinaus, dass auch in vergleichbaren Bewegungen des Täufers und der Montanisten mündliche Traditionen dominierten.15 Auch Jesusüberlieferungen kursierten bis zur Verschriftlichung in der Logienquelle (ca. 45/65 n. Chr.) und im MkEv (ca. 70 n. Chr.) primär in mündlicher Form, existierten danach parallel zur schriftlichen Überlieferung weiter und wirkten dabei wiederum auf Abschriften schriftlicher Quellen ein. Durch Schriftlesungen im Gottesdienst wurden sie sekundär erneut zu mündlichen Traditionen. Wir unterscheiden daher zwischen primärer, paralleler und sekundärer Mündlichkeit. Um zu erklären, warum diese mündlichen Traditionen relativ stabil sind, wurden verschiedene Modelle entwickelt: 1. Die Formgeschichte nahm an, dass mündliche Jesustraditionen durch ihre Gebrauchssituationen in den Gemeinden nach typischen Gattungsmustern geformt wurden. Da sich beim Übergang vom palästinischen zum hellenistischen Urchristentum ihr „Sitz im Leben“ veränderte, entfernten sie sich vom historischen Jesus. Ihre formative Phase erlebten sie in anonymen urchristlichen Gruppen. 2. Das „skandinavische“ Traditionsverständnis (B.Gerhardsson) rechnete dagegen mit individuellen Autoritäten als Tradenten: Jesus habe wie ein Rabbi seine Worte memorieren lassen; sie seien als normative Tradition von den Jüngern in den Gemeinden „gepflegt“ worden. In der Antike war die oral history von Augenzeugen Grundlage der Geschichtsschreibung (S.Byrskog). Danach wäre die Lehrtätigkeit Jesu die formative Phase der Evangelientradition gewesen. 3. Ein „neues Traditionsverständnis“16 unterschied verschiedene Faktoren:
14 Vgl. W.Harris, Ancient Literacy, 1989: in der Regel 10 %, höchstens 15 bis 20 %. Unter Juden war es nicht anders. Vgl. C.Heszer, Jewish Literacy in Roman Palestine, 2001. 15 Zu montanistischen Sprüchen: G.Theissen/D.Winter, Die Kriterienfrage in der Jesusforschung, 1997, 217–232. H.Mader, Montanistische Orakel und kirchliche Opposition. Der frühe Streit zwischen den phrygischen ‚neuen Propheten‘ und dem Autor der vorepiphanischen Quelle als biblische Wirkungsgeschichte des 2. Jh.n. Chr., 2012. 16 E.Eve, Behind the Gospels, 2013, 177–185.
Christliche Quellen über Jesus
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a) Soziale Gruppen kontrollieren als Hörer eine Überlieferung umso mehr, je wichtiger sie für die Gemeinschaft ist. Worte des „Herrn“ sind danach wichtiger als Erzählungen über ihn. Überlieferungen unterliegen einer abgestuften Sozialkontrolle.17 b) Gattungen geben durch gleichbleibende Tiefenstrukturen variierenden Oberflächentexten Stabilität. In mündlicher Überlieferung gibt es daher kein Original; sondern nur Neuschöpfungen aufgrund desselben Repertoires tradierter Formeln und Formen.18 Zu unterscheiden sind stabile Strukturen und ihre variable Realisierung. c) Charismatiker prägen sowohl die überlieferten Texte als auch die überliefernden Gruppen und hinterlassen Erinnerungsspuren. Ihre Autorität sichert die Verbreitung der Überlieferungen. Angesichts mancher von der Formgeschichte inspirierten Skepsis ist die Frage berechtigt: Haben Gemeinden die Jesusüberlieferungen wirklich bis zur Unkenntlichkeit nach ihren Bedürfnissen umgestaltet? In einigen Fällen war das nicht der Fall: 1. Jede soziale Gruppe muss Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit definieren. Aber vom Streit in den 40er Jahren, ob die Beschneidung ein notwendiges Aufnahmekriterium war (Gal 2,1ff), findet sich keine Spur in der synoptischen Tradition, erst ThEv 53 wertet die Beschneidung ab. 2. Jede Gruppe muss Autoritäten legitimieren. Obwohl wir schon früh von „Episkopen und Diakonen“ in Phil 1,1 und „Presbytern“ in Apg 11,30 hören, stärkt ihnen kein Jesuswort in den Evangelien den Rücken. 3. Jede soziale Gruppe muss mit der Umwelt Kontakt aufrecht halten. Ein Problem für Christen in paganer Umgebung war die Abgrenzung vom polytheistischen Kult im Alltag, z. B. bei gemeinsamen Mahlzeiten (vgl. 1Kor 8–10). Zur Abgrenzung vom „Götzendienst“ finden wir kein einziges Jesuswort in den Synoptikern.
Die Jesusüberlieferung begann mit dem Wanderprediger Jesus. Sein Modell könnte Judas Galilaios19 gewesen sein, der zum Boykott der Steuerzahlung aufgerufen hatte und dazu die Juden in ihren Dörfern besuchen musste – vergleichbar jüdischen Aristokraten, die vor Ausbruch des ersten römisch-jüdischen Kriegs zur Rettung des Friedens in Dörfern Steuern einsammelten (Bell 2,405). Jesus grenzte sich deutlich von Judas Galilaios ab, als er seinen Jüngern befahl, nur Häuser zu betreten, in denen „Kinder des Friedens“ wohnen (QLk 10,5f).20 17 K.E.Bailey, Middle Eastern Oral Tradition and the Synoptic Gospels, ExpT 106 (1995) 363–367. J.G.Dunn, Jesus Remembered, 2003, 192–210. 18 Wundergeschichten sind Neuschöpfungen aus einem Repertoire von Motiven: G.Theißen, Urchristliche Wundergeschichten, 1974. Dieses Traditionsverständnis wurde durch Analogien mündlicher Überlieferung bei Homer und den Fabeln inspiriert: A.B.Lord, Der Sänger erzählt, München 1965. 19 In Galiläas galt Judas als Gaulaniter (Ant 18,4), in Judäa als Galiläer (Ant 18,23 u.ö.; Apg 5,37). 20 Vgl. G.Theißen, Jesus as an Itinerant Teacher. Reflections from Social History on Jesus’ Roles, in: J.H.Charlesworth/P.Pokorný, Jesus Research. An International Perspective, 2009, 98–122. Die These, dass Jesus und seine Jünger kynische Juden waren, wurde von F.G.Downing, Cynics and Christians, NTS 30 (1984) 584–593, entwickelt. Zu dieser These vgl. M.-O.Goulet-Gazé, Kynismus und Christentum in der Antike, 2016, 135–192.
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Erster Teil: Die Quellen und ihre Auswertung
Die den Jüngern in der Aussendungsrede (Mk 6,7–13parr) aufgetragene Verkündigung weist nicht in nachösterliche Zeiten: Die Jünger predigen nicht den Kyrios Jesus, sondern die Gottesherrschaft (QLk 10,9), verlangen nicht Glauben, sondern Umkehr, taufen nicht, sondern heilen Kranke (Mk 6,12f). Mit ihrer Aussendung zu Lebzeiten Jesu begann die mündliche Überlieferung von Jesusworte schon vor Ostern. Nach Ostern setzte sie sich durch drei Überlieferungsträger fort: durch Jüngerinnen und Jünger, Volk und Gemeinden. a) Jesu Jünger und Jüngerinnen setzten auch nach dem Tod Jesu ihre Nachfolgeexistenz als Wandercharismatiker fort. Sie konnten glaubwürdig das Ethos Jesu vertreten.21 Q betont ihre Heimatlosigkeit: Sie hatten wie der Menschensohn keinen Ort, wo sie ihr „Haupt hinlegen“ konnten (QLk 9,58). Familienkritische Worte verlangen um der Nachfolge willen, Familienangehörige zu hassen (QLk 14,26). Das Begräbnis des Vaters soll man den Toten überlassen (QLk 9,59f). Krieg in den Familien sei unvermeidlich (QLk 12,51–53). In solchen Kreisen konnte man die Reichen kritisieren und wie Vögel unter dem Himmel leben (QLk 6,24; 12,22–31). Da Jesus selbst ein Wanderprediger gewesen war, garantiert ihr „Wanderradikalismus“, dass seine Worte in seinem Geist erhalten wurden. Wandercharismatiker sind noch lange im syrisch-palästinischen Raum nachweisbar (Did 11–12). b) Im Volk erzählte man schon zu Jesu Lebzeiten von seinen Wundern (Mk 1,28 u.ö.), sogar Josephus hat von ihnen gehört (Ant 18,63f). Typische Motive antiker Wundertäter gestalteten diese Erzählungen, während für Jesus charakteristische Motive wie der Ruf in die Nachfolge und die Anrede Gottes als Vater fehlen.22 Trotzdem begegnet auch ein nur für Jesus typisches Motiv: die heilende Kraft des „Glaubens“ (Mk 5,34). Schweigegebote im MkEv deuten an, dass Jesus (und seine Anhänger) mit der weiten Verbreitung von Jesusüberlieferungen im Volk nicht immer einverstanden waren. c) Gemeindeüberlieferungen wurden u. a. in Jerusalem tradiert, dem Heimathafen vieler Wandercharismatiker. Hier wurden die Passionsgeschichte und die synoptische Apokalypse geformt.23 „Vertrautheitsindizien“ in der Passionsgeschichte setzen nämlich die Kenntnis von Orten und Personen voraus. So bleiben z. B. bei Jesu Gefangennahme zwei seiner Anhänger anonym. Der eine verletzt mit dem Schwert einen Soldaten (Mk 14,47), der andere entkommt nackt nach einem Handgemenge (Mk 14,51f). Beide werden durch „Schutzanonymität“ gedeckt: Solange noch Mitglieder des Inhaftierungskommandos lebten, konnte man ihre Namen nicht preisgeben. Die Passionsgeschichte wurde daher schon in den 40/60er Jahren in Jerusalem geformt. In der synoptischen Apokalypse in Mk 13 werden Menschen in Judäa aufgefordert, in die Berge zu fliehen, wenn sie den „Gräuel der Verwüstung“ sehen, wo er nicht stehen darf (Mk 13,14). Mk verarbeitet hier eine Weissagung aus dem Jahr 39/40, als in Phönikien eine Kaiserstatue vorbereitet wurde, die von 21 G.Theißen, Wanderradikalismus. Literatursoziologische Aspekte der Überlieferung von Worten Jesu im Urchristentum (1973), in: Studien zur Soziologie des Urchristentums, 1979, 79–105. 22 M.Dibelius, Die Formgeschichte des Evangeliums, 1919 21933, 74f, fielen „profane“ Motive in den von ihm Novellen genannten Wundergeschichten auf. 23 Vgl. G.Theißen, Lokalkolorit*, 1989, S. 133–176 zur synoptischen Apokalypse, S. 177–211 zur Passionsgeschichte.
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Christliche Quellen über Jesus
römischen Truppen in den Tempel gebracht werden sollte und als „Gräuel der Verwüstung“ durch Entweihung des Tempels Weltuntergangsängste auslöste. Ortsfeste Anhänger Jesu haben wohl auch die ersten Niederschriften seiner Lehren verfasst. Wir sind bei einzelnen Worten unsicher, ob Jesus sie gesagt hat, erkennen aber gut die Formensprache der Verkündigung Jesu. Er lehrte anders als die Schriftgelehrten (Mk 1,22). Als Gesetzeslehrer formulierte er wenige Lehren zu Sabbat, Ehescheidung und Eid (Mk 2,23–3,6; 10,11f; Mt 5,33–37). Als Weisheitslehrer vertraute er darauf, dass seine Lehre ohne Schriftbelege einleuchtet, machte sie durch Parabeln und Gleichnisse plausibel. Als Prophet wusste er sich inspiriert, wie das einleitende Amen vor seinen Worten zeigt. Seine Doppelrolle als Weisheitslehrer und Prophet spiegelt sich im Doppelspruch von der Königin des Südens, die von der Weisheit Salomos angezogen wurde, und vom Propheten Jona, der die Niniviten kritisierte (QLk 11,31–32). Als Lehrer faszinierte er durch sein Charisma (Mk 1,22), als Prophet provozierte er durch seine Kritik (Mk 6,4). Er beherrschte die Formensprache eines Weisheitslehrers, Gesetzeslehrers und Propheten, formulierte Appelle in der zweiten Person, Aussagen in der dritten Person und Selbstaussagen in der ersten Person. Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über seine Formensprache. Danach bringen wir jeweils ein Beispiel.
Appellative Aussagen (oft 2. Person)
Sachliche Aussagen (in 2. und 3. Person)
Selbst-Aussagen (1. Person)
Prophet
Makarismus und Weheruf als Heils- und Gerichtspredigt
Aussagen über das Reich Gottes, über Heil und Gericht
Sendungsworte vom Gekommensein Jesu zu Heil und Gericht
Weisheitslehrer
Mahnsprüche (in der 2.Person) a) singularisch b) pluralisch
Sprichwörter (in der 3.Person) a) Allgemeinaussagen b) Rollenaussagen c) Bildaussagen
Sophiaworte: Jesus als Bote und Sprecher der Weisheit
Gesetzeslehrer
Jüngerregeln: Nachfolgesprüche, Aussendungsregeln
Rechtssätze: Ehescheidungsverbot als Halacha
Antithesen: Jesus als kritischer Gesetzesausleger
Gleichniserzähler
Parabeln: Argumentation mit ungewöhnlichem Verhalten
Gleichnisse: Argumentation mit typischem Geschehen
Allegorie: Verschlüsselte Selbstaussagen
Beispiele zu den Prophetensprüchen: Makarismus und Weheruf: „Selig sind die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.“ (Mt 5,8) „Wehe euch Reichen! Denn ihr habt euren Trost schon gehabt.“ (Lk 6,24) Worte vom Reich Gottes:
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Erster Teil: Die Quellen und ihre Auswertung
„Wenn ich aber durch Gottes Finger die bösen Geister austreibe, so ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen.“ (Lk 11,20) Sendungsworte: „Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten.“ (Mk 2,17)
Beispiele zu den Weisheitsworten: Mahnsprüche (in der 2.Person Sg. und Pl.): „Arzt, heile dich selbst!“ (Lk 4,23) „Sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen.“ (Mt 6,34) Sprichwörter (in der 3. Person): Allgemeinaussagen: „Es ist nichts verborgen, was nicht offenbar werden soll, und ist nichts geheim, das nicht an den Tag kommen soll.“ (Mk 4,22) Rollenaussagen: „Die Starken bedürfen keines Arztes, sondern die Kranken.“ (Mk 2,17) Bildaussagen: „Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr geht, als dass ein Reicher ins Reich Gottes kommt.“ (Mk 10,25) Sophiaworte: „Darum spricht die Weisheit Gottes: Ich will Propheten und Apostel zu ihnen senden …“ (Lk 11,49–51)
Beispiele zur Gesetzeslehre: Nachfolgesprüche und Aussendungsregeln: „Folge mir nach, und lass die Toten ihre Toten begraben.“ (Mt 8,22/Lk 9,60) Rechtssätze: „Wer sich scheidet von seiner Frau und heiratet eine andere, der bricht ihr gegenüber die Ehe …“ (Mk 10,11) Antithesen: „Ihr habt gehört, dass gesagt ist: ‚Du sollst nicht ehebrechen‘. Ich aber sage euch: …“ (Mt 5,27f)
Beispiele für Gleichnisse: Parabeln: Die Parabel von den Arbeitern im Weinberg fordert, gleichen Lohn zu akzeptieren. (Mt 20,1–16) Gleichnisse: Das Gleichnis von der selbstwachsenden Saat sagt:
Christliche Quellen über Jesus
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Das Gute kommt freiwillig und „von selbst“. (Mk 4,26–29) Allegorese Die allegorische Deutung deutet den Unkrautsäenden auf den Satan, die Ernte auf das Ende der Welt. (Mt 13,38–43)
Umstritten ist die Authentizität der „Selbstaussagen“ Jesu. Die Worte vom Gekommensein könnten nachösterliche Rückblicke auf seine Sendung sein, die Sophiaworte eine christologische Deutung Jesu als Bote der Weisheit, die Allegorien urchristliche Auslegungen. Nur drei von den „Antithesen“ in der ersten Person (Mt 5,21 f.27 f.33–37) gelten als authentische Sprachform Jesu. Entscheidend aber ist: Die Formensprache Jesu bildet als Ganzes ein Erinnerungsmuster, das auf Jesus zurückgeht. Jesusüberlieferungen mit mündlichem Hintergrund können wir nur aus schriftlich erhaltenen Quellen erschließen, aus Doppelüberlieferungen in Q und Mk, aus Dreifachüberlieferungen der Evangelien mit Hilfe der minor agreements von Mt und Lk gegen das MkEv, ferner aus Jesusworten im sonstigen Neuen Testament und in den Apokryphen. Je später die Überlieferungen bezeugt sind, umso mehr muss man damit rechnen, dass verschriftlichte Jesusworte durch Vorlesen bekannt und mündlich weitertradiert wurden und mündliche Traditionen wiederum auf Abschriften schriftlicher Quellen einwirkten. a) Doppelüberlieferungen in Q und Mk 24 gehen ziemlich sicher auf mündliche Überlieferungen zurück. Sie lassen Grundzüge der Verkündigung Jesu erkennen. Er lehrte einerseits ein strenges Familienethos: Kinder (bzw. Jünger) soll man aufnehmen,25 Ehescheidung ablehnen.26 Andererseits erwartete er den Zerfall der Familie, forderte von seinen Jüngern den Bruch mit ihr27 und ein afamiliäres Wanderleben.28 Sie sollen sich nicht darum sorgen, was sie vor Gericht zur Verteidigung sagen. Wer sich zu ihm bekennt, zu dem werde er sich vor Gott bekennen.29 Seine Gleichnisse sagen: Das Reich des Satans zerfällt.30 Man muss das Gottesreich erwarten wie ein Türwächter den Herrn.31 Es wächst wie ein Senfkorn.32 Winziges hat große Wirkung: Ein Senfkorn Glauben versetzt Berge. Wenig Salz entscheidet.33 Was verborgen ist, wird ans Licht kommen. Wer sein Leben verliert, wird es gewinnen.34 Schon diese wenigen, ehemals mündlichen Doppelüberlieferungen, sind älter als Q und Mk und vermitteln ein prägnantes Bild von der Verkündigung Jesu. 24 Zur Auswertung für den historischen Jesus: B.T.Viviano, The Historical Jesus in the Doubly Attested Sayings: An Experiment, in: ders., Trinity. Kingdom. Church, 2001, 21–63. 25 Vgl. Mk 9,37; QLk 10,16. 26 Vgl. QLk16,18/Mk 10,11 f. 27 Vgl. QLk 12,52f/Mk 13,12; QLk14,26/Mk 10,29 f. 28 Vgl. QLk 10,4ff/Mk 6,8 ff. 29 Vgl. QLk 12,11f/Mk 13,11; QLk 12,8f/Mk 8,38. 30 Vgl. QLk 11,15–18.21f/Mk 3,22–27. 31 Vgl. QLk 12,39f/Mk 13,35. 32 Vgl. QLk 13,18f/Mk 4,30–32. 33 Vgl. QLk 17,6/Mk 11,22f; QLk 14,34f/Mk 9,49 f. 34 Vgl. QLk 12,2f/Mk 4,22; QLk 17,33/Mk 8,35.
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Erster Teil: Die Quellen und ihre Auswertung
b) In synoptischen Dreifachüberlieferungen gehen auch minor agreements, also kleine Übereinstimmungen des MtEv und LkEv gegen Markus, möglicherweise auf den Einfluss mündlicher Überlieferung zurück, z. B. begegnet das doppelte Liebesgebot bei Mt und Lk als Streitgespräch, in dem Jesus von einem Schriftgelehrten „versucht“ wird – gegen Mk 12,28–34, wo der Schriftgelehrte mit Jesus sympathisiert.35 c) Jesusüberlieferungen im sonstigen NT wurden wahrscheinlich durch mündliche Tradition erhalten. Obwohl Paulus wenig über den irdischen Jesus sagt, bestätigt das MkEv alle seine Aussagen, ohne dass seine Abhängigkeit von Paulus nachweisbar ist:36 Jesus stammt aus dem Geschlecht Davids (Röm 1,3f/Mk 10,47). Mk macht den Vorbehalt, dass er als „Sohn Gottes“ weit mehr ist (12,35–37). Jakobus ist einer seiner Brüder (Gal 1,19/Mk 6,3). Jesus schickt seine Jünger zur Mission aus (1Kor 9,14/Mk 6,8), urteilt über die Ehescheidung streng (1Kor 7,10f/Mk 10,2–12), über Reinheitsfragen liberal (Röm 14,14/Mk 7,15). In beiden Fällen beruft sich Paulus explizit auf die Autorität Jesu. Er feierte ein Abschiedsmahl mit seinen Jüngern (1Kor 11,23–26/Mk 14,22–25), wurde misshandelt (Röm 15,3/Mk 14,65; 15,16–20), von den „Herrschern der Welt“ gekreuzigt (1Kor 2,8/Mk 15,24f), von Juden getötet (1Thess 2,15). Nach Mk 14,55–64 wurde er in erster Instanz vom jüdischen Synedrium verurteilt. Nach seiner Hinrichtung wurde er begraben und erschien dem Petrus und den Zwölfen als Lebender (1Kor 15,3–5/Mk 16,7). In 1Thess 4,15–17 zitiert Paulus ein Wort des nach Ostern erhöhten Jesus.
Darüber hinaus könnte bei einigen einleuchtenden ethischen Aussagen des Paulus eine anonyme Authentizität37 vorliegen, weil sie keine Begründung durch Jesu Autorität benötigten. So bringt Paulus in der Römerbriefparänese anonym die beiden Grundforderungen der Feld- bzw. Bergpredigt: einerseits das Liebesgebot, andererseits das Verbot gegenseitiger Verurteilung. Dem Liebesgebot in Röm 12,9f folgen Mahnungen, die an die Bergpredigt erinnern: „Segnet, die euch verfolgen; segnet, und flucht nicht“ (12,14 vgl. Mt 5,44). „Vergeltet niemand Böses mit Bösem“ (12,17.21). Das Verbot gegenseitiger Verurteilung begegnet in Röm 14,10: „Du aber, was richtest du deinen Bruder?“ (vgl. Mt 7,1f). Paulus konkretisiert es durch die Mahnung, in Speisefragen niemanden zu verurteilen. Auch die Warnung davor, anderen ein Ärgernis zu bereiten (Mk 9,42), wirkt in Röm 14,13 nach: „Darum lasst uns nicht mehr einer den anderen richten; sondern richtet vielmehr darauf euren Sinn, dass nie-
35 A.Ennulat, Die „minor agreements“. Untersuchungen zu einer offenen Frage des synoptischen Pro blems, 1994. 36 H.Köster, Gospels*, 1990, 52ff; Ch. Jacobi, Jesusüberlieferung bei Paulus? Analogien zwischen den echten Paulusbriefen und den synoptischen Evangelien, 2015. Nach H.E.Mader, Markus und Paulus. Die beiden ältesten erhaltenen literarischen Werke und theologischen Entwürfe des Urchristentums im Vergleich, 2020, könnte der in Rom bekannte Römerbrief auf das dort entstandene MkEv eingewirkt haben. Aber sie lässt die Frage offen. 37 Dazu G.Theißen, Authentische Jesusüberlieferung. Über verdeckte, milieubezogene und anekdotische Authentizität, in: A.Kreutzer/Ch.Niemand (Hg.), Authentizität – Modewort, Leitbild, Konzept, 2016, 181–200.
Christliche Quellen über Jesus
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mand seinem Bruder einen Anstoß oder Ärgernis bereite“.38 Dazu kommen Jesusüberlieferungen im sonstigen Neuen Testament. Auch im Jakobusbrief und im 1. Petrusbrief wirken Traditionen nach, die an die Bergpredigt bzw. Feldrede erinnern.39 Ein Herrenwort, das Paulus in seiner Abschiedsrede zitiert: „Geben ist seliger als Nehmen“ (Apg 20,35), weist auch auf eine andere Möglichkeit: Hier könnte eine allgemeine Maxime Jesus in den Mund gelegt worden sein. Oft wird auch für andere Jesusworte angenommen, dass allgemein einleuchtende Worte Jesus in den Mund gelegt worden sind. d) Außerkanonische Jesusüberlieferungen machen wahrscheinlich, dass mündliche Jesusüberlieferungen nach ihrer Verschriftlichung lange weiterlebten. Die Didache40 ist eine Kirchenordnung, die gleich am Anfang zwei bekannte Jesusworte anonym zitiert: Das ist nun der Weg des Lebens: Erstens sollst du Gott, der dich geschaffen hat, lieben, zweitens deinen Nächsten wie dich selbst. Und alles, von dem du nicht willst, dass es dir geschehe, sollst du keinem anderen tun. (Did 1,2: vgl. Mt 22,34–40; 7,12)
Auch klingen Jesusworte an, wenn die Didache den Weg des Lebens mit dem Weg des Todes kontrastiert (Did 5,1 vgl. Mt 15,19; Mk 7,21), wenn sie vor heuchlerischem Fasten warnt (Did 8,1 vgl. Mt 6,16–18) oder mahnt, sich vor dem Opfern mit seinem Nächsten zu versöhnen (Did 14,2 vgl. Mt 5,23–26). Diese anonym zitierten Jesusworte der Evangelien werden oft als authentisch beurteilt. Der gegen Ende des 1. Jh. in Rom geschriebene 1. Clemensbrief41 zitiert sogar ausdrücklich „Worte des Herrn Jesus“, entweder aus den Evangelien neu zusammengestellte oder unabhängig von den Evangelien überlieferte Worte. Dabei werden zwei Aspekte seiner Lehre deutlich, seine Güte in 1Clem 13,2: Erbarmt euch, damit ihr Barmherzigkeit findet; verzeiht, damit euch verziehen werde! Wie ihr tut, so wird an euch getan werden; wie ihr gebt, so wird euch gegeben werden; wie ihr richtet, so werdet ihr gerichtet werden; wie ihr euch gütig erweist, so wird euch Güte erwiesen werden; mit demselben Maß, mit dem ihr messt, wird euch gemessen werden.
38 In 1Kor 1–4 gibt es Anspielungen auf Weisheitslogien Jesu mit Parallelen in Q, Mk und ThEv. Vgl. H.Köster, Gospels*, 1990, 55–62. 39 P.J.Hartin, James and the Q Sayings of Jesus, 1991. 40 J.Verheyden, Didache, in: H.K.Bond (ed.), From Paul to Josephus*, 2020, 337–362. 41 A.Gregory, First Clement, in: H.Bond (ed.), From Paul to Josephus*, 2020, 325–336; St. E.Young, Jesus Tradition in the Apostolic Fathers. Their Explicit Appeals to the Words of Jesus in Light of Orality Studies, 2022, 107–150.
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Erster Teil: Die Quellen und ihre Auswertung
Seine Strenge begegnet in einem anderen „Wort unseres Herrn Jesus“: „Wehe jenem Menschen; besser wäre es für ihn, wenn er nicht geboren wäre, als dass er einem meiner Auserwählten Ärgernis gibt“ (in 1Clem 46,8 vgl. Mt 26,24; 18,6f. parr). Im 2. Clemensbrief42 stehen Zitate aus dem Mt- und LkEv (oder einer von ihnen abhängigen Logiensammlung) neben einem Jesuswort aus freier Überlieferung: „Deshalb … hat Jesus gesagt: Wenn ihr mit mir an meiner Brust vereint seid und nicht meine Gebote ausführt, werde ich euch hinauswerfen und euch sagen: Weicht von mir, ich weiß nicht, woher ihr seid, ihr Übeltäter!“ (2Clem 4,5 vgl. 5,2ff; 8,5; 12,2) (e) Jesusüberlieferungen in handschriftlichen Zusätzen fanden manchmal sogar Eingang auch in heutige Bibelausgaben. Deren humane Tendenz war wahrscheinlich ein Motiv, warum sie in der Textgeschichte eingefügt wurden und sich in modernen Bibelausgaben erhalten haben: Die Perikope von der Ehebrecherin, die Jesus vor Steinigung bewahrt, findet sich nicht in den besten Handschriften, wurde aber an verschiedenen Stellen nach Joh 7,52; 7,36; 21,24 und Lk 21,38 eingefügt.43 Im Codex D (5. Jh.) wurde vor dem Sabbatlogion Lk 6,5 eingefügt: „An demselben Tage sah er einen Mann am Sabbat eine Arbeit verrichten. Da sagte er zu ihm: „Mensch! Wenn du weißt, was du tust, bist du selig. Wenn du es aber nicht weißt, bist du verflucht und ein Übertreter des Gesetzes.“ Das Wort Jesu Lk 23,34: „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“, könnte eine frühe Erweiterung sein, wichtige Textzeugen bieten sie nicht. Oder hat jemand den Text nachträglich gestrichen, weil die im LkEv vorausgesagte Zerstörung Jerusalems auch so gedeutet werden konnte, dass Gott nicht vergeben hat? Nach Lk 9,55a erweitern einige Textzeugen Jesu Kritik an Rachephantasien der Jünger durch die Worte: „Wisst ihr nicht, welch Geistes Kinder ihr seid? Der Menschensohn ist nicht gekommen, das Leben der Menschen zu vernichten, sondern zu erhalten.“ Der Mk-Schluss ist mit Ostererscheinungen, Missionsbefehl und Himmelfahrt (Mk 16,9–20) sekundär.44 In ihm widerspricht im Codex Freerianus (4./5. Jh.) ein Offenbarungswort des Erhöhten den Jüngern, die meinen, diese Zeit stünde unter der Herrschaft des Satans. Zwar werden noch Schrecken kommen, aber den Sündern wird die Chance zur Umkehr gegeben (das sog. Freer-Logion).
(f) Versprengte Herrenworte in frühchristlichen Schriften sind nur selten historisch verwertbar. Von den folgenden Beispielen hält O.Hofius die ersten drei für unableitbar, die letzten drei möglicherweise für authentisch:45
42 J.A.Kelhofer, Second Clement, in: J.Schröter/Chr. Jacobi (ed.), From Thomas to Tertullian*, 2020, 513– 529. 43 J.Knust/T.Wasserman, To Cast the First Stone: The Transmission of a Gospel Story, 2018; Chr.Keith, Pericope Adulterae (John 7:52–8:11), in: H.Bond (ed.), From Paul to Josephus*, 2020, 197–208. 44 A.Moore, Longer Ending of Mark in: H.Bond (ed.), From Paul to Josephus*, 2020, 187–196; J.Frey, Das Freer-Logion, in: Chr.Markschies/J.Schröter, Apokryphen*, 2, 2012, 1059–1061. 45 O.Hofius, Außerkanonische Herrenworte, in: Chr.Markschies/J.Schröter, Apokryphen*, 1, 2012, 184– 192. Ph.Vielhauer, Geschichte*, 1975, 615–618.
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Wie ihr gefunden werdet, so werdet ihr [sc. zum Gericht] hinweggeführt. (Liber Graduum III,3; XV,4) Erbittet euch das Große, so wird Gott euch das Kleine hinzutun. (Clem strom. I,24 158,2) Seid tüchtige Wechsler! (Or. Comm. In Joh 19,7,2) Wer mir nahe ist, ist dem Feuer nahe; wer mir fern ist, ist dem Königreich fern. (ThEv 82) [Wer heute] fern steht, wird [euch] morgen [nahe] sein. (POx 1224 Frg. 2) Und nur dann sollt ihr fröhlich sein, wenn ihr euren Bruder mit Liebe anseht. (EvHebr Frg. 4)
Die mündlichen Überlieferungen von Wandercharismatikern wurden zum ersten Mal in der Logienquelle (vor 70 n. Chr.) verschriftlicht, Gemeinde- und Volksüberlieferungen im MkEv (um 70 n. Chr.). Diese Quellen entsprechen den beiden Flügeln der Jesusbewegung, die Logienquelle der Judenmission, was aus dem Logion über die zwölf Stämme (Lk 22,28– 30Q) erschlossen werden kann, das MkEv der Heidenmission, was aus der in Mk 13,10 erwähnten Mission aller Völker hervorgeht. Diese „Arbeitsteilung“ wurde auf dem Apostelkonzil vereinbart (Gal 2,1–10). Die in diesen beiden Quellen zum ersten Mal schriftlich fixierten Jesusüberlieferungen hatten nicht den Anspruch, alle Jesusüberlieferungen zu erfassen. Das MkEv weiß, dass Jesus noch sehr viel mehr Gleichnisse erzählt hat (Mk 4,33), die Logienquelle weiß von sehr viel mehr Wundertaten Jesu (vgl. QLk 19,13–15). Das Thomasevangelium enthält wahrscheinlich noch sehr viel mehr versprengte Jesusworte, von denen einige wirkungsauthentisch auf Jesus zurückgehen können. Sicher ist auf jeden Fall: Mündliche Jesusüberlieferungen kursierten auch nach ihrer Verschriftlichung weiter in mündlicher Form.
3. Synoptische Evangelien und apokryphe Evangelienfragmente Die drei synoptischen Evangelien enthalten ein Jesusbild, das sich vom JohEv und ThEv deutlich unterscheidet. Sie sind die ältesten Verschriftlichungen von Jesusüberlieferungen, die literarisch voneinander teilweise abhängig sind. Das MkEv ist die Quelle von Mt und Lk, diese verwenden darüber hinaus die aus ihnen rekonstruierte Logienquelle (Q). Nach dieser Zwei-Quellen-Theorie verfügt die Jesusforschung über zwei alte Quellen, Mk und Q, die voneinander unabhängig sind, dazu über mt und lk Sondergut, MtS und LkS, das jeweils einen unabhängigen Traditionsstrang repräsentiert.46
46 Immer wieder gibt es Zweifel an der Zwei-Quellen-Theorie. M.Hengel, The Four Gospels and the One Gospel of Jesus Christ. An Investigation of the Collection and Origin of the Canonical Gospels, 2000,
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MtS
Mk/DtMk
*Q
Mt
Lk
LkS
Diese Quellen sind verwandt, enthalten dieselben Formen und Gattungen. Wegen des hohen Alters und der Streubreite synoptischer Traditionen, die auch im JohEv, ThEv und in urchristlichen Briefen zu finden sind, gibt es einen Konsens, dass wir hier am ehesten einen Zugang zum historischen Jesus finden. Unter historischem Gesichtspunkt gehören dazu auch die in Stil und Theologie den Synoptikern vergleichbaren Evangelienfragmente. Die Unterscheidung zwischen kanonischen und apokryphen Evangelien existierte lange Zeit im Urchristentum nicht. Unwahrscheinlich ist eine Abhängigkeit aller Evangelien von Marcions um 140 n. Chr. entstandenen Evangelium (so M.Vinzent, Marcion and the Dating of the Synoptic Gospels, 2014) oder von dessen Vorstufe in den 90er Jahren (so M.Klinghardt, Das älteste Evangelium und die Entstehung der kanonischen Evangelien, 2 Bde., 2015). Gegen Klinghardts These spricht, dass das MkEv aufgrund von Vertrautheitsindizien besonders in der Passionsgeschichte vom „kommunikativen Gedächtnisses“ von Jesusanhängern der ersten zwei Generationen geprägt ist. Gegen Vinzents Spätdatierung spricht darüber hinaus, dass keins der synoptischen Evangelien (anders als das JohEv) von der Liebe Gottes zum Menschen spricht, die nach Markion den guten Gott im Unterschied zum Schöpfergott auszeichnet („Hominem, hoc opus dei creatoris, ille deus melior adamavit“; Tert. Adv. Marc. I,14). Markions Theologie ist nicht im Blick.
3.1 Die Logienquelle (Q) M.Ebner, Die Spruchquelle (Q), in M.Ebner/S.Schreiber (eds.), Einleitung in das Neue Testament, 22013, 86–112; P.Hoffmann, Studien zur Theologie der Logienquelle, 31982; P.Hoffmann/C.Heil (eds.), Die Spruchquelle Q, Studienausgabe, 2002; A.Kirk, Q, in: H.K.Bond (ed.), From Paul to Josephus*, 2020, 73–106; J.S.Kloppenborg, Die synoptischen Evangelien, die Logienquelle (Q) und der historische Jesus, in: Jesus-Handbuch, 2017, 130– 137; M.Labahn, Der Gekommene als Wiederkommender: Die Logienquelle als erzählte Geschichte, 2010; M.Sato, Q und Prophetie. Studien zur Gattungs- und Traditionsgeschichte der Quelle Q, 1988; J.Schröter, Erinnerung an Jesu Worte. Studien zur Rezeption der Logienüberlieferung in Markus, Q, und Thomas, 1997; G.Theißen, Entstehung*, 2007, 60–71; M.Tiwald, Die Logienquelle, 2016; ders., Kommentar zur Logienquelle, 2019. erklärt z. B. die Verwandtschaft zwischen Mt und Lk durch Benutzung des LkEv durch das MtEv und stellt die Existenz von Q in Frage.
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Die erste Verschriftlichung von Jesusüberlieferungen in der Logienquelle (Q) stellt Jesus als überzeugten Monotheisten dar, der die göttliche Verehrung seiner Person als Versuchung des Satans zurückweist, aber am Ende als Menschensohn in göttlicher Vollmacht kommen wird.47 Q enthält Traditionen von jüdischen Jesusanhängern, die als Wandercharismatiker seine Lehre verbreiteten. 1. Der Text: Die Logienquelle wurde aus gemeinsamen Texten von Mt und Lk erschlossen, die sie unabhängig voneinander vorgefunden haben. Sicher zu Q gehören nur diese zweifach überlieferten Texte, darüber hinaus möglicherweise auch nur einmal überliefertes mt und lk Sondergut. Vielleicht lagen dem Mt und Lk verschiedene Rezensionen von Q vor. Da Lk die ursprüngliche Reihenfolge besser erhalten hat als Mt, der die Worte Jesu systematisch in fünf große Reden ordnet, wird Q nach Lk zitiert. Die Logienquelle beginnt mit der Predigt Johannes des Täufers (QLk 3,7–10.16f). In der Versuchung (4,1– 13) erweist sich Jesus als vorbildlicher Jude. Weil Jesus seine Prüfung besteht, kann er überzeugend lehren. 1. Jesu programmatische Rede (6,20–49) wird mit Seligpreisungen und Weherufen eingeleitet. Sie mahnt zu Feindesliebe und zum Verzicht auf gegenseitige Verurteilung (6,27 f.37f). Wer seiner Lehre folgt, hat sein Haus auf Fels gebaut (6,47–49). 2. Die Reaktionen der Zeitgenossen Jesu sind beim Hauptmann zustimmend (7,1–10), zögernd beim Täufer (7,18 f.22f), ablehnend bei diesem „Geschlecht“ (7,31–35). 3. Die Verpflichtungen der Jünger umfassen Nachfolge (9,57–62), Aussendung (10,2–16), ihr Gottesverhältnis (10,21–24) mit Vaterunser als Höhepunkt (11,2–4). 4. In der Auseinandersetzung mit Gegnern weist Jesus den Vorwurf des Satansbündnisses zurück (11,14 f.17–26), kritisiert „dieses Geschlecht“ und greift Pharisäer und Gesetzeskundige an (11,29 ff.39– 52). 5. Vom Leben der Jünger im Lichte des Endes handeln Mahnungen zum Bekennen (12,8f), zum NichtSorgen (12,22–31), zur Wachsamkeit (12,39 f.42–46). Die Gegenwart ist Bewährungszeit mit Familienkonflikten (12,51–53), Versöhnung mit Gegnern (12,58f), Werben um Jerusalem (13,34f). Das Reich Gottes ist wie Senfkorn und Sauerteig schon gegenwärtig (13,18–21). Der Weg zu ihm führt durch die schmale Pforte (13,24–30). 6. Den Abschluss der Logienquelle bildet eine kleine „Apokalypse“ (17,23–37). Sie warnt vor falschen Messiaserwartungen und kündigt das Erscheinen des „Menschensohns“ als unerwarteten Einbruch in eine friedliche Zeit an. Q endete mit der Verheißung, dass die zwölf Jünger in einer neuen Welt das Gottesvolk regieren werden (22,28–30).
2. Gattung: Q gleicht wegen der vielen Worte Jesu einer Weisheitsschrift. Doch passen Erzählungen von Jesu Versuchung, vom Hauptmann von Kapernaum und von einem Exorzismus (QLk 4,1–13; 7,1–10; 11,14) eher zu einer Prophetenschrift, in der im AT auch Berufung und Konflikte des Propheten erzählt wurden, nicht aber sein Tod. Auch in Q fehlt eine Passions47 Wenn Jesus in der Logienquelle die göttliche Verehrung von Menschen radikal ablehnt, könnte sie der jüdischen Mitwelt versichern: Wir bleiben Monotheisten. Das MtEv und LkEv konnte die Versuchungsgeschichte aufnehmen, weil in ihnen Jesus schon durch Geburt ein göttliches Wesen ist.
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Erster Teil: Die Quellen und ihre Auswertung
geschichte. Q hätte als Prophetenbuch in den jüdischen Kanon gepasst. Obwohl die Anordnung der Worte Jesu eine zeitliche Folge erkennen lässt, ist Q keine „Spruchbiographie“ auf dem Weg zur Evangelienform (anders J.Schröter, M.Labahn), sondern eine Prophetenschrift jüdischer Anhänger Jesu, die Israel gewinnen wollen (Q 10,2–12). Das MkEv wendet sich dagegen an heidenchristliche Leser. 3. Sitz im Leben: Die Worte Jesu, die z. T. auf aramäische Logien zurückgehen, wurden von Wandercharismatikern im palästinisch-syrischen Raum verbreitet, die Lebensstil und Predigt Jesu fortführten (M.Tiwald). Als Alternative kommen Dorfbewohner in Galiläa in Frage, die in Tageswanderungen Nachbarorte besuchten (J.S.Kloppenborg). Die Verschriftlichung der Jesusworte erfolgte wohl durch sesshafte Sympathisanten. 4. Die Theologie der Logienquelle besteht im Ruf Jesu in seine Nachfolge angesichts der nahen Gottesherrschaft. Jesus ist in der Gegenwart der Lehrer des Willens Gottes und am Ende der eschatologische Richter, der mit den zwölf Jüngern Israel richten wird (QLk 22,28.30). Sein Tod ist ein Prophetenschicksal: Er ist einer von vielen abgelehnten Boten der Weisheit an Israel (QLk 13,34f; 11,49–51). Eine Passionsgeschichte und die Deutung des Todes Jesu als Sühne fehlen. 5. Entstanden ist die Logienquelle vor dem jüdischen Krieg, da das Kommen des Menschensohns im tiefsten Frieden erwartet wird (QLk 17,26–37). Auch wird gedroht, Gott werde den Tempel verlassen, der noch nicht zerstört ist. Die Versuchungsgeschichte enthält Nachklänge der Caligula-Krise (39/40 n. Chr.).48 Q entstand in Palästina oder seiner Nachbarschaft aus kleineren Sammlungen. Rekonstruktionen von Schichten, Redaktionen und Trägerkreisen sind möglich, aber hypothetisch.49 6. Logienquelle und historischer Jesus: Q ist die wichtigste Quelle zur Rekonstruktion der Lehre Jesu. Wenn man seine apokalyptischen Worte in Q für ebenso ursprünglich hält wie die weisheitlichen Sprüche, war er ein jüdischer Prophet, der entsprechend dem Doppelbild von Salomo und Jona Weisheit und Prophetie vereinte (QLk 11,31f). 3.2 Das Markusevangelium M.Ebner, Das Markusevangelium, in M.Ebner/S.Schreiber (Hg.), Einleitung in das Neue Testament, 2
2013,155–184; D.Dormeyer, Das Markusevangelium als Idealbiographie von Jesus Christus, 1999, 32007;
B.Heininger, ‚Politische Theologie‘ im Markusevangelium. Der Aufstieg Vespasians zum Kaiser und der Abstieg Jesu ans Kreuz, in: ders., Die Inkulturation des Christentums, 2010, 181–204; M.Lau, Der gekreuzigte Triumphator. Eine motivkritische Studie zum Markusevangelium, 2019; Ph.Vielhauer, Erwägungen zur Christologie des Markusevangeliums, in: Aufsätze zum NT, 1965, 199–214.
48 Vgl. G.Theißen, Lokalkolorit*, 1989, 212–245. 49 J.S.Kloppenborg, The Formation of Q. Trajectories in Ancient Wisdom Collections, 1987, 317–328, unterscheidet drei Schichten: ein Weisheitsbuch, prophetisch-apokalyptische Worte, Erzählungen als Übergang zur biographischen Gattung. Nach A.Kirk, Q, in: H.K.Bond (ed.), From Paul to Josephus*, 2020, 73–106, war Q ein normativer Text für die Gemeinde, das MkEv ein formativer Text für ihre Entstehung. Doch auch das MkEv enthält Normatives; Q formt das Wandercharismatikertum.
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Das MkEv ist ein euaggelion (1,1.14; 13,10; 14,9), das in Konkurrenz zu den euaggelia der Kaiser einen Machtwechsel in drei Stufen verkündigt: Jesus wird erstens als Sohn Gottes in der Taufe adoptiert, zweitens den Jüngern in der Verklärung repräsentiert, drittens durch Akklamation des römischen Hauptmanns als Sohn Gottes am Kreuz inthronisiert (Ph.Vielhauer). Sein Weg ans Kreuz ist ein paradoxer Triumphzug (M.Lau) und zielt auf die Zustimmung von Heiden zum christlichen Glauben. 1. Der Text: Das MkEv ist das älteste Evangelium. Wahrscheinlich war die vom 3. Jh. an bezeugte Fassung nicht die einzige Form des Textes: Indiz dafür sind Minor Agreements, d. h. kleinere Übereinstimmungen zwischen Mt und Lk gegen Mk, die auf eine Vorlage weisen, die vom kanonischen MkEv abweicht. Wenn Mt und Lk markinisches Sondergut ohne erkennbaren Grund nicht bieten, stand es vielleicht noch nicht in ihrer Vorlage: Mk 2,27; 4,26–29; 9,48; 12,32–34; 15,44 f. Vielleicht gab es mehrere Ausgaben des MkEv,50 jedoch lag Mt und Lk der größte Teil vor.
2. Aufbau des MkEv: Zur Hoheit Jesu bekennen sich der Täufer, Petrus und der Hauptmann. Ihr Bekenntnis wird durch eine himmlische Intervention bestätigt, die über das hinausgeht, was Menschen vorher bekannt haben. Aber erst nach seinem Tod wird das Geheimnis um ihn vollständig enthüllt. Entscheidend ist die Botschaft: Jesu Verehrung als Sohn Gottes geht allein von Gott aus und ist keine menschliche Anmaßung. 1,1–13 Anfang des Evangeliums: Bekenntnis des Täufers zum Stärkeren, Bestätigung als Sohn Gottes bei der Taufe 1,14–4,34: Jesu Wirken in Galiläa 4,35–8,26: Jesu Weg zu den Heiden 8,27–9,10: Mitte des Evangeliums: Bekenntnis des Petrus zum Messias, Bestätigung als Sohn Gottes bei der Verklärung (9,7) 9,11–10,52: Jesu Weg nach Jerusalem 11,1–13,37: Jesu Lehre in Jerusalem 14,1–15,37: Jesu Leiden in Jerusalem 15,38–16,8 Schluss des Evangeliums: Bekenntnis des Hauptmanns zum Gottessohn (15,39), Bestätigung als Lebender durch die Botschaft des „Engels“ (16,6) 50 Entweder benutzten Mt/Lk eine Vorform des MkEv, also einen Urmarkus. Dann muss man erklären, warum das mk Sondergut später entfallen konnte, oder man nimmt eine überarbeitete Fassung des kanonischen MkEv als Deuteromarkus an, da Zusätze leichter zu erklären sind als Streichungen.
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Erster Teil: Die Quellen und ihre Auswertung
2. Ort und Zeit der Entstehung: Nach altkirchlichen Tradition wurde das MkEv aufgrund mündlicher Lehrvorträge des Petrus von seinem Dolmetscher Johannes Markus aufgeschrieben.51 Es verbindet Jesusüberlieferungen mit palästinischem Lokalkolorit zusammen mit vorpaulinisch-hellenistischen Überlieferungen (den Abendmahlsworten, dem Lasterkatalog Mk 7,21f und dem Begriff „Evangelium“). Diese Verbindung ist in Syrien denkbar.52 Die Endfassung könnte in Rom entstanden sein. Dorthin passt das Bild vom Weg Jesu als paradoxem Triumphzug (M. Lau). Auf jeden Fall verdankt das MkEv der römischen Gemeinde, dass es neben größeren Evangelien erhalten blieb. Entstanden ist es um das Jahr 70 herum, da sich der jüdisch-römische Krieg (66–74 n. Chr.) in Abschnitten niederschlägt, die sich auf die Gegenwart beziehen (Mk 13). Umstritten ist, ob die angekündigte Tempelzerstörung Zukunft oder Vergangenheit ist.53 Jesus weissagt die Tempelzerstörung in Mk 13,1f so, wie sie sich tatsächlich ereignet hat. Die Römer zerstörten mit dem Tempelbau alle anderen Gebäude. Vor dem Synedrium wird Jesus eine andere Version seiner Weissagung als falsches Zeugnis entgegengehalten: Er werde (nur) den Tempel zerstören und in drei Tagen aufbauen (14,58). Der Leser hat 13,1f im Ohr. Dort weissagt Jesus auch die Zerstörung aller „großen Bauten“ (im Plural!), nicht nur des Tempelbaus. Das Passiv lässt offen, wer hier zerstört, so dass es die Römer sein können. Jesu Weissagung entspricht also genau dort der Realität, wo das falsche Zeugnis ihr widerspricht. Wenn man wie der Mk-Evangelist 13,1f als Korrektur von 14,58 ansieht, hätte er Jesu Wort an die tatsächlichen Ereignisse angepasst. Das spricht dafür, dass der Tempel schon zerstört ist.
3. Zugrundeliegende Quellen: Der Mk-Evangelist hat formal und theologisch verschieden geprägte schriftliche und mündliche Traditionsstoffe gesammelt: 1. Eine zusammenhängende, schriftliche (?) Passionsgeschichte, in der „Vertrautheitsindizien“ bei Personen und Ereignissen zeigen, dass sie in der ersten Generation geprägt wurde. So wird selbstverständlich vorausgesetzt, dass Pilatus der Präfekt in Judäa ist, ohne dass er als Amtsinhaber vorgestellt wird. 2. Mündliche oder schriftliche Sammlungen von Wundererzählungen, in denen sich das Glaubensmotiv (Mk 5,34) vom nachösterlichen Glauben an Christus unterscheidet. 3. Die synoptische Apokalypse Mk 13, wohl eine Prophetie aus der Caligula-Krise 39/40 n. Chr., als der Tempel in ein Heiligtum des Kaiserkults umgewidmet werden sollte.54 4. Die Streit- und Schulgespräche, für die teilweise (schriftliche) Vorlagen vermutet werden. Sie heben so deutlich die alleinige Autorität Gottes hervor, dass sie in Spannung zum nachösterlichen Glauben an Jesus stehen (Mk 10,18; 12,29.32). 51 Die Papiasnotiz (Eus h.e. 3,39,15) sagt nichts von Rom. Man muss aus 1Petr 5,13 erschließen, dass Markus und Petrus beide in Rom sind. Für historisch hält diese Überlieferung M.Hengel, Entstehungszeit und Situation des Markusevangeliums, in: H.Cancik, Markus-Philologie, 1984, 1–45. 52 G.Theißen, Lokalkolorit*, 1989, 246–261, lokalisiert das MkEv in Syrien, M.Lau, Der gekreuzigte Triumphator. Eine motivkritische Studie zum Markusevangelium, 2019, dagegen in Rom. 53 Für eine Zerstörung des Tempels in der Zukunft: M.Hengel, Entstehungszeit, s. o. 1984, 21ff, für die nahe Vergangenheit: G.Theißen, Lokalkolorit*, 1989, 271–284. 54 G.Theißen, Lokalkolorit*, 1989, 133–176.
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5. Wortüberlieferungen wie die Zusammenstellung von Gleichnissen und Bildworten in Mk 4. Einige mk Logien sind als Parallelüberlieferungen zu Q als alte Tradition erkennbar.
4. Theologische Gestaltung: Der Mk-Evangelist gestaltet seine Traditionen nach dem Leitgedanken: Jesus ist als Sohn Gottes von einem Geheimnis umgeben, das sukzessiv offenbart wird. Vollendet wird diese Offenbarung in Kreuz und Auferstehung. Das Unverständnis gegenüber seiner Person verwandelt sich mit dem Messiasbekenntnis des Petrus (Mk 8,29) in ein Unverständnis seines Leidens. Das Geheimnis, das Jesus umgibt, wird aber erst Ostern transparent. Anders als Q wendet sich Mk auch an Nicht-Juden: Jesus begegnet Heiden (Mk 5,1–17; 7,24–30) und weissagt eine Mission unter allen „Völkern“ (Mk 13,10; 14,9). Mit der Kreuzigung zerreißt der Vorhang im Tempel, so dass er für den heidnischen Hauptmann offen ist. 5. Mk als Quelle der Jesusforschung: Chronologie und Geographie gelten im MkEv meist als sekundärer Rahmen der Jesusüberlieferungen, seine Traditionen aber als wichtige Quellen für Jesu Lehre und Leben. Das Messiasbekenntnis des Petrus in der Mitte könnte historisch sein, wenn man die scharfe Kritik Jesu an Petrus (Mk 8,33) auf dieses Bekenntnis bezieht. Für die Jesusforschung ist das MkEv wichtig, weil nach ihm das Messias geheimnis erst nach Ostern enthüllt wird und ein Bewusstsein belegt, dass Jesus im Rückblick neu gedeutet wurde. In ihm wird zwischen Jesu Vergangenheit und der Gegenwart deutlich unterschieden. Das MkEv ist ein Vorläufer des erinnerungshermeneutischen Ansatzes. 3.3 Das Matthäusevangelium G.Bornkamm/G.Barth/H.J.Held, Überlieferung und Auslegung im Matthäusevangelium, 1960 71975; M.Ebner, Das Matthäusevangelium, in: M.Ebner/S.Schreiber (Hg.), Einleitung in das Neue Testament, 22013, 126–154; J.Lange (Hg.), Das Matthäus-Evangelium, 1980; J.Kampen, Matthew Within Sectarian Judaism, 2019; M.Konradt, Gospel of Matthew, in: H.K.Bond (ed.), From Paul to Josephus*, 2020, 107–138; U.Luz, Die Jesusgeschichte des Matthäus, 1993; A.Runesson/D.M.Gurtner (eds.), Matthew within Judaism. Israel and the Nations in the First Gospel, 2020; E.Schweizer, Matthäus und seine Gemeinde, 1974; G.N.Stanton, A Gospel for a New People. Studies in Matthew, 1992; G.Theißen, Entstehung*, 2007, 188–199.
Das MtEv beginnt mit Jesu Geburt aufgrund übernatürlicher Zeugung wie die Geburt eines Weltherrschers (vgl. Sueton Augustus 94). Es endet mit der Erhöhung Jesu, der durch Worte die ganze Welt regieren will. Nachdem jüdische Jesusanhänger in den 50er Jahren an Paulus gescheitert waren, heidenchristliche Gemeinden für die Übernahme der ritueller Gebote zu gewinnen, haben Judenchristen nach 70 n. Chr. durch das MtEv mit Erfolg Christen für eine jüdisch geprägte Ethik gewonnen – auch durch Korrektur des heidenchristlichen MkEv an einigen Stellen. 1. Aufbau: Der Aufriss folgt dem MkEv, stellt aber in Mt 8–9 Taten Jesu neu zusammen und ordnet die Worte Jesu in fünf Reden, die sich an die nachösterliche Gemeinde wenden und weltweit verbreitet werden sollen (28,19–20).
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1–2: Kindheitsgeschichten 3–4: Anfang des Wirkens Jesu 5–7 Bergpredigt Die Lehre für die ganze Welt: Ethische Bedingungen für den Eingang ins Himmelreich 8–9 Tatenzyklus: Wundergeschichten und Nachfolge 10 Aussendungsrede Gründung der Gemeinden 11: Werbung bis zum Heilandsruf (11,28–30) 12: Beginn des Konflikts mit Israel 13 Gleichnisrede Wachsen der Gemeinden 14,1ff: Rückzüge Jesu: Jünger- und Petrusbekenntnis (14,33; 16,16) 16,21ff: Jesu Weg zur Passion in Galiläa 18 Gemeinderede Konflikte in den Gemeinden 19–20: Jesu Weg zur Passion nach Jerusalem 21–22: Jesu Lehre in Jerusalem 23–25 Das eschatologische Gericht Gericht über die ganze Welt, Ethische Kriterien für alle Menschen 26–28: Passion und Ostern 2. Der Text: Das MtEv ist seit Mitte des 2. Jh. durch Kirchenväter, seit dem 3. Jh. durch Papyri bezeugt. Die Integrität des griechischen Textes gilt als sicher trotz der seit Papias vertretenen Ansicht, das MtEv sei ursprünglich aramäisch (oder hebräisch) geschrieben gewesen (Eus. h.e. 3,39,16; 5,8,2). 3. Quellen: Dem MtEv liegen MkEv und Q zugrunde. Das Sondergut umfasst Spruchüberlieferungen mit acht Gleichnissen, dazu legendarische Stoffe in den Kindheitsgeschichten, einige Petrusüberlieferungen wie dem „versinkenden Petrus“ (14,28–31), der Verheißung an Petrus als Fels der Kirche (16,17–19) und der Freiheit von Tempelsteuer (17,24–27). Sondergut ist auch der Suizid des Judas (27,3–10).
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4. Entstehungszeit und -ort: Das MtEv setzt die Tempelzerstörung voraus (22,7) und war Ignatius von Antiochien um 110 n. Chr. (?)55 bekannt, der in Sm 1,1 eine redaktionelle Wendung aus Mt 3,15 zitiert. Die Didache zitiert es um 100 als „Evangelium“ (8,2; 11,3; 15,3.4). Es müsste in den 80/90er Jahren entstanden sein und lässt eine (nord-)östliche Lokalper spektive auf Palästina erkennen. Wenn Mt 19,1 Judäa „jenseits des Jordans“ lokalisiert, schaut es vom Landesinneren Richtung Westen. Nach Mt 4,24 verbreitet sich Jesu Ruf in „ganz Syrien“. Dort könnte das MtEv vielleicht in Antiochien oder im Gebiet der Dekapolis entstanden sein.56 Das MtEv teilt die Erwartung eines Herrschers aus dem Osten unter Juden und Heiden.57 Deswegen huldigen die Weisen (Magoi) aus dem Morgenland dem neuen Weltherrscher in Bethlehem. Josephus berichtet von einer „zweideutigen Weissagung“ unter Heiden und in heiligen Schriften, „dass in jener Zeit einer aus ihrem Land über die bewohnte Erde herrschen werde“ (Bell 6,312f). Das MtEv proklamiert Jesus als diesen Weltherrscher, aber entwirft dabei ein Gegenbild zu einem Herrscher, der sich mit Gewalt durchsetzt. Er herrscht gewaltlos durch sein Wort, preist Friedensstifter selig (5,9) und lehrt Feindesliebe (5,43–48). Seine scharfe Distanzierung von den Pharisäern teilt er mit dem Judentum nach 70 n. Chr. Denn auch in den rabbinischen Schriften sind die Pharisäer eine Sekte geworden, von der man sich distanzierte. Die Polemik des MtEv gegen die Pharisäer muss deshalb keine Polemik gegen das Judentum sein, sondern Ausdruck einer innerjüdischen Entwicklung. Auch manche Juden werden auf der Suche nach einer Einheit des Judentums „Spalter“ kritisch beurteilt haben.58 5. Sitz im Leben: Umstritten ist, ob das MtEv einen Konflikt im Synagogenverband (intra muros) oder einen Konflikt nach Trennung von der Synagoge (extra muros) bezeugt. Oder gehört es in eine „sectarian movement“ im Judentum (J.Kampen), eine Bewegung, die programmatisch alle Völker für in universales Judentum gewinnen will. Mahnungen zur inneren Versöhnung könnten auf eine multikulturelle Gemeinde aus Juden und Heiden zielen.59 6. Jesusbild und historischer Jesus: Mt erzählt die Geschichte eines Königs von Israel, der die Welt nicht durch militärische Macht, sondern durch Worte beherrschen will, die zu Frieden und Versöhnung mahnen. Seine Anhänger sollen als „Salz der Erde“ und „Licht der Welt“ diese Worte verbreiten und nach ihnen leben. Jesus legt den Willen Gottes human aus, so dass er für 55 Die Datierung des Martyriums des Ignatius auf ca. 110 ist unsicher geworden. Vgl. P.Foster, Ignatius, in: J.Schröter/Chr. Jacobi (Hg.), From Thomas to Tertullian*, 2020, 41–57, 42 f. Es könnte auch später ca. 135 zu datieren sein. 56 Vgl. G.Theißen, Lokalkolorit*, 1989, 261–264. 57 Vgl. G.Theißen, Vom Davidssohn zum Weltherrscher. Pagane und jüdische Endzeiterwartungen im Spiegel des Matthäusevangeliums, in: M.Becker, u. a. (Hg.), Das Ende der Tage und die Gegenwart des Heils, 1999, 145–164. 58 P.Schäfer, Der vorrabbinische Pharisäismus, in: M.Hengel/U.Heckel (Hg.), Paulus und das antike Judentum, 1991, 125–175, hat mit Recht bestritten, dass sich die Pharisäer im Bewusstsein des Judentums nach 70 n. Chr. durchgesetzt hatten. Das Judentum im Osten grenzte sich vielmehr von ihnen ab, wie die rabbinischen Quellen zeigen. Josephus kann sich dagegen nach 70 n. Chr. zu den Pharisäern bekennen, weil sie nicht zu den Kriegstreibern gehörten. Ebenso zeigt das (im Westen zu lokalisierende) lk Doppelwerk eine differenzierte Haltung gegenüber den Pharisäern. 59 K.-C.Wong, Interkulturelle Theologie und multikulturelle Gemeinde im Matthäusevangelium, 1992.
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Erster Teil: Die Quellen und ihre Auswertung
Mühselige und Beladene ein sanftes Joch ist (11,28–30). Diese humane Auslegung des Gesetzes ist eine Erinnerungsspur des historischen Jesus. Sein Leben und seine Lehre gelten als Erfüllung von Gesetz und Propheten. Sogenannte Reflexionszitate wie 1,22f; 2,15 u.ö. erweisen einzelne Züge von Jesu Leben als Erfüllung prophetischer Weissagungen. Auch das MtEv unterscheidet zwischen der Zeit Jesu, in der er seine Jünger „zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel“ schickt (10,6), und der Aussendung der Jünger zu allen Völkern seit Ostern (28,19). 3.4 Das Lukasevangelium G.Braumann (Hg.), Das Lukas-Evangelium, 1974; H.Conzelmann, Die Mitte der Zeit. Studien zur Theologie des Lukas, 1957 51964; M.Beth Dinkler, Gospel of Luke, in: H.K.Bond (ed.), From Paul to Josephus*, 2020, 139–164; M.Heemstra, The Fiscus Judaicus and the Parting oft he Ways, 2010; D.Rusam, Das Lukasevangelium, in: M.Ebner/S.Schreiber (Hg.), Einleitung in das Neue Testament, 22013, 185–209; G.Theißen, Entstehung*, 2007, 199–215; C.-J.Thornton, Der Zeuge des Zeugen, 1991; Ph.Vielhauer, Zum ‚Paulinismus‘ der Apostelgeschichte, in: Aufsätze zum Neuen Testament 1965, 9–27.
Der Evangelist stellt sich im Prooemium (Lk 1,1–4) als Historiker vor, der aufgrund von Quellen zuverlässig über Jesu berichtet. Als zum Weltherrscher bestimmtes Kind tritt Jesus durch übernatürliche Geburt ins Leben und konkurriert als kommender Friedensstifter mit Kaiser Augustus. Er wurde durch Gottes Geist geweissagt und gezeugt. Die Apg schildert, wie sich sein Wirken durch diesen Geist in der Gemeinde fortsetzt und macht die Gemeinde zum Zentrum der Geschichte. 1. Der Aufbau und die Quellen des LkEv: Das LkEv benutzt als Quellen neben Mk und Q sehr viel Sondergut, das fast das halbe Evangelium ausmacht. Es folgt im Aufriss dem MkEv mit wenigen Umstellungen, dazu einer kleinen und großen Lücke (Mk 6,17–29; 6,45–8,26) sowie zwei Einschaltungen von Q-Überlieferungen und Sondergut. Die erste Einschaltung (Lk 6,20–8,3) beginnt mit der Feldrede, die zweite findet sich im Reisebericht (9,51–18,14), der auf Mk 10 basiert. Charakteristisch sind eine längere Kindheitsgeschichte am Anfang und ein langer Reisebericht in der Mitte: 1,1–4: Prooemium 1,5–4,13: Kindheit und Jugend Zeugung durch den Geist (1,35) 4,14–9.50: Wirken in Galiläa Beauftragung durch den Geist (4,18f) 9,51–19,27: Reise nach Jerusalem Der Geist als Gabe Gottes (11,13) 19,28–24,53: Wirken in Jerusalem Der Geist als „Kraft aus der Höhe“ (24,49)
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2. Als Verfasser gilt nach der Tradition Lukas, der Arzt und Reisebegleiter des Paulus (Phlm 24, Kol 4,14; 2Tim 4,11). Dagegen sprechen Widersprüche zwischen Apg und Paulus:60 Lk weiß von drei Jerusalemreisen vor dem Apostelkonzil, Paulus nur von zwei (Gal 1,18; 2,1). Lk verweigert Paulus den Aposteltitel, der für dessen Selbstverständnis zentral war. Die Antithese von Glauben und Werken deutet Lk in Apg 13,38f in eine Synthese um. Jesu Tod ist für ihn kein Sühnetod, die Naherwartung eine Irrlehre (Lk 21,8). Der Verfasser bewunderte Paulus, aber war kein Pauluskenner. 3. Entstehungszeit und -ort lassen sich eingrenzen: Lk setzt Tempelzerstörung (Lk 21,20– 24) und das MkEv voraus und wird zum ersten Mal 140/150 n. Chr. durch Markion und Justin bezeugt. Da Markion wohl auf eine ältere Vorlage rekurriert, ist das LkEv zwischen 70 und ca. 110 entstanden. Der Jubel über den Sturz von Gewaltherrschern im Magnifikat der Maria (1,52) spricht dafür, dass solch ein Umsturz von Lesern wie dem „hochverehrten Theophilus“ (1,3) positiv erlebt wurde. Möglicherweise war es der Sturz des Domitian 96 n. Chr., der in der Oberschicht begrüßt wurde. Domitian wurde nach seiner Ermordung 96 n. Chr. durch damnatio memoriae geächtet. Sein Nachfolger Nerva (96–98) hob sich von ihm ab, indem er Münzen mit der Aufschrift prägen ließ: „FISCI JUDAICA CALUMNIA SUBLATA“ („Die mit der Judensteuer verbundenen Schikanen sind aufgehoben“). „Niemand mehr durfte Anzeige wegen Majestätsbeleidigung und wegen Annahme jüdischer Lebensweise erheben“ (Cass Dio 68,1). In dieser Situation ist verständlich, dass das lk Doppelwerk den Ursprung der Christen im Judentum positiv darstellt und die Zuversicht ausstrahlt, es werde trotz Verfolgungen im Römischen Reich seinen Platz finden. „Ungehindert“ kann Paulus am Ende predigen (Apg 28,31). Beim fiscus judaicus war vielleicht das Eintreiben der Steuern von Menschen, die als Heidenchristen dem Judentum nur nahestanden, kritisiert worden. Lk stellt die Familie Jesu in dieser Situation als vorbildliche Steuerzahler dar (Lk 2,1– 7) und widerspricht der Verleumdung, Jesus habe zur Steuerverweigerung aufgerufen (Lk 23,2). Das passt zu den Auseinandersetzungen um den fiscus judaicus. Ferner dürfte Lk/Apg vor Auswirkungen des Trajanreskripts (ca. 110) geschrieben sein, da Herodes Agrippa II. vor Paulus bekennt: „Fast hättest du mich zu einem Christen (christianos) gemacht“ (Apg 26,28). Nach dem Trajanreskript konnte der „Christenname“ mit dem Tod bestraft werden, es sei denn, man distanzierte sich vom christlichen Glauben.
Das LkEv entstand in einer Großstadt westlich von Palästina. Der Verfasser kennt die mediterranen Städte. Als Meer (thalassa) gilt ihm nur das Mittelmeer (Apg 10,6 u.ö.), das „galiläische Meer“ (nach Mk 4,1 ein thalassa) ist für ihn nur ein Binnensee (eine limnē Lk 5,1). Wenn in Lk 12,55 der Südwind als Hitzebringer genannt wird, so entspricht das den Windverhältnissen im westlichen Mittelmeerraum. In Palästina brachte der Ostwind die Gluthitze.61 Da die Apg als „Wir-Bericht“ in Rom endet, suggeriert der Verfasser (zu Recht?), dass sein Werk in Rom entstanden ist. 60 M.Hengel, Der Historiker Lukas und die Geographie Palästinas in der Apostelgeschichte (1983), in: Studien zum Urchristentum. Kleine Schriften VI, 2008, 140–190; P.Vielhauer, Zum „Paulinismus“ der Apostelgeschichte (1950/1), in: Aufsätze zum NT, 1965, 9–27. 61 G.Theißen, Lokalkolorit*, 1989, 264–270.
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4. LkEv und historischer Jesus: Im LkEv ist Jesus der mit dem Geist gesalbte Heiland, der den Schwachen und Ausgegrenzten Heil bringt. Das verkündigt seine Antrittspredigt in Nazareth als sein Programm (4,16–30) und wird im lk Sondergut anschaulich erzählt als Jesu Zuwendung zu Armen (16,19–31), Zöllnern und Sündern (18,9–14; 15,11–32), Frauen (7,11–17; 8,2f) und Samaritanern (10,30–37; 17,11–19). Lk erzählt die Geschichte eines vom Geist erfüllten Menschen, der Gottes Suche nach dem Verlorenen verkörpert, damit alle Menschen vom Geist Gottes erfüllt werden. Die Geistverleihung geschieht Pfingsten (Apg 2,1ff). Das LkEv vertritt ein universales Christentum, weniger auf der Basis eines neu interpretierten jüdischen Gesetzes wie das MtEv, sondern aufgrund des universalen Geistes Gottes und eines humanen Ethos, das Grenzen überschreitet. Auch das LkEv unterscheidet deutlich zwischen der Zeit Jesu und der nachösterlichen Zeit: Jesus selbst revidiert am Ende seiner Tätigkeit die strengen Regeln für Wandercharismatiker. Von jetzt ab soll man mit Geld, Mantel und sogar mit einem Schwert auf Reise gehen (22,35–38). Der Verfasser des lk Doppelwerks bewundert Paulus, unterscheidet sich aber theologisch von ihm: Jesus ist nicht präexistent, befreit nicht vom Gesetz. Ob sein Tod in Lk/Apg von Sünden erlöst, ist umstritten, ist aber nicht die entscheidende Wende zum Heil. Christus überwindet durch seine Himmelfahrt die Grenze zwischen Himmel und Erde „von unten“, als schon lange der präexistente Christus in den Briefen des NT die Grenze zwischen Himmel und Erde „von oben“ überwunden hatte. 3.5 Synoptisch geprägte apokryphe Evangelienfragmente
Einige Evangelienfragmente enthalten synoptisch klingende Überlieferungen. Hin und wieder begegnet in ihnen ein johanneisch klingendes Wort wie in der Logienquelle: „Alles ist mir übergeben von meinem Vater und niemand weiß, wer der Sohn ist, als nur der Vater …“ (QLk 10,22). Die wichtigsten Fragmente sind Papyrus Egerton 2, der Oxyrhynchos Papyrus 840 und der Schluss des Petrusevangeliums. a) Papyrus Egerton 2 62 stammt aus der zweiten Hälfte des 2. Jh. und konnte durch Papyrus Köln VI 255 ergänzt werden. Dies Fragment eines Evangeliums erzählt von Konflikten Jesu mit jüdischen Autoritäten: Ȥ Im Streitgespräch über eine Gesetzesübertretung Jesu, beruft sich Jesus darauf, dass die Schriften für ihn Zeugnis ablegen, wohingegen Moses seine Gegner anklagt (Frg. 1,1–20). Die Diskussion endet (auf der Rückseite des Papyrus) mit dem erfolglosen Versuch, Jesus zu steinigen (Frg. 1,22–30). Der Text klingt johanneisch, wenn Jesus sagt: „Noch nicht gekommen war die Stunde seiner Auslieferung“ (vgl. Joh 8,20). Ȥ In einer Heilung mit Parallele in Mk 1,40–45 bekennt der Aussätzige, dass er mit Aussätzigen gewandert ist und sich dabei angesteckt hat. Er wird ohne Berührung durch Jesus geheilt, sein Aussatz gilt als 62 Vgl. St. E.Porter, Der Papyrus Egerton 2, in: Chr.Markschies/J.Schröter (Hg.), Apokryphen* 1, 360– 365. Vgl. H.-J.Klauck, Apokryphe Evangelien, 2002, 36–40; T.Nicklas, Egerton Gospel (P.Egerton 2), in: J.Schröter/Chr.Jacobi (Hg.), From Thomas to Tertullian*, 2020, 195–296; J. Schröter Evangelien*, 2020, 53–58.
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Strafe für die Übertretung des jüdischen Berührungsverbots für Aussätzige. Deswegen mahnt Jesus ihn, er solle nicht mehr sündigen (Frg. 1,31–40 in P.Köln VI 255; recto vgl. Joh 5,14). Ȥ Ein Streitgespräch (Frg. 2,43–59) verallgemeinert die Steuerzahlung an den Kaiser zur Steuer an „Könige“. Die Fragesteller schmeicheln Jesus als einem Menschen, der „von Gott gekommen“ ist und der die Propheten übertrifft. Umso zorniger ist dessen Reaktion: Sie sind Heuchler, die ihn mit ihren Lippen ehren, während ihr Herz weit weg ist (Lxx Jes 29,13 vgl. Mk 7,6). Ȥ Der Text eines sonst nicht belegten („apokryphen“) Jesuswunder am Jordan ist sehr zerstört. Vermutlich sät Jesus etwas ins Wasser und bewirkt nach dem Modell des Elisa Fruchtbarkeit und Kindersegen (vgl. 2Kön 2,19–22; Bell 4,460–464). Ȥ Auf Fragment 3 (recto) könnte eine Selbstaussage Jesu erhalten sein: „Eins sind [wir …]“, Erklärt sich Jesus hier als eins mit Gott (vgl. Joh 10,30)? Der fragmentarische Charakter erlaubt keine sichere Deutung.
H.Köster63 deutet die Verbindung synoptischer und johanneischer Elemente als Indiz für ein frühes Stadium vor deren Auseinanderentwicklung. T.Nicklas denkt an eine „Neuinszenierung“ von johanneischen und synoptischen Stoffen für eine Hörerschaft, die an einem jüdischen Jesus und einer hohen Christologie interessiert war.64 Konsens ist, dass neben schriftlichen Evangelien mündliche Traditionen eingewirkt haben. Der Text ist kaum in Palästina entstanden. Dass sich der Aussätzige beim Zusammenleben mit Aussätzigen angesteckt hat, widerspricht der Isolierung von Aussätzigen im Judentum. Die Steuerfrage zielt nicht auf die in Judäa entscheidende Alternative „Gott oder Cäsar“, sondern darauf, ob man „Königen“ Steuern zahlen darf. Viele Könige (im Plural!) gab es im Osten. Der Konflikt Jesu mit jüdischen Autoritäten legt nahe, dass das Evangelium, aus dem dies Fragment stammt, auf die Passion Jesu hinauslief. b) Der Oxyrhynchos Papyrus 840 ist ein beidseitig in winziger Schrift beschriebenes Pergamentblatt (kein „Papyrus“). Es misst nur 8,8×7,4 cm,65 stammt aus einem um 400 n. Chr. hergestellten kleinen Codex und war vielleicht ein Amulett.66 Das Blatt enthält Teile von zwei lose verknüpften, in Jerusalem lokalisierten Perikopen. Es beginnt mit dem Schluss einer Rede Jesu an seine Jünger, in der er sie davor warnt, Unrecht zu tun. Dann folgt ein Streitgespräch mit einem pharisäischen Oberpriester im Tempel, der Jesus und seinen Jüngern Verunreinigung des Tempelplatzes vorwirft, weil sie keine Reinigungen vollzogen haben. Nachdem er auf 63 H.Köster, Gospels*, 1990, 119123. 64 T.Nicklas, Egerton Gospel, in: J.Schröter/Chr.Jacobi (Hg.), From Thomas to Tertullian*, 2020, 205. Nach J.Jeremias zitiert der Verfasser aus dem Gedächtnis aus allen kanonischen Evangelien und mündlicher Tradition: J.Jeremias/W.Schneemelcher, Papyrus Egerton 2, in: W. Schneemelcher, Neutestamentliche Apokryphen, I. Evangelien, 1987, 82–85. 65 Vgl. T.Nicklas, Das Fragment Oxyrhynchus V 840 (P.Oxy.V 840), in: Chr. Markschies/J.Schröter (Hg.), Apokryphen* 1, 357–359; H.J.Klauck, Apokryphe Evangelien, 2002, 40 f.; J.Schröter, Gospel of the Savior (P.Oxy.840), in: J.Schröter/Chr.Jacobi (Hg.), From Thomas to Tertullian*, 2020, 255–264. J.Schröter, Evangelien*, 2020, 58–61. 66 J.Jeremias, Unbekannte Jesusworte, 1948, 41965, 15 f.50 ff.
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Jesu Frage, ob er selbst rein sei, die von ihm absolvierten Rituale aufgezählt hat, folgt ein Weheruf Jesu über ihn und alle Blinden, die nicht sehen, dass äußere Reinheit mit Schlechtigkeit einhergehen kann (vgl. Mt 23,27f; Mk 7,1–23). Pointe ist im stark zerstörten Schlussteil die Kontrastierung der Wassertaufe mit einer spirituellen Taufe in „Wassern des ewigen Lebens“.
Formal und inhaltlich erinnert POx 840 an synoptische Texte zur Reinheitsfrage, zeigt aber größere Vertrautheit mit dem Jerusalemer Tempelritual. Die Bezeichnung Jesu als „Erlöser“ und der Begriff baptízein (= taufen) weisen auf eine innerchristliche Auseinandersetzung um die Taufe. Die Passion ist wahrscheinlich im Blick. Ein weiteres Fragment konzentriert sich ganz auf die Passion: das Petrusevangelium. c) Vom Petrusevangelium (EvPetr)67 war lange nur der Name durch einen Brief des Bischofs Serapion von Antiochien bekannt (Eus h.e. 6,12,2–6). Dieser hatte der Gemeinde von Rhossos die Benutzung des Petrusevangeliums gestattet, widerrief aber diese Erlaubnis in diesem Brief, weil es doketisch sei. Nachdem ein Fragment von ihm in Akhmim in Oberägypten gefunden und 1892 veröffentlicht wurde,68 stellte man fest: Doketisch ist allenfalls, dass Jesus bei seiner Kreuzigung schweigt, „als hätte er keinen Schmerz“, und während seines Rufs: „Meine Kraft, o Kraft, du hast mich verlassen“ in den Himmel aufgenommen wird (EvPetr 4 [10]; 5 [19]). Das Akhmim-Fragment berichtet von der Passion Jesu. Pilatus wäscht seine Hände in Unschuld, der König Herodes befiehlt die Hinrichtung Jesu. Juden verhöhnen Jesus als König Israels. Aber dann erschrecken sie angesichts der Finsternis, weil die Sonne über einem Ermordeten nicht untergehen darf. Nach der Kreuzigung bedauern sie die Kreuzigung und erkennen ihre Sünde. Das Volk murrt. Die Führer der Juden veranlassen, dass Pilatus das Grab bewacht, damit die Jünger nicht den Leichnam stehlen und dann sagen, er sei auferstanden. Sie versiegeln das Grab und lassen es durch Soldaten bewachen. Die Auferstehung geschieht vor Zeugen. Der Himmel öffnet sich, zwei Männer steigen ins Grab, nachdem der Stein von selbst verschwunden war. Dann kommen drei Männer aus dem Grab, einer überragt die beiden anderen, so dass sein Kopf in den Himmel ragt, ihm folgt das Kreuz von selbst. Eine Frage, die vom Himmel her ertönt, ob Jesus den Entschlafenen verkündigt hat, wird vom Kreuz bejaht. Die Führer des Volkes überzeugen Pilatus, dass die Soldaten nichts von der Auferstehung berichten sollen, weil sie fürchten, vom jüdischen Volk gesteinigt zu werden. Am ersten Tag der Woche besuchen die Frauen das Grab. Sie treffen auf einen Engel im Grab, der ihnen die Auferstehungsbotschaft verkündet. Sie fliehen. Die zwölf Jünger gehen nach Hause. Petrus und Andreas beginnen wieder zu fischen.
67 Vgl. M.Vinzent/T.Nicklas, Das Petrusevangelium, in: Chr.Markschies/J.Schröter (Hg.), Apokryphen* 1, 2012, 683–695. H.-J. Klauck, Apokryphe Evangelien, 2002; A.Kirk, Gospel of Peter, in: J.Schröter/Chr. Jacobi (Hg.), From Thomas to Tertullian*, 2020, 123–139; 110–118; J.Schröter, Evangelien*, 2020, 66– 73. 68 D.Lührmann, POx 4009: Ein neues Fragment des Petrusevangeliums? NT 35 (1993) 390–410, identifizierte ein aus dem 2. Jh. stammendes Fragment des EvPetr (POx 4009) mit einem Dialog zwischen dem Ich-Erzähler Petrus und Jesus, der entweder aus einer der Passion vorhergehenden Darstellung des Lebens Jesu stammt oder Worte des Auferstandenen wiedergibt.
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Das EvPetr ist älter als der Brief des Serapion um 190 n. Chr. und wahrscheinlich in Syrien entstanden. Sein Verhältnis zu den kanonischen Evangelien ist umstritten. Es verbindet traditionsgeschichtlich alte und junge Elemente: Alt sind Bezugnahmen auf das AT in der Passionserzählung.69 Ohne explizite Hinweise auf eine Erfüllung der Schrift wird das Geschehen mit alttestamentlichen Worten erzählt. Dabei hält sich das EvPetr oft unmittelbarer an alttestamentliche Vorlagen als die Synoptiker. EvPetr 5 [16] berichtet beispielsweise, man habe Jesus am Kreuz „Galle mit Essig“ (Ps 68,22 Lxx) zu trinken gegeben, in Mt 27,34.48 sind das zwei verschiedene Vorgänge. Traditionsgeschichtlich jung sind: die Verfasserfiktion mit dem Ich-Erzähler Petrus, die Entlastung des Pilatus von der Verantwortung für die Kreuzigung Jesu, die phantastische Schilderung der Auferstehung Jesu. Nach H.Köster70 repräsentiert ein Grundbestand der Überlieferung oft eine von den kanonischen Evangelien unabhängige ältere Form. Nach Dibelius71 und den meisten Exegeten reproduziert das EvPetr dagegen aus allen vier kanonischen Evangelien Stoffe aus dem Gedächtnis und verbindet sie mit alttestamentlichen Auslegungstraditionen. Der historische Wert des EvPetr ist gering. Eine Unkenntnis jüdischer Feste und Gebräuche sowie des geltenden Rechts geht einher mit antijüdischer Polemik.72 Doch wirbt das EvPetr immer noch um Juden, wenn es betont, dass sie im Unterschied zu ihren Führern die Hinrichtung Jesu bereuen.
4. Gnosisnahe Evangelien und gnostische Apokryphen Durch eine Synthese zwischen dem irdischen Jesus synoptischer Traditionen und dem himmlischen Kyrios neutestamentlicher Briefe entstanden Evangelien, in denen Jesus durch Erkenntnis oder „Gnosis“ erlöst. In ihnen ist das Wort das entscheidende Medium der Offenbarung, sei es im JohEv das in Jesu Person inkarnierte Wort Gottes, seien es geheimnisvoll klingende Worte Jesu im ThEv. Hinzu kommen gnostisch geprägte Dialoge mit dem Auferstandenen. Die beiden gnosisnahen Evangelien sind verschiedene, relativ unabhängige Weiterentwicklungen des Jesusbildes: So kennt nur das JohEv christologische Hoheitstitel, Wunder und Passionsgeschichte. Sie fehlen im ThEv. Nur Joh stellt die Offenbarung der Liebe Gottes ins Zentrum, das ThEv spricht nur einmal in einem Gleichnis von dessen Liebe (Nr. 107). Umgekehrt enthält ThEv viele Gleichnisse Jesu, während das JohEv nur in 10,1–6 ein solches Gleichnis bringt. Da diese gnosisnahen Evangelien kein untereinander übereinstimmendes Jesusbild bringen, handelt es sich um relativ unabhängige Weiterbildungen der Jesustradition. Die Synoptiker stimmen untereinander weit mehr überein als das JohEv und 69 M.Dibelius, Die alttestamentlichen Motive in der Leidensgeschichte des Petrus- und des JohannesEvangeliums (1918) = Ges. Aufs. I, 1953, 221–247. 70 H.Köster, Gospels*, 1990, 216–240; ders., Apocryphal and Canonical Gospels, bes. 126 ff; J.D.Crossan, The Cross that Spoke: The Origins of the Passion Narrative, 1988, wollte mit Hilfe des EvPetr die ursprüngliche Passionsgeschichte rekonstruieren. 71 M.Dibelius, Motive, s. o.; ebenso Ph. Vielhauer, Geschichte*, 1975, 645. 72 J.Schröter, Evangelien*, 2020, 73: Das EvPetr ist eine „kreative Neuinterpretation der Passionsgeschichte in einer Zeit, in der sich die Spannungen zwischen Christen und Juden zu verschärfen beginnen.“
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das ThEv. Es gibt also keine gleichwertigen gnostischen Parallelüberlieferungen als Zugang zum historischen Jesus. Trotzdem enthalten JohEv und ThEv gerade dort wertvolle Erinnerungsspuren, wo sie trotz ihrer Unterschiede übereinstimmen, z. B. in den präsentischen Aspekten der Eschatologie. Auch schöpfen sie ihre Jesusüberlieferungen aus einem großen Strom mündlicher und schriftlicher Traditionen, die nicht in die synoptischen Evangelien eingegangen sind. 4.1 Das Johannesevangelium P.N.Anderson (ed.), John. Jesus, and History, Vol. 2, Aspects of Historicity in the Fourth Gospel, 2009; P.N.Anderson, F.Just, T.Thatcher (eds.), John, Jesus, and History, Vol. 3: Glimpses of Jesus Through the Johannine Lens, 2016; J.Becker, Das vierte Evangelium und die Frage nach seinen externen und internen Quellen, in: I.Dunderberg/Chr.Tuckett/K.Syreeni (eds.), Fair Play, 2002, 203–241; H.K.Bond, Gospel of John, in: dies. (ed.), From Paul to Josephus*, 2020, 165–185; R.Bultmann, Das Evangelium des Johannes, 1941 191968; M.Hengel, Die johanneische Frage. Ein Lösungsversuch, 1993; J.H.Charlesworth, Jesus as Mir� rored in John. The Genius in the New Testament, 2019. J.Frey, Johannesevangelium, in: Jesus-Handbuch 2017, 137–145; H.Thyen, Art. Johannesevangelium, TRE 17 (1987) 200–225; K.Wengst, Bedrängte Gemeinde und verherrlichter Christus, 1981.
Das JohEv will den traditionellen christlichen Glauben an Jesus als Messias und Sohn Gottes vertiefen, den die Jünger Jesu im JohEv von Anfang an haben (1,41.49). Sie werden durch eine „Stufenhermeneutik“ zu einer höheren Erkenntnis geführt: In seinem öffentlichen Wirken offenbart Jesus ihnen das wahre Leben, in Abschiedsreden darüber hinaus die Liebe, die mit Gott vereint. Diese Erkenntnis für Fortgeschrittene spaltet aber nicht die Gemeinde, sondern vereint. Das unterscheidet das JohEv von „Gnostikern“, die auf andere Christen als „Pistiker“ herabsahen. Glauben und Erkennen sind im JohEv eine Einheit (17,8). 1. Der Text und seine Integrität: Das JohEv ist durch Papyrus 52 für die 1. Hälfte des 2. Jh. bezeugt73 und wurde außer der sekundären Perikope von der ehebrüchigen Frau (7,53–8,11) in der vorliegenden Fassung überliefert. Stilistisch ist es einheitlich, literarisch aber mehrschichtig: Der doppelte Buchschluss zeigt: Ursprünglich schloss das Evangelium mit Joh 20,30 f. Kapitel 21 ist ein Nachtrag, in dem ein Herausgeberkreis einen anonymen „Lieblingsjünger“ als verstorbenen Verfasser von Joh 1–20 würdigt. Er endet mit einem zweiten Buchschluss 21,25. Auch beginnt das JohEv mit einem doppelten Anfang: Es setzte ursprünglich wie das MkEv mit Johannes dem Täufer ein (1,19ff), vorgeschaltet wurde ein Prolog, der in der Präexistenz beginnt (1,1–18). Die zweite Abschiedsrede in Kapitel 15–17 unterbricht die laufende Handlung. In den Kapiteln 4–7 stören geographische und chronologische Unstimmigkeiten: In Joh 5 heilt Jesus z. B. in Jerusalem zur Passazeit, begibt sich dann an das andere Ufer des Sees von 73 Meist wird P52 in die Zeit Hadrians auf ca. 125 n. Chr. datiert. Doch könnte P52 nach B.Nongbri, The Use and Abuse of P52. Papyrological Pitfalls in the Dating of the Fourth Gospel, HThR 98 (2005) 23– 52, auch später zu datieren sein.
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Galiläa (6,1), befindet sich aber in Joh 7 wieder beim Laubhüttenfest in Jerusalem. Daher gilt oft eine andere Reihenfolge der Kapitel als ursprünglich.
2. Der Aufbau: Jesus offenbart öffentlich das Leben als Gabe Gottes (6,35), im Geheimen Gott als Liebe – zuerst im nächtlichen Nikodemusgespräch als Offenbarung der Liebe Gottes (3,16), dann in Abschiedsreden auch als Liebesgebot (13,34f/15,9–17).74 Prolog: Offenbarung als Licht (1,1–13) Inkarnation als Offenbarung der Herrlichkeit (1,14–18)
Abschiedsreden: Offenbarung der Liebe (vgl. 3,16; 13–17) Wirken Jesu: Offenbarung des Lebens (1,19–12,50)
Passion: Paradoxe Offenbarung (18,1–19,42)
Epilog: Offenbarung vor Maria u. Thomas (20) Offenbarung vor Lieblingsjünger und Petrus (21)
Zweigestuft sind sowohl der Anfang als auch das Ende des Evangeliums. Am Anfang offenbart sich der Logos als präexistentes Licht, danach als inkarnierte Herrlichkeit (1,1–13/1,14– 18), am Ende erscheint der Auferstandene in Jerusalem, danach in Galiläa (Joh 20/21). 2. Die Gattung ist formgeschichtlich von Mk abhängig. Joh erzählt von Johannes dem Täufer, Jesu Wirken und Passion in ähnlicher Reihenfolge. Auch im MkEv finden wir eine „Stufenhermeneutik“: Petrus bekennt in der Mitte des Evangeliums Jesus als Messias, der sich durch Kreuz und Auferstehung voll offenbart. Im JohEv bekennen sich die Jünger schon am Anfang zu Jesus, doch erst nach Ostern führt sie der Geist in die ganze Wahrheit (Joh 16,12– 15 vgl. 2,22; 12,16). Die Gattung „Evangelium“ wurde kaum zwei Mal unabhängig voneinander mit solch einer ähnlichen Struktur erfunden. 3. Traditionen: Gegen die altkirchliche Deutung des JohEv als geistlicher Neufassung der Synoptiker wurde 1938 durch P.Gardner-Smith seine Unabhängigkeit von den Synoptikern eine Zeit lang Konsens. 1963 konnte Ch.H.Dodd u. a. deshalb im JohEv viele Spuren des historischen Jesus finden.75 Seit 1979 rechnet man mit F.Neyrinck wieder mit einer Abhängigkeit vom Mk- und LkEv.76 Doch greift Joh sicher auch unabhängig auf synoptisch geprägte Erzähl- und Spruchüberlieferung zurück. (1) Die Erzählung vom „Hauptmanns von Kapernaum“ (4,46–54) ist keine Bearbeitung von Mt 8,5–13/Lk 7,1– 10, weil der darüber hinausgehende Teil in Joh 4,53 eben jenen Wunderglauben zum Ausdruck bringt, der redaktionell durch 4,48 kritisiert wird: „Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, so glaubt ihr nicht.“ Die wunderbare Vermehrung der Brote endet mit der versuchten Proklamation Jesu als „König“ (6,15) in Spannung zur joh Theologie, nach der Jesu Königreich nicht von dieser Welt ist (18,36). 74 Die folgende Gliederung nach T.Onuki, Gemeinde und Welt im Johannesevangelium, 1984, 112. 75 P.Gardner-Smith, Saint John and the Synoptic Gospels, 1938; Ch.H.Dodd, Historical Tradition in the Fourth Gospel, 1963. 76 Eine Kenntnis aller drei Synoptiker will F.Neirynck, Jean et les Synoptiques, 1979, nachweisen.
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(2) Das Wirken Jesu geschieht an Orten, die nur im JohEv vorkommen: die Hochzeit zu Kana (2,1–10), die Wunder am Teich Betesda (5,2–16) oder mit dem Wasser der Siloaquelle (9,1–7). Sie stammen aus unabhängigen Traditionen, vielleicht aus einer Semeia-Quelle zusammen mit anderen Wundern wie der Auferweckung des Lazarus (11,1–44). (3) Von den Synoptikern unabhängige Überlieferungsvarianten sind nach M. Theobald, Herrenworte im Johannesevangelium, 2002, 60–199, Worte von der Wiedergeburt (3,3.5), vom Bewahren des Lebens (12,25f), von der Aufnahme Jesu und seiner Boten (13,16.20), von Gebetserhörung (14,13f) und Vollmacht zur Sündenvergebung (20,23).
Hinzu kommt eine durch archäologische Funde gesicherte Milieuauthentizität des JohEv. J.H.Charlesworth77 weist auf Funde von Steingefäßen in Galiläa (2,6) hin, die bei der Hochzeit zu Kana eine Rolle spielen, ferner auf Reinigungsbäder (mikvaot) in Jerusalem, die durch die Teiche in Bethesda (5,2) und Siloah (9,7) bestätigt wurden. Die joh Erzählungen sind nicht nur Bearbeitungen synoptischer Überlieferungen. Als Quellen wurden erschlossen (1) eine von den Synoptikern unabhängige Passions- und Osterüberlieferung mit Nähe zur lk Passion, (2) eine Semeia-Quelle mit sieben in Joh 2–11 erzählten Wundern, deren ursprüngliche Zählung in 2,11 und 4,54 erhalten blieb (in Widerspruch zu 2,23; 4,45). Ihr Abschluss könnte 20,30f sein, da sich der Begriff semeia hier nicht auf das Evangelium mit seinen vielen Reden beziehen kann. (3) Ungeklärt ist die Frage nach Vorstufen der großen joh Rede- und Dialogkompositionen. 3. Verfasser, Entstehungszeit und -ort: Für die Herausgeber des Evangeliums ist der Lieblingsjünger Verfasser des Evangeliums (21,24). Die altkirchliche Tradition identifizierte ihn mit Johannes Zebedäus (Irenäus Haer 3,11; Eus h.e. 5,8,4). Joh 21,20–25 lässt sich nur entnehmen, dass die joh Gruppe ihre Tradition auf einen Jünger zurückführte, der Petrus überlebt hat, inzwischen aber gegen die Erwartung, er werde die Parusie des Herrn erleben, gestorben ist.78 Er könnte aufgrund des Lokalkolorits ein Jerusalemer Anhänger Jesu gewesen sein. Eine Frühdatierung vor 70 n. Chr. durch K.Berger, Am Anfang war Johannes, 1997, ist unwahrscheinlich, wenn man das JohEv als vertiefte Interpretation des synoptischen Jesusbildes deutet. Als seine Entstehungszeit gilt meist das frühe 2. Jh., es könnte aber wegen der unsicheren Datierung von P52 auch später entstanden sein. Einige Beobachtungen weisen auf den zweiten römisch-jüdischen Krieg (115/117), ohne dass wir Gewissheit über die Entstehungszeit des JohEv damit erhalten. 1. Jesus distanziert sich vom militanten Messianismus: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Wäre mein Reich von dieser Welt, würden meine Diener darum kämpfen, dass ich den Juden nicht überantwortet würde“ (18,36). In den jüdisch-römischen Kriegen kämpften messianische Gestalten, im ersten Krieg mehrere messianisch auftretende Führer, im zweiten jüdischen Krieg unter Trajan 115/117 aber nur ein
77 J.H.Charlesworth, Jesus as Mirrored in John, 2019, fasst S.ix–xv seine Ergebnisse zusammen. 78 M.Hengel, Die johanneische Frage, 1993, sieht in dem Alten (dem presbyteros) des 2. und 3. Johannesbriefs den Autor des Evangeliums.
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einziger Messias, Lukuas, in Nordafrika und Ägypten mit einem Heer (Eus h.e. 4,2,1–5). Von solch einem militanten Heerführer könnte sich der johanneische Jesus in Joh 18,36 unterscheiden. 2. Das JohEv betont, Jesus könne nicht der Messias aus dem Haus Davids sein, da er aus Galiläa stammt und nicht in Bethlehem geboren ist (7,41f). Nachfahren aus der Familie Jesu wurden durch Vespasian, Domitian und Trajan als Messiasprätendenten verhört (Eus h.e. 3,12.20.32). Christen hätten in dieser Zeit ein Motiv gehabt, um zu betonen, dass Jesus nicht der irdische Messias sein konnte. 3. Das JohEv beklagt den Hass der Welt (15,18–25) – vielleicht ein Echo auf den „Hass auf das Menschengeschlecht“, den Tacitus ihnen in dieser Zeit ca. 116/117 n. Chr. in den Annalen 15,44,4 zuschrieb, also in der Zeit des zweiten römisch-jüdischen Krieges. 4. Der „Herrscher der Welt“ (12,31; 14,30; 16,11) ist für den Kaiser transparent und letztlich für die Kreuzigung Jesu verantwortlich. Mit Trajan hatte sich ein Kaiser deutlich durch sein Reskript an Plinius gegen die Christen positioniert. In seiner Regierungszeit wurde ein Nachfahre Jesu, Simeon, gefoltert und gekreuzigt (Eus h.e. 3,32). 5. Auffallend ist, dass Pilatus Jesus in der Öffentlichkeit verurteilt, unbeobachtet von der Öffentlichkeit jedoch Unsicherheit und Zweifel zeigt. Diese Spannung zwischen öffentlicher und nichtöffentlicher Einschätzung erinnert an das Verhalten des Plinius, der (ca. 111) in Bithynien Christen zum Tode verurteilte, sie aber in seinem Brief an Trajan als harmlose Gemeinschaft darstellt. Es dürfte typisch für Mitlieder der Oberschicht in dieser Zeit gewesen sein.
Für Syrien als Entstehungsort des JohEv sprechen viele Berührungen mit der Täuferbewegung, mit Ignatius von Antiochien, den Oden Salomos und mandäischen Schriften. In Frage kommt auch Ägypten, da das JohEv früh in Ägypten bekannt gewesen ist, wie P52 zeigt, möglich ist auch Ephesus als Ort einer frühen Johannesrezeption. 4. Das joh Jesusbild und der historische Jesus: Das JohEv bietet unter den Evangelien die am stärksten theologisch stilisierte Jesusfigur. Jesus spricht und handelt als Offenbarer, der sich seiner Präexistenz bewusst ist (8,58), aber erst nach Ostern durch den Geist erkannt wird. Trotzdem ist das JohEv historisch nicht wertlos. Es überliefert von den Synoptikern abweichende Daten, die auf alte Traditionen zurückgehen könnten. Ȥ Jesu erste Jünger waren nach 1,35–42 ehemalige Täuferjünger. Petrus, Andreas und Philippus stammen aus Bethsaida (1,44). Ȥ Politische Motive werden als Motiv der Hinrichtung Jesu klarer ausgesprochen als in den Synoptikern (11,47–53; 19,12 vgl. 6,15). Ȥ Gegen Jesus findet am Ende kein jüdischer Prozess statt, sondern nur ein Verhör des Synedriums (18,19–24). Ȥ Jesus stirbt vor dem Passafest (18,28; 19,31), was wahrscheinlicher ist als eine Hinrichtung am Festtag selbst.
Dazu kommt eine Konvergenz mit den Synoptikern bei Themen, wo das JohEv andere Akzente setzt: Das Liebesgebot steht auch im JohEv im Zentrum. Jesus verkündigt seine Botschaft in Bildern. Er unterscheidet sich vom Täufer durch Wunder. Auch das JohEv unterscheidet deutlich zwischen der vorösterlichen Zeit Jesu und der Zeit nach Ostern. Erst in ihr wird vieles von dem, was Jesus sagte, für seine Anhänger verständlich (2,22; 12,16; 14,26).
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4.2 Das Thomasevangelium (ThEv)79 S.J.Gathercole, The Gospel of Thomas, Introduction and Commentary, 2014; J.Frey/E.E.Popkes/J.Schröter (Hg.), Das Thomasevangelium: Entstehung – Rezeption – Theologie, 2008; H.J.Klauck, Apokryphe Evangelien, 2002, 142–162; R.Nordsieck, Das Thomas-Evangelium. Zur Frage des historischen Jesus. Kommentierung aller 114 Logien, 2004 32006; S.J.Patterson, The Gospel of Thomas and Jesus, 1993; U.-K.Plisch, Das Thomasevangelium, 22016; K.Schwarz, Gospel of Thomas, in: J.Schröter/Chr.Jacobi (Hg.),The Reception of Jesus in the First Three Centuries, vol. 2, 2020, 265–279; J.Schröter, Das Evangelium nach Thomas, Einleitung, in: ders., Apokryphen*, Bd 1, 2020, 483–506; R.Uro, Thomas. Seeking the Historical Context of the Gospel of Thomas, 2003; P.Vielhauer, Geschichte*, 1975, 618–635.
Während im JohEv die Person Jesu den Weg zu Gott öffnet, vermitteln im ThEv seine Worte Zugang zum Königreich Gottes, das „innerhalb und außerhalb“ des Menschen existiert, als innerstes Selbst und umfassendes All (ThEv 3; 77). Diese Erkenntnis isoliert in der Welt: „Selig sind die Einzelnen, die Erwählten. Denn ihr werdet das Königreich finden“ (ThEv 49). 1. Der Text: Hippolyt (†235) und Origenes erwähnen ein von Häretikern verwendetes „Evangelium nach Thomas“,80 das um 1945 in Nag Hammadi entdeckt wurde. Seine Überschrift sagt: „Dies sind die geheimen Worte, die Jesus der Lebendige sagte und die Didymus Judas Thomas aufgeschrieben hat“, seine Subscriptio nennt das Buch: „Das Evangelium nach Thomas“. Drei schon vorher gefundene Papyri (POx 1; 654; 655) erwiesen sich als griechische Fragmente des ThEv, können aber wegen Abweichungen in Wortlaut und Reihenfolge der Logien nicht seine Vorlagen sein. 2. Alter und Entstehungsort: Die Endredaktion des ThEv datiert nach der Tempelzerstörung 70 n. Chr. (ThEv 71). Die Oxyrhynchospapyri sichern ca. 140 n. Chr. als spätest mögliche Entstehungszeit. Wahrscheinlich ist es in Syrien entstanden, da der fiktive Verfasser Thomas nur in Schriften ostsyrischen Ursprungs begegnet. 3. Inhalt und Aufbau: Logien am Anfang und Ende geben Hinweise zum Verständnis und deuten eine Ringkomposition durch das Stichwort „Königreich“ an. Anfang Die verborgenen Worte Jesu mit der Verheißung von: Lg. 1 Leben, Lg. 2 Königsherrschaft über das All, Lg. 3 Erkenntnis des Königreichs in euch und außerhalb von euch Ende Lg. 109 Das Königreich als Fund eines Schatzes im Acker Lg. 110 Die Welt finden und ihr entsagen Lg. 111 Sich selbst finden Lg. 113 Das Königreich ist Gegenwart Lg. 114 Die Nachfolge Maria Magdalenas 79 Text nach H.G.Bethge, Das Evangelium nach Thomas, in: Chr.Markschies/J.Schröter (Hg.), Apokryphen*, 1, 2012, 507–526. 80 Hippolyt Ref 5,7,20; Origenes in Luc. hom. 1.
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Die 114 Logien Jesu des ThEv81 haben etwa zur Hälfte synoptische Parallelen. Apokalyptische Erwartungen werden durch eine präsentische Eschatologie ersetzt. Es fehlen Hinweise auf Jesu Tod und Auferstehung. Die Anordnung ist assoziativ, ThEv 7/8 werden z. B. durch das Stichwort „Mensch“, ThEv 25/26 durch „Bruder“ verbunden. Dubletten weisen auf sukzessive Erweiterungen der Sammlung.82 4. Alter und Unabhängigkeit der Traditionen des ThEv: Befürworter der Abhängigkeit des ThEv von den kanonischen Evangelien berufen sich auf den Einfluss redaktioneller Elemente der Synoptiker.83 Aber auch indirekter Einfluss durch sekundäre Mündlichkeit könnte manche Übereinstimmung mit den Synoptikern erklären.84 Befürworter der Unabhängigkeit weisen auf den Unterschied der Rahmengattung, auf Dubletten, auf die Reihenfolge der Logien sowie die Traditionsgeschichte einzelner Sprüche.85 Als Spruchsammlung ist das ThEv nach H.Köster das östliche Gegenstück zur westlichen Logienquelle Q. Doch enthält es anders als Q keine Erzählungen. Analogien sind reine Spruchsammlungen wie die rabbinischen „Sprüche der Väter“ (die Pirque Abbot) und die frühchristlichen Sentenzen des Sextus. Weil die Reihenfolge der Logien unabhängig von den synoptischen Evangelien ist, stammen die gemeinsamen Logien wohl kaum aus ihnen, zumal schon vor der Entdeckung des ThEv traditionsgeschichtlich ältere Fassungen für einige von ihnen postuliert wurden, die später durch den Fund des ThEv bestätigt wurden: Ȥ A.Jülicher hat vor der Entdeckung des ThEv die „Parabeltheorie“ und die allegorische Auslegung des Sämannsgleichnisses in Mk 4,10–20 als sekundär erkannt.86 ThEv 9 bringt das Gleichnis ohne Parabeltheorie, obwohl diese sehr gut zum ThEv passen würde: Nach ihr sind nur den Jüngern die Geheimnisse des Gottesreiches zugänglich. Ȥ R.Bultmann hielt in POx 1: „Nicht ist willkommen ein Prophet in seiner Heimatstadt, und kein Arzt vollbringt Heilungen an denen, die ihn kennen“ im Vergleich zu Mk 6,4f für ursprünglich. Mk 6,1–6 habe seine zweite Hälfte in eine Erzählung vom Besuch Jesu in Nazareth umgewandelt. ThEv 31 entspricht seiner Rekonstruktion.87 Ȥ C.H.Dodd postulierte eine ursprüngliche Fassung des Gleichnisses von den bösen Winzern (Mk 12,1– 9) ohne Anspielungen auf Jes 5,1 f. ThEv 65 steht dieser postulierten Urform nahe.88
81 Die Einteilung der 114 Logien stammt von modernen Herausgebern. 82 Z. B. ThEv 5,2/6,5; 21,5/103 (Dieb); 22,4–7/106; 51/113; 56/80; 81/110; 87/112. 83 So W.Schrage, Das Verhältnis des Thomas-Evangeliums zur synoptischen Tradition und zu den koptischen Evangelienübersetzungen, 1964; J.Schröter, Das Evangelium nach Thomas, in: Ch.Markschies/ J.Schröter (Hrsg.), Apokryphen* 1, 2012, 483–506, S. 492–498. 84 R.Uro, Thomas. Seeking the Historical Context of the Gospel of Thomas, 2003. 85 Für die Unabhängigkeit des ThEv von den Synoptikern: Ph.Vielhauer, Geschichte*, 1975, 618–635; H.Köster, Gospels*, 1990, 75–128; S.J.Patterson, The Gospel of Thomas and Jesus, 1993. S.J.Gathercole, The Composition of the Gospel of Thomas. Original Language and Influence, 2012. 86 A.Jülicher, Die Gleichnisreden Jesu, 21910, Bd. 1,118–148; Bd. 2,514–538. 87 R.Bultmann, Geschichte der synoptischen Tradition, 1921 21931, 30 f. 88 C.H.Dodd The Parables of the Kingdom, London 1936 = 1938, 129.. Nach H.J.Klauck, Apokryphe Evangelien, 2002, 157f, folgt in ThEv 66 dem Winzergleichnis das Wort vom verworfenen Stein, der zum
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Für eine Abhängigkeit vom MkEv könnte sprechen, dass die Reihenfolge dieser drei Perikopen dem MkEv entspricht, doch andere Entsprechungen zum MkEv folgen in der Regel nicht der mk Reihenfolge. Das zeigen schon die ersten sechs Perikopen des ThEv mit Parallelen im MkEv: Ȥ ThEv 4,2: Das Wort von den Ersten und Letzten; vgl. Mk 10,31 Ȥ ThEv 5,2: Das Wort vom Verborgenen und Offenbaren; vgl. Mk 4,22 Ȥ ThEv 6,5: Das Wort vom Verborgenen und Offenbaren; vgl. Mk 4,22 Ȥ ThEv 9: Das Sämannsgleichnis; vgl. Mk 4,3–9 Ȥ ThEv 11,1: Das Vergehen der Himmel; vgl. Mk 13,31 Ȥ ThEv 12: Wer soll über uns herrschen? vgl. Mk 9,34
Die fehlende Übereinstimmung in der Reihenfolge spricht gegen eine Abhängigkeit vom MkEv. Dagegen weisen Übereinstimmungen mit redaktionellen Elementen des MtEv und LkEv möglicherweise auf deren Einfluss, evtl. aber auch auf mündliche Überlieferung. Vertreter der Abhängigkeit des ThEv von den Synoptikern deuten das ThEv als gnostisierende Bearbeitung synoptischer Texte. Doch nicht alle Texte erklären sich so. Die nur im ThEv erhaltenen Gleichnisse vom Fisch, von der Frau und vom Attentäter sind unabhängige Traditionen im synoptischen Stil (ThEv 8.97.98). Wahrscheinlich entstand das ThEv durch gegenseitige Einflüsse paralleler schriftlicher und mündlicher Traditionen. Es ist potenziell ein wertvoller Zeuge für Jesusworte. 5. Theologische Prägung: Die Logien lassen zentrale theologische Motive des ThEv erkennen, bei denen grundsätzliche Gegensätze spürbar sind: Ȥ Offenbarung: Jesus bringt Heil durch geheime Offenbarungsworte. „Wer deren Interpretation findet, wird den Tod nicht schmecken“ (ThEv 1). Aber gerade die Tatsache, dass Menschen das Heil nicht von sich aus erkennen, motiviert zu eigenständigem Suchen (ThEv 2), so dass Offenbarer und Offenbarungsempfänger am Ende identisch sind: „Wer aus meinem Mund trinkt, wird werden wie ich“ (ThEv 108). Ȥ Dualismus: Die Welt und der menschliche Körper sind vom Tod gezeichnet, das Lichtreich des Vaters durch Erkenntnis und Leben. Verlangt wird ein radikales „Fasten von der Welt“ (ThEv 27). Dieser Dualismus steht mit einem Pantheismus in Spannung: Jesus ist das All. Er ist in jedem Stück Holz und Stein gegenwärtig (ThEv 77). Ȥ Eschatologie: Das Königreich ist Ursprung und Ziel des Menschen, der sich selbst erkannt hat. Selbsterkenntnis gibt ihm Gewissheit seiner Zugehörigkeit zum göttlichen Licht. Aber dieses Königreich ist nicht nur innen, sondern auch außen: Vögel und Fische sind ihm nahe (ThEv 3.113). Ȥ Nachfolge realisiert sich als Abkehr von der Welt, von Besitz, Familie, Sexualität. Die Jünger sind auserwählte „Einzelne“ (monachoi). Im Kontrast dazu gilt das Liebesgebot: „Liebe deinen Bruder wie deine Seele, bewahre ihn wie deinen Augapfel“ (ThEv 25).
Eckstein wird. Daher sei es vom MkEv abhängig. Doch sobald das Gleichnis auf Jesu Tod gedeutet wurde, wäre ein Hinweis auf seine Auferstehung schon vor der Mk-Redaktion notwendig gewesen.
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Das ThEv zeigt eine sich aus der Weisheitstradition entwickelnde Gnosis. Sofern sich die Alte Kirche durch Ablehnung eines zweiten Schöpfergottes und einer scheinbaren („doketischen“) Inkarnation des Offenbarers von gnostischen „häretischen“ Gruppen abgrenzte, ist das ThEv rechtgläubig. Es fehlen in ihm diese abgelehnten Überzeugungen. Mit den synoptischen Evangelien teilt es die zentrale Rolle des „Königreichs“, mit dem JohEv die IchRede des Offenbarers, mit der allgemeinen Bildung einen Platonismus der Bilder.89 Seine individualistische Spiritualität mit mystischen und kosmischen Zügen ist ein wertvolles Zeugnis für eine frühe Rezeption der Jesusüberlieferung. 6. Das ThEv und der historische Jesus:90 Was authentisches Jesuswort sein könnte, ist vom Urteil darüber abhängig, was Jesus aufgrund der Synoptiker gesagt haben könnte. Wenn Jesus gesagt hat: „Ich bin gekommen, Feuer auf die Erde zu werfen; was wollte ich lieber, als dass es schon brennte!“ (Lk 12,49) könnte er auch gesagt haben: „Wer mir nahe ist, ist dem Feuer nahe, und wer fern von mir ist, ist fern vom Königreich“ (ThEv 82). Bisher isolierte Motive wie das „Feuer“ wurden durch das ThEv kontextualisiert und als mögliche authentische Motive erkennbar. Darüber hinaus ist die Spruchüberlieferung Jesu im ThEv ein aufschlussreiches Beispiel für die Wortüberlieferung überhaupt. Drei für die Jesusforschung relevante inhaltliche Erkenntnisse sind: (1) Erstens bezeugt das ThEv in Übereinstimmung mit dem JohEv eine präsentische Eschatologie, obwohl es gegenüber dem JohEv sonst eigenständige Wege geht. Darin könnte eine Erinnerungsspur des historischen Jesus erhalten sein. (2) Zweitens vertritt das ThEv eine hohe Christologie ohne Titel. Es fehlt der Messiastitel, „Menschensohn“ begegnet nur im Sinn von „als Mensch“ (ThEv 86). Offen ist, ob dieser Befund gegen die Inanspruchnahme christologischer Titel durch Jesus spricht oder ob sich eine fortgeschrittene Spiritualität von allen Titeln emanzipiert hat, weil im ThEv nicht Jesu Person, sondern sein Wort die entscheidende Offenbarung ist. (3) Drittens lässt das ThEv ein Wandercharismatikertum erkennen, wenn man Weisungen wie die folgende nicht „spiritualisiert: „Wenn ihr hineingeht in irgendein Land und wandert in den Gegenden und man euch aufnimmt, esst das, was man euch vorsetzen wird.“ (ThEv 14,4). 4.3 Gnostische Dialogevangelien J.Hartenstein, Die zweite Lehre. Erscheinungen des Auferstandenen als Rahmenerzählungen frühchristlicher Dialoge, 2000; J.Hartenstein/U.-K.Plisch, Der Brief des Jakobus (NHC I,2), in: Chr.Markschies/ J.Schröter, Apokryphen* 2, 2012, 1093–1106; H.-J.Klauck, Apokryphe Evangelien, 2002; Chr.Markschies, Das Evangelium nach den Ägyptern, in: Chr.Markschies/J.Schröter, Apokryphen* 1, 2012, 661–682: S.Petersen/H.-G.Bethge, Der Dialog des Erlösers (NHC III,5), in: Chr.Markschies/J.Schröter, Apokryphen* 2, 2012, 1137–1151; J.Schröter, Evangelien*, 2020; C.M.Tuckett, Nag Hammadi and the Gospel Tradition, 1986.
89 So K.Schwarz, Gospel of Thomas, 2020, 278 f. 90 Vgl. S.J.Patterson, The Gospel of Thomas and Jesus, 1993, 220–225.
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Eine Weiterentwicklung der dialogischen Abschiedsreden im JohEv sind ihrer Form nach Dialogevangelien.91 Sie führen die Jünger zu einer höheren Erkenntnis. In den joh Abschiedsreden spricht Jesus schon vor seiner Passion wie der Auferstandene, wenn er sagt: „Ich bin nicht mehr in der Welt“ (Joh 17,11). In den Dialogevangelien ist er auferstanden und vermittelt noch vor seiner Rückkehr zum Vater die wahre Gnosis. a) Der Brief des Jakobus aus dem 2./3. Jh. (auch: Apokryphon des Jakobus, NHC I/2)92 ist eine in einem Briefrahmen überlieferte Geheimlehre, die Jakobus und Petrus 550 Tage nach Jesu Auferstehung empfangen hat. Wachstumsgleichnisse aktualisieren ein Bildfeld der Jesusgleichnisse. Lasst das Reich der Himmel nicht verdorren! Denn es gleicht einem Dattelpalmenschößling, dessen Früchte um ihn herum gefallen waren. Sie ließen Blätter hervorgehen, und als diese gewachsen waren, ließen sie den Ursprung vertrocknen. So verhält es sich auch mit der Frucht, die aus ein und derselben Wurzel hervorkam. Nachdem sie (sc. die Frucht) eingepflanzt worden war, wurden durch viele eingepflanzte Früchte weitere Früchte hervorgebracht. Es wäre freilich gut, wenn es dir jetzt gelänge, diese Neugepflanzten aufzuziehen – du würdest es (sc. das Reich der Himmel) finden. (EpJak 7)
Die Gleichnisse lassen Probleme späterer Generationen erkennen. Der Elan der ersten Generation ist verdorrt (EpJak 7), eine zweite Saat und eine neue Ernte sind im Blick (EpJak 8 und 12). Zum Weg der Vollkommenen gehört die Leidensnachfolge. b) Der Dialog des Erlösers (NHC III,5)93 ist ein im 2./3. Jh. entstandenes Offenbarungsgespräch des Erlösers mit Jüngerinnen und Jüngern. E.Pagels und H.Köster rekonstruieren u. a. eine Dialogquelle, die auf eine dem ThEv nahestehende Spruchsammlung zurückgehen könnte.94 c) Das Ägypterevangelium (EvÄg)95 ist nur in wenigen Fragmenten erhalten und scheint zu den gnostisierenden Dialogevangelien zu gehören. Jesus lehrt seine Gesprächspartnerin Salome eine enkratitische (d. h. auf sexueller Enthaltsamkeit beruhende) Soteriologie: Salome fragt, woran man die Erlösung erkennt, und Jesus antwortet (Frg. 6 = Clem.Al. Strom III,92,2):
91 H.Köster, Gospels*, 1990, 173–200. Ein Dialogevangelium ist auch die ca. 150 n. Chr. entstandene Epistula Apostolorum, eine Geheimoffenbarung des Auferstandenen in Briefform. In ihr wird eine gnostische Gattung zur Bekämpfung der Gnosis eingesetzt. Vgl. C.D. G Müller, Die Epistula Apostolorum, in: Chr.Markschies/J.Schröter (Hg.), Apokryphen* 1,2, 2012, 1062–1092. 92 J.Hartenstein/U.K.Plisch, Der Brief des Jakobus (NHC I,2), in: Chr.Markschies/J.Schröter (Hg.), Apokryphen* 1,2, 2012, 1093–1106. 93 S.Petersen/H.G.Bethge, Der Dialog des Erlösers (NHC III,5), in: Chr.Markschies/J.Schröter (Hg.), Apokryphen* 1,2, 2012, 1137–1151. 94 H.Köster, Gospels*, 1990, 173–187, hält Teile des Dialogs für Vorformen der verwandten johanneischen Reden. Dagegen C.M.Tuckett, Nag Hammadi, 1986. 95 Chr.Markschies, Das Evangelium nach den Ägyptern, in: Chr.Markschies/J.Schröter (Hg.), Apokryphen* 1, 2012, 661–682.
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Wenn ihr das Gewand der Scham mit Füßen treten werdet und wenn die zwei eins werden und das Männliche mit dem Weiblichen und weder männlich noch weiblich (sein wird).
Hier begegnet eine Sehnsucht nach Transidentität jenseits der Geschlechtergrenzen, wie sie auch in 2Clem 12,2 (vgl. ThEv 22,4–7) begegnet: Denn der Herr selbst, als er von jemandem gefragt wurde, wann sein Reich kommen werde, sprach: Wenn die zwei eins sein werden, und das Äußere wie das Innere, und das Männliche mit dem Weiblichen, weder männlich noch weiblich.
Das EvÄg ist vermutlich in der 1.Hälfte des 2. Jh. in enkratitischen Kreisen Ägyptens entstanden. Klemens von Alexandrien (um 200) zitiert es mehrfach und deutet seine Logien ethisch allegorisierend um. Verwerfen konnte er es offenbar nicht.
5. Apokryphe judenchristliche Evangelien J.Frey, Die Fragmente judenchristlicher Evangelien, in: Chr.Markschies/J.Schröter (Hg.), Apokryphen* 1, 2012, 560–654; ders., Jewish-Christian Gospels, in: H.K.Bond (ed.), From Paul to Josephus*, 2020, 161–102; H.-J.Klauck, Apokryphe Evangelien, 2002, 53–76; J.Schröter, Evangelien*, 2020, 44–51.
Die nur in einzelnen Zitaten erhaltenen judenchristlichen Evangelien bilden neben synoptischen und gnosisnahen Evangelien eine eigene Gruppe und stehen mal der synoptischen Tradition nahe (EvNaz), mal den gnostischen Traditionen (EvHebr). Sie enthalten eine humane Ethik: Das Hebräerevangelium betont Bruderliebe (EvHebr 4), das Nazoräer evangelium soziale Verpflichtungen von Reichen und Armen (EvNaz 4 und 10), das Ebionäerevangelium enthält Opferkritik mit vegetarischer Tendenz (EvEb 6). Als judenchristliche Evangelien sind sie durch ihre Zuschreibung an Hebräer, Nazoräer und Ebionäer erkennbar. Die Nachricht über ein einziges hebräisches Urevangelium bei Papias hat die Zuordnung solcher Fragmente zu einem einzigen Evangelium motiviert. Die Exegese unterscheidet jedoch heute zumindest zwei, vielleicht sogar drei judenchristliche Evangelien: 1. Das „Evangelium der Hebräer“, das Clemens von Alexandrien, Origenes und Hieronymus für Ägypten bezeugen. 2. Ein Evangelium, das „Nazoräer“ im syrischen Beröa (= Aleppo) benutzten. Falls Zitate daraus zum EvHebr gehören, wären nur zwei judenchristliche Evangelien erhalten. 3. Ein Evangelium, das die „Ebionäer“ im Ostjordanland benutzten, von dem wir durch Epiphanius wissen.
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Für drei Evangelien sprechen drei Berichte von der Taufe Jesu: In EvHebr 6 findet der Geist bei der Taufe in Jesus Ruhe, in EvEb 4 verehrt Johannes der Täufer Jesus, in EvNaz 8 lehnt Jesus die Taufe ab, da er ohne bewusste Sünde sei. Die letzte Überlieferung wäre freilich mit einer späteren Taufe wegen unbewusster Sünden vereinbar. Möglicherweise müssen wir daher die Zitate aus dem Evangelium der Nazoräer dem Hebräerevangelium zuordnen. Zweifel an der Eigenständigkeit eines Nazoräerevangeliums wurden dadurch verstärkt, dass viele ihm bisher zugeordnete Zitate als Textvarianten eines dem MtEv nahestehenden „Jüdischen Evangeliums“ erkannt wurden.96 a) Das Hebräerevangelium 97 (EvHebr) war ein Evangelium mit gnostischem Einschlag aus der 1. Hälfte des 2. Jh.s. Es ist durch Zitate von Klemens von Alexandrien und Origenes bekannt und wurde von Judenchristen in Ägypten benutzt. Seine judenchristliche Herkunft belegt sein Titel „Evangelium nach den Hebräern“ (EvHebr 1a u.ö.). Die in EvHebr 5 berichtete Erscheinung des Auferstandenen vor Jakobus setzt zudem Jakobus, den Leiter der judenchristlichen Gemeinde in Jerusalem, als Abendmahlsteilnehmer und Jünger Jesu voraus und ist eine aus 1Kor 15,7 entwickelte Personallegende über den Herrenbruder Jakobus als wichtigstem Traditionsgaranten judenchristlicher Theologie. Als aber der Herr das Leintuch dem Knecht des Priesters gegeben hatte, ging er zu Jakobus und erschien ihm. Jakobus hatte nämlich geschworen, er werde kein Brot mehr essen von der Stunde an, in der er den Kelch des Herrn getrunken hatte, bis er ihn von den Entschlafenen auferstehen sehe. Und kurz darauf sagte der Herr: ‚Bringt einen Tisch und Brot!‘ Und sogleich wird hinzugefügt: Er nahm das Brot und dankte und brach es und gab es Jakobus dem Gerechten und sprach zu ihm: ‚Mein Bruder, iss dein Brot, denn der Menschensohn ist von den Schlafenden auferstanden‘. (EvHebr 5)
Wenn im EvHebr der Heilige Geist weiblich vorgestellt wird, setzt das einen semitischen Sprachhintergrund voraus, da hebräisch „Chochma“ (= Geist) ein Femininum ist: „Sogleich ergriff mich meine Mutter, der Heilige Geist, an einem meiner Haare und trug mich weg auf den großen Berg Tabor.“ (EvHebr 2a). Die Nähe zur Gnosis zeigt der Kettenspruch über die Heilsoffenbarung, die alle Menschen zu Herrschaft und Ruhe führt. Modell für diese Ruhe als Ziel ist Jesus: Für alle Menschen gilt: „Nicht ruhen wird, wer sucht, bis dass er findet; wer aber gefunden hat, wird staunen, wer aber erstaunt ist, wird zur Herrschaft gelangen; wer aber zur Herrschaft gelangt ist, wird ruhen“ (EvHebr 1b; ähnlich POx 654/ThEv 2). Nur für Jesus gilt, was der Heilige Geist ihm bei der Taufe sagt: „Mein Sohn, in allen Propheten erwartete ich dich, dass du kämest und ich in dir ruhte. Denn du bist meine Ruhe, du bist mein erstgeborener Sohn, der du herrschest in Ewigkeit.“ (EvHebr 6; vgl. EvHebr 1) 96 W.-D.Köhler, Die Rezeption des Matthäusevangeliums in der Zeit vor Irenäus, 1988, 268–302. Vgl. J.Frey, Die Textvarianten nach dem „Jüdischen Evangelium“, in: Chr.Markschies/J.Schröter (Hg.), Apokryphen*, 1, 2012, 655–660. 97 Vgl. J.Frey, Die Fragmente des Hebräerevangeliums, in: Chr.Markschies/J.Schröter (Hg.), Apokryphen*, 1, 2012, 593–606.
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Worte von der Bruderliebe bezeugen eine humane Ethik, die den emotionalen Aspekt des Handelns betont: Freude basiert auf Liebe, Traurigkeit auf Lieblosigkeit, „… wie wir auch im hebräischen Evangelium lesen, dass der Herr zu den Jüngern sagte: ‚Und freut euch niemals, es sei denn, wenn ihr euren Bruder in Liebe anseht‘. (EvHebr 4) Und in dem Evangelium, das die Nazaräer nach den Hebräern zu lesen sich gewöhnt haben, wird unter die größten Verbrechen gezählt, ‚wer seines Bruders Geist betrübt hat.‘ (EvHebr 7)
b) Das Nazoräerevangelium 98 (EvNaz) in aramäischer oder syrischer Sprache wurde seit dem Mittelalter nach Judenchristen im syrischen Beröa (Aleppo), den Nazoräern, genannt.99 Es existierte schon im 2. Jh., da Hegesipp es (um 180) kannte. Erhalten sind zehn Zitate in antiken Zeugnissen, dazu 15 Zitate im Mittelalter. In ihm tritt die humane Ethik des Judenchristentums hervor. Möglicherweise gehören alle diese Überlieferungen zum Hebräerevangelium. Ȥ Im Gleichnis von den Talenten (EvNaz 1; Mt 25,14–30) wird nur der bestraft, der sein Vermögen mit Dirnen und Flötenspielerinnen verprasst hat. Ȥ Der Mann mit der verdorrten Hand (EvNaz 4; Mt 12,9–13) bittet um Heilung, um seinen Beruf als Maurer ausüben zu können, damit er nicht betteln muss. Der Sabbatbruch wird sozial motiviert. Armen wird zugemutet, dass sie sich zur Arbeit motivieren. Ȥ Von zwei Reichen beteuert einer, er habe Gesetz und Propheten erfüllt, wird aber dadurch widerlegt, dass er die Armen nicht unterstützt. (EvNaz 10 vgl. Mt 19,16–26). Ȥ Man muss Sündern siebenmal siebzigmal verzeihen (EvNaz 9; Mt 18,21f), denn auch die mit dem heiligen Geit gesalbten Propheten haben mit Worten gesündigt. Der ethische Charakter des EvNaz führt nicht zur Selbstgerechtigkeit.
c) Das Ebionäerevangelium 100 (EvEb) wird durch Irenäus (um 180) bezeugt, sieben Fragmente sind im Panarium des Epiphanius von Salamis erhalten. Das in griechischer Sprache verfasste Evangelium der Ebionäer, die im Ostjordanland und angrenzenden Gebieten beheimatet waren, hat folgende Besonderheiten: Ȥ Die Ablehnung der Jungfrauengeburt: Nach Epiphanius hat des Ebionäerevangelium die Vorgeschichte gestrichen, es beginnt mit dem Auftreten des Täufers und der Taufe Jesu, durch die er zum Sohn Gottes wurde (EvEb 2a; 4). 98 Zählung und Übersetzung der Zitate des EvNaz nach J.Frey, Die Fragmente des Nazoräerevangeliums, in: Chr.Markschies/J.Schröter (Hg.), Apokryphen*, Bd 1, 623–654. 99 Anstatt des im Mittelalter belegten Namens „Nazoräerevangelium“ nennen die Kirchenväter es „das syrische Evangelium“ (Hegesipp bei Eus h.e. 4,22,8), „das Evangelium, das unter den Juden in hebräischer Sprache verbreitet ist“ (Eus Theoph 4,12). Hieronymus identifiziert es mit dem Hebräerevangelium. 100 Vgl. J.Frey, Die Fragmente des Ebionäerevangeliums, in: Chr.Markschies/J.Schröter (Hg.), Apokryphen*, Bd 1, 606–622.
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Ȥ Der Vegetarismus: Die Ebionäer praktizierten Speiseaskese und schrieben auch dem Täufer und Jesus eine Ablehnung von Fleischgenuss zu. Der Täufer isst statt Heuschrecken (Mt 3,4) wilden Honig, „dessen Geschmack der des Manna war, wie Kuchen in Öl“ (EvEb 3). Als die Jünger fragen, wo sie das Passa lamm zubereiten sollen, erhalten sie die Antwort: „Begehre ich etwa, an diesem Passa Fleisch mit euch zu essen?“ (EvEb 7) Ȥ Die Ablehnung des Opferkults: Als Zielsetzung der Sendung Jesu überliefert das EbEv: „Ich bin gekommen, die Opfer abzuschaffen, und wenn ihr nicht aufhört zu opfern, wird der Zorn nicht von euch weichen.“ (EvEb 6)
Exkurs: Evangeliennovellen von Geburt und Kindheit In der Antike wissen wir meist wenig von der Kindheit öffentlich hervortretender Personen außer den Namen der Eltern, Herkunftsort und Beruf. So auch bei Jesus. Hier konnte sich die legendarische Phantasie frei entfalten. Schon die Kindheitsgeschichten bei Mt und Lk entfernen sich weit voneinander, noch mehr aber die Kindheitsevangelien von den kanonischen Evangelien, obwohl sie diese kannten. a) Das Protevangelium des Jakobus 101 aus der zweiten Hälfte des 2. Jh. beginnt mit Marias Geburt. Josef heiratet sie in zweiter Ehe, die Brüder Jesu sind Söhne aus der ersten Ehe. Bei der Geburt Jesu in einer Höhle steht die Natur still. Zweifel an der Jungfräulichkeit Marias werden unterdrückt: Als die Amme sie überprüfen will, verzehrt Feuer ihre Hand. Sie wird nur gerettet, nachdem sie ihre „Schuld“ bekannt hat (Kap. 20). Das Protevangelium des Jakobus wurde in orthodoxen Kirchen geschätzt, die westliche Kirche hatte Vorbehalte, u. a. weil sie glaubten, dass die Geschwister Jesu seine Vettern und Cousinen waren. b) Das Kindheitsevangelium des Thomas 102 bringt Anekdoten vom fünf- bis zwölfjährigen Jesus: Er lässt einen Jungen verdorren, über den er sich geärgert hat (Kap. 3), einen anderen tot umfallen, weil er von ihm gestoßen wurde (Kap. 4). Als Josef ihn deswegen kritisiert, lässt er die Jungen, die ihn verpetzt haben, erblinden. Dagegen erweckt derselbe Jesus, nachdem er reif geworden ist, einen Jungen, der beim Sturz vom Dach ums Leben gekommen ist, zu neuem Leben (Kap. 9), und heilt einen Mann, der sich durch eine Axt verletzt hat (Kap. 10). Die Beschreibung kindlicher Wutausbrüche kann als realitätsgetreue Darstellung verstanden werden, die theologisch fruchtbar gemacht wird. Dass seine Verwünschungen Wirklichkeit werden, zeigt seine Partizipation an göttlicher Schöpferkraft, wie sie auch in dem programmatischen Eröffnungswunder des Evangeliums sichtbar wird: Dort macht Jesus am Sabbat Spatzen aus Lehm, als er dafür kritisiert wird, lässt er sie davonfliegen (Kap 2). Will das Evangelium sagen: Die Macht der Worte, die der Junge destruktiv einsetzt, kann auch heilsam wirken, ein problematisches Kind kann ein Heiliger werden? Schon die synoptischen Evangelien gehen bei den Kindheitsgeschichten weit auseinander, in den Kindheitsevangelien aber entfernen sie sich noch mehr voneinander. Das „Protevangelium des Jakobus“ umgibt
101 Vgl. S.Pellegrini, Das Protevangelium des Jakobus, in: Chr.Markschies/J.Schröter (Hg.), Apokryphen*, Bd 2, 903–929. Vgl. H.J.Klauck, Apokryphe Evangelien, 2002, 89–98; J.Schröter, Die apokryphen Evangelien, 2020, 22–51. 102 Vgl. U.U.Kaiser, Die Kindheitserzählung des Thomas, in: Chr.Markschies/J.Schröter (Hg.), Apokryphen*, Bd 2, 930–959 (zur Theologie der Strafwunder: S. 941). Vgl. ferner: H.J.Klauck, Apokryphe Evangelien, 2002, 99–105; J.Schröter, Evangelien*, 2020, 31–35.
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Christliche Quellen über Jesus
Maria mit einem Heiligenschein, das „Evangelium des Thomas“ stellt Jesus als gefährliches Wunderkind dar, vor dem seine Zeitgenossen sich fürchten und sagen: „Jedes Wort, das er sagte, ob gut oder böse, war sogleich Tat und wurde zum Wunder.“ (Kap 5).
7. Hermeneutische Reflexion Unser Überblick über die christlichen Quellen zu Jesus von Nazareth zeigt: Nicht nur nichtchristliche Zeugnisse über Jesus sind sehr mannigfaltig, sondern auch die christlichen Quellen. Wir können diese Mannigfaltigkeit jedoch erklären, da schon in den ältesten Quellen Jesusbilder dazu dienen, verschiedene theologische Ideen zum Ausdruck zu bringen, soziale Identität zu begründen und Erinnerungsbilder an Jesus zu gestalten. Viele Fragmente lassen vermuten, dass wir nur einen Ausschnitt aus den im 2. Jh. n. Chr. kursierenden Jesusüberlieferungen kennen. Das Jesusbild judenchristlicher Strömungen ging weitgehend verloren, ist aber in umso wertvolleren Fragmenten noch zugänglich. Nur in wenigen Fällen blieben Jesustraditionen der vom Mehrheitschristentum abweichender Gruppen so gut erhalten wie beim ThEv. An manchen zentralen Punkten zeichnet sich eine größere Variabilität der Jesusbilder ab, etwa bei der Frage, ob Jesus apokalyptische Vorstellungen einer futurischen Eschatologie teilte (Synoptiker) oder eine präsentische Eschatologie ins Zentrum stellte (JohEv, ThEv). Beides könnte in Jesu Verkündigung angelegt sein. Zeit-, lokal- und religionsgeschichtliche Überlegungen lassen die synoptischen Quellen oft als historisch verlässlicher erscheinen. Bei der historischen Annäherung an Jesus bleiben sie schon aufgrund ihrer Materialfülle entscheidend. Umso wichtiger ist, ihren Auswahlcharakter im Bewusstsein zu behalten und andere Quellen als Korrektiv einzubeziehen. Im Folgenden geben wir einen Überblick über die Mannigfaltigkeit dieser Überlieferungen:
Synoptische Quellen Logienquelle (Q) Markus-Ev Matthäus-Ev Lukas-Ev Pap. Egerton 2; POx 840; PetrusEv. Gnosisnahe Evv Johannes-Ev Thomas-Ev Dialogevangelien Judenchristl. Evv Hebräer-Ev Ebionäer-Ev Nazaräer-Ev
Ort
Zeit
Abhängigkeit
Jesusbild
Palästina Syrien/Rom Syrien Ägäis/Rom
45/65 +/−70 80–110 90–110
Q u. Mk sind unabhängig, ebenso MtS u. LkS
Jesus als eschatologischer Prediger
Syrien/Ephesus Ostsyrien
120/30 90–150
Unabhängig? Von synopt. Evv abhängig?
Jesus als esoterischer Offenbarer
Ägypten Südsyrien Syrien
2. Jh. 2. Jh. 2. Jh.
Synopt. und gnostische Traditionen
Jesus als ethischer Lehrer
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Erster Teil: Die Quellen und ihre Auswertung
Nicht zu vergessen ist: Unsere Quellen sind Verschriftlichung mündlicher Jesusüberlieferungen. Was primär mündlich tradiert worden war, war auch nach seiner Verschriftlichung von parallelen mündlichen Traditionen umgeben und wurde durch Verlesung der Schriften sekundär erneut mündliche Überlieferung. Wir müssen damit rechnen, dass Jesusüberlieferungen viele „Kanäle“ benutzte, die wir nicht mehr unterscheiden können, die aber durch ihre Mannigfaltigkeit das Vertrauen stärken, dass sich Erinnerungen an Jesus erhalten haben. Jesuserinnerungen waren noch lange Teil des kommunikativen Gedächtnisses und wurden durch Verschriftlichung erst nach und nach Teil des kollektiven Gedächtnisses. Ihre Kanonisierung diente sowohl der „Varianzbändigung“, sofern alternative Jesusbilder ausgeschieden wurden, als auch der Varianzsicherung: Evangelien mit verschiedenen Jesusbildern wurden kanonische Schriften. Wir müssen nun weiter fragen, ob wir aus ihnen historisch zuverlässige Aussagen filtern können. Dieser Frage wendet sich das folgende Kapitel zu.
§ 4 Die Auswertung der Quellen: Skepsis und Zuversicht
D.C.Allison, Constructing Jesus. Memory, Imagination, and History, 2010; E.M.Boring, Sayings of the Risen Christ. Christian Prophecy in the Synoptic Tradition, 1982; A.le Donne, The Historiographical Jesus. Memory, Typology, and the Son of David, 2009; ders., Historical Jesus. What Can We Know and How Can We Know It? 2011; F.Hahn, Methodologische Überlegungen zur Rückfrage nach Jesus, in: Rückfrage nach Jesus, 1984, 29–77; Chr.Keith/A.Le Donne (Hg.), Jesus, Criteria, and the Demise of Authenticity, 2012; S.E.Porter, The Cri�teria for Authenticity in Jesus Research, 2000; H.Schürmann, Kritische Jesuserkenntnis. Zur kritischen Hand�habung des „Unähnlichkeitskriteriums“, in: ders., Jesus – Gestalt und Geheimnis, 1994, 420–434; G.Theißen/ D.Winter, Die Kriterienfrage in der Jesusforschung. Vom Differenz- zum Plausibilitätskriterium, 1997 = The Quest for the Plausible Jesus, 2002; G.Theißen, Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den synoptischen Evangelien, 1989; ders., Zwischen Skepsis und Zuversicht. Über die Instabilität der Jesusforschung, in: E.Schmidt (Hg.), Jesus – Quo vadis? Entwicklungen und Perspektiven der aktuellen Jesusforschung, 2018, 13–60.
Religionskritiker wollen manchmal durch historische Skepsis den Glauben widerlegen, Theologen ihre Deutungshoheit über Jesus sichern und bestimmen, was Jesus gesagt und gemeint hat. Beide müssen der Neigung widerstehen, für unhistorisch zu erklären, was ihnen nicht passt. Der erinnerungshistorische Ansatz nimmt diese Bedenken in sein Konzept auf. Nach ihm ist Erinnerung das, was eine Erinnerungsgemeinschaft braucht. Deshalb fragt er: Können wir in „Erinnerungsbildern“ von Jesus methodisch kontrolliert seine wirkungsauthentischen Spuren finden – auch unabhängig von unseren Erwartungen und Wünschen?
1. Vierzehn Argumente historischer Skepsis Im Folgenden diskutieren wir skeptische Einwände gegen die Jesusforschung, Kriterien für ihr methodisches Vorgehen und ihre Notwendigkeit und Grenzen. 1.1 Das „Schweigen“ nichtchristlicher Quellen
Nichtchristliche Quellen schweigen dort von Jesus, wo man eine Notiz über ihn erwartet. Philo (†42/50 n. Chr.) charakterisiert Pilatus durch „Hinrichtungen ohne Gerichtsverfahren sowie seine unaufhörliche und unerträgliche Grausamkeit“ (LegGai 302), erwähnt aber nicht die Hinrichtung Jesu. Justus von Tiberias, ein Zeitgenosse des Josephus, erwähnt in seiner verschollenen „Geschichte des jüdischen Krieges“ nach Photius von Konstantinopel (ca. 820–886 n. Chr.) Jesus nicht (Photius cod. 13).
98
Erster Teil: Die Quellen und ihre Auswertung
a) Antike Quellen schweigen über viele Personen, deren Geschichtlichkeit nicht bezweifelt wird: Über Johannes den Täufer berichten weder Philo noch die Rabbinen. Paulus, die Didache, der Barnabasbrief, die Klemensbriefe, der Hirt des Hermas erwähnen ihn nicht. Kein nichtchristlicher Autor nennt Paulus mit Namen; anonym bezieht sich vielleicht Lukan von Samosata auf ihn.1 Der Lehrer der Gerechtigkeit ist nur aus den Qumranschriften bekannt. Obwohl Josephus und Philo über die von ihm geformten Essener berichten, findet sich bei ihnen keine Spur von ihm. Der Gründer der pharisäischen Schule der Hilleliten, Rabbi Hillel, wird von Josephus, der sich zum Pharisäismus bekannte, nie genannt. Bar Kochba, der Führer des jüdischen Aufstands 132–135 n. Chr., wird im Bericht des Dio Cassius über diesen Aufstand nicht erwähnt. b) Erwähnungen Jesu bei antiken Historikern widerlegen Zweifel an der Geschichtlichkeit Jesu. Die Zeugnisse bei Josephus, Tacitus und bei Mara bar Sarapion (vgl. § 2) zeigen, dass sie von der Geschichtlichkeit Jesu überzeugt waren. Sie bringen unabhängig voneinander Nachrichten über Jesus aus verschiedener Perspektive: Josephus als jüdischer Historiker, Tacitus als römischer Staatsmann und Historiker, Mara bar Sarapion als syrischer Philosoph. c) Die Jesusüberlieferung berichtet neben Jesus auch von Gestalten, die in anderen Quellen gut bezeugt sind und indirekt für die historische Auswertbarkeit der Jesusüberlieferung sprechen. Josephus berichtet von Johannes dem Täufer, von Herodes Antipas und Pontius Pilatus, Philo und Tacitus erwähnen Pilatus (LegGai 299–305; Tac Ann 15,44), Dio Cassius weiß von Herodes Antipas (55,27,6). Von Antipas und Pilatus sind zudem Münzen, von Pilatus ist eine Inschrift erhalten. Die Vernetzung der Jesuserinnerungen mit diesen Zeitgenossen spricht für deren historische Auswertbarkeit. 1.2 Der zeitliche Abstand christlicher Quellen
Die Synoptiker wurden ca. 40–70 Jahre nach Jesu Tod verfasst. Wegen dieses zeitlichen Abstands muss man mit Veränderungen in den Erinnerungen seiner Anhänger rechnen. So bejahen alle Evangelien die Mission von Nichtjuden, die erst nach Jesu Tod entstand. Alle verehren Jesus als göttliches Wesen, während Jesus selbst seinen Abstand von Gott betonte (Mk 10,18). a) In der Antike ist der zeitliche Abstand zwischen Ereignis und Quellen oft sehr groß. Die ältesten Quellen über Alexander den Großen sind ca. 300–400 Jahre nach ihm entstanden,2 basieren aber auf Quellen von Augenzeugen. Trotz der großen Zeitdifferenz zweifelt niemand daran, dass er 356–323 v. Chr. gelebt hat. Bei Jesus ist dieser Abstand geringer. Die
1
2
Der (umstrittene) anonyme Hinweis auf Paulus bei Lukian von Samosata (ca. 120–180/200 n. Chr.) steht in: Lukian, de morte Peregrini 13 = P.Pilhofer u. a., Der Tod des Peregrinus, 2005, 25, mit Anm. 47, S. 104–106. Vgl. E.Badian, Art. Alexanderhistoriker, DNP 1, 1996, 453 f.
Die Auswertung der Quellen: Skepsis und Zuversicht
99
Paulusbriefe wurden 20–30 Jahre nach Jesu Tod geschrieben, die Logienquelle entstand vor dem jüdischen Krieg 66–70 n. Chr., das MkEv kurz nach 70 n. Chr. b) Einzelne Traditionen und Traditionskomplexe lassen sich vor die Entstehungszeit der synoptischen Evangelien zurückdatieren. Die Passionsgeschichte wurde in der ersten Generation geformt. Dafür spricht die Schutzanonymität noch lebender Personen: Obwohl Personen sonst in ihr namentlich genannt werden, bleiben die zwei, die mit der „Polizei“ in Konflikt geraten waren, anonym: Der eine zog bei der Inhaftierung Jesu das Schwert, der andere floh nach einem Handgemenge nackt (Mk 14,47.51f).3 Die „synoptische Apokalypse“ (Mk 13) könnte 39/40 n. Chr. in der Caligula-Krise entstanden sein, falls der in ihr angekündigte „Gräuel der Verwüstung“ die damals drohende Entweihung des Jerusalemer Tempels durch den Kaiserkult meint.4 Die Logienquelle spiegelt die überwundene Caligulakrise. Caligula ließ sich als Gottheit verehren, eben das weist Jesus als satanische Versuchung zurück.5 Da die Logienquelle Jesu Wiederkunft als Einbruch in eine friedliche Welt erwartet (QLk 17,26–37), ist sie vor dem Krieg 66–70 entstanden. c) Einzelne Traditionen (und Traditionskomplexe) enthalten so viel Lokalkolorit, dass sie in Palästina entstanden sind. Eine „Taufe in der Wüste“ (Mk 1,4) ist nur für den vorstellbar, der weiß, dass der Jordan vor Eintritt ins Tote Meer durch eine Wüste fließt. Die Geschichte von der Syrophönikerin in Mk 7,24–30 spiegelt Spannungen im galiläisch-tyrischen Grenzgebiet: Juden lieferten das „Brot“ für die tyrischen Städte und ihre heidnischen Bewohner. Das erklärt Jesu Wort, man solle das Brot nicht Hunden vorwerfen.6 Das Rohr“ in Mt 11,7– 9 spielt auf Münzen des Herodes Antipas an, auf denen eine Pflanze abgebildet ist, wo sonst der Herrscher zu sehen war. Die Pflanze kann als Rohr interpretiert werden, zumal dann, wenn man den Herrscher damit als „schwankendes Rohr“ verspotten will. Diese Münzen kursierten nur im Herrschaftsbereich des Antipas, fast nur hier verstand man die Pointe von Mt 11,7–9.7 d) Milieuauthentische Elemente sprechen für die Historizität der Jesusüberlieferung. Jesus tritt mit seiner Botschaft von der Gottesherrschaft in Galiläa auf, wo auch Judas Galilaios eine radikaltheokratische Botschaft verbreitet hatte. Eben deswegen musste sich Jesus von dessen Steuerverweigerungskampagne abheben und schickte seine Jünger bewusst nur zu „Kindern des Friedens“ (Lk 10,5f). Steuerverweigerung war eine Kriegserklärung, Jesus aber wollte den Frieden bewahren. e) Die Quellen enthalten kontingente Erinnerungsspuren des historischen Jesus. Überlieferungen sind umso historischer, je mehr konkrete Elemente in ihnen „zufällig“ und ohne Intention sind, z. B. die Herkunft Jesu aus dem unbedeutenden Ort „Nazareth“, die Namen seiner Geschwister (Mk 6,3), sein Beruf als Bauhandwerker, die Weherufe über Chorazim 3 4 5 6 7
G.Theißen, Lokalkolorit*, 1989, 177–211. So schon G.Hölscher, Der Ursprung der Apokalypse Mrk 13, ThBl 12 (1933) 193–202; G.Theißen, Lokalkolorit, 133–176. G.Theißen, Lokalkolorit*, 212–245. G.Theißen, Lokalkolorit*, 63–85. G.Theißen, Lokalkolorit*, 26–44.
100
Erster Teil: Die Quellen und ihre Auswertung
und Bethsaida, Orte, von denen man sonst wenig hört (Mt 11,20–24). Kriminologen wissen: Je konkreter Aussagen sind, umso belastbarer sind sie. 1.3 Der „aramäische Jesus“ oder der sprachliche Abstand
Durch den Übergang vom Aramäischen zum Griechischen wurde die Jesusüberlieferung so verformt, dass wir ihren ursprünglichen Sinn nicht mehr erkennen können. Papias berichtet im 2. Jh., dass „Matthäus die logia Jesu in hebräischer Sprache schrieb und jeder sie übersetzte, wie er es konnte“ (Eus h.e. 3,39,16). Zwar blieb die Suche nach einem aramäischen Urevangelium ergebnislos, aber Jesu Worte waren ursprünglich in Aramäisch formuliert. War der aramäische Jesus vielleicht ein ganz anderer als der Griechisch sprechende Jesus? a) Der Übergang vom Aramäischen zum Griechischen war wegen der Zweisprachigkeit in Palästina und Syrien kein Bruch. Die „Greek hypothesis“ (S.E.Porter) sagt:8 In Palästina sprach man Aramäisch, Hebräisch und auch ein wenig Griechisch. In Jerusalem gab es griechische Inschriften, in Qumran wurden griechische Manuskripte gefunden. Zwei Jünger hatten griechische Namen: Andreas und Philippus. Levi musste als Zöllner für seinen Beruf etwas Griechisch verstehen. Jesuserzählungen von Begegnungen mit Nicht-Juden z. B. im Prozess vor Pilatus wissen nichts von Übersetzern. Genauso wichtig ist: Nach Ostern sind griechisch sprechende Christen in Jerusalem bezeugt (Apg 6,1–6). Oft meint man, die „Hebräer“ und „Hellenisten“ hätten aufgrund ihrer Sprache getrennte Gemeinden gebildet, die von den zwölf Jüngern bzw. sieben Diakonen geleitet worden. Doch die Zwölf leiteten ganz Israel, die Sieben die Jerusalemer Ortsgemeinde so, wie jüdische Orte damals oft durch sieben Vertreter geleitet wurden. Alle gehörten zur selben Gemeinde und konnten sich verständigen. Auch beherrschten die Hellenisten Aramäisch,9 sonst hätten sie nach ihrer Vertreibung aus Jerusalem nicht in aramäischen Sprachgebieten wie Samarien missionieren können. Die Worte Jesu wurden daher schon früh zweisprachig überliefert. b) Die von uns kontrollierbaren Übersetzungen enthalten Sinnverschiebungen, aber selten totale Sinnentstellungen. Das AT wurde in der Septuaginta vom Hebräischen ins Griechische übersetzt und wurde in der Lxx psychologisch introspektiver, theologisch messianischer. Dennoch blieb der Sinn des hebräischen Textes meist erkennbar. Das NT wurde später in der Peschitta in eine (ostsyrische) Variante des Aramäischen übersetzt, die zwar nicht mit der aramäischen Vorstufe der Worte Jesu identisch ist, aber zeigt, dass der Übergang vom Griechischen zum Aramäischen nicht zu sinnentstellenden Änderungen führen muss.
8 9
S.Porter, The Role of Greek Language Criteria in Historical Jesus Research, in: T.Holmén/S.E.Porter, Handbook for the Study of the Historical Jesus, 1, 2011, 361–404. G.Theißen, Hellenisten und Hebräer (Apg 6,1–6). Gab es eine Spaltung der Urgemeinde? in: H. Lichtenberger (Hg.), Geschichte –Tradition – Reflexion, Bd III., 1996, 323–343.
Die Auswertung der Quellen: Skepsis und Zuversicht
101
c) Es gibt eine Chance, durch Rekurs auf das Aramäische Jesus näher zu kommen.10 J. Wellhausen brachte 1911 Beispiele dafür, dass Varianten in der Logienüberlieferung auf optische Lesefehler einer aramäischen Vorlage zurückgehen könnten.11 In Mt 23,26 heißt es in einem Weheruf über Schriftgelehrte und Pharisäer: „Ihr reinigt das Äußere des Bechers …“, in Lk 11,41 dagegen: „Gebt doch, was drinnen ist, als Almosen“, als sei ein aramäisches dakkau („reinigt“) mit zakkau („gebt Almosen“) optisch oder akustisch verwechselt worden. Der Nachweis eines aramäischen Hintergrunds spielt als Alterskriterium bei der Rekonstruktion der Jesusüberlieferung eine berechtigte Rolle, ist aber kein sicheres Authentizitätskriterium. In einem zweisprachigen Milieu können Anpassungen an das Aramäische sekundär sein. 1.4 Das minimalistische Jesusbild der Paulusbriefe
Die Paulusbriefe enthalten als älteste urchristliche Schriften so wenige Jesusüberlieferungen, dass die meisten Jesusüberlieferungen zur Zeit des Paulus noch gar nicht existierten. Wenn die Jesusüberlieferung in den Evangelien reichhaltiger ist als bei Paulus, könnte sie in großen Teilen erst nach Paulus entstanden sein. Die Paulusbriefe wurden ca. 20 Jahre nach Jesu Tod geschrieben, die synoptischen Evangelien erst 40 bis 70 Jahre nach seinem Tod. a) Paulus bezeugt die Existenz einiger synoptischer Jesustraditionen für die 40/50er Jahre. Er beruft sich nur bei umstrittenen Fragen explizit auf die Autorität Jesu. So beantwortet er mit Jesu Wort zur Ehe eine umstrittene Frage zur Ehescheidung, mit Jesu Wort zur Unterhaltsfrage Kritik an seinem Erwerbsleben und regelt mit Jesu Einsetzungsworten einen Streit beim Abendmahl (1Kor 7,10f; 9,14; 11,23–26). In Konflikten beruft er sich explizit auf Jesus als Autorität. Ethische Jesusüberlieferungen, die in sich einleuchten, zitiert er dagegen anonym: „Segnet, die euch verfolgen, segnet und flucht nicht“ (Röm 12,14 vgl. Lk 6,27–36), ferner das Verbot des Richtens: „Darum lasst uns nicht mehr einer den anderen richten“ (Röm 14,13 vgl. Lk 6,37–42). Solch eine „verdeckte Authentizität“12 begegnet auch in Didache 1,3b–5, wo Jesu Gebote der Feindesliebe und des Gewaltverzichts anonym zitiert werden, obwohl sie in der Regel als authentische Jesusworte gelten.
10 G.Schwarz, ‚Und Jesus sprach‘. Untersuchungen zur aramäischen Urgestalt der Worte Jesu, 1985, wollte durch Rekurs auf das Aramäische den Zugang zu Jesus sichern. Er deutet z. B. S. 7f das Abba im Munde Jesu wie einige Kirchenväter als frühkindliches Lallwort. Aber wenn im Traktat bGittin 56a von „Abba Sikara, dem Banditenhauptmann von Jerusalem“ die Rede ist, ist Abba gewiss kein Ausdruck frühkindlichen Vertrauens. Vgl. auch G.Schwarz, Worte des Rabbi Jesu, 2003; M.Black, Die Muttersprache Jesu. Das Aramäische der Evangelien und der Apostelgeschichte, 1982. 11 J.Wellhausen, Einleitung in die drei ersten Evangelien, 21911, 26 ff. 12 G.Theißen, Authentische Jesusüberlieferung. Über verdeckte, milieubezogene und anekdotische Authentizität, in: A.Kreutzer/Ch.Niemand (Hg.), Authentizität – Modewort, Leitbild, Konzept, 2016, 181–200.
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Erster Teil: Die Quellen und ihre Auswertung
b) Alle konkreten Angaben des Paulus über Jesus werden vom Mk-Evangelium (um 70 n. Chr.) bestätigt, so dass wir einige übereinstimmende „Erinnerungsspuren“ Jesu in den echten Paulusbriefen und im MkEv feststellen können: Ȥ Jesus gilt sowohl bei Paulus wie im MkEv als Davidsohn (Röm 1,3/Mk 10,47f). Ȥ Er hat Brüder (1Kor 9,5/Mk 6,3), u. a. Jakobus (Gal 1,19; 1Kor 15,7/Mk 6,3). Ȥ Paulus und Mk überliefern ein Jesuswort gegen die Ehescheidung, das strenger als die jüdische Tradition urteilt (1Kor 7,10f/Mk 10,10–12). Ȥ Beide sind überzeugt, dass Jesus alle Speisen als rein ansah und darin liberaler als die jüdische Tradition war (Röm 14,14/Mk 7,15). Ȥ Beide wissen, dass er seine Jünger ohne Vorrat aussandte (1Kor 9,14/Mk 6,8f). Ȥ In beiden Quellen ist Petrus verheiratet (1Kor 9,5/Mk 1,29–31). Ȥ In beiden Quellen deutet Jesus beim Abschiedsmahl seinen Tod (1Kor 11,23–26/Mk 14,22–25). Ȥ In beiden Quellen wurde er verraten und misshandelt (Röm 15,3/Mk 15,15.19), gekreuzigt und begraben (Gal 3,1/Mk 15,24; 1Kor 15,3/Mk 15,42–47). Ȥ Juden und Römer sind an seinem Tod beteiligt (1Thess 2,14f/Mk 14,53–65; 1Kor 2,8/Mk 15,1–27). Ȥ Bei beiden erschien er nach seinem Tod Petrus und den Zwölfen (1Kor 15,3/Mk 16,7).
Diese „Erinnerungsspuren“ lassen ein „Erinnerungsmuster“ erkennen, bei dem Paulus und die Synoptiker übereinstimmen: Jesus verband Thoraverschärfung (bei Ehefragen) mit Thora entschärfung (bei Reinheitsfragen). c) Die „Konkurrenz“ zu anderen mit Jesus verbundenen Aposteln fördert bei Paulus eine Konzentration auf Kreuz und Auferstehung. Dass Paulus seinen Glauben auf den „Erhöhten stützt, ist biographisch bedingt: Christus ist ihm als Erhöhter erschienen. Paulus muss sein in dieser Erscheinung begründetes Apostolat gegenüber Aposteln verteidigen, die sich auf ihre Beziehung zum irdischen Jesus berufen können. Er wertet auch deshalb den Rückgriff auf den irdischen Jesus ab, beansprucht ihn aber in anderer Weise für sich: Auch er habe Christus „nach dem Fleisch“ (d. h. in irdischer Weise) gekannt (2Kor 5,16). Gemeint ist: Paulus hat sich von seiner Feindschaft gegen den irdischen Jesus zum Glauben an den erhöhten Christus bekehrt („fleischlich“ meint „Streit“: 1Kor 3,3). Auch Paulus wusste vom irdischen Jesus, lehnte ihn aber vor seiner Bekehrung ab. Der durch Kreuz und Auferstehung erhöhte Christus ist der eigentliche Gegenstand seines Glaubens und seiner Predigt. d) Aufgrund seines monotheistischen Glaubens konnte Paulus Jesus nur als himmlisches Wesen verehren, das seinen Status allein Gott verdankt, nicht aber als Menschen, dessen göttlicher Status durch seine Taten und Worte begründet wird. Der jüdische Monotheismus toleriert neben Gott himmlische Gestalten wie die Weisheit oder den Logos, nicht aber irdische Gestalten, die sich zu Gott machen. Deswegen protestieren Juden gegen die Selbstapotheose Jesu in Joh 5,18; 10,33. Der Glaube des Paulus konzentriert sich deshalb auf Kreuz und Auferstehung: Einen Toten kann allein Gott erhöhen. Jede Selbstapotheose ist hier ausgeschlossen. Überlieferungen, die schon den Irdischen mit göttlicher Aura umgeben, widersprachen der monotheistischen Überzeugung des Paulus. Zudem glaubte er, Jesus habe mit seiner Inkarnation auf seinen göttlichen Status verzichtet (Phil 2,5–11).
Die Auswertung der Quellen: Skepsis und Zuversicht
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d) Form- und sozialgeschichtliche Gründe erklären das generelle Zurücktreten der Jesusüberlieferung in der urchristlichen Briefliteratur. Die Johannesbriefe setzen das JohEv voraus und sind mit dessen Liebesgebot vertraut, ohne es als Wort Jesu zu zitieren (1Joh 4,7– 21). Aus ihrem Schweigen über Jesus kann man nicht schließen, dass sie keine joh Jesusworte kannten, eben so wenig aus dem „Schweigen“ pln Briefe, dass Paulus nicht mehr von Jesus wusste. Urchristliche Briefe zitieren auch deshalb selten Jesusüberlieferungen, weil die ethische Radikalität der synoptischen Überlieferung schlecht zum Leben ortsansässiger Christen passte, das sich in der Briefliteratur spiegelt. Erst im Rahmen rückblickender Evangelien wurde die radikale Jesusüberlieferung aus einer sicheren „Entfernung“ rezipiert. 1.5 Wortüberlieferungen als urchristliche Prophetie
Die Wortüberlieferung enthält urchristliche Prophetensprüche, die im Namen des Erhöhten gesprochen wurden, sich aber nicht mehr von den Worten des irdischen Jesus unterscheiden lassen. 13 Wenn Jesus seine Jünger mit dem Zuspruch aussendet: „Wer euch hört, der hört mich!“ (Lk 10,16), legitimiert er, dass sie eigene Worte als Worte Jesu ausgeben. Die Jesusanhänger sprachen im Bewusstsein, vom „Geist“ dazu bevollmächtigt zu sein. a) Urchristliche Prophetensprüche unterscheiden sich von den Worten Jesu durch ein Ego-divinum. Dieses göttliche Ich findet sich oft in Prophetensprüchen wie Am 3,2: „Aus allen Geschlechtern auf Erden habe ich allein euch erkannt, darum will ich auch euch heimsuchen in all eurer Missetat.“ Dieses prophetische „Ich“ begegnet sehr selten in der synoptischen Tradition, nur in einem AT-Zitat. „Siehe, ich sende meinen Boten vor dir her“ (Mt 11,10 = Ex 23,20/Mal 3,1), im Wort der Sophia: „Ich werde Propheten und Apostel zu ihnen senden“ (Lk 11,49/Mt 23,34) und im Zuspruch: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen“ (Mt 18,20). Gerade dieses Ego-divinum aber war für die urchristliche Prophetie charakteristisch: Pseudopropheten treten mit den Worten egō eimi („ich bin es“) auf (Mk 13,6). Die Sendschreiben der Apk (2–4) verwenden es: „Ich kenne deine Werke und deine Mühsal und deine Geduld“ (2,2). Montanistische Propheten sagen: „Weder Engel noch Gesandter, sondern ich der Herr, Gott Vater, bin gekommen“ (Epiphanius Pan 48,11,9). Auch für nicht-christliche (?) Propheten überliefert Kelsos diese Sprachform: „Ich bin Gott oder Gottes Kind oder göttlicher Geist. Ich bin aber gekommen, denn schon vergeht die Welt“.14 Da dieser für die urchristlichen Propheten charakteristische Ich-Stil in den Synoptikern kaum vorkommt, kann deren Einfluss in der Wortüberlieferung nicht groß gewesen sein. Er ist im Missionsbefehl des Auferstandenen in Mt 28,18–20 zu spüren: „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden …“ und 13 Diese These wird vor allem vertreten von E.M.Boring, Sayings of the Risen Christ*, 1982. Boring erklärt in: The Influence of Christian Prophecy on the Johannine Portrayal of the Paraclete and Jesus, NTS 25 (1978) 113–123, den Ich-Stil der johanneischen Offenbarungsreden mit dieser Tradition. 14 Origenes cCels VII,9.
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Erster Teil: Die Quellen und ihre Auswertung
begegnet im Zuspruch Mt 18,20: „Wo zwei oder drei in meinem Namen beisammen sind, da bin ich mitten unter ihnen“. b) Auch Menschen, die sich inspiriert wissen, unterscheiden zwischen Jesustradition und ihren eigenen Worten. So differenziert Paulus bei seinen Mahnungen zur Ehescheidung zwischen dem Wort des Herrn und seiner Meinung: „Den Verheirateten aber gebiete ich – nein, nicht ich, sondern der Herr –, dass die Frau sich nicht von ihrem Manne scheiden lassen soll. … Den andern aber sage ich, nicht der Herr: Wenn ein Bruder eine ungläubige Frau hat und es gefällt ihr, bei ihm zu wohnen, so soll er sie nicht fortschicken.“ (1Kor 7,10–12). Obwohl Paulus seine Meinung durch den Geist autorisiert weiß (1Kor 7,40), unterscheidet er sie vom Jesuswort. 1.6 Weisheitsüberlieferungen als Übertragung
Viele Sprüche der Weisheit wie die „Goldene Regel“ werden verschiedenen Menschen als Wanderüberlieferungen zugeschrieben. Auch Rabbi Hillel (um 20 v. Chr.) hat gelehrt: „Was dir nicht lieb ist, das tue auch deinem Nächsten nicht. Das ist die ganze Thora, alles andere ist nur die Erläuterung, geh und lerne sie.“ (bSchab 31a). Auch lag es nahe, das Doppelgebot der Liebe jedem großen Weisen im Judentum zuzuschreiben. Nachdem Jesus zu einem Träger außergewöhnlicher Weisheit geworden ist, zog er alle möglichen Weisheitssprüche an. a) Die Goldene Regel wird in der Jesusüberlieferung radikalisiert. Sie verlangt in ihrer negativen Form ein Unterlassen, fordert bei Jesus dagegen in ihrer positiven Form ein Handeln: „Alles, was ihr wollt, das euch die Menschen tun, so (in dieser Weise) tut auch ihnen.“ (Mt 7,12). Die positive Form bezieht sich in den Parallelen immer nur auf begrenzte Adressaten, auf Freunde, Familienangehörigen und das Verhalten des Herrschers gegenüber seinen Untergebenen. Singulär ist in der Jesusüberlieferung, dass die Goldene Regel in der Jesusüberlieferung in positiver Form alle Menschen verpflichtet. Diese Radikalisierung der Goldenen Regel geht wohl auf Jesus zurück. b) Das Doppelgebot der Liebe ist in der Jesusüberlieferung möglicherweise schon eine von Jesus übernommene Tradition, aber er modifiziert es in einzigartiger Weise: Im Schema fordert die Liebe zu Gott den Menschen mit Herz, Seele und Kraft (Dtn 6,4). Die Jesusüberlieferung fügt den „Verstand“ hinzu. Alle Variationen der Überlieferung enthalten diese Ausweitung oder weisen Spuren von ihr auf (Mt 22,37; Mk 12,20.33; Lk 10,27).
Die Auswertung der Quellen: Skepsis und Zuversicht
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1.7 Wunderüberlieferungen als Wundersucht
In der Erzählüberlieferung hat das Wunder die geschichtliche Erinnerung überwuchert. Nach verbreiteter Vorstellung hat der „wild wuchernde Dschungel antiker Mirakelfrömmigkeit“ auch das Bild Jesu überwuchert. Man erzählte von Jesus mit denselben Mustern und Motiven wie von anderen Wundertätern. a) Die urchristlichen Wundergeschichten sind zum Teil Volksüberlieferungen, die anders überliefert wurden als Gemeindeüberliegerungen von Jesus. Dass die Wundergeschichten von Jesus im Volk erzählt wurden (Mk 1,28; 1,45; 5,20), erklärt die „volkstümliche Verschiebung“ des Jesusbildes in ihnen. Es fehlt die Predigt von der anbrechenden Gottesherrschaft, der Gedanke der Nachfolge, der in Mk 10,52 erst sekundär hinzugefügt wurde. Die Vatermetaphorik begegnet erst in johanneischen Wundergeschichten (Joh 5,17; 6,32; 11,41). Ferner erklärt die Verbreitung der Wundergeschichten, dass Erzählungen von Jesu Wundern die Wundertaten konkurrierender „Gottheiten“ übertreffen wollten. Im JohEv überbietet das Weinwunder zu Kana die Weinwunder des Dionysos (Joh 2,1–10), die Heilung in Bethesda die Heilungen des Asklepios (Joh 5,1–16). Neben Bethesda wurde eine Kultstätte des As klepios ausgegraben! Wahrscheinlich wurden ganze Geschichten auf Jesus übertragen oder mit Hilfe von Motiven erzählt, die aus anderen Wundertraditionen stammen. b) Wundergeschichten von Jesus wären ohne sein Wunderwirken nicht entstanden. Wundergeschichten konzentrieren sich in der Antike auf wenige Personen. Aus neutestamentlicher Zeit kennen wir den Exorzisten Eleazar, der in Gegenwart von Josephus und Vespasian 68/69 n. Chr. einen Exorzismus durchführte (Ant 8,45–49), aus rabbinischen Quellen Hanina ben Dosa (um 70 n. Chr.) und Eliezer ben Hyrkanos (um 90 n. Chr.). Von Apollonius von Tyana (ca. 40 bis 120 n. Chr.) erzählt Philostratos neun große Wunder. Jedoch zog kein anderer Wundertäter in der Antike so viele Wunderüberlieferungen an wie Jesus. Von anderen charismatischen Gestalten wie dem Täufer heißt es sogar: „Johannes hat kein Zeichen getan“ (Joh 10,41). Die Wunderüberlieferung ist zudem in Wort- und Erzählüberlieferung doppelt bezeugt,15 die Exorzismen wurden schon im NT von Gegnern zu Vorwürfen gegen Jesus genutzt (Mk 3,22). Dass Jesus Exorzist und Heilkünstler war, lässt sich nicht bestreiten. c) Die Wunderüberlieferung Jesu zeigt spezifische Züge. Er heilt nur bestimmte Typen von Krankheiten. Traditionelle Gesellschaften haben Spezialisten für verschiedene Krankheiten und Heilmethoden.16 Jesus heilt keine Beinbrüche, Wunden und Schlangenbisse, wir hören nur von Therapien und Exorzismen. Therapien flößten „Heilkraft“ in die Kranken, Exorzismen vertrieben den Dämon aus dem Besessenen. Therapien nutzten kontagiöse Magie, Exorzismen antagonistische Magie. Jesus hat in den von ihm erzählten Wundergeschichten individuelle Erinnerungsspuren hinterlassen. 15 In der Wortüberlieferung thematisiert Mt 12,28 Exorzismen, Mt 11,2ff Wunder. 16 W.Bichmann, Medizinische Systeme Afrikas, in: B.Pfleiderer u. a., Ritual und Heilung. Eine Einführung in die Ethnomedizin, 21995, 33–65, S. 61, unterscheidet „mehr oder weniger spezialisierte Heilertypen: Pflanzenheilkundige, Knochenrichter Gesundbeter, Fetischeure, auf die Behandlung bestimmter Krankheiten spezialisierte Praktiker, Hebammen usw.“.
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Erster Teil: Die Quellen und ihre Auswertung
1.8 Mythische Motive
Der Rahmen der Geschichte Jesu, seine Geburt und sein Tod werden mit mythischen Motiven gestaltet, Jesus wird von seinem Mythos „aufgesogen“. Eine Analogie ist die Marienverehrung: Während die Mutter Jesu im Protestantismus Modell für den Menschen ist, der Gnade empfängt, wurde sie im Katholizismus zum Symbol der Kirche, die Gnade vermittelt. Nur im Katholizismus wurde ihr eine von Sünde unbelastete Geburt und eine Himmelfahrt zugeschrieben. Wurde auch Jesus wie Maria mit einem unhistorischen Mythos umgeben, auch wenn dieser Mythos symbolisch durchaus Sinn haben könnte?17 a) Die Antike umgab die Geburt und Tod großer Gestalten mit Mythen. Das bringt ihre Bedeutung zum Ausdruck, stellt aber nicht deren Geschichtlichkeit in Frage. Plutarch berichtet von Alexander den Großen, seine Mutter Olympia habe in der Brautnacht geträumt, dass ein Blitz in ihren Leib schlug und Flammen aufloderten. Der Traum deutete die Zeugung des Kindes durch Jupiter an: Als der Vater Alexanders das Orakel in Delphi befragt, befiehlt es, er solle dem Ammon opfern (Plutarch, Alexander 2f). Diese Legende erhielt nachträglich einen historischen „Kern“, als Alexander in einem ägyptischen Wüstenheiligtum als „Sohn des Ammon“ von den dortigen Priestern begrüßt wurde. Wurde eine schon existierende Legende seiner Zeugung neu inszeniert oder seine „Gottessohnschaft“ als wunderbare Zeugung zurückdatiert? b) Die mythischen Elemente in den Evangelien haben ihren Realgrund in den Ostererscheinungen. Jesu Hoheit wurde in ihnen erkannt und immer weiter zurückdatiert. Ostererscheinungen sind durch Formelüberlieferung (1Kor 15,3–8) und Erscheinungserzählungen gut bezeugt. Die durch das Ostergeschehen begründete Gottessohnschaft (Röm 1,3f) wurde auf Taufe (Mk), Geburt (Mt/Lk) und Präexistenz (Joh/Pls) zurückdatiert. Auch diese Rückdatierung geschah nicht willkürlich. So befreite die Taufe des Johannes nicht nur von Sünden, sondern verlieh einen Status als Kinder Gottes. Die in jeder Taufe sich vollziehende Statusveränderung wurde bei Jesus mit mythischen Motiven zu einer Adoption zum Sohn Gottes gesteigert. 1.9 Sekundäre Analogiebildungen
Die Jesusüberlieferung liegt in kleinen Einheiten vor. Ihre Gattungsstrukturen ermöglichen Analogiebildungen, die von authentischen Bildungen nicht unterschieden werden können. Wer mit den Motiven und Strukturen von Wundergeschichten oder Gleichnissen vertraut ist, kann neue Geschichten erzählen, die von ihren Mustern nur schwer zu unterscheiden sind. Solche Analogiebildungen machen den historischen Jesus unerkennbar.
17 Zur Deutung des christologischen Mythos vgl. G.Theißen, Botschaft in Bildern. Das Entmythologisierungsprogramm als theologische Wahrheitssuche, 2021.
Die Auswertung der Quellen: Skepsis und Zuversicht
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a) Obwohl unsicher bleibt, ob einzelne Worte Jesus zuzuschreiben sind, kennen wir die Formensprache Jesu. Innerhalb der meisten Formen der Jesusüberlieferung gibt es zumindest ein Wort, das als authentisch gilt, womit die ganze „Form“ für Jesus nachgewiesen ist. Jesus hat sicher weisheitliche Mahnworte und Sentenzen gesprochen, prophetische Makarismen und Weherufe, Worte vom Reich Gottes und vom Gericht, Gebote für die Jünger wie den Ruf in die Nachfolge, Rechtssätze und Antithesen. Dazu kommen verschiedene Arten von Gleichnissen. Umstritten sind vor allem Worte im Ich-Stil (vgl. § 3.2). b) Viele Formen der Jesusüberlieferung entsprechen traditionellen literarischen Formen, haben aber bei Jesus eine besondere Ausprägung, die auf ihn zurückgeht. Traditionell stehen weisheitliche Mahnungen nur dann im Plural, wenn die Weisheit für sich wirbt. Dagegen benutzen die Mahnworte Jesu fast alle den Plural. Makarismen werden bei Jesus als Antimakarismen gestaltet, wenn paradoxerweise die Armen seliggepriesen werden (Lk 6,20). Jesus erzählt Gleichnisse Jesus nicht zur Illustration von Schriftworten, sie tragen vielmehr ihre Botschaft in sich selbst. In prophetischen Worten Jesu fehlt das „Ich“, mit dem der Prophet an die Stelle Jahwes tritt. Wir können diese Formen sicher Jesus zuschreiben, denn ihre Gestaltung und Struktur verrät einen individuellen Stil. c) Auch wenn es zu einzelnen Gattungen und Formen Analogien gibt, ist ihre Kombination in der Jesusüberlieferung singulär und lässt Jesu Individualität erkennen. Die Chance, dass eine Überlieferung singulär ist, ist umso größer, je komplexer ein Gegenstand ist. In der Jesusüberlieferung gibt es ganz unwahrscheinliche Kombinationen von Formen und Inhalten, z. B. die Verbindung von Wundergeschichten und prophetisch-apokalyptischen Worten; von futurischer und präsentischer Gottesherrschaft, von thoraverschärfenden und thoraentschärfenden Logien. 1.10 Das gesteigerte Christusbild im Johannesevangelium
Johanneisches Christusbild und synoptische Jesusüberlieferung widersprechen einander. Im JohEv werden Jesuserinnerungen durch den Christusmythos überlagert. (1) Im JohEv ist Jesus ein über die Erde wandelnder Gott, der sich seiner Präexistenz bewusst ist. Die Synoptiker wissen nichts von seiner Präexistenz. (2) Der Stil der Offenbarungsreden mit gleichnishaften Ich-bin-Worten widerspricht den Sprüchen und Gleichnissen der synoptischen Tradition. a) Das joh Jesusbild erklärt sich als Sonderentwicklung im johanneischen Kreis, während synoptische Traditionen in verschiedenen Traditionsbereichen begegnen, nämlich in MtS, Q, Mk, LkS und im ThEv, aber nur sehr begrenzt im JohEv. Umgekehrt finden sich typisch johanneische Stilelemente wie das doppelte Amen, die Ich-bin-Worte, die Offenbarungsreden und die Gesandtenchristologie nur vereinzelt außerhalb der joh Schriften (z. B. in Mt 11,27). Spezifisch johanneisch ist auch ihr Inhalt: Während die Synoptiker nie von der Liebe Gottes zu den Menschen sprechen, ist die Offenbarung dieser Liebe das Zentrum des JohEv und wird in Form einer „geheimen Offenbarung“ als etwas ganz Neues eingeführt – zunächst im geheimen nächtlichen Gespräch mit Nikodemus Joh 3,16, dann in den Abschiedsreden (13,1–17,26).
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Erster Teil: Die Quellen und ihre Auswertung
b) Trotz eines einseitigen Jesusbildes ist der synoptische Stil der Worte Jesu im ThEv unverkennbar eine Erinnerungsspur des historischen Jesus. Anders als das JohEv enthält das ThEv viele synoptisch geprägte Jesusworte.18 Wo JohEv und ThEv im Stil ihrer Worte den Synoptikern entsprechen, stimmen sie untereinander überein, wo sie eigenen“ Tendenzen folgen, weichen sie voneinander ab. Das weist darauf, dass eine synoptisch geprägte Wortüberlieferung beiden vorgegeben war, die sie unabhängig voneinander verschieden verarbeiteten. Auch gegenüber dem ThEv erweist sich das Motiv der Liebe Gottes als Proprium des JohEv, es begegnet in ThEv 107 nur ein einziges Mal im Bild des Hirten, der das verlorene Schaf mehr liebt als alle anderen Schafe. c) Das JohEv enthält in erzählenden Abschnitten historische Informationen, bei denen die joh Stilisierung des Jesusbildes nicht wirksam war. Die Datierung der Kreuzigung Jesu vor dem Passafest stimmt mit der Tradition in Mk 14,1f überein. Politische Motive sind im JohEv deutlicher als in den Synoptikern: Nach Joh 6,15 will die Menge Jesus zum König machen. Seine (Vor-)Verurteilung durch das Synedrium ist politisch motiviert: „Wenn wir ihn gewähren lassen, werden alle an ihn glauben, und dann kommen die Römer und nehmen uns Land und Leute“ (Joh 11,48). Nach Joh 19,12 wird Pilatus durch den Vorwurf der Illoyalität gegenüber Rom erpresst: „Wenn du diesen freilässt, bist du kein Freund des Kaisers.“ Diese politischen Motive sind Erinnerungsspuren des historischen Jesus, treten aber im JohEv auch deshalb hervor, weil Christen in der Zeit des JohEv stärker als politisches Problem wahrgenommen wurden. 1.11 Der Ostergraben: Die Transformation des historischen Jesus
Der Osterglauben hat vorösterliche Überlieferungen so stark umgeschmolzen, dass nachösterliche Verehrung Jesu und historische Erinnerung untrennbar geworden sind. Nach dem JohEv erinnert erst der Geist nach Ostern an alles, was Jesus gelehrt hat (Joh 14,26), so dass die Jünger erst jetzt seine Worte verstehen (Joh 2,22; 12,16). Die Synoptiker verlegen mit Ostern verbundene Motive in Jesu Leben zurück und verwandeln damit die Jesusüberlieferungen, so dass sie historisch schwer auswertbar sind. Die Jünger fürchten z. B. Ostern, einem „Gespenst“ zu begegnen (Lk 24,36–43), aber schon beim wunderbaren Seewandel vor Ostern begegnet Jesus als „Gespenst“ (Mk 6,49). a) Rückprojektionen aus nachösterlicher Zeit sind oft auch vorösterlich veranlasst. Wo nachösterliche Erfahrungen mit vorösterlichen Erinnerungen verschmelzen, können vorösterliche Erinnerungen an Jesus Spuren hinterlassen haben.
18 Joh 2,19 = Mk 14,58 par.; Joh 3,3 = Mt 18,3; Joh 4,44 = Mk 6,4 par.; Joh 13,20 = Lk 10,16/Mt 10,40; Joh 13,16 und 15,20 = Mt 10,24; Joh 15,7b = Mk 11,24 par.; Joh 16,32 = Mk 14,27 par.; Joh 18,11 = Mk 14,36 par.; Joh 20,23 = Mt 18,18.
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Ȥ Die Geschichte vom wunderbaren Fischzug begegnet in Joh 21,1–14 als Ostergeschichte, in Lk 5,1–11 als vorösterliche Berufungsgeschichte. Die Berufung des Petrus geschah beim Fischen (Mk 1,16–18) und konnte deshalb das nachösterliche Motiv vom „wunderbaren Fischzug“ an sich ziehen (Lk 5,1–11/Joh 21,1– 14). Wäre die Ostergeschichte aber jemals ohne die vorösterliche Fischertätigkeit der Jünger entstanden? Ȥ Die Vollmacht zur Sündenvergebung wird nach Joh 20,23 den Jüngern durch den Auferstandenen erteilt, nach Mt 18,18 durch den Irdischen. Weil das Vaterunser des irdischen Jesus Sündenvergebung verhieß (Mt 6,12), konnte die Vollmacht zur Sündenvergebung dem irdischen Jesus zugeschrieben werden. Die Sündenvergebung hat eindeutig im Leben des irdischen Jesus ihren Ort. Ȥ Die Aussendung Jesu erfolgt nach Joh 20,21 durch den Auferstandenen: „Wie mich mein Vater gesandt hat, so sende ich euch.“ Eine ähnliche Aussage begegnet als Wort des Irdischen in Mt 10,40; Mk 9,37b; Lk 10,16. Ohne die vorösterliche Aussendung wäre nachösterlich kaum ein erneuertes Sendungsbewusstsein entstanden. Ȥ Jesus wurde nach Röm 1,3f seit der Auferstehung von den Toten als „Sohn Gottes“ verehrt, aber in QLk 10,21 spricht schon der Irdische von sich als Sohn Gottes. Er ist es seit der Taufe. Weil die Taufe (Mk 1,9–11) Züge eines statusverleihenden Rituals wie die Besprengung bei der Priester- und Levitenweihe hatte (Ex 29,4–9; Num 8,7), konnte Jesu Ernennung zum Sohn Gottes durch seine Auferweckung (Röm 1,4) auf sie zurückdatiert werden.
b) Nachösterliche Rückprojektionen konnten vorösterliche Erinnerungsspuren nicht verdrängen, denn einige widersprechen der Verehrung Jesu nach Ostern. Widersprüche zwischen Überlieferungen vom irdischen Jesus und seiner nachösterlichen Verehrung sind noch erkennbar: Ȥ Jesus lehnt es ab, „gut“ genannt zu werden, weil nur Gott gut ist (Mk 10,18). Dieses Wort Jesu kann nicht nach Ostern entstanden sein, als man glaubte, dass Jesus zur Rechten Gottes sitzt. Ȥ Jesus lässt sich zur Sündenvergebung taufen (Mk 1,9 mit 1,4). Das widerspricht der Vorstellung von seiner Sündlosigkeit (Hebr 4,15). Ȥ Er kann nicht immer heilen (Mk 6,5). Das widerspricht seiner Allmacht, die man ihm seit Ostern zuschrieb (Mt 28,18). Ȥ Der Vorwurf der Familie, Jesus sei verrückt (Mk 3,20f), steht in Widerspruch zur Bedeutung seiner Familie nach Ostern: Jakobus wurde Leiter der Jerusalemer Gemeinde. Spätere Familienmitglieder bekannten sich vor Kaiser Domitian zu Jesus (Hegesipp nach Eus h.e. 3,20,1–6). Ȥ Der Vorwurf, Jesus sei Fresser und Weinsäufer, Freund von Zöllnern und Sündern (Mt 11,19), kann sich nicht auf den Erhöhten beziehen. Ȥ Der Vorwurf, Jesus stehe mit dem Beelzebul im Bunde, kann sich nur auf die Exorzismen des irdischen Jesus beziehen (Mt 12,22–30). Ȥ Das Gerücht, Jesus sei der Täufer redivivus (Mk 6,14), setzt voraus, dass Geburt und Herkunft Jesu aus Nazareth noch unbekannt sind und muss daher eine sehr frühe Reaktion auf das Wirken Jesu sein.
Der Osterglaube hat Jesustraditionen verändert, konnte aber weder allgemeine Erinnerungsmuster wie den Konflikt Jesu mit einem familiären Ethos noch eine so konkrete Erinnerungsspur wie den Beelzebulvorwurf löschen.
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Erster Teil: Die Quellen und ihre Auswertung
c) Rückprojektionen aus nachösterlicher Zeit konzentrieren sich auf Jesu Person und seinen Tod, können aber auch dann wirkungsauthentische Erinnerungsspuren Jesu enthalten. Die Taufe des Johannes sagt: Wenn Gott dem Abraham Kinder aus Steinen erwecken kann, kann er Israeliten durch die Taufe zu seinen Kindern machen. Diese Macht der Taufe zur Statusverleihung wird in der Taufe Jesu vorausgesetzt und wurde im Lichte des Osterglaubens zur Adoption als Sohn Gottes gesteigert. Ebenso wirkt in der nachösterlichen Deutung des Todes Jesu als freiwilliges Opfer eine Erinnerungsspur des historischen Jesus nach, der nach Jerusalem im Bewusstsein reist, dass Propheten dort getötet werden. Nach Lk 13,34 hat Jesus eher mit einer Steinigung als Prophet gerechnet als mit einer Kreuzigung. Die nachösterliche Sinndeutung in Mk 10,45, wonach Jesus sich für die Vielen geopfert hat, hat zumindest darin einen Anhalt beim historischen Jesus, dass er sich freiwillig der Todesgefahr ausgesetzt hat. 1.12 Die kerygmatische Intention der Jesusüberlieferung
Die Jesusüberlieferung spricht kerygmatisch in die Gegenwart, erinnert nicht an die Vergangenheit. Besonders die Formgeschichte vertrat die These, die urchristliche Jesusüberlieferung verdanke Existenz und Form vor allem einem an der Gegenwart orientierten Predigtinteresse, nur sekundär einem Interesse an Jesuserinnerungen.19 a) Jesusüberlieferungen werden im frühen Christentum explizit „Erinnerungen“ genannt, so dass die Suche nach dem „erinnerten Jesus“ ihrer Intention entspricht. Justin nannte die im Gottesdienst vorgelesenen Evangelien „Erinnerungen der Apostel“ (Apol I,67,3). Papias berichtet, Markus habe die Worten und Taten Jesu so aufgeschrieben, wie er sie „erinnerte“ (Eus h.e. 3,39,15). In Apg 11,16 sagt Petrus: „Da erinnerte ich mich an das Wort des Herrn, als er sagte: Johannes hat mit Wasser getauft, ihr aber sollt mit dem heiligen Geist getauft werden“. Da hier ein Wort des Johannes (Mk 1,8) Jesus in den Mund gelegt wird, muss man auch sonst damit rechnen, dass Jesus Worte zugeschrieben wurden, die er nicht selbst gesagt hat – trotz Erinnerungsintention der Überlieferer. b) Jesuserinnerungen verbinden Distanzsignale mit Identifikationsangeboten wie antike biographische Texte.20 Ihrer Gattung nach wollen sie von einer historischen Gestalt mit Distanzsignalen berichten, die Vergangenheit und Gegenwart unterscheiden: So unterscheidet das MkEv die gegenwärtige Freudenzeit von der nachösterlichen Fastenzeit, die Zeit vor und nach Ostern durch das Geheimnismotiv (Mk 2,20; 9,9f). Das MtEv unterscheidet die Israelmission vor Ostern von der Völkermission nach Ostern (Mt 10,5 f.23; 28,19f). Das LkEv hebt die radikalen Forderungen der Aussendungsrede (Lk 10) für die Zeit nach Ostern auf
19 M.Dibelius, Die Formgeschichte des Evangeliums, 21933, 34, nennt die urchristliche Verkündigung „Propaganda“ für den Glauben. M.Dibelius rechnete dennoch mit authentischer Jesusüberlieferung. 20 K.Berger, Formgeschichte des Neuen Testaments, 1984, 346: Die hellenistische Biographie „ist so vielgestaltig, dass auch die Evangelien darin Platz haben könnten“.
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(Lk 22,35f).21 Nach dem JohEv wurden die Worte Jesu erst nach Ostern recht verstanden (Joh 2,22; 12,16; 14,26). Alle Evangelien enthalten zugleich „Identifikationsangebote“: Jünger und Jesus werden zu Modellen für Nachfolge, Vollmacht und Leiden.22 Die Evangelien erinnern an die Vergangenheit, um christliche Identität in der Gegenwart zu ermöglichen. c) Zentrale Inhalte des nachösterlichen Glaubens wurden nicht in die synoptische Jesusüberlieferung zurückprojiziert. Gerade bei den Themen „Glaube, Hoffnung und Liebe“ (1Kor 13,13) werden Unterschiede zwischen vor- und nachösterlicher Zeit deutlich: (1) Der Glaube ist in den synoptischen Evangelien Vertrauen in die Wunderkraft Jesu, wird aber bei Paulus zur Grundlage der Rechtfertigung. Das LkEv bezeichnet einen Zöllner als „gerechtfertigt“, nicht aufgrund seines Glaubens, sondern aufgrund seiner Reue (Lk 18,14). (2) Die Hoffnung richtet sich bei Jesus auf die „Herrschaft Gottes“, bei den ersten Christen aber auf die „Parusie“ Jesu als Herrscher (1Thess 2,19 u.ö). Nur in Mt 24,3.27.37.39 begegnet das Stichwort „Parusie“ bei den Synoptikern. (3) Die Liebe zu Gott und zum Nächsten ist in den Synoptikern Zentrum der Ethik Jesu, sie sprechen dagegen nie von der Liebe Gottes zu den Menschen, die bei Paulus und im JohEv das Zentrum bildet (vgl. Röm 8,31–39; Joh 15,9–17). 1.13 Die Prägung durch den „Sitz im Leben“
Die Jesusüberlieferung ist als mündliche Tradition primär durch Gemeindebedürfnisse, aber nur sekundär durch Erinnerungen an den historischen Jesus bestimmt. Die formgeschichtliche Skepsis sagt, dass die Texte durch ihren „Sitz im Leben“ geformt sind und dabei stark umgeformt, oft sogar erst geschaffen wurden a) Nicht alle für die 30/60er Jahre nachweisbare Gemeindebedürfnisse haben in der synoptischen Tradition ihren Niederschlag gefunden. Die Beschneidungsfrage war in den 40er Jahren umstritten (Gal 2; Apg 15), wird aber erst in ThEv 53 angesprochen. Nirgendwo stärkt ein Jesuswort Presbytern, Bischöfen und Diakonen den Rücken, obwohl es seit den 40er Jahren Presbyter in Jerusalem gab (Apg 11,30; 15,6). Die Familie Jesu gehörte zur christlichen Gemeinde (Apg 1,14), in der Jakobus, der Herrenbruder, eine führende Positionen hatte (Gal 1,19; 2,9; Apg 15,13; 21,18). Aber erst das ThEv spricht Jakobus einen Vorrang zu (ThEv 12). Ein zentrales Thema war das Verhältnis zum Judentum. Aber außerhalb der Passionsgeschichte wird Jesus fast nie den „Juden“ gegenübergestellt, die nur in Mt 2,2; Mk 7,3 und Lk 7,3 begegnen. b) Ein Teil der synoptischen Wortüberlieferung entspricht nicht den Bedürfnissen der Ortsgemeinden, sondern urchristlicher Wandercharismatiker, die den Lebensstil Jesu fortsetzten und in seinem Geist Jesu Worte überlieferten und formten. Der Bruch zwischen dem historischen Jesus und dem Urchristentum wurde in der ntl. Forschung durch die Annahme verschärft, dass Jesus als „Wanderprediger“ und urchristliche „Ortsgemeinden “ sehr verschie21 Zu solchen historisierenden Elemente vgl. J.Roloff, Das Kerygma und der irdische Jesus, 1970. 22 Antike Geschichtsschreibung macht Identifikationsangebote. Plutarch, Alex. 1: „Ich schreibe nicht Geschichte, sondern zeichne Lebensbilder, und hervorragende Tüchtigkeit oder Verworfenheit …“.
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den sind. Die These vom „Wandercharismatikertum“ sieht dagegen eine soziale Kontinuität zwischen Jesus und dem Urchristentum. Dies Wandercharismatikertum steht (in verschiedenen Varianten) hinter Jesusworten der Logienquelle und des Thomasevangeliums, während die synoptischen Evangelien diese radikalen Traditionen in rückblickender Distanz zu Jesus darstellen und für den Gebrauch in Ortsgemeinden bearbeiten. c) Die Jesusbewegung ist chiliastischen Bewegungen in europäischen Kolonien vergleichbar, die durch eine prägende prophetische Einzelgestalt geprägt waren. Mit „millenaristischen Bewegungen“23 reagierten einheimische Kulturen mit der Erwartung einer großen Weltenwende auf eine imperialistische Kultur. Sie wurden weit mehr durch charismatische Gestalten geprägt als dass diese Bewegungen das Bild dieser Charismatiker prägten. Analoges wird für Jesus und die Jesusbewegung gelten. Die soziologische Betrachtungsweise, die viel zur historischen Skepsis gegenüber der Jesusüberlieferung beigetragen hat, ermutigt hier zur Frage nach dem historischen Jesus. 1.14 Die produktive Kraft des Schriftbeweises
Die frühen Christusanhänger haben Erinnerungen an Jesus nicht nur im Lichte des AT gedeutet, sondern hervorgebracht: Die heiligen Schriften Israels waren als Zeugnis Gottes zuverlässiger als menschliche Augenzeugen. Missverständnisse des parallelismus membrorum belegen die produktive Kraft des Schriftbeweises. Nach Sach 9,9 reitet z. B. der Messias „auf einem Esel, auf dem Fohlen als Jungen eines Lasttieres.“ Gemeint ist wie in Joh 12,14 ein Reittier. Das MtEv macht daraus zwei Tiere: „eine Eselin und ein Fohlen (Mt 21,7). Man muss daher damit rechnen, dass das AT nicht nur solche Details des Geschehens, sondern das Geschehen selbst hervorgebracht hat. a) Man muss differenzieren zwischen der produktiven, motivierenden und interpretierenden Kraft des Schriftbeweises. In den Kindheitsgeschichten gleicht die Schrift ein „Informationsdefizit“ aus, bei Darstellungen von Jesu Wirken dient sie zur Motivation von Jesu Handeln, bei Erinnerungen an seine Passion überwindet sie ein „Sinndefizit“. b) In den Kindheitsgeschichten wird die Schrift produktiv. Antike Überlieferungen wissen meist wenig über die Kindheit von Menschen abgesehen vom Namen der Eltern, Herkunftsort und Beruf. Hier musste die Phantasie Wissenslücken füllen. Die produktive Kraft des Schriftbeweises hat aus Jes 7,14 LXX die Jungfrauengeburt entwickelt, aus Mich 5,1–4 die Geburt in Bethlehem, aus Hos 11,1 den Aufenthalt in Ägypten (vgl. Mt 1,23; 2,6; 2,15). Zugrunde liegen nur wenige Fakten: die Geburt Jesu gegen Ende der Regierungszeit des Herodes, die Namen der Eltern, seine Herkunft aus Nazareth. Aber nicht alles, was mit der Schrift begründet wurde, ist unhistorisch. Jes 8,23–9,1 legitimiert Jesu Herkunft aus Galiläa, die unbestreitbar ist (Mt 4,12–16). 23 Vgl G.Theißen, Jesus – der Prophet einer millenaristischen Bewegung? Sozialgeschichtliche Überlegungen zu einer sozialanthropologischen Deutung der Jesusbewegung (1999), in: Jesus als historische Gestalt, Beiträge zur Jesusforschung, 2003, 197–228.
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c) Übereinstimmungen zwischen AT und überliefertem Geschehen entstanden dadurch, dass Jesus durch sein Handeln die Schrift „erfüllen“ wollte. Das Bild des auf einem Esel einreitenden „Königs“, der in Sach 9,9 nicht „Messias“ genannt wird, hat Jesus möglicherweise zum Einzug in Jerusalem motiviert (Mk 11,2; Mt 21,2.4). Wenn er im Wirken Johannes des Täufers die Erfüllung von Jes 40,3 sah (vgl. Mk 1,3), war diese Prophetie nicht nur eine Deutung von dessen Wüstenaufenthalt, sondern dessen Ursache. Schon in Qumran wurde mit Jes 40,3 der Wüstenaufenthalt der Gemeinde begründet (1QS VIII,12–14). Jesus könnte sich als Erfüllung der Jesaja-Weissagungen verstanden haben, vor allem als Freudenbote der Endzeit (vgl. Mt 11,5). d) Die ersten Christen gaben durch die Schrift sinnwidrigen Ereignissen der Passionsgeschichte einen Sinn, setzten dabei aber das zu deutende Geschehen voraus. 1Kor 15,3 postulierte Schriftgemäßheit für die ganze Passion (vgl. Lk 24,26 f.44). Die Weissagung in Sach 13,7 (=Mk 14,27): „Ich werde den Hirten schlagen, und die Schafe werde ich zerstreuen“ deutet die Flucht der Jünger, die sicher nicht erfunden ist. Jes 53,12 erklärt, warum Jesus „unter die Übeltäter gerechnet wurde“ (Lk 22,37), ohne dass seine Kreuzigung zwischen zwei „Räubern unhistorisch ist. Manche atl. Motive wurden erst spät ausgewertet: Obwohl Jesu Kreuzigung als Durchbohren von Händen (Joh 20,25) und Füßen vorgestellt wurde (Lk 24,39f), deutet erst Justin, Dial 97,3, seine Kreuzigung mit Ps 22,17: „Sie durchbohren mir Hände und Füße“. Der Fund eines mit Nägeln Gekreuzigten in Givʿat ha-Mivtar 1968 macht wahrscheinlich, dass auch Jesus durch Annageln gekreuzigt wurde.
2. Kriterien der Jesusforschung Wissenschaft überprüft ihre Annahmen anhand von Kriterien und problematisiert diese Kriterien immer wieder neu. Deshalb müssen die bisher in der Jesusforschung entwickelten Kriterien immer wieder überprüft und weiter entwickelt werden. Dabei sind die klassischen Kriterien der Jesusforschung, die im Rahmen der „neuen Frage“ nach Jesus formulierten Differenz- und Kohärenzkriterien nach wie vor ein guter Ausgangspunkt. 2.1 Die klassischen Kriterien der „Jesusforschung“
1. Das Differenzkriterium will als kritisches Minimum sichern, was sich weder „in das jüdische Denken noch in die Auffassung der späteren Gemeinde einfügen läßt“. 24 2. Das Kohärenzkriterium fügt als echtes Jesusgut hinzu, was mit diesem Minimum übereinstimmt, auch wenn es zu jüdischem und urchristlichem Denken passt. 3. Das Kriterium der Mehrfachbezeugung sagt: Je mehr eine Tradition unabhängig voneinander bezeugt ist, umso wahrscheinlicher ist sie echtes Jesusgut.
24 So die klassisch gewordene Formulierung von H.Conzelmann, Art. Jesus, 3RGG III, 623.
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Die Kritik an diesen Kriterien sagt: Das Differenzkriterium könne verkappte Dogmatik sein: Jesu Einzigartigkeit und Unableitbarkeit stehe „a priori“ fest, sei aber nicht nachweisbar. Zwar könne man Überlieferungen positiv aus Traditionen „ableiten“, negative historische Allgemeinaussagen aber nie verifizieren, da wir nie wissen, ob es nicht Analogien gibt, die keine Spuren hinterlassen haben. Was man erreichen kann, ist aber, durch konkrete Vergleiche Besonderheiten einer Überlieferung herauszuarbeiten. Das Kohärenzkriterium unterschätze Widersprüche und Entwicklungen bei Jesus! Sofern es auf dem Differenzkriterium basiert, setzt es dessen Mängel fort. Dennoch ist es sinnvoll: Lassen sich Widersprüche als sinnvolle Strukturen, Entwicklungen als verständliche Anpassungen deuten, kann das Kohärenzkriterium angewandt werden. Das Kriterium der Mehrfachbezeugung gilt in jedem Fall: Je mehr eine Tradition unabhängig voneinander bezeugt ist, umso wahrscheinlicher ist sie echtes Jesusgut. Wenn wir im Folgenden die klassischen Kriterien der Jesusforschung weiterschreiben, verstehen wir sie als Plausibilitätskriterien. Für alle Zeit gesicherte Ergebnisse lassen sich mit ihnen nicht erzielen, aber sie können Erinnerungsbilder von Jesus durch Einbettung in ihren Entstehungskontext im Judentum und ihre Wirkungsgeschichte im Urchristentum überprüfen. Dabei kann man historische Kontext-, Wirkungs- und Gestaltplausibilität unterscheiden.25 2.2 Historische Kontextplausibilität
Historische Kontextplausibilität haben Jesusüberlieferungen, wenn sie im Judentum verständlich und als individuelle Erscheinung erkennbar sind. Gefordert wird der Nachweis von Zusammenhängen zwischen Jesus auf der einen und dem zeitgenössischen Judentum auf der anderen Seite, also fast das Gegenteilt dessen, was das Differenzkriterium verlangte. Denn erst auf diesem Hintergrund wird die Individualität Jesu im Judentum erkennbar. Jesus kann nur gesagt und getan haben, was ein jüdischer Charismatiker im 1. Jh. hat sagen und tun können, wobei der Begriff „Charismatiker“ dafür offen ist, dass durch einen Charismatiker Offenbarung geschehen kann. „Charisma“ ist ebenso eine theologische wie eine soziologische Kategorie. Wenn wir Jesus als jüdischen Charismatiker historisch zu erfassen suchen, suchen wir zunächst nach milieuauthentischen Überlieferungen, die gut zu allem passen, was wir über die Welt Galiläas und Judäas wissen, so dass sie auch Erinnerungs spuren dieser Orte und Zeiten sind. Auf diesem Hintergrund wird seine Individualität sichtbar, die nicht Unableitbarkeit bedeutet, sondern Unterscheidbarkeit. Jesus wird dabei nicht gegen das Judentum, sondern in ihm profiliert. Die Jesusforschung sucht nach allgemeinen Erinnerungsstrukturen. Allgemeine Strukturen können wir zuverlässiger Jesus zurechnen als konkrete Texte. So gehört die Gattung der Wachstumsgleichnisse sicher 25 Diese Ausführungen stützen sich auf G.Theißen/D.Winter, Die Kriterienfrage*, 1997 = The Quest for the Plausible Jesus, 2002.
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zu seinem Repertoire, weniger sicher das konkrete Gleichnis vom „Unkraut unter dem Weizen“ (Mt 13,24– 30). Dasselbe gilt von Bild- und Wortfeldern. Jesus hat vom „Reich Gottes“, von „Umkehr“ und „Sündenvergebung“ gesprochen, aber nicht jede konkrete Überlieferung mit diesen Motiven muss echt sein. Darüber hinaus ist es wichtig, individuelle Erinnerungsspuren des historischen Jesus zu entdecken, vor allem tendenzwidrige Relikte, die auf Jesus zurückgehen können. Tendenzwidrig ist der Vorwurf, Jesus stehe im Bündnis mit dem Teufel (Mk 3,22–27), denn er widerspricht der Verehrung Jesu im Urchristentum. Die Einbettung in die damalige Zeit verleiht Erinnerungsbildern Kontextplausibilität. So lässt sich die Erwartung der Gottesherrschaft zeitgeschichtlich kontextualisieren. In Reaktion auf Fremdherrschaft entwickelte das Judentum Träume von einer Theokratie als einer Herrschaft Gottes, in der Israel unabhängig ist. Die Assumptio Mosis belegt in ihrer Endgestalt, dass die Erwartung des Reiches Gottes in der 1. Hälfte des 1. Jh. n. Chr. lebendig war, aber damals nicht unbedingt mit einem militanten Vorgehen gegen Feinde verbunden wird. Die Frommen erwarten das Reich Gottes durch freiwillig übernommenes Leiden und Rückzug in eine Höhle (AssMos 9,6f). Gegner des Reiches Gottes ist neben Israels Feinden der Satan (AssMos 10,1). Bei Jesus beginnt das Reich Gottes schon jetzt und setzt sich nicht gegen Feinde Israels durch, sondern vor allem gegen den Satan. Ein zweites Beispiel ist die Polemik gegen die Pharisäer, die viele Erinnerungsbilder prägt. Im LkEv erscheinen Pharisäer nicht nur als Gegner Jesu, wenn sie ihn vor Herodes Antipas warnen (Lk 13,31). Dieser „Widerspruch“ zum allgemeinen Bild der Pharisäer in den Evangelien passt sehr gut in den zeitgeschichtlichen Kontext. Wenn man die „strengeren“ Essener zum Vergleich heranzieht, rücken die „milderen“ Pharisäer näher an Jesus heran. Wir können dadurch in der Jesusüberlieferung Jesu Nähe zu ihnen besser erkennen. Kontextplausibilität kann so Erinnerungsbilder korrigieren.
Alle Erinnerungsbilder müssen auf ihre Kontextplausibilität hin überprüft werden. Sofern Jesustraditionen in den Kontext Galiläas und Judäas passen, haben sie Anspruch auf „Milieuauthentizität“, sofern sie sich in diesem Milieu individuell hervorheben, darüber hinaus auf „Personauthentizität“. 2.3 Historische Wirkungsplausibilität
Historische Wirkungsplausibilität haben Jesuserinnerungen, wenn sie als Auswirkungen des Lebens Jesu verständlich sind. Das Kohärenzkriterium muss dabei unabhängig vom Differenzkriterium angewandt werden. Alle Texte, Formen und Motive, die unabhängig voneinander mehrfach bezeugt sind und kohärent gedeutet werden können, können Wirkung des historischen Jesus sein. Dazu kommen einzelne Überlieferungen, die tendenzwidrig der Verehrung Jesu im Urchristentum widersprechen. (1) Bei Mehrfachbezeugung einer Tradition in unabhängigen Quellen muss sie älter sein als der älteste Text, in der sie begegnet, und kann eine Wirkung des historischen Jesus sein, wenn sich Widersprüche zwischen den Traditionsvarianten kohärent interpretieren lassen. Wenn in Mt 8,5ff ein heidnischer Hauptmann für seinen Sklaven um Heilung bittet, in Joh 4,46 dagegen ein königlicher Beamte für seinen Sohn, dann vermeidet die joh Version
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Erster Teil: Die Quellen und ihre Auswertung
Assoziationen daran, dass Jesus möglicherweise dem Liebhaber eines Sklaven geholfen hat. Die Zuwendung zu Außenseitern lässt hier ein persontypisches Merkmal als eine Erinnerungsspur Jesu erkennen. (2) Der Querschnittsbeweis basiert auf der Übereinstimmung sachlicher Motive in unabhängigen Überlieferungsströmen (Q, Mk, MtS, LkS, ThEv, Joh). Dabei geht es nicht um die Mehrfachbezeugung ein und derselben Tradition, sondern um die sachliche Übereinstimmung von Motiven in verschiedenen Traditionen: Zwei klar unterschiedene Worte können inhaltlich gut zueinander passen, sind aber jeweils nur einmal bezeugt. So finden sich familienkritische Worte Jesu in vielen Überlieferungsströmen und bilden ein persontypisches Erinnerungsmuster, in dem Jesus nachwirkt. (3) Gattungsinvarianz liegt vor, wenn dieselben Motive in verschiedenen Gattungen bezeugt sind. Dass Wunder Jesu in Erzähl- und Wortüberlieferung bezeugt sind, ist ein Indiz für ihre Historizität.26 Mehrfachbezeugte Motive, Inhalte und Traditionen sind besonders dann als Auswirkung des historischen Jesus erkennbar, wenn sie Tendenzen des Urchristentums widersprechen und „tendenzspröde“ sind. Beispiel für Kontext- und Wirkungsplausibilität sind die Aussagen vom „Reich Gottes“. Dieser Begriff begegnet in allen Überlieferungsströmen vom MtS bis zum ThEv, in Gleichnissen (Lk 13,18–21), Mahnworten (Mt 6,33), Makarismen (Mt 5,3), im Gebet (Mt 6,10), im Schulgespräch (Mk 12,34) und in der Passionsgeschichte (Mk 15,43). Viele Worte vom Reich Gottes sind mehrfach überliefert (z. B. Mk 10,15; Mt 18,3; Joh 3,3.5; ThEv 22). Eine spezifisch christliche Tendenz ist nicht erkennbar: Die Rede vom Reich Gottes wird z. B. bei Paulus zurückgedrängt. Auch im JohEv begegnet das „Reich Gottes“ nur zwei Mal, einmal spiritualisiert in Zusammenhang mit der Wiedergeburt (Joh 3,3.5), dann entweltlicht, wenn Jesus betont: „Mein Königreich ist nicht von dieser Welt“ (Joh 18,36). Jesus will im JohEv kein „König“ im Sinne eines Herrschers sein, für den seine Anhänger kämpfen. Aber Pilatus verteidigt diesen Titel als Grund seiner Hinrichtung gegen den Protest der Hohepriester (19,19.21f). Unabhängig von seiner Intention erkennt Pilatus damit in Jesus eine überlegene Macht an. Das JohEv „entmilitarisiert“ so das Königreich Gottes, aber „entpolitisiert“ es nicht. Auch die Frage, ob Jesus bei seiner Reich-Gottes-Predigt apokalyptische Vorstellungen teilte (Synoptiker) oder nicht (JohEv; ThEv), lässt sich so klären. Wenn die Verbindung präsentischer und futurischer Eschatologie „persontypisch“ für Jesus ist, kann man beide „Eschatologien“ als einseitige Weiterentwicklung seiner Verkündigung betrachten. Dabei fällt auf, dass das JohEv und ThEv trotz gemeinsamer gnostisierender Tendenz zwar inhaltlich verschiedene Jesusbilder entwickeln, aber darin übereinstimmen, dass Jesus eine präsentische Eschatologie vertreten hat. Da wir auch in den Synoptikern Hinweise auf solch eine präsentische Eschatologie finden, hat sich hier eine Erinnerungspur des historischen Jesus erhalten.
Neben Übereinstimmungen in verschiedenen Überlieferungen sind auch Überlieferungen und Inhalte, die nur in einer Überlieferung begegnen, auswertbar, zumal dann, wenn sie 26 Dieses Kriterium begegnet bei E.Fuchs als Postulat, wo Wort und Verhalten Jesu übereinstimmen, liege Historisches vor. Vgl. E.Fuchs, Zur Frage nach dem historischen Jesus, Ges. Aufs. II, 1960, bes. 155; ders., Jesus. Wort und Tat, Tübingen 1971.
Die Auswertung der Quellen: Skepsis und Zuversicht
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sich gegen Tendenzen zur Verehrung Jesu erhalten haben (z. B. der Vorwurf des Teufelsbündnisses in Mk 3,21). Das Kohärenzkriterium muss daher durch das Kriterium der „Tendenzwidrigkeit“ ergänzt werden. 2.4 Historische Gestaltplausibilität
Sofern eine Überlieferung in seinem Ursprungsmilieu kontextplausibel und in der Erinnerungsgemeinschaft wirkungsplausibel ist, können wir in ihr Erinnerungsspuren einer historischen Person erkennen. Passen mehrere Spuren gut zusammen, bilden sie Erinnerungsmuster. Die Verbindung von Zukunft und Gegenwart, Heils- und Gerichtsbotschaft in seiner Verkündigung des Reiches Gottes bildet solche Erinnerungsmuster. Einzelne Worte mögen umstritten sein, nicht aber das Muster als Ganzes.27 Historische Gestaltplausibilität haben Erinnerungsmuster, die sich oft eindeutiger Jesus zuordnen lassen als einzelne Elemente. Zu diesen Erinnerungsmustern gehören die Formensprache der Verkündigung Jesu, sein Motivschatz und seine Handlungsmuster. Wo sich seine Worte sowie seine Taten zu verständlichen „Gestalten“ zusammenfügen, ist das Gesamtergebnis ein wichtiger Test zur Überprüfung der Einzelergebnisse. Für die Formensprache Jesus gilt: Wenn nur ein Beispiel einer Form authentisch ist, ist die ganze Form für Jesus nachgewiesen. Da wir unsicher sind, ob dies oder jenes Wort echt ist, wird die Echtheit einer Form umso wahrscheinlicher, je mehr Exemplare einer Form möglicherweise authentisch sind. Wir nähern uns seiner Formensprache, je mehr wir in ihr eine verständliche Gestalt als Ganzes entdecken. Dasselbe gilt für seinen Motivschatz. Auch wenn wir unsicher sind, ob dies oder jenes Wort, in dem er Gott einen Vater nennt, authentisch ist, sind wir sicher, dass die Vatermetaphorik in seiner Verkündigung zentral ist und das Bildfeld von Familienbildern strukturiert hat. Bei „Typologien“ (A.le Donne), bei denen Jesus auf Personen der Geschichte Israels zurückgreift, also auf David, Salomo und Jona, stellt sich die Frage: Ergibt sich daraus ein Geschichtsbild mit einer einheitlichen Gestalt? Wählte Jesus Figuren aus, die als Kritik der Gegenwart „kontrapräsentisch“ aktiviert werden konnten? Immer geht es darum, in der Jesusüberlieferung für Jesus typische Gattungen, Motive und Handlungsmuster zu erkennen und sie als Teile einer Gestalt zu verstehen. Erinnerungsmuster werfen auch ein Licht auf die Entstehung von Traditionen: Was kognitive Gedächtnisforschung als optimal für die Verbreitung von Traditionen erkannt hat, ist auch für die Entstehung von Traditionen optimal: Sie wecken Aufmerksamkeit durch eine neue Botschaft und wirken dauerhaft, wenn sie aktivieren können, was für die Adressaten evident ist. Sofern Strukturmerkmale erfolgreichen Produzierens und Tradierens ähnlich sind, können wir Jesusüberlieferungen mit ihrer Hilfe bis zum historischen Jesus zurückverfolgen. Die Verkündigung Jesu muss dieselbe Struktur haben wie die Erinnerungsbilder von Jesus als eine Kombination von intuitiven Inhalten mit minimal kontraintuitiven Zügen. 27 D.C.Allison, Constructing Jesus*, 2010, hat überzeugend für solch ein Ganzheitskriterium plädiert.
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Erster Teil: Die Quellen und ihre Auswertung
Erkennt man trotz aller Veränderungen eine strukturelle Kontinuität zwischen Jesus und seinen Nachfolgern nach Ostern, kann man mit authentischen Jesusüberlieferungen rechnen – zumal dann, wenn man nicht nur mit einer Kontinuität durch kognitive Überlieferungsstrukturen rechnet, sondern auch durch reale Sozialstrukturen wie dem Wandercharismatikertum Jesu und seiner Nachfolger. Wir fassen unsere Überlegungen zu den „Echtheitskriterien“ in einer Tabelle zusammen und nennen dabei jeweils Beispiele aus der Eschatologie Jesu: Kohärenz durch allgemeine Erinnerungsmuster
Inkohärenz durch Individuelle Erinnerungsspuren
Wirkungsplausibilität
Wiederkehrende Strukturen und Motive sind als persontypische Auswirkung Jesu plausibel und geben dem Bild Jesu Kohärenz
Individuelle Erinnerungsspuren gegen Überlieferungstrends sind als Auswirkung Jesu plausibel und geben dem Bild Jesu Tendenzwidrigkeit
Kontextplausibilität
Milieutypische Strukturen und Motive stimmen mit dem geschichtlichen Kontext überein und schaffen kontextuelle Korrespondenz
Individuelle Erinnerungsspuren erhalten sich gegen das Milieu und schaffen kontextuelle Individualität
Ȥ Kohärenz z. B. durch eine durchgehende Verbindung präsentischer und futurischer Eschatologie: Das zukünftige Reich Gottes ist verborgen schon da. Ȥ Tendenzwidrigkeit, z. B. durch den Vorwurf des Teufelsbündnisses gegen die Tendenz zur Verklärung Jesu: Das Reich Gottes kommt in Exorzismen. Ȥ Korrespondenz, z. B. als Übereinstimmung mit dem galiläischen Milieu und der radikaltheokratischen Eschatologie des Judas Galilaios: Gott allein soll herrschen. Ȥ Individualität, z. B. durch Abgrenzung von der Steuerverweigerung des Judas Galilaios durch Friedensboten und das Streitgespräch zur Steuerfrage. Wichtig ist: Auch in der Jesusforschung gilt der hermeneutische Zirkel von Ganzem und Teil. Die Jesusforschung der new quest hinterließ den Eindruck, als müsse man viele Einzeltraditionen für sich untersuchen und sie erst in einem zweiten Schritt zu einem historischen Jesusbild zusammenfügen. Aber jedes Einzelergebnis muss von vornherein daraufhin geprüft werden, wie weit es in eine Gesamtsicht Jesu und seiner Zeit passt. Dann ergeben einzelne milieu- und wirkungsplausible Erinnerungspuren zusammen ein kohärentes Erinnerungsmuster mit großer Gestaltsplausibilität. Solch ein Gesamtbild kann sogar in Überlieferungen enthalten sein, deren Historizität und Authentizität nicht sicher ist. „Anekdotischer Authentizität“ haben auch erfundene Worte, die charakteristische Merkmale einer Person treffen. Als Beispiel diene eine Anekdote vom Ch.H.Spurgeon zum Thema „die vollkommene Kirche“:
Die Auswertung der Quellen: Skepsis und Zuversicht
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‚Niemals könnte ich mich entschließen, einer der bekannten Kirchen beizutreten. Keine von ihnen ist vollkommen, sagte ein Zuhörer nach einem Vortrag des Londoner Predigers Ch.H. Spurgeon. ‚Tja, mein lieber Freund‘, antwortete dieser, ‚sollten Sie jemals eine vollkommene Kirche finden, so wird sie sich weigern, Sie aufzunehmen, denn sobald sie aufgenommen wären, hörte sie auf, vollkommen zu sein.
Spurgeon, ein charismatisch begabter baptistischer Laienprediger, trat 1887 aus Protest aus seiner Kirche aus, weil sie allzu liberale Ansichten über Sühne und die Interpretation der Bibel vertrat.28 Die Anekdote könnte historisch sein. Spurgeon wusste, dass kein Mensch vollkommen ist. Jedoch ist zu vermuten, dass eine erfundene Anekdote Spurgeon an seiner eigenen Überzeugung misst und kritisiert – und dennoch eine „wirkungsauthentische“ Spur von Spurgeon ist.
3. Hermeneutische Reflexion Trotz bester historischer Methodik bleibt alles historische Wissen hypothetisch, immer versehen mit dem Vorbehalt, es könnte auch anders gewesen sein. Glauben ist dagegen etwas Unbedingtes. Zwischen historischen Hypothesen und unbedingtem Vertrauen klafft ein Abgrund, den Lessing einen „garstig breiten Graben“ nannte.29 Die Theologie ist bisher vier Wege gegangen, um diesen Graben zu überwinden. Wir ergänzen ihn um eine fünfte Möglichkeit. 1. Die Orientierung am biblischen Jesusbild. Alle historischen Jesus-Rekonstruktionen umgibt eine Aura von Hypothesen. Warum soll man den Konstrukten wissenschaftlicher Phantasie nicht das biblische Jesusbild vorziehen und darauf vertrauen, dass es eine Auswirkung des historischen Jesus ist? Haben wir nicht den „wirklichen Jesus“ in dem von ihm „bewirkten Bild“ erhalten? Für diese „biblizistische“ Lösung plädierte Martin Kähler 1892 in seiner Schrift „Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus“.30 2. Die historische Begründung des Jesusbildes. Trotzdem entstand immer wieder das Bedürfnis, das biblische Jesusbild historisch abzusichern. Programmatisch wurde dieses Bemühen von „positiv-kritischen“ Jesusforschern wie J.Jeremias, L.Goppelt und W.G.Kümmel vertreten. Man erwartet von historischer Forschung gesicherte Erkenntnisse in einem Meer von Hypothesen und Ungewissheiten. Die Begründung ist auch hier theologisch: „Nur der Menschensohn selbst und sein Wort können der Verkündigung Vollmacht geben.“31 28 B.Stanley, Art. Spurgeon, Charles Haddon (1824–1892), TRE 32 (2001) 1–3. 29 Vgl. G.E.Lessing, Über den Beweis des Geistes und der Kraft, in: Gotthold Ephraim Lessing Werke, Bd. 8; München 1979, 9–14. 30 In neuer Zeit vertraten LT.Johnson, The Real Jesus. The Misguided Quest for the Historical Jesus and the Truth oft he Traditional Gospels, 1996, und K.Wengst, Der wirkliche Jesus? Eine Streitschrift über die wenig ergiebige und theologisch sinnlose Suche nach dem ‚historischen‘ Jesus, 2013, diese Position. 31 J.Jeremias, Der gegenwärtige Stand der Debatte um das Problem des historischen Jesus, in: H.Ristow/ K.Matthiae, Der historische Jesus und der kerygmatische Christus, 21961, 12–25, 25.
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Erster Teil: Die Quellen und ihre Auswertung
3. Die kerygmatheologische Reduktion des Jesusbildes. Wer den christlichen Glauben nicht von den wechselnden Hypothesen der Wissenschaft abhängig machen will, kann mit der Kerygmatheologie R.Bultmanns die Beziehung des christlichen Glaubens auf das formale „Dass“ des Gekommenseins Jesu“ reduzieren. Beim Vollzug von Predigt und Glauben bezieht man sich auf das biblische Jesusbild, das durch Entmythologisierung für die Gegenwart erschlossen wird, aber bei der theologischen Reflexion auf einen unanschaulichen transzendenten Ursprung des Kerygmas. 4. Das symbolische Verständnis des Jesusbildes löst sich noch konsequenter von der Geschichte. Poetische und bildliche Texte wie die Gleichnisse Jesu haben ihre Wahrheit in sich, unabhängig von ihrer Authentizität. Warum soll man das neutestamentliche Zeugnis von Jesus nicht ebenso als Bild und Gleichnis für zeitlose Wahrheiten deuten? Etwa für die Einsicht, dass der Mensch von unverfügbarer Gnade lebt? Diese innere Wahrheit bedarf keiner äußeren Bestätigung. Das Jesusbild wird hier nicht nur „entmythologisiert“, sondern „entkerygmatisiert“ und zu einer zeitlosen Chiffre. Der Begriff „Chiffre“ impliziert, dass unser Denken bei deren Entzifferung immer wieder scheitert. Für diese Lösung plädierte in Anlehnung an die Philosophie Karl Jaspers F.Buri.32 5. Die erinnerungsethische Motivation zur Jesusforschung. Im Rahmen der Erinnerungshermeneutik gibt es eine neue Begründung für die Notwendigkeit der Frage nach dem historischen Jesus: Bei Menschen, die geschichtlich gewirkt haben, ist die Geschichtswissenschaft verpflichtet zu klären, was sie getan und gewollt haben, vor allem, wenn sie in der weiteren Geschichte „verklärt“ oder „verdammt“ wurden. Während die bisher genannten Begründungen für die Frage nach dem historischen Jesus theologisch waren, ist dieser erinnerungsethische Ansatz (A. Merz)33 unabhängig von der religiösen Einstellung eines Menschen. Denn alle Menschen haben als Gegenstand der Forschung ein Recht darauf, dass man sie nach bestem Wissen und Gewissen fair beurteilt. Alle Menschen haben als Adressaten der Forschung ein Recht darauf, dass historische Forschung ihnen sagt, was wir methodisch kontrolliert von Jesus wissen und was wir nicht wissen. Ein wissenschaftlicher Ansatz verpflichtet auch dazu, offene Fragen offen zu halten. Trotzdem gibt es in der historischen Forschung begrenzte Gewissheiten. Niemand bestreitet, dass Cäsar und Luther gelebt haben, dass jener das römische Reich um Gallien erweitert und dieser die Reformation eingeleitet hat. Wichtiger als nicht vorhandene Gewissheit zu kon struieren, ist es, solche Plausibilitäten verständlich zu machen. Die Frage ist: Ist die im historischen Bereich sonst mögliche Plausibilität bei Jesus erreichbar?34 32 Vgl. F.Buri, Entmythologisierung oder Entkerygmatisierung der Theologie, in: H.-W. Bartsch, Kerygma und Mythos 2, 1954, 85–101. 33 A.Merz, Gibt es eine ethische Verpflichtung zur historischen Jesusforschung? Ein neuer Zugang zu alten Dilemmas (Vortragsmanuskript). Vgl. A.Merz, Wil de echte Jezus opstaan? Oude dilemma’s, nieuwe trends en de relevantie van historisch Jezusonderzoek, Collationes 50 (2020) 391–416. Dieser erinnerungsethische Ansatz basiert auf A.de Baets, Responsible History, 2009. 34 Vgl. G.Theißen, Historical Scepticism and the Criteria of Jesus Research or My Attempts to Jump over Lessings Ugly Ditch, (1996), in: T.Holmén/S.E.Porter (eds.), Handbook for the Study of the Historical Jesus 1, 2011, 549–587.
Die Auswertung der Quellen: Skepsis und Zuversicht
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Gewissheit entsteht weder allein aufgrund äußerer Daten a posteriori noch apriorischer Überzeugungen, sondern durch deren kontingente Korrespondenz, wenn Überzeugungen, die wir vor unserer Begegnung mit den Quellen hatten, durch die Daten der Quellen bestätigt werden. Gerade die drei axiomatischen Ideen des modernen historischen Bewusstseins – menschliche Irrtumsfähigkeit, historische Relativität und hermeneutische Distanz – bilden den Grund für die uns mögliche historische Gewissheit. Alle drei enthalten in sich eine Dialektik: a) Wenn alle Quellen von irrtumsfähigen Menschen stammen, müssen wir ihnen gegenüber skeptisch sein. Aber so wenig Menschen perfekt genug sind, um die Wahrheit vollkommen wiederzugeben, so wenig sind sie in der Lage, sie total zu verdrehen. Auch das mächtigste Komitee zur Irreführung späterer Historiker in Palästina hätte nicht alle Zufälle kontrollieren können, die von vergangenen Ereignissen und Personen zeugen. Es konnte nicht gleichzeitig Josephus, Tacitus und die Evangelisten überreden, verschiedene Notizen über Pilatus zu verbreiten. Es konnte nicht seine Münzen an verschiedenen Stellen in Palästina verstecken und gleichzeitig für eine Inschrift sorgen, die später im Theater von Cäsarea noch einmal als Baumaterial verwertet wurde usw. Die Zufälligkeit der geschichtlichen Quellen macht uns gewiss, dass wir mit einer historischen Realität Kontakt haben. b) Wenn alle Geschichte relativ ist, d. h. ableitbar aus vorhergehenden Traditionen und Vorgängen, wird zwar die Einzigartigkeit Jesu relativiert und in Entwicklungen eingebettet. Aber in diesem historischen Relativismus steckt eine innere Dialektik: Entwicklungsreihen setzen voraus, dass wir Früheres und Späteres unterscheiden können. Dies ist nur möglich, wenn die einzelnen Momente des Entwicklungsprozesses „Individualitat“ besitzen und voneinander unterscheidbar sind. Wir bringen also den Gedanken der Individualität schon immer mit, wenn wir nach Entwicklung fragen. Beide erkenntnisleitenden historischen Ideen wurden im vorletzten Jahrhundert daher auch gleichzeitig formuliert. c) Die axiomatische Überzeugung von der hermeneutischen Fremdheit der Vergangenheit macht es unmöglich, die Vergangenheit anachronistisch nach Modellen und Maßstäben der Gegenwart zu deuten. Wenn alles in der Geschichte nur fremd wäre, könnte keine Gestalt der Vergangenheit gegenwartsrelevant werden, ohne dass sie „verfälscht“ wird. Würden wir in der Vergangenheit aber nur unserer eigenen Lebenswelt begegnen, würden wir nie auf den Gedanken kommen, dass sie „geschichtlich“ ist, sondern würden sie in eine unveränderbare Natur einordnen. Erst durch Konfrontation mit fremden Lebenswelten erkennen wir, was uns mehr als alles andere über die Jahrhunderte hinweg verbindet: die sinngebende Aktivität des Menschen, die verschiedene Lebenswelten aufbaut und ihnen verschiedene Deutungen gibt. Erst jetzt erkennen wir z. B., dass sich in der Deutung psychischer Störungen als „Besessenheit“ eine Deutungsaktivität des Menschen zeigt. Erst jetzt verstehen wir, dass apokalyptische Gerichtserwartungen von Menschen entworfene Bilder sind. Als Fazit bleibt: Die menschlich mögliche Gewissheit im Umgang mit dem historischen Jesus ist, dass wir bei der Beschäftigung mit ihm nicht in „Dialog“ mit einem Phantasieprodukt
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Erster Teil: Die Quellen und ihre Auswertung
treten, sondern mit einer konkreten historischen Gestalt. Einzelaussagen innerhalb einer Jesusdarstellung haben nur einen mehr oder weniger großen Wahrscheinlichkeitsgrad. Hypothetisches bildet eine Aura um jedes Jesusbild. Darum müssen wir uns mit dem hypothetischen Charakter unseres Wissens versöhnen. Denn nicht nur unsere Jesusbilder, sondern unser ganzes Leben lässt sich als Hypothese deuten, d. h. als ein Versuch, der Realität zu entsprechen. Leben ist „trial and error“. Wenn das Hypothetische so tief in der Struktur der Realität verwurzelt ist, warum sollen wir es nicht akzeptieren? Folgende Argumente können dabei eine Hilfe sein: Ein ästhetisches Argument: Hypothetisches Wissen kann ästhetisch überzeugend gestaltet werden. Eine ästhetisch ansprechende Jesusdarstellung hat auch dann einen Wert, wenn ihre Hypothesen überholt werden. Das gibt dem biblizistischen Ansatz ein relatives Recht (Nr. 1). Ein hermeneutisches Argument: Jeder Mensch muss in seinen Intentionen ernst genommen werden. Jesus hielt seine Lehre nicht für absolut „gut“ (Mk 10,18), wies die Messiaserwartung des Petrus zurück (Mk 8,27–30), rechnete mit Widerlegung seiner Prophetie, wie sie Jona geschah (Mt 12,38). Skepsis kann sich auch auf ihn berufen. Das entspricht dem historischen Rückgriff auf ihn (Nr. 2). Ein soziales Argument: Das Bewusstsein hypothetischen Wissens ist die beste Grundlage für Toleranz. Wenn es in 300 Jahren historisch-kritischer Jesusforschung nicht gelang, ein krisenresistentes Jesusbild zu entwerfen, so sollen wir auf Absolutheitsansprüche, nicht aber auf Geltungsansprüche zu verzichten. Das entspricht der Bereitschaft zur Reform des Glaubens im „Entmythologisierungsprogramm“ (Nr. 3). Ein religiöses Argument: Christlicher Glaube besteht in der Überzeugung, dass Gott die scheiternden Versuche unseres Lebens akzeptiert. Wird er nicht auch unsere Hypothesen über Jesus akzeptieren, wenn wir sie nach bestem Wissen und Gewissen entwerfen? Das entspricht einer Deutung der Religion als Chiffren, die immer wieder scheitern, wenn sie das Geheimnis Gottes umkreisen (Nr. 4). Ein anthropologisches Argument: Jeder Mensch ist ein Eigenwert. Wir werden ihm nur gerecht, wenn wir ihn nicht für unsere eigenen Werte „instrumentalisieren“. Daher darf man sich nicht mit der Skepsis zufriedengeben, als habe es keinen Sinn, Hypothesen darüber zu entwickeln, wer ein Mensch in der Vergangenheit wirklich war. Das entspricht dem erinnerungsethischen Ansatz, der danach fragt, was ein Mensch wollte, erreichte und verfehlte (Nr. 5). Dass jeder Mensch ein Eigenwert ist, bedeutet in einem religiösen Rahmen: Er ist ein Ebenbild Gottes.
Zweiter Teil: Der Rahmen der Geschichte Jesu
§ 5 Der zeitgeschichtliche Rahmen des Lebens Jesu
P.W.Barnett, The Jewish Sign Prophets – A.D. 40–70. Their Intentions and Origins, NTS 27 (1981) 679–697; R.Deines, Die Pharisäer. Ihr Verständnis im Spiegel der christlichen und jüdischen Forschung seit Wellhausen und Graetz, 1997; R.A.Horsley/J.S.Hanson, Bandits, Prophets, and Messiahs, 1985; M.H.Jensen, Herod Antipas in Galilee. The Literary and Archaeological Sources on the Reign of Herod Antipas and its Socio-Economic Impact on Galilee, 2006; J.Maier, Zwischen den Testamenten. Geschichte und Religion in der Zeit des zweiten Tempels, 1990; M.Marshall, The Portrayals of the Pharisees in the Gospels and Acts, 2015; J.Neusner, From Politics to Piety, 1973 21979; ders., Judentum in frühjüdischer Zeit, 1988; E.P.San ders, Judaism. Practice and Belief 63 BCE – 66 CE, 1992; P.Schäfer, Geschichte der Juden in der Antike, 2
2010; H.Stegemann, Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus, 1993; G.Stemberger, Pharisäer, Sad-
duzäer, Essener, 1990. M.Tiwald, Das Frühjudentum und die Anfänge des Christentums, 2016; G.Theißen, Sadduzäismus und Jesustradition. Zur Auseinandersetzung mit Oberschichtmentalität in der synoptischen Überlieferung (1996), in: Jesus als historische Gestalt, 2003, 111–131.
Historische Gestalten werden nur in ihrem Kontext verständlich. Das wird auch dann verkannt, wenn man sie so in ihre Umwelt einordnet, als liefen alle Entwicklungslinien auf sie zu. Jesus ist im Judentum in mancher Hinsicht eine „Randerscheinung.1 Doch umfasst sein Wirken Spannungen, die das ganze Judentum charakterisieren: Tradition und Traditionsbruch, Gesetz und Prophetie, Erwählung und Universalität.
1. Grundzüge des Judentums in hellenistisch-römischer Zeit2 Jesus teilte die Grundüberzeugungen des Judentums: den Glauben an den einen Gott, die Ebenbildlichkeit des Menschen, die Erwählung Israels und die Geltung des Gesetzes. Sichtbare Ausdrucksformen dieses Glaubens waren: Tempel und Synagoge, Opfer- und Wortgottesdienst, Heilige Schriften und Traditionen“. Das erste Identitätsmerkmal des Judentums war der Monotheismus: Zwar vertraten ihn auch einige nicht-jüdische Philosophen, aber Josephus war stolz darauf, dass nur Moses ein ganzes Volk auf ihn verpflichtet hat (Ap 2,168f). Es war ein exklusiver Monotheismus, der andere Götter verwarf, jedoch untergeordnete göttliche Wesen wie die „Weisheit“ als Teil 1
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Vgl. J.P.Meier, A Marginal Jew. Rethinking the Historical Jesus, 1991–2016, ordnet Jesus konsequent ins Judentum ein. 100 Jahre vorher zeichnete W.Bousset in: Jesu Predigt in ihrem Gegensatz zum Judentum, 1892, ein ganz anderes Bild, das er in weiteren Arbeiten freilich korrigierte. E.P.Sanders, Judaism*, 1992, nennt dies „Common Judaism“.
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Zweiter Teil: Der Rahmen der Geschichte Jesu
dieses Gottes akzeptierte. Ferner war es ein ethischer Monotheismus, der überzeugt war, „dass Gott die Tugend rein besitzt und dass die Menschen danach streben sollen, an ihr teilzuhaben“ (Ant 1,23). Es war schließlich ein universaler Monotheismus. Für Philo war das jüdische Gesetz das Naturgesetz, an dem sich Abraham schon vor der Gesetzgebung am Sinai orientiert hatte.3 Ein zweites Identitätsmerkmal des Judentums war der Bundesnomismus:4 Gott hat sein Volk durch seinen Bund erwählt, aus Sklaverei befreit und ihm sein Gesetz gegeben, damit es im Bund bleiben kann: Zum Gesetz gehören ethische und kultische Normen, so dass das ganze Leben zum Gottesdienst wird. Es bietet bei Gebotsübertretungen Möglichkeit zu Sühne und Umkehr. Schon seine Existenz ist Ausdruck von Gnade. Denn Gott hat es nach Abfall des Volkes durch dessen Verehrung des Goldenen Kalbes aus reiner Gnade erneuert (Ex 32 und 34). Das Judentum machte seinen Glauben in drei Formen sichtbar: gegenständlich in Gebäuden, vollziehend in Riten, sprachlich in Texten.5 Charakteristisch für das Judentum war, dass es neben einem einzigen zentralen Tempel viele Synagogen als sakrale Gebäude kannte. Der jüdische Gottesdienst zeichnete sich durch Kultzentralisation, Bilderlosigkeit und Konzentration auf das Wort aus. Gott wurde ohne Götterbild im Jerusalemer Tempel verehrt. Je unsichtbarer Gott wurde, umso mehr richtete sich die Frömmigkeit auf den sichtbaren Ort, an dem „sein Name“ wohnt (Dtn 12,5). Daneben entstanden an vielen Orten Synagogen mit Wortgottesdiensten und einer Laienfrömmigkeit, in der auch Jesus zu Hause war. Wie sonst in der Antike waren Opfer die zentralen Riten. Opferkult gab es nur im Tempel, Höhepunkt war der Versöhnungstag (Lev 16). Nur an ihm betrat der Hohepriester das Allerheiligste, um Sühne für das Volk zu schaffen. Daneben entwickelten Juden den opferlosen Synagogengottesdienst mit Lesung und Auslegung der Schriften und galten daher bei einigen Zeitgenossen als ein „philosophisches Volk“, das sein Leben nach einer Lehre ausrichtete.6 Schrift und Tradition hatten im Judentum eine weit größere Bedeutung als in anderen Religionen. Es gab seinen Texten durch Kanonisierung einen hohen Rang. Der Kanon aus Thora, Propheten und Schriften war zurzeit Jesu fast abgeschlossen, auch wenn Prediger und Hohelied Salomos erst gegen Ende des 1. Jh. allgemein anerkannt wurden. Die Sadduzäer akzeptierten nur fünf Bücher Mose, die Pharisäer über alle kanonischen Schriften hinaus mündliche Traditionen, die Essener auch apokryphe Schriften.
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Bei Philo begegnet zum ersten Mal der Begriff „Naturgesetz“ (ho tēs physeōs nomos) (Abr 135). Der Begriff „covenantal nomism“ wurde von E.P.Sanders, Paulus und das palästinische Judentum, 1985, bes. 397ff, geprägt, um die Grundstruktur des jüdischen Glaubens zu bezeichnen. Vgl. F.Stolz, Grundzüge der Religionswissenschaft, 1988, 101 ff. Theophrast (Porphyrius, Abst II,26); Megasthenes (Clem Alex., Strom I,15,72); Klearchos von Soloi (Jos Ap 1,176–182) (= GLAJJ, Nr. 4, 14 und 15).
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Charakteristisch für Juden war die Gestaltung des ganzen Lebens durch Gebote, einerseits durch ethische Gebote, die sie mit allen Völkern teilten wie das Verbot von Mord, Ehebruch und Diebstahl, andererseits durch rituelle Gebote wie Beschneidung und Sabbatheiligung, die sie von anderen Völkern unterschieden. „Damit wir nicht besudelt und durch schlechten Umgang verdorben werden, umgab er (Gott) uns von allen Seiten mit Reinheitsgeboten in Bezug auf Speisen und Getränke und Berühren, Hören und Sehen.“ (Arist 142). Dieses Judentum hatte sich gebildet, nachdem Alexander d.Gr. 334 v. Chr. Palästina erobert hatte,7 das danach Ptolemäer von Ägypten und seit 198 v. Chr. Seleukiden von Syrien aus regierten. Der sich mit ihnen verbreitende „Hellenismus“ bestand nicht nur in der Übernahme griechischen Lebens und Denkens im Orient, sondern ebenso in dortigen Erneuerungsbewegungen, die sich griechischer Formen und Gedanken bedienten. Jesus Sirach setzte den Griechen die „Weisheit“ der eigenen Kultur entgegen. Der Prediger Salomo begründete wie die Epikuräer Lebensfreude trotz Nichtigkeit aller Dinge. Das Wächterbuch im Äthiopischen Henoch (äthHen 1–36) überbot alle irdische Weisheit durch apokalyptische Offenbarungen einer neuen Welt.
2. Jüdische Erneuerungsbewegungen des 2. Jh. v. Chr. Nach dem Wechsel von ptolemäischer zur seleukidischen Herrschaft 198v. Chr. zerfiel die jüdische Führungsschicht in den konservativen proptolemäischen Flügel der Oniaden und den proseleukidischen Flügel der Tobiaden, die das Judentum für Nicht-Juden öffnen wollten. Diese gründeten 175 v. Chr. Jerusalem als eine griechische Polis mit einem dem Zeus gewidmeten Tempel, scheiterten aber, als sie ihre Reform mit Hilfe des syrischen Herrschers gewaltsam durchsetzen wollten, am Widerstand der Makkabäer, die von 141 bis 63 v. Chr. einen selbständigen jüdischen Staat errichteten.8 2.1 Das Scheitern der hellenistischen Reform
Die Reformer, die Jerusalem als Polis neu gründeten, verstanden sich als eine jüdische Umkehrbewegung, die zu den Ursprüngen Israels zurückkehren wollte. Sie sagten: „Lasst uns hingehen und mit den Völkern, die rings um uns sind, ein Übereinkommen treffen, denn seitdem wir uns von ihnen abgesondert haben, traf uns viel Unheil“ (1Makk 1,11). Sie wollten den mosaischen Kult ohne Beschneidung, Sabbatgebot und Speisegebote erneuern, die sie für Hinzufügungen zum Gesetz des Moses hielten. Ihr Geschichtsbild könnte bei Strabo erhalten sein (Geogr XVI, 2,34–46 = GLAJJ 115).
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Vgl. den Titel von A.Chaniotis, Age of Conquests. The Greek World from Alexander to Hadrian, 2018, deutsch: Die Öffnung der Welt. Eine Globalgeschichte des Hellenismus, 2019. Die meisten Juden erlebten den Hellenismus als Eroberung, die Oberschicht aber auch als Öffnung. Vgl. M.Tiwald, Frühjudentum*, 2016, 59–68.
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Diese Reformer spalteten sich in Gemäßigte um den Hohepriester Jason und Radikalere um den Hohepriester Menelaos. Die Radikalen wollten sich mit Hilfe des syrischen Königs durchsetzen, wurden aber u. a. dadurch kompromittiert, dass dieser den Tempelschatz beschlagnahmte, um Kontributionen an die Römer zahlen zu können, und dabei das Heiligtum betrat, obwohl das Heiden verboten war (1Makk 1,20–28). Als danach der gemäßigte Flügel um Jason die Macht übernahm, spitzte sich der Konflikt aber erst recht zu. Denn der syrische König Antiochus IV. Epiphanes verbot – wahrscheinlich auf Betreiben der Radikalen – 168 oder 167 v. Chr. Beschneidung und Sabbatheiligung. Thorarollen wurden verbrannt, der Tempel dem Zeus Olympios gewidmet. Die von einem innerjüdischen Konflikt geprägte Reform scheiterte letztlich am Widerstand der auf dem Land verwurzelten Makkabäer. Sie eroberten 164 Jerusalem, weihten den Tempel aufs Neue, was im Chanukkafest bis heute gefeiert wird. Ihr Anführer Jonathan wurde 152 der erste makkabäische Hohepriester. Die Reformer zogen sich in die Akra zurück, eine von den Seleukiden errichtete Festung bei Jerusalem, die 141 v. Chr. von den Makkabäern erobert wurde. Ihre Reform war der Versuch einer Öffnung des Judentums für NichtJuden durch Oberschichtmitglieder, die Jesusbewegung dagegen ein im ganzen Volk verwurzelter Versuch solch einer Öffnung, der bei anderen Juden wie dem vorchristlichen Paulus z. T. auf erbitterten Widerstand stieß. Nachdem sich die Makkabäer durchgesetzt hatten, zogen sich unter den Konservativen die Oniaden ca. 150 v. Chr. nach Ägypten zurück und gründeten dort den Tempel von Leontopolis. Etwa in dieser Zeit wurde auch ein zadokidischer Hohepriester aus Jerusalem verdrängt und fand als „Lehrer der Gerechtigkeit“ im essenischen Bund einen Ersatz für den Tempel. Das war ein Vorläufer der Gemeinde von Qumran. 2.2 Der makkabäische Aufstand gegen die hellenistischen Reformer
Gegen die vom seleukidischen König unterstützte Reform hatte sich auf dem Land der Widerstand der Makkabäer geformt, die als Priester allen Grund hatten, sich gegen die Entweihung des Tempels, ihrer Lebensbasis, aufzulehnen. Sie führten den militärischen Flügel der Widerstandsbewegung an, verbündeten sich dabei mit religiös motivierten Kreisen, den sogenannten „Chassidim“, den „Frommen“).
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Die Makkabäerdynastie Mattathias aus der Familie der Hasmonäer Judas Makkabäus 166–160
Ihre Erfolge Beginn des Aufstandes in Modein 168/167
Eroberung Jerusalems und Tempelreinigung 164
Jonathan 160–143
Jonathan wird 153/2 vom seleukidischen König als Hohepriester eingesetzt. Simon 143–134
Simon wird 143 durch eine Volksversammlung zum Ethnarchen und Hohepriester eingesetzt, bis ein verlässlicher Prophet kommt.
Johannes Hyrkan 134–104
Johannes Hyrkan beansprucht für sich drei Ämter: Ethnarch, Hohepriester und Prophet. Er erobert Samarien und Idumäa. Aristobulos nennt sich als erster „König“. Er erobert Galiläa.
Aristobulos 105–104 Alexander Jannäus 103–76
Alexander erobert die umliegenden hellenistischen Städte.
Als 168/9v. Chr. ein königlicher Beamter in Modein den Vollzug heidnischer Opfer von Juden forderte und ein Jude sich dazu hergab, wurde er zusammen mit diesem Juden von Matta thias mit Beinamen Makkabaios (der „Hammer“) getötet. Das war das Zeichen zum Aufstand. Als Mattathias sah, wie ein Jude auf dem Altar nach heidnischer Sitte opfert, „geriet er in Eifer (zēlos) und sein Innerstes erbebte; zu Recht stieg ihm (der) Zorn auf, er lief hinzu und erschlug ihn am Altar. Zugleich tötete er den Mann des Königs, der zum Opfern nötigte, und zerstörte den Altar. So eiferte er für das Gesetz, wie es (einst) Pinehas gegenüber Simri, dem Sohn des Salu, tat. In der Stadt aber rief Mattathias mit lauter Stimme aus: ‚Jeder, der für das Gesetz eifert (und) zum Bund steht, folge mir!‘“ (1Makk 2,24–27)
Seitdem legitimierte sich Aggression gegen Fremde und Juden, die sich fremden Einflüssen öffneten, als „Eifer“ für das Gesetz.9 Die aus der Hasmonäersippe stammenden Makkabäer errichteten einen autonomen jüdischen Staat, entfernten sich dabei aber von ihrer Machtbasis, dem jüdischen Volk und den Frommen. Einer ihrer Fürsten, Aristobulos I. (105– 104 v. Chr.), nannte sich sogar „Freund der Griechen“ (Ant 13,318). Die „Frommen“, die 9
Im römisch-jüdischen Krieg verteidigten „Eiferer“ (Zeloten) bis zum Ende den Tempel. Vorher sind „Zeloten“ nur selten bezeugt. Ein Jünger Jesu hat den Beinamen „der Zelot“ (Lk 6,13). Paulus war vor seiner Bekehrung vom Ideal des „Eifers“ ergriffen (Gal 1,14; Phil 3,6).
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Chassidim, waren nur am Anfang ihre Verbündete (1Makk 2,42). Auch wenn sie als Kriegstreiber galten (2Makk 14,6), waren die Chassidim politisch zum Frieden bereit, nachdem sie ihr religiöses Ziel, die Wiederherstellung des Tempelkults und die Einsetzung eines legitimen Hohepriesters Alkimos, erreicht hatten (1Makk 7,13f). Die Makkabäer kämpften dagegen weiter.10 Ihre Opposition gegen die Reformer wurde durch Schriften mit eschatologischen „Offenbarungen“ unterstützt, durch eine „Revolte der Schreiber“.11 2.3 Die Eschatologisierung der jüdischen Religion in der Apokalyptik
Juden hatten in ihrer Geschichte oft erfahren, dass kein Weltreich Bestand hat. Die DanielApokalypse stellte Anfang des 2. Jh. v. Chr. die Reiche der Babylonier, Perser, Meder und Griechen als nacheinander wirkende Ungeheuer dar. Nach deren Vernichtung erwartet sie eine himmlische Gestalt „wie ein Menschensohn“, der Israel zur Herrschaft verhilft (Dan 7). Aus der apokalyptischen Literatur wurde nur das Danielbuch und Jes 24–27 in den Kanon aufgenommen. Andere apokalyptische Bücher, die vom 3. Jh.v. bis zum 2. Jh.n. Chr. entstanden waren, blieben apokryph: der äthiopische Henoch, die jüdischen Sibyllinen, das Jubiläenbuch, die Assumptio Mosis, der syrische Baruch und das 4. Buch Esra. Sie sind Ausdruck einer eschatologischen Ausrichtung des jüdischen Denkens auf eine neue Welt jenseits des Todes. Ihre Merkmale sind:12 1. Pseudonymität: Die Apokalyptiker schreiben ihre Schriften unter dem Namen vergangener Gestalten: Henoch, Abraham, Mose und Daniel. 2. Offenbarungsanspruch durch Visionen (Dan 7), Himmelsreisen (äthHenoch), Auditionen und Dialoge mit einem Engel (4Esr). 3. Zwei-Äonen-Lehre: Diese Welt wird durch eine neue Welt abgelöst. Der Anfang der neuen Welt setzt das Ende dieser Welt voraus. 4. Geschichtsüberblicke im Futur erhöhen die Glaubwürdigkeit der Weissagungen, indem sie wie in Dan 7 schon geschehene Geschichte prophezeien und deuten. 5. Pessimismus und Jenseitshoffnung: Die Geschichte ist ein Prozess von Degeneration, aber das Leiden in dieser Welt wird durch das Heil in der neuen Welt kompensiert. 6. Universalismus und Individualismus: Der Blick wird auf die ganze Geschichte bis zum Ende ausgeweitet. Die Gerichtserwartung verschärft die individuelle Verantwortung. 7. Determinismus und Naherwartung: Der Geschichte liegt der göttliche Wille zugrunde. Wenn das Weltende naht, kündigt es sich in Zeichen an.
10 Nach traditioneller Sicht sind die Chassidim Vorläufer von Pharisäern und Essenern. G.Stemberger, Pharisäer*, 1990, 91ff, bezweifelt, dass die drei Erwähnungen der Chassidim relevante Informationen zur Vorgeschichte von Pharisäern und Essenern hergeben. 11 R.A.Horsley, Revolt of the Scribes: Resistance and Apocalyptic Origins, 2009. 12 Diese Merkmale nennt Ph.Vielhauer/G.Strecker, Apokalypsen und Verwandtes, in: W. Schneemelcher, Neutestamentliche Apokryphen II, 1989, 401–503.
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Jesus teilte die Erwartung des Gottesreiches, des Gerichts und des Menschensohns, verbreitete sie aber nicht in gelehrten Schriften, sondern verbunden mit weisheitlichen Lehren in mündlicher Form. Seine Vision hatte inhaltlich neue Züge. Das Reich Gottes beginnt schon verborgen in der Gegenwart und verwirklicht sich nicht durch militärische Siege über die Fremden, sondern öffnet sich für sie. 2.4 Die Entstehung der Religionsparteien im 2. Jh. v. Chr.
Der hellenistische Reformversuch und der Widerstand gegen sie führten zur Entstehung von drei Religionsparteien: Sadduzäer, Pharisäer und Essener im 2. Jh. v. Chr. Die Sadduzäer vertraten eine konservative, priesterliche Opposition zu den Reformern. Einige den Sadduzäern nahe stehende Priester hatten Jerusalem verlassen und sich mit dem „Lehrer der Gerechtigkeit“ der essenischen Gemeinschaft angeschlossen, andere in Leontopolis einen Ersatztempel gefunden. Aus den zurückgebliebenen Zadokiden entstanden die Sadduzäer. Der Makkabäer Johannes Hyrkan (134–104 v. Chr.) verbündete sich mit ihnen gegen seine ursprünglichen Verbündeten, die Pharisäer. Innenpolitisch wollte er Ethnarch, Hohepriester und Prophet sein, nachdem sein Vorgänger Simon bewusst nur Ethnarch und Hohepriester bis zum Kommen eines „glaubwürdigen Propheten“ gewesen war (1Makk 14,41). Johannes Hyrkan beseitigte diesen Vorbehalt. Dafür fand er in frommen Kreisen keine Unterstützung. Die Pharisäer kritisierten seine Vereinigung von politischem und priesterlichem Amt mit dem Argument, seine Mutter sei Kriegsgefangene gewesen, ihre Nachkommen daher nicht zum Priesteramt tauglich (Ant 13,288–292). So wurden die Pharisäer zur Opposition, die Sadduzäer zu Unterstützern der Hasmonäer.13 Außenpolitisch wollte Johannes Hyrkan alle Juden in seinem Staat vereinen. Im Norden eroberte er Samarien und zerstörte den Tempel der Samaritaner auf dem Garizim, im Süden zwang er die verwandten Edomiter, sich beschneiden zu lassen. Für sein Expansionsprogramm brauchte er eine Theologie des kleinsten gemeinsamen Nenners, die er bei den Sadduzäern fand: Diese erkannten ebenso wie die Samaritaner nur die fünf Bücher Mose an und lehnten neue Glaubensvorstellungen wie die Eschatologie ab. Für das Verständnis Jesu ist wichtig, dass Galiläa erst unter Aristobulos (105/4 v. Chr.) mit Judäa wiedervereint wurde. Galiläa verdankte diese Vereinigung den Sadduzäern, deren Positionen vielleicht deshalb in Galiläa Resonanz fanden. Jesus teilt mit ihnen gegen die Pharisäer die Ablehnung der mündlichen Thora (Mk 7,8– 13).14
13 Da Josephus die Kritik an der Legitimität der Hasmonäer ebenso mit Johannes Hyrkan (Ant 13,288– 296) wie mit Alexander Jannäus (Ant 13,372) verbindet (vgl. bQuid 66a), will G.Stemberger, Pharisäer*, 1990, 98–102, diesen Konflikt in die Zeit des Alexander Jannäus datieren. Wahrscheinlich aber hat der als Bösewicht geltende Alexander Jannäus gegen seinen Vater gerichtete Kritik sekundär an sich gezogen. 14 G.Theißen, Sadduzäismus und Jesustradition*, 2003.
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Die Pharisäer 15 waren ursprünglich Verbündete der Hasmonäer, standen aber seit Johannes Hyrkan in Opposition zu ihnen. Ihr Konflikt mit ihnen eskalierte unter Alexander Jannäus (103–76 v. Chr.). In den Qumrantexten begegnen sie als Anhänger des Lügenmannes, die „Glattes“ lehren (4QpNah I,2). Sie lassen sich (aufgrund des Nahum-Kommentars) mit Gegnern des Alexander Jannäus identifizieren. Als sie gegen ihn den seleukidischen König Demetrios zur Hilfe riefen (Ant 13,376) und Alexander Jannäus sich mit Mühe gegen sie behauptet hatte, ließ er 800 von ihnen kreuzigen (4QpNah I,7; Ant 13,380f). Auch wenn Josephus die Hingerichteten nicht Pharisäer nennt, geht ihre Identität daraus hervor, dass nach dem Tode des Alexander Jannäus die Pharisäer unter Königin Alexandra Salome (76– 67) die Macht übernahmen und nun ihrerseits die für die Massenhinrichtung Verantwortlichen verfolgten (Bell 1,113; Ant 13,410f). Seitdem waren sie neben den Sadduzäern im Syne drium vertreten. Die Entstehung der Essener und der Qumrangemeinde ist umstritten.16 Nach der traditionellen Sicht wurde im 2. Jh. ein zadokidischer Hohepriester von einem Makkabäer, dem „Frevelpriester“ der Qumranschriften, aus seinem Amt gedrängt. Der entmachtete Hohepriester verbündete sich daraufhin mit einem fundamentalistischen Kreis (CD I,8–11) und formte ihn als „Lehrer der Gerechtigkeit“ zu einem Ersatz für den Jerusalemer Kult um. In ihm dominierten die „Söhne des Zadok“, d. h. Angehörige priesterlicher Familien. Fragen priesterlicher Reinheit und Kalenderfragen waren ihre sozialen Identitätsmerkmale, wie ein Brief (vielleicht vom Lehrer der Gerechtigkeit?) zeigt (4QMMT). Sie feierten in Gemeinschaft mit den Engeln den himmlischen Gottesdienst, schrieben sich eine Sühnefunktion für das ganze Land zu und ersetzten so den Tempel (1QS IX,3–6). In ihrem abgelegenen Zentrum in Qumran konnten sie ein Eigenleben entfalten. Da der archäologische Befund in Qumran für eine Entstehung der Siedlung spätestens 100 v. Chr. spricht, ist der Frevelpriester, d. h. ein illegitim zur Macht gekommener Hohepriester, einer der drei ersten Makkabäer, wahrscheinlich Jonathan. Zudem datiert die Damaskusschrift (CD I,5–11) die Neugründung der Gemeinschaft auf 390 +20 Jahre nach Jerusalems Fall 587 v. Chr. und weist damit ins 2. Jh. Folgende Skizze veranschaulicht die Entstehung der jüdischen Religionsparteien:
15 Sie nannten sich ursprünglich wohl pāroschim, „die „genau Unterscheidenden“. Josephus betont ihre akríbeia (ihre „Genauigkeit“). Das ähnlich klingende perûschîm, d. h. „Spalter“, ist wohl eine polemische Fremdbezeichnung. Vgl. A.I.Baumgarten, The Name of the Pharisees, JBL 102 (1983) 411–428. 16 Verschiedene Theorien zur Geschichte der Qumrangemeinde referiert und diskutiert P.R.Callaway, The History of the Qumran Community, 1988.
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Hellenistische Reformer
Antihellenistische Opposition
Radikale Reformer Menelaos, Hohepriester ohne zadokidische Legitimation 172–163
Gemäßigte Reformer Jason, Hohe priester mit zadokidischer Legitimation 175–172
Das (von ihm inspirierte?) Religionsedikt des Antiochus IV. 168/7 führt zur Tempelentweihung
Religionsedikt wendet sich (auch) gegen gemäßigte Reformer
Makkabäer, Der Aufstand ländlicher Priester, führt 164 zur Wiedereinweihung des Tempels. Danach spaltet sich die Opposition:
Hasmonäer, die um die politische Unabhängigkeit vom syr. König kämpfen
Der aaronidische Hohepriester Alkimos 164–160
Chassidim, sind mit Wiederherstellung des Kults und der Einsetzung des Hohepriesters Alkimos zufrieden.
Jonathan (= der Frevelpriester?) Usurpation des Hohepriesteramtes 152
Entwicklung der Hasmonäer zu einer hellenistischen Monarchie bes. seit Johannes Hyrkan 134–104
Konservative zadokidische Priesterkreise, die in Opposition bleiben
Lehrer der Gerechtigkeit, ein 152 (?) verdrängter Hohepriester gründet die
Sadduzäer unterstützen die Hasmonäer und ihre Entwicklung zur hellenistischen Monarchie
Pharisäer, mit Hasmonäern verbündet, aber seit Johannes Hyrkan oder Alexander Jannäus in Opposition
Essener, ein Oppositionsbündnis von Chassidim (?) und zadokidischen Priestern gegen die Hasmonäer
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2.5 Die Religionsparteien im 1. Jh. n. Chr. und ihr Verhältnis zu Jesus
Josephus hat im 1. Jh.n. Chr. mehrfach die jüdischen „Religionsparteien“ verglichen (Ant 13,171– 173. 297f; 18,11–25; Bell 2,119–166) und für gebildete Leser in Analogie zu griechischen Philosophenschulen dargestellt: die Essener als Pythagoräer (Ant 15,371), die Pharisäer als Stoiker (Vita 12); für die Sadduzäer legt er die Gleichsetzung mit den Epikuräern nahe. Seine Vergleichspunkte sind: die Stellung zur heimarmenē (d. h. zum von Gott bestimmten „Schicksal“), zum freien Willen und zur Unsterblichkeit der Seele. Folgende Tabelle gibt einen Überblick seiner Sicht der Religionsparteien: Sadduzäer
Pharisäer
Essener
Determinismus und freier Wille (Ant 13,171–173; Bell 2,162–166)
Indeterminismus: Der Mensch ist die Ursache seines Schicksals.
Synergismus: Gott (heimarmenē) und Mensch wirken zusammen.
Determinismus: Alles ist durch Gott (heimarmenē) bestimmt.
Eschatologie und Seelenlehre
Jenseitsleugnung: Fortdauer der Seele sowie ewige Strafen und Lohn werden geleugnet (Bell 2,165; Ant 18,16).
Auferstehung der Gerechten: Die Seele ist unsterblich, geht bei Guten in einen neuen Leib. Böse werden ewig gestraft (Bell 2,163).
Unsterblichkeit der Seele (Bell 2,154–158). Vom Leib befreit genießen die Guten ein Leben in Freude, die Bösen erleiden Strafen.
Schrift und Tradition
„Schriftprinzip“: S. achten nur die geschriebenen Gesetze und verwerfen die mündliche Überlieferung der Väter (Ant 13,297).
Schrift und Tradition: P. fügen zu den geschriebenen Gesetzen des Mose Gesetze aus der Überlieferung der Väter hinzu (Ant 13,297).
Geheimliteratur: E. besitzen geheime Bücher (Bell 2,142); bemühen sich intensiv um die Schriften der Alten (Bell 2,136).
Sitz im Leben
Oberschichtbindung: S. haben die Vermögenden auf ihrer Seite (Ant 13,298), richten sich aber im Amt nach den Lehren der Pharisäer (Ant 18,17).
Unterschichtnähe: P. geben dem Volk ihre Gesetze und haben es auf ihrer Seite (Ant 13,297f; 18,15; vita 197).
Sondergemeinschaft, abgestuft in strenge und moderate Essener (Bell 2,160f). Sie halten ihre Lehren geheim (Bell 2,141).
Verhaltensweisen
„Konfliktkultur“: S. widersprechen ihren Lehrern (Ant 18,16) und sind grob zueinander (Bell 2,166).
Autoritätsprinzip: P. ehren die Alten (Ant 18,12) und schätzen Harmonie untereinander (Bell 2,166).
Gemeinschaftsideal: Sie leben in vorbildlicher (Güter-) Gemeinschaft (Bell 2,122) zum größten Teil ehelos (Bell 2,119–121; 160f).
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Die Essener stellt Philo (Prob 75–87) als ideale Gemeinschaft dar, die ohne Sklaverei eine Philosophie der Freiheit mit Besitzgemeinschaft lebt. Wir können sie mit der Gemeinschaft identifizieren, die in der archäologisch freigelegten Qumransiedlung ihr Zentrum hatte. Aus ihr stammen viele Texte in den Höhlen von Qumran,17 darunter auch die Satzung für den „Neuen Bund“ bzw. für die „Vereinigung“ (jachad) (1QS; 1QSa.1QSb; auch CD). Diese Gemeinde, die eine Alternative zum Tempelkult in Jerusalem sein wollte, folgte einem abweichenden Sonnenkalender, hatte strengere Reinheitsregeln, erwartete einen endzeitlichen Krieg und die Auferstehung der Toten. Ihre Kritik an einem „Lügenmann“ und dessen Anhängern wegen laxer Gesetzesregeln meint die Pharisäer. Ein Rätsel ist, warum die Jesusüberlieferung von diesen Essenern schweigt. Gab es sie nicht in Galiläa? Begegnen wir ihnen anonym als Pharisäern? Spricht doch der Lehrer der Gerechtigkeit in einem Brief (4QMMT) davon, dass sich seine Anhänger „abgesondert“ haben, und verwendet dazu das Verb parasch, das in peruschim (= Pharisäer) enthalten ist. Oder treten Essener im NT versteckt in Schriftgelehrten auf? Möglicherweise wollten sie ihre Lehren geheim halten (Bell 2,141; 1QS VIII,11f) und haben Auseinandersetzungen mit Außenstehenden vermieden (1QS IX,16). Bei ihnen und bei Jesus finden wir auf jeden Fall eine Tendenz zur „Thoraverschärfung“, dagegen auch eine Thoraentschärfung bei Jesus. Seine Zuwendung zu Sündern widerspricht der essenischen Absonderung von Sündern und Unreinen. Die Sadduzäer waren Vertreter der Jerusalemer Elite, der Hohepriester und einiger Schriftgelehrten. Der Begriff „Sadduzäer“ leitet sich wahrscheinlich von „Zadok“ ab, dem Stammvater des hohepriesterlichen Geschlechts der „Zadokiden“ (1Chr 5,38; 24,3), weniger wahrscheinlich von hebr. ( ַצ ִדּ יקsadîq) = „gerecht“. Die Sadduzäer begegnen zum ersten Mal unter Johannes Hyrkan (134–104 v. Chr.) und dominierten danach, bis Königin Alexandra Salome (76–67 v. Chr.) den Pharisäern Macht und Einfluss verschaffte. Die Sadduzäer erkannten nur die fünf Bücher Mose an, betonten die Eigenverantwortung des Menschen und die Entsprechung von Tun und Ergehen in diesem Leben, so dass sie auf einen eschatologischen Ausgleich verzichten konnten. Die Hoffnung auf Auferstehung lehnten sie ab und wurden deshalb von Jesus kritisiert, der sich auf das von ihnen anerkannte Exodusbuch dafür beruft, dass Gott ein „Gott der Lebenden und nicht der Toten“ ist (Mk 12,18–27 vgl. Ex 3,6). Doch hat Jesus auch von den Sadduzäern gelernt:18 Wenn er die Bedeutung der mündlichen Tradition bei den Pharisäern kritisiert (Mk 7,1–13), verwendet er sadduzäische Argumente. Wenn die Sadduzäer die Existenz von Dämonen leugnen (Apg 23,8), steht Jesus ihnen nahe, da die Gottesherrschaft frei von Dämonen sein soll (Lk 11,20). Da Galiläa zu einer Zeit in das jüdische Herrschaftsgebiet re-integriert wurde, als die Sadduzäer in Jerusalem tonangebend waren, hat ihre Lehre in Galiläa möglicherweise Spuren hinterlassen.
17 Dass Qumran eine villa rustica, ein Gutshof, gewesen sei, während die Qumrantexte aus Jerusalem ausgelagerte Schriften seien, die mit ihm nichts zu tun haben, ist unwahrscheinlich. Chemische Untersuchungen zeigen, dass die Qumrantexte in der Nähe des Fundortes entstanden sind. Vgl. M.Tiwald, Frühjudentum*, 2016, 136 f. 18 G.Theissen, Sadduzäismus und Jesustradition*, 2003.
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Die wichtigsten Diskussionspartner Jesu waren die Pharisäer. Der Name bedeutet „Spalter“ oder „die sich Absondernden“ (רוּשׁים ִ פ,ֽ perûschîm). Das könnte eine abwertende Fremd bezeichnung sein, die eine Selbstbezeichnung „die genau Unterscheidenden“ (פרו ִֺשׁים, ָ pârôschîm) gegen die Pharisäer wandte.19 Denn Josephus (Vita 191) und das NT (Apg 22,3; 26,5) charakterisieren die Pharisäer durch ihre Genauigkeit (akribeia). Verglichen mit der Gesetzesfrömmigkeit in Qumran, waren sie „liberal“. Sie schätzten die mündliche Thora, wollten die Heiligkeit des Tempels im Alltag realisieren. Für Priester vorgesehene Reinheitsregeln sollten für alle gelten (Mk 7,1–5).20 Jesus teilt mit ihnen das Anliegen, Gottes Willen im ganzen Leben zu verwirklichen. Eben deswegen kam es zu Konflikten mit ihnen. Ihre Bedeutung im Judentum des 1. Jh. n. Chr. ist freilich umstritten, wie drei Kontroversen zeigen: 1. Die Kontroverse um die zentrale oder marginale Bedeutung der Pharisäer: Nach der traditionellen Sicht, vertreten von M.Hengel,21 haben vor allem die Pharisäer das Judentum des 1. Jh. geprägt und waren weit mehr als die 6000, die Herodes den Eid verweigerten (Ant 17,42). Sie hatten im Volk viele Anhänger (Ant 13,297f). Wenn eine aus vier Menschen bestehende Delegation der Jerusalemer Aufstandsleitung nach Galiläa drei Pharisäer umfasst (vgl. Vita 197), entspricht das den allgemeinen Machtverhältnissen. Dagegen meint E.P.Sanders:22 Das Judentum stand in der Zeit des zweiten Tempels unter der Leitung von Priestern. Was sie lehrten, wurde vom Volk akzeptiert und bildete einen common Judaism, dessen Bedeutung weit höher einzuschätzen ist als das Wirken der kleinen „Religionsparteien“. Die Synoptiker vermittelten aufgrund der (weithin unhistorischen) Diskussion zwischen Jesus und den Pharisäern ein falsches Bild. 2. Die Kontroverse um den politischen oder religiösen Charakter der Pharisäer: Der religiöse Charakter der pharisäischen Bewegung trat erst im 1. Jh. n. Chr. deutlicher hervor.23 Nach J.Neusner waren sie in der Hasmonäerzeit zunächst eine politische Oppositionspartei, die sich zu einer Frömmigkeitsbewegung „From Politics to Piety“ entwickelt hatte.24 Dagegen könnte man einwenden: Die Pharisäer gestalteten im 1. Jh. n. Chr. vor allem den privaten Raum, in dem ein unterworfenes Volk Freiheit hatte und zeigten dadurch auch einen politischen Selbsterhaltungswillen (A.J.Saldarini).25 Immerhin gründete ein Pharisäer zusammen mit Judas Galilaios die Widerstandsbewegung (Ant 18,4). Als Pharisäer begleitete Josephus gefangene Priester nach Rom und bewunderte, dass sie auch in dieser Situation die Speisegebote einhielten (Vita 13f). Am Anfang des jüdischen Kriegs gehörten er und andere Pharisäer zu einer Delegation, die in Galiläa den Zehnten einsammelt (Vita 63). Josephus schreibt ihnen den Glauben an die Auferstehung und das Festhalten an den „väterlichen Überlieferungen“ zu. Das NT bestätigt: Der Auferstehungsglaube trennt Pharisäer von Sadduzäern (Apg 23,6–8). Pharisäer betonten die „väterlichen Überlieferungen“ (Gal 1,14; Mk 7,1–13). Sie befolgten Sabbatgebote (Mk 2,23–3,6), Reinheitsgebote (Mk 7,1–13) und zahlten den Zehnten auch für unscheinbare agrarische Produkte (Mt 23,23f; Lk 18,12). Die Thoraregeln waren für sie wichtig; die beiden 19 20 21 22 23
A.I.Baumgarten, The Name of the Pharisees, JBL 102 (1983) 411–28. So J.Neusner, Das pharisäische und talmudische Judentum, 1984, 24 f. M.Hengel/R.Deines, E.P.Sanders ‚Common Judaism‘, Jesus and the Pharisees, JThS 46 (1995) 1–70. E.P.Sanders, Judaism*, 1992. Nach J.Neusner, Politics*, 1973 21979, haben die Pharisäer eine Wandlung von einer politischen Partei zu einer Frömmigkeitsbewegung durchgemacht. 24 Vgl. J.Neusner, Politics*, 1973 21979. 25 A.J.Saldarini, Pharisees, Scribes and Sadducees in Palestinian Society, 1989, 213.
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Schulen der Pharisäer, die Hilleliten und Schammaiten, führten eine erbitterte Auseinandersetzung um die 18 Halachot, um Gesetzesbestimmungen, mit denen man sich von Heiden abgrenzte.26 3. Die Kontroverse um die Kontinuität zwischen Pharisäern und rabbinischem Judentum: Die traditionelle Sicht sagt: Von den verschiedenen Religionsparteien haben nur die Pharisäer den ersten jüdischen Krieg überlebt und wurden zur Grundlage des rabbinischen Judentums. Pharisäer konnten den Verlust des Tempels aufgrund ihrer Laienfrömmigkeit theologisch verarbeiten und durch das Studium der Thora den Opferkults ersetzen. Eine alternative Sicht sagt: In den rabbinischen Texten begegnen die Pharisäer nur als eine asketische Sondergruppe, nirgendwo als Heimat- und Herkunftsgruppe der Rabbinen. Das Judentum nach 70 n. Chr. basiere auf einer breiteren Basis als den Pharisäern (P.Schäfer).27 Nach H.Stegemann28 haben z. B. auch die priesterlichen Essener ihr Erbe in die rabbinische Bewegung eingebracht, nur so könne man das Interesse der Rabbinen am nicht mehr existierenden Jerusalemer Kult erklären.
Von den drei „Religionsparteien“ der Juden überlebte keine unverändert den jüdischen Krieg. Die Sadduzäer verloren mit dem Tempel 70 n. Chr. ihre Grundlage. Das Zentrum der Essener, Qumran, wurde im jüdischen Krieg zerstört. Die Pharisäer hatten als Laienbewegung die besten Chancen, das Judentum nach 70 n. Chr. zu erneuern. Wie kann man Jesus den drei jüdischen Religionsgruppen zuordnen? Wie die Sadduzäer lehnte er die mündliche Tradition ab (Mk 7,6–13), widersprach jedoch ihrer Leugnung der Auferstehung (Mk 12,18–27). Das verband ihn mit den Pharisäern. Er teilte aber die Opposition der Essener gegen den Tempel, jedoch nicht ihren Kalender und ihr Heiligkeitsideal. Er stand in der Mitte zwischen Pharisäern, Essenern und Sadduzäern, nicht als ein „marginal Jew“, sondern im Zentrum des Judentums.
3. Jüdische Erneuerungsbewegungen des 1. Jh. n. Chr. Seit 63 v. Chr. regierten die Römer Palästina durch Vasallenkönige. Der erfolgreichste unter ihnen, der Idumäer Herodes I. (34–4 v. Chr.), förderte die Integration der Juden in das Römische Reich geschickter als die Jerusalemer Oberschicht 150 Jahre vorher ihre Integration in die hellenistische Kultur betrieben hatte: Sein Neubau des Jerusalemer Tempels erneuerte das Zentrum des Judentums, sollte es gleichzeitig ins Römische Reich integrieren: Ein römischer Adler wurde am Tempel angebracht, der Proteste hervorrief. Gegen seine Integrationspolitik entstanden nach seinem Tod Erneuerungsbewegungen. Die erste Phase bildeten zwei militante Aufstandsbewegungen gegen die Fremden mit Messiasprätendenten, die zweite Phase Umkehrbewegungen, die das eigene Volk erneuern wollten, die dritte Phase prophetische Bewegungen, die zu einer neuen Landnahme aufriefen, als müssten Juden ihre Geschichte noch einmal beginnen. 26 Vgl. dazu M.Hengel, Die Zeloten, 21976, 204 ff. 27 P.Schäfer, Der vorrabbinische Pharisäismus, in: M.Hengel/U.Heckel (Hg.), Paulus und das antike Judentum, 1991, 125–175. Aufgrund dieser These ließe sich das MtEv mit seiner Polemik gegen Pharisäer ins Judentum einordnen. 28 H.Stegemann, Essener*, 1993, 361 ff.
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3.1 Messiasprätendenten und Steuerverweigerer
Nachdem Herodes I. das Land repressiv, aber effektiv regiert hatte, kamen nach seinem Tod 4 v. Chr. die von ihm unterdrückten Spannungen an die Oberfläche. Die erste Welle offener Opposition war nach Nikolaus von Damaskus ein antihellenistischer Aufstand: „Das Volk erhob sich gegen dessen Söhne und gegen die Griechen“ (De vita sua, GLAJJ Nr. 97, Z. 53f). Der syrische Legat Quintilius Varus (6–3 v. Chr.) musste eingreifen, um mit Legionen die Ruhe wiederherzustellen. Die Aufständischen wurden von Charismatikern angeführt: Simon, ein ehemaliger Sklave des Herodes, setzte sich ein Diadem auf und wurde als König proklamiert (Ant 17,273f). Josephus führt seinen „Erfolg“ auf die Sehnsucht des Volkes nach einem „einheimischen König“ zurück (Ant 17,277). Athronges, ein Hirte, stilisierte sich als neuer David, setzte sich auch das Diadem auf (Ant 17,278–84) und behandelte seine Brüder als Satrapen und Feldherrn. Mit physischer Kraft und charismatischer Ausstrahlungskraft versuchte er, seinen Anspruch plausibel zu machen. Judas, der Sohn des Hezekias, in Galiläa war anders. Josephus unterstellt ihm zwar Ant 17,272 ein Streben nach dem Königtum, sagt aber nicht, er habe sich zum König gemacht, sondern im Gegenteil alle bekämpft, die nach der Herrschaft griffen (Bell 2,56). Wahrscheinlich vertrat er radikaltheokratische Ideen, d. h. die Ablehnung jeder Herrschaft außer der Herrschaft Gottes. Darin stünde er einem anderen Galiläer, Jesus, nahe. Politisch brisante Erwartungen eines messianischen Königs waren damals auf jeden Fall im Volk lebendig. Jesus muss mit ihnen konfrontiert worden sein, wie das von ihm zurückgewiesene Bekenntnis des Petrus zu ihm als „Messias“ zeigt (Mk 8,27– 33). Messiaserwartungen erklären seine Hinrichtung durch die Römer. Die Niederlage der jüdischen Aufstandsbewegungen nach dem Tod des Herodes löste einen Lernprozess aus: Nach Absetzung des Herodessohnes Archelaos 6 n. Chr. wurden Judäa und Samarien von den Römern verwaltet, so dass von jetzt ab die dortigen Steuern direkt an die Römer gezahlt werden mussten. Damals rief Judas Galilaios (der nicht unbedingt mit dem 10 Jahre vorher in Galiläa tätigen Judas identisch ist) zusammen mit einem Pharisäer Zadduk zu einer neuen Widerstandsbewegung in Form von Steuerverweigerung auf: Gott gehöre das Land, nicht den Römern. Wer ihnen Steuern zahle, leugne die Alleinherrschaft Gottes. An die Stelle eines gewalttätigen Aufruhrs trat hier also eine Lehre, die aber den Widerstand gegen die Römer im ersten Gebot verankerte, das sagt, man dürfe keine anderen Götter neben Gott verehren. Die Folgerung, man dürfe auch den römischen Kaiser nicht neben ihm anerkennen, war im Grunde konsequent. Denn die Kaiser wurden (in den Provinzen) schon zu Lebzeiten vergöttert. Die Proklamation der Alleinherrschaft Gottes verbanden die Rebellen mit einem revolutionären Synergismus: Die Juden seien verpflichtet, bei der Durchsetzung der Alleinherrschaft Gottes aktiv mitzuwirken. Josephus macht diese „vierte Philosophie“ für den jüdischen Aufstand 66–74 n. Chr. verantwortlich (Bell 2,118; Ant 18,4 f.23–25). Das Signal für diesen Aufstand war eine Steuer- und Tributverweigerung. Selbst wenn Judas Galilaios keine Widerstandsbewegung organisiert haben sollte, legte er die geistige Grundlage für sie. Nach Apg 5,37 kam er gewaltsam ums Leben. Aktuell wurde seine Lehre noch einmal 40 Jahre später nach dem Tode Herodes Agrippas I. (44 n.Chr,), als Galiläa und Peräa unter römische Verwaltung kamen. Damals stifteten
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zwei seiner Söhne vermutlich mit derselben Lehre wie ihr Vater Unruhe durch Ablehnung der Steuerzahlung direkt an die Römer. Beide wurden vom römischen Prokurator Tiberius Alexander (ca. 46–48) gekreuzigt (Ant 20,102). Der Verfasser des lk Doppelwerks sieht in ihrer Rebellion den Aufstand des Judas Galilaios (Apg 5,37) und lässt ihn irrtümlich dem Aufstand des Theudas nach 44 n. Chr. folgen. Aber auch in der Zwischenzeit hatte die Lehre des Judas Galilaios Wirkungen: Jesus wurde gefragt, ob die Steuerzahlung an den Kaiser legitim sei oder nicht (Mk 12,13–17). Dass Herodianer so fragten, macht Sinn: Wenn die herodäischen Fürsten die Steuern als Tribut an die Römer weitergaben, musste kein Jude direkt dem Kaiser Steuern zahlen. Insofern hatten die Herodianer ein „klammheimliches“ Interesse an radikaltheokratischer Steuerverweigerung. Jesus widersprach: Der Glaube an den einen und einzigen Gott verpflichtet nicht zum Widerstand gegen den Kaiser. Gott oder Kaiser ist keine Alternative. Dafür kennt Jesus eine andere radikaltheokratische Alternative: Gott oder Mammon (Mt 6,24/Lk 16,13). 3.2 Umkehrprediger und Tempelkritiker
Auf die Bewegung des Judas Galilaios folgte ca. 20 Jahre später Johannes der Täufer, der aus dem Scheitern der vorhergehenden militanten Bewegungen gelernt hat. Seine Kritik wendete sich nicht gegen die Römer, sondern gegen das eigene Volk, das er zur Umkehr aufrief. Er kritisierte explizit die Oberschicht, die sich von jüdischen Normen entfernte, an erster Stelle den Landesfürsten selbst, der Herodias noch zu Lebzeiten ihres Mannes geheiratet und damit die Ehegesetze übertreten hatte. Herodias liebte Reichtum und Status und soll ihren Mann motiviert haben, nach der Königswürde zu streben (Ant 18,240–244). Wenn Jesus in Mt 11,8 das asketische Leben des Täufers mit dem luxuriösen Hofleben als Leben von „Königen“ kontrastiert, ist das Kritik an Ambitionen auf Luxus und Königsrang.29 Der Täufer kritisierte implizit aber auch die Tempelaristokratie in Jerusalem durch seine Tauftätigkeit: Wenn seine Taufe Sündenvergebung vermittelte, war das ein Misstrauensvotum gegen den Tempel, der für sündenvergebende Riten zuständig war. Darüber hinaus übte der Täufer auch Kritik am ganzen Volk, nämlich an dessen ethnozentrischen Vorurteilen. Sie sollten nicht stolz auf ihre Abstammung von Abraham sein, Gott könne dem Abraham aus Steinen Kinder erwecken (Mt 3,9/Lk 3,8). Die innere Erneuerung des Volkes durch Umkehr und Taufe war ihm wichtiger als die Ablehnung der Fremden. Aus seiner Bewegung ging Ende der 20er Jahre die Jesusbewegung in Galiläa hervor. Sie vertrat wie der Galiläer Judas eine radikaltheokratische Botschaft: Gott allein soll herrschen. Alles was sich ihm widersetzt, soll überwunden werden, die Sünden der Menschen und die bösen Dämonen. Seine Herrschaft komme aber nicht als Sieg über Israels Feinde, vielmehr werden Fremde aus allen Himmelsrichtungen in sie hineinströmen (Mt 8,11f). Sie komme nicht erst in der Zukunft, sondern koexistiere schon jetzt mit der Römerherrschaft. Jesus grenzte sich deutlich von der Lehre des Judas Galiaios ab, indem er sich für die Steuerzahlung an die Römer aussprach (Mk 12,13–17). Dessen Aufstandsbewegung korrigierte er 29 G.Theißen, Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den synoptischen Evangelien, 1989, 26–44.
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durch eine „pazifistische“ Bewegung.30 Die implizite Tempelkritik des Täufers wurde bei Jesus explizit. Er zog mit einer Prophetie gegen den Tempel nach Jerusalem und störte den Tempelkult. Sein Einzug zum Passafest war eine Gegendemonstration zum Einzug römischer Kohorten zum Fest. Wegen dieser symbolpolitischen Handlungen, Tempelreinigung und Einzug, wurde er inhaftiert und als vermeintlicher Messiasprätendent hingerichtet. Ca. fünf Jahre nach Jesu Tod ca. 35/36 n. Chr. entstand eine dritte Erneuerungsbewegung in Samarien. Ein (anonymer) samaritanischer Prophet verhieß seinen Anhängern, die verschollenen Geräte des zerstörten Tempels auf dem Garizim zu finden. Als er mit ihnen dorthin zog, richtete Pilatus unter ihnen ein Blutbad an. Pilatus war wohl durch das Stichwort „Tempel“ alarmiert, hatte er doch einige Zeit vorher in Judäa einen anderen Propheten hinrichten lassen, der den Jerusalemer Tempel erneuern wollte. Dessen Bewegung war nicht ausgestorben. Damals hatte Pilatus die Anhänger Jesu nicht verfolgt. Jetzt aber tötete er zusammen mit dem Anführer viele seiner Anhänger. Nach Protesten gegen sein brutales Vorgehen wurde er abgesetzt (Ant 18,85–89). Gemeinsam ist diesen drei Propheten vor der Caligulakrise, Johannes dem Täufer, Jesus von Nazareth und dem Samaritaner, dass sie eine innere Erneuerung anstrebten. Sie verbreiteten ihre Botschaft durch symbolpolitische Akte. Die Taufe enthält als Symbolpolitik die Botschaft, dass das Land und seine Bewohner unrein sind und sich erneuern müssen. Das Auffinden von Tempelgeräten sagt symbolpolitisch, dass der wahre Tempelkult auf dem Garizim ist. Die Ernennung der Zwölf ist Symbolpolitik: Menschen aus dem Volk sollen über das Volk herrschen.31 Diese friedliche Form der Auseinandersetzung in Form von Symbolpolitik passt gut in eine entspannte Zeit, von der Tacitus sagt: Unter Tiberius herrschte Ruhe „sub Tiberio quies“ (Hist 5,9,2). 3.3 Landnahme- und Wüstenpropheten
Eine neue Reihe von Propheten trat nach der Caligulakrise auf. Gaius Caligula war ermordet worden, bevor er den Jerusalemer Tempel der Götting Roma und dem Kaiserkult widmen konnte. Dadurch war der Tempel auf wunderbare Weise gerettet worden. Einige Juden waren überzeugt, sie müssten jetzt ihr Land insgesamt neu in Besitz nehmen. Ziel ihrer Bewegungen war nicht die Erneuerung des Kultes, sondern ein neuer Exodus, eine neue Landnahme und Eroberung des Landes. Vorausgesetzt ist, dass sie sich in ihrem eigenen Land als Fremde erlebten:32
30 G.Theissen, Jesus as an Itinerant Teacher. Reflections from Social History on Jesus’ Roles, in: J.H.Charlesworth/P.Pokorný, Jesus Research, 2009, 98–122. 31 Zu den symbolpolitischen Konflikten der Zeit Jesu vgl. G.Theißen, Jesus und die symbolpolitischen Konflikte seiner Zeit. Sozialgeschichtliche Aspekte der Jesusforschung (1997), in: Jesus als historische Gestalt, 2003, 169–193. 32 P.W.Barnett, The Jewish Sign Prophets* (1981); R.Meyer, Der Prophet aus Galiläa, 1940, bes. 82 ff.108 ff.
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Unter dem Prokurator Cuspius Fadus (44–46 n. Chr.) überredet Theudas eine Menschenmenge, ihm mit ihrem Besitz zum Jordan in der Erwartung zu folgen, dass sich der Jordan spalten werde, so dass sie ihn trockenen Fußes passieren können. Der Prokurator beendet durch ein Blutbad diese neue „Landnahme“ (Ant 20,97–99, vgl. Apg 5,36). Unter dem Prokurator Antonius Felix (52–60 n. Chr.) treten anonyme Propheten auf, die ihre Anhänger auffordern, ihnen in die Wüste zu „folgen“. Dort würden sie Zeichen der Freiheit sehen. Sie werden blutig unterdrückt (Ant 20,167f; Bell 2,258–60). In derselben Zeit führt ein Ägypter seine Anhänger zum Ölberg und verheißt, das Wunder an den Mauern von Jericho werde sich wiederholen, die Mauern Jerusalems würden auf seinen Befehl hin zusammenbrechen (Ant 20,169–172; Bell 2,261–263; vgl. Apg 21,38). Unter dem Prokurator Porcius Festus (60–62 n. Chr.) verspricht ein Prophet „Erlösung“, wenn man ihm in die Wüste folgt. Römer unterdrücken seine Bewegung (Ant 20,188). Noch in den letzten Tagen der Belagerung Jerusalems treten Propheten mit Heilsbotschaften auf. Einer von ihnen verkündigt, Gott befehle, sich in den Tempel zu begeben und die Zeichen der Rettung zu erwarten. Josephus gibt ihm die Schuld dafür, dass viele Menschen beim Brand des Tempels umkamen (Bell 6,285f).
Nur ein Prophet fällt aus der Kette dieser Zeichenpropheten heraus. Unter Albinus (62–64) kommt ein Prophet Jesus, Sohn des Ananias, vom Lande nach Jerusalem mit einer Gerichtsbotschaft über Stadt, Tempel und Volk. Er wird von der jüdischen Aristokratie an den Prokurator ausgeliefert. Der kommt beim Verhör zu dem Ergebnis, der Mensch sei verrückt, und lässt ihn frei. Der Prophet setzt seine Prophetie fort und kommt bei der Belagerung Jerusalems ums Leben (Bell 6,300–309). Im Unterschied zu den früheren Zeichenpropheten mobilisierte er keine Anhänger – möglicherweise ein Grund, ihn freizulassen. Vielleicht hat er nur die Tempelweissagung Jesu erneuert. Jesus hat mit den jüdischen Zeichenpropheten verwandte Züge. Er verheißt die wunderbare Zerstörung und Wiedererrichtung des Tempels (Mk 14,57f, 15,29, vgl. Joh 2,19). Er greift wie sie auf heilsgeschichtliche Erinnerungen wie den Tempelbau zurück. Er begibt sich wie sie an den Ort des verheißenen Wunders, fordert wie sie zur „Nachfolge“ auf. Wie in den anderen Fällen greifen die Römer ein. Aber die meisten Propheten haben eine Botschaft, die sich gegen die Römer richtet. Wer einen neuen Exodus verheißt, sieht das Volk als unterdrückt an. Das beleuchtet eine Besonderheit der drei für uns wichtigen Propheten: Nur der Täufer, Jesus von Nazareth und Jesus, der Sohn des Ananias, hat eine Gerichtsbotschaft, die sich gegen das eigene Volk richtet. Die Botschaft Jesu ist gegenüber den Fremden demon strativ friedlich.
4. Zusammenfassung und hermeneutische Reflexion Jesus und seine Bewegung gehören in eine Kette innerjüdischer Erneuerungsbewegungen, die angesichts des Veränderungsdrucks, der von der hellenistischen Kultur ausging, das Judentum bewahren und erneuern wollten. 200 Jahre zuvor war ein Versuch der Oberschicht gescheitert, es für die hellenistische Kultur zu öffnen und trennende Riten zu überwinden –
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in der Überzeugung, dass die Absonderung der Juden von anderen Völkern nicht von Gott gewollt war. Sie versuchte, ihre Reform mit Gewalt durchzusetzen. Mit Jesus entstand erneut eine Bewegung, die sich für die Fremden öffnete, diesmal aber eine Bewegung im Volk, die demonstrativ gewaltfrei war. Man darf diese Erneuerungsbewegungen aber nicht nur als Protestbewegung gegen die Hellenisierung des Landes betrachten, im Gegenteil: Die Hellenisierung gab den einheimischen Kulturen im Osten Formen und Sprache, in der sie sich erneuern konnten. Während andere Erneuerungs- und Protestbewegungen einen Sieg Israels über die Heiden erwarten, öffnet Jesus die Gottesherrschaft für den Zustrom der Heiden. Jesus aktiviert die universalistische Tradition der Völkerwallfahrt zum Zion (Mt 8,11f). Während andere Erneuerungsbewegungen spezifisch jüdische Normen verschärfen, finden wir bei Jesus Thoraverschärfung nur bei universalen ethischen Normen, aber eine Entschärfung trennender ritueller Normen: der Sabbat- und Reinheitsgebote. Während sich einige Erneuerungsbewegungen wie die Essener vom Volk „absondern“, um konsequent jüdische Normen zu leben, finden wir in der Jesusüberlieferung eine Zuwendung zu allen, die traditionellen Normen nicht entsprechen. Während viele Erneuerungsbewegungen gegen die militärisch überlegenen Fremdherrscher protestieren und zum Widerstand gegen die Fremden motivieren, widerspricht Jesus dem Aufruf zur Steuerverweigerung, die Rebellion bedeutete. Charakteristisch für die Jesusbewegung ist somit ein universaler Zug nach außen und ein inklusiver Zug nach innen. Nach dem Tode Jesu wurde aus seiner innerjüdischen Erneuerungsbewegung zunächst eine jüdische Glaubensgruppe, die in der ersten Generation hoffte, dass ihre Trennung von anderen Juden nur vorübergehend sei (Röm 11,25–32). Seit 70 n. Chr. wurde daraus Schritt für Schritt ein Schisma. Da viele urchristliche Texte in der Zeit nach 70 formuliert wurden, tendieren sie dazu, die beginnende Trennung von Juden und Christen in die Zeit Jesu zurück zu projizieren, innerjüdische Konflikte als Konflikte Jesu mit dem Judentum wahrzunehmen. Historisch-kritische Forschung muss diese Tendenz der Quellen durchsichtig machen. Sie erkennt immer deutlicher gegen eigene Forschungstraditionen, dass Jesus ins Judentum gehört. Diese Einsicht hat zwei hermeneutische Konsequenzen: Alle Rekonstruktionen des historischen Jesus sind abhängig von unserem Bild des Judentums zur Zeit des zweiten Tempels – schon das Urteil über das, was in den Jesusüberlieferungen historisch und unhistorisch ist. Kenntnis des damaligen Judentums und die historisch-kritische Rekonstruktion Jesu bedingen einander. Es mag auf den ersten Blick relativierend wirken, wenn Jesus ganz und gar in das Judentum und seine Erneuerungsbewegungen eingeordnet wird. Aber daraus lässt sich noch eine zweite Folgerung ziehen: Man kann Jesus nur wertschätzen, wenn man auch das Judentum schätzt. Das dürfte dem unbefangenen Blick nicht schwerfallen: Das Judentum ist eine faszinierende Religion von großer Lebendigkeit. Sie will durch die Beziehung zu dem einen und einzigen Gott konsequent das Leben gestalten. Für das Christentum ist der historische Jesus ein Zugang zu diesem Judentum.
§ 6 Der chronologische Rahmen des Lebens Jesu
A.Adair, The Star of Bethlehem: A Skeptical View, 2013; P.Bartel/G.van Kooten (eds), The Star of Bethlehem and the Magi. Interdisciplinary Perspectives from Experts on the Ancient Near East, the Greco-Roman World, and Modern Astronomy, 2015; J.Blinzler, Der Prozeß Jesu, 1951 41969; J.Finegan, Handbook of Biblical Chronology, 1964; H.W.Hoehner, The Chronology of Jesus, in: T.Holmén/S.E.Porter, Handbook of the Study of the Historical Jesus 3, 2011, 2215–2359; J.P.Meier, A Marginal Jew 1, The Roots of the Problem and the Person, 1991, 372–433; A.Merz, Matthew’s Star, Luke’s Census, Bethlehem, and the Quest for the Historical Jesus, in: P.Bartel/van Kooten (eds.), The Star of Bethlehem and the Magi, 2015, 463–495; A.Strobel, Ursprung und Geschichte des frühchristlichen Osterkalenders, 1977.
Die Einführung der „christlichen“ Zeitrechnung „vor und nach Christi Geburt“ belegt den Aufstieg der Jesusbewegung zur Weltreligion.1 Vorher berechnete man die Zeit nach politischen Ereignissen – mit Roms Gründung ab urbe condita oder dem Regierungsantritt eines Kaisers. Märtyrerberichte aus der Zeit des Commodus (180–192 n. Chr.) datieren zum ersten Mal die Zeit nach Christus.2 Doch erst der Mönch Dionysius Exiguus (ca. 470–540) ersetzte mit einer an Christus orientierten Zeitrechnung die vorher geltende Chronologie nach Diokletian, dem Christenverfolger. Er schuf damit eine Alternative zur Datierung nach römischen Herrschern, verrechnete sich aber um einige Jahre. Das ist verständlich. Zwar kann man die absolute Chronologie des Lebens Jesu aufgrund von Beziehungen zur allgemeinen Geschichte annähernd bestimmen, unsicher bleibt die relative Chronologie von Ereignissen innerhalb seines Lebens, da viele Jesusüberlieferungen erst von den Evangelisten chronologisch geordnet wurden. Fest stehen nur mit Taufe und Kreuzigung Anfang und Ende seines Wirkens.
1. Das Jahr der Geburt Jesu Jesus wurde unter Kaiser Augustus (37 v.–14 n. Chr.) geboren. Innerhalb dessen Regierungszeit kommen entweder eine Geburt unter Herodes I. vor dessen Tod im Frühjahr 4 v. Chr., unter seinem Sohn Archelaos 4 v.–6 n. Chr. oder unter dem syrischen Legaten Qurinius ab 6 n. Chr. in Frage. Mt und Lk stimmen darin überein, dass Jesus noch zu Lebzeiten Hero1 2
H.Maier, Die christliche Zeitrechnung, 1991. Diese Zeitrechnung setzte sich erst in der Neuzeit durch. Martyrium des Hl. Apollonius 47, BKV 1,14: „Es litt aber der dreimal selige Apollonius der Asket nach römischer Berechnung am 11. vor den Kalenden des Mai, nach asiatischer im achten Monat, aber nach unserer Zeitrechnung unter der Herrschaft Jesu Christi, dem Ehre sei in alle Ewigkeit.“
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des I. geboren wurde (Mt 2,1–12; Lk 1,5). Daher ist 4 v. Chr. als terminus ante quem sehr wahrscheinlich. Orientiert man sich aber nur am LkEv, muss man auch mit einer Geburt unter Quirinius rechnen, orientiert man sich nur am MtEv muss man die Geburt wegen der Ermordung aller zweijährigen Kinder in Bethlehem durch Herodes bis zu zwei Jahre vor dessen Tod datieren. 1.1 Das Lukasevangelium: Geburt Jesu unter Quirinius
Quirinius, Statthalter in Syrien ab 6 n. Chr., gliederte 6/7 n. Chr. Judäa in die Provinz Syrien ein, nachdem der dort regierende jüdische Ethnarch Archelaos (4 v.–6 n. Chr.) abgesetzt worden war. Der damit verbundene Übergang zur direkten Steuerzahlung an die Römer wurde durch einen „Zensus“ zur Steuerschätzung eingeleitet3 und provozierte nach dem lk Doppelwerk einen Steuerstreik und den Aufstand des Judas Galilaios, den Quirinius militärisch niederschlug. Apg 5,37 bezeugt den gewaltsamen Tod des Judas Galilaios und einen Aufstand anlässlich einer Volkszählung (apographē), die im LkEv dasselbe Ereignis wie die apographē von Lk 2,1f meinen muss (vgl. Bell 7,253; Ant 17,355; 18,1f). Zwischen einer Geburt Jesu unter Herodes (Lk 1,5) und Quirinius (2,1f) besteht jedoch eine Differenz von mindestens 10 Jahren! Nach lk Darstellung hätte Kaiser Augustus eine erste reichsweite Volkszählung kurz vor Jesu Geburt angeordnet, als Quirinius syrischer Statthalter war. Doch ist von einer Steuererhebung aller Einwohner des römischen Reichs unter Augustus nichts bekannt, wohl aber berichtet Augustus in seinem im Römischen Reich verbreiteten Tatenbericht (Res Gestae 8) von einem Zensus aller römischen Bürger 28 v. Chr., 8 v. Chr. und 14 n. Chr. Lukas setzt aber einen Zensus aller Einwohner voraus, auch derer, die kein römisches Bürgerrecht hatten. Nur davon wäre die Jesusfamilie betroffen gewesen, die in Nazareth gegenüber Herodes Antipas steuerpflichtig war. Die Darstellung des Lukas von diesem Zensus ist aber unabhängig davon in sich unwahrscheinlich: Man musste nicht zu einem Zensus in „seine Stadt“ reisen, sondern ließ sich am „Amtssitz“ der Steuerbehörde oder an seinem Wohnsitz zur Steuer veranlagen.4 Ehefrauen wurden von ihren Männern vertreten. Maria hätte nicht mit Joseph nach Bethlehem reisen müssen. Da Lukas auch sonst chronologische Angaben irrtümlich harmonisiert, gibt es einen kritischen Konsens: Die Reise von Nazareth nach Bethlehem wegen des Zensus (Lk 2,3–6) dient dazu, die Geburt Jesu in die Davidstadt zu verlegen, um ihn als Messias darstellen zu können. Manche moderne Forscher halten dennoch an einem römischen Zensus in Judäa zur Zeit Herodes des Großen fest. Quirinius müsste dann zwei Mal im Osten tätig gewesen sein. Für diese Annahme stützt man sich auf den sog. Titulus Tibertinum, die Grabinschrift eines 3
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Zum Zensus vgl. H.Braunert, Der römische Provinzialzensus und der Schätzungsbericht des LukasEvangeliums (1957), in: ders., Politik, Recht und Gesellschaft in der griechisch-römischen Antike, 1980, 213–237. Für Ägypten ist belegt, dass Steuerpflichtige zur Steuerveranlagung an ihren Wohnsitz zurückkehren mussten (P.Lond. III, 904,24). 127 n. Chr. gibt eine Babatha ihre Erklärung im ca. 40 km von ihrem Wohnsitz entfernten Rabbath Moab beim zuständigen Amt ab (vgl. M.Wolter, Das Lukasevangelium, 2008, 120.122).
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römischen Senators aus augusteischer Zeit,5 in der es heißt, der Verstorbene habe „als Legat des vergöttlichten Augustus [mit proprätorischer Vollmacht] das zweite Mal Syria und Phoinice erhalten (iterum Syriam et Ph[oenicen optinuit])“. Lösungsversuche in diese Richtung wurden schon sehr früh vorgeschlagen:6 Nach Tertullian, Adv. Marc. 4,19,10, wurde der Zensus unter dem Statthalter Sentius Saturnus (9/8–4 v. Chr.) durchgeführt worden. Ant 16,277; 17,89 bezeugt die Statthalterschaft dieses Sentius Saturnus, sagt aber nichts von einem Zensus. Dafür ist ein Quirinius als Legat Syriens bezeugt, der einen Zensus in Apamea am Orontes durchgeführt hat, aber nicht in Palästina (CIL Suppl 6687). Gegen all diese Versuche spricht, dass eine Beschränkung der steuerpolitischen Autonomie der Klientelkönige durch die Römer unwahrscheinlich ist. Auch sind die syrischen Legaten der letzten Regierungsjahre des Herodes (10–4 v. Chr.) bekannt, so dass eine frühere Entsendung des Quirinius als Legat nach Syrien ausgeschlossen ist.
Der Titulus Tibertinum ist trotzdem historisch wertvoll. G.Alföldy hat ihn auf Quirinius bezogen und aus dessen Laufbahn erschlossen, dass Augustus ihn nach Absetzung des Archelaus als einen mit der Niederschlagung von Aufständen erfahrenen Beamten nach Syrien geschickt hat, er habe also bei der Eingliederung von Judäa mit Widerstand gerechnet.7 Fazit ist: Lk hat den Zensus des Quirinius zurückdatiert und zu einem weltweiten Zensus ausgeweitet. Er vermischt den Zensus von römischen Bürgern, den Augustus drei Mal im ganzen Reich durchgeführt hat, mit begrenzten Steuerveranlagungen in einzelnen Provinzen von Bewohnern ohne römisches Bürgerrecht. Er orientiert sich vielleicht an einer universalen Steuerschätzung in den Jahren 74/75 n. Chr. Lk setzt bewusst Kaiser und Christus einander entgegen. Elemente der lk Geburtsgeschichte spiegeln und überbieten die imperiale Ideologie. Augustus stilisierte sich als Friedensbringer (Res Gestae 12, 13, 25, 26), ließ sich im Reich als Retter (sōtēr) feiern und propagierte seine Herrschaft als gute Botschaft (euaggelia) für die Welt (Inschrift von Priene, OGIS II 458, 37–38; 40–41). Die Geburtsgeschichte bei Lukas hat ihren Höhepunkt in Botschaft und Doxologie der Engel, die alle drei Elemente bieten: Verkündigung der guten Botschaft (euaggelizomai), Geburt des Retters (sōtēr) (2,10– 11) und Friede auf Erden (2,14).8 Lk wollte zeigen: Christus übertrifft an weltweiter Bedeutung den Kaiser.
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Der Name weist auf den Fundort Tivoli, dem antiken Tibur. Die Inschrift enthält nicht den Namen des Verstorbenen. Vgl. J.A.Fitzmyer, The Gospel according to Luke I, 1981, 400–405. G.Alföldy, Zwei römische Statthalter im Evangelium: die epigraphischen Quellen, in: E.dalCovolo/ R.Fusco (eds.), Il contributo delle scienze storiche allo studio del Nuovo Testamento, 2005, 216–242. Das „iterum“ bezieht sich auf ein Amt in einer anderen Provinz. A.Merz, Matthew’s Star*, 2015, 484–486.
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Zweiter Teil: Der Rahmen der Geschichte Jesu
1.2 Das Matthäusevangelium: Geburt Jesu unter Herodes I.
Die chronologische Auswertbarkeit der mt Vorgeschichte ist umstritten. Darf man daraus, dass Herodes (gest. 4 v. Chr.) alle Kinder bis zwei Jahre umbringen ließ, schließen, dass Jesus spätestens im Jahr 6 v. Chr. geboren wurde? Kann man den Stern der Magier (Mt 2,2.9f) mit Hilfe astronomischer Berechnungen identifizieren und datieren? Die Auswertbarkeit der mt Vorgeschichte wird formgeschichtlich bestritten, weil die Erzählungen vom Kindermord und von den Weisen aus dem Morgenland Legenden sind, in denen atl. und frühjüdische Traditionen über Mose, den Messias und den messianisch gedeuteten Stern von Num 24,17 auf Jesus übertragen wurden.9 Da es viele religionsgeschichtliche Parallelen für die Anzeige der Geburt eines Königs durch einen Stern, sowie die Verfolgung eines neugeborenen Königs und Gaben zu Ehren eines neugeborenen Gottes gibt,10 sollte man nicht nach einem historischen Kern in Mt 2 suchen. Der Stern in Mt 2 ist kein astronomisches Phänomen. Trotzdem wird hin und wieder die Möglichkeit einer historischen Erinnerung erwogen. Ist Mt 2 die volkstümliche Ausgestaltung der Koinzidenz eines außergewöhnlichen Sternenphänomens und der Geburt Jesu? Diskutiert werden drei Möglichkeiten: 1. Eine Supernova entspräche dem Phänomen eines Sterns. Aber dafür gibt es keinen Beleg. 2. Von zwei Kometen erschien der eine im Jahr 12/11 v. Chr. zu früh, der andere nach Aufzeichnungen chinesischer Astronomen März 5 v. Chr. und April 4 v. Chr., sie werden in den zeitgenössischen Quellen freilich nirgends erwähnt. 3. Eine Jupiter-Saturn und Mars Konstellation trat im Jahr 7/6 v. Chr. dreimal auf. Schon J.Kepler dachte an sie. Aber Saturn und Mars sind auch bei solch einer Konstellation getrennt zu sehen. Mt 2,2.9 aber spricht von einem einzigen Stern.11
Das Ergebnis ist: Das Geburtsjahr Jesu lässt sich nicht genau ermitteln, die letzten Jahre Herodes I. haben die größte Wahrscheinlichkeit für sich. Historisch auswertbar sind die Geburtsgeschichten nur indirekt: Das LkEv kontrastiert den Weltherrscher Augustus mit dem neugeborenen Retter der Welt. Es sagt: Nicht mit Augustus, sondern mit Christus beginnt ein „Goldene Zeitalter“.12 Das MtEv bezeugt die Sehnsucht, dass die Herrschaft aus dem Westen in den Orient zurückkehrt.13 Der Kindermord von Bethlehem nimmt Motive der Moses-Tradition auf wie die Tötung aller neugeborenen Israeliten durch den Pharao 9 Vgl. D.C.Allison, The New Moses: A Matthean Typology, 1993, 140–65; A.Merz, Matthew’s Star*, 2015, 470–72, mit weiterer Literatur, auch über die Bileamtraditionen (Bileam gilt als Magier!) 10 Vgl. U.Luz, Das Evangelium nach Matthäus, 52002, 125–127, 160–162. 11 Als Vertreter dieser Theorie sei genannt: K. Ferrari-d’Ochieppo, Der Stern der Weisen in astronomischer Sicht, 31999. Vgl. J.Finegan, Chronology*, 1964, 238–248. 12 So St. Schreiber, Weihnachtspolitik. Lukas 1–2 und das Goldene Zeitalter, 2009. 13 G.Theißen, Vom Davidssohn zum Weltherrscher. Pagane und jüdische Endzeiterwartungen im Spiegel des Matthäusevangeliums, in: M.Becker/W.Fenske (Hg.), Das Ende der Tage und die Gegenwart des Heils, 1999, 145–164.
Der chronologische Rahmen des Lebens Jesu
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(Ex 2) und kontrastiert Jesus mit Herodes I., einem Herrscher, der eigene Söhne töten ließ, wenn er fürchtete, dass sie seine Herrschaft bedrohten (Bell 1,534–551). Historisch belastbar sind die Überlieferungen im Mt- und LkEv nicht, zumal sie einander widersprechen und die problematische, vom Messiasgedanken inspirierte Lokalisierung in Bethlehem enthalten (vgl. § 7). Doch stimmen beide Überlieferungen in der Datierung der Geburt „unter dem König Herodes“ (Mt 2,2/Lk 1,5) überein und meinen damit Herodes I.14
2. Die Zeit des öffentlichen Wirkens Jesu Eckpunkte seines Wirkens sind Jesu Taufe und Hinrichtung. Alle anderen Überlieferungen müssen in diesen „Rahmen“ eingefügt werden. Die Frage ist, ob wir einige von ihnen in eine relative Reihenfolge einordnen können. 2.1 Chronologisches zum Wirken Jesu
Das Wirken Jesu dauert nach dem JohEv drei Jahre, da es drei Passafeste erwähnt (Joh 2,13; 6,4; 11,55). Die Synoptiker rechnen mit einem Jahr, enthalten aber Indizien für ein mehrjähriges Wirken. Jesus klagt nämlich: „Jerusalem, Jerusalem, die du tötest die Propheten und steinigst, die zu dir gesandt werden, wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen!“ (Lk 13,34). Das scheint mehrere Jerusalembesuche Jesu vorauszusetzen. Dafür spricht, dass zwei Wege für Jesu Reise nach Jerusalem bezeugt sind, im MkEv der ostjordanische „Umweg“ über Peräa (Mk 10,1), im LkEv der direkte westjordanische Weg durch Samarien (Lk 9,51– 56; 17,11), also Erinnerungsspuren an verschiedene Reisen nach Jerusalem. Dann hätte Jesus vielleicht zwei oder drei Jahre öffentlich gewirkt. Einzelne Episoden werden in den Evangelien genauer datiert. 1. Der Synchronismus von Lk 3,1 datiert das Auftreten des Täufers (und wohl auch Jesu) in das „fünfzehnte Jahr der Herrschaft des Kaisers Tiberius, als Pontius Pilatus Statthalter von Judäa war.“ Tiberius war drei Jahre lang (wohl seit Oktober 12 n. Chr.) Mitregent von Augustus im Osten des Reiches, ehe er im September des Jahres 14 n. Chr. Alleinherrscher wurde. Falls drei Jahre der Mitregentschaft bei Lk hinzugerechnet sind, ergibt sich eine mögliche Zeitspanne für sein Wirken von Januar 26 bis April 30.15 2. Nach Lk 3,23 war Jesus „ungefähr“ 30 Jahre alt, als er öffentlich auftrat. Diese Angabe spielt auf Gestalten wie David, Joseph und Ezechiel an, die im Idealalter von 30 Jahren ihre Laufbahn begannen (2Sam 5,4; Gen 41,46). Nimmt man sie wörtlich und datiert Jesu Geburt ca. 6/5 v. Chr., wäre er ca. 25/26 n. Chr. öffentlich aufgetreten.
14 Unwahrscheinlich ist, dass die Herodessöhne Antipas oder Archelaos gemeint sind. Sie wurden zwar im Volk „Könige“ genannt, waren aber nur Ethnarch und Tetrarch. Die Weisen aus dem Morgenland ziehen nach Jerusalem, aber nur Archelaos regierte dort, nicht Antipas. 15 Vgl. J.Finegan, Chronology*, 1964, 259–273; A.Strobel, Ursprung*, 1977, 84–92.
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Zweiter Teil: Der Rahmen der Geschichte Jesu
3. Bei der Tempelreinigung sagen Juden in Joh 2,20, der Tempel sei 46 Jahre gebaut worden. Herodes begann den Tempelbau in seinem 18. Jahr 20/19 v. Chr. (Jos Ant 15,380). Das in Joh 2,13ff erwähnte Passafest fiele dann in das Jahr 26 oder 27 n. Chr. Jesu öffentliches Auftreten lässt sich danach wahrscheinlich zwischen 26 und 29 n. Chr. datieren. Das passt zur vermuteten Zeit der Hinrichtung des Täufers. Nach Josephus wollte Herodes Antipas mit ihr einem Aufruhr zuvorkommen. Die Furcht war begründet. Aufgrund einer Weissagung in der Assumptio Mosis 6,7 sollten Antipas und sein Bruder Philippus kürzer als ihr Vater Herodes I. regieren. Da sie in den Jahren 29/30 dessen Regierungszeit übertrafen, haben einige Juden in den Jahren davor ihr Ende erwartet, also in der Zeit, als der Täufer die Ehepolitik des Antipas kritisierte. Josephus hat wohl Recht, wenn er die Hinrichtung des Täufers auf die Angst des Herodes vor einer Destabilisierung seiner Herrschaft zurückführt.16 Unser Fazit ist: Relativ sicher können wir das öffentliche Wirken Jesu in die Zeit von 25–30 n. Chr. datieren. Die meisten Schätzungen vermuten dessen Beginn ca. 26/27 n. Chr. 2.2 Entwicklungen im Wirken Jesu?
Die Taten und Worte Jesu wurden durch die Evangelisten in eine Reihenfolge gebracht, die historisch nur begrenzt auswertbar ist. Dennoch gibt es einige „chronologische Sequenzen“: Ȥ Die Taufe Jesu steht am Anfang seines Wirkens (Mk 1,9f). Das Wort über den Täufer als Wüstenprediger (Lk 7,24–26) setzt voraus, dass der Täufer noch in Freiheit ist, da es den Luxus der Könige mit dessen Wüstenaufenthalt, nicht mit dessen Gefängnis kontrastiert. Ȥ Die Bildung eines Jüngerkreises geschieht durch Jüngerberufungen (Mk 1,16–20; 2,13f), später datierbar ist, was ein Gruppenleben der Jünger voraussetzt, z. B. das „Vaterunser“ (QLk 11,2–4), ihre Aussendung, durch die Jesus nach Quartier für sie suchen ließ (vgl. Lk 10,1–12), sowie das Wort über die zwölf Jünger als Richter Israels (Lk 22,28–30). Ȥ Die Wirksamkeit Jesu lässt Stadien erkennen: Weherufe über galiläische Städte setzen eine vorhergehende Ablehnung voraus (Lk 10,13–15/Mt 11,20–24), die Begegnung mit der Syrophönikerin weist auf eine Veränderung seiner Einstellung zu Heiden (Mk 7,24–30).17 Ȥ Rollenzuschreibungen an Jesus verändern sich: Die Vermutung des Herodes Antipas, er sei der auferstandene Täufer (Mk 6,14–16), weist auf ein Stadium, als Jesu Herkunft noch unbekannt war. Eine Wende könnte das Messiasbekenntnis des Petrus sein (8,27–30).
16 Vgl. G.Theissen, Jésus et Jean Baptiste – rupture ou continuité? In: A.Dettwiler (éd.), Jésus de Nazareth, 2017, 65–86. 17 Vgl. G.Theissen, Die Geschichte von der syrophönizischen Frau und das tyrisch-galiläische Grenzgebiet, in: Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien, 1989, 63–85.
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Ȥ Auch Aussagen zum Selbstverständnis Jesu lassen sich vielleicht ordnen: In Mk 3,28–30 erklärt Jesus alle Lästerungen gegen ihn für irrelevant. In QLk 7,18–23 lobt er den, der sich nicht an ihm ärgert. Dagegen hat das Bekenntnis zu ihm in Lk 12.8f Q ewige Folgen: Der Menschensohn wird sich zu ihm bekennen. Ȥ Den Jerusalemer Konflikten lassen sich das Streitgespräch über die Steuern (Mk 12,13–17) zuordnen, in Galiläa musste man die Steuern an Herodes Antipas zahlen. Das Streitgespräch über die Vollmacht Jesu zur Tempelreinigung ist nur in Jerusalem denkbar (Mk 11,27–33), ebenso das Gleichnis von den bösen Winzern (Mk 12,1–9).
Entgegen einer zum Dogma gewordenen Skepsis hinsichtlich der Erkennbarkeit von Entwicklungslinien im Wirken Jesu lassen sich drei Linien erkennen: 1. Erkennbar ist eine Entwicklung von Gerichts- zur Heilspredigt: Der Täufer kündigt das unmittelbar bevorstehende Gericht an: Die Axt ist schon an die Wurzel der Bäume gelegt (Lk 3,9). Dagegen gibt Jesus dem unfruchtbaren Feigenbaum eine Frist (Lk 13,6–9). Der Rückgriff auf den Propheten Jona zeigt: Gott kann ein angekündigtes Gericht aufgrund der Umkehr von Menschen aufheben (Lk 11,32). 2. Erkennbar ist eine Ausweitung seines Wirkens von Galiläa auf Nachbargebiete: Jesus wurde nach anfänglichen Erfolgen abgelehnt. Das zeigen Weherufe über die galiläischen Städte, die oft auf eine „galiläische Krise“ gedeutet werden (QLk 10,13–15).18 Danach wandte sich Jesus nach der Begegnung mit einer Syrophönikerin (Mk 7,24–30) benachbarten Gebieten zu, in denen er auch Nichtjuden traf. 3. Annehmen kann man eine Verschiebung von der theokratischen zur messianischen Frage: Jesus bittet im Vaterunser um das Kommen der Gottesherrschaft, deutet aber in ihm mit keinem Wort seine besondere Hoheit an. Aber nach dem Messiasbekenntnis des Petrus konzentriert sich die Erzählung auf die Frage: Wer ist Jesus? Er muss sich mit Messiaserwartungen auseinandersetzen und wird als „König der Juden“ gekreuzigt. Der historisch-kritische Konsens, dass die Reihenfolge der Perikopen in den Evangelien sekundär in den Evangelien geordnet wurde, darf nicht daran hindern, einige Perikopen zeitlich grob einzuordnen. Erfassen lassen sich so freilich nur ungefähre geographische Umrisse und zeitliche Folgen im Leben Jesu. So lassen sich die chronologischen Sequenzen als Ganze zwar zeitlich einander zuordnen, jedoch nur selten Einzelepisoden aus verschiedenen Sequenzen.
18 T.S.Ferda, Jesus, the Gospels, and the Galilean Crisis, 2019.
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Zweiter Teil: Der Rahmen der Geschichte Jesu
3. Der Tod Jesu Tacitus und Josephus bezeugen übereinstimmend, dass Jesus von Pilatus, der von 26 bis 36 n. Chr. als Präfekt Judäa regierte, zum Tode verurteilt wurde. 3.1 Das Todesjahr Jesu
Während der Amtszeit des Pilatus wurde Jesus hingerichtet. Addiert man zum früh- bzw. spätmöglichsten Auftreten Jesu (26 bzw. 29) die Zeit seines Wirkens hinzu ergibt sich eine Zeit zwischen 27 und 34 n. Chr. als mögliches Todesjahr. Nach Josephus ist Jesus nicht am Anfang der Regierungszeit des Pilatus aufgetreten, da er vorher von zwei Konflikten des Pilatus berichtet. Kalendarische Berechnungen ermöglichen eine weitere Eingrenzung:19 Da Jesus an einem Freitag, nach dem JohEv am 14. Nisan, nach den Synoptikern am 15. Nisan, hingerichtet wurde, kommen nur einige Jahre in Frage.20 In den Jahren 27 und 34 n. Chr. war der 15. Nisan ein Freitag, das würde der synoptischen Chronologie entsprechen, mit geringer Wahrscheinlichkeit gilt das auch für das Jahr 31. Zur joh Chronologie passen dagegen die Jahre 30 und 33, an denen der 14. Nisan, also der Passarüsttag, ein Freitag war. Daher hat das Jahr 30 n. Chr. als Todesjahr Jesu die größte Wahrscheinlichkeit für sich, wenn man die joh Chronologie für historisch hält. Doch sind andere Jahre wie 33 n. Chr. nicht ausgeschlossen.21 3.2 Der Wochen- und Monatstag des Todes Jesu22
Alle vier Evangelien stimmen darin überein, dass Jesus an einem Freitag starb.23 Strittig ist, ob dieser Freitag wie im JohEv der Rüsttag des Passafestes, der 14. Nisan, war, an dessen „Nachmittag“ die Passalämmer geschlachtet wurden, bevor das Passafest mit Einbruch der Dunkelheit begann (Joh 18,28; 19,31), oder ob dieser Freitag auf den ersten Tag des Passafestes, den 15. Nisan, fiel, wie die Synoptiker berichten. 1. Nach synoptischer Darstellung starb Jesus am ersten Tag des Passafestes (am 15. Nisan). Das letzte Abendmahl Jesu war danach ein Passamahl, das in der Nacht vom 14. auf den 15. Nisan eingenommen wird. Für diese Chronologie trat J.Jeremias ein:24 Alle Evangelien bezeugen, dass das letzte Mahl Jesu in Jerusalem (Mk 14,12; Joh 13,1) und in der Nacht gehalten wurde (1Kor 11,23; Joh 13,30; Mk 14,17). Beides ist ungewöhnlich, da zur Festzeit die 19 Ein Unsicherheitsfaktor ist das Wetter: Der Monatsbeginn wurde durch Sichtung des Neulichtes festgelegt, war es bewölkt, konnte er sich verschieben. 20 Vgl. J.Jeremias, Die Abendmahlsworte Jesu, 1935, 41967, 32–35; J.Finegan, Chronology*, 1964, 291–298; A.Strobel, Ursprung*, 1977, 70–78. 21 Für das Jahr 33 als Todesjahr Jesu plädiert: H.W.Hoehner, Chronology*, 2011, 2315–2359. 22 Das Problem wird noch einmal im Zusammenhang der Frage, ob das letzte Mahl Jesu ein Passamahl war, diskutiert; vgl. § 15 Jesus als Kultstifter, Abschnitt 4. 23 Mk 15,42; Mt 27,62; Lk 23,54; Joh 19,31.42. 24 J.Jeremias, Die Abendmahlsworte Jesu, 1935 41967, 9–78.
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Stadt so überfüllt war, dass Jesus außerhalb in Bethanien übernachten musste,25 und da die Hauptmahlzeit sonst am späten Nachmittag gegessen wurde. Nur das Passamahl musste nachts innerhalb der Stadtmauern Jerusalems eingenommen werden. Dass Wein getrunken wurde, war nur bei feierlichen Mahlzeiten üblich, beim Passamahl aber vorgeschrieben. Die Deuteworte haben nach J. Jeremias ihren Ort in der Passamahlfeier, bei der die Elemente der Mahlzeit gedeutet wurden. Das theologische Interesse der synoptischen Chronologie könnte sein, das Abendmahl als Gedächtnismahl des neuen Bundes und Ablösung des Passamahles darzustellen. 2. Nach joh Chronologie war der Freitag, an dem Jesus starb, dagegen der Rüsttag des Passafestes, das Passafest fiel in diesem Jahr auf einen Sabbat (Joh 19,14.31).26 Mahlzeit und Fußwaschung am Abend zuvor fanden demnach nicht im Rahmen eines Passamahls statt (vgl. Joh 13,1). Dafür spricht: Die von allen Evangelien bezeugte Passaamnestie ergibt nur einen Sinn, wenn der Freigelassene das Passamahl mitessen kann. Die mk Einleitung der Passionsdarstellung Mk 14,1f hat Reste dieser Chronologie erhalten, wenn sie berichtet, die Hohepriester und Schriftgelehrten hätten Jesus „nicht beim Fest“ ergreifen und töten wollen, damit es keinen Aufstand gebe. Sie wollten ihn noch vorher beseitigen. Doch ist auch die joh Chronologie mit einem theologischen Interesse verbunden: Jesus stirbt zu der Zeit, in der im Tempel die Passalämmer geschlachtet werden. Wahrscheinlich soll Jesus als das wahre Passalamm dargestellt werden (vgl. 1Kor 5,7). Denn dass die Soldaten dem bereits gestorbenen Jesus anders als den Mitgekreuzigten nicht die Beine zerschlagen, wird im JohEv als Erfüllung des Schriftwortes über das Passalamm verstanden, das forderte: „Ihr sollt ihm kein Bein zerbrechen“ (Joh 19,36; vgl. Ex 12,46.10 LXX). 3. Einen Harmonisierungsversuch zwischen der joh und der synoptischen Passionschronologie legte A.Jaubert, „La date de la Cène,“ 1957, vor.27 Sie wollte Widersprüche zwischen Joh und Synoptikern auf verschiedene Kalender zurückführen. Während alle Evangelisten den offiziellen Mondkalender zugrunde legten, hätte sich Jesus am essenischen Sonnen kalender28 orientiert, nach dem das Passamahl immer auf einen Dienstagabend fiel. Jesus habe das essenische Passa gefeiert, die Synoptiker aber hätten dieses Mahl aufgrund der Orientierung am offiziellen Kalender irrtümlich auf den Donnerstagabend versetzt. Gestorben sei Jesus, wie Johannes richtig berichtet, am Rüsttag des offiziellen Passafestes. Die Chronologie der Passion verteilt sich nach dieser Theorie auf drei Tage von Dienstag- bis Freitagabend, was von einigen altkirchlichen Quellen unterstützt wird29 und einen größeren Spielraum für Verhöre und Verhandlungen vor Synedrium und Pilatus lässt als die synoptische Darstellung.30 Doch ist es unwahrscheinlich, dass sich Jesus am essenischen Kalender
25 Mk 11,11.19; 14,3/Mt 21,17; 26,6 (Bethanien); Lk 21,37 (Ölberg). 26 Das EvPetr 2 [5] und die tannaitische Überlieferung bSanh 43a bezeugen Jesu Hinrichtung am Vorabend des Passafestes. 27 Weitere Harmonisierungsversuche: J.Finegan, Chronology*, 1964, 288–291. 28 Belege für diesen Kalender bieten Jub, aethHen, CD, 1QS und die Kalenderfragmente aus 4Q. 29 Z. B. SyrDidaskalia 21. Hier soll ein christliches Fasten am Mittwoch und Freitag begründet werden. 30 Ausführliche Widerlegung bei J.Blinzler, Prozeß*, 1951 41969.
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orientiert hat. Außerdem stimmen alle Evangelien darin überein, dass Jesus nach seiner Gefangennahme bereits am nächsten Tag hingerichtet wurde. Unser Ergebnis ist: Die Differenzen zwischen Joh und den Synoptikern lassen sich nicht ausgleichen. Die Argumente für die joh Chronologie haben mehr Gewicht.
4. Zusammenfassung und hermeneutische Reflexion Jesus wurde in den Jahren kurz vor dem Tod Herodes I. (4 v. Chr.) geboren. Er trat öffentlich nur in der ersten Hälfte der Regierungszeit des Pilatus (26–36 n. Chr.) auf und wurde wahrscheinlich vor dem Passafest 30 n. Chr. hingerichtet. Keiner seiner Richter hätte sich träumen lassen, dass nach ihm einmal die Zeit berechnet werden würde. Diese (chronologisch ungenaue) Zeitrechnung nach Christi Geburt enthält die Botschaft, dass mit Jesus eine Wende in der Geschichte eingetreten ist. Sie ist unabhängig von der Frage, in welchem Jahr Jesus geboren wurde. Jesu Botschaft und die Hoffnungen seiner Zeitgenossen waren eschatologisch. Sie erwarteten das Ende der Zeit. Wenn die christliche Zeitrechnung Jesus zu deren „Mitte“ machte, ist das eine Verschiebung gegen den Sinn, den Jesus selbst seinem Wirken gab. Diese Neudeutung Jesu begann aber schon im Urchristentum. Auch das LkEv lässt der Jesusgeschichte eine Darstellung der frühen Kirchengeschichte folgen und macht Jesus zur „Mitte“ der von ihm dargestellten Geschichte. Wenn er im JohEv dagegen Gottes Offenbarung ist, die quer zur Geschichte steht, erfasst auch sie einen Aspekt der eschatologischen Selbstdeutung Jesu.
§ 7 Der geographische und soziale Rahmen Jesu
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Ernest Renan entwarf 1863 ein idyllisches Bild von Galiläa, in dem man unter blauem Himmel „die ewige Melodie der Bergpredigt vernahm“.1 Inspiriert war er u. a. durch Josephus, der über Galiläa geschrieben hatte, es sei in seiner ganzen Ausdehnung fruchtbar und reich an Viehweiden, dazu auch mit Bäumen aller Art bepflanzt, so dass von seiner Ergiebigkeit auch derjenige ermutigt wird, der sonst keine Freude an der Landarbeit findet. … die Bevölkerung in den Dörfern ist wegen des fruchtbaren Bodens überall beträchtlich, so dass auch das kleinste Dorf mindestens 15000 Einwohner hatte! (Bell 3,42f; vgl. 3,516–521)
1
A.Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Bd 1 (1906), 1966, 208.
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Zweiter Teil: Der Rahmen der Geschichte Jesu
Wer aufgrund solcher Zeugnisse Galiläa als Insel mit einem „life in harmony“ darstellt,2 hat nicht den vorhergehenden Satz über Ober- und Untergaliläa im Blick: Obgleich diese beiden Teile im Umfang begrenzt und von so vielen fremden Völkern umgeben sind, hatten sie doch bisher jedem Angriffsversuch widerstanden. Denn die Galiläer sind von früher Jugend an kriegerisch und seit je her zahlreich; weder Feigheit bei seinen Männern noch Männermangel hatten je das Land bedroht. (Bell 3,41f)
Als die Hasmonäer Galiläa 105/4 v. Chr. eroberten, siedelten sie dort Juden an, die von anderen Völkern umgeben waren. Waren sie deswegen so kriegerisch? Oder hat Josephus sie im jüdischen Krieg im Kampf gegen die Römer so erlebt, als er in Galiläa den Widerstand gegen die Römer anführte? Plausibel wäre aber auch, dass sie wegen ihrer Beziehungen zu nichtjüdischen Städten im Osten und Westen sehr viel weltoffener als die Bewohner von Judäa waren. Nach W.Bauer, Jesus der Galiläer (1927) stand das „Galiläa der Heiden“ (Mt 4,15) weit mehr unter hellenistischem Einfluss als Judäa. Jesus habe sich hier zu einem Propheten entwickeln können, der nicht als messianischer König die Heiden vernichten sollte, sondern als himmlischer Menschensohn“ alle Menschen zur Rechenschaft zieht (S. 105). Richtig daran ist: Galiläa war durch Ansiedlung eines Fürstenhofes in Sepphoris und Tiberias eine prosperierende Region geworden,3 war aber deswegen nicht konfliktfrei. Im Gegenteil, zum ersten Mal übte ein im Land wohnender politischer Machthaber hier seine Macht aus und ließ manche politische und ökonomische Spannungen nah erleben.4 Unzutreffend aber ist, dass Galiläa stark unter heidnischem Einfluss stand. Es war jüdisch geprägt. Ausgräber fanden Mikwe-Bäder. Jüdische Speiseregeln wurden beachtet, nirgendwo fanden sich Schweineknochen.5 Der Landesfürst Herodes Antipas ließ auf seine Münzen wegen des jüdischen Bilderverbots nicht sein Bild prägen. Synagogen aus dem 1. Jh. konnten in Magdala und Tel Rekesh (zwischen Nazareth und dem See Genezareth) archäologisch nachgewiesen werden, für Kapernaum lässt sich eine Synagoge erschließen.
1. Der Geburtsort Jesu: Nazareth6 Mk und Joh nennen Jesus „Nazarener“ bzw. „Nazoräer“ (Mk 1,24; Joh 19,19) und halten Nazareth für seine Geburtsstadt. Im JohEv wird deshalb seine Messianität bestritten: „Was kann aus Nazareth Gutes kommen?!“ (Joh 1,46; vgl. 7,52). Mt und Lk legen dagegen Wert 2
3 4 5 6
So E.Meyers, Jesus and His Galilean Context, in: D.R.Edwards/C.Th.McCollough, Archaeology and the Galilee, 1997, 57–66, S. 64. Differenzierter urteilen M.Tiwald, Frühjudentum*, 2016, 237–256; A.Keddie, Class and Power*, 2019. K.-H.Ostmeyer, Armenhaus und Räuberhöhle? Galiläa zur Zeit Jesu, ZNW 96 (2005) 147–170. R.A.Horsley, Galilee*, 1995. M.Chancey, Myth*, 2002. C.Heil, Jesus aus Nazaret oder Betlehem? Historische Tradition und ironischer Stil im Johannesevangelium, in: ders., Das Spruchevangelium Q und der historische Jesus, 2014, 241–263.
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darauf, dass er in Bethlehem geboren wurde, und verbinden Bethlehem mit seiner Abstammung von David (Lk 2,4; Mt 1,1–17.20). Nach dem MtEv hat die Familie dort schon immer gewohnt, nach dem LkEv begab sich Josef wegen einer vom Kaiser angeordneten Steuerschätzung vorübergehend an den Ort seiner Herkunft (Lk 2,11). Das LkEv kontrastiert die Friedensbotschaft der Engel bei seiner Geburt mit der pax romana des Kaiser Augustus im Westen (Lk 2,14). Das MtEv bezieht seine Geburt auf Herrschererwartungen im Osten. Von dort kommen die Magier, um dem neugeborenen König der Juden in Jerusalem zu huldigen, Schriftgelehrte schicken sie aufgrund von Mich 5,1 in die Davidsstadt (Mt 2,5f). Hier konkurriert Jesus nicht mit dem Kaiser, sondern mit Herodes, der ihn durch Ermordung aller Kinder in Bethlehem beseitigen will (Mt 2,16–18). Das historische Urteil kann nur sein: Die Version mit theologischem Gewicht hat die unscheinbare Herkunft aus Nazareth verdrängt. Die Verlagerung seines Geburtsortes nach Bethlehem geschah, weil der Messias in Bethlehem geboren werden musste. Lk gleicht beide Überlieferungen aus: Jesus sei in Bethlehem geboren, aber in Nazareth aufgewachsen (Lk 4,16).7 Nazareth8 war ein Dorf im südgaliläischen Bergland von so geringer Bedeutung, dass es im AT, bei Josephus und im Talmud kaum erwähnt wird. Wir wissen aus einer Synagogeninschrift in Caesarea, dass eine priesterliche Familie nach dem Bar-Kochba-Aufstand (132–136 n. Chr.) dorthin übersiedelte¸ und aus späteren rabbinischen Quellen (Mishmarot 18), dass es ein Wohnort von Priestern war.9 Archäologisch ist eine Besiedlung seit ca. 2000 v. Chr. nachweisbar, aber keine Spur einer Synagoge aus der Zeit Jesu (Mk 6,2; Mt 13,54; Lk 4,16). Nazareth liegt 8 km von der Stadt Sepphoris entfernt, die 4 v. Chr. durch Quintilius Varus zerstört worden war. Herodes Antipas baute sie als Hauptstadt wieder auf, ehe er ca. 19 n. Chr. Tiberias als neue Hauptstadt gründete. Ausgrabungen von Sepphoris weisen auf eine blühende Stadt, aufgebaut wie andere römische Städte mit rechtwinkligem Straßensystem und einem unteren und oberen Forum. Ob das Theater, das an die 4000 Menschen fasste, schon unter Antipas existierte, ist unsicher.10 Jesus und sein Vater könnten als Bauhandwerker (tektōn) beim Aufbau von Sepphoris mitgewirkt haben. Einige Bilder in Jesu Worten weisen auf eine städtische Lebenswelt: Fromme Heuchelei prangert Jesus als „Schauspielerei“ (hypokrisis) an (Mt 6,2.5.16; Mk 7,6; Lk 13,15). Das Gleichnis von den Talenten ist mit Bankgeschäften vertraut (Lk 19,11–27). Mt 5,25f setzt voraus, dass Schuldner und Gläubiger eine gewisse Wegstrecke zum Gericht zurücklegen mussten, was eine gewisse Distanz zur Stadt verrät. Besser ist es, sich vorher auf dem Weg zu einigen. In Sepphoris hatte Gabinius (57– 7 Solche legendarische Weiterentwicklungen von Traditionen lassen sich plausibel machen: Schon früh wurde Jesus als Davidide betrachtet (Röm 1,3f), Davids Vater stammte aus Bethlehem (1Sam 16,18). Viele Galiläer waren unter Aristobulos I. (104–103 v. Chr.) aus dem Süden nach Galiläa eingewandert bzw. zurückgekehrt. Deswegen war plausibel, dass einige Familien in Galiläa in Judäa und vielleicht auch in Bethlehem ihre Wurzeln hatten. 8 B.Bagatti, Excavations in Nazaret, 1969/2002. 9 J.Zangenberg, Art. Nazareth, RGG4 (2003) 163. 10 Vgl R.A.Batey, Jesus and the Forgotten City. New Light on Sepphoris and the Urban World of Jesus, 1991.
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55 v. Chr.) den für Galiläa zuständigen Gerichtshof eingerichtet (Ant 14,91). Je mehr die Archäologie zeigt, welche Bedeutung Sepphoris hatte, umso beredter wird das Schweigen der Jesusüberlieferung über diese Stadt: Jesus muss sie gekannt haben, aber wirkte in ihr so wenig wie in Tiberias. Er wandte sich vor allem den Menschen auf dem Lande zu.
2. Das Zentrum des Wirkens Jesu: Kapernaum Zentrum des Wirkens Jesu waren ländliche Gebieten am Nordufer des galiläischen Sees: Bei Kapernaum berief er seine ersten Jünger (Mk 1,16–20), fand dort im Haus der Schwiegermutter des Petrus Aufnahme (Mk 1,29; vgl. 9,33) und eine Basis für seine Wandertätigkeit. Die an Ortsnamen arme Logienquelle erwähnt den Ort zweimal, in der Erzählung vom Hauptmann von Kapernaum (Lk 7,1–10) und im Drohwort gegen die galiläischen Städte (Lk 10,13–15). Der Ort lag an der Grenze zwischen dem Gebiet des Herodes Antipas und des Philippus. Das erklärt die Anwesenheit einer Truppenabteilung (Lk 7,1–10) und die Existenz einer Zollstation (Mk 2,14) – zunächst für die Eintreibung allgemeiner Abgaben, aber wohl auch für Grenzzölle, denn von 4 v. bis 39 n. Chr. verlief hier eine Grenze.11 Die Überlieferung von der Berufung eines Zöllners in Kapernaum geht daher in die Zeit vor 39 n. Chr. zurück und ist milieuauthentisch. Zur Grenzlage passt, dass Jesus auch Jünger aus Bethsaida im Gebiet des Philippus hatte (Joh 1,44; 12,21) und sich bis zu dessen Hauptstadt Caesarea Philippi bewegt hat (Mk 8,27). Aufgrund dieser Grenzlage konnte er sich politisch brisanten Situationen durch Wechsel in ein anderes Territorium entziehen, als er z. B. nach Lk 13,31– 33 von Pharisäern aufgefordert wurde, sich vor Herodes Antipas in Sicherheit zu bringen. Zugleich zeigt sein Wirken außerhalb Galiläas: Jesus orientierte seine Tätigkeit an allen zwölf Stämmen Israels – auch außerhalb seines galiläischen Heimatlandes. Aus der Jesusüberlieferung hören wir von einer Synagoge und einem Haus des Petrus in Kapernaum. Möglicherweise wurden beide durch Ausgrabungen lokalisiert.12 Die Synagoge, die nach Lk 7,5 der Hauptmann von Kapernaum gestiftet hat, ist nicht mit der Synagoge aus dem 4./5. Jh. identisch, deren Relikte wir heute in Kapernaum sehen. Im 1. Jh. n. Chr. dienten als „Synagogen“ vor allem Räume von Privathäusern. Von den Synagogen des 1. Jh. in Gamla, Herodion und Massada sind die beiden letzten sekundär umgewidmete Räume ohne spezifische Synagogenarchitektur.13 Die heute sichtbaren Synagogenreste in Kapernaum könnten aber dort stehen, wo sich schon im 1. Jh. eine Synagoge befand. Die Ausgräber sind überzeugt, Reste dieser Synagoge nachgewiesen zu haben.14 11 Vgl. G.Theißen, Lokalkolorit*, 1989, 127f: Nach der Absetzung des Herodes Antipas 39 n. Chr. wurde sein Land anderen Gebieten eingegliedert. Vielleicht verlor Kapernaum an Bedeutung, als es nicht mehr an der Grenze lag. Josephus erwähnt den Ort nur zweimal, einmal, weil er in seiner Nähe vom Pferd gestürzt war (Vita 403), das andere Mal als Name einer Quelle (Bell 3,519f). 12 Vgl. S.Loffreda/V.Tsateris, Art. Capernaum, NEAEHL 1, 291–296. 13 Zur Geschichte der Synagogen C.Claußen, Versammlung, Gemeinde, Synagoge. Das hellenistisch- jüdische Umfeld der frühchristlichen Gemeinden, 2002. Ders. Art. Synagoge NT, WiBiLex 2013. 14 J.F.Strange/H.Shanks, Synagogue Where Jesus Preached Found at Capernaum, BAR 9 (1983) 25–31.
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Wichtiger noch ist das Haus des Petrus. Unter einer achteckigen Kirche aus byzantinischer Zeit wurden Reste von Wohnhäusern gefunden, die bis ins 1. vorchristliche Jahrhundert zurückgehen. Angelhaken weisen auf Fischer als Bewohner. Zwischen 50 und 100 n. Chr. wurde eines dieser ärmlichen Häuser „restauriert“. Seine Wände wurden verputzt, sein Boden mit Kalkbelag versehen. Im abgefallenen Putz fanden sich Symbole und Inschriften, die auf eine frühchristliche Hauskirche hinweisen. Mehrfach wird Jesus mit Hoheitstiteln genannt; vielleicht begegnet auch der Name des Petrus. Alles spricht dafür, dass schon im 1. Jh. das Haus des Petrus hier lokalisiert wurde – möglicherweise aufgrund einer zutreffenden Ortstradition.15
3. Die Wanderungen Jesu: Galiläa und Umgebung Jesus war ein Wanderprediger. Seit K.L.Schmidt, Der Rahmen der Geschichte Jesu, 1919, ist Konsens, dass topographische und chronologische Angaben in den Evangelien weithin zum redaktionellen Rahmen gehören, den erst die Evangelisten bei der Aufnahme der Einzeltraditionen schufen. Dennoch lassen sich drei Züge seiner Wanderungen historisch erkennen. 1. Jesus wirkt in Galiläa auf dem Land, nicht in den damals aufblühenden Städten Sepphoris, Tiberias und Magdala. In Sepphoris könnte er in der Zeit vor seinem öffentlichen Wirken als Handwerker gewesen sein. Aus Magdala stammt seine Anhängerin Maria Magdalena. Umso auffälliger ist sein Schweigen über diese Städte. Wandte sich Jesus bewusst der Landbevölkerung zu, die von einem gewissen städtischen „Modernisierungsschub“ in Galiläas Städten weniger profitierten? Wir wissen es nicht. 2. Jesus besucht das ländliche Umfeld heidnisch geprägter Städte außerhalb Galiläas: die „Gebiete von Tyros und Sidon“ (Mk 7,24.31), die Dörfer von Caesarea Philippi (8,27), das Territorium der Dekapolis (5,1–17). Ein Grund dafür ist: Im ländlichen Umfeld dieser Städte lebten viele Juden. Vielleicht suchte Jesus sie als die „verlorenen Schafe“ Israels auf (Mt 10,6). 3. Zentrum der Verkündigung Jesu ist das Gebiet nördlich des Sees Genezareth. Dabei überschreitet er die Grenze zwischen den Gebieten des Antipas und Philippus. Seine Jünger kamen aus beiden Gebieten. Dort liegen die Orte der Jesusüberlieferung: Kapernaum, Chorazim, Bethsaida – gerade sie kritisiert Jesus heftig (Lk 10,13–15). Ist das Zeichen einer „galiläischen Krise“ (s. u.)?
Auch wenn wir die Geschichtlichkeit einzelner Wanderungen Jesu schwer beurteilen können, ergibt sich aus diesen Orten ein „milieuauthentisches“ Erinnerungsmuster. Jesus wirkte in Landgebieten. Wir können weiter fragen: Haben Unterschiede zwischen Stadt und Land dabei Spuren hinterlassen? Ist seine Mobilität Zeichen einer aufblühenden Welt? Denn wenn er mit seinen Jüngern auf Wanderungen Unterstützung fand, musste es viele Menschen geben, die dazu in der Lage waren (vgl. Lk 8,1–3). Waren seine Nachfolger, die Haus und
15 V.Corbo, The House of Saint Peter at Capharnaum, 1969; J.H.Charlesworth, Jesus*, 1988, 109–115.
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Hof verlassen hatten und diese Unterstützung fanden, sozial Entwurzelte? Oder kamen sie aus „normalen“ Verhältnissen, waren aber von innerer Unruhe ergriffen?16 3.1 Soziopolitische Spannungen
In Galiläa regierten im 1. Jh. herodäische Klientelfürsten. Die Römer wählten diese indirekte Form der Herrschaft, wenn ein Land nicht weit genug entwickelt war, um als Stadt republik verwaltet zu werden. Nach dem Tod Herodes I. teilten sie das Land unter drei Söhne. Archelaos (4 v.–6 n. Chr.) bekam das zusammenhängende, aber religiös nicht einheitliche Gebiet Judäa und Samarien, Philippus (4 v.–34 n. Chr.) das stark von Nicht-Juden besiedelte Gebiet im Nordosten Palästinas, Herodes Antipas (4 v.–39 n. Chr.) Galiläa und Peräa, die zwar ethnisch und religiös homogen, aber geographisch getrennt waren. Die Teilung entsprach der Maxime divide et impera“. In Judäa und Samarien hatten die Römer damit keinen Erfolg. Schon nach zehn Jahren wurde Archelaos auf Betreiben von Samaritanern und Juden abgesetzt. Seitdem regierten dort römische Präfekten, unter ihnen Pontius Pilatus von 26–36 n. Chr. S.Freyne hatte ursprünglich die These vertreten, Galiläa sei, wie die lange Herrschaft des Herodes Antipas von 43 Jahren zeige, spannungsfreier als Judäa gewesen,17 die Widerstandsbewegung sei vor allem in Judäa zu Hause, wo die Römer direkt regierten. Aber Galiläa war im „Räuberkrieg“ nach dem Tode Herodes I. eines der Unruhezentren. Ein Judas eroberte das Waffenarsenal in Sepphoris. Der syrische Legat Quintilius Varus ließ Sepphoris zerstören und die Bewohner in die Sklaverei verkaufen (Bell 2,56.68; Ant 17,289). Herodes Antipas war im Vergleich zu den Römern zwar ein „milder“ Herrscher, seine Herrschaft war stabil,18 aber es gab mindestens zwei Krisen. Nach Strabo (Geogr XVI,2,46 = GLAJJ Nr. 115) war seine Herrschaft gefährdet, als sein Bruder Archelaos 6 n. Chr. abgesetzt wurde. Nur mit Mühe sei es den beiden anderen Söhnen des Herodes gelungen, ihre Tetrarchie zu bewahren. Judäa und Samarien gingen in direkte römische Verwaltung über. Dort trat ein „Judas der Galiläer“ auf, der jede menschliche Herrschaft ablehnte und nur Gott als Herrn anerkennen wollte:19 Er kritisierte die 16 In: G.Theißen, Soziologie*, 1977, ders., Jesusbewegung*, 2004, wird diese Unruhe als „Anomie“ gedeutet. É. Durkheim bezeichnete damit eine Auflösung traditioneller Ordnungen bei sozialem Auf- und Abstieg. Ausgewogen urteilt M.Tiwald, Frühjudentum*, 2016, 237–256. 17 Vgl. S.Freyne, Galilee*, 1980, 68–71.208–247; Galilee, Jesus and the Gospels, 1988, 135–175.190–198. S.Freyne rechnet mit zunehmenden Spannungen in Galiläa durch ein Stadt-Land-Gefälle, das durch den Ausbau von Sepphoris und Tiberias größer wurde: S.Freyne, The Geography, Politics, and Economics of Galilee and the Quest for the Historical Jesus, in: B.Chilton/C.A.Evans, Studying the historical Jesus, 1994, 104 ff.; ders., Jesus*, 2004. 18 Vgl. M.H.Jensen, Herod Antipas in Galilee. The Literary an Archaeological Sources on the Reign of Herod Antipas and its Socio-Economic Impact on Galilee, 2006; ders., Herodes Antipas in Galiläa – Freund oder Feind des historischen Jesus?, in: C.Claussen/J.Frey (Hg.), Jesus*, 2008, 39–73. 19 Er ist nach D.M.Rhoads, Israel in Revolution 6–74 C.E. A Political History Based on the Writings of Josephus, 1976, 50f nicht der Hezekiassohn „Judas“. Anders M.Hengel, Die Zeloten, 21976, 337 ff.
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Bewohner Judäas, „indem er es für einen Frevel erklärte, wenn sie bei der Steuerzahlung an die Römer bleiben und nach Gott irgendwelche sterbliche Gebieter auf sich nehmen würden“ (Bell 2,118). Wer so gegen jede menschliche Herrschaft polemisiert, wird kaum eine messianische Herrschaft für sich beanspruchen, zumal Judas zusammen mit einem Pharisäer Zadduk auftrat, was monarchischen Ambitionen widerspricht (Ant 18,4). Josephus nennt ihn einen „Sophisten“ (Bell 2,118), seine Lehre die „vierte Philosophie“ neben drei „philosophischen“ Strömungen von Essenern, Pharisäern und Sadduzäern (Ant 18,9). Das Gebiet, in dem die beiden Unruhe stifteten, war zwar nicht Galiläa, aber ihre radikaltheokratische Lehre hatte dort ihren Ursprung. Gerade dort lebte sie ca. 20 Jahre noch einmal auf, als Jesus seine Botschaft von der Herrschaft Gott verkündigt. Das kann kein Zufall sein. Nach der ersten Krise der Herrschaft des Antipas ca. 6 n. Chr. gab es eine zweite Krise in der Zeit Jesu: Zwischen 6 n. Chr. und ca. 20 n. Chr. wurde die apokalyptische Schrift Assumptio Mosis (neu) herausgegeben.20 Sie prophezeite den Herodessöhnen, sie würden kürzer als ihr Vater regieren (AssMos 6,7). Da Archelaos schon abgesetzt war, Philippus weit weg regierte, war vor allem Herodes Antipas gemeint: Wenn Prophezeiungen im Land kursieren, er werde bald verschwinden, war die politische Lage unter ihm nicht stabil, zumal solche Erwartungen durch die Kritik eines Propheten flankiert wurden. In dieser Zeit kritisierte Johannes der Täufer seine Ehepolitik. Antipas ließ ihn hinrichten, um einem Aufruhr zuvorzukommen (Ant 18,118). Ein weiteres Indiz für Unruhen ist das Blutbad, das Pilatus nach Lk 13,1–3 unter galiläischen Pilgern anrichtete. Pilatus sah die öffentliche Ordnung durch sie bedroht. Die Bewohner Galiläas verstanden sich trotz der Teilung des Landes als Teil des Volkes Israel. Galiläa war Peripherie. Gerade in Randgebieten werden manchmal politische Leitziele nachdrücklicher vertreten als im Zentrum. Das Leitziel aller Juden war die Theokratie. Nach Hekataios von Abdera (ca. 300 v. Chr.) hatte sie Moses verpflichtet, „niemals einen König zu haben“ (bei Diod Sic XL,3,5 GLAJJ Nr. 11). Nach Josephus hat er gelehrt: „Aristokratie und das Leben in ihr ist das Beste. Es soll euch nicht Verlangen nach einer anderen Staatsform ergreifen, sondern mit dieser sollt ihr zufrieden sein, in der ihr die Gesetze als Herren habt und ihnen entsprechend alles tut. Denn Gott soll euch als Herrscher genügen“ (Ant 4,223). Obwohl 63 v. Chr. eine Gesandtschaft vor Pompejus für solch eine theokratische Herrschaftsform mit Hohepriestern plädiert (Ant 14,41), setzten die Römer Könige ein. Das stieß in Galiläa auf Widerstand. Herodes musste schon 47/6 v. Chr. einen „Räuberhauptmann“ Hezekias bekämpfen, mit dem sich die „Ersten der Juden“ in Jerusalem solidarisierten (Ant 14,159.165.167). Wahrscheinlich vertrat Hezekias eben jene theokratische Herrschaftsform, gegen die sich die Herodäer durchsetzen mussten. Denn nach dem Tod Herodes I. führt 4 v. Chr. ein Sohn dieses Hezekias mit Namen Judas einen Aufstand in Galiläa gegen alle an, die nach Herrschaft strebten (Bell 2,56). Ein zweiter Judas (oder auch derselbe?) kämpft in Judäa nach 6 n. Chr. gegen jede Steuerzahlung an die Römer, weil Gott allein der Herr des Landes sei. Wenn Jesus etwas später die „Gottesherrschaft“ verkündigte, belebte er also eine theokratische Tradition Galiläas, wandelte sie freilich in einem Punkt 20 Vgl. E.Brandenburger, Himmelfahrt Moses, in: JSHRZ V,2, 2976,17–84, S. 60.
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ab: Träger der „Königsherrschaft Gottes“ war bei ihm ein messianisches Kollektiv von zwölf Herrschern. Da das der Konzentration aller Macht auf Jesus aufgrund des Osterglaubens widerspricht, ist die Ernennung der Zwölf eine Erinnerungsspur des historischen Jesus: Ihr, die ihr mir nachgefolgt seid, werdet bei der neuen Schöpfung, wenn der Menschensohn sitzen wird auf dem Thron seiner Herrlichkeit, auch sitzen auf zwölf Thronen und richten die zwölf Stämme Israels. (Mt 19,28 vgl. Lk 22,28–30).
Jesus ersetzt die Erwartung eines einzigen messianischen Herrschers durch einen „Gruppenmessianismus“.21 Fischer und Bauern aus Galiläa sollen das wiederhergestellte Israel regieren. Rückschlüsse auf die politische Einstellung der Galiläer ermöglichen auch einige Ereignisse nach Jesu Zeit: Unter den Widerstandskämpfern im jüdischen Krieg traten zwei Gruppen hervor, einerseits „Galiläer“ um Johannes von Gischala, die den äußeren Tempelbezirk verteidigten, andererseits „Zeloten“, die das innere Heiligtum besetzt hielten. Für die Zeit vor 66 n. Chr. sind nur zwei „Zeloten“ belegt: Simon der Zelot, ein Anhänger Jesu, der mit ihm durch Galiläa wanderte (vgl. Lk 6,15; Apg 1,13), dazu ein inschriftlich belegter, in Rom begrabener „Zelot, als dessen Heimatort das galiläische Sepphoris angegeben wird (CIJ I Nr. 362). Die wenigen Spuren aus der Vorgeschichte der radikalsten Widerstandsgruppe führen nach Galiläa. Verständlich ist, dass sich Herodes Antipas in seinem Land nicht ganz sicher fühlte. Darauf weist womöglich schon die Verlegung der Hauptstadt von Sepphoris nach Tiberias und die dortige Ansiedlung einer ihm loyal ergebenen Bevölkerung (Ant 18,37f). Dort sammelte er auch ein Waffenlager, dessentwegen er bei den Römern denunziert wurde und sein Reich verlor: Dass er diese Waffen nur zum Schutz gegenüber äußeren Feinden gesammelt hatte, ist unwahrscheinlich (vgl. Ant 18,251f). Von einem „life in harmony“ kann trotz der langen Herrschaft des Antipas in Galiläa keine Rede sein. Auch seine Herrschaft wurde hin und wieder durch Krisen erschüttert. Richtig aber ist, dass Jesu Zeit nach dem Urteil des Tacitus friedlich war: sub Tiberio quies (Hist 5,9,2). Das ist für das Verständnis von Jesus wichtig. In dieser friedlichen Zeit konnte Jesus für gewaltfreie Konfliktlösungen Resonanz finden.22
21 G.Theißen, Gruppenmessianismus. Überlegungen zum Ursprung der Kirche im Jüngerkreis Jesu (1992), in: Jesus als historische Gestalt, 2003, 255–281. 22 Vgl. G.Theißen, Jesus und die symbolpolitischen Konflikte seiner Zeit. Sozialgeschichtliche Aspekte der Jesusforschung (1997) = ders., Jesus als historische Gestalt 2003, 169–193.
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3.2 Ethnokulturelle Spannungen zwischen Juden und Heiden
Palästina war zu Jesu Zeit spannungsfreier als vorher und nachher. Aber war Galiläa spannungsfreier als Judäa? Galiläa wird in Jes 8,23 (=Mt 4,15) das „Galiläa der Heiden“ genannt, weil nach der assyrischen Eroberung des Nordreiches (721 v. Chr.) fremde Völker dort angesiedelt wurden. Während des Makkabäeraufstands im 2. Jh. v. Chr. begegnet der Begriff „Galiläa der Fremden“ (allophyllōn): Die jüdische Minderheit in Galiläa bat damals die Juden im Süden um Hilfe gegen die Fremden (1Makk 5,14f). Der Hasmonäer Simon, brachte sie daraufhin nach Judäa (1Makk 5,23). Als Aristobulos I. (104–103 v. Chr.) Galiläa zurückeroberte, wurde das ganze Land wieder jüdisch: Eingedrungene Ituräer durften unter der Bedingung im Land bleiben, dass sie sich beschneiden ließen (Ant 13,318f). Die Rejudaisierung Galiläas war erfolgreich. Nach der Eroberung Palästinas durch die Römer 63 v. Chr. befreite Pompejus nämlich die hellenistischen Stadtstaaten von jüdischer Herrschaft mit Ausnahme der Gebiete, deren Bewohner Anhänger des Jerusalemer Tempelkults waren: Judäa, Peräa und Galiläa. Es besteht daher kein Zweifel: Zu Jesu Zeiten war Galiläa ein jüdisch geprägtes Land. In den benachbarten hellenistischen Städten aber lebte in deren ländlichem Umfeld eine jüdische Minorität, die es als Relikt einer expansiven Politik der Hasmonäer nicht leicht hatte. Jesus hat auch sie besucht. Archäologische Funde bestätigen, dass auch jenseits der Grenzen Galiläas Juden gelebt haben (J.A.Lloyd)23. In Galiläa wurde ein aramäischer Dialekt gesprochen, durch den sich Petrus verrät (Mt 26,73). Im Talmud liest man die Geschichte von einem Galiläer, der auf dem Jerusalemer Markt etwas einkaufen will, das er amar nennt. Er wird verspottet: „Du dummer Galiläer, willst du etwas zum Reiten (chamār = Esel). Oder etwas zum Trinken (chamar = Wein)? Oder etwas zum Anziehen (camar = Wolle)? Oder etwas zum Opfern (immar = Lamm)?“ (bEr 53b).24 Offensichtlich konnten Galiläer die verschiedenen Gutturale des Aramäischen nicht differenzieren. Einige haben vielleicht in den Städten Sepphoris, Tiberias und Magdala Griechisch verstanden. Ob das große Theater in Sepphoris, das wohl erst nach der Zeit Jesu gebaut wurde, ein Publikum mit Kenntnis des Griechischen voraussetzt, kann offenbleiben. Aber ein Zöllner wie Levi musste Griechisch verstehen, um seinen Beruf ausüben zu können. Zahlreiche epigraphische Zeugnisse (also griechisch beschriftete Münzen, Papyri, Grab- und sonstige Inschriften) belegen die Verbreitung des Griechischen in Palästina. Auch Hebräisch wurde zu Jesu Zeit geschrieben und in manchen religiösen Kreisen wohl auch gesprochen.25
Jesus hat in Aramäisch gelehrt. Überlieferungen trauen ihm zu, dass er schreiben (Joh 8,6) und im Synagogengottesdienst die Schriftlesung übernehmen konnte (Lk 4,16f). Dass Jesus
23 J.A.Lloyd, Archaeology and the Itinerant Jesus*, 2021. 24 Zitiert nach G.Vermes, Jesus the Jew, 1973, 39. 25 Vgl. S.E.Porter, Jesus and the Use of Greek in Galilee, in: B.Chilton/C.A.Evans, Studying the Historical Jesus, 1994, 123–154; C.Heszer, Jewish Literacy in Roman Palestine, 2001; St. Hultgren, Die Bildung und Sprache Jesu, in: Jesus-Handbuch, 2017, 220–227.
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ein wenig Griechisch sprach, ist möglich, war für die Kommunikation mit der einfachen Bevölkerung zwar nicht notwendig, aber bei Kontakten mit Nichtjuden hilfreich. Zu seiner Zeit lebten in der Tat Nichtjuden in Galiläa. In Tiberias wurden sie am Anfang des jüdischen Kriegs ermordet (Vita 67), so wie damals umgekehrt in hellenistischen Stadtrepubliken jüdische Minoritäten umgebracht wurden (Bell 2,457f; 466–468; 477f; 559–601). Umso auffälliger ist, dass Jesus die heidnischen Nachbarn Galiläas in allen Richtungen positiv bewertet: Jesus sagt von den Bewohnern von Tyros und Sidon im Nordwesten, sie wären angesichts seiner Wunder umgekehrt (Lk 10,14). Die Niniviten im Norden Palästinas hätten auf ihn gehört, so wie sie auch auf Jona gehört hatten. Die Königin des Südens hätte ihm, zugestimmt, wie sie einst von Salomo beeindruckt war (Lk 11,31f). Die Samaritaner im Süden hebt er als positive Beispiele hervor (Lk 10,30–37). Wer Nachbarn in allen Himmelsrichtungen so positiv bewertet, kann verkündigen, dass Menschen von überall her in die Gottesherrschaft strömen werden (Lk 13,29). Gleichzeitig haben Spannungen zu den Nachbarn Spuren hinterlassen.26 In Mk 7,24–30 weist Jesus eine Syrophönikerin, die um Heilung ihrer kranken Tochter bittet, mit den Worten ab: „Lass zuerst die Kinder satt werden. Denn es ist nicht gut, das Brot der Kinder zu nehmen und es den Hunden hinzuwerfen“ (Mk 7,27). Sie ist als „Griechin“ wahrscheinlich eine Oberschichtangehörige. Die Brotmetaphorik in der Antwort Jesu passt schlecht zur Bitte um Heilung, aber gut zur Abhängigkeit der Städte Tyros und Sidon von den landwirtschaftlichen Produkten des galiläischen Hinterlandes.27 Bei Versorgungskrisen war Tyros finanziell stark genug, um Getreide anzukaufen, das dann in Galiläa fehlte. Denkbar ist, dass eine sprichwörtliche Redewendung diesen Sachverhalt geißelt: Soll man den eigenen Kindern das Brot wegnehmen, um es den Hunden (d. h. Heiden) zu geben? Hinter dem zynischen Wort Jesu steht eine erklärbare Bitternis. Die Lokalisierung der Geschichte im ländlichen Umfeld von Tyros ist umso erstaunlicher, als zu der Zeit, in der sie erzählt und niedergeschrieben wurde, schon eine christliche Gemeinde in Tyros existierte (Apg 21,3–6). Daran zeigt sich: Die Beschränkung Jesu auf das Landgebiet von Tyros entspricht den tatsächlichen vorösterlichen Gegebenheiten.
Bei der Begegnung Jesu mit der Syrophönikerin und dem Hauptmann von Kapernaum werden Spannungen zwischen Juden und Heiden sichtbar. Fernheilungen überwinden einen sozialen Abstand. Noch deutlicher ist die Abgrenzung von der Dekapolis. Die Geschichte vom Exorzismus am See (Mk 5,1–20) zeigt die Ablehnung von Schweinezucht durch Juden. Alle Schweine kommen im See um. Auch wenn diese Geschichte durch spätere Spannungen gefärbt ist – in den Schweinen wird indirekt eine römische Legion, die den Eber in ihrem Wappen führt, angegriffen –, beleuchtet sie milieuauthentisch das Verhältnis der Galiläer zu den östlichen Nachbarn. Wenn Nachbarn im Nordwesten als „Hunde“ beschimpft werden, im Osten 26 G.Theißen, Lokalkolorit*, 1989, 63–85. 27 Unter Agrippa I. (41–44 n. Chr.) drohte ein Wirtschaftskrieg: „Er (Herodes Agrippa I) war aber heftig erbittert gegen die Bewohner von Tyros und Sidon. Da kamen sie einmütig zu ihm, und nachdem sie Blastus, den Kammerherrn des Königs, gewonnen hatten, baten sie um Frieden, weil ihr Land aus dem des Königs seine Nahrungszufuhr bekam“ (Apg 12,20).
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mit „Schweinen“ assoziiert werden, passt das sehr gut zur Charakterisierung der Galiläer bei Josephus, sie seien Menschen, die mit ihren Nachbarn im Streit leben, ebenso aber zu Jesus, wenn er diesen Streit überwindet. Er lässt sich von der Syrophönikerin überreden, ihre Tochter zu heilen. In der Dekapolis wird ein geheilter Besessener sein Botschafter. 3.3 Sozioökologische Spannungen zwischen Stadt und Land
Ethnokulturelle Spannungen zwischen Juden und Heiden waren, wie wir sahen, auch Spannungen zwischen Stadt und Land. Nach Westen hin grenzte Galiläa an die Städte Sidon, Tyros und Ptolemais, nach Osten hin an die Dekapolis, einen Bund von zehn Stadtstaaten. Im Süden wurde es durch einen dieser Städte, die Skythopolis, zusammen mit Samarien von Judäa getrennt. Galiläa war als eine jüdische Enklave umringt von hellenistisch geprägten Gebieten. Die hellenistische Kultur breitete sich damals in Galiläa aus, wie archäologische Relikte in Magdala und Tiberias zeigen. Die Gründung von Tiberias auf einem Friedhof verstieß gegen das Reinheitsgebot (Ant 18,38), die Tierbilder im Palast des Herodes Antipas verletzten das Bilderverbot. Zu Anfang des jüdischen Krieges wurden sie von Rebellen aus Tiberias und Galiläern aus dem Umland zerstört (Vita 65f). Die Städte standen wegen ihrer stärker hellenisierten Kultur in Spannung zu ihrem jüdischen Umland. Es gab Mentalitätsunterschiede, die in Friedenszeiten ökonomischen Austausch nicht behindern mussten, aber in Krisenzeiten Konflikte bewirken konnten. So nannte sich Sepphoris im jüdischen Krieg die „Stadt des Friedens“ (Eirenopolis), weil es den Aufstand gegen die Römer nicht mitmachte, bekam aber eben deswegen die Zerstörungswut der galiläischen Landbevölkerung zu spüren (Vita 375–380). Angesichts solch einer Mentalitätsdistanz zwischen Stadt und Umland ist es unwahrscheinlich, dass der vom Land stammende Jesus etwa in seiner Jugend in Sepphoris durch Einflüsse der hellenistischen Kultur wesentlich geprägt worden ist, mag es auch Berührungspunkte zwischen ihm und z. B. dem Kynismus geben. Es kann auch kein Zufall sein, dass die Jesusüberlieferung von den drei großen galiläischen Städten schweigt.28 Dennoch hatte Jesus sie im Blick, wenn er in einem Wort über Johannes den Täufer der Volksmenge zuruft:29 Was zu sehen seid ihr hinausgegangen in die Wüste? Ein Schilfrohr, das vom Wind bewegt wird? Oder was zu sehen, seid ihr hinausgegangen? Einen Menschen in weichen Kleidern? Siehe, die weichen Kleider tragen, sind in den Häusern der Könige. (Lk 7,24–26)
Mit den „Häusern“ der Könige (im Plural) sind die Paläste des Herodes Antipas in Sepphoris und Tiberias gemeint. Antipas war zwar kein „König“, sondern nur „Tetrarch“, wäre aber gerne „König“ geworden. Mit dem schwankenden Schilfrohr ist Antipas gemeint. Wo sonst 28 „Tiberias“ wird in Joh 6,1.23; 21,1 als Toponym des Sees Tiberias erwähnt, Magdala als Herkunftsort der „Maria Magdalena“ (Mk 15,40.47; 16,1; Lk 8,2 u.ö.). 29 Vgl. G.Theißen, Lokalkolorit*, 1989, 26–44.
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der Kopf des Herrschers steht, ließ er auf Münzen eine Pflanze abbilden, die man als Schilfrohr (vielleicht auch als Palmzweig) deuten konnte. Damit respektierte er das Bilderverbot. Die Münze war zur Gründung von Tiberias geprägt worden, das Schilfrohr ein passendes Symbol für die am See gelegene Stadt. Sollte eine andere Pflanze gemeint sein, hätte das niemanden in Galiläa abgehalten, sie als Schilfrohr zu deuten, um Antipas zu verspotten.30 Warum konnte Jesus ihn als schwankendes Schilfrohr verspotten? Als Archelaos in Judäa abgesetzt wurde, war seine Herrschaft bedroht. Er musste sich anpassen. Die Widmung seiner neuen Hauptstadt an Tiberius war machterhaltender Opportunismus. Vielleicht ist auch seine Unsicherheit beim Vorgehen gegen den Täufer gemeint (vgl. Mk 6,17–20). Spannungsfrei war das Verhältnis Jesu zu Antipas auf keinen Fall (vgl. Mk 6,14–16; Lk 13,31–33). Jesu Reisen in das benachbarte Heidenland sind gewiss auch ein Vorschein der nachöster lichen Heidenmission im MkEv und MtEv. Doch hat schon Jesus selbst die ländlichen Territorien der benachbarten hellenistischen Stadtstaaten besucht, weniger, um dort Heiden, sondern um die dortige jüdische Minorität als „verlorene Schafe Israels“ für seine Botschaft zu gewinnen. Das soziale Milieu, in dem Jesus gewirkt hat, lässt sich demnach so bestimmen: Es ist die jüdische Bevölkerung in und um Galiläa – vor allem dort, wo die Ausstrahlung städtisch-hellenistischer Kultur jüdische Identität verunsichern konnte.31 3.4 Sozioökonomische Spannungen zwischen Reichen und Armen
Soziale Schichtung und Landbesitz waren eng verbunden. Großgrundbesitz ist belegt für die Jesreel-Ebene: Dort, wo Galiläa an das Stadtterritorium von Ptolemais angrenzt, hatte die Königin Berenike Güter (Vita 119). Dörfer in der Gegend um Gischala speicherten ihren Ernteertrag für den Kaiser (Vita 71).32 Die Gründung eines Kleinfürstentums durch Herodes Antipas 4 v. Chr. mit Sepphoris als Residenz brachte einen ökonomischen Aufschwung. Ein Hof belebt als Absatzmarkt die Umgebung. Die Verlegung seines Hofes nach Tiberias wirkte erneut stimulierend. Die Neubauten von Wohnungen, Bädern und Palast gaben Menschen Arbeit (Bell 2,168; 2,614; Vita 65–67). Die Bevölkerung von Tiberias war sozial heterogen: Weil sie auf einem unreinen Ort gegründet wurde, siedelte Herodes Antipas dort Juden und Heiden, darunter auch landlose Menschen und freigelassene Sklaven, an (Ant 18,37f). Doch haben diese Gruppen nie zueinander gefunden. Am Anfang des jüdischen Krieges töteten dort Juden aus den unteren Schichten die Griechen (Vita 66f).
30 F.W.Burnett/G.A.Philips, Palm Re(a)ding and the Big Bang: Origins and Development of the Jesus Tradition, RStR 18 (1992) 296–299, haben die (traditionelle) Deutung der Pflanze auf ein Schilfrohr in Frage gestellt. Vgl. aber die Deutung der Münzen des Antipas bei M.H.Jensen, Herodes Antipas in Galiläa – Freund oder Feind des historischen Jesus?, in: C.Claussen/J.Frey (Hg.), Jesus*, 2008, 64–70. 31 T.Schmeller, Jesus im Umland Galiläas, BZ 38 (1994) 44–66. J.A.Lloyd, Itinerant Jesus*, 2021. 32 S.Applebaum, Judea as a Roman Province: The Countryside as a Political and Economic Factor, ANRW II 8 (1977) 355–96; W.Bösen, Galiläa als Lebensraum und Wirkungsfeld Jesu, 1985, 183ff und D.Fiensy, The Social History of Palestine in the Herodian Period, 1991, 21–73.
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Spannungen zwischen Großgrundbesitzern und ärmeren Menschen gehen aus Jesu Gleichnissen hervor. Die Besitzer praktizierten „Absentismus, indem sie in der Stadt lebten. Die Pächter lieferten mit Groll die Erträge ab. Das Gleichnis von den bösen Winzern bezeugt ihre rebellische Stimmung (Mk 12,1–9). Die Zenon-Papyri (aus dem 3. Jh. v. Chr.) zeigen, dass das Eintreiben der Abgaben in der Tat mit Konflikten verbunden war.33 Noch schlechter gestellt waren besitzlose Mietarbeiter, die stunden- und tageweise zur Ernte eingestellt wurden. Mt 20,1–16 schildert ihre Situation. Gegen ungerechte Behandlung blieb ihnen nur das „Murren“.34 Beide Gleichnisse muss man zusammen sehen: Wenn sowohl ein gütiger wie ein harter Besitzer Abhängige gegen sich aufbringt, zeigt das, wie groß das Misstrauen zwischen den Schichten war. Auch die freien Kleinbauern mit Landbesitz lebten karg. Sie waren von Verschuldung bedroht, wenn die Ernte nicht ausreichte, um Steuern, Lebensunterhalt und Saatgut für das nächste Jahr zu sichern. Die Familie Jesu bestand aus freien Kleinbauern mit bescheidenem Wohlstand. Hegesipp berichtet über sie (Eus h.e. 3,20,1–6): Noch lebten aus der Verwandtschaft des Herrn die Enkel des Judas, der ein leiblicher Bruder des Herrn gewesen sein soll. Diese wurden als Nachkommen Davids gerichtlich angezeigt. Ein Evokatus führte sie vor Kaiser Domitian. Denn gleich Herodes fürchtete sich dieser vor der Ankunft Christi. Domitian fragte jene, ob sie von David abstammen. Sie bestätigten es. Sodann fragte er sie nach dem Umfange ihrer Besitzungen und nach der Größe ihres Vermögens. Sie antworteten, sie besäßen beide zusammen nur 9000 Denare, und davon gehöre jedem die Hälfte. Aber auch dieses Vermögen bestünde – so fügten sie bei – nicht in Geld, sondern im Werte eines Feldes von nur 39 Morgen, die sie mit eigener Hand bewirtschafteten, um davon die Steuern zu zahlen und ihren Lebensbedarf zu decken. Hierauf zeigten sie ihm ihre Hände und bewiesen durch die Härte ihres Körpers und durch die Schwielen, welche sich infolge ihrer angestrengten Arbeit an ihren Händen gebildet hatten, dass sie Handarbeiter waren. Als man sie über Christus und über die Art, den Ort und die Zeit seines Reiches fragte, antworteten sie, dasselbe sei nicht von dieser Welt und Erde, es sei vielmehr ein Reich des Himmels und der Engel, das erst am Ende der Welt kommen werde, wenn Christus in Herrlichkeit erscheinen wird, um die Lebenden und die Toten zu richten und jedem nach seiner Lebensweise zu vergelten. Daraufhin verurteilte sie Domitian nicht, sondern verachtete sie als gemeine Leute. Er setzte sie in Freiheit und befahl, die Verfolgung der Kirche einzustellen. Sie aber erhielten nach der Freilassung, da sie Bekenner und Verwandte des Herrn waren, führende Stellungen in der Kirche. Nachdem Frieden geworden war, lebten sie noch bis Trajan.
Die meisten der Jesusanhänger waren ebenso wie diese Familienangehörige Jesu in der Landwirtschaft tätig oder arbeiteten als Fischer und Handwerker. Jesus war wie sein Vater ein tektōn, das war nach Justin, Dial 88, jemand, der Pflüge und Joche herstellt. Im holzarmen Palästina hat er wohl auch Steine bearbeitet. Wahrscheinlich musste Jesus als Handwerker 33 M.Hengel, Das Gleichnis von den Weingärtnern Mc 12,1–12 im Lichte der Zenonpapyri und der rabbinischen Gleichnisse, ZNW 59 (1968) 1–39. 34 Vgl. C.Hezser, Lohnmetaphorik und Arbeitswelt in Mt 20,1–16. Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg im Rahmen rabbinischer Lohngleichnisse, 1990, 50–97.
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von Ort zu Ort ziehen, um Arbeit zu finden. Fischer gehörten dabei nicht unbedingt zu den allerärmsten Schichten: Dass Jakobus und Johannes ihren Vater mit Tagelöhnern verlassen, weist auf einen bescheidenen Wohlstand (Mk 1,19f), das Nazaräerevangelium nennt sie dennoch „arme Fischer“ (Fragm. 23). Von Petrus und Andreas kann man ansonsten nur sagen, dass ihr Haus groß genug war, um Jesus (mit seinen Anhängern?) zu beherbergen (Mk 1,29– 31). Viele freie Kleinbauern waren von Verschuldung bedroht. Das zeigen zwei Gleichnisse, die Schuldhaft voraussetzen (Mt 5,25f; 18,23–35), ein Indiz dafür, dass Palästina unter fremden Rechtseinfluss geraten war, denn das jüdische Recht kannte nur Schuldsklaverei auf Zeit, keine Haft von zahlungsunfähigen Schuldnern. Verschuldete Kleinbauern stiegen zu Pächtern ab, emigrierten oder vermehrten das Heer der Mietarbeiter, Bettler und Räuber am untersten Ende der Sozialhierarchie. Wir hören wiederholt von Steuerproblemen im jüdischen Palästina: Ȥ Nach dem Tod des Herodes 4 v. Chr. beklagte sich eine Gesandtschaft der Juden bei Augustus über die Höhe der Steuern: „Die benachbarten, von Ausländern bewohnten Städte habe er (Herodes) verschönert, um die in seinem eigenen Reich gelegenen durch Steuern zu erschöpfen und zu Grunde zu richten“ (Ant 17,306). Augustus erließ nur Samarien ein Viertel der Steuern, nicht den anderen Landesteilen, da es in ihnen nach dem Tod des Herodes zu Aufständen gekommen war (Ant 17,319). Diese Steuerlast mussten Judäa und Galiläa als Strafe empfinden. Ȥ Als zehn Jahre später Samarien und Judäa unter direkte römische Herrschaft kamen (6 n. Chr.), mussten die Juden dort ihre Steuern direkt an die Römer zahlen. Das provozierte die Steuerverweigerungskampagne des Judas Galilaios. Wenn sie im Volk Anklang fand, hing das auch damit zusammen, dass die Steuern in Judäa als unfaire Benachteiligung erlebt wurden. Ȥ Zehn Jahre später baten ca. 17 n. Chr. die Provinzen Syrien und Judäa Kaiser Tiberius um Reduktion der Steuern, da sie aufgrund von Lasten erschöpft seien (Tac Ann 2,42,5). Ȥ Wiederum ca. zehn Jahre später musste sich Jesus von Nazareth mit der Steuerfrage auseinander setzen (Mk 12,13–17). Ȥ Vitellius erließ ca. 36/37 n. Chr. für Jerusalemer Bürger die Marktsteuer, um soziale und politische Spannungen zu entschärfen (Ant 18,90). Ȥ In der Caligulakrise 39/40 n. Chr. argumentierte die Aristokratie in Tiberias bei Verhandlungen mit dem Legaten Petronius: Wenn das protestierende Volk nicht bald nach Hause geschickt würde, könne es keine Steuern erwirtschaften und die Räuberei würde zunehmen (Ant 18,274). Ȥ Von einem Nachlass der Steuern für die Häuser in Jerusalem hören wir aus der Regierungszeit Agrippa’ I. 41–44 n. Chr. (Ant 19,299). Ȥ Als nach dessen Tod sein Herrschaftsgebiet Teil der syrischen Provinz wurde, wurde Galiläa zum ersten Mal direkt von den Römern regiert. Zwei Söhne des Judas Galilaios wurden gekreuzigt (Ant 20,102). Vermutlich hatten sie wie ihr Vater zur Steuerverweigerung aufgerufen.35 35 Lukas hat in Apg 5,36–37 die Söhne mit dem Vater verwechselt: Er nennt zunächst Theudas, der ca. 44/45 n. Chr. auftrat (Ant 20,97f), danach Judas Galilaios, der vorher ca. 6 n. Chr. wirkte. Nach Theudas traten ca. 46/48 die Söhne des Judas Galilaios, Jakobus und Simon, auf (Ant 20,102). Beim Vater und bei den Söhnen ging es wahrscheinlich um dasselbe Problem: die Steuerzahlung.
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Ȥ Steuerverweigerung war das Zeichen zum jüdischen Aufstand (Bell 5,405): In der Anfangsphase gelang es Agrippa II., das Volk zu überreden, die Steuern zu zahlen: Seine „Führer und Ratsherrn verteilten sich auf die Dörfer und sammelten die Steuern ein“ (Bell 2,405). Befreiung von Verschuldung gehörte zum Programm der Aufständischen, wie die Zerstörung des Schuldarchivs in Jerusalem zeigt (Bell 2,427). Ȥ Im Laufe des 1. Jh. n. Chr. könnte sich die Situation der Bevölkerung wie in den jüdischen Neusiedlungsgebieten der Batanäa verschlechtert haben: Zu Lebzeiten des Herodes genossen die Neusiedler dort Steuerfreiheit (Ant 17,25). Unter seinem Nachfolger Philippus wurden unbedeutende Abgaben erhoben (Ant 17,27). Agrippa I. und II. aber „erdrückten sie mit Steuern“, wurden aber von den Römern darin noch übertroffen (Ant 17,28).
Sicher fand in Galiläa und Judäa die Botschaft: „Selig seid ihr Armen, denn euch gehört die Königsherrschaft Gottes!“ (Mt 5,3) Adressaten, die sich aufgrund ihrer Armut nach Veränderung der Verhältnisse sehnten. Galiläa erlebte in seinen Städten einen Aufschwung, aber eben das verschärft Spannungen. Durch Vergleich mit Aufsteigern empfinden andere umso mehr ihre Benachteiligung als „relative Depravation“. 3.5 Die religiöse Eigenart Galiläas
Galiläas Insellage inmitten nicht-jüdischer Territorien hat die religiöse Einstellung der Galiläer mitgeprägt. In der rabbinischen Literatur, verfasst von judäischen Gelehrten, die nach der Niederlage im zweiten jüdischen Krieg nach Galiläa umgesiedelt waren, gelten die Galiläer als Ignoranten in rituellen Fragen, ja als Verächter der Thora. Jochanan ben Zakkai (um 70) wird der Ausruf zugeschrieben: „Galiläa, Galiläa, du hassest die Thora!“36 Eine weniger krasse Abwertung von Galiläa bezeugt das JohEv: Für die jüdischen Führer ist nicht vorstellbar, dass der Christus aus Galiläa kommt. Als Nikodemus Jesus deswegen in Schutz nimmt, sagen sie: „Bist du vielleicht auch aus Galiläa?“ (Joh 7,52). Diese Abwertung Galiläas ist die Außenperspektive einer religiösen Elite in der Hauptstadt. Vielleicht hat sie im ältesten Evangelium eine Erinnerungsspur hinterlassen. Zwei Mal kommen in ihm „Schriftgelehrte“ aus Jerusalem mit Kritik nach Galiläa. In Mk 3,22 kritisieren sie Jesu Exorzismen. Sie seien keineswegs ein Sieg über das Böse, sondern zeigten, dass Jesus mit Beelzebul im Bund steht. In Mk 7,1–5 kritisieren sie Verstöße gegen Reinheitsvorschriften. Beide Stellen verraten eine Abwertung Galiläas. Es wird durch Dämonen beherrscht, durch Unreinheit gefährdet. In beiden umstrittenen Fragen nimmt das auf Jerusalem ausgerichtete JohEv einen anderen Standpunkt ein: Jesus ist kein Exorzist. In Reinheitsfragen ist der Norden vorbildlich, wie die Steinkrüge für Reinheitsriten bei der Hochzeit zu Kana zeigen (2,6). Auch wenn es über solche Rückschlüsse hinaus kaum Quellen gibt, die Einblicke in das religiöse Selbstverständnis galiläischer Juden erlauben, lässt sich ihr Verhältnis zu Thora und Tempel in Umrissen erfassen.
36 jSchab 15d, zit. nach G.Vermes, Jesus the Jew, 1973, 44.
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Die Einstellung zur Thora war dadurch bestimmt, dass Galiläa 104/103 v. Chr. in einer Blütezeit des Sadduzäismus mit Judäa vereint worden war. Deswegen stehen in Galiläa verbreitete Auslegungen sadduzäischen Positionen nahe:37 So galt die Tempelsteuer bei Sadduzäern wie bei Jesus als eine freiwillige Verpflichtung (bMen 65a; Mt 17,24–27). Die Zehntzahlung wurde von Sadduzäern weniger streng gehandhabt als von Pharisäern, der Hohepriester Jochanan schaffte das Zehntbekenntnis ab (Sota IX,10), Jesus relativiert den Zehnt (Mt 23,23). Ferner waren für Sadduzäer nur „die geschriebenen Gesetze gültig, die aus der Tradition der Väter mussten dagegen nicht gehalten werden“ (Ant 13,297). Auch Jesus spielte den Willen Gottes in der Thora gegen die Überlieferungen der Alten aus (Mk 7,6– 13). Er teilte das aristokratische Selbstbewusstsein der Sadduzäer, ihre Streitkultur, ihre Betonung menschlicher Verantwortung, ihre Aufwertung der Gegenwart als Entscheidungszeit und geriet vielleicht gerade deshalb in Konflikt mit ihnen. In der Apg sind Sadduzäer die typischen Gegner der Jesusbewegung in Palästina (Apg 4,1; 5,17; 23,6–11). Nur vereinzelt sind Namen galiläischer Schriftgelehrter aus dem 1. Jh. bekannt, neben Judas Galilaios ein Eleazar, der am Hof von Izates, des Königs von Adiabene auftrat (Ant 20,43), ferner der durch Gebet heilende Wundertäter Hanina ben Dosa (bBer 34b), später findet sich ein „Jose der Galiläer“ unter den Gelehrten von Jabne. Nur ausnahmsweise geben die Quellen Einblicke in den galiläischen Umgang mit der Thora. So erzählt Josephus, Vita 74–76, dass die jüdischen Einwohner von Cäsarea Philippi bei einem Versorgungsengpass bereit waren, einen überteuerten Preis für jüdisches Öl aus Gischala zu zahlen, „damit sie nicht das Gesetz übertreten“. Wie bereits erwähnt, zerschlug das Landvolk in Tiberias die Tierbilder im Palast des Herodes. Die Proteste Johannes des Täufers gegen die Handhabung der Ehegesetze durch Antipas stießen auf ein positives Echo im Volk. Dies alles zeigt, dass man sich im angeblich „gesetzlosen“ Galiläa durchaus um die Einhaltung der Thora bemühte. Andererseits wirft Josephus dem Zelotenführer Johannes von Gischala vor, er habe vom Gesetz verbotene Speisen gegessen und Reinheitsregeln verletzt (Bell 7,264), möglicherweise folgte er nur anderen (galiläischen) Auslegungen des Gesetzes. Auch die Rabbinen warfen galiläischen Weisen Laxheit in Bezug auf die Reinheitsthora vor.38 Vielleicht erklärt das die liberale Haltung Jesu zu Speisegeboten und Reinheitsfragen. Auch an der Tempelfrömmigkeit der Galiläer besteht kein Zweifel. Ihr Ausdruck war die Zahlung der jährlichen Tempelsteuer von einem halben Shekel. Das geschah entsprechend sadduzäischer Halacha auf freiwilliger Basis (Mt 17,24–27). Hinzu kamen Pilgerfahrten nach Jerusalem zu den drei jährlichen Wallfahrtsfesten.39 In Krisenzeiten bewährte sich diese Tempeltreue: Im Jahr 39 n. Chr. protestierten Judäer und Galiläer in Tiberias zusammen gegen die drohende Entheiligung ihrer Hauptstadt durch Aufstellung einer Bildsäule Cali37 S.Freyne, Galilee*, 1980, 322 spricht von einer „Sadducean domination of the ethos there“. Vgl. G.Theißen, Sadduzäismus und Jesustradition. Zur Auseinandersetzung mit Oberschichtmentalität in der synoptischen Überlieferung (1996), in: Jesus als historische Gestalt, 2003, 111–131. 38 G.Vermes, Jesus the Jew, 1973, 67. 39 Zum Pilgerwesen vgl. S.Freyne, Galilee*, 1980, 259–304; J.Jeremias, Jerusalem zur Zeit Jesu. Eine kulturgeschichtliche Untersuchung zur neutestamentlichen Zeitgeschichte, 31969, 66–98.
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gulas im Tempel (Ant 18,269–272). Als Josephus zu Beginn des jüdischen Krieges in Galiläa den Widerstand organisierte, appellierte er mit Erfolg an die Loyalität der Bevölkerung gegenüber Jerusalem und den Tempel. Die verweigerte Bundeshilfe durch Sepphoris blieb eine Ausnahme (Vita 346–348). Es besteht kein Zweifel daran, dass Galiläa zu Jesu Zeit ein jüdisch geprägtes Land war. In ihm waren theokratische Vorstellungen lebendig, seine Bewohner hingen am Tempel, legten Wert auf Abgrenzung zu anderen Völkern und orientierten sich an der Thora in ihrer mündlichen und schriftlichen Gestalt in lokaler Ausprägung. Im 19. Jh. hat Th.Keim (1815–1878) die These vom „galiläischen Frühling“ vertreten, danach sei Jesus in „galiläischen Stürmen“ auf Ablehnung bei Pharisäern und im Volk gestoßen, die ihn von der Notwendigkeit seines Leidens in Caesarea Philippi überzeugt habe (Mk 8,27–33); deshalb sei er von Galiläa nach Jerusalem gezogen.40. F.Tucker zeigt, dass diese These historisch einen Anhalt hat:41 Jesus hat zunächst in Galiläa wenig Erfolg gehabt. Er reagierte mit Weherufen über galiläische Städte (Lk 10,13–15) und mit einer Klage über dieses Geschlecht, das wie launische Kinder den Täufer als Asketen und Jesus als Fresser und Weinsäufer ablehnt (Lk 7,31–35). Jesus hat sich als abgelehnten Propheten erlebt (Mk 6,4). Spannungen gab es dabei nicht nur zu den galiläischen Kleinstädten, sondern auch zu Herodes Antipas (Mk 6,14–16). Deswegen verließ Jesus das Herrschaftsgebiet des Antipas, wozu ihm nach Lk 13,31–33 Pharisäer rieten, da Herodes ihn töten wolle. – Diese Konflikte waren aber kaum der Anlass zu seiner Reise nach Jerusalem. Jesus hätte niemals für seine (letzte) Reise nach Jerusalem den Weg durch Peräa gewählt, also durch ein von Herodes Antipas beherrschtes Gebiet, wenn er auf der Flucht vor ihm war. Die „galiläischen Krise“ war nicht der Grund für seinen Weg nach Jerusalem.
4. Der Ort der Passion: Jerusalem Am Ende seines Lebens zogen Jesus und seine Jünger nach Jerusalem zum Passafest, auf dem Weg über Peräa (Mk 10,1) oder durch Samarien (Lk 9,51f). Die verschiedenen Reiserouten sind Erinnerungsspuren mehrerer Reisen Jesu nach Jerusalem. Die Darstellungen sind von theologischen Interessen bestimmt: Für das MkEv ist der einmalige Weg Jesu ans Kreuz die Parodie eines paradoxen Triumphzugs.42 Zu einem Triumphzug würde nur ein einmaliger Zug Jesu nach Jerusalem passen. Das JohEv kennt dagegen mehrere Festreisen Jesu nach Jerusalem. Wenn Jesus in ihm der neue Tempel ist (Joh 2,21), so passen mehrere Besuche des Tempels dazu, denn Kultfeiern wiederholen sich. Warum aber ist der historische Jesus nach Jerusalem gezogen? Gewiss wollte er am Passafest teilnehmen, das sich jedes Jahr wiederholt. Wenn die Evangelien seinen (letzten) Zug nach Jerusalem als etwas Einzigartiges darstellen, muss er ein besonderes Motiv gehabt haben. Die Analogie der „Zeichen40 Th.Keim, Geschichte Jesu von Nazara in ihrer Verkettung mit dem Gesammtleben seines Volkes frei untersucht und ausführlich erzählt, Bd 1–2, 1867, 1871, 1872. 41 S.F.Tucker, Galilean Crisis*, 2019, 147–261. 42 M.Lau, Der gekreuzigte Triumphator. Eine motivkritische Studie zum Markusevangelium, 2019.
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propheten“ hilft hier weiter: Diese kündigten ein Wunder an und zogen mit ihren Anhängern zum Ort des angekündigten Wunders. Entsprechend zog auch Jesus mit seinen Jüngern an den Ort, an dem er eine wunderbare Wende erwartete. Doch was erwartete er? Eine erste Möglichkeit ist: Er hoffte, ein neuer Tempel werde den bestehenden Tempel ersetzen, vielleicht durch Öffnung für Nichtjuden. Spätestens seit Samaritaner nachts den Tempel durch Leichenknochen unter dem römischen Präfekten Coponius verunreinigt hatten, waren sie vom Tempelkult ausgeschlossen. Nach Mk 11,17 will Jesus, dass der Tempel nach Jes 56,7 offen für alle Völker wird. Wollte er dafür werben? Eine zweite Möglichkeit ist: Jesus träumte von einem opferfreien Kult? Störte er vielleicht deshalb den Verkauf von Opfertieren im Tempelvorhof? Eine dritte Möglichkeit ist: Jesus erwartete bei seinem letzten Zug nach Jerusalem das Kommen der Gottesherrschaft. Das bezeugt Lk 19,11 für seine Jünger. Wenn Jesus bei seinem Abschiedsmahl verheißt, dass er in der Gottesherrschaft neu Wein trinken wird (Mk 14,25), teilt er diese Naherwartung – unabhängig davon, ob er an seinen nahen Tod denkt oder an ein Eingreifen Gottes noch vor seinem Tod. Eine vierte Möglichkeit ist: Jesus riskierte bewusst seinen Tod. Breit gestreut finden wir in vielen neutestamentlichen Texten die Aussage, Jesus habe sich freiwillig in den Tod begeben. Wollte er die Gottesherrschaft herbeiführen, indem er die ihr vorhergehenden notwendigen Leiden übernimmt (A. Schweitzer)? Oder wollte er auch seine Feinde für sich gewinnen, indem er stellvertretend für sie starb? Diese Möglichkeiten schließen einander nicht aus. Unabhängig von Jesu Intentionen können wir aber etwas über die Spannungen sagen, die seinem Tod verursacht haben. 4.1 Der Gegensatz von Stadt und Land in der Passionsgeschichte
Die Weissagung gegen den Tempel und Jesu Ende in Jerusalem werden verständlicher, wenn man einen Gegensatz zwischen Hauptstadt und Land, Jerusalem und Galiläa in Rechnung stellt.43 Opposition gegen den Tempel war auf dem Land verwurzelt. Von dort stammen die tempelkritischen Propheten: Micha aus Moreseth (Mich 1,1), Uria aus Kirjath Jearim (Jer 26,20), Jeremia aus Anathot (Jer 1,1), Jesus aus Nazareth. Später weissagte ein anderer Jesus, Sohn des Ananias (ca. 62–70), als ein Ungebildeter vom Lande gegen Jerusalem und seinen Tempel (Bell 6,300–309). Jesus trat mit seiner Prophetie gegen den Tempel während eines Wallfahrtsfestes auf, als die Stadt Jerusalem voll von Menschen vom Land war. In dieser Situation gab es häufig Spannungen zwischen Jerusalemern und Landbevölkerung (z. B. Ant 20,106f). Deswegen war der römische Präfekt während der Feste in Jerusalem anwesend. Jesus wurde bei seinem Einzug in Jerusalem nicht von der Stadtbevölkerung, sondern von mit ihm nach Jerusalem ziehenden Pilgern mit „Hosianna“ begrüßt (Mk 11,8f). Die Stadtbevölkerung hat er durch die Prophetie gegen den Tempel eher gegen sich aufgebracht. Denn ihre wirtschaftliche Existenz hing mit dem Tempel zusammen: Kritik an ihm war Kritik an 43 G.Theißen, Die Tempelweissagung Jesu. Prophetie im Spannungsfeld von Stadt und Land (1976), in: Studien zur Soziologie des Urchristentums, 1979, 142–159.
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ihrer Lebensgrundlage. Der Tempelaristokratie dürfte es nicht schwer gefallen sein, Teile der einfachen Stadtbevölkerung gegen Jesus aufzuwiegeln. So könnte der Umschlag vom „Hosianna“ zum „Kreuzige ihn!“ verständlicher werden, falls hinter der Barabbasszene eine historische Erinnerung steht. 4.2 Orte und Wege in der Passionsgeschichte
K.L.Schmidt hat Ortsangaben in der Passionsgeschichte anders als sonst bewertet. Mit Bethphage und Bethanien (Mk 11,1), Ölberg (13,3), Gethsemane (14,32), mit dem Prätorium des Pilatus (15,16), Golgatha (15,22) verbinden sich konkrete Erinnerungen. Hin und wieder können archäologische Erkenntnisse diese Orte konkretisieren: Das Prätorium war der Amtssitz des römischen Präfekten. Oft wurde es in der Burg Antonia gesucht, die unmittelbar an die Nord-West-Ecke des Tempels anschließt. Die Burg überragte den Tempel. Von ihr aus konnte man kontrollieren, was dort vor sich ging. Wahrscheinlich aber residierte der Präfekt im Palast des Herodes, der im Westen Jerusalems (in der Nähe des heutigen Jaffators) lag (vgl. Philo LegGai 299; Jos Bell 2,301). Das „Lithostroton“ (etwa: der Marmorboden) vor dem Prätorium, aramäisch „Gabbatha“ (Joh 19,13), bedeutet „Anhöhe“, „hoher Platz“.44 Da die ganze Weststadt die „obere Stadt“ genannt wurde (Bell 1,402) und dort in den 70er Jahren eine Steinplattform gefunden wurde, ist wahrscheinlich auch der „hohe Platz“ in ihr zu suchen.45 Von dort wurde Jesus nach seiner Verurteilung zur Hinrichtungsstätte geführt, also nicht über die heutige via dolorosa. Die Hinrichtungsstätte, Golgatha,46 lag außerhalb der Stadt: Nur dort war sie als unreine Stätte denkbar. Die heutige Grabeskirche, innerhalb derer Golgatha und das Grab Jesu lokalisiert werden, lag in byzantinischer Zeit dagegen in der Mitte der Stadt, jedoch an einem Ort, der sich in den 30er Jahren im 1. Jh. außerhalb der Stadtmauern befand. Josephus berichtet nämlich von drei Mauern um Jerusalem (Bell 5,136.142–155), von denen die dritte erst von Herodes Agrippa I. zwischen 41–44 begonnen wurde, aber aufgrund einer Intervention der Römer unvollendet blieb. Entscheidend ist also der Verlauf der zweiten Mauer. Wenn die Grabeskirche außerhalb von ihr liegt, dürfte die Lokalisierung von Golgatha außerhalb dieser zweiten Mauser eine alte, bis in die Zeit vor 70 zurückgehende Tradition erhalten haben. Heute wird von Archäologen in der Tat Golgatha außerhalb der zweiten Mauer lokalisiert.47 Golgatha wäre dann in neutestamentlicher Zeit ein ca. 13 m über den Felsgrund aufragender Felsen gewesen, Rest eines aufgegebenen Steinbruchs aus vorexilischer Zeit. Hier wurde Jesus gekreuzigt.
44 Diese Deutung ist nicht ganz sicher. Man hat auch an gabbata („kahler Vorderkopf“) gedacht (so G.Dalman, Jesus-Jeschua. Die drei Sprachen Jesu, Leipzig 1922 = Darmstadt 1967, 13). 45 Vgl. J.McRay, Art. Gabbatha, ABD 2, 1992, 861 f. 46 Zu Golgata: M.Küchler, Jerusalem*, 2007, 420–481. 47 Vgl. J.H.Charlesworth, Jesus*, 1988, 123f; P.Welten, Art. Jerusalem I, TRE 16 (1987) 590–609, 598.
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5. Hermeneutische Überlegungen Der Weg Jesu führte von Nazareth in Untergaliläa an den galiläischen See, von dessen Nordufer aus er als Wanderprediger mit Zentrum in Kapernaum wirkte. Von hier aus wandte er sich an die jüdische Landbevölkerung in und um Galiläa. Seine Verkündigung sprach in eine Welt voll sozialer, ökonomischer und politischer Dynamik: Viele erlebten damals einen Aufstieg, andere blieben zurück. Spuren seines Weges lassen sich territorialgeschichtlich erhellen. Manchmal werden sie in archäologischen Relikten greifbar: Das Haus des Petrus in Kapernaum, das Prätorium in Jerusalem, die Hinrichtungsstätte Golgatha könnten auf Traditionen zurückgehen, die bis in 1. Jh. zurückreichen. Die Verbindung von historischem Jesus mit archäologischen Funden und der Realität des Landes Israel übt eine besondere Faszination aus. Zufällig erhaltene archäologische Relikte sind authentischer als geschriebene Texte. Aber auch Realien müssen interpretiert werden. Oft werden sie vorschnell zur historischen Bestätigung einzelner Ereignisse herangezogen. Gerade deshalb kann man nicht genug die Vorläufigkeit aller Schlussfolgerungen betonen. Neue Datierungen, neue Funde, neue Interpretationen können jederzeit das einmal gewonnene Bild in Frage stellen. Ihr Wert liegt vor allem in der Erkenntnis der Milieuauthentizität von Jesusüberlieferungen. Die Jesusforschung in Deutschland hat Archäologie und Territorialgeschichte lange vernachlässigt. Dies ist bedauerlich, denn nicht die Archäologie und Territorialgeschichte sind das Problem, sondern ihre unkritische Auswertung. Die von Galiläa und Jerusalem ausgehende Faszination ist davon unberührt: Wo immer wir auf vermeintliche oder echte „Spuren“ der Geschichte Jesu stoßen – irgendwo in diesem Raum hat er gewirkt. Irgendwo am Nordufer des galiläischen Sees hat er Menschen in seine Nachfolge gerufen. Irgendwo in Jerusalem wurde er verurteilt. Irgendwo, nicht nur an einem von religiöser Phantasie erfundenen Ort, wurde er gefoltert und hingerichtet. Das Wort wurde Fleisch. Das heißt: Es wurde lokalisierbar, datierbar, hineingeworfen in die Konflikte und Spannungen seiner Zeit. Wer aber war dieser Jesus? Bevor wir uns ihm zuwenden, müssen wir darstellen, was wir von seinem Vorläufer, Johannes dem Täufer, wissen.
§ 8 Johannes der Täufer: Vorläufer und Vorbild
K.Backhaus, Die „Jüngerkreise“ des Täufers Johannes. Eine Studie zu den religionsgeschichtlichen Ursprüngen des Christentums, 1991; ders., Echoes From the Wilderness. The Historical John the Baptist, in: T.Holmén/St. E.Porter (ed.), Handbook of the Study of the Historical Jesus II, 2011, 1747–1785; ders., Jesus und Johannes der Täufer, in: J.Schröter/Chr.Jacobi (Hg.), Jesus-Handbuch, 2017, 245–252; J.Becker, Johannes der Täufer und Jesus von Nazareth, 1972; Ch.Böttrich, Art. Johannes der Täufer, WiBiLex, 2013; M.Ebner, Jesus von Nazaret: Was wir von ihm wissen können, 2007, 73–92; J.Ernst, Johannes der Täufer. Interpretation – Geschichte – Wirkungsgeschichte, 1989; D.Hellholm/T.Vegge/Ø.Norderval/Chr.Hellholm (Hrsg.), Ablution, Initiation, and Baptism. Late Antiquity, Early Judaism, and Early Christianity. 3 Bde., 2011; P.Meier, A Marginal Jew 2: Mentor, Message, and Miracles, 1994, 19–233; E.Lupieri, Art. Johannes der Täufer, RGG4, 2001, 514–517; U.B.Müller, Johannes der Täufer. Jüdischer Prophet und Wegbereiter Jesu, 2002; M.Öhler, Elia im Neuen Testament. Untersuchungen zur Bedeutung des alttestamentlichen Propheten im frühen Christentum, 1997; L.Schenke, Jesus und Johannes der Täufer, in: ders., Jesus von Nazaret – Spuren und Konturen, 2004, 84–105; H.Stegemann, Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus, 1993; G.Theissen, Jésus et Jean Baptiste – rupture ou continuité? in: A.Dettwiler (éd.), Jésus de Nazareth, 2017, 65–86; M.Tilly, Johannes der Täufer und die Biographie der Propheten, 1994; R.Uro, Ritual and Christian Beginnings. A Socio-Cognitive Analysis, 2016, 71–98; R.L.Webb, John the Baptizer and Prophet: A SocioHistorical Study, 1991; ders., Jesus’ Baptism by John: Its Historicity and Significance, in: D.L.Bock/R.L.Webb, Key Events in the Life of the Historical Jesus, 2009, 95–150; M.Wolter, „Gericht“ und „Heil“ bei Jesus von Nazareth und Johannes dem Täufer, in: ders., Theologie und Ethos im frühen Christentum. Studien zu Jesus, Paulus und Lukas, 2009, 31–63.
Johannes der Täufer nimmt in der Jesusforschung eine Schlüsselstellung ein. An Jesu Existenz hat man gezweifelt, nicht aber an der Existenz des Täufers. Man konnte die Erzählung der Hofintrige gegen ihn als Legende einstufen,1 stieß aber dennoch in ihr auf historische Daten. Aus dem Propheten, der Jesus ankündigte, wurde so ein wichtiger Zeuge der Geschichtswissenschaft, der zeigt, dass man Überlieferungen über ihn und Jesus historisch auswerten kann. Wenn der Täufer kein Mythos war, trägt er dazu bei, dass auch Jesus sich nicht in Mythologie auflöst.
1
G.Theißen, Geschichten und Geschichte. Die Geschichte vom Tod Johannes des Täufers, in: K.Nagorni/M.Oeming (Hg.), Geschichten vom Tod, der Liebe und dem Leben, 2003, 26–57.
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Zweiter Teil: Der Rahmen der Geschichte Jesu
1. Phasen der Forschungsgeschichte Der Täufer verstand sich sich als Vorzeichen einer neuen Welt, historische Forschung ordnet ihn dagegen in die alte Welt ein, in eine Taufbewegung im Orient, eine Reihe jüdischer Zeichenpropheten und deutet ihn in Analogie zur kynischen Oppositionskultur. (1) J.Thomas, Le mouvement baptiste en Palestine et Syrie, 1935, ordnete den Täufer in eine vorderorientalische Taufbewegung von ca. 300 v. Chr. an. Das hat sich bestätigt: Gut bezeugt ist, dass die Essener Reinheitsriten intensivierten, die sie jeden Tag vollzogen (CD X,10–13; XI,22; Bell 2,129). Ebenso sind tägliche Reinigungen für einen Wüsteneremiten Bannus (Jos Vita 11) und die sogenannte Hemerobapisten belegt (Eus h.e. 4,22,7). Auch die Mandäer, die sich auf eine (im 2. Jh.n. Chr.?) aus Palästina ausgewanderte Gruppe beriefen, kannten wiederholte Tauchbäder. Ganz anders zu beurteilen sind dagegen Bewegungen mit einmaligen Taufen. Zu ihnen gehörte vor Jesus vor allem Johannes der Täufer und nach Jesus der judenchristliche Prophet Elkasai (ca. 116–117 n. Chr.), der eine zweite Taufe von Christen zur Vergebung der Sünden forderte.2 Reinigungsriten entsprachen einer Individualisierung der Religion. Je mehr der Opferkult seine sozial-integrative Kraft verlor, umso mehr wurde jeder einzelne für sein Heil selbst verantwortlich. (2) P.W.Barnett, The Jewish Sign Prophets – A.D. 40–70. Their Intentions and Origins, NTS 27 (1981) 679–697, ordnete den Täufer in eine Reihe jüdischer Zeichenpropheten im 1. Jh.n. Chr. ein, die eine Wende in der Geschichte mit Zeichen und Wundern ankündigten. Er führte als neuen Ritus die Taufe ein, Jesus wollte den Jerusalemer Tempel erneuern, ein samaritanischer Prophet ca. 36 n. Chr. verschollene Tempelgeräte auf dem Garizim finden, Theudas 44–46 n. Chr. seine Anhänger trockenen Fußes durch den Jordan führen“. 52–62 n. Chr. versprachen verschiedene Propheten Wunder in der Wüste. Meist töteten die Römer diese Propheten. Doch den Täufer ließ der jüdische Fürst Antipas hinrichten. Für den Täufer war Erinnerung an die Wüstenzeit Israels nicht Protest gegen Fremde, sondern Kritik am eigenen Volk. Es sollte in der Wüste seine Umkehr durch eine einmalige Taufe besiegeln, die nur er vollzog und die alle Getauften verband. Johannes verwandelte so eine prophetische Symbolhandlung ansatzweise in ein „Sakrament“, das soziale Bindungen in einer Gruppe schafft. (3) B.Lang, Jesus der Hund. Leben und Lehre eines jüdischen Kynikers, 2010, deutete Johannes und Jesus in Analogie zu antiken Kynikern.3 Jesus motivierte in der Nachfolge des Elia Menschen dazu, Familie und Besitz zu verlassen, einen Schülerkreis zu bilden und verband Elia-Traditionen mit kynischen Motiven. Wie die Kyniker verlangte er eine persönliche Entscheidung, eine Bekehrung und einen abweichenden Lebensstil. Was durch seine jüdische Herkunft schwer erklärbar ist, Ehelosigkeit, Opferkritik und Feindesliebe, werde
2 3
Hippolyt haer. 9,4 und 13–17; Eus h.e. 6,38; Epiphanius haer XIX,1–6; LIII,1–2. Dazu G.Theißen, Jesus unter den Philosophen? Über die kynische Interpretation Jesu, EvTh 74 (2014) 262–274.
Johannes der Täufer: Vorläufer und Vorbild
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durch kynische Traditionen verständlich, ebenso die akzeptierende Haltung gegenüber fehlbaren Menschen.4 Der Täufer wurde in der Forschung nicht nur in zeitgeschichtliche Analogien eingeordnet, sondern oft mit Jesus kontrastiert. So meinte J.Becker, seine Gerichtspredigt verhalte sich zur Gnadenpredigt Jesu wie Gesetz und Evangelium, Kontinuität zeige sich darin, dass die Unbedingtheit des Gerichts die Unbedingtheit der Gnade aufleuchten ließ.5 D.C.Allison betonte im Unterschied dazu die Kontinuität zwischen ihnen.6
2. Die Quellen und ihre Auswertung Die Quellenlage zum Täufer ist schmal, aber gut. Denn NT und Josephus bieten unabhängige voneinander Überlieferungen, die übereinstimmend seine Tauftätigkeit und Hinrichtung bezeugen, sich aber darin unterscheiden, dass er im NT als eschatologischer Gerichtsprediger, bei Josephus als ethischer Lehrer dargestellt wird. Die Evangelien christianisieren den Täufer. Im MkEv geht er durch Predigt und Martyrium Jesus voran (1,7f; 9,11–13), im MtEv bezeugt er Jesu Überlegenheit (3,14), im LkEv erkennt er sie im Mutterschoß an (1,41f), im JohEv offenbart er Jesu Präexistenz (1,15). Auch wenn Joh 3,30 sagt, der Täufer soll abnehmen, Jesus zunehmen, durfte er als Zeuge nicht allzu sehr an Gewicht „abnehmen“, sollte er glaubwürdig für Jesus zeugen. Historisch ist in seinem Zeugnis alles von Gewicht, was seiner Aufgabe als Zeuge eigentlich widersprach, etwa der Zweifel daran, ob Jesus der Kommende sei (Mt 11,2–6par). Gleichzeitig war der Täufer aber nicht nur Zeuge für Jesus, sondern auch sein Lehrer. Daher müssen wir damit rechnen, dass Jesus manche Täuferworte übernommen hat wie das Wort vom Baum ohne Frucht, der abgehauen und ins Feuer geworfen wird, das beiden zugeschrieben wird (Mt 3,10 und 7,19). Nur selten können wir die Herkunft eines Jesuswortes vom Täufer so klar erkennen. Seine Anhänger verabsolutierten den Täufer als Offenbarer des Lichts. Deswegen betont das JohEv gegen sie, nicht der Täufer sei das Licht gewesen (Joh 1,8). Einige hielten ihn sogar für den Messias (PsClem Rec 1,60,1).7 In mandäischen Texten wurde er zum entscheidenden Offenbarer. Josephus wiederum hellenisiert den Täufer für nichtjüdische Leser. Das zeigt ein Vergleich mit den urchristlichen Quellen:
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B.Lang, Jesus der Hund, 131. J.Becker, Johannes*, 1972. D.C.Allison, Constructing Jesus. Memory, Imagination, and History, 2010, 204–220. PsClem Rec 1,60,1. Weitere Zeugnisse sind: Ignatius von Antiochien berichtet von der Taufe Jesu in Anlehnung an das MtEv (IgnSm 1,1). Dazu kommen Erwähnungen des Täufers bei Justin (Dial 49, 51, 88) und in Fragmenten judenchristlicher Evangelien (Nazarener-, Ebionäer- und Hebräerevangelium).
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Zweiter Teil: Der Rahmen der Geschichte Jesu
Josephus Ant 18,116–119
Urchristliche Quellen
1. Herkunft
Josephus schweigt über die Herkunft des Täufers.
Lk 1: Der Täufer ist priesterliche Herkunft.
2. Zeitpunkt von Auftreten und Tod
Seine Hinrichtung geschieht in Machärus (in Peräa) unbestimmte Zeit vor der Niederlage des Antipas gegen Aretas 36 n. Chr.
Lk 3,1: Der Täufer tritt im 15. Jahr des Kaisers Tiberius ca. 28 n. Chr. auf und wird noch in der Zeit Jesu (ca. 26/30 n. Chr.) hingerichtet (Mk 6,17–29).
3. Das Motiv zur Hinrichtung
Politisches Motiv: Herodes Antipas lässt den Täufer aus Furcht vor einer Rebellion hinrichten, für die Josephus „andere Menschen“ verantwortlich macht.
Privates Motiv: Herodias veranlasst die Hinrichtung des Täufers wegen der Kritik des Täufers an ihrer Ehe mit Herodes Antipas (Mk 6,17ff). Der politische Kontext bleibt undeutlich.
Nach Josephus lehrte der Täufer eine universale Ethik der Frömmigkeit und Gerechtigkeit, verkündigte weder das Gericht Gottes noch einen nach ihm kommenden Offenbarer. Doch lässt Josephus den politischen Kontext des Täufers erkennen. Er kommt auf die Hinrichtung des Täufers im Zusammenhang mit einer Niederlage des Herodes Antipas im Krieg gegen die Nabatäer 35/36 n. Chr. zu sprechen, die von einigen Juden als Strafe für die Hinrichtung Johannes des Täufers gedeutet wurde: Einige der Juden aber glaubten, das Heer des Herodes sei von Gott vernichtet worden, womit er ihn höchst gerechterweise büßen ließ und Rache nahm für Johannes, den sogenannten Täufer. Diesen nämlich tötete Herodes, obwohl er ein Mann von guter Gesinnung war und die Juden dazu aufforderte, (zunächst) Tugend zu üben und Gerechtigkeit gegeneinander und Frömmigkeit gegenüber Gott zu praktizieren und (dann) zur Taufe zu kommen. Denn so schien ihm [d. h. Gott] die Taufe wirklich angenehm zu sein, wenn sie sie nicht zur Abbitte für irgendwelche Sünden, sondern zur Reinigung des Leibes ausübten, zumal ja auch die Seele durch (ein Leben in) Gerechtigkeit vorher bereits gereinigt sei. Weil aber die anderen zusammenströmten und weil sie vom Hören der Worte aufs höchste erregt wurden, fürchtete Herodes, sein [Johannes’] übergroßer Einfluss auf die Menschen könnte zu einer Art Aufstand führen (denn sie schienen alles seinem Rat gemäß zu tun) und hielt es darum für viel besser, ihn, bevor Neuerungen durch ihn entstünden, vorgreifend aus dem Weg zu räumen, als nach geschehenem Umsturz in eine schwierige Lage zu geraten und (sein Zögern) zu bereuen. Auf den Verdacht des Herodes hin wurde er [Johannes] gefesselt nach Machärus – die bereits erwähnte Festung – geschickt und dort hingerichtet. Bei den Juden aber herrschte die Ansicht, dass als Rache für jenen der Untergang über das Heer kam, weil Gott Herodes Schaden zufügen wollte. (Ant 18,116–119) (Übers.: A.M.)
Aus diesem Bericht von einem ethisch vorbildlichen Lehrer wird nicht klar, warum er aus politischen Gründen hingerichtet wurde. Josephus schreibt die Ursache dafür auch anonymen „anderen“ zu, die er von den Schülern des Täufers unterscheidet. Er entlastet damit den Täufer vom Vorwurf der Rebellion, bezeugt aber, dass politische Faktoren für sein Ende bestimmender waren, als es im NT erkennbar ist.
Johannes der Täufer: Vorläufer und Vorbild
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3. Die Einordnung des Täufers in die Zeitgeschichte In den Legenden von Geburt und Familie des Täufers in Lk 1 könnte die Abstammung von Priestern zutreffend sein. Denn Johannes veränderte mit seiner Taufe das jüdische Ritualsystem. Nach der „Tempelreinigung“ spielt Jesus seine Taufe gegen den Tempel aus: Wenn seine Gegner die Taufe des Johannes anerkennen, müssten sie auch die „Tempelaktion“ Jesu akzeptieren (Mk 11,27–33). Das macht nur Sinn, wenn auch die Taufe des Johannes Kritik am Tempel zum Ausdruck bringt. Aus dem Aufenthalt des Johannes in der Wüste (Lk 1,80) lässt sich nicht auf die Zugehörigkeit des Täufers zu den Essenern schließen. Er teilt mit ihnen die Wüstentypologie, die einen Neuanfang Israels in der Wüste verlangt, sowie die Forderung der Umkehr in Verbindung mit Tauchbädern. Grundsätzlich verschieden aber ist, dass der Täufer nicht wiederholte Reinigungsbäder, sondern eine einmalige Taufe verlangt.8 Die Hinrichtung des Täufers wird in Mk 6,17–29 mit unhistorischen Zügen erzählt. Der Täufer wurde nicht in Galiläa enthauptet, sondern in Peräa; Herodias war nicht mit Philippus verheiratet (so Mk 6,17), sondern mit Herodes Boethos. Richtig ist: Kritik an der Ehe des Herodes Antipas war ein Grund für die Hinrichtung des Täufers.9 Auch Josephus kritisierte diese Ehe. Herodias habe die väterlichen Normen erschüttern wollen, als sie noch zu Lebzeiten ihres Mannes dessen Bruder heiratete (Ant 18,136). Josephus urteilt ferner richtig, dass der Landesfürst für die Hinrichtung des Täufers verantwortlich ist und politisch motiviert war: Herodes fürchtete um seine Herrschaft. Wir können die Gründe dafür erschließen: Als die Kritik des Täufers seine Herrschaft destabilisierte, wurde sie gleichzeitig durch die Nabatäer bedroht. Beides hängt mit der Verstoßung seiner nabatäischen Frau auf Verlangen der Herodias zusammen. Gebietsstreitigkeiten mit den nabatäischen Nachbarn (Ant 18,113) sind der politische Hintergrund für die Hinrichtung des Täufers. Darauf deutet die Volksmeinung, die Niederlage des Antipas gegen den Nabatäerkönig sei die Strafe Gottes für den Tod des Johannes. Herodes Antipas hatte einst durch Heirat einer nabatäischen Prinzessin Konflikte um Gebietsansprüche der Nabatäern diplomatisch lösen können. Diese Konflikte mussten wieder aufflammen, als Antipas diese nabatäische Prinzessin verstieß, um Herodias zu heiraten (Ant 18,109–112). Die Ehekritik des Täufers konnte deshalb als Parteinahme für die feindlichen Nachbarn verstanden werden. Manche konnten meinen: Dachte der Täufer, wenn er das Kommen Gottes aus der Wüste zum Gericht ankündigte (Mk 1,3/Jes 40,3), vielleicht an die Bedrohung durch die Nabatäer?
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Wenn religiöse Riten Ausdruck von Zwangsverhalten sind, dann befreit die Taufe des Johannes von diesem Zwang. Vgl. G.Theißen, Veränderungspräsenz und Tabubruch. Die Ritualdynamik urchristlicher Sakramente, 2017, 15 f.123.340–342. Vgl. G.Theißen, Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den synoptischen Evangelien, 1989, 85–102.
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Die Berichte über den Tod des Täufers ergänzen sich sehr gut: Im NT ist die Kritik des Täufers an der Ehe des Antipas mit Herodias für seine Hinrichtung verantwortlich, der politische Kontext bleibt unsichtbar. Bei Josephus wird die politische Niederlage des Antipas mit der Hinrichtung des Täufers in Verbindung gebracht, da sich Antipas die Nabatäer zu Feinden gemacht hatte, als seine erste nabatäische Frau zu ihrem Vater geflohen war, um ihrer Verstoßung zuvorzukommen. Die Motive der Herodias in diesem Ehedrama sind aus den Quellen nicht zu entnehmen. Josephus unterstellt, dass sie mit ihrer Scheidung und Eheschließung traditionelle Normen auflösen wollte (Ant 18,136). Das MkEv macht sie als femme fatale zur Hauptverantwortlichen an der Hinrichtung des Täufers, eine historisch nicht vertrauenswürdige Darstellung. Zutreffend ist, dass sie die Trennung des Herodes von seiner nabatäischen Frau zur Bedingung ihrer Eheschließung gemacht hatte und dadurch als Akteurin auf der politischen Bühne sichtbar wurde. Sie wollte nicht in einen Harem eintreten. Selbständig handelte auch die nabatäische Prinzessin, die, um ihrer demütigenden Verstoßung zuvor zu kommen, abreiste, bevor die Scheidung vollzogen werden konnte. Das Volk urteilte mit Recht: Hätte Antipas die alttestamentlichen Ehegesetze eingehalten, wäre seine Ehe nicht vom Täufer kritisiert worden und er hätte sich eine Niederlage erspart. Auffällig ist die Ambivalenz des Herodes Antipas gegenüber dem Täufer. Nach Mk 6,20 fürchtete er ihn als „gerechten und heiligen Mann“. Die Stichworte „gerecht“ und „heilig“ entsprechen dessen Lehre von den beiden Grundtugenden, der Gerechtigkeit gegenüber Menschen und der Frömmigkeit gegenüber Gott (Ant 18,117). Mit seiner Lehre bewirkte der Täufer eine Wende in der Geschichte des Volkes. Vor ihm hatte es nach 4 v. Chr. bewaffnete Aufstände unter mehreren messianischen Führern gegeben. Doch Johannes den Täufer lehrte: Juden sollen nicht die Römer, sondern sich selbst überwinden. Seine Verkündigung verwandelte Aggression gegen Fremde in Motivation zur Kritik an sich selbst, nämlich zum Bekennen der eigenen Sünden und zur Umkehr. J.Tromp vertritt die These, dass der Täufer erst nach Jesu Tod wirkte und die Jesusüberlieferung ihn zum Vorläufer Jesu gemacht hat.10 Richtig ist: Josephus berichtet von der Heirat des Antipas mit Herodias in Ant 18,110 erst nach dem Tod des Philippus (34 n. Chr.) und erklärt damit aber die länger zurückliegenden Ursachen des nabatäischen Krieges (35/36 n. Chr.). Er betont, dass diese Heirat des Antipas nur der „Anfang“ der Feindschaft war (Ant 18,113). Der Krieg brach erst nach dem Tod des Philippus 34 n. Chr. aus – wahrscheinlich, weil der Nabatäerkönig erst jetzt hoffen konnte, dass Antipas keine Unterstützung durch seinen Bruder Philippus erhält. Seine Feindschaft hatte aber lange vorher mit der Ehe des Antipas mit Herodias begonnen. Josephus datiert nämlich diese Eheschließung mit Herodias nach der Geburt ihrer Tochter Salome aus ihrer ersten Ehe (Ant 18,136). Diese Tochter heiratete später Philippus. Daher muss die Heirat des Antipas mit Herodias längere Zeit vor dem Tod des Philippus geschehen sein. Die Distanz von ca. einem Jahrzehnt zwischen der Kritik des Täufers an der Eheschließung des Antipas und seiner Niederlage, die als 10 J.Tromp, John the Baptist According to Flavius Josephus, and His Incorporation in the Christian Tradition, in: A. Houtman et alii (ed.), Empsychoi Logoi. Religious Innovations in Antiquity, 2008, 135– 149.
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Johannes der Täufer: Vorläufer und Vorbild
Strafe Gottes dafür gedeutet wurde, ist erst recht kein Argument für eine Datierung des Täufers nach Jesus. Denn diese Zeitspanne entspricht in etwa der Weissagung eines Propheten gegen den Tempel ca. acht Jahre, bevor sie durch dessen Zerstörung in Erfüllung ging (Jos Bell 6,301–309). Die Aussagen des Josephus widersprechen einer Spätdatierung des Täufers nach Jesu Tod. Die neutestamentlichen Aussagen sind ohnehin eindeutig. Q und das MkEv bezeugen unabhängig voneinander, dass der Täufer vor Jesus auftrat.
4. Die Verkündigung des Täufers Johannes kündigte für die nahe Zukunft das Jüngste Gericht an, griff in der Vergangenheit auf das Wirken des Elia zurück und wirkte in der Gegenwart vor allem durch seinem Ruf zur Umkehr und seine ethische Verkündigung. 4.1 Die Ankündigung der Zukunft
Der Umkehrruf des Täufers findet auch bei Josephus ein Echo, jedoch ist von der damit verbundenen Naherwartung bei ihm nichts zu spüren. Johannes ist Lehrer einer zeitlosen ethischer Weisheit, die Josephus in Übereinstimmung mit der antiken Tradition vom „Kanon der zwei Tugenden“ als Lehre der Frömmigkeit und Gerechtigkeit beschreibt.11 Da Josephus auch sonst die eschatologischen Erwartungen im Judentum in den Hintergrund treten lässt, entspricht dieses Verschweigen der Eschatologie seiner Tendenz. Im Vergleich dazu stellt die urchristliche Überlieferung seine eschatologische Predigt ins Zentrum: Josephus Ant 18,116–119
Urchristliche Quellen
Umkehrruf: Der Täufer ist ein Weisheitslehrer, (a) der ein Leben zur Verwirklichung von Gerechtigkeit und (b) F römmigkeit fordert.
Eschatologische Predigt: Der Täufer ist ein jüdischer Prophet, der (a) zur Umkehr ruft (Mk,Q) und Früchte der Umkehr verlangt, (b) weil das Gericht unmittelbar bevorsteht, (Mt 3,7.10par/Lk 3,7.9) (c) und nach ihm ein „Stärkerer“ kommt, (Mk 1,7; Mt 3,11/Lk 3,16 (Joh 1,27; Apg 13,25) (d) der mit heiligem Geist bzw. mit Geist und Feuer taufen wird (Mk 1,7; Joh 1,33 bzw. Mt 3,11f/Lk 3,16f).
Das eschatologische Gericht wird als Motiv nicht erkennbar.
11 A.Dihle, Der Kanon der zwei Tugenden, 1968.
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Zweiter Teil: Der Rahmen der Geschichte Jesu
Die Naherwartung des Täufers war auch durch eine einmalige Situation bedingt. Im Land kursierte die geheime apokryphe Schrift von der „Himmelfahrt des Moses“. In ihr war unter dem Eindruck der kurzen Herrschaft des Archelaos die Weissagung eingefügt worden, dass die Söhne des Herodes I. kürzer als ihr Vater regieren werden (AssMos 6,6f).12 Daher mussten einige Juden ab Mitte der zwanziger Jahre mit dem Ende der Herrschaft dieser Herodäer und sogar dem Ende der Welt rechnen, denn nach dieser Weissagung heißt es: „Von da ab werden die Zeiten ihrem Ende zugehen“ (AssMos 7,1). Der Täufer trat genau in der Zeit auf, als die Herrschaftsdauer der Herodessöhne die ihres Vaters überbot – etwa in der Zeit 27–30 n. Chr. Genau in dieser Endzeitstimmung drohte der Täufer dem Herodes Antipas wegen seiner Ehe mit dem Zorngericht Gottes13 und wandte sich mit einer Gerichtsbotschaft an alle Juden. Mk und Q stimmen darin überein, dass Johannes ganz Israel zur Umkehr rief. Mt und Lk bezeugen aber, dass sein Ruf besonders von Außenseitergruppen wie Zöllner, Prostituierte und Soldaten positiv aufgenommen wurde, nicht aber von den religiösen Eliten (vgl. Mt 21,31f; Lk 9,29; Lk 3,10–14). Seine Gerichtspredigt ist in Q ohne Spuren einer christlichen Bearbeitung überliefert (QLk 3,7–9.17).14 Da die Axt schon an die Wurzel des Baumes gelegt ist, steht das Zorngericht Gottes unmittelbar bevor. Auch die Abstammung von Abraham kann vor ihm nicht retten, nur Sündenbekenntnis und Taufe, sofern sie zu „Taten“ der Umkehr führen. Während der Täufer in QLk 3,9 in passiver Form von Gott als Richter spricht, kündigt er sein Handeln in QLk 3,17 in aktiver Formulierung an: Er wird die Tenne fegen, die Frucht einbringen und die Spreu verbrennen. Jenseits des Gerichts erwartet die Geretteten das Heil. Die Bilderwelt des Täufers umfasst Familien- und Vegetationsbilder. Mit dem Familienbild vom Vater kritisiert er den Statusstolz der Israeliten: „Denkt nur nicht, dass ihr zu euch sagen könnt: Wir haben Abraham zum Vater. Denn ich sage euch: Gott vermag Abraham aus diesen Steinen Kinder erwecken“ (Mt 3,9). Der Vaterbegriff wird wie im AT mit einer Schöpfung aus Materie verbunden: „Herr, du bist doch unser Vater! Wir sind Ton, du bist unser Töpfer, und wir alle sind deiner Hände Werk“ (Jes 64,7). Die Pflanzenmetaphern zielen dagegen nicht auf den Status, sondern auf das Verhalten der Kinder Abrahams. Das Bild von „Baum und Frucht“ (Mt 3,8; 3,10) ist ein letzter Appell zur Umkehr, obwohl für Taten der Umkehr keine Zeit bleibt, sondern nur für die Taufe als einer symbolischen Ersatzhandlung für diese Taten.15 Im Bild von „Saat und Ernte“ fehlt auch dieser allerletzte Appell: Der Weizen ist definitiv gerettet; Spreu für immer verloren. Doch ist dieses Bild nicht kohärent. Wer Korn ernten will, muss Spreu in Kauf nehmen. Ebenso hat die Taufe einen widersprüchlichen Symbolgehalt. Niemand wird durch Waschung ein für alle Mal sauber. Trotzdem soll 12 Die Zeitdauer hängt davon ab, ob man von der Ernennung des Herodes durch den römischen Senat 40 v. Chr. oder von seinem Regierungsantritt in Palästina 37v. Chr. an rechnet. 13 Vgl. G.Theissen, Jésus*, in, A.Dettwiler (éd.), Jésus de Nazareth, 2017, 65–86. 14 Nach J.P.Meier, Jew* 2, 1994, 29.71f, sind keine spezifisch christlichen Züge zu erkennen. R.Bultmann, Geschichte der synoptischen Tradition, 1921, 123, meint dagegen, Drohworte Jesu seien dem Täufer in den Mund gelegt worden. 15 G.Theißen, Die Taufe – Anfang einer neuen Welt, in: ders., Veränderungspräsenz und Tabubruch. Die Ritualdynamik urchristlicher Sakramente, 2017, 221–253.
Johannes der Täufer: Vorläufer und Vorbild
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die Taufe einmalig sein. Solche Spannungen zur normalen Erfahrungswelt zeigen einen Prediger, der weiß, wie er Aufmerksamkeit erregt. Der Täufer verwertet alle fünf Seinsbereiche unserer Bilderwelt: – Sachen wie Steine und Wasser, – Artefakte wie Wurfschaufel und Axt, – Pflanzen wie Baum und Weizen, – Tiere wie die „Schlangenbrut“, – Personen wie die „Kinder Abrahams“. Religion und Poesie haben gemeinsam, dass ihre Bilder gegen die „natürliche“ Ordnung verstoßen, die zwischen diesen Bereichen trennt. Eine Metapher basiert auf einer Vermischung dieser Bereiche (einem blending).
Der kognitive Ansatz sagt: Erfolg haben Überlieferungen mit minimaler Kontraintuitivität, wenn sie in ein Netz intuitiver Gedanken und Bilder eingebettet sind. Kontraintuitiv ist in der Predigt des Täufers vor allem die „kommende“ eschatologische Gestalt des Richters. Diskutiert wird, ob es sich bei ihr um Gott oder einen messianischen Mittler handelt. Für seine Identifizierung mit Gott sprechen folgende Argumente: a) Gott begegnet als Richter bereits in Mt 3,7–10. In Mt 3,12 par beziehen sich die Possessivpronomina seine Tenne, sein Weizen, in Lk 3,17 seine Scheune auf Gott. b) Die Feuertaufe des Stärkeren bezieht sich auf das Feuergericht in Mt 3,10 zurück, das alleine Gott vollzieht. c) Die eschatologische Taufe mit heiligem Geist hat nur in Gottes endzeitlichem Handeln Vorbilder (Ez 36,25–27; Joel 3,1–5; Jub 1,23; 1QS IV,21). Andere Argumente weisen auf eine von Gott unterschiedene Mittlergestalt: a) Die Beziehung des Täufers zu einem anderen, der „stärker“ ist, rechnet nur mit graduellen Unterschieden zwischen ihnen. b) Der Anthropomorphismus vom „Tragen der Schuhe“ (Mt 3,11) und „Lösen der Schuhriemen“ (Mk 1,7) passt nicht auf Gott. c) Die Perikope von der Frage des Täufers an Jesus: „Bist du der, der da kommen soll?“ (Mt 11,2–6) setzt eine auf Erden wirkende Mittlergestalt voraus. Wenn sich der Täufer nur als Vorläufer Gottes verstanden hat, wären Hinweise auf eine von ihm angekündigte messianische Gestalt eine interpretatio christiana. Jedoch sind der „Stärkere“ und der „Kommende“ vorchristlich nicht als messianische Titel belegt, dagegen sehr oft ein Nebeneinander von Gott und messianischen Gestalten. So finden wir nebeneinander den königlichen und den priesterlichen Messias, Michael und Melchisedek, den Menschensohn und Elia redivivus. Wechselnde Bezugnahmen auf Jahwe und seinen Vertreter sind die Regel. Der Täufer sagt im Rahmen solch einer Tradition Gottes unmittelbar bevorstehendes Gerichts- und Heilshandeln an, das sein Bevollmächtigter vollzieht.16 Er lenkt dabei 16 R.L.Webb, John*, 1991, 254–58.284–88.
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Zweiter Teil: Der Rahmen der Geschichte Jesu
an ihn gerichtete messianische Erwartungen auf eine nach ihm kommende Gestalt um. Denn nach dem Tod Herodes I. (4v. Chr.) hatten messianische Erwartungen das Land in Unruhen gestürzt (Ant 17,285). Mit solchen Erwartungen war auch der Täufer konfrontiert worden: Als aber das Volk voll Erwartung war und alle dachten in ihren Herzen, ob Johannes vielleicht der Christus wäre, antwortete Johannes und sprach zu allen: Ich taufe euch mit Wasser; es kommt aber der, der stärker ist als ich; ich bin nicht wert, dass ich ihm die Riemen seiner Schuhe löse; der wird euch mit dem Heiligen Geist und mit Feuer taufen. (Lk 3,15f)
Auch das JohEv bestätigt solche messianischen Erwartungen. Der Täufer antwortet in ihm auf die Frage, wer er ist: „Ich bin nicht der Christus“ (Joh 1,20), er sei auch nicht Elia noch der Prophet, sondern nur der Rufer in der Wüste. Sofern der Täufer messianische Erwartungen auf den nach ihm Kommenden umlenken wollte, war es sinnvoll, wenn er dessen Überlegenheit als „Stärkeren“ betont. Sein Motiv lässt sich noch erschließen: Messianische Erwartungen belebten immer wieder die Hoffnung auf einen Sieg über die Feinde Israels. Die von dieser Hoffnung beflügelten Aufstandsbewegungen waren jedoch gescheitert. Daraus hat der Täufer gelernt. Er versprach keinen Sieg über die Feinde, sondern forderte einen „Sieg“ über sich selbst durch Umkehr. 4.2 Der Rückgriff auf die Vergangenheit
Wenn der Täufer Erwartungen an seine Person, zurückweist, stellt sich erst recht die Frage: Welches Selbstverständnis hatte er? Das NT stellt ihn als Propheten nach dem Modell des Elia dar, als Asketen mit Merkmalen eines „Nasiräers“ und verbindet beide Rollen in seiner Aufgabe als Rufer in der Wüste. Als Prophet war Johannes anerkannt: „Alle hielten Johannes für einen Propheten“ (Mk 11,32). Jesus korrigiert diese Rollenzuteilung als zu gering; Johannes sei „weit mehr als ein Prophet!“ (Mt 11,9). Das Johannesevangelium korrigiert sie als zu hoch. Denn in ihm antwortet Johannes, gefragt, ob er der Prophet sei, mit „Nein!“ (Joh 1,21). Der Täufer selbst hat sich aber wohl als Elia, der vor dem Ende wiederkommt, verstanden (Mal 3,1.23f; Sir 48,10):17 a) Johannes ahmte durch seinen Ledergürtel und Kamelhaarmantel Elia nach, wie er in 1Kön 19,13.19; 2Kön 1,8; 2,8 beschrieben wird (Mk 1,6). b) Er taufte an der Jordanfurt bei Jericho dort, wo Elia nach der Überlieferung in den Himmel entrückt worden war (2Kön 2). c) Seine Verkündigung lässt Maleachi 3 als „Rollenskript“ erkennen mit der Aufgabe eines Wegbereiters (Mal 3,1), der Ankündigung eines Feuergerichts (Mal 3,2f), dem Ruf zur Umkehr (Mal 3,7) und dem Verbrennen von Stroh und Bäumen (Mal 3,19).
17 H.Stegemann, Essener*, 1993, 298–301; G.Häfner, Der verheißene Vorläufer. Redaktionskritische Untersuchung zur Darstellung Johannes des Täufers im Matthäus-Evangelium, 1994. M.Öhler, Elia*, 1997.
Johannes der Täufer: Vorläufer und Vorbild
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Vielleicht war Johannes durch Maleachi inspiriert, der mit der Wiederkehr des Propheten Elia ein Feuergericht zur Reinigung des Volkes erwartete. Johannes wird ferner als Asket dargestellt. Nur bei ihm wird im NT die Kleidung eines Menschen hervorgehoben: „Und Johannes trug ein Gewand aus Kamelhaaren und einen ledernen Gürtel um seine Lenden und aß Heuschrecken und wilden Honig“ (Mk 1,6). Diese Kleidung war für Wüstenbewohner üblich. Heuschrecken waren Wüstenspeise (Lev 11,22), galten als blutlos und fielen daher nicht unter das Verbot des Blutgenusses (Lev 17,10–14). Doch hat der Täufer die Reinheitsgesetze nicht penibel befolgt, denn dann hätte er nicht „wilden Honig“ essen können, da Bienen als unrein galten (Lev 11,20). Die Enthaltung von Wein (Lk 1,15; 7,33) und seine Begabung mit heiligem Geist (Lk 1,15) könnten ihn als Nasiräer charakterisieren. Doch fehlen als drittes Merkmal die „langen Haare“ (Num 6,5.18). Seine Lebensform war daher keine Folge rigide eingehaltener Reinheitsgebote. Er wirkte auf Zeitgenossen vielmehr als „antikultureller“ Oppositioneller: Jesus kontrastiert sein Leben in der Wüste mit dem luxuriösen Leben am Hofe der Könige (QLk 7,25). Beide Rollen als Prophet und Asket verband der Täufer mit seiner Aufgabe als Rufer in der Wüste (Jes 40,3). Als Prophet kündigte er das Gericht an, als Asket lebte er in der Wüste, um den Weg des Herrn zu bereiten (Mk 1,2f parr), vor allem aber rief er zur Umkehr. So, wie Israels Geschichte in der Wüste begann, so sollte sie noch einmal neu beginnen. Doch spielte er solche heilsgeschichtlichen Typologien nicht gegen die Fremden aus. Im Gegensatz zu Elia kämpfte er nicht gegen fremde Kulte, sondern rief zur Umkehr auf und wollte Israel versöhnen (Mal 3,24). Die Wüste ist weniger Erinnerung an den Exodus aus der ägyptischen Sklaverei als Raum für die Ankunft Gottes. Durch Erneuerung der Menschen will er Gott den Weg bahnen. Deshalb gehört auch seine ethische Predigt zu seiner Botschaft. 4.3 Die ethische Predigt für die Gegenwart
Die ethische Predigt des Täufers zeigt sich im NT in der Kritik der Ehe des Antipas (Mk 6,17f) und tritt sonst nur in der „Standespredigt“ des Lukasevangeliums hervor (LkS 3,10–14). Dafür steht sie bei Josephus im Zentrum. Josephus fasst sie durch den in der Antike verbreiteten „Kanon der zwei Tugenden“ zusammen, der auch nicht-jüdischen Lesern vertraut war. Hinter der Verbindung von „Gerechtigkeit und Frömmigkeit“ verbirgt sich dabei eine jüdische Tradition. Ethische Predigt des Täufers bei Josephus: Der Täufer ist ein hellenistischer „Philosoph“, der Tugend (aretē) lehrt, insbesondere die Grundtugenden (a) der Gerechtigkeit (dikaiosynē) gegeneinander d.h. Tugend in zwischenmenschlichen Beziehungen und
(b) der Frömmigkeit (eusebeia) gegenüber Gott, d.h. Tugend in der Beziehung zu Gott.
Ethische Predigt des Täufers im Neuen Testament:
(a) Er ist „ein gerechter Mann“ (dikaios; Mk 6,20) „auf dem Weg der Gerechtigkeit“ (Mt 21,32), lehrt, was Menschen „tun sollen“ (Lk 3,10–14), Ȥ Kleidung und Lebensmittel teilen, Ȥ als Zöllner nur nach Vorschrift Geld nehmen Ȥ als Soldaten sich mit dem Sold begnügen und niemanden drangsalieren. (b) Er ist „ein heiliger Mann“ (hosios Mk 6,20).
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Zweiter Teil: Der Rahmen der Geschichte Jesu
Josephus charakterisiert den Eintrittseid der Essener als Verpflichtung auf „Frömmigkeit und Gerechtigkeit“, nämlich „erstens die Gottheit zu verehren (eusebein), dann das, was den Menschen gegenüber gerecht ist (dikaia), zu bewahren“ (Bell 2,139).18 Dem entspricht die Verpflichtung in der Sektenregel Qumrans, „alles zu lieben, was er (= Gott) erwählt hat, und alles zu hassen, was er verworfen hat; sich fernzuhalten von allem Bösen, aber anzuhangen allen guten Werken; Treue, Gerechtigkeit und Recht zu tun im Lande“ (1QS I,3–6). Hier haben wir einen Beleg dafür, dass die vom Täufer bei Josephus geforderte „Frömmigkeit“ als Liebe bezeichnet werden konnte. Wenn Josephus ferner sagt, dass in den jüdischen Sitten alles der Frömmigkeit und Gerechtigkeit entspricht (Ant 16,42), so kommt eine Verbindung von Frömmigkeit (eusebeia) und Gerechtigkeit (dikaiosynē) dem doppelten Liebesgebot sehr nahe. Justin identifiziert sie in der Mitte des 2. Jh.n.Chr: Darin scheint mir unser Herr und Heiland Jesus Christus recht zu haben, der gesagt hat, dass alle Forderungen der Gerechtigkeit (dikaiosynē) und Frömmigkeit (eusebeia) mit der Beachtung zweier Gebote erfüllt werden. Dieselben lauten aber: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Kraft und den Nächsten wie dich selbst. (Dial 93,2).
Danach fasst Justin das Doppelgebot der Liebe als „Gerechtigkeit“ zusammen (Dial 93,3).19 „Gerechtigkeit“ umfasst auch im MtEv zwei Dimensionen: Wenn Johannes Jesus tauft, damit alle Gerechtigkeit erfüllt werde (Mt 3,15), meint er die Beziehung zu Gott, wenn Jesus sagt, dass der Täufer „auf dem Weg der Gerechtigkeit“ Zöllner und Prostituierte ansprach, die Beziehung zu anderen Menschen (Mt 21,32). Eine Reminiszenz an die „Gerechtigkeit und Frömmigkeit“ in der Lehre des Täufers ist vor allem seine Charakterisierung als „gerecht“ und „heilig“ (Mk 6,20).20 Jesus könnte von Johannes dem Täufer die Anregung dazu erhalten haben, die Ethik als Doppelgebot der Liebe zusammenzufassen. Dafür spricht, dass dieses Doppelgebot nach den synoptischen Evangelien unabhängig von Jesus bekannt ist. Ein Schriftgelehrter zitiert es von sich aus (Lk 10,27), ein anderer wiederholt es mit eigenen Worten (Mk 12,32f). Es begegnet in Did 1,3, ohne auf Jesus zurückgeführt zu werden. Wahrscheinlich hat schon der Täufer Gottes Forderungen im doppelten Liebesgebot zusammengefasst. 18 Der Essener Menahem empfiehlt Herodes neben der Liebe zur Gerechtigkeit (dikaiosynē) und Frömmigkeit (eusebeian) gegenüber Gott Billigkeit gegenüber den Bürgern (Ant 15,375). 19 Man kann die Zusammenfassung der Lehre des Johannes bei Josephus auch so verstehen, dass er „Gerechtigkeit“ auf ein ethisches Leben bezieht, die „Frömmigkeit“ aber auf die Bereitschaft, sich taufen zu lassen: Die Taufe geschieht zur Heiligung (hagneia) des Körpers. „Frömmigkeit“ (eusebeia) und Heiligkeit sind verwandt. 20 Josephus charakterisiert David und Salomo durch Frömmigkeit, Gerechtigkeit und Tapferkeit (Ant 6.160; 7,338). Salomo ist fromm, gerecht und tapfer (7,356) oder fromm und gerecht (7,374), ebenso Asa, Josaphat, Jotham, Hezekia, Josia, Antipater. Aber nur der Täufer lehrt Frömmigkeit und Gerechtigkeit. So Ch.Park, Johannes der Täufer und Jesus von Nazareth. Eine sozio-redaktionelle Untersuchung zu ihrem Bild bei Josephus und Lukas, Diss. Heidelberg 1997, 20. Seine Lehre ist daher keine schematische Darstellung des Josephus.
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Johannes der Täufer: Vorläufer und Vorbild
Wir kennen darüber hinaus nur wenige Mahnungen des Täufers. In seiner „Ständepredigt“ (Lk 3,10–14) verlangt er von allen Menschen positiv gegenseitige Unterstützung bei Kleidung und Nahrung, von zwei Gruppen negativ Verzicht auf Übergriffe: Zöllner sollen nicht in die eigene Tasche wirtschaften, Soldaten sich mit ihrem Sold begnügen. Erst 15/20 Jahre vor dem Auftreten des Täufers hatte Judas Galilaios zur Steuerverweigerung und zu einer Rebellion aufgerufen. Wenn der Täufer Abgabeneintreiber und Soldaten an ethischen Kriterien misst, akzeptiert er sie grundsätzlich und widerspricht dieser rebellischen Stimmung. Die Ständepredigt passt in das Bild eines Predigers, der Aggression zur Überwindung der Fremden in Motivation zur Umkehr verwandeln will. Vermutlich ist die Ständepredigt nur ein Fragment der ethischen Lehre des Täufers. Er hat einen „Jüngerkreis“ gebildet, der einer Prophetenschule glich21 und sich durch „Identitätsmerkmale“ von den Jüngern Jesu unterschied: Die Anhänger des Täufers fasteten im Gegensatz zu den Jüngern Jesu (Mk 2,18–20 parr), beteten ein spezifisches Gebet (Lk 11,1) und verpflichteten sich zu gegenseitiger Unterstützung (Lk 3,11). Ihr Ethos entsprach den drei Verpflichtungen der Bergpredigt zum Almosengeben, Beten und Fasten, jedoch mit wichtigen Unterschieden: Almosen sind keine gegenseitige Unterstützung, Beten und Fasten im Verborgenen sind keine sozialen Erkennungsmerkmale (Mt 6,1–18). Die Jünger des Täufers und Jesu teilten vergleichbare Erwartungen einer neuen Welt, doch galt die Ausgießung des „Heiligen Geistes“ schon bald als ihr unterscheidendes Merkmal (vgl. Apg 19,1–7). 4.4 Der rituelle Übergang zur neuen Welt: Die Taufe
Die Johannestaufe entspricht einer allgemeinen Tendenz im Judentum zur Vermehrung von Reinigungsriten,22 die archäologisch durch Ritualbäder (mikwaot) und Nachrichten über die Reinigungsrituale der Essener belegt ist. Die Einmaligkeit der Taufe des Johannes aber widersprach dieser Tendenz. Zwar wird nirgendwo gesagt, dass die einmal Getauften auf weitere Reinigungen verzichten sollen (vgl. jedoch Joh 13,10), aber diese waren angesichts des nahen Weltendes ohnehin unwichtig. Reinigungsriten waren in der Regel Vorbereitung für die eigentlichen Riten und Ereignisse. Das gilt auch für die Taufe: Sie bereitete die Menschen auf die Geisttaufe oder das Gericht vor. Josephus
Neues Testament
Die Taufe ist ein Reinigungsritus, sie dient nicht zur Vergebung von Sünden, sondern zur Heiligung des Leibes, wobei vorausgesetzt wird, dass die Seele durch Gerechtigkeit vorher gereinigt wurde.
Die Taufe ist ein eschatologisches Sakrament, das vor dem Zorngericht Gottes rettet: Gott bietet durch Johannes eine Taufe an zur öffentlichen Demonstration der Umkehr und zur Vergebung der Sünden (Mk 1,4). Ein Sündenbekenntnis geht voraus (Mk 1,5), Früchte der Umkehr folgen (Mt 3,8).
21 K.Backhaus, Jüngerkreise*, 1991. 22 Die Intensivierung zeigt sich darin, dass die im AT vorgeschriebenen Waschungen in dieser Zeit oft als Tauchbäder oder Vollbäder verstanden werden. Vgl. G. Barth, Die Taufe in frühchristlicher Zeit, 1981, 22002, 27 f.
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Zweiter Teil: Der Rahmen der Geschichte Jesu
Nach den neutestamentlichen Quellen war die Johannestaufe der öffentliche Vollzug der Umkehr. Ein Sündenbekenntnis demonstrierte vorher Umkehrbereitschaft. Die Taufe war das Angebot Gottes, angesichts des unmittelbar bevorstehenden Gerichts doch noch einen Zugang zum Heil zu ermöglichen, auch wenn die umkehrenden Menschen in der kurzen Zeit bis zum Ende keine Chance hatten, ihre Umkehr durch Taten zu beweisen. Als Ersatz für diese Taten war die Taufe als Antwort Gottes auf das Sündenbekenntnis ein Zeichen der Gnade. Schon mit dem Täufer begann somit die Relativierung der „Werke des Gesetzes“, die Paulus später ins Zentrum stellte. Josephus betont freilich, dass die Taufe nicht der Vergebung von Sünden diente, sondern nur der Reinigung des Körpers, da sich die Seele schon vorher durch gerechtes Handeln gereinigt habe. Josephus sieht als gebildeter Angehöriger einer Priesterfamilie (Vita 1–6) in der Vergebung moralischer Verfehlungen die Wende zum Heil, in der Wassertaufe nur die Beseitigung kultischer Unreinheit und stimmt darin wohl mit dem Täufer überein, der ebenfalls von Priestern abstammte. Josephus weist auf jeden Fall eine magische Deutung der Taufe zurück. Die Wassertaufe gleicht bei ihm einem jüdischen Tauchbad. Unerklärt bleibt bei ihm deshalb, was die Johannestaufe von diesen Tauchbädern unterscheidet, nämlich die Einmaligkeit ihres Vollzugs und die Mittlerfunktion des Johannes, die ihm den Beinamen „der Täufer“ eingebracht hat. Die sündenvergebende Kraft der Wassertaufe (vgl. Mk 1,4; Lk 3,3) war nicht nur für Josephus ein Problem. Das MtEv lässt die Formel „zur Vergebung der Sünden“ (eis aphesin hamartiōn) bei der Johannestaufe weg und bringt sie anstatt dessen beim Abendmahl, um die Wirkung des Todes Jesu zu beschreiben (Mt 26,28). Das JohEv schreibt die Überwindung der Sünden ebenfalls dem Tod Jesus zu, wenn der Täufer sagt, Jesus sei das Lamm Gottes, das die Sünden der Welt trägt (Joh 1,29). Aber gerade diese Relativierung der Johannestaufe in christlichen Traditionen macht wahrscheinlich, dass Johannes mit seiner Taufe eine sündenvergebende Wirkung verbunden hat, die in späteren urchristlichen Texten auf den Tod Jesu übertragen wurde. Das Verhältnis der Johannestaufe zur Geisttaufe (Mk) bzw. zur Geist- und Feuertaufe (Q) wird verschieden gedeutet. Ȥ Vielleicht hat der Täufer nur eine Feuertaufe als Gericht ankündigte. Wasser- und Feuertaufe wären antithetisch aufeinander bezogen, erstere rettet vor letzterer.23 Die Verheißung der Geisttaufe wäre dem Täufer nachträglich von Christen in den Mund gelegt worden, um die Überlegenheit der christlichen Taufe zu zeigen. Diese Erwartung würde zu der paradoxen Schlussfolgerung führen, dass die Wassertaufe der Feuertaufe des Stärkeren überlegen wäre, da diese vernichtet, die Wassertaufe aber rettet! Ȥ Vielleicht hat Mk die älteste Form erhalten? Der Täufer kündigt im MkEv eine zukünftige Taufe mit dem heiligem Geist an und knüpft dabei an prophetische Ankündigungen an, die für die Heilszeit
23 J.Becker, Johannes*, 1972, 17 ff.
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die Ausgießung des Geistes verhießen (Ez 36,26f; Joel 3,1–5; Jub 1,23; 1QS IV,21). Die Wassertaufe symbolisiert und antizipiert das, was die Geisttaufe einlöst.24
Vielleicht hat aber Q die Predigt des Täufers bewahrt, wenn er eine Taufe mit heiligem Geist und Feuer ankündigt, die Rettung und Gericht nebeneinander stellt. Das entspricht den Bildern vom Einbringen der Frucht und Verbrennen der Spreu.25 Entsprechend dieser Gerichts- und Heilsansage des Täufers soll der Stärkere beides einlösen: ein Vernichtungsgericht durch Feuer und Rettung durch den Geist. Die Taufe dient zur „Vergebung der Sünden“, stellt also einen durch Sünde bedrohten Status wieder her. Im Unterschied zu anderen Reinigungsritualen ist sie einmalig. Auch ist der Täufer notwendig, um die Getauften mit Wasser zu besprengen. Dass die Taufe des Johannes nicht selbst vollzogen werden kann, enthält eine wichtige Botschaft. Eine Besprengung durch einen anderen finden wir auch bei der Einsetzung von Priestern und Leviten. Mose erhält den Auftrag: „Du sollst Aaron und seine Söhne vor die Tür der Stiftshütte treten lassen und sie mit Wasser waschen“ (Ex 29,4). Danach werden sie mit einem neuen Gewand gekleidet und gesalbt (Ex 29,5–9). Auch die Levitenweihe vermittelt durch Besprengung Befreiung von Sünden: „Du sollst Wasser zur Entsündigung auf sie sprengen“ (Num 8,7). Hier bedeutete die „Taufe“ durch einen anderen Menschen verbunden mit einer Befreiung von Sünden die Verleihung eines neuen Status. Dem von Priestern abstammenden Täufer war diese Symbolsprache vertraut. Er machte ein sonst nur Priester und Leviten auszeichnendes Ritual durch seine Taufe allen im Volk zugänglich, so wie die Pharisäer die Heiligkeit des Tempels in alle Häuser verbreiten wollten. Zwar verunsicherte der Täufer alle durch die These, dass sich niemand auf seinen Status als „Kind Abrahams“ verlassen soll, sicherte ihnen aber umso mehr Gottes Gnade zu: Wenn Gott aus Steinen dem Abraham Kinder schaffen kann (Mt 3,9), kann er erst recht durch die Taufe ihren Status als Kinder Abrahams erneuern. Zwischen Männern und Frauen machte der Täufer dabei keinen Unterschied, er sprach auch „Zöllner und Prostituierte“ an, auch sie glaubten dem Täufer (Mt 21,31). Wichtig ist: Wenn später erzählt wurde, dass Jesus bei der Taufe den Status eines „Sohnes Gottes“ erhielt, so entsprach das der allgemeinen Ritualsymbolik, nur dass der Jesus verliehene Status über menschliche Dimensionen hinaus gesteigert wurde. 4.5 Das christliche Bild des Täufers und das Selbstverständnis des Johannes
Wie verstand sich der Täufer selbst? Wie haben andere ihn verstanden? Josephus lässt erkennen, dass ihn seine jüdischen Zeitgenossen für einen Gesandten Gottes hielten, dessen Hinrichtung Gott rächte, als er das Heer des Antipas vernichtete, der ihn hatte hinrichten lassen. Zum Selbstverständnis des Täufers macht er keine Aussage. Es lässt sich nur aus urchristlichen Quellen erschließen, auch dadurch, dass wir Züge abziehen, die den Täufer Christus demonstrativ unterordnen. 24 J.P.Meier, Jew 2* 1994, 35–40.81–84. 25 z. B. J.Gnilka, Jesus von Nazareth, 1990, 81.
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Am stärksten wird der Täufer im JohEv christlich vereinnahmt. Er lehnt für sich alle Titel ab, selbst den des Propheten (l,19–23), und beschränkt seine Tauftätigkeit darauf, dass er Jesus offenbart und als Geisttäufer identifiziert (1,33). Nicht einmal, dass er Jesus getauft hat, wird erzählt. Er ist nur der Zeuge Jesu (Joh l,6–8.15.29–34). Die Kontrastierung von Jesus und Johannes (Joh 3,30; 10,41 u.ö.) spiegelt die Konkurrenz von Christus- und Täuferanhängern. Wahrscheinlich hat sich Johannes der Täufer nie zu Jesus bekannt. In der Täuferfrage (QLk 7,18–23) äußert er sich skeptisch zu Jesus. Er habe sich im Gefängnis gefragt, ob Jesus „der Kommende“ sei. Dafür, dass diese Täuferfrage keine unhistorische christliche Überlieferung ist, spricht der zweifelnde Charakter der Frage und die indirekte Antwort Jesu durch einen Makarismus, der minimalistisch ist: „Selig ist, wer nicht an mir Anstoß nimmt“, aber auch, dass keine positive Reaktion des Johannes berichtet wird – all das passt besser in die Situation vor Ostern als in die Zeit danach.26 Das Selbstverständnis des Johannes wird sichtbar, wenn man spezifisch christliche Elemente weglässt, die seine Darstellung in den Evangelien bestimmen: a) Die Synoptiker stellen Johannes als prophetischen Vorläufer und Wegbereiter Jesu dar: Er ist der von Gott gesandte Bote, der den Weg des Herrn (κύριος = Jesus) in der Wüste bereitet. Entsprechende Schriftzitate Ex 23,20; Mal 3,1; Jes 40,3 werden auf den Täufer bezogen. b) Die Vorläuferfunktion des Täufers wird durch die Elia-Typologie gedeutet. Im MkEv begegnet sie im Munde Jesu (Mk 9,13). Mt 11,14 begegnet sie als Aussage des Erzählers, in Mt 17,13 als Überzeugung der Jünger. Lk streicht diese Stellen, bietet aber in der Vorgeschichte im Mund des Engels und des Zacharias eindeutige Bezüge auf Mal 3,1.23; Jes 40,3 (Lk 1,17.76). c) Eine Parallelisierung von Johannes und Jesus wird in verschiedener Weise durchgeführt: Der MtEvangelist legt dem Täufer und Jesus eine z. T. wörtlich gleiche Lehre in den Mund (Mt 3,2/4,17; 3,10/7,19; 12,33f). Das MkEv deutet den Tod des Täufers wie den Tod Jesu als in der Schrift geweissagte göttliche Notwendigkeit (Mk 9,9–13). Das LkEv parallelisiert die Geburtsgeschichten.
Trotz dieser vom urchristlichen Glauben bestimmten Sicht des Täufers, dürften in ihr Erinnerungsspuren des Täufers erhalten sein. Was die Schriftzitate angeht, so ist vorstellbar, dass schon der Täufer selbst Jes 40,3 auf seine Sendung bezogen hat. Dieser Text wurde auch in den Schriften der Gemeinde von Qumran (1QS VIII,13f; IX,19f) als Auftrag für die Endzeit verstanden, Gottes Kommen in der Wüste vorzubereiten. Auch die Elia-Typologie hat einen Anhalt beim historischen Täufer: Dass Johannes ein prophetisches Selbstverständnis hatte, ist unbestreitbar.27 Da er sich für den letzten Propheten vor dem Endgericht hielt, könnte er sich für den in Mal 3,1.23f angekündigten Elia redivivus gehalten haben. Die Parallelisierung von Vorläufer und Christus ist eine rückblickende Schöpfung der Evangelisten. Doch auch dafür gab es historische Anhaltspunkte: Es gab Übereinstimmungen in der Lehre zwischen dem Täufer und Jesus, vergleichbar war ihr Jüngerkreis und ihr Anhang im Volk, vergleichbar ihr Konflikt mit den Herrschenden und ihr Ende. 26 Vgl. die Argumente für die Authentizität bei J.P.Meier, Jew*, 2, 1994,121–137.198–204. 27 M.Tilly, Johannes*, 1994, stellt alles zusammen, was Johannes auf dem Hintergrund des damaligen Prophetenbildes als typischen Propheten erweist.
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Der Prozess, in dem aus einem ursprünglichen Schülerverhältnis zwischen Johannes und Jesus ein Verhältnis von Vorläufer und Messias wurde, begann wohl schon zu Jesu Lebzeiten. Damit beschäftigen wir uns ausführlich in § 9.
5. Zusammenfassung und hermeneutische Reflexion Der Täufer war eine Wende in der jüdischen Geschichte der hellenistisch-römischen Zeit. Herausgefordert durch die politisch dominierenden Griechen und Römer waren mehrere Erneuerungsbewegungen im Judentum entstanden. Einige wehrten sich militärisch gegen die fremden Herrscher und hatten wie die Makkabäer zeitweilig Erfolg. Im 1. Jh. n. Chr. leitete Johannes der Täufer nach zwei gescheiterten militärischen Widerstandsbewegungen eine Wende ein, ohne die Jesu Wirken nicht verstanden werden kann. Johannes wurde mit traditionellen messianischen Hoffnungen konfrontiert, dass der Messias die Heiden besiegen sollte, aber lenkte sie auf einen nach ihm kommenden Stärkeren um. Die in solchen messianischen Hoffnungen zum Ausdruck kommende Aggression nach außen verwandelte er in einen Ruf zur Umkehr um, d. h. in moralische Aggression gegen sich selbst. Er forderte die Bereitschaft zum öffentlichen Bekennen der Sünden und zur Erneuerung des Lebens. Die Kraft dazu gab ihm die Überzeugung eines eschatologischen Wandels der Welt. In Übereinstimmung damit sollten sich die Menschen ändern. Gott werde durch ein Gericht hindurch einen Neuanfang für Israel schaffen. Der Täufer reiht sich dadurch in die Reihe der Propheten, die angesichts von Krisen zu einem Neuanfang motivierten. Ebenso einmalig sollte das Ritual sein, das diesen Wandel symbolisiert: In einer Zeit, in der wiederholte Reinigungsbäder zunahmen und alles Fremde als unrein abgewehrt wurde, warb der Täufer im Gegenzug für eine einmalige Taufe. Negativ bestand sie in der Trennung vom alten Leben und der Vergebung der Sünden, positiv im Geschenk eines neuen Status vor Gott. Der Gott, der aus Steinen Kinder schaffen konnte, versprach den umkehrenden Menschen, dass sie definitiv „Kinder Gottes“ werden, wenn sie sich taufen ließen. Mit der Taufe versprachen sie, die Gebote Gottes zu halten, die der Täufer in zwei Forderungen zusammenfasste: Gerechtigkeit gegenüber Menschen und Frömmigkeit gegenüber Gott. Dahinter steht möglicherweise schon das Doppelgebot der Liebe. Johannes leitete darüber hinaus seine Schüler zum Beten, Fasten und Teilen an. Er scheiterte an politischen Konflikten, die sein Landesherr durch seine Ehepolitik verursacht hatte. Dessen Herrschaft war labil geworden, weil eine Weissagung kursierte, er werde kürzer als sein Vater regieren. In derselben Zeit kritisierte der Täufer seine Ehepolitik. Durch diese Ehepolitik hatte sich Antipas die Nabatäer zu Feinden gemacht. Von außen von seinen Nachbarn bedroht, von innen durch einen populären Propheten kritisiert, ließ Herodes Antipas Johannes hinrichten. Unsere Analyse der Überlieferungen vom Täufer zeigt, dass wir verschiedene Erinnerungsbilder an den Täufer bei Josephus und im Neuen Testament durch Vergleich kritisch hinterfragen und durch deren Kombination historisch Zusammenhänge entdecken können, die so in keiner Erinnerung enthalten sind, aber aus ihnen erschlossen werden können. Auch eine Analyse der Jesusüberlieferungen muss beides verbinden: Erinnerung und Rekonstruktion.
Dritter Teil: Das Wirken und die Verkündigung Jesu
§ 9 Jesus als Charismatiker: Seine sozialen Beziehungen
M.J.Borg, Conflict, Holiness and Politics in the Teaching of Jesus, 1984; G.Bornkamm, Jesus von Nazareth, 1956, 141987; M.N.Ebertz, Das Charisma des Gekreuzigten, 1987; M.Hengel, Nachfolge und Charisma, 1968; W.Lipp, Stigma und Charisma, 1985; H.Mödritzer, Stigma und Charisma im Neuen Testament und seiner Umwelt. Zur Soziologie des Urchristentums, 1994; R.Otto, Reich Gottes und Menschensohn, 21934; G.Theißen, Wanderradikalismus. Literatursoziologische Aspekte der Überlieferung von Worten Jesu im Urchristentum, ZThK 70 (1973) 245–271.
Die Frage „Wer war Jesus?“ wurde in der Forschung oft als Frage nach Jesu Selbstbewusstsein gestellt. Verstand er sich als Messias, Menschensohn, Sohn Gottes? Genauso wichtig ist es, seine Autorität sachlich zu beschreiben. Dafür bot sich der Begriff „Charisma“ an, der in der Wissenschaft ein verbreiteter Begriff für eine außergewöhnliche persönliche Begabung ist. Er bedeutet „Gnadengabe“, stammt aus dem NT1 und entspricht den Aussagen über Jesus „Vollmacht“ (exousia), die sich in Lehre und Wundern zeigt (Mk 1,22). Charisma kann man definieren als irrationale Ausstrahlungskraft auf andere Personen, abhängig von Erwartungen und Zustimmung anderer. Es entfaltet sich in Interaktionen, bei Jesus in Beziehungen zu seiner Familie, seinem Lehrer, seinen Jüngern und Jüngerinnen, zur Volksmenge und zu seinen Gegnern. Sein Grund und Ursprung gelten im NT als transzendent. Charisma ist eine Gabe Gottes.
1. Phasen der Forschungsgeschichte Der Begriff „Charisma“ diente Max Weber in der Wissenschaft dazu, charismatische, traditionale und rational-legale Herrschaft zu unterscheiden. Sein Verständnis von Charisma war durch Jesus und das Urchristentum bestimmt: Charisma soll eine als außeralltäglich … geltende Qualität einer Persönlichkeit heißen, um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen, nicht jedem andern zugänglichen Kräften oder Eigenschaften [begabt] oder als gottgesandt oder als vorbildlich und deshalb als „Führer“ gewertet wird. … für alle genuin charismatische Herrschaft (gilt) der Satz: „es steht geschrieben, – ich aber sage euch.“2 1 2
Das Wort „Charisma“ findet sich nur in der Briefliteratur, bei Paulus als Bezeichnung für die übernatürliche Kompetenz von Menschen in Prophetie, Wundermacht und Lehre (Röm 12,6; 1Kor 12,30). M.Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 51972, 140–148, Zitat S. 140 f.
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Dritter Teil: Das Wirken und die Verkündigung Jesu
1.1 Jesus als Charismatiker in religionsphänomenologischer Sicht
Als Anfang des 20. Jhs. Zweifel am messianischen Selbstbewusstsein Jesu aufkamen, deutete R. Otto das Geheimnis seiner Person 1917 als „das Heilige in Erscheinung“, 1934 als Präsenz des Gottesreichs in Jesus: Jesus war für ihn der „Urcharismatiker“.3 1.2 Charisma als „implizite Christologie“ in der Kerygmatheologie
Anders argumentierte R.Bultmann. Für ihn war nicht das, was Jesus gesagt und getan hat, für den christlichen Glauben entscheidend, sondern was Gott als seine Botschaft, sein Kerygma, in Kreuz und Auferstehung allen Menschen sagen will. Alle Hoheitstitel seien in diesem Geschehen begründet. Jedoch habe schon der historische Jesus ein Vollmachts bewusstsein als „implizite Christologie“ ohne Titel gehabt.4 Bei seinen Schülern trat die Frage nach ihm ins Zentrum. Sie bestimmten die Vollmacht Jesu aber nicht durch religionsphänomenologische Kategorien wie „Charisma“, sondern durch seine Singularität im Judentum. G.Bornkamm bestimmte sie in: Jesus von Nazareth. 1956, als „Unmittelbarkeit“, die er durch drei Kontraste mit dem Judentum beschrieb:5 a) In seinem Geschichtsverständnis blicke das Judentum auf eine Vergangenheit zurück, in der Gott gehandelt habe, und erwarte ein neues Handeln Gottes in der Endzeit. Es lebe in einer „Welt zwischen Vergangenheit und Zukunft“ (S. 50). Bei Jesus werde Gott wieder unmittelbar wirksam, die Endzeit beginnt schon jetzt. b) Die Autorität Jesu war anders als die der jüdischen Schriftgelehrten, die ihre Lehre auf die Schrift stützten. „Jesu Lehre dagegen ist niemals nur Auslegung eines autoritativ vorgegebenen heiligen Textes … Diese Unmittelbarkeit, mit der er lehrt, hat im zeitgenössischen Judentum keine Entsprechung.“ (S. 51f) c) Im Gesetzesverständnis legten die Rabbinen einen „Zaun um die Thora“, um sie durch kasuistische Einzelbestimmungen zu schützen. Das Gesetz erhielt ein Eigengewicht. „Anstatt die Begegnung mit Gott zu bewirken, droht es sie zu vereiteln.“ (S. 92) Jesus spreche dagegen von Gottes Willen in unmittelbar evidenten Mahnsprüchen.
G.Bornkamm hat richtig gesehen: Charisma zeichnet sich dadurch aus, dass es ohne Autoritäten, Institutionen und Traditionen unmittelbar Einfluss ausübt. Die Kontrastierung mit dem Judentum relativierte er später, als er in weisheitlichen Traditionen des Judentums eine Präsenz Gottes in Schöpfung, Tempel und Thora entdeckte.6 3 4 5 6
R.Otto, Das Heilige, 1917, 183f; ders., Reich Gottes*, 1934, 296. R.Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, 1953, 46: „Jesu Entscheidungsruf impliziert eine Christologie“. Vgl. G.Theißen, Neutestamentliche Wissenschaft vor und nach 1945. Karl Georg Kuhn und Günther Bornkamm, 2009, 176–191. G.Bornkamm, Wandlungen im alt- und neutestamentlichen Gesetzesverständnis, in: ders., Studien zum Neuen Testament, 1985, 25–71.
Jesus als Charismatiker: Seine sozialen Beziehungen
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1.3 Charisma als soziale Ausstrahlung in der „third quest“
Nach Zurücktreten der Kerygmatheologie Ende der 60er Jahre kehrte in der sozialgeschichtlichen Forschung die Kategorie des Charismas in die Jesusforschung zurück. Das Charisma Jesu zeigt sich zunächst in Jesu Beziehung zu seinen Jüngern. M.Hengel machte in: Nachfolge und Charisma, 1968, klar, dass Jesu Vollmacht elementare Normen wie die Pietät seiner Jünger gegenüber dem verstorbenen Vater verletzte (Mt 8,21f). G.Theißen deutete in: Wanderradikalismus*, 1973, Jesus als „Wandercharismatiker“, der mit seinen Jüngern einen abweichenden Lebensstil der Heimatlosigkeit praktizierte und von ortsfesten Sympathisantengruppen unterstützt wurde. Das Charisma Jesu zeigt sich ferner in seinen Wundern. Der jüdische Historiker G.Vermes ordnete ihn in: Jesus the Jew, 1973, als Wunderheiler in ein charismatisches Milieu ein, zu dem im 1. Jh. n. Chr. auch der Galiläer Hanina ben Dosa gehörte, der wie Jesus Wundertat und Weisheitslehre verband. Von ihm und Jesus sind keine Gesetzesauslegungen überliefert. Während die Wunderüberlieferung kerygmatisch meist als Aufforderung zum Glauben an Jesus gedeutet wurde, interpretierte sie G.Theißen in: Urchristliche Wundergeschichten, 1974, auch als Auseinandersetzung mit konkretem Leid. P.F.Craffert, The Life of a Galilean Shaman. Jesus of Nazareth in Anthropological Historical Perspective, 2008, deutete Jesu Charisma kulturanthropologisch als Heilkraft in einer vormedizinischen Kultur. Ein drittes Thema war die Verbindung von Charisma und Konflikt. M.N.Ebertz, Das Charisma des Gekreuzigten, 1987, zeigte: Charisma entsteht durch Selbststigmatisierung in Konflikten: Durch demonstrative Übernahme verachteter Außenseiterrollen werden neue Werte und Lebensorientierungen in einer Gesellschaft durchgesetzt. Während Ebertz Jesus vor allem mit seiner Umwelt kontrastierte, wies H.Mödritzer in: Stigma und Charisma im Neuen Testament und seiner Umwelt, 1994, Übereinstimmungen mit der Märtyrertheologie im Judentum, bei Johannes dem Täufers, bei Paulus und Ignatius nach. Jesus habe in solchen Traditionen seinen Tod bewusst riskiert. Die sozialgeschichtlich motivierte Frage nach dem historischen Jesus deutete sein Auftreten im Rahmen der Konflikte Palästinas, arbeitete aber heraus: Jesus trat in einer krisengeschüttelten Zeit auf, aber in einer Zwischenphase, als die Konflikte zurücktraten und es eine Chance gab, sie gewaltfrei und nur symbolpolitisch auszutragen.7 1.4 Charisma als Ursprung der Erinnerungsbilder von Jesus
Nach dem erinnerungshistorischen Ansatz lebt Jesus in den Erinnerungsbildern seiner Anhängerinnen und Anhänger weiter. Charisma ist eine Kraft, Erinnerungen hervorzurufen. Wir erfassen Jesus nie „an sich“, sondern immer nur so, wie er sich anderen Menschen eingeprägt hat. Aber auch solche Erinnerungen ermöglichen einen Zugang zur Geschichte: Wenn Jesus als Prediger beeindruckte, geschah das aufgrund derselben Strukturen, durch die sich Über7
G.Theißen, Jesus und die symbolpolitischen Konflikte seiner Zeit. Sozialgeschichtliche Aspekte der Jesusforschung (1997), in: Jesus als historische Gestalt, 2003, 169–193.
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lieferungen von ihm später einprägten. Schon Jesus hat durch Bruch mit dem Normalen Aufmerksamkeit erregt und durch Übereinstimmung mit den Überzeugungen seiner Adressaten Zustimmung gefunden. Er musste nie den Begriff „Gottesherrschaft“ erklären. Der Glaube daran, dass sich Gott in dieser Welt durchsetzen wird, war unter Juden Konsens. Aufmerksamkeit erregte sein Anspruch, dass sich die Gottesherrschaft schon jetzt in Exorzismen durchsetzt. Den Einwand, dass in ihnen nicht Gott, sondern der Satan am Werk sei, interpretierte Jesus um: Wenn Satan den Satan bekämpft, ist seine Macht gebrochen (Mk 3,22–27). Neu und anstößig war auch, dass Zöllner und Sünder dem Reich Gott näher stehen als die Frommen (Mt 21,31; Lk 18,14). Den Einwand, dass Gott damit Gesetzesbrüche akzeptiert, fing Jesus dadurch auf, dass er darin die Zuwendung Gottes zum Verlorenen entdeckte (Lk 15,7.10.32; 19,10). Solche Paradoxien und Provokationen weckten Aufmerksamkeit und entsprachen zugleich der allgemeinen Grundüberzeugung, dass sich Gott in seiner Herrschaft durchsetzen wird. Charakteristisch für Charismatiker ist: Sie haben eine ambivalente Wirkung. Auch Jesus faszinierte und provozierte, fand Zustimmung und Widerspruch.
2. Die Quellen: Die Apophthegmen Von Jesu Charisma als einer Ausstrahlungskraft, die Anhänger überzeugt und Gegner provoziert, zeugen vor allem die Apophthegmen8. Als „Schulgespräche“ formulieren sie Konsens, als „Streitgespräche“ tragen sie Konflikte aus. Manche Gesprächspartner Jesu wurden möglicherweise erst sekundär als „Pharisäer“ oder „Schriftgelehrte“ konkretisiert, manche Situationen sind „ideale Szenen“ des allgemeinen semantischen Gedächtnisses. Hin und wieder werden Debatten aus der nachösterlichen Zeit ins Leben Jesu zurückprojiziert, wenn z. B. nicht Jesus, sondern seine Jünger kritisiert werden (Mk 2,18–28; 7,1–15). Dafür, dass Apophthegmen dennoch Erinnerungsspuren an Jesu enthalten, spricht ihre Form, die vorher nicht im Judentum belegt ist. Die nächsten Analogien sind hellenistische Apophthegmen oder Chrien, wie sie später im rabbinischen Schrifttum und in den patristischen Apophthegmata Patrum begegnen.9 Wahrscheinlich hat Jesu Auftreten dazu beigetragen, dass sie sich im Judentum verbreiteten. Sie bilden im ältesten Evangelium drei Zyklen: in Galiläa (Mk 2,1–3,6), auf dem Weg nach Jerusalem (10,1–45) und in Jerusalem (12,1–44). Im ersten Zyklus veranschaulicht Jesus seine Vollmacht mit allgemeinen Bildern vom Arzt (2,17), Bräutigam (2,19) und Menschensohn, der für jeden Menschen steht (2,27f). Obwohl sie die Autorität Jesu zeigen sollen, wird dafür nicht die nachösterliche Christologie wie z. B. der Sohn-Gottes-Titel aktiviert.
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Apophthegma (synonym: Chrie) bedeutet wörtlich „Ausspruch“ und bezeichnet eine kurze Erzählung, deren Höhepunkt durch ein Jesuswort geformt wird. Subkategorien sind (nach R. Bultmann) Schulgespräche, Streitgespräche und biographische Apophthegmen, die eine Situation im Leben Jesu deuten. C.Hezser, Die Verwendung der hellenistischen Gattung Chrie im frühen Christentum und Judentum, JSJ 27 (1996) 371–439.
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In den Streit- und Schulgesprächen auf dem Weg nach Jerusalem fällt der freie Umgang mit der Schrift auf. Die Ehescheidungsperikope (Mk 10,2–12) spielt zwei Bibelstellen gegeneinander aus, um für die Unauflöslichkeit der Ehe zu argumentieren: die Erlaubnis zur Ehescheidung in Dtn 24,1–4 und den Schöpfungsbericht. Die Geschichte vom reichen jungen Mann überbietet Dekaloggebote der Schrift. Jesus lehnt es in ihr ab, „gut“ genannt zu werden (Mk 10,18). Diese Verbindung der Relativierung seiner Person mit einer Radikalisierung der Gebote ist nicht sekundär erdichtet. Die Jerusalemer Streitgesprächen fallen durch ihre theozentrische Konzentration auf: Die Steuerforderung des Kaisers wird mit dem Anspruch Gottes auf den Menschen kontrastiert (Mk 12,3–17), die Auferstehungshoffnung im Glauben an den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs begründet, nicht in der Auferstehung Jesu (12,18–27). Das höchste Gebot wird in der Überordnung von Gottes- und Nächstenliebe über den Kult gesehen (12,28–34). Hier wird nichts gesagt, was nicht im Judentum akzeptiert werden konnte.
Die Apophthegmen sagen etwas über fünf Beziehungen des historischen Jesus, die im Folgenden untersucht werden. 1. Die Beziehung zu seiner Familie: Die Verwandten Jesu und die familia dei (Mk 3,20 f.31–35 par) Die Verwerfung in Nazareth (Mk 6,1–6 par) Die Seligpreisung der Mutter Jesu (Lk 11,27f) 2. Die Beziehung zu Johannes dem Täufer: Die Täuferfrage (Mt 11,2–6 par) Jesus über den Täufer (Mt 11,7–15 par) Die launischen Kinder (Mt 11,16–19 par) Die Vollmachtsfrage (Mk 11,27–33 par) 3. Die Beziehung zu seinen Jüngerinnen und Jüngern und ortsfesten Anhängern: Die Berufungsgeschichten (Mk 1,16–20; 2,14 par) Die missglückte Berufung des Reichen (Mk 10,17–27 par) Die Aussendung der Jünger (Mk 6,7–13 par) Das Messiasbekenntnis des Petrus (Mk 8,27–33 par) Das Zebedaidengespräch (Mk 10,35–45 par) 4. Traditionen über die familia dei: Die Beziehungen zu Frauen in seinem Umkreis Die Salbung von Bethanien (Mk 14,3–9 par) Maria und Martha (Lk 10,38–42) Die Nachfolgerinnen Jesu (Lk 8,1–3; Mk 15,40f: summarische Notizen) Die Salbung durch eine Frau im Haus des Simon (Lk 7,36–50) 5. Die Beziehung Jesu zu seinen Diskussionspartnern: Pharisäer (Mk 2,23–3,6; 7,1–15; 10,2–9; 12,13–17 par) Sadduzäer (Mk 12,18–27 par) Schriftgelehrte (Mk 12,28–34.35–37.38–40 par) Herodianer (Mk 3,1–6; 12,13–17)
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3. Jesus und seine Familie Charismatiker geraten oft mit ihrer Familie in Konflikt. Nach Mk 3,20 f.31–35 hielt seine Familie Jesus für verrückt, nach Joh 7,5 glaubten seine Brüder nicht an ihn. Dennoch gehörte seine Mutter später zur christlichen Gemeinde (Apg 1,14), sein Bruder Jakobus wurde in den 40er Jahren Leiter der Jerusalemer Gemeinde. Weitere Brüder Jesu waren Christusanhänger (Apg 1,14; 1Kor 9,5). Über die religiöse Prägung seiner Familie wissen wir wenig. Die Namen stammen aus der biblischen Geschichte: Josef, Maria, Jakob, Joses, Juda, Simon (Mk 6,3), Jesus ist eine andere Form für Josua. Eine Nähe zum Pharisäertum ist möglich. Der Herrenbruder Jakobus hat später unter Gesetzesstrengen so viel Ansehen, dass sie gegen seine Hinrichtung durch einen sadduzäischen Hohepriester protestieren (Ant 20,200). 3.1 Jesus – ein uneheliches Kind?
Dass Jesus ein uneheliches Kind war, wurde vom Frühsozialisten Wilhelm Weitling (1808– 1871), der selbst ein uneheliches Kind war, in: Das Evangelium des armen Sünders, 1843, vertreten. Nach den Kindheitsgeschichten im MtEv und LkEv war Maria schon bei ihrer Verlobung mit Josef schwanger. Da dieses Motiv in parallelen antiken Überlieferungen zur Zeugung eines Menschen durch eine Gottheit, also bei Romulus, Alexander, Caesar, Plato u. a. fehlt, ist es möglich, dass die voreheliche Schwangerschaft Marias eine historische Erinnerungsspur ist.10 Manche finden in ihr sogar den Schlüssel für Jesu Wirken: Jesus habe als vaterloses Kind das Stigma bewältigen müssen, keinen Vater auf Erden zu haben, habe aber dafür im Himmel einen Ersatz in Gott als Vater gefunden.11 In Joh 6,42 gilt freilich Jesu Abstammung von Josef als selbstverständlich: „Ist dieser nicht Jesus, Josefs Sohn, dessen Vater und Mutter wir kennen?“ Nur eine öffentlich bekannte uneheliche Geburt könnte ein soziales Stigma sein. Wahrscheinlich war Josef tatsächlich sein Vater, die voreheliche Schwangerschaft aber kam erst als Legende auf, als der Glaube an eine Jungfrauengeburt aufgrund von Jes 7,14 entstanden war12 und Josef daher nicht mehr sein Vater sein durfte. Dass Josef im MtEv an der Schwangerschaft Marias Anstoß nimmt, bringt eine im Judentum verwurzelte Abscheu gegenüber der Zeugung von Menschen durch göttliche Wesen zum Ausdruck. Nach Gen 6 sind Engel, die mit Menschenfrauen Kinder zeugten, Ursache des Unheils auf Erden. Das für Heiden offene Lk-Evangelium sieht dagegen in der Geistzeugung Jesu kein Problem. Doch steht sie auch im LkEv in Spannung zur Abstammung
10 U.Luz, Die Geburtsgeschichten Jesu und die Geschichte, in: P.v.Gemünden u. a. (Hg.), Jesus. Gestalt und Gestaltungen. Rezeptionen des Galiläers in Wissenschaft, Kirche und Gesellschaft, 2013, 169–191. 11 So J.Schaberg, The Illegitimacy of Jesus. A Feminist Theological Interpretation of the Infancy Narratives, 1995; expanded 2006; A.van Aarde, Jesus as Fatherless Child, in: W.Stegemann u. a., The Social Setting of Jesus and the Gospels, 2002, 65–84. 12 „Siehe, eine Jungfrau ist schwanger und wird einen Sohn gebären, den wird sie nennen Immanuel“ (Jes 7,14 vgl. Mt 1,23).
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aus dem Haus Davids. Daher betont es, dass Jesus nicht der Sohn Josefs war, sondern nur als dessen Sohn galt (Lk 3,23).13 3.2 Jesus – ein Davidsohn?
Verdankt Jesus sein Charisma vielleicht auch einer Abstammung von David? Paulus zitiert in Röm 1,3f nämlich eine alte Formel, nach der Jesus von David abstammt. Da Paulus Mitglieder der Familie Jesu kennen gelernt hat (Gal 1,19), könnte er von ihnen erfahren haben, dass sie sich auf David zurückführten. Da die Verwandtschaft mit einem „Messias“ eine Familie in Schwierigkeiten bringen konnte, hätten sie ein Motiv gehabt, diese Verwandtschaft zu verschweigen. Nachfahren Jesu wurden durch Vespasian, Domitian und Trajan als Angehörige der Davidsfamilie verhört (Eus h.e. 3,12.20.32). Vielleicht wird deshalb im NT die Davidsohnschaft Jesu manchmal geleugnet. Nach Mk 12,35–37 konnte der Messias unmöglich Davids Sohn sein, weil David ihn in Ps 110,1 seinen „Herrn“ nennt. Einige im Volk argumentierten, der Messias müsse Nachkomme Davids sein und aus Bethlehem stammen. Beides treffe auf Jesus nicht zu (Joh 7,42). Daher gibt es auf der einen Seite einen kritischen Konsens, die Davidssohnschaft Jesu sei aufgrund des Glaubens an die Messianität Jesu postuliert worden.14 Andererseits bleibt ein Problem: Wie konnte die Familie in den ersten Generationen nach Jesus ein davidisches Selbstbewusstsein entwickeln? Deswegen müssen wir damit rechnen, dass die Familie Jesu überzeugt war, von David abzustammen, aber dies nicht propagiert hat, solange andere Herrscher regierten. Das Charisma Jesu wäre dann (auch) ein „Gentilcharisma“, das er seiner Abstammung verdankte.15 3.3 Jesus – Schüler und Bauarbeiter?
Über die Ausbildung Jesu sind nur Vermutungen möglich. Als er in der Synagoge seines Heimatortes lehrt, können sich die Dorfbewohner nicht erklären, woher er seine „Weisheit“ hat, ist er doch nur ein Bauhandwerker, ein tektōn (Mk 6,2f). Wenn ihn Mt 13,55 „Sohn eines Bauhandwerkers“ nennt, wird das zutreffen: Handwerksberufe vererben sich in der Familie. Als Handwerker hat Jesus vielleicht im nur 6 km entfernten Sepphoris gearbeitet, das in den Jahren nach seiner Zerstörung ca. 4 v. Chr. wiederaufgebaut wurde. Auch wird er schon als Handwerker eine Wanderexistenz geführt und Kontakte in Galiläa besessen
13 In der Zeit des Nationalsozialismus schrieben „Deutsche Christen“ Jesus eine nicht-jüdische („arische“) Herkunft zu. So u. a. W. Grundmann in: Jesus der Galiläer und das Judentum 1940. C. Schneider (1900– 1977) deutete 1940 das ganze „Frühchristentum als antisemitische Bewegung“. Vgl. A.B.Merz, Philhellenismus und Antisemitismus. Zwei Seiten einer Medaille in den akademischen Publikationen von Carl Schneider, Kirchliche Zeitgeschichte 17 (2004), 314–330. 14 Vgl. C.Burger, Jesus als Davidssohn, 1970. 15 H.G.Kippenberg, Das Gentilcharisma der Davididen in der jüdischen und gnostischen Religionsgeschichte Palästinas, in: J.Taubes (Hg.), Religionstheorie und Politische Theologie 3: Theokratie, 1987, 127–147.
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haben, die später seine Wanderexistenz erleichterten.16 Vielleicht kannte er einige seiner Jünger schon aus dieser Zeit. Was seine Bildung angeht, wissen wir so wenig wie die Bewohner seiner Heimatstadt, woher er seine „Weisheit“ hat. Sie hatte er wohl nicht allein in Nazareth erworben. Da er in Synagogen predigte, konnte er lesen. Mk 6,2f will sagen, dass Jesu Weisheit von Gott stammt. Das LkEv steigert in der Legende vom zwölfjährigen Jesus im Tempel das Wunder seiner Weisheit: Nicht nur Dorfbewohner, sondern Lehrer staunen über sie (Lk 2,41–52). 3.4 Jesu Konflikt mit der Familie
Obwohl viele Familienangehörige wie seine Mutter und sein Bruder Jakobus nach Jesu Tod zur christlichen Gemeinde gehörten, sind Spuren eines schweren Konflikts Jesu mit seiner Familie erhalten. Nach Mk 3,20 f.31–35 kamen Jesu Mutter, Brüder und Schwestern zu ihm, weil sie ihn für verrückt hielten, um ihn mit Gewalt zu sich zurückzuholen, er aber grenzte sich von ihnen durch Neudefinition der Familie ab. Näher als Verwandte stehen ihm alle, die Gottes Willen erfüllen. Jesu Verhältnis zu seiner Familie war ambivalent. Er ist sich dessen bewusst, dass er mit seiner Botschaft in viele Familien Konflikte bringt. Denn er ist gekommen, um Feuer anzuzünden auf der Erde, was konkret bedeutet, dass er in Familien Streit bringt: „Es wird der Vater gegen den Sohn sein und der Sohn gegen den Vater, die Mutter gegen die Tochter und die Tochter gegen die Mutter, die Schwiegermutter gegen die Schwiegertochter und die Schwiegertochter gegen die Schwiegermutter“ (Lk 12,53). Daher kann Jesus in seine Nachfolge mit den Worten rufen: „Wenn jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater, Mutter, Frau, Kinder, Brüder, Schwestern und dazu sich selbst, der kann nicht mein Jünger sein“ (Lk 14,26). Wer junge Menschen dazu „verführte“, heimatlose Vagabunden zu werden, wurde für viele Familien ein Problem. Das a-familiäre Ethos mancher Jesusworte ist zweifellos eine Erinnerungsspur des historischen Jesus.
4. Jesus und sein Lehrer: Johannes der Täufer Die urchristliche Überlieferung führt das Charisma Jesu auf seine Geistbegabung bei der Taufe zurück. Jesu Taufe zeigt, dass er der Verkündigung des Täufers zustimmte. Das wird durch einen Vergleich seiner Verkündigung mit der des Täufers bestätigt, legt aber die Frage einer „Entwicklung“ Jesu über den Täufer hinaus nahe.
16 M.Frenschkowski, Itinerant Charismatics and Travelling Artisans – Was Jesus’ Travelling Lifestyle Induced by His Artisan Background? in: M.Tiwald (ed.), The Q Hypothesis Unveiled: Theological, Sociological, and Hermeneutical Issues behind the Sayings Source, 2020, 192–223.
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4.1 Jesu Taufe
Die Taufe Jesu bereitete der urchristlichen Überlieferung Verlegenheit, einmal wegen der dabei sichtbar werdenden Überlegenheit des Täufers über Jesus, sodann wegen der durch die Taufe vermittelten Sündenvergebung, die ein Sündenbewusstsein Jesu voraussetzt. Eben darum gilt sie als historisch gesichert: a) In Mt 3,13–17 lehnt es der Täufer ab, Jesus zu taufen. Vielmehr müsse Jesus ihn taufen. Jesus lässt sich aber taufen, „damit alle Gerechtigkeit erfüllt wird“ (3,15). Damit stellt er klar: Er übernimmt die Taufe als Gerechter, nicht als Sünder. b) Das Ebionäerevangelium (Frgm. 4) weitet diese apologetischen Motive aus: Der Täufer hört die Himmelsstimme, kniet vor Jesus nieder und bittet, von ihm getauft zu werden. Hier ist klar, wer der Überlegene ist. c) Im JohEv kommt Jesus mit Sünden belastet zum Täufer, trägt aber nicht seine eigenen Sünden, sondern als Lamm Gottes die „Sünden der Welt“ (1,29). Eine Taufe wird nicht erzählt. Der Täufer hat nur die Aufgabe, Jesus als Geisttäufer zu identifizieren. d) In Lk 3,21f ist die Distanzierung von Täufer und Jesus weiter fortgeschritten. Erzählt wird eine Taufe ohne Täufer. Denn nach Lk 3,20 war der Täufer schon inhaftiert. e) Im Nazaräerevangelium (Frgm. 8) fordern Mutter und Brüder Jesus auf, sich zur Vergebung der Sünden taufen zu lassen. Er antwortet: „Was habe ich gesündigt …? Es sei denn, das, was ich gesagt habe, ist Unwissenheit (d. h. eine Unwissenheitssünde).“ Jesus dementiert, dass er die Taufe zur Vergebung seiner Sünden angestrebt hat.
Im Zentrum des Taufberichts steht das mythische Motiv der Himmelsstimme (Mk 1,9–11). Wenn Jesus der von Gott geliebte Sohn ist, ist er weit mehr als der Täufer. Historisch wird aber gerade das sein, was hier apologetisch geleugnet wird: Jesus hat den Täufer als überlegenen „Meister“ anerkannt und ließ sich von ihm zur Vergebung seiner Sünden taufen, um dem nahen Gericht Gottes zu entfliehen. Einige Texte berichten, dass es einen besonderen Kreis von Täuferjüngern gegeben hat, die ihren Lehrer als „Rabbi“ ansprachen (Joh 3,26), typische Schülerfunktionen übernahmen (Mt 11,2; Mk 6,29), sowie mit ihm durch gemeinsame Riten wie Fasten (Mk 2,18) und ein Gebet verbunden waren (Lk 11,1). Nach Joh l,35f stammten einige Jünger Jesu aus diesem Kreis. Joh 3,22–24 könnte voraussetzen, dass Jesus am Anfang seines Wirkens (im Auftrag des Johannes?) in Judäa getauft hat, auch wenn das in Joh 4,2 dementiert wird. Wie intensiv Jesu Kontakt zum Täufer war, bleibt offen. Sicher ist nur: Jesus übernahm von ihm Grundzüge seiner Lehre, ging aber eigene Wege. 4.2 Jesus und der Täufer – ein Vergleich
Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die wichtigsten Unterschiede zwischen Lehrer und Schüler:
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Täufer
Jesus Eschatologische Predigt
Der Täufer droht mit dem kommenden Zorn (Mt 3,7/Lk 3,7), der auch Fromme treffen wird und kritisiert illusionäre Heilsgewissheit, die auf die Abrahamskindschaft vertraut. Das Weltende steht unmittelbar bevor: Die Axt ist schon an die Wurzel des Stammes gelegt.
Jesus setzt die Gerichtspredigt des Täufers fort, betont aber mit seiner Predigt der Gottesherrschaft das Heilsangebot auch an Sünder, er teilt die Naheschatologie, schaut aber schon auf eine Wende zurück, die mit dem Täufer geschehen war (Mt 11,12/Lk 16,16; vgl. ThEv 46).
Das Taufverständnis Die Taufe ist ein nur durch Johannes vermitteltes eschatologisches Sakrament: Öffentliche Selbstanklage und Bereitschaft zur Umkehr retten im Gericht. Weil aber keine Zeit mehr bleibt, „Früchte der Umkehr“ zu bringen, akzeptiert Gott die Taufe als Ersatz. Sie bestätigt den positiven Status der Getauften: Sie sind „Kinder Abrahams“ (Lk 3,8).
Jesus löst den Umkehrgedanken von der Taufe, taufte vielleicht am Anfang seines Wirkens (Joh 3,22), was in 4,2 korrigiert wird. Er erkennt die Taufe des Johannes an. Sein Reinheitsgedanke (Mk 7,15) steht in Spannung zum Taufsakrament. Seine eigene Taufe ist Statusverleihung: er wird durch sie „Sohn Gottes“.
Messianische Predigt Der Täufer erwartet den Stärkeren, worunter er Gott selbst oder eine andere Richtergestalt verstand. Erwartungen an ihn lenkt er auf den Stärkeren um. Dabei betont er den Unterschied zum „Stärkeren“.
Jesus verwendet für den Kommenden denselben Begriff „Menschensohn“ wie für sich selbst, lenkt Erwartungen an ihn auf den Menschensohn um, betont dabei aber die Gleichheit mit ihm.
Bildfelder der Verkündigung Der Täufer betont im Bildfeld der Vegetationsmetaphorik bei Baum und Frucht, Saat und Ernte das Endstadium: Bäume werden gefällt, Spreu vom Weizen getrennt. Gemeint sind Menschen als Individuen.
Jesus benutzt Vegetationsmetaphern, um die Zeit vor dem Ende zu betonen, in der sich Menschen bewähren können und deutet „Saat und Ernte“ neu auf eine Gemeinschaft.
Askese Der Täufer macht asketisches Verhalten zum Medium seiner Botschaft: Ȥ Kleidung (Kamelhaarmantel); Ȥ Nahrung (Heuschrecken, Wildhonig) Ȥ Ortsaskese (Wüstenaufenthalt Jes 40,3). Durch asketische Selbststigmatisierung kritisiert er die Gesellschaft.
Jesus wird vom Täufer Ȥ als „Fresser und Weinsäufer“ (Mt 11,19) unterschieden und Ȥ hält sich in besiedelten Orten auf. Regeln für eine Kleidungs- und Nahrungsaskese gibt er seinen Jüngern in der Aussendungsrede. Sie dienen der Mission.
(1) Seine eschatologische Naherwartung bringt der Täufer in Bildfeldern vom Baum und von der Saat zum Ausdruck:17 Die Axt ist schon an die Wurzeln der unfruchtbaren Bäume gelegt (Mt 3,10). Der Richter steht zur Scheidung von Spreu und Weizen bereit (Mt 3,12). Mit eben diesem Bild vom Baum räumt Jesus Menschen dagegen Zeit ein: Im Gleichnis vom unfrucht17 Vgl. P.v.Gemünden, Vegetationsmetaphorik im Neuen Testament und seiner Umwelt, 1993, 122 ff. 182 ff.
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baren Feigenbaum (Lk 13,6–9) erhält der Baum eine Frist. An Stelle von Zeitverkürzung tritt ein Zeitgewinn. Ebenso liegt beim Bild von Saat und Ernte bei Jesus der Akzent auf Saat und Wachstum. Erst danach folgt die Ernte als Gericht. Jesus musste wahrscheinlich eine erste Parusieverzögerung verarbeiten: Die Naherwartung des Täufers war nicht in Erfüllung gegangen, der Prophet getötet worden. Die Weiterexistenz der Welt deutete Jesus als Ausdruck der Gnade Gottes. Gott verzögert sein Gericht, um Menschen eine Chance zur Umkehr zu geben. Das Aufgehen der Sonne über Guten und Bösen wird so zum Zeichen seiner Gnade (Mt 5,45). (2) Die Taufe war ein eschatologisches Sakrament, d. h. eine symbolische Handlung, die Gott anstelle der Taten annahm, für die nach Umkehr der Menschen angesichts des nahen Gerichts keine Zeit mehr blieb. Gab es wieder mehr Zeit, war die Bewährung der Umkehr in guten Taten möglich. Jesus forderte losgelöst von der Taufe die Umkehr (Lk 13,1–5), bot Sündenvergebung allein durch das Gebet an (Lk 11,4 par) und machte eine in der Johannestaufe verborgene Kritik bewusst: Sündenvergebung durch die Taufe stand in Widerspruch zur Sühnekraft des Tempels. Er verband die Legitimität der Tempelreinigung mit der Anerkennung der Taufe (Mk 11,27–33). Dem liegt der Gedanke zugrunde: Wer in der Taufe Sündenvergebung sucht, zweifelt an der Wirksamkeit des Tempels. Wenn die Taufe legitim ist, ist auch Kritik am Tempel legitim! (3) Die messianische Predigt Jesu setzt eine Epochenwende mit dem Täufer voraus. Nach Mt 11,11/Lk 7,28/ThEv 46 war der Täufer der Größte unter den Menschen, aber der Kleinste in der Gottesherrschaft – wieviel größer musste dann Jesus sein, der den Anbruch der Gottesherrschaft verkündigte. Nun hatte der Täufer in seiner messianischen Predigt einen „Stärkeren“ und „Kommenden“ angekündigt und auf ihn selbst gerichtete messianische Erwartungen im Volk auf diesen weit „Größeren“ gelenkt. Nach diesem Muster lenkte Jesus messianische Erwartungen auf einen nach ihm Kommenden um, jedoch mit einem entscheidenden Unterschied: Der Täufer kündigte den Kommenden als „Stärkeren“ an, Jesus aber als „Menschensohn“, den er mit demselben Begriff bezeichnet wie sich selbst. Er stellt sich dadurch mit dem „Stärkeren“ auf eine Stufe. (4) Bildfelder der Verkündigung.18 Jesus entfaltet die vom Täufer benutzten Familien- und Vegetationsbilder zu Parabeln und Gleichnissen. Der Täufer hatte mit familiären Bildern die Heilsgewissheit der Israeliten kritisiert: „Denkt nur nicht, dass ihr zu euch sagen könnt: Wir haben Abraham zum Vater. Denn ich sage euch: Gott vermag Abraham aus diesen Steinen Kinder erwecken“ (Mt 3,9). Seine Familienbilder sprechen von einem totalen Neuanfang. Auch Jesus verbindet das Bild vom Vater mit einem radikalen Neuanfang. In der Parabel vom verlorenen Sohn war der wiedergefundene Sohn „tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist gefunden worden“ (Lk 15,24; 15,32). Er erhält erneut einen privilegierten Status durch Kleidung und Ring als Zeichen seiner Wiedereinsetzung als Sohn
18 G.Theißen, Die Bilderwelt des Gottesreichs. Familien- und Pflanzenmetaphorik bei Johannes dem Täufer und Jesus von Nazareth, in: M.Schmidt/M.Lau (Hg.), Sprachbilder und Bildsprache. Studien zur Kontextualisierung biblischer Texte, 2019, 173–199.
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(Lk 15,22).19 Das Gleichnis von den ungleichen Söhnen (Mt 21,28–32) nennt den Täufer direkt: „Denn Johannes kam zu euch und lehrte euch den rechten Weg, und ihr glaubtet ihm nicht; aber die Zöllner und Huren glaubten ihm. Und obwohl ihr’s saht, tatet ihr dennoch nicht Umkehr, so dass ihr ihm dann doch geglaubt hättet“ (Mt 21,32). Dieser Kontrast zwischen verschiedenen Reaktionen auf die Verkündigung des Täufers und Jesu findet sich auch im Gleichnis von den spielenden Kindern: Die einen Kinder wollen tanzen, die andern trauern (Mt 11,16–19). Da schon der Täufer mit verschiedenen Reaktionen der „Kinder Abrahams“ auf seine Botschaft rechnet, kann die Darstellung entgegengesetzter Reaktionen durch die familiären Metaphern des Täufers angeregt sein. Während Familienbilder einen Neuanfang verkündigen, konfrontieren dagegen die Pflanzenbilder des Täufers mit einem definitiven Ende. Das Bild von Baum und Frucht ruft ein letztes Mal zur Umkehr (Mt 3,8). Der Täufer hatte das drohende Ende vor Augen, da die Axt schon an die Wurzel gelegt ist. Auch in Jesu Gleichnis vom unfruchtbaren Feigenbaum will der Besitzer nach Jahren ohne Frucht den Feigenbaum fällen. Doch der Gärtner tritt für ihn ein: „Herr, lass ihn noch dies Jahr, bis ich um ihn grabe und ihn dünge; vielleicht bringt er doch noch Frucht; wenn aber nicht, so hau ihn ab“ (Lk 13,8f).20 Hier korrigiert Jesus die Aussage, die Axt sei schon an die Wurzel der Bäume gelegt. Nach der Hinrichtung des Täufers haben dessen Anhänger erwartet, dass Gott seinen Propheten rächen wird und dessen Gerichtsverkündigung verwirklicht. Als die Welt weiter existierte, hat Jesus das als Gnadenfrist gedeutet: Gott gibt den Menschen eine Chance zur Umkehr. Schon Jesus hat also eine Parusieverzögerung verarbeiten müssen.21 Eine zweite Veränderung im Vegetationsbild des Täufers geschieht im Bild von Saat und Ernte. Es beleuchtet bei Jesus nicht nur das Ende, sondern die Zeit vorher. Ein Baum braucht von dessen Pflanzung bis zur Frucht viele Jahre, eine Saat wenige Monate. Der Täufer entnahm dem Erntebild nur das Bild für das Gericht. Er konnte im Bild der Getreideernte sogar die definitive Trennung von Guten und Bösen noch besser als mit dem Bild vom Baum darstellen. Denn zwischen guten und schlechten Früchten gibt es Übergänge, Weizen und Spreu sind dagegen eindeutig unterschieden. Nun ist das Bild von Saat und Ernte wenig geeignet, um eine Gemeinschaft zu bezeichnen, die Generationen überdauert. Daher war dieses Bild in der jüdischen Tradition noch nie für eine Gemeinschaft benutzt worden. Hier füllte Jesus innovativ eine Lücke im Bildfeld aus.22 Weil diese Anwen19 K.H.Rengstorf, Die Re-Investitur des Verlorenen Sohnes in der Gleichniserzählung Jesu Luk. 15,11–32, 1967. K.H.Ostmeyer, Dabeisein ist alles (Der verlorene Sohn), Lk 15,11–32, in: R.Zimmermann u. a. (Hg.), Kompendium der Gleichnisse Jesu, 2007, 618–633, dort S. 626. 20 Vgl. P.v.Gemünden, Vegetationsmetaphorik im Neuen Testament und seiner Umwelt 1993, 130–141, zur Baummetapher des Täufers (S. 139–141) und zur Achikarfabel (S. 135–138). In der Achikartradition ist die Baummetaphorik mit einer pessimistischen Sicht der Unveränderbarkeit des Menschen verbunden. Im Jesusgleichnis hat der unfruchtbare Baum einen Helfer, der an seine Veränderung glaubt. 21 G.Theißen/A.Merz, Gerichtsverzögerung und Heilsverkündigung bei Johannes dem Täufer und Jesus, in: G. Theißen, Jesus als historische Gestalt, 2003, 229–253. 22 Leicht abgewandelt nach P.v.Gemünden, Vegetationsmetaphorik im Neuen Testament und seiner Umwelt 1993, 415 f.
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dung des Bildes unbekannt war, fügen die Evangelien eine allegorisierende Deutung an das Gleichnis vom vierfachen Acker (Mk 4,13–20) und Unkraut unter dem Weizen (Mt 13,36– 43). Die Anwendung des Saat- und Erntebildes auf eine Gemeinschaft war aber gerade angesichts des nahen Weltendes einleuchtend und sinnvoll. Saat und Ernte lassen sich gut auf eine nur kurze Zeit existierende neue Gemeinschaft deuten. Die Jesusbewegung erwartete das nahe Ende der Welt. Sie konnte sich im Bild der neuen Aussaat als Gemeinschaft wiedererkennen. Unser Fazit ist: Obwohl wir vom Täufer nur wenige Worte erhalten haben, beweist die Kontinuität der Bildfelder, dass der Täufer der Lehrer Jesu war. Jesus entwickelte dessen Bilder weiter. (5) Hinsichtlich der Askese fiel schon den Zeitgenossen der Gegensatz zwischen Jesus und dem Täufer auf. Der Täufer stilisierte sich durch Kleidung und Nahrung. Bei Jesus finden wir nur Vorschriften für die Jünger in der Aussendungsrede. Sie sollen sich von kynischen Wanderlehrern durch ihre Kleidung unterscheiden, sollen als Nahrung annehmen, was ihnen angeboten wird, und Friedensboten sein (Mk 6,7–11; Lk 10,4–9). Jesus hat vom Täufer gelernt, Kleidung als Botschaft einzusetzen. Wenn er Zwölf aussendet, belebten sie die Hoffnung auf Wiederherstellung Israels. Wenn sie als Friedensboten kamen, forderten sie eine innere Erneuerung Israels. Nicht Jesus, sondern Johannes der Täufer hat diese entscheidende Wende zur inneren Erneuerung Israels eingeleitet. Jesus führt seine Botschaft weiter. Worin aber führt er über den Täufer hinaus? 4.3 Die Entwicklung vom Täufer zu Jesus
Täufer und Jesus haben dasselbe jüdische Gottesverständnis. Der Täufer verkündigte das Gericht mit dem Heilsangebot, dass man durch die Taufe dem Gericht entrinnen könne, Jesus verkündigte ein Heilsangebot ohne Taufe mit einer Gerichtsdrohung gegen alle, die es nicht annehmen. Der Täufer betonte Gottes Strenge, Jesus seine Güte. Wie kam es zu dieser Akzentverschiebung? a. Jesu Taufe als rituelle Statuserhöhung (Mk 1,9–11): Das NT führt Jesu Charisma auf ein visionäres Erleben bei der Taufe zurück. Jesus sieht während der Taufe den Himmel offen. Eine Stimme erklärt ihn zum „Sohn Gottes“ und trägt damit österlichen Glauben in das Leben Jesu zurück: Denn Jesus ist nach Röm 1,3f erst seit Ostern Sohn Gottes. Auch betont die Verbindung von Gottessohnschaft und Taufe, dass diese nicht nur zur Befreiung von Sünden diente, sondern zur Einsetzung als Sohn Gottes. Eine Taufe konnte deswegen zur Statuserhöhung werden, weil sie der Form nach ein Ernennungsritual war. Jesus erhielt wie Leviten und Priester durch Besprengung einen neuen Status (Ex 29,4–9; Num 8,7) und konnte deshalb in der urchristlichen Überlieferung durch Taufe zum „Sohn Gottes“ eingesetzt werden. Jesus hat selbst diesen Status anderen zugebilligt, wenn er sagt: „Selig sind, die Frieden stiften; denn sie werden Gottes Söhne und Töchter heißen.“ (Mt 5,9); „Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, auf dass ihr Söhne eures Vaters im Himmel seid“ (Mt 5,44f). Er war überzeugt: Durch ethisches Verhalten können Menschen „Söhne Gottes“ werden. Das passt dazu, dass er keine Taufe verlangte, wenn er Menschen in die Nachfolge rief.
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b. Jesu Vision als ekstatische Berufungserfahrung: Nach den synoptischen Evangelien lebte Jesus nach seiner Taufe in der Wüste und wurde vom Satan versucht. Diese Legende könnte Erinnerungsspur einer visionären Berufungserfahrung sein: „Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz“ (Lk 10,18). Die Überwindung des Satans erwartete man erst für die Zukunft. Eine entsprechende Weissagung vom Weltende kursierte kurz vor Jesu Auftreten in Palästina: „Und dann wird seine [Gottes] Herrschaft über seine ganze Schöpfung erscheinen, und dann wird der Satan nicht mehr sein, und die Traurigkeit wird mit ihm hinweggenommen sein.“ (AssMos 10,1) Jesus behauptete dagegen: Was andere für die Zukunft erwarten, hat im Himmel schon angefangen. Vielleicht konnte Jesus aufgrund eines solchen visionären Erlebnisses die Gerichtsangst des Täufers durch die Heilsgewissheit seiner Verkündigung ersetzen.23 c. Jesus Wunder als therapeutische Machterfahrungen. Der Satanssturz ist nach Lk 10,19 der Grund für die exorzistische Vollmacht der Jünger: „Siehe, ich habe euch Macht gegeben, zu treten auf Schlangen und Skorpione und Macht über alle Gewalt des Feindes; und nichts wird euch schaden“. Jesus selbst könnte durch sein Wundercharisma die Gewissheit erhalten haben, dass eine Zeit des Heils begonnen hat.24 Das zeigt QLk 7,18–23. Der Täufer lässt Jesus fragen, ob er der „Kommende“ sei. Jesus antwortet mit Hinweisen auf Wunder und Predigt. Dabei sagt er nicht: Ich gebe Blinden das Augenlicht, mache Lahme gehend, obwohl Anklänge an Jes 61,1f eigentlich die erste Person nahelegen. Denn dort heißt es: „Er hat mich gesandt, den Armen frohe Botschaft zu bringen“. Jesus weist vielmehr auf Wunder, die in seiner Nähe geschehen, ohne sich als deren Urheber zu bezeichnen. Sie sind Beweis dafür, dass die Heilszeit begonnen hat und der Satan besiegt ist. Das entsprach Erwartungen im Judentum: Nach 4Q 521 werden in der Zeit des Messias jene Wunder geschehen, die in Jes 35,5f und 61,1f angekündigt werden.25 Beide Bibelstellen klingen in Mt 11,2–6 an. Unser Fazit ist: Jesus verdankt dem Täufer Grundzüge seiner Verkündigung und seines Selbstverständnisses. Der Täufer hatte an ihn selbst gerichtete messianische Erwartungen umgelenkt auf einen nach ihm „Kommenden“, der das Gericht bringen wird. Die Taufe war eine symbolische Handlung, die Gott als Zeichen der Umkehr akzeptierte, obwohl aufgrund der Naherwartung keine Zeit mehr für ein von Umkehr geprägtes Leben blieb. Bei Jesus wird daraus die Gewissheit, dass Gottes Eingreifen schon begonnen hat – nicht als vernichtendes Gericht, sondern als Beginn des Heils. Das Böse ist besiegt, der Satan schon aus dem Zentrum der Wirklichkeit entfernt. Die Wunder der Endzeit geschehen. Gott gibt dem Menschen eine neue Chance, durch Umkehr das Böse zu überwinden. Daher musste Jesus sich
23 U.B.Müller, Vision und Botschaft. Erwägungen zur prophetischen Struktur der Verkündigung Jesu, ZThK 74 (1977) 416–448. S.Vollenweider, ‚Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen‘ (Lk 10,18), ZNW 79 (1988) 187–203. 24 Nach P.W. Hollenbach, The Conversion of Jesus: From Jesus the Baptizer to Jesus the Healer, ANRW II 25.1 (1982) 196–219, führte die Wundererfahrung zu einer „Bekehrung“ Jesu. 25 Vgl. C.A.Evans, Jesus and his Contemporaries, 1995, 127–130. H.Stegemann, Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus, 1993, 50f, 341, bestreitet auf der Basis seiner anderen Übersetzung einen messianischen Charakter von 4Q 521.
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die Frage stellen: War er selbst der Kommende? Doch er wirkte nicht als Richter, sondern als Wundertäter mit einer Heilsbotschaft für die Armen.
5. Jesus und seine Anhängerschaft Schon zum Täufer waren die Menschen geströmt (Mk 1,5; Lk 3,7Q; 7,24; Jos Ant 18,118). Jesus wurde oft von einer Menge (plēthos und ochlos) umgeben (Mk 3,7–12; 3,20; 4,1; 6,34 usw.). Der im Begriff „Ochlokratie“ negativ besetzte Begriff „Menge“ wird dabei im MkEv meist positiv verwandt.26 Da auch das JohEv das Motiv des großen Erfolgs Jesu in der Menge kennt (Joh 6,5; 7,48 u.ö.), hat dieses Motiv wohl Anhalt im Leben Jesu. Aus der Menge gewann Jesus durch sein Charisma immer wieder neue Anhänger. Einige berief er in seine Nachfolge, so dass sie ihm auf seinen Wanderungen folgten. Die meisten aber bildeten in ihren Orten Gruppen von Sympathisanten, aus denen später Gemeinden wurden. 5.1 Die Nachfolger Jesu27
Die Evangelien kennen drei Typen der Berufungserzählung.28 Nach dem MkEv beruft Jesus seine Jünger aus ihrer Berufsarbeit (Mk 1,16–20; 2,13f). Nach der Logienquelle schließen sie sich aufgrund eigener Entscheidung Jesus an und werden von ihm geprüft (QLk 9,57–62). Nach dem JohEv gewinnt Jesus Nachfolger durch Vermittlung von Menschen, die schon Nachfolger sind: Petrus durch Andreas, Nathanael durch Philippus (Joh l,35–51). Ein Vergleich mit dem rabbinischen Lehrer-Schüler-Verhältnis zeigt die Besonderheit der Jüngerschaft Jesu: Rabbinische Schüler-Beziehung
Beziehung von Jesus zu seinen Jüngern
Stabilitas loci in einem Lehrhaus
Wanderleben in Galiläa und Umgebung
Zeitliche Begrenzung: ein Wechsel des Lehrers ist möglich
Jüngerschaft ist eine bleibende Beziehung
Bewusste Traditionsbildung durch Memorieren
Freie Traditionsbildung (Ausnahmen, z. B. beim „Vaterunser“, sind denkbar)
Die Schülerschaft ist Männern vorbehalten
Auch Frauen befinden sich unter den Nachfolgern und Hörern
26 Erst in der Passionsgeschichte begegnet der Begriff ochlos für eine militärische „Abteilung“ (Mk 14,43) und eine feindliche Menge, die Jesu Tod verlangt (15,6–14) – vielleicht ein Indiz dafür, dass die Passionsgeschichte gegenüber den anderen Überlieferungen selbständig ist. 27 M.Hengel, Nachfolge*, 1968. 28 H.-W.Kuhn, Nachfolge nach Ostern, in: D.Lührmann/G.Strecker (Hg.), Kirche, 1980, 105–132.
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Der Ruf in die Nachfolge Jesu gleicht den Jüngerberufungen alttestamentlicher Propheten, z. B. des Elisa durch Elia (1Kön 19,19–21). Elisa wird mitten aus seiner Berufsarbeit heraus berufen. Dass er sich von seinen Eltern verabschieden will, wird ihm in LXX und Ant 8,353f zugestanden. Nachdem er seine Rinder geschlachtet und sein Geschirr als Brennholz verwandt hat, folgt er Elia. In neutestamentlicher Zeit folgen Anhänger Zeichenpropheten zum Jordan oder in die Wüste (hepesthai Ant 20,97.167). Einmal ist dabei von einem „Nachfolgen“ (akolouthein) wie bei den Jüngern Jesu die Rede (Ant 20,188). Ferner sind Anhänger des Täufers insofern eine Analogie, als auch sie „Jünger“ genannt werden,29 doch fehlt bei ihnen das Stichwort „Nachfolge“. Auch ist beim Täufer und anderen Propheten kein „Stab“ wie die zwölf Jünger erkennbar. Insgesamt sind Prophetenberufungen wohl die nächsten Analogien für die Berufung in die Jüngerschaft Jesu. Nun waren Elia und Elisa gleichwertige Propheten. Auch Jesus spricht seinen Jüngern einen hohen Status zu. Sie sind mehr als nur „Jünger“. Dennoch sind sie nicht gleichwertig. Es gibt ein Gefälle: Jesus teilt als Primärcharismatiker den Jüngern als Sekundärcharismatikern seine Vollmacht mit. Das zeigen die drei Merkmale, die mit Jüngerschaft und Nachfolge verbunden sind: (1) Selbststigmatisierung als Bereitschaft zum Bruch mit der Umwelt, (2) Partizipation am Charisma Jesu, (3) Aussicht, mit Jesus eine Hoheitsstellung in Israel einzunehmen. Jüngerschaft ist Selbststigmatisierung:30 Wer Jünger Jesu wird, muss bereit sein, seine Heimatlosigkeit zu teilen (Mt 8,19f) und die Bindung an Jesus über die Familie stellen: Selbst das Begräbnis des Vaters ist nachrangig (Mt 8,21). Wer zu solch einem Verstoß gegen das 4. Gebot fähig war, durfte sich nicht wundern, wenn man ihn anfeindet: „Der Jünger steht nicht über dem Meister … Haben sie den Hausherrn Beelzebul genannt, wieviel mehr werden sie seine Hausgenossen so nennen“ (Mt 10,24f). Jüngerschaft ist Charismateilhabe: Die Jüngerinnen und Jünger teilen mit Jesus die Gabe zum Heilen (Mk 3,14f; Lk 10,9). Ihr Segen verbreitet sich wie ein magischer Schutz in den Häusern, die sie aufnehmen (Lk 10,5 par), ebenso ihr Fluch: Wenn sie in einer Stadt abgelehnt werden, wird es ihr im Endgericht schlimm ergehen (Lk 10,10). Auffällig sind die Ausrüstungsregeln: Die Jünger sollen bei ihrer Aussendung demonstrative Askese üben. Damit überbieten sie analoge Regeln in der Umwelt. Zum Vergleich bieten sich die Essener (Bell 2,125f) und kynische Wanderphilosophen an:31
29 Vgl. die Jünger des Täufers in Mt 11,2; 14,12; Mk 2,18; 6,29; Lk 11,1; Joh 1,35–37; 3,25. 30 Vgl. H.Mödritzer, Stigma*, 1994, 95 ff. 31 Vgl. die Textsammlung bei F.G. Downing, Christ and the Cynics. Jesus and Other Radical Preachers in First-Century-Tradition, 1988. Zur Analogie zwischen Jesusbewegung und Kynismus vgl. M.-O. Goulet-Cazé, Kynismus und Christentum in der Antike, 2016, 135–186. M.Tiwald, Das Frühjudentum und die Anfänge des Christentums, 2016, 237–245.
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Ausrüstungsregeln der Jesusüberlieferung
Essenische Reiseregeln
typische Merkmale kynischer Wanderphilosophen
[Q] Verzicht auf Schuhe (konzediert bei Mk)
Schuhe werden verschlissen
Barfüßigkeit ist häufig
[Q] Verbot des Stabs (konzediert bei Mk)
Waffen zur Selbstverteidigung gegen Räuber
Stab als Waffe
Verbot des Vorratsbeutels (pēra)
kein Reisegepäck
Vorratssack (pēra) als Kennzeichen
Verbot von zwei Hemden
Abtragen der Kleider
Doppelt gefalteter Mantel
Jesus zeigt als Wandercharismatiker eine gewisse Verwandtschaft mit den Kynikern, aber ist kein Kyniker. Denn er und seine Jünger demonstrieren durch ihr Wanderleben weniger ihre Autarkie als ihr Vertrauen in Gottes Fürsorge. Außerdem sollen die Jünger Jesu die „Askese“ der Kyniker überbieten, indem sie z. B. auf Stab und Vorratsbeutel als charakteristische Merkmale wandernder Kyniker verzichten. Jüngerschaft ist Teilhabe an der Verheißung, dass sie auf zwölf Thronen sitzen werden, „um die zwölf Stämme Israels zu richten“ (QLk 22,30). Die Aufgabe des Messias, die Stämme des Volkes zu richten (PsSal 17,26), wird durch Jesus in einen Gruppenmessianismus verwandelt.32 Nach jüdischen Traditionen konnten Menschen in dreifacher Weise an Gottes Herrschaft beteiligt werden. Entweder kämpfen sie mit ihm in Kriegen, richten mit ihm über andere Völker oder herrschen mit ihm. Dabei geht es immer um Überlegenheit über andere Völker, nie um Herrschaft über das eigene Volk. Die Übertragung einer auf einen Einzelnen zielenden königlichen Tradition auf eine Gruppe, die über das eigene Volk, die Stämme Israels, herrschen soll, ist in Mt 19,28 singulär. Diese Sonderstellung des Logion spricht für seine Authentizität (H.Roose).33 Oft wollte man die Vorstellung einer Herrschaft der Zwölf aus der Ostererfahrung ableiten.34 Denn Paulus berichtet von einer Vision vor den „Zwölfen“ (1Kor 15,5). Wahrscheinlich hatte Petrus aufgrund seiner Vision „die Zwölf“ gesammelt – als eine Größe, die der Zahl nach nicht „zwölf“ sein konnte; denn Judas fehlte. Die von ihm gesammelten „Zwölf“ erlebten danach gemeinsam eine Erscheinung. Schwer vorstellbar ist, dass die Verheißung einer messianischen Zwölferherrschaft erst nach Ostern entstanden ist: Hier hätte man den Verräter Judas nicht mehr in die Zwölf aufgenommen. Die Zwölfzahl bedeutet: Diese Jünger sollen die zerstreute Diaspora zusammenführen. Sie repräsentieren das wiederhergestellte 32 G.Theißen, Gruppenmessianismus. Überlegungen zum Ursprung der Kirche im Jüngerkreis Jesu, in: Jesus als historische Gestalt, 2003, 266–281. 33 H.Roose, Eschatologische Mitherrschaft. Entwicklungslinien einer urchristlichen Erwartung, 2004; dies., Teilhabe an JHWHs Macht. Alttestamentlich-jüdische Hoffnungen in der Zeit des zweiten Tempels, 2004. 34 So z. B. R.Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, 1963, 40.62; H.-W.Kuhn, Nachfolge nach Ostern, in: D.Lührmann/G.Strecker (Hg.), Kirche, 1980, 105–132. Vgl. aber S. McKnight, Jesus and the Twelve, in: D.L.Bock/R.L.Webb, Key Events in the Life of the Historical Jesus, 2009, 181–214.
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Zwölfstämmevolk. Sie teilen sowohl die stigmatisierte Außenseiterrolle des Wanderpredigers Jesus als auch seine charismatische Vollmacht. Stigma und Charisma gehören zusammen. 5.2 Die familia dei
Jesu Charisma zeigt sich auch darin, dass er über den Kreis der Nachfolger hinaus Sympathisanten gewann. Um Jesus als Primärcharismatiker bildeten sich neben seinem Stab der zwölf sekundärcharismatischen Jünger sesshafte Gruppen von Tertiärcharismatikern, die an verschiedenen Orten ihr gewohntes Leben weiterführten und Jesus unterstützten. Neben der Nachfolge im wörtlichen Sinne kannte Jesus nämlich eine zweite Form der Beziehung zu ihm: die Zugehörigkeit zur familia dei. 35 Die familia dei umfasste die „Hörer des Wortes“ und Unterstützer der wandernden Charismatiker, unter denen Frauen besonders hervortreten. Manchmal kontrastiert Jesus die natürliche Familie mit dieser „Familie Gottes“. In der Perikope von den Verwandten Jesu (Mk 3,20 f.31–35) kommen seine Mutter, Brüder und Schwestern zu Jesus, um ihn als Verrückten zurückzuholen. Jesus distanziert sich von ihnen, indem er den Familienbegriff neu definiert: „Wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter“ (3,35). Dass die Vaterrolle unbesetzt bleibt, wird manchmal biographisch durch einen frühen Tod Josefs erklärt, oft aber theologisch als Leerstelle für den himmlischen Vater oder Absage an „paternalistische Macht“. Die Seligpreisung der Mutter Jesu (Lk 11,27f) enthält eine vergleichbare Modifikation des Mutterbegriffs: Entscheidend ist nicht die natürliche Mutterbeziehung, sondern „das Wort Gottes zu hören und zu bewahren“. Das Wort vom Lohn der Nachfolge (Mk 10,28–30) macht den sozialen Hintergrund der familia dei sichtbar: Wer Haus, Hof und Familie verlassen hat, wird alles hundertfach zurückempfangen. Nachfolgende finden in der neuen familia dei alles, was sie verlassen haben – nur wird dabei kein neuer Vater genannt, wohl deshalb, weil alle einen Vater im Himmel haben. Auch die Warnung vor der Anerkennung irdischer Autoritäten (Mt 23,8–10) macht hier eine Lücke bewusst: Die Anhänger Jesu sollen niemanden „Vater“ nennen, weil sie nur einen Vater im Himmel haben. Auch soll sich niemand unter ihnen „Rabbi“ nennen, weil sie alle Geschwister sind (griech. adelphoi meint als Metapher für Gemeindeglieder nicht nur „Brüder“). Auch wenn dieser Text nachösterliche Verhältnisse spiegelt, geht die familiadei-Konzeption auf Jesus zurück. Die Vorstellung von der familia dei ist im MkEv, sowie im lk und mt Sondergut gut belegt. In Q wird Gott als „Vater“ angeredet (Lk 6,36; 11,2; 11,11ff; 12,30). Menschen gelten als „Brüder und Schwestern“ (Lk 6,41f; 17,3), zur natürlichen Familie gibt es Spannungen (Lk 9,59f; 12,51–53; 14,26). Auch das ThEv enthält viele familia-dei-Traditionen (ThEv 79; 99), auch eine Kritik an der natürlichen Familie (ThEv 16; 55; 101). Die breite Streuung dieser Überlieferung verbürgt ihre Herkunft vom historischen Jesus: Schon Jesus hat Hörer und Hörerinnen des Wortes als familia dei bezeichnet, unter ihnen aber aktive Träger des Wortes 35 Vgl. T.Roh, Die ‚familia dei‘ in den synoptischen Evangelien, 2001.
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hervorgehoben: seine Jünger und Jüngerinnen. Bei den Worten zur familia dei fällt besonders die Hervorhebung der Frauen auf: Die Mütter sind wichtiger als Väter, die Schwestern werden neben den Brüdern genannt. 5.3 Frauen in Nachfolge und familia dei
Dass Frauen in der Jesusüberlieferung lange wenig beachtet wurden, liegt an der patriarchalischen Realität damals und heute, dazu an der androzentrischen Sprache der Texte und der Einseitigkeit ihrer Auslegung. Diese Ausgangslage kann durch eine „genderbewusste historische Erinnerungs- und Rekonstruktionsarbeit“ (A.Merz) teilweise rückgängig gemacht werden.36 (1) Die Texte sind von Patriarchalismus geprägt, wenn Jesus z. B. zwölf männlichen Jüngern die Herrschaft in der Gottesherrschaft verspricht (QLk 22,30) oder Frauen vor allem als Menschen erscheinen, die von Männern begehrt, geheiratet oder verheiratet werden (Mt 5,28; 24,37–39). (2) Ferner lässt eine androzentrische Sprache offen, ob eine grammatisch maskuline Gruppe rein männlich ist. Sie macht Frauen selbst dort unsichtbar, wo sie anwesend waren: Bei Jesu letztem Weg nach Jerusalem werden sie nicht erwähnt, sind aber eingeschlossen, wenn „die Jünger“ als Begleiter Jesu genannt werden. Denn bei der Kreuzigung sind Frauen anwesend, nachdem die männlichen Jünger geflohen sind (Mk 15,40f). (3) Schließlich beeinträchtigt eine androzentrische Auslegungsgeschichte ihre Wahrnehmung in der Bibel. Während niemand daran zweifelt, dass (grammatisch männliche) Sünder, Arme und Kranke ebenso Männer wie Frauen umfassen, streitet man darüber, ob es unter den Jüngern auch Jüngerinnen gab oder unter den paarweise ausgesandten „Erntearbeitern“ von Lk 10,1f auch Ehepaare.
Die Verdrängung von Frauen wurde durch die feministische Bibellektüre korrigiert, die sich zweimal selbst korrigierte: Jesus hat weder Frauen vom jüdischen Gesetz befreit noch ist eine von ihm vertretene Gleichstellung von Mann und Frau nachträglich verschwunden.37 Dass Jesus zwölf (männlichen) Jüngern die Herrschaft über die zwölf Stämme verheißt, zeigt, dass auch Jesus in patriarchalischen Mustern dachte. Gerade deshalb sind einige Aussagen über Frauen bemerkenswert (a) in der Bilderwelt Jesu, (b) in Berichten von seiner Heiltätigkeit, (c) in Aussagen über Nachfolgerinnen und (d) über Anhänger im weiteren Sinne. Sie zeigen, dass damals im Judentum patriarchalische Muster mit genderinklusiven Wahrnehmungen und Praktiken koexistierten. 36 E.Schüssler-Fiorenza, Zu ihrem Gedächtnis … Eine feministisch theologische Rekonstruktion der christlichen Ursprünge, 1988; L.Schottroff, Lydias ungeduldige Schwestern. Feministische Sozialgeschichte des frühen Christentums, 1994; H.Melzer-Keller, Jesus und die Frauen, 1997; A.Merz, Wie verändert die Genderforschung die Frage nach dem historischen Jesus? in: P.von Gemünden, D.Horrell, M.Küchler (Hg.), Jesus – Gestalt und Gestaltungen, 2013, 581–606, dies., Der „erinnerte Jesus“, seine vergessenen Jüngerinnen und die genderbewusste historische Erinnerungs- und Rekonstruktionsarbeit, in: M.Matthias, R.Roukema, G.van Klinken (Hg.), Erinnern und Vergessen, 2020, 195–200. 37 S.Petersen, Maria aus Magdala. Die Jüngerin, die Jesus liebte, 2011.
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a) Frauen in der Bilderwelt der Verkündigung Jesu
In der Wortüberlieferung Jesu finden sich häufig „geschlechtssymmetrischen Paarbildungen“, d. h. Doppelsprüche, in denen Männer und Frauen nebeneinandergestellt werden wie in den Gleichnissen vom Senfkorn und Sauerteig: Ein Bauer sät das Senfkorn, eine Frau rührt den Teig (Lk 13,18 f.20f par). Der Schäfer sucht das verlorene Schaf, die Frau den verlorenen Groschen (Lk 15,3–7.8–10). Dem bittenden Freund entspricht die bittende Witwe (Lk 11,5–8; 18,1–8). Worte Jesu parallelisieren die Arbeit von Männern auf dem Feld und von Frauen an der Mühle (Mt 24,40f), die Feldarbeit im Freien und das Spinnen im Haus (Mt 6,26.28), das Flicken von Kleidern und die Herstellung von Wein (Mk 2,21). Ferner stellt die Jesusüberlieferung geschlechtssymmetrisch die Niniviten neben die Königin des Südens (Mt 12,41f), die Witwe von Sarepta neben den Aussätzigen Naeman (Lk 4,25–27). Dazu kommt, dass in Jesusüberlieferungen Frauen Identifikationsfiguren sowohl für Frauen und Männer sind. Im Gleichnis von der bittenden Witwe (Lk 18,1–8) repräsentiert eine Frau das angemessene Verhalten „des Menschen“ vor Gott. Solch eine Bilderverwendung ist frei von der Gleichsetzung von Mensch und Mann in Sprache und Denken. Im Gleichnis vom Sauerteig (Lk 13,20f/ThEv 96) und vom verlorenen Groschen (Lk 15,8– 10) werden die Suche der Frau, die den Groschen aufspürt, und die Hände der Frau, die das Brot zubereiten, transparent für Gottes Sorge um den Menschen.38 Das widerspricht einer Darstellung Gottes nur in männlichen Kategorien. Für diese Geschlechtssymmetrie in Bildern fehlen Vorbilder in der alttestamentlichen Spruchliteratur. Sie ist in der Jesusüberlieferung neu, was sich wohl dadurch erklärt, dass Jesus anders als ein Rabbi nicht nur männliche Schüler in einem Lehrhaus unterrichtete, sondern im Freien und in der Synagoge Männer und Frauen ansprach. Auffallend sind ferner weibliche Züge im Gottesbild Jesu. Er wendet vor allem drei Bilder auf Gott an: Er verkündigte sein Königtum, nannte ihn Vater und sprach von seiner Weisheit, von der man im Judentum wie von einer Frau sprach: a) Gott hat durch die Weisheit die Welt geschaffen. Sie sendet immer wieder Propheten und Apostel (Lk 11,49–51 par). Das Gottesbild Jesu vereint dadurch männliche und weibliche Züge. Die Zuwendung Gottes zu den Verlorenen wird einerseits vom Hirten, der das verlorene Schaf sucht, andererseits von der Frau, die einen verlorenen Groschen sucht, veranschaulicht. b) Auffällig ist ferner: Im Bild vom Vater treten mütterliche Züge hervor. Gott erhört als Vater die Bitten der Menschen (Lk 11,11–13 par). Er sorgt für sie (12,29–32 par) und vergibt ihnen ihre Schuld (15,11–32). Er ist ein „mütterlicher“ Vater, der kulturelle Männlichkeitsstereotypen in Frage stellt. c) Umso mehr fällt auf, dass umgekehrt einige Weisheitsaussagen einen Konflikt zwischen Gott und Mensch bezeugen. Die Weisheit sendet als Boten Johannes den Täufer und Jesus. Beide werden abgelehnt (QLk 7,31–35). Die Weisheit Gottes sendet Propheten und Apostel, aber sie werden misshandelt und getötet. (11,49–51 par). Die Weisheit wirbt um die Menschen, wie eine Henne ihre Küken unter ihren Flügeln
38 Eine ausführliche Analyse der Gleichnisse bei L.Schottroff, Lydias ungeduldige Schwestern. Feministische Sozialgeschichte des frühen Christentums, 1994, 120–151.
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sammelt, aber ihre Gesandten werden gesteinigt (13,34–35 par). Die Weisheit Gottes erscheint hier als mütterliche Liebe, aber riskiert den Konflikt und wird abgelehnt.
Das Gottesbild Jesu vereint männliche und weibliche Züge. Gott zeigt als Vater mütterliche Nachsicht, als Weisheit väterliche Strenge und transzendiert damit herrschende Geschlechtsrollenstereotypen. b) Frauen in den Heilungsgeschichten Jesu
Jesus heilt in den synoptischen Evangelien zahlreiche Frauen. Nachdem er im MkEv einen Besessenen in der Synagoge geheilt hat, heilt er die Schwiegermutter des Petrus im Haus, die danach Jesus dient (Mk 1,31). Ihm schloss sich Maria aus der galiläischen Stadt Magdala an, „aus der sieben Dämonen ausgefahren waren“ (Lk 8,2), und folgte ihm bis nach Jerusalem. Sie gilt als erste Osterzeugin (Joh 20,11–18; Mk 16,9). Ferner befreit Jesus am Sabbat eine Frau, die durch einen Dämon „gefesselt“ war, als „Tochter Abrahams“, so dass sie Gott öffentlich in der Synagoge preist (Lk 13,10–17). Die Syrophönizierin überwindet um ihrer kranken Tochter willen den Widerstand Jesu (Mk 7,24–30). Die chronisch blutende Frau (Mk 5,25–34) gewinnt durch ihre Initiative Anteil an der von Jesus vermittelten Kraft Gottes.39 In all diesen Wundergeschichten werden Frauen aktiv. Auffallend ist, dass im JohEv keine Heilung einer Frau erzählt wird, obwohl die Samaritanerin und Maria Magdalena wichtige Zeuginnen für Jesus sind. c) Frauen als Nachfolgerinnen Jesu
Unter den mit Jesus herumziehenden Anhängern befanden sich (zumindest zeitweise) Frauen. Nach Lk 8,2 waren sie wie die Jünger „bei ihm“, nach Mk 15,41 folgten sie ihm, nach beiden Aussagen dienten sie ihm. Beide Listen nennen übereinstimmend nur Maria Magdalena. Sie folgte Jesus wie die anderen Jünger auf seinem Wanderleben nach.40 Sie ist als wichtigste Nachfolgerin in der urchristlichen Erinnerung präsent. Diese wenigen direkten Hinweise auf Frauen als Nachfolgerinnen Jesu lassen sich durch Rückschlüsse aus Worten Jesu absichern: Die Mahnung, nicht zu sorgen (QLk 12,22–32), vergleicht die Angesprochenen mit Vögeln und Lilien, die nicht spinnen, nicht säen und ernten. Wenn die Nachfolgenden sich nicht um das „Spinnen“ ihrer Kleidung sorgen müssen, so ist das eine typische Tätigkeit von Frauen. Hier könnten wandernde Nachfolgerinnen vorausgesetzt sein.
39 U.Metternich, „Sie sagte ihm die ganze Wahrheit“. Die Erzählung von der „Blutflüssigen“ – feministisch gedeutet, 2000. 40 In ThEv 114 will Petrus Maria hindern, Jesus nachzufolgen, Jesus aber will sie männlich machen – womit vielleicht gemeint war, sie soll sich männlich kleiden. Oder sollen die Geschlechtergrenzen überwunden werden (vgl. ThEv 22)?
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Dritter Teil: Das Wirken und die Verkündigung Jesu
Eindeutiger ist ein zweiter Beleg: Die von Wanderradikalen zurückgelassenen Familienmitglieder sind nach den ältesten Logien Brüder, Schwestern, Mütter, Väter und Kinder, nicht aber Frauen (Mk 10,29, vgl. Mt 10,37), die erst Lk hinzufügt (Lk 14,26; 18,29b). Das spricht dafür, dass zu denen, die um der Nachfolge Jesus willen ihre Familie verlassen haben, auch Frauen gehörten. Ferner sprechen Belege für eine „Ehepaarmission“ nach Ostern (M.Ebner).41 Paulus kennt ein Recht aller Apostel, eine „Schwester“42 mit sich zu führen (1Kor 9,5), und nennt Andronikus und Junia als missionierendes Apostelpaar (Röm 16,7).43 Wahrscheinlich waren auch Prisca und Aquila solch ein Paar (Röm 16,3; 1Kor 16,19; Apg 18,1–3). Petrus ist mit seiner Frau unterwegs, die ihn wahrscheinlich schon vor Ostern zeitweise begleitet hat. Auch gleichgeschlechtliche Missionsduos sind bezeugt: Paulus missionierte regelmäßig zusammen mit männlichen Juniorpartnern (Timotheus, Sosthenes, Silvanus, Titus) und nennt Frauenpaare, die in der Verkündigung tätig waren (Röm 15,12: Tryphäna und Tryphosa, Phil 4,2f: Evodia und Syntyche).44 d) Frauen als Unterstützerinnen Jesu
Alle Wandercharismatiker waren auf Unterstützung von sesshaften Jesusanhängern angewiesen. Darunter waren auch Frauen und deren Häuser (vgl. Mk 1,29–31; Lk 10,38–42; Apg 12,12; Joh 4,4–42). Bei Johanna, der Frau eines Verwalters, und Susanna denkt Lk 8,3 wahrscheinlich an sesshafte Unterstützerinnen, die Jesus sogar zeitweise begleitet haben. Im Schwesternpaar Maria und Martha stellt das LkEv ein allgemeines Problem dar: Die Unterstützung durch sesshafte Frauen bestand oft in praktischer Bewirtung. Lk 10,38–42 gibt dem Lernen der Maria den Vorrang vor der Hausarbeit der Martha. Die Kritik der Martha an Maria zeigt, dass es wegen der Bindung an Jesus auch unter sesshaften Jesusanhängern Konflikte gab. Sie konnten bis zum Verfall der Familien gehen, auch Frauen werden dabei genannt (Mt 10,34–36 par). Auf jeden Fall bildeten wandernde und sesshafte Anhänger Jesu zusammen die neue Familie von Müttern, Schwestern, Brüdern und Kindern – eine Familie Gottes, die Häuser und Äcker teilte, aber ohne menschlichen Vater auskam (Mk 10,29f; 3,31–35). Vereinzelt werden Auswirkungen der Nachfolgegemeinschaft auf die Frauenrolle thematisiert: Nach Lk 11,27f (und ThEv 79) ist für Jesusanhängerinnen nicht die Mutterschaft entscheidend, sondern das Tun des Gotteswillens. Angesichts der Gottesherr41 M.Ebner, Jesus – ein Weisheitslehrer? Synoptische Weisheitslogien im Traditionsprozess, 1998, 105– 110; ders., Jesus von Nazareth in seiner Zeit. Sozialgeschichtliche Zugänge, 2004, 120–124. 42 „Schwester“ (adelphē) dürfte hier Titel einer Missionarin sein analog zu Sosthenes und Timotheus, den Missionspartnern des Paulus, die als adelphoi bezeichnet werden (1Kor 1,1; 2Kor 1,1; Phlm 1 u.ö.); vgl. M.R.D’Angelo, Women Partners in the New Testament, JFSR 6 (1990) 65–86, S. 74–78; E.Schüssler-Fiorenza, Zu ihrem Gedächtnis. Eine feministisch theologische Rekonstruktion der christlichen Ursprünge, 1988, 217–222. 43 Vgl. B.Brooten, „Junia … hervorragend unter den Aposteln“ (Röm 16,7), in: E.Moltmann-Wendel (Hg.), Frauenbefreiung. Biblische und theologische Argumente, 31982, 148–151. Dass der maskuline Titel ἀπόστολος (Apostel) hier Junia, eine Frau, meint, ist inzwischen Konsens. 44 Vgl. M.R.D’Angelo, Women Partners.
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schaft werden Erfüllung (Lk 17,35) und Nicht-Erfüllung (Mt 6,28) weiblicher Pflichten nebensächlich. Aber die Texte zeigen auch zeitbedingte Grenzen der Frauenrolle in der Jesusüberlieferung: Maria darf die privilegierte Rolle der lernenden Jüngerin übernehmen, aber die Männer einschließlich Jesus verzichten nicht auf die Bedienung durch Frauen. Auf Martha lasten widersprüchliche Ansprüche: Lernen und Haushalt.
6. Jesus und seine Diskussionspartner Charismatiker provozieren Widerspruch. Die von den Evangelien tradierten Konflikte Jesu haben einen historischen Kern, auch wenn Kontraste verschärft und Unterschiede zwischen den Gegnern verwischt wurden. Die überall verstreut wohnenden „Priester“ sind nie Jesu Gegenüber. Nur einmal hat er in Jerusalem mit Hohepriestern, Schriftgelehrten und Ältesten ein Streitgespräch über seine Vollmacht zur „Tempelreinigung“ (Mk 11,27–33). Die Sadduzäer und Herodianer, Vertreter der Oberschicht sind erst an zweiter Stelle seine Gegner, die wichtigsten Diskussionspartner sind Schriftgelehrte und Pharisäer. Seit hellenistischer Zeit bildeten sie unabhängig von den Priestern eine religiöse Laienkultur. Diese Laien verstanden sich als Träger einer Weisheit, die unabhängig vom Tempelkult eine Beziehung zu Gott eröffnet. 6.1 Jesus und die Schriftgelehrten
„Schriftgelehrte“ sind Beamte, die Dokumente verfassen können – vom Dorfschreiber bis zum Schreiber am Königshof. Im Judentum wurden Schriftgelehrte aufgrund ihrer exegetischen Kompetenz für die „Heilige Schrift“ zu religiösen Lehrern. Ihr Urmodell ist Esra, der „kundig im Gesetz des Moses“ war (Esr 7,6). Jesus Sirach stellte sie als Oberschichtmitglieder dar (Sir 38,24–34). Nirgendwo treten sie so eindeutig als Gruppe auf wie in den Synoptikern.45 Ihre Vereinheitlichung im NT ergibt sich z. T. aus dem Kontrast zum Charismatiker Jesu, der die Menschen „mit Vollmacht lehrte und nicht wie die Schriftgelehrten“ (Mk 1,22). Trotzdem sind Unterschiede erkennbar. Differenziert wird zwischen Schriftgelehrten verschiedener Richtungen: Das MkEv spricht von „Schriftgelehrten der Pharisäer“ (2,16). Nicht alle waren Pharisäer, nicht alle Pharisäer Schriftgelehrte. Mit Schriftgelehrten diskutiert Jesus im MkEv Lehrfragen wie das doppelte Liebesgebot (12,28–34), mit Pharisäern Verhaltensfragen: Reinheitsgebote (7,1–15), Ehescheidung (10,2–9) und die Tischgemeinschaft mit Sündern (2,15–17).46 Differenziert wird zwischen sympathisierenden und feindseligen Schriftgelehrten: Der Schriftgelehrte, der Jesus nach dem höchsten Gebot fragt, ist (im MkEv anders als im Mt- und LkEv) ein Sympathisant Jesu (Mk 12,28–34). Zwischen ihm und Jesus herrscht Konsens über 45 A.J.Saldarini, Pharisees, Scribes and Sadducees in Palestinian Society, 1989, 241–276, bes. 268 ff. 46 Vgl. D.Lührmann, Die Pharisäer und die Schriftgelehrten im Markusevangelium, ZNW 78 (1987) 169–185.
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das Doppelgebot der Liebe als wichtigstes Gebot. Mt kennt sogar einen „Schriftgelehrten“, der Jesus nachfolgen will (Mt 8,19 diffQ?) und setzt christliche Schriftgelehrte voraus (Mt 13,52; 23,34). Differenziert wird zwischen Schriftgelehrten aus Jerusalem und Galiläa: Mk lässt zweimal Schriftgelehrte aus Jerusalem nach Galiläa kommen (3,22; 7,1) und spiegelt damit vielleicht, dass sich die Schriftgelehrsamkeit erst langsam von der Hauptstadt in die „Provinz“ verbreitete. Vielleicht will er die galiläischen Konflikte stärker mit der Passionsgeschichte verbinden, in der „Schriftgelehrte“ im Synedrium ihren festen Ort haben (vgl. Mk 8,31; 10,33; 11,18.27; 14,1.43 u.ö.). In Q, wo eine Passionsgeschichte fehlt, werden „Schriftgelehrte“ nicht erwähnt, dafür aber „Gesetzeslehrer“ (Lk 11,45.52Q). Jesus unterschied sich von Schriftgelehrten durch seine Lehre „in Vollmacht“ (Mk 1,22). Sie ist teils Weisheitslehre, die auf die Evidenz ihrer Bilder und Gedanken vertraut wie Salomos Lehre (Mt 12,42), teils prophetische Rede, die wie Jona eine göttliche Botschaft ausrichtet (Mt 12,41). In den Antithesen (Mt 5,21–48) formuliert Jesus die Thora des Moses durch ein selbstbewusstes „Ich aber sage euch“ neu. In rabbinischen Diskussionen dient die Formel „Ich aber sage euch“ dazu, die Lehre eines Schriftgelehrten von der eines anderen abzugrenzen, nie aber die Lehre eines Schriftgelehrten von der Thora des Moses.47 6.2 Jesus und die Pharisäer
Ein Teil der Schriftgelehrten, die mit Jesus in Konflikt gerieten, gehörte zur pharisäischen Bewegung. Josephus verband Pharisäer vor allem mit Jerusalem und Judäa. Das MtEv lässt sie häufig in Jerusalem auftreten (21,45; 22,15.34.41; 27,62), im MkEv und LkEv dagegen fast nie (Mk 12,13; Lk 19,39). Sie begegnen ansonsten in Galiläa. Galiläa war mit Judäa vereint worden, als dort die Sadduzäer an der Macht waren. Die Pharisäer fassten erst allmählich dort Fuß und breiteten sich vielleicht um die Zeitenwende neu nach Galiläa aus. Von Jerusalem kommende Schriftgelehrte unterstützten sie (Mk 7,1). Jesus könnte Sprecher eines lokalen Widerstandes gegen ihr Programm gewesen sein. Sein Verhältnis zu den Pharisäern war auf jeden Fall ambivalent. Jesus teilte einige religiöse Grundüberzeugungen der Pharisäer, vor allem den Auferstehungsglauben (Mk 12,18–27; Mt 12,41f). Er glaubte wie sie an Dämonen (vgl. Apg 23,8), hoffte freilich, dass sie mit der Gottesherrschaft verschwinden würden. Er vertrat wie sie einen Synergismus von Gott und Mensch: Beide kooperieren, so wie ein Landmann mit der Erde „zusammenarbeiten“ muss, damit die Frucht aufgeht (Mk 4,26–29).48 Jesu praktisches Verhalten kollidierte mit den Pharisäern: Er verstieß gegen das Sabbat- und Reinheitsgebot, kritisierte die „Überlieferungen der Alten“ (Mk 7,1–15). Die Pflicht zur Zehntzahlung war ihm wenig wichtig – verglichen mit Forderungen der Gerechtigkeit, 47 E.Lohse, „Ich aber sage euch“, in: Der Ruf Jesu und die Antwort der Gemeinde, 1970,189–203, in: ders., Die Einheit des Neuen Testaments, 21973,73–87. 48 G.Theißen, Der Bauer und die von selbst Frucht bringende Erde. Naiver Synergismus in Mk 4,26–29? ZNW 85 (1994) 167–182.
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Barmherzigkeit und Treue (Mt 23,23). Er teilte nicht die rituelle Abgrenzung der Pharisäer gegen Fremden. Gegenüber ihrem defensiven Reinheitsgedanken vertrat er eine „offensive“ Reinheit (K. Berger):49 Nicht Unreinheit steckt an, sondern Reinheit. Daher konnte er sich unreinen Kranken nähern, mit Sündern essen, Kontakt mit Fremden aufnehmen und in Mk 7,15 den rituellen Reinheitsgedanken relativieren. Er verkörperte eine charismatisch ausstrahlende Reinheit. Diese ausstrahlende Reinheit spricht er in der Aussendungsrede auch seinen Jüngern zu: Sie bringen in die Häuser, die sie aufnehmen, einen fast magisch wirkenden „Frieden“ (QLk 10,5f). Sie dürfen, ohne Speisegebote zu berücksichtigen, alles essen, was man ihnen vorsetzt (10,7f), und haben die Macht, Kranke zu heilen (10,9). Das ThEv zitiert im Zusammenhang mit ihrer Sendung das Reinheitslogion (ThEv 14). Jesu persönliches Verhältnis zu Pharisäern war ambivalent. Neben heftiger Pharisäerpolemik (QLk 11,37–54) gibt es besonders im LkEv Hinweise auf ein freundschaftliches Verhältnis: Pharisäer warnen Jesus vor Herodes Antipas (13,31–33), laden ihn wiederholt zum Gastmahl ein (7,36–50; 11,37–52; 14,1–24). Der lk Paulus beruft sich noch als Christ auf sein Pharisäertum (Apg 23,6–10; 26,4f). Die differenzierte Sicht des lk Doppelwerks hat bei Josephus eine gewisse Parallele. Im Bellum Judaicum schildert er die Pharisäer kritisch, in den später entstandenen Antiquitates positiver. Im MtEv sind die Pharisäer zusammen mit den Schriftgelehrten zu typischen Gegnern Jesu geworden. Aber in rabbinischen Schriften sind die perushim (die Pharisäer) nur noch eine Sekte, von der man sich distanziert.50 Zwar sind die Rabbinen Erben der Pharisäer, die den Verlust des Tempels durch Konzentration der Frömmigkeit auf den Alltag gut verarbeiten konnten. Nach 70 n. Chr. wollten sie im sich erneuernden Judentum Spaltungen überwinden und daher von den Pharisäern als einer Partei nichts mehr wissen. Wenn das im Osten entstandene MtEv gegen die Pharisäer polemisiert, zeigt es dieselbe Tendenz wie das im Osten des Reiches entstandene rabbinische Schrifttum. Dann stünde das MtEv mit seiner Pharisäerpolemik mitten im Judentum. Das lk Doppelwerk aber ist wie das Werk des Josephus wahrscheinlich im Westen entstanden. Vielleicht hatten die Pharisäer hier als „Friedenspartei“ im jüdischen Krieg ein höheres Ansehen.
6.3 Jesus und die Sadduzäer
Die Sadduzäer dominierten im Judentum gerade in der Zeit der hasmonäischen Expansionspolitik, die zur Wiedervereinigung von Idumäa, Samarien und Galiläa mit dem jüdischen Stammland führte. Wahrscheinlich fanden sie deshalb in Galiläa Anklang. Ihnen war die Reintegration Galiläas in das jüdische Staatsgebiet zu verdanken. Mit dem Ende der Hasmonäerherrschaft (also 40/36 v. Chr.) hatten sie den Höhepunkt ihrer Macht überschritten, 49 K.Berger, Jesus als Pharisäer und frühe Christen als Pharisäer, NT 30 (1988) 231–262. 50 P.Schäfer, Der vorrabbinische Pharisäismus, in: M.Hengel/U.Heckel (Hg.), Paulus und das Antike Judentum, 1991, 125–175, S. 183: „Da, wo die Rabbinen sich direkt mit den perushim auseinandersetzen, sind gerade nicht die historischen Pharisäer gemeint, sondern Angehörige einer extrem asketischen Gruppe von Separatisten, die vom wohlausgewogenen halakhischen Konsens der Rabbinen abweichen.“
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blieben aber auch danach eine mit der jüdischen Oberschicht verbundene einflussreiche religiöse Strömung. Im 1. Jh. n. Chr. unterstützten sie nach Apg 5,17 das Vorgehen des Hohepriesters gegen die Christen, während der Pharisäer Gamaliel zur Mäßigung riet (Apg 5,34–40). Bei der Inhaftierung des Paulus (ca. 58/60 n. Chr.) kann Paulus die Pharisäer auf seine Seite ziehen, bringt aber die Sadduzäer gegen sich auf. Er teilt mit den Pharisäern den Glauben an die Auferstehung, der von den Sadduzäern abgelehnt wird. Dieselbe Konstellation begegnet auch bei der Hinrichtung des Herrenbruders Jakobus: Der sadduzäische Hohepriester Ananos lässt ihn im Jahre 62 n. Chr. zusammen mit anderen Christen hinrichten, wird aber auf Betreiben gesetzesstrenger Kreise (wahrscheinlich der Pharisäer) abgesetzt (Ant 20,200). Mit der Zerstörung des Tempels verloren die Sadduzäer ihre Basis, den Jerusalemer Tempelkult. Das Verhältnis Jesu zu den Sadduzäern ist ambivalent. In einem Streitgespräch verteidigt er gegen sie den „pharisäischen“ Auferstehungsglauben und beruft sich mit Ex 3,6 auf einen Teil der Bibel, der auch bei Sadduzäern höchste Autorität besaß (Mk 12,18–27). Das Streitgespräch dürfte einen historischen Kern haben: Eine Begründung des Auferstehungsglaubens durch Ostern wird mit keiner Silbe angedeutet. Die oben für das 1. Jh. belegte Machtkonstellation zwischen Pharisäern, Sadduzäern und Christen ist auch für die Passion Jesu vorauszusetzen. Im JohEv ist der Pharisäer Nikodemus der einzige, der im Synedrium für Jesus eintritt (Joh 7,45–52; vgl. 19,38–42). Vergleichbar ist Joseph von Arimathia, der als „Ratsherr“ wohl dem Synedrium angehörte und durch seine Erwartung der Gottesherrschaft (Mk 15,43) den Pharisäern nahestand. Nach Lk 23,51 hat er der Hinrichtung Jesu nicht zugestimmt. All das sind Hinweise darauf, dass im Synedrium nicht die Pharisäer, sondern die Sadduzäer die eigentlichen Feinde Jesu waren. Sie fühlten sich durch Jesu Tempelkritik angegriffen, da ihre Interessen in besonderer Weise mit dem Tempel verbunden waren. Das würde erklären, warum die Passionsgeschichte nirgendwo die „typischen“ Gegner Jesu, die Pharisäer, erwähnt, obwohl sie im Synedrium vertreten waren! Trotz dieser Feindschaft zwischen Jesus und den Sadduzäern gibt es eine Verwandtschaft zwischen ihnen. Manche Argumente gegen die Pharisäer hat Jesus vielleicht sadduzäischer Kritik an den Pharisäern entliehen, manche „aristokratischen Züge“ bei ihm könnten Übernahme sadduzäischen Verhaltens sein. Folgende Gegenüberstellung stellt die Entsprechungen zusammen:
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Sadduzäer
Jesus
Die Sadduzäer lehnen im Unterschied zu den Pharisäern die „Überlieferung der Väter“ ab (Ant 13, 297f.408f).
Jesus lehnt „Überlieferungen der Väter“ ab, besonders dort, wo sie dem ursprünglichen Willen Gottes widersprechen (Mk 7,6–13).
Die Sadduzäer kultivieren Streitgespräche: Sie widersprechen bewusst den Lehrern ihrer Weisheit (Ant 18,16f).
Jesus tritt in der Öffentlichkeit durch Streitgespräche hervor. Er widerspricht religiösen Autoritäten (Mk 2,1–3,6; Mk 10,1–9).
Die Sadduzäer halten die Gegenwart für den Ort von Heil und Unheil und lehnen die Eschatologisierung des Denkens und Lebens ab (Bell 2,162– 166 u. ö.).
Jesus modifiziert die futurische Eschatologie durch eine „Gegenwartseschatologie“: Die Gegenwart ist erfüllte Zeit, Beginn des endgültigen Heils (Mk 1,14f; 2,18–22 u. ö.).
Die Sadduzäer weichen in ihrem privaten Verhalten von ihrem Verhalten in der Öffentlichkeit ab (Ant 18,17).
Jesus entzieht die private Frömmigkeit der Sozialkontrolle der Öffentlichkeit (Mt 6,1–18).
Es ergibt sich folgendes Bild: Jesus tritt der Tempelaristokratie in einer Haltung gegenüber, die diese umso mehr herausforderte, als hier ein einfacher Galiläer eine „Vollmacht“ in Anspruch nahm, die sie angesichts seiner niedrigen Herkunft als Anmaßung erleben musste. Mit Recht fragte die Tempelaristokratie Jesus nach der Tempelreinigung: „In welcher Vollmacht tust du das?“ (Mk 11,28). 6.4 Jesus und die Herodianer
Der nur in Mk 3,6 und 12,13 begegnende Begriff geht auf die lateinische Wortbildung „Herodiani“ zurück, die (analog zu Caesariani, Pompeiani) die politischen Anhänger einer führenden Gestalt bezeichnet. Die Herodäer waren Klientelfürsten, die seit 40 bzw. 36 v. Chr. das Land im Auftrag der Römer regierten. Von den drei Herodessöhnen setzten die Römer Archelaos nach 10 Jahren ab, die beiden anderen, Antipas und Philippus, hatten dessen Schicksal vor Augen und mussten sich durch Aufrechterhaltung der inneren Ruhe und Ordnung legitimieren. Gab es bei der direkten Regierung durch römische Präfekten im Süden Schwierigkeiten, konnte ihnen das nur recht sein. Dem entspricht, dass zwischen Pontius Pilatus und Herodes Antipas ein gespanntes Verhältnis herrschte (Lk 23,12). Herodes Antipas gehörte zu der Gesandtschaft, die nach Philo, LegGai 299–305 Pilatus überreden wollte, die goldenen Schilde in seinem Palast zu entfernen, die öffentlich Anstoß erregt hatten. Während des ersten Jahrhunderts konnten sich die herodäischen Klientelfürsten halten. Erst nach dem Tod Agrippas II. in den 90er Jahren hörte ihre Herrschaft auf. Diese basierte darauf, dass sie Anhänger und Unterstützer im Volk fand und dadurch für die Römer vorteilhafter war als deren direkte Herrschaft. Dass die Herodianer nur bei einer Sabbatheilung (Mk 3,6) und bei der Steuerfrage (12,13) erscheinen, spricht für historische Erinnerungsspuren in diesen Notizen. Nur spezielle Verhältnisse Palästinas erklären ihr Auftreten an diesen beiden Stellen: Die Steuerzahlung war im jüdischen Palästina dann umstritten, wenn sie direkt an die Römer geleistet wurde. Daher hatte es beim Übergang zur direkten römischen Herrschaft
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in Judäa eine Steuerverweigerungskampagne unter Judas Galilaios gegeben. Unproblematischer war die Steuerzahlung an einen jüdischen Klientelfürsten, der von seinen Einkünften den Tribut an die Römer zahlte. Die Herodäer waren eine Art „Geldwaschanlage“ und profitierten von religiösen Vorbehalten gegenüber der direkten Steuerzahlung. Es ist daher glaubhaft, wenn sie Jesus zu einer Stellungnahme zur Steuer verleiten wollten (Mk 12,13–17). Die mit ihnen auftretenden Pharisäer vertraten wahrscheinlich den Standpunkt des Judas Galilaios, dass jede Zahlung an den Kaiser Götzendienst sei. Wenigstens hat Judas Galilaios einmal zusammen mit einem Pharisäer mit dieser Begründung zur Steuerverweigerung aufgerufen (Ant 18,4f). Auch das Auftreten von Herodianern in Mk 3,1–6 ist gut motiviert. Es geht hier nicht nur um die Einhaltung jüdischer Sabbatgebote, sondern um eine politische Debatte. Jesus fragt: „Ist es erlaubt, am Sabbat Gutes zu tun oder Böses zu tun, Leben zu retten oder zu töten?“ (3,4). Im Kontext steht die Frage: „Töten oder Heilen“ nicht zur Diskussion. Jesus spielt vielmehr auf die Debatte über die Verletzung des Sabbatgebots im Krieg an. Nachdem sich während des Makkabäeraufstandes Juden ohne Widerstand hatten hinmetzeln lassen (1Makk 2,41), wurden Kriegshandlungen zur Selbstverteidigung am Sabbat erlaubt (Ant 12,272–277). Eine Anspielung auf diese Debatte setzt Vertreter der herrschenden Schicht voraus: Nur sie können Krieg führen. Die Herodianer begegnen also nicht zufällig in zwei Perikopen, in denen es (auch) um politische Machtausübung geht, sei es um die Macht, Zwangsabgaben (oder „Steuern“) zu erheben, sei es um die Verfügung über militärische Gewalt. Einige Menschen aus dem Umkreis des Herodes Antipas haben wohl den Weg zu Jesus gefunden. Unter seinen Anhängerinnen war eine Johanna, Frau eines herodäischen Verwaltungsbeamten (Lk 8,3). Später begegnet in Antiochien ein Vertrauter des Herodes, Menahem, als Mitglied der dortigen Gemeinde (Apg 13,1). Auch im Blick auf die Herodianer kennen die Quellen nicht nur Schwarz-Weiß-Malerei. Die komplexe historische Wirklichkeit schimmert auch hier durch.
7. Zusammenfassung und hermeneutische Reflexion Wer war Jesus? Die Frage gilt oft als unbeantwortbar. Über seine Person und sein Leben könne man „so gut wie nichts mehr wissen“, meinte Rudolf Bultmann.51 Diese viel zitierte Feststellung trifft nicht zu. Richtig ist nur: Wir wissen nichts über die Entwicklung Jesu von seiner Kindheit bis zu der Zeit, als er in die Öffentlichkeit trat. Jesus unterscheidet sich darin nicht von anderen historischen Gestalten der Antike. Doch was ein Mensch ist, zeigt sich nicht nur diachron in der Folge seiner Lebensstadien, sondern ebenso synchron in seinen zwischenmenschlichen Beziehungen. Davon lassen die Quellen über Jesus sehr viel erkennen. Wir erhalten dadurch ein Profil seiner Person, wenn auch nur für die Zeit seines öffentlichen Wirkens. Jesus war ein Charismatiker, von dem eine große Ausstrahlungskraft ausging, faszinie51 R.Bultmann, Jesus, 1926, 41970, 10.
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rend für seine Anhänger, irritierend aber nicht nur für seine Gegner. Diese Ambivalenz zieht sich durch alle seine Beziehungen. Schon seine Familie irritierte er so sehr, dass sie ihn für „verrückt“ hielt (Mk 3,21). Der Konflikt mit ihr spiegelt sich in familienkritischen Worten z. B. Lk 12,51–53 par. Trotzdem verdankt er seiner Familie vielleicht sein Charisma, falls sie sich für Nachkommen Davids hielt und die Erwartung hatte, einer von ihnen könne der erwartete Davidide sein. Doch ist das alles andere als sicher. Jesus hat sich gegenüber solchen Erwartungen auf jeden Fall spröde verhalten. Entscheidende Impulse verdankt er Johannes dem Täufer. Er ließ sich von ihm als Sünder taufen, übernahm wahrscheinlich mehr von seiner Verkündigung, als wir erkennen können, auf jeden Fall aber zwei Bildfelder mit Vegetationsmetaphern von Saat und Ernte, vom Baum und seiner Frucht. Er entwickelte sie weiter, um mit ihnen die Gnadenpredigt der Gerichtspredigt vorzuordnen. Wahrscheinlich übernahm er vom Täufer auch die Erwartung, dass nach ihm eine Heilsgestalt kommen wird, um dadurch politisch brisante Erwartungen auf diese Gestalt umzulenken. Aber er distanzierte sich nicht wie der Täufer von dieser Gestalt als einem „Stärkeren“, sondern stellte sich mit ihm als Menschensohn auf eine Stufe. Die Beziehung zum Täufer war positiv, aber nicht ohne Ambivalenz: Die Anfrage des Täufers, ob er der Kommende sei, zeigt eine Skepsis gegenüber Jesus (QLk 7,18–23) Das Charisma, das der Täufer in ihm geweckt hatte, gab Jesus an seine Jünger weiter. Die Wahl von zwölf Jüngern sollte der Beginn der Wiederherstellung Israels sein, nicht als messianische Monarchie, sondern als repräsentative Volksherrschaft: Die „Zwölf“, einfache Fischer und Bauern, sollten das vereinigte Israel als Kollektiv regieren. Er sandte sie als Boten der Gottesherrschaft aus und gab ihnen asketische Regeln mit. Ihre Missions-Askese hatte eine andere Funktion als die Protest-Askese des Täufers, sie diente nicht dem Rückzug in die Wüste, sondern der Sendung in die Welt, um Menschen zu gewinnen. Aber Jesus bereitet seine Jünger auch darauf vor, dass sie dezidiert abgelehnt werden. Auch ihr Charisma wird ambivalent wirken (QLk 10,1–12) Charisma zeigt sich auch in der Fähigkeit Jesu, Unkonventionelles zu vertreten. Das wird in Jesu Aussagen zu Frauen deutlich. Ungewöhnlich war, dass ein Lehrer Frauen als Schüler hatte und Jesus sie in seiner Verkündigung oft neben den Männern erwähnt. Noch ungewöhnlicher war, dass einige mit ihm zeitweise durch die Lande zogen, ihn also nicht nur materiell als sesshafte Sympathisantinnen unterstützten. Ein Charismatiker polarisiert. Charisma besteht darin, die Ablehnung durch die Umwelt positiv umzuinterpretieren und auch unter Skeptikern und Gegnern Anhänger zu gewinnen. Jesus wirkt zwar wie ein Kontrast zu den „Schriftgelehrten“, ist sich aber hinsichtlich des Doppelgebots der Liebe mit einem Schriftgelehrten einig (Mk 12,28–34). Obwohl Pharisäer ihn in konkreten Verhaltensfragen kritisieren, teilt er manche ihrer religiösen Überzeugungen und hat zu einigen Pharisäern ein positives Verhältnis. Vielleicht vertrat er gegenüber ihrer von Jerusalem geprägten Frömmigkeit eine lokale galiläische Mentalität, in die Elemente sadduzäischen Denkens eingegangen waren, wie z. B. die Ablehnung der „Vätertraditionen“. Obwohl Jesus den Sadduzäern als Vertretern einer Theologie der Oberschicht fernstand, zeigt sein Denken Strukturverwandtschaften mit ihrem Denken. Auch bei Jesus begegnen Merkmale eines aristokratischen Denkens, aber modifiziert in einem populären Milieu.
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Auffällig ist, dass in den vormarkinischen Überlieferungen keine Beziehung zwischen den Konflikten und Streitgesprächen Jesu und der Passion hergestellt wird. Umgekehrt spielen in der Passionsgeschichte die vorhergehenden Debatten keine Rolle. Jesu eigentliche Gegner sind Vertreter der Jerusalemer Tempelaristokratie: Hohepriester und Sadduzäer. Die Pharisäer treten als Gegner in der Passion ganz zurück. Die erste Antwort auf die Frage: Wer war Jesus? lautet daher: Er war ein jüdischer Charismatiker. Dabei erkennen wir in den von ihm geprägten „Erinnerungen“ ein widerkehrendes Muster. Jesus fasziniert und irritiert zugleich. Er wirkt ambivalent. Selbst bei mit ihm eng verbundenen Kreisen zeigt sich das: Seine Familie hält ihn für verrückt, sein „Lehrer“ zeigt Skepsis ihm gegenüber, seine Jünger verlassen ihm, einer verrät ihn sogar. Umgekehrt gewinnt er unter seinen Gegnern Anhänger: Pharisäer warnen ihn vor Herodes, ein Schriftgelehrter tritt in die Nachfolge ein, selbst im Synedrium hat er verborgene Sympathisanten. Er wirkt wie so viele Charismatiker ambivalent. Dass er ein Charismatiker war, kann sowohl soziologisch als auch theologisch verstanden werden. Theologisch gesehen ist Charisma eine Gabe Gottes, soziologisch eine menschliche Begabung. Es ist eine sehr ambivalente Gabe. Man kann mit ihr führen und verführen. Schon das Urchristentum wusste, dass zum Messias der Pseudomessias, zum Propheten der Pseudoprophet gehört! Der Gegensatz liegt auch nicht nur darin, dass Theologen die vertikale Dimension des Charismas als Beziehung zu Gott, Soziologen aber die horizontale Dimension der Beziehung zwischen den Menschen beleuchten. Denn auch im Urchristentum erweist sich die „Gottesnähe“ des Charismatikers in seiner Fähigkeit, eine Gemeinschaft zu gründen! Am Ende bleibt als Unterschied: In der Theologie wird ein religiöses und in der Soziologie ein sozialwissenschaftliches Bezugssystem vorausgesetzt. Der Begriff „Charisma“ ist von beiden Seiten her zugänglich – als Bezeichnung für eine außergewöhnliche Begabung und als Medium der Offenbarung. Charisma zeigt sich nach Paulus in von Gott gegebenen außernormalen Begabungen in Prophetie, Wundermacht und Lehre (vgl. Röm 12,6; 1Kor 12,30). In den folgenden Paragraphen werden diese verschiedenen Aspekte des Wirkens Jesu für sich besprochen. Insofern handeln alle von Jesus als Charismatiker: als Prophet, Wundertäter und Lehrer.
§ 10 Jesus als Prophet: Die Eschatologie Jesu
D.C.Allison, Jesus of Nazareth. Millenarian Prophet, 1998; J.Becker, Jesus von Nazaret, 1996, 100–275; O.Camponovo, Königtum, Königsherrschaft und Reich Gottes in den frühjüdischen Schriften, 1984; J.G.Gager, Kingdom and Community. The Social World of Early Christianity, 1975; V.Gäckle, Das Reich Gottes im Neuen Testament, Auslegungen – Anfragen – Alternativen, 2018; M.Hengel/A.M.Schwemer (Hg.), Königsherrschaft Gottes und himmlischer Kult im Judentum, im Urchristentum und in der hellenistischen Welt, 1991; L.Jacobs, Art. Herrschaft Gottes/Reich Gottes III, TRE 15 (1986) 190–196; W.G.Kümmel, Verheißung und Erfüllung. Untersuchungen zur eschatologischen Verkündigung Jesu, 1945, 21953; A.Lindemann, Art. Herrschaft Gottes/Reich Gottes IV, TRE 15 (1986) 196–208; J.P.Meier, Marginal Jew 2: Mentor, Message, and Miracles, 1994, 237–506; H.Merklein, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft, 1983; M.Philonenko, Das Vaterunser. Vom Gebet Jesu zum Gebet der Jünger, 2002; M.Reiser, Die Gerichtspredigt Jesu. Eine Untersuchung zur eschatologischen Verkündigung Jesu und ihrem frühjüdischen Hintergrund, 1990; A.M.Schwemer, Gott als König in den Sabbatliedern, in: M.Hengel/A.M.Schwemer, Königsherrschaft Gottes und himmlischer Kult im Judentum, im Urchristentum und in der hellenistischen Welt, 1991, 45–118; H.Weder, Gegenwart und Gottesherrschaft. Überlegungen zum Zeitverständnis bei Jesus und im frühen Christentum, 1993; J.Weiß, Die Predigt vom Reich Gottes, 1892; ders. Die Idee des Reiches Gottes in der Theologie, 1901; W.Zager, Gottesherrschaft und Endgericht in der Verkündigung Jesu. Eine Untersuchung zur markinischen Jesusüberlieferung einschließlich der Q-Parallelen, 1996; E.Zenger, Herrschaft Gottes/ Reich Gottes II, TRE 15 (1986) 176–189.
Zentrum der Verkündigung Jesu ist die Königsherrschaft Gottes. Seine Botschaft ist: „Nahe (zu euch) ist die Gottesherrschaft gekommen“ (Mk 1,15/QLk 10,9). Sie begegnet in allen synoptischen Schichten, auch im ThEv, seltener im sonstigen Urchristentum. Wenn Paulus vom „Erben“ der Gottesherrschaft spricht (1Kor 6,9f; 15,50; Gal 5,21), meint er das „ewige Leben“.1 Joh 3,3.5 weitet das Jesuswort, das Kindern das Eingehen in die Gottesherrschaft verheißt, auf alle aus, die durch den Geist wiedergeboren sind. Aber weder für Paulus noch das JohEv ist der Begriff so zentral wie für Jesus. Jesus muss ihn nicht erklären. Seinen Hörerinnen und Hörern war er aus biblischen Schriften, einigen auch aus apokalyptischen Traditionen, allen aber aus Gebeten geläufig. Umstritten ist seine Interpretation in der Forschungsgeschichte. 1
Vom „Erben der Gottesherrschaft“ ist auch im Gleichnis vom Weltgericht die Rede (Mt 25,34), sonst in Verbindung mit dem „ewigen Leben“ (Mk 10,17; Lk 18,18). Wenn das Gottesreich bei Paulus nicht in Essen und Trinken besteht (Röm 14,17), widerspricht das dem Essen und Trinken in ihm in Mt 8,11/ Lk 13,29. Es besteht bei Paulus in Wort und Macht (1Kor 4,20). Gott beruft in das Reich Gottes (1Thess 2,12). Christus übergibt am Ende die „Herrschaft“ dem „Vater“ (1Kor 15,24).
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Dritter Teil: Das Wirken und die Verkündigung Jesu
1. Phasen der Forschungsgeschichte Nach H.S.Reimarus (1694–1768) hat Jesus eine vernunftgemäße Ethik der Nächstenliebe mit der politischen Eschatologie eines messianischen Reiches verbunden. Beides war für Reima rus unvereinbar. Andere Aufklärer konnten Ethik und Eschatologie zusammendenken, z. B. I.Kant (1724–1804), für den das Reich Gottes „die Menschheit organisiert nach Tugendgesetzen“ war.2 Es wird Realität, wo die Pflicht als kategorischer Imperativ herrscht. Kant beeinflusste damit die ethische Eschatologie von A.Ritschl. 1.1 Die ethische Eschatologie: A.Ritschl
Nach Albrecht Ritschl3 (1822–1889) ist das Reich Gottes die Liebesgemeinschaft der Menschen als höchstes Gut. Sie beginnt nach Lk 17,20f im Innern des Menschen „in euch“ und breitet sich nach den Wachstumsgleichnissen durch menschliche Mitarbeit aus.4 Sofern Jesus von zukünftigen, kosmischen Katastrophen spricht, übernehme er jüdisch-apokalyptische Vorstellungen, die für ihn nicht wichtig seien. Ritschl „lutheranisierte“ die Aufklärungstradition von I.Kant,5 indem er die Pflicht durch die Liebe ersetzte und die Rechtfertigung des Sünders zur Aufnahmebedingung für das Reich Gottes machte. Gleichzeitig „modernisierte“ er die lutherische Tradition: Das Reich Gottes realisiere sich innergeschichtlich durch menschliche Mitwirkung. Diese Deutung des Reiches Gottes verlor um die Jahrhundertwende an Plausibilität, als die religionsgeschichtliche Schule die These vertrat, dass Jesus eine allein von Gott herbeigeführte apokalyptische Veränderung der Welt erwartete. Führend dabei war J.Weiß. 1.2 Die „konsequente Eschatologie“: J.Weiss, A.Schweitzer
J.Weiß (1863–1914) interpretierte in seinem 1892 erschienenen Buch „Die Predigt vom Reich Gottes“ Jesus in einem apokalyptischen Kontext. Jesus erwartete eine nach kosmischen Katastrophen hereinbrechende neue Welt, die allein Gott herbeiführen wird. Beleg dafür war Mk 4,28, wonach die Erde „von selbst“ ohne Zutun des Menschen Frucht hervorbringt. Palästina werde der Mittelpunkt des neuen Reiches sein, in dem Jesus mit seinen Jüngern über das wiederhergestellte Zwölfstämmevolk und die von überall herbeiströmenden Heiden herrschen wird. Dieses Reich Gottes sei Zukunft, präsentische Aussagen seien Ausdruck der prophetischen Hochstimmung Jesu, ethische Forderungen Einlassbedingungen in dieses Reich. A.Schweitzer (1875–1965)6 präzisierte diese Deutung: Jesus habe das unmittelbare 2 3 4 5 6
I.Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 3. Stück. A.Ritschl, Unterricht in der christlichen Religion, Bonn 1875, bes. § 5–10. Vgl. § 5 die Bilder deuten „unter der Frucht immer ein Produkt der Menschen an, welches aus deren Selbsttätigkeit“ hervorgehe. J.Weiß, Die Idee des Reiches Gottes*, 1901, 82–94, zu Kants Anschauung vom Reich Gottes. A.Schweitzer, Von Reimarus zu Wrede, 1906, 347–397 = Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, 91984, 390–443.
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Hereinbrechen der Gottesherrschaft erwartet und seine Jünger ausgesandt, um Israel darauf vorzubereiten in der Überzeugung, dass sie mit den Städten Israels nicht zu Ende kommen würden, bevor der Menschensohn käme (Mt 10,23). Als nach Rückkehr der Jünger klar war, dass das Ende nicht eingetreten war, habe Jesus aufgrund dieser ersten „Parusieverzögerung“7 den Entschluss gefasst, durch freiwillige Übernahme der messianischen Wehen, die nach apokalyptischer Überzeugung die neue Welt einleiten, das Ende herbeizuzwingen. Er sei nach Jerusalem gezogen, um dort zu leiden. Jesu Ethik sei eine „Interimsethik“, die nur für den Ausnahmezustand kurz vor Anbruch des Reiches Gottes gelte.8 Diese konsequenteschatologische Deutungen provozierten einen Gegenentwurf. 1.3 Die „realized eschatology“: C.H.Dodd
Nach Charles Harold Dodd (1884–1973) ist Jesu Botschaft, dass alle eschatologischen Erwartungen in seiner Person realisiert sind.9 Die Aussage: „Das Reich Gottes ist nahegekommen“ (ēggiken, Mk 1,15) sei gleichbedeutend mit: „Die Herrschaft Gottes ist schon angekommen“ (ephthasen, Mt 12,28/Lk 11,20). Die Gerichtsgleichnisse Jesu, die Krisisgleichnisse, handelten nicht vom Jüngsten Gericht, sondern von der sich gegenwärtig vollziehenden Scheidung unter den Menschen angesichts der Gottesherrschaft und seien erst später futurisch missverstanden worden. Das Nebeneinander einer futurischen Deutung der Eschatologie bei J.Weiß und ihrer präsentischen Deutung bei C.H.Dodd forderte eine Synthese heraus. 1.4 Die heilsgeschichtliche Eschatologie: W.G.Kümmel
Werner Georg Kümmel (1905–1995) wies nach, dass Jesus sowohl präsentische als auch futurische Aussagen über die Gottesherrschaft gemacht hat.10 In Jesus sei Gegenwart, was das zukünftige Reich bringen wird. Jesus rechnete aber mit einer (kurzen) Zeit zwischen seinem Tod und dem Kommen des Reiches Gottes und schuf damit den Ansatz zu einer „heilsgeschichtlichen Theologie“, die diese durch Parusieverzögerung entstandene Zwischenzeit zu einer langen Epoche ausdehnte. Dadurch wurde besonders im lk Doppelwerk die Geschichte zu einer Folge heilsgeschichtlicher Epochen als Zeit des Alten Testaments, Zeit Jesu und Zeit der Kirche. Ganz anders aber deutete die existenziale Theologie die Spannung von Gegenwart und Zukunft.
7 A.Schweitzer, Reimarus, 1906, 356 = Geschichte 91984, 407. 8 A.Schweitzer, Das Messianitäts- und Leidensgeheimnis. Eine Skizze des Lebens Jesu, 1901 31956, 18– 23. 9 Vgl. C.H.Dodd, The Parables of the Kingdom, 1935. 10 W.G.Kümmel, Verheißung und Erfüllung*, 1945.
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Dritter Teil: Das Wirken und die Verkündigung Jesu
1.5 Die existenziale Eschatologie: R.Bultmann
Rudolf Bultmann (1884–1976) vertrat exegetisch zwar die Überzeugung der konsequenten Eschatologie, Jesus habe in einem apokalyptischen Mythos in Erwartung des nahen Weltendes gelebt,11 doch gewann er diesem Mythos hermeneutisch einen existentiellen Sinn für die Gegenwart ab. Er stelle jeden Menschen vor eine letzte Entscheidung. „Das Bewußtsein, daß … seine Entscheidungsstunde befristet ist, kleidet sich in das Bewußtsein, daß die Entscheidungsstunde für die Welt da ist.“12 Diese präsentische Bedeutung der futurischen Eschatologie verstand er als hermeneutische Deutung der Botschaft Jesu für unsere Zeit, nicht als exegetische These, wie Jesus selbst seine Erwartung des Gottesreiches verstanden habe. Sie wurde in seiner Schule und in seiner Nachfolge freilich zu einer Deutung, die Jesus selbst vertreten habe. (a) Die Schüler Bultmanns meinten, schon Jesus habe seine Zukunftserwartung „entmythologisiert“ und als Erfahrung der andrängenden Nähe Gottes interpretiert.13 Entscheidend sei für Jesus die Veränderung, die das Reich Gottes in der Gegenwart bewirkt. Das Existenzverständnis der existenzialen Interpretation wird auf Jesus selbst zurückgeführt. (b) H.Weder deutete in: Gegenwart und Gottesherrschaft. Überlegungen zum Zeitverständnis bei Jesus und im frühen Christentum, 1993, die Eschatologie in räumlichen Metaphern. Nicht der Zeit-, sondern der Machtaspekt der βασιλεία (basileia) sei entscheidend. Durch Jesu Wirken werde die Gegenwart „zum Ort, wo die wahre Zeit aufblitzt“.14 (c) N.Perrin wollte Jesus durch ein symbolisches Sprachverständnis gerecht werden:15 Jesu Eschatologie liege der atl. Mythos vom Chaoskampf und Thronbesteigungsfest JHWHs zugrunde. Das Gottesreich sei ein mehrschichtiges „Symbol“, das sich der Übersetzung in nicht-symbolische Sprache entziehe. Perrin wertet den Mythos als Bild positiv. Alle diese Versuche können nicht den „Stachel“ beseitigen, dass Jesus das nahe Ende der Welt, das Gottesreich, erwartet hat, aber sich darin irrte. Das ließ nach Analogien zu Naherwartungen suchen, um sie besser zu verstehen.
1.6 Die sozialgeschichtlich gedeutete Eschatologie
Nach 1970 wurde die Erwartung der Gottesherrschaft bei Jesus real- und sozialgeschichtlich gedeutet. J.G.Gager ordnete sie 1975 in millenaristische Erwartungen ein, die in der Konfrontation von imperialistischen und einheimischen Kulturen entstehen. Die Unter legenen entwickeln gegenüber dominierenden Kulturen „nativistische“ Reaktionen der 11 R.Bultmann, Jesus, 1926. 12 R.Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, 1953, 22. 13 Dies gilt für H.Conzelmann, E.Käsemann, E.Fuchs und E.Jüngel; vgl. L.Goppelt, Theologie des Neuen Testaments, 19852, 103. 14 H.Weder, Gegenwart und Gottesherrschaft*, 1993, 11–64. 15 N.Perrin, Jesus and the Language of the Kingdom. Symbol and Metaphor in New Testament Interpretation, 1976.
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Feindschaft.16 Der Vergleich mit der Jesusbewegung zeigt: Sie war eine Alternative zur radikaltheokratischen Erwartung der von Judas Galilaios ausgelösten nativistischen Aufstandsbewegung gegen die Römer: „Wunderheilungen traten in der Jesusbewegung an die Stelle, die in der Widerstandsbewegung terroristische Aktionen innehatten.“ (G.Theißen)17 Im Unterschied zu millenaristischen Bewegungen konnte sich die Jesusbewegung daher nach Ostern in der überlegenen fremden Kultur des Römerreichs ausbreiten.18 Ferner rief die Parusieverzögerung nach J.G.Gager kognitive Dissonanzen hervor, die das Urchristentum durch erhöhte missionarische Aktivität bewältigte.19 Meist wird dabei angenommen, die von Jesus hervorgerufene Naherwartung sei erst nach Ostern enttäuscht worden.20 Doch hat schon Jesus nach dem Tod des Täufers eine erste Parusieenttäuschung verarbeiten müssen. Als Anhänger des Täufers musste er nach dessen Hinrichtung das von diesem Propheten angekündigte Strafgericht erwarten. Jesus bewältigte dessen Ausbleiben durch kognitive Umstrukturierung: Wenn Gott den Menschen noch eine Chance lässt, ist das ein Zeichen seiner Gnade.21 1.7 Die erinnerungshermeneutisch gedeutete Eschatologie
Die Aussagen über die Gottesherrschaft lassen „Erinnerungsmuster“ erkennen, die mit weit größerer Wahrscheinlichkeit auf Jesus zurückgehen als jedes einzelne Wort. Dabei begegnet man immer wieder folgenden Gegensätzen: 1. Die „Königsherrschaft Gottes“ ist gegenwärtig und zukünftig. 2. Sie umfasst Heils- und Gerichtserwartung. 3. Sie wird von Gott verwirklicht, aktiviert aber Menschen. 4. Sie ist dynamisch ein Prozess und räumlich ein Reich.22 5. Sie ist theozentrisch und offen für messianische Vermittler. 16 J.G.Gager, Kingdom*, 1975. Chiliasmus, von griech. „chilia“ = 1000, meint die Erwartung des tausendjährigen Reiches nach Apk 20. Lat. „millennium“ bedeutet Jahrtausend. 17 G.Theißen, Soziologie der Jesusbewegung, 1977, 60. 18 Vgl. G.Theißen, Jesus – der Prophet einer millenaristischen Bewegung? Sozialgeschichtliche Überlegungen zu einer sozialanthropologischen Deutung der Jesusbewegung (1999), in: Jesus als historische Gestalt, Beiträge zur Jesusforschung, 2003, 197–228. 19 J.G.Gager, Kingdom*, 37–49: Kognitive Dissonanz motiviert zum Handeln. Das Ausbleiben der erwarteten Parusie Christi führte im Urchristentum zu „Rationalisierungen“ (z. B. Mk 13,10: „zuerst muss das Evangelium unter allen Völkern verkündigt werden“) und zu missionarischer Aktivität, um den Fakten zum Trotz an der eschatologischen Überzeugung festhalten zu können. 20 E.Gräßer, Die Naherwartung Jesu, 1973. 21 G.Theißen/A.Merz, Gerichtsverzögerung und Heilsverkündigung bei Johannes dem Täufer und Jesus, in: Jesus als historische Gestalt, 2003, 229–253. 22 Der Ausdruck basileia tou theou umfasst als „Gottesherrschaft“ den dynamischen Vollzug der Herrschaft Gottes und als „Reich Gottes“ die räumliche Vorstellung eines Herrschaftsbereiches. Ein Plädoyer gegen das dynamische Verständnis ist V.Gäckle, Reich Gottes*, 2018. In Mk 3,24 ist das Ende der Satansherrschaft jedoch eindeutig ein dynamischer Prozess. Hier kommen nicht zwei Räume im Konflikt, sondern zwei Herrschaftsansprüche.
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Dritter Teil: Das Wirken und die Verkündigung Jesu
Die Eschatologie Jesus verbindet dabei kontraintuitive und plausible Botschaften: Dass Gott der Schöpfer aller Dinge war, war allgemeine Überzeugung, dass er seine Herrschaft in der Gegenwart durchsetzt, kontraintuitiv: Alle Regeln der Schöpfung konnten jetzt aufgehoben werden. Ferner verarbeiten Bilder von der Gottesherrschaft „kontrapräsentische Erinnerungen“ als Leitbilder und Kritik der Gegenwart. Dabei reaktivierte Jesus verschiedene Modelle: (a) War das Reich Gottes für ihn das Königtum des Weisen, also eine Lebensform und keine Erwartung des Weltendes (so J.D. Crossan)?23 Richtig ist, dass sich in Jesu Verkündigung Eschatologie und Weisheit verbinden. Wenn er den Jüngern unter Berufung auf Salomo Freiheit von Sorgen bei ihrem Weg in die Gottesherrschaft verheißt (Mt 6,25–34), griff er das Ideal des bedürfnislosen Weisen auf. Damit wird die Schöpfung erneut lebendig. (b) Jesus kennt ferner das Modell einer Herrschaft der Zwölf über die Stämme Israels. Er verwandelte damit den Messianismus in einen Gruppenmessianismus: Nicht ein einziger König soll über das erneuerte Israel regieren, sondern zwölf Jünger aus dem einfachen Volk.24 H.Roose wies nach, dass dabei die Erwartung einer Herrschaft der Israeliten über andere Völker durch die Herrschaft von Israeliten über ihr eigenes Volk ersetzt wurde.25 (c) Hinzu kommt das Modell des Tempels: J.Becker sah 1996 in der Zionstheologie den Ursprung der Erwartung der Königherrschaft Gottes.26 Ch.Grappe zeigte 2001, dass die Verkündigung Jesu vom Reich Gottes die Struktur des Tempels übernahm. Vorstellungen vom Reich Gottes waren vorher mit dem Tempel verbunden gewesen. Der Zustrom der Völker zum Zion wurde so zu einem Zustrom in die Gottesherrschaft.27
Erinnerungsbilder aus der Vergangenheit verwandelten sich so kontrapräsentisch in eschatologische Zukunftserwartungen. Die erhoffte Herrschaft Gottes erinnerte an Zeiten, in denen Israel nicht unter Fremdherrschaft stand, in denen kein König regierte und die Weisheit der Schöpfung erkennbar war. Die Konfrontation des Judentums mit dem Römischen Weltreich reaktivierte solche Erinnerungsbilder. Um die Verkündigung des Reiches Gottes zu erfassen, ist beides notwendig: erinnerungshistorische Analyse und realgeschichtliche Rekonstruktion.
2. Die Tradition vom Königtum Gottes Die Verkündigung der Gottesherrschaft basiert auf dem Bild von Gott als König. Damit ist seine gegenwärtige Herrschaft über die Welt gemeint, wie sie im Lob Gottes und in weisheitlicher Reflexion erkannt, im theokratischen Tempelkult erlebt und als Vollendung der 23 Vgl. J.D.Crossan, The Historical Jesus. The Life of a Mediterranean Jewish Peasant, 1991. Dagegen mit Recht: D.C.Allison, Jesus*, 1998. 24 G.Theißen, Gruppenmessianismus. Überlegungen zum Ursprung der Kirche im Jüngerkreis Jesu (1992), in: Jesus als historische Gestalt, 2003, 255–281. 25 H.Roose, Eschatologische Mitherrschaft. Entwicklungslinien einer urchristlichen Erwartung, 2004. 26 J.Becker, Jesus*, 1996, 100–275. 27 Ch.Grappe, Le Royaume de Dieu. Avant, avec et après Jésus, 2001.
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Geschichte erhofft wird. Alle drei Dimensionen, die weisheitliche, theokratische und eschatologische, gehören zusammen. Diese mehrdimensionale „Königsmetaphorik“ ist die religionsgeschichtliche Voraussetzung der Verkündigung Jesu. Sie entspricht der für Israel charakteristischen Geschichtsauffassung: Gottes Königtum begegnet in dem, was in der Schöpfung seit jeher Heil bringt, was im Kult als Gegenwart gefeiert wird, vor allem aber in dem, was sich in Zukunft durchsetzen wird. 2.1 Zum Ursprung der Vorstellung vom Königtum Gottes
Die Verehrung JHWHs als König hat kanaanäische Ursprünge und entstand in Israel parallel zum irdischen Königtum. Das statische Königtum Els (Gott ist König) wurde dabei in Ugarit mit dem dynamischen Königtum Baals (Gott wird König) verschmolzen und in Israel auf JHWH übertragen.28 Im AT verbinden sich daher von Anfang an „zeitlose“ und „dynamische“ Aussagen über Gottes Königtum. Sein Sitz im Leben ist der Tempelkult in Jerusalem.29 Dafür spricht der älteste datierbare Beleg für das Königtum Gottes, die Berufungs vision Jesajas (ca. 740–701) im Tempel, die er mit den Worten bezeugt: „Ich habe den König, JHWH Zebaoth, mit meinen Augen gesehen“ (Jes 6,5). Dieser kultische Sitz im Leben wird dadurch bestätigt, dass Gott als der gefeiert wird, der „über den Keruben thront“ (2Kön 19,14f = Jes 37,14–16; vgl. Ps 47,9; 99,1). Die Keruben, Mischwesen mit Menschengesichtern und Löwenkörpern, waren im salomonischen Tempel der Thronsitz JHWHs. Zahlreiche Psalmen verbinden seitdem Tempel, Zion und Königstitel in einer Zionstheologie, für die viele Texte im AT bis zu den Sabbatliedern in Qumran (4Q 400–406) zeugen.30 Sozialgeschichtlich hängt das Bild von Gott als König mit der Einführung des Königtums als Staatsform zusammen, wobei das Königtum Gottes gegenüber dem irdischen Königtum nicht nur legitimierende, sondern auch eine kritische Funktion hat.31 Theologisch lassen sich dabei schöpfungstheologische, theokratische und eschatologische Vorstellungen vom Königtum Gottes unterscheiden: In der Schöpfungstheologie ist Gott von Anfang an Herrscher der Welt. Seine gegenwärtige Herrschaft in Israel ist eine Theokratie. Erwartet wird seine universale Herrschaft als Eschatologie für die Zukunft.32
28 So die klassische These von W.H.Schmidt , Königtum Gottes in Ugarit und Israel, 1960. 29 Vielleicht ist das Königtum Gottes ein Erbe der „Jebusiter“, der kanaanäischen Urbevölkerung Jerusalems. Nach der Eroberung der Stadt durch David wurde der Jerusalemer Tempel zum Ort einer Verschmelzung altisraelitischen und kanaanäischen Erbes. Schon der vorisraelitische Stadtgott Saedaeq wurde als Gott-König verehrt, vgl. den Gen 14,18ff überlieferten Namen des Priesterkönigs Jerusalems „Melchisedek“. 30 Für J.Becker, Jesus*, 1996, 100–121, ist die Zionstheologie Ursprung der Erwartung vom Königreich Gottes. Vgl. die Königstitulatur in Ps 24,7–10 u.ö., die Zionspsalmen: Ps 46,48 u.ö., die Jahwe-KönigPsalmen von der Thronbesteigung Jahwes: Ps 45,93,96,97,99. R.Müller, Art. Psalmen, WiBiLex, 2013. 31 Vgl. N.Lohfink, Der Begriff des Gottesreichs vom Alten Testament her gesehen, in: J.Schreiner (Hg.), Unterwegs zur Kirche. Alttestamentliche Konzeptionen, 1987, 33–86. 32 Diese Unterscheidung im Anschluss an O.Plöger, Theokratie und Eschatologie, 1959, 129–142.
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2.2 Die schöpfungstheologische Herrschaft Gottes über die Welt
Dass Jesus ohne Erläuterung von Gottes Herrschaft sprechen kann, zeigt, dass dieser Begriff seinen Zuhörern vertraut war. Dabei wird meist an seine zeitlose Herrschaft über diese Welt gedacht. Psalm 145 lobt das Königtum Gottes, das sich in Fürsorge für seine Geschöpfe zeigt. Gott gibt allen Geschöpfen ihre Speise (145,15f) und wird mit den Worten gepriesen: „Dein Reich ist ein Reich für alle Ewigkeit, und deine Herrschaft währt von Geschlecht zu Geschlecht“ (145,13). In der Weisheit Salomos im 1. Jh.v. Chr. gelten alle Könige als „Diener seiner Königsherrschaft“ (SapSal 6,4). Die Weisheit zeigt dem Gerechten (Jakob) im Traum „das Reich Gottes und gab ihm Erkenntnis der Heiligen“ (SapSal 10,10 vgl. Gen 28). PsSal 17,1– 3.46 enthält die Vorstellung einer zeitlosen Gottesherrschaft sogar in einem messianischen Psalm mit einer Zukunftserwartung. Er versichert: „Der Herr selbst ist unser König auf immer und ewig“ (17,46 vgl. 17,3). Die Basileia-Verkündigung Jesu lässt sich aber nicht allein von diesen „zeitlosen“ Aussagen her verstehen. Allenfalls in Mt 6,33: „Suchet zuerst die Gottesherrschaft und seine Gerechtigkeit, dann wird euch das alles [Kleidung und Speise] zufallen“, könnten weisheitliche Aussagen über das Königtum Gottes als Fürsorge für seine Geschöpfe mit der apokalyptischen Vorstellung von der Gottesherrschaft verschmolzen sein.33 2.3 Die theokratische Herrschaft Gottes über Israel
Nach dem Exil feierte Israel seine gegenwärtige Existenz als Verwirklichung der Königsherrschaft Gottes im Kult in den Jahwe-König-Psalmen. Im damals entstandenen chronistischen Geschichtswerk, einer Ätiologie der theokratisch verfassten Kultgemeinde Jerusalems, setzt sich Salomo auf den „Thron JHWHs“ (2Chr 9,8). Zwischen seinem Königtum und dem Königtum Gottes gibt es keine Spannungen. Josephus definiert die Jerusalemer Gemeinde als „Theokratie“, durch einen Begriff, den er vielleicht selbst geprägt hat (Ap 2,164–166). Er meint damit eine Verfassung, in der Gott selbst durch seine Gesetze regiert: „Aristokratie ist das Beste …, in der ihr die Gesetze als Herrscher habt und ihnen entsprechend alles tut. Denn Gott soll euch als Herrscher genügen“ (Ant 4,223). Faktisch ist die Theokratie eine Priesterherrschaft. Als Pompejus 63 v. Chr. in den Streit zwischen den Thronprätendenten Hyrkan und Aristobulos eingriff, plädierten viele Juden für eine theokratische Herrschaftsform. Ihre Gesandtschaft erklärt, ihre Vorfahren hätten eine Gesandtschaft an den römischen Senat gesandt und von ihm die Führung über die Juden als über Freie und Unabhängige empfangen und „dass der Führer des Volkes nicht König, sondern Hohepriester genannt werden sollte. Diese (sc. die Hasmonäer), die aber jetzt herrschten, hätten die überlieferten Gesetze gebrochen und die Bürger ungesetzlicherweise versklavt. (Diod Sic XL,2 = GALJJ Nr. 64)
33 So M.Hengel/A.M.Schwemer, Königsherrschaft Gottes*, 1991, 12.
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Josephus bestätigt diese Überlieferung: Das Volk habe von Pompejus gefordert, nicht durch Könige beherrscht zu werden (Ant 14,41f). Gegen den Willen des Volkes setzten die Römer ein monarchisches Modell durch. Das theokratische Modell aber lebte in Galiläa bei Judas Galilaios wieder auf. Nach Jos Bell 2,56 griff er alle an, die nach Herrschaft strebten. Ant 17,272 sagt zwar in Spannung dazu, er habe selbst nach der Königsherrschaft gestrebt. Da aber Josephus dort die Aufstandsbewegungen als Bewegung von Königsprätendenten beschreibt – „sobald jemand genug Mitrebellen hatte, trat er als König an ihre Spitze“ (Ant 17,285) –, könnte er Judas hier an die anderen Rebellenführer angeglichen haben. Denn er sagt auch an dieser Stelle von ihm nur, er habe nach der Königswürde „gestrebt“ (Ant 17,272), während sich die anderen ein Diadem aufsetzten (Ant 17,273f; 17,280). Josephus unterstellt Judas Galilaios also nur Ambitionen auf einen königlichen Status, anderen aber dessen Usurpation. Für Jesu Botschaft von der Königherrschaft Gottes sagt dieser zeitgeschichtliche Kontext: Jesus knüpft an theokratische Erwartungen an, die gerade in Galiläa Resonanz gefunden hatten, muss sich aber deswegen deutlich davon unterscheiden. Er wollte keine Theokratie in dieser Welt gründen, sondern die eschatologische Gottesherrschaft in einer neuen Welt verwirklichen. In ihr sollten nicht Könige und Priester, sondern seine Jünger über Israel herrschen (Lk 22,28–30). 2.4 Die eschatologische Herrschaft Gottes und Israels über die Völker
Die Erwartung dieser eschatologischen Gottesherrschaft ist ein prophetisches Erbe. Vor allem Deuterojesaja (Jes 52,7), Obadja (Ob 21) und Zephanja (Zeph 3,15) verwandelten die „Königsherrschaft Gottes“ nach der Katastrophe des Exils in eine Heilserwartung. Der „Freudenbote“ verkündet nach Deuterojesaja: „Dein Gott ist König geworden“ (52,7). Zusätze zu den Prophetenbüchern zeigen die Transformation dieser Erwartung durch einen apokalyptischen Dualismus zwischen dieser und der zukünftigen Welt. In diesen Zusätzen ist diese Botschaft aber (noch) keine Geheimlehre für wenige, sondern wurde mit den Prophetenschriften öffentlich verbreitet. Durchgehend finden wir in ihnen einen Gegensatz zwischen Israel und seinen Feinden, aber zugleich die Hoffnung, auch diese Feinde durch eine Völkerwallfahrt zum Zion für JHWH zu gewinnen. Ȥ Nach der kleinen Jesaja-Apokalypse wird Gott durch das Gericht über fremde Mächte und seinen Einzug in Zion König (Jes 33,17–22). Ȥ Die große Jesaja-Apokalypse verkündigt: „König geworden ist JHWH Zebaoth auf dem Berg Zion und in Jerusalem“ (24,23). Er hat die Könige der Erde besiegt (24,21f). Er wird allen Völkern auf dem Zion ein Mahl anbieten. Der Tod wird vernichtet (25,6–8). Ȥ Tritosacharja verheißt nach einem Gericht über die feindlichen Völker: „Und JHWH wird König sein über die ganze Erde“ (Sach 14,9). Ȥ Nach der Danielapokalypse löst das Reich Gottes die durch Tiere symbolisierten Weltreiche ab (Dan 2 und 7). Es kommt ohne Mitwirkung der Menschen.
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Dritter Teil: Das Wirken und die Verkündigung Jesu
Das Stichwort „Königreich Gottes“ musste zu der Zeit Jesu also sowohl Hoffnungen auf einen Sieg über die Heiden wecken als auch die Hoffnung, andere Völker ohne Krieg für sich gewinnen zu können. Am Ende werden alle Völker zum Zion strömen. Sie werden Gaben bringen, die Israeliten aus der Diaspora zurückführen und sich mit Israel in der Verehrung JHWHs vereinen.34 Manchmal stehen die beiden Erwartungen von einem Sieg über andere Völker und dem Zustrom der Völker im selben Text nebeneinander. In PsSal 18,28 wird zunächst verheißen: „Kein Fremder und Ausländer wird ferner unter ihnen wohnen“. Alle werden vertrieben. Danach aber wird Jerusalem so attraktiv sein, „dass Heiden kommen von den Enden der Erde, um seine Herrlichkeit zu sehen, als Gaben darbringend seine ermüdeten Söhne“ (18,31). Diese Ambivalenz löst Jesus zugunsten der Fremden auf. Sie werden in die Gottesherrschaft strömen. Sie werden nicht aus Israel entfernt, entfernt werden vielmehr die „Söhne des Reichs“ (Mt 8,11f). Dabei setzt Jesus eine Transformation der Eschatologie durch einen dualistischen Gegensatz zwischen dieser und der zukünftigen Welt voraus. Diese Transformation vollzog sich in apokalyptische Offenbarungsschriften. Sie erwarten eine neue Welt, die Gott gegen den Widerstand böser Mächte vollendet. Die neue Welt war in grauer Vorzeit nur wenigen Sehern in Visionen und Entrückungen zugänglich, die ihr Wissen in geheimen Büchern niedergeschrieben hatten. Ihre für die Endzeit „versiegelten“ Bücher vermitteln das Wissen um die neue Welt. Idealtypisch lassen sich Prophetie und Apokalyptik so unterscheiden:
Prophetie
Apokalyptik
Immanente Eschatologie: Propheten weissagen die Vollendung dieser Geschichte durch Gottes Handeln.
Transzendente Eschatologie: Apokalyptik weissagt eine neue Welt, an der Gerechte durch ihre Auferstehung teilhaben.
Offene Geschichtserwartung: Prophetie verkündet Gottes Willen, der aufgrund menschlicher Umkehr revidiert wird (vgl. Jona).
Geschichtsdeterminismus: Apokalyptik rekonstruiert einen determinierten Plan („es muss geschehen“, Dan 2,28f; Mk 13,7).
Individuelle Prophetengestalten verkünden unter eigenem Namen Gottes Willen – ergänzt durch (pseudonyme) Schülerprophetie
Pseudonyme Geheimschriften vorzeitlicher Autoren wie Adam, Henoch, Mose usw. gelangen in der Gegenwart ans Tageslicht
34 Die Völker bringen Gaben (Jes 60; Hag 2,6–9; Sach 14,14: Tob 13,13), dazu die Israeliten (Jes 14,2; Jes 49,22; 60,4.9; Jes 66,20; Zeph 3,20). Sie suchen Weisung (Jes 2,2–5; Mich 4,1–5) und verehren JHWH (Sach 2,15; 6,15; 8,20–22; 14,16–19; Jes 49,7; 55,5; 56,6–8).
Jesus als Prophet: Die Eschatologie Jesu
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Jesus vertritt inhaltlich eine apokalyptische Erwartung, aber in Form einer Prophetie, nicht in Geheimschriften aus der Vorzeit, sondern in öffentlicher mündlicher Rede in der Gegenwart. Seine Verkündigung ist Apokalyptik in prophetischer Form. Charakteristisch für seine prophetische Apokalyptik ist ein Gegensatz zwischen dem Reich Gottes und dem Satan.35Die Entstehung dieses Gegensatzes lässt sich in Aussagen über das „Reich Gottes“ in außerkanonischen apokalyptischen Schriften beobachten. Sie verschärften eschatologische Aussagen der kanonischen Schriften durch einen Dualismus von Gott und Satan. Ȥ Nach TestDan 5,10–13 setzt sich Gott gegen den Satan durch: „Und er selbst wird gegen Beliar (= den Satan) Krieg führen und siegreiche Rache über seine Feinde geben … denn der Herr wird in ihrer Mitte sein und der Heilige wird über ihnen König sein“ (5,10.13). (2. Jh. v. bis 1. Jh. n. Chr.) Ȥ 1QM VI,6 weissagt den Sieg der „Söhne des Lichts“36 in einer endzeitlichen Schlacht gegen die Feinde Israels. „Und dem Gott Israels wird die Königsherrschaft gehören, und durch die Heiligen seines Volkes wird er Kraft erweisen.“ Parallel zum Kampf gegen die Heiden verläuft der Kampf gegen Belial. (ca. 1. Jh. v. Chr.) Ȥ AssMos 10,1ff erwartet nach einer großen Religionsverfolgung die entscheidende Wende: „Und dann wird seine [Gottes] Königsherrschaft über all’ seine Kreatur erscheinen; dann wird der Teufel ein Ende haben und die Traurigkeit mit ihm hinweggenommen werden“ (10,1). Es folgt die Darstellung des Gerichts über die Heiden mit kosmischen Zeichen und der Erhöhung Israels in den Himmel. (Endfassung 1. Jh. n. Chr.) Ȥ Sib 3,767 vertritt im Gegensatz zu nationalen Erwartungen eine universale Herrschaft Gottes. Nach einem schrecklichen Krieg „wird er sein Königreich errichten für alle Zeiten über alle Menschen, er, der das heilige Gesetz einst den Frommen gab“. Zentrum wird Jerusalem sein, alle Völker werden durch das von Propheten ausgelegte Gesetz Gottes geeint. Es wird ein weltweites Friedensreich sein. (2. Jh. v. Chr.)
Gemeinsames Merkmal der apokalyptischen Aussagen zum Reich Gottes ist der dualistische Gegensatz zwischen dem Gottesreich auf der einen, den fremden Völkern und Satan auf der anderen Seite. Er zeigt sich bei Jesus im Gegensatz zwischen der Gottesherrschaft und den Dämonen (Mt 12,28; Mk 3,23–27) mit zwei neuen Akzenten: Die Gottesherrschaft kämpft nur gegen den Satan, nicht aber gegen die Fremden. Ferner ist der Sieg über den Satan schon Gegenwart. Die Zukunft der Gottesherrschaft beginnt nicht erst nach dem Ende dieser Welt, sondern mitten in ihr, ist zugleich gegenwärtig und zukünftig. Diese Zeitstruktur der Gottesherrschaft hat ein Modell in der Liturgie.
35 C.A.Evans, Exorcisms and the Kingdom: Inaugurating the Kingdom of God and Defeating the Kingdom of Satan, in: D.L.Bock/R.L.Webb, Key Events in the Life of the Historical Jesus, 2009, 151–179. 36 Selbstbezeichnung der Mitglieder von Qumran im Unterschied zu den „Söhnen der Finsternis“, vgl. 1QM I,1.3 u.ö.
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Dritter Teil: Das Wirken und die Verkündigung Jesu
2.5 Zukunft und Gegenwart von Gottes Königtum in Gebet und Liturgie
In der Zeit Jesu war Gottes gegenwärtige und zukünftige Königsherrschaft durch Gebet und Liturgie (anders als in geheimen apokalyptischen Schriften für Schriftgelehrte) im ganzen Volk bekannt. Mehrfach finden sich in der Liturgie kultisch-präsentische Aussagen über das ewige, himmlische Königtum JHWHs, an dem Menschen durch Teilnahme am Kult Anteil gewinnen: Ȥ Eine schon im zweiten Tempel als Responsorium auf die Aussprache des JHWH-Namens gebräuchliche Berakhaformel (=Lob- und Segensformel) lautet: „Gepriesen sei der Name der Herrlichkeit seiner Königsherrschaft für immer und ewig“.37 Ȥ Im Jubiläenbuch (um 150 v. Chr.) wird der Sabbat ein „Tag des heiligen Königreiches“ genannt (50,9). Das Halten des Sabbats gilt als Bekenntnis zu diesem Königtum und Teilnahme am himmlischen Hofstaat.38 Ȥ In den Sabbatliturgien Qumrans (ca. 150–50 v. Chr.) wird die Herrlichkeit der Königsherrschaft JHWHs von den Gläubigen gepriesen, die damit in die Chöre der Engel im himmlischen Gottesdienst einstimmen. Die hier gepriesene Königsherrschaft ist ausschließlich im himmlisch-göttlichen Bereich angesiedelt. Das den Höhepunkt der 13 Lieder bildende siebte Lied beginnt mit der Aufforderung: „Es sollen heiligen die Heiligen der Göttlichen den König der Herrlichkeit, … denn in der Pracht der Preiswürdigkeit ist die Herrlichkeit seines Königtums“.39 Diese Sabbatliturgien waren freilich nur den Mitgliedern der Qumran-Gemeinde bekannt. Ȥ Nach pharisäisch-rabbinischem Verständnis galt das Bekenntnis zum Monotheismus und das Rezitieren des Schema als Aufsichnehmen des „Joches der Königsherrschaft“.40
Wichtig ist: Die Bitte um das Aufrichten der Königsherrschaft Gottes in Zukunft begegnet in zwei Gebeten, die vielleicht schon zu der Zeit Jesu gesprochen wurden. Im 18-Bitten-Gebet heißt es: „Bringe wieder unsere Richter wie vordem … und sei König über uns, du allein“ (so die 11. Bitte, vgl. Bill IV, 212). Im Kaddischgebet wird gebetet: „Erhoben und geheiligt werde sein großer Name in der Welt, … sein Reich erstehe in eurem Leben und in euren Tagen und dem Leben des ganzen Hauses Israel schnell und in naher Zeit.“41 Diese Belege zeigen, dass Juden in der Zeit Jesu im liturgischen Kontext sowohl die gegenwärtige Herrschaft Gottes preisen als auch um ihr Kommen bitten konnten, ohne darin einen Widerspruch zu sehen. Das ewige Königtum Gottes ist Voraussetzung und Grundlage der künftigen Verwirklichung des Reiches. In doxologischer Sprache wird schon als gegenwärtig erlebt, was in der Realität noch aussteht. Durch ein Nebeneinander von gegenwärtigen und zukünftigen Aussagen über die Herrschaft Gottes fällt Jesus also nicht grundsätzlich aus seiner Zeit 37 38 39 40 41
Zit. nach A.M.Schwemer, Gott als König*, 1991, 45–118, 46, A. 3; vgl. auch 62 f. Weitere Interpretationshinweise bei A.M.Schwemer, Gott als König*, 1991, 52–54. 4Q 403 Frg. 1 i,31–33. Vgl. zur Interpretation A.M.Schwemer, Gott als König*, 1991, bes. 94–103. Vgl. L.Jacobs, Art. Herrschaft Gottes/Reich Gottes III., TRE 15 (1986) 190–196, S. 192 f. Zit. nach Barrett/Thornton Nr. 212, 239.
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heraus, jedoch glaubte er, die zukünftige Gottesherrschaft sei schon jetzt angebrochen – erlebbar nicht nur im Rahmen des Gottesdienstes, sondern im alltäglichen Leben wie in Heilungen und Gastmählern. Daher konnte er auch weisheitliche Schöpfungsmotive wie die blühenden Lilien (Mt 6,28) als Zeichen der gegenwärtigen Gottesherrschaft deuten sowie Motive einer theokratischen Gottesherrschaft neu beleben, nicht als Herrschaft von Priestern, sondern indem er zwölf Jünger aus dem Volk, die ihm in der Gegenwart nachfolgten, zu Regenten der zukünftigen Gottesherrschaft ernannte (Lk 22,28–30).
3. Gegenwart und Zukunft in der Verkündigung Jesu Die Jesusüberlieferung zur Königsherrschaft Gottes verbindet futurische und präsentische Aussagen. Wer einen „nicht-eschatologischen Jesus“ für historisch hält, muss die Authentizität der futurischen Aussagen bestreiten; wer nur den „apokalyptischen Jesus“ für historisch hält, die präsentischen Aussagen uminterpretieren. Meist gelten beide Aussagereihen als authentisch. 3.1 Die zukünftige Gottesherrschaft
Worte von der zukünftigen Gottesherrschaft finden sich in (fast) allen Schichten der Jesusüberlieferungen, in Mk 10,15.23, Q Lk 6,20, MtS 21,31, LkS 14,15. Im ThEv korrigiert Jesus die zukünftige Eschatologie seiner Jünger: „Es sprachen zu ihm die Jünger: Wann wird die Ruhe der Toten sein, und wann wird die neue Welt kommen? Er sprach zu ihnen: Diese, auf die ihr wartet, ist gekommen; aber ihr erkennt sie nicht.“ (ThEv 51; vgl. 3.113). Vorausgesetzt ist auch hier die futurische Eschatologie, die ein „gnostisierender Christ“ im ThEv präsentisch umdeutet. Angesichts dieser breiten Bezeugung kann man die futurische Eschatologie Jesus nicht absprechen, zumal Vorgänger wie Johannes der Täufer sie ebenso vertraten wie die ersten Christen nach ihm. 1. Eindeutig futurisch ist die Bitte im Vaterunser „Dein Reich komme“ (Lk 11,2/Mt 6,10). Die nur bei Jesus bezeugte Wendung vom „Kommen des Reichs“ tritt an die Stelle der Rede vom Kommen Gottes (vgl. Jes 35,4; 40,9f u.ö.). Urchristliche Erwartungen richten sich später auf das Kommen des „Herrn“ (vgl. 1Kor 11,26; 16,22). Aus dem Urchristentum lässt sich diese Vaterunser-Bitte kaum ableiten. Wäre es üblich gewesen, Jesus urchristliche Gebete in den Mund zu legen, wäre das öfter geschehen. Weil das Vaterunser durch die Autorität Jesu „geschützt“ war, wurde es davor bewahrt, an den nachösterlichen Glauben der Christen assimiliert zu werden. Es fehlt jeder Hinweis auf eine Verehrung Jesu. Juden können das Vaterunser mitsprechen.42 2. Die drei ältesten Seligpreisungen (Lk 6,20f; Mt 5,3 f.6) gehen auf Jesus zurück. In der Logienquelle standen die Seligpreisungen der Armen, Hungernden, Trauernden und Ver-
42 Ausführlich zur Authentizität des Vaterunsers J.P.Meier, A Marginal Jew 2*, 1994, 294.
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Dritter Teil: Das Wirken und die Verkündigung Jesu
folgten. Während die letzte Seligpreisung wohl nachösterliche Verfolgungen spiegelt, dürften die ersten in folgender Form ursprünglich sein: Selig sind die Armen, denn ihnen gehört die Gottesherrschaft. Selig sind die (jetzt) Hungernden, denn sie werden gesättigt werden. Selig sind die (jetzt) Weinenden, denn sie werden getröstet werden.
Gott greift hier entsprechend einem altorientalischen Königsideal (Ps 72) zugunsten der Armen und Schwachen ein. Wie im Vaterunser um Speise gebeten wird, so ist auch hier das Königreich mit einem Mahl verbunden. Die sekundäre Spiritualisierung der Seligpreisungen, die bei Mt von „Armen im Geiste“ und vom „Hunger und Durst nach der Gerechtigkeit“ spricht, zeigt eine Tendenz, die Verheißungen „geistlich“ aufzufassen. Das spricht für die Authentizität der konkret verstandenen Seligpreisungen. 3. Die Erwartung einer Völkerwallfahrt zum Zion (Jes 2,2ff; Mich 4,1ff) war mit der Hoffnung auf Rückkehr der Diaspora verbunden (Jes 43,1ff; Bar 4,36ff u.ö.). Jesus nennt gegen die Tradition aber weder Jerusalem noch den Zion als Ziel der Völkerwallfahrt, sondern ein Gastmahl mit den Patriarchen (Lk 13,28f/Mt 8,11). Die Gottesherrschaft wird vom Tempel gelöst. Aus dem Urchristentum stammt das Logion nicht. Denn dort setzte sich bald die Vorstellung durch, dass Heiden nicht erst jenseits der Todesgrenze zusammen mit Abraham, Isaak und Jakob, sondern schon in der Gegenwart mit Judenchristen in gemeinsamen Mahlzeiten zum Heil finden. Auch wartete man nicht darauf, dass Gott die Heiden herbeiführt, sondern warb durch Mission um sie. 4. Das eschatologische Abendmahlswort (Mk 14,25) ist wahrscheinlich ein echtes Jesuswort, eins der wenigen Worte, deren ursprüngliche Situation bestimmbar ist: Wahrlich, ich sage euch, dass ich nicht mehr trinken werde vom Gewächs des Weinstocks, bis an den Tag, an dem ich aufs Neue davon trinken werde im Reich Gottes.
Das Wort lässt sich als Todesprophetie verstehen: Jesus trinkt zum letzten Mal, bevor er nach seinem Tod das Mahl im Reich Gottes genießen wird. Vielleicht hofft er zu dieser Zeit noch, das Reich Gottes breche so schnell herein, dass ihm der Tod erspart bleibt. Das Logion ist nicht im Urchristentum entstanden: Jesus hat keine besondere Rolle beim eschatologischen Mahl als Gastgeber. Gemeinden, für die er beim Abendmahl die Rolle des „Gastgebers“ hatte, haben die Ansage, Jesus werde bis zur Realisierung des Reiches Gottes nicht mehr am Mahl teilnehmen, gewiss nicht hervorgebracht. 5. Einlassworte (wie Mt 7,21; Mk 9,43ff; 10,15.23) formulieren Bedingungen für das Eingehen in die Gottesherrschaft: „Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr! Herr! wird in das Him-
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melreich kommen, sondern nur, wer den Willen meines Vaters im Himmel erfüllt“ (Mt 7,21). Für Jesus charakteristisch ist ihr paradoxer Charakter: Die Reichen haben wenig Chancen, in die Gottesherrschaft zu kommen (Mk 10,23 par.). Dafür steht sie denen offen, die sie wie ein Kind empfangen (Mk 10,15), denen, die lieber verkrüppelt, mit einem Fuß und einem Auge in sie hineinwollen, als gegen Gottes Willen zu verstoßen (Mk 9,43ff). Zöllner und Prostituierten werden vor den Frommen hineingelangen (Mt 21,31f). Eine Analogiebildung (des Mt-Evangelisten?) bringt die Antithesen der Bergpredigt auf den für Jesus zutreffenden Nenner: „Wenn eure Gerechtigkeit nicht besser ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen!“ (Mt 5,20). Die paradoxen Einlassbedingungen sprechen für eine Herkunft von Jesus: Während Jesus für Prostituierte (pornai) eine Chance im Himmelreich sieht, will Paulus Hurer (pornoi) ausschließen (1Kor 6,9f). 6. Terminworte verheißen die Ankunft des Reiches Gottes oder des Menschensohns noch zu Lebzeiten der Zuhörenden. Vielleicht sollen diese Worte angesichts dessen, dass sich sein Kommen verzögert, trösten. Am Anfang hieß es noch: In dieser Generation wird sich alles erfüllen (Mk 13,30). Dann sollte der Menschensohn kommen, bevor die Mission an Israel beendet ist (Mt 10,23). Bald lebten nur noch wenige aus der ersten Generation, denen die Verheißung galt: „Es stehen einige hier, die werden den Tod nicht schmecken, bis sie das Reich Gottes kommen sehen mit Kraft“ (Mk 9,1). Am Ende aber knüpfte sich die ParusieErwartung an einen einzigen Überlebenden, einen sehr alt gewordenen Jünger, den „Lieblingsjünger“ des JohEv. Ein Jesuswort verheißt ihm, er werde nicht sterben, bevor nicht Jesus kommt (vgl. Joh 21,22f). Wer den Anstoß zu solchen Terminworten auf Jesus zurückführt, argumentiert, dass sie im Urchristentum Verlegenheit bereiteten, da sie nicht in Erfüllung gegangen waren. Sie hätten sich nur erhalten, weil sie mit der Autorität Jesu verbunden waren. Möglicherweise hat er ein erstes Terminwort selbst formuliert. Sicher ist das nicht. Wir lernen aus den Worten über die zukünftige Gottesherrschaft nur wenig über das Leben in ihr. Auffallend ist, was fehlt. Nationale Bedürfnisse werden nicht erfüllt, Kirchenträume von Gottesdiensten nicht entwickelt, keine Thorarollen studiert. Erfüllung der Sehnsucht ist ein Essen – nicht als Opfermahlzeit im Tempel, sondern als Essen mit Familienvätern.43 Die rituelle Trennung von Heiden und Juden spielt keine Rolle. Alles ist so bescheiden, dass man sagen kann: „Das Reich Gottes ist kein Imperium, sondern ein Dorf.“44 Eine Erklärung dafür ist Jesu Herkunft aus Galiläa: Er gewann seine Bilder aus einer Welt, die an der Peripherie lag, weit entfernt von den Zentren der Macht, der Bildung und der Religion. Und dennoch brachte er etwas Neues.
43 Auch das sieht Paulus ganz anders: „Denn das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude in dem heiligen Geist“ (Röm 14,17). 44 C.Burchard, Jesus von Nazareth, in: J.Becker u. a., Die Anfänge des Christentums, 1987, 12–58, S. 34.
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3.2 Die gegenwärtige Gottesherrschaft
Jesus „ist der einzige uns bekannte antike Jude, der nicht nur verkündet hat, daß man am Rande der Endzeit steht, sondern gleichzeitig, daß die neue Zeit des Heils schon begonnen hat.“ (D.Flusser).45 Jesus meinte mit der Gottesherrschaft nicht die seit je bestehenden Herrschaft Gottes, sondern die zukünftige Herrschaft, in der sich Gott durchgesetzt hat. Neu ist seine Überzeugung, sie beginne schon jetzt. Einige präsentische Jesusworte bringen ein Erfüllungsbewusstsein zum Ausdruck, andere sprechen von einem Kampf, wieder andere von einem Anbruch des Neuen mitten in der alten Welt. a) Erfüllungsworte
Die aus nachösterlicher Perspektive entworfene Charakterisierung der Verkündigung Jesu in Mk 1,15f fasst seine eschatologische Botschaft in zwei Aussagen zusammen: „Die Zeit ist erfüllt.“ Es heißt nicht: Sie erfüllt sich, sondern (im Perfekt), dass sie sich erfüllt hat (peplērōtai). Auch in der zweiten Aussage: „Die Gottesherrschaft ist nahe herbeigekommen“ heißt es nicht: Die Gottesherrschaft nähert sich (eggizei), sondern im Perfekt: Sie hat sich genähert (ēggiken). Immer ist ein abgeschlossener Vorgang gemeint, der in der Gegenwart nachwirkt.46 1. Die Seligpreisung der Augenzeugen (Mt 13,16f/Lk 10,23f) meint nicht nur, dass die Augenzeugen die Anzeichen des Heils sehen, sondern dass sie das Heil selbst schauen. Das zeigen jüdische Parallelen in PsSal 18,6: „Wohl denen, die leben in jenen Tagen, zu sehen die Wohltaten des Herrn, die er erweisen wird dem kommenden Geschlecht unter dem züchtigen Stab des Gesalbten des Herrn“ (vgl. PsSal 17,44). Das hier erwartete zukünftige Geschlecht ist bei Jesus schon Gegenwart. Propheten haben nicht nur auf weitere Vorzeichen der Heilszeit gewartet, sondern auf die Heilszeit selbst. Das Logion kann kaum aus einem Urchristentum stammen, das die seliggepriesen hat, die glauben, ohne zu sehen (Joh 20,29). 2. Der Stürmerspruch (Mt 11,12f/Lk 16,16) lautete ursprünglich wahrscheinlich: „Das Gesetz und die Propheten (sind) bis Johannes. Von da ab wird der Gottesherrschaft Gewalt angetan, und Gewalttäter erobern sie.“ Die Gottesherrschaft ist hier eine gegenwärtige Größe, die seit den Johannes dem Täufer präsent ist. Nur deshalb kann sie „erobert“ werden. Umstritten ist, ob die Eroberer Gegner oder Anhänger der Gottesherrschaft sind.47 Da sie erst nach Johannes dem Täufer wirksam werden, wird man an Anhänger denken. Denn alle möglichen Gegner – Herrscher, Dämonen, religiöse Gruppen – existierten schon vorher. Nur Jesus und seine Jünger traten erst nach Johannes auf. Auch in Mt 11,11/Lk 7,28 ist der Täufer als Größter unter 45 D.Flusser, Jesus, 1968, 87. 46 V.Gäckle, Reich Gottes*, 2018, 32–63, bestreitet, dass nach Mk 1,15f die Gottesherrschaft in der Gegenwart beginnt. Doch das euaggelion verkündigt im MkEv eine Wende zum Heil durch Ernennung Jesu zum Sohn Gottes (analog zu „Evangelien“ von der Geburt oder dem Regierungsantritt eines Herrschers). Daher ist es eine bewusste Steigerung der Nähe, wenn Mk 1,16f „Erfüllung“ darin sieht, dass sich das Gottesreich nicht nur „nähert“, sondern (im Perfekt) „genähert hat“. 47 Vgl. G.Theißen, Jünger als Gewalttäter (Mt 11,12f; Lk 16,16). Der Stürmerspruch als Selbststigmatisierung einer Minorität (1995), in: ders., Jesus als historische Gestalt, Beiträge zur Jesusforschung, 2003, 153–168.
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den Menschen und Kleinster im Gottesreich ein Wendepunkt. Wegen dieser zentralen Stellung des Täufers können diese Worte kaum aus dem Urchristentum stammen. Dort hätte man den Täufer direkt zu Jesus in Beziehung gesetzt, nicht zu anonymen „Gewalttätern“. 3. Auch die Überbietungsaussagen bezeugen ein Erfüllungsbewusstsein Jesu: Johannes ist für ihn mehr als ein Prophet (Mt 11,9). Schon mit ihm überbietet die Geschichte alles Bisherige – erst recht in der Zeit, in der Jesus wirkt. Seine Weisheits- und Umkehrpredigt überbietet die Weisheit Salomos und die Predigt Jonas (Mt 12,41 par.). 4. Die Fastenfrage (Mk 2,18ff) setzt eine erfüllte Gegenwart voraus. Weil der Bräutigam da ist, können die Jünger im Unterschied zum Täuferkreis nicht fasten. Die aus pharisäischen Kreisen stammende Fastenrolle nennt Tage der Erinnerung an positive Ereignisse in Israels Geschichte, an denen das Fasten verboten ist. Die Gegenwart Jesu macht aus einzelnen Tagen einen Dauerzustand. Auch diese Perikope kann nicht aus dem Urchristentum abgeleitet werden, da es in ihm Fastenbräuche gab, wie die Perikope selbst andeutet: „Es werden aber Tage kommen, dass der Bräutigam von ihnen genommen wird; dann werden sie fasten, an jenem Tage“ (Mk 2,20). b) Kampfworte
Das Bewusstsein, uralte Verheißungen seien in der Gegenwart erfüllt, zeigt sich in der Gewissheit: Das Böse ist grundsätzlich besiegt. Viele apokalyptische Aussagen über das Reich Gottes kennen den bei Jesus vorausgesetzten Dualismus von Gott und Satan (vgl. TestDan 5,10ff; 1QM VI,6; AssMos 10,1ff). Sie erwarten einen Sieg über den Satan. Jesus aber ist sich dessen gewiss, dass dieser Sieg schon geschehen ist: 1. Die Vision vom Satanssturz (Lk 10,18) ist zwar nur als lk Sondergut überliefert, hat aber in der Versuchungsgeschichte ein legendarisches Echo, das im Sieg über den Satan eine Auseinandersetzung mit politischer Macht erkennen lässt. Vielleicht ist in Lk 10,18 die Berufungsvision Jesu erhalten. Denn das Urchristentum hat später die Überwindung des Satans mit Kreuz und Auferstehung verbunden (Joh 12,31; 16,11; Apk 12,5ff). Jesus aber geht schon bei seinem irdischen Wirken von einem Sturz des Satans aus. Zur Gewissheit wird ihm dieser Sieg über den Satan in Exorzismen: Wenn die Dämonen fliehen, ist das ein Zeichen dafür, dass die Macht des Bösen gebrochen ist. 2. Das Exorzismuswort (Mt 12,28/Lk 11,20) gilt mit Recht als Hauptbeleg für die präsentische Eschatologie Jesu. Wenn er die Dämonen austreibt, ist die Gottesherrschaft schon angekommen. Das Verb „ankommen“ meint im Aorist mehr als ein „Nahe-herbeigekommen-Sein“; phthanein kann „einholen“ und „überholen“ bedeuten. Andere ntl. Belege machen sicher: Gemeint ist nicht nur ein ankündigendes Zeichen, sondern die Gottesherrschaft selbst (vgl. phthanein in 1Thess 4,15; 2,16). Allenfalls könnte man eine prophetische Aussage in einem enthusiastischen Zustand annehmen, in der Zukünftiges schon als geschehen geschaut wird – in der sicheren Gewissheit, dass es kommen wird. Dieser enthusiastischen Deutung widerspricht die Verbindung mit den Exorzismen Jesu, denn diese haben sich schon in der Gegenwart ereignet. Umstritten bleibt freilich die Verbindung mit den Exorzismen der Gegner, von denen vorher die Rede ist. Das Logion wird zwar oft von seinem unmittelbaren Kontext isoliert, aber das Wort muss als Ganzes gedeutet werden:
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Wenn ich aber die bösen Geister durch Beelzebul austreibe, durch wen treiben eure Söhne sie aus? Darum werden sie eure Richter sein. Wenn ich aber die bösen Geister mit dem ‚Finger (Mt: Geist) Gottes‘ austreibe, so ist ja das Reich Gottes zu euch gelangt.
Der „Finger Gottes“ im LkEv ist ursprünglicher als der „Geist Gottes“ im MtEv, auf den sich Mt schon vorher im Kontext bezieht (Mt 12,18 = Jes 42,1; 12,32). Angesichts der großen Bedeutung des „Geistes“ im lk Doppelwerk wird Lk diesen Begriff auf keinen Fall gestrichen haben. Er fand den „Finger Gottes“ in seiner Tradition vor – als Anspielung auf die Wunder des Moses vor dem Auszug aus Ägypten (vgl. Ex 8,15). Als die ägyptischen Zauberer dabei versagten, aus Staub Stechmücken zu machen, erkannten sie die Überlegenheit des Moses mit den Worten an: „Das ist der Finger Gottes“. Das Stichwort steht auch im AT in einer Kontroverse um die Herkunft wunderwirkender Macht bei konkurrierenden Wundertaten. So wie dort die ägyptischen Wundertäter und Mose, stehen sich hier Gegner Jesu mit Exorzismen ihrer „Söhne“ und Jesus gegenüber. Die Trennung der Exorzismen Jesu von diesen anderen Exorzismen ist nicht so selbstverständlich, wie oft angenommen wird. Entweder werden die anderen Exorzismen als Kontrast zu Jesu Exorzismen eingeführt. Dann würde das Doppellogion sagen: Während in meinen Exorzismen Gottes Macht wirkt, müsste nach eurer Logik in den Exorzismen eurer Söhne etwas ganz Anderes wirken (unter der Voraussetzung, dass beide so grundverschieden sind, wie ihr meint). Oder es wird eine Übereinstimmung vorausgesetzt: Wenn schon die Exorzismen eurer Söhne nicht auf den Satan zurückgehen, wovon ihr selbstverständlich ausgeht, um wieviel mehr zeigen meine Exorzismen die Macht Gottes! Eine dritte Möglichkeit ist: Wenn ihr mir ein Satansbündnis unterstellt, um wieviel mehr müsstet ihr es euren Söhnen unterstellen! 3. Im ganzen Beelzebulgespräch (Mt 12,22ff/Lk 11,14ff) werden Gottesreich und Satansreich kontrastiert. Für das eschatologische Bewusstsein Jesu ist das Bildwort vom Stärkeren aufschlussreich: In Mk 3,27 (und Mt 12,29) handelt es von einem Raubüberfall auf ein Haus. In Lk 11,21f (= Q?) wurde daraus eine kriegerische Auseinandersetzung zwischen bewaffneten Mächten. In jedem Fall ist die Aussage: Ein Starker muss besiegt und gefesselt werden, ehe man sein Haus bzw. seinen Palast plündern kann. Das heißt: Der Satan muss besiegt sein, ehe man Dämonen austreiben kann. Auffällig ist, dass alle Kampfworte politische Konflikte ahnen lassen: Die Berufungsvision steht wahrscheinlich mit der Versuchungsgeschichte in Verbindung, in der die Macht von Kaisern kritisiert wird, die sich als Götter verehren lassen. Im Hintergrund des Exorzismuswort Mt 12,28 wird der Konflikt mit der Macht des Pharaos sichtbar. In der Parabel vom Starken (Mk 3,27) vergleicht sich Jesus mit einem „Räuberhauptmann“ und bezieht sich damit auf das Phänomen des Sozialbanditentums, einer vorpolitischen Form des Widerstands.48
48 A.Merz, Jesus lernt vom Räuberhauptmann, in R.Zimmermann (Hg.), Kompendium der Gleichnisse Jesu, 2007, 287–296.
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Die Erzählüberlieferung bestätigt diesen politischen Hintergrund der Exorzismen: Ein Dämon nennt sich dort „Legion“ (Mk 5,9). c) Anbruchsworte
Viel rätselhafter als Erfüllungs- und Kampfworte sind die Aussagen vom Anbruch der Gottesherrschaft. Wenn im Stürmerspruch das Gottesreich „erobert“ oder „geraubt“ werden kann, so muss es schon in der Gegenwart vorhanden sein – zumindest seit den Tagen Johannes des Täufers (Mt 11,12f). Auch das Exorzismuswort enthält eine Aussage über den Anbruch der Gottesherrschaft. Die Anspielung auf Ex 8,15 sagt: So wie sich damals in den Wundern des Moses der Exodus anbahnte, so beginnt in den Exorzismen heute die Befreiung Israels. Andere Anbruchsworte sind viel rätselhafter. 1. Der Spruch vom „Gottesreich in euch“ (Lk 17,21) ist zwar nur im lk Sondergut im NT belegt, findet sich jedoch zwei Mal in sehr verschiedener Version in ThEv 3 und113. Wenn ThEv 113 vom Gottesreich sagt, es sei „ausgedehnt über die Erde“, so ist das kaum eine gnostische Umdeutung der „Gottesherrschaft in euch“. Diese Dubletten weisen auf traditionsgeschichtlich unabhängige Varianten des Wortes. Das Wort vom „Gottesreich in euch“ (Lk 17,21), das wie das Exorzismuswort (Lk 11,20) an Pharisäer adressiert ist, antwortet explizit auf die Frage, wann das Gottesreich kommt (Lk 17,21): Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man’s beobachten kann, man wird auch nicht sagen: Siehe, hier ist es! oder: Da ist es! Denn siehe, das Reich Gottes ist in euch (entos hymōn).
Übersetzung und Bedeutung von „in“ (entos) sind umstritten. Ist es in spirituellem Sinne zu verstehen: „Das Reich Gottes ist innerlich in euch“ – wie in ThEv 3: „Das Reich Gottes ist inwendig in euch und außerhalb von euch“, wo das innere Selbst des Erlösten und seine himmlische Heimat gemeint sein könnten? Oder ist entos räumlich zu verstehen als „in eurer Mitte“? Das ist die am meisten verbreitete Übersetzung. In der Tat kennt die griechische Übersetzung des AT durch Aquila ein entos in dieser Bedeutung als Wiedergabe von hebr. „in unserer Mitte“ ()בּ ִק ְר ֵבּנוּ, ְ vgl. Aquila zu Ex 17,7; 34,9. Aber in der Regel bedeutet entos „innen“. Das zeigt die einzige Parallele im NT in der substantivierten Form: „das Innere“ (to entos), mit dem das „Innere“ des Bechers gemeint ist (Mt 23,26). Außerdem verfügt Lk über eine eindeutige Bezeichnung für die Lokalisierung „in der Mitte“ in Form von en mesō (vgl. Lk 2,46; 8,7; 21,21 u.ö.). Dazu kommt, dass die Ablehnung einer räumlichen Lokalisierung des Reiches Gottes – es ist weder „hier“ noch „da“ – dagegen spricht, das Gottesreich sei in der Mitte der Angeredeten in Jesu Person da. Denn auf Jesus könnte man sehr wohl mit „hier!“ und „da“ hinweisen! Lk selbst hat das Logion wohl spirituell verstanden: Die vorhergehende Perikope schließt in 17,19 mit dem Zuspruch „Dein Glaube hat dich gerettet“. Das Gottesreich beginnt als Glaube an Jesus. Zwar ist der lk Kontext sekundär, doch wenn man zur Deutung des Wortes ThEv 3 und 113 heranzieht, lassen sich alle Varianten am bes-
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Dritter Teil: Das Wirken und die Verkündigung Jesu
ten erklären, wenn man das Wort auf das Innere des Menschen bezieht.49 Ganz unwahrscheinlich ist die futurische Deutung, dass die Gottesherrschaft mit einem Schlag in eurer Mitte ist. Die Plötzlichkeit des Kommens der Gottesherrschaft ist aus dem nachfolgenden Kontext eingetragen. Das Wort bleibt zwar ein Rätsel, aber die Deutung auf das Innere des Menschen ist die wahrscheinlichste. Die Wachstumsgleichnisse zeugen vom verborgenen Beginn der Gottesherrschaft. Nur bei wenigen Gleichnissen ist durch eine Einleitung sichergestellt, dass sich das Gleichnis auf die Gottesherrschaft bezieht. Das aber ist der Fall beim „Gleichnis von der selbstwachsenden Saat“ (Mk 4,26–29) und dem Doppelgleichnis vom „Senfkorn“ und „Sauerteig“ (QLk 13,18 f.20f). Immer geht es um die Pointe, dass aus kleinen Anfängen etwas Großes entsteht. Das Entscheidende, die Aussaat, ist schon geschehen! Die Senfstaude wächst schon! Der Teig wird schon durchsäuert! Auch wenn man Gleichnisse nicht wie Allegorien „übersetzen“ darf, so wird doch der Hörer auf eine Realität gewiesen, die schon in der Gegenwart beginnt. Die Aussagen von der gegenwärtigen Gottesherrschaft haben klare und rätselhafte Seiten. Klar ist, dass die Erwartungen der bisherigen Geschichte jetzt in Erfüllung gehen; klar auch, dass das Böse entscheidend besiegt ist. Rätselhaft aber wird in Gleichnissen und paradoxen Wendungen zum Ausdruck gebracht, dass der Anbruch der Gottesherrschaft schon geschehen ist. Aber eben diese Überschneidung der alten und der neuen Welt ist das Charakteristische der Verkündigung Jesu, deren zeitliche Struktur wir in folgender Skizze zusammenfassen:
Kampfesworte Satan
Erfüllungsworte
Gott
Anbruchsworte
futurische Worte
Gebet: Vater … dein Königreich komme
49 Neben der spirituellen und lokalen Interpretation kommt noch eine dynamische Deutung im Sinne von „die Gottesherrschaft ist in eurer Verfügung“ oder „in eurem Erfahrungsbereich“ in Frage. Von der Wortbedeutung her ist das möglich. Dann wäre das Logion eine Aufforderung, sich in den Besitz der Gottesherrschaft zu versetzen. In jedem Fall liegt eine präsentische Eschatologie vor.
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Die beiden sich überschneidenden Ellipsen stellen den alten und den neuen Äon dar. Kampfworte beschwören den Konflikt zwischen den Mächten der alten und der neuen Welt. Erfüllungsworte machen die Gegenwart zur Verwirklichung uralter Erwartungen. Futurische Worte kündigen das Hereinbrechen der neuen Welt an. Anbruchsworte versichern: Sie beginnt verborgen schon jetzt.50 Die Eschatologie Jesu umfasst große Spannungen, auch die zwischen Gericht und Heil, Aktivität und Rezeptivität.
4. Gericht und Heil in der Verkündigung Jesu Gottes endzeitliches Handeln umfasst bei Jesus wie im ganzen Judentum Gericht und Heil.51 Jesus lädt an erster Stelle dazu ein, am Heil teilzuhaben. Nur wer das angebotene Heil nicht annimmt, verfällt dem Gericht. Insofern tritt in seiner basileia-Predigt der Gerichtsaspekt zurück, ist aber im Hintergrund vorhanden. 4.1 Die Gerichtspredigt Jesu
Wir fragen im Folgenden, (a) wer für Heil und Unheil im Gericht verantwortlich ist, (b) welche Metaphern für das Gericht begegnen, ferner (c) nach der Zeit des Gerichts und (d) den Adressaten der Gerichtspredigt. 1. Wer hat die Verantwortung für Heil und Unheil? Menschen sollten die Gottesherrschaft voll Freude wie einen gefundenen Schatz oder eine Perle betrachten (Mt 13,44–46) und in der Gegenwart feiern statt fasten (Mk 2,18ff). Die Gottesherrschaft will nicht Angst, sondern Freude über die Chance zur Umkehr bewirken. Doch für die Umkehr ist der Mensch verantwortlich. Auch bleibt die Drohung mit dem Gericht als ein selbstverschuldeter Ausschluss aus dem von Jesus nahegebrachten Heil: Ȥ Nach den Einlassworten gehen nur die in die Gottesherrschaft ein, die den Willen des Vaters tun (Mt 7,21) und bereit sind, sich vom Reichtum zu trennen (Mt 19,23f). Die anderen werden nicht eingelassen. Ȥ Das Gleichnis vom unbarmherzigen Gläubiger (Mt 18,23ff) zeigt, dass das angebotene Heil zum Unheil wird, wenn die Menschen Gottes Vergebung nicht weitergeben. Ȥ In Mk und Q führt die Ablehnung des Heils auch zum Gericht, wenn Jesu Jünger predigen. Werden sie abgewiesen, sollen sie den Staub von ihren Füßen schütteln, d. h. durch eine Zeichenhandlung sagen: Dieser Ort ist dem Gericht verfallen (Mk 6,7–13; Mt 10,14/Lk 9,5; Lk 10,10f). 50 V.Gäckle, Reich Gottes*, 2018, bestreitet präsentische Aspekte der Gottesherrschaft, arbeitet aber zutreffend präsentische Aussagen über das Heil heraus: den Messiasanspruch Jesu, den Erfüllungsgedanken, das Gottesreich als Geschenk, dessen Verwirklichung im Inneren. Sein Resultat ist, dass das „Reich Gottes“ heute nicht mehr Grundlage für „befreiungstheologische und transformatorische Konzepte“ sein kann (S. 255). 51 Zum Gericht in den eschatologischen Konzeptionen des Judentums um die Zeitenwende vgl. M. Reiser, Gerichtspredigt*, 1–152.
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Dritter Teil: Das Wirken und die Verkündigung Jesu
Charakteristisch für Jesus sind besonders Gerichtsworte, in denen Heiden positiv bewertet werden. Seine Kritik an ethnozentrischer Mentalität setzt dabei die Predigt des Täufers fort und wendet sich gegen „nativistische“ Aggressionen gegen Fremde. Betont stellt Jesus sie als Vorbilder dar. Ȥ Das Wort von der Völkerwallfahrt (Mt 8,11f/Lk 13,28f) ist in der mt Fassung ein Drohwort gegen die Israeliten als „Söhne des Reiches“. Wenn sie nicht glauben, werden sie hinausgestoßen, während Heiden hineinströmen. Sie werden nicht „Söhne der Gottesherrschaft“, sondern der „Herrschaft“ genannt. Wird ihnen unterstellt, es ginge ihnen nur um „Herrschaft“, nicht um die Gottesherrschaft? Die lk Fassung droht nicht allen Israeliten, sondern nur den Angeredeten: „Euch wird man hinauswerfen“. Ȥ Das Wehe über die galiläischen Städte (Lk 10,13–15/Mt 11,21–24) sagt Chorazim, Bethsaida und Kapernaum das Gericht an, weil sie trotz Wunder Jesu nicht umgekehrt sind. Ihre Schuld wiegt schwerer als die der verruchten Städte Tyros und Sidon, denen es im Gericht erträglicher ergehen soll. Ȥ Im Doppelwort von der Südkönigin und den Niniviten (Q Lk 11,31f) wird die Reaktion auf die Predigt Jesu zum Gerichtsmaßstab für „dieses Geschlecht“. Die Königin des Südens, die von Salomos Weisheit lernte, und die Niniviten, die nach der Predigt des Jona umkehrten, werden im Endgericht zu Zeugen gegen „dieses Geschlecht“. Ȥ Im Gleichnis vom Hochzeitsmahl (Lk 14,16–24/Mt 22,1–14/ThEv 64) schließen sich von der Teilnahme an der Gottesherrschaft alle aus, die der Einladung nicht folgen. Dafür werden andere eingeladen – Zöllner und Sünder oder sogar Heiden wie in Mt 8,11 f.
Die Gerichtspredigt Jesu ist Umkehrpredigt, will warnen und retten. Jesus vergleicht sich mit dem Propheten Jona (Mt 12,41f), dessen Gerichtsbotschaft zur Umkehr Ninives führte und dessen Gerichtsankündigung nicht endgültig war. Nur im Wehe über die galiläischen Städte (Lk 10,13–15/Mt 11,21–24) nimmt Jesus den Urteilsspruch Gottes vorweg („Kapernaum …, du wirst bis in die Hölle herabgestoßen werden“), so wie er in der Seligpreisung der Augenzeugen (Lk 10,23f) das endgültige Heil schon jetzt zusagt. Vorausgesetzt ist: Die Gegenwart der Gottesherrschaft ist Entscheidungszeit zum Heil oder zum Unheil. Indizien dafür, dass es in Kapernaum schon früh eine Gemeinde von Jesusanhängern gegeben hat (s. o. § 7), zeigen jedoch: Anhänger Jesu haben dessen Verurteilung nicht auf alle Bewohner der Stadt bezogen. Schon immer gab es die Hoffnung: Ein „Rest“ wird gerettet (Jes 1,9; Röm 9,29). 2. Bilder und Metaphern für das Gericht: Die Königsherrschaft Gottes umfasst sein Wirken als Richter. Dennoch wird das „Gericht“ Gottes selten als Gerichtsverhandlung vorgesellt.52 Die Prozessordnung bleibt undeutlich: Es stehen Zeugen auf (Mt 12,41f). Gott lässt sich als Richter durch den Menschensohn vertreten (Mt 25,31ff). In Mt 19,28 wird seine Richtervollmacht an die zwölf Jünger delegiert.53 „Krisis“ kann das Urteil oder dessen Voll52 Nur sekundär wird das Gericht durch Einschub in Mt 22,7 als militärische Strafaktion vorgestellt. 53 Die Throne begegnen in Dan 7,9. In einem tannaitischen Midrasch heißt es zu dieser Stelle, auf den Thronen säßen „die Großen Israels“ (vgl. M.Reiser, Gerichtspredigt*, 246–250). Oder ist in Mt 19,28 weniger an ein richterliches Amt gedacht, so dass krinein „regieren“ bedeutet?
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streckung bezeichnen (so in Lk 10,14). Die Möglichkeit von Schuldhaft zeigt den Einfluss nicht-jüdischen Rechts (Mt 18,30). Neben den wenigen Gerichtsbildern (im engeren Sinne) finden wir insgesamt weit häufiger Metaphern bzw. Gleichnisse die von unterschiedlichen sozialen und wirtschaftlichen Institutionen und Lebensbereichen Gebrauch machen. Ȥ Im Bildfeld von Saat und Ernte kann die Ernte Heil und Unheil meinen. In Wachstumsgleichnissen (z. B. Mk 4,29) meint sie die Aufrichtung der Gottesherrschaft oder das Gericht. Die Verzögerung des Gerichts kann Gottes Güte zeigen. Man soll das Unkraut unter dem Weizen wachsen lassen. Erst am Ende wird es vernichtet (Mt 13,30.41f). Ȥ Mahlzeitparabeln nutzen die bekannte prophetische Verheißung vom eschatologischen Freudenmahl. Mit Ausschluss von ihm wird gedroht (Mt 8,11f par.; Lk 14,16–24 par.; Mt 25,1–13), auffallend ist jedoch auch hier ein Zug, der die Gnade Gottes betont: Nach Absage der zuerst Eingeladenen werden Menschen von der Straße eingeladen, die diese Einladung nach menschlichen Standards nicht verdient haben (Lk 14,16–24 par.). Ȥ Gleichnisse aus der alltäglichen Arbeitswelt betonen die Souveränität des Arbeitgebers, der oft zugleich Sklavenhalter ist. Seine Freiheit zu belohnen und zu bestrafen stellt Gottes eschatologisches Belohnen und Bestrafen bildlich dar. Prinzipiell ist Belohnung nach alltäglichen Standards von Gott zu erwarten (Lk 17,7–10). Dies Bild ist jedoch für eine extravagante Güte beim Weinbergbesitzer offen, der alle Arbeiter trotz verschiedener Arbeitszeit gleich bezahlt (Mt 20,1–16). Ein auch in der griechischrömischen Literatur bezeugtes Erzählmotiv vom abwesenden Herrn („absente ero“ „ich werde abwesend sein“) benutzt ein aus der sozialen Realität bekanntes Phänomen als Bild für die eschatologische Rechenschaftsablegung.54 Manche Gleichnisse betonen die Strenge des zurückkehrenden Herrn. In ihnen wird der Sklave, der seine Mitsklavinnen und -sklaven misshandelte, erbarmungslos bestraft (Mt 24,45–51) wie auch der unbarmherzige Schuldner aus Mt 18,23 ff. Angst vor dem Urteil darf kein Grund sein, sich nicht dem Auftrag gemäß für eine Vermehrung des anvertrauten Geldes einzusetzen (QLk 19,15–24). Andere Gleichnisse aus dieser Kategorie betonen die unerwartete Großzügigkeit des Herrn: nach Lk 12,35–40 wird der Herr selbst seine Sklavinnen und Sklaven bedienen, nach Lk 16,1ff wird der untreue Verwalter gelobt, der Schulden erließ.
Die Jesusüberlieferung bietet verschiedene Metaphern für das Gericht, nicht nur forensische Bilder, die bei Paulus zentrale Heilsbilder sind. Bei Jesus ist das Bild vom Gericht immer vorausgesetzt, aber es wird abgewandelt. Die Gerechten in der Vision vom Gericht des Menschensohns (Mt 25,31ff) werden nicht angeklagt und freigesprochen, sondern gelobt und belohnt, aber die Ungerechten werden verdammt. Der König im Gleichnis vom „Schalksknecht“ verwandelt sich aus einem gütigen Herrn in einen strafenden Richter (Mt 18,23–35). Eigentlich sollten die Menschen wie die Prozessgegner in Mt 5,25f rechtzeitig Prozesse ver54 Cato, De Agricultura, 2.1–2, beschreibt, wie ein Besitzer vorgeht, wenn er auf seinem Gut ankommt und den Verwalter (den vilicus) zur Rechenschaft zieht. Er muss schlecht arbeitende, kranke oder alte Sklaven verkaufen, rebellische Sklaven bestrafen, auch gute Arbeit belohnen. In Hermas Sim V,55 findet sich ein Gleichnis, wie der Herr bei seiner Rückkehr den Weinberg besser vorfindet als vorher und den tüchtigen Sklaven mit Zustimmung seines eigenen Sohnes zum Miterben einsetzt.
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meiden, indem sie sich versöhnen. Auch Familienbilder werden aktiviert, um das Gericht abzuändern: Das Gleichnis von den beiden Söhnen zielt darauf, dass der umkehrende Sohn trotz Arbeitsverweigerung eine Chance erhält (Mt 21,28–32). Der verlorene Sohn wird aufgrund seiner Umkehr wieder in seine Rolle als Sohn eingesetzt (Lk 15,11–32). Wenn der gütige Weinbergbesitzer alle gleich bezahlt, verhält er sich nicht nach den Regeln der Arbeitswelt, sondern der Familie. Was in der Geschäftswelt wie in Lk 16,1–8 Veruntreuung wäre, ist in der Familie geboten. Zum Festmahl wird der umkehrende Sohn nicht nur eingeladen, es wird sogar seinetwillen veranstaltet. Überall wo Motive der Güte und Vergebung vorkommen, kann man einen Einfluss der Familienmetaphorik vermuten. 3. Die Zeit des Endgerichts lässt sich nicht auf einen Zeitpunkt festlegen. Wie das Heil schon gegenwärtig ist, so auch das Unheil aufgrund seiner Ablehnung. Dabei lassen sich drei Zeitperspektiven beobachten: Der Mensch schaut prospektiv auf das zukünftige Gericht, denkt retrospektiv über einen entscheidenden Akt in der Vergangenheit nach und stellt sich prophylaktisch auf das Gericht ein. Mt 5,25f schärft in einem Bildwort vom Gericht prospektiv den Blick für den Zusammenhang zwischen gegenwärtigem Verhalten und zukünftigem Urteil: Alle Menschen befinden sich auf dem Weg zur Gerichtsverhandlung. So lange Gläubiger und Schuldner auf dem Weg sind, ist Einigung möglich, um ewiges Verderben abzuwenden. Entscheidend ist das Verhältnis zu anderen Menschen. Auch das Gleichnis vom unbarmherzigen Gläubiger lehrt: Wer seinem Schuldner nicht vergibt, erfährt keinen Schuldenerlass (Mt 18,23–35). Eine Mahnung zur prospektiven Lebensführung, die das Gericht vor Augen hat, ist auch QLk 9,26; QLk 12,8, denn vom gegenwärtigen Bekenntnis der Menschen zu Jesus hängt die Fürsprache des Menschensohns ab. Andere Worte schauen retrospektiv auf eine Wende zurück: Im Himmel ist das Böse besiegt, der Satan gestürzt (Lk 10,18), der Starke in seinem Haus gefesselt (Mk 3,27). Zeichen dafür sind Exorzismen auf Erden, in denen sich die Gottesherrschaft realisiert (Lk 11,20). Aber auch dieser Sieg ist nicht endgültig: Wenn die Dämonen wiederkommen, ist die Situation noch schlimmer als vorher (Mt 12,43–45/Lk 10,24–26). Schließlich müssen alle Menschen mit einem plötzlich hereinbrechenden Gericht rechnen. Unerwartet hereinbrechende Katastrophen werden zu Metaphern des Endgerichts: Das Kommen der Sintflut über eine sorglose Menschheit wird in Lk 17,26f/Mt 24,37–39 mit dem Kommen des Menschensohnes verglichen. Lk 13,1–5 nutzt die Schockwirkung, die ein Massaker des Pilatus unter galiläischen Pilgern und der Einsturz des Turmes von Schiloa mit achtzehn Toten ausgelöst hat, zu einem Appell zur Umkehr. Im Schlussgleichnis der Bergpredigt (Lk 6,47–49/Mt 7,24–27) wird ein Wolkenbruch, der ein schlecht fundiertes Haus wegschwemmt, zum Gerichtsbild. 4. Die Adressaten der Gerichtspredigt: Jesu Gerichtsverkündigung zielt nicht auf Verdammung, sondern auf Umkehr des Einzelnen. Sie enthält keine endgültige Verurteilung kollektiver Größen. Denn jeder hat eine Chance, sich durch Umkehr aus Kollektiven zu lösen. Dennoch ist aufschlussreich, welche Gruppen Jesus angreift. Die Gerichtsdrohungen gegen „dies Geschlecht“ (vgl. Lk 11,49–51 par.; Lk 11,29ff par.) könnten Reaktionen auf negative Erfahrungen der urchristlichen Israelmission sein, gehen
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aber insgesamt auf Jesus zurück. Er setzt damit die Gerichtspredigt des Täufers fort. Wenn er dabei in Lk 11,29ff Heiden (die Südkönigin und die Niniviten) mit „diesem Geschlecht“ kontrastiert, so meint er alle jetzt lebenden Israeliten. Aber sie werden nicht kollektiv verurteilt. Jesus differenziert in seiner Gerichtsbotschaft. Gerichtsdrohungen gegen Orte wie Chorazim, Bethsaida und Kapernaum (Lk 10,13ff par.) und Städte (Lk 10,10ff par.) zeigen, dass einzelne Orte eine Chance haben, im Gericht verschont zu werden. Das schließt ein kollektives Vernichtungsurteil über „dies ganze Geschlecht“ aus. Die Aussendungsrede verspricht Orten, die Jesus und seine Boten aufnehmen, einen fast magisch wirkenden Schutz im Gericht (QLk 10,5ff). Andere Gerichtsdrohungen wenden sich nur gegen Israels Führer: In Weherufen gegen Pharisäer und Gesetzeslehrer (Lk 11,37ff) fehlt die Gerichtsankündigung. Sie nennen das Vergehen, nicht aber die Strafe (anders in äthHen 95,4–7; 96,4–8). Eine endgültige Verurteilung ist das nicht. Neben Schriftgelehrten werden die Reichen angegriffen (Lk 6,24). Der Einlassspruch: „Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein Reicher ins Reich Gottes kommt“ (Mk 10,25) gibt ihnen keine Chance – es sei denn, sie geben von ihrem Reichtum ab. Auffällig ist, dass die Mächtigen nur kritisiert (Mk 10,41ff), aber nicht verdammt werden. Gerade sie sind in apokalyptischen Gerichtsbildern Gegenstand von Strafphantasien (vgl. äthHen 62,3ff; Dan 7). Besonders charakteristisch für die Gerichtspredigt Jesu ist die individuelle Scheidung zwischen nahestehenden Menschen: In jener Nacht werden zwei auf einem Bett liegen; der eine wird angenommen, der andere wird preisgegeben werden. Zwei Frauen werden miteinander Korn mahlen; die eine wird angenommen, die andere wird preisgegeben werden. (Lk 17,34/Mt 24,40f)
Da hier kein „christliches“ Kriterium (wie der „Glaube“) für die Scheidung im Endgericht genannt wird, geht dieses Logion auf den historischen Jesus zurück. Nur auf den ersten Blick herrscht zwischen dem pauschalen Angriff auf „dies Geschlecht“ und diesem individualisierenden Gericht ein Widerspruch. Beide zielen auf dasselbe: Keiner ist sicher, im Gericht zu bestehen. Alle sind zur Umkehr aufgerufen, alle haben eine Chance: das „ganze Geschlecht“, jede Gruppe, jeder Ort und jeder Einzelne. Abschließend sei betont: Es gibt keinen Grund, Jesus die Gerichtspredigt abzusprechen. Jesus setzt mit ihr die Gerichtspredigt des Täufers fort. Wir müssen damit rechnen, dass einige Worte des Täufers unter die Worte Jesu geraten sind. Wahrscheinlich hat Jesus sie von seinem „Lehrer“ übernommen. Er teilte auf jeden Fall dessen Kritik des Ethnozentrismus und widersprach damit den Strömungen, die in seiner Zeit gegen Fremde und Ausländer Stimmung machten.
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4.2 Die Heilspredigt Jesu
Die Gerichtspredigt Jesu zielt auf Verunsicherung der Adressaten. Heil und Unheil sind anders verteilt, als sie glaubten. Nach PsSal 17 bedeutet Heil, dass die Heiden vertrieben werden. Kein Sünder, kein Fremder und Ausländer darf im Land wohnen (PsSal 17,28). Danach aber werden alle Völker aus den Heiden herbeiströmen, um sich Israel und seinem Messias zu unterwerfen! Jesus greift auf solch eine positive Erwartung zurück, verbindet sie aber mit der Drohung, dass Israeliten ausgeschlossen werden, es sei denn, sie kehren um. Gleichzeitig werden innerhalb Israel bisher unterprivilegierte Gruppen aufgewertet. 1. Das Heil gilt auch für die Heiden: Die Propheten betonten in ihren Aussagen zur Königsherrschaft Gottes den Gegensatz zwischen Israel und den Heiden, Apokalyptiker steigerten ihn zu einem Dualismus von Gott und Satan. Parallel zueinander kämpfen Mächte im Himmel und auf Erden. Auf Erden werden die Heiden besiegt. Jesus teilt den sozialmythischen Parallelismus der apokalyptischen Tradition, aber er korrigiert ihn: Die Gottesherrschaft kämpft zwar gegen die Satansherrschaft, parallel dazu findet aber kein Kampf gegen die Heiden statt, im Gegenteil: Heiden werden mit Juden zusammen mit den Patriarchen in der Gottesherrschaft speisen (Mt 8,10f). Sie werden nicht unterworfen, sondern bewirtet. Die Veränderung der Heilserwartungen betrifft auch Gruppen in Israel selbst. 2. Das Heil gilt den Deklassierten in Israel: In der Gottesherrschaft werden benachteiligte Gruppen mit sozialen, physischen und moralischen Defizite integriert. Gruppen mit sozialen Defiziten wie Arme, Hungernde, Weinende, Verfolgte und Kinder werden seliggepriesen, weil ihnen die Gottesherrschaft gehört (Mt 5,3ff/Lk 6,20ff; Mk 10,14f). „Arm“ ist jeder, der in seinen Rechten zu kurz kommt und von Mächtigen unterdrückt werden kann. Daher preist Jesus die Armen nicht glücklich, weil sie reich werden, sondern weil sie an Gottes Macht teilhaben werden: Ihnen gehört die Gottesherrschaft. Ihr Defizit ist fehlende Macht, um sich gegen Unrecht durchzusetzen. Ferner spricht Jesus Gruppen mit physischen Defiziten an: Zur Gottesherrschaft gehören Eunuchen, die in Israel nicht kultfähig waren (Mt 19,12), ferner die, die sich selbst verstümmelt haben, um kein Ärgernis zu werden (Mk 9,43–47). Der „Eunuchenspruch“ spielt mit mehreren Bedeutungen. Denn es gibt nach ihm von Geburt Kastrierte und andere, die sich um der Gottesherrschaft willen kastriert haben. Möglicherweise wurden die Jünger als „Eunuchen“ beschimpft, weil sie sich als Wanderprediger der Ehe entzogen hatten. Schließlich wendet sich Jesus Gruppen mit moralischen Defiziten zu: Das Gleichnis von den beiden Söhnen in Mt 21,28–32 sagt: Die Zöllner und Prostituierten haben mehr Chancen, in die Gottesherrschaft zu kommen, als die Frommen, die Gottes Willen zwar bejahen, aber nicht tun. Wenn Jesus sagt, dass „Gewalttäter“ die Königsherrschaft Gottes erobern, wurde vielleicht ein Vorwurf gegen Jesus und seine Anhänger positiv umgeprägt. Gerade sie, die gegen manche Normen verstoßen und ihnen Gewalt antun, besitzen die Gottesherrschaft (Mt 11,12f). Umprägung eines ursprünglich negativen Begriffs liegt auch vor, wenn Jesus die Jünger zu „Menschenfischern“ beruft (Mk 1,17). Wer seine „ordentliche“ Arbeit verlässt, um das anrüchige Gewerbe der Menschenhändler zu ergreifen, setzt sich Kritik aus.
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4. Das Heil ist eine neue Rechts- und Sozialordnung in der Gottesherrschaft: In ihr herrscht eine neue Rechtsordnung aufgrund der bedingungslosen Vergebungsbereitschaft Gottes, wie die Gleichnisse vom unbarmherzigen Gläubiger Mt 18,23ff und verlorenen Sohn Lk 15,11ff zeigen. Die Bürgerschaft der Königsherrschaft Gottes besteht aus begnadeten Sünderinnen und Sündern. Als „Gegenleistung“ erwartet Gott, dass sie auch untereinander vergeben (Mt 6,12; 7,1). Was in irdischen Rechtsverhältnissen ein Akt der Veruntreuung ist – die eigenmächtige Herabsetzung der Schulden anderer –, ist in der Rechtsordnung des Reiches Gottes positiv: Der untreue Verwalter wird in ihr zum moralischen Helden (vgl. Lk 16,1ff). Aber auch in der Gottesherrschaft kennt man Rang und Hierarchie. Zumindest denken Jesusworte darüber nach, wer der „Größte“ und der „Kleinste“ in der Gottesherrschaft sei (vgl. Mt 5,19; 11,11; 18,4). Die Jünger streiten um die Ehrenplätze in der zukünftigen Welt (Mk 10,37). Sie träumen davon, die zwölf Stämme Israels zu „richten“ (Mt 19,28 par.). Verlangen nach Rang und Ansehen prägt ihre eschatologischen Träume. Gerade deshalb fällt auf, dass Jesus der Gottesherrschaft nur einen konkreten Inhalt gibt. Er stellt das endzeitliche Heil als Gastmahl dar. Natürlich gibt es auch bei Gastmählern Ehrenplätze und Rangprobleme (vgl. Lk 14,1ff), aber alle Geladenen und Mahlteilnehmer haben am Rang dessen teil, der das Gastmahl gibt. Die Tischgemeinschaft lässt als „soziales“ Bild bis heute Macht- und Statusgefälle zurücktreten, vor allem dann, wenn sie verbunden wird mit dem Gedanken einer Statusumkehr (Joh 13,1–17; Lk 12,37). Hier gilt: „Wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein“ (Mk 10,43f).
5. Abhängigkeit und Aktivität in der Verkündigung Jesu Jesu Verkündigung der Gottesherrschaft ist geprägt durch eine Spannung zwischen Abhängigkeit von Gott und Verantwortung des Menschen. Die Gottesherrschaft realisiert sich durch Gott selbst, zugleich aber durch Umkehr von Menschen und den Kampf gegen Dämonen. Eine vergleichbare Spannung begegnet in der radikaltheokratischen Widerstandsbewegung. Auch sie motivierte mit Berufung auf die Alleinherrschaft Gottes zur Aktivität der Menschen, d. h. zum aktiven Kampf gegen Herrscher, die das für sich beanspruchen, was nur Gott beanspruchen kann. Jesus motivierte dagegen mit dem Glauben an die Gottesherrschaft zum Kampf gegen Dämonen und zur ethischen Erneuerung des Lebens. Die entscheidende Wende von der Aggression gegen die Fremden zur inneren Erneuerung hatte schon Johannes der Täufer herbeigeführt. Jesus führte sie nur weiter. Für ihn war klar: Die Gottesherrschaft kann nur Gott herbeiführen, aber er will Menschen daran beteiligen – nicht durch Aktivierung zum Aufstand gegen die Fremden, sondern zu prosozialem Verhalten, das Fremde, Feinde einschließt und Kranke wieder ins Leben integriert. Das ist ein politischer Gegenentwurf zur Widerstandsbewegung.
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5.1 Die Abhängigkeit des Menschen
Ein Jesuswort zeigt: Die individuelle Zukunft liegt ganz in Gottes Hand. In Todesgefahr ist der Mensch von Gott abhängig, aber darf auf ihn vertrauen: Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, doch die Seele nicht töten können; fürchtet viel mehr den, der Leib und Seele verderben kann in der Hölle. Verkauft man nicht zwei Sperlinge für einen Groschen? Dennoch fällt keiner von ihnen auf die Erde ohne euren Vater. Bei euch aber sind sogar die Haare auf dem Haupt alle gezählt. Darum fürchtet euch nicht; ihr seid kostbarer als viele Sperlinge. (Mt 10,28–31 vgl. Lk 12,4–7)
Hier wird der Glauben an die Schöpfung aktiviert: Gott hat alles geschaffen, die kleinsten Tiere und die Haare auf dem Kopf. Eben deswegen hat Gott allein die Macht über den Menschen im Leben und im Tod. Wichtig ist: Mit dieser Todesbereitschaft motiviert Jesus nicht zum Widerstand gegen die Feinde. Jesus ist ferner überzeugt: Die Zukunft der Welt liegt in Gottes Hand. Im Vaterunser bittet Jesus um das Kommen der Gottesherrschaft: Diese Bitte um das „Kommen des Reiches“ war sprachlich ungewöhnlich.55 Gebete im Judentum lauten: „Sei König über uns!“ (Schemone Esre 11), „Herrsche als König!“ (Neujahrsgebet) oder: Gott „lasse herrschen seine Königsherrschaft während eures Lebens“ (Quaddischgebet).56 Außerhalb von Gebeten hofft man auf das „Erscheinen“ der Gottesherrschaft (AssMos 10,1). Wenn Jesus um das Kommen des Reiches betet, ist es noch nicht da, aber Gott wird es verwirklichen. Kann der Mensch dazu beitragen? In der neutestamentlichen Exegese gilt das Gleichnis von der selbstwachsenden Saat als evidenter Beleg dafür, dass allein Gott sein Reich herbeiführt: „Von selbst bringt die Erde Frucht, zuerst den Halm, danach die Ähre, danach den vollen Weizen in der Ähre. Wenn sie aber die Frucht gebracht hat, so schickt er alsbald die Sichel hin; denn die Ernte ist da.“ (Mk 4,28f). Dass der Same von selbst (automatē) aufgeht, kann man in der Tat so deuten, als sei keine menschliche Aktivität beteiligt. Gott allein setzt seine Königsherrschaft durch. Aber auch eine andere Sicht ist möglich und wahrscheinlicher. 5.2 Die Aktivierung des Menschen
Gott führt die Gottesherrschaft herbei, aber der Mensch ist daran beteiligt. In der mt Fassung des Vaterunsers findet sich die Bitte: „Dein Wille geschehe im Himmel wie auf Erden“ (Mt 6,10b), die auf einem sozialmythischen Parallelismus basiert. Menschen sollen auf Erden 55 Das Alte Testament spricht selten vom „Kommen Gottes“ (z. B. Ps 50,3 = Lxx 49,2f; Jes 35,4). 56 Vgl. die Belege in Bill I, 418.
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bei dem mitwirken, was Gott im Himmel will. Dieser Parallelismus begegnet in „mythologischer“ Form als Kampf gegen den Satan im Himmel und Kampf gegen ihn in Exorzismen auf Erden. Das war eine Alternative zum sozialmythischen Parallelismus der Widerstandsbewegung. Sie rief schon zwei Jahrzehnte lang zur Befreiung von den Römern mit dem Argument auf: Die Gottheit würde nur unter der Bedingung zum Gelingen dieses Vorhabens (der Erringung der Freiheit) bereitwillig beitragen, wenn man selbst dabei aktiv mitwirke, oder noch besser, wenn diejenigen, die in ihrer Gesinnung Anhänger einer großen Sache geworden seien, auch der Mühe nicht aus dem Wege gingen, die (mit ihrer Ausführung) verbunden sei (Ant 18,5).57
Um Gottes Alleinherrschaft durchzusetzen, forderte Judas Galilaios den Kampf gegen die Römer, Jesus den Kampf gegen die Dämonen. Eine Wunderüberlieferung verbindet beide Konflikte: Sie erzählt davon, dass ein Dämon namens „Legion“ in einer Schweineherde in den See getrieben wurde (Mk 5,1–17) und stellt damit einen Exorzismus als symbolische Vernichtung der Römer dar. Damals war die Alternative also nicht: Kommt die Herrschaft Gottes durch Gott oder durch Menschen? Wichtiger war die Alternative: Verwirklicht Gott seine Herrschaft auch dadurch, dass in Übereinstimmung mit ihm Menschen gegen die Römer oder gegen Dämonen kämpfen? Jesu Ablehnung der Aufstandsbewegung war bekannt. Er selbst hatte seine Jünger als Boten des „Friedens“ ausgeschickt (Mt 10,7–15). Er bejaht die Steuerzahlung an die Römer (Mk 12,13–17). Er erzählt das Gleichnis vom König, der auf Diplomatie statt auf Waffen setzt – vielleicht ein Appell an die Aufstandsbewegung, Kräfteverhältnisse realistisch einzuschätzen (Lk 14,31–33). Auf jeden Fall war Jesus in den Ruf gekommen, er wolle Frieden bringen. Nur deswegen muss er diesen Ruf korrigieren: Meint ihr, dass ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf Erden? Ich sage: Nein, sondern Zwietracht. Denn von nun an werden fünf in einem Haus uneins sein, drei gegen zwei und zwei gegen drei. (Q Lk 12,49–52)58
Wenn Jesus der Friedenserwartung widerspricht, will er niemanden zum Kampf gegen die Römer motivieren, sondern denkt an Konflikte in jüdischen Familien. Wenn Jesus die Alleinwirksamkeit Gottes bei der Verwirklichung seines Reiches betont, schließt er menschliche Aktivität nicht aus, sondern dessen Verwirklichung durch Krieg. Jesus verbindet die Gottesherrschaft jedoch oft mit anderen menschlichen Aktivitäten und benutzt dabei das Bildfeld des Weges: Menschen suchen die Gottesherrschaft (Mt 6,33; 57 Übersetzung nach M.Hengel, Die Zeloten, 21976, 127. Wenn man in Ant 18,5 die in den Manuskripten bezeugte Lesart phonou der Konjektur ponou vorzieht, hätte Judas Galilaios nicht nur „Mühe“ verlangt, sondern die Bereitschaft zur Tötung (siehe die alternative Übersetzung S. 351). 58 Dieses Logion aus der Logienquelle wird bestätigt durch ThEv 16.
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Dritter Teil: Das Wirken und die Verkündigung Jesu
Lk 12,31), gehen in sie hinein (Mk 9,47; 10,15; 10,23.24.25), erreichen sie vor anderen Menschen (Mt 21,31). Jüdische Schriftgelehrte sind nicht weit von ihr entfernt (Mk 12,34), andere verschließen sie für die Menschen (Mt 23,13). Das grenzt an ein anderes Bildfeld: das der Gewalt gegen andere und gegen sich selbst: Es gibt Menschen, die „rauben“ die Gottesherrschaft (Mt 11,12). Einige machen sich ihretwillen zu Eunuchen (Mt 19,12). Einige opfern ihretwillen Fuß, Hand und Auge (Mk 9,43–47). Trotz solcher auf die Gottesherrschaft bezogenen Aktivitäten wurde es in der Exegese allgemeine Überzeugung, dass die Gottesherrschaft bei Jesus ohne menschliches Handeln „von selbst“ kommt. Hautbeleg dafür war das Gleichnis von der „selbstwachsenden Saat“.59 Doch wenn man das Gleichnis im Rahmen seines Bildfeldes der Vegetationsmetaphern interpretiert, kann man auch zu einem anderen Ergebnis kommen: Mit dem Reich Gottes ist es so, wie wenn ein Mensch Samen aufs Land wirft und schläft und steht auf, Nacht und Tag; und der Same geht auf und wächst – er weiß nicht wie. Von selbst bringt die Erde Frucht, zuerst den Halm, danach die Ähre, danach den vollen Weizen in der Ähre. Wenn aber die Frucht reif ist, so schickt er alsbald die Sichel hin; denn die Ernte ist da. (Mk 4,26–29)
Der Bauer bewirkt die Aussaat, die Erde das Wachstum. Der Bauer ist beim Wachstum passiv. Erst am Ende wird er noch einmal aktiv, wenn er seine Knechte sendet, um die Ernte durchführen zu lassen. Hinter dem Bauern steht Gott. Dass er menschliche Züge hat – er weiß nicht, wie die Saat wächst –, ist in Jesusgleichnissen keineswegs ungewöhnlich, man denke nur an den ungerechten Richter im Gleichnis von der bittenden Witwe (Lk 18,1–8). Dass er am Ende die Sichel schickt, ist ein Bild für sein Gericht (vgl. Apk 14,14 u. ö.). Das Gleichnis sagt: Gott hat seinen Samen der Erde anvertraut und vertraut darauf, dass der Samen von selbst aufgeht, wächst und Frucht bringt – unabhängig von ihm, dem aussäenden Bauern, also unabhängig von Gott.60 Eben diese Bedeutung hat das Adjektiv automatē an einigen Stellen wie Jos Ant 10,278 (s. u.). Wer aber bewirkt das Wachstum? Im Gleichnis ist es die Erde, „die von selbst Frucht“ bringt (automatē hē gē karpophorei). Das bedeutet: Gott hat der Erde seinen Samen anvertraut, der „von selbst“, d. h. spontan und ohne Nötigung von außen aufwächst. Den Samen kann man wie in der vorhergehenden Auslegung des Gleichnisses vom Sämann zweifach deuten. Er meint dort entweder die Menschen (Mk 4,15.16.18.20) oder das Wort (4,14). Entweder sagt das Gleichnis also: Die von Gott bearbeitete Erde, bewirkt wie „von selbst“ Wachstum und Reifen der Menschen. Dann ist der Same ein Bild für Menschen.
59 Diese Deutung fasst treffend zusammen D.Dormeyer, Mut zur Selbst-Entlastung (Von der selbständig wachsenden Saat) Mk 4,26–29 (EvThom 21,9 f.), in: R.Zimmermann, Kompendium der Gleichnisse, 2007, 318–326, S. 324. 60 G.Theißen, Der Bauer und die von selbst Frucht bringende Erde. Naiver Synergismus in Mk 4,26–29? ZNW 85 (1994) 167–182. Ders., Die Bilderwelt des Gottesreichs. Familien- und Pflanzenmetaphorik bei Johannes dem Täufer und Jesus von Nazareth, in: M.Schmidt/M.Lau (Hg.), Sprachbilder und Bildsprache. 2019, 173–199, dort S. 194–196 mit weiteren Parallelen zu automatōs.
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Oder es sagt: In der Erde wird der Samen als Wort fruchtbar. Dann ist die Erde ein Bild für die Menschen und der Same ein Bild für das Wort, das in den Menschen gesät wird. Im Gleichnis muss man mit einer Zweideutigkeit der Metaphern rechnen. Die Erde kann die Welt meinen, in der die Menschen als Samen verschieden gedeihen, und die Menschen, in die das Wort gesät wird. In beiden Fällen sorgen aber Menschen bzw. die Welt „von selbst“ für Wachsen und Reifen. In beiden Fällen bezieht sich das automatē nicht auf Gott. Für diese Deutung sprechen eindeutige Parallelen zum Adjektiv automatē. Nach Josephus leugnen die Epikureer die Vorsehung mit den Worten: „Gott kümmere sich nicht um die menschlichen Angelegenheiten, und das Weltall … erhalte sich ohne Lenker und Beschützer von selbst (automatōs)“ (Ant 10,278). Die Eigenverursachung der Welt gilt als automatismos (Ant 10,280). Solche Aussagen schreibt Josephus auch Moses zu, wenn er ihn zu Gott sprechen lässt: „Deshalb zeige jetzt, dass alles durch deine Vorsehung geleitet wird und nichts von selbst (automatōs), sondern nach deinem Willen gelenkt zum Ziel gelangt“ (Ant 4,47). Das Handeln Gottes wird mit dem Adverb automatōs hier ausgeschlossen. Auf Menschen angewandt bedeutet es oft „freiwillig“. So heißt es in der Ilias 2,408: „Doch freiwillig (automatōs) erschien der Rufer im Streit.“ Wenn die „Früchte“ als traditionelle Metapher für menschliche Taten verstanden werden, so wird die Freiwilligkeit betont, mit der Menschen diese Früchte hervorbringen sollen. Das Gleichnis bringt einen „konsekutiven Synergismus“ zwischen Gottes Handeln und menschlichem Handeln zum Ausdruck, mit dem sich der Mensch auf Gottes vorhergehendes Handeln zurückbezieht und auch sein freies Handeln als ein Geschenk erfährt. Man darf in diese Betonung der Selbsttätigkeit des Menschen nicht Konzepte menschlicher Autonomie hineinprojizieren. Was durch die Saat „von selbst“ wächst, ist in der Jesusüberlieferung u. a. der Glaube. Diesem Glauben wird große aktive Kraft zugetraut. Er versetzt Bäume (Lk 17,5f) und Berge (Mt 17,19f). Er heilt Kranke (Mk 5,34) und befähigt Menschen zu Wundertaten. Gedacht ist auch an das Gebet. Auch hier besteht die Gefahr, dass moderne Ansichten über das Gebet den Blick verstellen. Der Mensch ist im Gebet zwar rezeptiv, aber er wird durch das Gebet aktiviert. Das zeigt gerade das Gebet Jesu, das Vaterunser. Die mt Fassung bringt das auf den Nenner: Der Wille Gottes soll nicht nur im Himmel, sondern auch auf Erden verwirklicht werden, und zwar von Menschen. Deshalb mahnt das MtEv dazu, nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit zu trachten (Mt 6,33), eine Gerechtigkeit, die nach dem MtEv zweifellos durch Menschen getan werden muss (vgl. Mt 5,20; 6,1).
6. Das Vaterunser als Synthese Das Urchristentum kennt Spannungen zwischen Gegenwart und Zukunft, Heil und Gericht, Abhängigkeit und Freiheit in Jesusworten, ohne sie gedanklich auszugleichen. Doch ist von Jesus selbst ein Text erhalten, der diese Gegensätze verbindet: das Vaterunser. Seine Auslegung schwankt zwischen diesen Polaritäten, vor allem zwischen einer eschatologischen und alltagsbezogenen Deutung.
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Die eschatologische Deutung
Dritter Teil: Das Wirken und die Verkündigung Jesu
Die alltagsbezogene ethische Deutung
Unser Vater im Himmel (= Ergänzung zur Anrede) 1. Dein Name werde geheiligt Die Heiligung des Namens ist die endzeitliche Selbstoffenbarung Gottes: Er zeigt seine Macht und Herrlichkeit.
Die Bitte zielt auf die Anerkennung des einen und einzigen Gottes unter den Menschen: Sie sollen seinen Namen heiligen.
2. Dein Reich komme Das Kommen des Reichs ist die endzeitliche Verwirklichung des Heils, das Gott alleine herbeiführt.
Die Bitte zielt (zugleich) auf den universalen Gehorsam aller Menschen. Sein Reich realisiert sich auch durch diesen Gehorsam.
3. Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden (= Ergänzung zu den Du-Bitten) Gottes Wille ist sein Heilsplan, den er überall, auch auf Erden, durchsetzen will. 4. Unser tägliches Brot gib uns heute epiousios (ἐπιούσιος = zukünftig) meint das Brot des eschatologischen Mahls, von dem die Menschen schon heute einen Anteil erbeten.
Die Bitte zielt auf die Erfüllung des Willens Gottes durch menschliches Tun. epiousios meint das notwendige Brot oder das „Brot für morgen“, dessen Besitz schon heute von alltäglicher Sorge entlastet.
5. Und vergibt uns unsere Schuld wie auch wir vergeben unseren Schuldigern Gebeten wird um den Erlass von Schuld im eschatologischen Endgericht.
Wie die Betenden schon jetzt vergeben, erhoffen sie von Gott schon jetzt Vergebung ihrer Sünden.
6. Und führe uns nicht in Versuchung Sondern erlöse uns von dem Bösen (= Ergänzung zu den Wir-Bitten) Die Versuchung ist die endzeitliche Versuchung, die vor der endgültigen Wende zum Heil durchstanden werden muss.
Die Bitte zielt auf alltägliche Versuchungen: Die Betenden wollen vor eigenen Sünden bewahrt werden.
M.Philonenko hat die beiden Strophen der Du- und Wir-Bitten als unabhängige Gebete gedeutet.61 Im ersten Gebet bringe Jesus sein messianisches Selbstverständnis durch seine Beziehung zu Gott zum Ausdruck, das zweite sei für die Jünger bestimmt. Doch sind die Du-Bitten eher eine von Jesus als Vorbeter gesprochene Einleitung, die Wir-Bitten dagegen die responsorische Antwort der Jünger, mit der sie in das Gebet einstimmen. Ferner meint M.Philonenko, die mt Version sei ursprünglich. Wahrscheinlich ist sie aber durch drei Ergänzungen entstanden: eine erste nach der Anrede Gottes als „Abba“, durch die er zu unserem Vater wurde, eine zweite nach den Du-Bitten durch die Bitte um Verwirklichung seines Willens, eine dritte nach den Wir-Bitten durch die Bitte um Bewahrung vor dem Bösen.62 Über61 M.Philonenko, Vaterunser*, 2002, unterscheidet zwei Gebete. 62 Nach M.Philonenko wäre die lk Version eine Kürzung der längeren Version. Wahrscheinlich aber ist die mt Version eine Erweiterung der lk Version: Die Ergänzungen betonen die Transzendenz Gottes
Jesus als Prophet: Die Eschatologie Jesu
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lieferungsgeschichtlich sind Erweiterungen wahrscheinlicher als Kürzungen. Schließlich plädiert M.Philonenko für eine eschatologische Deutung aller Bitten. Doch bis heute schwankt die Auslegung mit Recht zwischen einer eschatologischen und einer alltagsbezogenen Auslegung. Wir kombinieren beide in der folgenden Deutung des Vaterunsers als Summarium der Verkündigung Jesu.63 1. Das Vaterunser zeigt die für Jesus charakteristische Spannung zwischen Gegenwart und Zukunft der Gottesherrschaft. Die Du-Bitten beziehen sich auf die Zukunft der Welt und sind eschatologisch zu verstehen. Auch das Kaddischgebet verbindet die Bitte um die Heiligung des Namens mit der Verwirklichung des Reiches. Die drei Wir-Bitten beziehen sich dagegen auf den Alltag in der Gegenwart. Die Bitte um das tägliche Brot meint das alltägliche Brot nicht nur für heute, sondern auch für morgen. Denn es geht nicht nur ums Überleben, sondern um Entlastung von der Sorge, auch in Zukunft überleben zu können. Sündenvergebung durch Gott wird für die Gegenwart erbeten, denn die Vergebung der Sünden anderer Menschen soll in der Gegenwart schon jetzt geschehen sein. Im Gericht wird denen vergeben werden, die ihren Mitmenschen vergeben haben. Fasst man die „Versuchung“ eschatologisch auf, müsste die Bitte lauten „Bewahre uns in dieser Versuchung“. Denn die eschatologische Versuchung kommt notwendigerweise und niemand kann ihr entrinnen. Das Vaterunser aber bittet um Bewahrung vor der Versuchung. Das ist bei Versuchungen des Alltags leichter vorstellbar. Dennoch hat die eschatologische Auslegung in einer Hinsicht richtig gesehen: Von der hereinbrechenden Gottesherrschaft fällt ein Licht auf das gegenwärtige Leben. Das alltägliche Mahl weist als Zeichen auf das endzeitliche Mahl. Im zwischenmenschlichen Vergeben wirkt sich die Vergebungsbereitschaft Gottes aus. Über jeder alltäglichen Versuchung liegt der Schatten der endzeitlichen Prüfung durch Gott! Zukunft und Gegenwart sind im Gottesverständnis verbunden: Der gegenwärtige Gott wird als „Vater“ angeredet, der in der Gegenwart fürsorglich handelt (Mt 6,25ff). Der zukünftig kommende Gott wird mit der Metapher von Gottes „Königtum“ bezeichnet, d. h. mit dem Willen Gottes, das Heil für die Menschen in dieser Welt durchzusetzen. 2. Das Vaterunser setzt wie die ganze Verkündigung Jesu die Spannung zwischen Heil und Gericht voraus: In seinem Zentrum steht eine Heilsbotschaft: Gott ist als Vater gütig, schenkt seinen Kindern Brot, entlastet von Sorgen. Vergebung im Alltag ist Vorschein der Vergebung im jüngsten Gericht. Unverkennbar ist aber auch: Dieses Gericht tritt zurück. Wir finden keine Drohung mit eschatologischen Strafen für die, die den Verpflichtungen des Vaterunsers nicht genügen. Auffallend ist auch der Verzicht auf jede Gerichtsandrohung gegen Feinde. In Paralleltexten setzt sich die „Königsherrschaft Gottes“ in der Regel gegen Israels Feinde durch. Wo wir die Aussicht auf einen Sieg über sie erwarten, spricht das Vaterunser vom Sieg über sich selbst: von einer Versuchung, die der Betende bewältigen muss. im Himmel, geben den ersten Bitten einen ethischen Akzent: „Dein Wille geschehe …“ (Mt 6,10b) und den Wir-Bitten einen eschatologischen Horizont: „Und erlöse uns von dem Bösen!“ 63 Vertreter einer eschatologischen Deutung sind J.Jeremias, Abba, 1966, 152–171; J.P.Meier, Marginal Jew 2*, 291–302. M.Philonenko, Vaterunser*, 2002; Zur alltagsbezogenen Deutung vgl. U.Luz, Das Evangelium nach Matthäus, 52002, 432–458.
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Dritter Teil: Das Wirken und die Verkündigung Jesu
An dieser Stelle wirkt sich die Wendung aus, die der Täufer vor Jesus durchgesetzt hat: Gott fordert nicht Überwindung der Feinde, sondern Umkehr als „Überwindung seiner selbst“. 3. Das Vaterunser zeigt schließlich wie die übrige Verkündigung Jesu eine Spannung zwischen Abhängigkeit und Aktivierung: Die Gebetsform bringt zum Ausdruck, dass der Mensch von Gott abhängig ist, aber eben durch diese Abhängigkeit aktiviert wird. Gottes weltdurchdringende Heiligkeit und Macht wird am Anfang beschworen, aber die dann folgende Bitte hat – unabhängig davon, ob sie ein Zusatz ist oder nicht –, richtig erkannt: Es geht um die Durchsetzung des göttlichen Willens nicht nur im Himmel, sondern auch auf Erden, sei es durch Gott oder durch Menschen. Das geht auch aus den folgenden Bitten hervor. Der Beter soll nicht nur um sein Brot bitten, sondern um „unser Brot“. Das erinnert an die Verpflichtung, das Brot zu teilen. Noch deutlicher fordert die Vergebung Gottes eine gegenseitige Vergebung unter den Menschen. In diesem Punkt weicht das Vaterunser von der Botschaft des Täufers ab. Seine lk Fassung hat die Erinnerung daran festgehalten, dass das Vaterunser als Gegenstück zu einem Gebet des Täufers für seine Jünger betrachtet wurde (Lk 11,1). Der Täufer verlangte die Taufe als Bedingung für die Vergebung der Sünden, Jesus aber verlangt nur die Vergebung untereinander als Bedingung göttlicher Vergebung. Nach Taufe und Sündenvergebung wurde Jesus vom Satan „versucht“. Auch im Vaterunser folgt unmittelbar nach der Sündenvergebung die Bitte um Bewahrung vor Versuchung. Der Mensch soll sich in Extremsituationen bewähren. Dazu würde die Erlösung vom „Bösen“ sehr gut passen – unabhängig davon, ob man das Böse mythisch als „den Bösen“ versteht (Mt 13,19) oder ethisch als „das Böse“ wie in Did 8,2. Sicher ist: Der Mensch soll beides überwinden. Wir erhalten auch Hinweise auf den „Sitz im Leben“ des Vaterunsers. Durch den lk Kontext wird die Bitte um Brot hervorgehoben. Vorher wird von Maria und Martha erzählt, die Jesus auf seiner Reise bewirten. Vom Brot für einen vorbeireisenden Freund handelt das folgende Gleichnis vom bittenden Freund (Lk 11,5–8) und das Bildwort von der Speisung des Sohnes (Lk 11,9 f.11–13). Dazu erinnert das Wort vom „Anklopfen“ an Türen an die Situation von Reisenden (Lk 11,9f). All das weist auf Menschen, die unterwegs an Türen anklopfen müssen, um Nahrung zu erhalten. Die Analogie zu einem Gebet der Täuferjünger im LkEv spricht dafür, dass hier die Jünger Jesu als seine engsten Anhänger gemeint sind. Das Gebet ist zwar allgemein, aber passt gut zur Situation wandernder Jünger.64 Im MtEv wird das Vaterunser nicht mit einem Gebet des Täufers, sondern mit dem Plappern der Heiden kontrastiert. Wichtigster Inhalt ist nicht die Brotbitte, sondern die Bitte um Sündenvergebung, die im folgenden Wort Jesu besonders betont wird: „Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, so wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben.“ (Mt 6,14f). Das MtEv denkt an das Zusammenleben in der Gemeinde. In Mt 18 wird er noch einmal in seiner Gemeinderede ausführen, wie entscheidend die Vergebung für die Gemeinde ist. 64 H.Klein, Art. Vaterunser, in: www.wibilex.de, 2011, meint dagegen, dass die Bitte um Brot für morgen einer Beziehung zu wandernden Jüngern widerspricht. Denn diese sollen ja kein Brot mit auf den Weg nehmen (Mk 6,8). Daraus folgt nur: Sie sind umso mehr darauf angewiesen, dass sie Brot von anderen erhalten. Darum zu beten, wäre gerade in dieser Situation sehr sinnvoll.
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Diese Indizien weisen auf einen doppelten Sitz im Leben. Jesus hat das Vaterunser für seinen Jüngerkreis formuliert, aber so, dass es für Anhänger in ortsfesten Gemeinden offen ist. Auch ist das Vaterunser zugänglich für alle Juden. Die Anrede „Vater“ impliziert keine Christologie. Auch das Gebet in Sir 51 redet Gott als Vater an: „Ich will dich preisen, mein Gott, mein Heil, ich will dich loben, mein Gott, mein Vater“ (51,1). Dadurch wird kein Hoheitsanspruch erhoben. Alle Grundspannungen der Eschatologie Jesu – Gericht und Heil, Gegenwart und Zukunft, Abhängigkeit und Freiheit – sind im Gottesverständnis Israels angelegt. Der eine und einzige Gott ist für alles verantwortlich, schafft Licht und Finsternis, Heil und Unheil (Jes 45,6f). Deuterojesaja bewältigt dieses Problem durch die Überzeugung: Unheil habe Gott in vergangenen Katastrophen verwirklicht; jetzt aber schaffe er Heil für Israel, das schon jetzt beginnt: „Siehe, nun schaffe ich Neues; schon sprosst es, gewahrt ihr es nicht?“ (43,19). Bei Jesus verschärft sich das monotheistische Problem, weil er Gott mit dem Guten identifiziert: „Niemand ist gut außer dem einen Gott“ (Mk 10,18). Der Glaube an die Güte Gottes aber kann angesichts der Welt nur durch Uminterpretation aufrechterhalten werden: Gott lässt seine Sonne über Gute und Böse aufgehen – nicht, weil er ethisch indifferent ist, sondern zu dem Zweck, seine Güte auch gegenüber den Bösen zu zeigen (Mt 5,43ff). Gott gibt nicht jedem den gerechten Lohn, Lang- und Kurzarbeiter erhalten gleich viel, nicht, weil er ungerecht ist, sondern gegenüber jedem gütig sein will (Mt 20,1ff). Prinzipiell gibt es für einen monotheistischen Glauben drei Möglichkeiten, die Existenz des Bösem zu erklären und zu bewältigen: Entweder nimmt man eine dunkle Seite in Gott an oder erklärt das Böse durch menschliche Schuld oder schreibt der „Welt“ eine Qualität zu, die das Böse in ihr verständlich macht, etwa dadurch, dass sie vom Satan beherrscht wird. Bei Jesus finden wir in Fortsetzung jüdischer Traditionen alle drei Bewältigungsformen. 1. Jesus kennt die dunkle Seite Gottes. Aber die strafende und tötende Energie Gottes wird in ihr zur Kraft umgeformt, den Sünder zur Umkehr zu rufen. Dadurch wird sie ethisch ausgerichtet. 2. Das Böse ist im Menschen verankert. Während Gott der Gute schlechthin ist (Mk 10,18), wird der Mensch mit dem Bösen identifiziert: „Wenn nun ihr, die ihr doch böse seid, dennoch euren Kindern gute Gaben geben könnt …“ (Mt 7,11). Diese Bosheit verliert ihren Schrecken, weil jeder Mensch die Chance der Umkehr hat. 3. Es bleibt der Satan als Verkörperung der feindseligen Welt, die gegen Gott und den Menschen arbeitet. Der Satan aber ist nach Jesu Überzeugung schon besiegt. Seine Dämonen fliehen. Was immer als das Böse gilt, Gottes dunkle Seite, des Menschen Sünde oder das Wirken des Satans, durch Gott wird es überwindbar. Dieses Gottesverständnis ist in den biblischen Überzeugungen des Judentums verankert. J.Wellhausen hat es anhand der Verkündigung des Amos so dargestellt: Was Jahve fordert, ist Gerechtigkeit, nichts anderes; was er haßt, ist das Unrecht. Die Beleidigung der Gottheit, die Sünde, ist durchaus moralischer Natur. Mit so ungeheurem Nachdruck war das nie zuvor
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Dritter Teil: Das Wirken und die Verkündigung Jesu
betont worden. Die Moral ist es, wodurch allein alle menschlichen Dinge Bestand haben, das allein Wesenhafte in der Welt. Sie ist kein Postulat, keine Idee, sondern Notwendigkeit und Tatsache zugleich, die lebendigste persönliche Macht – Jahve der Gott der Mächte. Zornig, zerstörend macht sich die heilige Realität geltend; sie vernichtet allen Schein und alles Eitle.65
Der Gott Jesu ist der Gott Israels: ein loderndes Feuer ethischer Energie, das den Menschen verwandeln will, um in ihm die Liebe zum Nächsten anzuzünden; das aber dem, der sich vom Heil ausschließt, zum vernichtenden Feuer wird. Charakteristisch für das Gottesverständnis Jesu ist, dass Gott als unbedingter Wille zum Guten bald zur Macht kommt. Jesu Gottesbild kombiniert dabei zwei aus dem Judentum stammende Bilder: das Bild vom „Vater“ und vom „König“. Beide wurden vor ihm gelegentlich verbunden. Nach SapSal 11,10 hat Gott die Israeliten „wie ein Vater, der zurechtweist, geprüft“, die Heiden aber „wie ein strenger König gestraft“. Tobits Lobgesang preist ihn als Vater und als König (Tob 13,4.6.7.15). In der Verkündigung Jesu ist diese Verbindung von Vater- und Königsmetaphorik zentral, dazu ein zunächst unscheinbarer Zug: Jesus spricht nie von Gott als „König“ – die wenigen Belege sind sekundär66–, sondern nur vom „Königtum“ Gottes. In anderen jüdischen Schriften finden wir ein Nebeneinander von „König“ und „Königtum“,67 nicht aber bei Jesus. Seine Botschaft ist: Gott wird in seinem Königtum als Vater zur Macht kommen.
7. Hermeneutische Reflexion Die Verkündigung der Gottesherrschaft ist vom jüdischen Gottesverständnis bestimmt: Gott ist unbedingter Wille zum Guten. Dieser Wille wird sich bald in der Welt durchsetzen. Er wird den Schwachen zu ihrem Recht verhelfen, den Armen Macht geben, die Hungrigen sättigen, dem Sünder die Chance zur Umkehr geben. Was diesem unbedingten ethischen Willen entgegensteht – Satan, Sünde und die „dunkle Seite“ in Gott – ist schon überwunden. Der Satan ist gestürzt. Die Sünde wird vergeben. Gottes strafendes Handeln wendet sich nur gegen die, die das ihnen angebotene Heil ablehnen. In der Jesusüberlieferung sind folgende „Erinnerungsmuster“ erkennbar, bei denen die Forschung zuversichtlich ist, dass ihre Strukturen auf Jesus zurückgehen. 1. Gegenwart oder Zukunft? Die Gottesherrschaft ist gegenwärtig und zukünftig. Erfüllungs- und Kampfworte bringen ebenso eine präsentische Eschatologie zum Ausdruck wie die „Anbruchsworte“, die in paradoxen Formulierungen und Bildern sagen, dass mitten in der alten Welt eine neue Welt beginnt. Sie beginnt in Exorzismen und Heilungen,
65 J.Wellhausen, Israelitische und jüdische Geschichte, 71914 = 1981, 106. 66 Mt 5,35 ist Sondergut und sekundäre Ausweitung der Antithese zum Schwören. Das Gleichnis Mt 22,1ff hat in Lk 14,16ff eine Parallele, in der nicht von einem „König“ die Rede ist. Zwei weitere Belege sind mt Sondergut: 18,23ff; 25,34 ff. 67 Vgl. z. B. AssMos 4,2; 10,1; PsSal 17,1.3; 1QM XII,7f; TestBenj 9,1; 10,7; Sib 3,46.55; SapSal 3,8; 6,4.
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vertrieben werden die Dämonen, nicht die Fremden. Erst die Zukunft bringt die volle Verwirklichung der Gottesherrschaft. 2. Heils- und Gerichtserwartung gehören zusammen. Die Gerichtspredigt des Täufers war eine Wende zur inneren Erneuerung: Heil liegt nicht darin, gegen Fremde zu kämpfen, sondern sich selbst zu kritisieren und zu erneuern. Deswegen droht der Täufer ebenso wie Jesus mit dem Gericht. Der Täufer bietet das Heil dadurch an, dass man dem Gericht durch Umkehr und Taufe entrinnen kann, Jesus droht Unheil an, wenn man das angebotene Heil ablehnt. 3. Abhängigkeit von Gott und Aktivierung des Menschen gehören zusammen. Die Erwartung der Gottesherrschaft aktiviert im Menschen die Zuwendung zu Schwachen, Kranken und Marginalisierten in Entsprechung zu Gottes Handeln. Wenn Menschen zu Exorzismen fähig sind, nehmen sie teil am Sieg über den Satan; wenn sie einander vergeben, partizipieren sie an Gottes Sündenvergebung. Wenn die Gottesherrschaft zu Heilungen und Feindesliebe motiviert, widersprechen sie der Aufstandsbewegung. 4. Die Gottesherrschaft ist dynamisch ein Prozess und räumlich ein Reich. Sofern Gottes Königtum die Durchsetzung seines Willens ist, ist die Gottesherrschaft dynamisch. Gottes Macht dient dazu, seine Güte zu verwirklichen. Als Person ist Gott in seinem Wesen ein „Vater“ voller Güte, wird aber nie „König“ genannt. Denn die Macht seiner Königsherrschaft ist nicht sein Wesen, sondern das Mittel, seine Güte durchzusetzen, und der Raum, in dem sie sich durchsetzt. 5. Nebeneinander finden sich Theozentrik und messianische Vermittlung. Das Fehlen einer messianischen Vermittlergestalt in den Worten von der Gottesherrschaft ist ein Indiz für deren Echtheit. Ein Problem aber ist: Jesus hat zweifellos gleichzeitig vom „Menschensohn“ gesprochen. Falls dies kein messianischer Hoheitstitel war, wäre das mit einer theozentrischen Reich-Gottes-Erwartung vereinbar. Falls es ein Hoheitstitel war, wäre hier eine Spannung in Jesu eschatologischer Verkündigung, die uns noch beschäftigen wird (s. § 14). Weitere Grundzüge der Eschatologie Jesu erschließen sich, wenn man sie in ihrem geschichtlichen Kontext deutet. Dann wird deutlich: 1. Die Gottesherrschaft ist weniger spirituell, als oft dargestellt wird: In ihr wird gegessen und getrunken. Sie ist in Palästina lokalisiert. Dorthin strömen die Heiden. Sie reicht in einen Bereich jenseits der Todesgrenze: Die verstorbenen Patriarchen leben in ihr. Sie ist also kein „irdisches Reich“, sondern eine neue Welt. Die in ihr erhoffte Rechts- und Sozialstruktur delegitimiert die gegenwärtige Verteilung von Macht und Besitz. Judas Galilaios hatte damals eine theokratische Erwartung der Herrschaft Gottes vertreten, die er mit Gewalt gegen die Römer durchsetzen wollte. Durch Entmilitarisierung dieser Erwartung war die Vision Jesu einer friedlich sich durchsetzenden Gottesherrschaft möglich geworden. 2. Den Jüngern wird eine „Mitherrschaft“ verheißen (Mt 19,28 par.). Ihre Herrschaft ist ein Gegenmodell zu bestehenden Herrschaftsstrukturen, sowohl zu den „monarchischen“ Strukturen der Herodäer als auch zu den „aristokratischen“ Vorstellungen der Jerusale-
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Dritter Teil: Das Wirken und die Verkündigung Jesu
mer Priester. Die Gottesherrschaft, von der Jesus sprach, war daher zwar eine entmilitarisierte, aber keine entpolitisierte Herrschaft. Wenn seine Jünger Gott als „Vater“ anreden, haben sie zum Herrscher dieses Königreichs als familia dei eine enge Beziehung. Sie wird symbolisiert durch Teilnahme am eschatologischen Mahl, bei dem Status und Rang zurücktreten: Alle Teilnehmer haben teil an der Würde des Gastgebers. 3. Jesus steht in apokalyptischen Traditionen, teilt jedoch nicht die esoterische Apokalyptik von Schriftgelehrten in geheimen Offenbarungsbüchern. Seine Verkündigung ist mündliche Prophetie. Sie bleibt in ihren zeitlichen Dimensionen auf die nahe Zukunft beschränkt. Das liegt bei mündlicher Verkündigung nahe: Verschriftlicht werden muss nur, was für spätere Generationen gelten soll. Mit der prophetischen Erwartung Jesu verbinden sich weisheitliche Züge. So soll man die Gottesherrschaft „suchen“ genauso, wie man die Weisheit suchen soll (Mt 6,25ff). 4. Der Begriff „Königsherrschaft Gottes“ rief damals bei den Hörern keinen fest umrissenen Mythos wach. Assoziiert wurde mit ihr die Hoffnung auf Überwindung der Heiden, auf die Sammlung der zerstreuten Stämme, auf die Verwirklichung einer Theokratie. Jesus verbreitete eine neue Sicht der Gottesherrschaft, insofern er die Gottesherrschaft für Heiden öffnet, ohne sie in Gegensatz zu ihnen zu bringen! Die Gottesherrschaft kommt anders als erwartet. Der Begriff wird bei Jesus wieder zu einer lebendigen Metapher, bei der nicht von vornherein feststeht, was sie bedeutet. Vor allem aktiviert er diese Metaphorik im Sinne des Täufers – nicht gegen die Fremden, sondern für die eigene Umkehr, auch wenn der Täufer das Bild der Gottesherrschaft vielleicht nie benutzt hat. Die Königsherrschaft Gottes bildet auf jeden Fall das Zentrum der Verkündigung Jesu und lässt sich nur vom Zentrum jüdischen Gottesglaubens her verstehen. Jesus ist kein „marginal Jew“. Wenn unsere Darstellung der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu richtig ist, ist das hermeneutische Problem der Gottesherrschaft das Problem des monotheistischen Gottesglaubens überhaupt: Wie setzt der eine und einzige Gott seinen Willen in dieser Welt durch? Es besteht kein Zweifel: Jesus verkündigte die nahe Gottesherrschaft, aber es kam das Christentum, das sich von ihr oft weit entfernt hat. Noch elementarer ist die Frage: Wird durch die irrtümliche Naherwartung Jesu dieser Glaube nicht diskreditiert? Grundsätzlich gibt es vier Lösungsansätze dazu: 1. Der heilsgeschichtliche Lösungsansatz: Jesus rechnete mit seinem Tod und einer danach folgenden Zwischenzeit, bis das Reich Gottes kommt. Wer diese Sicht teilt, kann sagen: Jesus hat sich vielleicht in der Zeitdauer geirrt, nicht aber in der Zeitstruktur, d. h. in der Abfolge verschiedener Geschichtsphasen. Nach seinem Tode wurde die „Zwischenzeit“ nur gedehnt, seine Eschatologie aber in der Struktur beibehalten. So wird manchmal heute seine Eschatologie nur mit neuen Zeitindikatoren vertreten. Ein neutestamentliches Modell für diese Lösung bietet das lk Doppelwerk in der Deutung von W.G.Kümmel.68 68 Vgl. W.G.Kümmel, Verheißung und Erfüllung*, 1945; ders., Die Naherwartung in der Verkündigung Jesu (1964), in: ders., Heilsgeschehen und Geschichte, 1965, 457–470.
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2. Der existentiale Lösungsansatz unterscheidet zwischen überholten „objektivierenden Vorstellungen“ über das Weltende und einer „eigentlichen Aussageintention“ hinter ihnen, die der Exeget herausarbeitet. Er umfasst verschiedene Varianten. 1. Als eigentliche Aussageintention wird der kerygmatische Ruf Jesu betrachtet, der den Menschen mit Gott und der Ewigkeit konfrontiert und zu einer existentiellen Entscheidung aufruft. Das Bewusstsein der befristeten Entscheidungszeit kleide sich (irrtümlich) in das Bewusstsein einer befristeten Zeit der ganzen Welt. Für diese Lösung von R.Bultmann, (vgl. oben 1.5.) ist das neutestamentliche Modell das existenzial interpretierte JohEv. 2. Als eigentliche Intention kann der ethische Wille betrachtet werden, der sich in zeitbedingten „Vorstellungen“ äußert. Dieser ethische Wille soll nicht mit den „richtigen“ Vorstellungen über die Welt verbunden werden, sondern seine innere Unabhängigkeit von jeder „Welt-Anschauung“ erkennen. Er basiert auf einer inneren Bejahung des Willens zum Leben in jedem Menschen, nicht auf Aussagen über die äußere Welt. Diese Lösung A.Schweitzers kann sich auf einen ethisch und mystisch interpretierten Paulus berufen.69 3. Als eigentliche Aussageabsicht kann aus apokalyptischen Vorstellungen auch eine innere Verwandlung des Menschen herausgehört werden: Die unbewusste innere Welt (mit ihren Archetypen) wird umorganisiert. Diese Transformation löst Angst und Hoffnung aus und wird in die Welt als Erwartung einer kosmischen Veränderung hineinprojiziert (K.Niederwimmer).70 Urchristliche Modelle für diese Lösung bieten die beiden Apokalypsen des Johannes und der Hirt des Hermas in psychologischer Deutung. 3. Der sozialutopische Lösungsansatz: Die Verkündigung der Gottesherrschaft enthält utopische Entwürfe einer neuen Gesellschaft. Wir brauchen zum Handeln Utopien, an denen wir uns orientieren können, auch wenn sie nie zum Grundriss des realen Lebens werden. Das Reich Gottes ist solch eine Utopie. Es ist weder gegenwärtig noch zukünftig. Vergangenheit und Zukunft sind in ihm in einem einzigen, omnipräsenten Augenblick vereint.71 „Wäre das Reich Gottes nur zukünftig, würde die Gegenwart zum Durchgang für bessere Zeiten. Traurig wäre es für alle, die es nicht mehr erleben. Verzichtete man auf die Zukunftshoffnung, würde die Zukunft entwertet, auf die Arme und Leidende hoffen. Traurig wäre es für alle, die in der Gegenwart vom Reich Gottes nichts spüren.“72 Ein neutestamentliches Modell wäre in Apg 2,42–47; 4,32–37 die Utopie des Liebeskommunismus in der Urgemeinde. 4. Der evolutionäre Lösungsansatz: Religiöse Bilder und Sprache sind Ergebnis eines langen Anpassungsprozesses an die objektiven Strukturen der Realität – lange bevor Menschen diese Anpassung durchschauen. Die in ihnen verborgene Weisheit geht der Erkenntnis daher voran. Die jüdische Apokalyptik (einschließlich Jesus) bringt einen objektiven, für unser 69 A.Schweitzer, Kultur und Ethik (1923), in: Ges. Werke II, 1971, 95–420. Ders., Die Mystik des Apostels Paulus, 1930. 70 K.Niederwimmer, Jesus, 1968. 71 Vgl. T.Onuki, Jesus, 2006. 72 G.Theißen, Glaubenssätze. Ein kritischer Katechismus, 2012, Nr. 191, S. 344 f.
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Dritter Teil: Das Wirken und die Verkündigung Jesu
Zeiterleben fast zeitlosen Sachverhalt zum Ausdruck: Der Mensch lebt im Übergang zwischen zwei Welten: zwischen der biologischen und kulturellen Evolution. Er unterliegt den biologischen Gesetzen von Mutation und Selektion, hat aber schon einen Schritt in eine Evolutionsphase getan, in der Kultur die Chance bietet, Selektion zu verringern, aber auch die Gefahr erhöht, sie durch menschliches Fehlverhalten zu verschärfen. Die Verkündigung Jesu artikuliert einen Protest gegen das Selektionsprinzip, das dem besser Angepassten und „Tüchtigeren“ Lebenschancen auf Kosten des Schwächeren gibt. Dieser Übergang zwischen den beiden Evolutionsphasen geschieht in der ganzen Menschheitsgeschichte, auch in anderen Religionen, aber wird in der Bibel bewusst artikuliert. Religiöse Symbole und Bilder dekodieren in ihr das heimliche Programm der Kultur (G.Theißen).73 Die irrtümliche Naherwartung Jesu (und der ersten Christen) hat im Urchristentum keine große Krise ausgelöst. Jedoch wurde das Problem registriert, wie das lk Doppelwerk, 2Thess, 2Petr, 1Clem 23ff, 2Clem 11, ApkPetr, Justin Apol I,28,2 zeigen. Das hat nicht zu einer grundsätzlichen Umstrukturierung der Eschatologie geführt.74 Das ist verständlich. Während der Mensch sein Verhältnis zur Vergangenheit immer rationaler gestalten kann, ist das gegenüber der Zukunft nur begrenzt möglich. Die Vergangenheit wird mit Hilfe von schriftlichen Quellen und historiographischen Darstellungen in einen verstehbaren Zusammenhang gebracht. Die „Anfänge“ rücken im historischen Bewusstsein immer weiter zurück. Mythisches Bewusstsein lässt die Anfänge wie die archetypische Urzeit dagegen wie einen Horizont mitwandern. Sie beginnen dort, wo die erinnerte Zeit aufhört – in mündlicher Überlieferung oft nach wenigen Generationen. Im Blick auf die Zukunft aber bleiben wir in unserem Erleben an mythische Strukturen gebunden: Die Zukunft wandert als ein Horizont (von Ängsten und Hoffnungen besetzt) mit und bleibt immer gleich weit entfernt. Zu ihr haben wir selbst heute noch ein quasimythisches Verhältnis. Auch die Erwartung der Gottesherrschaft konnte so durch die ganze Geschichte des Christentums als Horizont mitwandern.
73 G.Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, 1984. Vgl. die Kritik und Weiterführung dieses Ansatzes bei C.Klodt, Jenseits von Eigennutz. Potentiale und Grenzen evolutionstheoretischer Per spektiven zur Beschreibung der christlichen Religion, 2021. 74 K.Erlemann, Naherwartung und Parusieverzögerung im Neuen Testament, 1995.
§ 11 Jesus als Heiler: Die Wunder Jesu
S.Alkier, Wen wundert das? Einblicke in die Wunderauslegung von der Aufklärung bis zur Gegenwart, ZNT 7 (2001) 2–15; M.Becker, Wunder und Wundertäter im frührabbinischen Judentum, 2002; P.F.Craffert, The Life of a Galilean Shaman: Jesus of Nazareth in Anthropological-Historical Perspective, 2008; M.Dibelius, Die Formgeschichte des Evangeliums, 1919; E.Eve, The Healer from Nazareth: Jesus’ Miracles in Historical Context, 2009; L.E.u.M.-L.Keller, Der Streit um die Wunder. Kritik und Auslegung des Übernatürlichen in der Neuzeit, 1968; B.Kollmann, Jesus und die Christen als Wundertäter: Studien zu Magie, Medizin und Schamanismus in Antike und Christentum, 1996; ders., Jesus and Magic: The Question of the Miracles, in: T.Holmén/St. E.Porter (ed.), Handbook of the Study of the Historical Jesus 4, 2011, 3057–3085; B.Kollmann/R.Zimmermann (Hg.), Hermeneutik der frühchristlichen Wundererzählungen, 2014; J.P.Meier, A Marginal Jew 2, Mentor, Message, and Miracles, 1994, 509–1038; E.E.Popkes, Antikes Medizinwesen und antike Therapieformen, in: R.Zimmermann (Hg.), Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen 1, 2013, 79–86; A.Merz, Der historische Jesus als Wundertäter im Spektrum antiker Wundertäter, in: R.Zimmermann (Hg.), Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen 1, 2013, 106–123; L.Schenke, Jesus als Wundertäter, in: ders. u. a., Jesus von Nazaret – Spuren und Konturen, 2004, 148–163; G.Theißen, Urchristliche Wundergeschichten, 1974; ders., Jesus and His Followers as Healers: Symbolic Healing in Early Christianity, in: W.S.Sax/J.Quack u. a., The Problem of Ritual Efficacy, 2010, 45–65; ders., Wunder Jesu und urchristliche Wundergeschichten. Historische, psychologische und theologische Aspekte, in: B.Kollmann/R.Zimmermann (Hg.), Hermeneutik der frühchristlichen Wundererzählungen, 2014, 67–86; ders., Ritual and Healing, in: R.Uro u. a. ed., Oxford Handbook of Early Christian Ritual, 2018, 445–461; D.Trunk, Der messianische Heiler. Eine redaktions- und religionsgeschichtliche Studie zu den Exorzismen im Matthäusevangelium, 1994; R.Zimmermann (Hg.), Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen 1: Die Wunder Jesu, 2013.
Die Gottesherrschaft war das Zentrum der Verkündigung Jesu, für manche Zeitgenossen waren es die Wunder. Einige Exegeten zweifeln ihretwegen generell an der Geschichtlichkeit aller Quellen zu Jesus. Werden sie nicht unglaubwürdig, wenn schon das MkEv als ältestes Zeugnis unglaubwürdige Wundergeschichten enthält? Andere argumentieren: Da Worte und Taten Jesu vergleichbar gut bezeugt sind, müssen auch seine Wunder im Prinzip geschichtlich sein (J.P.Meier).1 Historisch besteht die Herausforderung darin, die Erinnerungsspuren des historischen Jesus auch in diesen oft legendarischen Wundergeschichten zu erkennen.
1
J.P.Meier, A Marginal Jew 2, 1994, 630: „… if the miracle tradition from Jesus’ public ministry were to be rejected in toto as unhistorical, so should every other Gospel tradition about him.“
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Dritter Teil: Das Wirken und die Verkündigung Jesu
1. Die Forschungsgeschichte zu den Wundern Jesu Lange waren die Wunder Argumente für die Wahrheit des christlichen Glaubens und wurden „supranaturalistisch“ als Eingriffe Gottes gedeutet. Erst in moderner Zeit wurden sie aus einem Fundament der Apologetik deren Gegenstand. Das Wunder, „des Glaubens liebstes Kind“ (J.W.Goethe, Faust I, Nacht), wurde in der modernen Theologie zum ungeliebten Kind, dessen Existenz man zu „entschuldigen“ versucht. 1.1 Die rationalistische Wunderinterpretation: H.E.G.Paulus
Vom neuzeitlichen Rationalismus der Naturwissenschaften geprägte Theologen versuchten, die Geschichtlichkeit der Wundergeschichten zu retten, indem sie durch natürliche Erklärungen das Wunderbare aus ihnen entfernten. C.F.Bahrdt (1741–1792)2 erklärte den Seewandel z. B. durch Bauhölzer im See, die dort schwammen, wo Jesus übers Wasser ging, die Sturmstillung dadurch, dass Jesus verängstigte Jünger mit „Schweigt still!“ angefahren habe, die den Befehl aber auf Wind und Wellen bezogen, die sich zur gleichen Zeit beruhigten. Eine ausgereiftere rationalistische Wundererklärung entwickelte H.E.G.Paulus (1761–1851).3 Er suchte nach im Text nicht genannten Zwischenursachen. Die Speisungswunder erklärte er z. B. damit, dass die Volksmenge Speisevorräte bei sich gehabt habe, die den Ärmeren bald ausgegangen seien. Indem Jesus seine eigenen Vorräte austeilte, habe er ein positives Beispiel gegeben: Auch andere verteilten ihre Vorräte, so dass alle satt wurden. 1.2 Die mythische Wunderinterpretation: D.F.Strauß
D.F.Strauß (1808–1874) schlug gegenüber den supranaturalistischen und rationalistischen Deutungen einen neuen Weg ein: Er deutete die Wundergeschichten als „mythische“ Dichtungen, die entstanden, um die Idee zum Ausdruck zu bringen, dass Jesus der Messias ist. Als Messias musste er z. B. das Speisungswunder des Elisa (2Kön 4,42–44) überbieten. Jesus selbst aber habe den Wunderglauben eher abgelehnt. Doch „bei der Denkart seiner Zeit- und Volksgenossen mußte er Wunder thun, er mochte wollen oder nicht. Sobald er einmal für einen Propheten galt … – so traute man ihm auch Wunderkräfte zu, und sobald man sie ihm zutraute, traten sie sicher auch in Wirksamkeit“.4 Wundergläubige Erwartungen brachten psychosomatisch erklärbare Heilungen hervor, auch erdichtete Wunder, nicht als Täuschung, sondern als absichtslose Produkte des kollektiven Bewusstseins. Damit war der Weg frei, die Geschichtlichkeit vieler Wunderüberlieferung zu bestreiten, ihren religiösen Sinn würdigen zu können und gleichzeitig eine Heiltätigkeit Jesu als ihren Ursprung anzunehmen. 2 3 4
C.F.Bahrdt, Briefe über die Bibel im Volkston, 1782; vgl. E.u.M.-L.Keller, Der Streit um die Wunder*, 1968, 58–74; A.Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, 91984, 79–84. H.E.G.Paulus, Das Leben Jesu als Grundlage einer reinen Geschichte des Urchristentums, 2Bde, 1828. D.F.Strauß, Das Leben Jesu für das deutsche Volk, 1864, 9–11. Auflage 1895, 1.Teil, 336 f.
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1.3 Die formgeschichtliche Wunderinterpretation: R.Bultmann
Während Strauß die Wundergeschichten Jesu aus der biblischen Tradition erklärte, entstanden sie nach form- und religionsgeschichtlichen Erkenntnissen als Anpassung an den antiken Wunderglauben. M.Dibelius unterschied dabei in: Die Formgeschichte des Evangeliums, 1919, knappe „Paradigmen“ wie die Sabbatheilungen von den längeren „Novellen“, in denen sich eine „profane“ Erzähllust wie in der „Welt“ entfaltet habe.5 Er wertete alle Wundergeschichten dadurch auf, dass er die Predigt als ihren „Sitz im Leben“ bestimmte. Nach R.Bult mann, Geschichte der synoptischen Tradition, 1921, waren die neutestamentlichen Wunder dagegen nicht nur an antike Wunder angeglichen worden, sondern benutzten dieselben Motive. Darüber hinaus seien ganze Wundergeschichten übernommen worden wie das Weinwunder zu Kana, das ursprünglich ein Dionysoswunder war (S. 253). Insgesamt sei „der hellenistische Ursprung der Wundergeschichten“ wahrscheinlich (S. 256). Hatte D.F.Strauß die Wunderüberlieferung aus der messianischen Idee, also aus dem Zentrum des biblischen Glaubens erklärt, rückten hier die Wunder an den Rand des NT. Sie wurden als Teil einer allgemeinen antiken Formensprache relativiert. 1.4 Die redaktionsgeschichtliche Relativierung der Wundergeschichten
Die Kerygmatheologie fing die religions- und formgeschichtliche Relativierung der Wundergeschichten durch den Gedanken auf, dass sich die christliche Botschaft der Wundergeschichten „bedient“ hätten, um das rettende Wort Gottes zu veranschaulichen und Glauben zu schaffen.6 Insbesondere die Redaktionsgeschichte zeigte, wie die Evangelisten die Wundergeschichten in diesem Sinne bearbeitet haben – Mk kerygmatisch als geheime Offen barungen im Schatten des Kreuzes, Mt ethisch als Modelle der Barmherzigkeit, Lk heilsgeschichtlich als Erfüllung von Weissagung, Joh symbolisch als Zeichen des Lichts in einer finsteren Welt. a) Das Markusevangelium 7 relativiert die Wunder durch das Messiasgeheimnis, durch Schweigegebote und Jüngerunverständnis. Ihre theologia gloriae wird durch eine theologia crucis korrigiert. Denn erst durch Kreuz und Auferstehung werde Jesu Person und Werk verstanden. T.J.Weeden meinte sogar, Mk habe sein Evangelium geschrieben, um den Glauben an einen wundertätigen „göttlichen Menschen“, einen theios anēr, als Häresie zu bekämpfen.8
5 6
7 8
M.Dibelius, Formgeschichte*, 1919, 36–56; 21933, 66–100. Vgl. z. B. W.Schmithals, Wunder und Glaube, 1970, 25: „Die neutestamentlichen Wundergeschichten berichten nur scheinbar von merkwürdigen Ereignissen aus dem Leben des irdischen Jesus. In Wahrheit verkündigen sie, was Gott durch Jesus als den Christus, das heißt durch den gekreuzigten und auferstandenen Herrn der Gemeinde, an dieser Gemeinde tat und an der Welt tun will.“ Vgl. K.Kertelge, Die Wunder Jesu im Markusevangelium, 1970. T.J.Weeden, The Heresy That Necessitated Mark’s Gospel, ZNW 59 (1968) 145–158, dt. in: R. Pesch (Hg.), Das Markusevangelium, 1979, 238–58.
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b) Das Matthäusevangelium hat nach H.J.Held, Matthäus als Interpret der Wundergeschichten, 1960, die Wundergeschichten in Angleichung an Apophthegmen gekürzt, auf eine Pointe hin ausgerichtet und mirakulöse Züge zurückgedrängt, wie u. a. die Auslassung der Wunder Mk 7,31–37; 8,22–26 zeigt. Die in Mt 8–9 konzentrierten Wunder erweisen Jesus als barmherzigen „Messias der Tat“, der die Krankheiten aller auf sich nimmt (Jes 53,4 in Mt 8,17).9 c) Im Lukasevangelium erfüllt Jesus als letzter eschatologischer Prophet nach U.Busse, Die Wunder des Propheten Jesu, 1977, 384f, „die biblische Verheißung Is 61,1f/58,6 an den Armen, Geknechteten und Sündern in Israel.“ d) Das Johannesevangelium deutet nach R.Bultmann Wunder der σημεĩα-(Zeichen-)Quelle symbolisch und korrigiert einen naiven Wunderglauben. Wunder sind „Zeichen“, die auf das eigentliche Wunder, die Person Jesu als Offenbarer und Vermittler wahren Lebens, hinweisen. Der Offenbarer weckt durch sein Wort den eigentlichen Glauben, demgegenüber der Wunderglaube vorläufig ist.10 1.5 Die religionsgeschichtliche Typologie antiker Wundertäter
Ein Gegengewicht zur rein theologischen Deutung der Wundergeschichten war die religionsgeschichtliche Einordnung der Wunder Jesu entweder im Rahmen der paganen Antike als Wunder eines „Theios Aner“ oder im Rahmen des Judentums als Taten eines Charismatikers und in beiden Kontexten sowohl als Wundertäter als auch als Magier. a) Jesus wurde nach L.Bieler, ΘΕΙΟΣ ANHP. Das Bild des ‚Göttlichen Menschen‘ in Spätantike und Frühchristentum, 1935/36, in der urchristlichen Literatur an den Typus des „göttlichen Menschen“ angepasst, zu dessen Repertoire Wunder gehören. b) Jesus galt bei G.Vermes, Jesus der Jude, 1973, dt. 1993,45–68, als jüdischer Wundertäter in einem „chassidischen Judentum“, zu dem auch der Regenmacher Honi im 1. Jh. v. Chr. und der galiläische Wunderrabbi Hanina ben Dosa im 1. Jh. n. Chr. gehörten. Bei beiden erinnert die Unmittelbarkeit der Beziehung zu Gott an Jesus: Unabhängig vom Gesetz hatten sie Zugang zu Gott und wurden vom institutionalisierten Judentum kritisch beurteilt, aber in der rabbinischen Überlieferung nachträglich „pharisäiert“. c) Jesus galt bei M.Smith, Jesus der Magier, 1978, dt. 1981, 86–88, als Magier, der in Ägypten ausgebildet worden war.11 Er sei von „Beelzebub“ besessen gewesen, habe sich durch Totenbeschwörung des Geistes des Täufers bemächtigt (Mk 6,16) und mit magischen Praktiken Wunder gewirkt. Sich selbst habe er für einen „Sohn Gottes“ im Sinne der Zauberpapyri gehalten. Magie zeige auch die Verteilung verzauberter Nahrung beim Abend-
9 G.Bornkamm u. a., Überlieferung und Auslegung im Matthäusevangelium, 1960 71975, 155–287. 10 R.Bultmann, Das Evangelium des Johannes, 1941 201985. 11 Diese Vermutung beruht auf einer rabbinischen Überlieferung (bSchab 104b), nach der Ben Stada (wohl einer Chiffre für Jesus) aus Ägypten magische Formeln mitgebracht habe, die in seine Haut tätowiert waren. Mt 2,13–21 gilt Smith als christlich-apologetische Bearbeitung dieser Tradition.
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mahl, sogar „schwarze Magie“ habe er praktiziert, als er durch verzaubertes Brot den Satan in Judas fahren ließ. Heute wird angenommen, dass in der Antike Wundertäter je nach Bewertung sowohl als Charismatiker als auch als Magier gelten konnten. G.H.Twelftree urteilt in: Jesus the Exorcist, 1993, dass Jesus hinsichtlich seiner Praktiken ein normaler Exorzist war (S. 173), aber zu den wenigen gehörte, die nicht aufgrund magischer Rituale, sondern aufgrund ihrer Persönlichkeit heilten vergleichbar Abraham im Genesisapokryphon (1QGenAp XX) und Apollonius von Tyana bei Philostrat. Ganz ohne antike Parallele sei das Vertrauen Jesu, dass in seinen Exorzismen Gott handelt und die Gottesherrschaft anbricht.12 1.6 Die sozialgeschichtliche Deutung der Wunder
Sozialgeschichtliche, kulturanthropologische und medizinhistorische Beiträge haben Entstehung und Funktion des Wunderglaubens weiter erhellt. 1) Sozialgeschichtliche Forschung hat bewusst gemacht, dass die Definitionsmacht der Gesellschaft entscheidet, was Krankheit oder Gesundheit, Magie oder Wunder ist, ob es Dämonen „gibt“ oder nicht: Werden sie allgemein geglaubt, können Menschen ihre Pro bleme in „dämonologischer“ Form ausdrücken. Exorzismen bestärken sie darin. Die Definitions- und Konstruktionsmacht der Gesellschaft macht dabei ebenso die Entstehung von Krankheit und Besessenheit wie ihre Überwindung verständlich.13 Sie erklärt, warum der Wunderglaube zu- und abnimmt. Protest- und Erneuerungsbewegungen legitimieren sich durch charismatische Wunder, die von ihren Gegnern als Magie kritisiert werden, aber viele Menschen ansprechen, die sich in konkreter Not durch Wundergeschichten Mut machen. Daher sind sie nicht nur kerygmatisch „von oben“, sondern als Widerstand gegen Not und Leid auch „von unten“ zu lesen.14 Gebildete Menschen wie Lukian von Samosata stehen ihnen skeptischer gegenüber. Ferner kann man die Wunderüberlieferung von Jesus nicht allein durch typische Erwartungen an Heilsvermittler erklären. Denn von Johannes dem Täufer wurden keine Wunder erzählt (Joh 10,41), obwohl er als wiederkommender Elia galt, von dem viele Wunder erzählt wurden. Auch Bar Kochba wurden im 2. Jh. n. Chr. keine Wunder zugeschrieben, obwohl er als Messias galt. Wenn Jesus mehr Wunderüberlieferungen hervorgerufen hat als andere Charismatiker, so ist das darauf zurückzuführen, dass er ein Heiler mit ungewöhnlicher Ausstrahlungskraft in einer vormodernen Gesellschaft war, wie sie von der Kulturanthropologie erforscht werden. 2) Kulturanthropologisch wird die Heiltätigkeit Jesu durch Analogien der vormedizinischen Kultur aller Völker gedeutet.15 Wir finden hier zwei Deutungen von Krankheit: Ent12 13 14 15
Ähnlich D.Trunk, Heiler*, 1994, 426. D.Trunk, Heiler*, bes. 7–39.375 ff. Vgl. G.Theißen, Wundergeschichten*, 1974, 229–297. E.Drewermann, Tiefenpsychologie und Exegese Bd. 2, 1985, 79–95, zeigt anhand von Aussagen von Indianern, „wie ein Schamane fähig wird, zu heilen.“ In der Exegese beleuchtet P.F.Craffert, Galilean Shaman*, 2008, mit Erfahrungen in seiner Heimat Südafrika das Heilcharisma von Schamanen.
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weder verlässt Lebenskraft den Kranken oder eine lebensfeindliche Kraft dringt in ihn ein. Exorzismen entfernen destruktive Mächte. Adorzismen flößen neue Kraft ein,16 Jesus vertreibt exorzistisch mit seinen Worten Dämonen und überträgt adorzistisch durch Handauflegung dynamis als heilende Macht. Doch schreibt er diese Macht nicht sich selbst zu, sondern dem Glauben der Geheilten, wenn er sagt: „Dein Glaube hat dich geheilt“ (Mk 5,34). Diese Heilkraft des Glaubens erklärt sich evolutionär dadurch, dass Vorfahren, bei denen vormedizinische Heilmethoden wirksam waren, mehr Überlebenschancen hatten als andere und wir ihre Nachkommen sind.17 Daher ist der „Glaube“ bis heute eine Heilkraft im Menschen, die wir als Placebo-Effekt deuten.18 Er wirkt aber nur dort, wo kulturelle Umgebung und persönliche Einstellung ihn verstärken. Das gilt auch für die Antike, in der eine empirisch orientierte Medizin entstand. 3) Medizinhistorische Forschung vergleicht Jesus mit einem Arzt (vgl. Mk 2,17). Insbesondere im LkEv hoffte man, Spuren medizinischen Wissens zu finden, da Lukas nach Kol 4,14 ein Arzt war. A.Weißenrieder hat Begriffe und Motive in neutestamentlichen Wundergeschichten zusammengestellt, die in medizinischen Texten der Antike vorkommen. So wird die Heilkraft, die das NT dynamis nennt, mit dem lateinischen Begriff virtus übersetzt, der in der römischen Medizin auch für Medikamente angewandt wurde. Speichel ist im NT ein Heilmittel (Mk 7,32–37; 8,22–26; Joh 9,1–11) und gilt bei Plinius als Mittel gegen Blindheit (Nat.Hist. 27,7; 28,60). Was wir für magische Mittel halten, wurde manchmal als Arznei klassifiziert. Jesus gilt bei Ignatius von Antiochien sogar explizit als „Arzt“ (IgnEph 7,2). Die Nähe von Wunderheilungen und ärztlicher Therapie macht verständlich, warum seine Heilungen ein starkes Motiv für die Christen waren, Kranke zu pflegen und in der Antike die ersten Krankenhäuser zu gründen. 1.7 Erinnerungshistorische Analyse der Wundergeschichten
Wundergeschichten sind nicht nur Bearbeitungen von Traditionen, sondern jeweils neue Neuschöpfungen aufgrund eines gleichbleibenden Repertoires von Motiven und Gattungsstrukturen. Ihre Neuerzählungen steigern oder reduzieren das Wunderbare. Ein christlicher „Schriftgelehrter“ wie der Matthäusevangelist (Mt 13,52) oder ein Skeptiker wie Lukian von Samosata reduzieren das Wunderbare in ihren Wundergeschichten. Dagegen wurden in volkstümlicher Überlieferung unwahrscheinliche paradoxe Motive manchmal zu kontraintuitiven Motiven gesteigert, die ganz unrealistisch sind: Aus der Heilung einer bewusstlosen Kranken wurde eine Totenerweckung. Das weckt beim Erzählen mehr Aufmerksamkeit als eine „normale“ Gesundung. Wenn sich solch eine „Heilung“ dazu mit der ansprechenden 16 P.v.Gemünden, Die Fremdheit der Bibel wahrnehmen – der kulturanthropologische Beitrag zur Exegese, in: Beyond Biblical Theologies, H.Assel/St. Beyerle/Chr.Böttrich (ed.), 2012, 497–530, übernimmt von Luc de Heusch den Begriff „Adorzismus“, den dieser in Analogie zu „Exorzismus“ gebildet hat. 17 J.McClenon, Wondrous Healing: Shamanism, Human Evolution, and the Origin of Religion, 2002. 18 H.Brody, Ritual, Medicine, and the Placebo Response, in: W.S.Sax, u. a., The Problem of Ritual Efficacy, 2010, 151–167.
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Liebe eines Vaters zu seiner Tochter verbindet, fördert das die Verbreitung der Wundergeschichte (Mk 5,21–24.35–43). Unterschiede zwischen deren Gattungen entsprechen kognitiven Kategorien.19 Therapien sind paradox. Sie übertragen eine übernatürliche Kraft durch Berührung, was als Ansteckung normal, als heilende Kraft aber ungewöhnlich ist. Sie bringen Hilfe und Besserung in unsere Welt. Exorzismen sind dagegen kontraintuitiv. In ihnen wird ein dämonisches Ich aus dem Menschen verdrängt, das in verschiedene Körper eingehen kann. In Exorzismen kann der Anbruch einer neuen dämonenfreien Welt gesehen werden (Lk 11,20). Naturwunder sind erst recht kontraintuitiv: Ein Wundertäter geht über das Wasser, Brot wird wunderbar vermehrt, Wasser wandelt sich in Wein, ein verwesender Toter wird lebendig. Ihr kontraintuitiver Charakter lässt nach einem übernatürlichen Akteur fragen. Manchmal wird er wie beim Seewandel zur überirdischen Erscheinung. Diese übermenschlichen Akteure führen dazu, dass Naturwunder symbolisch gedeutet werden, das Brotwunder auf die Eucharistie (in Joh 6,52–58), die Totenauferweckung auf ein neues Leben (in Joh 11), der wunderbare Fischfang auf Mission und Kirche (Lk 5,1–11; Joh 21,1–14). Die Wunderüberlieferung von Jesus konnte vor allem deshalb so starke Verbreitung finden, weil sie intuitiv ein Hilfsethos anspricht, gleichzeitig aber den Weg zu einer kontraintuitiven Begegnung mit Gott öffnet, der Jesus auferweckt hat. Sie vereint den Osterglauben mit Erinnerungsspuren des historischen Jesus: a) Die Quantität der Wunderüberlieferung ist eine erste Erinnerungsspur. Im damaligen Judentum und in der Antike schrieb man nicht jedem Charismatiker Wundertaten zu. Bei Jesus übertrifft die Fülle der Wunder alle antiken Parallelen. b) Die Gattungen der Wunder sind eine zweite Erinnerungsspur: Vormedizinische Heiler sind Spezialisten. Jesus heilt keine Brüche, Verletzungen oder Schlangenbisse (vgl. dagegen Mk 16,17f; Apg 28,1–6). Die Konzentration auf Krankheiten wie Lähmung, Blindheit und Taubheit, Fieber und Besessenheit, die „von innen“ verursacht sind, ist eine Erinnerungsspur des historischen Jesus. c) Der soziale Kontext der Heilungen ist eine dritte Erinnerungsspur. Heilungen gelingen vormedizinisch in einer unterstützenden Umwelt. Bei Sabbatheilungen erhöhen aber auch Konflikte die Heilchancen: Der Bruch des Sabbats signalisiert dem Hilfesuchenden: Seine Heilung ist unendlich viel wert, ist Wiederherstellung der Schöpfung.20 Die Erklärung der Wunderheilungen durch den Glauben ist in der Antike singulär. Gegen die Erwartung an den Wunderheiler, dass er die Kranken heilt, stellt Jesus: fest: Die Kraft dazu liegt im Glauben der Geheilten. Vor allem diese Entdeckung des Glaubens-Effekts ist eine Erinnerungsspur des historischen Jesus. 19 I.Czachesz/G.Theißen, Kognitive Ansätze in der Exegese. Ihr Beitrag zur methodischen Erforschung der Bibel, in: Kontraintuitivität und Paradoxie. Zur kognitiven Analyse urchristlichen Glaubens, 2017, 31–65, S. 53–55. 20 Die Theorie des sozialen Heilens erklärt Heilchancen durch eine unterstützende Umwelt. W.Sax, R itual and the Problem of Efficacy, in W.Sax u. a. (eds.), Ritual Efficacy, 2010, 3–16; G.Theissen, Jesus and his Followers*, in: ebd. 45–65.
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Dritter Teil: Das Wirken und die Verkündigung Jesu
2. Die Motive urchristlicher Wundergeschichten Die synoptischen Wundergeschichten variieren einen weitverbreiteten Satz von Motiven in immer neuen Kombinationen, wobei die einzelne Erzählung nur einige potentiell mögliche Motive aktualisiert. Im Folgenden geben wir eine Übersicht über die Motive, ihren kompositionellen Ort und die Personen, denen sie zugeschrieben werden.21 Einleitung (einleitende Motive)
1. Kommen des Wundertäters 2. Auftreten der Menge Auftreten von
3. Hilfsbedürftigen 4. Stellvertretern 5. Gesandtschaften 6. Gegnern
7. Motivation des Auftretens von Gegenspielern Exposition (expositionelle Motive)
8. Charakterisierung der Not Annäherung an den Wundertäter Zurückweichen
Verhalten des Wundertäters
Mitte (zentrale Motive)
21. Szenische Vorbereitung Wunderhandlung
26. Konstatierung des Wunders Schluss (finale Motive)
Gegenspieler Wundertäter Zwischenspieler
21 Aus: G.Theißen, Wundergeschichten*, 1973, 57–83.
9. Erschwernis d. Annäherung 10. Niederfallen 11. Hilferufe 12. Bitten und Vertrauensäußerungen 13. Missverständnis 14. Skepsis und Spott 15. Kritik (durch Gegner) 16. Gegenwehr des Dämons 17. Pneumatische Erregung 18. Zuspruch 19. Argumentation 20. Sich-Entziehen 22. Berührung 23. Heilende Mittel 24. Wunderwirkendes Wort 25. Gebet 27. Demonstration 28. Entlassung 29. Geheimhaltungsgebot 30. Admiration 31. Akklamation 32. Ablehnende Reaktion 33. Ausbreitung des Rufes
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Ȥ „Stellvertreter“ sind für den Kranken bittende Personen, Träger und Begleiter der Hilfesuchenden. Auch ihnen wird „Glauben“ zugesprochen (z. B. Mt 9,2). Ethnomedizinisch ist erwiesen ist, dass die Unterstützung der Gemeinschaft Heilungen erleichtert. Ȥ Ein Missverständnis liegt vor, wenn Menschen Worte oder Handlungen des Wundertäters missverstehen, weil ihre Erwartungen im Rahmen des Normalen bleiben. Ȥ „Pneumatische Erregung“ sind Aussagen über die affektive Reaktion des Wundertäters angesichts der Not. Sie macht seine Erfüllung mit göttlicher Macht erfahrbar. Ȥ Mit einer „Argumentation“ reagiert der Wundertäter z. B. auf die Ablehnung einer Heilung als Bruch des Sabbats. Ȥ „Szenische Vorbereitungen“ sind dem Wunder vorangehende Handlungen, z. B. das Kommen der Beteiligten, die Ausschließung des Publikums. Ȥ „Gegenspieler“ und „Zwischenspieler“ sind „Rollen“, die von verschiedenen Personen eingenommen werden. Wundertäter und „Gegenspieler“ (häufig die Kranken) bilden die Pole, andere Personen besetzen das Feld der „Zwischenspieler“. Ȥ Admiration meint alle erzählerischen Motive, die ein Staunen, Fürchten, Sich-Entsetzen zum Ausdruck bringen, Akklamation eine sprachliche Stellungnahme zum Wunder.
Dass man von Wundern Jesu mit den Motiven der damaligen Wundergeschichten erzählt, ist auch dadurch bedingt, dass seine Wunder schon zu seinen Lebzeiten erzählt wurden. Wiederholt heißt es: „Und sein Ruf verbreitete sich“ (Mk 1,28 vgl.1,45; 3,8; 5,20; 6,14; 7,36). Sogar andere Exorzisten benutzten seinen Namen (9,38f). Diese Verbreitung der Wunderüberlieferung erklärt eine „volkstümliche Verschiebung“ in ihnen,22 durch die charakteristische Züge Jesu verschwanden. Nirgendwo spricht Jesus in Wundergeschichten von Gott als Vater, nirgendwo von dessen Königsherrschaft, nirgendwo spricht er ein Amen oder verlangt Umkehr. Nur das Glaubensmotiv hat sich in ihnen erhalten. Das MkEv hat im Volk kursierende Wundergeschichten wieder „eingesammelt“, bringt aber einen Vorbehalt ihnen gegenüber zum Ausdruck. Durch Schweigegebote (1,44; 5,43; 7,36) zeigt Jesus, dass sie gegen seinen Willen erzählt wurden. Es ist das Verdienst des MkEv, die Fülle der Wunder in unserem Bild von Jesus erhalten zu haben – als vorläufigen Ausdruck seiner göttlichen Macht, die erst durch Kreuz und Auferstehung offenbar wird. Ohne das MkEv besäßen wir nur ein Jesusbild, das wie in Logienquelle und Thomasevangelium Wunder nur am Rande kennt.
3. Die Gattungen urchristlicher Wundergeschichten Jede Gattung formt die Erinnerung an Jesus in spezifischer Weise. M.Dibelius unterschied (1919, 21933) kurze Wundergeschichten mit theologischer Pointe als „Paradigmen“ von längeren „Novellen“ mit profaner Fabulierlust.23 R.Bultmann rechnete (1921) kurze Wundergeschichten wie die Sabbatheilungen zu den Apophthegmen, unterschied bei längeren Wun22 Vgl. G.Theißen, Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den synoptischen Evangelien, 1989, 102–119. 23 M.Dibelius, Formgeschichte* (1919), 21933, 34–100, Zitat: S 67.
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dergeschichten Heilungen und Naturwunder, zählte die Exorzismen zu den Heilungen.24 G.Theißen unterschied 1974 Wundergeschichten danach, welche Akteure in ihnen neben Jesus ins Zentrum treten: bei Exorzismen der Dämon, bei Therapien der Kranke, bei Rettungswundern die Jünger, bei Geschenkwundern die Menge, bei Normwundern die Gegner, bei Epiphanien der Wundertäter selbst.25 K.Berger bestritt dagegen 1984 die Existenz von „Wundergeschichten“ als Gattung,26 das Wunderhafte begegne in verschiedenen Gattungen, dieselbe Gattung gebe es mit und ohne Wunder, z. B. die Demonstration göttlicher Vollmacht als Wunder und als Lehre Jesu ohne Wunder (Mk 6,2), die Beauftragung (Mandation) von Menschen in der Sturmstillung mit, in Jüngerberufungen ohne Wunder. Seine Auflösung der Gattung hat sich nicht durchgesetzt.27 Die Transzendierung von Gattungsgrenzen macht aber mit Recht auf Motive aufmerksam, die gerade durch Grenzüberschreitungen zwischen den Gattungen ihre Botschaft vermitteln. Grenzüberschreitungen gibt es aber nur, wenn es auch Grenzen gibt. 3.1 Exorzismen O.Böcher, Christus Exorcista, 1972; M.Ebner, Die Exorzismen Jesu als Testfall für die historische Rückfrage, in: P.v.Gemünden u. a. (Hg.), Jesus – Gestalt und Gestaltungen, 2013, 477–498; U.Poplutz, Dämonen – Besessenheit – Austreibungsrituale, in: R.Zimmermann (Hg.), Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen 1, 2013, 94–107; B.Kollmann,, Exorzismen, in: Jesus-Handbuch, 2017, 310–318; Chr. Strecker, Jesus und die Besessenen, in: W.Stegemann (Hg.), Jesus in neuen Kontexten, 2002, 53–63; G.H.Twelftree, Jesus the Exorcist. A Contribution to the Study of the Historical Jesus, 1993; A.Witmer, Jesus, the Galilean Exorcist, 2012; M.Wohlers, Heilige Krankheit, 1999.
Exorzismen erzählen von Austreibungen eines Dämons aus einem „besessenen Menschen“. Kein Exorzismus liegt vor, wenn der gekrümmte Rücken einer Frau als Auswirkung eines Dämons gilt, ohne dass der Dämon in ihr wohnt (Lk 13,10–17). Hier hat der Dämon durch Fesselung geschädigt. Besessenheit liegt nur vor, wenn er das Personzentrum des Menschen wird. Wir deuten Besessenheit heute als ein kulturelles Verhaltensskript, durch das Menschen gelernt haben, ihre Probleme mitzuteilen – unabhängig davon, welche psychischen Störungen und Belastungen dahinterstehen.28 Charakteristisch sind das Ausgeliefertsein des Menschen an den Dämon, der die Stelle des menschlichen Subjekts einnimmt, der Kampf zwischen Dämon und Exorzist, bei dem beide dieselben Waffen benutzen, z. B. wunderbares Wissen, ausländische Sprache und Gewalt. Charakteristisch für Jesu Exorzismen ist das 24 R.Bultmann, Geschichte der synoptischen Tradition, 1921, 223–260. 25 G.Theißen, Wundergeschichten*, 1974, 94–125. 26 K.Berger, Hellenistische Gattungen im Neuen Testament, ANRW II, 25, 1984, dort 1212–1218; ders., Formen und Gattungen im Neuen Testament, 2005, 362–357. 27 B.Kollmann, Neutestamentliche Wundergeschichten, 2002, 22012, unterscheidet z. B. Dämonenaustreibungen, Krankenheilungen, Heilungen am Sabbat, Totenerweckungen und Naturwunder. 28 Vgl. zu dieser Deutung von Besessenheit und Exorzismen Chr.Strecker, Jesus and the Demoniacs, in: W.Stegemann u. a. (ed.), The Social Setting of Jesus and the Gospels, 2002, 117–133.
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Fehlen exorzistischer Rituale, wie ein Vergleich mit dem von Josephus berichteten Exorzismus (Ant 8,46–48) zeigt: Ich habe zum Beispiel gesehen, wie einer der Unseren, Eleazar mit Namen, in Gegenwart des Vespasians, seiner Söhne, der Obersten und der übrigen Krieger die von bösen Geistern Besessenen davon befreite. Die Heilung geschah in folgender Weise. Er hielt unter die Nase des Besessenen einen Ring, in dem eine von den Wurzeln eingeschlossen war, welche Salomo angegeben hatte, ließ den Kranken daran riechen und zog so den bösen Geist durch die Nase heraus. Der Besessene fiel sogleich zusammen, und Eleazar beschwor dann den Geist, indem er den Namen Salomons und die von ihm verfassten Sprüche hersagte, nie mehr in den Menschen zurückzukehren. Um aber den Anwesenden zu beweisen, dass er wirklich solche Gewalt besitze, stellte Eleazar nicht weit davon einen mit Wasser gefüllten Becher oder ein Becken auf und befahl dem bösen Geiste, beim Ausfahren aus dem Menschen dieses umzustoßen und so die Zuschauer davon zu überzeugen, dass er den Menschen verlassen habe.29
Eleazar will mit Beschwörungsformeln, Ring und Wurzel den Dämon vertreiben. Jesus benutzt nur Worte. Die zerstörerische Tätigkeit des Dämons außerhalb des Menschen dient als Beweis dafür, dass er den Menschen verlassen hat: Bei Jesus treibt er eine Schweineherde ins Meer (Mk 5,11–13), bei Eleazar stößt er ein Gefäß um, bei Apollonios von Tyana zerstört er eine Säule (Vita Apollonii IV, 20,19). Exorzismen werden in der Logienüberlieferung vorausgesetzt und sind Gegenstand von Kontroversen (Mt 12,22–30/Mk 3,22–27). Umstritten war, ob man sie als Befreiung vom Satan oder als dessen Sieg verstehen sollte. Exorzismen erscheinen hier als kulturelle Skripte, um Menschen zu integrieren oder auszuschließen. Jesu Exorzismen wollen auf jeden Fall Menschen befähigen, sich wieder selbst zu steuern und am gemeinsamen Leben teilzunehmen. Besessenheit ist eine dissoziative Störung. Dissoziative Erscheinungen sind Folge von traumatischen Erfahrungen wie sexuellem Missbrauch, Vergewaltigung, Misshandlung und Folter, Verlusterfahrungen durch Tod und Unfall. Die Opfer identifizieren sich mit dem Angreifer, d. h. mit den unterdrückenden Menschen. Wenn sie in Flash-Backs die traumatisierende Situation erneut erfahren, erleben sie sich als von einer fremden Macht bedrängt. Eine Therapie besteht (auch heute) nicht darin, die traumatisierenden Inhalte bewusst zu machen, um sich etwas Unbewusstes anzueignen, sondern im Gegenteil: um sie aus dem Inneren zu verbannen. Der traumatisierte Mensch wird befähigt, die Bilder der Peiniger und Folterer aus sich zu entfernen. Dass Besessenheit bei politischer Unterdrückung zunimmt, ist plausibel. Mk 5,1–20 enthält Spuren eines traumatisierten Menschen: Er lebt in Grabhöhlen,30 kann nicht an Ketten gebunden werden, schlägt sich mit Steinen und ist von einem Dämon „Legion“ besessen. Er könnte ein 29 Vgl. O.Betz, Das Problem des Wunders bei Flavius Josephus im Vergleich zum Wunderproblem bei den Rabbinen und im Johannesevangelium, in: O.Betz u. a. (Hg.), Josephus-Studien, 1974, 23–44. 30 Plato bezeugt, dass die nicht geläuterte Seele, „an den Denkmälern (mnēmata) und Gräbern (taphous) umherschleicht (Plato Phaidon 81cd). Ruhelose Tote sind in der Antike (1) unbestattete Menschen, (2) gewaltsam Getötete, (3) Unvollendete. Vgl. D.Zeller, Erscheinungen Verstorbener im griechischrömischen Bereich, in: ders., Das Neue Testament und seine hellenistische Umwelt, 2006, 26–41, dort 32–36.
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Opfer römischer Soldaten sein, der einmal Fesselung erfahren hat. Er wendet die einmal erfahrene Aggression gegen sich selbst und verletzt sich durch Steine. Durch eine „symbolische“ Heilung wird er geheilt. Die Austreibung des Dämons wird inszeniert, indem eine Schweineherde in den See gejagt wird. Viele Menschen träumten damals davon, die Römer (in Gestalt des Dämons Legion) ins Meer zu jagen.31 In die Schilderung des Exorzismus am galiläischen See sind wahrscheinlich reale Erfahrungen mit traumatisierten Menschen eingeflossen.
Dissoziative Störungen sind kulturelle Skripte, d. h. eine körperliche Sprache, die Menschen erlernen können, um Probleme öffentlich zu kommunizieren.32 Besonders Menschen mit theatralischen Fähigkeiten (Histrioniker) suchen öffentliche Aufmerksamkeit für ihre Leiden als Krankheitsgewinn. Dämonische Besessenheit kann für sie ein kulturelles Skript sein, mit dem sie Leiden öffentlich darstellen und Zuwendung finden können. Es ist kein Zufall, dass ein Besessener in der Synagoge von Kapernaum auftritt (Mk 1,23–28). Nirgendwo sonst kann er in einem jüdischen Dorf mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Exorzismen zielen auf die individuelle Wiederherstellung der Steuerungskraft, sind aber zugleich Symbole für die universale Wiederherstellung der Schöpfung durch die Gottesherrschaft (Mt 12,28 par). Exorzismen gaben Jesus das Bewusstsein, an der Schwelle einer neuen Welt zu stehen, in der das Böse endgültig besiegt ist. Der Satan ist schon aus dem Himmel entfernt worden (Lk 10,18), der Starke schon gefesselt (Mt 12,29), die Gottesherrschaft schon gekommen (Mt 12,28). Daher konnte er überzeugt sein, dass er „mit dem Finger Gottes“ Dämonen austreibt und dadurch einen Beitrag zur Realisierung der Gottesherrschaft leistet (Lk 11,20). Diese Überzeugung eines thaumaturgischen Synergismus oder eines Zusammenwirkens von Gott und Wundertäter schrieb Jesus auch den Exorzismen und Therapien seiner Jüngerinnen und Jünger zu (Lk 9,1–2; 10,9).33 Sie entspricht dem paränetischen Synergismus, den wir in der prophetischen Botschaft Jesu beobachtet haben. Gott gibt Menschen die Kraft, beim Kommen der Gottesherrschaft mitzuwirken. Diese theologische Deutung der Exorzismen begegnet (vielleicht mit einer Ausnahme in Mt 8,29) nicht in der Erzählüberlieferung.34 Gerade wegen dieser singulären Züge müssen wir der exorzistischen Tätigkeit Jesu eine große Bedeutung für sein Selbstverständnis zuschreiben. Von außen gesehen konnte er als „Magier“ angegriffen werden, schon zu Lebzeiten im Beelzebulgespräch, später in der Polemik jüdischer Schriften und des paganen Schriftstellers Kelsus. Er selbst aber sah in den Exorzismen Zeichen der sich realisierenden Gottesherrschaft. 31 Der Eber war das Symbol der ab 70 n. Chr. in Jerusalem stationierten Legion X Fretensis: G.Theißen, Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den synoptischen Evangelien, 1989, 117f; M.Klinghardt, Legionsschweine in Gerasa. Lokalkolorit und historischer Hintergrund von Mk 5,1–20, ZNW 98 (2007), 28–48. 32 Ch.Strecker, Jesus and the Demoniacs, in: W.Stegemann u. a. (ed.), The Social Setting of Jesus and the Gospels, 2002, 117–133. 33 A.Merz, Der historische Jesus als Wundertäter*, in: R.Zimmermann (Hg.), Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen 1, 2013, 106–123, bes. 119–122. 34 In Mt 8,29 ist die Bitte der Dämonen, „nicht vor der Zeit“ gequält zu werden, ein redaktioneller Zusatz, der in den synoptischen Parallelen fehlt. Er trägt die eschatologische Deutung der Exorzismen aus den Logien in eine Erzählung ein.
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3.2 Therapien R.v.Bendemann, Christus der Arzt – Krankheitskonzepte in den Therapieerzählungen des Markusevangeliums, BZ 54 (2010) 36–53; 162–178; Die Heilungen Jesu und die antike Medizin, Early Christianity 5 (2014) 173–312; O.Betz, Art. Heilung/Heilungen I. Neues Testament, TRE 14 (1985) 763–768; M.Ebner, Art. Krankheit und Heilung III, Biblisch, RGG 4 (2001) 1730f; B.Kollmann, Krankheitsbilder und soziale Folgen: Blindheit, Lähmung, Aussatz, Taubheit oder Taubstummheit, in: R.Zimmermann (Hg.), Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen 1, 2013, 87–93; J.P.Meier, A Marginal Jew 2, 1994, 678–772; J.J.Pilch, Healing in the New Testament: Insights from Medical and Mediterranean Anthropology, 2000; H.Roose, Art. Heilung NT, WiBiLex 2010; A.Weißenrieder, Images of Illness in the Gospel of Luke. Insights of Ancient Medical Texts, 2003; dies., Heilungen Jesu, in: Jesus-Handbuch, 2017, 298–310; dies./K.Dolle (Hg.), Körper und Verkörperung. Biblische Anthropologie im Kontext antiker Medizin und Philosophie: Ein Quellenbuch für die Septuaginta und das Neue Testament, 2019; M.Wolter, Inschriftliche Heilungsberichte und neutestamentliche Wundererzählungen. Überlieferungs- und formgeschichtliche Beobachtungen, in: K.Berger (u. a.), Studien und Texte zur Formgeschichte, 1992, 135–175.
Jesus tritt als Arzt auf. Ignatius von Antiochien nennt ihn einen „Arzt“ (IgnEph 7,2). In seinen Therapien überträgt er heilende Energie auf die Kranken. Die von ihm ausgehende heilende Kraft kann von der „blutflüssigen Frau“ ohne Wissen Jesu aktiviert werden (Mk 5,25– 34); die heilende Berührung durch Handauflegung überträgt bewusst diese Kraft; heilendes Mittel, das den Gesundungsprozess unterstützt, ist nur der Speichel (vgl. Mk 7,33; 8,23; Joh 9,6). Vespasian wurde ungewollt im Jahr 70 n. Chr. zum Wundertäter, als er von seinen Truppen zum Kaiser ausgerufen worden war. Auch er heilte wie Jesus durch Speichel und Berührung. Da er nicht-senatorischer Herkunft war und seine Legitimität umstritten war, festigte er mit Wunderheilungen seine Macht. Sueton berichtet von ihm: An Autorität und gewissermaßen an Majestät fehlte es ihm als einem von niemandem erwarteten und doch neuen Kaiser, doch wurde ihm auch dies geschenkt. Ein blinder Mann aus dem Volk und ein anderer mit einem lahmen Bein traten gemeinsam an ihn heran, als er auf dem Richterstuhl saß, und baten ihn um die Heilung ihrer Krankheit, die ihnen von Sarapis [dem ägyptischen Gott] durch einen Traum in Aussicht gestellt worden sei. Er werde dem einen das Augenlicht zurückgeben, wenn er auf das Auge speie, und dem anderen das Bein kräftigen, wenn er sich herabließe, es mit der Ferse zu berühren. Obgleich es kaum glaublich war, dass dies auf irgendeine Weise gelingen könnte, und er es deshalb auch nicht einmal zu versuchen wagte, ließ er es auf Zureden seiner Freunde in beiden Fällen schließlich dennoch ganz offen vor der versammelten Menge auf den Versuch ankommen, und der Erfolg blieb nicht aus. (Sueton, Vespasian 7,2f)
In Therapien (und einmal sogar in einem Exorzismus Mk 9,23f) begegnet das Glaubens motiv, meist als Zuspruch: „Dein Glaube hat dich gerettet“. Antike Wundergeschichten kennen den Glauben an schon geschehene Wunder, bei Jesus aber bewirkt erst der Glaube das Wunder sowohl in Erzählungen wie der Heilung der blutflüssigen Frau (Mk 5,34) als auch in Logien wie im Wort vom bergeversetzenden Glauben (Mk 11,22–24/Mt 21,21f). Auch des-
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halb ist es eine Erinnerungsspur des historischen Jesus. Obwohl man von seiner Wundermacht Heilungen erwartete, schrieb er den Hilfesuchenden selbst die Kraft zur Heilung zu. Heilungswunder gehen im NT und in antiken Parallelen in Totenerweckungen über: Elia bringt den verstorbenen Sohn seiner Wirtin zum Leben, indem er zu Gott betet. Eine Totenerweckung des Apollonius von Tyana lässt offen, ob ein Funke Leben im verstorbenen Mädchen war: Es wird auch folgendes Wunder erzählt: Ein Mädchen war am Tag seiner Hochzeit gestorben, so schien es wenigstens, und der Bräutigam folgte bereits jammernd der Bahre und klagte, dass seine Ehe so gänzlich unerfüllt geblieben sei. Aber auch ganz Rom trauerte mit ihm, da das Mädchen aus einer vornehmen Konsularenfamilie stammte. Als nun Apollonios dem Trauerzug begegnete, sagte er: „Legt die Bahre nieder! Ich will euren Tränen über das Mädchen ein Ende machen.“ Die Menge glaubte nun, er werde eine Trauerrede halten, wie sie so üblich sind bei solchen Anlässen, um den Jammer zu beschwören. Er jedoch berührte nur die Tote, sprach einige unverständliche Worte und erweckte so das Mädchen aus dem Scheintode. Dieses begann wieder zu sprechen und kehrte ins Elternhaus zurück wie Alkestis, als sie von Herakles ins Leben zurückgerufen war. Als ihm die Verwandten ein Geschenk von fünfzehn Myriaden machen wollten, sagte er, sie sollten es dem Mädchen als Mitgift geben. Ob er nun noch einen Lebensfunken an ihr wahrgenommen hatte, der den Ärzten verborgen geblieben war – man erzählt sich nämlich, Zeus habe Tau auf sie fallen lassen und von ihrem Antlitz sei ein Dunst aufgestiegen –, oder ob er das erloschene Leben wieder zurückgerufen und angefacht hatte, dies vermag ich nicht zu ergründen, und auch die Anwesenden hätten es nicht ermitteln können. (Philostrat Vita Apollonii IV,45)
In der Geschichte von Jairi Tochter (Mk 5,21–24.35–43) wird Jesus geholt, um ein krankes Mädchen zu heilen. Als er bei dem Mädchen ankommt, ist es schon gestorben, Jesus aber behauptet: Es schläft (5,39). Es liegt in der Tat noch in seinem Krankenbett. Ob die Heilung eine Totenerweckung ist, bleibt offen. Die Auferweckung des Jünglings von Nain geschieht dagegen, als dessen Leiche schon zur Bestattung aus dem Stadttor hinausgetragen wird (Lk 7,11– 17). Noch weiter ins Reich des Todes führt die Auferweckung des Lazarus (Joh 11,1–44), der schon vier Tage in seinem Grab liegt. Es ist die einzige Wundergeschichte, in der Jesus zu Gott betet (11,41f). Denn Gott allein ist Herr über Leben und Tod. Die Steigerung des kontraintuitiven Geschehens ist unverkennbar, unverkennbar aber auch ein Motiv in diesen Totenerweckungen: Die Liebe der Angehörigen gibt ihnen einen menschlich ansprechenden Zug. 3.3 Normwunder
Normwunder begründen Normen, indem sie Verstöße gegen sie bestrafen oder ihre Erfüllung belohnen. Ein in Epidauros35 hilfesuchender Mensch verstößt gegen die Erwartung, dass man den dort auf Tafeln eingeschriebenen Wunderberichten glaubt, und wird von sei35 Zum Asklepiusheiligtum in Epidauros und seinen Wunderinschriften vgl. R.Herzog, Die Wunderheilungen von Epidaurus, 1931; M.Wolter, Inschriftliche Heilungsberichte und neutestamentliche Wundererzählungen, in: K.Berger (u. a.), Studien und Texte zur Formgeschichte, 1992, 135–175.
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nem Unglauben bekehrt. Sein Glaube bezieht sich auf schon geschehene Wunderheilungen, ist also anders als in den neutestamentlichen Heilungen nicht die Kraft, die das Wunder bewirkt: Ein Mann, der die Finger der Hand bis auf einen nicht rühren konnte, kam zu dem Gott als Bittsteller. Als er die Weihetafeln in dem Heiligtum sah, glaubte er die Heilungen nicht und machte sich über die Inschriften lustig. Beim Schlaf (im Heilraum) sah er ein Gesicht: es schien ihm während er unterhalb des Tempels Würfel spielte und mit dem Würfel werfen wollte, als sei der Gott erschienen und ihm auf die Hand gesprungen und habe ihm die Finger ausgestreckt; als er weggetreten sei, so schien ihm, habe er seine Hand gekrümmt und jeden Finger einzeln ausgestreckt; nachdem er alle gerade gestreckt, habe ihn der Gott gefragt, ob er den Inschriften auf den Weihtafeln immer noch nicht glaube; er habe ‚nein‘ gesagt: ‚Weil du also vorher ungläubig gegen sie warst, die doch nicht unglaubhaft waren, so soll in Zukunft dein Name ‚Apistos‘ [ἄπιστος = apistos ungläubig] sein‘, habe er gesagt. Als es Tag geworden, kam er gesund heraus. (Epidauros W 3)
Die Jesusüberlieferung der Evangelien kennt keine Strafwunder an Menschen, wie wir sie später im Urchristentum finden: Hananias und Saphira sterben, weil sie die Gemeinde über eine Spende täuschen (Apg 5,1–11), Herodes Agrippa wird mit dem Tod bestraft, weil er seine Verehrung als Gott akzeptiert (Apg 12,20–23). In der Jesusüberlieferung ist nur die Verfluchung des Feigenbaums ein Strafwunder, das im Rahmen des MkEv wohl symbolischen Sinn hat: Derartige Baumwunder signalisieren einen Machtwechsel (vgl. Mk 11,12–14.20ff).36 Wichtiger noch ist: Normenwunder schärfen üblicherweise Normen ein, Jesu Normenwunder aber dienen der Entschärfung von Normen. Jesu Heilungen brechen Sabbatnormen. Wenn der erste Exorzismus im MkEv in einer Synagoge am Sabbat geschieht (Mk 1,21–28), ist das ein Wink Gottes, dass Heilungen am Sabbat erlaubt sind. Jesu handelt dabei in Übereinstimmung mit einem Grundsatz jüdischer Schriftgelehrter, dass lebensbedrohende Notlagen Heilungen erlauben. Er interpretiert diesen Grundsatz jedoch extensiv: Denn weder beim Ährenraufen am Sabbat noch bei der Heilung der gelähmten Hand (Mk 2,23–3,6) liegt eine lebensbedrohende Not vor. Jesu Sabbatwunder verwirklichen aber die ursprüngliche Intention des Sabbats, der für den Menschen gemacht wurde. Auch solche Normwunder sind eine Erinnerungsspur des historischen Jesus. Exkurs: Fernheilungen Fernheilungen überwinden ebenso wie Exorzismen aus der Ferne die Distanz zwischen Juden und NichtJuden (Mt 8,5–13 par; Mk 7,24–30 par). Diese Fernheilungen werden oft als unhistorische Erfindungen zur Legitimation der nachösterlichen Heidenmission gedeutet. Aber Fernheilungen können sich ereignet haben, wie folgendes „Experiment“ zeigt.37 In den 50er Jahren des 20. Jh. kooperierte ein Hamburger Arzt mit einem spirituellen Heiler in München, der überzeugt war, über große Distanzen hinweg heilen zu können. 36 Vgl. P.v.Gemünden, Die Verfluchung des Feigenbaums Mk 11,13 f.20 f., WuD 22 (1993) 39–50. 37 H.Rehder, Wunderheilungen, ein Experiment, Hippokrates 26, 1955, 577–580.
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Der Arzt bat ihn darum, drei seiner Patienten zu heilen, sagte aber seinen Patienten nichts davon. Es erfolgte keine Besserung nach dem Heilungsversuch. Danach informierte der Arzt seine Patienten über den Heiler, gab ihnen dessen Schriften zu lesen und kündigte an, dass er sie in einer bestimmten Zeit aus der Ferne heilen werde, wovon der Heiler aber nichts wusste. Trotzdem erlebten die drei Patienten in der ihnen genannten Zeit eine Besserung. Um Fernheilungen Jesu zu erklären, müssen wir also nur annehmen, dass die Syrophönizierin ihrer Tochter erzählte, sie wolle einen berühmten galiläischen Heiler aufsuchen, der sie heilen werde. Ebenso reicht es aus, dass der Hauptmann von Kapernaum seinen Knecht sagte, er wolle Jesus um Hilfe bitten. Das erklärt, dass sich die Kranken seit der Zeit besser fühlten, als sie mit einer Begegnung ihres Fürsprechers mit Jesus rechneten. Die beiden Heilungen könnten einen historischen Kern haben: Es sind Heilungen durch den Glauben der Kranken.
3.4 Geschenkwunder
Zu den Geschenkwundern gehören die wunderbare Brotvermehrung, der wunderbare Fischzug (Lk 5,1–11) und das Weinwunder zu Kana (Joh 2,1–11). Diese Wunder beschaffen materielle Güter. Die Wunder geschehen spontan; kein Mensch bittet den Wundertäter um sie. Das Wunder liegt außerhalb menschlichen Erwartungshorizontes. Der Wundervorgang ist unauffällig. Äußerlich gesehen verläuft alles „normal“. Breit ausgestaltet wird dagegen die Demonstration des Wunders, also der Nachweis, dass überhaupt ein Wunder stattgefunden hat. Die Unauffälligkeit des Wundervorgangs wird in einem rabbinischen Geschenkwunder mit dem Motiv verbunden, andere Menschen nicht durch Armut zu beschämen. Es handelt sich um ein Brotwunder, das die Frau des Wunderrabbi Hanina ben Dosa erlebte: An jedem Vorabend des Sabbats pflegte seine Frau den Ofen zu heizen und etwas Rauchendes hineinzuwerfen, weil sie sich schämte. Sie hatte aber eine böse Nachbarin, und diese sagte einst: Ich weiß, dass sie nichts hat, was soll dies nun!? Da ging sie und klopfte an ihre Tür, und jene schämte sich und flüchtete in eine Kammer. Es geschah aber ein Wunder, und sie sah den Ofen voll Brot und die Mulde voll Teig. Da rief sie: Du, du, hole eine Schaufel, dein Brot brennt an. Jene erwiderte: Dazu ging ich eben. Es wird gelehrt, sie ging auch wirklich eine Schaufel holen, weil sie an Wunder gewöhnt war.“ (bTaan 24b/25a)38
Man muss damit rechnen, dass die Speisung einer großen Menge sehr früh von Jesus erzählt wurde. Sie ist im MkEv als Dublette (6,35–44; 8,1–10) überliefert, dazu in Joh 6,5–15. Sie entspricht der Erwartung, ein neuer Prophet werde das von Elisa berichtete Speisungswunder überbieten (2Kön 4,42–44), und der Verheißung Jesu, dass im Reich Gottes die Hungrigen satt werden (Lk 6,21). Es war zudem rätselhaft, wie Jesus die vielen mit ihm ziehenden Menschen ernähren konnte. Das macht die Entstehung der Geschichten von einer wunderbaren Speisung verständlich: Aus der von Jesus geweckten Erwartung einer Nahrung für alle wurde die Geschichte einer Brotvermehrung – angeregt durch gemeinsame Mahlzeiten Jesu und seiner Anhänger. 38 Zitiert nach L. Goldschmidt, Der Babylonische Talmud, Bd. 3, 1980, S. 723.
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3.5 Rettungswunder
Die Jesusüberlieferung enthält zwei Rettungswunder, die Stillung des Seesturms (Mk 4,35– 41) und den wunderbaren Seewandel (Mk 6,45–52). Typisch sind: die Schilderung der Notlage bis zur Selbstaufgabe verzweifelter Menschen; ferner eine rettende Epiphanie, im Seewandel durch Eingreifen einer göttlichen Gestalt von außen, in der Sturmstillung durch einen schützenden Passagier im Schiff. Auch hier hat dichterische Phantasie historische Erinnerung durchdrungen. Gewiss ist Jesus mit seinen Jüngern über den galiläischen See gefahren. Sobald er als Wundertäter galt, konnte man ihm göttliche Macht über Wind und Wellen zuschreiben. In der Antike galt: Den Göttern gleich ist der, „der das unmöglich Scheinende möglich machen kann, der, wenn er will, zu Fuß über das Meer schreitet“ (Dion Chrysostomos 3,30). Deswegen erkennen die Jünger in Mt 14,33 nach dem Seewandel in Jesus den „Sohn Gottes“ und werden in Mk 6,52 getadelt, weil ihnen diese Einsicht fehlt. Für die Geschichte als ganze aber heißt das: Sie setzt den Glauben an den göttlichen Charakter Jesu voraus, der erst aufgrund von Ostern möglich war (vgl. Röm 1,3f). 3.6 Epiphanien
Auch Epiphanien werden von Jesus erzählt, er erscheint nach Ostern in göttlicher Herrlichkeit seinen Jüngern. Hier werden tatsächliche visionäre Erfahrungen gestaltet. Eine dieser Erscheinungen wird in Gestalt der Verklärungsgeschichte ins Leben Jesu zurückverlegt (Mk 9,2–10). Sie zeigt, wie Jesus in die himmlische Welt aufgenommen wurde, so dass seine Autorität fortan Gesetz und Propheten (d. h. Mose und Elia) überbietet. Sie ist nicht an einen Kultort gebunden. Deswegen darf Petrus am Ort der Erscheinung keine Hütten bauen. Am Ende steht ein Aphanismos (ἀφανισμός), d. h. das „Verschwinden“ der göttlichen Gestalt als Rückverwandlung in seine irdische Gestalt. 3.7 Zusammenfassung
Es gibt sechs Typen von Wundererzählungen, die man paarweise einander zuordnen kann. Den Exorzismen stehen Rettungswunder gegenüber; dort wird die Macht eines Dämons, hier die Macht von Wind und Wellen gebrochen. Den Therapien stehen Geschenkwunder gegenüber; dort wird physische Schwäche, hier materieller Mangel behoben. Totenerweckungen stehen Epiphanien gegenüber; dort wird göttliche Macht, hier göttliches Wesen offenbar. Nachwirkungen des historischen Jesus
Ausstrahlung des Osterglaubens
Exorzismen Therapien Normenwunder
Rettungswunder Geschenkwunder Epiphanien
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Exorzismen, Therapien und Normwunder finden wir beim historischen Jesus. Durch Exorzismen hat er sich den Vorwurf zugezogen, mit dem Teufel im Bunde zu stehen (Mk 3,22), durch Normwunder den Vorwurf, er breche den Sabbat (Mk 3,1–6). Die Rettungs-, Geschenkwunder und Epiphanien weben dagegen Ostermotive in die Erzählung und steigern Jesus über alles Menschliche hinaus. Aber auch sie enthalten indirekte Erinnerungsspuren des historischen Jesus: Die Rettung aus Seenot greift auf tatsächliche Bootsfahrten Jesu zurück, die wunderbare Speisung auf tatsächliche „Speisungen“, die Verklärung auf tatsächliche Aufenthalte Jesu auf einem Berg. Solche „Relikte“ werden jeweils eingeschmolzen in die Offenbarung eines übermenschlichen Wesens und in Gattungen gestaltet, von denen es im Unterschied zu Exorzismen, Therapien und Sabbatkonflikten freilich nur wenige Exemplare gibt.
4. Die Wundergeschichten als Erinnerungsspur des historischen Jesus Die Pluralität der Überlieferung spricht dafür, dass Wundergeschichten Erinnerungsspuren Jesu enthalten: Denn sie werden (1) in verschiedenen Schichten der Überlieferung, (2) in verschiedenen Gattungen und (3) in nichtchristlichen Quellen bezeugt. 4.1 Die Pluralität der Traditionsschichten als Erinnerungspur
Die Erinnerung an Jesu Wunder wurde unabhängig voneinander im MkEv, in Q, im synoptischen Sondergut, im JohEv und in apokryphen Evangelien erhalten. Die Logienquelle enthält die Erzählung vom Hauptmann von Kapernaum (QLk 7,1–10) und einen Exorzismus (QLk 11,14). Einige Worte bezeugen Wunder Jesu. Die Antwort Jesu an den Täufer spricht von Heilungen an Blinden, Lahmen, Aussätzigen, Tauben und einer Auferweckung von Toten, ohne zu sagen, dass sie durch Jesus bewirkt sind. Entscheidend ist, dass sie in der Gegenwart geschehen (QLk 7,18–23). Das Sondergut der Evangelien enthält unabhängig von Mk und Q Wundergeschichten, im LkEv eine Totenerweckung (Lk 7,11–17), den Fischzug des Petrus (5,1–11), drei Heilungen (13,10–17; 14,1–6; 17,11–19), von denen zwei Sabbatheilungen und Normwunder sind. Im MtEv enthält das Sondergut die Heilung zweier Blinder (Mt 9,27–31) und den Fund einer Münze für die Tempelsteuer (17,24–27). Exorzismen fehlen im Sondergut bei Mt und Lk. Das Johannesevangelium weiß, dass Jesus mehr „Zeichen“ getan hat als die sieben Wunder, die es erzählt (Joh 20,30; 21,25). Sondergut sind: das Wunder in Kana (2,1–11) und in Jerusalem die Heilung am Teich von Bethesda (5,1–18), die Blindenheilung durch das Wasser von Siloa (9,1–41) und die Auferweckung des Lazarus (11,1–45). Exorzismen fehlen. Jesus führt zwar in ihm eine Auseinandersetzung mit dem Satan, aber er siegt durch Kreuz und Auferstehung über den „Fürsten dieser Welt“ (12,31; 16,11). „Apokryphe“ Wunderüberlieferung enthalten die Fragmente des Egerton-Evangeliums und andere außerkanonische Evangelien. Aber nicht überall im Urchristentum hat man Wunder überliefert. Das ThEv enthält weder Wundererzählungen noch Hinweise auf sie, jedoch werden die Jünger mit Heilungen beauftragt (ThEv 14,4), nicht aber mit Exorzismen
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(vgl. dagegen Lk 9,1; 10,19f). Das ist kein Zufall. Im ThEv spielt die Auseinandersetzung mit dem Satan (abgesehen vielleicht von ThEv 57) keine Rolle. Nicht der Satan, sondern die „Welt“ ist der Gegenspieler Jesu und seiner Jünger. Auch Paulus bringt keine Hinweise auf Jesu Wunder. Man ahnt, dass er von ihnen weiß, wenn er drei Mal Jesus ohne Erfolg um Heilung einer eigenen Krankheit bittet (2Kor 12,8). War er im syrischen Urchristentum einem Jesusbild begegnet, das dem ThEv nahestand? War die Verklärung des Menschen Jesus mit dem Glanz der Wunder für ihn ein Problem, verstand er doch Jesu Leben als Verzicht auf göttliche Macht (Phil 2,6–11)? Oder wollte er vermeiden, mit anderen Missionaren zu konkurrieren? Konnte er doch nicht wie sie aus erster Hand von Wundern Jesu erzählen. Unabhängig davon aber gilt: Paulus hat Zeichen und Wunder in Korinth gewirkt (2Kor 12,12). Unser Fazit ist: Die Wunderüberlieferung ist breit bezeugt, das Zurücktreten der Exorzismen auffällig – ein Indiz dafür, dass sie Schwierigkeiten bereiteten. Aber gerade das ist ein Indiz für ihre Historizität. 4.2 Die Pluralität der Gattungen als Erinnerungsspur
Neben den Wundergeschichten sind Hinweise auf die Wunder Jesu auch in Summarien, Apophthegmen und Logien erhalten. Sie bestätigen deren Geschichtlichkeit, ergeben aber ein anderes Bild als die Erzählüberlieferung. Summarien nennen nur die für Jesus typischen Wunder: Exorzismen und Therapien (Mk 1,32–34; 3,7–12), aber keine Rettungs- und Geschenkwunder. Die Summarien der Apg (2,22; 13,23–31) fassen Heilungen und Exorzismen zusammen: Jesus hat „alle gesundgemacht, die in der Gewalt des Teufels waren“ (10,38; vgl. Lk 6,18; 13,16). Immer fehlen Naturwunder! In diesen Summarien ist ein von den synoptischen Einzelüberlieferungen unabhängiges Gesamtbild von Jesus erhalten, das sich mit dem Testimonium Flavianum (Ant 18,63f) berührt. Apophthegmen lassen die skeptische Stellungnahme von Zeitgenossen gegenüber Jesu Wundern erkennen: Die Bewohner der Heimatstadt Jesu staunen über Jesu Wunder, lehnen aber Jesus ab. Wegen ihres Unglaubens kann er kein Wunder bei ihnen tun „außer dass er wenigen Kranken die Hände auflegte und sie heilte“ (Mk 6,5). Die Abhängigkeit wunderwirkenden Charismas vom Milieu ist ein historischer Zug. Auch in der Antwort Jesu an den Täufer (Mt 11,2–6 par) geht es um Skepsis gegenüber Jesus: Ist er der, der da kommen soll? Jesus weist als Antwort auf Wunder in der Gegenwart, in denen sich alte Verheißungen erfüllen. Von Exorzismen schweigt er vielleicht, weil sie in den alttestamentlichen Verheißungen fehlen. Das Apophthegma dürfte einen historischen Hintergrund haben. Entscheidend ist, dass in der Gegenwart Wunder geschehen, ob durch Jesus oder andere Menschen, bleibt offen. Die Christologie ist minimal: Zum Heil reicht es, wenn man sich nicht an Jesus ärgert (11,6). Wie umstritten die Wunder waren, zeigt schließlich die „Zeichenforderung“: Um zu klären, ob die Wunderkräfte in Jesus auf Gott zurückgehen oder nicht, verlangen Pharisäer ein „Zeichen vom Himmel“. In Mk 8,11–13 verweigert Jesus ein Zeichen, im MtEv weist er in 12,38–40 verhüllt auf die Auferstehung. Gemeint ist ein kosmisches Zeichen, das weniger zweideutig ist als das irdische Handeln Jesu.
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Logien deuten die Wunder Jesu anders als die Erzählungen als Zeichen der Gottesherrschaft. Sie realisiert sich in Dämonenaustreibungen (Mt 12,28 par). Heilungen und die Predigt der Gottesherrschaft gehören in der Aussendungsrede zusammen (10,7f par). Die Aufforderung zur Umkehr geht von Jesu Wundern aus (11,20–24 par). Die Antwort an den Täufer deutet sie als frohe Botschaft für die „Armen“ (11,2–6 par). Der Glaube ist im Wort vom bergeversetzenden Glauben eine Wunderkraft (Mk 11,22–24 par). 4.3 Die Pluralität der nichtchristlichen Zeugen als Erinnerungsspur
Die Wundertätigkeit Jesu hat nicht nur bei seinen Anhängern ein Echo gefunden, sondern auch bei seinen Gegnern, beim Volk und bei Josephus. Schon in den Evangelien finden wir Stellungnahmen der Gegner Jesu. Für sie waren die Exorzismen ein Zeichen dafür, dass er mit dem Teufel verbündet ist (Mk 3,22). Dieser Vorwurf ist sicher eine Erinnerungsspur des historischen Jesus. Er hat auf die christliche Wunderüberlieferung zurückgewirkt. Das Fehlen von Exorzismen im Sondergut der Evangelien und im JohEv zeigt vielleicht, dass Exorzismen auch Christen in Verlegenheit versetzt haben. Eine Stellungnahme des Volkes zu Jesu Wundern ist Mk 6,14f: „Johannes der Täufer ist von den Toten auferstanden; darum tut er solche Taten. Einige aber sprachen: Er ist Elia; andere aber: Er ist ein Prophet wie einer der Propheten“. Es handelt sich um eine alte Tradition. Nur wenn seine Herkunft aus Nazareth unbekannt ist, kann man Jesus für den Täufer redivivus halten. Dass auch Nicht-Anhänger Jesu von den Wundern beeindruckt waren, bezeugen die Evangelien. Nach ihnen hat sich die Erzählung von Jesu Wundern so schnell verbreitet (Mk 1,28 u.ö.), dass sein Name von einem fremden Wundertäter als magisches Wort gebraucht wurde (9,38–40). Die Überlieferung der Wunder Jesu war nicht auf seine Anhänger beschränkt. Dafür ist das Testimonium Flavianum des Josephus ein Beleg, in dem er Jesus u. a. als Täter „wunderhafter Taten“ (παράδοξα ἔργα paradoxa erga) charakterisiert (Ant 18,63). Auch wenn dieser Hinweis in der Agapius-Version des TestFlav fehlt, stammt er kaum von einem christlichen Überarbeiter. Denn der Begriff paradoxa erga findet sich nicht in der Jesusüberlieferung,39 dafür bei Josephus in seinem Bericht von den Wundern des Elisa (Ant 9,182). Er dürfte auch im TestFlav auf Josephus zurückgehen. 4.4 Wundergeschichten – Auswirkung Jesu und Dichtung
Die Vielfalt der Wunderüberlieferung in Summarien, Apophthegmen und Logien ermöglicht eine Beurteilung ihrer Historizität: Exorzismen und Heilungen bilden die Wunder tätigkeit Jesu, die in Summarien erwähnt und in Logien vorausgesetzt wird. Andere Wunder wie Seewandel, Verklärung, Brotvermehrung und wunderbaren Fischzug wurden nicht zu den „typischen“ Wundern Jesu gerechnet. 39 Lk 5,26 finden wir den Begriff „Paradoxes“ (παράδοξα) als Bezeichnung für Wunder. Auch sonst kann man eine gewisse Näher der lk Tradition zum Testimonium Flavianum über Jesus feststellen.
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Ein Vergleich zwischen Erzähl- und Wortüberlieferung zeigt: Nur die Wortüberlieferung entspricht Jesu Selbstverständnis. Nur hier finden wir seine Eschatologie und Ethik, seine Botschaft für die Armen und sein Erfüllungsbewusstsein. Sie fehlen in der Erzählüberlieferung: Die Abschleifung der für Jesus charakteristischen Motive durch „volkstümliche Verschiebung“ erklärt sich in ihr daraus, dass die Wundergeschichten im ganzen Volk kursierten und nach dem Testimonium Flavianum sogar Josephus erreichten! Hier konnte das Charakteristische der Verkündigung Jesu verblassen. Der Mk-Evangelist hat die Wundergeschichten auch außerhalb von Jesusanhängern angetroffen, Jesus habe nicht gewollt, dass sie überall erzählt würden (Mk 7,36). Er re-integriert sie in den Erzählschatz der Gemeinde, verbindet sie mit einer Entscheidung zur Nachfolge Jesu bis ins Leiden. Diese Entscheidung ist den Wundergeschichten fremd. In anderen Wundergeschichten finden wir dagegen deutliche Zeichen christlicher Prägung: Die wunderbare Brotspeisung wird (vor allem in Mk 8,6f) so erzählt, dass urchristliche Hörer und Hörerinnen an die Einsetzungsworte beim Abendmahl denken mussten. Es ist kein Zufall, dass im JohEv auf die wunderbare Brotspeisung ein Abschnitt über das Abendmahl folgt (Joh 6,52–58). und er nahm die sieben Brote, dankte und brach sie und gab sie seinen Jüngern. (Mk 8,6)
er nahm das Brot, dankte und brach’s und gab’s ihnen. (Mk 14,22)
Eine völlige Ableitung der wunderbaren Speisung aus Erfahrungen von Abendmahlsfeiern ist nicht möglich. Denn nicht Brot und Wein, sondern Brot und Fisch stehen im Mittelpunkt von Mk 6,35ff par. Aber es hat wohl kaum eine Fassung dieses Wunders ohne „eucharistische Anklänge“ gegeben. Wir finden sie in allen drei Versionen (Mk 6,35–44; 8,1–10; Joh 6,5–15). Der wunderbare Seewandel wird mit Motiven dargestellt, die aus einer Ostergeschichte stammen könnten. Man vergleiche nur die beiden im Folgenden nebeneinander gestellten Textabschnitte aus dem „Seewandel“ und einer Ostererscheinung: Und da sie ihn sahen auf dem See gehen, meinten sie, es sei ein Gespenst und schrien. Denn sie sahen ihn alle und erschraken. Aber sogleich redete er mit ihnen und sprach zu ihnen: Seid getrost, ich bin’s: fürchtet euch nicht! (Mk 6,49–50)
Sie erschraken aber und fürchteten sich und meinten, sie sähen einen Geist, Und er sprach zu ihnen: Was seid ihr so erschrocken, … ich bin’s selber. (Lk 24,37–39)
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Auch hier haben Erzähler die Geschichte geformt, die mit dem Osterglauben vertraut waren und überzeugt waren: Nur ein göttliches Wesen kann über das Wasser gehen. Der wunderbare Fischzug (Lk 5,1–11) begegnet als Ostergeschichte in Joh 21,1–14, wird aber vielleicht schon in der lk Fassung für Ostern transparent. Wenn Petrus bekennt, er sei ein sündiger Mensch, hat Lk wahrscheinlich auch an seine Verleugnung des Herrn gedacht. Wenn Jesus diesem sündigen Menschen vergibt und sagt: „Fürchte dich nicht! Von nun an wirst du Menschen fischen!“ (Lk 5,10), wird der Evangelist an die Zeit nach Ostern gedacht haben: Von da ab wirkte Petrus als Missionar. Noch stärker ist der österliche Hintergrund bei der Verklärung (Mk 9,2–10) erkennbar. Von einer Ostererscheinung auf einem Berg weiß auch Mt 28,16–20. Das auf Ostern befristete Schweigegebot zeigt: Noch dem MkEv ist der österliche Charakter der Geschichte bewusst. Es sagt zwar nicht, sie habe sich Ostern ereignet, wohl aber, dass sie erst nach Ostern bekannt wurde (9,9). Die Verehrung Jesu als „Sohn Gottes“ datiert erst ab Ostern (Röm 1,3f). Es ist daher evident: Die für uns schwer vorstellbaren „Naturwunder“: Brotvermehrung, Fischwunder und Seewandel sowie die Verklärung sind von österlichen Motiven durchdrungen, was man von den Exorzismen und Therapien nicht sagen kann. Sofern dort eine nachösterliche Perspektive eingenommen wird (wie in Mk 2,6–10), gehört sie erkennbar zur sekundären Ausgestaltung. Eine Rückführung der Wunderüberlieferung auf Jesus ist also nicht pauschal möglich: Exorzismen, Therapien und Normwunder lassen sich im Kern auf den historischen Jesus zurückführen. Man muss hierbei unterscheiden zwischen der hohen Wahrscheinlichkeit, mit der wir den Vollzug solcher Typen von Wundern für Jesus historisch in Anspruch nehmen können und der geringeren Wahrscheinlichkeit, dass die Details individueller Heilungswunder (mit Namen und Orten) historisch zuverlässig sind. Andere Wunder stehen in einem indirekten Zusammenhang mit Jesus: Sie sind vom Osterglauben geformte Dichtungen des Urchristentums. An der exorzistischen und therapeutischen Wunder tätigkeit Jesu aber sollte kein Zweifel bestehen. Es war keineswegs so, dass damals jeder Charismatiker Wunderüberlieferungen an sich zog. Vom Täufer heißt es: „Johannes hat kein Zeichen getan“ (Joh 10,41). Noch bemerkenswerter ist, dass auch der Herrenbruder Jakobus, an den sich eine reiche legendarische Überlieferung knüpfte, keine Wunder tut. Dasselbe gilt von Ignatius von Antiochien. Anders ist das bei Paulus. Von ihm werden Wunder in der Apg erzählt – wohl auch mit Anhalt beim „historischen Paulus“. Denn er erinnert die Korinther daran, dass bei ihnen „Zeichen eines Apostels“ geschehen sind (2Kor 12,12).
5. Jesus als Wundertäter im Kontext zeitgenössischer Wundertäter Nach dem Kriterium der Wirkungsplausibilität geht die Wunderüberlieferung auf Jesus zurück. Von keiner Gestalt in der damaligen Zeit wurden so viele Wunder erzählt wie von ihm. Historische Forschung erkennt verschiedene Typen von Wundertätern: den hellenistischen „göttlichen Menschen“, den rabbinischen Wundercharismatiker, den jüdischen Zei-
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chenpropheten und als Gegenfigur den Magier. Jesus zeigt Berührungen mit allen, unterscheidet sich aber von ihnen. 5.1 Jesus ein göttlicher Mensch (theios ane˜r)? H.D.Betz, Art. Gottmensch II, RAC 12 (1983) 234–312; L. Bieler, ΘΕΙΟΣ ANHP. Das Bild des „Göttlichen Menschen“ in Spätantike und Frühchristentum, 2Bde 1935/36 (1967); B.Blackburn, Theios Anēr and the Markan Miracle Traditions, 1991; E.Koskenniemi, Apollonius von Tyana in der neutestamentlichen Exegese. Forschungsbericht und Weiterführung der Diskussion, 1994; G.P.Corrington, The „Divine Man“. His Origin and Function in Hellenistic Popular Religion, 1986.
Der theios anēr (θεĩος ἀνήρ) meint einen als göttlich geltenden Menschen, der über Wunderkräfte zu Heilungen, Orakel oder Vorherwissen verfügt. Prototyp ist Apollonios von Tyana, der im 1. Jh. n. Chr. als neupythagoräischer Wanderphilosoph wirkte. Seine Biographie wurde Anfang des 3. Jh. von Philostrat geschrieben.40 Möglicherweise stellt Philo Moses in seiner vita Moses nach dem Modell eines „göttlichen Menschen“ dar. Umstritten ist aber, ob der „göttliche Mensch“ ein klar abgrenzbarer Typus des Wundertäters war oder nur ein Bündel von Motiven.41 Auf jeden Fall wurde das Jesusbild sekundär an solche Motive angeglichen. Sie bringen zum Ausdruck, dass ein Mensch durch Wundertaten als göttlich galt. Diese Sicht Jesu berührt sich mit seinem Selbstverständnis, insofern er „mit dem Finger Gottes“ Dämonen austreibt (Lk 11,20) und in ihm Gottes Geist wirkt (Mt 12,28). Etwas ganz Besonderes gegenüber allen antiken Wundertätern aber ist sein Selbstverständnis, dass er damit beiträgt zum Beginn einer neuen Welt. 5.2 Jesus ein Wunderrabbi? M.Becker, Wunder und Wundertäter im frührabbinischen Judentum, 2002; W.S.Green, Palestinian Holy Men: Charismatic Leadership and Rabbinic Tradition, ANRW 2.19 (1979) 619–647; G.Vermes, Hanina ben Dosa. A Controversial Galilean Saint from the First Century of the Christian Era, JJS 23 (1972) 28–50; 24 (1973) 51–64.
Für die Zeitenwende lassen sich rabbinische Wundercharismatiker nachweisen.42 G.Vermes weist auf Honi im 1. Jh. v. Chr. hin, der durch das Ziehen eines magischen Kreises Regenzauber bewirkte und in der rabbinischen Überlieferung kritisch (bTaan 24b), bei Josephus aber positiv beurteilt wird (Ant 14,22–24). Hanina ben Dosa wirkte im 1. Jh. n. Chr. in Gali40 Vgl. G.Petzke, Die Traditionen über Apollonius von Tyana und das Neue Testament, 1970. 41 Für einen antiken Typos des “göttlichen Menschen“ treten ein: H.D.Betz, Art. Gottmensch II*, 234– 312, G.P.Corrington, The „Divine Man“*, 1986. Dagegen argumentieren: B.Blackburn, Theios Anēr, 1991; E.Koskenniemi, Apollonius von Tyana*, 1994. 42 J.P.Meier, A Marginal Jew 2, 1994, 581–588, kritisiert den Versuch, Jesus in die Nähe Hanina ben Dosas zu rücken.
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läa. Da die Überlieferung von ihm erst sehr viel später niedergeschrieben wurde, ist es kaum möglich, den historischen Hanina ben Dosa mit dem historischen Jesus zu vergleichen. Aufschlussreich ist aber der Vergleich der Wundertraditionen. Von Hanina ben Dosa werden überliefert Immunität gegen Schlangenbiss (bBer 33a), Fernheilungen durch Gebet (bBer 34b), Macht über Dämonen (bPes 112b). Wie Jesus lebte er in selbstgewählter Besitzlosigkeit (bTaan 24b.25a) und war rituellen Fragen gegenüber indifferent. Zeitgenossen und Tradition bringen ihn in Verbindung mit dem Propheten Elia. Von ihm ist keine Gesetzesinterpretation (als Halacha) überliefert. Drei seiner weisheitlichen Sprüche sind im Traktat Pirque Avot (Av III,9–10) erhalten. Er könnte aus demselben Milieu wie Jesus stammen. Auffällig ist, dass Wundercharismatikern in der rabbinischen Tradition ein Sohnesstatus vor Gott zugeschrieben wird: Hanina ben Dosa wird von Gott als „Mein Sohn“ bezeichnet (bTaan 24b; vgl. Mk 1,11; 9,7 par), von Honi wird gesagt, er sei „wie ein Haussohn“ vor Gott (Taan III,8). Umgekehrt begegnet die Anrede Gottes als „Abba“ nur zweimal in der rabbinischen Literatur: einmal im Munde Honis (bTaan 23a), dann im Munde seines (als Regenzauberer tätigen) Enkels Hanan ha-Nehba (bTaan 23b). Die Parallelen zu Jesus, der als „Sohn Gottes“ gilt und Gott als „Abba“ anredete, liegen auf der Hand, aber auch die Unterschiede: Die jüdischen Wundercharismatiker wirken primär durch ihr Gebet. Nicht sie, sondern Gott wirkt ihre Wunder. Nur die Auferweckung des Lazarus geschieht in der Jesusüberlieferung durch ein Gebet Jesu (Joh 11,41f). Eine eschatologische Deutung der Wundertätigkeit fehlt bei den jüdischen Wundercharismatikern. Diese finden wir bei den Zeichenpropheten. 5.3 Jesus ein Zeichenprophet? P.W.Barnett, The Jewish Sign Prophets A.D. 40–47. Their Intentions and Origin, NTS 27 (1981) 679–697; R. Meyer, Der Prophet aus Galiläa, 1940, bes. 82 ff.108 ff.
In den Jahrzehnten vor dem Ausbruch des jüdischen Krieges traten nach dem Bericht des Josephus in Palästina mehrere Zeichenpropheten auf, von denen einige Wunder weissagten: Theudas kündigte kurz nach 44 n. Chr. die Spaltung des Jordans als Wiederholung des Jordanwunders an, das im AT von Josua und Elia überliefert wird (Ant 20,97–99; vgl. Jos 3; 2Kön 2,8). Unter dem Prokurator Felix (52–60 n. Chr.) trat ein Prophet auf, der durch die Verheißung von Zeichen der Freiheit in der Wüste einen neuen Exodus prophezeite (Ant 20,167f; Bell 2,259). Ein Ägypter führte seine Anhänger zum Ölberg führt und verhieß, dass die Mauern Jerusalems auf seinen Befehl hin zusammenbrechen würden (Ant 20,169–172; Bell 2,261–263; vgl. Apg 21,38). Möglicherweise hat Jesus es abgelehnt, sich durch solch ein Zeichen „vom Himmel“ beglaubigen zu lassen (Mk 8,11f). Erst mit der Verheißung eines neuen Tempels (Mk 14,58; 15,29) kündigt er ein von Gott gewirktes Zeichen an. Damit reiht er sich unter die Zeichenpropheten ein. Jesu Gegner haben ihn früh mit diesen jüdischen Zeichenpropheten zusammengesehen, wie der Vergleich mit Theudas in Apg 5,36 beweist.43 Im Unterschied zu ihnen bewirkte Jesus schon in der Gegenwart Wunder. 43 Ein an Bell 2,261–263 orientierter Nachklang ist die Darstellung Jesu im Testimonium Slavianum.
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5.4 Jesus ein Magier? J.-A.Bühner, Jesus und die antike Magie. Bemerkungen zu M.Smith, Jesus der Magier, EvTh 43 (1983) 156– 175; M.Smith, Jesus the Magician, 1978 = Jesus der Magier, 1981; B.Kollmann, Die Wunder Jesu im Licht von Magie und Schamanismus, in: R.Zimmermann (Hg.), Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen 1, 2013, 124–139.
Dass Jesus mit dem Teufel im Bunde stand (Mk 3,22), ein Betrüger (πλάνος, Mt 27,63 vgl. Joh 7,12), Scharlatan und Magier (γόης; μάγος) war, unterstellen die Gegner Jesu, war aber nach M. Smith historische Realität: Jesus habe sich als Magier verstanden. Die „Sohn-Gottes“-Christologie der Evangelien sei Niederschlag des magischen Selbstverständnisses Jesu, dieser habe sich für einen Gottessohn (= Gott) im Sinne der griechischen Zauberpapyri gehalten. Doch ist es unwahrscheinlich, dass Jesus (der selbst die hellenistischen Städte Galiläas mied!) im griechisch-synkretistischen Milieu der Zauberpapyri zu Hause war. Jesu Selbstverständnis war prophetisch, nicht magisch. Daran ändern die wenigen zur Volksfrömmigkeit gehörenden magischen Manipulationen bei seinen Heilungen nichts. Der Zuspruch Jesu an Geheilte: „Dein Glaube hat dich gerettet“ zeigt ein magischen Manipulationen entgegengesetztes Bewusstsein ebenso wie sein Verständnis der Wunder als Anbruch des endzeitlichen Gottesreiches und seine prophetisch-weisheitlichen Predigt. Exkurs: Magische und charismatische Wunder Die These von Jesus als Magier macht deutlich: Die Unterscheidung von Magie und Wunder ist eine Frage der Etikettierung: Magie ist das abgelehnte Wunder, Wunder die akzeptierte Magie. In diesem Sinne spricht J.D. Crossan von Jesus als „Magier“44 – wobei er in seiner Magie einen sozialen Protest sieht, den er positiv wertet. Auf der anderen Seite kann man magische und charismatische Wunder auch als zwei Enden eines Kontinuums ansehen, zwischen denen es Übergänge gibt.45 Die wichtigsten Unterschiede sind: Magische Wunder
Charismatische Wunder
Sie setzen keine personale Beziehung zwischen dem Magier und dem Adressaten der Magie voraus. Oft geschehen sie ohne Wissen und Willen dessen, dem sie „angetan“ werden!
Sie geschehen im Rahmen einer personalen Zuwendung von Wundertäter und Hilfesuchenden: Ohne „Glauben“ und Vertrauen sind sie unmöglich (Mk 6,5f).
Sie dienen individuellen Zwecken unabhängig von der Gemeinschaft und oft auch (als schwarze Magie und Schadenszauber) gegen die Gemeinschaft.
Sie ermöglichen Gemeinschaft: Wunderheilungen geben Menschen dem normalen Leben zurück. Wundercharismatiker integrieren in eine neue Gemeinschaft.
Sie werden durch ritualisierte Praktiken (Beschwörungen, Zauberformeln, magische Mittel) vollzogen. Im Grenzfall sollen sie ex opere operato wirksam sein.
Sie geschehen aufgrund der Autorität einzelner Wundertäter, oft allein durch ihr Wort und mit einem Minimum an ritualisierten Praktiken.
44 J.D.Crossan, The Historical Jesus, 1991, 198–236. 45 Vgl. J.P.Meier, A Marginal Jew 2, 1994, 535–75; D.Trunk, Heiler*, 1994, 375–380.
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Es unterliegt sozialer Konvention, wo die Grenzen zwischen magischen und charismatischen Wundern gezogen werden. Dabei wirkt sich die Definitionsmacht der Gesellschaft aus: Charismatische Wundertäter werden als Magier abgelehnt, Magier als charismatische Wundertäter anerkannt. So wurde Jesus von seiner Umwelt teils als Wundertäter bewundert, teils als Verbündeter des Teufels angegriffen.
5.5 Das Proprium der Wunder Jesu
Die Wunder Jesu haben innerhalb der antiken Wunderwelt vier Besonderheiten: (a) das Glaubensmotiv, (b) die Kultkritik, ferner ihre (c) eschatologische und (d) christologische Deutung. a) Das Glaubensmotiv: Heilungen werden durch den Glauben bewirkt. „Glaube“ bedeutet in antiken Wundergeschichten außerhalb des NTs, dass man Wunder für wahr hält. Der Glaube in der Jesusüberlieferung aber bringt die Wunder hervor, versetzt Berge (Mk 11,22) und wird Hilfesuchenden wie Helfern zugeschrieben. Es ist (1) der Glaube der Geheilten, der blutflüssigen Frau (Mk 5,34), des blinden Bartimaios (10,52; vgl. Mt 9,29), des aussätzigen Samaritaners (Lk 17,19). Dieses Motiv ist eine Erinnerungsspur des historischen Jesus (Lk 17,6Q; Mk 11,22 f.), keine Rückprojektion urchristlichen Glaubens. Denn der Wunderglaube ist viel allgemeiner. Seine Pointe ist die Kausalattribution der Heilung an den Glauben der Hilfe suchenden. Die kranken Menschen kommen zu Jesus in der Erwartung, von ihm Hilfe zu erlangen. Jesus aber rechnet die Kraft zu ihrer Heilung ihrem eigenen Glauben zu. Damit hat Jesus die heilende Macht des Glaubens entdeckt. Seine Entdeckung stimmt mit modernen Erkenntnissen überein, wonach Glaube und Vertrauen sowohl auf Seiten des Arztes als auch auf Seiten des Patienten den Heilungsprozess unterstützen46 – selbst wenn es sich um ein Placebo handelt. Der Unterschied aber ist: Ein Placebo wirkt aufgrund der Suggestion, ein Medikament habe eine nachweisbare Wirkung und wirke nicht nur aufgrund von Glauben. Dagegen macht Jesus eben diesen Zusammenhang bewusst, wenn er sagt: Dein Glaube hat dich geheilt! Dieser Glaube ist (2) Glaube der Helfer, die den gichtbrüchigen Kranken durch das Dach zu Jesus hinablassen. Jesus „sah“ ihren Glauben, d. h. ihr Vertrauen in seine heilende Macht (Mk 2,5). Es ist der Glaube des Jairus (5,36), der Syrophönizierin (Mt 15,28), des Vaters des epileptischen Knaben (Mk 9,23f) und des Hauptmanns von Kapernaum (Lk 7,10Q). Manchmal hat man gegen eine „psychosomatische“ Deutung der Wunderheilungen durch Glauben eingewandt, dass der Glauben nicht nur Kranken, sondern auch Begleitern zugeschrieben wird. Aber die Theorie vom „sozialen Heilen“ sagt, dass Heiler soziale Konflikte in der Umwelt beheben, Unterstützung für die Kranken aktivieren, auf diese Weise Stress reduzieren und so psychosomatisch Erkrankten helfen.47 Auch ein stellvertretender Glaube kann therapeutisch effektiv sein. Kranke Menschen sind in ihre Gruppe eingebettet. Heiler aktivieren für sie Unterstützung. Der thaumaturgische Synergismus der Jesusbewegung schließt daher auch den Glauben der Geheilten und ihrer Begleiter in das Kraftfeld ein, das Heil und Heilung bewirkt. 46 Das ist ein Resultat der Placeboforschung. Vgl. H.Brody, Ritual, Medicine, and the Placebo Response, in: W.Sax u. a. (ed.), The Problem of Ritual Efficacy, 2010, 151–167. 47 W.S.Sax, God of Justice: Ritual and Social Healing in the Central Himalayas, 2008.
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b) Die Kultkritik: Jesus übt mit Wunderheilungen Sozialkritik. Normwunder sind in der Regel Strafwunder, die Verstöße gegen Normen sanktionieren: Ananias und Saphira verkaufen einen Acker, um den Erlös der Jerusalemer Gemeinde zur Verfügung zu stellen, behalten aber einen Teil des Geldes für sich. Weil sie die Gemeinde getäuscht haben, sterben sie nach Aufdeckung der Täuschung (Apg 5,1–11). Herodes Agrippa I. weist eine Huldigung des Volkes nicht zurück, die ihn als „Gottes Stimme“ verehrt, und wird mit dem Tod bestraft (Apg 12,20–23). Im Kontrast dazu setzen die Normwunder Jesu nicht Normen durch, sondern relativieren sie in humanem Sinne. c) Die präsentische Eschatologie: Jesus spricht seinen Heilungen und Exorzismen eine eschatologische Bedeutung zu. In ihnen beginnt eine neue Welt. „Als apokalyptischer Wundercharismatiker steht Jesus singulär in der Religionsgeschichte. Er verbindet zwei geistige Welten, die vorher nie in dieser Weise verbunden worden sind: die apokalyptische Erwartung universaler Heilszukunft und die episodale Verwirklichung gegenwärtigen Wunderheils“.48 Auf die Wunder fällt dadurch ein ungeheurer Akzent. Die Gegenwart wird im Kleinen zu einer Zeit des Heils – entgegen einem apokalyptischen Pessimismus, der in der Gegenwart nur die Krise sieht. Modifiziert wird beides: der Wunderglaube durch seine eschatologische Aufwertung, die apokalyptische Abwertung der Gegenwart durch den Wunderglauben. Die Wunder sind „allemal schon neuer Himmel, neue Erde im Kleinen“.49 d) Der thaumaturgische Synergismus: Jesus und seine Anhänger waren der Überzeugung, dass sie durch ihre Wundertätigkeit zur Verwirklichung des Reiches Gottes beitragen (Lk 11,20/Mt 12,28; Lk 9,1–2; 10,9). Für solch einen Synergismus gibt es Analogien in anderen jüdischen Bewegungen. Die pharisäische Bewegung war überzeugt, dass Gott und Mensch zusammenwirken bei der Verwirklichung des Guten (ethischer Synergismus), die Widerstandsbewegung vertrat einen ebenfalls eschatologisch gefärbten revolutionären Synergismus, wenn sie darauf vertraute, dass Gott den militärisch unterlegenen Widerstandskämpfern zu Hilfe kommt. e) Wunder als christologische Symbolik: Wir beobachten im NT eine Zunahme der Wundersymbolik. Im MkEv hat die Blindenheilung (Mk 8,22–26) eine symbolische Bedeutung. Jesus hat die Jünger als „blind“ getadelt (8,18), das Messiasbekenntnis des Petrus zeigt (8,29), wie ihre Blindheit weicht. Im MtEv hat die Sturmstillung (Mt 8,23–27) symbolischen Sinn, weil die Jünger Jesus ins Boot „nachfolgen“ (8,23) und das Boot zum Symbol der Kirche wird. Im LkEv weist der wunderbare Fischzug des Petrus (Lk 5,1–11) auf die Gründung der Kirche. Im JohEv sind alle Wunder „Zeichen“ (sēmeia) der Offenbarung. Wundergeschichten werden in der Antike zwar zur Legitimation von Macht erzählt wie z. B. Wunder des Vespasian (Tacitus Hist. 4,81; Sueton, Vesp. 7). Auch die Wunder Jesu sollen ihn legitimieren (Apg 2,22), aber sie haben einen Mehrwert: die Blindenheilung weist auf eine innere Erleuchtung (Joh 9), die Brotspeisung auf Offenbarung als Himmelspeise (Joh 6). Solch eine symbolische Bedeutung der Wunder ist in der Antike singulär.
48 G.Theißen, Wundergeschichten*, 1974, 274. 49 E.Bloch, Das Prinzip Hoffnung, 1959, 1544.
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6. Hermeneutische Reflexion Ein Wunder ist ein Ereignis, das gegen normale Erwartungen eintritt und religiöse Bedeutung hat: Unter diese Definition fallen auch kosmische Zeichen wie der Stern bei der Geburt Jesu. Die Wunder Jesu aber sind Wundertaten Jesu. In der Wunderüberlieferung erscheint (abgesehen von Joh 11,41f) nicht Gott, sondern Jesus als Subjekt des Wundergeschehens. Insofern antike Mentalität Wunder auf eine übermenschliche Macht, sei es auf Gott, sei es auf den Satan zurückführte (vgl. Mt 12,22–30), musste sie in solchen Wundertaten Jesu übermenschliches Wesen anerkennen oder ablehnen. Wunder werden zum Problem, wenn unsere Erfahrung keine Analogien zu Wundern kennt. Was Grundsätzen unserer Erfahrung widerspricht, halten wir für unhistorisch. Einen „Seewandel“ oder eine wunderbare „Brotvermehrung“ können wir uns nicht vorstellen. Dasselbe Analogieprinzip, das unsere Skepsis begründet, verpflichtet uns aber auch, prinzipiell die Möglichkeit von Heilungen und Exorzismen anzuerkennen. Denn zu ihnen gibt es in vielen Kulturen gut dokumentierte Analogien. Umstritten bleibt dann noch immer, ob Überlieferungen von einem Heilcharismatiker im Einzelfall historisch glaubwürdig sind oder nicht. Offen kann bleiben, wie man solche Heilungen erklärt. Die historische Frage ist für Jesus positiv zu beantworten. Nach dem Kriterium der „Wirkungsplausibilität“ lässt sich die Überlieferung von Jesu Wundern nicht ohne sein Wirken als Heilcharismatiker verstehen. Wunderberichte von ihm werden aufgrund einer „volkstümlichen Verschiebung“ in der Sprache antiken Wunderglaubens formuliert; die Berichte von außergewöhnlichen „Naturwundern“ (wie Seewandel und Brotspeisung) auch mit Motiven des nachösterlichen christlichen Glaubens. Wir haben es mit einer durch „Dichtung“ angereicherten Überlieferung zu tun, deren Ursprung schon wegen des übereinstimmenden Zeugnisses von Wort- und Erzählüberlieferung Jesus ist. Nach dem Kriterium der „Kontextplausibilität“ passen Wunder Jesu zudem in den Kontext analoger antiker Phänomene, haben aber auch besondere Akzente: die individuelle Zurechnung der wunderwirkenden Kraft an den Glauben des Einzelnen, ihre soziale Bedeutung als Legitimation neuer Regeln in Sabbatheilungen und ihre eschatologische Bedeutung als Zeichen einer beginnenden neuen Welt. Wirkungs- und Kontextplausibilität sprechen für die Geschichtlichkeit der Wunder Jesu. Sie sind aber auch in dem Sinne geschichtlich, dass sowohl (1) die Krankheiten als auch (2) die Heilungen von geschichtlich bedingten Deutungen abhängen. 6.1 Krankheit als Realität und geschichtliches Konstrukt
Wenn im NT von Aussatz, Blindheit oder Besessenheit die Rede ist, dürfen wir nicht nur an Krankheiten denken, die wir Lepra, Blindheit oder Psychose nennen. Sie werden in verschiedenen Gesellschaften verschieden definiert. „Aussatz“ umfasst im NT viele Formen von Hautkrankheiten, Blindheit jede Sehstörung. Beim „epileptischen Knaben“ in Mk 9,14–29 denken wir an Mutismus, weil er nicht sprechen kann, dazu an autoaggressive Tendenzen, weil er sich in Wasser und Feuer stürzt. Diese Symptome gehören nicht zur Epilepsie. Am meisten wirkt sich die definitions- und realitätssetzende Macht der Gesellschaft bei der
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„Besessenheit“ aus. Geister und Dämonen gehören in vormodernen Gesellschaften zur Lebenswelt. Der Glaube an sie wird genährt von der Angst vor Kontrollverlust. Die Testamente der Zwölf Patriarchen führen Trunksucht, Hurerei und Zorn auf Dämonen zurück! Ebenso werden normale Krankheiten durch Einwirkung von Dämonen erklärt: Starke Schmerzen oder Behinderungen berauben Menschen ihrer Selbststeuerung. Oft erscheinen Menschen aufgrund abweichender Verhaltensweisen so, als würden sie von einem fremden Subjekt gesteuert. Heute deuten wir solches Verhalten als dissoziative Störung, BorderlineSyndrom, multiple Persönlichkeit oder Psychose. Eine Gesellschaft, die dämonologische Erklärungsmuster anbietet, wird entsprechende Symptome bei Menschen hervorbringen. „Besessenheit“ kann sich dann in Krisensituationen überdurchschnittlich verbreiten. Dämonenglaube und Besessenheit sind „soziale Konstrukte“, die es Menschen ermöglichen, ihre ausweglose Lage in öffentlich akzeptierter Symptom-Sprache zum Ausdruck zu bringen und exorzistische Hilfe für sich zu beanspruchen. Doch ist Besessenheit nicht nur ein Konstrukt. Oft verbinden sich objektive physische Probleme mit Symptomen, deren Etikettierung und Erklärung gesellschaftlich bedingt sind. 6.2 Heilkraft als Realität und Konstrukt
Für das Verständnis der Wunder Jesu ist es ebenso wichtig, seine Heilgabe zu verstehen. Hinter der Heilung der Schwiegermutter des Petrus (Mk 1,29–31), der „Auferweckung“ der todkranken Tochter des Jairus (5,21–24.15–43) oder der Heilung des blinden Bettlers Barti maios (10,46–52) stehen wahrscheinlich historische Ereignisse – um nur die Wunder zu nennen, bei denen die Geheilten mit eigenem Namen oder über Verwandte identifizierbar sind. Die entscheidende Frage ist: Welche Macht wirkt sich in diesen Wundern aus? Ihre supranaturalistische Deutung als Eingriffe Gottes hat in den Texten weniger Anhalt als angenommen wird. Nicht Gott handelt in ihnen, sondern Jesus „durch den Finger Gottes“. Auch die naturalistische Lösung ist unbefriedigend: Hier wird Wundermacht auf bisher nicht ausreichend erkannte Naturgesetze zurückgeführt. Die „mythische Deutung“ begnügt sich damit, die Entstehung der Wunderüberlieferungen zu erklären. Angemessen ist u. E. eine schöpfungstheologische Deutung: Wundercharisma ist eine spontan auftretende Macht in der Schöpfung. Sie lässt sich nicht technisch nutzen, da sie an charismatische Personen und deren Interaktion mit anderen Menschen gebunden ist. Weil Wundercharisma spontan auftritt, von Interaktion und Vertrauen abhängig bleibt, liegt ihre religiöse Deutung nahe. Jesus besaß solch ein Heilcharisma. Um dieses Heilcharisma zu erklären, helfen uns über Analogien in der antiken Welt hinaus die ethnomedizinische Erforschung von Heilungen in vormodernen Kulturen. Sie deutet Wunderheilungen als charismatisches, symbolisches, rituelles und soziales Heilen.50 50 Die Ethnomedizinerin Ina Rösing (1942–2018) hat in: Mundo Ankari, Dreifaltigkeit und Orte der Kraft: Die weisse Heilung. Nächtliche Heilungsrituale in den Hochlanden Boliviens, 31995, 714–727, drei Hypothesen für vormedizinische Heilungen entwickelt: (1) Die Zielbezogenheits-Hypothese sagt: Die Übereinstimmung zwischen Heiler und Krankem durch ein gemeinsames Ziel aktiviert in beiden
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a) Der Begriff charismatisches Heilen betont die Beziehung zwischen Heiler und Hilfesuchenden. Charisma wirkt hier in der Interaktion zwischen einer Person mit irrationaler Ausstrahlungskraft und Anhängern, die ihr vertrauen. Dieses Vertrauen meint die Formel: „Dein Glaube hat dich gerettet“. Es wurde durch Gerüchte über Jesu Heilungen schon zu seinen Lebzeiten hervorgerufen. Die Heilungsgeschichten von Jesus folgen insofern nicht nur den Heilungen, sondern riefen jene Erwartungen hervor, ohne die sich Heilcharisma nicht entfalten kann. Wir hören in den Evangelien, dass sich die Kunde von den Heilungen Jesu sehr rasch im Volk verbreitete (Mk 1,28 u.ö.) und dass Menschen aufgrund dieser Gerüchte zu Jesus kamen (Mk 7,24f). Diese Gerüchte erzählten nicht nur von Heilungen, sondern führten sie herbei. b) Der Begriff symbolisches Heilen bezieht sich auf kognitive Deutungen von Krankheit und Heilungen, die in den Beteiligten wirksam sind. Wir begegnen zwei symbolischen Konzepten: der Vorstellung einer magischen Kraft, die dem Kranken adorzistisch zugeführt wird, und eines antagonistischen Kampfes, der den Besessenen exorzistisch vom Dämon befreit. Weder heilende Energien noch Dämonen wirken dabei als Realitäten, sondern als Symbole in der inneren Welt der Kranken und der Heiler, z. B. durch Sündenvergebung (Mk 2,1–12) und Reinheitserklärung eines Aussätzigen (1,40–45). Ferner finden wir die Überzeugung, dass die Verwandlung der Kranken Teil einer Transformation der Welt ist – eine Überzeugung, die vor allem in den Wundertätern selbst wirksam war; wir finden sie nur in der Wortüberlieferung. c) Der Begriff rituelles Heilen bezieht sich auf tradiertes Heilverhalten, das wiederholt werden konnte, wie das Auflegen der Hände und der Gebrauch von Speichel (Mk 7,33 u. ö.). Sie haben eine Tradition des Heilens im Urchristentums hervorgerufen, die aber von der Heilpraxis Jesu abweicht: Wenn nach Jak 5,13–16 die Ältesten zu einem Kranken kommen, beten sie über ihm, obwohl Gebete bei den uns überlieferten Wundern Jesu weithin fehlen. Sie salben mit Öl, obwohl Jesus nicht mit Öl geheilt hat. Sie heilen in seinem Namen, obwohl Jesus niemals den Namen Gottes bei Heilungen anruft. Wahrscheinlich ersetzte das Gebet das heilende Wort Jesu, das Öl heilende Mittel wie den Speichel, der Name Jesu seine Anwesenheit. d) Der Begriff soziales Heilen bezieht sich darauf, dass Jesu Heiltätigkeit soziale Unterstützung zugunsten der Kranken aktivierte und die Geheilten in Familie und Dorf re-integrierte: Am Ende von Wundergeschichten werden die geheilten Menschen in ihr Haus und ihre Familie geschickt (Mk 2,11; 5,19; 8,26). Andere Aussagen beziehen sich direkt auf den wiederhergestellten Frieden in der Gemeinschaft: Sündenvergebung dient dazu, eine Gruppe zu versöhnen (Mk 2,5). Die (kultische) Reinheitserklärung gibt einen AussätziSymbole, die auf dieses Ziel hinwirken. (2) Die Konvergenz-Hypothese sagt: Symbolische Heilungen sind umso wirksamer, je mehr innere Vorgänge durch äußere Akte gestützt werden. (3) Die WissensKreis-Hypothese sagt: Je mehr Heilungen in die Gesamtsicht des Lebens – in ein Wissen von sich selbst, von der Gemeinschaft und vom ganzen Kosmos – eingebettet sind, umso wirksamer sind sie. Das träfe auf Jesus und die ersten Christen zu: Sie haben ihre Heilungen in eine Transformation der ganzen Welt eingebettet. Die Veränderungen einzelner Menschen waren Teil einer großen Veränderung.
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gen dem sozialen Leben zurück (Mk 1,41). Man kann daher Jesu Heilungen auch als soziales Heilen deuten. Jesu Heiltätigkeit war charismatisches und symbolisches, rituelles und soziales Heilen. Charisma und Symbol weisen auf innere Aspekte seiner Heilungen, rituelles und soziales Heilen auf äußere Aspekte. Jesu Heilungen geschehen im Körper und in Gemeinschaft, embodied and embedded. Er hat ihnen eine religiöse Deutung gegeben, durch die er sie eschatologisch, sozial und individuell deutete. a) Eschatologisch deutete Jesus die Wunder als Anbruch einer neuen Welt, sah also in diesen Wundern Möglichkeiten des Menschen, wenn er den Schritt aus der alten in die neue Welt tut. Sie sind Ausdruck eines thaumaturgischen Synergismus des rettenden Willens Gottes im Zusammenwirken mit menschlichem Handeln. b) Sozial setzte Jesus mit Wundern Sabbatregeln außer Kraft. Wunder geben Mut, religiös legitimierte Sozialformen zu verändern. Wundercharisma ist sozial bedingt und bewirkt Veränderung. Ohne „Glauben“ der Umwelt kann kein Wundercharismatiker handeln (Mk 6,5f). c) Individuell sah Jesus im Wundercharisma die persönliche Kraft des Glaubens wirken. Er selbst verkörperte diese Kraft, aktivierte sie aber auch in Kranken und Hilfesuchenden als Glauben, der Berge versetzen kann. Die Wunderüberlieferung überschreitet somit eine dreifache Grenze: die Grenze zwischen alter und neuer Welt, alten und neuen Sozialformen, altem und neuem Leben. Kosmisch, sozial und individuell sind sie Ausdruck von Grenzüberschreitungen. In Fernheilungen wird diese grenzüberschreitende Macht aktiviert, um soziale Barrieren zwischen Juden und NichtJuden zu überwinden, in Sabbatheilungen, um kultische Normen im Interesse des Lebens zu liberalisieren. 6.3 Heilungsgeschichten als Kerygma und Dichtung
Auf die Frage, wie wir heute mit den Wundern Jesu umgehen sollen, bietet die Exegese zwei Wege: Der erste besteht in der symbolischen und kerygmatischen Interpretation der Wundergeschichten „von oben“. Sie beginnt im NT. Vor dem Messiasbekenntnis des Petrus steht im MkEv eine Blindenheilung, die zeigt, dass den zuvor „blinden“ Jüngern die Augen für die wahre Würde Jesu aufgehen (Mk 8,22–26). Im JohEv haben Wunder grundsätzlich einen tieferen Sinn. Nur die Wunder Jesu werden in der Antike in dieser Weise symbolisch gedeutet. Der Anstoß zu ihrer symbolischen Sinnüberhöhung liegt bei Jesus: Wenn er sie als Zeichen der anbrechenden Endzeit deutete, verlieh er ihnen einen Mehrwert an Sinn, der weitere Sinndeutungen anregte, vor allem die Deutung, dass in ihnen der Messias und Erlöser wirksam war. Aufgrund ihrer symbolischen Deutung werden die Wundergeschichten bis heute „spiritualisiert“. Doch sie enthalten ebenso einen Protest gegen menschliche Not. Sie sprechen eher aller bisherigen Erfahrung ihre Gültigkeit ab als menschlicher Not das Recht, beseitigt
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zu werden. Wer sich mit diesen Geschichten identifiziert, wird sich nicht damit abfinden, dass es für allzu viele Menschen zu wenig Brot gibt, für viele Kranke keine Heilung, für viele Gestörte keine Heimat in unserer Welt! Die Wundergeschichten sind „von unten“ als Protest gegen menschliches Leid zu lesen. Für Jesus sind Wunderheilungen Zeichen, die eine neue Welt ankündigen. In unserer modernen Welt ist die umfassendste Deutung der Wirklichkeit die Evolutionstheorie. Daher sei an die evolutionspsychologische Erklärung von Heilungen erinnert: Menschen waren Jahrtausende lang auf vormedizinische Heilungen angewiesen. Wer auf sie ansprach, hatte eine größere Wahrscheinlichkeit zu überleben und unser Vorfahr zu werden. Daher ist bis heute in manchen Menschen diese Kraft des Glaubens wirksam. Warum aber sind Heilungen Vorschein einer neuen Welt? Die bisherige Evolution unterlag dem Selektionsprinzip. In der Geschichte des Menschen aber wird dieses Prinzip durchbrochen durch Hinwendung zum Verlorenen und Gescheiterten. Die Bibel bringt diese Überschreitung einer evolutionären Grenze in ihrer Eschatologie zum Ausdruck. Die Wundergeschichten sprechen uns an, weil wir in ihnen einen antiselektionistischen Impuls an der Schwelle einer neuen Evolutionsphase spüren. Zum Abschluss sei betont: Das NT signalisiert selbst die Grenze jedes Heilcharismas. Trotz des Aufbegehrens gegen Hunger, Krankheit und Not führt es uns vor Augen, dass wir Leid ertragen müssen. Neben den Wundergeschichten steht im Neuen Testament Paulus – ein „Wundercharismatiker“, der sich selbst nicht heilen kann! Er musste sich mit der Auskunft begnügen: „Meine Kraft ist in den Schwachen (d. h. den Kranken) mächtig“ (2Kor 12,9).
§ 12 Jesus als Dichter: Die Gleichnisse Jesu
R.Banschbach Eggen, Gleichnis, Metapher, Allegorie. Zur Theorie und Praxis der Gleichnisauslegung, 2007; M.A.Beavis, Parable and Fable, CBQ 52 (1990) 473–498; J.D.Crossan, In Parables. The Challenge of the Historical Jesus, 1973; K.Erlemann, Gleichnisse: Theorie – Auslegung – Didaktik, 2020; D.Flusser, Die rabbinischen Gleichnisse und der Gleichniserzähler Jesus, 1981; P.v.Gemünden, Vegetationsmetaphorik im Neuen Testament und seiner Umwelt, 1993; W.Harnisch (Hg.), Die neutestamentliche Gleichnisforschung im Horizont von Hermeneutik und Literaturwissenschaft, 1982; ders. (Hg.), Gleichnisse Jesu. Positionen der Auslegung von Adolf Jülicher bis zur Formgeschichte, 1982; ders., Die Gleichniserzählungen Jesu. Eine hermeneutische Einführung, 1985 42001; J.Jeremias, Die Gleichnisse Jesu, 1947, 101984; A.Jülicher, Die Gleichnisreden Jesu, 1888/98, 21910; E.Linnemann, Gleichnisse Jesu. Einführung und Auslegung, 1961 1978; J.P.Meier, A Marginal Jew, 5. Probing the Authenticity of the Parables, 2016; A.Merz/E.Ottenheijm/
7
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Wundergeschichten überschreiten reale Grenzen, Gleichnisse semantische Grenzen zwischen Bild und Wirklichkeit, beide wecken dadurch Aufmerksamkeit, Gleichnisse durch erzählerisch entfaltete Metaphern, die zwei Bedeutungen haben: „Schafe“ sind in erster Bedeutung Tiere, in zweiter Bedeutung im Alten Testament, bei Jesus und den Rabbinen Glieder des Volkes Israel.1 Gleichnisse sind erzählerisch entfaltete Metaphern und lassen sich durch sechs Merkmale charakterisieren:2 1
2
Vgl. z. B. Ps 23; Ez 34; Lk 15,3–7; Ex Rabba 2:2 ist ein Gleichnis von Moses, der ein auf der Suche nach Wasser weggelaufenes Böcklein zurückträgt zur Herde und daraufhin von Gott zum Hirten über Israel bestellt wird. Vgl. R.Zimmermann, Kompendium*, 2007, 25: „Eine Parabel ist ein kurzer narrativer (1), fiktionaler (2) Text, der in der erzählten Welt auf die bekannte Realität (3) bezogen ist, aber durch implizite oder explizite Trans-
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1. Sie sind narrative Texte, die in „erzählenden Parabeln“ einmalige, in „besprechenden Gleichnissen“ wiederkehrende Ereignisse als Bilder verwenden. 2. Sie sind auch dann fiktional, wenn sie Erlebtes verarbeiten, denn sie erfinden als Dichtung eine eigene Welt. 3. Sie sind in Bild- und Sachhälfte realitätsbezogen, verändern aber durch das Bild den Blick auf die Realität. 4. Ihren metaphorischen Charakter signalisieren sie durch Bildsignale wie den Vergleichsanfang „Es verhält sich mit NN wie mit XY“. 5. Sie überwinden durch ihre bildliche Form kognitive, emotionale und soziale Widerstände. Nathan kritisiert König David mit einer Parabel, Jesus die Priesteraristokratie. 6. Sie werden kontextuell interpretiert, das „verlorene Schaf“ durch Jesu Verhalten als sozialem Kontext, durch Gleichnisse vom Verlorenen in Lk 15 als literarischem Kotext. Gleichnisse teilen mit Metaphern drei Merkmale: (1) Syntaktisch sind Metaphern Wörter in einem „konterdeterminierenden Kontext“, d. h. sie werden aufgrund des vorhergehenden Textes nicht erwartet.3 Wer von „Steinen“ spricht, erwartet nicht, dass sie „bellen“, „bellende Steine“ aber sind eine Metapher. (2) Semantisch basieren Gleichnisse auf einer Verschmelzung (d. h. einem blending), beim „verlorenen Schaf“ z. B. von Tier- und Menschenwelt.4 (3) Pragmatisch geben sie einen Impuls, die Wirklichkeit anders zu sehen, Sünder z. B. nicht als Verbrecher, sondern als Verirrte zu betrachten, die Zuwendung brauchen. Wie wir die Wundergeschichten im Kontext aller antiker Wunderüberlieferungen deuten müssen, so auch die Gleichnisse Jesu im Rahmen aller bildlichen Kurzerzählungen in der Antike: griechischer Fabeln, biblischer Parabeln und rabbinischer Gleichnisse. Erst in diesem Rahmen werden besondere Züge der Jesusgleichnisse sichtbar.
1. Die Forschungsgeschichte zu den Gleichnissen Jesu5 Lange Zeit wurden die Gleichnisse Jesu allegorisch als Ketten von Metaphern ausgelegt, die etwas Anderes meinen als das, was sie wörtlich sagen („Allegorie“ kommt von griechisch allēgorein „etwas Anderes sagen“). Ihren eigentlichen Sinn erkennen nur Eingeweihte, die
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5
fersignale zu erkennen gibt, dass die Bedeutung des Erzählten vom Wortlaut des Textes zu unterscheiden ist (4). In seiner Appellstruktur (5) fordert er einen Leser bzw. eine Leserin auf, einen metaphorischen Bedeutungstransfer zu vollziehen, der durch Ko- und Kontextinformationen (6) gelenkt wird.“ H.Weinrich, Die Metapher, Poetica 2 (1968) 100–113. Die „blending theory“ von G.Fauconnier/M.Turner, The Way we Think. Conceptual Blending and the Mind’s Hidden Complexities, New York 2003, unterscheidet zwei Ausgangsbereiche als „input-spaces“, aus denen ein dritter „generic space“ durch Auswahl von Übereinstimmungen einen „blended space“ hervorbringt, der für neue Elemente offen ist. Zur blending theory vgl. A.Oegema, Negotiating Paternal Authority and Filial Agency. Fathers and Sons in Early Rabbinic Parables, 2021, 74–85. Zur Geschichte der Gleichnisauslegung vgl. W.S.Kissinger, The Parables of Jesus. A History of Interpretation and Bibliography, 1979, 1–30; W.Harnisch (Hg.), Gleichnisse Jesu*, 1982.
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das Gleichnis vom Samariter als eine Folge von Metaphern deuten, z. B. im Menschen, der unter die Räuber gefallen ist, den Sünder erkennen, in den Räubern Dämonen und im Samariter den Erlöser.6 1.1 Gleichnisse als Wahrheit in allgemeinen Bildern:7 A. Jülicher
Die moderne Auslegung der Gleichnisse begann damit, dass Adolf Jülicher (1857–1938) sie in: Die Gleichnisreden Jesu, 1888/98, konsequent in die antike Literatur einordnete und dabei ihre allegorische Deutung überwand. Vorher wurden Gleichnisse als Verschlüsselung theologischer Geheimnisse nach dem Muster der Auslegung des Sämannsgleichnisses in Mk 4,10–20 interpretiert, in der vier verschiedene Samen Punkt für Punkt auf verschiedene Menschengruppen gedeutet wurden. Dagegen erkannte Jülicher: Ursprünglich hätten Gleichnisse nicht mehrere, sondern nur einen Vergleichspunkt, um eine allgemeine Wahrheit zum Ausdruck zu bringen, z. B. dass man ein geringeres Gut stets um eines höheren willen opfern soll wie in den Gleichnissen von Schatz und Perle (Mt 13,44–46). Die bildliche Rede habe den didaktischen Zweck, die Zustimmung zur Gleichnisaussage zu erleichtern, die man auch ohne Bild formulieren kann.8 Jülicher unterschied als Untergattungen kurze Gleichnisse im engeren Sinn, die von wiederkehrenden Vorgängen wie Saat und Ernte handeln (Mk 4,26– 29), längere Parabeln von ungewöhnlichen Ereignissen wie dem gleichen Lohn für verschiedene Leistungen (Mt 20,1–16) und Beispielgeschichten, bei denen Bild und Sache zum selben Wirklichkeitsbereich gehören. Sie warnen z. B. durch das Geschick des Kornbauern alle Reichen davor, auf Reichtum zu vertrauen (Lk 12,16–21). Analogien zu den Gleichnissen fand Jülicher in den Fabeln des Aesop. Eine von ihnen verteidigt einen Angeklagten: Ein Fuchs stürzte beim Übergang über einen Fluss in einen Graben, aus dem er nicht mehr herauszuklettern vermochte. Als er nun lange dagelegen hatte und besonders von Mücken arg gequält wurde, sah ihn ein Igel und fragte mitleidig, ob er ihm nicht das Ungeziefer verscheuchen solle. Der Fuchs aber wehrte ihm, nannte auch den Grund: Diese sind ja schon satt von mir und zapfen mir nur noch wenig Blut ab, jagst Du sie aber fort, so werden andre hungrige kommen und mir das Blut wegsaugen bis auf den letzten Tropfen. Nun, fährt Aesop fort, auch Euch, Ihr Samier, wird dieser Angeklagte nichts mehr schaden, denn er ist bereits reich; tötet ihr ihn aber, so werden andre, jetzt noch Arme, an seiner Statt auftreten und durch Diebstahl all Euer Staatseigentum auf die Seite bringen. (zit. n. A.Jülicher, Gleichnisreden*, S. 94f)
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Vgl. W.Monselewski, Der barmherzige Samariter. Eine auslegungsgeschichtliche Untersuchung zu Lk 10,25–37, 1967. K.Erlemann, Adolf Jülicher in der Gleichnisforschung des 20. Jahrhunderts, in: U.Mell (Hg.), Die Gleichnisreden Jesu 1899–1999. Beiträge zum Dialog mit Adolf Jülicher, 1999, 5–37. Jülicher behandelt das „Wesen der Gleichnisreden Jesu“ in: Die Gleichnisreden Jesu I, 1888, 25–118, den „Zweck der Gleichnisreden Jesu“ ebd. I, 118–143, bes. 143–146.
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Diese Fabel ist insofern für viele Tierfabeln typisch, als sie dem Menschen die Härte des Lebens vor Augen führt. Die Frage liegt nahe: Zeigt nicht auch Jesus in seinen Gleichnissen manchmal die harten Seiten von Mensch und Gott? Oder sagt es viel über ihn, dass er fast keine Gleichnisse von Tieren erzählt? Die eine Ausnahme, das Gleichnis vom verlorenen Schaf, motiviert zur Gegensteuerung gegen die Härte des Lebens. 1.2 Gleichnisse als Glaubenslehre in jüdischen Bildern:9 P.Fiebig; D.Flusser
Gegen die Gleichnisdeutung A. Jülichers protestierte P.Fiebig (1876–1949). Nach ihm entfalten die Gleichnisse feststehende Metaphern der jüdischen Tradition und zielen keineswegs auf einen einzigen Vergleichspunkt. Seine historische These ist im Titel seiner Schrift enthalten: Die Gleichnisreden Jesu im Lichte der rabbinischen Gleichnisse des neutestamentlichen Zeitalters, 1912.10 Zu korrigieren wäre heute die Begrenzung auf das „neutestamentliche Zeitalter“, da rabbinische Schriften erst gegen Ende des 2. Jh. schriftlich fixiert wurden. Dass sie dennoch treffende Parallelen sind, zeigte später D.Flusser (1917–2000) in: Die rabbinischen Gleichnisse und der Gleichniserzähler Jesus, 1981. Ein Gleichnis aus der frühen tannaitischen Periode (1.–2. Jh. n. Chr.) enthält z. B. eine Dramatik zwischen Vater und Sohn, die dem Gleichnis vom verlorenen Sohn entspricht: „Und du kehrst zum Ewigen, deinem Gott, zurück“ [Dtn 4,30]. R. Samuel Pargerita sagte im Namen des R. Meïr [ca. 150 n. Chr.]: Womit ist diese Sache zu vergleichen? Mit einem Königssohne, der ausgeartet war, der König schickte seinen Erzieher ihm nach und ließ ihm sagen: Geh in dich, mein Sohn! Der Sohn aber ließ seinem Vater sagen: Mit welchem Gesicht kann ich zurückkehren, ich schäme mich vor dir. Darauf ließ ihm der Vater sagen: Mein Sohn, schämt sich wohl ein Sohn zu seinem Vater zurückzukehren? Wenn du zurückkehrst, kehrst du nicht zu deinem Vater zurück? Ebenso sandte Gott Jeremia zu den Israeliten, als sie gesündigt hatten. Er sprach zu ihm: Geh und sage meinen Kindern: Geht in euch! Woher lässt sich das beweisen? Aus Jeremia 3,12: „Geh und rufe diese Worte nach Norden“ u.s.w. Die Israeliten antworteten darauf dem Jeremia: Mit welchem Gesicht können wir zu Gott zurückkehren? Woher lässt sich das beweisen? Es heißt daselbst V. 25: „Wir liegen in unsrer Schande und uns deckt unsre Schmach“ u.s.w. Darauf ließ Gott ihnen sagen: Meine Kinder, wenn ihr zurückkehrt, kehrt ihr nicht zu eurem Vater zurück? Woher lässt sich das beweisen? Aus Jeremia 31,9: Ich bin Israel ein Vater.“ (Midrasch Debarim Rabba 2 [198 d] = DtnR 2 zu Dtn 4,30).11
9 G.Stemberger, Verwendung und Auslegung von Gleichnissen bei den frühen Rabbinen, in: J.Schröter u. a., Gleichnisse und Parabeln*. 2021, 73–95: C.Thoma/S.Lauer, Die Gleichnisse der Rabbinen. 4Bde, 1986–2000; L.M.Teugels, The Meshalim in the Mekhiltot: An Annotated Edition and Translation of the Parables in Mekhilta de Rabbi Yishmael and Mekhilta de Rabbi Shimon bar Yochai, 2019. 10 P.Fiebig wurde trotz seiner Kenntnisse des Judentums ein antisemitischer Nationalsozialist. Vgl. ders.: Neues Testament und Nationalsozialismus: 3 Universitäts-Vorlesungen über Führerprinzip, Rassenfrage, Kampf, 1935. 11 Nach A.Wünsche, Bibliotheca Rabbinica III, Der Midrasch Debarim Rabba, 32f, vgl. Bill. II, 216.
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Während die theologische Aussage beider Gleichnisse vergleichbar ist: Gott ist für Umkehrende ein vergebungsbereiter Vater,12 zeigt diese Parallele auch einen Unterschied: Das rabbinische Gleichnis dient der Schriftauslegung,13 die Gleichnisse Jesu illustrieren seine eigene Lehre und kommentieren Situationen seines Lebens. Abgesehen von ihrer intrinsischen Überzeugungskraft als Erzählungen erhalten rabbinische Gleichnisse ihre Autorität durch die Schrift, Jesu Gleichnisse durch ihren Autor. Dies ist wohl der Grund dafür, dass Gleichnisse in der rabbinischen Bewegung über Jahrhunderte hinweg kultiviert wurden, während sich das Urchristentum auf die Gleichnisse Jesu und deren Kommentierung konzentrierte, aber danach nur wenig neue Gleichnisse schuf. 1.3 Gleichnisse als Verkündigung Jesu: Ch.H.Dodd; J.Jeremias
Gegen Jülichers Deutung der Gleichnisse auf zeitlose Wahrheiten wandte sich ihre Deutung im Kontext des Lebens Jesu. Nach Charles Harold Dodd (1884–1974), The Parables of the Kingdom, 1935, verkündigen sie die Präsenz des Reiches Gottes in der Person Jesu als realized eschatology. Die Gleichnisse vom Schatz im Acker und von der kostbaren Perle (Mt 13,44f) sagen, dass das Reich Gottes in Jesus zugänglich ist und vor die Entscheidung stellt, das bisherige Leben aufzugeben und ihm nachzufolgen. Auch nach Joachim Jeremias (1900–1979) ist das Leben Jesu der Deutungsrahmen der Gleichnisse. Er zeigt in: Die Gleichnisse Jesu, 1947: (1) Das Bildmaterial stammt oft aus konkreten Ereignissen; das Bild vom nächtlichen Einbrecher (Mt 24,43f) nimmt auf einen tatsächlichen Einbruch Bezug. (2) Zentrum der Sachaussage ist Jesu „sich (in der Gegenwart) realisierende Eschatologie“, die wegen der Parusieverzögerung erst nachösterlich futurisch umgedeutet wurde. (3) Der erste Sitz im Leben der Gleichnisse war die Öffentlichkeit, darunter auch Gegner Jesu. Erst sekundär wurden sie in ihrem „zweiten Sitz im Leben“ in der Urkirche zu Jüngerbelehrungen. Durch Ablösung nachösterlicher Schichten in ihnen gelange man bis zum historischen Jesus. Sie seien „Urgestein der Überlieferung“ (S. 7). Ein Problem dieser Interpretationen war: Je mehr die Gleichnisse historisch kontextualisiert wurden, umso schwerer fiel es, ihre darüber hinausgehende zeitlose Bedeutung zu erkennen. Das war eines der Motive, die zu einer „metaphorischen Wende“ in der Gleichnisforschung führten. 1.4 Gleichnisse als metaphorisches Sprachereignis:14 E.Fuchs; Dan O. Via
Die metaphorische Sprache der Gleichnisse wurde in zwei Varianten zum Schlüssel ihrer Deutung auch für die Gegenwart, hermeneutisch als Wortgeschehen, ästhetisch als Kunst12 Ein noch provokanteres Gleichnis von einer untreuen Königstochter, die nach ihrer Umkehr von ihrem Vater einen doppelten Brautschatz bekam, bietet Mekhilta Deuteronomium 1,11, siehe A.Oegema/ A.Merz, Kinder als handelnde Subjekte in neutestamentlichen und rabbinischen Gleichnissen, ZNT 24 (2021) 27–43. 13 A.Goldberg, Das Schriftauslegende Gleichnis im Midrasch, in: ders., Rabbinische Texte als Gegenstand der Auslegung, 1999, 134–198. 14 K.Erlemann, Gleichnisse*, 2020, 68–75, spricht mit Recht von einer „metaphorische Wende“.
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werk. Ernst Fuchs (1903–1983), Eberhard Jüngel (1934–2021) sowie Hans Weder deuteten die Gleichnisse als Wortgeschehen, in dem Jesus die Liebe Gottes für Sünder in Anspruch nimmt und sich dadurch das Reich Gottes ereignet.15 Der Autor Jesus ist mit seiner Vollmacht in den Gleichnissen präsent und gibt ihnen durch sein Verhalten Glaubwürdigkeit, z. B. dem Gleichnis vom verlorenen Sohn durch seine Mahlgemeinschaft mit Sündern. Gleichnisse und das ihnen entsprechende Verhalten Jesu enthielten dadurch implizit eine Christologie. Hermeneutisch wird vorausgesetzt, dass die Adressaten durch das Sprachereignis der Gleichnisse so „umgeschaffen“ werden, dass sie sich für Gottes Botschaft öffnen (E.Fuchs).16 Da die Sache, von der die Gleichnisse sprechen, in den Gleichnisbildern präsent ist, sei auch die Annahme eines tertium comparationis zwischen Bild und Sache verfehlt; im Bild ereigne sich die Sache (E.Jüngel).17 Grundlage der Bildlichkeit sei nicht der Vergleich von zwei getrennten Größen, sondern die Metapher, die zwei Größen verschmilzt, vergegenwärtigt und unübersetzbar ist. Als „Poiesis“ trage Gleichnisdichtung zur Erschaffung der gemeinten Wirklichkeit bei (H.Weder).18 Parallel dazu betrachteten Dan O. Via (1929–2014) und Wolfgang Harnisch (1934–2022) die Gleichnisse als autonome ästhetische Objekte, die unabhängig von ihrer Ursprungssituation verständlich seien. Ihre ästhetische Sprache konfrontiere die Hörer mit einem neuen Existenzverständnis und fordere ihre Entscheidung.19 Bernard Brandon Scott verband den ästhetischen und historischen Ansatz: Die ursprüngliche Wirkung eines Gleichnisses könne man durch literarische Analyse mit strukturalistischen Methoden entdecken, indem man seine Tiefenstruktur aufdeckt, die aufgrund literarischer „Kompetenz“ in verschiedenen Varianten „performativ“ aktualisiert wird.20 Auch die Reaktionen der Rezipienten ließen sich bei Berücksichtigung des kulturellen Kontextes noch rekonstruieren, so dass die Gleichnisse hier erneut re-kontextualisiert wurden. Nach B.B. Scott21 vermittelt die Parabel vom barmherzigen Samariter eine unkonventionelle Botschaft. Nach dem Versagen von Priester und Levit erwarten jüdische Zuhörende einen Israeliten, der dem Bedrängten hilft und mit dem sie sich identifizieren können. Stattdessen kommt ein Erzfeind als Held und die Hörer finden sich in der Rolle des (jüdischen) Opfers wieder. Jesus enttäuscht diese Erwartungen, um zu zeigen, dass im Reich Gottes die 15 Diese theologisch ansprechende Gleichnisauslegung registriert nicht, dass kein echtes Jesuswort von der „Liebe“ Gottes zu den Menschen spricht. Jesus fordert dagegen die Liebe des Menschen zu Gott. 16 E.Fuchs, Marburger Hermeneutik, 1968, 227–248. 17 E. Jüngel, Paulus und Jesus, 1962, 51979, 87–174, bes. S. 135–142.173 f. Ders., Metaphorische Wahrheit. Erwägungen zur theologischen Relevanz der Metapher als Beitrag zur Hermeneutik einer narrativen Theologie, in: ders./P.Ricoeur, Metapher, EvTh Sonderheft (1974) 71–122. 18 H.Weder, Gleichnisse*, 1978, 1–45. 19 D.O.Via, Die Gleichnisse Jesu. Ihre literarische und existentielle Dimension, 1970; W.Harnisch, Die Gleichniserzählungen*, 1985. 20 B.B.Scott, Parable*, 1989, wandte die linguistische Unterscheidung zwischen „parole“ als Sprechakt und „langue“ als Struktur der Sprache auf die Gleichnisse an. Er wollte im Gegensatz zu J.Jeremias nicht die ipsissima verba Jesu rekonstruieren, sondern die ipsissima structura oder, wie wir heute sagen würden: „Erinnerungsmuster“, die auf Jesus zurückgehen. 21 B.B.Scott, Parable*, 1989, 189–202.
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Grenzen zwischen den Menschen aufgehoben werden. Erst heidnische Adressaten, wie Lk sie voraussetzt, konnten sich direkt mit dem Samariter identifizieren und die Parabel als Beispielgeschichte dafür lesen, was ein Nächster ist. Trotz Dominanz theologischer und ästhetischer Interessen trat so der geschichtliche Kontext der Gleichnisse wieder in den Vordergrund und damit die Sozialgeschichte. 1.5 Gleichnisse in der Sozialgeschichte: L.Schottroff, J.Kloppenborg
Martin Hengel hatte schon1969 gezeigt, dass die rebellische Stimmung unter den Winzern in Mk 12,1–12 der sozialen Realität entspricht. Jesus kritisiert mit diesem Bild die Jerusalemer Aristokraten, die ihn töten wollen.22 Nach J.S. Kloppenborg 2006 artikuliert Jesus hier soziale Kritik an der Elite: Weinbergbesitzer, die auf Privilegien und Gewalt vertrauen, verlieren am Ende alles. Eine befreiungstheologische Deutung arbeitete solch eine Kritik in den Gleichnissen Jesu heraus. Modell dafür war der Prophet Nathan, der mit dem Gleichnis vom Schaf den König David kritisierte (2Sam 12). Nach Luise Schottroff entstammt das Bildmaterial der Gleichnisse Jesus der sozioökonomischen Realität.23 Die Intensität der Sorge Gottes um die Menschen wird z. B. in Lk 15,8–10 erst erkannt, wenn der große Wert einer Drachme für eine Lohnarbeiterin berücksichtigt wird. Gleichnisbilder lehren uns, gesellschaftlicher Verhältnisse neu zu sehen. Wenn Jesus Gottes Güte im Bild eines Arbeitgebers darstellt, der auch Kurzarbeitern den vollen Lohn zahlt, kritisiert er die Arbeitswelt seiner Zeit. Kontext seiner Gleichnisse ist die Jesusbewegung als Befreiungsbewegung innerhalb der Pax Romana. L.Schottroff fasst ihre Gleichnisdeutung dadurch zusammen, dass der Lebens- und Erfahrungszusammenhang der Gleichniserzählungen zeige: Hier ist tatsächlich von Arbeitslosigkeit und Lohndrückerei die Rede (Mt 20,1–16). Gott wird nicht gleichgesetzt mit dem Arbeitsherrn. Gott ist anders. … Bei Gott geht es um Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Vertrauen (Mt 23,23).24
Die theologische Prämisse von L.Schottroff ist: Gott ist Gerechtigkeit, Bilder von ungerechten Herren können nicht von ihm handeln. Das aber ist historisch nicht plausibel, da z. B. die rabbinischen Gleichnisse viele Beispiele für harte Gottesmetaphern bieten. Auch in Jesusgleichnissen wird oft eine dunkle Seite Gottes angesprochen: Das Gleichnis von der bitten22 M.Hengel, Das Gleichnis von den Weingärtnern Mc 12,1–12 im Lichte der Zenonpapyri und der rabbinischen Gleichnisse, ZNW 59 (1968) 1–39; grundlegend ist: J.S.Kloppenborg, The Tenants in the Vineyard: Ideology, Economics, and Agrarian Conflict in Jewish Palestine, 2006. 23 L.Schottroff, Die Gleichnisse Jesu, 2005. Eine vergleichbare sozialgeschichtliche Auslegung findet sich bei J.S.Kloppenborg (s. vorige Anm.); W.R.Herzog, Parables as Subversive Speech. Jesus as Pedagogue of the Oppressed, 1994; S.Lampe-Densky, Gottesreich und antike Arbeitswelten: Sozialgeschichtliche Auslegung neutestamentlicher Gleichnisse, 2012; E.van Eck, The Parables of Jesus the Galilean. Stories of a Social Prophet, 2016. 24 Aus einem Statement von L.Schottroff vom 5. Juli 2014 zu ihrem 80. Geburtstag. marlene-und-frankcruesemann-gleichnistheorie-2014(1).pdf (Zugriff 13.3.22).
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den Witwe fordert auf, mit Gott zu hadern (Lk 18,1–8). Möglicherweise faszinieren manche Jesusgleichnisse gerade deshalb, weil sie Gottes dunkle Seiten nicht verdrängen, sondern in Bildern indirekt zum Ausdruck bringen. Auch deshalb ist der Blick auf rabbinische Gleichnisse so wichtig. 1.6 Gleichnisse als didaktische Poesie des Judentums: C.Hezser, E.Ottenheijm, A.Oegema, M.Stoutjesdijk
Der sozialgeschichtliche Kontext der Gleichnisse Jesu ist das Judentum des 1. Jh. n. Chr. Die nächsten Analogien sind rabbinische Gleichnisse, die auf eine populäre Form mündlicher religiöser Unterweisung zurückgehen. Catherine Hezser, Lohnmetaphorik und Arbeitswelt in Mt 20,1–16. Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg im Rahmen rabbinischer Lohngleichnisse, 1990, zeigte: (1) Jesusgleichnisse teilen mit jüdischen Gleichnissen dieselben Bild- und Motivfelder. Dabei setzt Jesus in Mt 20,1–16 durch die Verknüpfung der vertikal von oben kommenden Güte Gottes gegenüber den Menschen mit der horizontalen Solidarität zwischen ihnen einen eigenen Akzent. (2) Ad hoc komponierte Gleichnisse gehörten zum Repertoire von Predigern und Lehrern, unabhängig davon, ob sie wie Jesus herumzogen oder wie Rabbinen an einem festen Ort lehrten. Ihr Sitz im Leben war in beiden Fällen die Lehre. (3) Da Gleichnisse fast nur in Evangelien und rabbinischen Schriften begegnen, handelt es sich literarisch um eine neu entstandene Gattung, in der sich jüdische Weisheit, griechische Fabeln und hellenistische Diatribe verbunden haben. (4) Ihre Redaktion ist von der Tradition zu unterscheiden: Jesu Gleichnisse wurden redaktionell an aktuelle Gemeindebedürfnisse angepasst, die Rabbinen stellten sie in den Dienst der Thoraauslegung. Die wechselseitige Erhellung von Jesusgleichnissen und rabbinischen Parabeln wurde in einem von Eric Ottenheijm geleiteten niederländischen Forschungsprojekt systematisch untersucht. Er betrachtet die frühjüdischen Parabeln in den rabbinischen Schriften und dem Neuen Testament als „Ökotyp“ innerhalb einer umfassenden literarischen Gruppe antiker Gleichnisse und Fabeln, die durch „Familienähnlichkeit“ verbunden sind:25 An ecotype is a tale type that is typical for and reflective of a cultural and geographical context, presupposing an already existing literary type made fit to suit local or regional needs. An ecotype preserves the fluidity of tradition and serves a sense of identity for its bearers. Seen in this perspective, both the parables of Jesus and those of the rabbis reflect an early Jewish subdomain of the type of the parables of which the Greek fable is another representation.26
25 Die folkloristische Kategorie des „Ökotyps“ geht auf Carl von Sydow (1878–1952) zurück. Vgl. G.Hasan- Rokem, Ecotypes: Theory of the Lived and Narrated Experience, Narrative Culture 3 (2016) 111–113. 26 E.Ottenheijm, Sorting out ‚New and Old‘ (Matt 13:52) as Changing Money: Rabbinic and Synoptic Parables on Scriptural Knowledge, in A.Merz/E. Ottenheijm/M.Poorthuis (ed.), The Power of Parables (erscheint 2023).
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Unter den rabbinischen Gleichnissen wurden exemplarisch Erzählungen von Vater und Sohn sowie von Herrn und Sklaven untersucht, die man mit entsprechenden neutestamentlichen Gleichnissen vergleichen kann: Nach Albertina Oegema27 spiegeln Vater-Sohn-Gleichnisse nicht die soziale Realität, sondern vermischen durch blending Bilder und Realität in einer eigenen Welt, ohne autonome Kunstwerke zu sein. Sie sind vielmehr Zeugnisse der rabbinischen Bewegung und ihrer Streitkultur. Wenn z. B. der König zwei Söhne beauftragt, ihn zu verschiedenen Zeiten zu wecken, beide darüber in Streit geraten, weil sie seinem Wunsch entsprechen, so ist das eine Aufforderung zur Toleranz. Denn Gott selbst gibt beiden Parteien Recht. Nach Martijn J.Stoutjesdijk28 bezeugen solche rabbinischen Vater-SohnGleichnisse Gottes Liebe, Sklavengleichnisse dagegen seine Forderung nach Gehorsam. Dabei begegnen sowohl in rabbinischen wie in neutestamentlichen Gleichnissen ein Rollentausch zwischen Herrn und Sklaven (Lk 12,35–40) und „hidden transcripts“ wie im Gleichnis von der protestierenden Witwe, in denen Gott kritisiert wird (Lk 18,1–8). A.Oegema und J.Stoutjesdijk zeigen ferner zusammen mit anderen, dass antike Fabeln, Gleichnisse Jesu und rabbinische Parabeln viele „Familienähnlichkeiten“ aufweisen. Dichotomien zwischen antiken Fabeln und neutestamentlichen Gleichnissen wurden dadurch fragwürdig und müssen neu bestimmt werden.29 Wenn die Gleichnisse Jesu so in die allgemeine antike Überlieferung eingebettet werden, stellt sich umso mehr die Frage: Erkennen wir in ihnen die Spuren des historischen Jesus? Das wurde umstritten. 1.7 Gleichnisse als Jesuserinnerung
Für R.Zimmermann sind die Gleichnisse nicht Zeugnisse des historischen Jesus, sondern „Medien der Jesuserinnerung“, die Suche nach authentischen Jesusgleichnissen sei sogar „im Ansatz verfehlt“ (in: Kompendium der Gleichnisse Jesu, 2007, S. 46 und S. 4). Doch ist die Frage nach dem Autor unvermeidlich. Texte desselben Autors erhellen sich gegenseitig; ihr geschichtlicher Kontext lässt sich so besser bestimmen. J.P.Meier hielt 201630 daher mit Recht an der Suche nach dem Autor fest, freilich mit enttäuschendem Ergebnis. Er fand nur vier authentische Jesusgleichnisse, die seinem Kriterium der Mehrfachüberlieferung entsprechen: das Gleichnis vom Senfkorn, von den bösen Winzern, den Talenten und vom großen Abendmahl. In den Sondergutgleichnissen des Mt- und LkEv sei die Handschrift der jeweiligen Evangelisten so deutlich, dass sie nicht auf Jesus zurückgehen könnten. Richtig ist: Bei vielen Gleichnissen können wir ihre Authentizität nicht durch Mehrfachbezeugung belegen, sondern müssen in mehrfach realisierten Gattungsstrukturen nach Erinnerungsmustern des historischen Jesus suchen. 27 A.Oegema, Negotiating Paternal Authority and filial Agency. Fathers and Sons in Early Rabbinic Parables, Diss. Utrecht 2021, S. 343–362 zu Mekh R Ishm Beshallah 6:8–22/Mekh R Shim Yoh 14:22. 28 M.J.Stoutjesdijk, ‚Not Like the Rest of the Slaves‘? Slavery Parables in Early Rabbinic and Early Christian Literature, Diss. Tilburg 2021. 29 A.Oegema/J.Pater/M.Stoutjesdijk (ed.), Overcoming Dichotomies*, 2022. 30 J.P.Meier, A Marginal Jew*, 5, 2016.
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Doch wurden auch diese Gattungsstrukturen von R.Zimmermann in Frage gestellt. Wenn in der Forschung dieselben Texte verschiedenen Untergattungen zugeordnet wurden, beweise das, dass deren Abgrenzung nicht möglich sei. Die alttestamentlich-jüdische Tradition kenne ohnehin für alle Formen nur den einen Begriff maschal.31 Es gebe daher nur Parabeln, aber keine klar abgrenzbaren Untergattungen. Freilich werden gerade die alttestamentlichen Vorläufer neutestamentlicher Gleichnisse nicht meschalim genannt (vgl. Ri 9,7–15; 2Sam 12,1– 12; Jes 5,1–7), manche Sprüche ohne Bildlichkeit dagegen meschalim (z. B. 1Sam 24,14). Wenn in der Jesusüberlieferung der entsprechende griechische Begriff „Gleichnis“ (parabolē) neben solchen kurzen Sprüchen auch erzählerisch entfaltete Geschichten bezeichnet, weist das auf eine Veränderung der Gattungsgrenzen. Entscheidend aber ist: Die Untergattungen der Gleichnisse sind in kognitiven Strukturen gut fundiert:32 „Besprechende Gleichnisse“ oder Gleichnisse i. e.S. entsprechen unserem semantischen Gedächtnis für wiederkehrende Ereignisse wie Saat und Ernte, „erzählende Gleichnisse“ oder Parabeln unserem episodalen Gedächtnis für singuläre Ereignisse wie die ungewöhnliche gleiche Bezahlung ungleicher Arbeit.33 Literarisch stellen Grenzüberschreitungen zwischen semantischen und episodalen Strukturen die Pointe heraus: Was als Aufbruch in die Nachfolge Jesu exzeptionell ist, wird in kurzen besprechenden Gleichnissen als normal dargestellt, einmalige Episoden werden so geschildert, als gehörten sie zum semantischen Gedächtnis. Der „Schatz im Acker“ (Mt 13,44) ist formal ein besprechendes Gleichnis, inhaltlich aber eine Parabel, die Außergewöhnliches erzählt, auch wenn der Wunsch nach dem „großen Los“ bis in die Gegenwart zu den ganz normalen menschlichen Träumen gehört. Aber es ist ein Traum. In der Nachfolge Jesu geht er in Erfüllung. Nachfolge ist das „große Los“.34 Gleichnisse setzen gerade dadurch, dass sie Sachen, Artefakten, Pflanzen, Tieren und Personen vermischen, Grenzen zwischen ihnen voraus, wenn z. B. ein Schaf zum Bild für einen Menschen wird. Beispielgeschichten bleiben dagegen innerhalb desselben Wirklichkeitsbereich, wenn der Samariter zum Vorbild anderer Menschen wird. Mag er auch paradox gegen Erwartungen handeln, so verletzt er doch keine Grenzen zwischen Seinsbereichen. Übertragen wir dagegen Bilder von Menschen auf Gott, entstehen durch Überschreitung von Wirklichkeitsgrenzen kontraintuitive Bilder: Denn Gott ist kein Schafhirt, kein säender Bauer, kein Arbeitgeber, Sklavenhalter oder Hausherr. Gott ist anders als jede menschliche Person. Manche Gleichnisse Jesu stellen in Bildern verborgen sogar sehr befremdende Sei31 R.Zimmermann, Parabeln – sonst nichts! Gattungsbestimmung jenseits der Klassifikation in „Bildwort“, „Gleichnis“, „Parabel“ und „Beispielerzählung“ in: ders. (ed.), Hermeneutik der Gleichnisse Jesu: Methodische Neuansätze zum Verstehen urchristlicher Parabeltexte, 2008, 385–419, S. 416 f. 32 Vgl. G.Theissen, Genres of Parables: A Cognitive Approach, in: A.Merz/E.Ottenheijm/M.Poorthuis (ed.), Power*, erscheint 2023. 33 K.Erlemann, Art. Gleichnisse (NT), WiBiLex 2009, unterscheidet Gleichnisse i. e.S. als „besprechende Gleichnisse“ von Parabeln als „erzählende Gleichnissen“. 34 C.Hezser, Finding a Treasure. The Treasure Motif in Jewish, Christian, and Graeco-Roman Narratives in the Context of Rabbinic Halakhah and Roman Law, in: A.Oegema/J.Pater/M.Stoutjesdijk (ed.), Overcoming Dichotomies*, 2022, 295–325.
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ten Gottes dar, warum manche in urchristlichen Schriften nur zögernd rezipiert wurden. Dass man Gott mit einem ungerechten Richter vergleichen kann, ist anstößig. Kein Wunder ist, dass dieses Gleichnis nur einmal in Lk 18,1–8 überliefert wurde Der kognitiv vertiefte erinnerungshistorische Ansatz fragt nicht nur nach der Überlieferung der Gleichnisse, sondern auch nach ihrem Ursprung: Sofern wir in Gattungsstrukturen allgemeine Erinnerungsmuster erkennen, die auf Jesus zurückgehen, bleibt zwar offen, ob bestimmte Gleichnisse von ihm stammen oder nach seinen Mustern gestaltet wurden. Die Muster aber gehen auf Jesus zurück. Dasselbe gilt von individuellen Erinnerungsspuren Jesu, die zu dem passen, was wir sonst vom historischen Jesus wissen. Unsere These ist: Sowohl allgemeine Erinnerungsmuster als auch einzelne Erinnerungsspuren zeigen, dass die Gleichnisse wirkungsauthentisch sind. Sie wären ohne Jesus nicht entstanden. Er hat innerhalb des jüdischen Ökotyps der Gleichnisse den urchristlichen „Typ“ der Gleichnisse geprägt. Das zeigt sich in ihrer Formensprache.
2. Formen und Gattungen bildlicher Rede Die Synoptiker bezeichnen alle Formen bildlicher Rede, auch Sprichwörter und Bildworte, als „Parabeln“ (parabolai) (Lk 4,23; 6,39). Sie gelten als typische Redeform Jesu: „Ohne Gleichnis redete er nicht zu ihnen, aber wenn sie allein waren, legte er alles seinen Jüngern aus“ (Mk 4,34).35 Erkennbar sind verschiedene Gattungen. 2.1 Vergleich und Bildwort
Nach A.Jülicher waren Vergleiche und Bildworte Vorstufen der Gleichnisse.36 Der Vergleich verbindet Bild und Sache durch Vergleichspartikel: „Seid klug wie die Schlangen und arglos wie die Tauben“ (Mt 10,16b), das im Bildwort fehlt: „Wo das Aas ist, da sammeln sich die Adler“ (Mt 24,28). Bildworte basieren auf Metaphern, die oft als verkürzte Vergleiche betrachtet werden. Wenn Herodes ein „Fuchs“ ist (Lk 13,32), sagt das Bild: Herodes verhält sich wie ein Fuchs. Danach wäre der kognitive Vergleich zwischen Bild und Sache ursprünglich, ihre Verschmelzung zur Metapher sekundär. Eine andere Auffassung aber sagt: Metaphern haben von vornherein eine ästhetische Transparenz für den Bildempfänger: Im Fuchs sieht man unmittelbar den listigen Menschen, der Vergleich ist nur eine sekundäre Rationalisierung dieser Bildbeziehung. Die bildempfangende „Sache“ zeigt sich gewissermaßen im Bildspender – ästhetisch wie in einem Kunstwerk. Offenbarungstheologie bevorzugt diese ästhetische Auffassung metaphorischer Sprache und hält sie für unübersetzbar, Erfahrungstheo35 Das JohEv spricht von Jesu „Rätselrede“ (paroimia) (Joh 10,6; 16,25.29). Moderne Exegese neigt zwar dazu, Gleichnisse als allgemein verständliche Redeform Jesu zu verstehen, die erst nachträglich zur Rätselrede wurde. Möglich ist aber, dass in manchen Gleichnissen provozierende Einsichten verborgen waren, die erst allmählich bewusst wurden. Dann waren sie schon immer eine Art Rätselrede. 36 Vgl. R.Bultmann, Geschichte der synoptischen Tradition, 1921, 181 ff.
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logie deutet sie eher als Ergebnis kognitiver Akte des Menschen und bemüht sich darum, sie zu übersetzen. Religiöse Metaphern basieren aber auf beidem: auf der ästhetisch wahrgenommenen Offenbarung und der kognitiv gedeuteten Welt.37 P.Ricœurs Formel für religiöse Sprache: „Das Symbol gibt zu denken“, verbindet beide Ansätze. Das Bild ist ein Impuls für Gedanken, wird aber nie vollständig in Gedanken übersetzt. 2.2 Rollenbilder und Beispielerzählung38
Im „Gleichnis“ von den spielenden Kindern sind die Kinder ein Modell dafür, wie sich Erwachsene zum Täufer und zu Jesus verhalten. Kinder werden hier zu Rollenbildern für Erwachsene, die sich kindisch verhalten. Deswegen wird das Bild als „Vergleich“ eingeführt: „Mit wem soll ich dieses Geschlecht vergleichen?“ (QLk 7,31). Es ist das einzige Gleichnis, das in seiner Einleitung expressis verbis das Bild auf Menschen bezieht. Die Logienquelle unterscheidet davon Gleichnisse, die sich auf Gott beziehen, wenn sie die Gleichnisse vom Senfkorn und Sauerteig mit der Frage einleitet: „Wem ist das Königreich Gottes vergleichbar?“ (QLk 13,8 f.20f). Viele Gleichnisse im NT handeln vom Königreich Gottes, aber nur ein einziges von „diesem Geschlecht“ der Menschen. Es liegt dennoch nahe, dieser ersten Einleitungsform eine Gruppe von Texten zuzuordnen, in denen soziale Rollen zu Bildern menschlichen Verhaltens geworden sind. Das Bild vom Menschen, der sein Haus auf Fels gebaut hat, meint, alle, die Jesu Wort hören und tun (QLk 6,47–49). Das Bild vom Menschen, der sich auf dem Weg zum Gericht mit seinem Gegner versöhnt, mahnt alle Menschen zur Versöhnung, auch wenn sie ihren Streit nicht vor Gericht austragen (QLk 12,58f). Das Bild vom blinden Blindenführer warnt vor Menschen, die in die Irre führen – auch wenn sie nicht blind sind (QLk 6,39). Ein verständiger Mensch erntet mit seiner Sichel die Frucht, wenn sie reif ist. Das Bild zielt nicht nur auf Bauern, sondern auf alle Menschen (ThEv 21). Besonders interessant sind die Fälle, wo Jesus durch Rollenbilder charakterisiert wird: Er wirkt als Arzt, wenn er mit Zöllnern und Sündern speist (Mk 2,17), als Bräutigam, in dessen Gegenwart Fasten unmöglich ist (Mk 2,19), als Hirte, der sich der Schafe erbarmt (Mk 6,34 vgl. auch Joh 10,11–13). Aber er wird auch mit negativen Rollenbildern beschrieben: Er ist ein Räuber, der als „Starker“ ein Haus plündert (Mk 3,27), ein Brandstifter, der Feuer in die Welt wirft (ThEv 10 vgl. Lk 12,49), ein Attentäter, der einen Mächtigen tötet (ThEv 98). Hat man einmal erkannt, dass Jesus in diesen Rollenbildern in einer Weise gedeutet wird, die ihn zwar als Menschen betrachtet, aber ihm eine besondere Rolle zuschreibt, wird man darauf aufmerksam, dass man hier vielleicht einem Selbstverständnis Jesu begegnet, das nicht durch nachösterliche Verklärung bestimmt ist. Rollenbilder und die gemeinte Person gehören zur gleichen Gattung Mensch, aber zwischen Bräutigam, Hirten, Räuber, Attentäter und 37 G.Theissen, Religious Experience. Experience of Transparency and Resonance, in: Experience in a New Key, Open Philosophy 2 (2019) 679–699; https://doi.org/10.1515/opphil-2019–0051. 38 Die von A.Jülicher eingeführte lk Sondergattung der „Beispielgeschichten“ wird z. B. von W.Harnisch, Gleichniserzählungen*, 1985, 84ff, abgelehnt.
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Jesus bestehen klar erkennbare Unterschiede. Alle Rollenbilder enthalten eine Distanz zwischen Bild- und Sachhälfte. Von ihnen lassen sich narrativ entfaltete Beispielerzählungen unterscheiden, die eine Generalisierung fordern: Vom positiven Vorbild des barmherzigen Samariters soll man auf alle Menschen schließen, vom abschreckenden Modell des reichen Kornbauern auf alle reichen Menschen. Sie zeigen Allgemeines am konkreten Beispiel. Daher kann am Ende die Aufforderung stehen: „Geh hin und tu desgleichen“ (Lk 10,37). Dazu könnte man bei den oben angeführten Bildern nicht auffordern. Weder fordert das Bild von Jesus als Bräutigam zur Heirat auf noch das Bild vom Attentäter zur Rebellion. Beispielerzählungen finden sich nur im LkEv, die Erzählung vom guten Samariter (10,29–37), vom reichen Kornbauern (12,16–21), vom armen Lazarus (16,19–31) und von Pharisäer und Zöllner (18,9–14). Interessant sind auch hier Gattungsmischungen: Das Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15,11–32) ist eine Beispielerzählung: Alle Menschen sollen sich gegenüber gescheiterten Mitmenschen so barmherzig verhalten wie der Vater gegenüber seinem Sohn. Weil der Vater aber auch ein Bild für Gott ist, hat die Erzählung darüber hinaus eine bildliche Bedeutung als Parabel: Gott ist kein Mensch, aber Vorbild für Menschen, die barmherzig sein sollen. Gerade diese Doppelbedeutung des Vaters als Gott und als Mensch lässt die Pointe umso besser erkennen: Menschen empfangen Gottes Barmherzigkeit, wenn sie umkehren, und sollen sie aktiv gegenüber umkehrenden Menschen üben.39 Was aber unterscheidet solch eine Parabel von einem Gleichnis (im engeren Sinn)? 2.3 Gleichnis und Parabel
„Besprechende Gleichnisse“ schildern (meist) im Präsens ein wiederkehrendes Geschehen wie im Gleichnis vom Senfkorn (Mk 4,30–32). „Erzählende Gleichnisse“ oder Parabeln berichten dagegen im Aorist von einem ungewöhnlichen Einzelfall, der frei erfunden sein kann, aber realistisch wirkt. Oft argumentieren erzählende Gleichnisse gegen einen Konsens. Sie wollen Einstellung und Verhalten verändern. Der Übergang zwischen beiden Formen ist fließend. So begegnet im Gleichnis vom Sämann ein wiederkehrendes Geschehen in Form einer Erzählung im Präteritum (Mk 4,3–9), Jülicher rechnete dieses Gleichnis zu den Parabeln, Bultmann zu den Gleichnissen im engeren Sinn. Aber gerade diese Vermischung der Formen enthält die Pointe: Das besprechende Gleichnis öffnet die Augen dafür, im Alltäglichen Außergewöhnliches zu entdecken. Niemand merkt, wie viel bei einer Aussaat verloren geht, doch darf man sich durch solche Verluste nicht entmutigen lassen (Mk 4,3– 9). Indem das Gleichnis im Alltäglichen etwas Außergewöhnliches sichtbar macht, gewinnt es Züge einer Parabel. Oft wird dabei eine provokative Erkenntnis überhört: Dass viele Samenkörner verloren gehen, ist der Preis für den Erfolg der Wenigen. In der Parabel vom verlorenen Schaf (Lk 15,3–7) berührt uns das Schicksal des einen verlorenen Schafes mehr 39 Dieselbe doppelte Bedeutung findet M.A.Beavis, Parable and Fable* (1990) 490, bei der Beispielerzählung vom reichen Kornbauern und einer Fabel von einem jungen Spieler, die als exempla gelesen werden können, aber gleichzeitig für eine metaphorische Deutung auf die conditio humana offen sind.
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als das Schicksal der vielen verlorenen Saatkörner. Wir überhören aber, dass 99 Schafe zeitweise ohne Hirten sind. Für viele Schafe war es eine Parabel vom verlorenen Hirten. 2.4 Gleichnis und Allegorie
Seit A.Jülicher unterscheidet man Gleichnis und Allegorie durch fünf Punkte (in: Gleichnisreden, I, 25–118). Auch hier sind grenzüberschreitende Motive wichtig. Gleichnis
Allegorie
1. Es gibt ein tertium comparationis zwischen Bild- und Sachhälfte (one-point-approach).
1. Es gibt viele Vergleichspunkte zwischen Bildern und Sachhälfte (vgl. Mk 4,13–20).
2. Das Gleichnis entsteht aus dem Vergleich, der Bild und Sache durch ‚wie‘ verbindet.
2. Die Allegorie entsteht aus Metaphernketten, bei denen jedes Glied übersetzt wird.
3. Die verwendeten Bilder sind realistisch und entsprechen alltäglicher Erfahrung.
3. Die verwendeten Bilder sind künstlich wie das Tier mit sieben Hörnern in Dan 7.
4. Die Sachaussage ist allgemein verständlich, das Bild dient der Anschaulichkeit.
4. Der Inhalt ist nur Eingeweihten mit einem „Schlüssel“ zum Verstehen zugänglich.
5. Die Gleichnisse wenden sich beim historischen Jesus an alle Menschen.
5. Urgemeinde und Kirche deuten Gleichnisse als Allegorien für Eingeweihte.
In der Diskussion nach A.Jülicher setzten sich Zweifel an seinem one-point-approach durch, da es in Gleichnissen bedeutsame Einzelzüge gibt, ohne dass sie zu geheimnisvollen Allegorien werden: 1. Stehende Metaphern sind allen Hörern vertraut: Ein „König“ wurde als Bild für Gott verstanden, der „Weinberg“ als Metapher für Israel. Bei solchen stehenden Metaphern wird der Bildgehalt manchmal nur undeutlich wahrgenommen. Aber sie können immer wieder in neuen Kontexten re-metaphorisiert werden. 2. Ungewöhnliche Züge (oder Extravaganzen40) wie die Absage aller Gäste (Lk 14,16–24 par.) weisen auf eine besondere Aussageabsicht.41 3. Verschränkungen zwischen Gleichniswelt und Hörerrealität werden sichtbar, wo „Protest“ gegen die Gleichnisaussage im Gleichnis vorweggenommen wird wie beim Murren der Arbeiter, die einen ganzen Tag gearbeitet hatten (Mt 20,11f).42
40 Den Begriff Extravaganz führte P.Ricœur, Stellung und Funktion der Metapher in der biblischen Sprache, in: ders./Jüngel, Eberhard (Hg.), Metapher, EvTh Sonderheft (1974) 45–70, ein. Freilich lehrt die Forschungsgeschichte, dass oft aufgrund kultureller Distanz nicht eindeutig festzustellen ist, ob ein bestimmter Erzählzug extravagant ist. 41 I.K.Madsen, Zur Erklärung der evangelischen Parabeln (1929), in: W.Harnisch, Gleichnisse Jesu, 1982, 102–115. 42 Das Konzept der „Verschränkungen“ geht zurück auf E.Linnemann, Gleichnisse*, 1961.
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Jesus als Dichter: Die Gleichnisse Jesu
Aufgrund solcher bedeutsamer Einzelzüge wurde die Unterscheidung von Allegorie und Gleichnis neu bestimmt: Eine Allegorie besteht aus einer Kette „bedeutsamer Einzelzüge“, die auf der Bildebene keinen kohärenten Zusammenhang bilden, wohl aber auf der Sachebene. Gleichnisbilder formen dagegen ein kohärentes Ganzes und haben nur eine einzige Pointe, enthalten aber daneben bedeutsame Einzelzüge, die das Bild als geschlossene Einheit nicht in Frage stellen. Den Unterschied kann man wie folgt darstellen (nach H.Weder, Gleichnisse*, 71): S = Sache B = Bild E = Einzelzug + = kohärente Verknüpfung B
B
E1 + E2 + E3 + E4 + E5
E1 E2 E3 E4 E5
S1
S1 + S2 + S3 + S4 + S5
S
S2 Gleichnis
Allegorie
Die Aufwertung bedeutsamer Einzelzüge ist eine Rehabilitierung allegorischer Texte, die im NT in drei Formen vorkommen:43 1. Allegorien sind von vornherein als Allegorien konzipiert. Manchmal wird das Gleichnis von den bösen Weingärtnern (Mk 12,1–12) als Allegorie verstanden. Allegorien begegnen jedoch vor allem in der Briefliteratur des NT, etwa im „Ölbaumbild“ in Röm 11,16–24 und in der Apokalypse des Johannes. Sie werden durch Deutung entschlüsselt. Vor allem Allegorien haben im Urchristentum ein Nachleben z. B. im Hirten des Hermas. 2. Allegorisierungen sind sekundäre Bearbeitungen nicht-allegorischer Texte. Sie nehmen im MtEv zu, wenn z. B. beim Gleichnis vom Hochzeitsmahl der erzürnte König eine Stadt zerstören lässt – ein Bild für die Zerstörung Jerusalems 70 n. Chr. (Mt 22,7). 3. Allegoresen sind allegorische Auslegungen von Texten, die nicht allegorisch sind. Sie finden sich zwei Mal in den Evangelien als Deutung von Wachstumsgleichnissen auf die Gemeinde. Durch das Modell von Mk 4,13–20 wurden Allegoresen zur verbreiteten Form der Gleichnisinterpretation.
Allegorische Texte sind keine minderwertigen Sprachformen. Wenn man mit Grenzüberschreitungen zwischen den Gattungen rechnet, kommt man auch zu einer neuen Einschätzung der Allegoresen im NT. Sie finden sich zwar nur bei zwei Wachstumsgleichnissen, füllen dabei aber eine Lücke im traditionellen Bildfeld der Vegetationsmetaphern aus und bringen eine wichtige Erkenntnis zum Ausdruck: 43 H.J.Klauck, Allegorie und Allegorese in synoptischen Gleichnissen, 1978. K.Erlemann, Allegorie, Allegorese, Allegorisierung, in: R.Zimmermann, Hermeneutik*, 2008, 482–493.
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Dritter Teil: Das Wirken und die Verkündigung Jesu
Bildfeld der Vegetationsmetaphorik Baum und Frucht
Saat und Ernte
Gerichtsbilder
Ein Baum mit Frucht wird gerettet, ohne Frucht vernichtet. (Mt 3,10)
Weizen wird gerettet, Spreu vernichtet. (Mt 3,12)
Entsprechungsbilder
Ein guter Baum bringt gute Frucht hervor, ein schlechter Baum schlechte Früchte. (Mt 7,16–20; 12,33–37)
Gute Erde bringt gute Ernte, schlechte Erde bringt schlechte Ernte hervor. (Mk 4,3–9)
Ankündigungsbilder
Das Knospen des Feigenbaums kündigt den Sommer an. (Mk 13,28f)
Der kleine Samen wird zur großen Staude. (Mk 4,30–32)
Gemeinschaftsbilder
Die Zweige des Weinstocks gehören zum Weinstock, Zweige ohne Frucht werden entfernt. (Joh 15,1–8)
Saat und Ernte werden auf eine differenzierte Gemeinschaft gedeutet: Mk 4,13ff: Der vierfache Acker; Mt 13,36ff: Unkraut und Weizen
Vergänglichkeitsbilder
Dieser Bildkomplex fehlt im NT, nicht aber im AT.
Die Vergänglichkeit des Grases. (Jak 1,10f)
Saat und Ernte waren vor Jesus in der jüdischen Tradition kein Bild für eine Gemeinschaft. Das Volk Israel wurde als Baum dargestellt, der über die Jahre hinweg derselbe bleibt, während die Generationen wie Blätter und Früchte wechseln. Saat und Ernte umfassen dagegen nur ein Jahr. Sie eignen sich nicht als Bilder für eine Generationen überdauernde Gemeinschaft. Nur in einer Zeit der Naherwartung konnten sie zum Gemeinschaftsbild werden. Erst die Gewissheit, die Welt verändert sich jetzt, führte zur Entstehung einer neuen Gemeinschaft. Da diese soziale Deutung des Saat-Ernte-Bildes im Bildfeld der Vegetationsbilder neu war, mussten diese Gleichnisse durch Allegoresen erklärt werden (P.v.Gemünden).44 Wenn damit eine Bildfeldlücke ausgefüllt wird, müssen wir damit rechnen, dass diese Innovation von Jesus selbst angeregt wurde – nicht als allegorisierende Geheimlehre, sondern als verständliche Anwendung des Gleichnisses. Erst das Urchristentum machte daraus eine Geheimlehre. Wir fassen die Unterschiede der Untergattungen der Gleichnisse in einer Darstellung zusammen.45 Dabei unterscheiden wir die Gleichnisse nach der Zu- und Abnahme von Bildlichkeit und ihrer Beziehung auf ein „allgemeines“ oder „besonderes Geschehen“. Bei sol44 Nach P.v.Gemünden, Vegetationsmetaphorik*, 1993, 415 f. deren Bildfeldanalyse Erkenntnisse der „blending theory“ avant la lettre anwandte: Durch metaphorische Verschmelzung von zwei Bereichen entsteht ein „blended space“, der neue Elemente und Einsichten integrieren kann. 45 Diese Darstellung folgt G.Sellin, Allegorie und Gleichnis, ZThK 75 (1978) 281–335 = W.Harnisch (Hg.), Gleichnisforschung*, 1982, 367–420. Er unterscheidet jedoch Sentenzen und Beispielerzählungen. Sinnvoll ist es aber nur, Sentenzen mit Bildern von Beispielerzählungen zu unterscheiden, vor allem metaphorische Rollenbilder von direkten Vorbildern.
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Jesus als Dichter: Die Gleichnisse Jesu
chen Gattungseinteilungen ist wichtig, dass die Unterschiede klar definiert werden, aber zu dem Zweck, die Realität differenziert beschreiben zu können: Die Aussagen von Gleichnissen treten oft klarer hervor, wenn man in ihnen Übergänge und Gattungsmischungen erkennt. Ohne klare Unterscheidungen von Gattungen aber kann man weder Übergänge noch Vermischungen erkennen. Allegorie = Rätselhafte Bilderkette, die erst durch die gemeinte Sache verständlich wird
Gleichnis
Tendenz: Zunahme der Bildlichkeit
Parabel
Metapher
allgemeines Geschehen
Aussage Erzählung
besonderes Ereignis
Exempel
Rollenbild
Tendenz: Abnahme der Bildlichkeit
Beispielerzählung
Sachprosa in verschiedenen Gattungen
Wichtig bei dieser Einteilung von Untergattungen ist, dass es Übergänge und Mischformen gibt. Gerade dadurch entstehen besondere Pointen: Im alltäglichen Geschehen wird etwas Besonderes entdeckt, im Außergewöhnlichen ein normales Geschehen.
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Dritter Teil: Das Wirken und die Verkündigung Jesu
3. Gleichnisse als Erzählungen Gleichnisse sind narrativ entfaltete Metaphern durch Aktivierung von Bildfeldern. Zum Bildfeld des „Königs“ gehören Sklaven und Freie, Besitz und Macht, Gehorsam und Rebellion. Alle Oppositionen können in erzählerische Spannung umgesetzt werden.46 Als Bild signal dienen semantische Spannungen mit dem Kontext, entweder Einleitungen, die ein Gleichnis ankündigen, oder nachfolgende Auslegungen. Sie ermöglichen oft mehrere Deutungen: „Die Erzählung spricht nach den Deutungen, die man dem Gleichnis gegeben hat, weiter“ (C.Westermann).47 3.1 Der Gleichnisanfang
Zu unterscheiden sind bei Gleichniseinleitungen Erzählanfang, Vergleichs- und Dialoganfang. Der Erzählanfang beginnt ohne Bildsignal im Nominativ, weswegen er auch Nominativanfang genannt wird: „Hört! Siehe ein Sämann ging aus zu säen“ (Mk 4,3). Dass bildliche Rede vorliegt, signalisiert die allgemeine Einleitung: „Er lehrte sie in Gleichnissen“ (4,2) und wird durch die nachfolgende Gleichnisdeutung bestätigt (4,10–12). Der Vergleichsanfang oder Dativanfang lautet dagegen: „Die Königsherrschaft Gottes verhält sich wie ein Mensch …“ (Mt 13,24), und wurde im MtEv zur typischen Einleitung (13,31.33 u. ö.). Er entspricht rabbinischen Gleichniseinleitungen in Kurz-- und Langform. Der Kurzform entspricht Mt 13,24: „Das Himmelreich gleicht XY“, die Langform findet sich in Mk 4,30f: „Womit wollen wir das Reich Gottes beschreiben und durch welches Gleichnis wollen wir es abbilden? Es ist wie XY“. Der Vergleich bezieht sich auf das ganze Gleichnis, sagt also nicht „Die Gottesherrschaft ist wie ein Kaufmann“, sondern „Es verhält sich mit der Gottesherrschaft wie mit der Geschichte von einem Kaufmann“. Eine dritte Einleitungsform, der Dialoganfang, fordert durch eine Frage die Hörer zur Stellungnahme auf: „Wer unter euch hat einen Freund?“ (Lk 11,5). Gleichniseinleitungen können sekundär sein. Insbesondere im Lukasevangelium finden wir ausgearbeitete redaktionelle Einleitungen, die dem Promythion in antiken Fabelsammlungen entsprechen (J. Strong).48 Die These, dass alle Gleichnisse von der Gottesherrschaft handeln, wurde durch die sekundären Einleitungen im MtEv gefördert, aber durch das ThEv bestätigt. Ausnahmsweise blieb aber in Q ein einziges Mal ein Vergleichsanfang erhalten, der „dieses Geschlecht“ als Thema nennt (Lk 7,31). Wir müssen daher damit rechnen, dass nicht alle Gleichnisse ursprünglich von Gott handelten, sondern auch vom Menschengeschlecht, etwa die Gleichnisse vom Turmbau und Kriegsführung, die Menschen vor unbedachtsamen Handeln warnen (Lk 14,28–33), das Gleichnis vom nachts bittenden Freund, das zur Hilfe motiviert (Lk 11,5– 8), oder vom Gastmahl, das den Umgang mit Hierarchien betrifft (Lk 14,7–11). Hier geben 46 Zu semantischen Feldern vgl. K.Berger, Exegese des Neuen Testaments, 1977, 137–159, zu Bildfeldern R.Zimmermann, Kompendium*, 2007, 39–41. 47 C.Westermann, Vergleiche und Gleichnisse im Alten und Neuen Testament, 1984, 122. 48 J Strong, The Fables of Jesus*.
Jesus als Dichter: Die Gleichnisse Jesu
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Gleichnisse ethische Impulse für zwischenmenschliches Verhalten. Wenn wir unter den Gleichnissen Jesu einige wenige „ethischen Gleichnisse“ finden, entspricht das den antiken Fabeln, nur dass diese in der Regel eine „ethische“ Pointe haben und nur wenige die Beziehung zu einer Gottheit thematisieren.49 Die Gattungsstrukturen aber sind hier wie dort vergleichbar. 3.2 Die Handlungsstruktur der Gleichnisse
R.Bultmann hat die Erzählstruktur der Gleichnisse anhand eines Vergleiches mit den Strukturen volkstümlicher Dichtung50 so bestimmt: 1. Die Knappheit der Erzählung zeigt sich darin, dass nur notwendige Personen auftreten. Im Gleichnis vom verlorenen Sohn fehlt sogar die Mutter (Lk 15,11–32). Meist gibt es nur drei Hauptpersonen. 2. Nach dem Gesetz der szenischen Zweiheit treten nur zwei Personen gleichzeitig auf. 3. Aufgrund einer Einsträngigkeit der Erzählung ruht der Blick nicht auf zwei gleichzeitigen Vorgängen. Wie der Vater des verlorenen Sohnes dessen Abschied empfindet, wird nicht berichtet. 4. Nach dem Gesetz der Wiederholung bekennt der verlorene Sohn zweimal seine Sünden (Lk 15,18 f.21), werden drei Gästetypen zum Hochzeitsmahl geladen (Mt 22,3.4.9). 5. Nach dem Gesetz des Achtergewichts liegt der Akzent auf dem Schluss. 6. Nach der Pointe wird die Erzählung abgebrochen: Dass der reiche Bauer in derselben Nacht starb, wird nicht erzählt (Lk 12,16–21). Offen bleibt, ob der ältere Sohn seinen Widerstand gegen die Versöhnung mit dem „verlorenen“ Sohn aufgibt.51
Strukturalistische Analyse fragt über solche „Erzählgesetze“ hinaus nach den „Aktanten“, d. h. nach den handlungsbestimmenden „Rollen“ einer Erzählung. Einander übergeordnete Rollen können nicht ausgetauscht werden: Ein Vater kann nicht die Rolle des Sohnes, ein Bauer nicht die der Saat übernehmen. Dagegen können kontrastive Rollen wie die törichten und klugen Jungfrauen ihre Rolle austauschen. Vertreter antagonistischer Rollen bekämpfen einander wie in den Gleichnissen vom kriegsführenden König (Lk 14,31–32), vom Einbrecher (Mt 24,43f), Attentäter (ThEv 98) und vom Feind, der Unkraut unter den Weizen sät (Mt 13,24–30). Das Zurücktreten antagonistischer Rollen in Jesu Gleichnissen ist deshalb bemerkenswert, weil sich die Gottesherrschaft nach seinen Worten im Kampf gegen die Satansherrschaft durchsetzen muss. Alle Rollen können im Übrigen durch vermittelnde 49 Vgl. M.A.Beavis, Parable and Fable* (1990) 473–498. 50 R.Bultmann, Geschichte der synoptischen Tradition, 2021, 179–222, bes. S. 203–208. Bultmann bezog sich vor allem auf A.Olrik, Gesetze der Volksdichtung (1909), in: W.Harnisch (Hg.), Die neutestamentliche Gleichnisforschung*, 1982, 58–69. Vgl. auch das oben besprochene neuere Konzept von Gleichnissen als palästinischem Ökotyp eines allgemeinen folkloristischen Genres (Hasan-Rokem, Ottenheijm). 51 Weitere von Bultmann zusammengestellte typische Stilmerkmale sind: Knappheit der Motivation (Affekte und Motive werden nur erwähnt, wo es für die Handlung oder Pointe wichtig ist); Blässe der Nebenpersonen; reiche Verwendung der direkten Rede und des Selbstgespräches u. a.
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Dritter Teil: Das Wirken und die Verkündigung Jesu
Rollen von Stellvertretern „erweitert“ werden: Zwischen Herr und Pächter können z. B. Boten treten. a) Handlungsstrukturen mit einander übergeordneten Rollen: in Gleichnissen mit einander übergeordneten Rollen geht es darum, dass sich die Intention der Handlungsträger erfüllt. Wachstumsgleichnisse zielen auf die Ernte des Bauern (Mk 4,26–29), Wachsamkeitsgleichnisse auf die Ankunft des Herrn (Mk 13,33–37), Fundgleichnisse auf einen Fund (Lk 15,8–10) – wobei durch Entdeckung des Schatzes und der Perle alle Erwartungen überboten werden (Mt 13,44–46). Gleichnisse vom Bitten zielen auf Erhörung (Lk 11,5–8; 18,1– 8). Immer wollen diese Gleichnisse Mut und Zuversicht verbreiten: Säen, Warten, Suchen und Bitten lohnen sich am Ende. Der Erfolg ist nicht selbstverständlich, aber stellt sich gegen Erwartungen ein. Doch er hat eine dunkle Kehrseite: Viel Samen geht verloren, Perle und Schatz motivieren zu riskanten Handlungen, Bitten stoßen auf Widerstand, die Erlösung kommt als Einbrecher. Der Hörer muss solche Bilder „kognitiv“ so umstrukturieren, dass er sich nicht an ihrer dunklen Seite orientiert, sondern am Erfolg. In manchen Gleichnissen scheitern sogar die Handlungsintentionen: Der Tod durchkreuzt die Hoffnungen des törichten Reichen (Lk 12,16–21). Eine Pachtforderung wird durch Gewalt und Mord verhindert (Mk 12,1–9). Ein Prozess kommt nicht zustande, weil sich die Prozessgegner auf dem Weg verständigen (Mt 5,25f). Diese Gleichnisse enthalten eine Warnung. Das Leben ist durch Tod und Gericht bedroht. Aber es gibt die Möglichkeit, vorher umzukehren. b) Handlungsstrukturen mit kontrastiven Rollen: Gelingende und scheiternde Handlungsintentionen werden oft kontrastiert. Bei den klugen und törichten Jungfrauen haben alle dieselbe Ausgangslage; alle warten auf den Bräutigam, aber nur die Erwartung der Klugen geht in Erfüllung, die der Törichten scheitert (Mt 25,1–13). Eine Kontrastverschärfung prägt das Talentengleichnis: Wer viel hat, bekommt noch mehr; wer wenig hat, verliert alles (Mt 25,14–30). Ähnliches geschieht im Gleichnis vom vierfachen Acker zu: Der Same fällt auf verschiedenen Boden; nur auf dem fruchtbaren Boden geht er auf und übertrifft alle Verluste (Mk 4,3–9). Noch pointierter ist die entgegengesetzte Handlungsstruktur: Was am Anfang positiv bewertet erschien, erscheint am Ende in einem negativen Licht. Langzeit- und Kurzzeitarbeiter werden am Ende gleichbehandelt, das Bild der „guten“ Langzeitarbeiter wird durch deren Neid verdunkelt (Mt 20,1–16). Der verlorene Sohn handelt mehr im Sinne des Vaters als der ältere Sohn, der sich über die Rückkehr des Bruders nicht freut (Lk 15,11– 32). Der ungehorsame Sohn nimmt den Platz des Sohnes ein, der seine Zusage nicht erfüllt hat (Mt 21,28–32). Der reiche Mann und Lazarus vertauschen im Jenseits ihre Plätze (Lk 16,19–31). Pharisäer und Zöllner stehen vor Gott anders da als vor Menschen (Lk 18,9– 14). Die Auslegung minimalisiert manchmal dunkle Seiten Gottes, die in den Parabeln angesprochen werden. Das Gleichnis von den Talenten zeigt eine erschreckende Härte gegenüber dem, der das anvertraute Geld nur bewahrt, aber nicht veruntreut hat (Mt 25,14–30). In den Handlungsmustern der Gleichnisse kann man Grundzüge der Verkündigung Jesu wiedererkennen. Bilder unterlaufen den Widerstand seiner Hörer. Die Gerichtspredigt rüttelt sie aus einer falschen Ruhe wach. Die Heilspredigt gibt ihnen Zuversicht, auf Gottes Güte zu vertrauen. Gleichnisse mit übergeordneter Rollenverteilung deuten oft den Anbruch des Heils an: Der Same ist schon gesät, die Ernte kommt gewiss, der Sauerteig durchsäuert den
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ganzen Teig, der Schatz im Acker ist gefunden – jetzt kommt alles darauf an, ihn zu erwerben. In den Gleichnissen mit kontrastiver Rollenverteilung werden dagegen Zuspruch und Warnung „didaktisch dosiert“: Die Gefahr des Scheiterns ist groß. Doch wird das Heil oft von denen ergriffen, die Versager und Verlierer sind. Entgegen einer „humanen“ Auslegungstradition verbirgt sich in Gleichnisbildern aber oft auch ein verborgenes Skript als dunkle Seite Gottes, die ihn nicht nur als ein mysterium fascinosum, sondern auch als tremendum zeigt. Ist es nicht eine unverhältnismäßige Strafe, dass die „törichten Jungfrauen“ vom Heil ausgeschlossen werden? Ist es nicht ungerecht, wenn Arbeiter, die den ganzen Tag lang gearbeitet haben, nicht entsprechend ihrer Leistung entlohnt werden? 3.3 Die Themen der Gleichnisse
Neben einer Unterscheidung nach Handlungsstrukturen kann man Gleichnisse nach Themen ordnen. K.Erlemann unterscheidet 1. Naturgleichnisse z. B. von der Saat (Mk 4,26–29), 2. Weisheitsgleichnisse z. B. vom Fasten (Mk 2,18–20), 3. Alltagsgleichnisse z. B. vom Hausbau (Mt 7,24–27) und 4. Identitätsgleichnisse z. B. von Jesus als „gutem Hirten“ (Joh 10,1–18). Man fragt sich jedoch: Steckt in den Naturbildern der Saatgleichnissen keine „Weisheit“? Gehört die gleiche Bezahlung von Lang- und Kurzzeitarbeiter zum „Alltag“? Da Gleichnisse entfaltete Metaphern sind, empfiehlt es sich, Gleichnistypen nach Bildfeldern zu unterscheiden, die den verschiedenen Seinsbereichen, also Dingen, Artefakten, Pflanzen, Tieren und Personen als techno-, bio- und soziomorphe Bilder entsprechen. Die folgende Aufzählung nennt zur Veranschaulichung jeweils ein Beispiel: Technomorphe Bilder 1. Architekturbilder (Gleichnis vom Hausbau Mt 7,24–27) 2. Gerätebilder (Leuchter Mk 4,21f) Biomorphe Bilder 3. Vegetationsgleichnisse von Saat und Ernte (Mk 4,1–34) 4. Tiergleichnisse (wie die Fuchsfabeln der Rabbinen) 5. Körpergleichnisse (das Bild vom Auge Mt 6,22f) Soziomorphe Bilder 6. Knechtsparabeln von Herrn und Sklaven (Lk 17,7–10) 7. Hochzeits- und Festgleichnisse (Mk 1,18–20) 8. Gleichnisse von Vätern und Söhnen (Mt 21,28–32)
Grenzüberschreitungen sind auch hier wichtig. Das Gleichnis vom verlorenen Schaf (also einem biomorphen Bild) wird durch das Gleichnis mit dem technomorphen Bild des Groschens als Besitzverlust interpretiert (Lk 15,3–10). Der Groschen ist ein lebloses Artefakt. Dafür stellt die dann folgende Parabel vom verlorenen Sohn umso nachdrücklicher die
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Innenwelt des „verlorenen Sohnes“ dar. Während das Schaf und die Münze nicht von sich aus umkehren, sondern vom Hirten und der Frau gesucht werden, liegt hier der Akzent auf der von innen motivierten freiwilligen Umkehr des Sohnes. 3.4 Der Gleichnisschluss mit Anwendung
Nach Abschluss der Gleichniserzählung folgt hin und wieder eine mit „ebenso“ (houtōs) eingeleitete Anwendung.52 Dieses fabula docet (oder das Epimythion) lautet in Mt 20,16: „Ebenso werden die Ersten die Letzten sein“. Gleichnisse sagen dabei meist mehr, als die Anwendung sagt. Daher finden sich hin und wieder mehrere Anwendungen, z. B. in Lk 16,8– 13 ein Lob der Klugheit des Verwalters, eine Aufforderung, sich Freunde mit dem Mammon zu machen, eine Mahnung zur Treue und zur Entscheidung zwischen Gott und Mammon. Auch die rabbinischen Gleichnisse werden in der Regel mit einer expliziten Anwendung (dem sog. nimshal) abgeschlossen, die meist mit ( כּךentsprechend griech. houtōs) eingeleitet wird. Sie besteht im Unterschied zu Jesu Gleichnissen meist aus Schriftbezügen entsprechend der exegetischen Intention rabbinischer Schriften.
4. Gleichnisse in den Evangelien Die Überlieferung der Gleichnisse ist insofern ein Rätsel, als viele nur als mt und lk Sonderüberlieferung erhalten sind. Warum bringen die ältesten Quellen Mk und Q so viele beeindruckende Gleichnisse nicht? Hatten manche einen so provozierenden und sperrigen Charakter, dass sie nur zögernd rezipiert wurden? Entsprachen sie nicht dem urchristlichen Glauben? 4.1 Gleichnisse in der Logienquelle53
Die Logienquelle ruft Menschen zur Entscheidung, Jesus nachzufolgen und seine Lehre zu verbreiten. Ihre Gleichnisse und Bilder kontrastieren Verhaltensweisen oder fordern sie. Solche Gleichnisse und Bildworte sind: Ȥ das Wort vom Splitter und Balken (QLk 6,41f), Ȥ der Hausbau auf Sand und Fels (QLk 6,47–49), Ȥ die tanzenden und trauernden Kinder (QLk 7,31–35), Ȥ das klare und das trübe Auge (QLk 11,34–36),
52 Vgl. Mt 13,49; 18,14; 18,35; 20,16; Lk 12,21; 14,33; 15,10; 17,10; Mk 13,29. Viele Gleichnisse Jesu haben kein Epimythion.z. B. Mk 4,26–29; 4,30–32; Mt 13,33.44.45 f. Im Thomasevangelium fehlen sie durchgehend – gewiss weil der „Gnostiker“ selbst die Deutung der Gleichnisse finden soll. Aber das ThEv stimmt darin mit vielen Gleichnissen Jesu überein. 53 D.T.Roth/R.Zimmermann/M.Labahn (ed.), Metaphor, Narrative, and Parables in Q, 2014.
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Ȥ der Einbrecher, der ständige Bereitschaft fordert (QLk 12,39f), Ȥ der Klagende, der sich rechtzeitig mit seinem Prozessgegner versöhnt (QLk 12,58f), Ȥ die verschlossene Tür (QLk 13,23–27), Ȥ der treue und treulose Sklave (QLk 12,42–46), Ȥ das Wort vom faden Salz (QLk 14,34f), Ȥ die Entscheidung zwischen Gott und Mammon (QLk 16,13), Ȥ Mann und Frau, die im Gericht mitgenommen und zurückgelassen werden (QLk 17,34f), Ȥ die Vermehrer und der Bewahrer von Talenten (QLk 19,11–27).
Die Wachstumsgleichnisse vom Senfkorn und Sauerteig (QLk 13,18–21) bringen die Zuversicht zum Ausdruck, dass das Heil erreicht werden kann, das Gleichnis vom verlorenen Schaf (QLk 15,1–7) fordert Güte gegenüber denen, die Forderungen nicht erfüllen. Das Gericht tritt in den Hintergrund: Ein ethischer Optimismus, in der Nachfolge Jesu zum Heil zu gelangen, ist unverkennbar. Am Ende werden die zwölf Jünger selbst Richter sein, nicht aber Gerichtete (QLk 22,28–30). 4.2 Gleichnisse im Markusevangelium
Bildworte im MkEv trennen Anhängern und Gegnern Jesu. Oft weisen sie Kritik zurück. Durch das Wort vom Arzt und den Kranken begründet Jesus seine Zuwendung zu Zöllnern und Sündern (Mk 2,17), Worte vom Bräutigam, vom alten und neuen Wein verteidigen seine Freiheit vom Fasten (2,19 f.21f), Worte vom gefesselten Starken widersprechen dem Vorwurf des Teufelsbündnisses (3,22–26). Das Wort von Reinheit und Unreinheit rechtfertigt die Freiheit von Reinheitsgeboten (7,14–23). Mit dem Bild vom Brot, das man nicht vor die Hunde wirft, weist Jesus die Syrophönikerin zurück, die mit eben diesem Wort seine Ablehnung überwindet (7,27f). Ausgeführte Gleichnisse wenden im Evangelium an das Volk, die Gegnern und die Jünger. a) Die Wachstumsgleichnisse Mk 4,1–34 wenden sich an das einfache Volk in Galiläa, den ochlos (4,1), werden aber aufgrund der „Parabeltheorie“ nur Jüngern zugänglich (4,10–12). Das Unverständnis der anderen ist Verstockung (Jes 6,9f = Mk 4,12). Wachstumsgleichnisse vom Wirken des Wortes schildern die Entstehung der Gemeinden. b) Das Winzergleichnis in Mk 12,1–12 wendet sich an Hohepriester, Älteste und Schriftgelehrten der Oberschicht Jerusalems. Anders als das unverständige Volk verstehen sie sofort, dass sie gemeint sind (12,12). Sie werden in ihrer Feindschaft bestärkt und beschließen Jesus zu inhaftieren, fürchten aber das Volk. c) Die Endzeitgleichnisse vom grünenden Feigenbaum und spät heimkehrenden Hausherrn in (13,28 f.32– 37) haben nur Jünger als Adressaten und bereiten sie auf die Parusie vor, indem sie zu ständiger Wachsamkeit mahnen.
Der Mk-Evangelist weiß, dass er nur eine kleine Auswahl der Gleichnisse bringt. Jesus lehrte in „vielen solchen Gleichnissen“ (4,33 vgl. 4,2), obwohl er nur wenige Gleichnisse im MkEv
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erzählt. Während bei Wundern mehrfach betont wird, dass sie im ganzen Volk erzählt wurden, geschieht das nie bei Gleichnissen. Wundergeschichten wirken in die Umwelt hinein, Gleichnisse grenzen gegen sie ab und gelten als rätselhaft und erklärungsbedürftig (Mk 4,10–12). Darin spiegeln sich Spannungen zwischen Jesusanhängern und Umwelt. Dazu passt, dass in den mk Gleichnissen das Gericht nur Gegnern Jesu angedroht wird, seinen Anhängern dagegen in Wachstumsgleichnisse das Heil verheißen wird. Wenn der Menschensohn kommt, bringt er in eine von Katastrophen gezeichnete Welt den Erwählten nur Heil (13,24–27). 4.3 Gleichnisse im Lukasevangelium
Die lk Gleichnisse korrigieren in einer Hinsicht das MkEv: Gleichnisse grenzen nicht nur ab, sondern stellen die Zuwendung zu marginalisierten Menschen dar. Sie sind keineswegs dunkel, sondern illustrieren in verständlicher Form das Programm der Antrittspredigt Jesu in Nazareth: das Erlassjahr des Herrn für die Elenden (Lk 4,18f = Jes 61,1f). Zweimal Jesus fasst seine Sendung so zusammen: Ich bin gekommen, die Sünder zur Umkehr zu rufen, nicht die Gerechten. (Lk 5,32 vgl. Mk 2,17) Denn der Menschensohn ist gekommen, um zu suchen und zu retten, was verloren ist. (LkS 19,10)
Für dieses Programm werden Menschen durch Gleichnisse gewonnen: Das Gleichnis vom Schuldenerlass verteidigt Vergebung gegenüber Kritik (LkS 7,41f). Die Beispielerzählung vom barmherzigen Samariter lobt dessen Hilfe für Fremde in Kontrast zum Verhalten von Priester und Levit (LkS 10,30–37). Das Gleichnis vom großen Festmahl macht die Integration von „Armen, Verkrüppelten, Blinden und Lahmen“ zur Pflicht (14,16–24). Im Zentrum des LkEv stehen Gleichnisse vom Verlorenen (Lk 15). Sie verteidigen Jesu Zuwendung zu den Verlorenen gegenüber murrenden Pharisäern und Schriftgelehrten (15,1f). Die Geschichte vom untreuen Verwalter verteidigt Vergebungsbereitschaft: Sogar die Verletzung moralischer Normen ist um der Vergebung willen von Gott gewollt (LkS 16,1–12). Das Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner kontrastiert den reuigen Sünder mit dem selbstgerechten Pharisäer (LkS 18,9–14). Ein Gegenbild zu diesem demütigen Zöllner ist die bittende Witwe im vorhergehenden Gleichnis, die hartnäckig vor Gott ihr Recht einklagt (LkS 18,1–8), als wolle Lk sagen: Hilfe für Arme wie die Witwe ist keine Gnade, sondern ein Recht, das Gott abgetrotzt werden kann. Der wohlhabende Zöllner aber soll sich demütigen, bevor ihm vergeben wird. Die Geschichte vom armen Lazarus verpflichtet die Reichen zur Hilfe für Arme und Bettler (LkS 16,19–31). Diese Geschichte beschwört das Gericht, aber warnt davor, mit Angst vor ihm die Menschen zu motivieren. Der zur Hölle verurteilte reiche Mann darf seine Brüder nicht warnen. Die Brüder sollen allein durch Gesetz und Propheten motiviert werden, das Gute zu tun, nicht aber durch Angst vor der Hölle. Dadurch wird das hier spürbare mysterium fascinosum et tremendum Gottes zugunsten einer positiven Botschaft aufgelöst. Motiv für das Tun des Guten soll nicht Angst sein, sondern Freude im Himmel (Lk 15,7–10) wie auf Erden (Lk 15,32).
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4.4 Gleichnisse im Matthäusevangelium
Während im LkEv die dunklen Seiten Gottes ethisch aufgelöst werden und seine Gnade umso mehr leuchtet, werden sie im MtEv eschatologisch aufgelöst. Im MtEv deutet nämlich ein typisch mt Vergleichsanfang alle Gleichnisse auf das „Reich der Himmel“. Die Bergpredigt formuliert, was dieses Reich von Christen erwartet, damit alle Menschen Gott wegen ihrer „guten Taten“ loben (MtS 5,16). Am Ende des Evangeliums sollen die Jünger darüber hinaus nicht nur Vorbild sein, sondern alle Menschen „lehren, alles zu halten, was ich euch befohlen habe“ (Mt 28,20). Was sie lehren sollen, wird in fünf Reden zusammengefasst, die Bilder oder Gleichnisse enthalten: 1. Die Bergpredigt lehrt die Einlassbedingungen für die Gottesherrschaft: das Tun, mit dem man sein „Haus auf Felsen baut“ (7,24–27). 2. Die Aussendungsrede (Mt 10) verwendet die Schafsmetapher: Jesus sendet seine Jünger zu den „verlorenen Schafen aus dem Haus Israel“ „wie Schafe unter die Wölfe“ (10,6.16). 3. Das Gleichniskapitel in Mt 13 schildert die Entstehung der Kirche. Der Sämann wird mit einem Feind konfrontiert, der Unkraut unter den Weizen sät. Das Gleichnis wirbt für Toleranz gegenüber unvollkommenen Menschen in der Gemeinde (13,24–30.36–43). 4. Die Gemeinderede in Mt 18 mahnt zur Toleranz durch Gleichnisse vom verlorenen Schaf und „Schalksknecht“ (18,10–14.23–35). Gerade im MtEv mit seiner radikalen Ethik bringen sie einen notwendigen Ausgleich: Wenn Normen gebrochen werden, gelingt Zusammenleben nur durch Vergebung. Der von seinen Schulden befreite Sklave, der seinerseits nicht zur Vergebung bereit ist, wird hart bestraft. 5. Die eschatologische Rede (Mt 23/24–25) kontrastiert treue und untreue Sklaven, kluge und törichte Jungfrauen (24,45–51; 25,1–13), Schafe und Böcke (25,31–46). Es übermittelt die Botschaft: Am Ende gilt nur, was der Mensch an Gutem getan hat. Wer es nicht tut, bahnt sich selbst den Weg zur Hölle. Die Gleichnisse werden im MtEv zunehmend allegorisiert, die Saatgleichnisse auf die Entstehung der Kirche gedeutet (Mt 13,3–30.36–43), die Gleichnisse von den beiden Söhnen, von den bösen Winzern und vom Hochzeitsmahl auf die Geschichte von Johannes dem Täufer bis zur Zerstörung Jerusalems (21,28–22,14). Durch Allegorisierung und Ausrichtung auf die Gottesherrschaft wird das Rätsel der Gleichnisse zum Positiven hin aufgelöst; denn der Mensch wäre prinzipiell in der Lage, das Gute zu tun. Die Vision vom Weltgericht setzt voraus, dass alle Menschen in ihrem Leben die Gelegenheit haben, jemandem zu helfen, Kranke zu besuchen und Fremde zu beherbergen. Das MtEv kennt nicht den Sündenpessimismus des Paulus, sondern verbreitet die Zuversicht, dass die Nachfolger Jesu durch Tun der Gerechtigkeit zum Heil gelangen und dadurch dem „Heulen und Zähneklappern“ der Hölle (Mt 13,42 u. ö.) entrinnen können. Daher beauftragt der Auferstandene am Ende des Matthäusevangeliums die Jünger damit, Jesu Gebote in der ganzen Welt zu lehren (Mt 28,19– 20), nennt aber nicht wie das Lukasevangelium Umkehr und Vergebung der Sünden als wichtigsten Predigtinhalt (Lk 24,47).
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Dritter Teil: Das Wirken und die Verkündigung Jesu
4.5 Gleichnisse im Thomasevangelium54
Das ThEv bringt 41 synoptisch geprägte Bildworte und Gleichnisse, die vom Gastmahl und Weinberg sogar in einer ursprünglicheren Form (ThEv 64.65). Dazu kommen die Sondergutgleichnisse im ThEv vom Fischer, Mehlkrug und Attentäter (ThEv 8.97.98). Jesus offenbart in Gleichnissen die wahre Erkenntnis des „Königreichs“, die den Menschen erleuchtet. Vom Königreich ist dabei nicht nur in Einleitungen von Gleichnissen mit Parallelen im MtEv die Rede,55 sondern unabhängig davon z. B. im Gleichnis vom zerbrochenen Krug und Attentäter (ThEv 97.98) sowie in den Bildworten von Vögeln, Fischen und saugenden Kindern (ThEv 3.22). Das Gleichnis vom guten Hirten wird im Unterschied zu den Synoptikern (Mt 18,12–14; Lk 15,3–7) explizit auf das Gottesreich bezogen (ThEv 107). Das ThEv bezieht insgesamt Bildworte und Gleichnisse so oft auf das „Königreich (des Vaters)“, dass es dabei kaum von den synoptischen Evangelien abhängig ist. Alle Bilder werden in ihm zu Chiffren der Offenbarung. Es fehlen Deutungen in Form von Epimythien durch Jesus selbst. Zugang zu ihrem Geheimnis wird einzelnen Menschen aufgrund ihrer Erkenntnis vermittelt: „Wer die Deutung dieser Worte findet, wird den Tod nicht schmecken“ (ThEv 1). 4.6 Bildrede im Johannesevangelium
Im ThEv steht die Offenbarung im Zentrum, im JohEv ihr Vermittler, der selbst als Brot des Lebens, Licht der Welt, guter Hirte und Weinstock ein „Gleichnis“ ist. Synoptische Parallelen gibt es nur zu den Bildworten vom Sohn, der in Übereinstimmung mit dem Vater handelt (Joh 5,19/QLk 10,22), und vom Knecht, der nicht über seinem Herrn steht (Joh 13,16/ QLk 10,24–26). Ferner erinnern das Gleichnis vom Hirten (Joh 10,1–5) und die Bilder vom Weizenkorn und Geburtswehen an die Synoptiker (12,24; 15,21).56 Obwohl bildliche und offene Rede einander entgegengesetzt werden (Joh 16,25.29), ermöglicht gerade die Rätselrede Offenheit in schwierigen Situationen (Th.Tops), lässt aber manches offen und ist auf Deutung angelegt (F.Kunath).57 Mit ihrer Hilfe offenbart Jesus gegen die Feindschaft der Welt die Liebe Gottes in einem kleinen Kreis (Joh 3,16; 15,9–17).
54 Vgl. K.Schwarz, „Das Königreich des Vaters gleicht …“. Jesu Gleichnisse und Parabeln im Thomasevangelium, in: J.Schröter u. a., Gleichnisse und Parabeln*, 2021, 209–226. 55 Einleitungen wie in den Synoptikern begegnen in den Gleichnissen vom Unkraut unter dem Weizen (ThEv 57/Mt 13,24), vom Schatz im Acker (ThEv 109/Mt 13,44) von der Perle (ThEv 76/Mt 13,45) und vom Sauerteig (ThEv 96/Mt 13,33/Lk 13,20). 56 Erheblich weiter geht R.Zimmermann, der die Auffassung vertritt, alle bildliche Rede des Johannesevangeliums ließe sich unter die breite Kategorie der Parabel fassen (Kompendium*, S. 699–707). 57 So Th.Tops, Paroimia and Parresia in the Gospel of John, 2022. F.Kunath, Paroimische Rede im Johannesevangelium. Beobachtungen an der Grenze, in: J.Schröter u. a., Gleichnisse und Parabeln*, 2021, 141–160.
Jesus als Dichter: Die Gleichnisse Jesu
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5. Gleichnisse als Jesuserinnerungen Während in gnosisnahen Evangelien Jesus als Offenbarer des jenseitigen Gottes im Zentrum steht, konzentriert sich in den synoptischen Evangelien alles auf Jesu Lehre im irdischen Leben. Das MkEv ruft zur Nachfolge im Leiden auf, das LkEv zur Zuwendung zu Außenseitern, das MtEv zur Vergebung gegenüber Gemeindegliedern. Umso wichtiger ist die Frage: Gehen Gleichnisse mit diesen Lehren auf den historischen Jesus zurück? Oder wurden sie geschaffen, um Gemeindebedürfnisse und theologische Anliegen der Evangelisten zu erfüllen? 5.1 Die Kontextplausibilität der Gleichnisse Jesu: Gleichnisse im Judentum
Nach dem Kriterium der Kontextplausibilität sind die Gleichnisse Jesu als Gattung gut in ihrem historischen Kontext verankert, haben aber einige besondere Züge, so dass es Sinn macht, in ihnen nach Erinnerungsmustern des historischen Jesus zu suchen. Das zeigt der Vergleich mit anderen bildlichen Texten der Antike. Prophetie und Psalmen kennen Vergleiche, die freilich nur selten zu Gleichnissen entwickelt wurden.58 In bildlichen Texten sprechen Tiere und Pflanzen in anthropomorpher Weise. Bilder dienen insbesondere dazu, Widerspruch zu überwinden: In der Jothamfabel wollen die Bäume einen König über sich setzen, aber nur der Dornstrauch ist bereit, sie zu beherrschen. Jotham warnt die Israeliten: Durch Errichtung des Königtums werden sie sich schaden (Ri 9,7–15). Er kritisiert das ganze Volk. In einer anderen Fabel warnt der König Joasch von Israel durch die Fabel von Distel und Zeder den König Amazja von Juda davor, beide Reiche durch einen Krieg ins Unglück zu stürzen (2Kön 14,8–14). Die Fabel kritisiert einen König.59
Ferner gibt es Beispielerzählungen, in denen versteckt Mächtige kritisiert werden: Absalom hat Amnon getötet, weil er seine Schwester Tamar vergewaltigt hat. Amnon war Halbbruder Absaloms, König David ihr gemeinsamer Vater. Um den König mit Absalom zu versöhnen, erzählt eine Frau, die sich als Witwe ausgibt, die Beispielgeschichte von ihren beiden Söhnen, von denen einer den anderen getötet hat und ihr einziger Sohn nun durch Blutrache gefährdet ist (2Sam 14,4–7). So gewinnt sie David dafür, sich mit Absalom zu versöhnen. (vgl. die Kritik an König Ahab 1Kön 20,39–40).
Am bekanntesten ist die Parabel des Nathan, die König David kritisiert, weil er Uria in den Tod schickte, um seine Frau zu besitzen. Nathan verbirgt seine Kritik im Gleichnis vom Schaf, das ein Reicher dem Armen wegnimmt (2Sam 12), wendet das Bild aber dann explizit auf den König an. Vielleicht war die Nathanparabel ein Modell für Jesus, um mit Bildern 58 C.Westermann, Vergleiche und Gleichnisse im Alten und Neuen Testament, 1984. 59 Ferner seien die Allegorien bei Ezechiel genannt: Ez 17,3–10; 19,2–9.10–14; 21,1–5; 24,3–5.
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Dritter Teil: Das Wirken und die Verkündigung Jesu
den Widerstand seiner Hörer zu unterlaufen! Im Gleichnis von den bösen Winzern (Mk 12,1– 11) greift er das Bild aus Jesajas Weinberglied auf, in dem Gott als Weinbergbesitzer seinen Weinberg, das Volk Israel, wegen seiner Untreue kritisiert (Jes 5,1–7). Das Jesusgleichnis kritisiert aber nicht den Weinberg, sondern die Winzer. Die anthropomorphe Belebung des Weinbergs als Bild für Israel wird beseitigt. Dadurch werden nicht mehr alle in Israel, sondern nur die für den Weinberg verantwortlichen Pächter, also Hohepriester, Schriftgelehrte und Älteste kritisiert. Neben biblischen Traditionen müssen wir mit dem Einfluss von Fabeln rechnen, die in der ganzen Antike verbreitet waren und die nächsten Parallelen zu den Gleichnissen im Neuen Testament und bei den Rabbinen bieten.60 Umso mehr fällt auf, dass bei Jesus ein Zug fehlt: Tiere und Pflanzen sprechen nicht. In antiken Fabeln ist das ein auffallender Zug. Jedoch gibt es auch viele Fabeln, in denen wie in den Gleichnissen Jesu nur Menschen auftreten. Jesu Gleichnisse ähneln diesen Fabeln. Ein Gleichnis, Lk 13,6–9, bearbeitet einen Fabelstoff, der unter dem Namen des Achikar überliefert wurde: Mein Sohn, du warst mir wie eine Palme, die am Wegrand stand, von der man aber keine Frucht pflückte. Ihr Besitzer kam und wollte sie ausreißen. Da sprach die Palme zu ihm: Gestatte mir noch ein Jahr und ich bringe dir Karthamen (d. h. Safran, ein besonders seltenes Luxusgewürz GT.). Ihr Besitzer antwortete: Unglückliche! Du hast deine eigene Frucht nicht hervorgebracht, wie solltest du denn eine fremde hervorbringen. (syr. Achikar 135)61
Das Gleichnis Jesu vermeidet eine anthropomorphe Personifizierung des Baumes. Auch ist die Stoßrichtung eine andere, weil Jesus mit einer Verbesserung des Baumes rechnet, obwohl Pflanzen und Bäume eigentlich nicht zur Umkehr fähig sind. Er folgt darin dem Täufer, der schon vor ihm „Früchte der Umkehr“ verlangt hatte (Mt 3,8), Jesus macht diese „Umkehrmöglichkeit“ zur Pointe (Lk 13,6–9): Es hatte einer einen Feigenbaum, der war gepflanzt in seinem Weinberg, und er kam und suchte Frucht darauf und fand keine. Da sprach er zu dem Weingärtner: Siehe, drei Jahre komme ich und suche Frucht an diesem Feigenbaum und finde keine. So hau ihn ab! Was nimmt er dem Boden die Kraft? Er aber antwortete und sprach zu ihm: Herr, lass ihn noch dies Jahr, bis ich um ihn herum grabe und ihn dünge, vielleicht bringt er doch noch Frucht; wenn aber nicht, so hau ihn ab.
Jesus beseitigt den „Anthropomorphismus“ der Fabel, indem er dem bedrohten Baum einen menschlichen Fürsprecher gibt, mit dem sich Jesus selbst in das Gleichnis einträgt. Da Jesus mit Fabelakteuren wie Fuchs, Vogel, Schwein und Hund vertraut war (vgl. Lk 13,32; Mt 7,26; 60 Siehe M.A.Beavis, Parable and Fable* (1990) 473–498; J.Pater, Parables in the New Testament and Rabbinic Literature between Simile and Fable. A status quaestionis, in: A.Oegema/J.Pater/M.Stoutjesdijk (ed.), Overcoming Dichotomies*, 13–51. 61 Übersetzung nach M.Küchler, Frühjüdische Weisheitstraditionen, 1979, 392. Zum Vergleich verschiedener Fassungen der Achikarfabel vgl. P.v.Gemünden, Vegetationsmetaphorik*, 1993, 135–138.
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Jesus als Dichter: Die Gleichnisse Jesu
7,6; Mk 4,32–34) und von ihnen in kurzen Bildworten spricht, steht hinter der Abwesenheit anthropomorphisierender Tiere und Pflanzen in seinen Gleichnissen ein bewusster Formwille. Das zeigt auch die folgende Gegenüberstellung, von allgemeinen Merkmalen antiker Fabeln und Gleichnisse auf der einen Seite und besonderen Merkmalen von Jesusgleichnissen auf der anderen Seite. Jesusgleichnisse bildeten zusammen mit den rabbinischen Gleichnissen einen eigenen „Ökotyp“ in den antiken Bildgattungen, innerhalb dieses Ökotyps aber stellen Jesusgleichnisse eine eigene Variante dar. Gleichnisse und Fabeln in der Antike einschließlich Jesus
Besondere Merkmale der Jesusüberlieferung
Sozialer Ort
Gleichnisse und Fabeln sind allen zugänglich: Während die Weisheit Königen wie Amenemope und Salomo oder Aristokraten wie Jesus Sirach zugeschrieben wurde, gelten Fabeln und Gleichnisse als Werk des Sklaven Aesop, des Freigelassenen Phädrus, des Wanderpredigers Jesus und der rabbinischen Lehrer. Sie waren bald in allen Schichten (auch durch Unterricht in den Schulen) verbreitet.
Anders als Wundergeschichten wird von Jesu Gleichnissen nie gesagt, dass sie im Volk kursierten. Doch wendet sich Jesus in Gleichnissen an alle, sie gelten aber als missverständlich und werden sekundär durch Allegorisierung als Offenbarungswissen stilisiert, das interpretiert werden muss. Allen Anhängern Jesu soll durch ihre Deutung das Bewusstsein gegeben werden, Zugang zu ihnen zu haben.
Form und Personen
In Tier- und Pflanzenfabeln sprechen Tiere und Pflanzen oft anthropomorph, um menschliches Leben darzustellen, so dass der Eindruck entsteht: Unter Menschen geht es tierisch zu. Tiere begegnen in kurzen Jesusworten als negative und positive Bilder. Bei Pflanzen betont auch Jesus einmal ihre Unveränderlichkeit: Ein Feigenbaum bringt keine Trauben hervor (Mt 7,16–18). Antike Fabeln, die nur von Menschen handeln, sind die nächsten Parallelen zu Jesusparabeln.
In Jesusgleichnissen sprechen Tiere und Pflanzen (anders als bei Paulus: vgl. Röm 11,16f; 1Kor 12,15) niemals anthropmorph. Jesus kennt nur ein einziges Tiergleichnis vom verlorenen Schaf, aber auch das Schaf bleibt so stumm wie der verlorene Groschen. Trotz Unveränderlichkeit von Pflanzen werden aber bei Jesus aus unfruchtbaren Bäumen „fruchtbare Menschen“ (Lk 13,2–8). Die Botschaft einiger Gleichnisse ist: Gott ermöglicht Veränderung und handelt „menschlich“. Jesus folgt darin Johannes dem Täufer.
Moral
Die Fabeln vertreten oft eine utilitaristische und defensive Moral: Güte und Barmherzigkeit lohnen sich nicht, Risikobereitschaft ist Torheit. Man muss sich wehren. Nur selten wird Großzügigkeit empfohlen.62 Ebenso vertreten einige Jesusgleichnisse im Kontrast zu einem aristokratischen Ethos eine Kleine-Leute-Moral (z. B. wenn die unnützen Sklaven ihre Dienstbereitschaft betonen: Lk 17,7–10).
Jesu Sklavengleichnisse zielen wie die rabbinischen Sklavenparabeln auf Gehorsam gegen Gott. Gleichnisse von Tagelöhnern, Pächtern und Verwaltern zeigen dafür Konflikte und motivieren zu einer risikofreudigen Moral: Seine Talente darf man nicht defensiv verstecken. Auch begegnet bei Jesus manchmal eine aristokratische Moral risikobereiter Lebensführung. Für den Schatz im Acker und die kostbare Perle soll man alles hingeben.
62 Ein Beispiel für eine antike Fabel des Äsops für eine Aufforderung zur Großzügigkeit ist z. B. „Diogenes und der Kahlkopf“: „Als der Philosoph Diogenes, der Kyniker, von einem kahlköpfigen Menschen
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Dritter Teil: Das Wirken und die Verkündigung Jesu
In den Gleichnissen Jesu wird vor allem die Pflanzen- und Menschenwelt für Gottes Handeln transparent. Die Pflanzenwelt steht für ein sanftes und friedliches Wachsen. Die Parabel vom Dornbusch (Ri 9,7–15) zeigt, dass das nicht notwendig so ist. Pflanzen können auch stachelig sein. Es ist ferner kein Zufall, wenn ein Tierbild nur ein einziges Mal erzählerisch entfaltet wird – als Gleichnis vom „verlorenen Schaf“, das Hilfe und Fürsorge braucht, aber nicht Angst und Furcht auslöst. Jesus kennt weitere Tierbilder, die er erzählerisch aber nicht entfaltet, Bilder von Füchsen, Ottern, Schafen, Wölfen und Schweinen, einige auch mit positiven Assoziationen: Im Unterschied zur Heimatlosigkeit der Menschen haben Füchse Gruben und Vögel Nester (Mt 8,20/Lk 9,58). Schlangen sind klug, Tauben ohne Falsch (Mt 10,16). Da ein reiches Bildfeld von Tiermetaphern vorhanden ist, sagt deren Entfaltung nur in einem einzigen Tierbild als Gleichnis umso mehr. Nur das hilfsbedürftige verirrte Schaf lebt als Gleichnis auf, wird aber auch nicht wie ein Mensch belebt, sonst könnte es nicht neben die unbelebte verlorene Drachme treten. Diese Zurückhaltung gegenüber Tierbildern hängt damit zusammen, dass in den Gleichnissen Jesu die Anthropomorphisierung von Tieren und Pflanzen fehlt. Tiere und Pflanzen sprechen nicht und werden dadurch nicht so leicht zu Bildern handelnder Menschen. Das hat Auswirkungen gehabt: Im JohEv gibt es keine Rede der Schafe oder der Reben (Vgl. Joh 10,1–21; 15,1–8). Die Gleichnisse des ThEv sind ohne anthropomorphe Rede ebenso die Gleichnisse im Hirten des Hermas (Sim I–X), obwohl sie sich eindeutig auf verschiedene Menschengruppen beziehen. Das Fehlen anthropomorpher Rede ist nicht selbstverständlich. Paulus lässt unbefangen Pflanzen und Körperteile sprechen (Röm 11,16f; 1Kor 12,15). Je mehr wir erkennen, dass die Gleichnisse Jesu zur antiken Fabel- und Gleichniskultur gehören, umso deutlicher wird, dass sich hier eine Erinnerungsspur Jesu erhalten hat. Neben der antiken Fabelüberlieferungen könnte es aber noch weitere Anregungen für die Jesusgleichnisse gegeben haben. So illustrierte der Stoiker Kleanthes (304–233 v. Chr.) mit einer Beispielerzählung seine Erkenntnis, dass nicht allein das Tun, sondern die Absicht moralisch entscheidend ist:63 Ich schickte zwei Knecht, um Plato zu suchen und aus der Akademie zu holen. Der eine durchsuchte die ganze Säulenhalle und durchlief auch andere Plätze, auf denen er ihn zu finden hoffte. Dann kehrte er müde und verärgert nach Hause zurück. Der andere Knecht aber setzte sich beim nächsten Laden hin. Nachdem er sich wie ein Vagabund und Herumlungerer dem Sklavengesindel zugesellt hatte und mit ihm spielte, fand er den vorübergehenden Plato, den er nicht gesucht hatte. Wie werden den Knecht loben, der soweit es von ihm abhing, alles getan hat, was ihm befohlen worden war. Den glücklichen Faulpelz aber werden wir strafen. (Seneca, Ben VI,11,1–2)
gröblich beschimpft wurde, entgegnete er: ‚Ich schimpfe nicht, das sei mir fern! Ich lobe lieber die Haare die sich von einem so boshaften Schädel getrennt haben!‘ (zit.n. L.Mader, Hg., Antike Fabeln, 1973, 95). Doch zeigt auch diese Fabel in Form eines Lobes eine scharfe intellektuelle Kritik. 63 Die Beispielgeschichte von Kleanthes wird von D.Flusser, Gleichnisse*, 1981, 148f, als Beispiel für mögliche Anregungen Jesu zitiert.
Jesus als Dichter: Die Gleichnisse Jesu
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Die Gleichnisse Jesu haben viele Vorläufer, sind aber dennoch etwas Neues in der jüdischen Literaturgeschichte. Sie stehen weisheitlichen Formen nahe. Jesus Sirach konnte am Anfang des 2. Jh. v. Chr. seine Weisheit noch ohne solche erzählenden Gleichnisse entwickeln, obwohl „Gleichnisse“ (parabolai) für ihn eine Gattung des Weisheitslehrers waren (Sir 39,3). Dabei dachte er nur an Sentenzen, Rätselsprüche und Reflexionen, nicht an kleine Geschichten. Wenn ca. 200 Jahre später Jesus solche Geschichten ins Zentrum seiner Formensprache rückt, ist aus der aristokratischen Weisheit, die arbeitenden Menschen nicht zugänglich ist, wie Jesus Sirach selbst betont (Sir 38,24ff), eine Lehre für einfache Leute geworden – vielleicht eine Folge des jüdischen Schulwesens, das im Zuge der Hellenisierung entstanden ist.64 Denn im Unterricht braucht man Kurzgeschichten und Bilder. Gleichnisse stehen in der antiken „Gattungshierarchie“ weit unten. Der Rhetoriklehrer Quintilian behandelt verschiedene Arten von Exempla nach ihrer abgestuften Beweiskraft (Inst. V,11,1ff): Historische Exempla rangieren vor fiktiven Beispielen, unter diesen wiederum realitätsnahe Beispiele vor realitätsfernen. Fabeln bilden den Schluss. Sie „pflegen auf die Herzen vor allem von Bauern und Ungebildeten zu wirken“ (Inst. V,11,19).65 D.Dormeyer arbeitet aus Quintilians Überlegungen folgende „Gattungshierarchie“ heraus (mit Entsprechungen in der Jesusüberlieferung in Klammern):66 1. Das Exemplum als historisches Beispiel, oft in Gestalt einer Reihung von Exempla (vgl. Jona und die Königin des Südens in Mt 12,40–42) 2. Das Gleichnis (similitudo) als fiktives Exemplum mit minderer Beweiskraft, abgestuft nach dem Grad seiner Nähe zum diskutierten realen Fall: 2.1. Das fiktive, realitätsnahe Exemplum (die Beispielgeschichte) (Lk 12,16–21) 2.2. Das fiktive, realitätsferne Exemplum
2.2.1. Die bildhafte Vergleichung (das Gleichnis i.e.S.) (Mk 4,26–29)
2.2.2. Die realitätsferne Geschichte (die Parabel) (Mt 20,1–16)
2.2.3. Die (Tier- und Pflanzen-)Fabel (ohne Entsprechung bei Jesus)
Der Vergleich mit antiken Gattungen ergibt einige wichtige kontextplausible Argumente dafür, dass in den Gleichnissen eine Erinnerungsstruktur des historischen Jesus erhalten ist. Literatur- und formgeschichtliche Besonderheiten der Gleichnisse Jesu gegenüber ihren Vorläufern und den Parallelen im Judentum zeigen: Obwohl sie ihrem jüdischen Kontext entsprechen, sind sie individuell geprägt. Sie bilden einen eigenen Typ innerhalb der antiken Gattungen bildlicher Rede. Bilderwelt und Gattungsstruktur erfüllen daher neben dem Kriterium der Kontextplausibilität auch das Kriterium der Wirkungsplausibilität.
64 R.Riesner, Jesus als Lehrer. Eine Untersuchung zum Ursprung der Evangelienüberlieferung, 1981, 97– 245. 65 Der Arzt Galen hält die Gleichnisse der Christen für eine Gattung für einfache Menschen, die keiner zusammenhängenden Beweisführung folgen können. Vgl. R.L.Wilken, Die frühen Christen. Wie die Römer sie sahen, 1986, 92. 66 Vgl. D.Dormeyer, Das Neue Testament im Rahmen der antiken Literaturgeschichte, 1993, 143–146.
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Dritter Teil: Das Wirken und die Verkündigung Jesu
1. Jesus ist der erste in der jüdischen Literaturgeschichte hervortretende Gleichnislehrer. Unabhängig von ihm greifen Rabbinen diese Gattung für ihre Thoraauslegung auf. Bei Jesus vermitteln und illustrieren sie seine Botschaft von der nahen Gottesherrschaft. 2. Jesus führt in Gleichnissen die Bilderwelt des Täufers weiter, der von Baum und Frucht, Getreide und Ernte sprach.67 Jesus baut dessen Pflanzenmetaphern zu Gleichnissen aus, nie jedoch dessen Tiermetaphern wie z. B. das „Otterngezücht“. 3. In den Gleichnissen Jesu fehlen anthropomorph sprechende Pflanzen und Tiere der Fabeln. Darin steckt eine Botschaft: Die Pflanzen- und Menschenwelt ist für Gott transparent, nicht die Tierwelt. Eine Ausnahme ist das „verlorenen Schaf“, das nicht für Gott, sondern für den Menschen transparent ist. Aber auch das verlorene Schaf spricht nicht und ist darin mit der verlorenen Drachme vergleichbar.68 4. Jesus vermittelt in Form „besprechender Gleichnisse“ (oder von Gleichnissen i. e. S.), die sich auf Wiederkehrendes beziehen, auch das Außergewöhnliche. Seine Botschaft ist: Auch Außergewöhnliches ist in seiner Nachfolge normal. 5. Jesus füllt Lücken in Bildfeldern aus, indem er Wachstumsbilder von Saat und Ernte auf eine Gemeinschaft deutet. Sie enthalten die Botschaft: Angesichts der Veränderung der ganzen Welt bilden sich neue Gemeinschaften. 6. Jesus vermittelt durch eine sozial gering geachtete Gattung einfachen Menschen ein „hohes“ Selbstverständnis, ermutigt sie zu außergewöhnlichem Handeln. Die Moral der Fabeln ist dagegen oft defensiv: Wer nicht aufpasst, wird geschädigt! 7. Jesus nutzt Gleichnisse und Bilder als Chance, um gegen den Widerspruch seiner Hörer von Gottes Güte als mysterium fascinosum zu sprechen, aber auch um Gott im Gleichnis von der bittenden Witwe (Lk 18,8) als tremendum zur Sprache zu bringen, mit dem der Mensch hadert. Jesus baut trotzdem auf Gottes Güte. Unser Fazit ist: Die allgemeinen Gattungsstrukturen der Gleichnisse gehen auf den historischen Jesus zurück. Das wird auch durch Vergleich seiner Gleichnisse mit der Bildersprache des Urchristentums bestätigt. 5.2 Die Wirkungsplausibilität der Gleichnisse Jesu: Bildreden im Urchristentum
Jesusgleichnisse sind im Urchristentum als Gattung in vielen Überlieferungsströmen gestreut bezeugt, so dass sie kaum erst im Urchristentum entstanden sind. Dennoch ist ein sehr verständlicher Einwand gegen die Authentizität der Gleichnisüberlieferung, dass acht Gleich-
67 Vgl. G.Theißen, Die Bilderwelt des Gottesreichs. Familien- und Pflanzenmetaphorik bei Johannes dem Täufer und Jesus von Nazareth, in: M.Schmidt/M.Lau (Hg.), Sprachbilder und Bildsprache. Studien zur Kontextualisierung biblischer Texte, 2019, 173–199. 68 Das verlorene Schaf steht dabei in Lk 15,1–10 parallel zum „verlorenen Groschen“, neben einem Bild aus dem Bereich der Artefakten. Ein Groschen hat kein inneres Eigenleben. Das wird in Lk 15 durch das anschließende Gleichnis vom verlorenen Sohn ausgeglichen. Er wird nicht gefunden, er kehrt von selbst zum Vater zurück.
Jesus als Dichter: Die Gleichnisse Jesu
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nisse nur als matthäisches, siebzehn nur als lukanisches Sondergut erhalten sind. Sind sie erst bei der Komposition dieser beiden Evangelien entstanden? Dagegen spricht, dass schon das MkEv am Ende der Parabelrede versichert, Jesus habe weit mehr Gleichnisse gesprochen. Die Parabelrede schließt nach drei Gleichnissen mit den Worten: „Und durch viele solcher Gleichnisse sagte er ihnen das Wort“ (Mk 4,33). In Mk 12,1 werden „Gleichnisse“ (im Plural) angekündigt, denen nur ein einziges Gleichnis folgt! Es gab also schon sehr viel mehr Gleichnisse zur Zeit des MkEv, als er in sein Evangelium aufgenommen hat. Deren geringe Aufnahme im ältesten Evangelium könnte sich dadurch erklären, dass das MkEv sie als eine Gattung charakterisiert, die nicht einmal die engsten Jünger Jesu verstehen. Sie gilt als dunkel und interpretationsbedürftig. Belege für eine breitere Gleichnisüberlieferung auch über die synoptischen Evangelien hinaus bietet das Thomasevangelium, das neben Parallelen zu synoptischen Gleichnissen69 drei Gleichnisse Jesu vom Fischer, Krug und Attentäter ohne synoptische Parallele, aber in synoptischem Stil bringt (ThEv 8.97.98). Weitere Gleichnisse in diesem Stil finden sich im „Brief des Jakobus“ (EpJak 7,24–28; 8,16–23; 12,22–27, vgl. § 3.3.3.). Die Gleichnisse im MtEv und LkEv enthalten ferner Hinweise darauf, dass die Evangelisten sie nicht geschaffen haben. Die Pointe in Mt 20,16 – die Ersten werden die Letzten, die Letzten die Ersten sein – passt nicht zum Gleichnis, in dem alle gleich behandelt werden. Die Mahnung in Mt 25,13 „Darum wachet!“ passt nicht zum Gleichnis, in dem alle Jungfrauen, nicht nur die törichten, sondern auch die klugen einschlafen. In den Gleichnissen vom barmherzigen Samariter und verlorenen Sohn zeigt die Erzählung eine jüdische Perspektive: Die Samariter gelten als Fremde; der verlorene Sohn geht beim Hüten der (unreinen) Schweine fast zugrunde; sein Vaterhaus liegt im jüdischen Palästina. Es ist unwahrscheinlich, dass der Lk-Evangelist solche Erzählungen mit jüdischer Perspektive geschaffen hat. Genauso wichtig ist der Nachweis, dass im Urchristentum entstandene Bildersprache von der Gleichnissprache Jesu deutlich unterschieden ist. Einige Bilder, die in Gleichnissen Jesu begegnen, werden im Urchristentum ganz anders entfaltet.70 Die Bildrede über den guten Hirten (Joh 10,1–16), den Weinstock (15,1–8) und den Ölbaum (Röm 11,17–24) enthalten allegorische Elemente, die nicht in den Bildzusammenhang integriert sind. Jesus ist sowohl die Tür zu den Schafen als auch der Hirt, der durch sie hineingeht. Das Weinstockbild zielt eigentlich darauf, dass die reifen Trauben bei der Ernte gepflückt werden, dennoch werden sie aufgefordert, im Weinstock zu „bleiben“. Dass abgebrochene Zweige im Ölbaum erneut aufgepfropft werden sollen (Röm 11,23), ist nur von der Sachaussage her verständlich: Auch Juden, die Jesus abgelehnt hatten, sollen noch einmal eine Chance erhalten. Vergleichbare allegorische Elemente lassen sich in den Jesusgleichnissen leicht als sekundäre Schicht abheben, wie z. B. der Hinweis auf die Zerstörung Jerusalems in Mt 22,7. 69 Im ThEv finden sich drei Gleichnisse aus dem MkEv (ThEv 5.9.20), vier aus Q (ThEv 64.96.103.107). Wenn das ThEv darüber hinaus drei Parallelen zum mt Sondergut (ThEv 57.76.109) bringt, aber nur eine einzige zum lk Sondergut (ThEv 63), so könnte das damit zusammenhängen, dass das Matthäus- und Thomasevangelium in den Osten des Römischen Reichs gehören, das Lukasevangelium dagegen in den Westen. 70 Vgl. die Analyse der Bildersprache des Paulus in G.Theißen/P.v.Gemünden, Der Römerbrief – Rechenschaft eines Reformators, 2016, bes. S. 135–226.
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Dritter Teil: Das Wirken und die Verkündigung Jesu
Die drei genannten Bildreden im JohEv und Römerbrief beziehen sich ferner alle auf die Kirche.71 Es kann kein Zufall sein, dass sich auch die beiden (sekundären) allegorisierenden Auslegungen von Jesusgleichnissen in den Synoptikern auf die Kirche beziehen (Mk 4,13– 20; Mt 13,36–43). Dadurch zeigen sie eine formale Nähe zu den Kirchenbildern im JohEv und Römerbrief. Beide Überlegungen, die Hinweise auf eine breite Überlieferung von Jesusgleichnissen im Urchristentum über die synoptischen Evangelien hinaus und die von den Jesusgleichnissen abweichende urchristliche Bildsprache (im JohEv und Römerbrief) sprechen für eine Herleitung der Gleichnisüberlieferung vom historischen Jesus. Urchristliche Autoren ziehen seinen Gleichnisformen bald andere Formen bildlicher Rede vor. 5.3 Gleichnisse als Jesuserinnerungen
Unser Ergebnis ist soweit: Ohne das Wirken des historischen Jesus wäre die Gleichnisüberlieferung von Jesus nicht entstanden. Sind sie aber deshalb „Urgestein der Überlieferung“ (J.Jeremias, Gleichnisse, 7)? Hier muss man eher sagen: Sie sind ein wirkungsauthentischer Niederschlag seiner Lehre! Das gilt vor allem für gattungsspezifische Merkmalen, in denen Erinnerungsstrukturen des historischen Jesus nachwirken. Wir finden darüber hinaus manchmal individuelle Erinnerungsspuren, mit denen sich Jesus selbst in einige Gleichnisse eingetragen hat – auch tendenzspröde Züge, die nicht zur nachösterlichen Verehrung Jesu passen. Im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1–16) ist Jesus in Gestalt des Verwalters präsent, der den Lohn austeilt. In rabbinischen Parallelen fehlt in der Regel eine vergleichbare vermittelnde Gestalt. In ihnen nimmt der König selbst die Lohnauszahlung vor. Erzählerisch wäre der Verwalter nicht nötig, der Hausherr verlässt die Szene nicht, wie sein Dialog mit den murrenden Arbeitern zeigt. Falls alltägliches Lebens abgebildet wäre, müsste schon das Anwerben der Arbeiter durch den Verwalter geschehen. Da der Hausherr eindeutig Gott ist, kann es sich bei dem Verwalter nur um eine in Gottes Auftrag handelnde Mittlergestalt handeln. Da sie eine untergeordnete Rolle spielt, hat sich Jesus hier wahrscheinlich selbst ins Bild gesetzt. Für die ersten Christen wäre er zu niedrig platziert. Eben das spricht für ein authentisches Jesusgleichnis. Im Gleichnis vom ungerechten Verwalter (Lk 16,1–12) nimmt Jesus die Rolle eines Stellvertreters ein: Gegen alle Regeln erlässt er den Menschen ihre Schulden, aber zur Überraschung aller, stellt sich der Herr hinter ihn. Gott deckt die von Jesus vermittelte Sündenvergebung, obwohl Menschen sie für eine rechtswidrige Anmaßung halten müssen. Auch hier steht diese Mittlergestalt ganz auf Seiten der Menschen. Den vier Deutungen des Gleichnisses in 16,10– 12 merkt man noch an, welche Verlegenheit dieses Gleichnis den ersten Christen bereitet hat. Im Gericht des Menschensohns (Mt 25,31–46) steht Jesus als Richter im Zentrum, aber urteilt nach allgemein ethischen Kriterien. Ursprünglich war von einer Konfrontation von Juden und Heiden im Gericht die Rede.72 Die Heiden haben in den hilfsbedürftigen Juden 71 Dasselbe gilt auch für Bildreden im Hirten des Hermas (Sim I–IX). 72 Vgl. G.Theißen, Die Rede vom großen Weltgericht (Mt 25,31–46). Universales Hilfsethos gegenüber allen Menschen? in: A.Götzelmann u. a. (Hg.), Diakonie der Versöhnung. Ethische Reflexion und so-
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nicht die Brüder des Messias erkannt. Sie werden nach einer allgemeinen Ethik gerichtet, die im Alten Orient dazu verpflichtet, Hungernden und Dürstenden, Fremden und Nackten, Kranken und Gefangenen zu helfen.73 Das Begraben von Toten fehlt, weil dieser rituelle Akt von Heiden an verstorbenen Juden nicht vollzogen werden durfte. Alle Menschen werden in diesem Gleichnis im Gericht an ihrem Verhalten zu Juden gemessen. Auch Heiden haben hier eine Chance, durch ethisches Verhalten zum Heil zu gelangen. Der Messias ist kein Kriegsheld, der die Heiden besiegt, sondern ein Richter, der ihre Hilfe für Juden anerkennt. Das MtEv hat diese Tradition sekundär noch konsequenter universalisiert, indem es alle Völker und Menschen zu „Brüdern“ des endzeitlichen Richters macht: Brüder und Schwestern sind in der Endfassung eindeutig nicht nur Juden, sondern alle notleidenden Menschen.74 In allen begegnet der Weltenrichter selbst. Mt 25,31–46 wird dadurch zu seinem Gericht nicht nur über Heiden, sondern über alle Menschen. Vor allem steht dieser Richter als „Menschensohn“ (d. h. als Mensch) auf derselben Stufe wie die von ihm gerichteten Menschen. Er urteilt über seine Geschwister.75 Noch einmal sei betont: Dass so viele Gleichnisse erst in das MtEv und LkEv aufgenommen wurden, ist erklärungsbedürftig. Das könnte verschiedene Gründe haben: Einige Gleichnisse enthalten einen so dunklen Hintergrund, dass sie dazu motivieren konnten, mit Gott zu hadern wie die Witwe in Lk 18,1–8. Im Gleichnis von Lazarus ist der Blick in die Hölle so abschreckend, dass in ihm selbst eingeprägt wird, man solle nur mit den Geboten des Mose und Prophetensprüchen zum Tun des Guten motivieren, nicht mit diesem Blick in die Hölle (Lk 16,29–31). Andere Gleichnisse wie das vom verlorenen Sohn (Lk 15,11–32) oder von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1–16) vertreten eine so humane Moral, dass sie Menschen überfordern. Gerade zwei der humansten Gleichnisse Jesu nehmen durch sogenannte „Verschränkungen“ (E.Linnemann) den Protest der Hörer vorweg. Der ältere Sohn protestiert stellvertretend für alle Hörer und Leser gegen die Vorzugsbehandlung des verlorenen Sohns, die Langzeitarbeiter kritisieren im Namen eines korrekten Gerechtigkeitsempfindens gegen die Bevorzugung der Kurzzeitarbeiter. Uns sind diese Gleichnisse oft so vertraut, dass sie bei uns nicht mehr diesen Unwillen auslösen.76
73
74 75 76
ziale Arbeit in ökumenischer Verantwortung, 1998, 60–70: Der Menschensohn wird zweimal „König“ genannt (Mt 25,34.40), die Gerichteten nennt er seine „Brüder“ (Mt 25,40). Die Brüder des Königs aber sind nach Dtn 17,5 die Israeliten: „Du sollst aus deinen Brüdern einen zum König über dich setzen“. Darauf stützt sich die Annahme, dass Mt 25,31–46 ursprünglich vom Gericht über die Völker spricht, die daran gemessen werden, was sie den Israeliten als Brüdern des Königs getan haben. Belege bei J.Friedrich, Gott im Bruder. Eine methodenkritische Untersuchung von Redaktion, Überlieferung und Traditionen in Mt 25,31–46, 1977, 164–172. Jes 58,8f; SlHen 9–10; TestJos 1,4–6; Midr zu Ps 118 § 17, für die Mandäer R. Ginza I § 105, für Ägypten das 125. Kapitel des Totenbuches. Für die Deutung von panta ta ethnē auf „alle Menschen“ einschließlich der Juden spricht u. a. der Sprachgebrauch „alle Völker“ im Unterschied zu „Völkern“ (in Mt 4,15; 6,32; 10,5.18; 12,18.21; 20,19.25). Zur Beispielgeschichte vom Samariter vgl. oben 1.4 die Auslegung von B.B.Scott, Parable*, 1989, 189–202. Das gilt auch für weitere Sondergutgleichnisse: Im MtEv schrecken das Gleichnis vom Fischnetz (13,47f) und die Vision vom Gericht des Menschensohns (25,31–46) ab. Nicht nur der allzu gütige Arbeitgeber erregt Anstoß, auch der Herr, der seinen Sklaven nicht verzeiht – obwohl vorher zu grenzenloser Vergebung aufgerufen wird (18,23–35 vgl. 18,21f). Die „törichten“ Jungfrauen tun nichts Böses, trotzdem
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Dritter Teil: Das Wirken und die Verkündigung Jesu
Hinzu kommt ein weiterer Grund: Dort wo sich Jesus selbst in die Gleichnisse eingetragen hat, nimmt er eine eingeschränkte Rolle ein, die seiner nachösterlichen Verehrung nicht entspricht: Wenn man ihn im Sämann entdeckt, muss man auch registrieren, dass viel von seinem Samen verloren ging. Wenn man ihn als Gastgeber beim großen Abendmahl vorstellt, muss man die Absagen registrieren. Wenn er als Sohn des Weinbergbesitzers die Pacht eintreiben soll, hat er eine Aufgabe, mit der er keine Sympathie erringen kann. Viele dieser Gleichnisse wurden erst spät im Rahmen einer Darstellung des Lebens Jesu in die Evangelien aufgenommen, in denen Kreuz und Auferstehung für alle Überlieferungen einen neuen Rahmen geschaffen hatte. Im Licht von Ostern konnten Jesusanhänger auf Sündenvergebung durch seine Botschaft vertrauen, auch wenn sie durch seine radikalen Forderungen überfordert wurden. Das geschieht in den Evangelien manchmal durch kleine Akzente. Das MtEv bekämpft die Angst vor Verwerfung, indem es die Sündenvergebung nicht an die einmalige Taufe, sondern an das Abendmahl bindet, das immer wieder neu gefeiert und wiederholt wird (Mt 26,28), das LkEv, indem Jesus einem reuigen Verbrecher unmittelbar vor seinem Tod am Kreuz das Heil zusagt (Lk 23,43). Nach beiden Evangelien muss keiner Angst haben, das Heil zu verfehlen. Ferner konnten die Anhänger Jesu im Schatten des Kreuzes auch mit den dunklen Seiten Gottes leben, weil Jesus selbst unter ihnen gelitten hat, selbst in die Hölle hinabgestiegen war und sie mit Licht erfüllt hatte. Durch den Glauben an Erniedrigung und Erhöhung Jesu konnten die Jesusanhänger auch jede stellvertretende Figur in den Gleichnissen erhöhen. Der „Erfolg“ des Christentums verdankt sich solchen paradoxen Verbindungen von radikaler Forderung und Vergebungsbereitschaft, von Glauben und Anfechtung, von hohen und niedrigen Jesusbildern.
6. Hermeneutische Überlegungen Unser historisches Ergebnis ist: Die Jesusgleichnisse gehören in eine Gruppe verwandter Gattungen in der Antike, zwischen denen eine enge „Familienähnlichkeit“ besteht. Sie umfassen vorderorientalische, griechische und lateinische Fabeln, biblische, neutestamentliche und rabbinische Parabeln. Dabei bilden die von Jesus überlieferten Gleichnisse zusammen mit den erst später schriftlich bezeugten rabbinischen Parabeln einen eigenen „Ökotyp“. Die Jesusgleichnisse heben sich in dieser Gruppe als ein besonderer Typ heraus – u. a. durch die Abwesenheit von Anthropomorphismen, das Zurücktreten von Tierparabeln mit Ausnahme des „verlorenen Schafs“, die Unabhängigkeit von der auszulegenden Schrift. Die fehlende Mehrfachbezeugung für viele Gleichnisse ist kein Argument gegen ihre Authentizität. Denn die allgemeinen Strukturen der Gleichnisse Jesu passen nicht nur kontextplausibel in seine Welt, sondern zeigen Züge, die davon abweichen und nur bei Jesus gefunden wurden. Hin und wieder lassen sich sogar individuelle Erinnerungsspuren erkennen. erhalten sie keinen Zugang zur Hochzeit (25,1–13). Im Sondergut des LkEv ist das Gleichnis vom betrügerischen Verwalter ebenso anstößig (Lk 16,1–8) wie das Gleichnis von der Witwe und dem ungerechten Richter (18,1–8).
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Jesus als Dichter: Die Gleichnisse Jesu
Noch wichtiger ist eine hermeneutische Erkenntnis: Jesus wählt für das Zentrum seiner Botschaft die Form der Gleichnisse und machte sie dadurch zu einem Paradigma religiöser Rede von Gott. Von Gott kann man vor allem in Bildern und Gleichnissen sprechen. Umstritten ist freilich, wie sich die Realität Gottes zum sprachlichen Bild verhält. Die kerygmatische Auffassung der Gleichnisse nimmt eine Art „Realpräsenz“ Gottes in den Gleichnissen nach dem Modell der Inkarnation an: „Wie Christus verstanden wird als Verkörperung des göttlichen Wortes (nicht bloß als Information über dessen Inhalt), so wird das Gottesreich im Gleichnis sprachlich verkörpert (nicht bloß beschrieben). Das Gleichnis spricht gleichsam inkarnatorisch“ (H.Weder).77 Die Sache wäre danach im Bild genauso anwesend wie nach manchen Abendmahlslehren der Erhöhte in den Abendmahlselementen präsent ist. Diesem wortsakramentalen Gleichnisverständnis steht ein poetisches Gleichnisverständnis gegenüber, nach dem die Gleichnisse weniger eine wirklichkeitsverändernde Realpräsenz Gottes enthalten, sondern den Blick des Menschen so verändern, dass er die Wirklichkeit neu betrachtet und Spuren der Veränderungspräzens Gottes in ihr entdeckt. Folgende Tabelle stellt die Unterschiede beider Auffassungen heraus:
Das kerygmatische Gleichnisverständnis: Gleichnisse sind wirklichkeitsschaffendes Wort Gottes
Das poetische Gleichnisverständnis: Gleichnisse sind wirklichkeits erschließende Bilder des Menschen
Verhältnis von Bild und Sache
Die Sache (das Gottesreich = A) ist im Bild (= B) präsent und inkarniert sich in ihm: A est B.
Das Bild weist auf eine Sache, die mit ihm identisch und zugleich nicht-identisch ist: A significat B.
Thema der Gleichnisse
Alle Gleichnisse sprechen von der Gottesherrschaft. Sie haben ein Thema und einen Inhalt.
Gleichnisse sprechen von Gott, vom Menschen und der Geschichte theologisch, ethisch und eschatologisch.
Übersetzbarkeit
Gleichnisse sind unübersetzbar. Die in ihnen präsente Wirklichkeit wird durch sie Realität.
Gleichnisse sind übersetzbar – durch immer neue Auslegungen mit einem Überschuss des Nicht-Übersetzbaren.
Appell an die Zuhörenden
Gleichnisse zielen auf Anerkennung Jesu, in dessen Wort die Gottesherrschaft präsent ist.
Gleichnisse geben Impulse für Denken und Verhalten und sensibilisieren für Gottes verändernde Gegenwart.
77 H.Weder, Wirksame Wahrheit. Zur metaphorischen Qualität der Gleichnisse Jesu, in: ders., (Hg.), die Sprache der Bilder, 1989, 110–127, S. 115.
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Dritter Teil: Das Wirken und die Verkündigung Jesu
Einige hermeneutische Ansätze zum Verständnis der Gleichnisse versuchen die Spannung zwischen einer kerygmatischen Deutung „von oben“ und einer poetischen Deutung „von unten“ durch Orientierung an der Sprache zu überwinden. 1. Dass menschliche Sprache etwas Neues offenbaren kann, zeigt T.Aurelio in: Disclosure in den Gleichnissen Jesu, 1977. Religiöse Sprache beschreibt nicht die vorhandene Realität, sondern erschließt in „Aha-Erlebnissen“ eine neue Realität für den Menschen, nicht nur die Person Jesu als Sprecher der Gleichnisse, sondern Gott als Ursprung der durch Jesus vermittelten Offenbarung (als einer „disclosure“). Diese Theorie deutet mit sprachanalytischen Mitteln Gleichnisse kerygmatisch „von oben“.78 2. Ihr entspricht eine Deutung der Gleichnisse „von unten“ bei D.Massa in: Verstehensbedingungen von Gleichnissen. Prozesse und Voraussetzungen der Rezeption aus kognitiver Sicht, 2000. Die Gleichnisse lösen durch Textsignale in Menschen kognitive und kreative Akte aus, so dass sie die Wirklichkeit neu sehen. Sie erreichen ihr Ziel durch kognitive Veränderungen im Menschen. 3. Zwischen solchen Ansätzen vermittelt Chr.Kähler in: Jesu Gleichnisse als Poesie und Therapie. Versuch eines integrativen Zugangs zum kommunikativen Aspekt von Gleichnissen Jesu, 1995. Gleichnisse erschließen (a) kognitiv die Welt, lösen sich dabei (b) spielerisch und ästhetisch von Zwängen der Begriffssprache und fordern (c) appellativ, Kontakt mit dem Sprecher aufzunehmen und das eigene Handeln zu verändern. Sie sind heilende Rede – angesichts von Sprachlosigkeit, Konflikten und Grenzsituationen. Gleichnisse verändern und heilen Menschen.
Zwischen der kerygmatischen Gleichnisauffassung „von oben“ und der poetischen Deutung „von unten“ lässt sich vermitteln. Das wortsakramentale kerygmatische Gleichnisverständnis tendiert dazu, die metaphorische Struktur des Gleichnisses zu einer mythischen Aussage zu machen. Es ist, als würde man aus der Metapher „Achill ist ein Löwe“ eine Geschichte machen, die sagt: „In Achill versteckt sich ein Löwe“. Das wäre ein Mythos. Einen Mythos muss man wörtlich verstehen; eine Metapher aber lässt poetische Freiheit, zu entscheiden, worin wir die Übereinstimmung zwischen Bild und Sache erkennen. Sie weist auf einen „offenen Referenten“ in der Wirklichkeit. Ein Mythos lässt diese Freiheit nicht. Er kann zum Ausdruck bringen, was in einer Gruppe unbestritten ist, ihre impliziten und expliziten Dogmen. Auch Jesus hat in mythischen Überzeugungen gelebt, aber stellte das Zentrum seiner Verkündigung in metaphorischer Sprache dar. Er verwandte Gleichnisse als undogmatische Art, von Gott zu reden, und wollte dadurch nicht bezeugen, wie man schon immer über Gott gedacht hat, sondern Impulse geben, neu und anders von ihm zu denken. Als Alternativen gab es im damaligen Judentum apokalyptische Geheimschriften, die neue religiöse Erkenntnisse durch Visionen vermittelten, oder allegorische Schriftauslegung, die sie in bekannte Texte hineingeheimniste – beides Formen von Schriftgelehrsamkeit. Gleichnisse zeigen dagegen einen Umgang mit der theologischen Tradition, der nicht an Bildung und Schriftgelehrsamkeit gebunden ist und alle Menschen ansprechen kann. Gleichnisse waren mündliche Texte für alle. 78 Diese Auffassung der Gleichnisse als „disclosure“ basiert auf I.T.Ramsay (1915–1975), Religious Language. An Empirical Placing of Theological Phrases, 1957.
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Wenn Gleichnisse Impulse dazu geben, neu und anders über Gott zu denken, müssen sie Widerstand überwinden. Nathan musste den Widerstand eines Königs durch seine Parabel überwinden, Jesus den Widertand jüdischer Aristokraten durch sein Winzergleichnis, den Widerstand von frommen Menschen in Gleichnissen vom Verlorenen. Doch seine Gleichnisse lassen manchmal einen noch tieferen Widerspruch erkennen: Jesus widerspricht in bildlicher Form Gott selbst. Seine Gleichnisse setzen das biblische Hadern mit Gott voraus: Die Witwe hadert mit Gott, weil sie ihn als ungerechten Richter erlebt. Arbeitnehmer hadern mit Gott, weil er ihre Leistungen nicht würdigt. Der Bruder des verlorenen Sohnes hadert mit Gott, weil der verkommene Bruder ihm vorgezogen wird. Gott bestraft Menschen, die anvertraute Pfunde nicht veruntreut, sondern bewahrt haben. Der Leser und Hörer fragt sich: Ist Gott nicht auch in seiner Gnade ungerecht, wenn er die Untreue des Verwalters akzeptiert und Schulden erlässt? In Bildern formuliert Jesus provokative Erkenntnisse und spricht auch dunkle Seiten Gottes an.79 Es war nicht nur die Radikalität des humanen Ethos in diesen Gleichnissen, weswegen manche erst spät in die Evangelien aufgenommen wurden, es waren auch dunkle Schatten im Gottesbild. Manche Gleichnisse Jesu wurden vielleicht auch aus diesen Gründen nur zögernd rezipiert, so dass sie heute nur als Sondergut eines einzigen Evangeliums erhalten sind. Sie sind uns aber inzwischen so vertraut, dass wir ihre provozierenden Züge kaum wahrnehmen.80 Die Evangelien aber lassen mit ihrer Hilfe die Gnade Gottes hell aufleuchten. Das MkEv adressiert in Gleichnissen keine Gerichtsbotschaft an Christen. Das LkEv steigert mit ihnen das Vertrauen in die Vergebungsbereitschaft Gottes. Die Logienquelle und das MtEv fordern mit Gleichnissen Vertrauen in das ethische Handeln von Menschen. Gleichnisse ermöglichen in Bildern eine Konfrontation mit dem fordernden und richtenden Gott, und enthalten dabei Einsichten, die uns ohne Bilder irritieren würden.
79 Auch rabbinische Gleichnisse weisen diesen Zug auf. Vgl. D.Weiss, Pious Irreverence: Confronting God in Rabbinic Judaism, 2017 und M.Poorthuis, On Fields, the Poor Human Condition and the Advantage of One Teacher: Four Rabbinic Parables in Avot de Rabbi Nathan, in: A.Merz/E.Ottenheijm/ M. Poorthuis (ed.), Power* (erscheint 2023). 80 R.Zimmermann, Form und Funktion der Frageparabeln des erinnerten Jesus, in: J.Schröter u. a., Gleichnisse und Parabeln*, 2021, 99–117, zeigt treffend: Parabeln sind „alles andere als eindeutig und klar. Sie fordern heraus“ (S. 117). Sie stellen scheinbare Selbstverständlichkeiten zur Diskussion.
§ 13 Jesus als Lehrer: Die Ethik Jesu
J.Amir, Art. Gesetz II (Judentum), TRE 13 (1984) 52–55; K.Berger, Die Gesetzesauslegung Jesu I, 1972; G.Bornkamm, Wandlungen im alt- und neutestamentlichen Gesetzesverständnis, in: Geschichte und Glaube II, Ges. Aufs. 4, 1971, 73–119; I.Broer (Hg.), Jesus und das jüdische Gesetz, 1992; A.Grandy, Die Weisheit der Gottesherrschaft. Eine Untersuchung zur Jesuanischen Synthese von traditioneller und apokalyptischer Weisheit, 2012; M.Ebner, Jesus – ein Weisheitslehrer? Synoptische Weisheitslogien im Traditionsprozeß, 1998; ders., Jesus als Weisheitslehrer, in: G.Schröter/Chr.Jacobi (Hg.), Jesus-Handbuch, 2017, 417–425; P.Hoffmann/V.Eid, Jesus von Nazareth und die christliche Moral. Sittliche Perspektiven der Verkündigung Jesu, 1975; R.H.Horsley, Jesus and the Spiral of Violence, 1987; Th.Kazen, Jesu Interpretation der Tora, in: J.Schröter/Chr.Jacobi, Jesus-Handbuch, 2017, 402–416; M.Konradt, Ethik im Neuen Testament, 2022, bes. 39–54; M.Küchler, Frühjüdische Weisheitstraditionen, 1979; W.Loader, Jesus and the Law, in: T.Holmén/St. E.Porter (ed.), Handbook for the Study of the Historical Jesus, 3, 2011, 2745–2772; J.P.Meier, A Marginal Jew 4. Law and Love, 2009; H.Merklein (Hg.), Neues Testament und Ethik, 1989; E.P.Sanders, Jewish Law from Jesus to the Mishnah, 1990; W.Schrage, Art. Ethik IV, TRE 10 (1982) 436–443; W.Stegemann, Jesus und seine Zeit, 2010, 262–296; G.Theißen, Wanderradikalismus. Literatursoziologische Aspekte der Überlieferung von Worten Jesu im Urchristentum, ZThK 70 (1973) 245–271 = Studien zur Soziologie des Urchristentums, 1979, 79–105; ders., Gewaltverzicht und Feindesliebe (Mt 5,38–48/Lk 6,27–38) und deren sozialgeschichtlicher Hintergrund (1979), in: ders., Studien zur Soziologie des Urchristentums, 21983, 160–197; ders., Die Jesusbewegung. Sozialgeschichte einer Revolution der Werte, 2004; D.Zeller, Die weisheitlichen Mahnsprüche bei den Synoptikern, 1977.
Jüdische Ethik ist Interpretation des göttlichen Willens, der in der Vergangenheit als Thora offenbart wurde, in der Gegenwart als Weisheit zugänglich ist und in der Zukunft sich durchsetzen wird. Thora, Weisheit und Eschatologie sind die Grundlagen der Ethik Jesu. Durch Auslegung der Thora, weisheitliche Orientierung an der Schöpfung und die Erwartung der Gottesherrschaft motivierte er zum Tun des Willens Gottes. Eine Deutung seiner Ethik muss verbreitete einseitige Urteile über jüdische Thoraethik (links in der Tabelle) differenzieren:
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Jesus als Lehrer: Die Ethik Jesu
Verabsolutierung des Gesetzes: Das Gesetz ist nach dem Exil aus einer regulativen Größe innerhalb des Bundes zu einer konstitutiven Größe des Bundes geworden (M.Noth, G.v.Rad).
Die jüdische Religion ist auch nachexilisch ein „Bundesnomismus“, in dem die Erwählung dem Gesetz vorangeht. Aber mit Verlust der politischen Selbständigkeit erhielt das Gesetz eine größere Bedeutung.
Kasuistik: Das Gesetz wurde auf viele Einzelfälle hin ausgelegt, der Wille Gottes „aufgesplittert“, der ganze Mensch aber dem Willen Gottes entzogen.
Kasuistik ist vor allem für die nach-neutestamentliche Zeiten belegt und dient oft einer lebenspraktischen Humanität. Die Thora soll im Alltag lebbar sein.
Lohnmoral: Der Gehorsam gegenüber dem Gesetz wird durch Aussicht auf Lohn motiviert. Daher muss man sich um überschüssige Verdienste bemühen.
Lohnmoral wird manchmal dezidiert abgelehnt: „Du sollst nicht sein wie ein Knecht, der dem Herrn dient mit der Bedingung, dass er Belohnung bekommt“ (Av I,3).
Formalismus: Das Gesetz wird getan, weil es geboten ist. Zu rituellen Geboten heißt es: „Ich, der Herr, habe es zur Satzung gemacht, und du hast kein Recht, darüber nachzudenken“ (bJoma 67b).
Ebenso wird gefordert, dass die Thora persönlich angeeignet wird: Durch Lust am Gesetz wird die Thora zu seinem eigenen Gesetz (bAZ 19a). Es findet eine Identifikation mit dem Willen Gottes statt.
Leiden unter dem Gesetz: Das Leben unter dem Gesetz ist eine Last (Mt 23,4; Apg 15,10.28). Schriftgelehrte bürden den Menschen unnötige Forderungen auf.
Die „Freude am Gesetz“ (vgl. Ps 119) ist so stark, dass am Fastentag des 9. Av das Thoralernen verboten wird, weil es zu viel Freude macht (bTaan 30a).
Festzuhalten sind insbesondere drei Erkenntnisse: (1) Als Thoraethik ist Jesu Verkündigung nicht Überwindung jüdischer Gesetzlichkeit, auch wenn Jesus oft so dargestellt wurde, als sei er „der Botschafter einer unjuristischen Moral, die grundsätzlich frei ist von jeder Bindung an die mosaische Thora und den jüdischen Thoragehorsam“ (E.Stauffer).1 (2) Als Weisheitsethik formuliert Jesus Maximen aufgrund einer erkennbaren Ordnung in Schöpfung und Leben. (3) Als eschatologische Ethik ist sie Aufbruch in eine neue Welt: Das Gesetz öffnet den Weg dahin. Die Gottesherrschaft ist Veränderungspräsenz Gottes in der Welt, die den Menschen an deren Gestaltung beteiligt. Dieses Bild der Ethik Jesu ist Ergebnis einer langen Forschungsgeschichte.
1. Die Forschungsgeschichte zur Ethik Jesu Schon H.S.Reimarus (1694–1768) betonte in: Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, 1972, Bd. 2, 99 ff., dass Jesus mit seiner Ethik in den Grenzen des Judentums blieb. Jesus habe dem „Judentum überhaupt keinen Stoß geben, und um so weniger das geschriebene Gesetz aufheben wollen“. Erst seine Jünger hätten sich vom Gesetz gelöst „und das Judentum zu Grabe gebracht“. Ebenso war Jesus nach D.F.Strauß (1808–1874) von der Geltung der Thora überzeugt, habe aber das Gesetz auf das Wesentliche und die Gesin1
E.Stauffer, Die Botschaft Jesu, 1959, 26.
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nung konzentriert. Der Kritik an den Sabbatvorschriften, „worin immer letzters bestanden haben mag“, legte Strauß keine grundsätzliche Bedeutung bei (Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet, Bd. II, 1836, 380). Solch eine historische Betrachtung der Ethik Jesu relativierte ihre Geltung. Diese Relativierung wurde im 19. Jh. dadurch aufgefangen, dass man die Ethik Jesu auf ihre Vollendung hin weiterdachte oder in ihr übergeschichtliche Werte entdeckte. 1.1 Die zeitlose Geltung der Ethik Jesu: F.C.Baur bis H.J.Holtzmann
Den ersten Weg des Idealismus ging F.C.Baur (1792–1860), der Jesu Ethik als entscheidenden Durchbruch zur reinen Sittlichkeit deutete. In den Antithesen werde ein „vom Mosaismus wesentlich verschiedenes neues Prinzip“ formuliert und „dem Aeussern das Innere, der That die Gesinnung, dem Buchstaben der Geist entgegengesetzt“. Jesus sei sich des Unterschieds zum Judentum so sicher gewesen, „dass, wenn er auch … den neuen Wein in die alten Schläuche legte, er diess doch nur mit dem bestimmten Bewusstsein that, der neue Inhalt werde bald genug die alte Form zerbrechen“.2 Dieser Bruch mit dem Judentum habe sich aber erst im universalistischen Paulinismus durchgesetzt. Als dieser geschichtsphilosophische Idealismus, der im ganzen Urchristentum die Vollendung einer universalen ethischen Entwicklung sah, verblasste, suchte die nächste Generation mit A.B.Ritschl (1822– 1889) nach zeitlosen „Werten“ jenseits der historischen Realität. H.J.Holtzmann (1832–1910) fand in der Ethik Jesu „lauter ewige sittliche Wahrheit“, die „der historischen Beschränktheit … bar und ledig“ war.3 Die liberale Theologie dieser Zeit suchte diese Wahrheit freilich weniger in den konkreten, oft schwer praktizierbaren Forderungen Jesu als in der zugrunde liegenden Gesinnung. 1.2 Radikale Moralkritik an Jesu Ethik: F.Nietzsche
Parallel stellte im 19. Jh. Religionskritik die Annahme religiös begründeter ewiger Werte grundsätzlich in Frage. Nach L.Feuerbach (1804–1872) projiziert die Religion gültige menschliche Werte in einen imaginären Himmel, statt sie auf Erden zu verwirklichen. F.Nietzsche (1844–1900) bestritt darüber hinaus, dass es positive Werte sind, welche die Religion in den Himmel hineinprojiziert. Es sei in Wirklichkeit eine lebensfeindliche Moral, durch die ohnmächtige Unterschichten die Freiheit der Oberschicht abwerteten. Sie sei Ausdruck des Ressentiments kleiner Leute, die in der Welt zu kurz gekommen sind. Mit dem Judentum habe ein „Sklaven-Aufstand in der Moral“ begonnen, der sich erst im Christentum durchgesetzt und die „freien Geister“ durch ein Ethos des Mitleids gelähmt habe. Er habe sich in der Französischen Revolution, in der Demokratisierung und im Sozialismus verhängnisvoll ausge-
2 3
Vgl. F.C.Baur, Das Christentum und die christliche Kirche der drei ersten Jahrhunderte, 21860, 29 f. H.J.Holtzmann, Die synoptischen Evangelien (1863), zit. nach Kümmel, Das Neue Testament. Geschichte der Erforschung seiner Probleme (1958 21970) 188.
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wirkt.4 Nietzsche beurteilte Jesus differenziert: Er respektierte den weltfremden „Idioten“, verachtete sein Ressentiment gegen Reiche und Mächtige, schätzte ihn aber als Kritiker der Moral.5 Dennoch war sein Urteil über die christliche Ethik im „Antichrist“ vernichtend: „Was ist schädlicher als irgend ein Laster? – Das Mitleiden der That mit allen Missrathnen und Schwachen – das Christenthum …“. Wenn er als seine Moral dagegen hält: „Die Schwachen und Missrathnen sollen zu Grunde gehen: erster Satz unsrer Menschenliebe. Und man soll ihnen noch dazu helfen“,6 so wirkt das im Rückblick auf die deutsche Geschichte von 1933–1945 nicht wie eine Kritik, sondern wie eine Laudatio auf das Christentum. 1.3 Die Ethik Jesu als Eschatologie, Thora oder Weisheit?
Nietzsches Kritik sollte ein Motiv sein, Jesu Ethik in ihrem historischen Kontext, d. h. im Rahmen jüdischer Eschatologie, Gesetzesauslegung und Weisheit neu zu interpretieren und zu würdigen. Ein entscheidender Impuls dazu ging von der Entdeckung der Eschatologie Jesu aus. a) Jesu Ethik als konsequente Eschatologie
Die Vertreter der „konsequenten Eschatologie“ meinten, Jesus habe keine Ethik für die dauerhafte Welt verkündigt, sondern Bedingungen für den Eintritt in das Reich Gottes, die nur für eine kurze Zwischenzeit bis zum Ende der Welt gelten. Ihre Radikalität sei Ausnahme- und Interimsethik, meinten J.Weiß, Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes, 1892 21900, 139, und A.Schweitzer, Von Reimarus zu Wrede, 1906, 351ff = Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, 9 1984, 400 ff. Jesu „weltfremde“ Eschatologie irritierte die liberale Theologie, rückte aber in der Dialektischen Theologie ins Zentrum. R.Bultmann (1884–1976) deutete nämlich die Naherwartung Jesu als Konfrontation des Menschen mit Gott und Ausdruck eines unbedingten Entscheidungsdrucks, in der es um Gelingen oder Misslingen des Lebens geht. Eschatologie und Ethik wiesen den Menschen „auf sein Jetzt als letzte Stunde im Sinne der Stunde der Entscheidung“ (Jesus, 1926, 91). Dabei verblassen die konkreten Inhalte der ethischen Verkündigung angesichts der einen Forderung, das Leben in existenzieller „Eigentlichkeit“ zu führen. Jesu Verkündigung hat bei Bultmann zwar eine unbedingte kerygmatische und existenzielle Bedeutung, seine konkrete Ethik aber nur eine geringe Relevanz. Auch für M.Dibelius (1883–1947) gehörte in: Geschichtliche und übergeschichtliche Religion im Christentum, 1925, Jesu Naherwartung zu seinem überholten Weltbild. Sie ziele auf eine überzeitliche Haltung, aus der das ethisch Gebotene hervorgehe (S. 58f). In Auseinandersetzung mit F.Nietzsche deutete er Jesu Lehre als Ethik für freie Geister durch eine Kri4 5 6
F.Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, 1886, Nr. 195, in: Kritische Studienausgabe, KSA 5, Das ietzschezitat aus „Jenseits von Gut und Böse“ findet sich in KSA 5, 1999, S. 116 f. N M.Dibelius, Der ‚psychologische Typus des Erlösers‘ bei F. Nietzsche, DVfLG 22 (1944) 61–91. Beide Zitate F.Nietzsche, Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum, Nr. 2, (1888/89), in: KSA 6, 1999, 165–254, S. 170. Vgl. G.Theißen, Urchristliches Ethos – ein „Sklavenaufstand in der Moral“? Überlegungen zur Analyse des Urchristentums bei F.Nietzsche, in: E.Eisen/H.Mader (Hg.), Talking God in Society, 2020, 175–192.
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Dritter Teil: Das Wirken und die Verkündigung Jesu
tik an der Moral, den Jakobusbrief dagegen als eine Ethik für kleine Leute durch Kritik der Mächtigen und Reichen durch Moral. Das Urchristentum habe Erfolg gehabt, weil es beide Typen von Moral vereinte. Paulus und das JohEv repräsentierten die Ethik der freien Geister, der Jakobusbrief die Moralkritik der kleinen Leute. Jesu Verkündigung hat bei Dibelius anders als bei Bultmann nicht nur einen kerygmatischen, sondern auch einen sozialethischen Wert. b) Jesu Ethik als Gesetzesauslegung
Schon bald wandte man gegen die konsequent-eschatologische Deutung der Ethik Jesu ein, dass sie als Thoraethik durch die Gesetzesauslegung der Rabbinen, der Qumrangemeinde und des hellenistischen Judentum viel besser erhellt werden kann, also durch ethische Traditionen, die nachhaltig wirken wollten. 1. Durch Vergleich mit der rabbinischen Gesetzesauslegung zeigte G.Kittel in: Die Bergpredigt und die Ethik des Judentums, ZSTh 2 (1924) 555–594, dass es zu allen Forderungen der Bergpredigt Analogien bei den Rabbinen gibt.7 Das Besondere der Ethik Jesu liege in der Konzentration und Intensität dessen, was im Talmud mit Rituellem vermischt und verstreut vorliege. Jesu radikale Forderungen zeigten vor allem, dass der Mensch auf Gnade angewiesen ist. Dagegen wandte der jüdische Forscher C.G.Montefiore, The Synoptic Gospels I/II, 21927, cxvii–cxx ein, Jesus sei in seiner Radikalität kein Vorläufer protestantischer Theologie gewesen, sondern Nachfahre jüdischer Propheten unter veränderten geschichtlichen Bedingungen. Auch die Rabbinen wussten, dass die Gnade Gottes zur Verwirklichung des Guten gehört.8 Unter den späteren Neutestamentlern ordneten insbesondere E.P.Sanders, Jewish Law*, 1990, und J.P.Meier, Marginal Jew*, 2009, die Ethik Jesu in die Tradition jüdischer Thoraauslegung ein. 2. Der Vergleich mit der Gesetzesauslegung in Qumran wurde deswegen wichtig, weil die rabbinischen Texte erst in der Zeit nach Jesus niedergeschrieben wurden, während die Qumrantexte vor Jesus entstanden sind. H.Braun zeigte in: Spätjüdisch-häretischer und frühchristlicher Radikalismus, 1957, dass sowohl in Qumran als auch bei Jesus die Thora verschärft wird. In Qumran wollte man alle Gebote der Thora halten, Jesus aber habe sie „ungrundsätzlich“ mit einer Freiheit zu Abweichungen im konkreten Fall interpretiert. Vor allem verband Jesus die Verschärfung der Thora mit einer Thoraentschärfung, die Intensivierung des „Du sollst“ mit der Radikalisierung des „Du darfst“. 3. Durch Vergleich mit dem Gesetzesverständnis des hellenistischen Judentums zeigte K.Berger, Gesetzesauslegung Jesu`*, 1972, dass es zur Zeit Jesu ein Gesetzesverständnis gab, das sich auf die „allgemeinen und sozialen Tugenden“ konzentrierte und das Gesetz auf das Wesentliche reduzierte. Dagegen präge eine antihellenistische Reaktion das rabbinisch-jüdische Gesetzesverständnis. Da sich letzteres im Judentum durchgesetzt habe, konnte das offenere jüdische Gesetzesverständnis zum Merkmal des Christentums werden. Aus einer inner7 8
G.Kittel (1888–1948) entwickelte sich nach 1933 leider zu einem Antisemiten. Vgl. ferner C.G.Montefiore, Rabbinic Literature and Gospel Teachings, 1930. Zu seinem Jesusbild vgl. W.Vogler, Jüdische Jesusinterpretationen in christlicher Sicht, 1988, 35–40.
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jüdischen Differenz wurde so ein Unterscheidungsmerkmal zwischen Juden und Christen. Das offene Gesetzesverständnis der Christen habe vor allem im hellenistischen Judentum Parallelen. Deswegen spricht K.Berger viele Traditionen Jesus ab, sie seien erst im hellenistischen Urchristentum entstanden. c) Jesu Ethik als Weisheitslehre
Die relative Freiheit Jesu gegenüber dem Gesetz lässt sich als Fortführung weisheitlicher Traditionen im palästinischen Judentum erklären. Die Weisheit blühte in der hellenistischen Zeit unter dem Einfluss griechischer Bildung auf. Sie wurde mit der Thora identifiziert (Sir 24, SapSal, Philo) und durch die Vernunft erkannt. G.Bornkamm deutete in: Gesetzesverständnis*, 1971, 73–19, dieses weisheitliche Judentum, dem jede rabbinische Kasuistik fremd war, als Vorstufe für die auf Einsicht zielende Ethik Jesu. D.Zeller zeigte in: Mahnsprüche*, 1977, eine Besonderheit dieser Ethik Jesu auf: Die jüdische Weisheit formulierte Mahnworte im Singular, Jesus aber im Plural, inhaltlich dominiert das Verhältnis zum Mitmenschen. Während sonst im Judentum die Weisheit immer nur in Verbindung mit der Thora und dem Logos relevant wurde, hat Jesus sie nach M.Küchler, Weisheitstraditionen*, 1979, „in ihrem Eigensten“ provoziert (S. 583), so dass es bei ihm zu einer Selbstverschärfung der Weisheit kam. Sie habe sich bei ihm als eine autonome Kraft entfaltet. Sein Schüler A.Grandy, Weisheit*, 2012, sah das Charakteristische bei Jesus dagegen in einer Synthese von traditioneller und apokalyptischer Weisheit. Nach M.Ebner, Jesus – ein Weisheitslehrer?* 1998, schwankte Jesus zwischen beiden Traditionen: Er sei, nachdem er sich zum apokalyptischen Täuferschüler bekehrt hatte, später in seine weisheitliche Heimat zurückgekehrt und habe sich dabei vom Täufer gelöst. Eine andere Deutung sieht in Jesu Weisheit eine Nähe zum Kynismus, so J.D.Crossan, The Historical Jesus. The Life of a Mediterranean Jewish Peasant, 1991, und B.Lang, Jesus der Hund. Leben und Lehre eines jüdischen Kynikers, 2010. Richtig ist, dass die Weisheit im Judentum schon immer universal für die Weisheit anderer Völker offen war. 1.4 Der sozialgeschichtliche Ort der Ethik Jesu
Seit 1968 zog die Exegese verstärkt sozial- und realgeschichtliche Zusammenhänge zur Deutung der Ethik Jesu heran, einerseits im Rahmen des ganzen Judentums, andererseits im Rahmen jüdischer Erneuerungsbewegungen in ihm. E.P.Sanders Jesus and Judaism, 1985, deutete Jesu Ethik im Rahmen eines allgemeinen Bundesnomismus, bei dem die Zuwendung Gottes der Forderung vorhergeht. Konflikte mit dem Gesetz seien Ausnahmen gewesen. Die verschiedenen Gruppen im Judentum wie die Pharisäer würden in der theologischen Exegese gegenüber diesem „common Judaism“ weit überschätzt. Um im Rahmen einer solchen Einbettung Jesu ins Judentum auch seine Konflikte in ihm zu verstehen, konnte man zwei Wege beschreiten: einerseits die Definition des Judentums durch strukturelle Merkmale erweitern, andererseits historisch in ihm differenzieren. Den ersten Weg ging W.Stegemann in: Jesus*, 2010. Nach seinem kulturanthropologischen „Ethnizitätsmodell“ kennzeichnet des jüdische Volk folgende Merkmale: Abstam-
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Dritter Teil: Das Wirken und die Verkündigung Jesu
mung, Wohngebiet, Sprache, heilige Texte, Mythen, Tempel, Verfassung. Bei dieser Relativierung des Gesetzes findet das Gesetzesverständnis Jesu leicht seinen Ort mitten im Judentum. Den zweiten Weg ging Th.Kazen, Jesu Interpretation der Tora*, 2017. Er beobachtet im Judentum der Zeit Jesu, in Qumran, bei Philo und den Rabbinen, eine halachische Ordnung im Werden, zu der auch Jesu Ethik gehört. Es gebe bei ihm „keinen echten Konflikt zwischen den Leitlinien der Thora und ihrer pragmatischen Anwendung“, die ein prophetisch inspiriertes „Interesse an menschlichem Wohlergehen und sozialer Gerechtigkeit“ zeigt. (S. 416). Ansätze, die Jesus in das allgemeine Judentum einordnen, wurden durch Deutungen im Rahmen begrenzter jüdischer Erneuerungsbewegungen konkretisiert. G.Theißen interpretierte in: Wanderradikalismus* (1973), Jesu Forderung von Heimat-, Besitz-, Schutz- und Familienlosigkeit als Ausdruck der Situation jüdischer Wandercharismatiker: Unabhängig von Alltagsverpflichtungen konnten die Nachfolger Jesu ihr radikales Ethos praktizieren und predigen. Ihr Radikalismus war „Wanderradikalismus“, ihre Heimatlosigkeit Ausdruck sozialer Entwurzelung, die durch eine Krise der jüdisch-palästinischen Gesellschaft mitbedingt sei (G.Theißen, Soziologie*, 1977). Dagegen suchte R.H.Horsley in: Jesus*, 1987, nicht bei heimatlosen Außenseitern den Sitz im Leben der Ethik Jesu, sondern im palästinischen Dorfleben, das Jesus unter Rückgriff auf volksnahe Überlieferungen habe erneuern wollen. Zu diesem Zweck habe er die Solidarität der Menschen untereinander gestärkt. Wandercharismatiker seien allenfalls Katalysatoren einer Dorferneuerungsbewegung gewesen. Das sozialgeschichtliche Interesse richtete sich ferner darauf, wie diese Erneuerungs bewegung in der Gesamtgesellschaft soziale Grenzen zwischen Juden und Heiden, Reichen und Armen, Männern und Frauen verändert hat: a) Konflikte zwischen Juden und Heiden sind der soziale Kontext für das Gebot der Feindesliebe. G.Theißen zeigte in: Gewaltverzicht und Feindesliebe * 31983, dass gewaltloser Widerstand damals zwei Mal erfolgreich war: in den 20er Jahren gegen den römischen Präfekten Pilatus, 39 n. Chr. gegen den Legaten Petronius. Das friedliche Ethos der Jesusbewegung hatte gerade in dieser Zeit eine Chance.9 b) Zwischen Reichen und Armen 10 kam es in Jesu Ethik zu einem Austausch von Werten. Jesus machte durch die Forderung von Feindesliebe, Friedensstiften und Freizügigkeit Oberschichtwerte für alle zugänglich. Als Friedensstifter galten in der Antike z. B. vor allem die Herrscher, bei Jesus aber auch einfache Menschen (Mt 5,9). Dem Abwärtstransfer von Oberschichtwerten entsprach bei Jesus eine Aufwertung der Unterschichtwerte Nächstenliebe und Demut (G.Theißen, Jesusbewegung*, 2004, 259–264).
9 Der Leipziger Pfarrer Stephan Bickhardt, der die Montagsmärsche 1989 mitorganisiert hat, sagte mir zehn Jahre später, dass dieser Aufsatz sie zu ihren gewaltfreien Protestaktionen ermutigt hat. 10 L.Schottroff/W.Stegemann, Jesus von Nazareth – Hoffnung der Armen, 1978, deuteten die Nachfolgexistenz der Jünger als Ausdruck ökonomischer Not, die erst das Lk-Evangelium auf eine freie Entscheidung zurückgeführt habe.
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c) Angeregt durch die feministische Exegese11 zeigte M.Ebner, Jesus von Nazaret in seiner Zeit. Sozialgeschichtliche Zugänge, 2003, dass auch Ehepaare unter den Nachfolgern Jesu waren. Nach QLk 14,26 verließen die Nachfolger Eltern und Kinder, nicht aber ihre Frauen. Petrus und andere Apostel missionierten zusammen mit ihren Ehefrauen (1Kor 9,5) wie später Priska und Aquila, Andronikus und Junia (Röm 16,3.7).
Der Vergleich der Jesusbewegung mit älteren Erneuerungsbewegungen wie den Pharisäern, Sadduzäern und Essenern im 2. Jh.v. Chr. und jüngeren Bewegungen im 1. Jh.n. Chr. ergab, dass Jesus mit seiner Ethik inhaltlich in die Mitte des Judentums gehört, auch wenn er diese Ethik in einer abweichenden Lebensform realisierte.12 Während die Dialektische und Existenziale Theologie Jesusüberlieferungen ethisch kaum auswertete, entdeckte die Sozial geschichte seit 1968 erneut ihre Bedeutung für die Ethik. 1.5 Der erinnerungshistorische Zugang zur Ethik Jesu
Normen widersprechen dem, was faktisch geschieht. Daher wird Ethik oft durch Erinnerungen begründet, die kontrapräsentisch in Spannung zur Gegenwart treten: Wenn am Sinai ein Gesetz gegeben wurde, bevor das Volk das Land betreten hatte, konnte es in Widerspruch zur Realität utopische Gebote für die Zukunft formulieren wie z. B. die Wiederherstellung der Besitzverhältnisse im Jubeljahr (Lev 25). Im Neuen Testament konnte das MtEv die Radikalität der Ethik Jesu in der Bergpredigt (Mt 5–7) bewahren. Die Bergpredigt entwirft eine universale Ethik für alle Menschen, die sich nicht nur an „Nachfolger“ und „Glaubende“ wendet. Beide Begriffe fehlen. Ihre Adressaten sollen „Licht der Welt“ sein. Am Ende verkündigt das MtEv eine universale Ethik, die alle Menschen daran misst, was sie anderen Gutes getan haben (Mt 25,31–46). Die „Sonderethik“ einer kleinen Gruppe wird hier zum Vorschein einer allgemeinen Ethik, die in der Goldenen Regel und im Doppelgebot der Liebe (Mt 7,12; 22,34–40) zusammengefasst wird. Radikale Ethik schafft Aufmerksamkeit, ihre Plausibilität Akzeptanz. Ethik im Rahmen von Jesuserinnerungen ermöglichte beides: Das Festhalten an kontrapräsentischer Radikalität und realistischen Anpassungen an die Gegenwart. Die Frage ist aber: Sind ethische Traditionen wie die in der Bergpredigt gesammelten Worte „wirkungsauthentische“ Erinnerungen an den historischen Jesus? Gibt es neben einzelnen „Erinnerungsspuren“ auch durch ihn bewirkte „Erinnerungsstrukturen“? Viele sehen im doppelten Liebesgebot das Zentrum der ethischen Verkündigung Jesu. Von ihm her ordnen sich in der Tat andere Forderungen zu einem sinnvollen Ganzen.
11 Vgl. E.Schüssler-Fiorenza in: „Zu ihrem Gedächtnis“. Eine feministisch-theologische Rekonstruktion der christlichen Ursprünge, 1988. 12 G.Theissen, Jesus within Judaism. The Political and Moral Context of Jesus Research and its Methodology, in: B.Chilton, A.LeDonne, J.Neusner (ed.), Soundings in the Religion of Jesus: Perspectives and Methods in Jewish and Christian Scholarship, 2012, 143–158.
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2. Das doppelte Liebesgebot als Zentrum der Thora Thora und Tempel waren nach Verlust der politischen Selbständigkeit (587 v. Chr.) Zentren des Judentums, nach Zerstörung des Tempels 70 n. Chr. blieb die Thora übrig. Sie ist mehr als eine Sammlung von Normen, sondern bietet eine umfassende Geschichte, in der die Erwählung der Forderung vorangeht, wie folgende Parabel zeigt: Ich bin der Ewige, dein Gott (Ex 20,2). Warum sind die zehn Worte (die zehn Gebote) nicht am Anfang der Thora gesagt worden? Sie (die Weisen) haben ein Gleichnis aufgestellt. Womit ist das zu vergleichen? Mit einem, der in eine Stadt zog. Er sprach zu ihnen (den Bewohnern): Ich will über euch König sein. Sie sprachen zu ihm: Hast du irgendetwas für uns getan, dass du über uns König sein willst? Was machte er? Er baute ihnen die Mauer, leitete ihnen den Wasserkanal zu, führte für sie Kriege. (Hierauf) sprach er: Ich will über euch König sein. Da sprachen sie zu ihm: Ja und Ja! So führte Gott die Israeliten aus Ägypten, spaltete ihnen das Meer, ließ ihnen das Manna herabkommen, ließ ihnen die Brunnen emporsteigen, trieb ihnen die Wachteln zu, führte für sie den Krieg mit Amalek. (Darauf) sprach er zu ihnen: Ich will über euch König sein. Da sprachen sie zu ihm: Ja und Ja! (Mekhilta des R. Jischmael Bahodesch 5 zu Ex 20,2, zit. n. E.P.Sanders, Paulus, 1995, 80f, vgl. Bill 1,174).
Gott gibt erst seine Gebote, nachdem er durch Gnadenerweise sein Volk für sich gewonnen hat. Der Bund geht dem Gesetz, der Indikativ dem Imperativ voran. Jesus rückt dabei das Liebesgebot der Thora ins Zentrum seiner Ethik. Darin stimmt er mit einem jüdischen Schriftgelehrten überein (Mk 12,28–34). Eine individuelle Erinnerungsspur des historischen Jesus ist daran erkennbar, dass er beide Teile radikalisiert: Einerseits fordert die Liebe zu Gott den ganzen Menschen und wird allen anderen Gütern übergeordnet, andererseits wird die Nächstenliebe auf Feinde, Fremde und Deklassierte ausgeweitet. Ausgehend vom Doppelgebot der Liebe erkennt man ein Netz ethischer Jesusüberlieferungen, die ein sinnvolles Erinnerungsmuster bilden. 2.1 Textbefund und Tendenzen bei den Synoptikern
Das Doppelgebot der Liebe wurde wahrscheinlich im MkEv und in Q unabhängig voneinander überliefert. Denn Mt und Lk folgen möglicherweise einer Q-Tradition, wenn sie übereinstimmend den im MkEv zitierten Beginn des Schemas weglassen: „Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein“ (Dtn 6,4; Mk 12,29). Aus dem markinischen Schulgespräch mit einem sympathisierenden Schriftgelehrten war wohl schon in Q ein Streitgespräch geworden, in dem Jesus wie bei Mt und Lk „versucht“ wird. Die Synopse der Perikope zeigt, dass alle Versionen den Konsens im Judentum hervorheben: Mk durch Zustimmung des Schriftgelehrten zu Jesus, Lk dadurch, dass der Schriftgelehrte selbst die Antwort gibt, Mt dadurch, dass er das Doppelgebot der Liebe eine Zusammenfassung von Gesetz und Propheten nennt:
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Jesus als Lehrer: Die Ethik Jesu
Mt 22,34–40
Mk 12,28–34
Lk 10,25–27.28ff
Frage eines Gesetzeslehrers (νομικός) nach dem größten Gebot im Gesetz (ἐντολὴ μεγάλη ἐν τῷ νόμῳ)
Frage eines Schriftgelehrten (γραμματeύς) nach dem ersten/ höchsten Gebot von allen (ἐντολὴ πρώτη πάντων)
Frage eines Gesetzeslehrers (νομικός): Was muß ich tun, damit ich das ewige Leben erbe (τί ποιήσας ζωὴν αἰώνιον κληρονομήσω)?
Antwort Jesu:
Antwort Jesu:
Gegenfrage Jesu:
1. Gottesliebe (ἀγαπήσεις κύριον τὸν θεόν σου) + drei Kräfte = Dtn 6,5) Diesem ersten u. größten Gebot (μεγάλη καὶ πρώτη ἐντολή) ist gleich (ὁμοία) die:
1. Monotheismus (= Dtn 6,4) und Gottesliebe (ἀγαπήσεις κύριον τὸν θεόν σου + vier Kräfte = Dtn 6,5) Neben dies erste Gebot tritt als zweites die
Was steht im Gesetz (ἐν τῷ νόμῳ?
2. Nächstenliebe (ἀγαπήσεις τὸν πλησίον σου ὡς σεαυτόν = Lev 19,18) In beiden hängen Gesetz u. Propheten (νόμος καὶ προφῆται)
2. Nächstenliebe (ἀγαπήσεις τὸν πλησίον σου ὡς σεαυτόν = Lev 19,18) Es gibt kein größeres Gebot als diese Antwort Schriftgelehrter: 1. Monotheismus (= Dtn 6,4 erweitert um Dtn 4,35) 2. Gott zu lieben (Dtn 6,5) und den Nächsten zu lieben (Lev 19,18), ist mehr als alle Opfer
Streitgespräch über die Auslegung des Gesetzes: ausdrückliche Gleichordnung von Gottes- und Nächstenliebe; Doppelgebot als Summarium von Gesetz und Propheten ohne kultkritische Spitze
Antwort Schriftgelehrter: Liebe (ἀγαπήσεις): 1. Gott (κύριον τὸν θεόν σου + vier Kräfte) und 2. deinen Nächsten (καὶ τὸν πλησίον σου ὡς σεαυτόν = Dtn 6,5 + Lev 19,18)
Bestätigung Jesu: Du bist nicht fern von der Gottesherrschaft (οὐ μακρὰν εἶ ἀπὸ τῆς βασιλείας τοῦ θεοῦ)
Bestätigung Jesu: Tu das und du wirst leben (τοῦτο ποίει καὶ ζήσῃ)! Gegenfrage: wer ist mein Nächster? Samaritergleichnis
Schulgespräch über das höchste Gebot überhaupt: Vorordnung des Monotheismus (noch stärker bei Antwort!); Nachordnung des Kultgesetzes; Nähe (oder Stufung? vgl. οὐ μακράν) zwischen jüd. Lehrer und Jesus, Judentum/Christentum
Streitgespräch über das Tun, das zum Leben führt: Der Schriftgelehrte (!) gibt die Antwort durch Zitatverschmelzung; Konsens zwischen Schriftgelehrtem und Jesus; Samaritanergleichnis als Auslegung, explizite Ausweitung auf alle Menschen.
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Dritter Teil: Das Wirken und die Verkündigung Jesu
2.2 Jüdische Traditionen zum Doppelgebot der Liebe Mk und Lk bezeugen als Konsens, den Jesus und seine Gesprächspartner teilen, dass das doppelte Liebesgebot der Kern der Thora ist. Wir finden zwar nirgendwo eine Zitatenkombination von Dtn 6,5 und Lev 19,18 im Judentum, wohl aber Texte, die Jesu Doppelgebot der Liebe als Neuschöpfung im jüdischen Kontext plausibel machen. Es sind (1) Aussagen, die den einen Gott über alles stellen, (2) Aussagen über die Mitmenschlichkeit als höchstes Gebot und (3) eine Kombination beider Aussagen. 1. Das Bekenntnis zum einen und einzigen Gott begegnet in zwei Formen: als Einzigkeitsformel (heis theos) und Alleinanspruchsformel (monos theos). Besonders im hellenistischen Judentum sind Aussagen über den Monotheismus als erstes Gebot verbreitet. Die Einzigkeitsformel begegnet bei Xenophanes und im Deuteronomium als heis theos- bzw. heis kyrios-Formel (Dtn 6,4). Diese inklusive Formel meint einen einzigartigen Gott, neben dem es andere Gottheiten geben kann. Die Alleinanspruchsformel monos theos meint dagegen exklusiv einen einzigen Gott, besonders wenn die Verneinungsformel: „Es ist kein anderer außer ihm“ sie verstärkt. In urchristlichen Texten dominiert die Einzigkeitsformel heis theos. Gott kann andere Gestalten neben sich „tolerieren“ – vor allem Christus als den einen Kyrios (vgl.1Kor 8,6).13 Beim Doppelgebot der Liebe unterstützt die Verneinungsformel: „Es ist kein anderer“, die nur im Munde des jüdischen Schriftgelehrten begegnet (Mk 12,32), die Einzigkeitsformel im Sinne eines strengen Monotheismus. Im hellenistischen Judentum gilt dieser Glaube an den einen Gott als höchstes Gebot. Der Aristeasbrief 132 sagt: „Zuallererst zeigte er, dass nur ein Gott ist (monos) und seine Kraft durch alle Dinge offenbar wird“. Für Philo, Decal 65, ist es „das erste und heiligste Gebot“ für Juden, „einen für den höchsten Gott zu halten und zu verehren“. Wegen dieser Bedeutung des Monotheismus in der Diaspora meinte G.Bornkamm, das Schema sei erst außerhalb Palästinas dem Doppelgebot der Liebe wie im MkEv hinzugefügt worden. Da Ch.Burchard die mk Fassung mit dem Schema aber für ursprünglich hielt, führte er konsequenterweise die ganze Perikope auf das hellenistische Judentum zurück. Das Doppelgebot der Liebe kann dann nicht von Jesus stammen und müsste im Urchristentum entstanden sein.14 Aber die Betonung des strengen Monotheismus, die durch die Verneinungsformel in Mk 12,32 unterstrichen wird, widerspricht der urchristlichen Verehrung Christi als einer zweiten Gottheit neben Gott. Dieses tendenzwidrige Bekenntnis Jesu zu einem exklusiven Monotheismus muss eine alte Tradition sein. Für
13 Vgl. D.Staudt, Der eine und einzige Gott. Monotheistische Formeln im Urchristentum und ihre Vorgeschichte bei Griechen und Juden, 2012. 14 Vgl. G.Bornkamm, Das Doppelgebot der Liebe (1954), in Geschichte und Glaube. Ges. Aufs. III, 1968, 37–45: Ch.Burchard, Das doppelte Liebesgebot in der frühen christlichen Überlieferung, in: Der Ruf Jesu und die Antwort der Gemeinde, 1970, 39–62. Auch M.Wolter, Jesus von Nazaret, 2019, 210, plädiert für die Nichtauthentizität des Doppelgebots der Liebe.
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seine Authentizität sprechen auch Besonderheiten des doppelten Liebesgebots im Vergleich zu jüdischen Parallelen.15 2. Aussagen über die Mitmenschlichkeit als Kern und Zusammenfassung der Thora finden sich in Form der Goldenen Regel (Mt 7,12) und als Kommentar zu Lev 19,18 in jüdischen Traditionen von Rabbi Hillel und Rabbi Akiba. bSchab 31a (Bill I,357) berichtet, wie Rabbi Šammaj einen Nichtjuden wegjagt, der Proselyt werden wollte, wenn der Rabbi ihn die ganze Thora lehren könne, solange er auf einem Bein steht. Danach ging der zu Rabbi Hillel (um 20 v. Chr.), der ihn lehrte: „Was dir nicht lieb ist, das tue auch deinem Nächsten nicht. Das ist die ganze Thora, alles andere ist nur die Erläuterung, geh und lerne sie.“ Zwar ist die Goldene Regel hier nur eine Zusammenfassung der Thora, die zum weiteren Lernen der ganzen Thora motivieren soll. Doch sie hat Gewicht, zumal andere Aussagen sie unterstützen: Nach SLev 19,18 (Bill I,357) hat Rabbi Akiba († 135 n. Chr.) über das Gebot der Nächstenliebe (Lev 19,18) gesagt: „Das ist ein großer umfassender Grundsatz in der Thora“. Selbst wenn R. Akiba unter dem „Nächsten“ den Volksgenossen verstanden haben sollte, wird das Nächstenliebegebot besonders hervorgehoben. 3. Gottesbeziehung und Mitmenschlichkeit werden im Rahmen paränetischer Reihen kombiniert (Jub; TestXII) oder als Grundlehren der Thora bezeichnet (Philo). Im Jubiläenbuch (2. Jh. v. Chr.) stehen Gottesfurcht und Nächstenliebe nebeneinander beim „größten“ Schwur, dass „ihr ihn [d. h. Gott] fürchtet und ihn verehrt und indem ein jeder seinen Bruder liebt in Barmherzigkeit und Gerechtigkeit.“ (Jub 36,7f vgl. 7,20; 20,2). In den Testamenten der zwölf Patriarchen begegnet das doppelte Liebesgebot in paränetischen Reihen. Ihr vorchristlicher Ursprung ist freilich nicht sicher: „Bewahrt nun, meine Kinder, das Gesetz Gottes, … liebt den Herrn und den Nächsten, des Schwachen und Armen erbarmt euch“ (Testlss 5,1f). „Liebet den Herrn in eurem ganzen Leben und einander mit wahrhaftigem Herzen“ (TestDan 5,3). Eine enge Verbindung von Dtn 6,5 und Lev 19,18 lässt der Schluss von TestIss 7,6 erkennen: „Den Herrn liebte ich und ebenso jeden Menschen mit aller meiner Kraft [v.l. von ganzem Herzen]. Das tut auch ihr.“ Auch die Nächstenliebe soll also wie die Gottesliebe „mit aller Kraft“ geschehen! Gottesfurcht und Nächstenliebe werden ferner kombiniert in TestJos 11,1 und TestBenj 3,3–5. Dabei kann die Nächstenliebe durch die Goldene Regel ersetzt werden: „Ihn [Gott] sollen seine Kreaturen fürchten, und keiner soll dem Nächsten tun, was er nicht will, dass man’s ihm tue!“ (hebr. TestNaph 1,6). Im hellenistischen Judentum wurde das Gesetz durch die zwei Tugenden der „Frömmigkeit“ und „Gerechtigkeit“ charakterisiert (Aristeasbrief 131). Philo, SpecLeg 2,63, fasste die „Philosophie“, die am Sabbat im Synagogengottesdienst gelehrt wird, in „zwei Grundlehren“ 15 J.P.Meier, A Marginal Jew.4*, 2009, 342–477, bes. S. 499–501, S. 500: „Both the precise wording and the overall configuration of this teaching on the double commandment of love are unique to Jesus within the larger context of Jewish literature before and during his ministry“.
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zusammen, „denen die zahllosen Einzellehren und Sätze untergeordnet sind: in Bezug auf Gott das Gebot der Gottesverehrung und Frömmigkeit (eusebeias kai hosiotētos), in Bezug auf Menschen das der Menschenliebe und Gerechtigkeit (philanthrōpias kai dikaiosynēs).“ „Gottesverehrung und Frömmigkeit“ neben „Menschenliebe und Gerechtigkeit“ als Grundlehren des Gesetzes entsprechen dem antiken Kanon der zweier Tugenden, der Pflicht gegenüber Gott und den Menschen.16 Eine solche Konzentration auf zwei Gebote ist aber nicht auf das hellenistische Judentum beschränkt. Rabbi Meïr (um 150 n. Chr.) wird die Aussage zugeschrieben: „Jeder, der sich mit der Thora um ihretwillen beschäftigt, erwirbt sich viele Dinge …: Er heißt Freund, Liebling [sc. Gottes], einer, der Gott liebt und die Geschöpfe liebt, Gott erfreut und die Geschöpfe erfreut.“ (Av VI,1) Die Geschöpfe sind vor allem Menschen, wie Av I,12 zeigt: „Sei ein Schüler Aharons, den Frieden liebend und dem Frieden nachjagend, die Geschöpfe liebend und sie zur Thora führend“. 2.3 Das urchristliche Doppelgebot im Rahmen jüdischer Traditionen
Verständlicherweise wird oft die These vertreten, das urchristliche Doppelgebot der Liebe sei eine Anpassung an den im Hellenismus verbreiteten Kanon der zwei Tugenden. Nicht Jesus, sondern die ersten Christen hätten diese Anpassung vollzogen, als sie sich für NichtJuden öffneten. Zum Rätsel wird dann aber, warum das Doppelgebot der Liebe bei Paulus, der diese Öffnung für Nicht-Juden betrieben hat, keine Spur hinterlassen hat. Auch unabhängig davon spricht viel dagegen, dass das Doppelgebot der Liebe erst in der Diaspora entstanden ist: Denn statt der Nächstenliebe wird dort (1) die Menschenliebe betont. Die Nächstenliebe findet sich dagegen (2) eher in palästinischen Traditionen, während in der Diaspora (3) Gottesverehrung und Elterngebot als die wichtigsten Gebote gelten. 1. Philo und Josephus sprechen vor allem von Menschenliebe (Philanthropie). Philo schreibt über sie einen Traktat, ohne das Gebot der Nächstenliebe zu erwähnen (Virt 51–174). Ebenso fehlt die Nächstenliebe anders als die Menschenliebe (Ap 2,213) in Zusammenfassungen des jüdischen Gesetzes bei Josephus (Ant 4,176–301; Ap 2,190–219). Fürchteten Philo und Josephus durch Betonung der Nächstenliebe antijüdische Vorurteile zu bestätigen, dass Juden untereinander hilfsbereit sind, gegenüber anderen aber „feindseligen Hass“ haben (adversus omnes alios hostile odium; Tac hist V,5,1)? 2. Dagegen begegnen Aufforderungen zur Nächsten- und Bruderliebe in jüdischen Schriften aus Palästina. Tobit mahnt seinen Sohn, seine Brüder zu lieben (Tob 4,13), der sterbende Abraham ruft zur Nächstenliebe auf (Jub 20,2). Die Qumrantexte mahnen angelehnt an Lev 19,18 zur Bruder- und Nächstenliebe (CD VI,20–VII,4; 1QS VIII,2). Die Goldene Regel wird im hebräischen Text von Sir 31,15 mit der Nächstenliebe verbunden: „Erweise Freundschaft deinem Nächsten wie dir selbst, und alles, was du hassest, bedenke!“, ebenso im Targum Jeruschalmi zu Lev 19,18: „Du sollst deinen Nächsten lieben; denn was dir unlieb ist, sollst du ihm nicht tun“ (Bill. I, 353).
16 K.Berger, Gesetzesauslegung* I, 1972, 142 ff. Vgl. A.Dihle, Der Kanon der zwei Tugenden, 1968.
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3. In der jüdischen Diaspora gelten nicht Gottes- und Nächstenliebe als die wichtigsten Gebote, sondern das erste und fünfte Gebot. Philo fordert: „Ehre nächst Gott Vater und Mutter!“ (SpecLeg 2,235). Nach Josephus hat das Gesetz „die Ehrung der Eltern nach der Ehrung Gottes an die zweite Stelle gesetzt“ (Ap 2,206). Pseudo-Phokylides fordert: „Vor allen Dingen ehre Gott, sodann deine Eltern!“ (PsPhok 8). Nach den sibyllinischen Orakeln sind Juden Menschen, die „allein den immer herrschenden Unsterblichen ehren und sodann die Eltern“ (Sib 3,593f). Die Hervorhebung des ersten und fünften Gebots ist verständlich: Das erste Gebot leitet im Dekalog die religiösen, das Elterngebot die sozialen Pflichten ein. Das erste Gebot erinnert an die Herausführung aus Ägypten, das Elterngebot verheißt langes Leben im Land Israel. Beide Gebote verbinden Exodus und Landbesitz.
Es gibt sogar einen Beleg dafür, dass der griechische „Kanon der beiden Tugenden“ zur Deutung einer in Palästina vertretenen Lehre dienen konnte. Nach Josephus forderte Johannes der Täufers die Juden dazu auf, „Tugend zu üben und Gerechtigkeit gegeneinander und Frömmigkeit gegenüber Gott zu praktizieren und (dann) zur Taufe zu kommen“ (Ant 18,117). Der aus Jerusalem stammende Josephus benutzt hier eine griechische Tradition, um eine jüdische Lehre zusammenzufassen. Der ebenfalls aus Palästina stammende Justin (c.100–ca.165) bezieht sich sogar expressis verbis auf das Doppelgebot der Liebe als Kanon der zwei Tugenden: Daher scheint mir unser Herr und Heiland Jesus Christus recht zu haben, der gesagt hat, dass alle Forderungen der Gerechtigkeit (dikaiosynē) und Frömmigkeit (eusebeia) mit der Beobachtung zweier Gebote erfüllt werden. Dieselben lauten aber: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Kraft und den Nächsten wie dich selbst. (Dial 93,2).
Josephus und Justin lassen vermuten, dass schon der Täufer ein zusammenfassendes Doppelgebot gelehrt hat. Zufällige Erinnerungsspuren an den Täufer legen das nahe: Mk 6,20 charakterisiert den Täufer als „gerecht und heilig“. Das entspricht seiner Predigt von „Gerechtigkeit und Frömmigkeit“17. Jesus wäre dann wahrscheinlich nicht der erste gewesen, der das Doppelgebot der Liebe formuliert hat. Denn in Lk 10,27 zitiert es ein jüdischer Gesetzeslehrer spontan, in Mk 12,33 bestätigt es der Schriftgelehrte mit eigenen Worten. Wenn der Täufer (nach Josephus) alle Gebote in einem Doppelgebot zusammengefasst hat, Jesus aber das Doppelgebot der Liebe als bekannt voraussetzt, liegt der Schluss nahe, dass Jesus es vom Täufer übernommen hat oder durch ihn angeregt wurde, es zu formulieren. Es hat bei Jesus unverwechselbare Züge, wie ein Vergleich synoptischer und jüdischer Parallelen zeigt:
17 Josephus benutzt die Prädikate „fromm“ und „gerecht“ zur Charakterisierung von Menschen, aber nur vom Täufer sagt er, er habe Frömmigkeit und Gerechtigkeit gelehrt. Nach Mt 21,32 kam er auf dem „Weg der Gerechtigkeit“. Justin, Dial 93,3, fasst das Doppelgebot der Liebe als „Gerechtigkeit“ zusammen.
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Dritter Teil: Das Wirken und die Verkündigung Jesu
Jüdische Traditionen
Synoptische Traditionen
1. Mahnungen zur Gottes- und Nächstenliebe nehmen nur indirekt Bezug auf Dtn 6,5 und Lev 19,18.
1. Die Gebote der Gottes- und Nächstenliebe sind direkte Zitate von Dtn 6,5 und Lev 19,18.
2. Meist werden die beiden Gebote verschmolzen und beeinflussen sich gegenseitig im Wortlaut z. B. TestIss 5,2; 7,6.
2. Beide Zitate werden nur im Munde des jüdischen Schriftgelehrten verschmolzen (Mk; Lk), sonst aber getrennt aufgeführt.
3. Das „erste Gebot“ ist die Verpflichtung auf den jüdischen Monotheismus. Gottes- und Nächstenliebe begegnen in paränetischen Reihen neben anderen Geboten.
3. Beide Gebote werden nummeriert (Mk/Mt) und gleichgeordnet (Mt). Nur Mk verbindet die Gottesliebe mit dem jüdischen Monotheismus als erstem Gebot.
4. Die Thora wird zusammengefasst a) durch Goldene Regel und Nächstenliebegebot im palästinischen Judentum; b) durch Gottesverehrung und Menschenliebe im hellenistischen Judentum bei Philo und im Aristeasbrief.
4. Beide Gebote gelten als Zusammenfassungen von Gesetz und Propheten. Mt betont explizit ihren zusammenfassenden Charakter. Für ihn ist die Goldene Regel in vergleichbarer Weise Zusammenfassung von Gesetz und Propheten.
5. In TestIss 7,6 (v.l.)werden für beide Gebote alle Kräfte im Menschen aktiviert: „Den Herrn liebte ich und ebenso jeden Menschen mit aller meiner Kraft“
5. Bei der Zusammenfügung der beiden Gebote wird im ersten Gebot der Gottesliebe neben „Herz, Seele und Kräften“ der „Verstand“ hinzugefügt.
6. In paränetischen Reihen begegnen kultische Gebote. Mehr als Brand- und Schlachtopfer wiegt gerechtes Handeln (Spr 16,7 Lxx), Gebet, Vollkommenheit (1QS IX,3f).
6. Gottes- und Nächstenliebe werden polemisch den kultischen Geboten (den Brandopfern und Schlachtopfern) entgegengesetzt (Mk).
Die Übersicht zeigt, dass das urchristliche Doppelgebot der Liebe zwar in jüdische Analogien eingebettet, aber deutlich verschieden ist: Die beiden Gebote Dtn 6,4f und Lev 19,18 werden von Jesus wörtlich zitiert und anderen Geboten übergeordnet. Auch wenn viele Parallelen aus dem Diasporajudentum stammen, spricht für eine in Palästina geprägte Jesustradition, dass der Konsens zwischen Jesus und einem Schriftgelehrten dem urchristlichen Bild des Konflikts zwischen ihnen widerspricht. Der Schriftgelehrte gibt das Doppelgebot zudem in einer Form wieder, die den jüdischen Parallelen nahesteht, d. h. er nummeriert die beiden Gebote nicht und trennt sie auch nicht scharf. Das ist eine Erinnerungsspur eines im Urchristentum nicht mehr vorstellbaren Konsenses zwischen Jesus und einem Schriftgelehrten. Ein deutlicher Widerspruch zu urchristlichen Überzeugungen macht eine Entstehung dieser Perikope im Urchristentum ganz unwahrscheinlich. Die Einzigkeitsformel im Schema „Unser Gott ist der Herr allein“ und die Verneinungsformel des Schriftgelehrten: „Es gibt keinen anderen außer ihm“ (Mk 12,29 und 32) widersprechen der urchristlichen Überzeugung, dass es neben Gott einen anderen Herrn, den kyrios Jesus, gibt (1Kor 8,6). Das MkEv lässt deshalb dem Doppelgebot der Liebe die Perikope über die Davidssohnschaft folgen, die betont: Gott kann einen anderen an seiner Hoheit und Einzigkeit teilhaben lassen, indem
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er zu ihm sagt: „Setze dich zu meiner Rechten“ (Mk 12,36 = Ps 110,1). Gott darf das Gebot des exklusiven Monotheismus brechen. Auffällig ist: Jesus antwortet in der mk Fassung auf die Frage nach dem „ersten Gebot“ nicht mit einem Gebot, sondern mit einem Bekenntnis zum einzigen Gott, während er in der Mt-Fassung sofort mit einem Gebot antwortet. Gerade dieses vorausgeschickte Bekenntnis könnte im MkEv eine Erinnerungsspur Jesu sein. Denn wenige Jahre vor seinem Auftreten hatte Judas Galilaios unter Berufung auf das erste Gebot zum Widerstand gegen die Römer aufgerufen. Es sei verwerflich, „wenn sie weiterhin bei der Steuerzahlung an die Römer blieben und neben Gott sterbliche Herren ertrügen“ (Bell 2,118). Schon Johannes der Täufer setzte sich mit Judas Galilaios auseinander, wenn er in seiner Mahnung an Zöllner und Soldaten die von ihnen betriebene Steuererhebung indirekt anerkennt. Jesus musste sich sogar explizit mit der Steuerverweigerung auseinandersetzen (Mk 12,13–17). Es ist also sinnvoll, wenn er die Einzigkeit Gottes betont und sie in einen neuen Kontext stellt: Gott fordert nicht Feindschaft gegen die Römer, sondern Nächstenliebe.18 Weniger klar erkennbar ist eine zweite Erinnerungsspur des historischen Jesus. Das Alte Testament spricht oft von der Liebe Gottes zu seinem Volk und zu den Menschen,19 Jesus aber nie. Ebenso erstaunlich ist, dass die hohe Wertschätzung der Liebe Gottes zum Menschen, wie sie Paulus in Röm 8,31–39 und das JohEv in 3,16 und in den Abschiedsreden (Joh 13–17) bezeugt wird, nicht die synoptischen Jesusüberlieferungen gefärbt haben. Nur indirekt stellt das Wort von der Feindesliebe einen Zusammenhang zwischen dem Verhalten Gottes und der Forderung menschlicher Feindesliebe her – nicht dadurch, dass die Liebe Gottes beschworen wird, sondern dass er sich in gleicher Weise Bösen und Gerechten zuwendet, Sonne und Regen allen zugutekommen lässt. Es ist fast die dunkle Seite Gottes, angesichts derer viele resignieren, die hier als eine Motivation zu prosozialem Verhalten interpretiert wird. Diese Ambivalenz im Gottesbild passt gut zu den dunklen Seiten Gottes im Hintergrund mancher Gleichnisse. Insgesamt unterstützen solche Beobachtungen die Annahme, dass das doppelte Liebesgebot auf den historischen Jesus zurückgeht.20
18 Wir finden bei Paulus eine Konzentration des Ethos auf die Nächstenliebe (Gal 5,14; Röm 13,8–10), aber keine Spur vom doppelten Liebesgebot. Der vorchristliche Paulus war zu seiner Verfolgung der Christen durch das erste Gebot motiviert worden. Der konvertierte Paulus überwand durch Glauben an Christus, den er neben Gott verehrte, seinen Fanatismus. Er hatte damit den exklusiven Monotheismus hinter sich gelassen, der mit dem Gebot, Gott zu lieben oft verbunden war. 19 Gott liebt sein Volk (Hos 11,4; Dtn 7,7f; Jer 31,3; Jes 63,9.15; Zeph 3,17; Mal 1,2). Er liebt die Väter des Volkes (Dtn 4,37; 10,15), Menschen, die das Böse hassen (Ps 97,10), die Gerechten (Ps 146,8 vgl. Spr 15,9); wer reinen Herzens ist (Spr 22,11). Neben König Salomo (2Sam 12,24) gilt seine Liebe auch dem persischen König Kyros (Jes 48,14). 20 Vgl. G.Theißen, Das Doppelgebot der Liebe. Jüdische Ethik bei Jesus, in: Jesus als historische Gestalt, 2003, 57–72. Nachdrücklich plädiert J.P.Meier, A Marginal Jew.4*, 2009, 342–477, für Authentizität. Alternativ wird diskutiert, ob das Doppelgebot der Liebe eine Anpassung an den antiken Kanon der zwei Tugenden, der Frömmigkeit und Gerechtigkeit, ist.
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Dritter Teil: Das Wirken und die Verkündigung Jesu
3. Die Radikalisierung der Liebe zu Gott Vom Doppelgebot der Liebe her erschließen sich weitere Mahnungen. Das erste Liebesgebot verlangt, dass sich der ganze Mensch bis ins Innerste auf Gottes Willen ausrichtet (3.1) und Gott allem anderen in der Welt überordnet (3.2).21 3.1 Die Ausweitung der Gottesliebe auf den ganzen Menschen
Wenn es um den ganzen Menschen geht, wird beim ersten Gebot oft eine winzige Abweichung Jesu von der Tradition übersehen. Im Schema fordert die Liebe zu Gott den Menschen mit Herz, Seele und Kraft (Dtn 6,4). Die Jesusüberlieferung fügt den „Verstand“ hinzu. Alle Variationen der Überlieferung enthalten diese Ausweitung oder weisen Spuren von ihr auf: Mt 22,37
Mk 12,30
Mk 12,33
Lk 10,27
kardia (Herz) psychē (Seele) dianoia (Verstand)
kardia (Herz) psychē (Seele) dianoia (Verstand) ischys (Kraft)
kardia (Herz)
kardia (Herz) psychē (Seele) ischys (Kraft) dianoia (Verstand)
synesis (Verständnis) ischys (Kraft)
Die Betonung des Verstandes macht nur sichtbar, was im alttestamentlichen Begriff „Herz“ enthalten ist. Die LXX übersetzt hebr. „Herz“ (leb) manchmal sogar mit Verstand (dianoia). Liebe zu Gott bedeutet, ihm mit ganzem „Verstand“ zu dienen: „Achtet aber nur genau darauf, dass ihr tut nach dem Gebot und Gesetz, das euch Mose, der Knecht des Herrn, geboten hat, dass ihr den Herrn, euren Gott liebt und wandelt in allen seinen Wegen und seine Gebote haltet und ihm anhangt und ihm dient von ganzem Verstand (ex holēs tēs dianoías) und ganzer Seele (psychēs)“ (Jos 22,5). Doch wird in Mk 12,30 das „Herz“ nicht durch „Verstand“ übersetzt. Denn dann müsste der „Verstand“ dem „Herzen“ unmittelbar folgen oder seine Stelle einnehmen. Er ist aber vom „Herzen“ durch ein oder zwei Vermögen getrennt. Zu bedenken ist auch: Dtn 6,4f war Juden als Gebet vertraut. Bei vertrauten Gebeten registriert man kleinste Abweichungen und Zusätze. Auf dem „Verstand“ liegt daher ein besonderer Akzent. Auch im folgenden Schulgespräch spielt er eine Rolle. Als der Schriftgelehrte betont, dass das Doppelgebot der Liebe wichtiger als alle Opfer sei, erkennt Jesus, „dass er vernünftig (nounechōs) geantwortet hatte“ und sagt ihm: „Du bist nicht weit von der Gottesherrschaft“ (Mk 12,34). Vernünftig ist der Schriftgelehrte, weil er die Liebe anderen Geboten vorordnet. Mit Bezug auf das „größte Gebot“ sagt der Text daher: Man liebt Gott nur mit Verstand (dianoia), wenn man die Gottesliebe mit der Nächstenliebe verbindet. Damit widerspricht Jesus sachlich der Botschaft des Judas Galilaios, Gott werde nur richtig verehrt, wenn man gewaltsamen Widerstand übt: 21 H.Merklein, Die Gottesherrschaft als Handlungsprinzip, 1978 21981, 253–293; C.Dietzfelbinger, Die Antithesen der Bergpredigt, 1975; E.Lohse, „Ich aber sage euch“ (1970), in: ders., Die Einheit des Neuen Testaments, 1973, 73–87.
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Jesus als Lehrer: Die Ethik Jesu
Die Gottheit würde nur unter der Bedingung zum Gelingen dieses Vorhabens (sc. der Erringung der Freiheit) bereitwillig beitragen, wenn man selbst dabei aktiv mitwirke, oder noch besser, wenn diejenigen, die in ihrer Gesinnung (dianoia) Anhänger einer großen Sache geworden seien, dazu auch Blutvergießen (phonou)22 nicht vermieden. (Ant 18,5)
Die Gegenthese Jesu lautet: Wenn man Gott über alles stellt, soll das mit Verstand geschehen. Das aber heißt: Die Nächstenliebe soll den gleichen Rang wie die Liebe zu Gott haben. Terror im Namen Gottes widerspricht dem Nächstenliebegebot. Die Radikalisierung des ersten Gebots als Anspruch auf den ganzen Menschen wird in den Antithesen vom Töten, Ehebrechen und Schwören konkretisiert (Mt 5,21 f.27 f.33f). Das Verbot des Tötens verlangt die Überwindung aggressiver Affekte, das Verbot des Ehebruchs Kontrolle sexueller Regungen, das Verbot des Eids Aufrichtigkeit in allen Aussagen. Immer ist die Absicht erkennbar, dass der Mensch bis in sein Inneres mit allen Kräften dem Willen Gottes entsprechen soll. Aber das überfordert ihn. Die beiden ersten Antithesen enden daher mit einer Schuldfeststellung: „Jeder, der seinem Bruder zürnt, ist schuldig des Gerichts“. „Jeder, der eine (verheiratete) Frau ansieht, um sie zu begehren, hat (ihre) Ehe schon in seinem Herzen gebrochen.“ Es wird also nicht gefordert: Du sollst nicht zürnen! Du sollst nicht sexuell begehren! Es wird nur festgestellt: Jeder, der es tut, ist schuldig. Warum formuliert Jesus diese Lehren in Form von Antithesen? Nimmt er damit Stellung zur Auslegung der Thora durch die Schriftgelehrten oder zur Thora selbst? Argumente für beide Positionen seien nebeneinandergestellt: Das auslegungsbezogene Verständnis der Antithesen
Das thorabezogene Verständnis der Antithesen
Die Einleitung der Antithesen in Mt 5,20 wendet sich gegen die Gerechtigkeit der Schriftgelehrten und Pharisäer und will eine Alternative zu deren Gesetzesauslegung sein.
Die Einleitung in Mt 5,17: Jesus sei „nicht gekommen, um die Thora aufzuheben, sondern um sie zu erfüllen“, lässt eine Stellungnahme zur Thora, nicht nur zu ihrer Auslegung erwarten.
Die atl. Gebote werden nicht nur zitiert, sondern ergänzt. Zum Nächstenliebegebot wird die Verpflichtung zum Feindeshass hinzugefügt, die nirgendwo im AT bezeugt wird (5,43).
Atl. Gebote werden im Judentum oft durch weitere Gebote ergänzt, die nicht in der Thora stehen (Tempelrolle, Ant 4,271–274; Ap 2,190–219; Philo Hypothetica 7,1–9). Auch diese neuen Gebote gelten als Thora.
Die Formel: „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist …“ weist auf eine Tradition.
Die Aussage „zu den Alten wurde gesagt“ ist ein passivum divinum: Gott wird als Sprecher der Gebote vorausgesetzt!
Mit „Ich aber sage euch“ wenden sich Rabbinen gegen andere Auslegungen, ebenso Jesus hier gegen konkurrierende Auslegungen.
Bei den Rabbinen wendet sich ein „Ich aber sage euch“ nie gegen die vorher zitierte Schrift, sondern gegen deren Ausleger. Die Form der Antithesen ist singulär (E. Lohse).
Die Antithesen bringen nichts, wozu es nicht im Judentum Parallelen gibt, die ebenfalls über die Thora hinausführen.
Jesus führt nicht nur über die Thora hinaus, sondern macht das durch sein „Ich aber sage euch“ bewusst. Das ist ohne Analogie.
22 Die Lesart ist eine Konjektur. Vielleicht stand ponou = Mühe da (vgl. die Übersetzung S. 251).
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Dritter Teil: Das Wirken und die Verkündigung Jesu
Die Antithesen sind u. E. eine Stellungnahme zur Thora. Der Sinn der antithetischen Form ist: „Ihr habt gehört, dass am Sinai zu den Vorfahren gesagt wurde: Du sollst nicht töten. Ich aber sage euch im Sinne dieses Gebots: Schon wer zürnt, ist schuldig.“ Die Thora wird also vertieft. Man erfüllt Gottes Willen erst, wenn seine Gebote nicht nur das Verhalten bestimmen, sondern den Willen bis in die innersten Motive. Da in der Tempelrolle in Qumran zu alttestamentlichen Geboten weitere Gebote in der ersten Person als Rede Gottes hinzugefügt werden, ist eine Erweiterung der Thora im Judentum vorstellbar. Das Besondere bei Jesus ist: Diese Transzendierung der Thora wird bewusst vollzogen. Sie wird nicht Gott zugeschrieben, sondern durch: „Ich aber sage euch“ Jesus und dadurch von der überlieferten Offenbarung Gottes abgehoben.23 Die erste Antithese (Mt 5,21–26) ist eine Verschärfung des alttestamentlichen Tötungsverbots. Verworfen wird der Zorn, der das Verhältnis zum „Bruder“ belastet. Dabei ist der Mensch nach 5,23–26 nicht nur für seinen eigenen Zorn verantwortlich. Wird ihm bewusst, dass ein anderer etwas gegen ihn hat, soll er sich mit ihm versöhnen, bevor er opfert. Die zweite Antithese (Mt 5,27–30) ist eine Verschärfung des Ehebruchsverbots. Der begehrende Blick auf eine andere Ehefrau wird dem Ehebruch gleichgestellt. Das wendet sich an Männer! Sexualtoleranz zeigen dagegen Erzählungen von Frauen, die Jesus vor den Männern schützt: die Erzählungen von der Sünderin (Lk 7,36–50) und Ehebrecherin (Joh 8,1–11). Damit wird die Doppelmoral für Männer und Frauen auf den Kopf gestellt, die gegenüber Frauen strengere Normen als gegenüber Männern formuliert. Die vierte Antithese vom Schwören (Mt 5,33–37) ist eine Verschärfung der Pflicht zur Wahrheit. Jede Aussage soll so wahr sein, als hätte man sie durch Eid beschworen. Diese Antithese lässt einen Zusammenhang zwischen Wahrheitsethos und Monotheismus erkennen. Da Gott alles geschaffen hat, ist der Mensch überall mit Gott konfrontiert und zur Wahrheit verpflichtet. Wenn die verschärften Gebote nicht nur Aggression und Sexualität umfassen, sondern auch die Verpflichtung zur Wahrheit, so entspricht das dem Doppelgebot der Liebe in der Jesusüberlieferung: Liebe zu Gott soll auch alle kognitive Vermögen umfassen, auch den Verstand. Diese Forderung ist so radikal und unerfüllbar, dass sie in den ersten drei Antithesen nur als Schuldfeststellung formuliert wird. Dass der ganze Mensch sich bis ins Innerste hinein auf Gott ausrichtet, zeigt besonders die Neubestimmung der Reinheit in Mk 7,15: „Es gibt nichts, was von außen in den Menschen hineingeht, das ihn unrein machen könnte, sondern was aus dem Menschen heraus23 In der Exegese wird oft jede Spannung zwischen Jesus und der Thora minimiert. Was formal eindeutig Antithesen sind, dürfen inhaltlich keine Antithesen sein. Das hat verständliche Gründe. So betont M.Konradt, Ethik*, 2022, 274: „Nach mt Verständnis wird die Tora durch die Unterweisung Jesu also weder marginalisiert noch transzendiert und überboten oder gar überwunden und ersetzt.“ Das ist richtig. Jeder Reformator beansprucht, den wahren Willen der Tradition zu erfüllen, verändert sie aber im Schutz eines solchen Anspruchs oft umso mehr. Eine intendierte Übereinstimmung mit der Tradition kann mit ihrer faktischen Korrektur verbunden sein. In den Antithesen vertritt Jesus durch die Formel „Ich aber sage euch“ aber das Neue sogar explizit im eigenen Namen – auch wenn dabei in unseren Augen Traditionen zur Geltung kommen.
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kommt, das ist’s, was ihn unrein macht“: Nach E.Käsemann sprengt Jesus damit die Grenzen des Judentums: Denn „wer bestreitet, daß Unreinheit von außen auf den Menschen eindringt, trifft die Voraussetzungen und den Wortlaut der Thora und die Autorität des Moses selbst“.24 Heute wird das Logion oft nur in abgeschwächter Form Jesus zugesprochen.25 Verunreinigung geschehe nicht nur durch äußere Dinge, sondern auch durch das Innere (R.P.Booth). Ansteckend sei nicht Unreinheit, sondern Reinheit (T.Holmén). Aber Mk 7,15 bestreitet grundsätzlich die Existenz unreiner äußerer Dinge: Es gibt nichts Äußeres, was unrein machen kann. Wahrscheinlich ist sein Kontext die Nachfolge Jesu: Jünger dürfen auf Wanderungen jede angebotene Speise essen – unabhängig davon, ob sie rein oder unrein ist. Hier gilt Lk 10,8: „Esst, was man euch vorsetzt!“ (vgl. ThEv 14,4). Da Jesus im Kontext der radikalen Nachfolge Gesetzesbrüche wie den Verstoß gegen das Elterngebot Mt 8,21 fordern kann, wäre in diesem Kontext auch ein Bruch der Reinheitsgebote vorstellbar! Jüdische Analogien belegen darüber hinaus die Möglichkeit eines verinnerlichten Reinheitsgedankens im Diasporajudentum. PsPhok 228 sagt: „Heilungen der Seele, nicht des Körpers sind die Reinigungen“. Philo definiert in SpecLeg 3,208f Unreinheit als Ungerechtigkeit und Gottlosigkeit, insistiert aber auf äußeren Ritualgeboten! Doch auch der Jerusalemer Josephus betont in seiner Schilderung des Täufers, dass die Taufe nur der Heiligung des Körpers dient, nachdem die Seele vorher durch Gerechtigkeit gereinigt wurde (Ant 18,117). Jesus könnte als Schüler des Täufers ähnliche Gedanken gehabt haben, zumal er dessen Verkündigung der Vergebung fortsetzt, ohne aber die Vergebung an die Taufe zu binden. Als entscheidendes Argument gegen die Authentizität von Mk 7,15 gilt oft ein argumentum e silentio aus der Wirkungsgeschichte: Hätte Jesus eine klare Aussage zu den Reinheitsgeboten von Lev 11 gemacht, wäre der Streit um Reinheitsgebote im Urchristentum z. B. in Gal 2,11–14 unverständlich (H.Räisänen).26 Im Galaterbrief stehen nicht Reinheitsfragen zur Diskussion, sondern Forderungen zur Beschneidung. Paulus erinnert in diesem Konflikt daran, dass er sich in einem zurückliegenden Streit über Speisefragen gegen die anderen Apostel durchgesetzt hat. Die Berufung auf ein Jesuswort in diesem vergangenen antiochenischen Streit hätte seine Argumentation gegenüber den Galatern erschwert, da Paulus zur Beschneidung kaum ein klärendes Jesuswort hätte anführen können. Erst im ThEv 53 wird die Beschneidung abgewertet. Paulus beruft sich für seine Ablehnung der Beschneidung in Gal 2,1–14 daher nicht auf Jesus, sondern auf die Erfahrung des Geistes. Das entspricht Apg 10,1–11,18: Weil Cornelius vom Geist erfüllt ist, wird er ohne Beschneidung in die Gemeinde aufgenommen.
24 E.Käsemann, Das Problem des historischen Jesus (1953), in: Exegetische Versuche und Besinnungen I, 1960, 187–214, S. 207. 25 R.P.Booth, Jesus and the Laws of Purity, 1986; T.Holmén, Jesus and the Purity Paradigm, in: ders./ S.Porter, Handbook for the Study of the Historical Jesus, 2011, 2709–2744; Th.Kazen, Jesus and Purity Halakhah. Was Jesus Indifferent to Impurity? 2002; J.P.Meier, A Marginal Jew 4*, 2009, 342–477. 26 H.Räisänen, Zur Herkunft von Markus 7,15, in: ders., The Torah and the Christ, 1986, 209–218.
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Selbst, wenn Paulus Mk 7,15 im Galaterbrief angeführt hätte, hätte es seine Argumentation nicht unterstützt: Das Logion Mk 7,15 ist nämlich keine imperativische Verhaltensanweisung, sondern eine indikativische Aussage, dass von außen Kommendes nicht verunreinigen kann. Es schließt nicht aus, dass man Reinheitsgebote beachtet, um Ärgernis zu vermeiden. So erklärt Jesus in Mk 1,40–45 einen Aussätzigen zwar für rein, schickt ihn aber dennoch zur offiziellen Reinheitserklärung zum Priester. Paulus beruft sich u. E. in Röm 14,14 auf Mk 7,15, was ihn aber nicht daran hindert, Christen mit verschiedenen Einstellungen zu Speisevorschriften zu akzeptieren.27 Die grundsätzliche Reflexion über den Reinheitsgedanken in Mk 7,15 lässt also offen, wie man sich konkret verhalten soll, bereitete aber schon früh Schwierigkeiten: Mt 15,11 bezieht sie nur auf Speisen; Lk lässt den Abschnitt ganz weg. Mk 7,17 bezeichnet sie als ein „Rätselwort“: Dass es als Jesuswort erhalten blieb, war tendenzwidrig. Es widerspricht ja nicht nur jüdischen Reinheitsriten, sondern im Grunde auch der christlichen Taufe und passt insofern gut zu Jesus, der die Taufpraxis seines Lehrers Johannes der Täufer nicht fortsetzte.28 Kein Wunder, dass es als ein radikaler Grundsatz entweder abgemildert oder gar nicht mehr zitiert wurde. Unser Fazit ist: Das Reinheitslogion ist zwar ein radikales Logion. Aber Jesus war und blieb ein Jude, wenn er solche radikalen Gedanken äußerte. Wer Juden abspricht, solche kritischen Gedanken hervorzubringen, unterschätzt die Vitalität und Kreativität des Judentums. 3.2 Überordnung Gottes über alle Güter
Radikaler Monotheismus bedeutet die Überordnung des einen Gottes über alle Güter: über Macht, Reichtum und Bildung. Nur dann wird der Anspruch Gottes auf den ganzen Menschen realisiert. Gott ist jeder politischen Macht übergeordnet. Die Widerstandsbewegung des Judas Galilaios hatte das erste Gebot radikalisiert, indem es die Loyalität gegenüber dem Kaiser als Verrat an Gott verwarf.29 Als Jesus gefragt wird, ob man dem Kaiser Steuern zahlen dürfe, ist die Erwartung, dass er sagt: Selbstverständlich muss man Gott dem Kaiser vorordnen (Mk 12,13–17). Eben darauf zielt die captatio benevolentiae der Pharisäer und Herodianer, Jesu lehre den Weg Gottes und nehme nicht Rücksicht auf Menschen. Jesus aber setzt als Argument dagegen: Das Geld ist Eigentum des Kaisers, wie sein Bild auf den Münzen zeigt. 27 Vgl. H.Mader, Markus und Paulus. Die beiden ältesten erhaltenen literarischen Werke und theologischen Entwürfe des Urchristentums im Vergleich, 2020, 141–162, erwägt die Möglichkeit, dass Mk 7,1– 23 auf Röm 14,14.20 basiert, hält aber eine Unabhängigkeit von Mk und Paulus für möglich. 28 Wenn Reinheit nur aus dem Inneren kommt, kann das die Taufe in Frage stellen. Das MkEv konnte dieses radikale Wort übernehmen. Denn es ist das einzige synoptische Evangelium, das keinen Taufbefehl kennt. Die von Mt und Lk nicht übernommene mk Einleitung des Streitgesprächs über die Reinheit im MkEv deutet sogar eine distanzierte Haltung gegenüber der Taufe an. Wenn „Taufen“ (baptismoi) bei Geräten problematisch sind, wie erst recht bei Menschen (Mk 7,4). Weitere Argumente für die Authentizität vgl. G.Theißen, Das Reinheitslogion Mk 7,15 und die Trennung von Juden und Christen, in: ders., Jesus als historische Gestalt, 2003, 73–89. 29 Vgl. Bell 2,118; 7,410.418f; Ant 18,23.
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Steuern zahlen, heißt, es seinem Eigentümer zurückzugeben. Ablehnung der Steuerzahlung wäre damals eine Kriegserklärung gegen die Römer gewesen. Gleichzeitig äußert sich Jesus an anderer Stelle sehr kritisch zur Politik: „Ihr wisst, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an. Aber so ist es unter euch nicht; sondern wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein.“ (Mk 10,42–44) Hier sagt Jesus sehr deutlich: Herrschaft ist Unterdrückung. Die Jünger sollen sie in ihrem Verhältnis zueinander überwinden. Während Jesus die radikaltheokratische Alternative im politischen Bereich ablehnt, fordert er sie im wirtschaftlichen Bereich. Er verlangt zwar bei der Steuerzahlung keine Entscheidung zwischen Gott und dem Kaiser, wohl aber in Wirtschaft und Handel zwischen Gottesverehrung und Mammonsdienst, d. h. beim Umgang mit dem Geld. Denn man kann nicht zwei Herren, Gott und dem Mammon, dienen (QLk 16,13). Gleichzeitig entwirft er ein Gegenbild zur Abhängigkeit vom Mammon (Mt 6,25–34). Wenn die Jünger an erster Stelle das Reich Gottes suchen, werden ihnen alle anderen Güter hinzugetan. Damit spricht er ihnen eine aristokratische Freiheit von Sorgen zu. Wer König ist, braucht sich nicht um Essen und Kleider zu sorgen. Jesus meint damit aber nicht die Reichen, sondern arme Wandercharismatiker. Die Reichen kritisiert er dagegen scharf: „Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein Reicher ins Reich Gottes komme.“ (Mk 10,25). Jesus gibt Gottes Weisheit auch den Vorzug vor der Weisheit der Menschen. Er preist Gott, weil er sich nicht den Weisen und Klugen offenbart, sondern den Unmündigen (Lk 10,21f).30 Die Offenbarung Gottes geht an Weisen und Gelehrten vorbei. Das sanfte Joch der Weisheit ist ein Gegenbild: Anteil an Muße und Ruhe sollen gerade die erhalten, die schuften und arbeiten: Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt Ich werde euch Ruhe verschaffen, nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir; denn ich bin gütig und von Herzen demütig; So werdet ihr Ruhe finden für eure Seele, Denn mein Joch drückt nicht, und meine Last ist leicht. (Mt 11,28–30)
Auch hier finden wir ergänzend eine radikale Kritik an Weisen und Schriftgelehrten: „Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr das Himmelreich zuschließt vor den Menschen! Ihr geht nicht hinein und die hineinwollen, lasst ihr nicht hineingehen.“ (Mt 23,13) Fazit: Das erste Gebot bestimmt die Ethik Jesu. Es steht hinter der Forderung, dass der Wille Gottes den Menschen ganz bestimmen soll und dass der Mensch Gott allen Gütern
30 G.Theißen, Wer sind die Mühseligen und Beladenen in Mt 11,28–30? Befreiungstheologische Motive im Heilandsruf Jesu, in: F.Crüsemann u. a. (Hg.), Dem Tod nicht glauben. Sozialgeschichte der Bibel, 2004, 49–66.
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überordnet. Dabei ist das Erste Gebot so gegenwärtig, wie in der jüdischen Weisheit die Gebote gegenwärtig sind, ohne explizit zitiert zu werden.
4. Die Radikalisierung der Nächstenliebe Wenn Jesus eine Gottesliebe mit Verstand fordert, fragt sich: Gibt es auch eine „vernünftige“ Nächstenliebe? Erinnert sei daran, dass Philo und Josephus den Begriff Nächstenliebe vermeiden31 und von „Philanthropie“ sprechen (Philo Virt 51–174; Jos Ap 2,213) – vielleicht um einem antijüdischen Vorurteil entgegenzutreten, dass es unter Juden „unerschütterlich treuen Zusammenhalt und hilfsbereites Mitleid“ gebe, gegenüber anderen aber „feindseligen Hass“ (Tac hist V,5,1). 4.1 Die Ausweitung der Nächstenliebe auf alle
Im Urchristentum wird die Nächstenliebe zwar nicht als „Philanthropie“ gedeutet, aber durch die Goldene Regel verallgemeinert: „Alles was ihr wollt, das euch die Menschen tun, in dieser Weise tut auch ihnen“ (Mt 7,12). Goldene Regel und Doppelgebot der Liebe gelten jeweils für sich als Zusammenfassung von Gesetz und Propheten (Mt 7,12; 22,40). Deren Verbindung wird schon in Sir 31,15 (im hebräischen Text) angedeutet: „Erkenne, dass dein Nächster ist wie du, und alles, was du hassest, bedenke!“32 Auch das Urchristentum verstand die Goldene Regel als Auslegung der Nächstenliebe. In Didache 1,2 heißt es: Das nun ist der Weg des Lebens: Erstens sollst du Gott, der dich geschaffen hat, lieben, zweitens deinen Nächsten wie dich selbst. Und alles, von dem du nicht willst, dass es dir geschehe, sollst auch du keinem anderen tun!
Die Goldene Regel war universal verbreitet. Sie begegnet in der Sophistik, wurde in China Konfuzius zugeschrieben, später vom Islam übernommen und ist auch für Indien bezeugt.33 Im Judentum war sie als weisheitliche Tradition bekannt und ist vor Jesus zwei Mal belegt: In Sir 31,15 mahnt sie in negativer Form, beim Umgang mit dem Nächsten alles zu bedenken, was man selbst hasst. In negativer Form verlangt sie ein Unterlassen, in positiver Form dagegen 31 Die Nächstenliebe fehlt nicht in jüdisch-hellenistischen Schriften. Der Enkel des Jesus Sirach übersetzt den hebräischen Urtext von Sir 13,15 mit: „Jedes Lebewesen liebt das, was ihm gleich ist, und jeder Mensch seinen Nächsten.“ Der „Nächste“ als Adressat von Liebe begegnet bei Philo nur beim Gebot, dem zusammengebrochenen Esel des Feindes zu helfen (Virt 116f vgl. Ex 23,5). 32 Sir 31,15 im hebräischen Text. 33 L.J.Philippidis, Die ‚Goldene Regel‘ religionsgeschichtlich untersucht, 1929. H.-P.Mathys/R.Heiligenthal, Art. Goldene Regel I—II, TRE 13 (1984) 570–575. U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus, 22002, 504–514.
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ein Handeln: Die negative Form bezieht sich auf einen unbegrenzten Kreis. Es ist leichter, Böses gegenüber allen zu unterlassen, als aktiv Gutes zu tun. Die positive Form bezieht sich dagegen immer auf begrenzte Adressaten, auf Freunde, Familienangehörigen, besonders (wie im Aristeasbrief) auf das Verhalten des Herrschers gegenüber seinen Untergebenen. Der König hat die Macht, Gutes zu tun. Für ihn gilt: „Wie du nichts Schlechtes erleiden, sondern an allen Gütern teilhaben willst, [so sollst auch du] gegen die Untergegebenen handeln und die Missetäter – wie die anständigen Leute – milde zurechtweisen. Denn auch Gott führt die Menschen mit Milde.“ (Arist 207). Es ist singulär und ohne Analogie, dass die Goldene Regel in der Jesusüberlieferung in positiver Form alle Menschen verpflichtet: Alles was ihr wollt, das euch die Menschen tun, in dieser Weise tut auch ihnen. (Mt 7,12)
Allen Menschen wird ein Handeln zugemutet, das sonst insbesondere von Herrschern verlangt wird. Gleichzeitig wird eine Maxime, die als Adressaten vor allem an Freunde und Nahestehende denkt, Verhaltensmaßstab gegenüber allen Menschen. Nirgendwo sonst wird die Goldene Regel in ihrer positiven Form allgemein verstanden, so dass sie durch Radikalität auffällt und gleichzeitig universal einleuchtet. Diese Radikalisierung der Goldenen Regel geht wohl auf Jesus zurück. Damit widersprechen wir einem breiten Konsens, dass die Goldene Regel ihm sekundär in den Mund gelegt wurde. Er fand die Goldene Regel zweifellos als Tradition vor, hat sie aber zugespitzt. So wie Jesus beim ersten Gebot den Verstand aktiviert, deutet er das zweite Gebot der Nächstenliebe mit der aus der Weisheit stammenden Goldenen Regel der Vernunft.34 a) Der Fremde als Nächster: Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter
Mit dem Samaritergleichnis (Lk 10,25–37) gibt Jesus im LkEv dem Doppelgebot der Liebe durch einen Perspektivwechsel einen neuen Sinn: Die Frage, wen man als Nächsten lieben soll, wird zur Frage, wer Nächstenliebe praktiziert (10,36). Dabei bezeichnet Jesus nicht den als Nächsten, dem geholfen wird, sondern den Helfer. Aber auch der ist kein Nächster, sondern wird erst durch sein Helfen zum Nächsten. Die Pointe ist also: Menschen sind keine Nächsten durch Gruppenzugehörigkeit, sondern die Liebe macht sie zu Nächsten. Die Erzählung durchkreuzt dabei Erwartungen: Nachdem zwei Repräsentanten der religiösen Elite gegen die Nächstenliebe verstoßen haben, müsste eigentlich ein jüdischer Laie als Gegenbeispiel dem Opfer helfen. Doch in seine Rolle tritt ein Samariter, Angehöriger eines anderen Volkes. Er wird zum Nächsten, indem er hilft. So wird gezeigt: Die Liebe ist universal, sie umfasst Fremde, wird auch von Fremden geübt. Und durch eben diese Hilfe werden Menschen zu „Nächsten“. Die Ausweitung des Nächstenbegriffs in der Jesusüberlieferung steht im Kontext jüdischer Diskussionen um den Umfang des Begriffs „Nächster“ in Lev 19,18. Schon Lev 19,33f 34 G.Theissen, Die Goldene Regel (Matthäus 7:12/Lukas 6:31): Über den Sitz im Leben ihrer positiven und negativen Form, Biblical Interpretation 11 (2003) 386–399.
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weitet ihn auf den im Lande wohnenden Fremdling, den ger ()גֵ ר, aus. Die LXX schränkt dies durch die Übersetzung von „Fremdling“ ( )גֵ רmit „Proselyt“ nur scheinbar ein. Denn der zum Judentum übergetretene Fremde lebte in der Diaspora in einer Umgebung, in der alle Juden Fremde waren. Der Proselyt war in seiner Herkunftsgruppe kein Fremder, sondern schloss sich einer Gruppe von Fremden an. Im hellenistischen Judentum (TestPatr u. a.) wird die Nächstenliebe auf jeden Fall eindeutig universalistisch verstanden. Aus der Schöpfungsordnung folgt, dass jeder Mensch seinen Nächsten von Natur aus liebt bzw. lieben soll. Sir 13,15 LXX: „Jedes Tier liebt seinesgleichen und jeder Mensch seinen Nächsten (plēsion).“ Auch im rabbinischen Judentum gab es Ansätze zu einem Verständnis der Nächstenliebe als Konkretisierung der allgemeinen Menschenliebe. Das zeigt die Diskussion zwischen Rabbi Akiba und Ben Azzai über den Stellenwert von Lev 19,18: Während Akiba die Nächstenliebe in Lev 19,18 als Hauptregel der Thora bezeichnet, hält Ben Azzai die Ebenbildlichkeit des Menschen in Gen 5,1 für eine noch größere Hauptregel.35 Der älteste rabbinische Kommentar ordnet die Achtung vor dem Ebenbild Gottes dem Gegenseitigkeitsprinzip über: „Du sollst nicht sagen: Weil ich verachtet worden bin, möge auch mein Nächster gleich mir verachtet werden. R. Tanchuma sagte: Wenn du so handelst, so wisse, dass du den verachtest, der im Ebenbild Gottes gemacht ist.“36 Auch die Mahnung in den Pirque Avot I,12, die Geschöpfe zu lieben und sie zur Thora zu führen, belegt im Judentum ein universalistisches Verständnis des Liebesgebots. b) Der Feind als Nächster: Die Ausweitung der Nächstenliebe auf den Feind37
Während beim Samaritergleichnis umstritten ist, ob es auf Jesus zurückgeht, gilt die in Mt 5,38–48 und Lk 6,27–36 verarbeitete Q-Überlieferung zur Feindesliebe als authentisch. Auch wenn die Forderung zur Feindesliebe im Judentum in dieser Form noch nicht formuliert worden war, meint schon das Gebot der Nächstenliebe in Lev 19,7f den Gegner im Gericht. Viele jüdische Traditionen mahnen zum Wohlverhalten gegenüber dem Feind.38 Die antithetische Formulierung verdeckt in der Bergpredigt, dass Jesus diese Tradition weiterführt. Der auf Q zurückgehende gemeinsame Überlieferungsbestand umfasst eine Mahnung, die Feinde zu lieben und für die Verfolger zu bitten, die vierfach motiviert wird:
35 SLev 19,18; Bill I, 358 f. 36 GenR 24 (16b) = Bill I, 358 f. Die hier erkennbare Goldene Regel war den Rabbinen als Interpretament zu Lev 19,18 geläufig; vgl. M.Hengel, Zur matthäischen Bergpredigt und ihrem jüdischen Hintergrund, ThR 52 (1987) 327–400, S. 390–395. 37 L.Schottroff, Gewaltverzicht und Feindesliebe in der urchristlichen Jesustradition, in: Jesus in Historie und Theologie. 1975, 197–221; G.Theißen, Gewaltverzicht und Feindesliebe*, 21983, 160–197. 38 Vgl. M.Konradt, Das Gebot der Feindesliebe in Mt 5,43–48 und sein frühjüdischer Kontext, in: Ahavah. Die Liebe Gottes im Alten Testament, 2018, 349–389. Schon Ex 23,4 mahnt dazu, dem Feind zu helfen, wenn sich sein Rind und Esel verirrt, Spr 25,21f verpflichtet dazu, den hungrigen und durstigen Feind mit Nahrung zu versorgen. PsPhok 140–142, sagt: „Besser ist’s, statt eines Feindes einen wohlgesonnenen Freund (zu bekommen).“ Vgl. auch 4Makk 2,14; Philo Virt 116–120, der freilich weiß, dass viele gute Forderungen nur „fromme Wünsche“ sind.
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1. durch Vergleich mit einem Verhalten auf Gegenseitigkeit, das Zöllner und Heiden bzw. Sünder praktizieren und von dem man sich unterscheiden soll (Mt 5,46f/Lk 6,32–34); 2. durch Verheißung der Gottessohnschaft, eines den Königen und Weisen vorbehaltenen Status, der durch praktizierte Feindesliebe erworben wird (Mt 5,45 bzw. Lk 6,35); 3. durch Begründung mit dem Verhalten Gottes, der Sonne und Regen allen Menschen zuwendet bzw. auch gegenüber Undankbaren und Bösen gütig ist (Mt 5,45 bzw. Lk 6,35); 4. durch einen Aufruf zur imitatio dei, vollkommen bzw. barmherzig zu sein „wie euer himmlischer Vater“ (Mt 5,48 bzw. Lk 6,36).
Zur Feindesliebe gehört der Gegensatz zum jus talionis, die Ausweitung der Adressaten und die Aufwertung des Subjekts der Feindesliebe. (1) In Q fordert die Feindesliebe den Verzicht auf Vergeltung, aber über das Erleiden von Unrecht ohne Gegenwehr hinaus vor allem eine paradoxe Reaktion, indem man dem Feind das Doppelte von dem geben soll, was er verlangt hat. Das MtEv fordert in Mt 5,38–48 diesen „Verzicht“ auf das jus talionis in antithetischer Form in Abhebung vom alttestamentlichen Gesetz. Es betont dadurch die selbständige Fortführung der jüdischen Thora, setzt aber faktisch jüdische Weisheitstraditionen fort: „Sprich nicht: ‚Wie einer mir tut, so will ich ihm auch tun und einem jeglichen sein Tun vergelten‘.“ (Spr 24,29). „Mit keinem Frevel sollst du vergelten Böses deinem Nächsten“ (Sir 10,6 vgl. PsPhok 77; JosAs 23,9; 29,3). Für kleine Gemeinschaften wie die Gemeinde von Qumran sind das verständliche Mahnungen (1QS X,17f). Der Lk-Evangelist (6,27–36) betont dagegen durch Einfügung der Goldenen Regel (6,31) den universalistischen Zug des Feindesliebegebotes. (2) Der Adressat der Feindesliebe ist nicht nur der Privatfeind, sondern jeder Feind, eingeschlossen religiöse Gegner und politische Unterdrücker: Der doppelte Plural in der Mahnung: „Liebet eure Feinde“ stellt nämlich Gruppen einander gegenüber. Dagegen sind atl.jüdische Vorläufer singularisch formuliert, wenn in Ex 23,4f vom Rind oder Esel „deines Feindes“ die Rede ist oder in Spr 25,21f von „deinem Feind“, der hungert. Die Feindschaft wird im Jesuswort auch auf Kollektive bezogen. Die Angeredeten werden als Gruppe verfolgt. Die Mittel zur Verfolgung lagen vor allem bei politischen und religiösen Instanzen wie z. B. den staatlichen Behörden. Mt 5,41 nennt als Beispiel von Misshandlung die oft von Soldaten erzwungenen Dienstleistungen für den Staat und benutzt mit aggareuein den Fachausdruck dafür (vgl. Mk 15,21!). Wer bei einer durch Soldaten erpressten Meile noch einmal eine gleich lange Meile freiwillig Dienste leistet, erfüllt den Grundsatz: „Gleiches zum Gleichen“ in einer ganz neuen Weise. Er fügt der ersten Meile eine gleich lange zweite Meile hinzu. (3) Das Subjekt der Feindesliebe sind verfolgte Jesusanhänger. In nichtchristlichen Parallelen richten sich vergleichbare Mahnungen an drei Personengruppen: 1. Sklaven und sonstigen abhängigen Personen wird unter Hinweis auf ihre Machtlosigkeit geraten, erlittenes Unrecht lieber nicht zu rächen (z. B. Seneca, Ira II,33,2). 2. Mächtigen wird Milde (clementia/epieikeia) empfohlen, die im Aristeasbrief als imitatio dei gilt: Weil Gott die Welt gütig und ohne Zorn regiert, soll auch der König seine Untertanen ohne Zorn regieren
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(254). Seneca schreibt in Ben IV,26,1: „Wenn du die Götter nachahmst, dann erweise auch undankbaren Menschen Wohltaten, denn auch Verbrechern geht die Sonne auf, auch Seeräubern stehen die Meere offen.“ Seneca ist überzeugt, dass die schlechten Menschen diese Wohltaten um der guten Menschen willen erhalten (Ben IV,26,3; 28,1–6). 3. Philosophen wie Sokrates lehren: Man soll nicht, „wenn einem Übles geschieht, sich dadurch helfen, dass man wieder Übles zufügt“ (Plato Kriton 49d). Epiktet verlangt vom Kyniker: „Er muss sich treten lassen wie ein Esel und unter den Tritten eben die, welche ihn treten, auch noch liebhaben, wie ein Vater von allen, wie ein Bruder“ (Diss III,22,54).
Das Proprium der Jesusüberlieferung zeigt sich im Lichte der o. g. zeitgenössischen Parallelen darin, dass die von Königen und Mächtigen verlangte Nachahmung Gottes durch Großmut und Gewaltverzicht auch denen zugemutet wird, die machtlos und verfolgt sind. Von allen, die Jesus nachfolgen, wird die sonst nur Philosophen zugeschriebene Souveränität erwartet, Unrecht nicht nur zu ertragen, sondern die zu lieben, die es verüben. Das von Jesus geforderte Verhalten ist dabei kein Sich-Ausliefern an das Böse, sondern ein gewaltfreier Widerstand von Machtlosen mit dem Ziel, nicht nur Unrecht bewusst zu machen, sondern auch zu überwinden. Gegenüber nationalen Feinden liegt eindeutig eine Alternative zum zelotischen Widerstand vor. Gewaltfreies Vorgehen war im Judentum keineswegs singulär. Es war gegenüber Pilatus’ erfolgreich, als er versuchte, Standarten mit Kaiserbildern in Jerusalem aufzustellen (Bell 2,169–174), und hatte noch einmal Erfolg gegen Petronius im Konflikt um die Aufstellung einer Statue des Caligula im Tempel 39 n. Chr. (Ant 18,270–72). c) Der Außenseiter als Nächster: Die Ausweitung der Nächstenliebe auf Deklassierte
Eine dritte Ausweitung der Nächstenliebe ist die Zuwendung zu den Deklassierten in der jüdischen Gesellschaft, die für Jesus schon in Q bezeugt wird (QLk 7,31–35; vgl. Mk 2,15–17). Besonders im LkEv finden sich Überlieferungen, die es illustrieren, ohne immer historisch zu sein. (1) Adressaten der Liebe sind die „Zöllner und Sünder“ (Lk 15,1) bzw. „Zöllner und Prostituierte“ (Mt 21,31): Wie die Ausdehnung der Nächstenliebe auf Fremde die äußeren Grenzen der Gesellschaft überschreitet, so ignoriert die Zuwendung Jesu zu „den Sündern“ innergesellschaftliche Ausgrenzungen. Die Ausgegrenzten werden wieder integriert, wenn Jesus in das Haus eines Zöllners einkehrt und mit Sündern Tischgemeinschaft pflegt (Mk 2,15) oder die Berührung einer stadtbekannten Prostituierte in aller Öffentlichkeit duldet (Lk 7,37–50). (2) Diese Außenseiter werden sogar zu Subjekten der Liebe, die aufgrund der ihnen entgegengebrachten Liebe selbst Nächstenliebe üben: die Salbung durch eine Frau wird von Jesus als Liebeserweis und Gastfreundschaft verstanden (Lk 7,44–47); Zachäus – und nicht der sich seiner Gebotserfüllung bewusste Reiche in Lk 18,18–23 – verschenkt sein halbes Vermögen an die Armen (Lk 19,8). (3) Die theologische Begründung für den Einschluss von Sündern liegt wie bei der Feindesliebe in Gottes Vorbild. Die Zuwendung zu Sündern entspricht der göttlichen Vergebung.
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4.2 Die Überordnung des Nächsten über die Sabbatregeln39
Neben dem Reinheitslogion Mk 7,15 gelten die Sabbatkonflikte als Testfall für die Frage, ob Jesus die Grenzen des Judentums verlassen hat. Gegenstand des Konflikts sind Ährenraufen und Heilungen. Dass diese Konflikte nicht nur fiktive Szenen sind, zeigt ein Vergleich mit Sabbatkonflikten im Urchristentum. Denn bei Jesus geht es darum, wie der Sabbat zu halten sei, im Urchristentum darum, ob er überhaupt gehalten werden soll. Er wurde durch den Sonntag abgelöst (IgnMg 9,1; Barn 15,8f). Handelt es sich im Urchristentum also um Auseinandersetzungen zwischen Juden- und Heidenchristen, so bei Jesus um innerjüdische Debatten. Dass die Evangelien Jesu Sabbatkonflikte nicht an die späteren Probleme im Urchristentum assimiliert haben, spricht für ihre Historizität. Auch sind sie mehrfach überliefert: Die Erinnerung an Sabbatheilungen wie in Mk 3,1–6 wird durch lk Sondergut bestätigt (Lk 13,10–17; 14,1–6) und wirkt im JohEv nach (Joh 5,1–18; 7,22f).40 Auffällig ist ferner, dass alle Geheilten ohne Nachteile für sie auch am folgenden Tag hätten geheilt werden können, ferner dass Jesus immer spontan aktiv wird. Keiner der Kranken bittet ihn um seine Heilung wie später im Nazoräerevangelium, wo der Kranke um die Heilung seiner Hand bittet, weil er als Maurer mit seinen Händen seinen Unterhalt erarbeiten muss und nicht betteln will (EvNaz 4). Auffällig ist schließlich, dass in den lk Sondergutüberlieferungen zwei Mal von der erlaubten Hilfestellung für Tiere am Sabbat auf die umstrittene Heilung von Menschen geschlossen wird (Lk 13,15f und 14,5), was als Argument unabhängig davon in Mt 12,11f begegnet und wahrscheinlich auf Jesus zurückgeht. Die Sabbatkonflikte Jesu passen ins damalige Judentum: Gerade, weil der Sabbat ein Identitätsmerkmal des Judentums war, war seine Durchführung umstritten. Das Jubiläenbuch (50,12–13) droht allen mit der Todesstrafe, die am Sabbat arbeiten, reisen, fasten oder Krieg führen. Die Essener lehnten jede Hilfe für in Not geratene Tiere am Sabbat ab (CD XI,13f) anders als Jesus und andere Juden (Mt 12,11f; bSchab 128b). Einige Juden verkürzten die „Sabbatmeile“ (vgl. Apg 1,12), innerhalb derer man sich am Sabbat bewegen durfte, von 2000 auf 1000 Ellen (CD X,21). Andere versuchten sie auszuweiten, indem sie die Bildung eines „Erub“ (wörtlich: einer „Vermischung“) erlaubten: Sie verbanden mehrere Häuser zu einem fiktiven Haus, innerhalb dessen das Tragen von Gegenständen erlaubt war. Die Sadduzäer lehnten solche erleichternden Interpretationen ab (Erub VI,2), ebenso die Essener (CD XI,4f), denen Josephus bescheinigt, dass sie am meisten unter allen Juden die Arbeit am Sabbat ablehnten (Bell 2,147). Jesus repräsentiert in diesem Spektrum eine „liberale“ Richtung. Warum aber hat er mit ihr seine Umwelt provoziert?
39 E.P.Sanders, Jewish Law*, 1990, 6–23; S.O.Back, Jesus of Nazareth and the Sabbath Commandment, 1995; L.Doering, Schabbat. Sabbathalacha und -praxis im antiken Judentum und Urchristentum, 1999; ders., Art. Sabbat, RAC 29 (2018) 257–280; J.P.Meier, A Marginal Jew.4*, 2009, 235–341; D.A.Hagner, Jesus and the Synoptic Sabbath Controversies, in: D.L.Bock/R.L.Webb, Key Events in the Life of the Historical Jesus, 2009, 251–292. 40 Die Perikope vom Ährenraufen (Mk 2,23–28) hat bei Mt und Lk so viele minor agreements gegenüber der mk Version, dass hier wohl eine konkurrierende unabhängige Überlieferung eingewirkt hat.
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Der sachliche Konfliktgrund war die Frage, ob man Ausnahmen vom Arbeitsverbot am Sabbat von anerkannten Fällen auf neue „Fälle“ ausdehnen darf. Ausnahmen waren bei Gefährdung des eigenen Lebens und des Lebens anderer gegeben. Es war erlaubt, sich am Sabbat selbst zu verteidigen, gegebenenfalls sogar Feinde zu töten (vgl. 1Makk 2, 29–41), ferner, Tiere aus Lebensgefahr zu retten (bSchab 128b). Prinzipiell waren aber Heilungen als „Werk“ verboten. Nach der Damaskusschrift darf man z. B. am Sabbat Medikamente weder bringen noch holen (CD XI, 9f). Daran ändert nichts, dass manche Sabbatheilung (wie in Mk 3,1–6) nur durch Worte geschah, denn in Lk 13,13 und 14,4 heilt Jesus auch am Sabbat durch Handauflegung und Berührung. Beim Ährenraufen41 zeigt die Berufung Jesu auf David, dass der Regelverstoß bewusst geschieht. David aß die den Priestern vorbehaltenen Schaubrote. Jesus beruft sich ferner auf zwei Fälle, in denen eine Aufhebung des Sabbats anerkannt war: Ausgehend von der Alternative „Töten“ oder „Heilen“ am Sabbat schließt er vom Recht auf Selbstverteidigung am Sabbat auf das Recht zur Heilung am Sabbat (Mk 3,4). Ausgehend von der erlaubten Hilfe für Tiere in Lebensgefahr schließt er auf das Recht zur Heilung von Menschen auch am Sabbat. Jesus folgt dabei einer Tendenz im Judentum, über anerkannte Ausnahmefälle hinaus das Sabbatgebot um des Lebens willen zu relativieren. Trotzdem gilt sein Tun als Sabbatbruch. Was die Motivation zum Sabbatkonflikt angeht, kann man bei Jesus ein therapeutisches Motiv erkennen, Hilfeleistung an Menschen rituellen Verpflichtungen vorzuziehen. Eine Heilung am Sabbat demonstriert dem Kranken, dass seine Gesundheit mehr wert ist als die Sabbatregel. Er erfährt dadurch eine soziale Aufwertung, während er sonst oft nur eine Last ist. Ihm gilt die Botschaft: „Deine Heilung ist wichtiger als die Heiligung des Sabbats!“ Das unterstützt die Heilung.42 Hinzu kommt ein eschatologisches Motiv. Jesus löst durch eine Sabbatheilung die Fessel des Satans (Lk 13,16), der mit dem Kommen der Gottesherrschaft überwunden wird. Er stellt die Schöpfung wieder her und kann daher seine Sabbatbrüche mit der Erinnerung an die Schöpfung verteidigen: „Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen“ (Mk 2,27).43 Damit verbindet sich ein messianisches Motiv: Die erste Heilung am Sabbat in der Synagoge wird durch einen Dämon provoziert, der ruft; „Was haben wir mit dir zu schaffen, Jesus von Nazareth? Bist du gekommen, uns zu vernichten? Ich weiß, wer du bist: der Heilige Gottes“ (Mk 1,24). Wenn der Dämon ihn „Heiliger Gottes“ nennt, so ist das ein Echo der Stimme Gottes, der Jesus vorher als „Sohn“ offenbart hatte (Mk 1,11). Im MkEv legitimiert dieser Exorzismus mit der übernatürlichen Anerkennung Jesu als „Heiliger Gottes“ die folgenden Sabbatbrüche. Das 41 Vom Sabbat schreibt Philo: „nicht ein Reis, nicht einen Zweig, ja nicht einmal ein Blatt abzuschneiden oder irgendeine Frucht zu pflücken, ist erlaubt“ (VitMos 2,22). 42 Vgl. G.Theissen, Jesus and his Followers as Healers, Symbolic Healing in Early Christianity, in: W.Sax u. a. (Hg.), The Problem of Ritual Efficacy, 2010, 45–65. 43 Jesus beruft sich auf eine allgemeine Maxime, die unabhängig von ihm für R. Schim’on b. Measja (ca. 180 n. Chr.) belegt ist: „Siehe es heißt Ex 31, 14: ‚Beobachtet den Sabbat, denn er ist heilig für euch‘ (= euch zugute), d. h. euch ist der Sabbat übergeben, und nicht seid ihr dem Sabbat übergeben.“ (Mekh Ex 31,13, zit. nach Bill II,5). Die Terminologie „übergeben“ und „überliefern“ lässt hier an den Sinai denken. Das Verb „machen“ (egeneto) in Mk 2,27 dagegen eher an die Schöpfung.
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Ährenraufen am Sabbat wird schließlich durch ein pragmatisches Motiv verständlich: Es passt zu Wandercharismatikern, die für ihr Essen kaum Vorsorge treffen können. Ihre Heimatlosigkeit mildert den Sabbatbruch: Heilung von chronisch Kranken am Sabbat wäre eine Provokation, wenn sie auch am nächsten Tag vorgenommen werden könnte. Wanderprediger wie Jesus aber waren am nächsten Tag schon an einem anderen Ort! Der Umgang mit dem Reinheits- und Sabbatgebot zeigt, dass Jesus eine „liberale“ Thoraauffassung vertritt, aber keine Thorakritik gegen das Judentum. In der Reinheitsfrage vertritt er eine indikativische Maxime (Mk 7,15), die in Spannung zur Thora steht, folgert aber aus ihr kein konkretes Verhalten, das die Thora verletzt. In der Sabbatfrage vertritt er eine indikativische Maxime (Mk 2,27), die mit dem Geist der Thora übereinstimmt, um Übertretungen des Buchstabens zu rechtfertigen. In beiden Fällen zeigt er ein freies Verhältnis zur Thora – in der Reinheitsfrage zu ihrem Geist, in der Sabbatfrage zu ihrem Buchstaben. Wie beim Verstoß gegen das Elterngebot könnte Jesu Wanderexistenz seine Freiheit gegenüber dem Sabbat verständlich machen. Um Jesu Ethik insgesamt würdigen zu können, müssen wir ihr Verhältnis zu ihren drei Quellen als Ganzes betrachten: zu (5) Thora, (6) Weisheit und (7) Eschatologie, um in ethischen Überlieferungen von ihm „Erinnerungsmuster“ zu erkennen, die als Ganzes historisch sind, mögen einzelne Elemente auch umstritten sein.
5. Jesu Ethik als Thoraauslegung Jesu Ethik ist an erster Stelle Thoraauslegung. Doch es gibt nur wenige Stellungnahmen Jesu zur ganzen Thora. Die Logienquelle stellt zwei unmittelbar nebeneinander. Der „Stürmersprich“ spricht von einem Ende von Gesetz und Propheten: „Das Gesetz und die Propheten (sind) bis Johannes. Von da an leidet die Gottesherrschaft Gewalt und Gewalttäter erbeuten sie“ (QLk 16,16). Dann folgt in Spannung dazu das Logion über die Ewigkeit der Thora: „Bis Himmel und Erde vergehen, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüpfelchen vom Gesetz, bis es alles geschieht.“ (QLk 16,17). Mit dem Wort von der Ewigkeit der Thora haben wahrscheinlich judenchristliche Gemeinden gesetzeskritische Tendenzen unter den Jesusanhängern korrigiert, während der Stürmerspruch meist als authentisch gilt. Die Spannung zwischen ihnen könnte dennoch eine Erinnerungsspur Jesu sein: Die Thora gilt nach QLk 16,17 seit der Schöpfung bis in die Ewigkeit.44 Die sie begründende Heilsgeschichte beginnt mit der Schöpfung. Jesus hat seine Mahnungen in der Tat universal und weisheitlich mit Blick auf Lilien und Vögel formuliert. In QLk 16,17 wird diese Tendenz in einem ihm zugeschriebenen Wort radikalisiert. Jesus selbst rechnete mit einem eschatologischen Umschwung, der in der Gegenwart beginnt. Deshalb fordert er zur Umkehr auf (Mk 1,15). Alles wird sich verändern, auch der
44 Vgl. den Nachweis bei K.Wohlthat, Die ewige Gültigkeit des Gesetzes. Q 16,17 vor dem Hintergrund des Frühjudentums und des Matthäusevangeliums, 2020.
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Stellenwert der Thora. Zur weisheitlichen Einbettung der Thora in die Urzeit tritt hier in Spannung dazu eine eschatologische Perspektive. Nach dem Stürmerspruch (Mt 11,12f/Lk 16,16) ist die Zeit von „Gesetz und Propheten“ abgelaufen. Jetzt sei die Zeit, in der Gewalttäter die Gottesherrschaft an sich reißen. Entweder sind die „Gewalttäter“ Gegner der Gottesherrschaft, die mit deren „Eroberung“ gegen Gesetz und Propheten verstoßen. Jesus und seine Anhänger stünden dann auf der Seite von Gesetz und Propheten. Oder Jesus gibt einen gegen ihn gerichteten Vorwurf zurück, er breche Gesetz und Propheten, weswegen er sich demonstrativ zu dem bekennt, was in den Augen anderer ein Vorwurf ist: Er erobert mit seinen Jüngern als den vermeintlichen Gewalttätern die Gottesherrschaft. Das zeigt, dass Gott auf seiner Seite steht. Die Ablösung von Gesetz und Propheten wäre dann so zu verstehen: Jetzt gehen die in Gesetz und Propheten enthaltenen eschatologischen Verheißungen in Erfüllung – ähnlich wie später in der rabbinischen Überlieferung: „In der Schule des Elia wird gelehrt: 6000 Jahre wird die Welt bestehen, (nämlich) 2000 Jahre Chaos, 2000 Jahre Thora, 2000 Jahre messianische Zeit; doch wegen unserer vielen Sünden sind schon manche von diesen verstrichen“ (bSanh 97a/b; bAZ 9a). Mit dem Kommen des Messias wird die Thora dabei nicht aufgehoben, sondern erfüllt. Denn nur wegen der Sünden gegen die Thora hat sich das Kommen des Messias verzögert!45
Die Spannung zwischen dem Stürmerspruch und dem Wort von der Ewigkeit der Thora entspricht einem „Erinnerungsmuster“ in vielen Jesusüberlieferungen von Normverschärfung und Normentschärfung. Jesus verschärft ethische Normen zu einem universalen Ethos, relativiert aber rituelle Normen, durch die sich Juden und Heiden unterscheiden. Im Judentum finden wir zu den Normverschärfungen Analogien bei Essenern und Pharisäern, zu Normentschärfungen bei Allegorisierern,46 jedoch nirgendwo eine Verbindung beider Tendenzen. Dabei bahnt sich eine Unterscheidung von ethischen und rituellen Normen an, die erst später im frühen Christentum bewusst wurde. Denn für Jesus und das Judentum ist die Thora eine Einheit von ethischen und kultischen Verpflichtungen. Ethik ist Gottesdienst, Gottesdienst eine ethische Pflicht. 5.1 Thoraverschärfung in der Jesusüberlieferung
Erinnert sei noch einmal an eine Tendenz zur Verschärfung von Thorageboten in der Verkündigung Jesu (1) beim ersten Gebot des Dekalogs. Während die Widerstandsbewegung (des Judas Galilaios) es radikalisierte, indem sie jede Steuerzahlung an den Kaiser als Verrat an Gott verwarf und zwischen Gott und dem Kaiser eine scharfe Alternative sah, fordert Jesus eine Entscheidung zwischen Gott und dem Mammon (QLk 16,13).47 Jesus verschärft (2) das 45 Vgl. G.Theißen, Jünger als Gewalttäter (Mt 11,12f; Lk 16,16). Der Stürmerspruch als Selbststigmatisierung einer Minorität, in: Mighty Minorities? (1995) = Jesus als historische Gestalt, 2003, 153–168. 46 In Migr 89–92 polemisiert Philo gegen Juden, die Gesetze symbolisch verstehen und ihren realen Vollzug vernachlässigen, darunter auch die Beschneidung. 47 In der Geschichte vom „reichen Jüngling“ wirkt diese Alternative nach. Das Bekenntnis zum einen Gott (Mk 10,18) wird mit dem Aufruf zum Besitzverzicht zugunsten der Armen verbunden.
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Verbot des Tötens aus der zweiten Tafel des Dekalogs. Er verpflichtet zur Kontrolle des Zorns, bringt aber diese Verpflichtung nur in Form einer Schuldfeststellung zum Ausdruck: „Wer seinem Bruder zürnt, ist des Gerichts schuldig“ (Mt 5,22). Analog verschärft Jesus (3) das Verbot des Ehebruchs durch die Schuldfeststellung: „Jeder, der eine Frau ansieht, um sie zu begehren, hat die Ehe schon in seinem Herzen mit ihr gebrochen“ (Mt 5,28). Jesus wertet (4) das Gebot der Nächstenliebe (Lev 19,18) auf, indem er es dem Gebot der Gottesliebe gleichstellt und zur Liebe zum Feind, Fremden und Sünder radikalisiert. Er begründet (5) mit dem jus talionis des Schadensausgleichs: „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ (Ex 21,24f; Lev 24,20; Dtn 19,21) in ganz neuer Weise den Verzicht auf Gegenwehr: „Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar“ (Mt 5,39). Man bietet dem Feind noch einmal das „Gleiche“ und macht ihn, wie das letzte Beispiel zeigt, dadurch zum „Schuldner“: „Gib dem, der dich bittet“ (Mt 5,42). Beim (6) Eidverbot (Mt 5,33f) war der Einfluss auf das Urchristentum sehr begrenzt. Es begegnet zwar im Jakobusbrief (5,12), aber Paulus schwört ganz unbefangen (vgl. 2Kor 11,31; Gal 1,20; Röm 9,1); Mt lässt die Verdoppelung der Beteuerungsformel in Form von „Ja, Ja“ bzw. „Nein, Nein“ als Ersatz für einen formalen Eid zu.48 Wichtig ist: Alle diese Thoraverschärfungen beziehen sich auf ethische, nicht auf rituelle Gebote. 5.2 Thoraentschärfung in der Jesusüberlieferung
Wo Jesus kritisch zur Thora Stellung nimmt, trifft dies meist rituelle Gebote, die er aber nur situativ, meist aus ethischen Gründen suspendierte. Das Gebot zur Heilung wird (1) dem Sabbatgebot vorgeordnet. Für Jesus sind Recht, Barmherzigkeit und Treue wichtiger als (2) das Zehntgebot, auch wenn er ausdrücklich hinzufügt, man solle dies tun und jenes nicht lassen (Mt 23,23). Das Versöhnungsgebot wird (3) dem Opfergebot übergeordnet: „Darum, wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst und dort kommt dir in den Sinn, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, so lass dort vor dem Altar deine Gabe und geh zuerst hin und versöhne dich mit deinem Bruder und dann komm und opfere deine Gabe“ (Mt 5,23f). Auch das (4) Reinheitsgebot wird relativiert: Nach Mt 23,25f ist es wichtig, dass das Innere der Schüssel rein ist, d. h. nicht durch Raub und Gier erworben wurde, erst an zweiter Stelle wird gefordert, dass auch das Äußere rein sein soll. Klar erkennbar ist, dass Jesus Kontakt zu Menschengruppen pflegte, die als unrein galten, zu Aussätzigen, Besessenen, mit Blutfluss Behafteten und durch Sünden Verunreinigten (vgl. Mk 1,21–28.40–45; 2,13–17; 5,25–34 u.ö.). Der Reinheitsgedanke wird in Mk 7,15 grundsätzlich problematisiert: An sich gibt es nichts Reines und Unreines, sondern nur die Meinung, etwas sei rein oder unrein. 5.3 Das Verhältnis von Thoraverschärfung und Thoraentschärfung
Das Geheimnis der Ethik Jesu liegt in diesem Nebeneinander thoraverschärfender und -entschärfender Tendenzen. Umso wichtiger ist es, dass Jesus in einem Bereich, in der Sexual48 Kritik am Schwören war im Judentum zu der Zeit Jesu weit verbreitet, bei Essenern, Philo und in der Weisheitsliteratur, vgl. die Kommentare zu Mt 5,34 f.
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moral, beide Tendenzen verbindet. Verschärfte Normen stehen hier neben einem akzeptierenden Verhalten gegenüber Sündern und Sünderinnen. Seine sexualethische Lehre fällt auch dadurch auf, dass sein Trennungsverbot für Ehepaare (Mk 10,9; Mt 19,6 vgl. 1Kor 7,10f) und die Ablehnung der Wiederheirat nach einer Trennung (Mk 10,11f) als eine gesetzliche Regel formuliert wird, während er sonst keine neuen Gesetze (also keine „Halachoth“), sondern paränetisch-weisheitliche Mahnungen formuliert. Hintergrund seiner gesetzlichen Regelung ist, dass die Ehe für Jesus trotz Trennung weiterexistiert und daher eine erneute Heirat mit einem anderen Partner Ehebruch ist. Paulus interpretiert in dieser Tradition das Trennungsverbot als Versöhnungsgebot für getrennte Paare (1Kor 7,10f), konzediert aber für Ehen mit Nichtchristen die Scheidung, wenn der nichtchristliche Partner einverstanden ist. Mt geht noch weiter und erlaubt im Fall von Unzucht (porneia) die Ehescheidung (Mt 5,32; 19,9). Schon im Urchristentum musste man die Härte dieses Gebotes mildern. Das „Ehescheidungsverbot“ wird einerseits an den Mann adressiert (Mt 5,32; 19,9), andererseits an Mann und Frau (Mk 10,11f; 1Kor 7,10f). Meist wird aus einleuchtenden Gründen die zweiseitige Formulierung für eine Anpassung an ein nicht-jüdisches Milieu gehalten, weil in Griechenland und Rom auch die Frau ihre Scheidung betreiben konnte. Jedoch gibt es auch im Judentum Indizien für eine abweichende Rechtstradition, bezeugt durch die Elephantine-Papyri, Scheidungen herodäischer Frauen, vielleicht auch durch Scheidebriefe aus dem Wadi Murabaʿat (z. B. PMur 19), sowie in PsPhilo Ant 42,1 und einigen Spuren im Talmud. Daher könnte auch die zweiseitige Form des Ehescheidungsverbots auf Jesus zurückgehen, da er die von Herodias als eine von einer Frau betriebene Scheidung vor Augen hatte. Seine Stellungnahme zur Scheidung war wahrscheinlich durch diesen Fall veranlasst.49
Jesus ging auf jeden Fall mit seiner Kombination von Scheidungs- und Wiederheiratsverbot über die uns bekannten jüdischen Traditionen hinaus. Mal 2,14–16 tritt gegen vorschnelle Ehescheidungen ein, sagt aber nur, dass Abneigung des Mannes gegen seine Frau kein Grund zur Trennung von der „Frau deiner Jugend“ (2,14) ist. In Qumran wurde die Polygamie abgelehnt. Die Damaskusschrift verbietet „zwei Frauen zu ihren Lebzeiten“ zu nehmen (CD IV,21–V,2). Zwar könnte theoretisch damit die Ehe mit nur einer einzigen Frau im Leben gemeint sein, wahrscheinlich aber ist es eine Absage an Polygamie. Denn die Grundlegung der Ehe, dass Gott Menschen „als Mann und Frau erschaffen“ hat (Gen 1,27), wird durch zwei weitere Schriftbelege untermauert, von denen einer eindeutig die Polygamie ablehnt: „Und die in die Arche hineingingen, sind je zwei und zwei in die Arche gegangen. Und über den Fürsten steht geschrieben: Er soll nicht viele Frauen halten (Dtn 17,17).“ Die Logienüberlieferung verschärft in der Sexualethik Normen in fast unrealistischer Weise. Jesus tritt für die Unauflöslichkeit der Ehe ein (Mk 10,5–9.10–12) und verbietet entlassenen Frauen eine neue Heirat, auf die gerade geschiedene Frauen besonders angewiesen wären. Er identifiziert schon das sexuelle Begehren einer Frau mit Ehebruch (Mt 5,27f) und lobt im Eunuchenspruch den Verzicht auf Sexualität um der Gottesherrschaft willen (Mt 19,12). Seine rigorosen Aussagen wenden sich mehr an Männer als an Frauen. Das gilt auch für sein Bestehen 49 Vgl. den Überblick bei M.Fander, Die Stellung der Frau im Markusevangelium, 1989, 200–257.
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auf der Unauflöslichkeit der Ehe, da vor allem Männer die Initiative zur Ehescheidung ergriffen. Die Sentenz in Mk 10,9: „Was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch (anthrōpos) nicht scheiden“ ist möglicherweise doppeldeutig formuliert: „Was Gott zusammengefügt hat, soll der Mann (anthrōpos wie in Mk 10,8) nicht scheiden“. Die Erzählüberlieferung von Jesus wirbt dagegen für eine tolerante Sexualmoral beim Urteil über Frauen. Jesus setzt sich für die „große Sünderin“ und die Ehebrecherin ein (Lk 7,36–50; Joh 8,2–11). Nur Männer werden mit einer rigorosen Sexualethik konfrontiert, während man sonst mit ihren sexuellen Eskapaden sehr nachsichtig umging. Bei Frauen wurden dagegen erotische Normüberschreitungen unnachgiebig geahndet. Jesus steuert hier wie dort gegen die allgemeine Tendenz. Diese Beobachtung lässt sich generalisieren: In einer humanen Moral verbindet sich moralische Strenge bei Forderungen mit großer Milde bei ihren Übertretungen. Das Zusammenleben ist auf beides angewiesen. Je strenger die Normen sind, umso wahrscheinlicher wird auch deren Übertretung. Jesus verschärft das Liebesgebot, mahnt aber gleichzeitig zu einem humanen Umgang mit den „Feinden“, die es übertreten. Dennoch ist festzuhalten ist: Thoraverschärfung bezieht sich bei Jesus eher auf ethische Gebote, Thoraentschärfung auf rituelle Normen. Ethische Gebote sind tendenziell universal. Denn in allen Kulturen müssen Aggression, Besitz- und Machtstreben eingeschränkt werden. Rituelle Gebote sind dagegen Identitätsmerkmale bestimmter Kulturen. Beschneidung, Sabbat und Speisegebote unterscheiden Juden von anderen. Daraus darf man nicht folgern, Jesu habe mit seiner universalen Ethik die Welt des Judentums verlassen, im Gegenteil! Beide Tendenzen seiner Ethik wollen jüdische Identität wahren. Wenn Jesus bei universalistischen Geboten die Thora verschärft, geschieht das nicht in assimilatorischer Absicht: Die jüdischen Anhänger Jesu sollen vielmehr universale Normen so konsequent realisieren, dass sie andere „Völker“ überbieten. Sie sollen „Salz der Erde“ und „Licht der Welt“ sein (Mt 5,13f)! Ihre Feindesliebe soll sie von Sündern und Heiden unterscheiden (Lk 6,32–35; Mt 5,47), sie sollen in der Freiheit von Sorgen den „Heiden“ überlegen sein (QLk 12,30) und durch Statusverzicht einen Kontrast zu deren Leben bilden (Mk 10,42–44). Der universale ethische Wille Gottes soll von ihnen so verwirklicht werden, dass die Identität der Juden auch dadurch gegenüber den Heiden sichtbar wird. Die normentschärfenden Tendenzen in der Ethik Jesu haben ebenfalls eine soziale Funktion. Die Einheit der Gemeinschaft erfordert neben der Abgrenzung nach außen Integration im Innern. Das motiviert zur Relativierung ritueller Gebote: Auch „Zöllner und Sünder“ sind Glieder Israels, auch sie gehören zu den verlorenen Schafen. In einer lk Sabbatperikope verteidigt Jesus die Heilung einer Frau am Sabbat mit dem Argument: „Sollte denn nicht diese (Frau), die Abrahams Tochter ist, … am Sabbat von ihrer Fessel gelöst werden?“ (Lk 13,16). Am Sabbat darf man ein Glied des Volkes Israels erneut in das soziale Leben integrieren. Die thoraverschärfende und -entschärfende Ethik Jesu zielt also auf Wiederherstellung Israels: Sie will Israels Identität gegenüber der Umwelt wahren und im Innern integrieren. Ihr „Sitz im Leben“ ist eine Gruppe von Wandercharismatikern um Jesus, die Israel erneuern und es repräsentieren will. Fragt man nach der sachlichen Grundlage für diese innere Freiheit, aus der heraus Normen radikalisiert und entschärft wurden, so stößt man auf weisheitliche und eschatologische Traditionen des Judentums.
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6. Jesu Ethik als weisheitliche Ethik Wenn Jesu Freiheit gegenüber der Thora weisheitlich und eschatologisch begründet, verbindet er Traditionen, die eigentlich in Spannung zueinanderstehen. Weisheitliche Ethik rechnet mit der Dauer der Welt, eschatologische Ethik mit ihrer Verwandlung. Das Frühjudentum war eine Blütezeit der Weisheit. Die Weisheit verselbständigte die Wirkung Gottes in der Schöpfung, da sie bei ihr mitgewirkt hat (Spr 8,22–31; Sir 24; SapSal 6–8). Die Gebildeten beanspruchten, durch sie unabhängig von Priestern Zugang zu Gott zu haben – in Übereinstimmung mit der Thora, denn die Weisheit begegnet auch als Gesetz des Moses (Sir 24,23) und wohnt im Tempel (Sir 24,10f). Weisheitsschriften formulieren in der Tat Gebote und Maximen, die mit der Thora übereinstimmten, aber sich nicht auf sie berufen. Sie appellieren an Einsicht und Vernunft. Das Frühjudentum war gleichzeitig eine Blütezeit der Apokalyptik mit prophetischen Einblicken in die Zukunft der Welt durch Offenbarungen an Henoch, Abraham, Mose, Esra und Baruch. Apokalyptik hielt die Hoffnung aufrecht, Israel werde wieder mächtig werden, obwohl es in der Gegenwart unterdrückt war. Erfüllung der Thora ist Voraussetzung für den Eintritt in die neue Welt. Konkrete ethische Probleme werden in diesen Schriften aber kaum erörtert. Weisheit und Apokalyptik konnten sich verbinden: In der Weisheit Salomos werden die in dieser Welt verfolgten Weisen in einer neuen Welt herrschen; Gott wird den Kosmos verändern (SapSal 1–5). Umgekehrt integrieren apokalyptische Schriften die Weisheit: Nach äthHen 42 fand die Weisheit keine Wohnung unter den Menschen und kehrte in den Himmel zurück. Dort ist sie jetzt für Seher und Visionäre durch apokalyptische Geheimliteratur zugänglich. Beide Traditionsströme öffnen durch Weisheit und Prophetie den Weg zu Gott. Jesus aber überbietet beide, die Weisheit, indem er sagt: „Hier ist mehr als Salomo“, die Prophetie, indem er feststellt: „Hier ist mehr als Jona“ (QLk 11, 31f). 6.1 Der weisheitliche Rückgriff auf die Schöpfung
Jesus Ethik ist nicht nur in ihrer Form Weisheitslehre, sondern auch inhaltlich. Sie beruft sich auf die Schöpfung in der Urzeit und auf die Natur in der Gegenwart. (1) Von der Schöpfung her ist die Ehe unauflöslich. Scheidungen seien eine Konzession des Moses an die Unvollkommenheit der Menschen (Mk 10,2–9). Wenn Jesus die Unauflöslichkeit der Ehe zur Norm macht und eine Wiederheirat von Getrennten ausschließt (Mk 10,12), will er die Schöpfungsordnung erneuern. (2) Auch beim Sabbat spielt die Erneuerung der Schöpfung eine Rolle. In dem Jesuswort „Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen“ (Mk 2,27) wird aus der Reihenfolge der Erschaffung von Mensch und Sabbat (Gen l,26f; 2,1–3) auf eine Vorordnung des Menschen vor den Sabbat geschlossen. (3) Ebenso ist die Neubestimmung der Reinheit in Mk 7,15 vom Schöpfungs gedanken bestimmt: Die Unterscheidung von „rein und unrein“ wurde nämlich erst Lev 11 in die Schöpfung eingeführt. In Lk 11,40f wird der Unterschied zwischen äußerer und innerer Reinheit explizit mit dem Schöpfungsgedanken kritisiert: „Ihr Unverständigen! Hat nicht der, der das Äußere schuf, auch das Innere geschaffen!“
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6.2 Der weisheitliche Rückgriff auf die Natur
Eine zweite Gruppe weisheitlicher Argumente sind Bilder aus der gegenwärtigen Natur. (1) Die Sonne wird in Mt 5,45 zum Modell für die Feindesliebe. So wie die Sonne über Gute und Böse ihr Licht leuchten lässt, gilt auch die Zuwendung Gottes zu den Guten und Bösen. Daher sollen die Anhänger Jesu nicht nur die Guten, sondern auch ihre Feinde lieben. Eigentlich gehört es zur ethischen Irrationalität der Welt, dass über Guten und Bösen in dieser Welt gleichermaßen die Sonne aufgeht (vgl. Pred 3,16; 4,1.7f). Hier aber wird diese resignative Einsicht zur Motivation für ethisches Verhalten. Ein zukünftiger Lohn verbindet den Schöpfungsgedanken mit einem eschatologischen Motiv: Die, die Feindesliebe üben, werden Söhne und Töchter des Vaters im Himmel sein. (2) Der Sperling in der Hand Gottes wird in QLk 12,6f zum Argument für Vertrauen in Gott: „Verkauft man nicht fünf Sperlinge für zwei Groschen? Dennoch ist vor Gott nicht einer von ihnen vergessen! Aber auch die Haare auf eurem Haupt sind gezählt. Darum fürchtet euch nicht: Ihr seid besser als viele Sperlinge.“ Auch dieses Naturbild wird mit einem eschatologischen Ausblick verbunden: Nicht Menschen soll man fürchten, die das Leben nehmen, sondern Gott, der die Macht hat, in die „Hölle zu werfen“ (Lk 12,5). (3) Die Vögel unter dem Himmel und die Lilien auf dem Felde sind die bekanntesten weisheitlichen Naturbilder Jesu (QLk 12, 22–32). Sie sollen dazu ermutigen, die Sorge um Lebensunterhalt und Kleidung zu überwinden, um alle Energie auf das Eine zu richten, das nottut: „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen“ (Mt 6,33). Manchmal wird bestritten, dass die weisheitlichen Naturbilder und die eschatologischen Mahnungen eine Einheit bilden. Aber hier deutet sich schon vor Jesus eine mögliche Verbindung an: Nach dem Aristeasbrief nennen die Ägypter die Juden „Menschen Gottes“, dagegen seien die Ägypter „Menschen der Speisen, Getränke und Kleidung, denn all ihr Streben richtet sich darauf. Bei uns aber hat dies gar keinen Wert; wir betrachten das ganze Leben lang Gottes Herrschaft (dynasteia)“ (Arist 140f). Aus der hier angesprochenen zeitlosen „Herrschaft Gottes“ ist bei Jesus die eschatologische Herrschaft Gottes geworden. Der Schöpfergott, der als Vater für alle Geschöpfe sorgt, ist identisch mit dem Gott, der sein endzeitliches Königreich herbeiführt. Die Aufforderung zum Nicht-Sorgen verrät den „Sitz im Leben“ der weisheitlich-eschatologischen Ethik Jesu: Wer Vögel und Lilien als Vorbild für Sorgenfreiheit hinstellt, wendet sich an Menschen, die nicht arbeiten. Bei den Vögeln hätte es nahegelegen, sie als Vorbild für Arbeitsfleiß hinzustellen: Vögel bauen Nester, füttern ihre Jungen, suchen Futter. Wenn von ihnen gesagt wird: „Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen“, werden menschliche Tätigkeiten in die Natur hineinprojiziert. Modell sind Menschen, die in der Nachfolge Jesu nicht säen und ernten. Wenn ein Bild auf die Arbeit des Mannes „draußen“ auf dem Feld zielt, das andere auf die Arbeit von Frauen „drinnen im Haus“ (auf das Spinnen), so könnte das darauf weisen, dass auch Frauen zu den wandernden Nachfolgern Jesu gehörten.
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6.3 Der weisheitliche Rückgriff auf die Vernunft und das Lernen
Im Unterschied zur Thora, die Israel gegeben ist, ist die Weisheit universal verbreitet. Ihr Repräsentant ist nicht nur König Salomo, sondern auch die heidnische Königin des Südens. Die Weisheit unterscheidet unter Lilien und Vögeln nicht jüdische und heidnische Pflanzen oder Tiere. Sie repräsentiert eine universale Vernunft. Wir hatten gesehen: Die Jesusüberlieferung führt sogar einmal den Verstand an zentraler Stelle ein: Der Mensch soll Gott mit all seinen Vermögen lieben – nicht nur mit Herz, Seele und aller Kraft, sondern mit seinem ganzen „Verstand“ (dianoia) (Mk 12,30). Doch begegnet dieser Begriff nur einmal in der Jesusüberlieferung. Seine Bedeutung ist aber auch in der „Weisheit“ enthalten, wenn die Logienquelle von der Weisheit Salomos spricht (QLk 11,31), wenn Menschen über die Weisheit Jesu staunen (Mk 6,2) und Jesus die Weisheit denen zugänglich machen will, die sonst von ihr ausgeschlossen sind: Alle, die arbeiten und belastet sind, sollen von ihm „lernen“ (manthanein) (Mt 11,28–30). Trotz der geringen Bezeugung der Begriffe „Verstand“ und „Weisheit“, ist das Lernen ganz und gar keine Nebensache, sondern zentral. Denn die Nachfolger Jesu gelten als „Lernende“ oder Schüler und Jünger (mathētai). Ihre Beziehung zu Jesus ist in den synoptischen Evangelien an erster Stelle eine Beziehung des Lernens, mehr noch als eine Beziehung des Glaubens. Jesus ist der „Lehrer“ schlechthin.
7. Jesu Ethik als eschatologische Ethik Jesu „Lehren“ umfasst auch die Eschatologie. Jedoch ist sie in besonderem Maße Inhalt seiner „Verkündigung“ (Mk 1,14f). Der Lehrer wird hier zum Propheten. Manchmal wird die ethische Bedeutung der Eschatologie Jesu zwar minimalisiert. Die Gottesherrschaft breche als ein Geschehen ohne Zutun des Menschen herein und relativiere alles menschliche Handeln. Hauptbeleg dafür ist das „Gleichnis von der selbstwachsenden Saat“ (Mk 4,26–29). Nach ihm kommt die Gottesherrschaft „von selbst“ (automatē), ohne Zutun des Menschen. Der Begriff „von selbst“ (automatōs) wird eigentlich für wildwachsende Pflanzen benutzt, in diesem Gleichnis aber für Kulturpflanzen und auf die Zeit zwischen Aussaat und Ernte begrenzt. Das Gleichnis zielt auf eine Kooperation zwischen Bauer und Erde bei der Hervorbringung der Frucht. Da hinter dem Bauern am Ende des Gleichnisses der Weltenrichter sichtbar wird und da die Erde, die Frucht herbringt, ein Bild für den Menschen sein kann, spricht das Gleichnis von einer Kooperation von Gott und Mensch: Gott vertraut seinen Samen den Menschen, an, damit diese spontan, d. h. freiwillig und „von selbst“ Frucht hervorbringen.50 Die Aussicht auf eine „Ernte“ stellt im Gleichnis die eschatologische Motivation des Handelns dar. 50 Vgl. G.Theißen, Der Bauer und die von selbst Frucht bringende Erde. Naiver Synergismus in Mk 4,26– 29? ZNW 85 (1994) 167–182; ders. Die Bilderwelt des Gottesreichs. Familien- und Pflanzenmetaphorik bei Johannes dem Täufer und Jesus von Nazareth, in: M.Schmidt/M.Lau (Hg.), Sprachbilder und Bildsprache. Studien zur Kontextualisierung biblischer Texte, 2019, 173–199.
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7.1 Jesu eschatologische Ethik als Umkehrethik für alle
Ohne Gleichnisbild setzt Jesus in Mk 1,14f summarisch Eschatologie und Ethik in Beziehung zueinander. Auf die eschatologische Botschaft „Die Zeit ist erfüllt und die Gottesherrschaft nahe herbeigekommen“ folgen die beiden Imperative: „Kehret um!“ und: „Glaubt an das Evangelium!“ Der großen kosmischen Wende entspricht die Forderung zur Verhaltensänderung, die sich an alle wendet. Jesu eschatologische Ethik ist daher Umkehrethik. Der zweite Imperativ: „Glaubt an das Evangelium!“ hat vor allem die Armen, Kranken und Schwachen im Blick (vgl. QLk 7,22, wo das Verb euaggelizesthai begegnet). Gott zeigt als König Parteilichkeit für die Benachteiligten. Jesu eschatologische Umkehrethik ist Barmherzigkeitsethik. Jesus ruft in seiner eschatologischen Ethik wie der Täufer alle dazu auf, im Leben neu zu beginnen. Charakteristisch für Jesus ist (1) die Unabhängigkeit der Umkehr von der Taufe. Jesus hat wahrscheinlich in der Zeit seines öffentlichen Wirkens nicht getauft. Möglicherweise geht das auch auf eine fehlende Angst vor Unreinheit zurück, die durch das Wort über rein und unrein in Mk 7,15 belegt ist. Charakteristisch ist ferner (2) der Zeitgewinn zur ethischen Bewährung der Umkehr: Während der Täufer in einer Nächst-Erwartung lebte („Die Axt ist schon an die Wurzel der Bäume gelegt“; QLk 3,9), gibt Gott bei Jesus Zeit zur ethischen Bewährung im Gleichnis vom unfruchtbaren Feigenbaum (Lk 13,6–9). Auffallend ist (3) ein großes Vertrauen in die Umkehrbereitschaft der Menschen: Der verlorene Sohn kehrt aus eigenem Antrieb zu seinem Vater zurück (Lk 15,11–32). Jesus traut Heiden die Bereitschaft zur Umkehr zu, sogar die Niniviten kehrten um und werden „dies Geschlecht“ im Gericht verurteilen, weil es nicht umkehrte (QLk 11,32). Die Leute von Tyros und Sidon wären schon lange umgekehrt, hätten sie Jesu Taten erlebt (QLk 10,13–15). Auch „böse Menschen“ sind zu Gutem fähig, sonst könnte Jesus nicht sagen: „Wenn nun ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gute Gaben geben könnt …“ (QLk 11,11–13). „Umkehr“ ist anders als in Qumran (1QS V,8f; CD XV,12) keine Umkehr zu strengem Thoragehorsam, sondern zur Königsherrschaft Gottes, die durch Barmherzigkeit zugunsten der Schwachen und Armen charakterisiert ist. Dies zeigen (1) die Seligpreisungen der Armen, Hungernden und Dürstenden. Diese „Antimakarismen“ preisen angesichts der beginnenden Gottesherrschaft gerade die glücklich, die nach allgemeinen Maßstäben unglücklich sind (QLk 6,20b–21). (2) Die Einlasssprüche sprechen Kindern (Mk 10,15), Zöllnern, Prostituierten (Mt 21,31f) und Verstümmelten (Mk 9,43–48) die Gottesherrschaft zu. (3) Die Täuferfrage, ob Jesus der ist, der kommen sollte, wird damit beantwortet, dass gerade jetzt die Kranken und Armen eine frohe Botschaft erhalten (QLk 7,18–23). Grundsätzlich gilt, dass das Kommen der Königsherrschaft Gottes und des Gerichts die Ethik Jesu nicht nur dadurch motiviert, dass sie das Tun des Guten einschärft, dessen Inhalt bekannt ist. Aus ihr ergeben sich auch neue inhaltliche Maßstäbe für das Gute. Denn die Eschatologie bringt eine Umkehr aller Maßstäbe. Diejenigen, die hier negativ „privilegiert“ sind, werden durch den beginnenden eschatologischen Wandel positiv „privilegiert“. Gott erweist sein Königtum dadurch, dass er sich der Schwachen annimmt, auch derer, die an strengen Thoranormen gemessen „Sünder“ sind. Auch Nicht-Juden werden in sein Königreich aufgenommen (Mt 8,11f), Zöllner und Prosti-
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tuierten werden noch vor den Frommen, die die Umkehr verweigern, in sie hineingelangen (Mt 21,31f). Gutes Verhalten heißt: Schwache stützen, Sünder akzeptieren, Ausländer aufnehmen. Insgesamt hat die Verkündigung der Gottesherrschaft einen antiselektionistischen Zug. F. Nietzsche hat richtig erkannt: Das Christentum ist ein Protest gegen den Selektionsdruck in dieser Welt.51 Dieser Protest wird in der Verkündigung der Gottesherrschaft artikuliert – nicht nur durch Jesus, sondern auch durch seine Nachfolger. 7.2 Jesu eschatologische Ethik als Nachfolgeethik für die Jünger
Unmittelbar nach der eschatologischen Botschaft in Mk 1,14f werden einzelne Jünger als „Menschenfischer“ in die „Nachfolge“ Jesu gerufen, in der sie freiwillig Außenseiterrollen übernehmen sollen, denn die Rolle von „Menschenfischern“ ist mit negativen Assoziationen verbunden. Jesu eschatologische Ethik ist für seine Jünger und Jüngerinnen Nachfolgeethik. Diese Nachfolgeethik richtet sich nicht an alle, sondern nur an die Jünger, die Jesus im wörtlichen Sinne nachfolgen. Zu ihr gehören als Merkmale des „Wanderradikalismus“52 (1) die Aufgabe der stabilitas loci. Die Jünger folgen Jesus auf seinen Wanderungen durch Palästina (Mt 8,19f; Mk 10,28–30). Gefordert wird (2) Freiheit vom Besitz als Besitzverzicht zugunsten der Armen (Mk 10,17–22) oder als Verlassen von Haus und Hof (Mk 10,28–30). Verlangt wird (3) eine Schutzlosigkeit durch demonstrativen Verzicht selbst auf einen Stab zur Selbstverteidigung (Mt 10,10),53 durch Verzicht auf Gegenwehr (Mt 5,38–42) bis hin zur Martyriumsbereitschaft (Mk 8,34f). (4) Das afamiliäre Ethos umschließt die Bereitschaft zum Bruch mit der Familie (Mk 3,20 f.31–35), das Ertragen eines endzeitlichen „Familienkriegs“ (QLk 12,51–53) und sogar zum „Hass“ von Familienangehörigen (QLk 14,26).54 Aus der Situation des Wandercharismatikertums erklärt sich die Aufforderung an einen Nachfolger, das Begräbnis des Vaters den Toten zu überlassen und Jesus nachzufolgen (QLk 9,59f). Dieser Verstoß gegen das Elterngebot ist eine prophetische Zeichenhandlung: Diese verstoßen auch sonst oft gegen Gesetz und Sitte, etwa, wenn Jesaja drei Jahre lang nackt geht (Jes 20,1–6) oder Hosea eine Prostituierte oder Ehebrecherin heiratet (Hos 1,2–3,5). Weder Hosea noch Jesaja wollten damit Gesetz und Sitte außer Kraft setzen, sondern durch provokatives Verhalten ihrer Botschaft Nachdruck verleihen. Bei Jesus lautet die Botschaft: Nachfolge und Reich Gottes sind wichtiger als die elementarste Familienpflicht. Das nicht grundsätzlich gemeinte Nachfolgegebot in Mt 8,21f par. erlaubt nicht die Annahme, Jesus habe grundsätzlich die Thora verlassen. 51 Vgl. G.Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, 1984, bes. 143–162 und F.Nietzsche, Der Antichrist § 7 (1888/9) = KSA 6, 1999, 119: „Das Mitleiden kreuzt im Ganzen Grossen das Gesetz der Entwicklung, welches das Gesetz der Selektion ist. Es erhält, was zum Untergange reif ist, es wehrt sich zu Gunsten der Enterbten und Verurtheilten des Lebens …“. 52 Vgl. G.Theißen, Soziologie der Jesusbewegung, 1977, 14–21. 53 Anders die Aussendungsregeln in Mk 6,8, die den Stab zugestehen. 54 Die Spannung zum Feindesliebegebot beleuchtet ein charakteristisches Merkmal der Ethik Jesu: Gegenüber denen, die eigentlich Feinde sind, soll Liebe geübt werden; gegenüber den Familienangehörigen Konfliktbereitschaft bis hin zum Hass.
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Jesus verbindet selten Nachfolge und Gottesherrschaft,55 aber Menschen, die er in die Nachfolge beruft, werden auch zu Boten der Gottesherrschaft (Lk 10,9.11). Wenn wir die eschatologischen Motive in der Ethik Jesu zusammenfassend betrachten, erkennen wir dieselbe Spannung von rigorosen und akzeptierenden Aspekten, die für seine Thoraauslegung charakteristisch ist. Nachfolger und Nachfolgerinnen werden radikal gefordert. Alle Menschen aber sind zur Barmherzigkeit gegenüber Armen und Marginalisierten verpflichtet, auch wenn sie radikalen Forderungen nicht entsprechen. Alle werden mit dem Ruf zur Umkehr konfrontiert: Jesus verpflichtet alle zu Verhaltensänderungen, gibt aber besonders Außenseitern eine Chance. Mk 2,17 fasst Jesu Verkündigung sachlich treffend zusammen: „Die Starken bedürfen keines Arztes, sondern die Kranken. Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten.“
8. Hermeneutische Reflexion Im Mittelpunkt der Ethik Jesu steht das Doppelgebot der Liebe. Das erste Gebot, Gott mit ganzer Existenz zu lieben, ist mit Geboten vernetzt, die Freiheit im Umgang mit Macht, Besitz und Bildung fordern. Das zweite Gebot, den Nächsten wie sich selbst zu lieben, ist mit Geboten verbunden, Feinde, Fremde und Außenseiter zu lieben. Das erste Gebot aktiviert den ganzen Menschen, auch seinen „Verstand“. Das zweite Gebot wird auf alle Menschen ausgedehnt, auch auf marginale und externe Gruppen. Wegen der Zentralstellung der Liebe des Menschen zu Gott und zum Nächsten ist es umso rätselhafter, dass Jesus nie von der Liebe Gottes zum Menschen spricht. Der Gedanke, dass Gott Liebe ist, begegnet im Urchristentum erst bei Paulus, der schon in seinem ältesten, erhaltenen Brief versichert, dass Gott die Glaubenden liebt (1Thess 1,4). Er entfaltet diesen Gedanken im Römerbrief (Röm 5,6–8). Der Hymnus auf die Liebe Gottes in 8,31–39 begründet ein unbedingtes Vertrauen. Der Verfasser des JohEv führt die Liebe Gottes im Nikodemusgespräch (Joh 3,16) und in den Abschiedsreden (Joh 13–17) als geheime Offenbarung ein. Im ThEv findet sich kein Wort über die Liebe Gottes zu den Menschen. Aber das ThEv lässt im Gleichnis vom verlorenen Schaf den Hirten sagen: „Ich liebe dich mehr als die neunundneunzig“ (ThEv 107). Das könnte erklären, warum die „Liebe Gottes“ bei Jesus fehlt: Denn diese Liebe ist Vorzugsliebe, sie liebt den einen mehr als die anderen und zeichnet die geliebte Person vor anderen aus. In diesem Sinne fragt Jesus Petrus im JohEv: „Liebst du mich mehr als diese?“ (21,15). Auch im Alten Testament meint die Liebe Gottes die Erwählung Israels unter allen Völkern. Jesus aber dachte universal. Das bestätigt die einzige indirekte Aussage über die Liebe Gottes bei Jesus im Gebot der Feindesliebe. Die Feindesliebe ahmt Gott nach, der seinen Regen und Sonne unterschiedslos allen zugutekommen lässt. Gottes Zuwendung zum Menschen ist universal, „Liebe“ könnte als vorziehende Liebe missverstanden werden. 55 Doch vgl. Lk 9,59–62: „… du aber geh hin und verkündige die Gottesherrschaft“ (9,60b); möglicherweise ist dieser Versteil lk Redaktion.
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Nicht die Liebe Gottes zu den Menschen, wohl aber die Liebe der Menschen zu Gott und zum Mitmenschen steht eindeutig im Zentrum der Ethik Jesu. Lässt sie sich aber verwirklichen? Überfordert sie nicht den Menschen? Diese Frage hat in der Auslegungsgeschichte viele Versuche hervorgerufen, Jesu Ethik „lebbar und erfüllbar“ zu gestalten oder ihrer Unerfüllbarkeit einen Sinn zu geben. Das ist das Problem einer „Hermeneutik der Bergpredigt“.56 Wir skizzieren die wichtigsten Versuche. Die ersten drei Deutungen relativieren die strengen Forderungen der Bergpredigt. 1. Die Unterscheidung von praecepta und consilia evangelii machte im Mittelalter eine Unterscheidung zwischen den 10 Geboten als Vorschriften für alle (den praecepta) und den evangelischen Ratschlägen der Armut, Keuschheit und des Gehorsams, den consilia evangelica speziell für Kleriker, Mönche und Nonnen. Durch Erfüllung der consilia kann man ein besonderes Verdienst (opera superogatoria) erwerben. Diese Zweistufenethik hat Ansätze in Mt 19,21 und in der Didache: „Wenn du das ganze Joch des Herrn tragen kannst, wirst du vollkommen sein. Kannst du es aber nicht, dann halte, was du kannst“ (Did 6,2). Bei Thomas von Aquin liegt diese Lehre in klassischer Form vor (Summa Theologica 1,9; 107,2; 108,4). 2. Die Unterscheidung von Amt und Person bei Martin Luther: Nach M.Luther gelten die radikalen Forderungen Jesu nicht für das öffentliche Leben: Als Vertreter eines Amtes, als Politiker, Richter und Lehrer muss der Christ im Interesse anderer Menschen das Recht auch gegen Widerstand durchsetzen. Als „Privatperson“ soll er aber bereit sein, lieber Unrecht zu leiden und die unbedingte Liebe zu verwirklichen. Er handelt innerhalb der „zwei Regimenter“ Gottes in verschiedener Weise. Die Verwirklichung radikaler und „realistischer“ Gebote wird also nicht auf zwei Gruppen verteilt, sondern in den einzelnen Menschen verlagert – je nachdem, in welcher Rolle er handelt.57 3. Die Unterscheidung zwischen Gesinnung und Konkretion in der liberalen Theologie: Eine moderne „Verinnerlichung“ der Spannung zwischen Radikalität und Praktikabilität unterscheidet Buchstabe und Geist: Gut ist, was aufgrund guter Gesinnung getan wird. Die Gebote Jesu wollen nicht nach ihrem Buchstaben verwirklicht werden, sondern nach ihrem Geist. Die ihnen zugrunde liegende Gesinnung ist als ihr Geist zeitlos, die konkreten Forderungen des Buchstabens dagegen zeitbedingt. Diese Position vertritt W.Herrmann.58 Eine existentialistische Variante ist R.Bultmanns Auffassung, dass die Ethik Jesu durch den „absoluten Charakter der Forderung Gottes“ (Jesus, 1926, 82) den Menschen vor die Entscheidung stellt, ob er sein ganzes Tun unter den Anspruch der Liebe stellt oder nicht. Diese Entscheidung ist wichtiger als der Inhalt der Gebote. Diese drei Auslegungstypen gehen davon aus, dass die Ethik Jesu verwirklicht werden soll – von Mönchen, von Privatpersonen, von der inneren Gesinnung. Seit der Reformation entstanden neue Auslegungstypen, die der Bergpredigt trotz ihrer imperativischen Form 56 Neben der Bergpredigt spielen auch die Aussendungsrede (Mt 10), die Perikope vom reichen jungen Mann (Mt 19,16–30) und der Spruch über die Ehelosigkeit (Mt 19,10–12) eine Rolle. 57 Die Unterscheidung von Amt und Person findet sich in M.Luther: Von weltlicher Obrigkeit, 1523. 58 Vgl. W.Herrmann, Die sittlichen Weisungen Jesu. Ihr Mißbrauch und ihr richtiger Gebrauch, 1904 2 1907, in: ders., Schriften zur Grundlegung der Theologie Teil 1, 1966, 200–241.
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dagegen einen „indikativischen“ Sinn zuschrieben: Sie ziele auf Aussagen über den gegenwärtigen sündigen Menschen, auf Christus als Ebenbild Gottes oder auf den neuen Menschen, der durch das Reich Gottes möglich wird. 4. Die radikale Ethik Jesu wird als usus elenchticus des Gesetzes verstanden: Schon Luther betrachtete die Bergpredigt als ein Gesetz, das oft unerfüllbar ist. Die lutherische Orthodoxie betonte darüber hinaus grundsätzlich: Die unerfüllbaren Forderungen Jesu decken die Sünde des Menschen auf und schaffen eine Sehnsucht nach dem Evangelium. Sie sollen durch Konfrontation mit dem Gesetz „lernen ihre Sünde erkennen“ (Formula Concordiae V, 10). In dieser Tradition schreibt M.Hengel der Bergpredigt den Sinn zu, „jede Möglichkeit menschlicher Selbstgerechtigkeit“ zu zerstören.59 5. Die radikale Ethik Jesu wird als christologische Aussage über Jesus verstanden: Nach E.Thurneysen60 ist Christus nicht nur der Autor der Bergpredigt, sondern ihr Gegenstand. Nur er erfüllt die radikalen Gebote der Bergpredigt. „Die Christologie der Bergpredigt besteht darin, dass in ihr Jesus dargestellt ist als Bringer des messianischen Reiches mit seiner neuen Gerechtigkeit.“ Die Bergpredigt wird zur Selbstoffenbarung Jesu. Im Unterschied zur altlutherischen Lehre von der Bergpredigt als „Sündenspiegel“ des Menschen zielt sie aber nicht auf eine negative Aussage über den alten Menschen, sondern auf eine positive Aussage über den neuen Menschen, der in Christus Wirklichkeit geworden ist. Verwandt ist daher die folgende Deutung der Bergpredigt auf indikativische Aussagen über den neuen Menschen überhaupt. 6. Die radikale Ethik Jesu wird als eschatologische Aussage verstanden: Nach M.Dibelius sind die Sprüche Jesu „Zeichen des Gottesreichs“.61 Sie sind in dieser Welt nicht restlos erfüllbar, weisen aber auf eine neue Welt, für die eine Erneuerung des Gottesverhältnisses verheißen ist: Gott wird sein Gesetz ins Herz der Menschen schreiben (Jer 31,33; 32,39f; Ez 36,26f). Die Menschen werden spontan Gottes Willen tun: „Das geschriebene Gesetz mit seinem Kompromisscharakter und seinen Halbheiten wird dann überflüssig sein, denn es wird dann nicht mehr notwendig sein, dem widerstrebenden Menschen durch Verbote und Drohungen das für das Leben in der Gemeinschaft notwendige Minimum an gemeinschaftsgemäßem Verhalten abzutrotzen. Jesus spricht seine Jünger auf diese Erneuerungen hin an. Ihr Verhalten soll ein Zeichen der Gottesherrschaft inmitten der dem Ende zulaufenden alten Welt sein.“ (J.Roloff)62 Bei der indikativischen (Um-)Interpretation der Bergpredigt entweder als „hamartiologische“ Aussage über den sündigen alten Menschen oder christologische Aussage über Jesus oder eschatologische Aussage über den neuen Menschen wird zweifellos „die Reflexion über die Lage, in die uns die Bergpredigt versetzt, mit der Auslegung der Worte selbst vermengt“ (G.Bornkamm, Jesus von Nazareth, 141987, 198). Manche Auslegungen versuchen daher, 59 M.Hengel, Leben in der Veränderung. Ein Beitrag zum Verständnis der Bergpredigt, EK 3 (1970) 647– 651, S. 650. 60 E.Thurneysen, Die Bergpredigt, 1936, 14. 61 M.Dibelius, Die Bergpredigt, in: ders., Botschaft und Geschichte I, 1953, 79–174, dort S. 134. 62 J.Roloff, Neues Testament, 1985, 115.
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Dritter Teil: Das Wirken und die Verkündigung Jesu
zunächst die Radikalität der Worte Jesu aus deren geschichtlichem Kontext heraus zu verstehen – oft mit der (nicht beabsichtigten) Folge, dass ihr Verpflichtungsgehalt für die Gegenwart in Frage gestellt wird. 7. Die Auffassung der radikalen Ethik Jesu als „Interimsethik“: Diese Interpretation erklärt Jesu Radikalität durch eine Ausnahmesituation angesichts des nahen Weltendes: „Wie im Kriege Ausnahmegesetze in Kraft treten, die sich so im Frieden nicht durchführen lassen, so trägt auch dieser Teil der ethischen Verkündigung Jesu einen besonderen Charakter. Er fordert … Dinge, die unter gewöhnlichen Verhältnissen einfach unmöglich wären“ (J.Weiß).63 A.Schweitzer, Von Reimarus zu Wrede, 1906, 351ff, prägte dafür den Begriff „Interimsethik“. Die damit verbundene Vorstellung eines nahen Weltendes hielt er für zeitbedingt, den sich in ihr äußernden ethischen Willen aber für die zeitlose Grundlage des Christentums. 8. Die Ethik Jesu als Ausdruck einer Gruppenethik: Die „konsequent eschatologische“ Interpretation der Ethik Jesu stellte sie als weltfremde Forderungen dar, die in dieser Welt keinen „Sitz im Leben“ haben. Doch konnten immer wieder marginale Gruppen eine radikale Ethik glaubwürdig vertreten – Orden, Täufer, Mennoniten, Quäker. Wenn man Jesus und seine Jünger als eine Gruppe mit sozial abweichendem Verhalten betrachtet, die ohne die Bindungen und Einschränkungen eines alltäglichen Berufs- und Familienlebens durch Palästina zogen, so erscheint die Radikalität der Ethik Jesu in diesem Rahmen lebbar zu sein (G.Theißen, Wanderradikalismus*, 1973). Daraus folgt ihre Irrelevanz für die Gegenwart nur, wenn man meint, Minoritäten mit abweichendem Verhalten seien für die Gesamtgesellschaft irrelevant. 9. Die Deutung der radikalen Ethik Jesu als „komplementäre Ethik“: Als in den 1950er Jahren die Wiederbewaffnung der deutschen Bundeswehr umstritten war, gelang innerhalb des Protestantismus in den Heidelberger Thesen von 1959 ein „Kompromiss“, der zwei komplementäre Einstellungen anerkannte: Auf dem Weg zum Frieden seien entgegengesetzte Haltungen notwendig, pazifistische Gewaltlosigkeit und militärische Verteidigungsbereitschaft. Ihr Verhältnis sei asymmetrisch, Gewaltlosigkeit das deutlichere Zeichen auf dem Weg zum Frieden, Verteidigungspolitik aber notwendig zur Sicherung des Friedens.64 Was damals für die Friedensethik entdeckt wurde, könnte auch für das Verhältnis von Zölibat und Ehe, Tradition und Traditionskritik gelten. Widersprüchliche Positionen können sich komplementär ergänzen. In allen Deutungen der Ethik Jesu ist ein Wahrheitsmoment enthalten. Ethische Aussagen, auch wenn sie universal und zeitlos gültig formuliert sind, haben meist einen „Sitz im Leben“, in dem sie stimmiger sind als in anderen Kontexten. Die radikale Ethik ist zwar Auslegung des zeitlos gültigen Willens Gottes. Aber sie wird eine direkte Orientierung immer nur für Einzelne und kleine Gruppen sein können, die bereit sind, in unseren Gesellschaften eine marginale Rolle einzunehmen. Indirekt kann sie aber eine Richtschnur für alle werden. Denn sie verpflichtet alle, eine Gesellschaft so einzurichten, dass wenigstens einige solch 63 J.Weiß, Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes, 1892 21900, 139. 64 Vgl. G.Theißen, Christliche Friedensethik – Biblisches Ethos oder modernes Konstrukt? in: S.Thonak/G.Theißen, Militärseelsorge – das ungeliebte Kind protestantischer Friedensethik? 2020, 217–247.
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ein radikales Ethos verwirklichen können. Dadurch hat sie auch politische Bedeutung. Der Verteidigungsminister wird zwar nicht nach der Devise handeln: „Wehret nicht dem Bösen!“, der Finanzminister nicht nach dem Motto: „Sorget nicht …!“, die Justizministerin nicht nach der Maxime: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!“ Aber alle können sich für eine Gesellschaft einsetzen, in der auch der Kriegsdienstverweigerer, Asketen, „Sanftmütige“ leben können. Auch die Unterscheidung einer Ethik von Amt und Person ist richtig. Sie ermöglicht den verantwortlichen Umgang mit Zwang und hält gleichzeitig das Bewusstsein seiner ethischen Problematik aufrecht. Denn zur Amtsethik gehört nicht nur die Durchsetzung des Rechts mit Zwang, sondern auch die Verpflichtung, Lebensräume zu schaffen, in denen Verzicht auf Zwang, Vorsorge und Rechtsdurchsetzung möglich ist, zunächst nur für Einzelne und Minoritäten. aber mit Rückwirkung auf alle: Erst eine Gesellschaft mit Lebensräumen für radikale ethische Minoritäten ist human. Alle sind auf ethische Minoritäten mit abweichendem Lebensstil angewiesen, damit die Sensibilität für das Gute nicht durch den Zynismus des Alltags zerrieben wird. Es bleibt auch dann der Widerspruch zwischen den Prinzipien einer solchen Ethik, die den durchschnittlichen Menschen überfordert, und den konkreten Verhaltensweisen, die von allen verwirklicht werden können. Aber auch solche Widersprüche sind ethisch sinnvoll und unverzichtbar. „Sündenbewusstsein“ schafft einerseits ein Gefühl der Verbundenheit: Alle verfehlen das, was sie im Innersten bejahen. Das Bewusstsein, grundsätzlich hinter dem zurückzubleiben, was man als Verpflichtung anerkennt, ist zudem die Voraussetzung für den verständnisvollen Umgang mit den Verfehlungen anderer Menschen. Andererseits ist Sündenbewusstsein ein moralischer Schmerz, der wie der physische Schmerz eine Funktion im Leben hat: Er mahnt Verhaltensänderung auch dort an, wo sie im Augenblick nicht möglich ist. Sündenbewusstsein ist als „evolutionärer Schmerz“ ein Indiz dafür, dass die Welt auch strukturell anders sein müsste, um elementare Normen realisieren zu können: Dass ein Fünftel der Weltbevölkerung mehr als vier Fünftel der Ressourcen besitzt, ist moralisch unhaltbar, ebenso, dass die meisten Menschen nicht in freien Verhältnissen leben. Der „Schmerz“ über solche Verhältnisse muss wachgehalten werden und immer wieder zu neuen Handlungsprogrammen führen. Denn über das hinaus, was wir tun können, ist Ethik auch eine Orientierung für das, was wir hoffen: ein Zeichen der Zukunft – so wie sie bei Jesus ein Zeichen der Gottesherrschaft ist. Können aber die beiden zentralen Gebote Jesu, das Gebot der Gottesliebe und der Nächstenliebe auch heute die Grundlage einer humanen Ethik sein? Ihre Inhalte erhält die in der Bibel sichtbare humane Ethik durch Orientierung am Mitmenschen, ihre motivierende Überzeugungskraft durch Orientierung an Gott. Was die Inhalte der Ethik angeht, so kann man in ihnen oft eine allgemeine Vernunft erkennen. Schon im Urchristentum wurde die Nächstenliebe mit der universal verbreiteten Goldenen Regel verbunden (vgl. Mt 7,12). Diese Goldene Regel sagt: Wir müssen ethische Forderungen so formulieren, dass wir zustimmen könnten, wenn wir selbst betroffen wären. Weiterentwickelt wurde dieses Gegenseitigkeitsprinzip durch den „kategorischen Imperativ“, der die Generalisierbarkeit von Normen unabhängig von der individuellen Lage des Menschen zum Maßstab macht, während sich die „Goldene Regel“ mehr am konkreten individuellen Nächsten orientiert. Mit dem kategorischen Imperativ kann man Gesetzes-
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brüche zugunsten des Nächsten nur schwer legitimieren, wohl aber mit der Goldenen Regel: Wenn wir Flüchtlinge wären, die um ihr Leben bangen, wären wir froh wenn Menschen uns helfen – auch wenn sie Gesetze brechen. Was die Motivation angeht, ist die Orientierung am ersten Gebot in einer säkularen Gesellschaft umstritten, kann aber auch in ihr Grundlage einer christlichen Ethik sein, wenn Gottes Transzendenz bewusst ist. Gott entzieht sich allem, was wir denken und vorstellen. Wir können keine Forderung mit der Unbedingtheit göttlichen Willens vertreten, wohl aber den ganzen Menschen mit all seinen Kräften verpflichten, zu tun, was er als „gut“ erkannt hat. Dieses Bewusstsein der Transzendenz Gottes ist ethisch wertvoll. Es bewahrt vor Fanatismus. Religiöser Glaube deutet das ethisch Gute als Gebot des lebendigen Gottes und bringt dadurch gleichzeitig Grund und Grenze dieser Ethik zum Ausdruck. In jeder Ethik bleibt eine Unbegründbarkeit, da alle ethischen Normen voraussetzen, dass der Mensch das Leben bejaht. Lebensbejahung aber ist so grundlos wie die Existenz aller Dinge. Sie ist Resonanz auf die Erfahrung Gottes in allen Dingen, vor allem als Erfahrung der Daseinskontingenz der Wirklichkeit. Diese Erfahrung dass schon die bloße Existenz wertvoll ist, verbindet uns mit allen Dingen. Ohne die Prämisse: „Leben soll sein!“ gäbe es keine Ethik. In vielen ethischen Reflexionen wird diese Prämisse viel zu selbstverständlich vorausgesetzt. Durch das zweite Gebot der Nächstenliebe wird dieser Imperativ erweitert: „Zusammenleben soll sein!“ Der vom Nächsten ausgehende Imperativ verbindet uns mit allen Mitmenschen. Wenn wir die Verpflichtungskraft der Nächstenliebe anerkennen, verpflichten wir uns, Konkurrenz untereinander zu begrenzen und zu überwinden. Von Jesus ausgehend wird im NT ein antiselektionistischer Imperativ formuliert, mit der wir die bisherige Evolution in ersten Schritten verlassen, auch wenn wir ihr verhaftet bleiben: Das NT sieht alle Menschen auf der Schwelle zu einer neuen Welt.65 Wir leben in der alten Welt, aber in ihr beginnt schon an manchen Stellen eine neue Welt jenseits des Selektionsprinzips und ihrer Konflikte: Im NT verändert vor allem die Eschatologie, also das Bewusstsein einer grundsätzlichen Veränderung der Welt, alle ethischen Normen. Sie haben sich in der Geschichte immer wieder verändert. Ihrer Veränderung wird das Bild vom lebendigen Gott gerecht, der Gebote revidieren kann. Schon das Alte Testament enthält verschiedene Gesetze im Bundesbuch, Heiligkeitsgesetz und Deuteronomium, das Neue Testament erneuert viele ethische Traditionen. Bilder vom lebendigen Gott sind insofern eine Grundlage der Ethik, weil sie mit kontingenten, geschichtlich sich ändernden, aber gültigen Forderungen konfrontieren. Sofern der Mensch Ebenbild Gottes ist, kann er die Gebote so internalisieren, dass sie zur Stimme seines eigenen Herzens werden. Er soll nicht von außen stammenden Geboten folgen, sondern sich selbst. Darauf zielt der neue Bund, in dem Gott das Gebot in das Herz der Menschen legt (Jer 31,31). Basis dieser Ethik ist die Bejahung des Lebens in der Beziehung zur Gesamtwirklichkeit. In der Beziehung des Menschen zum Mitmenschen aber ist diese Bejahung Liebe. 65 G.Theißen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, 1984. C.Klodt, Jenseits von Eigennutz. Potentiale und Grenzen evolutionstheoretischer Perspektiven zur Beschreibung der christlichen Religion, 2021.
§ 14 Jesus als Gesandter: Sein Sendungsbewusstsein
D.C.Allison, Constructing Jesus. Memory. Imagination, and History, 2010, 221–304; W.Bousset, Kyrios Christos. Geschichte des Christusglaubens von den Anfängen des Christentums bis Irenaeus, 1913; D.Boyarin, The Jewish Gospels. The Story of the Jewish Christ, 2012; R.A.Bühner, Hohe Messianologie: Übermenschliche Aspekte eschatologischer Heilsgestalten im Frühjudentum, 2020; C.Colpe, Art. ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου, ThWNT 8 (1969) 403–481; C.A.Evans, Jesus and his Contemporaries, 1995; M.Hengel, Der Sohn Gottes. Die Entstehung der Christologie und die jüdisch-hellenistische Religionsgeschichte, 1975; ders., Jesus, der Messias Israels. Zum Streit über das „messianische Sendungsbewußtsein“ Jesu, in: I.Gruenwald u. a. (Hg.), Messiah and Christos, 1992, 155–176; M.Karrer, Jesus Christus im Neuen Testament, 1998; B.Lindars, Jesus Son of Man. A Fresh Examination of the Son of Man Sayings in the Gospels in the Light of Recent Research, 1983; J.Neusner/W.S.Green/E.Freerich, Judaisms and Their Messiahs at the Turn of the Christian Era, 1987; N.Perrin, A Modern Pilgrimage in New Testament Christology, 1974; G.Theißen, Gruppenmessianismus. Überlegungen zum Ursprung der Kirche im Jüngerkreis Jesu (1992), in: Jesus als historische Gestalt, 2003, 255–281; ders., Vom Historischen Jesus zum kerygmatischen Gottessohn. Soziologische Rollenanalyse als Beitrag zum Verständnis neutestamentlicher Christologie, EvTh 68 (2008) 285–304; P.Vielhauer, Gottesreich und Menschensohn in der Verkündigung Jesu (1957), in: Aufsätze zum Neuen Testament, 1965, 55–91; D.Zeller, Art. Menschensohn, WiBiLex 2011.
Die Anhänger Jesu haben nach Ostern mehr über ihn ausgesagt als Jesus über sich selbst. Sie verkündigten ihn als Retter der Welt. Umstritten ist, wie groß die Kontinuität zwischen Jesus und diesem „kerygmatischen Christus“ ist. Sicher ist: Jesus wurde als Lehrer, der durch seine Vollmacht überzeugte (Mk 1,22), und als Prophet erlebt (Mk 6,15; 8,28). Wie aber hat er sich selbst verstanden? Diskutiert wird, ob Jesus sein Vollmachtsbewusstsein auch ohne Titel implizit zum Ausdruck brachte, ob er Erwartungen evoziert hat, die er nicht unbedingt teilte, oder ob er explizit bestimmte Titel für sich beansprucht hat. In Frage dafür kommen nur Hoheitsnamen aus jüdischen Traditionen. Denn „Menschensohn“ wurde außerhalb Palästinas missverstanden, „Christus“ wurde bald zum Eigennamen.
1. Die Forschungsgeschichte zum Selbstverständnis Jesu H.S.Reimarus (1694–1768) bestimmte die Messianität Jesu neu: Jesus habe sich als Messias im politischen Sinn verstanden, der Israel von Fremdherrschaft befreien wollte; seine Jünger aber hätten den Zusammenbruch dieser Hoffnung durch seine Kreuzigung dadurch überwunden, dass sie ihn als Christus verehrten, dessen Tod alle Menschen von Sünden
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Dritter Teil: Das Wirken und die Verkündigung Jesu
befreit.1 Ebenso hielt sich Jesus nach D.F.Strauß (1808–1874) für den in biblischen Traditionen Israels erwarteten Messias.2 H.J.Holtzmann (1832–1910) brachte eine Differenzierung: Eine entscheidende Korrektur messianischer Erwartungen gehe auf Jesus selbst zurück. Nach dem Messiasbekenntnis des Petrus als dem entscheidenden Wendepunkt habe sich Jesus zu seiner Messianität bekannt, aber sie mit der Notwendigkeit seines Leidens verbunden.3 Insgesamt gab es in der Leben-Jesu-Forschung des 19. Jhdt.s. kaum Zweifel daran, dass sich Jesus für den „Messias“ gehalten hat. 1.1 Die historische Skepsis gegen ein Messiasbewusstsein Jesu: W.Wrede
Erst W.Wrede (1859–1906) bestritt in: Das Messiasgeheimnis in den Evangelien, 1901, dass sich Jesus als Messias verstanden hat. Der Messiasglaube sei nach Röm 1,3f und Apg 2,36 erst Ostern entstanden, das Bekenntnis des Petrus ins Leben Jesu zurückprojizierte „Gemeindedogmatik“. Das MkEv lasse das dadurch erkennen, dass es Jesu Messianität bis Ostern mit Geheimnis und Unverständnis umgibt. W.Wrede äußerte zwar in einem 100 Jahre später bekannt gewordenen Brief Zweifel an seiner Theorie.4 Aber da hatte sich seine Skepsis in der kritischen Forschung schon durchgesetzt.5 Sie wurde anfangs zwar nur schrittweise akzeptiert, aber immer mehr religions- und formgeschichtlich untermauert. 1.2 Die religionsgeschichtliche Skepsis: W.Bousset
W.Bousset (1865–1920) meinte in: Kyrios Christos*, 1913, noch anders als Wrede, Jesus habe sich als Messias verstanden und als Menschensohn bezeichnet, aber nach Ostern sei der Glaube an ihn tiefgreifend umgeprägt worden. Das palästinische Urchristentum übertrug auf Jesus die apokalyptische Menschensohnerwartung, d. h. die Erwartung eines universalen Richters, mit dem eine neue Welt beginnt, und bewältigte so seinen Kreuzestod: „Die Hoffnung, dass Jesus auf Erden als irdischer Mensch die Rolle des Königs aus Davids Stamm übernehmen werde, war ein für allemal zertrümmert. Es blieb nur jene himmlische Gestalt übrig, die … mit … dem Namen des Menschensohnes verknüpft war.“ (S. 17). Im hellenistischen Urchristentum sei Jesus darüber hinaus in Analogie zu heidnischen Gottheiten verehrt worden.
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H.S.Reimarus, Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger. Hg. G.E.Lessing, 1778 (vgl. Bibliotheca Augustana: http://www.fh-augsburg.de). D.F.Strauß, Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet, 1835/36, Bd 1, 4. Kap. Jesus als Messias, S. 463–519. HJ.Holtzmann, Lehrbuch der Neutestamentlichen Theologie, 2 Bde, 1897. Bd 1: Das messianische Bewusstsein Jesu. S. 234–304. Vgl. H.Rollmann/W.Zager, Unveröffentlichte Briefe William Wredes zur Problematisierung des messianischen Selbstverständnisses Jesu, ZNT 8 (2001) 274–322. Entscheidend dafür war: R.Bultmann, Die Frage nach dem messianischen Bewußtsein Jesu und das Petrus-Bekenntnis, ZNW 19 (1919/20) 165–174 = ders., Exegetica, Aufsätze zur Erforschung des Neuen Testaments, 1967, 1–9.
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1. Er wurde hier wie eine Kyrios-Gottheit der Mysterienkulte verehrt. Damit verschob sich sein göttlicher Status in die Gegenwart: „Der Kyrios der hellenistischen Urgemeinde … ist eine im Kult und im Gottesdienst gegenwärtige Größe.“ (S. 103). Er vermittelt Heil durch Sakramente. 2. Die Adam-Christus-Typologie bei Paulus sei Übertragung des gnostischen Urmenschmythos vom gefallenen und zu erlösenden Urmenschen auf Jesus (S. 141f). Heil werde in der Gnosis durch Erkenntnis vermittelt. 3. Die paganen Sohngottheiten der Volksfrömmigkeit prägten den messianischen Titel „Sohn Gottes“ um (S. 152) und begründeten mit der Jungfrauengeburt im Mt- und LkEv seinen göttlichen Status (S. 268–274). Da die christologischen Titel in der palästinensischen Gemeinde neu geprägt und in den hellenistischen Gemeinden pagane Erlöserrollen auf Jesus übertragen wurden, war Jesu Verehrung als göttlicher Offenbarer nicht mehr durch sein Selbstverständnis gedeckt, mochte er sich auch als Messias und Menschensohn verstanden haben. Doch durch Anwendung der formgeschichtlichen Einsicht, dass alle Texte Ausdruck des Gemeindeglaubens sind, wurde auch das bestritten. 1.3 Die formgeschichtliche Skepsis: R.Bultmann
R.Bultmann (1884–1976) zog die Konsequenz aus W.Wredes Skepsis. Nach ihm hat Jesus keinen einzigen Hoheitstitel für sich beansprucht. Wenn er vom „Menschensohn“ sprach, habe er eine von ihm unterschiedene zukünftige Richtergestalt gemeint. Dass er als „Messias“ hingerichtet wurde, sei ein politisches Missverständnis gewesen. Jesus habe aber „implizit“ einen Hoheitsanspruch vertreten. Das sei für den christlichen Glauben ausreichend, der sich weniger auf Jesu Worte bezieht, sondern auf das, was Gott durch Kreuz und Auferstehung als sein Wort den Menschen sagt. Dieses von Paulus und dem JohEv vertretene urchristliche „Kerygma“ habe Erlöservorstellungen der Umwelt in seinen Dienst gestellt und dabei den gnostischen Urmenschmythos „vergeschichtlicht“: Es wurde mit einer historischen Person verbunden, die eine existenzielle Entscheidung fordert, um das Leben in „Eigentlichkeit“ und „Geschichtlichkeit“ zu verwirklichen. R.Bultmann bildete so aus formgeschichtlicher Skepsis, religionsgeschichtlicher Forschung, Kerygmatheologie und existenzialer Lebensdeutung eine beeindruckende Synthese. 1.4 Die neue Frage nach der impliziten Christologie Jesu: E.Käsemann
E.Käsemanns (1906–1998) erneuerte in seinem Vortrag: Das Problem des historischen Jesus, 1953,6 das Interesse am vorösterlichen Jesus, aber verstärkte die Skepsis, dass er mit Hoheitstiteln seinen Vollmachtsanspruch vertreten habe. Bald danach sprach Ph.Vielhauer 1957 alle 6
E.Käsemanns Aufsatz: Das Problem des historischen Jesus, ZThK 51 (1954) 125–153 = ders., Exegetische Versuche und Besinnungen I, 1985, 525–611, ist der 1953 in Jugenheim gehaltene Vortrag.
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Menschensohnworte Jesus ab, auch die vom zukünftigen Menschensohn als einer nicht mit ihm identischen Gestalt.7 Das schon in der Gegenwart anbrechende Reich Gottes lasse keinen vorher kommenden eschatologischen Vermittler zu. Auch seien Menschensohn und Reich Gottes religions- und traditionsgeschichtlich immer getrennt. E.Dinkler ergänzte 1964 die These, dass Jesus das Messiasbekenntnis des Petrus (Mk 8,29) abgelehnt habe.8 Das Satanswort: „Weiche von mir, du Satan“ (Mk 8,33) sei die ursprüngliche Reaktion Jesu auf dessen Messiasbekenntnis gewesen. Petrus habe an einen weltlichen Messias gedacht. Mit dieser Skepsis gegen alle Hoheitstitel veränderte sich der Deutungsrahmen für Jesus: Solange man davon ausgegangen war, dass sich Jesus „explizit“ als Messias oder Menschensohn verstanden hatte, deutete man sein Selbstverständnis im Rahmen jüdischer Traditionen. Wenn er aber seinen Anspruch nur „implizit“ ohne Titel vertreten hat, meinte man diesen Anspruch dadurch nachweisen zu können, dass er mit ihm die Grenzen des Judentums gesprengt habe. Die „neue Frage“ nach dem historischen Jesus kontrastierte Jesus daher oft mit dem Judentum. So betonte E.Käsemann, es gebe zu den Antithesen „keine Parallelen auf jüdischem Boden und kann es sie nicht geben. Denn der Jude, der tut, was hier geschieht, hat sich aus dem Verband des Judentums gelöst … Er ist wohl Jude gewesen und setzt spätjüdische Frömmigkeit voraus, aber er zerbricht gleichzeitig mit seinem Anspruch diese Sphäre“ (Das Problem des historischen Jesus, 206). 1.5 Die erneuerte Frage nach der expliziten Christologie: Die Revision der Christologie: M.Hengel
Das von Bultmann und seiner Schule erarbeitete Bild wurde von C.Colpe (1929–2009) und M.Hengel (1926–2009) revidiert. Religionsgeschichtliche Forschung stellte Theorien in Frage, die mit Übertragungen paganer Erlöserrollen auf Jesus den nachösterlichen Glauben deuteten. Sie trugen dazu bei, Jesus und den Glauben an ihn historisch ins Judentum „heimzuholen“. a) Die Revision religionsgeschichtlicher Ableitungen
Zum gnostischen Erlöser zeigte C.Colpe in: Die religionsgeschichtliche Schule, 1961, dass der vorchristliche Erlösermythos ein Konstrukt der Wissenschaft ist, historisch begegne er erst nachchristlich bei den Manichäern.9 Zum Sohn-Gottes-Titel zeigte M.Hengel in: Der Sohn Gottes*, 1975, dass man diesen Titel aus den messianischen Erwartungen des Judentums (aus Ps 2,7) ableiten kann. Den Kyrios-Titel erklärte er als Übertragung des alttestamentlichen Gottesprädikats ΚΥΡΙΟΣ (= Herr) auf Jesus. D.Zeller (1939–2014) zeigte in: Christus unter den Göttern. Zum antiken Umfeld des Christusglaubens, 1993, dass es damals wohl eine Reihe von Partnergottheiten gab, von denen der Jüngere den Tod erleidet, aber erst nach 7 8 9
P.Vielhauer, Gottesreich und Menschensohn* (1957). E.Dinkler, Petrusbekenntnis und Satanswort, in: ders. (Hg.), Zeit und Geschichte, 1964, 127–153. C.Colpe, Die religionsgeschichtliche Schule. Darstellung und Kritik ihres Bildes vom gnostischen Erlösermythos, 1961.
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Entstehung des Christentums sei der Glaube an ein neues Leben dieser Gottheiten nach ihrem Tod bezeugt. Aufgrund dieser religionsgeschichtlichen Revisionen ist heute Konsens, dass die ersten Christen die Hoheit Jesu nach Ostern vor allem mit jüdischen Modellen zum Ausdruck brachten. b) Die Revision historischer Skepsis
Gleichzeitig mit diesen religionsgeschichtlichen Korrekturen wurden die Bezeichnungen „Menschensohn“ und „Messias“ oft wieder Jesus selbst zugeschrieben. 1. Beim Menschensohntitel trat C.Colpe 1969 für die Authentizität von Menschensohnworten aus allen drei Gruppen (vom gegenwärtig wirkenden, leidenden und zukünftigen Menschensohn) ein. Die Worte vom zukünftigen Menschensohn deutete er als „Symbol für Jesu Vollendungsgewißheit“ (ThWNT 8, 443). 2. Den Messiastitel verteidigte M.Hengel, Jesus, der Messias Israel, 1992, als authentisch. Der Titel des „Gesalbten“ hatte im Judentum eine viel mannigfaltigere Bedeutung als bisher angenommen. Neben dem königlichen Messias begegnen in Qumran z. B. auch die Propheten als „Geistgesalbte“. Man muss keine Umprägung einer politischen Messiaserwartung annehmen, um ein messianisches Selbstverständnis Jesu für möglich zu halten. c) Die Revision des exklusiven Titelverständnisses
Als man aufgrund dieser Revision religionsgeschichtlicher Übertragungstheorien die Titel „Messias“ und „Menschensohn“ wieder dem historischen Jesus zuschrieb, kamen aber erneut alte Zweifel auf, ob Jesus den Begriff Menschensohn überhaupt hoheitlich verstanden hat. Schon H.Lietzmann, Der Menschensohn, 1896, hatte „Menschensohn“ [aram. bar-nāsch(ā’)] als allgemeine Bezeichnung für „Mensch“ oder „einen Menschen“ gedeutet, daraus sei erst sekundär unter Einfluss von Dan 7 ein messianischer Titel geworden. G.Vermes erneuerte 1965 diese These und deutete das aram. bar-nāsch(ā’) als Umschreibung für „ich“10. Der „Titel“ könnte vom historischen Jesus verwandt worden sein, aber hätte keinen exklusiven Sinn. „Menschensohn“ ist zudem in Dan 7,13 kein Titel, sondern ein Vergleich. Gemeint ist eine himmlische Gestalt „wie ein Menschensohn“. Haben also erst Christen aus Dan 7 durch Schriftauslegung den apokalyptischen Menschensohn geschaffen?11 1.6 Die sozialgeschichtliche Frage nach Rollen
In der ca. 1968 einsetzenden sozialgeschichtlichen Forschung wird die Frage nach Jesus Vollmachtsbewusstsein als Frage nach den Rollen verstanden, die Jesus als Tradition vorfand und die ihm von seinen Zeitgenossen entgegengebracht wurden, mit denen er sich teils identifizierte, die er teils aber auch umprägte. Was den Messiastitel angeht, so gab es eschatologische Hoffnungen mit und ohne Messias, messianische Gestalten mit und ohne
10 G.Vermes, Jesus der Jude, 1993, 144–174. 11 N.Perrin, Christology*, 1974.
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Dritter Teil: Das Wirken und die Verkündigung Jesu
essiastitel und in den Qumrantexten mehrere messianische Gestalten nebeneinander.12 M Die Rolle des Messias war offener als gedacht. Deshalb konnte Jesus diese Rolle im Sinne eines „Gruppenmessianismus“ umdeuten (G.Theißen),13 indem er die Aufgabe des Messias, die Stämme Israels zu richten (PsSal 17,26), auf seine zwölf Jünger übertrug (Lk 22,28–30par). Hoheitsnamen seien Rollenerwartungen an ihn, die er umformte. Auch die „implizite“ Christologie beruhe in Wirklichkeit auf der sozialen Rolle des Lehrers und Propheten, die mehrere Menschen ausüben konnten. Dagegen waren die Rollen des Messias und Menschensohns in der Regel auf eine Person begrenzt. Hin und wieder gab es freilich mehrere Messiasse wie in Qumran. Jesus habe diese Ausweitungstendenz verstärkt, als er seine zwölf Jünger zu einem messianischen Kollektiv ernannte. Er ließ dabei seine Jünger partizipatorisch an seiner Hoheit teilnehmen, überließ es aber Gott, welche Rolle er selbst im endzeitlichen Geschehen hat, so wie er es ihm überließ, die Plätze zu seiner Rechten und Linken zu besetzen (Mk 10,40).14 Er vertraute auf eine von Gott verliehene statuskontingente Hoheit, d. h. auf eine hoheitliche Stellung, die er sich nicht selbst verschaffen kann, sondern von einer übergeordneten Instanz ihm zugewiesen wird. Sozialgeschichtlich gesehen hatte er die Rolle des charismatischen Gründers einer Erneuerungsbewegung. 1.7 Wiederkehr der „Hohen Messianologie“?
Als der nachösterliche Glaube Jesus in die Nähe Gottes rückte, geriet er in Spannung zum jüdischen Monotheismus. Ein Bruch mit dem Judentum begann nach L.W.Hurtado, One God, One Lord. Early Christian Devotion and Ancient Jewish Monotheism, 1988, aber erst mit der kultischen Verehrung Jesu, denn man glaubte im Judentum zwar an göttliche Gestalten neben Gott wie die Weisheit, durfte ihnen aber auf keinen Fall einen Kult widmen. R.Bauckham ergänzte 1999 als weiteres Kriterium die Beteiligung Christi an der Schöpfung, durch die er allem in der Welt überlegen wurde.15 Dass solch eine „hohe Christologie“ an Motive in jüdischen Schriften anknüpfen konnte, zeigt R.A.Bühner, Hohe Messianologie. Übermenschliche Aspekte eschatologischer Heilsgestalten im Frühjudentum, 2020. Die „Vergöttlichung“ Jesu im Urchristentum wäre dann kein radikaler Bruch mit dem Judentum. Offen aber bleibt, ob schon der irdische Jesus göttliche Motive in Menschensohn- und Messiastraditionen auf sich bezogen hat. Wollte er etwa durch Heilungen und Exorzismen an Stelle des Tempelkults schon jetzt den Himmel öffnen, wie J.A.Bühner meint (in: Jesus und die himmlische Welt. Das Motiv der kultischen Mittlung zwischen Himmel und Erde im frühen Judentum und in der von Jesus ausgehenden Christologie, 2020)?
12 J.Neusner/W.S.Green u. a., Judaisms*, 1987. 13 G.Theißen, Gruppenmessianismus* (1992); ders., Jesus *, EvTh 68 (2008) 285–304. 14 G.Theißen, Die Verkündigung von Jesus – Vom historischen Jesus zum Kerygma, in: Resonanztheologie, Beiträge zur polyphonen Bibelhermeneutik, 2020, 325–340. 15 R.Bauckham, Jesus and the God of Israel: God Crucified and Other Studies on the New Testament’s Christology of Divine Identity, 2009.
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Jesus als Gesandter: Sein Sendungsbewusstsein
1.8 Erinnerungshistorische Aspekte
Nach D.C.Allison, Constructing Jesus, Memory, Imagination, and History, 2010, 221–304, hat das Hoheitsbewusstsein Jesu in mehreren sich gegenseitig bestätigenden Überlieferungen deutliche Spuren hinterlassen: Jesus habe sich für den vom Täufer angekündigten „Kommenden“ gehalten, ferner für den in Jes 61,1–3 angekündigten Retter, für einen neuen Moses und für eine Entsprechung zum himmlischen Menschensohn. Seine Hoheit zeige sich in der Ernennung der Zwölf, aber auch in seiner Hinrichtung als „König der Juden“, ferner darin, dass offen bleibt, wer in der Königherrschaft Gottes „König“ sein soll.16 Allisons Ergebnis ist: „We should hold a funeral for the view that Jesus entertained no exalted thoughts about himself“ (S. 304).
2. Historischer Jesus und christologisches Selbstverständnis. Jesus wurde als „Lehrer“ und „Prophet“ wahrgenommen. Die Rolle eines Lehrers und Propheten konnte von vielen Personen ausgefüllt werden, „Messias“ und „Menschensohn“ bezeichnen dagegen singulär besetzte Rollen, die inhaltlich offen sind. Man wusste nicht genau, was von einem Messias zu erwarten und was die Aufgabe des „Menschensohns“ war. Auch gibt es in der Regel nur einen Messias; hin und wieder aber mehrere Messiasse, bei denen sich z. B. der königliche und priesterliche Messias gut unterscheiden lässt.17 Sicher aber gab es nur einen Menschensohn, der vom Himmel kommen sollte! Eine Tabelle veranschaulicht die vier wichtigsten „Rollen“ Jesu: Mehrfach besetzte Rolle
Singulär besetzte Rolle
An Jesus heran getragene, von ihm
Lehrer: als Anrede ‚Rabbi‘ und ‚Lehrer‘ meist im Munde anderer
Messias: Als Bekenntnis oder Anklage im Munde anderer
„Messias“ wird von anderen benutzt,
implizit akzeptierte Rollen
Prophet: als Aussage meist im Munde anderer
Menschensohn: nur im Munde Jesu
„Menschensohn“ nur von Jesus.
Abgrenzbare Rolle
Offene Rolle
16 Noch weiter geht D.Boyarin, Jewish Gospel*, 2012: Im Kontext des damaligen Judentums habe Jesus ein extrem hohes Selbstverständnis als davidischer Messias und Menschensohn entwickelt. 17 In Qumran erwartete man eine Dyarchie von zwei Messiassen: 1QS IX, 9–11; CD XIX, 10f; XX, 1.
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Dritter Teil: Das Wirken und die Verkündigung Jesu
Wenn man nach einem Anhalt dieser hoheitlichen Rollen bei Jesus selbst fragt, gibt es fünf Möglichkeiten, sein vorösterliches Selbstverständnis zu bestimmen: 1. Eine explizite Christologie liegt vor, sofern sich Jesus mit einer christologischen Rolle identifiziert und seine Vollmacht mit einem Hoheitstitel zum Ausdruck gebracht hat. Möglich ist das bei „Menschensohn“, weniger wahrscheinlich bei „Messias“. Offen ist: Ȥ Meint Jesus mit „Menschensohn“ sich selbst oder eine andere, zukünftige Hoheitsgestalt, als deren Repräsentant er Vollmacht hat? Ȥ Ist „Menschensohn“ überhaupt ein Titel für eine Hoheitsgestalt oder eine Umschreibung für „ich“ oder „den Menschen“ überhaupt? Ȥ Welche Worte vom Menschensohn sind authentisch: die vom gegenwärtigen, zukünftigen oder vom leidenden Menschensohn? Ȥ Wie verhielten sich Messias und Menschensohn traditionsgeschichtlich zueinander? War der Messias ein Mensch, der Menschensohn eine himmlische Gestalt? Verbanden sich beide Traditionen erst im Neuen Testament?18 2. Eine evozierte Christologie liegt vor, wenn andere Menschen Jesus aufgrund seines Wirkens schon zu Lebzeiten eine christologische Rolle zuschrieben. Diskutiert wird das für die Messiaserwartung, einschließlich des „Sohnes Davids“. Offen bleibt dann: Ȥ Hat Jesus Messiaserwartungen seiner Anhänger (der Jünger oder des Volkes) positiv aufgenommen, zurückgewiesen oder korrigiert? Ȥ Wurde Jesus aufgrund eines politischen Missverständnisses seiner Messianität als Königsprätendent hingerichtet oder entsprach die Messiasrolle seinem Selbstverständnis? 3. Mit einer impliziten Christologie ist gemeint, dass Jesus seine Hoheit ohne Titel zum Ausdruck gebracht hat, aber „mehr als ein Prophet“ war und mit außergewöhnlicher Vollmacht lehrte. Dabei bleibt offen: Ȥ Sprengt diese Vollmacht Jesu jüdische Messiaserwartungen oder kann sie als deren Erfüllung verstanden werden? Ȥ Worin bestand seine Vollmacht? In einer „Unmittelbarkeit“, „Gesetzeskritik“, „Gnadenpredigt“, „Glaubensgewissheit“ oder „Thoraverschärfung und -entschärfung“?
18 R.A.Bühner, Hohe Messianologie*, 2020, vertritt die These, dass sich beide Traditionslinien nicht unterscheiden, da messianische Texte in ihrer Rezeptionsgeschichte mit göttlichen Eigenschaften angereichert wurden, so dass sich „messianische Gestalten“ auf Erden und „Erwählte und Menschensohn“ im Himmel angenähert haben. Trotzdem ist u. E. festzuhalten: In der Jesusüberlieferung sind beide Traditionen klar unterscheidbar: Der Messiastitel wird Jesus entgegengebracht, vom Menschensohn spricht er selbst.
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Jesus als Gesandter: Sein Sendungsbewusstsein
4. Mit einer gesteigerten Titelverwendung ist gemeint, dass die nachösterliche Gemeinde Titel des irdischen Jesus mit einem höheren Anspruch versehen hat, etwa den KyriosTitel (aram. mare’ = Herr). Zu klären ist dann: Ȥ Wurde die Anrede einer menschlichen Respektsperson „Herr“ nach Ostern zu einem zukünftigen himmlischen Mare-Kyrios gesteigert? Ȥ Ist der Kyrios, der nicht erst in der Zukunft, sondern in der Gegenwart (wie in Phil 2,6– 11) als Weltenherr akklamiert wird, davon unabhängig? Ȥ Geht die Steigerung des Kyriostitels zu göttlicher Würde auf Übertragung des alttestamentlichen Gottesnamens oder auf Anlehnung an heidnische Kyrioskulte zurück? 5. Eine exklusive Titelverwendung könnte auf die nachösterliche Gemeinde zurückgehen, wenn sie Titel, die Jesus inklusiv verstanden hat, exklusiv auf ihn bezog. Diskutiert wird das für den Sohn-Gottes-Titel, der in Mt 5,9.45 inklusiv verwendet wird. Ȥ Wurde der Sohn-Gottes-Titel nachösterlich zuerst mit der Auferstehung (Röm 1,3f), danach aber sukzessiv auch mit Taufe, Geburt und Präexistenz verbunden? Oder entwickelten sich diese Anschauungen vom Sohn Gottes nebeneinander? Ȥ Geht die Konzentration des Begriffs „Sohn Gottes“ auf Jesus auf jüdische Messiaserwartungen (Ps 2,7; 2Sam 7,14f) oder (auch) auf heidnische Vorstellungen von Sohn-Gottheiten zurück? Sind die christologischen Titel urchristlicher Verkündigung von Jesus
Wiedergabe eines vorösterlichen Anspruchs des historischen Jesus in Form von
Ergebnis von nachösterlichen Deutungen der Gemeinde in Form von
expliziter Christologie
evozierter Christologie
impliziter Christologie
gesteigerter Titelverwendung
exklusiver Titelverwendung
z. B. des Selbstverständnisses Jesu als Menschensohn oder Messias?
z. B. einer an Jesus herangetragenen Messiaserwartung bzw. Erwartung eines Propheten?
z. B. einer Vollmacht Jesu durch: Unmittelbarkeit, Gesetzeskritik, Gnadenpredigt usw.?
z. B. einer transzendenten Bedeutungserweiterung der Anrede „Herr oder des Ausdrucks „Menschensohn“?
z. B. einer auf Jesus konzentrierten Verwendung des Begriffs „Sohn Gottes“?
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Dritter Teil: Das Wirken und die Verkündigung Jesu
Bei einer von Jesus vertretenen expliziten, evozierten und impliziten Christologie hat die nachösterliche Christologie einen „Anhalt“ beim historischen Jesus. Die gesteigerte und exklusive Verwendung eines vorösterlichen Titels erst in nachösterlicher Zeit datiert dagegen den eigentlichen Hoheitsanspruch erst mit Ostern: Die in den Titeln verwandten Hoheitsnamen hätten dann zwar vorösterliche Vorläufer, nicht aber der mit ihnen verbundene nachösterliche Offenbarungsanspruch. Obwohl vieles umstritten ist, kann man feststellen: Alle Strömungen in der Exegese nehmen für den historischen Jesus ein Vollmachtsbewusstsein als implizite Christologie an. Die radikalere Kritik spricht Jesus alle expliziten Titel ab. Sie seien erst nachösterlich in zwei „Schüben“ auf Jesus übertragen worden: zunächst durch Übertragung von „Messias“ und „Menschensohn“ im palästinisch-jüdischen Urchristentum, danach durch Übertragung von „Kyrios“ und „Sohn Gottes“ im hellenistisch-heidnischen Urchristentum. Die moderate Kritik rechnet zu Jesu Lebzeiten mit von ihm evozierten Erwartungen als „Messias“ und mit einem expliziten Gebrauch der rätselhaften „Menschensohn-Bezeichnung“, denkt aber vor allem bei den Titeln „Kyrios“ und „Sohn Gottes“ an eine nachösterliche Anwendung jüdischer Traditionen auf Jesu, die später durch nicht-jüdischen Einfluss abgewandelt wurden, etwa dadurch, dass der von Gott adoptierte Sohn durch Jungferngeburt zum gezeugten Sohn Gottes wurde.
3. Jesus als Lehrer und Prophet: Die implizite Christologie In der Forschung ist Konsens: Jesus besaß ein „eschatologisches Vollmachtsbewusstsein“. In seinem Geschichtsverständnis überbot er die bisherigen Propheten, sein Gottesverständnis zeigte eine Nähe zu Gott, sein Selbstverständnis umfasste ein hohes Sendungsbewusstsein. Diese Aspekte einer impliziten Christologie entsprechen Rollenerwartungen an ihn: Jesus wurde als Lehrer und Prophet erlebt, der Gottes Botschaft vermittelt und eine charismatische Aura ausstrahlt. 3.1 Das Geschichtsverständnis Jesu: Das Erfüllungsbewusstsein Jesu
In Mk 1,15 fasst Jesus in einer prophetischen Rolle seine Verkündigung so zusammen: „Die Zeit ist erfüllt und die Gottesherrschaft nahe herbeigekommen“. Jesus bringt eine Wende der Geschichte. Glücklich sind die zu preisen, die sie erleben (Mt 13,16f). Die Gegenwart ist Freudenzeit, in der man so wenig fasten kann wie auf einer Hochzeit (Mk 2,18f). Sie öffnet sich für die Ewigkeit, in der die Patriarchen zeitlos gegenwärtig sind.19
19 T.Onuki, Jesus. Geschichte und Gegenwart, 2006, sieht bei Jesus das Bewusstsein eines „omnitemporalen Jetzt“: Die Väter Israels, Abraham, Isaak und Jakob, aus der Vergangenheit gehören gleichzeitig zur zukünftigen Königsherrschaft Gottes, die in der Gegenwart beginnt.
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a) Der Vorläufer Jesu: Johannes der Täufer
Jesus lebte im Bewusstsein, den Täufer zu überbieten, obwohl der Täufer eine kaum zu überbietende Gestalt war, da er „mehr als ein Prophet“ war (Mt 11,9), der größte unter den bisher geborenen Menschen (Mt 11,11). Seit seinen Tagen wurde die Gottesherrschaft von Gewalttätern geraubt (Mt 11,12). Dies Wort sagt: Jetzt ist die Gottesherrschaft da, nur deshalb kann man sie rauben. Jesus verbindet ferner in einem Streitgespräch seine Vollmacht eng mit der Vollmacht des Täufers (Mk 11,27ff). Wenn der Täufer an der Schwelle zur Gottesherrschaft steht, wieviel mehr muss Jesus sein, der diese Schwelle schon überschritten hat! Messianische Gestalten wie der Täufer und Jesus begegnen oft in sukzessiver Zweierfolge:20 Die Tierapokalypse (äthHen 85–90) kennt ein Schaf, dem ein großes Horn wächst und die bedrängten Schafe vor den Raben (den seleukidischen Unterdrückern) rettet (90,9–12). In der Heilszeit wird ein weißer Bulle geboren, mit dem die Urzeit wiederkehrt. Alle Tiere werden wieder zu Bullen, d. h. nehmen die Gestalt an, die Adam und seine Nachfahren bis Isaak hatten (89,11). Der Melchizedektext aus Qumran 11QMelch lässt einen messianischen Freudenboten die Herrschaft Melchizedeks ankündigen. Der Freudenbote wirkt auf Erden. Die Herrschaft Melchizedeks umfasst auch den himmlischen Raum. In den Bilderreden des äthHen (37–71) sind Messias und Menschensohn möglicherweise zwei getrennte Gestalten. Wenn die Könige und Mächtigen vom Menschensohn gerichtet werden, weil sie „den Namen des Herrn der Geister und seines Gesalbten verleugnet hatten“ (48,10), können sie nicht den Menschensohn verleugnet haben, da dieser erst beim Gericht offenbart wird! Sie verleugneten vorher den Gesalbten, den Messias. Die Esra-Apokalypse (4Esra) verteilt das Wirken des Messias und des Menschensohns auf zwei Epochen. Der Messias kommt am Ende der Weltzeit, regiert 400 (?) Jahre und stirbt. Danach tritt zu Beginn der neuen Weltzeit der „Mensch“ auf, der die Heidenvölker besiegt (13,1ff). Umstritten ist, ob er mit dem Messias identisch ist. Die Abraham-Apokalypse (ApkAbr) kennt in der letzten Weltzeit einen Mann aus Abrahams Samen. Er sammelt die Gerechten, bringt Gericht für einen Teil der Heiden, Hoffnung für den anderen (ApkAbr 29). Erst nach schrecklichen Plagen sendet Gott seinen „Auserwählten“ (ApkAbr 31). Wieder finden wir zwei Gestalten – eine am Ende der Weltzeit, die andere am Anfang der neuen Zeit. Die Baruch-Apokalypse (SyrBar) erwartet ein zweistufiges Wirken desselben Messias: Der Messias offenbart sich nach 29,3 am Ende der Zeit, nach 30,1ff erneut nach einer kosmischen Wende.
Dass zwei „messianische“ Gestalten aufeinander folgen, entspricht Erwartungsmustern der damaligen Zeit. Wenn Johannes der Täufer solch eine Vorläuferrolle hatte, um wieviel mehr musste sein „Nachfolger“ eine messianische Gestalt sein! Im Streitgespräch über seine „Vollmacht“ (exousía) zur „Tempelreinigung“ beruft sich Jesus auf seinen Vorläufer, um seine Tempelreinigung zu rechtfertigen: Wenn dessen Taufe vom Himmel stammt, hat er die Voll20 K.Koch, Messias und Menschensohn. Die zweistufige Messianologie der jüngeren Apokalyptik, JBTh 8 (1993) 73–102, wendet diese Belege nicht auf das Verhältnis von Täufer und Jesus an.
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Dritter Teil: Das Wirken und die Verkündigung Jesu
macht zur Tempelreinigung (Mk 11,27–33). Die Prämisse ist: Die Taufe vermittelt Sündenvergebung und bestreitet dadurch den Anspruch des Tempels, nur durch seine Riten Sündenvergebung zu vermitteln. Wer die Taufe bejaht, erkennt an, dass der Tempel seine Aufgabe nicht mehr erfüllt. Jesus macht hier klar: Er überbietet den Täufer. Auch bringt er sein Vollmachtsbewusstsein durch typologische Reminiszenzen vor allem an Moses zum Ausdruck. b) Typologische Reminiszenzen an die Wunder des Moses21
Jesus bezieht sich auf Mose, wenn er seine Dämonenaustreibungen als Werk des „Fingers Gottes“ deutet (Lk 11,20). Moses hatte mit dem „Finger Gottes“ eine Mückenplage über Ägypten gebrachte (Ex 8,15). Jesus befreit mit ihm von Dämonen, aber schreibt seine Kraft auch anderen Exorzisten zu, wenn er fragt: „Wenn aber ich die Dämonen durch Beelzebul austreibe (wie mir zu Unrecht unterstellt wird), durch wen treiben dann eure Söhne sie aus?“ (Lk 11,19). Exorzistisches Charisma ist nicht exklusiv an Jesus gebunden! Die Mosetypologie formt auch die Speisung der 5.000 (Mk 6,30–44). Sie gilt als Analogie zur Speisung Israels in der Wüste (Joh 6,30.49). Verständlicherweise stellt der Täufer die Frage, ob Jesus der ist, der da kommen soll (Mt 11,2–6): Jesus weist auf gegenwärtig geschehende Wunder, ohne zu betonen, dass sie durch ihn geschehen, das schließt Wunderheilungen z. B. durch seine Jünger nicht aus. Entscheidend ist, dass sie Gottes Wirken bezeugen. Eine Parallele dazu ist ein Qumranfragment, das von Wundern spricht, die Gott bewirkt (4Q 521 Frg. 2 ii,11–13). Die in ihm bezeugte Verbindung von Heilungen, Totenerweckungen und Frohbotschaft erinnert an Mt 11,2ff, ebenso die Zuschreibung der Wunder an Gottes Handeln in messianischer Zeit. Unverkennbar sind hier auch typologische Reminiszenzen an den Freudenboten in Jes 29,18f; 61,1 f. Da in Mt 11,6 die Zustimmung zu Jesus auf einen Minimalnenner gebracht wird: „Selig ist, wer sich nicht an mir ärgert!“, liegt hier keine nachösterliche Bildung vor: Jesus belebt hier Erwartungen an eine messianische Zeit, ohne sich dabei „Messias“ zu nennen. In Jesusüberlieferungen werden Heilungen auf den Glauben der Hilfesuchenden zurückgeführt (Mk 5,34; 10,52; Lk 17,19; Mt 9,29; 15,28) entsprechend Jesu Wort vom wunderwirkenden Glauben (Mk 11,23). Bei Moses findet sich nur einmal eine Verbindung von Wunder und Glauben. Nach Rettung der Israeliten durch Spaltung des Roten Meers „glaubten sie ihm und seinem Knecht Mose“ (Ex 14,31). Bei Jesus wird der Glaube dagegen nicht durch Wunder bewirkt, sondern bewirkt die Wunder. Wenn alles möglich ist „dem, der glaubt“ (Mk 9,23), ist der wunderwirkende Glaube ein Zeichen der Allmacht Gottes. Die Wunder selbst zeugen für Jesu Bewusstsein, dass mit ihm die Endzeit anbricht und der Satan besiegt wird (QLk 11,20). Das erinnert an die Wunder beim Exodus – nur bestehen sie nicht in der Vernichtung von Feinden, sondern in Heilungen und Exorzismen.
21 H.Stegemann, Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus, 1993, 323ff, stellt Indizien für eine unmittelbare Kausalattribution der Wunder an Gott ins Zentrum seiner Jesusinterpretation.
Jesus als Gesandter: Sein Sendungsbewusstsein
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c) Typologische Reminiszenzen an die Lehre des Moses
Typologische Reminiszenzen an Moses formen auch die Erinnerung an Jesus in der Rolle des Lehrers, wenn er sein „Ich“ dem mosaischen Gesetz gegenüberstellt (Mt 5,21 f.27 f.33f). Seine „Antithesen“ wollen die Thora weder kritisieren noch aufheben, sondern in ihnen den Willen Gottes ans Licht bringen. Die Reminiszenz an Moses macht auch hier das Besondere bei Jesus sichtbar: Jesus beglaubigt seine Lehre nicht durch Donner und Blitz, sondern durch Sonne und Regen, die für Gerechte wie Ungerechte ein Segen sind (Mt 5,45). Jesus spricht ferner als „Gesetzgeber“ im eigenen Namen, wenn er seine Lehre mit „Ich aber sage euch“ einleitet. Dieses „Ich aber sage euch“ Jesu ist ohne Analogie bei den Rabbinen, die sich mit dieser Formel von anderen Thoraauslegungen unterschieden, nicht aber von der Thora selbst (E.Lohse).22 Es erinnert an das hellenistische Königsideal, nach dem der König das „lebendige Gesetz“ (nomos empsychos) ist (D.Zeller).23 Auch vom spartanischen König Ariston wird eine Antithese überliefert, mit der er sich vom traditionellen Königsideal abhebt: Gefragt, was ein guter König tun müsse, soll er der Maxime‚ „Freunden Gutes tun, den Feinden Böses tun!“ die Antithese entgegengesetzt haben „Wieviel besser ist es, Freund, den Freunden Gutes zu tun, die Feinde aber zu Freunden zu machen“ (Plutarch Mor. 218A)“.24 Die typologischen Reminiszenzen an die Lehre des Moses zeigen: Jesus hat in der Rolle des Lehrers wie Moses ein enges Verhältnis zu Gott. 3.2 Das Gottesverständnis Jesu
Synoptische Texte zeigen, dass sich Jesus betont Gott unterordnete. Sie sind gegen die nachösterliche Tendenz zu seiner Verklärung erhalten. So setzt die Taufe Jesu voraus, dass Jesus sich als Sünder verstanden hat, der auf Sündenvergebung angewiesen ist. Die Überlieferung hat das verdunkelt, wenn Jesus im MtEv bestreitet, dass er sich taufen lassen müsse (Mt 3,15). In der Geschichte vom reichen jungen Mann weist Jesus dessen Anrede: „Guter Meister“ zurück, indem er feststellt: „Niemand ist gut außer Gott, dem einen“ (Mk 10,17f). Jesus unterscheidet sich hier eindeutig von Gott. Ferner kontrastiert er sich als Mensch mit den Tieren: „Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege“ (Mt 8,20). Es besteht kein Zweifel: Jesus weiß sich unterschieden von Gott. Er betet zu ihm, aber weiß sich inspiriert und eng verbunden mit Gott als Vater.
22 E.Lohse, „Ich aber sage euch“ (1970) in: Die Einheit des Neuen Testaments, 1973, 73–87. 23 D.Zeller, Jesus als vollmächtiger Lehrer (Mt 5–7) und der hellenistische Gesetzgeber (1988) =ders. Neues Testament und hellenistische Umwelt, 2006, 95–108. 24 K.Berger/C.Colpe, Religionsgeschichtliches Textbuch zum Neuen Testament, 1987, Nr. 142, S. 97.
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Dritter Teil: Das Wirken und die Verkündigung Jesu
a) Die Amen-Formel25
Die Amen-Formel bringt ein Inspirationsbewusstsein zum Ausdruck. Mit responsorischem Amen (= „gewiss, wahrlich“) nahm man zustimmend zur Aussage einer anderen Person Stellung (vgl. Dtn 27,15; Sota XI,5; 1Kor 14,16; Apk 5,14). Charakteristisch für die Jesusüberlieferung ist dagegen ein Amen am Anfang der eigenen Aussagen in Verbindung mit „Ich sage euch (bzw. dir)“. Belege dafür finden sich in Q und Mk, Mt und Lk, nicht aber im ThEv. Die Suche nach Parallelen für eine vorangestellte Beteuerungsformel „Amen“ zur Bekräftigung der eigenen Aussage war bisher ergebnislos: In einem Ostrakon um 600 v. Chr. beteuert ein Erntearbeiter, der sich zu Unrecht beschuldigt weiß: „Meine Brüder (d. h. Arbeitskollegen) werden zu meinen Gunsten Zeugnis ablegen (und sagen): Amen (es stimmt), ich bin frei von Schuld.“ Auch hier ist das Amen responsorisch.26 Im Testament Abrahams finden sich zwei Belege in einer Rede Gottes (Kap. 8) und des personifizierten Todes (Kap. 20), aber nur in einer im 13. Jh. bezeugten Bearbeitung des Textes durch einen christlichen Schreiber (der Rezension A). Daraus kann man nicht auf einen vorchristlichen Ursprung des nicht-responsorischen Amens schließen.27
Das nicht-responsorische Amen könnte eine Sprachschöpfung Jesu sein (J.Jeremias), die freilich im Judentum vorbereitet war: In Tob 8,8 bekräftigt ein Ehepaar sein eigenes Gebet mit nachgestelltem „Amen“; in Jer 28,6, Apk 7,12 antwortet ein vorangestelltes Amen auf die Aussage eines anderen. Andere Beteuerungsformeln dienten als Muster. So könnte das einleitende, nicht-responsorische Amen bei Jesus die prophetische Botenformel „So spricht Jahwe“ ersetzt haben.28 In ihm ist der Anspruch enthalten: Jesus spricht in der Rolle eines Propheten im Namen Gottes, beansprucht aber keineswegs, göttlich zu sein. b) Die Vatermetaphorik29
Dass Gott „Vater“ ist und sich wie eine Mutter um seine Kinder sorgt, prägt in der Bibel Aussagen über die Barmherzigkeit Gottes: „Ich war es doch, der Ephraim gehen gelehrt, der ihn auf die Arme genommen … Wie könnte ich dich preisgeben, Ephraim, dich hingeben, Israel“ (Hos 11,1–11; vgl. Jer 31,20). In neutestamentlicher Zeit wird Gott sowohl in Gemeindegebeten mit „Unser Vater, unser König“ als auch in individuellen Gebeten mit „Vater“ angesprochen, nicht nur in der Diaspora wie in JosAs 12,14f, sondern auch in Palästina 25 K.Berger, Art. Amen, NBL 1, 1991, 86f; J.Jeremias, Art. Amen, TRE 2 (1978) 386–391. Chr.Rösel, Art. Amen (AT), WiBiLex. 26 Vgl. J.Naveh, A Hebrew Letter from the Seventh Century B. C., IEJ 10 (1960) 129–139. 27 Anders K.Berger, Die Amen-Worte Jesu. Eine Untersuchung zum Problem der Legitimation in apokalyptischer Rede, 1970, 4 ff. 28 So T.W.Manson, The Teaching of Jesus, 1931 = 1948, 207. 29 J.Jeremias, Abba, in ders., Abba, 1966, 15–67; J.Schlosser, Le Dieu de Jésus, 1987, 179–209; Chr.Zimmermann, Die Namen des Vaters. Studien zu ausgewählten frühchristlichen Gottesbezeichnungen vor ihrem frühjüdischen und paganen Sprachhorizont, 2007, 41–166; Chr.Zimmermann, Art. Vater (NT), WiBiLex 2010.
Jesus als Gesandter: Sein Sendungsbewusstsein
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(Sir 51,10). Jesu Anrede Gottes als „Vater“ ist daher keine analogielose Vertrauensäußerung (anders J.Jeremias). Aufschlussreich ist folgende Analogie: Für Hanan ha-Nehba, der um die Zeitenwende als mit übernatürlichen Kräften begabter charismatischer Beter gelebt hat, ist die Bezeichnung Gottes als „Abba“ (= aram. Vater) bezeugt: Wenn die Welt des Regens bedurfte, pflegten die Rabbanan Schulkinder zu ihm zu schicken, die ihn am Saum seines Mantels fassten und zu ihm sagten: Abba, Abba, gib uns Regen! Er aber sprach vor Ihm: Gebieter der Welt, tue es doch um dieser willen, die noch nicht unterscheiden können zwischen einem Abba, der Regen geben kann, und einem Abba, der keinen Regen geben kann. (bTaan23b)
Im Urchristentum wird die Anrede Gottes als Abba auf die übernatürliche Kraft des Geistes zurückgeführt (Gal 4,6; Röm 8,15). Da auch von Jesus erzählt wurde, er habe Gott als „Abba“ angesprochen (Mk 14,36), geht diese Anrede wohl auf ihn zurück. Dass mit Abba frühkindliche Sprache (wie „Papa“) aufgegriffen wurde, ist keineswegs sicher,30 auch wenn mit Abba eine besondere Nähe Jesu zu Gott zum Ausdruck gebracht wird. Denn die Jesusüberlieferung unterscheidet zwischen „meinem Vater“ und „eurem Vater“ – nicht nur im MtEv, sondern auch im LkEv, wo „mein Vater“ (Lk 2,39; 10,22; 22,29; 24,49) neben „eurem Vater“ (6,36; 12,30.32) steht, sowie im JohEv, in dem der Auferstandene sagt: „Ich gehe zu meinem Vater und zu eurem Vater“ (Joh 20,17). Nirgendwo schließt Jesus sich mit seinen Jüngern zusammen, um Gott als „unseren Vater“ anzureden – außer im Vaterunser. Doch hat hier die ursprünglichere lk Version nur die Anrede „Vater“ (Lk 11,2). Da die Unterscheidung von „meinem Vater“ und „eurem Vater“ in einer gewissen Spannung zur familia-deiMetaphorik steht und zu beiläufig ist, um Ergebnis einer bewussten nachösterlichen Christologie zu sein, ist sie Erinnerungsspur eines besonderen Verhältnisses Jesu zu Gott. 3.3 Das Selbstverständnis Jesu
Auch wenn sich Jesus eine besondere Beziehung zu Gott zuschrieb, ist deutlich, dass er sie für andere öffnen will. Schon das „Amen“ war inklusiv. Seine Jünger sprachen es nach. Inklusiv waren aber auch sein Sendungsbewusstsein und seine Vollmacht zur Sündenvergebung. a) Das Sendungsbewusstsein Jesu31
Dass sich Jesus als Bote Gottes verstand, zeigen die Sprüche vom Gekommensein Jesu. Sie wurden zwar oft als rückblickende Zusammenfassungen aus nachösterlicher Sicht gedeutet.32 30 Gegen die Annahme, dass Abba frühkindliches Vertrauen zum Ausdruck bringt, spricht, dass im Babylonischen Talmud, Gittin 56a, von einem „Abba Sikara, dem Banditenhauptmann von Jerusalem …“ die Rede ist. Nur wenn sich der Kontext eindeutig auf Kinder bezieht, löst das Wort frühkindliche Assoziationen aus. 31 O.Michel, „Ich komme“ (Jos. bell. 3,400), ThZ 24 (1968) 123–124. 32 Die Wendung „Ich bin gekommen …“ findet sich auch in Joh 5,43; 10,10; 12,47; 16,28; 18,37, ohne dass auf der Formel ein christologischer Akzent liegt. Der Täufer redet in Joh 1,31 in derselben Weise von sich: „Deshalb bin ich gekommen, um mit Wasser zu taufen“.
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Dritter Teil: Das Wirken und die Verkündigung Jesu
Jedoch ist das „Ich bin gekommen“ als Botenformel für menschliche (Ijob l,15ff) wie für himmlische Boten bezeugt (Dan 9,23; 10,14), nicht aber für die Propheten des Alten Testaments. Doch konnten in der Zeit Jesu prophetische Gestalten so von sich reden. So sagte der gefangene Josephus zu Vespasian, als er ihm die Kaiserwürde prophezeite: „Du glaubst, Vespasian, in Josephus lediglich einen Kriegsgefangenen in die Hand bekommen zu haben, ich aber komme zu dir als Verkünder (aggelos) größerer Ereignisse. Denn wäre ich nicht von Gott gesandt (propempomenos), so hätte ich gewusst, was das Gesetz der Juden bestimmt und wie es einem Feldherrn zu sterben geziemt“ (Bell 3,400). An anderer Stelle berichtet Josephus, dass Johannes von Gischala, einer der Führer im jüdischen Krieg, von sich gesagt habe, „gerade er sei nach Gottes Vorsehung als Botschafter zur Beilegung des Zwistes abgesandt (eispemphthē)“ (Bell 4,219). Da das „Ich bin gekommen“ nicht aus nachösterlicher Christologie ableitbar, im Judentum aber gut vorstellbar ist, kann Jesus so von sich gesprochen haben. Folgende Sprüche sind daher wohl echt: „Ich bin gekommen, ein Feuer anzuzünden auf Erden“ (Lk 12,49 f.). „Meint ihr, dass ich gekommen bin Frieden zu bringen auf Erden. Ich sage euch: Nein, sondern Zwietracht“ (Lk 12,51). „Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten“ (Mk 2,17b). Analog zu ihnen könnten nach Ostern Mt 5,17; Mk 10,45 und Lk 19,10 gebildet worden sein (M.Sato).33 Die Worte vom Gekommensein Jesu belegen sein Sendungsbewusstsein, sind aber nicht singulär. In Lk 7,33f parallelisiert Jesus so den Täufer mit sich: Auch Johannes war gekommen, aß nicht und trank keinen Wein. Dagegen ist „der Menschensohn gekommen, isst und trinkt“. b) Die Vollmacht zur Sündenvergebung34
Jesu Zuspruch von Sündenvergebung ist nur bei der Heilung des Gelähmten (Mk 2,1–12) und der Begegnung mit der „großen Sünderin“ bezeugt (Lk 7,36–50), aber trotz geringer Bezeugung eine Erinnerungsspur Jesu. Das Thema Sündenvergebung war durch den Täufer vorgegeben, begegnet oft in Jesu Gleichnissen (Mt 18,23–35; Lk 7,41–43; 15,11–32; 18,9–14), im Vaterunser und in Mahnworten (vgl. Mt 6,14f; Mk 11,25). Wenn der Zuspruch an den Gelähmten: „Dir sind deine Sünden vergeben“ isoliert in der Jesusüberlieferung steht, muss man bedenken: Eine durch Menschen vermittelte Sündenvergebung ist im Judentum kaum belegt, allenfalls im Gebet des Nabonid, den ein anonymer Jude (vielleicht Daniel) trotz seiner Vergehen heilt (4QprNab = 4Q 242). Altes Testament und Judentum kennen eine Sündenvergebung durch Gott, aber keinen Beleg dafür, dass der Priester nach Sühneopfern den Kultteilnehmern die Sündenvergebung mit seinen Worten zusprach.35 Gut bezeugt ist dagegen das Vertrauen auf Gottes Vergebung aufgrund von Bekenntnis und Umkehr: „Bei Sünden sprichst du den Menschen frei, wenn er bekennt und beichtet … und deine Güte (waltet) über reuigen Sündern“ (PsSal 9,6f). Man konnte im Judentum unabhängig vom Tempel auf 33 M.Sato, Q und Prophetie, 1988, 287–297. 34 H.Thyen, Studien zur Sündenvergebung im Neuen Testament und seinen alttestamentlichen und jüdischen Voraussetzungen, 1970. 35 O.Hofius, Vergebungszuspruch und Vollmachtsfrage. Mk 2,1–12 und das Problem der priesterlichen Absolution, in: H.G.Geyer (Hg.), „Wenn nicht jetzt, wann dann?“, 1983, 115–127.
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Sündenvergebung hoffen.36 Mit seinem Zuspruch: „Deine Sünden sind dir vergeben“ erregt Jesus Anstoß.37 Das ist verständlich. Wenn (vielleicht) nicht einmal der Priester im Kult Sündenvergebung durch seine Worte vermitteln konnte und sie allein von Gott erhofft wurde, trifft die Feststellung zu: „Wer kann Sünden vergeben außer Gott allein!“ (Mk 2,7). Jesus hätte, ohne Anstoß zu erregen, zum Vertrauen in Gottes Sündenvergebung aufrufen können. Aber er sagt, Gott hat tatsächlich vergeben! Vielleicht beanspruchte der Täufer sogar eine größere Vollmacht, wenn er die Sündenvergebung an seinen Ritus band, auch wenn er nur ein Zeichen für die von Gott geschenkte Sündenvergebung sein sollte. Auch hier hat Jesu Vollmacht Analogien bei jüdischen Charismatikern, die stellvertretend für Gott handeln, aber deswegen nicht göttlich sind. Alle angeführten Belege für eine „implizite Christologie“ lassen sich im Rahmen der Rolle Jesu als Lehrer und Prophet verstehen. In dieser Rolle macht er Gott durch sein Charisma zugänglich. Aussagen über seine Rolle als Messias machen darüber hinaus deutlich, dass mit ihm eine neue Weltzeit beginnt.
4. Jesus als Messias: Die evozierte Christologie?38 Zwar wird Jesus im NT nur zwei Mal mit dem aramäischen Begriff „Messias“ bezeichnet, einmal durch Jünger des Johannes (Joh 1,41), ein anderes Mal indirekt durch die Samaritanerin, die hofft, „dass der Messias kommt, der da Christus heißt“ (Joh 4,25). Dafür wurde „Christus“ (der „Gesalbte“) als griechische Übersetzung von Messias bald zum wichtigsten Hoheitstitel Jesu, aber außerhalb des Judentums zu seinem Eigennamen wie z. B. bei Tacitus (Ann 15,44,3). Umstritten ist, ob sich Jesus selbst für den Messias gehalten hat. Der Anspruch, die eschatologische Wende zu bringen, war nicht an diesen Titel gebunden. Denn im Judentum finden sich eschatologische Erwartungen ohne Messias im Jubiläenbuch (Jub 23), im Baruchbuch (Bar 2,34f; 4,36f; 5,5ff), bei Tobit (13,11f; 14,4ff) und in der Assumptio Mosis, in der sich eine scharfe Kritik an herodäischen Fürsten mit der Hoffnung auf das baldige Kommen des Reich Gottes verbindet (AssMos 10,13). Das weist darauf, dass gerade in Galiläa eine theokratische Hoffnung lebendig war. Judas Galilaios begründete ca. zwei Jahrzehnte vor dem Auftreten Jesu seine Kampagne für eine Steuerverweigerung damit, dass man keinen Menschen als Herrn neben Gott anerkennen darf (Ant 18,23). Könnte auch Jesus 36 I.Broer, Jesus und das Gesetz. Anmerkungen zur Geschichte des Problems und zur Frage der Sündenvergebung durch den historischen Jesus, ders. (Hg.), Jesus und das jüdische Gesetz, 1992, 61–104. 37 Die Formulierung im „Passiv“ wird meist so gedeutet, dass hier ein passivum divinum Gott als Ursprung der Sündenvergebung nennt. Dagegen gibt es einleuchtende Einwände bei: P.-B.Smit und T.Rensen, The passivum divinum: The Reise and Future Fall of an Imaginary Linguistic Phenomenon, Filología Neotestamentaria 27 (2014) 3–24. 38 J.H.Charlesworth (Hg.), The Messiah. Developments in Earliest Judaism and Christianity, 1992. C.A.Evans, Jesus*, 1995, 53–212.437–456; M.Hengel, Jesus*, 1992; O.Hofius, Ist Jesus der Messias? Thesen, JBTh 8 (1993) 103–130; M.Karrer, Der Gesalbte*, 1991; F.G.Martinez, Messianische Erwartungen in den Qumranschriften, JBTh 8 (1993) 171–208; G.Theißen, Gruppenmessianismus* (1992).
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in diesem galiläischen Milieu eine rein „theokratische“ Erwartung vertreten haben? Dabei ist zu bedenken: In der Antike konnte sich niemand seinen Status selbst verleihen, er wurde verliehen. Das gilt auch für den Messias. Die Warnung vor falschen Messiassen zeigt, dass sie von anderen Menschen zum Messias ausgerufen wurden: Ȥ Deuterojesaja proklamierte Kyros als Messias (Jes 45,1). Ȥ Die synoptische Apokalypse warnt: „Wenn jemand zu euch sagen wird: Siehe, hier ist der Christus! Siehe da ist er! So glaubt es nicht.“ (Mk 13,21). Ȥ Josephus proklamierte Vespasian zum Weltenherrscher und übertrug messianische Erwartungen auf ihn (Bell 3,400). Ȥ Rabbi Aquiba proklamierte Schim’on als Bar Kochba, d. h. als Sternensohn nach Num 24,17.39 Dieser aber nannte sich selbst in Briefen und Münzen nicht „Messias“, sondern „Nassi“ (Fürst). Nicht das Messiasbewusstsein eines Charismatikers ist also entscheidend, sondern dass andere Menschen ihn als Messias erwarten und verkündigen. Entscheidend ist die Frage: Hat sich Jesus so verhalten, dass er solche Erwartungen hervorgerufen hat? Selbst wenn einige hofften, er sei der Messias, musste Jesus deshalb diesen Titel nicht übernehmen. Doch welche Rollenerwartungen an den Messias existierten damals? 4.1 Die alttestamentlichen Wurzeln der Messiaserwartung
Die wichtigsten „messianischen“ Texte im AT sind Texte ohne Messiasbegriff, die nachträglich auf den Messias gedeutet wurden (Jes 8,23–9,6; 11,1ff; Mich 5,1ff; Sach 9,9f). Dafür hören wir von Königen, Hohepriestern und Propheten als „Gesalbten“ (hebr. ָמ ִשׁ ַיחmāschîah), weil sie durch Salbung ihren Status erhielten und als Tabupersonen nicht angegriffen werden durften (1Sam 24,11). Das Wort „Gesalbte“ bezieht sich dabei auf gegenwärtige Ämter: 1. Könige sind in Israel „Gesalbte Jahwes“ (1Sam 12,3.5; Ps 2,2; 18,51 u.ö.), bei Deuterojesaja sogar der Perserkönig Kyros (Jes 45,1). Ansonsten vermeiden die Prophetenbücher den Messiasbegriff, als scheuten sie sich, den Bringer des Heils mit den von ihnen kritisierten Königen zu verbinden. 2. Hohepriester werden durch Salbung geweiht (Ex 29) und in späten Texten „Gesalbte“ genannt (Lev 4,3.5.16; 1Chr 29,22; Sir 45,15; Dan 9,25f; 2Makk 1,10). Mit dem Ende des Königtums war der Messias-Titel „verwaist“ und konnte auf priesterliche Ämter übertragen werden. 3. Propheten gelten nur ausnahmsweise als Gesalbte: 1Kön 19,16 erzählt von einer Prophetensalbung. Die Erzväter werden Propheten und Gesalbte Gottes genannt (Ps 105,15). Nach Jes 61,1 hat Gott den Propheten mit Geist gesalbt. Salbung ist hier übertragen gemeint.
39 Vgl. jTaan 4,8, fol.68d. Mit den gleichen Worten aus Num 24,17 erwartete man in Qumran (CD VII,18– 21) den eschatologischen Gesetzeslehrer.
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Mit den Hasmonäern lebte der Königstitel, nicht aber das Salbungsritual erneut auf. Sie orientierten sich am Modell hellenistischer Könige, die gekrönt wurden. Auch die Anführer der „messianischen“ Aufstände nach dem Tode Herodes I., Simon und Athronges, krönten sich durch ein Diadem (Ant 17,273.280). Die Römer verspotten Jesus als Messiasprätendenten durch eine Dornenkrone (Mk 15,17). Wenn der „Messiasbegriff“ kein eindeutiges Kriterium ist, müssen drei Kriterien erfüllt sein, damit man von einer messianischen Heilsgestalt sprechen kann: (1) Messianische Gestalten bringen eine eschatologische Wende, (2) soteriologisch Heil für Israel und haben (3) eine außergewöhnliche charismatische Nähe zu Gott. In den messianischen Texten des AT ohne Messiasbegriff wird das, was altorientalische Königsideologie gegenwärtigen Königen als übermenschliche Aura zuschrieb, zur Erwartung an einen zukünftigen Heilskönig, der Israel gegen Feinde verteidigt und Frieden bringt (Jes 8,23–9,6; 11,1ff; Mich 5,1ff; Sach 9,9f). Viele Texte wurden dabei erst sekundär im Laufe der Überlieferungsgeschichte messianisch gedeutet: AT Gen 49,10 Num 24,17 2Sam7,12ff Ps 2,1ff Am 9,11f
messianische Deutung in der Wirkungsgeschichte Jakobssegen Bileamspruch Nathanweissagung Königspsalm Amoswort
LXX Gen 49,10; 4QPatr I,1ff (= 4Q 252 Frg. 1 v,1ff) CD VII,19–21 4QFlor III,10–12 4QFlor III,18f (wahrscheinlich); PsSal 17,23f.30 4QFlor III,11–13
In nachneutestamentlicher Zeit bezeugen vor allem die Targumim, d. h. die aramäischen Übersetzungen des hebräischen AT eine messianische Deutung dieser Texte (jetzt mit Hilfe des expliziten Terminus „Messias“).40 Für die Zeit davor aber gilt: Sie kennt einerseits messianische Erwartungen ohne Messiasbegriff, die sekundär zu Weissagungen des Messias wurden, andererseits „Messias“ genannte Könige und Priester, an die sich keine messianischen Erwartungen knüpften. 4.2 Die Offenheit messianischer Erwartungen in neutestamentlicher Zeit
Die Vorgeschichte des Messiasbegriffs zeigt, dass es in neutestamentlicher Zeit keine feste „Messiaserwartung“ gab, sondern Hoffnungen auf verschiedene Heilsgestalten, die nicht notwendig „Messias“ genannt wurden. Die wichtigsten Belege für messianische Heilbringer sind:
40 Texte und Interpretation bei C.A.Evans, Jesus*, 1995, 155–181.
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Dritter Teil: Das Wirken und die Verkündigung Jesu
„Messias“
mit Messiastitel
ohne Messiastitel
für die Zukunft erhoffte Gestalten
Qumranschriften (s. o. 4.1) PsSal 17–18 äthHen 48,10; 52,4 4Esr 7,28 SyrBar 29,3; 30,1 u. ö.
Dan 7,14: Menschensohn äthHen 90,9 ff.37f Sib 3,49 f.286 f.652f Philo Praem 95 TestLev 18; TestJud 24
als in der Geschichte auftretende Gestalten41
Jesus, der sog. Christus (Jos Ant 20,200) Bar Kochba als Messias im Krieg (132–135 n. Chr.)
Simon und Athronges im „Räuberkrieg“ (4/3 v. Chr.) Menahem und Simon ben Giora im Krieg (66–70 n. Chr.)
Bei den Überlieferungen ohne Messiastitel können wir nie sicher sein, ob der Titel nicht doch benutzt wurde. So könnte Philo in Praem 95 an einen „Messias“ gedacht haben. Wir können ferner vermuten, dass Simon und Athronges im „Räuberkrieg“ in der Rolle eines Messias aufgetreten sind. Denn sie wollten erreichen, was man vom Messias erwartete: die Feinde Israels besiegen und ein jüdisches Reich errichten. a) Hoffnungen auf einen „Messias“
Messianische Gestalten, die explizit den Namen „Messias“ tragen, begegnen eindeutig erst in Texten des 2./1. Jh.v. Chr. Der absolute Gebrauch des Namens „der Messias“ ist in den Qumranschriften belegt (z. B. 1QSa II,12), dazu in den Psalmen Salomos aus der Mitte des 1. Jh. v. Chr. Unter dem Eindruck der römischen Eroberung Palästinas wird in ihnen ein „Gesalbter des Herrn“ erwartet (17,32; vgl. 18,1.5.7), als das Salbungsritual schon lange nicht mehr praktiziert wurde. Umso besser konnte dieser Titel Opposition gegen die letzten hasmonäischen Könige (oder gegen Herodes?) zum Ausdruck bringen, indem der Begriff „Messias“ die göttliche Legitimation des erhofften Heilskönigs betont und sie den regierenden Königen abspricht. Diese Renaissance des Messiasbegriffs in politischen Krisen führte aber nicht zu einer einheitlichen Messiaserwartung. Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über einige wichtige Belege für „Messias“ – beschränkt auf Stellen, in denen tatsächlich „Messias“ bzw. „Christos“ begegnet. Sie zeigt: Außerhalb Qumrans wird vorwiegend ein königlicher Messias erwartet. In Qumran finden wir dagegen nebeneinander die Erwartung eines priesterlichen und eines königlichen Messias,42 also eine messianische „Dyarchie“, die
41 Vgl. zu Bar Kochba als Messias jTaan 4,8, fol.68d. Im Räuberkrieg schmücken sich Simon (Jos Ant 17,273–277) und Athronges mit einem königlichen Diadem (Ant 17,278–284), im Römisch-jüdischen Krieg 66–70 trat Menahem in königlichem Gewand auf (Bell 2,444). Josephus sagt von Simon ben Giora, man habe ihm wie einem König gehorcht (Bell 4,510). Er zieht als Retter in Jerusalem ein (Bell 4,575). 42 Weitere messianische Texte in Qumranschriften sind: 4Q 161 Frg. 8,11–25 ein Pescher zum Spross Davids in Jesaja 11; 1QSb V,20–29: der Fürst der Gemeinde; 4Q 285 Frg. 5: der Fürst der Gemeinde; 4Q 541 Frg. 9; 4Q 246: Sohn des Höchsten; CD V,18–21–VI,1: Ausleger des Gesetzes und Fürst der Gemeinde; 4QFlor III,10–13 = 4Q 174 III,10–13: Sproß Davids; 4QTest = 4Q 175: eine königliche, priesterliche und prophetische Gestalt nebeneinander.
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Jesus als Gesandter: Sein Sendungsbewusstsein
man als Opposition gegen die hasmonäischen Herrscher verstehen muss, die beide Ämter vereinten.43
Qumran
Hohepriester
König
Prophet
1QS IX,9-11: „Messiasse Aarons und Israels“ (im Plural!). CD XII,22; XIV,18f; XIX,10f; XX,1: „Messias Aarons und Israels“ (im Singular). Wo beide Gestalten auftreten, hat der Priester den Vorrang (vgl. 1QSa II,11ff).
4QPatr (4Q 252): Auslegung des Jakobssegens auf den „Messias der Gerechtigkeit“, den Spross Davids. 1QSa II,11ff: Gott lässt den Messias Israels in der Gemeinde geboren werden: Er tritt neben dem eschatologischen Priester auf. 4Q 521 Frgm. 2 ii,1: „[Him]mel und Erde werden hören auf seinen Gesalbten“.
CD II,12: Propheten sind „Gesalbte“. 11QMelch: Der Freudenbote von Jes 52,7 wird mit dem Gesalbten von Jes 61,1f identifiziert. Er kündigt die Herrschaft Melchizedeks, einer himmlischen Gestalt, an.
LXX
1Kön 2,10: Hanna betet: „Er wird das Horn seines Gesalbten erhöhen“
PsSal 17–18
Der Messias ist der Sohn Davids, der die sündigen Heiden aus dem Land vertreibt, andererseits die Völkerwallfahrt zum Zion auslöst.
Bilderreden des äthHen
In 48,10 und 52,4 wird (vielleicht?) der Menschensohn mit dem Messias identifiziert
b) Usurpation messianischer Hoffnungen durch politische Herrscher
Nicht nur Rebellen aus dem Volk haben die Erfüllung messianischer Erwartungen für sich beansprucht, sondern auch politische Herrscher. Auf den ersten Blick befremdet es, dass mit Vespasian ein römischer Feldherr und Kaiser in die Rolle des „messianischen Herrschers“ rücken konnte. Aber schon Deuterojesaja sah in Kyros den „Gesalbten Jahwes“ (Jes 45,1). Wenn Josephus messianische Erwartungen auf Vespasian übertrug (Bell 3,400ff), brach er nicht mit den Traditionen seines Volkes. Verständlicherweise wurden aber vor allem jüdische Herrscher mit messianischer Aura umgeben: 43 Das Nebeneinander einer priesterlichen und königlichen messianischen Gestalt (ohne Messias-Begriff) finden wir in den TestXIIPatr in TestLevi 18, wo der endzeitliche Hohepriester das Paradies neu öffnet, und in TestJud 24, wo ein königlicher Messias ohne militärische Züge begegnet.
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Vom Makkabäerführer Simon (143/2–135/4) heißt es in 1Makk 14,4–15: Er schaffte den Frieden für das Land, und Israel erfreute sich großer Freude. Ein jeder saß unter seinem Weinstock und seinem Feigenbaum, und es gab niemand, der sie aufschreckte. Man hörte auf, gegen sie zu kämpfen auf der Erde, und die Könige wurden vernichtend geschlagen in jenen Tagen. Er stärkte alle Demütigen seines Volkes, er erforschte das Gesetz und beseitigte jeden Gesetzlosen und Bösen. Das Heiligtum machte er herrlich, und die Geräte des Heiligtums vermehrte er. (14,11–14) Herodes I. (36–4 v. Chr.) hat die Erneuerung des Tempels begonnen, um sich als ein „neuer Salomo“ und Nachfolger Davids zu legitimieren: Er begründete die Wiederherstellung des Tempels in seinen salomonischen Ausmaßen damit, dass nur Fremdherrschaft die Juden unter Zerubbabel gehindert hätte, ihn ganz wiederherzustellen (vgl. Ant 15,380ff). Er stand im Ruf, „mit göttlicher Huld begnadet zu sein“ (Bell 1,331).
Wenn die ersten Christen behaupteten, Jesus sei der Messias, der Rettung und Erlösung bringt, konkurrierte dieser Anspruch mit politischen Machthabern. Wenn an ihn zu seinen Lebzeiten Messiaserwartungen herangetragen wurden, war das politisch brisant. Wenn seine Anhänger für ihn nach Ostern die Rolle des „Christus“ beanspruchten, versetzten sie ein Opfer der Herrschenden in die Rolle eines Herrschers! Fazit: Es gab nicht das Judentum und eine einzige Messiaserwartung, es gab viele jüdische Strömungen mit verschiedenen eschatologischen und messianischen Erwartungen!44 Wer eschatologische Hoffnungen hatte, konnte sie auch rein theokratisch vertreten. Nur Gott sollte herrschen. Wer eine messianische Mittlergestalt erwartete, musste sie nicht „Messias“ nennen. Wenn das Urchristentum daher von jüdischen Messiastraditionen „abweicht“, bricht es nicht mit dem Judentum. Wenn es keine „typische“ jüdische Messiaserwartung gibt, kann es auch keine Korrektur des jüdischen Messianismus geben. 4.3 Johannes der Täufer und die Umlenkung von Messiaserwartungen
Messianische Hoffnungen waren wahrscheinlich im Volk weit verbreitet und lebendig. Griechisch „Messias“ war Transkription des aramäischen Wortes meschîhā’ (שיחא ָ )מ, ְ nicht des hebräischen Wortes māschîah ()מ ִשׁ ַיח, ָ gehörte also zur Alltagssprache des Volkes, nicht zur Sprache der Gelehrten. Wenn im Räuberkrieg (4/3 v. Chr.) zwei volksnahe Königsprätendenten mit messianischer Aura auftreten und das Land in Unruhe stürzen, zeigt das: Es gab messianische Hoffnungen im Volk.45 Johannes der Täufer wurde in den 20er Jahren mit ihnen konfrontiert: „Als aber das Volk voll Erwartung war und alle dachten in ihren Herzen von Johannes, ob er vielleicht der Christus wäre, antwortete Johannes und sprach: Ich taufe euch mit Wasser; es kommt aber einer, der stärker ist als ich“ (Lk 3,15f). Auch im Johannesevangelium verneint Johannes an ihn gerichtete messianische Erwartungen. Er 44 Vgl. den Titel des Buches J.Neusner u. a. (Hg.), Judaisms and Their Messiahs*, 1987, wo beide Begriffe im Plural erscheinen: Judentum und Messias! 45 C.A.Evans, Jesus*, 1995, 53–81, mit Überblick über alle „messianic claimants“.
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bekennt: „Ich bin nicht der Christus“ (Joh 1,20) und schärft seinen Jüngern ein: „Ihr selbst seid meine Zeugen, dass ich gesagt habe: Ich bin nicht der Christus, sondern vor ihm her gesandt“ (Joh 3,28). Der Täufer selbst hat solche Erwartungen auf einen Stärkeren umgelenkt, der nach ihm kommen soll. Ebenso lenkte auch Jesus, mit Messiaserwartungen konfrontiert, diese auf eine nach ihm kommende Gestalt, den Menschensohn, um. 4.4 Jesus und die Korrektur von Messiaserwartungen
Jesus wurde wie der Täufer mit messianischen Hoffnungen konfrontiert. Die Überlieferung bietet dazu in Wort- und Erzählüberlieferung ein signifikant verschiedenes Bild:46 1. Die Wortüberlieferung ist gegenüber dem Messiastitel spröde: Er fehlt im ThEv und in Q. In den Evangelien begegnet er nur ausnahmsweise im Munde Jesu. Wenn er in Mt 16,20 den Jüngern und in Lk 4,41 den Dämonen verbietet zu verbreiten, dass er der „Christus“ ist, so sprechen diese Verbote für eine Zurückhaltung Jesu gegenüber dem Messiastitel. In Lk 24,26 benutzt dagegen der Erhöhte diesen Titel gegenüber den Emmausjüngern, ebenso im hohepriesterlichen Gebet Joh 17,3, der einzigen Stelle im JohEv, in der Jesus sich Christus nennt. Auch hier blickt Jesus auf die Zeit zurück, als „er bei ihnen war“ (17,12). Es bleiben nur zwei Ausnahmen: Mk 9,41 bezieht sich auf Jünger, die „Christus“ angehören, formuliert also aus einer Perspektive von außen. Mt 23,10 meint einen Lehrer neben Gott im Himmel, setzt also eine nachösterliche Perspektive voraus. 2. Die Erzählüberlieferung weiß dagegen sehr oft, dass messianische Erwartungen an Jesus herangetragen wurden, von Anhängern als Bekenntnis zum Messias (Mk 8,29), zum Sohn Davids (Mk 10,46ff) oder zur Herrschaft „unseres Vaters David“ (Mk 11,10), aber auch von Gegnern als Anklage. So fragt der Hohepriester Jesus beim Verhör: „Bist du der Christos, der Sohn des Hochgelobten“ (Mk 14,61), Pilatus wiederholt diese Frage in seiner Sprache: „Bist du der König der Juden?“ (Mk 15,2) und lässt ihn als „König der Juden“ hinrichten (Mk 15,26), während Vertreter des Synedriums den Gekreuzigten als „Christos, König Israels“ verspotten (Mk 15,32).47
Der Befund zeigt: Der Messiastitel wird von anderen an Jesus herangetragen, während Jesus nie eindeutig sagt, er sei der Messias. Das entspricht unserer Erkenntnis: Niemand darf sich aufgrund von Statuskontingenz diesen Status selbst zuschreiben. Folgende Annahme liegt nahe: Jesus weckte Messiaserwartungen im Volk und bei seinen Jüngern, bestätigte sie aber nicht, weil nur Gott ihn zum Messias ernennen kann.
46 Die Formelüberlieferung in der Briefliteratur verbindet den Christustitel eindeutig mit Jesu Tod und dessen soteriologischer Deutung: Christus ist für uns bzw. für unsere Sünden gestorben (vgl. Röm 5,6.8; 1Kor 15,3ff u.ö.). 47 Das JohEv bestätigt diesen Befund: In ihm benutzt Jesus selbst nur ein einziges Mal den Christostitel (Joh 17,3), sonst nur der Täufer (Joh 1,20; 3,28), ein Jünger (1,41), die Samaritanerin (4,25.29), Martha (11,27), der Erzähler (1,17; 20,31), vor allem einige im Volk (1,25; 7,26 f.31.41f; 9,22; 10,24; 12,34).
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a) Jesu Konfrontation mit Messiaserwartungen während seines Lebens
Jesus wurde mit Messiaserwartungen sowohl durch Anhänger (Mk 8,29; 10,46ff; 11,10) als auch durch Gegner Jesu (Mk 14,61; 15,26) konfrontiert. Dabei lässt sich ein Unterschied zwischen Nord- und Südpalästina feststellen: Im Norden Palästinas ist das Petrusbekenntnis bei Caesarea Philippi lokalisiert (Mk 8,27– 30).48 Es geschieht nicht in der Öffentlichkeit. Auf sein Bekenntnis zum Messias folgte ursprünglich wohl das Satanswort (8,33). Denn auch die joh Parallele verbindet das Satanswort mit dem Petrusbekenntnis, lenkt es aber auf Judas um (Joh 6,67–71) und betätigt so den Zusammenhang von Petrusbekenntnis und Satanswort.49 Im MkEv wird das Petrusbekenntnis vom Satanswort durch Schweigegebot und Leidensweissagung getrennt (8,30f). Da dieses Schweigegebot wohl mk Redaktion ist und die Leidensweissagung die mk Gesamtkomposition des Evangeliums voraussetzt, könnte Jesus auf das Messiasbekenntnis ursprünglich geantwortet haben: „Gehe von mir, Satan! Denn du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist“ (Mk 8,33). Jesus weist damit den Messiastitel nicht grundsätzlich zurück, sondern die mit ihm verbundene irdische Gesinnung. Verbindet sich mit dem Messiastitel eine dem Willen Gottes entsprechende Gesinnung, wäre er akzeptabel. Im Süden von Palästina, in Judäa, wird die Messiasthematik dagegen öffentlich diskutiert: In Jericho begrüßt Bartimäus Jesus als „Davidssohn“, in Jerusalem erwarten Festpilger die „Herrschaft Davids“. Wegen seines Königtums wird Jesus angeklagt und hingerichtet. War die (davidische) Messiaserwartung im Süden Palästinas also lebendiger? Schon im Räuberkrieg treten nur im Süden Königsprätendenten mit messianischer Aura auf, Simon und Athronges (Jos Ant 17,224.279f). In Galiläa zeigt dagegen Judas, der Sohn des Hezekias, keine Ambition, König zu werden (Bell 2,56). Entscheidend ist: Vom königlichen Messias wurde erwartet, dass er in seiner Stadt Jerusalem die Herrschaft ergreift. Das erklärt, warum mit Jesu Kommen nach Jerusalem diese Erwartung intensiviert wird. Das Logion von den Zwölfen, die Israel regieren werden, zeigt u. E., dass Jesus messianische Erwartungen aufgegriffen hat. Nach PsSal 17,26 ist es die Aufgabe des Messias, das Volk aus der Zerstreuung zu sammeln und seine zwölf Stämme zu richten. Diese Aufgabe überträgt Jesus auf die Jünger. Sie werden auf Thronen sitzen und die zwölf Stämme Israels richten, bilden also ein messianisches Kollektiv (Mt 19,28/Lk 22,28–30). Jesus verhielt sich gegenüber dem „Messiastitel“ nicht deshalb spröde, weil er ihn ablehnte, sondern weil er mehr als ein Messias war, der sogar anderen den Status eines Messias im Sinne eines „Gruppenmessianismus“ verlieh (G.Theißen). Einfache Menschen aus dem Volk, Fischer und Bauern, soll-
48 Zur Historizität des Petrusbekenntnisses vgl. M.J.Wilkins, Peter’s Declaration Concerning Jesus’ Identity in Caesarea Philippi, in: D.L.Bock/R.L.Webb, Key Events in the Life of the Historical Jesus, 2009, 293–381. 49 Im ThEv 13 bekennen sich Simon Petrus zu Jesus als gerechtem Boten (oder Engel?), Matthäus als klugem Philosophen, während Thomas ihn als Lehrer anspricht, den er aber mit niemandem vergleichen kann. Auch hier weist Jesus das letzte Bekenntnis zurück: „Ich bin nicht dein Lehrer.“ Das Satanswort an Petrus ist hier zu einem den Empfänger gefährdenden Offenbarungswort an Thomas geworden. Auch diese Überlieferungsvariante bestätigt eine Zurückweisung der Bekenntnisse seiner Jünger.
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ten als Repräsentanten der zwölf Stämme herrschen. Wir begegnen hier der Tendenz, Gleiche sollen über Gleiche herrschen, Menschen aus dem einfachen Volk über ihresgleichen.50 Die Transformation des Messiasgedankens zeigt, Jesus hat sich mit messianischen Erwartungen auseinandergesetzt. Vor Pilatus wurde er mit ihnen konfrontiert. Der titulus crucis zeigt: Er starb als jüdischer Königsprätendent. Sicher ist: Er hat sich vor seinen Richtern nicht von der Messiaserwartung seiner Anhänger distanziert. Nach Mk 15,2–5 schwieg Jesus zu diesem Punkt bzw. antwortete in einer Weise, die der Mk-Evangelist wahrscheinlich so verstanden hat: Pilatus sagt die Wahrheit, wenn er ihn als König der Juden anspricht. Auch nach Joh 10,24 ließ Jesus seine Umwelt im Unklaren darüber, ob er der Messias sei. Heute wissen wir, wie offen der „Messiasbegriff“ war. War nicht jede Stellungnahme zu ihm missverständlich, so dass Jesu Zurückhaltung auch dadurch verständlich wird? b) Die Neudeutung der Messianität Jesu nach Kreuz und Ostern
Dass die Jünger den Messiastitel auf Jesus erst nach Ostern übertragen haben, ist historisch unwahrscheinlich: Um ein auf Kreuz und Auferstehung zielendes Leben zu deuten, war der Messiastitel ungeeignet. Denn es gibt keine vorneutestamentlichen Belege für die Vorstellung eines leidenden Messias; erst recht keinen Beleg dafür, dass jemand durch Auferstehung zum Messias wird. Der Messiastitel musste schon vorher mit Jesus verbunden sein, wenn er seine Erhöhung Ostern auszeichnen sollte. Dennoch wird manchmal vermutet, es habe eine vorchristliche Vorstellung vom leidenden Messias gegeben. Das aber geben die Belege nicht her: Ȥ Jes 53 wird zwar im Prophetentargum auf den Messias ausgelegt, aber die Leidensaussagen werden dort in Hoheitsaussagen uminterpretiert, die Leidensaussagen auf die Völker gedeutet, das stellvertretende Leiden wird weginterpretiert (vgl. Bill 1,48 1f). Ȥ TestBenj 3,8: „Der Unschuldige wird für Gesetzlose befleckt werden, und der Sündlose wird für Gottlose sterben“. Das ist eine allgemeine Aussage über die soteriologische Bedeutung des Sterbens für andere – formuliert im Blick auf das Geschick Josephs. Ȥ 4Q 541 Frg. 9 i,2 spricht von einer kultischen Sühne, aber nicht von einer Sühne durch den Tod. Im Zusammenhang ist von Brandopfern die Rede. Dann heißt es: „Und er wirkt Sühne für alle Söhne seiner Generation“. Ȥ 4Q 285 Frg. 5,4 – nach R. Eisenman der zentrale Beleg für die Vorstellung von einem gekreuzigten Messias – spricht nicht vom Tod des Messias, sondern eher davon, dass der Messias, der Fürst der Gemeinde und „Spross Davids“ den Frevler tötet: „und es lässt ihn töten der Fürst der Gemeinde, der Sp[ross Davids].“51 50 Ein Plädoyer für ein Selbstverständnis Jesu als Messias findet sich bei C.A.Evans, Jesus*, 1995, 437–456: Jesus wird in Galiläa als Prophet angesehen (z. B. Mk 6,4), in Jerusalem als „König der Juden“ hingerichtet (Mk 15,26). Nur die Verbindung von davidischem König und Propheten, wie sie in Jos Ant 6,165f; 11QPsa 27,11 und den Targumim zu 2Sam 23,1–4.8; 1Kön 5,13; 6,11 u.ö. belegt ist, erkläre beide Aspekte des Wirkens Jesu. 51 Vgl. R.Eisenman/M.Wise, Jesus und die Urchristen, 1993, 30–36; dagegen H.Stegemann, Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus, 1993, 146–148; C.A.Evans, Jesus*, 1995, 129–131.
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Selbst wenn Belege für eine vorchristliche Vorstellung vom leidenden Messias auftauchen sollten, wäre es unwahrscheinlich, dass die Jünger in der Erwartung eines leidenden Messias lebten. Die Emmausjünger sind auf den Tod Jesu nicht vorbereitet. Erst der Auferstandene muss ihnen anhand der Schrift zeigen, dass der Messias leiden musste, um in seine Herrlichkeit zu gehen (Lk 24,25ff). Zusammenfassend sei festgestellt: Jesus musste sich mit messianischen Erwartungen auseinandersetzen. Er hat sie selbst verursacht, weil er eine entscheidende Wende in der Geschichte zwischen Gott und Mensch proklamierte. Diese „evozierte“ Christologie ist historisch gut begründet. Jesus verhielt sich ihr gegenüber zurückhaltend, vielleicht sogar zurückweisend. Das MkEv hat insofern Recht, wenn es die Messianität Jesu mit Geheimnis umgab. Zwar gilt das mk Messiasgeheimnis meist als Konstrukt des Evangelisten. Es interpretiert die „Rollendistanz“ des historischen Jesu gegenüber den von ihm evozierten großen Erwartungen. Aber dieses Messiasgeheimnis hat einen historischen Kern. Für ihn spricht eine Rollendistanz Jesu gegenüber hohen Erwartungen an ihn, die in mehreren Überlieferungen bezeugt ist: Ȥ Der reiche junge Mann redet ihn als „guten Meister“ an, wird aber zurückgewiesen: „Was nennst du mich gut? Niemand ist gut als Gott allein“ (Mk 10,18). Ȥ Jesus beantwortet die Frage, ob er der Kommende sei, mit Hinweis auf gegenwärtige Wunder, erwartet für seine Person aber nur, dass man sich nicht an ihr ärgert (Mt 11,6). Ȥ Die Bitte um Ehrenplätze zu seiner Rechten und Linken weist er mit Hinweis auf die Unverfügbarkeit von Rang und Status zurück: Gott allein teilt sie zu (Mk 10,40). Ȥ Er ernennt seine Jünger zu Richtern über die Stämme Israels und bringt hier nur indirekt seine Rolle ins Spiel (Mt 19,28/Lk 22,28–30). Ȥ Er räumt ein, dass alle Lästerungen gegen ihn vergeben werden, nicht aber Lästerungen gegen den Heiligen Geist, d. h. gegen Gott selbst (Mk 3,28f).
Die Rollendistanz Jesu gegenüber seiner „Hoheit“ ist gut belegt. Die Geheimnismotive im MkEv sind deren Deutung und haben insofern einen Anhalt im historischen Jesus. Jesus folgte in dieser Hinsicht Johannes dem Täufer, der Erwartungen an seine Person auf einen Größeren umgelenkt hatte. Jesus lenkte sie um auf den Menschensohn. 4.5 Jesus – der Sohn Gottes?
Jüdische Texte nennen den Messias „Sohn Gottes“.52 Jesus wurde nach Röm 1,3f und Apg 13,33 aufgrund seiner Auferweckung zum „Sohn Gottes“ eingesetzt. Daher besteht kein Zweifel daran, dass Jesu Verehrung als Sohn Gottes durch Ostern ermöglicht wurde. Die Frage ist: Hat sie Vorstufen in seinem Leben gehabt? Die Erzählung von der Taufe Jesu verbindet den Sohn-Gottes-Titel mit der Taufe Jesu. Der Täufer hatte alle Juden davor gewarnt, darauf zu vertrauen, dass sie Kinder Abrahams 52 Ps 2,7; 2Sam 7,14 in messianischer Interpretation: 4Q 174; Jes 7,14 Lxx; 4Q 246.
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sind. Seine Taufe diente einer Statuserneuerung. Alle Getauften wurden als Kinder Gottes bestätigt. Das entsprach jüdischer Ritualsymbolik, da eine Besprengung mit Wasser im Tempelkult ein Ernennungsritual war.53 Auch Jesus bekam wie alle anderen Getauften durch die Taufe einen Status als „Kind Gottes“ zugesichert. Nur deshalb konnte seine Statuserhöhung zum einzigartigen „Sohn Gottes“ später auf die Taufe zurückverlegt werden. Manches Wort Jesu über sich als Sohn Gottes bringen einen nachösterlichen Glauben zum Ausdruck, z. B. QMt 11,27 par, das an das Wort des Auferstandenen erinnert: „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden“ (Mt 28,18): Alles ist mir übergeben von meinem Vater; Und niemand kennt den Sohn als nur der Vater; Und niemand kennt den Vater als nur der Sohn Und wem es der Sohn offenbaren will.
Doch könnte auch hier ein älteres Bildwort nachwirken,54 das in der joh Fassung des Gleichnisses vom guten Hirten so lautet: „Ich … kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich, wie mich mein Vater kennt, und ich kenne den Vater“ (Joh 10,14f). Möglicherweise blieb in dieser Aussage über den „Sohn“ eine undeutliche Erinnerungsspur des historischen Jesus erhalten. Deutlich erkennbar ist solch eine Erinnerungsspur dagegen in der Bitte um Sündenvergebung im Vaterunser. Er leitete dieses Gebet mit „Vater“ (in Lk 11,2) ein, was gegenüber „unser Vater“ (in Mt 6,9) sicher ursprünglich ist. Das spricht für eine enge Beziehung Jesu zu Gott als Vater, die aber für seine Jünger offen war. Jesus nennt darüber hinaus Menschen aufgrund ihres ethischen Verhaltens „Söhne Gottes und Töchter Gottes“ (hyioi bezeichnet hier Kinder ohne Nachdruck auf dem Geschlecht): „Selig sind die Friedensstifter, denn sie werden Söhne und Töchter Gottes genannt“ (Mt 5,9). „Liebe eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne und Töchter eures Vaters im Himmel werdet“ (Mt 5,44f). Das entspricht der weisheitlichen Tradition, in der die Mahnung begegnet: „Sei den Waisen wie ein Vater, und an des Mannes statt (hilf) den Witwen, so wird Gott dich Sohn nennen.“ (Sir 4,10; vgl. SapSal 2,16–18; 5,5).55 Der Mensch, 53 Eine Besprengung durch einen anderen finden wir bei der Einsetzung von Priestern und Leviten. Vgl. Ex 29,4–9). Die Levitenweihe vermittelt durch Besprengung Befreiung von Sünden: „Du sollst Wasser zur Entsündigung auf sie sprengen“ (Num 8,7). „Taufe“ durch einen anderen Menschen bedeutet hier ebenfalls Verleihung eines neuen Status und Befreiung von Sünden. 54 J.Jeremias, Neutestamentliche Theologie, 1971, 62–67, schreibt diese Aussage Jesus zu, die er durch Hinzufügung von „wie“ und „so“ bildlich versteht: „Und wie nur ein Vater seinen Sohn (wirklich) kennt, so kennt nur ein Sohn seinen Vater (wirklich)“ (S. 66). Dennoch klingt das Wort wie ein nachösterlicher Spruch. Nach einem anderen Jesuswort „weiß niemand, auch die Engel im Himmel nicht, auch der Sohn nicht, sondern allein der Vater“ den Zeitpunkt des Endes (Mk 13,32/Mt 24,36). Das könnte eine nachösterliche Apologie sein, mit der man die Parusieverzögerung bewältigte. 55 Vgl. auch Philo Conf 145–147; SpecLeg 1,318. Wenn Christen bei Paulus nicht durch ihr Verhalten „Söhne (und Töchter) Gottes“ werden, sondern durch die Gabe des Gottesgeistes (Röm 8,14; Gal 4,6f),
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der Gott in seiner Fürsorge nachahmt, wird Sohn Gottes. Auch Jesus könnte solch einen Sohnesstatus für sich beansprucht haben, aber müsste andere darin eingeschlossen haben. Dazu passen auch Jesu Bilder von der familia Dei: Als Familienangehörige ihn für „verrückt“ erklären, nennt er seine Zuhörer und Anhänger seine Mutter und Brüder: „Denn wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter“ (Mk 3,34f). Nach Mk 10,30 werden seine Nachfolger, wenn sie ihre Familien verließen, neue „Brüder und Schwestern und Mütter und Kinder“ erhalten. Indem Menschen Gottes Willen tun, erhalten sie den gleichen Status wie Jesus. Alle sind dann Söhne und Töchter, Kinder Gottes des Vaters. Eine exklusiv auf Jesus bezogene Sohnesaussage enthält dagegen das Winzergleichnis, freilich nur als Gleichnisbild: In Mk 12,1–13 spricht Jesus von seiner Sendung als „geliebtem Sohn“ des Weinbergbesitzers. Das Gleichnis könnte authentisch sein, da es Jesu Tod so darstellt, als hätten ihn jüdische Führer getötet und aus dem Weinberg hinausgeworfen, was den tatsächlichen Ereignissen widerspricht. Das in diesem Gleichnis bezeugte Sendungsbewusstsein ist für Jesus gut belegt, zumal er es auch auf seine Jünger überträgt: Er sendet sie zu den Menschen, so wie er selbst gesandt worden ist (vgl. Mt 10,5.16). Ebenso wie die Rolle des Messias von außen an Jesus herangetragen wurde, so auch der „Sohn-Gottes-Titel“. Bei ihm ist die Ablehnung durch Jesus noch deutlicher als beim Messias. Jesus lehnt diesen Titel als Stimme von Dämonen ab (Mk 3,11; 5,7).56 Wir haben also keinen Beleg dafür, dass Jesus sein spezielles Vollmachtsbewusstsein durch einen exklusiven Sohn-Gottes-Titel zum Ausdruck gebracht hat, sicher ist nur: Er hat Gott als Vater ins Zentrum seiner Verkündigung gestellt und andere Menschen „Söhne Gottes“ genannt, die seinem Willen entsprechen. Daher liegt eine Deutung in Analogie zum Messiasbegriff nahe: Ebenso wie Jesus die Aufgabe des Messias auf seine zwölf Jünger übertrug, so nannte er sich nicht exklusiv „Sohn Gottes“, sondern inklusiv alle Menschen, die Gottes Willen erfüllen. Dem für andere Menschen offenen Messiasverständnis entspricht ein offenes Sohn-Gottes-Verständnis, dem Gruppenmessianismus der zwölf Jünger die Gemeinschaft der Kinder Gottes, die weit mehr Menschen umfasst als die zwölf Jünger.57 Gemeinsam ist aber beiden Titeln: Jesus schreibt sich selbst den gleichen Status wie seinen Anhängern zu, ist ihnen aber darin überlegen, dass er ihnen diesen Status vermittelt: Er ernannte seine Jünger zu „Messiassen“. Er sandte sie als Sendboten aus. Er lässt andere an seinem Status partizipieren. so entspricht das einer eschatologischen Erwartung, dass die Israeliten Söhne Gottes sein werden (Jub 1,24f; PsSal 17,27.31; äthHen 62,11; AssMos 10,3; TestJud 24,3). 56 Die Distanz der Jesusüberlieferung zum Sohn Gottes Titel erklärt sich auch dadurch, dass sich heidnische Könige rühmten, „Sohn Gottes“ zu sein. Der Gottessohn-Text (4Q 246) setzt diesem Anspruch das Volk Israel entgegen (vgl. A.Steudel, Die Texte aus Qumran II, 2001,168f). Daher sagt es viel, dass dieser Titel in der frühen Jesusüberlieferung im Munde von Dämonen (Mk 3,11) und in einem nicht.jüdischen Milieu (Mk 5,7) begegnet. 57 Auch PsSal 17 überträgt dem messianischen „Sohn Davids“ und „Messias“ das Richten über die Stämme Israels (17,26), spricht dabei aber von Israeliten als „Söhnen Gottes“ im Plural (17,27.31), obwohl Ps 2 mit seinem auf einen einzigen Messias zielenden „Sohn Gottes“ mehrfach anklingt.
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Dass wir ein verwandtes Muster bei beiden Hoheitsnamen der messianischen Tradition, „Messias“ und „Sohn Gottes“, finden, spricht dafür, dass darin der historische Jesus nachwirkt. Jesus hat sowohl den Messias- als auch den Sohn-Gottes-Begriff auf eine Gemeinschaft ausgeweitet. Er hatte deshalb kein niedriges Selbstbewusstsein, im Gegenteil: Wer andere Menschen als „Messiasse“ in ein messianisches Kollektiv beruft, ist mehr als ein Messias. Wer anderen zuspricht, Söhne (und Töchter) Gottes zu sein, nimmt unter ihnen einen besonderen Platz ein. Nachösterlich wurden dann „Christus“ und „Sohn Gottes“ die wichtigsten christologischen Titel, beide in Anknüpfung an vorösterliche Jesusüberlieferungen. Dagegen trat die Selbstbezeichnung „Menschensohn“ auffallend zurück.
5. Jesus als Menschensohn: Die explizite Christologie58 Der Begriff „Menschensohn“59 begegnet im Judentum und im Neuen Testament in zwei Bedeutungen. Er meint einerseits in alltäglicher Bedeutung „der Mensch“ oder „einen Menschen“, andererseits in außeralltäglichen Erfahrungen eine visionär geschaute Gestalt, die „wie ein Menschensohn“ aussieht und die Weltherrschaft übernimmt. Die erste Möglichkeit ist theologisch zu gering, um Jesu Vollmachtsbewusstsein zu entsprechen, die zweite zu hoch, um seinem Distanzbewusstsein gegenüber Gott zu entsprechen. Betrachtet man ihn als Schüler des Täufers, entdeckt man dennoch eine Kontinuität: Johannes der Täufer und Jesus haben beide messianische Erwartungen auf eine nach ihnen kommende Gestalt umgelenkt, jedoch mit einem wichtigen Unterschied: Der Täufer sprach von einem „Stärkeren“, dem er unterlegen ist, Jesus aber von einem kommenden „Menschensohn“, von dem er genauso sprach, wie er von sich selbst schon in der Gegenwart als „Menschensohn“ sprach. Er stellte sich demonstrativ mit ihm auf eine Stufe. Spätestens die Jesusüberlieferung hat die beiden Menschensohn-Traditionen in der Alltags- und in der Visionssprache kombiniert. Oder hat schon Jesus selbst sie verbunden? Liegt vielleicht gerade in dieser Verbindung der Schlüssel zu seinem Selbstverständnis?
58 C.Colpe, ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου* (1969) 403–481; L.W.Hurtado, „Who is This Son of Man?“: The Latest Scholarship on a Puzzling Expression of the Historical Jesus, 2011; J.R.D.Kirk, A Man Attested by God: the Human Jesus of the Synoptic Gospels, 2016; B.Lindars, Jesus Son of Man*, 1983; M.Müller, Art. Menschensohn im Neuen Testament, RGG4 5 (2002) 1098–1100; N.Perrin, Christology*, 1974; ders., Was lehrte Jesus wirklich? 1972, 182–227; G.Vermes, Jesus der Jude, 1993, 144–174; A.Vögtle, Die „Gretchenfrage“ des Menschensohnproblems, 1994. 59 Einen Überblick über die Diskussion zum „Menschensohn“ geben: M.Müller, Der Ausdruck ‚Menschensohn‘ in den Evangelien, 1984; A.Vögtle. Art. Menschensohn, NBL 2 (1995) 766–772. D.R.Burkett, The Son of Man Debate, 1999.
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5.1 Zwei Sprachtraditionen: Menschensohn als Alltags- oder Visionssprache? a) Der alltagssprachliche Ausdruck „Menschensohn“
Der Menschensohn, ho hyios tou anthrōpou, ist Übersetzung des aramäischen bar-nāschā’ ()בּר ־נָ ָשׁא ַ oder seines hebräischen Äquivalent ben-’ādām (ן־א ָדם ָ )בּ. ֵ Der griechische Begriff begegnet 110mal in der Septuaginta, immer ohne Artikel als „Menschensohn“ (hyios anthrōpou). In der Jesusüberlieferung ist er dagegen durchgehend durch Artikel zweifach determiniert als „der Sohn des Menschen“,60 so dass nur eine bestimmte Person gemeint sein kann. Ansonsten bedeutet der Begriff (1) generell den Menschen, (2) indefinitiv irgendeinen Menschen und selten (3) „ich“ im umschreibenden Sinn, wobei umstritten ist, ob eine Umschreibung für „ich“ vorliegt oder ein bewusst zweideutiger Sprachgebrauch. Ein Beispiel für den offenen Sprachgebrauch ist: o
Rabbi Simeon ben Jochai sagte: ‚Wenn ich auf dem Berg Sinai gestanden hätte, als Israel die Tora gegeben wurde, hätte ich den Barmherzigen gebeten, für bar nascha zwei Münder zu schaffen: einen für das Studium der Tora und einen für den Lebensunterhalt‘. (jBer 3b)61
Hier macht der Sprecher eine allgemeine Aussage über den Menschen, schließt sich aber selbst ein, da er sich ganz der Thora widmen will. Eine Parallele stammt erst aus den Targumim in nachneutestamentlicher Zeit: Dasselbe Wort Kains wird dort einmal mit „Der Mensch (bar nasch) kann sich nicht, o Herr, vor dir verbergen!“ (Kairoer Targumfragment zu Gen 4,14), ein anderes Mal mit „Ich kann mich nicht verbergen“ (Tg Neofiti zu Gen 4,14) wiedergegeben. Das erinnert an die Synoptiker, in denen viele Menschensohnworte Parallelen haben, in denen ein „Ich“ an die Stelle des „Menschensohnes“ tritt.62 b) Der visionssprachliche Ausdruck „wie ein Menschensohn“
Nun begegnet der Ausdruck „Menschensohn“ in Apokalypsen als himmlische Gestalt, die mit einem Menschensohn verglichen wird. „Menschensohn“ ist hier kein Titel, sondern ein Vergleich, der auf eine hoheitliche Gestalt als einen „Menschenähnlichen“ weist, dem die Weltherrschaft übertragen wird. Grundtext dieses visionssprachlichen Ausdrucks ist Dan 7. Er schildert die Überwindung der Meder, Perser, Babylonier und Syrer durch Gott. Diese Weltmächte werden durch Löwe, Bär, Panther und ein Untier symbolisiert. Erst nach deren Vernichtung wird die Herrschaft einer Gestalt übertragen, die „wie ein Menschensohn“ aussieht:
60 Ausnahmen: Joh 5,27; Hebr 2,6 (ein Zitat von Ps 8,5); Apk 1,23; 14,14 (in Anlehnung an das AT). 61 Zit. n. G.Vermes, Jesus der Jude, 1993, 149; vgl. C. Colpe, ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου* (1969), 406 A. 20. 62 J.Jeremias, Die älteste Schicht der Menschensohnlogien, ZNW 58 (1967) 159–172.
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… und siehe, mit den Wolken des Himmels kam einer, der einem Menschensohn glich, und gelangte bis zu dem Hochbetagten, und er wurde vor ihn geführt. Ihm wurde Macht verliehen und Ehre und Reich, dass die Völker aller Nationen und Zungen ihm dienten. Seine Macht ist eine ewige Macht, die niemals vergeht, und nimmer wird sein Reich zerstört. (Dan 7,13f)
Die im Danielbuch folgende Deutung interpretiert das Geschehen zunächst als Machtübertragung an die Engel als „Heiligen des Höchsten“ (7,18), dann auf das Volk Israel (7,27). Der Menschensohn wird so zur Chiffre für Israel. Weil die Tiere in Dan 7 Symbole für Weltmächte sind, wird auch ihre Gegenfigur, der „Menschensohn“, ein Kollektiv meinen. Aber sie ist mehr als das: Denn wie die Tiere nur „wie“ ein Löwe, Bär und Panther erscheinen, weil hinter ihnen nicht Tiere stehen, so steht auch hinter dem, der „wie“ ein Mensch erscheint, kein Mensch, sondern ein Engel als ein himmlisches Wesen (vgl. Dan 8,15; 10,16.18; ApkAbr 10,5).63 Im weiteren Text repräsentiert er wie ein Völkerengel das Volk Israel in einem sozialmythischen Parallelismus: Parallel zur Machtübertragung im Himmel soll nämlich bald eine Machtübernahme auf Erden geschehen: Israel wird die Weltherrschaft antreten. Der „Menschenähnliche“ im Himmel hat daher auch einen symbolischen Sinn: Die bisherigen Weltreiche waren „tierisch“, das neue wird „menschlich“ sein. Dabei entspricht der Gegensatz zwischen Mensch und Tier nicht alttestamentlichem Denken, sondern eher der griechischen Kultur.64 Die Bilderreden des äthHen 37–71 und 4Esr 13 aktualisieren Dan 7. Die Bilderreden sind eine jüdische Schrift, christliche Züge fehlen. Da alle Teile des äthHen in Qumran belegt sind, jedoch nicht die Bilderreden, ist eine Entstehung nach dem NT denkbar, weil aber die Tempelzerstörung nicht erwähnt wird, ist eine Entstehung vor 70 n. Chr. wahrscheinlich. 4Esr schaut dagegen auf den jüdischen Krieg als Problem der Theodizee zurück. Da äthHen 37ff und 4Esr 13 in vielen Zügen gegen Dan 7 übereinstimmen, lässt sich eine gemeinsame Tradition erschließen, die älter als beide Überlieferungen ist.
63 Vgl. T.B.Slater, One Like A Son of Man in First-Century CE Judaism, NTS 41 (1995) 183–198. 64 O.Keel, Die Tiere und der Mensch in Daniel 7, in: O.Keel/U.Staub (Hg.), Hellenismus und Judentum. Vier Studien zu Daniel 7 und zur Religionsnot unter Antiochus IV., 2000, 1–29, S. 28: „Die scharfe Unterscheidung zwischen Tier und Mensch … ist nicht altorientalisch, altägyptisch oder alttestamentlich, sondern griechisch (Xenophon), besonders aristotelisch und stoisch“.
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Dritter Teil: Das Wirken und die Verkündigung Jesu
Bilderreden äthHen 37–71
4Esra 13
1) Der Bezug auf Dan 7,13: Einführung durch Vergleich
Vergleich mit einem Menschen: Der Menschensohn wird wie in Dan 7,13 als einer, der „wie das Aussehen eines Menschen war“, eingeführt (46,1). Weitere Stellen (wie „dieser Menschensohn, den du gesehen hast“; 46,4 u.ö.) beziehen sich auf ihn zurück.
Vergleich mit einem Menschen: Der „Mensch“ wird in Anlehnung an Dan 7,13 als „etwas wie die Gestalt eines Menschen“ eingeführt (13,3). Die weiteren Belege für „diesen Menschen“ (13,3) und „jenen Menschen“ (13,12) beziehen sich auf ihn als individuelle Gestalt zurück.
2) Identifikation mit dem Messias
Menschensohn = Messias? Zwei Mal wird der Menschensohn vielleicht mit dem Messias identifiziert (48,10; 52,4). Meist heißt er einfach der „Erwählte“, seltener der „Gerechte“. Er verdankt seine Würde Gott.
Mensch = „Messias und Sohn“: Gott nennt den „Menschen“ „meinen Sohn“ (13,37.52) und identifiziert ihn mit „meinem Sohn, dem Messias“, der nach einer Heilszeit von 400 Jahren sterben (und wohl auch auferstehen) wird (7,28f).
3) Präexistenz des Menschensohns
Präexistenz vor der Schöpfung: Vor der Schöpfung wurde der Menschensohn genannt (48,3), Henoch schaut ihn im Himmel.
Präexistenz vor Erscheinen: Der „Mensch“ wurde von Gott „lange Zeit aufbewahrt“ (13,26): Er existiert lange vor seinem endzeitlichen Auftreten.
4) Die aktive Rolle im Gericht
Der Menschensohn als Richter: Während der Menschensohn in Dan 7 erst nach Vernichtung der Weltmächte die Herrschaft antritt, vollzieht er in 46,4ff das Gericht über die Könige (vgl. 62,1ff).
Der „Mensch“ als Krieger: Er vernichtet in einem endzeitlichen Krieg die Heiden. Seine militanten Züge sind gegenüber äthHen 37ff gesteigert. Aus dem endzeitlichen Gericht ist ein endzeitlicher Krieg geworden.
5) Der Gegensatz zu Tieren
Der Gegensatz zu Herrschern: Die Herrscher und Weltreiche werden gerichtet, aber nicht durch Tiere symbolisiert, die Chaostiere der Schöpfung, Leviathan und Behemoth, werden am Ende überwunden (60,7 f.24).
Der Gegensatz zum Adler = Rom: Der „Mensch“ tritt in Kap. 13 erst auf, nachdem der Adler als Repräsentant des römischen Reichs durch den Löwen, den Messias aus den Nachfahren Davids, besiegt worden ist (12,1–34).
Da drei Merkmale (Nr. 2–4) von äthHen 37ff und 4Esr 13 gegen Dan 7 in etwa übereinstimmen, kann man schließen: Die Vorstellung einer apokalyptischen Richtergestalt wurde nicht nur aus Dan 7 herausgelesen, sondern auch in diesen Text hineingelesen.65 Unsere Frage ist nun: Lassen sich die Menschensohnworte Jesu eher von der alltags- oder der visionssprachlichen Tradition her verstehen?
65 J.J.Collins, The Son of Man in First-Century Judaism, NTS 38 (1992) 448–466. Ein weiterer Text für das Nachleben von Dan 7 in messianischen Hoffnungen könnte der sog. Gottessohntext 4Q 246 sein, der sich aber wohl auf einen heidnischen Herrscher bezieht.
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5.2 Die Worte vom Menschensohn in der Jesusüberlieferung: Der Befund
Aussagen zum Menschensohn haben in der Jesusüberlieferung vier Merkmale: 1. Menschensohnworte begegnen fast nur im Munde Jesu. Ausnahmen sind im NT Visionen des Menschensohns im Himmel (Apg 7,56; Apk 1,13; 14,14; vgl. Euseb h.e. 2,23,13). In Joh 12,34 fragt die Menge, wer der „Menschensohn“ ist und bezieht sich dabei auf Jesu Aussage vom Menschensohn in 12,23 zurück! Immer spricht Jesus von ihm wie von einer anderen Gestalt. Trotzdem haben 37 von 51 Menschensohnworte in den Evangelien Parallelen in Ich-Form (J. Jeremias). 2. Menschensohnworte sind auf die Evangelien beschränkt, begegnen hier in allen Schichten, aber nur einmal im Thomasevangelium (ThEv 86 = Mt 8,20). Dort ist vom Menschen im Unterschied zu den Tieren die Rede. Der Begriff fehlt ferner in der Briefliteratur mit Ausnahme von Barn 12,10, wo er ein Gegenbegriff zum „Sohn Gottes“ geworden ist. 3. Der Menschensohnbegriff ruft keinen Streit hervor, ist aber ein Rätsel: Nur einmal fragen Jesu Zuhörer: „Wer ist dieser Menschensohn?“ (Joh 12,34). Kein urchristliches Glaubensbekenntnis kennt den Menschensohnbegriff; doch hat er einen Sitz im Leben im status confessionis (vgl. Mk 8,38; Apg 7,56; Joh 9,35ff; Euseb h.e. 2,23,13). Das Bekenntnis zum Menschensohn bedeutet Konflikt mit der Umwelt! 4. Im Unterschied zu der in Dan 7 und 4Esr 13 vorliegenden Tradition gibt es in der Jesusüberlieferung keinen Gegensatz zwischen dem „Menschensohn“ und den wilden „Bestien“. Vielmehr wird die Geborgenheit der Tiere mit der Heimatlosigkeit des „Menschen“ kontrastiert (Mt 8,20). Darüber hinaus lassen sich drei Gruppen von Menschensohnworten mit jeweils spezifischen Zügen unterscheiden: Worte vom gegenwärtig wirkenden, zukünftigen und leidenden Menschensohn. a) Die Worte vom gegenwärtig wirkenden Menschensohn
Die Worte vom gegenwärtigen Menschensohn haben im MkEv und in Q verschiedene Tendenzen: Das MkEv spricht von seiner Vollmacht zu Sündenvergebung (2,10) und Sabbatbruch (2,28). Der Menschensohn steht über Normen und Einschränkungen. Die Logienquelle stellt ihn dagegen als Außenseiter dar: Der Menschensohn hat keine Heimat (Mt 8,20 par.), wird als Fresser und Weinsäufer kritisiert (Mt 11,18) und verlästert (Mt 12,32). Alle diese Worte vom gegenwärtig wirkenden Menschensohn gehören zur alltagssprachlichen Tradition: In Mk 2,27f stehen „Menschen“ und „Menschensohn“ parallel, in Mt 8,21 wird der Unterschied zwischen Mensch und Tier betont. Mt 11,18 könnte indefinit gemeint sein: Der Täufer wurde als Asket abgelehnt; dann aber wurde (irgendein) Mensch als Fresser und Weinsäufer kritisiert. Nicht der vom Täufer angekündigte Stärkere kam, sondern „nur“ ein problematischer Mensch wie Jesus! Das Wort von der Vollmacht des Menschensohns (Mk 2,10) wird im MtEv im allgemeinen Sinn verstanden: Die Menge preist Gott, weil er solche Vollmacht „den Menschen“ gegeben hat (Mt 9,8).
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Dritter Teil: Das Wirken und die Verkündigung Jesu
b) Die Worte vom zukünftigen Menschensohn
Während die alltagssprachliche Tradition Worte vom gegenwärtigen Menschensohn verständlich macht, sind manche Worte vom zukünftigen Menschensohn nur auf dem Hintergrund der visionssprachlichen Tradition zu verstehen. 1. Eschatologische Korrelative setzen den Menschensohn in eine typologische Beziehung zu Gestalten der Vergangenheit. Der Menschensohn wird mit Jona verglichen (Lk 11,30). Seine „Tage“ werden mit den Katastrophen zur Zeit Noahs (Lk 17,26) und Lots (17,28) korreliert. 2. Ein eschatologischer Rechtssatz stellt das Ich Jesu betont dem zukünftigen Menschensohn gegenüber: „Wer sich meiner und meiner Worte schämt …, dessen wird sich auch der Menschensohn schämen …“ (Mk 8,38). Anklänge an Dan 7,13 sind: Der Menschensohn kommt in der Herrlichkeit seines Vaters mit seinen heiligen Engeln! Lk 12,8 bezeugt ebenfalls die auffällige Differenzierung von „Ich“ und Menschensohn: „Wer mich bekennt vor den Menschen, den wird auch der Menschensohn bekennen vor den Engeln Gottes“. Jesus ist hier als Menschensohn weniger Richter als Zeuge im Gericht. 3. Aussagen vom zukünftigen „Sehen“ des Menschensohns: Jesus kündigt seinen Richtern an, sie würden den Menschensohn zur Rechten Gottes sitzen und mit den Wolken des Himmels kommen sehen (Mk 14,62). Hier wird auf Dan 7,13 zurückgegriffen, aber aus jemandem, der bei Daniel mit einem „Menschensohn“ verglichen wird, ist „der Sohn des Menschen“ geworden. Mit noch stärker apokalyptischen Farben wird in der synoptischen Apokalypse das zukünftige „Sehen“ des Menschensohns als Aktualisierung von Dan 7,13 f. geschildert (Mk 13,26). Ein Vergleich mit den jüdisch-apokalyptischen Visionstexten zeigt wichtige Unterschiede: Apokalyptische Texte
Jesusworte
Vom Menschensohn wird bei seiner Einführung in einem Vergleich gesprochen: „einer wie ein Menschensohn“, eine (Engels)-Gestalt, die kein Mensch ist, sondern mit ihm verglichen wird.
Im NT wird immer von „dem Sohn des Menschen“ gesprochen. Ein Vergleich liegt nur in Apk 1,13; 14,14 vor („einer der ähnlich einem Menschensohn ist“). Hier fehlen die Artikel.
Der Menschenähnliche wird immer in Visionen geschaut, die Einblick in eine andere Welt und in die Zukunft geben.
Visionen begegnen nur bei Stephanus (Apg 7,56), Jakobus (Eus h.e. 2,23,13) und in Apk 1,13. Angekündigt wird ein reales Sehen, keine Vision (Mk 14,62; 13,26).
Alle Menschensohn-Aussagen sind literarisch an die Form des Visionsberichts in Geheimschriften gebunden.
Die Aussagen sind „alltagsnahe“ Logien, die als Teil einer mündlichen Verkündigung Jesu dargestellt werden.
Der Menschensohn tritt seine Herrschaft nach Vernichtung der Feinde Gottes an, die Gott vollzieht (Dan 7). In äthHen 37ff und 4Esr 13 ist er aktiv an ihr beteiligt und übernimmt insofern die Rolle Gottes.
Der Menschensohn hat keine Vernichtungs-, sondern primär eine Rettungsaufgabe: In Mk 13 soll er die Erwählten einsammeln. In Mt 25,31–46 belohnt er die Gerechten, aber verurteilt auch die Ungerechten.
In Dan 7 werden die feindlichen Mächte als bestialische Tieren symbolisiert. In 4Esr 12 begegnet von diesen Tieren nur ein Adler, der das römische Reich darstellt
Der Menschensohn wird nicht feindlichen Tieren entgegengesetzt, im Gegenteil: Er wird wegen seiner Heimatlosigkeit den geborgen lebenden Tieren entgegengesetzt (Mt 8.20).
Jesus als Gesandter: Sein Sendungsbewusstsein
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Gemeinsam ist den apokalyptischen und urchristlichen Texten ein sozialmythischer Paralle lismus: Das Geschick des Menschensohns entspricht dem Geschick seiner Anhänger. Die Vollmacht und die Außenseiterrolle des Menschensohns, sein Leiden und seine Erhöhung entsprechen genau dem, was Jesusanhänger erfahren und erhoffen. c) Die Worte vom leidenden Menschensohn
Die Worte vom leidenden Menschensohn sprechen von dem „Ausgeliefertwerden“ (paradidonai) des Menschensohns (vgl. Mk 9,31; 14,41; Lk 24,7) und seinem „Leiden“ (Mk 8,31; 9,21; Lk 17,25). Der Ausdruck „Menschensohn“ eignet sich für Leidensweissagungen, da der Begriff des „Menschen“ Sterblichkeit impliziert (vgl. Jes 51,12; Ps 146,3f; Ijob 25,6; 1QS XI,20; 1QH IV,30). Vielleicht hat Jesus angesichts allzu großer messianischer Erwartungen an ihn betont: Ich bin nur ein Mensch und muss wie alle Menschen sterben. Vielleicht wurden daraus später Leidensweissagungen zur Bewältigung der Hinrichtung Jesu. 5.3 Der historische Jesus und der Ausdruck „Menschensohn“
Der auf das Aramäische zurückgehende Ausdruck „Menschensohn“ ist in allen Traditionskomplexen der Jesusüberlieferung bezeugt (Mk; Q; MtS vgl. 10,23; 25,31ff; LkS vgl. u. a. 18,8; JohEv; ThEv 86). Schon im Urchristentum galt er als ein charakteristisches Wort der Sprache Jesu. Darum findet er sich nur in Jesusworten, wurde aber eben deshalb in Worte von ihm eingetragen, die ursprünglich keine Menschensohnworte waren (vgl. Lk 6,22 mit Mt 5,11; Lk 22,28ff mit Mt 19,28). Die Mehrfachbezeugung spricht eindeutig für ihre Authentizität. Umstritten ist, welche Gruppe von Menschensohnworten Jesus zuzuschreiben ist und was Jesus mit ihnen meinte. Verschiedene Lösungen werden diskutiert. a) Die Echtheit von Worten aus allen drei Gruppen vertritt C.Colpe66 – freilich mit der Einschränkung, dass der Menschensohntitel erst nachträglich in authentische Leidensweissagungen eingedrungen sei. Er beruft sich auf das religionsgeschichtliche Kriterium der „Unableitbarkeit“: Die synoptische Menschensohnvorstellung ließe sich nicht aus Dan 7,13 ableiten. Die Menschensohnvorstellung der Bilderreden im äth Henoch sei auf einen esoterischen Kreis beschränkt geblieben; die des 4Esra gehöre zur politischen Messias-Idee. Daraus folge, „daß hier eine von Daniel, 4 Esra und Henoch unabhängige, also eine vierte Tradition sichtbar wird, welche die Variabilität der Menschensohnerwartung im Judentum anzeigt“ (C.Colpe, 440f). Inhaltlich hat sie markante Züge: Jesus redet dort von sich als dem gegenwärtigen Menschensohn, wo er sich Gott (Mk 2,20), einem anderen Menschen (Mt 11,18f) oder den Tieren (Mt 8,20) gegenüberstellt. Er spricht gleichzeitig von einem zukünftigen Menschensohn als „Symbol“ seiner „Vollendungsgewißheit“ (a. a. O., 443). Dabei betont er die Plötzlichkeit und Öffentlichkeit der Erscheinung des Menschensohns (Mt 24,27.30.37; Lk 17,30), der den Bedrängten Recht schafft (Lk 18,8), seine Richter richten 66 C.Colpe, Art. ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου* (1969), 403–481. Für die Echtheit aller drei Gruppen von Menschensohnworten plädieren: V.Hampel, Menschensohn und historischer Jesus, 1990; P.Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd 1, 1992, 107–125.
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wird (Lk 22,69 par.) und kommen wird, bevor die Jünger ganz Israel mit ihrer Botschaft erreicht haben (Mt 10,23). Daher ist ständige Wachsamkeit geboten (Lk 21,36). Nur die soeben angeführten elf Menschensohnworte hält C.Colpe für authentisch. b) Für die Unechtheit aller Worte vom Menschensohn treten P.Vielhauer und A.Vögtle ein.67 Jesus habe eine rein theozentrische Eschatologie vertreten. Er erwartete das Reich Gottes als so nahe, dass zwischen ihm und dem Kommen Gottes kein Raum für eine Zwischengestalt bleibe. Aussagen vom Reich Gottes und vom Menschensohn seien nirgendwo organisch in einem Logion aufeinander bezogen. Dagegen muss man einwenden, dass „Menschensohn“ und „Reich Gottes“ in Dan 7,13f sehr wohl verbunden sind. Eine prinzipielle Unvereinbarkeit liegt nicht vor. c) Differenzierungen zwischen verschiedenen Gruppen von Menschensohnworten. Meist werden die drei Gruppen von Menschensohnworten unterschiedlich beurteilt. Wenn man die Worte vom leidenden Menschensohn als vaticinia ex eventu unberücksichtigt lässt, gibt es drei Möglichkeiten: Entweder sind Worte vom gegenwärtigen Menschensohn authentisch oder die vom zukünftigen oder Worte aus beiden Gruppen. Die Ostererfahrung ist als Ursprung der Menschensohnchristologie schwer vorstellbar, wenn man akzeptiert, dass „der Sohn des Menschen“ kein fester Titel für eine himmlische Hoheitsgestalt war, sondern einen irdischen „Menschen“ bedeutet – und Dan 7,13 ein Vergleich mit einer himmlischen Gestalt bringt, der „wie ein Menschensohn“ ist und dadurch den überirdischen Charakter dieser himmlischen Engelsgestalt herausstellen soll. Nun klingt Dan 7,13 in den Jesusworten nie in der Form an, dass von einer menschenähnlichen Gestalt „wie ein Menschensohn“ die Rede ist. Die Rede ist immer von „dem Sohn des Menschen“, d. h. von einem konkreten Menschen. Zur Deutung der Erhöhung lag dieser Begriff fern, da er dezidiert das „Menschliche“ betont. Um in Dan 7,13 den „menschenähnlichen Engel“ mit einen „Menschen“ wie Jesus zu identifizieren, muss der Begriff „Menschensohn“ schon vorher mit Jesus verbunden gewesen sein. Allein aus der Alltagssprache ist diese Verbindung des Ausdrucks „Menschensohn“ mit Jesus nicht ableitbar. Warum sollte ein Ausdruck, der jeden Menschen meinen konnte, so stark mit Jesus verbunden werden, dass man ihn auch nach Ostern festhielt, als Jesus für die Christen weit mehr als ein gewöhnlicher Mensch war? Jesus muss den Alltagsausdruck emphatisch gebraucht haben, so dass er zu seinem hoheitlichen „Titel“ wurde – etwa dadurch, dass er mit ihm übergroße Erwartungen an ihn korrigierte: Andere Menschen mochten Wunder von ihm erwarten, mochten in ihm den „Stärkeren“ erhoffen, mochten in seine Nachfolge drängen – er korrigierte solche Erwartungen durch Betonung seines menschlichen Status als „Menschensohn“ (Mk 2,10; Mt 11,18f; Mt 8,20).68 Zum christologischen Titel wurde der Ausdruck wohl auch dadurch, dass Jesus ihn christologischen Erwartungen entgegensetzte und ihn damit für seine Anhänger zum geheimnisvollen Hoheitsnamen machte. 67 P.Vielhauer, Gottesreich und Menschensohn* (1957). 68 So auch M.Wolter, Jesus von Nazaret, 2019, 265: Jesus baut „mit dieser Selbstbezeichnung einem Missverständnis vor: Er ist nicht ein auf die Erde herabgekommenes himmlisches Wesen, sondern ein Mensch wie jeder andere.“
Jesus als Gesandter: Sein Sendungsbewusstsein
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Petrus bekennt Jesus als Messias, Jesus aber antwortet mit der Weissagung vom Leiden des Menschensohns (Mk 8,29ff). Jesus wird vor dem Synedrium nach seiner Messianität gefragt, aber er antwortet mit einem Menschensohnwort (Mk 14,61f). Diese christologische Aufwertung des Alltagsausdrucks „Menschensohn“ wurde dadurch gefördert, dass Jesus nach den Evangelien auch von einem zukünftigen Menschensohn sprach, der mit der eschatologischen Wende offenbar werden sollte. Wir müssen diese Worte Jesu im Lichte der Ankündigung eines Stärkeren durch den Täufer verstehen. Der Täufer hatte das Scheitern messianischer Erwartungen in Motivation zur Erneuerung Israels verwandelt. Die entscheidende Wende zum Heil wollte er dem nach ihm kommenden „Stärkeren“ überlassen. Jesu Verkündigung des anbrechenden Gottesreiches, das schon jetzt in Heilungen seine Macht zeigte, hat die Erwartungen geweckt, dass der Stärkere gekommen ist. Aber auch Jesus weicht aus. Wenn er sagt: „Selig ist, wer sich nicht an mir ärgert!“ meint er: Selig ist, wer nicht daran Anstoß nimmt, dass Jesus diese übergroßen Erwartungen nicht erfüllt! Es ist genug, wenn Heilungen geschehen und Armen die gute Botschaft verkündigt wird. (Mt 11,2–6) Wenn Jesus wie der Täufer messianische Erwartungen auf eine nach ihm kommende Gestalt umgelenkt hat und diese Gestalt den „Menschensohn“ nannte, hat er den alltagssprachlichen Ausdruck „Menschensohn“ mit der visionssprachlichen Tradition von einem Himmelswesen verbunden und dadurch den Alltagsausdruck aufgewertet. Wenn er dabei den visionssprachlichen Vergleich mit einem Menschen durch die determinierte Bezeichnung „der Sohn des Menschen“ ersetzt, so trägt er den alltagssprachlichen Ausdruck für einen konkreten Menschen in die Visionen vom zukünftigen Menschensohn ein. Kein menschenähnlicher Engel wie ein Mensch, sondern ein „Mensch“ wird die entscheidende Rolle spielen: Dieser „doppelte“ Menschensohnbegriff ist eine Analogie zur „doppelten“ ReichGottes-Eschatologie, die zugleich gegenwärtig und zukünftig ist. Die entscheidende Pointe ist: Jesus stellt sich als irdischer Mensch auf eine Stufe mit dem zukünftigen Menschensohn. Darin weicht er vom Täufer ab, der sich gegenüber dem nach ihm kommenden Stärkeren abwertete. Es gibt dann zwei Möglichkeiten, wie sich Jesus sein Verhältnis zum überirdischen Menschensohn vorgestellt hat. Er könnte ihr Verhältnis als zweistufiges Wirken ein und derselben Gestalt vorgestellt haben. Dann hätte er so, wie Henoch am Ende der Bilderreden in äthHen 70–71 in die Rolle des Menschensohns eingesetzt wird, erwartet, zum Menschensohn eingesetzt zu werden. Jesus hätte ein futurisches Selbstbewusstsein gehabt (R.Otto).69 Er wäre aber weit mehr als ein Vorläufer des zukünftigen Menschensohns gewesen, sondern der von Gott erwählte Kandidat für diese Rolle. Aber seine Aussagen klingen so, als existiere schon jetzt im Himmel ein Menschensohn – so wie Henoch ihn in den Bilderreden schon jetzt im Himmel schaut (äthHen 36–69), bevor ihm am Ende offenbart wird, dass er dieser Menschensohn ist (äthHen 70–71). Deshalb hat sich Jesus auch als Repräsentant dieses himmlischen Menschensohns schon jetzt auf Erden verstanden. Er konnte dabei einen sozialmythischen Parallelismus zwischen Himmel und Erde zu Ende führen. Der Menschen69 R.Otto, Reich Gottes und Menschensohn. Ein religionsgeschichtlicher Vergleich, 21934.
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ähnliche in Dan 7 repräsentiert nämlich das auf Erden lebende Gottesvolk, der Menschensohn in den Bilderreden des Henoch nur noch einen Teil des Volkes nämlich die „Gemeinde der Gerechten“. Jesus aber ist der einzige Repräsentant des himmlischen Menschensohns auf Erden wie in Mk 8,38f (H.Merklein).70 Jesus war wahrscheinlich beides: einerseits der Kandidat für die Rolle des zukünftigen Menschensohns, andererseits schon jetzt der irdische Repräsentant des gegenwärtigen Menschensohns im Himmel. Entscheidend ist: Er zeigt sein großes Hoheitsbewusstsein dadurch, dass er sich die gleiche Rolle als „der Sohn des Menschen“ zuschrieb.71 Während Jesus in seiner Rolle als Lehrer und Prophet vor allem die Beziehung zu Gott durch seine charismatische Vollmacht öffnet und seine Rolle als Messias vor allem mit der Hoffnung auf Veränderung der Welt verbunden ist, stellt die Rolle des Menschensohns die Beziehung Jesu zu allen Menschen dar. Sie sind seine Brüder und Schwestern. Wenn er über sie urteilt, stellt sich der Menschensohn ihnen gleich. Denn hier gilt Mt 25,40: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan“. Entscheidend für das Verständnis von Jesu Botschaft ist nicht die Frage, ob und wie Jesus mit dem himmlischen Menschensohn identisch ist, entscheidend ist, dass er ihm gleich ist. Mit seinem Bewusstsein vom Menschensohn zieht ein Gedanke der Gleichheit in den Himmel ein.
6. Hermeneutische Überlegungen Unser Ergebnis ist: Jesus hat in verschiedenen Rollen seine Hoheit zum Ausdruck gebracht. Als Lehrer und Prophet hatte er ein menschliche Dimensionen übersteigendes Vollmachtsbewusstsein, in dem eine Christologie implizit enthalten ist. Er weckte im Volk die Hoffnung, er sei der Messias, und bei den Herrschern die Angst, er werde dadurch Unruhe schaffen. Auf die von ihm „evozierte Christologie“ antwortete Jesus „explizit“ mit der Aussage, dass er der Menschensohn sei, d. h. ein Mensch wie alle anderen Menschen, zugleich aber Repräsentant des gegenwärtigen „Menschensohns“ im Himmel und Kandidat für dessen zukünftige Rolle. Für den erinnerungshistorischen Ansatz ist entscheidend, dass diese Traditionen impliziter, evozierter und expliziter Christologie dasselbe Erinnerungsmuster mit zwei Merkmalen bezeugen: Erstens lässt Jesus andere Menschen an seinem hoheitlichen Status partizipieren, zweitens vertraut er auf Gott, der allein Status und Rolle zuteilt. Statuspartizipation und Statuskontingenz prägen die christologischen Erinnerungsmuster.
70 H.Merklein, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft, 1983, 152–164. 71 Für die Möglichkeit einer solchen Identifizierung sei darauf hingewiesen, dass Paulus von sich selbst in 2Kor 12,1ff in der dritten Person wie von einem anderen Menschen spricht, wenn er von seiner Entrückung in den Himmel berichtet.
Jesus als Gesandter: Sein Sendungsbewusstsein
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a) Das partizipatorische Erinnerungsmuster
Nach dem partizipatorischen Erinnerungsmuster hat Jesus eine alle Menschen übertreffende Hoheit, an der er andere Menschen teilhaben lässt. Damit bringt er eine ungewöhnliche Tendenz zur Gleichheit in die Welt eschatologischer Bilder und Träume. Wir finden diese Tendenz bei Jesus sowohl in seiner impliziten, seiner evozierten und seiner expliziten Christologie. Schon die Aussagen, die implizit seine Hoheit bezeugen, bezeugen diese Gleichheitstendenz. Jesus erwartet das „Königreich Gottes“, sprach aber nie von einem „König“ in diesem Reich. Denn Menschen finden ihn ihm keinen König, sondern einen „Vater“, für den sie Söhne und Töchter sind.72 Das Königreich Gottes ist ein Reich ohne König. Das Bildfeld hat hier eine Leerstelle. Daraus könnte man schließen, dass Jesus die oberste Rolle des Königs für sich freihalten wollte.73 Aber in anderen Gleichnissen hat sich Jesus selbst in untergeordnete Rollen dargestellt, z. B. als Verwalter, der den Lohn den Arbeitern auszahlt oder die Schulden seines Herrn erlässt. Der Grund für die Leerstelle im Bildfeld ist vielmehr, dass für Jesus Gott vor allem ein „Vater“ ist. Dieses Familienmuster verändert das Herrschaftsmuster. In Mt 8,10f entwirft Jesus die Vision von den Menschen, die aus allen Himmelsrichtungen in die Gottesherrschaft strömen, dort aber keinen Herrscher finden. Vielmehr werden sie mit Abraham, Isaak und Jakob wie eine Familie an einem Tisch essen. Die Gottesherrschaft wird zum Gastmahl. Zwar gibt es auch bei Gastmählern eine Rangordnung (vgl. Lk 14,7–11), aber Gast zu sein, ist eine große Anerkennung. Aufschlussreich dafür ist die letzte Prophetie Jesu, er werde von der Frucht des Weinbergs nicht mehr trinken, bis er davon neu in der Gottesherrschaft trinkt (Mk 14,25). Erstaunlich ist: Jesus wird in der Gottesherrschaft den Wein nicht austeilen, sondern Teilnehmer am Mahl sein. Jesus führt das Gottesreich herbei, aber er lässt andere an ihm gleichwertig partizipieren. Jesus hat ferner die Erwartung hervorgerufen, er sei der Messias. Er hat die von ihm evozierte Messiaserwartung in einen Gruppenmessianismus verwandelt. Eigentlich soll ein Messias die Feinde des Volkes besiegen. Jesus aber lässt seine Jünger nicht über andere Völker siegen, sondern ernennt sie zu Richtern über die zwölf Stämme (Mt 19,28/Lk 22,28–30). Die Zwölf sind gleichberechtigt. Sie sollen als einfache Fischer und Bauern über die anderen herrschen. Zweifellos steht Jesus über ihnen: Wer andere zu „Messiassen“ ernennen kann, ist mehr als ein Messias. Die Jünger partizipieren als Richter an seiner Hoheit. Umgekehrt wird Jesus im jüngsten Gericht nicht nur als Richter begegnen, sondern als Zeuge in einer Rolle, die er mit anderen teilt (Lk 11,31f). Wenn er sagt: „Wer mich bekennt vor den Menschen, den wird auch der Menschensohn bekennen vor den Engeln Gottes“ (Lk 12,8), schreibt 72 Nur im MtEv ist an wenigen Stellen von Gott als König die Rede: Die Bergpredigt verbietet das Schwören bei der „Stadt des großen Königs“ (Mt 5,35), die Parallele in Jak 5,12 weiß davon nichts. Im Gleichnis vom Hochzeitsmahl ist der Gastgeber ein König (Mt 22,2.u.ö.), in der lk Parallele ein „Herr“ und „Hausbesitzer“ (Lk 14,21). Das Gleichnis vom „Schalksknecht“ handelt einleitend von einem „König“ (Mt 18,23–35), spricht aber danach fünf Mal nur von einem „Herrn“. In Mt 17,24–27 wird Gott freilich indirekt mit einem König verglichen. 73 So die ansprechende These von D.C.Allison, Constructing Jesus*, 2010, 244 f.
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Dritter Teil: Das Wirken und die Verkündigung Jesu
er sich dieselbe Rolle zu, die er auch der Königin des Südens und den Niniviten im Gericht zuschreibt. Dabei geht die Rolle des Zeugen in die des Richters über. Denn die Zeugenaussagen der Königin und der Niniviten sind nach Lk 11,31f schon in sich eine „Verurteilung“, erst recht gilt das für die Zeugenaussage Jesu. Auch der mit messianischen Erwartungen verbundene Titel des „Sohn Gottes“ wird wie der Messiasbegriff egalitär transformiert: Jesus hat sich als Sohn Gottes verstanden, aber ebenso alle andere Menschen, die Gottes Willen erfüllen. Auch als der von Gott gesandte „Sohn“ ließ er seine Jünger an seiner Sendung partizipieren. Der Titel „Menschensohn“ ist der wichtigste Titel der expliziten Christologie. Auch hier teilt Jesus seine Hoheit Jesu mit anderen. Jesus stellt sich mit dem zukünftigen Menschensohn auf eine Stufe stellt, spricht von sich und ihm in gleicher Weise als „dem Sohn des Menschen“. Er erwartet im Unterschied zum Täufer keinen „Stärkeren“, zu dem er emporschaut, sondern einen, der den gleichen Rang als Menschensohn hat wie er selbst. In der Vision vom Gericht des Menschensohns in Mt 25 nennt der Menschensohn alle Menschen seine „Brüder“ und lässt sie an seiner Hoheit partizipieren. Das mag eine spätere Dichtung sein, sie ist aber insofern „wirkungsauthentisch“, als sie der Tendenz bei Jesus entspricht, dass ein „Mensch“ die anderen Menschen beurteilt. Das Verhältnis Jesu als Menschensohn auf Erden zum Menschensohn im Himmel mag ein Rätsel bleiben. Deutlich aber ist: Beide haben den gleichen Status und schließen in ihn alle Menschen ein. Die Aussagen mit impliziter, evozierter und expliziter Christologie sind somit alle von demselben Erinnerungsmuster geprägt: Jesus trägt eine Tendenz zur Gleichheit in die Welt der eschatologischen Bilder und Träume. Er verkündigt das gegenwärtig beginnende Gottesreich als Reich des Vaters. Deswegen lehrt er seine Jünger das Gebet: „Vater, dein Name werde geheiligt, dein Reich komme!“ In diesem Königreich ist Gott weniger ein Herrscher als ein „Vater“, für den die Menschen Söhne und Töchter sind oder werden können. Jesus lässt an seiner Hoheit andere Menschen partizipieren. b) Das Erinnerungsmuster statuskontingenter Hoheit
Das zweite Erinnerungsmuster besteht darin, dass sich Jesus seinen Status nicht selbst zuschreibt. Status wird in der Antike von einem Überlegenen verliehen. Das zeigt die antike Metapher des theatrum mundi, d. h. die Vorstellung, das Leben sei ein Theaterstück, in dem Gott jedem eine Rolle zugeteilt hat.74 Das Bild findet sich in Epiktets Handbüchlein der Moral: Erinnere dich, dass du ein Schauspieler in einem Drama bist; deine Rolle verdankst du dem Schauspieldirektor. Spiele sie, ob sie nun kurz oder lang ist. Wenn er verlangt, dass du einen Bettler darstellst, so spiele auch diesen angemessen; ein Gleiches gilt für einen Krüppel, einen Herrscher oder einen Durchschnittsmenschen. Denn das allein ist deine Aufgabe: die dir zugeteilte Rolle gut zu spielen, sie auszuwählen, ist Sache eines anderen. (ench. 17) 74 Zum Bild vom theatrum mundi, in dem Gott die Rollen verteilt, vgl. Epiktet, Fragm. 11; diss. 1,25,7ff; 3,22,59. Seneca Prov II,8f.
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Auch Jesus spricht im Bewusstsein einer solchen Statuskontingenz. Er sagt den beiden Söhnen des Zebedäus, als sie um die Ehrenplätze zu seiner Rechten und Linken bitten: „Zu sitzen aber zu meiner Rechten oder zu meiner Linken, das steht mir nicht zu, euch zu geben, sondern das wird denen zuteil, für die es bestimmt ist“ (Mk 10,40). Mit diesem Bewusstsein von Statuskontingenz konnte sich Jesus als Mensch verstehen und sagen „Was nennst du mich gut? Niemand ist gut außer dem einen und einzigen Gott!“ (Mk 10,18) – und trotzdem ein hohes Selbstverständnis von sich haben. Das Bewusstsein von „Statuskontingenz“ umschließt nämlich die Möglichkeit, dass Gott ihn weit über alle anderen Menschen hinaus erhöhen kann. Dieses Bewusstsein wurde im Judentum (d. h. bei Jesus und seinen Jüngern) durch den monotheistischen Glauben verschärft. Gott allein entscheidet letztlich darüber, was ein Mensch ist. Jesu nachösterliche Erhöhung zu Gott ist daher kein Verstoß gegen den Monotheismus. Ein konsequenter Monotheismus konnte sagen: Kein Mensch darf sich selbst oder einen anderen als Gottheit proklamieren, aber Gott hat die Freiheit, ihn zu sich zu erhöhen. Die ersten Christen erklärten sich das mit Worten von Ps 110,1: „Der Herr (= Gott) sprach zu meinem Herrn (= Christus): Setze dich zu meiner Rechten, bis ich deine Feinde unter deine Füße lege“ (Mk 12,36). Gott hat das Recht, das von ihm erlassene monotheistische Gebot seiner Alleinverehrung aufzuheben. Das kommt in einem Fragment des Tragikers Hezekiel zum Ausdruck, in dem Gott Mose auf seinen eigenen Thron im Himmel einsetzt.75 Wie aber wurden Menschen dessen gewiss, dass Gott jemandem einen so hohen Status verliehen hat? 1. Die erste Gewissheitsquelle waren Geheimoffenbarungen in der Vergangenheit, die in sakralen Schriften niedergeschrieben waren. Kein Mensch musste in der Gegenwart Einblick in den Himmel haben, dass Vorläufer in grauer Vorzeit solche Erfahrungen hatten, galt als plausibel. Für den Menschensohn schufen so z. B. die Visionen des Daniel, Henoch und Esra Plausibilität. 2. Eine zweite Gewissheitsquelle waren Kulterfahrungen. In gemeinsam gesungenen Psalmen und Liedern wurden Texte mit Messiaserwartung „plausibel“ wie die messianischen Psalmen Ps 2; 71; 110; PsSal 17; 4Q 491. Im Kult wird rituell die liminale Grenze zu einer „anderen Welt“ überschritten. 3. Eine dritte Gewissheitsquelle ist Personalcharisma. Charismatische Gestalten wie der „Lehrer der Gerechtigkeit“ schufen die Gewissheit, dass sie den Zugang zu Gott bahnten. Charismatiker konnten sich dabei auf alte Schriften und kultische Kontexte stützen, aber konnten auch unabhängig von institutioneller und traditioneller Autorität Gewissheit schaffen. Johannes der Täufer und Jesus stützten ihre Autorität nicht auf Geheimoffenbarungen in der Vergangenheit. Der Täufer schuf durch sein Charisma als Prediger und sein Taufritual Plausibilität. Jesus überzeugte Menschen durch die persönliche Vollmacht seiner Lehre (exousia Mk 1,22) und die symbolischen Handlungen wie die Mahlgemeinschaft mit Außenseitern. Sein Charisma war die entscheidende Plausibilitätsquelle. 75 Fragment des Tragikers Hezekiel übs. nach E.Vogt, Tragiker Ezechiel, 1983,124, Zeile 68–82.
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Dritter Teil: Das Wirken und die Verkündigung Jesu
Was wir historisch als Ausdruck von Statuskontingenz gedeutet haben, ist sachlich unbedingtes Vertrauen in Gott. Alle Menschen sind letztlich das, was sie im Urteil Gottes sind. Auch Jesus konnte es Gott überlassen zu bestimmen, wer er ist und wer er sein wird. Die historische Wissenschaft ist daher unsicher, genau zu bestimmen, wie sich Jesus selbst verstanden hat. Was für die Wissenschaft Unsicherheit ist, war bei Jesus Vertrauen in Gott. Dieses Vertrauen konnte offenlassen, wer er eigentlich war. Jesus selbst hat sich gegenüber dem Messiastitel wahrscheinlich spröde verhalten, zeigte aber trotzdem ein hohes messianisches Selbstverständnis, wenn er seine Jünger zu „Messiassen“ ernannte. Er schrieb sich als Sohn eine besondere Beziehung zu Gott als Vater zu, aber vermittelte auch anderen Menschen das Bewusstsein, Söhne und Töchter Gottes zu sein, wenn sie Gottes Willen tun. Er lud den Ausdruck „Menschensohn“ mit hoheitlicher Würde auf. Er konnte mit ihm jene Stelle besetzen, die in apokalyptischen Visionen einer himmlischen Gestalt vorbehalten war, die einem Menschensohn glich. Ein Alltagsausdruck, der generell den Menschen meint, wurde durch Jesus aufgewertet und zum charakteristischen Hoheitsnamen Jesu. Das Selbstbild Jesu erfasst man nicht nur durch Titel und Begriffe, sondern vor allem mit diesen Erinnerungsmustern der Statuspartizipation und Statuskontingenz. Jesus hatte als Mensch und Menschensohn nicht nur denselben Status wie andere Menschen, sondern darüber hinaus die Macht, andere an seinem Status partizipieren zu lassen. Wie die Jünger, die Niniviten und die Königin des Südens wird er Richter und Zeuge sein. Wie die zwölf Jünger wird er über Menschen richten. Wie seine Anhänger Söhne und Töchter Gottes sind, ist er der Sohn Gottes. Alle partizipieren an seinem Status, aber dieser Status ist von Gott gegeben und statuskontingent. Denn keiner kann sich seinen Status selbst geben.76
76 Die Frage nach Jesu Selbstverständnis ist die Frage nach den Rollen, die er vorfand, mit denen er sich identifizierte, aber die er auch neu gestaltet hat. Nach Hjalmar Sundén, Gott erfahren. Das Rollenangebot der Religionen, 1975, übernehmen Menschen Rollen aus ihrer religiösen Tradition, nehmen aber mit ihnen korrespondierende Rollen auf. Wer die Rolle der Kinder Gottes übernimmt, nimmt damit die Rolle Gottes des Vaters auf. Einige Menschen machen aufgrund solcher Rollen religiöse Erfahrungen. Eine schöne Landschaft erlebt der Mensch in der Rolle des Gläubigen als Schöpfung, in der Rolle des Soldaten als Deckungslandschaft. Mit der Rolle des Menschensohns nahm Jesus die Beziehung zu Gott und zu allen Menschen auf. Vor allem aber bot er Menschen an, in seiner Nachfolge durch solche Rollenübernahmen Gott zu erfahren. In der Nachfolge von Hj.Sundén wurden die in der Religion übernommenen Rollen auch als „theatralische“ Rollen verstanden, durch die Menschen eine eigene Welt aufbauen. Vgl. N.G.Holm/J.A.Belzen (Hg.), Sundén’s Role Theory. An Impetus to Contemporary Psychology of Religion, Åbo 1995.
Vierter Teil: Passion und Ostern
§ 15 Jesus als Kultstifter: Symbolhandlungen Jesu
S.Al-Suadi/P.-B.Smit (ed.), T&T Clark Handbook to Early Christian Meals in the Graeco-Roman World, 2019; S.Byrskog, The Meal and the Temple. Probing the Cult-Critical Implications of the Last Supper, in: D.Hellholm/D.Sänger, The Eucharist – Its Origin and Contexts. Vol.I: Sacred Meal, Communal Meal, Table Fellowship in Late Antiquity, Early Judaism, and Early Christianity, 2017, 423–452; H.Feld, Das Verständnis des Abendmahls, 1976; J.Jeremias, Die Abendmahlsworte Jesu, 1935, 41967; H.-J.Klauck, Herrenmahl und hellenistischer Kult. Eine religionsgeschichtliche Untersuchung zum ersten Korintherbrief, 1982 21986; M.Klinghardt, Gemeinschaftsmahl und Mahlgemeinschaft. Soziologie und Liturgie frühchristlicher Mahlfeiern, 1996; ders. (Hg.), Mahl und religiöse Identität im frühen Christentum, 2012; B.Kollmann, Ursprung und Gestalten der frühchristlichen Mahlfeier, 1990; W.Löhr (Hg.), Abendmahl, 2012; ders. Art. Das letzte Mahl Jesu, in: J.Schröter/Chr.Jacobi (Hg.), Jesus-Handbuch, 2017, 467–473; I.H.Marshall, The Last Supper, in: D.L.Bock/R.L.Webb, Key Events in the Life of the Historical Jesus, 2009, 481–588; Chr.Niemand, Jesus und sein Weg ans Kreuz. Ein historisch-rekonstruktives und theologisches Modellbild, 2007; B.Pitre, Jesus and the Last Supper, 2015; J.Schröter, Das Abendmahl. Frühchristliche Deutungen und Impulse für die Gegenwart, 2006; H.Schürmann, Die Symbolhandlungen Jesu als eschatologische Erfüllungszeichen. Eine Rückfrage nach dem historischen Jesus, BiLe 11 (1970) 29–41.73–78; A.Standhartinger, Die Frauen von Jerusalem und die Entstehung des Abendmahls, in: J.Hartenstein/S.Petersen/A.Standhartinger (Hg.), „Eine gewöhnliche und harmlose Speise“? 2008, 74–104; G.Theißen, Veränderungspräsenz und Tabubruch. Die Ritualdynamik urchristlicher Sakramente, 2017; M.Tiwald, Art. Einzug in Jerusalem, Tempelreinigung (Jesu Stellung zum Tempel), in: J.Schröter/Chr.Jacobi (Hg.), Jesus-Handbuch, 2017, 460–467.
Der Ursprung religiöser Rituale liegt meist in dunkler Vorzeit. Doch das Abendmahl löst mitten in der Geschichte die Opfer ab, mit denen Menschen den Zorn der Götter besänftigen wollten. Ein judenchristliches Evangelium aus dem 2. Jh. n. Chr. meinte dagegen, gerade Opfer riefen Gottes Zorn hervor. In ihm fasst Jesus seine Sendung so zusammen: „Ich kam, die Opfer aufzuheben; und wenn ihr nicht aufhört zu opfern, wird der Zorn nicht von euch weichen.“ (EvEb 6).1 Die Tempelweissagung Jesu hat freilich erst zusammen mit der Tempelzerstörung 70 n. Chr. das Ende der Opfer bewirkt, d. h. Jesus hat sie nicht intentional betrieben, aber faktisch und funktional bewirkt, dass ein Abschiedsmahl die Grundlage für einen neuen Kult ohne blutige Opfer wurde.
1
J.Frey, Die Fragmente des Ebionäerevangeliums, in: Ch.Markschies/J.Schröter (Hg.), Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung Bd. I, 2012, 607–622, S. 620. Nach den Pseudoklementinen waren die Opfergesetze des Moses interpoliert worden. Vgl. Ps.-Klem. Hom II 38–53, 44,2.
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1. Das Abendmahl in der Forschungsgeschichte Während Jesu Gegenwart im Abendmahl theologisch meist als geheimnisvolle Realpräsenz gedeutet wird, begründete D.F.Strauß historisch-kritisch eine symbolische Deutung seines letzten Mahls. Angesichts wachsender Feindschaft habe Jesus seinen nahenden Tod als Opfertod und „sein Blut als die Weihe eines neuen Bundes zwischen Gott und der Menschheit betrachte(t)“. (Das Leben Jesu, für das deutsche Volk bearbeitet I, 1864, 358). Das Zerbrechen des Brotes und das Einschenken des Weins stelle seinen dem Tode geweihten Leib und sein Blut bildlich dar. Die Exegese nach Strauß suchte nach dem Sinn dieser symbolischen Handlung dagegen weniger in Jesu Tod, als in der Erwartung des Lebens im Reich Gottes. 1.1 Die konsequent-eschatologische Deutung des letzten Mahls Jesu
A.Schweitzer, Das Abendmahl im Zusammenhang mit dem Leben Jesu und der Geschichte des Urchristentums I/II, 1901, meinte, Jesus habe im Speisungswunder in Galiläa das messianische Mahl im Reich Gottes vorweggenommen. Als es ausblieb, sei er nach Jerusalem gezogen, um dessen Kommen durch sein Leiden zu beschleunigen. Dort habe er in Erwartung seines Todes das Abendmahl als messianisches Mahl gefeiert, um danach keinen Wein mehr bis zur Ankunft des Reiches Gottes zu trinken (Mk 14,25). Auch die ersten Christusgläubigen erwarteten als Teilnehmer am messianischen Mahl die Parusie des Messias. Aus diesem eschatologisch ausgerichteten Sakrament habe Paulus ein Sakrament für die gegenwärtige Gemeinschaft gemacht (A.Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, 1906 9 1984, 612). Da A.Schweitzer nur das Kelchwort als eschatologische Verheißung gedeutet hatte (Mk 14,25), ergänzte R.Otto in: Reich Gottes und Menschensohn, 1933 21934, 221–281, 231f, die entsprechende Verheißung für das Brotwort aus dem lk Abendmahlsbericht (Lk 22,17–19a.29f). Der von ihm rekonstruierte ursprüngliche Einsetzungstext lautet: (17) Er nahm einen Becher, dankte und sprach: ‚Nehmt dies und verteilt es unter euch. (18) Denn ich sage euch: Nicht mehr trinke ich von dem Erzeugnisse des Weinstockes von jetzt an, bis das Reich Gottes kommt.‘ (19a) Und nachdem er ein Brot genommen und gedankt hatte, brach und gab er es ihnen, sprechend: ‚Dies ist mein Leib (29) und ich stifte euch durch Bund das Reich, wie mein Vater es mir durch Bund gestiftet hat, auf daß Ihr eßt und trinkt an meinem Tische in meinem Reiche und sitzt auf Thronen, richtend die zwölf Stämme Israels.‘
Das letzte Mahl sei eine Jüngerweihe für den Eingang ins Gottesreich gewesen. A.Schweitzer und R.Otto deuteten es beide im Rahmen jüdisch apokalyptischer Traditionen. Dazu
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entwickelte die „religionsgeschichtliche Schule“, die programmatisch die nicht-jüdische Antike einbezog, eine Alternative. 1.2 Die Deutung des Abendmahls in der „religionsgeschichtlichen Schule“
Nach A.Eichhorn, Das Abendmahl im Neuen Testament, Hefte zur „Christlichen Welt“ 36, 1898, waren die geschichtlichen Ereignisse beim letzten Mahl Jesu durch „Dogma“ und „Kultus“ unerkennbar geworden, erkennbar aber sei der Genuss von Leib und Blut Christi religionsgeschichtlich „Theophagie“, d. h. der Glaube daran, sich durch Essen und Trinken einer Gottheit deren Kraft anzueignen. W.Heitmüller, Taufe und Abendmahl bei Paulus. Darstellung und religionsgeschichtliche Beleuchtung, 1902, fand in der Analogie der antiken Mysterienreligionen die Erklärung dafür, dass in der paulinischen Auffassung vom Abendmahl diese „primitive“ Vorstellung vom Verspeisen der Gottheit zum Durchbruch kam. Weil das Abendmahl naturhaft-mystisch wirke, sei es kein „Gnadenmittel im reformatorischen Sinn“, das Glauben wecken soll.2 Sein Schüler R.Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, 1953 91984, 148, führte für den Einfluss der Mysterienreligionen auf die paulinische Vorstellung zwei Argumente an: (1) die Analogie von Herrenmahl und heidnischem Opfermahl in 1Kor 10,21, die beide eine Kommunio herstellen wollen, (2) den Bericht des Justin über das Abendmahl, das von den Dämonen in den Mithrasmysterien nachgeahmt werde (Apol I,66). Paulus folge einer magischen Abendmahlsanschauung, wenn er Krankheiten auf den unwürdigen Genuss des Herrenmahls zurückführt (1Kor 11,29f), habe aber gleichzeitig das Abendmahl als „Verkündigung des Todes Jesu“ verstanden (11,26) und warne in 10,1–13 vor Zutrauen auf seine magische, mysterienhafte Wirkung. Schon Paulus sei also ein Kritiker des schon vor ihm im hellenistischen Urchristentum verbreiteten magischen Sakramentsverständnisses gewesen. 1.3 Die Synthese der eschatologischen und religionsgeschichtlichen Deutung
H.Lietzmann ging in: Messe und Herrenmahl. Eine Studie zur Geschichte der Liturgie, 1926, vom Unterschied zwischen Eucharistie und Agape in der Alten Kirche aus: Die Eucharistie war ein sakramentales Mahl, bei dem der Tod Jesu vergegenwärtigt wurde, die Agape ein karitatives Gemeinschaftsmahl. Beide Mahltypen gingen auf den historischen Jesus zurück: einerseits auf die alltägliche Mahlgemeinschaft mit ihm, andererseits auf sein letztes Mahl. Paulus habe aufgrund einer Offenbarung dieses letzte Mahl Jesu nach paganen Analogien als Todesgedächtnismahl neu interpretiert und dadurch eine schlichte Symbolhandlung in das Sakrament der hellenistischen Gemeinden verwandelt. Verschiedene Varianten von Symbolhandlungen interpretieren sich bei Lietzmann gegenseitig, einerseits das konsequenteschatologisch gedeutete Abendmahl in der Urgemeinde, andererseits ein neuer Abendmahlstyp bei Paulus, den er religionsgeschichtlich erklärte:
2
W.Heitmüller zit. n. W.G.Kümmel, Das Neue Testament, 21970, 323.
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Das Abendmahl der Urgemeinde
Das Abendmahl des hellenistischen Urchristentums
Es wird in Erinnerung an die täglichen Tisch gemeinschaften Jesu gefeiert.
Es wird in Erinnerung an Jesu Tod gefeiert und geht auf das letzte Mahl Jesu zurück.
Es wurde durch den historischen Jesus „geschaffen“ und ist Fortsetzung seiner alltäglichen Praxis des Gemeinschaftsmahls mit Jüngern und Sündern.
Es geht auf eine Offenbarung an Paulus z urück, die er „vom Herrn empfangen“ hat (1Kor 11,23). Paulus deutete das Abendmahl als Todes gedächtnismahl neu.
Es ist Antizipation des eschatologischen Mahls (Mt 8,11f; Mk 14,25; Lk 22,30; äthHen 62,14) und ist mit eschatologischem Jubel (agalliasis) verbunden (Apg 2,46).
Es wird analog paganen Totengedächtnismahlen gefeiert, deren Stiftungsurkunden die Formel „zum Gedächtnis“ enthalten; vgl. eis tēn emēn anamnēsin in 1Kor 11,24.25.
Aus ihm entstand die Agape, die als nicht-sakramentales Mahl in Did 9f erhalten ist.
Aus ihm entwickelt sich die Eucharistie bzw. die Messe.
Lietzmanns These einer Neubegründung des Abendmahls durch Paulus konnte sich nicht durchsetzen. Wenn Paulus sagt: „Ich habe von dem Herrn empfangen, was ich euch weitergegeben habe“ (1Kor 11,23), beruft er sich nicht auf eine neue Offenbarung, sondern auf menschliche Tradition wie in 1Kor 15,1 f. Paulus hat kein neues Abendmahlsverständnis geschaffen, sondern schon vorgefunden. Die These von zwei Abendmahlstypen wurde daher modifiziert: 1. O.Cullmann, Die Bedeutung des Abendmahls im Urchristentum 1936, in: Vorträge und Aufsätze, 1966, 505–523, führte das Mahl mit Todesbezug auf den historischen Jesus, das eschatologische Freudenmahl auf Mahlzeiten mit dem Auferstandenen zurück. 2. E.Lohmeyer, Vom urchristlichen Abendmahl, ThR 9 (1937) 168–227.273–312; 10 (1938) 81–99, hielt beide Typen für gleich ursprünglich: Das eschatologische Freudenmahl gehe auf die galiläische, das Todesgedächtnismahl auf die Jerusalemer Gemeinde zurück. Beide halten daran fest: Das mit dem Tod Jesu verbundene sakramentale Mahl geht nicht erst auf Paulus zurück. Lässt es sich also vielleicht doch auf Jesu letztes Mahl zurückführen? Dann müsste man die religionsgeschichtliche Ableitung des Abendmahls aus paganen Traditionen revidieren. 1.4 Die Revision der religionsgeschichtlichen Ableitungen des Abendmahls
Eine Neubewertung der Analogien zum Abendmahl war fällig. Vielleicht hatte man Deutungen der christlichen Religion allzu schnell in andere Religionen hineinprojiziert, um sie danach aus ihnen abzuleiten. Viele religionsgeschichtliche Ableitungen wurden kritisiert und korrigiert. a) Die Neubewertung der pagan-hellenistischen Analogien
H.-J.Klauck zeigte in: Herrenmahl und hellenistischer Kult, 1982, dass wir keine überzeugenden nichtchristlichen Parallelen für die Realpräsenz einer Gottheit im Sakrament haben.
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Nur im Zustand der Ekstase meinten die Bacchantinnen im Dionysoskult, dass sie das Fleisch einer Gottheit essen. Von einer Ekstase kann beim Abendmahl keine Rede sein. Dennoch ist es mit Mysterienmahlen verwandt. Denn es ist kein Sättigungsmahl, sondern ein Sakralmahl, dessen Stiftung in „einem vorbildhaften Tun des Kultgottes“ begründet ist (S. 368). Vor allem schafft es eine Communio von Mensch und Gottheit, die dem Menschen Anteil am unzerstörbaren göttlichen Leben gibt. Insgesamt sei das Abendmahl ein schöpferischer Neuentwurf aufgrund des Abschiedsmahls Jesu. Anders bewertet M.Klinghardt, Gemeinschaftsmahl*, 1996, die religionsgeschichtlichen Analogien. Die Existenz von Gemeinschaftsmahlen bedürfe keiner Erklärung. Vereinsleben vollzog sich in der Antike in Form gemeinsamer Mahlzeiten. Um zu erklären, dass sich die ersten Christen zu Mahlzeiten trafen, brauche man keinen Anstoß durch ein Abschiedsmahl Jesu. b) Die Erklärung des Abendmahls aus jüdischen Analogien
Die Möglichkeit, das sakramentale Abendmahl trotzdem auf ein letztes Gemeinschaftsmahl Jesu zurückzuführen, wuchs in dem Maße, wie man jüdische Analogien heranzog. Das Passamahl ist die nächste Analogie, da Jesus nach den Synoptikern sein letztes Mahl als Passamahl feiert. Daher fand die These von J.Jeremias, Die Abendmahlsworte Jesu, 1935, viel Anklang, Jesus habe bei seinem Abschiedsmahl zwei Gleichnishandlungen durch Gleichnisworte interpretiert: Er deutete den zerrissenen Brotfladen auf seinen Tod, den Traubensaft auf sein Blut. J.Jeremias erkannte richtig, dass das Abendmahl seiner Form nach als Teil der gesamten Gleichnissprache Jesu gedeutet werden muss. Seine inhaltliche Deutung auf ein Passamahl aber blieb umstritten, weil das JohEv das Abschiedsmahl einen Tag vor das Passamahl datiert und weil wir über das Passamahl zu der Zeit Jesu nur wenig wissen. Doch gab es im Judentum noch andere Analogien. Das Toda-Opfermahl zog H.Gese, Ps 22, Der älteste Bericht vom Tode Jesu und die Entstehung des Herrenmahles, ZThK 65 (1968) 1–22, als Analogie heran.3 In Ps 22 erlebt der Betende einen Umschwung von Todesnot zum Dank für die Rettung und feiert ein Dankopfermahl, die toda, als Gemeinschaftsmahl: „Es werden essen die Gebeugten und gesättigt werden“ (V.27). Da Jesus mit V.2 auf den Lippen in den Tod ging, konnten die Jünger nach Ostern auf die Rettung des Gekreuzigten aus dem Tod mit der Feier des Todamahls antworten. Das Abendmahl ginge dann zwar nicht auf eine Gründungshandlung des historischen Jesus zurück, wäre aber in Kontinuität mit seinem Wirken entstanden. Doch bleibt ein Unterschied: Das Todamahl feiert die Rückkehr des Geretteten in die Gemeinschaft, das Abendmahl war Beginn einer neuen Gemeinschaft. Anders als das Todamahl wurde das Essenermahl nur in einer jüdischen Sondergemeinschaft in Qumran gefeiert. K.G.Kuhn, Über den ursprünglichen Sinn des Abendmahls und sein Verhältnis zu den Gemeinschaftsmahlen der Sektenschrift, EvTh 10 (1950/1) 508–527, wertete es für das Abendmahl aus: 1QS VI,2–5 beschreibt ein gegenwärtiges Mahl, bei dem Brot und Most vom Priester gesegnet werden, 1QSa II,17–22 dagegen ein zukünftiges Mahl, bei dem zwei Messiasse, der priesterliche und der königliche, anwesend sind. Wahrschein3
Vgl. H.Gese, Die Herkunft des Herrenmahls, in: ders., Zur biblischen Theologie, 21983,107–127.
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lich soll das gegenwärtige Mahl das eschatologische Mahl antizipieren und den Opferkult ersetzen, an dem die Qumrangemeinde wegen Unreinheit des Tempels nicht teilnahm. K.G. Kuhn meinte nicht, Jesus habe sich an dieser Analogie orientiert, wohl aber das Urchristentum und die synoptischen Berichte. Die neuere Forschung ist skeptisch: Sie sieht weder sachlich noch geschichtlich einen Zusammenhang zwischen den Gemeinschaftsmählern in Qumran und dem Abendmahl.4 Das Zwischenfazit lautete: Ein „normales“ Gemeinschaftsmahl wurde im Urchristentum mit einer theologischen Deutung verbunden, die wir nicht allein aus der religionsgeschichtlichen Umwelt ableiten können. Daher stellt sich die Frage: Hat vielleicht Jesus selbst den Anstoß zu ihr gegeben? Denn sicher ist, dass er viele neue Symbolhandlungen geschaffen hat. 1.5 Die sozialgeschichtliche Deutung als prophetische Symbolhandlung
Nach M.Trautmann, Zeichenhafte Handlungen Jesu, 1980, und M.D.Hooker, The Sign of a Prophet. The Prophetic Actions of Jesus, 1997, hat Jesus nicht nur in Form von Erzählungen, sondern auch von Handlungen Gleichnisse geschaffen: die Mahlgemeinschaft mit Zöllnern und Sündern, der Einzug in Jerusalem, die Tempelaktion. Sie sind Erinnerungsspuren Jesu, die zudem gut in den damaligen historischen Kontext passen: Nach G.Theißen, Jesus und die symbolpolitischen Konflikte seiner Zeit. Sozialgeschichtliche Aspekte der Jesusforschung (1997) = Jesus als historische Gestalt, 2003, 169–193, waren in der Zeit Jesu auch die Herrscher symbolpolitisch aktiv: Pilatus führte Kaisersymbole in Jerusalem ein, Herodes Antipas widmete seine neue Hauptstadt „Tiberias“ dem Kaiser. Auch die Symbolhandlungen Jesu können Ausdruck symbolpolitischer Konflikte sein: Wer zwölf Jünger als Richter und Herrscher über Israel einsetzt, setzt sich in Widerspruch zu bestehenden Herrschaftsstrukturen. B.Chilton, The Temple of Jesus. His Sacrificial Program Within a Cultural History of Sacrifice, 1992, zeigte: Wer den Opferkult stört, kritisiert den Tempel, Jesu letztes Mahl war eine Alternative zum Opferkult.5 1.6 Die erinnerungshistorische Deutung der Abendmahlsworte
Die Einsetzungsworte haben auf jeden Fall die Verbindung des Abendmahls mit einem Konflikt festgeschrieben, wenn sie an die Nacht erinnern, als Jesus an die Tempelaristokratie „ausgeliefert“ wurde (1Kor 11,23). Das Abendmahl wird „zur Erinnerung“ an den Tod Jesu gefeiert (eis anamnēsin, 1Kor 11,24.25). Lange war dabei Konsens, dass die an das letzte Mahl 4 5
J.Frey, Die Zeugnisse über Gemeinschaftsmähler aus Qumran, in: D.Hellholm u. a., Eucharist*, I. 2017, 101–130. S.Byrskog, The Meal and the Temple*, 2017, 423–452, kritisiert unsere kultkritische Deutung von Jesu letztem Mahl (in: „Der historische Jesus“, 1996), stimmt ihr aber im Wesentlichen zu. Denn „the most obvious framework of the meal“ sind „strong conflicts and critiques related to the temple and its cult!“ (S. 447). Die von ihm abgelehnte Vermutung, Jesu habe ursprünglich gesagt: „Dies ist der Leib“, haben wir aufgegeben, aber halten daran fest, Jesu könne von einem „neuen Bund“ gesprochen haben (s. u.).
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erinnernden Einsetzungsworte Teil des Rituals waren. K.Ch.Felmy vertrat dagegen 1983 die These, sie gehörten im Urchristentum zur Katechese, nicht zur Liturgie, mit ihnen habe man das Abendmahl nur erklärt, aber nicht gefeiert. Daher unterscheide Justin das Ritual des Abendmahls in Apol I,65 von den Abendmahlworten in I,66,3, die erst im 2./3. Jh. n. Chr. in der Traditio Apostolica als Bestandteil des eucharistischen Gebetes bezeugt sind.6 Did 9f zeigt in der Tat, dass die Abendmahlsworte nicht in allen Formen urchristlicher Abendmahlsfeiern gesprochen wurden, vor allem, dass es ohne Gedenken an den Tod Jesu gefeiert werden konnte. Eine Gegenthese hat A.Standhartinger entwickelt: Danach bilden die synoptisch-paulinischen Einsetzungsworte das Zentrum des Abendmahls als Ergebnis einer kollektiven Erinnerungsarbeit an den Tod Jesu, mit dem Jesusanhänger das Trauma seines Todes verarbeiteten. Traditionell von Frauen vorgetragene Klagegesänge, die auch bei Erinnerungsmählern gesungen wurden, thematisierten die letzten Stunden des Leidens und Sterbens der Verstorbenen und memorierten deren Bedeutung für die Überlebenden. Manchmal richtete der Verstorbene durch den Mund der Klagenden Worte an die Trauernden. Eine kulturübergreifend verbreitete Form der Erinnerung an Verstorbene in Form von Trauerriten erkläre die Entstehung der Abendmahlsworte.7 Zwar erwähnt der Bericht vom letzten Mahl Jesu keine Frauen, obwohl sie vielleicht anwesend waren. Aber sie nahmen in urchristlichen Gemeinden unzweifelhaft am Abendmahl teil. Frauen spielen in allen Kulturen beim Todesgedenken eine zentrale Rolle. Das trug wahrscheinlich dazu bei, dass sich im Urchristentum eine Abendmahlsform mit Todesgedenken durchsetzte. So gegensätzlich die Thesen von K.Ch.Felmy und A.Standhartinger auch sind, so stimmen sie in einem Punkt überein: Die Einsetzungsworte gehen nicht unbedingt auf den historischen Jesus zurück. Gilt das aber auch für das ganze Mahl? Oder ist es die letzte der von Jesus neu geschaffenen prophetischen Symbolhandlungen?
2. Die prophetischen Symbolhandlungen Jesu Die alttestamentlichen Propheten inszenierten symbolische Handlungen als „Straßentheater“. Jesaja lief nackt durch Jerusalem, um vor einer Deportation zu warnen (Jes 20,1–6). Jeremia trug um den Hals ein Joch als Symbol der Gefangenschaft (Jer 27,2–11). Es handelte sich um Ein-Mann-Theater, an dem nur selten andere Menschen wie z. B. bei der Ehe des Hosea mit einer Prostituierten (Hos 1–2) beteiligt waren. Der Täufer und Jesus bezogen dagegen grundsätzlich Mitspieler mit ein. Prophetische Symbolhandlungen wurden dadurch 6
7
K.Ch.Felmy, Was unterscheidet diese Nacht von allen anderen Nächten? Die Funktion des Stiftungsberichtes in der urchristlichen Eucharistiefeier nach Didache 9 f. und den Zeugnissen Justins, JHL 27 (1983) 1–15. J. Schröter, Das Abendmahl*, 2006, 60–72.79–90, führt diesen Ansatz differenziert weiter. A.Standhartinger, Frauen von Jerusalem*, und dies., „… zu meinem Gedächtnis“. Totenklage und Einsetzungsworte, in: A.Berlis/M.L.Frettlöh,/I.Noth,/S.Schroer (Hg.), Die Geschlechter des Todes, 2022, 285–301.
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ansatzweise gemeinschaftsbildende Riten – eine Vorstufe zu den Sakramenten.8 Sie belebten eschatologische Erwartungen und brachten auch Kritik zum Ausdruck. Bei Jesu Symbolhandlungen lassen sich zwei Gruppen in Galiläa und Jerusalem unterscheiden. 1. Mahlgemeinschaften: Im der Zeit seines Wirkens in Galiläa machte Jesus Zöllner und Sünder zu Mitspielern einer symbolischen Handlung, die sagt: Gott wendet sich Außenseitern zu (Mk 2,15–17). Er wurde deswegen als „Freund der Zöllner und Sünder!“ kritisiert (Lk 7,34). Seine Mahlgemeinschaften feierte er als Vorwegnahme des himmlischen Mahls.9 2. Jüngerberufungen: Jesus berief Jünger in die Nachfolge. Wenn er von einem forderte, ihm nachzufolgen, anstatt den Vater zu beerdigen (Mt 8,21f), verstieß er gegen ein elementares Familienethos. Die Berufungen signalisierten: Ein eschatologischer Umschwung ist im Gang. 3. Zwölferkreis: Jesus ernannte zwölf Jünger zu Herrschern Israels (Lk 22,28–30par). Durch diese Symbolhandlung gründete er eine Gemeinschaft, die nach seinem Tod weiter existierte. Ihre Ernennung zu Herrschern Israels war Protest gegen bestehende Herrscher. Nicht sie sollten Israel regieren, sondern Menschen aus dem Volk. Ihre Erwählung war Vorwegnahme der kommenden Gottesherrschaft. 4. Aussendung: Jesus sandte Jünger und Jüngerinnen paarweise aus, damit sie die Gottesherrschaft ankündigen und seine Friedensbotschaft verbreiten (Mk 6,7–13; Lk 10,1–12par). Sie sollten sich von kynischen Wanderpredigern unterscheiden, indem sie ohne Bettelsack und Stab loszogen. Wahrscheinlich hatte Judas Galilaios in dieser Aufmachung zu Steuerverweigerung und Aufruhr aufgerufen. Jesu Boten brachten dagegen eine Friedensbotschaft: eine Gottesherrschaft, die ohne Krieg kommt. So wie die symbolischen Handlungen in Galiläa, Berufung, Ernennung und Aussendung der Zwölf zusammengehören, so auch die symbolischen Handlungen in Jerusalem: Einzug, Tempelaktion und Abendmahl.10 1. Einzug in Jerusalem: Jesus zog in Jerusalem auf einem Esel als König ohne Truppen und Waffen ein (Mk 11,1–11). Pilger, die mit ihm nach Jerusalem zogen, proklamierten die Botschaft vom kommenden neuen Reich. Sein Einzug vom Osten her war eine Gegendemonstration gegen den Einzug der Römer vom Westen.11 Die mit ihm ziehenden Pilger erwarteten die kommende Königsherrschaft „unseres Vaters David“ (Mk 11,10). Aber
8 G.Theißen, Prophetische Symbolhandlungen als Entstehungsimpuls urchristlicher Sakramente, in: ders., Veränderungspräsenz*, 2017, 321–343. 9 C.L.Blomberg, The Authenticity and Significance of Jesus’ Table Fellowship with Sinners, in: D.L.Bock/ R.L.Webb, Key Events in the Life of the Historical Jesus, 2009, 215–250. 10 Zu den Jerusalemer Symbolhandlungen könnte man auch das Streitgespräch über die Steuerzahlung (Mk 12,13–17) und die Verfluchung des Feigenbaums zählen (Mk 11,12–14.20–22). 11 Vgl. P.B.Duff, The March of the Divine Warrior and the Advent of the Greco-Roman King. Mark’s Account of Jesus’ Entry into Jerusalem, JBL 111 (1992) 55–71. B.Kinman, Jesus’ Royal Entry into Jerusalem, in: D.L.Bock/R.L.Webb, Key Events in the Life of the Historical Jesus, 2009, 383–427.
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der Einzug Jesu lief ins Leere: Jesus besuchte den Tempel als Ziel seines Einzugs und zog sich nach Bethanien mit den Zwölfen zurück. 2. Tempelaktion: Bei der Tempelaktion (Mk 11,15–18; Mt 21,12–17; Lk 19,45f) provozierte Jesus, indem er Händler und Käufer vertrieb, die Tische der Geldwechsler umstürzte und Arbeiten im Tempel zu verhindern suchte.12 Wollte er den Weiterbau des Tempels beenden (Mk 11,16), die Zerstörung des Tempels ankündigen (Mk 13,1f; 14,58), den Opferhandel beenden? Sollte sich der Tempel für Heiden öffnen (Mk 11,17)? Nahm er Anstoß an den Tyrischen Münzen, mit denen man im Tempel bezahlen musste, da sie den Gott Melkart und den Adler zeigten? War das nicht Götzendienst? Die Tempelaktion bringt auf jeden Fall einen Konflikt mit der Priesteraristokratie zum Ausdruck, die danach entschlossen ist, Jesus umzubringen (Mk 11,18). 3. Abendmahl: Das Abschiedsmahl könnte der Höhepunkt dieser symbolischen Handlungen Jesu gewesen sein. Die Mahlgemeinschaft verbindet galiläische und Jerusalemer Symbolhandlungen, unterscheidet sich aber in einem Punkt: In Jerusalem wandte sich Jesus mit seiner Mahlgemeinschaft nur an einen engen, vertrauten Kreis. Frauen könnten anwesend gewesen sein, werden aber in der Erzählung nicht erwähnt. Auch dieses Abendmahl enthält als symbolische Handlung eine Botschaft: a) Seine gemeinschaftsbildende Bedeutung ist evident. Tischgemeinschaft verbindet. Da nur die Zwölf in der Erzählung begegnen (Mk 14,17 vgl. 14,.20.43), ist der Zusammenhang mit der Einsetzung der Zwölf zu eschatologischen Richtern und Herrschern unverkennbar. Da Jesus auf seinem Zug nach Jerusalem von Frauen begleitet wurde, könnten auch sie am Essen teilgenommen haben. b) Das Mahl hat eine eschatologische Bedeutung. Jesus nimmt das Mahl in der Gottesherrschaft vorweg, wenn er sagt: „Wahrlich, ich sage euch, dass ich nicht mehr trinken werde vom Gewächs des Weinstocks bis an den Tag, an dem ich aufs Neue davon trinke im Reich Gottes“ (Mk 14,25). c) Das Abendmahl ist Opposition gegen den Tempel. Während sich die Tempelaktion in der Öffentlichkeit abspielte, wurde das Abendmahl unter Ausschluss der Öffentlichkeit gefeiert. Deutete Jesus mit diesem Mahl auch den Sinn seiner Tempelaktion?
Vor allem versicherte er den Jüngern symbolisch, dass ihre Ernennung zu zwölf Regenten für sie positive Konsequenzen hat, obwohl er ihnen nur ein schlichtes Mahl mit Brot und Wein anbieten kann. Es sollte nur die Vorwegnahme des gemeinsamen Essens in der Gottesherrschaft sein. Bis dahin wollte Jesus nicht mehr Wein trinken! Wüssten wir nur, was er bei diesem Mahl gesagt und gemeint hat!
12 K.R.Snodgrass, The Temple Incident, in: D.L.Bock/R.L.Webb, Key Events in the Life of the Historical Jesus, 2009, 429–480.
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3. Abendmahlstexte und Abendmahlstypen im Urchristentum Das Abendmahl wurde nach Jesu Tod im Urchristentum verschieden gefeiert und gedeutet. Da die paulinischen und synoptischen Texte literarisch die ältesten sind, fangen wir mit ihnen an, skizzieren danach andere Abendmahlstypen und schließen mit Rekonstruktionsversuchen des letzten Mahls. 3.1 Die synoptischen und paulinischen Einsetzungsworte
Ein Vergleich der vier Versionen der Einsetzungsworte zeigt: Es gibt zwei alte Versionen der Einsetzungsworte, die am frühesten in den 50er Jahren bezeugte bei Paulus, die etwas später um 70 n. Chr. bezeugte im MkEv. Von Mk hängt die mt Fassung ab. Die lk Fassung wiederum gleicht die mk/mt Einsetzungsworten mit der Überlieferung des Paulus aus. Alle Texte passen wahrscheinlich ihre Einsetzungsworte an die ihnen vertraute liturgische Praxis an. (1) Das MtEv setzt parallel zum vorhergehenden Imperativ: „Nehmet!“ die Aufforderung: „Trinket!“ und ändert so den mk Bericht „Sie tranken alle daraus“. Ferner ergänzt es den Zuspruch der Sündenvergebung, den es bei der Taufe gestrichen hat (vgl. Mt 3,6). Damit verlagert Mt die Sündenvergebung von der einmaligen Taufe auf das sich wiederholende Sakrament und bezieht sie eindeutig auch auf Sünden nach der Taufe. (2) Das LkEv begründet die Ablösung des Passamahls durch das Abendmahl. Das eschatologische Entsagungsgelübde Jesu steht nicht am Ende, sondern am Anfang in Verbindung mit dem Passamahl. Auch die Christen sollen von jetzt ab nicht mehr das Passa feiern, sondern das Abendmahl, das Jesus mit Wiederholungsbefehl einsetzt und als Feier des „neuen Bundes“ von der jüdischen Tradition unterscheidet. Der Wiederholungsbefehl sorgt dafür, dass er fortan in der von Jesus angeordneten Weise gefeiert wird. Nur Lk hat beim Brotwort (in Übereinstimmung mit Paulus) und ebenso beim Kelchwort (in Übereinstimmung mit Mk) eine soteriologische Deutung, die er sprachlich aneinander angeglichen hat – wahrscheinlich entsprechend dem liturgischen Brauch in lk Gemeinden. Die folgende Synopse zeigt die wichtigsten Unterschiede:
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Mt 26,26–29
Mk 14,22–25
Lk 22,15–20
1Kor 11,23–25
Eschatologischer Ausblick: a) Passa b) (Passa-)Becher Das ist mein Leib
Das ist mein Leib
Das ist mein Leib
Das ist mein Leib
für euch
für euch
gegeben
Wiederholungsbefehl
Wiederholungsbefehl
Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut
Das ist mein Blut
Das ist mein Blut
des Bundes
des Bundes
Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut
für viele vergossen
für viele vergossen
für euch vergossen
zur Vergebung der Sünden Wiederholungsbefehl
Eschatologischer Ausblick
Eschatologischer Ausblick
Eschatologischer Ausblick
Die folgende Tabelle vergleicht die beiden ältesten Formen der Abendmahlstexte bei Mk und Paulus. Mt hat den mk Text, Lk die paulinische Tradition bearbeitet:
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Vierter Teil: Passion und Ostern
Mk (und Mt)
Paulus (und Lk)
Das Abendmahl gilt als Passamahl, nicht in den Einsetzungsworten, sondern im erzählerischen Rahmen (Mk 14,12–16).
Das Abendmahl wird nicht in die Passanacht datiert, sondern in die „Nacht, in der er verraten wurde“ (1Kor 11,23).
Die Deuteworte sind symmetrisch: „Dies ist mein Leib“ – „Dies ist mein Blut …“.
Die Deuteworte sind asymmetrisch: „Dies ist mein Leib …“ – „Dieser Kelch ist der neue Bund …“.
Das Blut gilt nach Ex 24,8 als „Blut des Bundes“. Vom neuen Bund ist nicht die Rede.
Der Kelch gilt nach Jer 31,31 als „neuer Bund“, der durch Jesu Tod (sein Blut) geschlossen wird.
Eine soteriologische Deutung „für viele vergossen“ findet sich nur zum Kelchwort.
Eine soteriologische Deutung „für euch (gegeben)“ findet sich nur beim Brotwort.
Der Text ist Erzählung von einem einmaligen Geschehen: „und sie tranken alle daraus“.
Der Text ist auf liturgische Wiederholung (bei Lk nur beim Brotwort) hin stilisiert: „Das tut zu meinem Gedächtnis!“
Ein eschatologischer Ausblick gilt der zukünftigen Gottesherrschaft (Mk 14,25).
Ein eschatologischer Ausblick gilt der Parusie. „bis dass er kommt“ (1Kor 11,26).
Der lk Text ist umstritten: Neben der Langversion bringen D und Itala eine Kurzversion (V. 17–19a bis zu „mein Leib“) ohne soteriologische Deutung des Todes, was zur lk Theologie gut passen würde. Wahrscheinlich ist aber diese Kurzversion sekundär, um eine Verdoppelung des Kelchwortes zu vermeiden. Die Abweichungen des lk vom mk Text sind auf jeden Fall so groß, dass eine vom MkEv unabhängige, aber Paulus nahestehende Überlieferung auf die lk Fassung der Einsetzungsworte eingewirkt hat. Aus der paulinischen Tradition stammen der Wiederholungsbefehl beim Brotwort und die Deutung des Kelches auf den „neuen Bund in meinem Blut“. 3.2 Die Pluralität urchristlicher Abendmahlstypen
Neben dem uns vertrauten paulinisch-synoptischen Typ gab es weitere Mahlformen im Urchristentum. Hinweise auf sie finden sich im JohEv, im lk Doppelwerk und in der Didache. a) Die Abendmahlsformen des Johannesevangeliums
Beim johanneischen Abschiedsmahl in Joh 13 offenbart Jesus das Liebesgebot und praktiziert die Liebe in der Fußwaschung, die nicht nur ethisch ein Vorbild ist, sondern „sakramental“ am Heil beteiligt (13,8). Wenn Jesus während des Mahls ein „neues Gebot“ der Liebe gibt (13,34f), spielt er auf den „neuen Bund“ an. Der „neue Bund“ kennt keine Opfer (vgl. Jer 31,31 f.). Wahrscheinlich wurde in den johanneischen Gruppen ein einfaches Liebesmahl gefeiert,13 gleichzeitig in den Gemeinden, die sie beherbergten, ein Abendmahl, bei dem man 13 L.Abramowski, Die Geschichte von der Fußwaschung, ZThK 102 (2005) 176–203: Für die joh Gemeinde war die Fußwaschung Vollendung des Gemeinschaftsritus über Abendmahl und Taufe hinaus.
Jesus als Kultstifter: Symbolhandlungen Jesu
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glaubte, wie in der eucharistischen Rede „Fleisch“ und „Blut“ Jesu zu verzehren (Joh 6,51– 58). Hier gilt: „Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der bleibt in mir und ich in ihm“ (6,56). Die hier begegnende „reziproke Immanenzformel“ wird in den Abschiedsreden zu einer subtilen „Christusmystik“ weiterentwickelt. Die enge Beziehung zu Christus verbindet kleine johanneische Kreise und die sie tragenden urchristlichen Gemeinden. Auf jeden Fall finden wir im joh Christentum zwei Formen des Abendmahls nebeneinander, eine „realistische“ für alle, eine spirituelle für einen engeren Kreis. b) Die Abendmahlsformen des lukanischen Doppelwerks
Auch das lk Doppelwerk kennt zwei Abendmahlsformen. Die lk Einsetzungsworte stilisieren nicht nur im erzählerischen Rahmen, sondern in den Einsetzungsworten Jesu Abschiedsmahl als Passahmahl. Jesus sagt: „Mich hat herzlich verlangt, dies Passahlamm mit euch zu essen, ehe ich leide“ (Lk 22,15). Da der Passahbezug in die Einsetzungsworte aufgenommen wurde, hatte diese Form des Abendmahls wahrscheinlich in einer jährlichen Passahfeier ihren Sitz im Leben.14 Daneben begegnet das Brotbrechen beim Mahl des Auferstandenen mit den Emmausjüngern (Lk 24,13–35), danach mehrfach in der Apg, zuerst in einem Summarium nach dem Pfingstgeschehen: Sie blieben aber beständig in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet. … Und sie waren täglich einmütig beieinander im Tempel und brachen das Brot hier und dort in den Häusern, hielten die Mahlzeiten mit Freude und lauterem Herzen und lobten Gott und fanden Wohlwollen beim ganzen Volk (Apg 2,42–47).
Hier fehlt jede Andeutung eines Bezugs auf den Tod Jesu. Jubel und Lob charakterisieren diese Feiern. Lk denkt kaum daran, dass bei diesen Jubelfeiern die Passionsgeschichte eine Rolle spielte. Die in den Einsetzungsworten zum Ausdruck kommende Sehnsucht Jesu, das Passa zu feiern, wäre Pfingsten (also nach dem Passa) fehl am Platz. Das „Brotbrechen“ begegnet ferner als Episode in Troas (20,7–12): Nachdem Paulus einen Zuhörer, der bei seiner Predigt eingeschlafen und vom dritten Stock gestürzt war, geheilt hat, feiert er das Brotbrechen – wieder in der Zeit nach dem Passa (vgl. 20,6). Im dritten Text spricht Paulus bei seiner letzten Seefahrt den Seeleuten Mut zu: „Und als er das gesagt hatte, nahm er Brot, danke Gott vor ihnen allen und brach’s und fing an zu essen“ (27,35). Auch hier handelt es sich um kein Sakrament mit Todesgedenken. Die Seeleute sind nicht einmal Christen. Lk kennt also zwei Mahltypen: ein Abendmahl mit Todesgedächtnis, das wahrscheinlich wie das Passahfest einmal im Jahr gefeiert wird, und ein häufiger gefeierte Gemeinschaftsmahl des Brotbrechens –nicht nur als Sakrament, sondern auch als ein allgemeines Gemeinschaftsmahl, das auch für Außenstehende leichter zugänglich war (Apg 27,35). 14 Eine jährliche Passahfeier im lk Umfeld vermutet auch M.Theobald, Paschamahl und Eucharistiefeier. Zur heilsgeschichtlichen Relevanz der Abendmahlszenerie bei Lukas (Lk 22,14–38), in: M.Theobald/ R.Hoppe (Hg.), „Für alle Zeiten zur Erinnerung“ (Jos 4,7). Beiträge zu einer biblischen Gedächtniskultur, 2006, 133–180, S. 156.
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Vierter Teil: Passion und Ostern
c) Die Abendmahlsformen im MtEv und in der Didache
Auch für die Didache können wir zwei verschiedene Formen des Abendmahls erschließen. Ihre Mahlgebete nehmen weder auf ein „Abschiedsmahl“ noch auf Jesu Tod Bezug, aber zielen eindeutig auf ein sakrales Mahl: Jesus hat den Weinstock Davids offenbart und das Brot, das Leben vermittelt (9,2.3). Gott hat der Gemeinde „geistliche Speise und Trank geschenkt und ewiges Leben durch Jesus, deinen Knecht“ (10,3). Auch in 1Kor 10,3f gelten die Abendmahlselemente als „geistliche Speise“ und „geistlicher Trank“. Daneben kann man aus der Didache eine zweite Form des Mahls erschließen. Die Didache kennt nämlich als „Evangelium“ (8,2;11,3;15,3.4) das MtEv, mit dem sie zumindest einen gottesdienstlichen Text teilt: das Vaterunser. Daher wird in der Gemeinde der Didache auch das Abendmahl nach Mt 26,26–29 mit Todesgedächtnis gefeiert – wahrscheinlich nur dann, wenn man an die Passion Jesu erinnern wollte.15 Die Didache bezeugt daher in Kombination mit dem MtEv die Koexistenz von zwei Mahltypen in ein und derselben Gemeinde:16 ein als Passahmahl stilisiertes Abendmahl des MtEv, das vielleicht nur in der Passionszeit gefeiert wurde, und das Gemeinschaftsmahl der Didache an jedem Sonntag (Did 14,1).17 Beide Formen können auf Jesus zurückgehen, die einfachere Form auf Mahlgemeinschaften, die er wiederholt in seinem Leben feierte, die Form mit Todesgedenken auf sein Abschiedsmahl. Unser Fazit ist: In fast allen Traditionen begegnen nebeneinander Varianten des Abendmahls.18 Das JohEv kennt ein Abschiedsmahl, bei dem Jesus sozial präsent ist, daneben ein Sakrament, bei dem er in Brot und Wein real gegenwärtig ist (vgl. Joh 13, 1–30 mit 6,51–58). Die lk Passionsgeschichte kennt eine mit dem Passafest verbundene Mahlfeier als Todes gedächtnis, die Apg dagegen auch eine von eschatologischem Jubel bestimmte Variante, die oft gefeiert wurde. Paulus bringt in 1Kor 11,23–26 eine Form mit Brot und Kelch, in 1Kor 10,14–22 eine andere Form, bei dem der Kelch dem Brot voranging. Die DidacheGemeinde kennt eine Abendmahlsform mit Todesgedenken, da in dieser Gemeinde das MtEv „das Evangelium“ ist, daneben aber eine häufige Mahlfeier ohne Todesgedenken mit der Reihenfolge Kelch und Brot. Die Variabilität urchristlicher Abendmahlstypen deutet darauf, dass schon Jesus Mahlgemeinschaften in verschiedener Form gefeiert hat.19 Dem 15 Die mt Einsetzungsworte sind liturgisch als Anweisung stilisiert, die mk Erzählung vom Trinken (Mk 14,23) als Aufforderung: „Trinket alle daraus!“ (Mt 26,26), das Brotwort wird durch die Aufforderung: „esset“ ergänzt. Vgl. U.Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 26–28), 2002, 95, 104 f. Nach J.Schröter, Das Abendmahl*, 2006, 68, wären die mt Einsetzungsworte dagegen eine aitiologische Erklärung des Abendmahls, kein Teil der Abendmahlsliturgie. 16 So K.Wengst, Didache, Schriften des Urchristentums 2, 1984, 43–53. 17 Anders K.Niederwimmer, Die Didache, 1989, 176–180, der ein Mahl mit Todesgedenken zwischen den Gebeten postuliert. Diese Lösung überzeugt u. E. nicht: Warum beziehen sich die folgenden Dankgebete nicht auf den Tod Jesu? Was wollen die Feiernden über „Erkenntnis, Glaube und Unsterblichkeit“ (Did 10,2) hinaus noch empfangen? Auch nach D.A. Koch, Eucharistievollzug und Eucharistieverständnis in der Didache, in: D.Hellholm/D.Sänger, The Eucharist – Its Origin and Contexts. vol. II, 2017, 845–881, S. 857f, liegt in Did 9–10 eine vollständige Liturgie des Abendmahls vor. 18 Vgl. B.Kollmann, Ursprung*, 1990, bes. 255 ff. Joh 13 wird oben als eigener „Typos“ hinzugefügt. 19 Auch das MkEv stellt in der wunderbaren Brotspeisung eine schlichtere Form der sakralen Mahl gemeinschaft dar als im Abschiedsmahl Jesu (vgl. Mk 6,34–44; 8,1–10 mit Mk 14,22–25).
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Abschiedsmahl aber gab er eine besondere Bedeutung. Die große Frage ist: Welche Bedeutung gab er diesem Mahl? 3.3 Die Rekonstruktion der ältesten Abendmahlsworte
Ausgangspunkt sind die pln und mk Einsetzungsworte. Gesucht wird eine Urfassung, die verständlich macht, wie es zu einer Vielfalt von Mahltypen gekommen ist.20 a) Das Brotwort
Nur bei Paulus hat das Brotwort eine soteriologische Sinndeutung „für euch“. Sie fehlt bei Mk, wo nur das Kelchwort den Zusatz „für viele vergossen“ hat. Für die Ursprünglichkeit der einfachen mk Form: „Dies ist mein Leib“ spricht: Angesichts der Tendenz zur Symme trie beider Deuteworte zu Leib und Blut wäre zu erwarten, dass beide ein sinngebendes Element erhalten: das Brotwort die Sinndeutung „für euch“, das Kelchwort den Hinweis auf den „Bund“. Da die Tendenz zu dieser Symmetrie bei Mk (noch) nicht durchgeschlagen ist, könnte sein Brotwort ursprünglich sein. Bei Texten ist eine Kürzung schwerer verständlich zu machen als eine Erweiterung. Die mk Fassung des Brotwortes könnte aber auch sekundär sein: Im MkEv ist das Brot- und Kelchwort nicht durch den Hinweis auf ein dazwischen liegendes Sättigungsmahl getrennt. Daher könnte Mk beide Deuteworte als Einheit aufgefasst und die soteriologische Sinndeutung auf beide Elemente bezogen und ans Ende gerückt haben. Die Verlagerung der soteriologischen Formel „für euch/für viele“21 vom Brot- zum Kelchwort konnte nahe liegen, weil der Gedanke des „Sterbens für andere“ leichter mit dem Vergießen von Blut assoziiert wird als mit dem Brechen des Brotes. „Blutvergießen“ und „Töten“ sind Synonyme. Zog also das Kelchwort die soteriologische Formel sekundär an sich? Ursprüngliche Form des Brotworts wäre dann die pln Form: „Dies ist mein Leib für euch“.
Eine überzeugende Entscheidung ist nicht möglich, jedoch sprechen Argumente eher dafür, dass die kürzeste Form des Brotworts bei Mk ursprünglicher ist als seine soteriologische Deutung bei Paulus. b) Das Kelchwort
Das paulinische Kelchwort wird oft als sekundäre Erleichterung der mk Form verstanden, weil das Trinken von Blut für jeden Juden anstößig war. Dieser Anstoß wäre in der pln Formulierung: „Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut“ weggefallen. Sie sagt: Durch das gewaltsame Sterben Jesu wurde der neue Bund gegründet. Von Bluttrinken ist nicht die 20 Vgl. die beiden Rekonstruktionen bei B.Kollmann, Ursprung*, 1990, 171–174, und H.-J.Klauck, Herrenmahl*, 1982 21986, 304–314. 21 Der Ersatz von „für euch“ durch „für viele“ ließe sich bei Mk durch Einfluss von Jes 53,12 erklären, zumal Jesus schon vorher im MkEv angekündigt hat, er werde sein Leben „für viele“ dahingeben (Mk 10,45).
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Rede. Den Ersatz von „Bund“ durch „neuen Bund“ wäre eine betonte Abhebung vom „alten Bund“ – also auch eine Abgrenzung gegenüber dem traditionellen Judentum. Manche Argumente sprechen aber auch für die entgegengesetzte Annahme, dass die pln Form ursprünglich ist. Da das Trinken von Blut im Judentum undenkbar ist, dürfte die Formel bei Paulus ursprünglicher sein, die jüdischem Empfinden entspricht. Erst beim Übergang in ein paganhellenistisches Milieu wäre aus „dem neuen Bund in meinem Blut“ (nämlich „durch meinen gewaltsamen Tod“) das „Blut des Bundes“ (bei Mk) geworden. Das Trinken von Blut war in der nichtjüdischen Welt nicht anstößig; sie kannte den Gedanken des Blutbundes!22 In den meisten Texten ist ferner eine Tendenz zur Symmetrie spürbar. Höhepunkt sind Justins Deuteworten: „Das ist mein Leib“ – „Das ist mein Blut“ (Apol 1,66,3). Das pln Kelchwort wäre dann als asymmetrische Formulierung (durch seinen Bezug auf den “neuen Bund“) ursprünglicher als das markinische Kelchwort. Dann hätten die Abendmahlsworte in ihrer traditionsgeschichtlich ältesten Gestalt vielleicht so gelautet: „Dies ist mein Leib“ (nach Mk) und „Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut (= durch meinen Tod)“ (nach Pls). Doch ist auch das nicht ganz sicher. Während nämlich Paulus und die synoptische Tradition vom „Leib“ sprechen, begegnet in der joh Tradition (Joh 6,54–56) und bei Ignatius von Antiochien (Sm 7,1) auch der Begriff „Fleisch“: Die Parallelität von Fleisch und Blut spricht für eine sekundäre Angleichung beider Worte im JohEv. Aber es wäre auch denkbar, dass man die anstößige Formulierung vom Essen des „Fleisches“ durch die mildere vom „Essen des Leibes“ ersetzt hätte, denn der Leib konnte als ein „geistlicher Leib“ verstanden werden. Da das JohEv und die Ignatiusbriefe aber erst nach Paulus und den Synoptikern verfasst wurden, ist ihre Version wohl sekundär. Über die Suche nach der ältesten traditionsgeschichtlichen Fassung der Abendmahlsworte hinaus führen vielleicht einige weitere historisch Argumente zu den Worten, die Jesus möglicherweise gesprochen hat: 1. Da der Gedanke des „neuen Bundes“ im „neuen Gebot“ des joh Abschiedsmahles (Joh 13,34) eine Reminiszenz hinterlassen hat, könnte beim letzten Mahl Jesu von einem „neuen Bund“ die Rede gewesen sein, zumal schon im MkEv das Motiv des „Neuen“ in einem anderen Zusammenhang begegnet: Jesus verheißt, er werde das Gewächs des Weinstocks „neu“ im Reich Gottes trinken. 2. Dass der Gedanke eines „neuen Bundes“ erst in Jerusalem begegnet, spricht nicht gegen seine Rückführung auf Jesus. Jesus bringt schon vorher den Anspruch auf Neues im Bildwort vom „neuen Tuch“ und von „neuen Schläuchen“ (Mk 2,21f). Weil der neue Bund durch einen einmaligen Akt gestiftet wird, wäre verständlich, wenn er vorher kein Thema war. 22 Hier entfiel die im Judentum tief verankerte Tabuisierung des Blutes. Vgl. H-J.Klauck, Herrenmahl*, 1982 21986, 52 f. Doch wäre auch im Judentum ein Ritual mit Tabubruch denkbar. Rituale wirken dadurch, dass in ihrem geschützten Raum Regeln des Alltags suspendiert werden. Wenn beim Abendmahl Leib und Blut eines Menschen gegessen wird, ist das ein symbolischer Tabubruch. Vgl. G.Theißen, Veränderungspräsenz*, 2017.
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3. Der Gedanke des neuen Bundes ist in Jer 31,31–34 nicht mit Opfern verbunden. Er ist in der Damaskusschrift (CD VI,19; VIII,21; XX,12) die Selbstbezeichnung einer Vorläufergemeinde von Qumran, die nicht am Opferkult teilnahm. Vorstellungen vom ewigen Bund sind frei vom Gedanken an Opfer (Bar 2,35; vgl. Jub 1,17–23). 4. Nach dem Verheißungswort: „Ich werde nicht mehr trinken vom Gewächs des Weinstocks bis an den Tag, an dem ich aufs Neue davon trinke im Reich Gottes“ (Mk 14,25), trinkt Jesus denselben Trank im Reich Gottes. Dann aber kann dieser Wein nicht sein Blut sein, allenfalls die Erinnerung daran, dass er einmal durch seinen Tod den Zugang zum Reich Gottes ermöglicht hat. Aber wahrscheinlich ist nicht einmal das. 5. Jeder Bundesschluss ist ein einmaliger Akt. Wenn der „neue Bund“ geschlossen wird, so geschieht ein Bundesschluss nur in dieser einmaligen Situation. Paulus muss daher einen „Wiederholungsbefehl“ hinzufügen, um eine Tradition zu begründen. Anders ist es dagegen, wenn man (wie Mk 14,24) nur vom „Blut des Bundes“ spricht. Sofern es in „pneumatischer Weise“ gegenwärtig ist, kann man es immer wieder neu trinken. Auch das spräche für die Ursprünglichkeit des pln Gedankens vom „neuen Bund“. Die Abendmahlsworte des historischen Jesus hätten dann so gelautet: „Dies ist mein Leib“. „Dies ist der neue Bund in meinem Blut“. Das Brotwort sagt, was Jesus selbst für die Gemeinschaft einbringt: seinen Leib und sein Leben. Das Kelchwort sagt, was alle Teilnehmer als ein „neuer Bund“ verbindet. Möglicherweise hat man erst nach Ostern eine Aussage über den Sinn des Todes Jesu hinzugefügt. Im paganen Milieu ohne Scheu vor dem Trinken von Blut konnte dann die parallele Formulierung des MkEv entstehen: „Dies ist mein Leib“ / „Dies ist mein Blut (des Bundes)“ – ergänzt um die Bestimmung, dass es „für viele vergossen wird“ (Mk 14,22–24). Doch man kann nicht genug betonen: Es handelt sich bei solchen Rekonstruktionen um begründete Vermutungen. Exkurs: Die Funktion der Einsetzungsworte in der Abendmahlsfeier Mit dem ursprünglichen Wortlaut der Einsetzungsworte ist ihre Funktion bei den Abendmahlsfeiern im Urchristentum nicht geklärt. K.Ch.Felmy und J.Schröter unterscheiden zwischen der Begründung des Abendmahls in der Katechese und den Spendeformeln im Vollzug der Liturgie. Das würde die Variabilität der Einsetzungsworte verständlich machen. Einige Argumente sprechen aber dafür, dass die Einsetzungsworte der Evangelien beim Vollzug des Abendmahls rezitiert wurden: 1. Die liturgische Stilisierung der Einsetzungsworte nimmt bei Mt gegenüber Mk deutlich zu und findet bei Justin einen Höhepunkt, wenn er in einem konsequenten Parallelismus schreibt: „Dieses ist mein Leib“ und „Dieses ist mein Blut“ (Apol I,66,3). 2. Einige der bei Justin nachgetragenen Erklärungen beziehen sich nicht auf die Deutung des Abendmahls, sondern auf dessen Vollzug, z. B. der Ausschluss Ungetaufter (I,66,1) oder die vorhergehende Schrift lesung und Predigt (I,67,3–4). Daher gehörten wohl auch die in diesem Kontext angeführten verba testamenti zum Vollzug der Feier. 3. Unmittelbar nach den Einsetzungsworten vergleicht Justin den Mithraskult mit dem Abendmahl und betont dabei, Brot und Wasserbecher würden in den Mithrasmysterien zusammen „mit bestimmten
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Sprüchen“ gereicht (Apol I,66,4). Für eine entsprechende Darreichung der Abendmahlselemente mit Sprüchen kommen nur die verba testamenti in Frage, nicht das eucharistische Gebet. 4. Überhaupt kein Argument ist, dass bei urchristlichen Abendmahlsfeiern keiner die Rolle Jesu einnehmen konnte, indem er sagt: „Das ist mein Leib …“. Diese Einsetzungsworte gehören zu einer Erzählung vom letzten Mahl. Niemand, der diese Erzählung zitiert und dabei Jesu Worte widergibt, beansprucht damit, Jesu Stelle einzunehmen.
Wir nehmen an, dass Justin in Apol I,65–67 eine Praxis voraussetzt, bei der die Einsetzungsworte als Spendeformeln dienten. Deswegen wurden sie aber nicht an allen Orten in gleicher Form rezitiert. Die Didache kennt eine wöchentliche Mahlfeier ohne diese Worte, daneben (durch das MtEv) eine Form mit Einsetzungsworten, die jedes Jahr zum Gedenken an den Tod Jesu gefeiert wurde. Paulus setzt jedoch voraus, dass das Abendmahl immer mit Todesgedenken gefeiert wurde: „Sooft ihr von diesem Brot esst und aus dem Kelch trinkt, verkündigt ihr den Tod des Herrn, bis er kommt!“ (1Kor 11,26). Möglicherweise mahnt er dazu, weil er auch Abendmahlsformen ohne Todesgedenken kennt. Paulus hat sich damit durchgesetzt – vielleicht auch deshalb, weil das Todesgedenken nach antiken Traditionen vor allem von Frauen vollzogen wurde, die in den Gemeinden zahlreich vertreten waren.
4. Das letzte Mahl Jesu im Kontext des Passafestes Der historische Kontext der Abendmahlsworte ist in jedem Fall das Passafest. Jesus war mit seinen Jüngern zu diesem Fest nach Jerusalem gekommen. Die Jünger müssen in der Erwartung gelebt haben, mit ihm das Passamahl zu feiern. Vielleicht verbanden sie damit noch größere Erwartungen. Nach Lk 19,11 meinten Jesus und seine Anhänger beim Zug nach Jerusalem, „das Reich Gottes werde sogleich offenbar werden“. Dazu passt, dass die Lxx-Version von Jer 38,8 ein eschatologisches Passafest als Ziel einer Völkerwallfahrt erwartet: „Siehe, ich bringe sie herbei aus dem Norden und werde sie zusammenführen von den Enden der Erde am Passafest“, der Hinweis auf das Passafest fehlt freilich im hebräischen Text Jer 31,8. Jedoch bezeugt diese Überlieferung, dass beim Passafest immer wieder große Erwartungen lebendig werden konnten. Wie aber wurde es konkret gefeiert? 4.1 Jesu letztes Mahl – ein Passamahl?
J. Jeremias rekonstruierte aus rabbinischen Texten (bPes X; vgl. J.Jeremias, Abendmahlsworte* 1935 3(1960) 78–82, folgende Form der Passfeier:
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Vorspeise
1. Becher: der Kidduschbecher, der mit einem Segensspruch des Hausvaters gereicht wird. Vorspeise: Grünkräuter, Bitterkräuter und Fruchtmustunke.
Passaliturgie
Passahaggada, d.h. die Erklärung der Besonderheiten des Passamahls durch den Hausvater für seine Kinder: Ȥ Warum wird das Lamm am Spieß gebraten? Ȥ Warum gibt es bittere Kräuter als Vorspeise? Ȥ Warum wird ungesäuertes Brot gegessen? Passahallel erster Teil (= Ps 113–114): Ein Lobgesang, der in Ps 114 den Exodus aus Ägypten preist. 2. Becher: der Haggadabecher.
Hauptmahl
Tischgebet Mahl, bestehend aus Lamm, Mazzen, Bitterkräutern, Fruchtmus und Wein. 3. Becher: der Segensbecher, der zu jedem Festmahl gehörte, mit Tischgebet.
Abschluß
Passahallel, zweiter Teil (= Ps 115-116) mit einem Danklied eines Geretteten, der den Becher des Heils (Ps 116,13) erhebt. 4. Becher: der Hallelbecher (vgl. Ps 116,13) mit Lobspruch.
Die aus späteren rabbinischen Texten rekonstruierte Feier des Passamahls umfasst vier Teile. Wenn man das letzte Mahl Jesu als Passamahl deuten will, muss man freilich voraussetzen, dass der Ablauf des Passamahls als so selbstverständlich vorausgesetzt wird, dass er nicht mehr erzählt werden muss und dass nur einzelne Elemente dieses Mahls hervorgehoben werden, die für die Jesusanhänger wichtig waren. Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dem rekonstruierten Passamahl und dem letztem Mahl Jesu sind im Folgenden nebeneinander gestellt:23 Gemeinsamkeiten
1. D as Passamahl musste in Jerusalem gefeiert werden. Obwohl Jesus sein Quartier in Bethanien hatte, feierte er sein letztes Mahl in Jerusalem. 2. D as Passamahl wird in der Nacht eingenommen, während Hauptmahlzeiten sonst am späten Nachmittag gegessen wurden. Jesu Abschiedsmahl fand in der Nacht statt. 3. I n der Passanacht sollte man die Stadt Jerusalem nicht verlassen. Auch Jesus bleibt nach seinem letzten Mahl im Stadtbezirk (in Gethsemane).
Unterschiede
Jesus deutet Brot und Wein während der Austeilung.
Die Passaliturgie deutet das Geschehen vor der Hauptmahlzeit
Jesus gibt eine ganzheitliche Deutung beider „Elemente“.
Die Passaliturgie deutet nur das Besondere: das ungesäuerte Brot.
Die Jünger trinken aus einem Becher.
Beim Passamahl haben alle einen eigenen Becher.
23 Vgl. J.Jeremias Abendmahlsworte*, 19353, 1960, 35 ff.
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Gemeinsamkeiten und Unterschiede kann man mit J. Jeremias so deuten, dass Jesus einem Passamahl durch eine Gleichnishandlung einen neuen Sinn gab: Das Zerreißen des Brotfladens deutete er auf seinen gewaltsamen Tod, die Farbe des Traubensafts auf sein vergossenes Blut. Die Überlieferung hätte aus dem Passamahl nur die Aspekte herausgehoben, die ihm eine besondere Bedeutung gaben. Ein Problem aber ist damit nicht gelöst: Wir wissen nicht, wie das Passa zu Jesu Zeiten gefeiert wurde. Die rabbinischen Texte sind viel jünger als das NT.24 Vor allem aber gibt es Zweifel daran, dass Jesu Abschiedsmahl wirklich ein Passamahl gewesen ist. 4.2 Kritik an der Deutung des letzten Mahls als Passamahl
Eine innere Unwahrscheinlichkeit spricht dagegen, dass Jesu Abschiedsmahl ein Passamahl war. Das Passa wird jährlich einmal gefeiert. Wäre Jesu Abschiedsmahl ein Passamahl gewesen, so wäre es zur Entstehung eines jährlichen Mahls gekommen. Christen aber feierten wöchentlich das Abendmahl (vgl. 1Kor 11,17–23; Did 14,1; Plin Ep X,96,7; Justin Apol I,67,3.7). Hinzukommen weitere Schwierigkeiten: Das Passa wird in der Familie mit Frauen und Kindern gefeiert. Jesus feiert sein Abschiedsmahl aber (nach dem MkEv) mit seinen zwölf Jüngern allein. Wäre es ein Passamahl, müssten die Frauen, die ihm nach Jerusalem nachfolgten, teilnehmen und in der Erzählung sichtbar werden. Falls sie anwesend waren und unsichtbar gemacht worden sind, hat die Erzählung ganz gewiss nicht an ein Passamahl gedacht. Die Einsetzungsworte geben keinen Hinweis auf ein Passamahl, die Passadeutung kommt nur durch ihren Kontext bei den Synoptikern zustande. Erst das LkEv stellt nicht nur im Rahmen, sondern in den Einsetzungsworten selbst eine Beziehung zum Passafest her. Die äußere Unwahrscheinlichkeit einer Identifikation des letzten Mahls mit dem Passamahl ist in der Chronologie begründet: Nach der johanneischen Chronologie starb Jesus am Freitag, den 14. Nisan, vor Beginn des (mit Sonnenuntergang) beginnenden Passafestes. Diese Chronologie wird unterstützt von Paulus, wenn er sagt: „Christus ist als unser Passa geopfert worden“ (1Kor 5,7). Das passt besser zu seinem Tod kurz vor Beginn des Passafests, also zu einem Zeitpunkt, als die Passalämmer im Tempel geschlachtet wurden. Wenn Paulus das Abschiedsmahl in die „Nacht, als Jesus ausgeliefert wurde“ datiert, so spricht das nicht gegen diese Chronologie, sondern eher für sie: Warum datiert Paulus es nicht explizit in die Passanacht? All dies sind freilich nur kleine Indizien. Entscheidend ist, dass die gesamte (vor-)mk Passionsgeschichte besser verständlich wird, wenn Jesus (wie in EvPetr 2(5) und in bSanh 43a) schon vor dem Fest verurteilt und hingerichtet wurde:
24 So G.Stemberger, Pesachhaggada und Abendmahlsberichte des Neuen Testaments, in: ders., Studien zum rabbinischen Judentum, 1990, 357–374. Falls die Passahaggada erst im Mittelalter entstanden ist, entfiele sie als Rekonstruktionsgrundlage. Vgl. C.Leonhard, Pesach and Eucharist, in: D.Hellholm/ D.Sänger, The Eucharist – Ist Origin and Contexts, vol. I. 2017, 275–312. Doch war eine Passafeier zweifellos der historische Rahmen der letzten Tage Jesu. Vgl. K.O.Sandness, Jesus’ last Meal According to Mark and Matthew: Comparison and Interpretation, in: D.Hellholm/D.Sänger, The Eucharist – Its Origin and Contexts, vol. I. 2017, 453–476, S. 469–472.
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1. Nach Mk 14,1f soll Jesus nach dem Willen seiner Gegner noch vor dem Fest beseitigt werden. Das passt zum Bericht Joh 18–19, wonach Jesus tatsächlich vor dem Fest starb. 2. Eine Gerichtsverhandlung am Passa wäre ein Verstoß gegen das Feiertagsgebot – zumal eine Gerichtsverhandlung mit Todesurteil (Mk 14,55–64). 3. Eine Passaamnestie (Mk 15,6) macht nur Sinn, wenn der Freigelassene die Chance hat, am Passafest teilzunehmen. 4. Nach Mk 15,21 kommt Simon von Kyrene vom Acker. Zwar wird nicht ausdrücklich gesagt, dass er von der (am Festtag verbotenen) Arbeit zurückkommt, aber das wäre ein naheliegendes Verständnis der Notiz – zumal er zu einer abscheulichen Arbeit erpresst wird: Er muss Jesu Kreuz tragen! 5. Nach Mk 15,42 wird die Kreuzigung auf einen „Rüsttag“ datiert, d. h. den Tag vor dem Sabbat. Dass das Passafest, eins der drei großen Wallfahrtsfeste, nur als „Rüsttag“ zu einem folgenden Sabbat bezeichnet wurde, ist unwahrscheinlich. Wahrscheinlich ist der Rüsttag zum Passa gemeint (wobei Passafest und Sabbat zusammenfallen konnte). 6. Nach Mk 15,46 kauft Joseph von Arimathia ein Leintuch, um Jesus zu begraben. Es ist schwer vorstellbar, dass er an einem hohen Feiertag einen Händler fand, der ihm diese Ware lieferte! Wenn diese Überlegungen stimmen, wäre Jesus zum Passafest nach Jerusalem gezogen, wurde aber hingerichtet, bevor er das Passa feiern konnte. Sogar das LkEv enthält eine Erinnerungspur daran. Denn Jesus beginnt bei ihm das Mahl mit den Worten: „Ich habe mich sehr danach gesehnt, dies Passa mit euch zu essen vor meinem Leiden“ (Lk 22,15). Der Ausdruck des Sehnens (epithymia epethymēsa) meint keine in Erfüllung gegangene Sehnsucht. Im Gegenteil, Lk sagt in 17,22, dass sich die Jünger einmal (vergeblich) danach „sehnen“ (epithymein) werden, einen der Tage des Menschensohns zu sehen. Wenn Jesus mit der Absicht nach Jerusalem kam, ein Passa zu feiern, so wäre verständlich, dass die Überlieferung aus dieser Absicht ein tatsächliches Geschehen machte – zumal es für seine Anhänger wahrscheinlich ein Bedürfnis gab, synchron zum Passafest der Juden ein eigenes Fest zu feiern. Wir nehmen daher eine sekundäre Umdatierung des letzten Mahls vom Vortag des Passafestes (nach der joh Tradition) auf das Passafest bei den Synoptikern an. Zum ersten Mal ist sie im MkEv belegt, das in einem heidenchristlichen Milieu entstanden ist. Unter nichtjüdischen Christen konnte diese „Verschiebung“ des Tages leicht geschehen, weil der Tag nur für Juden mit Sonnenuntergang begann, aber für Nicht-Juden mit Sonnenaufgang.25 Wenn Jesus zusammen mit seinen Jüngern das Passamahl (am Abend des Passatages) gefeiert hat, wurde er also in den Augen von Nicht-Juden nicht am Passafest selbst hingerichtet, 25 Das alte Israel teilte wohl die verbreitete Datierung des Tagesbeginns mit Sonnenaufgang. In Gen 1,3–5 beginnt der erste Tag mit der Erschaffung des Lichtes, also mit dem Sonnenaufgang. Aber in Gen 1,5b heißt es: „Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag“. Wahrscheinlich hat sich ein Wechsel in der Tageseinteilung im Exil durchgesetzt. Vgl. J.Belzer, Art. Tagesbeginn, NBL 3 (2001) 770 f. H.W.Hoehner, The Chronology of Jesus, Handbook for the Study of the Historical Jesus 3, 2011, 2339–2350, nimmt für Galiläa und Pharisäer die Tageseinteilung von Sonnenuntergang bis Sonnenuntergang an, für Judäa und das offizielle Judentum (einschließlich der Sadduzäer) dagegen die von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang.
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sondern erst nach dem Fest. Sie konnten das Vorhaben des Synedriums, dass Jesus nicht am Fest selbst inhaftiert werden sollte (Mk 14,2), so verstehen, dass er nach dem Passafest inhaftiert werden sollte. In ihren Augen hätte ihn das Synedrium erst nach dem Fest verurteilt. Es war dann auch kein Problem mehr, dass Simon Kyrene an diesem Tag auf seinem Acker gearbeitet und Josef von Arimathäa ein Leintuch gekauft hätte (Mk 15,21.46). Das Passafest wäre ja in ihren Augen vorbei gewesen. Die mk Datierung des Todes Jesu auf den Tag nach dem Passamahl konnte sich daher in den Synoptikern durchsetzen. Eine Erinnerungsspur der historisch zutreffenden Zeit seines Todes vor Beginn des am Abend beginnenden Passa festes blieb dagegen im JohEv und in der im MkEv verarbeiteten Passionsgeschichte erhalten. Jesu Inhaftierung, Verurteilung in der Nacht, seine Kreuzigung und sein Begräbnis waren danach vor Beginn des Festes geschehen. Die vormarkinische Passionsgeschichte zeigt noch Spuren der alten jüdischen Tageseinteilung: Erst nach Sabbatende kaufen die Frauen am Abend der Hinrichtung Öl, um am Morgen des ersten Wochentags in der Frühe zum Grab zu gehen (Mk 16,1f).26 Dass Jesus nach Mk 14,2 nicht am Fest hingerichtet werden sollte, wäre in der Tradition des MkEv auf eine beabsichtigte Hinrichtung vor Beginn des Passas zu deuten. Dadurch, dass in der Endredaktion des MkEv die Ereignisse der Passion aber der allgemeinen Tageseinteilung folgen, konnten alle Vorgänge, die historisch vor Beginn des jüdisch berechneten Passafests geschehen waren, aber am Festtag selbst nicht vorstellbar waren, zu Vorgängen nach Passafeier und Passanacht werden. An diesem Tag ohne Festcharakter konnten in der Endredaktion des MkEv die Verurteilung Jesu am frühen Morgen und seine Hinrichtung am Tag geschehen. Die Vermischung von zwei Terminen von Jesu Abschiedsmal ist vom Inhalt her verständlich: Jesu Abschiedsmahl war zwar in der vormarkinischen Passionsgeschichte und im JohEv kein Passamahl, geschah aber in Erwartung des Passafestes an einem Ort, der für das Passafest der Jünger vorgesehen war.27 Um die Verwandlung des letzten Mahls Jesu in ein Passamahl zu verstehen, muss man daher nicht zwei konkurrierende Kalender im Judentum annehmen, sondern für die geschichtlichen Ereignisse selbst die jüdische Tageseinteilung voraussetzen, für deren Verarbeitung in den synoptischen Erzählungen die allgemeine Tageseinteilung. Bei dieser Verschiebung handelt es sich aber um mehr als eine Verwechslung aufgrund verschiedener Tageseinteilungen: Jüdische Jesusanhänger hatten nach Ostern ein starkes Motiv, ihre Gedenkfeier an Jesu Tod mit dem Passafest ihrer jüdischen Nachbarn zu synchronisieren. Auch sie feierten hier den Anbruch einer neuen Zeit.
26 Die hier erkennbare jüdische Tageseinteilung begegnet im MkEv auch sonst, wenn in Mk 1,32 erst am Abend nach Sabbatende Kranke zu Jesus gebracht werden. Die allgemeine Tageseinteilung ist aber in Mk 14,12 vorausgesetzt: „Und am ersten Tag des Festes der ungesäuerten Brote, da man das Passalamm schlachtete, sagten ihm seine Jünger …“. Die Schlachtung des Passalamms erfolgte am 14. Nisan, der erste Tag des Festes der ungesäuerten Brote begann erst an dessen Abend als 15. Nisan. Nach der allgemeinen Tageseinteilung konnte man dagegen wie in Mk 14,12 Schlachtung des Passlamms und Passamahl am selben Tag ansetzen. 27 H.Löhr, Das letzte Mahl Jesus*, 2017, 468: „Denkbar ist übrigens auch, dass der Kreis um Jesus sich schon vor dem Beginn des Festes zu einem in Erinnerung an das Passa begangenen Mahl versammelte.“
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5. Das letzte Mahl Jesu im Kontext seiner Todeserwartung War Jesu letztes Mahl ein bewusstes Abschiedsmahl? Hat Jesus seinen Tod dabei nicht nur geahnt oder vorausgesehen, sondern sogar als Erfüllung seiner Sendung verstanden?28 Oder zog er in Erwartung der bald hereinbrechenden Gottesherrschaft nach Jerusalem und erlebte sein Ende gegen alle seine Erwartungen als Katastrophe? „Die Möglichkeit, dass er zusammengebrochen ist, darf man sich nicht verschleiern.“29 5.1 Die Jüngerflucht
Sicher ist: Der Tod Jesu durchkreuzte die Erwartungen der Jünger. Alle flohen (Mk 14,50). Diese anstößige Erinnerung ist nicht erfunden und wird im JohEv dadurch gemildert, dass wenigstens der Lieblingsjünger nicht flieht (Joh 19,26f). Auch verdanken wir der Jüngerflucht, dass Frauen in der Nachfolge Jesu, die sonst unsichtbar blieben, am Ende doch noch in der Erzählung sichtbar werden. Sie sollen zeigen: Nicht alle Anhänger haben Jesus im Stich gelassen (Mk 15,40–41). Die Emmausgeschichte (Lk 24,13–35) illustriert, welch eine Katastrophe die Hinrichtung Jesu für die Jünger war: Sie hatten eine Erlösung Israels erwartet (24,21). Jesu Tod hatte ihre Hoffnung durchkreuzt. Erst der Auferstandene muss sie lehren, dass der Messias leiden muss (24,26). Viel spricht dafür, dass dies der Wahrheit entspricht: Die Einsicht in die Notwendigkeit des Leidens wäre dann nachösterlich. Alle Leidensweissagungen, die diese Notwendigkeit schon den irdischen Jesus aussprechen lassen (Mk 8,31f u.ö.), dürften spätere Erkenntnisse sein, die dem Irdischen nachträglich in den Mund gelegt wurden – vielleicht in Abwandlung von Aussagen Jesu über das allgemeine Todesschicksal, das jeden Menschen (und auch ihn) erwartet. Doch müssen die Hoffnungen der Jünger und die Erwartungen Jesu nicht dieselben gewesen sein. Daher ist die Frage berechtigt: Hat Jesus selbst realistisch mit der Möglichkeit seines Todes gerechnet – unabhängig davon, was die Jünger von ihm erwarteten? 5.2 Das gewaltsame Geschick der Propheten30
Das Geschick eines Propheten stand Jesus deutlich vor Augen: die Hinrichtung des Täufers. In der Diskussion über die Vollmacht zur Tempelreinigung verbindet Jesus seine Autorität mit der des Täufers (Mk 11,27–33). Musste er nicht sein ganzes Schicksal mit ihm parallelisieren? Der Täufer war nur der letzte einer Reihe getöteter Propheten. Die Worte von deren unvermeidlichem Märtyrertod könnten auf den historischen Jesus zurückgehen und durch 28 Nach P.Stuhlmacher, Biblische Theologie I, 1992, 154, sah Jesus seinen Tod voraus und bejahte ihn, um durch Sühne für die vielen (d. h. für Israel und die Völker) Versöhnung mit Gott zu bewirken. 29 R.Bultmann, Das Verhältnis der urchristlichen Christusbotschaft zum historischen Jesus, in: Exegetica, 1967, 445–459, S. 453. Vgl. zum Problem: H.Schürmann, Jesu ureigener Tod, 1975; L.Oberlinner, Todeserwartung und Todesgewißheit Jesu. Zum Problem einer historischen Begründung, 1980. 30 O.H.Steck, Israel und das gewaltsame Geschick der Propheten, 1967.
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das Geschick des Täufers angeregt sein (vgl. QLk 11,49–51; 13,34–35). In ihnen gibt es Spannungen zu einer nachösterlichen Perspektive: 1. Bemerkenswert ist die Vielzahl der Propheten: Der Tod Jesu wäre nach Ostern kaum in die Kette vieler Prophetenmorde eingeordnet worden, ohne besonders hervorgehoben zu werden. Paulus kennt die Einordnung der Tötung Jesu in die Prophetentötungen, legt aber einen besonderen Akzent auf dessen Geschick (1Thess 2,15). 2. Auch die Todesart passt nicht zu Jesu Hinrichtung: Lk 13,34 klagt Jerusalem an, weil es seine Propheten „steinigt“, erst das MtEv ersetzt „Töten“ durch „Kreuzigen“ (Mt 23,34– 36; vgl. Lk 11,49–51). 3. Die fehlende soteriologische Deutung des Todes wäre für die nachösterliche Zeit erstaunlich. Paulus setzt sie in 1Kor 15,3–11 als Konsens aller Apostel voraus. Freilich sprechen die Worte vom gewaltsamen Tod der Propheten nur indirekt von Jesus! Das hier belegte Prophetenbild könnte schon für Jesus vorauszusetzen sein – zumal er das Geschick des Täufers vor Augen hatte, das diesem Bild entsprach. Da dieses Prophetenbild auch von Paulus bezeugt wird, ist es keine Sonderlehre von Q. 5.3 Das Gleichnis von den bösen Winzern (Mk 12,1–9par)
Die Tradition vom gewaltsamen Geschick der Propheten liegt auch dem Gleichnis von den bösen Winzern zugrunde. Es wird oft als nachösterliche Bildung betrachtet: Die Tötung des „Sohnes“ soll die Zerstörung Jerusalems erklären. Das Bildmaterial selbst ist für die Welt Jesu gut belegt.31 Es spiegelt die rebellische Stimmung von Pächtern gegen abwesende Gutsherren. Entscheidend ist: Das Gleichnis widerspricht in zwei Zügen dem tatsächlichen Geschehen. Erstens töten in ihm die Pächter (d. h. die religiöse und politische Elite Israels) den Sohn, während Jesus durch die Römer hingerichtet wurde. Zweitens werfen die Pächter die Leiche des Sohnes aus dem Weinberg hinaus, nachdem sie ihn noch im Weinberg getötet hatten. Jesus aber wurde nicht in Jerusalem, sondern vor den Toren der Stadt getötet.32 Seine Leiche wurde nicht „hinausgeworfen“, sondern erhielt ein Begräbnis. In diesem Gleichnis könnten vorösterliche Aussagen Jesu erhalten sein.33 Wir müssen damit rechnen: Jesus wusste, dass er gefährdet ist.
31 Vgl. M.Hengel, Das Gleichnis von den Weingärtnern Mc 12,1–12 im Licht der Zenonpapyri und der rabbinischen Gleichnisse, ZNW 59 (1968) 1–39. 32 Mt 21,39 ändert daher die Reihenfolge: „Sie warfen ihn (zuerst) aus dem Weinberg und töteten ihn (dann)“ (ähnlich Lk 20,15). Beide passen das Gleichnis an das Geschick Jesu an, bestätigen aber eben dadurch dass es ursprünglich keine nachträgliche Deutung des Todes Jesu war. 33 So J.H.Charlesworth, Jesus within Judaism, 1988, 139 ff.
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5.4 Mk 14,25 – Ausdruck von Naherwartung oder Todesprophetie Jesu?
Die Flucht der Jünger und der Zusammenbruch ihrer Erwartungen aufgrund der Kreuzigung Jesu sprechen zwar dagegen, dass Jesus ihnen seinen Tod prophezeit hat. Denkbar sind aber Aussagen Jesu zur allgemeinen Möglichkeit seines Todes, verbunden mit der Hoffnung, bald im Reich Gottes zu sein. Eine solche „Todesprophetie“ könnte Mk 14,25 sein: „Wahrlich, ich sage euch, dass ich nicht mehr trinken werde vom Gewächs des Weinstocks bis an den Tag, an dem ich aufs Neue davon trinke im Reich Gottes“. Dieses Wort kann Ausdruck intensiver Naherwartung sein: Wenn Jesus das nächste Mal Wein trinken wird, wird das Reich Gottes da sein – ohne dass Jesus vorher gestorben ist. Das Wort könnte aber auch sagen: Jesu Tod steht unmittelbar bevor. Nach seinem Tod wird er im Reich Gottes wieder Wein trinken. Eine solche nach beiden Seiten hin offene Zukunftserwartung könnte Jesus gehabt haben: Ihm war die Gefahr bewusst, eines gewaltsamen Todes zu sterben, aber er hoffte, dass vorher die Gottesherrschaft anbricht.34 Alle Berichte stimmen ferner darin überein, dass er bei diesem Abschiedsmahl seinen Jüngern etwas von bleibender Wichtigkeit hinterließ: Bei Johannes den Auftrag, eine Liebesgemeinschaft als Mahlgemeinschaft zu verwirklichen; bei Synoptikern und Paulus das urchristliche Mahlsakrament. Falls die oben vertretene johanneische Datierung des letzten Mahls richtig ist, ist die Annahme einer bewusst erlebten Todesnähe fast unausweichlich. Denn wäre Jesus sicher gewesen, mit den Jüngern noch das Passa feiern zu können, hätte es nähergelegen, dies Fest zum Rahmen seines „Vermächtnisses“ zu machen. Wenn er ein Mahl kurz vorher als Vermittlung seines Vermächtnisses gestaltet, so weiß er: Seine Zeit ist befristet. Es könnte sein letztes Mahl mit den Jüngern sein. Auf eine Formel gebracht: Jesus lebte in Erwartung seines nahen möglichen Todes, nicht aber in Todesgewissheit. Jesu Konflikte waren in der letzten Woche eskaliert. Er hatte allen Grund, sich bedroht zu fühlen.
6. Das letzte Mahl Jesu im Kontext des Konflikts mit dem Tempel Das letzte Mahl Jesu war eine seiner „Symbolhandlungen“. Was für die galiläischen Symbolhandlungen gilt, ist auch für die in Jerusalem anzunehmen: Tempelreinigung und letztes Gemeinschaftsmahl interpretieren sich gegenseitig und müssen beide im Horizont der eschatologischen Hoffnung beim Einzug in Jerusalem gedeutet werden. Zu diesen Hoffnungen gehörte auch die Erwartung eines neuen Tempels.
34 Das Gethsemanegebet: „Abba, mein Vater, alles ist dir möglich, nimm diesen Kelch von mir; doch nicht, was ich will, sondern was du willst!“ (Mk 14,36), könnte zutreffend die Grundhaltung Jesu in seinen letzten Tagen – verdichtet zu einer idealen Szene – festhalten: Er rechnet mit seinem Tod (dem Kelch), hofft aber auf das rettende Eingreifen Gotte.
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6.1 Die Sehnsucht nach einem neuen Tempel
Die Sehnsucht nach einem neuen Tempel ist für die damalige Zeit gut belegt. Die Essener lehnten den Opferkult in Jerusalem ab (CD IV,18,1; 1QpHab XII,7f), schickten Weihegeschenke zum Tempel (Ant 18,19), verstanden aber ihre Gemeinde als das neue Heiligtum, in dem spirituelle Opfer und Gesetzestaten die Opfer ersetzten (4QFlor III,6f), auch um für Vergehen Sühne zu leisten (1QS III,6–10).35 Sie warteten gleichzeitig auf ein neues reales Heiligtum. In der Tempelrolle verheißt Gott: Und ich werde mein [Heilig]tum mit meiner Herrlichkeit heiligen, da ich einwohnen lasse über ihm meine Herrlichkeit bis (?) zum Tag der Schöpfung, an dem ich mein [Hei]ligtum (neu) schaffen werde, um es mir für all[ez]eit entsprechend dem Bund zu bereiten, den ich mit Jakob in Bethel geschlossen habe. (11Q 19 29,8–10)36
Die Tierapokalypse (äthHen 85–90,42) weissagt (Ende des 2. Jh. v. Chr.) die Zerstörung eines alten Hauses und die Errichtung eines neuen größeren Hauses (äthHen 90,28–29): ebenso bezeugen das Jubiläenbuch (1,29) und die Apokalypse 4Esr (10,50–55) die Hoffnung auf einen neuen Tempel.37 An diese Sehnsucht nach einem Tempel konnte auch Herodes I. anknüpfen, als er an Stelle des alten Tempels einen neuen baute, „durch den er Gott das ihm geschenkte Königtum vergelten könne“ (Ant 15,387).38 Er wollte mit ihm sein Königtum legitimieren. Deshalb bemühte er sich, keine religiösen Vorschriften zu verletzen. Er ließ Priester zu Baumeistern und Bauhandwerkern ausbilden, damit nur heilige Personen am inneren Tempel bauten (Ant 15,390). Er hoffte, auch Gruppen für sich zu gewinnen, die in Opposition zum Tempel standen. So hat er sich um ein gutes Verhältnis zu den Essenern bemüht. Einer ihrer „Propheten“ hat sein Königtum sogar durch Weissagung legitimiert (Ant 15,372–379). Herodes gelang es jedoch nicht, alle jüdischen Gruppen für sein Tempelprojekt zu gewinnen. Gegen Ende seiner Regierungszeit kam es sogar zu einem Protest gegen den Tempel: Er hatte über der Pforte des Tempels einen goldenen Adler als Symbol des römischen Imperiums anbringen lassen (Ant 17,151). Ein Schriftgelehrter inspirierte eine Verschwörung, um ihn zu beseitigen. Sie endete mit der Hinrichtung der Verschwörer (Ant 17,149–167). Nach dem Tode des Herodes verlangten viele die Bestrafung der Verantwortlichen (Bell 2,5–7). Der Zwischenfall zeigt, dass viele Juden die ideologische Absicht des Tempelbaus durchschauten.
35 G.Klinzing, Die Umdeutung des Kultus in der Qumrangemeinde und im Neuen Testament, 1967. 36 J.Maier, Die Qumran-Essener: Die Texte vom Toten Meer I, 1995, 392. 37 Die Sehnsucht nach einem anderen Tempel begegnet in subtiler Form auch bei Philo. Nach ihm hat Gott die ganze Welt zu seinem Tempel gemacht, der von menschlicher Hand gemachte Tempel ist ein Zugeständnis an menschliche Bedürfnisse der Gottesverehrung (SpecLeg 1,66f). 38 Vgl. M.Küchler, Jerusalem. Ein Handbuch und Studienreiseführer zur Heiligen Stadt, Orte und Landschaften der Bibel IV,2, 2007, 133–141.
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Auch die Samaritaner hat Herodes nicht für seinen Tempel gewinnen können. Diese mussten seinen Tempelbau als erneute Abwertung ihrer eigenen Tempeltradition erleben. Sie demonstrierten nach dem Tod des Archelaos, des Sohnes Herodes I. und der Samaritanerin Malthake, ihre Ablehnung des Tempels: Sie verunreinigten nachts heimlich die Säulenhallen und den Tempel durch Leichenknochen. Wahrscheinlich hat man danach den Schutz des Tempels vor „Fremden“ verstärkt (Ant 18,30) und Warninschriften angebracht, die jedem Fremden verboten, den inneren Tempelbezirk zu betreten.39 Man wählte in der Inschrift den Begriff „Fremder“, der auch Samaritaner umfasste (wie in Lk 17,18), auf die der Begriff „Heiden“ (ethnē) nicht zutraf (vgl. Mt 10,5). Dass die Inschriften auch in Latein formuliert waren (Bell 5,194; 6,125), weist auf eine Entstehungszeit, in der die Römer direkt Judäa verwalteten und den Tempel kontrollierten, also auf die Zeit seit Coponius (6–8 n. Chr.), dem ersten Präfekten, der im Auftrag der Römer Judäa verwaltete. In seiner Amtszeit hatten die Samariter den Tempel verunreinigt. Eine dritte Form der Opposition gegen den Tempel begegnet in Gestalt einiger Propheten in der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts: Bei Johannes dem Täufer blieb diese Tempelopposition latent, bei Jesus, Stephanus (Apg 6,6–8,3) und einem samaritanischen Propheten (Ant 18,85–89) wurde sie dagegen manifest. Dass sich eine prophetische Tempelopposition gerade in dieser Zeit zu Wort meldet, korreliert mit der Chronologie des Tempelbaus: Mit dem Bau war ca. 20/19 v. Chr. begonnen worden, seine Einweihung geschah 9/8 v. Chr., als alles für den Kultbetrieb Notwendige fertig war. Danach war der Bau weitergegangen. Nach Joh 2,20 betrug die Bauzeit 46 Jahre. Das zentrale Tempelgebäude, das naos (Joh 2,19) im Unterschied zum hieron (Joh 2,14) heißt, wäre im Jahr 27/28 n. Chr. vollendet gewesen, also genau in der Zeit, als Johannes der Täufer und Jesus auftraten. Vielleicht war gerade der „Abschluss“ der Bauarbeiten ein Anlass, den Tempel in Frage zu stellen.40 Es gab nur zwei wirkliche Analogien zu Jesu tempelkritischen Symbolhandlungen: die Beseitigung des Adlers am Tempel und die Verunreinigung des Tempels durch Leichenknochen. Die Tempelaktion Jesu unterscheidet sich deutlich von ihnen: Sie wandte sich nicht gegen die Römer wie die Beseitigung des Adlers. Sie lehnte auch nicht wie die samaritanische Protestaktion den Tempel als unrein ab, sondern bejahte ihn, kritisierte aber, was in ihm geschah. Nur bei Jesus finden wir beides zusammen: Die Erwartung eines eschatologischen Tempels und eine kultkritische Symbolhandlung. Das unterscheidet Jesus z. B. von der Qumrangemeinde, die Kritik am Tempel mit der tempelfreundlichen Geste verband, Weihegeschenke zum Tempel zu senden.
39 Das Verbot an die Heiden, den inneren Tempelbezirk zu betreten, ist gut bezeugt bei Philo LegGai 212; Apg 21,28f; Jos. Ap 2,102–104. Vgl. H.Schwier, Tempel und Tempelzerstörung. Untersuchungen zu den theologischen und ideologischen Faktoren im ersten jüdisch-römischen Krieg (66–74 n. Chr.), 1989, 57–61. 40 V.Epstein, The Historicity of the Gospel Account of the Cleansing of the Temple, ZNW 55 (1964) 42– 58, erschließt für die damalige Zeit eine Verlegung der Orte, an denen die Opfertiere verkauft wurden. Das habe Unmut erregt.
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6.2 Die Tempelaktion Jesu als kultkritische Symbolhandlung41
Jesus kam eine Woche vor Beginn des Passafestes nach Jerusalem. Das war üblich, da die Reinigungsriten, um am Fest teilnehmen zu können, eine Woche brauchten (vgl. Num 19; Joh 11,55). Menschen, die sich verunreinigt hatten, wurden am dritten und siebten Tag mit Reinigungswasser besprengt (Num 19,19). Trotz relativ vieler Überlieferungen aus der letzten Woche Jesu in Jerusalem fehlt jedoch jeder Hinweis darauf, dass Jesus und seine Jünger an diesen Riten teilgenommen haben. Werden sie als selbstverständlich vorausgesetzt (so E.P.Sanders)?42 Aber wie konnten dann Überlieferungen entstehen, die genau das Gegenteil sagen? Im Fragment eines unbekannten Evangeliums wirft ein pharisäischer Oberpriester Jesus vor: „Wer hat dir gestattet, diesen Reinheitsbezirk zu betreten und diese heiligen Geräte zu besehen, ohne dass du dich badetest oder gar ohne dass deine Jünger die Füße wuschen …?“ (POx 840)43. Auch das JohEv weiß nichts von Reinigungsriten Jesu und seiner Jünger, obwohl es die Notwendigkeit kultischer Reinheit für das Passafest betont (Joh 11,55; 18,28). In ihm erfüllt die Fußwaschung Jesu alle Reinheitsforderungen: „Wer gewaschen ist, bedarf nichts, als dass ihm die Füße gewaschen werden; denn er ist ganz rein.“ (13,10).44 Der Schluss liegt nahe: Jesus übernahm nicht die Reinigungsriten. Das zeigt eine Distanz gegenüber dem Tempel! Sie wird ferner in Tempelreinigung und Tempelprophetie sichtbar. Jesus hatte durch seinen Einzug in Jerusalem als Gegendemonstration zum Einzug des römischen Statthalters die politische Elite provoziert. Mit seiner Tempelkritik provozierte er die religiöse Elite. Der Täufer hatte den Tempel nur indirekt kritisiert: Der Tempelkult reichte ihm zur Sündenvergebung nicht aus. Jesus aber griff ihn direkt an. Seine Tempelaktion passt als symbolische Handlung zu seiner Botschaft: 1. Die Tempelaktion kritisiert den Tempel als Finanzzentrum. Jesus störte den Handel mit Geld und Opfertieren (Mk 11,15). Mammon und Gott waren für ihn unvereinbar, der Zugang zu Gott darf nicht vom Geld abhängen. Das entsprach seiner Heilspredigt für die Armen. 2. Sie wandte sich gegen die Abschirmung des Tempels nach außen hin: Er sollte eine Gebetsstätte für alle Völker werden (Jes 56,7 = Mk 11,17). Das entsprach seiner Erwartung, dass Menschen aus allen Völkern in das Reich Gottes strömen werden. 3. Sie wandte sich gegen den Weiterbau am unvollendeten Tempel, wenn Jesus verhinderte, dass Baumaterialien durch ihn getragen wurden. Der Tempel sollte bald durch einen neuen Tempel ersetzt werden. Das entsprach Jesu Erwartung einer neuen Welt. 41 Chr.Niemand, Weg ans Kreuz*, 2007, 203–246. 42 E.P.Sanders, The Historical Figure of Jesus, 1993, 250 f. 43 Vgl. T.Nicklas, Das Fragment Oxyrhynchus V 840 (P.Oxy. V 840), in: Ch.Markschies/J.Schröter, Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, 2012, 357–359. 44 Im JohEv schafft Jesus durch Wunder Reinheit, verwandelt Wasser für Reinigungsriten in Wein (2,1– 10), ersetzt Reinheitsriten durch Wunder am Teich von Bethesda und durch das Wasser des Siloateiches (5,2–18; 9,1–7). Entscheidend ist: Die Jünger sind rein durch das Wort, das Jesus zu ihnen spricht (15,3).
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Ferner gehören Jesu symbolische Tempelaktion und seine Tempelprophetie sachlich zusammen. Im JohEv werden sie im Text unmittelbar aufeinander bezogen (Joh 2,14–22), spielen jedoch in der Anklage gegen Jesus keine Rolle. Im mk Passionsbericht wird die Tempelprophetie dagegen als „falsches Zeugnis“ gegen Jesus ausgespielt (Mk 14,58). Gerade dieses „falsche Zeugnis“ aber bezieht sich auf ein authentisches Jesuswort. Seine verschiedenen Fassungen zeigen, welche Verlegenheit es bereitete – teils, weil es anders erfüllt wurde, teils, weil es Jesus eine destruktive Botschaft zuschrieb. 1. Nach Mk 14,58 bestand es aus einem negativen und einem positiven Teil: Jesus werde den Tempel zerstören und in drei Tagen einen nicht mit Händen gemachten Tempel an seiner Stelle errichten. Falsches Zeugnis ist die Unterstellung, Jesus wolle den Tempel (etwa durch Brandstiftung) zerstören. Seine Prophetie sagt, dass Gott ihn zerstören und erneuern wird – eine Erwartung, die nicht ohne Analogien ist (vgl. äthHen 90,28f). 2. Mk 13,1f formuliert die Tempelweissagung Jesu so um, dass sie mit der Tempelzerstörung im Jahre 70 n. Chr. übereinstimmt. Nur der negative Teil war damals in Erfüllung gegangen. Daher wird in Mk 13,1f nur die Zerstörung des Tempels geweissagt. 3. Joh 2,19f bezieht die Tempelprophetie spiritualisierend auf Jesu Leben, wenn er sagt: „Brecht diesen Tempel ab, und in drei Tagen will ich ihn aufrichten.“ Gemeint ist der Tempel seines Leibes, den seine Gegner töten werden, den Jesus aber kraft göttlicher Vollmacht wiederherstellen wird (vgl. Joh 10,17f). 4. Das MtEv entschärft die Tempelweissagung, indem er Jesus nicht sagen lässt, er werde den Tempel abbrechen, sondern er könne ihn abbrechen (Mt 26,61). 5. Das LkEv lässt die Tempelweissagung Jesu weg und spricht sie in Apg 6,14 Stephanus zu: Dieser habe geweissagt, Jesus werde diesen Ort zerstören und die Bräuche ändern, die Mose überliefert habe. 6. Das ThEv 71 kennt die Weissagung in Ich-Form: „Jesus sprach: Ich werde dieses Haus zerstören, und niemand wird es (wieder) aufbauen.“ Hier wird der positive Teil der Weissagung geleugnet. Er hatte sich nicht erfüllt und war zum Problem geworden.
Eine Prophetie, die so viel Verlegenheit und Schwierigkeiten schuf, ist nicht nachträglich Jesus in den Mund gelegt worden. Sie passt in den geschichtlichen Rahmen: Opposition gegen den Tempel ist im damaligen Palästina gut belegt. Die Symbolhandlung der „Tempelreinigung“ wird durch diese Tempelprophetie interpretiert: Es ging Jesus nicht um eine Reform des Tempels, sondern um sein Ende mit der vergehenden Welt und um seine Erneuerung in der beginnenden neuen Welt. Eine solche Weissagung musste als Drohung verstanden werden. Verständlich ist, dass sie vor dem Synedrium gegen Jesus ausgespielt wurde. Was aber wollte Jesus an die Stelle des Tempels setzen? Auf diese Frage gab Jesus mit dem letzten Abendmahl eine Antwort für die Jünger in Form einer neuen Symbolhandlung. Bei der „Tempelreinigung“ waren sie im Hintergrund geblieben, hier aber sind sie die Adressaten einer neuen kultischen Handlung.
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6.3 Das letzte Mahl als kultstiftende Symbolhandlung
Jesus setzte durch sein letztes Mahl der kultkritischen Symbolhandlung seiner Tempelaktion eine Symbolhandlung mit dem Potenzial entgegen, kultstiftend zu wirken. Er wollte mit ihr keinen dauerhaften neuen Kult stiften, sondern seinen Jüngern vorübergehend ein rituelles Mahl als Ersatz für den offiziellen Kult bieten. Dieser „Ersatz“ bestand in einem schlichten Essen als Vorgriff auf ein Mahl im Gottesreich. Deuteworte geben ihm den Rang einer kultischen Feier. Wenn er sagte: „Dies ist mein Leib“ oder „mein Leib für euch“, meinte er: Dieses Brot ist das Zeichen für all das, was ich persönlich mit meiner ganzen Existenz für euch riskiere. Wenn er das gemeinsame Trinken des Kelchs als „neuen Bund“ bezeichnet, denkt er an die soziale Bedeutung des Mahls, das die Jünger verbindet. In diesem Bund sind die Opfer unwichtig. Denn er besteht darin, dass der Wille Gottes den Menschen ins Herz gelegt wird und Gott Sünden vergibt (Jer 31,31–33). Wenn Jesus sein letztes Mahl mit den „zwölf Jüngern“ feiert, nimmt er symbolisch vorweg, dass sie einmal Israel regieren (Mt 19,27f) und dabei mit ihm essen und trinken werden (Lk 22,28–30). Dieses Verständnis des letzten Mahls Jesu als einer kultischen Symbolhandlung, die mit dem Tempelkult konkurriert, kann vielleicht den „Verrat“ des Judas erklären: Er kündigte Jesus endgültig die Gefolgschaft, als er erkannte, dass nach Jesu Tempelaktion dieses Mahl als neuer Ritus zur Loslösung vom Tempelkult führt. Schon die Tempelaktion hat in ihm wahrscheinlich diese Befürchtung geweckt und ihn motiviert, Kontakt mit „Hohepriestern“ aufzunehmen (Mk 14,10), das Abschiedsmahl aber bestätigte diese Tendenz: Es musste so wirken, als wolle Jesus innerhalb des Judentums rituell eine neue Gemeinschaft gründen. Selbst wenn wir nicht genau erkennen können, was Jesus intentional mit seinem Mahl anstrebte, besteht kein Zweifel daran, dass er mit ihm funktional und faktisch einen neuen Kult im Judentum begründet hat. Das Abendmahl war ein neuer Gemeinschaftsritus, der in Spannung zum Tempelkult stand.45 Neue Riten kündigen Spaltungstendenzen an. Nach Ostern hat sich die Urgemeine als neuen Tempel verstanden (1Kor 3,16f), Menschen waren die Säulen in diesem lebendigen Tempel. Während der Jerusalemer Tempel vier Säulen hatte, nennt Paulus nur drei „Säulen“ der Gemeinde: den Herrenbruder Jakobus, Petrus und Johannes (Gal 2,9). Am Anfang hatte es vier Säulen gegeben, nur war die vierte Säule weggebrochen: Jakobus, der Bruder des Johannes, hatte zwischen 41–44 n. Chr. den Märtyrertod erlitten (Apg 12,1f).46 Die joh Deutung der Tempelaktion deutet die Weissagung vom neuen Tempel auf Jesus, er habe den „Tempel seines Leibes“ (tou sōmatos autou)“ gemeint (Joh 2,21). Dass der „Leib“ Jesu Ersatz für den Tempelkult war, sei den Jüngern erst nach Ostern aufgegangen (Joh 2,22). Es handelt sich bei diesem Gedanken im JohEv schon um ihm vorgegebene Tradition. Denn 45 Auch S.Byrskog, The Meal and the Temple*, 2017, 423–452, sieht diese kultkritische Tendenz des Abendmahls, obwohl er das letzte Mahl Jesu für ein Passamahl hält. 46 G.Theißen, Die Bedeutung der Tempelprophetie Jesu für die ersten Christen. Die Wirkungsgeschichte der Tempelprophetie im 1. Jh.n. Chr., in: G.Theißen u. a. (Hrsg.), Jerusalem und die Länder. Ikonographie – Topographie –Theologie, 2009, 149–201.
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das JohEv kennt ansonsten die Leibmetapher als Bild für die Gemeinschaft der Christen nicht. In der Zukunftserwartung verschmelzen die Bilder vom Reich Gottes und vom neuen Tempel. Schon in der vorherigen Verkündigung Jesu waren mit dem Tempel verbundene Vorstellungen zu Bildern für das Reich Gottes geworden. Der Zustrom zum Zion und seinem Tempel war zum Zustrom der Völker in die Gottesherrschaft geworden.47 Wenn Jesus darüber hinaus Essen und Trinken im Reich Gottes für die Zukunft verheißt, sind dieses Reich und der neue Tempel eine Einheit geworden. Damit vollzog Jesus keinen Exodus aus dem Judentum. Jesu Handeln entsprach vielmehr einer Tendenz im Judentum. Nach dem Verlust des Tempels 70 n. Chr. hat die rabbinische Bewegung das vollzogen, was sich bei Jesus anbahnte und im Diasporajudentum Vorgänger hatte: eine innere Loslösung der praktizierten Religion vom Tempel. Der Alltag und die tägliche Tischgemeinschaft wurden neu geheiligt. Der Konflikt Jesu mit dem Tempel ist daher ein Konflikt im Judentum, nicht mit dem Judentum. Das Judentum hat sich nach der Zerstörung des Tempels so erneuert, dass es ohne praktizierten Tempelkult weiter leben konnte. Noch einmal sei betont: Als Jesus sein letztes Mahl feierte, wollte er intentional keine neue Gemeinschaft gründen, hat es aber faktisch und funktional bewirkt – nach Ostern durch Erinnerung an dieses letzte Mahl, das im Rückblick zu einem Abschiedsmahl geworden war. Unsere Rekonstruktion rechnet ferner mit einer Ambivalenz von Todesnähe und Heils erwartung bei diesem Mahl, also mit einer Spannung zwischen der realistischen Befürchtung eines gewaltsamen Todes und der Hoffnung auf das hereinbrechende Reich Gottes. Jesus hat in dieser Situation die Abendmahlselemente im Blick auf das zukünftige Mahl im Reich Gottes gedeutet, weniger als Symbol seines Todes als seiner Zuversicht, ein eschatologisches Mahl zusammen mit seinen Jüngern zu feiern, aber auch im Wissen darum, dass er sein Leben riskiert. Gewiss ist diese Deutung von Tempelreinigung und letztem Mahl nur ein Versuch, diese Überlieferungen zu deuten. Vor allem spricht für sie das bisher zu wenig berücksichtigte Netzwerk der Symbolhandlungen Jesu. Sie bilden zusammen ein Erinnerungsmuster, in dem wir wirkungsauthentische Spuren Jesu erkennen.
7. Zusammenfassung und hermeneutische Überlegungen Johannes der Täufer und Jesus haben durch Symbolhandlungen den Anstoß zur Entstehung von Sakramenten gegeben. Sie wollten keine neue Tradition gründen, sondern erwarteten eine neue Welt. Ihre kultstiftenden Symbolhandlungen sind eschatologische Sakramente – bei Johannes Vorwegnahme des Gerichts durch die Taufe, bei Jesus Vorwegnahme des Heils durch das Abendmahl. Aber damit wird ihre soziale Funktion nicht ganz erfasst: Die Taufe zur Sündenvergebung ist ein Konkurrenzritual zur Sündenvergebung im Tempel. Entsprechend wurde das Abendmahl immer mehr ein Ersatzritual für den Tempelkult. 47 Ch.Grappe, Le Royaume de Dieu. Avant, avec et après Jésus, 2001.
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Die Entstehung neuer Riten zeigt auf jeden Fall: Es gab ein Ungenügen an traditionellen rituellen Formen. Jesus hat wahrscheinlich am Tag vor dem Passa – im Bewusstsein, dass sein Leben gefährdet war, aber in der Hoffnung, das Hereinbrechen der Gottesherrschaft könne ihn retten – ein feierliches Mahl mit seinen Jüngern gefeiert. Dabei hat er im Vorfeld des Passahfestes ein schlichtes Mahl, kein Passamahl, als Feier eines „neuen Bundes“ mit Gott gedeutet. Für ihn und seine Jünger sollte es Ersatz für den offiziellen Kult sein, den Jesus durch seine Kultkritik abgewertet hatte. Daher war er für alle offen, auch für Frauen, die im Jerusalemer Tempelkult im Vorhof der Frauen nach den Männern und Priestern die dritte Stelle einnahmen. Nachdem Jesus gekreuzigt worden war und den Jüngern erschienen war, deuteten sie seinen Tod als blutiges Opfer, durch das der neue Bund vollzogen worden war. Sie waren überzeugt: Jesus hatte schon bei seinem letzten Mahl an seine Selbsthingabe gedacht, als er das Brot als sein Leben deutete. Mit der nachösterlichen Neudeutung dieses Mahls war die Grundlage für das urchristliche Sakrament gelegt, zu dem Jesus an seinem Lebensende den entscheidenden Anstoß gegeben hat. Die urchristliche Gemeinde verstand sich als neuer Tempel (1Kor 3,16f). Zu ihm hatten Frauen und Männer in gleicher Weise Zugang. Der (sekundäre) Text in 2Kor 6,16–18 stellt ausdrücklich fest: „Wir sind der Tempel des lebendigen Gottes“, und lässt Gott sprechen: „Ihr sollt meine Söhne und Töchter sein“. Gewiss ist nicht jedes Mahl einer religiösen Gemeinschaft ein sakramentales Mahl und nicht jede „Präsenz“ einer Gottheit eine sakramentale Präsenz. Von einem sakramentalen Mahl kann man dann sprechen, wenn natürliche Mahlelemente so zubereitet werden, dass sie eine übernatürliche Heilswirkung haben, die sie ohne ihre rituelle Gestaltung nicht hätten.48 Sakramental können drei Formen der Präsenz einer Gottheit sein: 1. Sozialpräsenz: Die Gemeinschaft wird durch den Vollzug des Mahls mit der Gottheit in einer geheimnisvollen Weise identisch: Sie wird z. B. zum „Leib Christi“. 2. Kausalpräsenz: Die Gottheit gibt als Spender der Mahlelemente diesen einen übernatürlichen Charakter: Sie werden „geistliche Speise“, die Heil vermittelt. 3. Realpräsenz i. e.S.: Die Gottheit ist in den Elementen selbst präsent. Die überirdische „Substanz“ der Gottheit wird in, mit und unter der Mahlsubstanz verzehrt. Damit erfasst man jedoch noch nicht die Pointe der Präsenz des Göttlichen in den urchristlichen Sakramenten. Sie zeugen vor allem von einer Veränderungspräsenz Gottes49 und entsprechen damit Jesu Botschaft: Jesus verkündigte eine Veränderungspräsenz Gottes in der ganzen Welt durch seine Verkündigung des anbrechenden Gottesreiches. Die (ur-)christlichen Sakramente machten diese Veränderung in zwei rituellen Akten, in Taufe und Abendmahl, erlebbar und sichtbar.
48 Ch.Burchard, The Importance of Joseph and Aseneth for the Study of the New Testament: A General Survey and a Fresh Look at the Lord’s Supper, NTS 33 (1987) 102–134, S. 117. 49 G.Theißen, Veränderungspräsenz. Gottes Gegenwart in den Sakramenten, in: Veränderungspräsenz*, 2017, 157–192.
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Das Abendmahl enthält in sich große Spannungen. Es ist ein schlichtes Mahl ohne Fleisch und Blut, wird aber im Urchristentum mit dem extremsten aller Opfer verbunden, dem Menschenopfer. Während der äußere Ritus eine Absage an sakrale Gewalt ist – es fehlt das blutige Tieropfer –, zeigt der begründende „Mythos“ eine Zunahme an Gewalt: das Selbstopfer Jesu. Der große religionsgeschichtliche „Fortschritt“ von blutigen Tieropfern zu unblutigen Formen des Kultes wird im nachösterlichen Urchristentum ausgeglichen durch „Regression“ auf eine längst überwundene Vorstellung vom Menschenopfer. Und eben diese Spannung macht die innere Dynamik des urchristlichen Sakraments aus: Es symbolisiert die Tatsache, dass Menschen auf Kosten anderer Menschen leben, aber zugleich die Verheißung, dass Leben durch Teilen der Lebensmittel für alle möglich ist. Selten wurde ein Ritus „erfunden“, der die Verwandlung des Menschen von einem „asozialen“ Lebewesen zum „kooperativen“ Menschen so anschaulich zum Ausdruck bringt. Die Gegenwart Gottes zeigt sich in dieser Verwandlungspräsenz. Sie entspricht dem Wirken des historischen Jesus. Denn dessen Botschaft vom Reich Gottes war Verkündigung der Verwandlungspräsenz Gottes in der ganzen Welt. Gottes Gegenwart in der Welt ist nur dort zu spüren, wo sich die Welt und die Menschen verändern Die katholische Transsubstantiationslehre hat diese Veränderungspräsenz in metaphysischen Kategorien gedeutet, der moderne Protestantismus hat sie sich symbolisch angeeignet. Entscheidend ist die Botschaft, dass sich Welt und Menschen verändern und Gott in diesen Veränderungen real präsent ist. Gerade das Abendmahl wurde zum Gegenstand einer dezidierten Religionskritik. Für S.Freud war das Abendmahl Ausdruck eines pathologischen Wiederholungzwangs angesichts der einschränkenden Grenzen unseres Lebens, religiöse Vorstellungen dagegen Ausdruck illusionärer Wünsche, die alle Grenzen der Realität missachten.50 Er verkannte, dass die urchristlichen Riten Wiederholungszwang überwunden haben: Die einmalige Taufe löste die wiederholten Waschungen ab. Das einmalige Opfer Jesu beendete die wiederholten blutigen Opfer. Johannes der Täufer und Jesus wirkten im damaligen Kontext als Befreiung von Wiederholungszwang. Auch hat das Urchristentum nicht nur grenzenlose Wünsche kultiviert, sondern im Zeichen des Kreuzes Unrecht und Leid sehr deutlich wahrgenommen. Wenn judenchristliche Gruppen in der Überwindung des Opferkultes die Sendung Jesu sehen, trafen sie im Rückblick vielleicht auf eine tiefe Wahrheit, als sie Jesus das Wort in den Mund legen: „Ich kam, die Opfer aufzuheben; und wenn ihr nicht aufhört zu opfern, wird der Zorn nicht von euch weichen.“ (EvEb 6).51 Das Ebionäerevangelium ist im Urchristentum keine isolierte Stimme: Der Hebräerbrief sieht in der Überwindung der sich immer wiederholenden Opfer die Sendung Jesu, die er durch sein einmaliges Opfer als freiwillige Selbsthingabe ein für alle Mal beendet hat. 50 Vgl. S.Freud, Totem und Tabu (1912/13), und: Die Zukunft einer Illusion (1927)“, in: ders. Die Frage der Gesellschaft. Ursprünge der Religion, Studienausgabe IX, 1974, 287–444; 135–189. 51 J.Frey, Die Fragmente des Ebionäerevangeliums, in: Ch.Markschies/J.Schröter (Hg.), Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung Bd. I, 2012, 607–622, S. 620. Die Pseudoklementinen vertreten die Ansicht, dass die Opfergesetze des Moses interpoliert worden sind. Vgl. Ps.-Klem. Hom II 38–53, 44,2.
§ 16 Jesus als Märtyrer: Die Passion Jesu
S.O.Back, Art. Die Prozesse gegen Jesus, in: Jesus-Handbuch, 2017, 473–481; ders. Art. Kreuzigung und Grablegung Jesu, in: Jesus-Handbuch, 2017, 481–486; J.Blinzler, Der Prozeß Jesu, 1951, 41969; S.L.Bock, Blasphemy and the Jewish Examinations of Jesus, in: ders./R.L.Webb (Hg.), Key Events in the Life of the Historical Jesus, 2009, 589–667; S.G.F.Brandon, The Trial of Jesus of Nazareth, 1968; R.E.Brown, The Death of the Messiah I/II, 1993/94; P.Egger, „Crucifixus sub Pontio Pilato“. Das „Crimen“ Jesu von Nazareth im Spannungsfeld römischer und jüdischer Verwaltungs- und Rechtsstrukturen, 1997; D.Flusser, Die letzten Tage Jesu in Jerusalem. Das Passionsgeschehen aus jüdischer Sicht, 1982; M.Gielen, Die Passionserzählung in den vier Evangelien. Literarische Gestaltung – theologische Schwerpunkte, 2008; H.-G.Knothe, Der Prozess Jesu rechtshistorisch betrachtet, Orbis Iuris Romani 10 (2005) 67–101; K.Müller, Möglichkeit und Vollzug jüdischer Kapitalgerichtsbarkeit im Prozeß gegen Jesus, in: K.Kertelge (Hg.), Der Prozeß gegen Jesus. Historische Rückfrage und theologische Deutung, 1988, 41–83; Chr.Niemand, Jesus und sein Weg ans Kreuz. Ein historisch-rekonstruktives und theologisches Modellbild, 2007; L.Oberlinner, Der Weg Jesu zum Leiden, in: L.Schenke (Hg.), Jesus von Nazaret – Spuren und Konturen, 2004, 275–318; Ch.G.Paulus, Der Prozess Jesu – aus römisch-rechtlicher Perspektive, 2016; A.N.Sherwin-White, Roman Society and Roman Law in the New Testament, 1963; G.Theißen, Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien, 1989, 177–211; ders., Das Leiden und Sterben des historischen Jesus und seine Transformation in der Passionsgeschichte, Sacra Scripta 10 (2013) 177–201; G.Vermes, Die Passion. Die wahre Geschichte der letzten Tage im Leben Jesu, 2006; R.L.Webb, The Roman Examination and Crucifixion of Jesus. Their Historicity and Implication, in: S.L.Bock/R.L.Webb (Hg.), Key Events in the Life of the Historical Jesus, 2009, 669–773.
Dass Jesus gekreuzigt wurde, ist als Fakt gesichert. Die Kreuzigung geschah öffentlich vor Zeugen, umstritten sind ihre geschichtlichen Ursachen. Sie historisch zu analysieren, ist schon deswegen wichtig, weil christlicher Antijudaismus den Vorwurf erhob, „die Juden“ hätten Jesus getötet. Dagegen sagen die Evangelien: Zusammen mit der Anklage der jüdischen Aristokratie war letztlich das Urteil des römischen Statthalters Pilatus für seine Hinrichtung verantwortlich. Auch nach Paulus waren neben Juden, die ihre Propheten und Jesus getötet hatten (1Thess 2,14f), die „Herrscher dieser Welt“ verantwortlich (1Kor 2,8). Das Kreuz weist als römische Todesstrafe auf die Römer. Gleichzeitig führt Paulus Jesu Tod auf Gottes Willen und Jesu Selbsthingabe als Ausdruck ihrer Liebe zurück (Röm 8,32; Gal 2,20). Historische Forschung fragt nach beidem: sowohl nach den Ursachen des Todes Jesu als auch seiner Sinndeutung.
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1. Die Forschungsgeschichte zur Passion Jesu H.S.Reimarus (1694–1768) war überzeugt, dass die Hohepriester Jesu Kreuzigung verursacht hatten, weil er die politische Ordnung gefährdete.1 Da sich die Jünger mit dem Zusammenbruch ihrer irdischen Hoffnungen nicht abfinden wollten, verkündigten sie die Erlösung der Welt von Sünde und Elend. Richtig ist: Durch Deutung des Kreuzes im Lichte von Ostern entstand eine Theologie, die sich nicht mit der Welt abfinden wollte. Die Diskussion konzentriert sich vor allem auf zwei Fragen: Wer war verantwortlich für Jesu Tod? Wie wurde er gedeutet, um ihm einen Sinn zu geben? 1.1 Die rechtsgeschichtliche Analyse der Passionsüberlieferung
Historische Forschung ging methodisch so vor: Sofern die Passionsüberlieferung dem entspricht, was rechtsgeschichtlich möglich war, kann sie dann historisch sein, wenn weitere Indizien hinzukommen. Der mit den Rechtverhältnissen in Judäa vertraute Josephus macht wie die Evangelien zwei Instanzen für Jesu Hinrichtung verantwortlich: Die Jerusalemer Aristokratie habe ihn angeklagt, der römische Statthalter ihn verurteilt (Ant 18,63f). Nach dem Mk- und MtEv wurden gegen ihn zwei Prozesse vor dem Synedrium und dem römischen Präfekten geführt. Rechtsgeschichtliche Argumente gegen den ersten Prozess legte H.Lietzmann in: Der Prozeß Jesu, 1931, vor: Das Jerusalemer Synedrium habe nicht die Kapitalgerichtsbarkeit besessen, um Jesus zum Tode verurteilen zu können. Da er zur römischen Todesstrafe der Kreuzigung verurteilt wurde, sei die Beteiligung einer jüdischen Instanz am Tode Jesu eine Legende, zumal kein Jesusanhänger beim Verfahren vor dem Synedrium anwesend war. Auch berichte die Erzählung in diesem Verfahren von einem Bekenntnis Jesu zu seiner göttlichen Würde: Jesu Messiasanspruch allein wäre keine Gotteslästerung gewesen, wohl aber sein Anspruch, der Menschensohn zu sein, der zur Rechten Gottes sitzt (Mk 14,62). Hier aber sei der Osterglauben vorausgesetzt, wie die Vision des Menschensohns zur Rechten Gottes durch Stephanus in Apg 7,55f zeigt.2 Für die Geschichtlichkeit des Prozesses vor dem Synedrium plädierte dagegen J.Blinzler, Der Prozeß Jesu, 1951. Nach dem in der Mischna kodifizierten jüdischen Recht enthält der in den Evangelien dargestellte Prozess zwar einige Gesetzesverstöße, aber zur Zeit Jesu habe sadduzäisches Recht gegolten, nicht das humanere pharisäische Recht der Mischna. Jesus wurde vom Synedrium zum Tode verurteilt, das zur Vollstreckung der Strafe aber auf den römischen Präfekten angewiesen war. Obwohl rechtsgeschichtliche Untersuchungen den Römern die letzte Verantwortung für Jesu Hinrichtung zuschreiben, gab es Versuche, trotzdem das Synedrium zur entscheidenden Instanz zu machen. Man muss dann klären: Welche Anklage konnte nach jüdischem 1 2
H.S.Reimarus, Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger. Hg. G.E.Lessing, 1778 (vgl. Bibliotheca Augus tana: http://www.fh-augsburg.de). An H.Lietzmann knüpfen an: P.Winter, On the Trial of Jesus, 1961; W.Stegemann, Gab es eine jüdische Beteiligung an der Kreuzigung Jesu? KuI 13 (1998) 3–24.
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Recht ein Todesurteil nach sich ziehen? A.Strobel, Die Stunde der Wahrheit, 1980, und O.Betz, Probleme des Prozesses Jesu, ANRW II 25.1 (1982) 565–647, dachten an eine Anklage wegen Verführung des Volkes und falscher Prophetie nach Dtn 13 und 18. Doch von einer Verführung des Volkes zu anderen Göttern kann bei Jesus keine Rede sein. Alles spricht dafür, wie A.N.Sherwin-White, Roman Society and Roman Law in the New Testament, 1963, mit zwei Instanzen bei der Verurteilung Jesu zu rechnen. Eine Nachtsitzung des Synedriums bereitete die Anklage vor, Pilatus führte den Prozess am nächsten Morgen als cognitio extra ordinem durch.3 In allen römischen Provinzen lag die Vollmacht zu Todesurteilen bei den Römern (vgl. Joh 18,31). Auch K.Müller, Möglichkeit und Vollzug jüdischer Kapitalgerichtsbarkeit, in: K.Kertelge (Hg.), Der Prozeß gegen Jesus. Historische Rückfrage und theologische Deutung, 1988, 41–83, und A.Demandt, Pontius Pilatus, 2012, sehen in den Römern die Hauptverantwortlichen, letzterer meint jedoch, Pilatus hätte die Hinrichtung Jesu als Polizeimaßnahme ohne Prozess nach Kriegsrecht (coercitio) anordnen können. Eine Anzeige der Hohepriester hätte als Beweis seiner Schuld ausgereicht, das Interesse des Pilatus an einem guten Verhältnis zur Jerusalemer Lokalelite als Motiv, um Jesus ohne Prozess zu beseitigen, zumal Pilatus nach Philo Menschen in der Regel ohne Prozess hinrichten ließ (LegGai 302). Nach den Evangelien führte Pilatus jedoch einen formalen Prozess durch. Er setzte sich nach Joh 19,13 sogar auf einen Richterstuhl, um sein Urteil zu fällen.4 Was wirklich geschah, können wir nur aufgrund der ältesten Quellen rekonstruieren. 1.2 Die literarkritische Suche nach einer alten Quelle
Die Suche nach Quellen, die den berichteten Ereignissen nahestehen, war das Ziel von E.Wendling, Ur-Marcus. Versuch einer Wiederherstellung der ältesten Mitteilungen über das Leben Jesu, 1905. Dieser Urmarkus sei anschaulich und historisch gewesen, über ihn habe sich eine poetische Schicht mit fiktionalen Elementen gelegt. In seiner Nachfolge unterschied V.Taylor, The Gospel According to St. Mark, 1952, eine Quelle A in gutem Griechisch, die von den „Zwölfen“ spricht und in der römischen Gemeinde entstanden sei, und eine Quelle B mit Semitismen, die auf die Erinnerungen des Petrus zurückgehe. W.Schenk, Der Passionsbericht nach Markus, 1974, wollte alle im Präsens historicum erzählten Teile der 3
4
A.N.Sherwin-White, Roman Society*, 1963, 24–47: Ursprünglich bestimmte der Richter (praetor) aufgrund seiner Erhebungen (seiner cognitio) die Rechtsform. Im Zivilrecht übernahm das Verfahren ein Laienrichter, im Strafrecht ein Geschworenengericht – unter Leitung des Prätors, der aber nicht am Urteil beteiligt wurde. Seit Augustus bestimmten zunehmend Beamte das ganze Verfahren und fällten auch das Urteil. In den Provinzen wurde diese cognitio extra ordinem wie im Prozess gegen Jesus das übliche Verfahren. Vgl. J.Bleicken, Verfassungs- und Sozialgeschichte des Römischen Kaiserreiches 1, 2 1981, 262 ff. Nach L.Wenger, Noch einmal zum Verfahren de plano und pro tribunali, ZSRG 62 (1942) 366–376, hat Pilatus zunächst de plano (auf der Ebene vor dem Richterstuhl) verhandelt, weil er das Verfahren ohne Urteilsspruch beenden wollte, und erst am Schluss den Richterstuhl bestiegen, um ein Verfahren pro tribunali, dem erhöhten Amtssitz zu eröffnen, das mit einem Urteil enden musste.
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Passionsgeschichte zu einer durchgehenden Quelle zusammenfügen, die mit dem Einzug in Jerusalem begonnen habe. Das MkEv habe mit ihr einen jüngeren Passionsbericht mit apokalyptischen Motiven verbunden. Keine literarkritische Rekonstruktion konnte sich durchsetzen.5 Mit der Formgeschichte gab es jedoch einen neuen Weg, die Passionsüberlieferung zu analysieren. 1.3 Die formgeschichtliche Bestimmung der Passionsgeschichte
K.L.Schmidt erkannte in: Der Rahmen der Geschichte Jesu, 1919, dass die Passionsgeschichte in der synoptischen Tradition eine Sonderstellung hat: Nur hier liegt eine zusammenhängende Erzählung vor. So wie spätere Märtyrerakten über das Ende der Märtyrer historisch zuverlässiger sind als die Legenden über ihr vorheriges Leben, so sei auch der „hohe, unmittelbar geschichtliche Wert“ der Passionsgeschichte unverkennbar (S. 306). Die Formgeschichte sah daher entgegen ihrer sonstigen Tendenz in der Passionsgeschichte geschichtliche Erinnerungen, wenn auch in verschiedenen Formen als Geschichtserzählung, Predigt, Kult legende oder Paränese, die immer mit Gemeindebedürfnissen verwoben seien. Als Geschichtserzählung betrachtete R. Bultmann, Geschichte der synoptischen Tradition, 1921, 297–308, einen kurzen Bericht über Gefangennahme, Übergabe an Pilatus, Verurteilung und Kreuzigung. Aus ihm schied er Perikopen ohne Augenzeugen aus: das Verhör vor dem Synedrium (Mk 14,55–64) sowie in sich gerundete Stücke von Salbung, Gethsemane, Barabbas und der Verspottung am Kreuz (Mk 14,3–9.32–42; 15,6–14.16–20a). Weissagungsbeweis, apologetische und novellistische Motive hätten die historische Erinnerung umgestaltet. Als Predigt deutete M.Dibelius, Die Formgeschichte des Evangeliums, 1919, 21933, 178– 218, die Passionsgeschichte. Er schied nur wenige Einzelstücke aus: die Salbungsgeschichte, die Vorbereitung des letzten Mahls, die Dreizahl der Gebete in Gethsemane und das Messiasbekenntnis vor dem Synedrium (Mk 14,3–9.12–16.32 ff.61–63). Die in Mk 14,28 angekündigte Ostererscheinung in Galiläa habe zum ursprünglichen Bericht gehört. Anders als Bultmann unterschied Dibelius nicht einen „historischen“ Bericht und dessen sekundäre Ausgestaltung, sondern sah in der Passionserzählung eine Predigt, die Jesu Tod als Heilsereignis im Lichte des Osterglaubens deutet.6 Als Kultlegende bestimmte G.Bertram in: Die Leidensgeschichte Jesu und der Christuskult. Eine formgeschichtliche Untersuchung, 1922, die Passionsgeschichte. Er stützte sich dabei auf die Abendmahlsüberlieferung und verstand unter „Kult“ jede Verehrung Jesu. Seine Ausführungen wurden 1955 durch G.Schille, Das Leiden des Herrn, ZThK 52 (1955) 161–205, präzisiert, der drei liturgische Einheiten unterschied, neben der Einsetzung des Abendmahls (14,18–27) eine Karfreitagserinnerung (15,2–41) und Grablegenden als Ostertexte (15,42–47; 16,1–6). In seiner Nachfolge sah L.Schenke, Auferstehungsverkündigung 5 6
Eine Tabelle mit 35 Rekonstruktionsversuchen gibt M.L.Soards, The Question of a Premarcan Passion Narrative, Appendix IX, in: R.E.Brown, The Death of the Messiah 1993/94, 1492–1524. Vgl. M.Dibelius, Das historische Problem der Leidensgeschichte, in: Botschaft und Geschichte I, 1953, 248–257.
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und leeres Grab, 1968, in 16,1–6 die Kultätiologie für eine Osterfeier der Jerusalemer Gemeinde am Grab Jesu. Als Paränese bestimmte dagegen D.Dormeyer die Passionsgeschichte in: Die Passion Jesu als Verhaltensmodell, 1974. Er sah in ihr eine Kombination des jüdischen Märtyrerberichts vom Sterben der Märtyrer (wie z. B. 2Makk 7,1–42) mit der Form paganer hellenistischer Märtyrerakten, die in den sogenannten „heidnischen Märtyrerakten“ Prozessverhöre in Alexandrien enthalten. Ihre Verbindung in der Passionsgeschichte machte Jesus zum Modell des christlichen Märtyrers. F.Herrmann, Strategien der Todesdarstellung in der Markuspassion. Ein literaturgeschichtlicher Vergleich, 2010, fand zur Passionsgeschichte drei antike Analogien: 1. Berichte vom Sterben berühmter Menschen (exitus illustrium virorum), meist Opfern des Kaisers Nero, die in letzten Worten (ultima verba) ihre Würde zeigen. 2. Heidnische Märtyrerakte, in denen die Verurteilten im Verhör ihren Charakter zeigen; 3. Jüdische Märtyrerberichte, in denen Menschen unter Qualen ihre Treue zu Gott bezeugen.
Sein Ergebnis ist: Die mk Passionsgeschichte unterscheide sich deutlich von diesen Gattungen. „Die Konfrontation zwischen Jesus und den Gegnern ist narrativ nicht scharf ausgeprägt, er profiliert sich nicht durch lange wortgewaltige Reden, stirbt keinen ‚edlen‘ Tod, die gewaltsamen Details werden nicht drastisch ausgeführt. Wo es strukturelle Analogien gibt …, sind sie christologisch ausgerichtet. So schafft Markus mit der Passion eine Gattung sui generis, die sich durch ihr christologisches Profil von den anderen Gattungen absetzt.“ (S. 383) Fazit ist: Wir können hinter den uns vorliegenden Texten literarkritisch und formgeschichtlich eine Passionsgeschichte postulieren, nicht aber zuverlässig rekonstruieren. Direkt zugänglich ist nur ihre redaktionelle Endgestalt. 1.4 Redaktions- und Traditionsgeschichte der Passionsgeschichte
Die Redaktionsgeschichte, die sich auf diese Endgestalt konzentrierte, folgte zwei entgegengesetzten Tendenzen: Einerseits habe der Markusevangelist die Passionsgeschichte geschaffen, andererseits fast unverändert einen älteren Bericht wiedergegeben. E.Linnemann bestritt in: Studien zur Passionsgeschichte, 1970, dass es vor Mk eine zusammenhängende Passionsgeschichte gegeben habe. Vielmehr habe der Evangelist selbst sie aus fragmentarischen Überlieferungen geschaffen, um durch die theologia crucis der Passionserzählung die theologia gloriae der Wundergeschichten im MkEv zu korrigieren. R.Pesch, Das Markusevangelium, 1977, sah dagegen im Markusevangelisten einen „konservativen Redaktor“, der einen älteren Passionsbericht übernommen hat. Dieser habe schon mit dem Messiasbekenntnis des P etrus (Mk 8,27–29) begonnen und sei vor 37 n. Chr. niedergeschrieben worden, da in ihm der amtierende Hohepriester noch immer derselbe sein müsse wie der Hohepriester in der Erzählung, sonst hätte man ihn durch seinen Eigennamen vom gegenwärtig amtierenden unterschieden. Kaiphas wurde erst im Jahr 37 n. Chr. abgesetzt. Zu fragen ist, ob es mehrere solcher „Vertrautheitsindizien“ gibt.
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1.5 Die sozialgeschichtliche Erforschung der Passion
Die rechtsgeschichtliche Diskussion zur Passionsgeschichte hatte auch strukturelle soziale Konflikten sichtbar gemacht. G.Theißen unterschied in: Soziologie der Jesusbewegung, 1977, soziopolitische Konflikte zwischen Juden und römischen Herrschern, sozioökonomische zwischen Reichen und Armen, sozioökologische zwischen Stadt und Land und soziokulturelle zwischen Judentum und paganer Religion: a) Politische Aufstandsbewegungen untersuchte M.Hengel, Die Zeloten. Untersuchungen zur jüdischen Freiheitsbewegung in der Zeit von Herodes I. bis 70 n. Chr., 1961. Er sieht in Jesus keinen Zeloten, obwohl immer wieder vermutet wird, dass Jesus als zelotischer Rebell hingerichtet wurde – zuletzt mit differenzierten Argumenten von F.Bermejo-Rubio, Jesus and the Anti-Roman Resistance. A Reassessment of the Arguments, JSHJ 12 (2014) 1–105.. b) Konflikte zwischen Armen und Reichen riefen ein Sozialbanditentum hervor: R.A.Horsley/J.S.Hanson, Bandits, Prophets and Messiahs. Popular Movements in the Time of Jesus, 1985. Entwurzelte Menschen erscheinen als „Räuber“ in den Quellen und waren oft an Aufständen gegen die Römer beteiligt. Vgl. Chr.Riedo-Emmenegger, Prophetisch-messianische Provokateure der Pax Romana. Jesus von Nazaret und andere Störenfriede im Konflikt mit dem Römischen Reich, 2005. c) Spannungen zwischen Galiläa als Hinterland und Jerusalem als Metropole macht G.Theißen, Die Tempelweissagung Jesu (1976), in: Studien zur Soziologie des Urchristentums, 1979, 142–159, für Konflikte Jesu mit dem Tempel verantwortlich. Diese Spannungen wurden noch einmal manifestiert, als der vom Land kommende Jesus ben Ananias die Weissagung Jesu gegen den Tempel ca. 62 n. Chr. erneuerte (Bell 6,300–309).7 d) Kulturelle Konflikte zwischen jüdischer Religion und nichtjüdischer Umwelt untersuchte M.Hengel, Judentum und Hellenismus. Studien zu ihrer Begegnung unter besonderer Berücksichtigung Palästinas bis zur Mitte des 2. Jh. v. Chr., 1969. Die Passionsgeschichte ist ohne den Konflikt zwischen Juden und Nichtjuden unverständlich.
Eine Bilanz der Forschung zogen R.E.Brown, Death*, 1993/94, Chr.Niemand, Jesus und sein Weg zum Kreuz*, 2007 und S.O.Back, Die Prozesse gegen Jesus*, 2017. 1.6 Der erinnerungshistorische Analyse der Passionsgeschichte
Die Suche nach Historischem in der Passionsgeschichte muss das mündlich basierte kommunikative Gedächtnis, das ca. drei Generationen hinweg wirkt, vom schriftgebundenen kulturellen Gedächtnis über Generationen hinweg unterscheiden. Spuren eines kommunikativen Gedächtnisses zeigen sich in der Passionsüberlieferung in „Vertrautheitsindizien“, bei denen die Erzähler Sachverhalte voraussetzen, die sie nicht erläutern, weil sie den Adres7
Vgl. G.Theißen, Die Bedeutung der Tempelprophetie für die ersten Christen. Die Wirkungsgeschichte der Tempelprophetie Jesu im 1. Jh., in: G. Theißen u. a. (Hg.) Jerusalem und die Länder. Ikonographie, Topographie, Theologie, 2009, 149–201.
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saten vertraut sind. G.Theißen stellte in: Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien, 1989, 177–211, solche Vertrautheitsindizien zusammen: 1. Amtsinhaber und Amtsstrukturen werden als bekannt vorausgesetzt. Im MkEv ist in 14,47.53.60 von „dem Hohepriester“ die Rede, ohne dass sein Name genannt wird. Die Adressaten kennen sein Amt, wahrscheinlich auch seinen Namen. Dagegen wird Pilatus nur durch seinen Namen, nie durch sein Amt charakterisiert: Vorausgesetzt wird das Wissen, dass er römischer Präfekt war. 2. Personen werden durch ihren Herkunftsort identifiziert (Mk 15,21). Wenn Simon von Kyrene als Vater des Alexander und Rufus eingeführt wird, ohne dass der Erzählverlauf es erfordert, müssen die Söhne bekannt sein, zumal Söhne in der Regel durch ihre Väter, nicht aber Väter durch ihre Söhne identifiziert wurden. 3. Barabbas wird charakterisiert als „der Barrabas Genannte, der mit den Aufrührern gefangen worden war, die bei dem Aufruhr einen Mord begangen hatten“ (Mk 15,7). Die Adressaten wissen mehr über diesen Aufruhr. Sie wissen, dass Barrabas zusammen mit anderen inhaftiert wurde, die einen Mord begangen hatten, aber die Formulierung lässt offen, ob er mitschuldig an ihm ist.
Klar erkennbar sind Vertrautheitsindizien bei anonymen Personen wie den Jesusanhängern, die bei dessen Inhaftierung in Konflikt mit Soldaten kamen (Mk 14,47.51). Sie bleiben anonym, obwohl Personen in der Passionsgeschichte oft namentlich und mit Herkunftsort gekennzeichnet werden. Wahrscheinlich handelt es sich um „Schutzanonymität“, die zu Lebzeiten der Personen sinnvoll war, solange sie wegen ihres Konflikts mit Soldaten in Schwierigkeiten kommen konnten. Ein erinnerungshistorischer Zugang kommt daher zu dem Ergebnis: Die Traditionen der Passionsgeschichte enthalten Motive, die schon in der ersten Generation in Jerusalem formuliert worden sind. Gleichzeitig arbeitet der erinnerungshistorische Ansatz Interessen und Tendenzen heraus, durch die Erinnerungen so umgeformt wurden, dass sie Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses werden konnten. Während man von der Kindheit Jesu zu wenig wusste, wusste man vom Ende seines Lebens zu viel Bedrückendes. Ein Jünger hatte Jesus verraten, ein anderer ihn verleugnet, alle waren geflohen. Hier verlangten die Ereignisse nach einer Sinndeutung, um die Passionsüberlieferung so zu transformieren, dass sie für Christen akzeptabel wurde: 1. An erster Stelle stellte sich die Frage nach der Verantwortung für Jesu Hinrichtung, zumal Jesus nach Überzeugung seiner Anhänger ohne Schuld war. 2. Hinzu kam die Frage nach dem objektiven Sinn seines Todes: War er in den heiligen Schriften vorhergesehen? Enthielt er eine tiefere Bedeutung? 3. Eine dritte Frage war die existenzielle Auseinandersetzung mit seinem Leiden. Alle Christen mussten damit rechnen, wie Jesus vor einem Richter zu stehen. Sie erzählten von seinen letzten Tagen so, dass sie im Geschick Jesu ihre eigene Situation erkennen konnten. Der erinnerungshistorische Ansatz sucht also sowohl nach historischen Erinnerungsspuren Jesu als Bestandteil des kommunikativen Gedächtnisses als auch nach Erinnerungsmotiven, durch die Jesu Kreuzigung Teil des kulturellen Gedächtnisses wurde.
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2. Die Quellen und ihre Tendenzen Die Passionsgeschichte ist eine zusammenhängende Komposition. Wenn das, was nach Abzug von Tendenzen in ihr erkennbar ist, mit dem zusammentrifft, was (rechts-)geschichtlich möglich war, nähern wir uns der historischen Wahrheit. 2.1 Aufbau der Passionsgeschichte im ältesten Evangelium
Die mk Passionsgeschichte gliedert sich in einen Abschieds-, Gerichts- und Osterteil. Im Abschiedsteil steht die Anhängerschaft Jesu im Vordergrund, im Gerichtsteil die Konfrontation mit Gegnern, im Osterteil die Botschaft Gottes. 1. Der Abschiedsteil (14,1–52) a) In Bethanien nimmt Jesus Abschied von seinen Anhängern. Eine Frau salbt ihn in Vorwegnahme seines Todes. Ihre Zuwendung kontrastiert mit der Feindschaft gegen ihn, dem Tötungsplan der Hohepriester und Schriftgelehrten vorher (14,1f), dem Verrat des Judas danach (14,10f). Frauen erscheinen erneut am Ende der Passionsgeschichte bei seiner Kreuzigung, Grablegung und am leeren Grab. Waren sie in der Zwischenzeit im Hintergrund anwesend? Vielleicht sogar beim Abendmahl? b) Beim Abendmahl nimmt Jesus Abschied von seinen Jüngern, deutet seinen Tod als Sterben für viele (14,12–25) und blickt voraus auf ein Mahl im Gottesreich. Auch dieser Abschied ist von Verrat umgeben: vorher von der Bezeichnung des Verräters, nachher von einer Weissagung von Jüngerflucht und Verleugnung des Petrus. c) In Gethsemane ist Jesus im Gebet allein mit Gott (14,32–42). Seine Jünger schlafen. Den Übergang zum Gerichtsteil bildet seine Inhaftierung durch Knechte der Hohepriester (14,42–52). Die Jünger versagen: Einer wehrt sich mit dem Schwert, ein anderer flieht nackt.
2. Der Gerichtsteil (14,53–15,41) a) Beim Verhör vor dem Synedrium (14,55–65) bekennt sich Jesus vor Hohepriestern und Schriftgelehrten zu seiner Hoheit, im Kontrast dazu verleugnet Petrus ihn vor einer Magd (14,53f + 66–72). Das Verhör Jesu endet mit seiner Verspottung als Prophet. b) Der Prozess vor Pilatus (15,2–20) umschließt die Barabbasszene (15,6–14). Diese Szene kontrastiert den unschuldig verurteilten Jesus mit dem freigelassenen, des Aufruhrs verdächtigen Barabbas. Sie endet mit Jesu Verspottung als König. c) Die Hinrichtung auf Golgota durch römische Soldaten (15,21–37) wird umgeben davon, dass Simon von Kyrene das Kreuz trägt und der Hauptmann Jesu Hoheit bekennt, während andere Jesus verspotten. Den Bericht gliedert ein Stundenschema:
Die dritte Stunde = Kreuzigung und Verspottung des Gekreuzigten
Die sechste Stunde = Sonnenfinsternis und der letzte Schrei Jesu
Die neunte Stunde = Tod Jesu, Zerreißen des Tempelvorhangs, Bekenntnis.
Frauen sind Zeugen der Kreuzigung. Das leitet zum Osterteil über.
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Vierter Teil: Passion und Ostern
3. Der Osterteil (15,42–16,8) Grablegung: Josef von Arimathias bittet von Pilatus um Erlaubnis, Jesus zu bestatten. Das leere Grab wird durch Frauen aufgefunden, die Jesus salben wollen. Ein „junger Mann“, ein Engel (?), verkündigt ihnen die Osterbotschaft.
2.2 Das Jesusbild in den Passionsgeschichten
Es gibt drei durchgehende Tendenzen im Jesusbild aller Evangelien: (1) Die Passion gilt als Martyrium des leidenden Gerechten. (2) Die Unschuld Jesu wird durch Wunder und menschliches Zeugnis bestätigt. (3) Jesus wird als Vorbild für die Christen dargestellt. a) Die Passionsgeschichte im Markusevangelium
Im MkEv weiß Jesus (1) sein Leiden im Voraus: seinen Tod, den Verrat des Judas, die Flucht der Jünger, die Verleugnung des Petrus und das Kommen des Verräters. Er erleidet Angst und Anfechtung in Gethsemane. Seine wachsende Isolierung gipfelt im Verlassensein von Gott.8 (2) Aufgrund von Wundern bei der Kreuzigung Jesu bezeugt der Hauptmann die Unschuld Jesu durch sein Bekenntnis: „Wahrhaftig, dieser war ein Sohn Gottes“ (15,39). (3) Dieses Bekenntnis ist Echo auf Jesu Bekenntnis zu seiner Hoheit vor dem Synedrium (14,61f) und ein Vorbild für die Leserschaft: Alle sollen sich neben den Hauptmann stellen und sein Bekenntnis – vertieft um den Glauben an die Auferstehung Jesu – nachsprechen. b) Die Passionsgeschichte im Matthäusevangelium
Im MtEv ist (1) Jesu Leiden Ausdruck seines Willens. Er entlarvt den Verräter, könnte über zwölf Legionen verfügen, den Tempel zerstören und in drei Tagen wiederaufbauen (26,25.53.61). Sein Leiden ist Machtverzicht dessen, der alle Macht im Himmel und auf Erden hat. (2) Nachdrücklich bezeugt das MtEv Jesu Unschuld: Die Frau des Pilatus wird durch einen Traum von seiner Unschuld überzeugt (27,19), so dass auch Pilatus seine Hände in Unschuld wäscht (27,24f). Judas bereut seinen Verrat (27,3–10), Jerusalemer erleben Erscheinungen des Auferstandenen (27,52). Adressat des Unschuldsnachweises ist die jüdische Umwelt. (3) Adressat der Vorbildlichkeit Jesu im Leiden sind dagegen die Christen: Jesus verhält sich entsprechend der Bergpredigt, das Gethsemanegebet entspricht der Vaterunser-Bitte „Dein Wille geschehe“ (26,42; vgl. 6,10), Jesu Reaktion auf den Widerstand eines Jüngers bei seiner Festnahme entspricht dem Gewaltverzicht der Bergpredigt (26,52; vgl. 5,38–42).
8
Oder fordert Jesus durch den Ruf „Mein Gott, mein Gott, wozu hast du mich verlassen?“ (15,34 = Ps 22,2) den Sinn seines Leidens von Gott ein? So Ch.Burchard, Markus 15,34, ZNW 74 (1983) 1–11.
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c) Die Passionsgeschichte im Lukasevangelium
Im LkEv ist (1) Jesu Leiden heilsgeschichtlich notwendig: Die Schrift muss (δεῖ) an ihm erfüllt werden (22,37). Doch erst nachträglich erkennen die Jünger die Notwendigkeit des Leidens, zunächst die Emmausjünger, denen Jesus aus der Schrift nachweist: „Er musste leiden“ (24,25), danach hören alle Jünger: „Es muss alles erfüllt werden, was geschrieben steht“ (24,44). (2) Die Unschuld Jesu wird durch Mandatsträgern des römischen Reiches bezeugt: durch Herodes Antipas, Pilatus (23,6–12) und den Centurio (23,47). Adressat des Unschuldsnachweises ist die heidnische Umwelt. (3) Jesus ist ein vorbildlicher Märtyrer, der noch im Sterben für seine Mitmenschen eintritt. Auf dem Weg zum Richtplatz wird er von Mitleid für die Frauen wegen der zukünftigen Katastrophe Jerusalems ergriffen (23,27–31). Er bittet für seine Henker um Vergebung (23,34)9 und spricht dem reuigen Sünder, der mit ihm gekreuzigt wird, Heil zu (23,43). Angesichts dessen empfindet das Volk Reue (23,48). d) Die Passionsgeschichte im Johannesevangelium
Das JohEv steigert (1) die Souveränität Jesu im Leiden: Er hat die Macht, sein Leben hinzugeben und wieder zu nehmen (10,17f). Selbst seine „Gefangennahme“ wird zum Macht beweis: Nach seiner Offenbarung durch: „Ich bin es“ (egō eimi), stürzen die Feinde zu Boden. Jesus liefert sich freiwillig selbst aus und erwirkt für seine Jünger freien Abzug (18,1–9). Die Kreuzigung wird zur Stunde der Verherrlichung und Erhöhung (12,23.32f). (2) Genauso wichtig wie die von Pilatus bezeugte Unschuld Jesu (18,38; 19,6.12–16) ist das Zeugnis der Anklage für ihn als „König der Juden“, auch wenn sein Reich nicht von dieser Welt ist (18,36f). Pilatus nennt ihn „König der Juden“ (18,39; vgl. 19,14f) und weigert sich, die Kreuzesinschrift so zu ändern, als bezeuge sie nur Jesu Anspruch, König der Juden zu sein (19,19–22). So wird der Statthalter zum Zeugen der Wahrheit. (3) Jesu Sterben ist ein Vorbild als Ausdruck seiner Liebe, die Jesus bis zuletzt (eis telos) praktiziert (13,1) und auf die er seine Jünger als neues Gebot (13,34f; 15,9–17) verpflichtet: Die Fußwaschung ist ein Beispiel dafür (13,2–17). Er will, dass keiner seiner Jünger verloren geht (17,12; 18,9), trägt sein Kreuz selbst (19,17) und sorgt für seine unter dem Kreuz stehende Mutter (19,25–27). Obwohl die Passionsberichte zu einem Bekenntnis zu Jesus motivieren wollen, blieben in ihnen Erinnerungspuren des historischen Jesus und anderer Akteure erhalten. Wir müssen fragen, ob sie zusammenpassen, so dass sie sich als Auswirkung derselben Geschichte verstehen lassen.
9
Die Vergebungsbitte Lk 23,34 fehlt in vielen frühen Handschriften und wurde vielleicht hinzugefügt. Vielleicht wurde sie aber auch gestrichen, weil sie in Spannung zum Fall Jerusalems als „Strafe“ für Jesu Kreuzigung stand.
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3. Die Rolle der Jerusalemer Aristokratie beim Vorgehen gegen Jesus Nach den Evangelien geht die Jerusalemer Aristokratie in erster Instanz gegen Jesus vor, während Pilatus in letzter Instanz für seine Hinrichtung verantwortlich ist. Eine Analogie dazu ist das Vorgehen gegen den Unheilspropheten Jesus, Sohn des Ananias, der 62 n. Chr. von der Lokalaristokratie verhört wurde, danach an den Prokurator Albinus ausgeliefert und von diesem freigelassen wurde (Bell 6,300–309). Die Rolle der Lokalaristokratie im Prozess gegen Jesus hat sich wie bei Jesus, dem Sohn des Ananias, wahrscheinlich auf die Anzeige beschränkt, aber mit der Erwartung, dass er von den Römern zum Tode verurteilt wird. 3.1 Die Jerusalemer Aristokratie in den Quellen
Die Überlieferung der Evangelien schwankt zwischen der Darstellung eines Prozesses (Mt/ Mk) und eines Verhörs vor dem Synedrium (Lk) bzw. vor einem Hohepriester (Joh). Im Prozess vor dem Synedrium werden zwei Anklagepunkte gegen Jesus erhoben (Mk 14,55–65): (1) Die Tempelweissagung wird so ausgelegt, als wolle Jesus den Tempel zerstören. Da sich die Zeugen bei Mk (anders als im MtEv) widersprechen, wird dieser Vorwurf nicht weiterverfolgt. (2) Danach wird die Messianität Jesu von Jesus selbst bezeugt, indem er in Mk 14,61f die drei wichtigsten christologischen Titel „Messias“ bzw. Christus, „Sohn“ und „Menschensohn“ kombiniert. Jesus wird zum Modell eines christlichen Confessors. Nach der Feststellung, dass er des Todes schuldig ist, wird er als „Prophet“ misshandelt (Mk 14,65), jedoch nicht wie nach dem Prozess vor Pilatus als „Messias“. Das spricht dafür, dass die Tempelprophetie vor dem Synedrium das entscheidende Argument gegen Jesus war und das Bekenntnis Jesu zu seiner Messianität in diesem Text sekundär sein könnte.10 Dennoch muss auch die Messianität Jesu beim Vorgehen des Synedriums gegen Jesus eine Rolle gespielt haben. Denn nach Mk 15,1 tritt es am nächsten Morgen noch einmal zu einer Sitzung zusammen. Erst danach wird Jesus gefesselt an Pilatus überwiesen, der ihn fragt, ob er der „König der Juden“ sei. Hier schimmert durch: Erst diese Anklage war der Anlass, den Fall an Pilatus zu überweisen. Sie würde verständlich machen, dass Jesus jetzt erst gefesselt wurde. Es könnte also sein, dass die Messianität Jesu erst nach einem ersten Verhör zum zentralen Anklagepunkt wurde. Im LkEv wird das Verfahren vor der Lokalaristokratie in eine einzige Sitzung des Synedriums am frühen Morgen verlegt (22,66–71). Deren Gegenstand ist nur die Messianität Jesu, seine Tempelweissagung spielt keine Rolle. Zeugen treten nicht auf. Es wird kein Urteil gefällt.11 Vor Pilatus wird die Anklage politisch zugespitzt: Jesus wird wegen Unruhestiftung, Aufrufs zum Steuerboykott und als Messiasprätendent angeklagt (23,2). Lk hat richtig 10 Ein Plädoyer für die Authentizität des Bekenntnisses Jesu zu seiner Hoheit vor dem Synedrium ist: S.L.Bock, Blasphemy*, 2009, 631–656. Richtig ist: „If a messianic claim and danger could be proven, then Jesus could be taken to Rome.“ (S. 653). 11 Lk/Apg enthalten Hinweise auf eine Verurteilung Jesu durch jüdische Instanzen (vgl. Lk 24,20; Apg 13,27f). Geht die lk Verhörszene auf eine Tradition zurück, die der lk Anschauung widerspricht?
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gesehen: Vor Pilatus musste sich die Anklage auf die von Jesus ausgehende politische Gefahr konzentrieren. Im JohEv wird Jesus nachts vom Hohepriester Hannas wegen seiner „Lehre“ verhört (Joh 18,19–24) und danach zu Kaiphas als dem amtierenden Hohepriester,12 geschickt. Von ihm weiß der Leser des JohEv, dass er aus politischen Gründen Jesu Tod betreibt, (Joh 11,47– 53). Vom Synedrium ist im joh Passionsbericht nicht die Rede. Es hatte nach dem JohEv schon vorher beschlossen, Jesus zu töten, ohne dass seine Messianität dabei eine Rolle spielte (1 l,47f). Da das JohEv jüdischen Instanzen die „größere Schuld“ zuschreibt (19,11), widerspricht dieses nur vorbereitende nächtliche Verhör der joh Tendenz, vor allem jüdische Instanzen zu belasten. Das könnte darauf weisen, dass dies eine Erinnerungsspur der historischen Ereignisse ist. Wahrscheinlich haben Joh/Lk darin eine historische Erinnerung bewahrt, dass jüdische Instanzen nur eine Anklage vorbereiteten, zumal das auch der Mk-Bericht noch erkennen lässt: Der erste Anklagepunkt, die Tempelweissagung, wird fallen gelassen, weil die Zeugenaussagen nicht übereinstimmen (Mk 14,59). Danach führt der Hohepriester einen zweiten Anklagepunkt ein. In einem Prozess wäre eine nachgeschobene Anklage fatal, nicht aber in einem Verhör. Beim zweiten Anklagepunkt bejaht Jesus die Frage des Hohepriesters: „Bist du der Messias, der Sohn des Hochgelobten?“ durch: „Ich bin’s“. Die Reaktion des Hohepriesters: „Was brauchen wir noch Zeugen? Ihr habt die Blasphemie gehört“ zeigt, dass das Synedrium nach Zeugen für eine Anklage suchte. Mk schildert also keinen Prozess, in dem es befremden würde, wenn nach Zusammenbruch der ersten Anklage eine neue Anklage erhoben würde – erst recht, wenn der Richter selbst sie vorbringt. Bei einem Verhör wäre das aber kein Problem. Wenn das Urteil am Ende lautet: „Er ist des Todes schuldig“ (14,63), kann damit ursprünglich nur gemeint sein: Das Synedrium hat einen Grund gefunden, den Prozess vor Pilatus zu eröffnen, da nur die Römer Todesurteile aussprechen konnten. Das Ergebnis des Verhörs vor dem Synedrium war: Jesus hat eine Verurteilung zum Tode durch die Römer verdient. Dabei wurde vielleicht das Ergebnis einer Synedriumssitzung am nächsten Morgen in die nächtliche Sitzung eingetragen. 3.2 Formalrechtliche Aspekte: Das Prozessrecht der Mischna
Unsere Annahme, dass der vermeintliche „Prozess“ vor dem Synedrium nur ein Verhör war, könnte dadurch bestätigt werden, dass er in einigen Punkten der aus der Mischna bekannten Prozessordnung widerspricht.13 Jedoch ist nicht sicher, ob diese Prozessordnung zu der Zeit Jesu schon in Kraft war.
12 Nach Joh 11,49 und 18,13 ist Kaiphas der Hohepriester jenes Jahres. Aber auch Hannas, sein Schwiegersohn, wird in 18,19 der Hohepriester genannt. Ihr Verhältnis bleibt im JohEv unklar. 13 J.Blinzler, Prozeß*, 41969, 197ff; R.E.Brown, Death* I, 1993, 357 ff.
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Vierter Teil: Passion und Ostern
Prozessrecht der Mischna
Das Verfahren gegen Jesus
Kapitalprozesse finden nur am Tag statt. (bSanh. IV,1)
Gegen Jesus wird nachts verhandelt (anders Lk 22,66).
Gerichtsverhandlungen dürfen nicht am Sabbat, an Festtagen und Rüsttagen stattfinden.
Jesu „Prozess“ findet nach den Synoptikern in der Passanacht, nach Joh in der Nacht des Rüsttages statt.
Ein Todesurteil darf nicht am ersten Verhandlungstag gefallt werden, sondern erst in einer neuen Sitzung am folgenden Tag.
Jesus wird in der ersten Sitzung des Prozesses gegen ihn verurteilt (Wird in Mk 15,1 deshalb eine zweite Sitzung angedeutet?)
Gotteslästerung (nach Mk 14,64 der Grund der Verurteilung Jesu) besteht nach bSanh VII,5 im Aussprechen des Jahwenamens.
Der Hohepriester und Jesus umschreiben den Gottesnamen. Jesus spricht von der „Macht“, zu deren Rechten der Menschensohn sitzen wird (Mk 14,62).
Der reguläre Versammlungsort des Synedriums ist die Quaderhalle innerhalb des Tempels.
Der Tempel ist nachts verschlossen. Das Syne drium versammelt sich im Haus des Hohepriesters.
Zur Lösung dieses Widerspruchs zwischen der Prozessordnung der Mischna und dem „Prozesse“ Jesu vor dem Synedrium wurden mehrere Hypothesen diskutiert: 1. Für die Geschichtlichkeit des Prozesses vor dem Synedrium kann man anführen, dass Jesus wahrscheinlich nach sadduzäischem Recht verurteilt wurde, welches härter war als das pharisäische Recht, das in die Mischna aufgenommen wurde.14 2. Für die Ungeschichtlichkeit des Prozesses vor dem Synedrium spricht, dass das Synedrium zu der Zeit Jesu keine Kapitalgerichtsbarkeit besaß. Der Prozess könnte zur Entlastung der Römer „erfunden“ worden sein (H.Lietzmann).15 3. Für die sekundäre Umstilisierung eines Verhörs in einen Prozess spricht, dass dieses Verhör vielleicht unter dem Eindruck der Zeit 41–44 n. Chr. umgestaltet wurde, als jüdische Instanzen das jus gladii besaßen und Jakobus Zebedäus hingerichtet wurde (Apg 12,1f). 4. Schließlich könnte die Darstellung der Evangelien mehrere Vorgänge zu einem einzigen Prozess verschmolzen haben: Nach R.E.Brown16 hatte eine Sitzung des Synedriums, in der Jesu Tod beschlossen wurde, schon lange vor der Inhaftierung stattgefunden (vgl. Joh 11,47–53, dazu Mk 11,18; 14,1f). Nach der Gefangennahme kam es in der Nacht (Joh 18,19–24) oder am nächsten Morgen (Lk 22,66–77) nur noch zu einem Verhör. Das MkEv hätte mehrere Vorgänge zu einer einzigen Erzählung verschmolzen.
14 So J.Blinzler, Prozeß*, 41969, 216–229. Der Verstoß gegen das Feiertagsgebot bliebe auch dann bestehen. Möglich ist auch, dass pharisäisches Recht nicht zur Anwendung kam, weil gegen Jesus ein „außergewöhnliches Strafverfahren“ angestrengt wurde (So A.Strobel, Die Stunde der Wahrheit, 1980, 46–61.85). Dabei wurden aufgrund des „Gebots der Stunde“ die üblichen Bestimmungen suspendiert. Es ist in der talmudischen Literatur belegt (J.Blinzler, Prozeß*, 41969, 204ff), aber Blinzler hält es für eine „Fiktion“ der Rabbinen zur Rechtfertigung früherer, nicht „rechtmäßig“ durchgeführter Prozesse. 15 H.Lietzmann, Der Prozeß Jesu, 1931. 16 R.E.Brown, Death* I, 1993, 362f; 553 ff.
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3.3 Der sachliche Grund für das Vorgehen des Synedriums gegen Jesus
Unabhängig davon, ob das Vorgehen des Synedriums ein Verhör oder ein Prozess war, sind die Gründe dieses Vorgehens nach Mk 14,58.62f sachlich und rechtlich zu würdigen. Da die Tempelweissagung Jesu und sein Messiasanspruch nicht unbedingt todeswürdige Verbrechen sind, nehmen manche an, Jesus sei als Falschprophet und Verführer oder wegen Inanspruchnahme göttlicher Würde verurteilt worden. a) Die Tempelweissagung Jesu
Seit Jer 26,1–19 gibt es Zeugnisse, in denen Tempelkritik als Verbrechen bewertet wird. Samaritaner, die die Legitimität ihres Tempels gegen den Jerusalemer Tempel verteidigten, wurden hingerichtet (Ant 13,79), der „Lehrer der Gerechtigkeit“ wurde u. a. wegen Tempelkritik verfolgt (1QpHab IX; 4QpPs 37 4,8f). Jedoch wurde ein anderer Jesus, der Sohn des Ananias, wegen seiner Weissagung gegen Tempel und Stadt zwar von der Tempelaristokratie angeklagt, vom Prokurator aber freigelassen (Bell 6,300–309). Die Beispiele zeigen: Die meisten Kritiker des Tempels überlebten. Tempelkritik war kein Grund für ein Todesurteil, aber verletzte die Interessen des Synedriums. Vor Pilatus spielte der Tempel aus verständlichen Gründen keine Rolle: Eine Weissagung gegen ihn hätte er als innerjüdische Angelegenheit behandeln können. b) Falschprophetie und Verführung des Volkes
War die Tempelweissagung vielleicht Falschprophetie oder Verführung, also nach Dtn 13 und 17,2–7 todeswürdige Vergehen?17 Die Mischna differenzierte dabei zwischen einem „Mesith“ (planos), der einzelne Personen zum Götzendienst verführt, und einem „Maddiach“ (apostas), der das ganze Volk verführt. Die Vorstellung, Jesus sei als Mesith oder Maddiach angeklagt worden, ist verlockend, weil dann die Prozessregeln außer Kraft gesetzt werden durften. Nach einer jüdischen Quelle (bSanh 43a) wurde Jesus tatsächlich als Mesith hingerichtet, nach christlichen Quellen wurde ihm Verführung vorgeworfen (Mt 27,63f; Joh 7,12.47; Justin Dial 69,7; 108,2). Doch begegnet dieser Vorwurf nicht in den ältesten Quellen (Mk 14,55–64). Bei Mt findet er sich nicht im Prozessbericht selbst. Vor allem wäre der zentrale Vorwurf gegen einen Mesith – die Verführung einer einzelnen Person zum Götzendienst – beim historischen Jesus absurd. Die Belege gehören in eine Zeit, in der sich Juden und Christen getrennt hatten und Juden in Jesus einen Verführer sehen konnten, der seine Anhänger von der jüdischen Religion abtrünnig gemacht hat.18 c) Der Messiasanspruch Jesu?
War die eigentliche Anklage vor dem Synedrium vielleicht der Messiasanspruch Jesu? 19 Abgesehen von Mk 14,61f gibt es freilich keinen Hinweis darauf, dass solch ein Messiasanspruch 17 A.Strobel, Die Stunde der Wahrheit, 1980, 81 ff. 18 Vgl. J.Maier, Jesus von Nazareth in der talmudischen Überlieferung, 1978, 210–235. 19 So J.Blinzler, Prozeß*, 41969, 186–197.
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nach jüdischem Recht unter Strafe stand oder den Tatbestand der Gotteslästerung erfüllte. Simon Bar Kochba wurde im jüdischen Krieg 132–135 n. Chr. von Rabbi Akiba als Messias anerkannt. Seine Verehrung als Messias war politisch brisant, aber nicht Gotteslästerung. Ein Messiasanspruch Jesu wäre aber geeignet gewesen, Jesus vor Pilatus als Unruhestifter anzuklagen. Ein „unpolitischer“ Messias war damals schwer vorstellbar. Insofern wird auch Jesu „Messianität“ vor dem Synedrium eine Rolle gespielt haben. Da er als „König der Juden“ hingerichtet wurde, hat er sich vor Pilatus jedenfalls nicht von messianischen Erwartungen an ihn distanziert. d) Der Anspruch Jesu auf göttliche Würde
Solch ein Anspruch wäre für das Synedrium inakzeptabel gewesen. Jesus wird nach Mk 14,63f wegen „Blasphemie“ verurteilt. Auch wenn die Mischna Blasphemie als Aussprechen des Jahwenamens definiert (Sanh VII,5), umfasst Blasphemie auch Verfluchung, Verspottung oder Verächtlichmachen Gottes – und die Inanspruchnahme eines Status, der Gott allein zukommt.20 Nach Joh 19,7 soll Jesus sterben, weil er beanspruchte, „Sohn Gottes“ zu sein. In Mk 14,62 könnte man einen vergleichbaren Anspruch darin sehen, dass er ankündigt, zur Rechten Gottes zu sitzen (D.R.Catchpole, Trial, 271). Jedoch könnte die Kombination der drei wichtigsten christologischen Titel, Messias, Sohn Gottes und Menschensohn in Mk 14,62f auch nachösterlich sein (so H.Lietzmann, Der Prozeß Jesu, 1931, 255f). Dass Jesus nach dem Verhör nur wegen seiner Prophetie verspottet wird (Mk 14,65), nicht wegen seines göttlichen Anspruchs, spricht dafür, dass solch ein Anspruch vor dem Synedrium keine Rolle gespielt hat. 3.4 Der Anhalt im Wirken Jesu
Den Anlass zur Feindschaft des Synedriums sucht man entweder in der Gesetzes- und Tempelkritik Jesu oder in politischen Gründen. Beides wird diskutiert. a) Gesetzeskritik Jesu
In der Gesetzeskritik Jesu sahen protestantische Exegeten lange die Ursache seines Todes. „Jesus starb nach der Überzeugung seiner jüdischen Gegner, weil er sich durch sein ganzes Verhalten gegen den von ihnen vertretenen Willen Gottes im Gesetz aufgelehnt hatte“.21 Nach Mk 3,6 folgte nach einem Sabbatkonflikt der Tötungsbeschluss der Herodianer und Pharisäer, doch könnte das eine redaktionelle Klammer sein, um Konflikte Jesu mit der Passion zu verbinden. Denn in Mk 12,13 suchen dieselben Gruppen nach einem politischen Grund für ein Vorgehen gegen Jesus: Sie stellen ihm die Frage nach der Steuerzahlung. Doch spielen weder Herodianer noch Pharisäer in der Passionsgeschichte eine Rolle, obwohl Pharisäer im Synedrium vertreten waren. Später gelten einige Pharisäer sogar als heimliche „Sympa20 R.E.Brown, Death* I, 1993, 531ff; D.L.Bock, Blasphemy and the Jewish Examination of Jesus, in: D.L.Bock/R.L.Webb, Key Events in the Life of the Historical Jesus, 2009, 589–667. 21 J.Roloff, Neues Testament, 41985, 184 f.
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thisanten“ der Christen wie Nikodemus (Joh 3; 7,50–52), vielleicht auch Joseph von Arimathia mit seiner eschatologischen Erwartung (Mk 15,43). b) Tempelkritik Jesu
Unmittelbarer Anlass des Eingreifens der Lokalaristokratie war gewiss die Tempelkritik Jesu. Vom Tempel hingen Status und Einkünfte der Lokalaristokratie ab. Die Analogie des gegen den Tempel und Jerusalem weissagenden Jesus, Sohn des Ananias (Bell 6,300–309), zeigt, dass die Aristokratie gegen derartige „Propheten“ vorging – und sei es nur, um Unruhen zu vermeiden, die oft bei den Tempelfesten ausbrachen.22 Mit der Tempelkritik beginnt das Verhör vor dem Synedrium, vor Pilatus wird sie mit keinem Wort erwähnt. Das ist verständlich: Pilatus hätte nach seinen Konflikten mit dem Tempel (vgl. oben S. 36) vielleicht eine „versteckte“ Sympathie mit Tempelkritikern gehabt. c) Jesus als politischer Unruhefaktor
In jedem Fall zog sich Jesus aus politischen Gründen die Feindschaft der Lokalaristokratie zu. Wer Messiaserwartungen im Volk aktivierte, bedrohte die Stabilität des Landes. Mit einer Anklage Jesu als Messiasprätendent konnte man vor Pilatus Erfolg haben: „Jesus wurde hingerichtet, weil der Magistrat oder ein Teil befürchtete, er könnte Unruhen auslösen, denen die Römer nicht zusehen würden. Er starb nicht, weil sein Verhältnis zur Tora und zu Israel so war, daß toratreue Juden keine andere Wahl hatten.“23
4. Die Rolle des Volkes beim Vorgehen gegen Jesus Einerseits schützt das Volk Jesus: Weil die Jerusalemer Autoritäten es fürchten, soll Jesus noch vor dem Fest hingerichtet werden (Mk 14,1f). Andererseits plädiert das Volk in der Barabbasszene für die Hinrichtung Jesu. Umstritten ist, ob die Entscheidung zwischen Jesus und Barabbas historisch ist. Die Freilassung des Aufrührers Barabbas anstelle Jesu könnte eine symbolische Darstellung der Stellvertretung sein: Jesus stirbt den Tod, den der schuldige Barabbas verdient hätte (Mk 15,6–14). Eine besondere Gruppe sind ferner die Soldaten, die Jesus inhaftieren, verspotten und hinrichten. Ihre Handlungen haben eine „ironische“ Bedeutung: Sie wollen Jesus erniedrigen, stellen ihn aber durch Verhöhnung als König in seiner Hoheit dar. 4.1 Das Volk in den Quellen
Bei Mt und Mk wird der Umschwung im Volk von der Sympathie für Jesus zur Forderung seiner Kreuzigung auf den Einfluss der Lokalaristokratie zurückgeführt (Mk 15,11). Das 22 G.Theißen, Die Tempelweissagung Jesu. Prophetie im Spannungsfeld von Stadt und Land (1976), in: ders., Studien zur Soziologie des Urchristentums 1979, 31989, 142–159. 23 Ch.Burchard, Jesus von Nazareth, in: J.Becker (u. a.), Die Anfänge des Christentums, 1987, 12–58, 54 f.
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MtEv verstärkt die negative Rolle des Volkes durch dessen bedingte Selbstverfluchung: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder“ (Mt 27,25). Es denkt dabei an die vielen Toten bei der Eroberung Jerusalems (22,7). Dagegen entlastet das LkEv das Volk: Zwar verlangt es Jesu Kreuzigung (Lk 23,13f), aber Frauen beklagen seine Hinrichtung (23,27–31). Von den beiden mitgekreuzigten „Schächern“ schmäht der eine Jesus, der andere bekehrt sich zu ihm (23,39–43; vgl. EvPetr 4(13). Im Petrusevangelium verspottet anstelle der römischen Soldaten das ganze Volk Jesus mit Purpurgewand und Dornenkorne und kreuzigt ihn: EvPetr 3(7)– 4(10). Umso mehr beklagt es nach seinem Tod seine Sünden und erwartet ihretwegen ein Gericht über Jerusalem: EvPetr 7(25). Das JohEv spricht nur einmal vom Volk als laos, wenn der Hohepriester sagt: Es sei besser, wenn ein Mensch für das Volk sterbe, als wenn das Volk zugrunde ginge (Joh 11,50 vgl. 18,14). Sonst spricht es von den „Juden“ (z. B. Joh 18,38). In den Synoptikern ist der Begriff „die Juden“ auf die Passionsgeschichte beschränkt.24 4.2 Formalrechtliche Aspekte: Die Passaamnestie
Ein Brauch, zum Passafest einen Gefangenen freizulassen, lässt sich nicht belegen. Eine gelegentliche Amnestie ist aber vorstellbar. Für Ägypten ist im Jahr 85 n. Chr. eine Freilassung bezeugt: Der Statthalter entlässt einen Phibion mit den Worten: „Verdient hättest Du, dass Du Geißelhiebe erhieltest, … ich will Dich aber dem Volkshaufen schenken.“25 In Judäa verlangte das Volk die Freilassung von Gefangenen beim Amtsantritt des Archelaos (Ant 17,204). Da Passa das Fest der „Verschonung“ ist (psh bedeutet u. a. „vorbeigehen, verschonen“), wäre es verständlich, wenn jemand zum Passahfest begnadigt wurde. Für Palästina sind Freilassungen von Gefangenen durch den Prokurator Albinus bezeugt (Ant 20,215). Falls eine solche Freilassung mit der Verurteilung Jesu zeitlich zusammenfiel, konnte leicht eine Erzählung wie die von Barabbas auch ohne eine regelmäßige Passaamnestie entstehen.26 4.3 Sachliche Gründe für die Haltung des Volkes
Ist die Barabbas-Szene nur eine erfundene Geschichte mit symbolischer Aussagekraft? Warum wird in ihr offengelassen, ob Barabbas wirklich schuldig war? Von ihm heißt es nämlich nur: Er war zusammen mit denen inhaftiert worden, die bei dem Aufstand einen Mord begangen hatten (Mk 15,7). Wer zusammen mit Mördern inhaftiert wird, war vielleicht nur zur falschen Zeit am falschen Ort. Dann wäre verständlich, warum sich das Volk für ihn einsetzt. Es rettete möglicherweise einen Unschuldigen. Wäre die Szene erfunden, um den Stellvertretungsgedanken erzählerisch darzustellen, müsste die Schuld des Barabbas betont werden. Nur dann trägt Jesus stellvertretend auch dessen Schuld bei seinem Sterben für die vielen. Zu erklären ist, warum die Stimmung gegen Jesus umschlagen konnte? Beim Einzug in Jerusalem begrüßt ihn das Volk positiv, hier lehnt es ihn ab. Wahrschein24 Nur in Mt 2,2; Mk 7,3; Lk 7,3 begegnet der Begriff „die Juden“ vor der Passionsgeschichte. 25 Papyrus Florentinus Nr. 61, zitiert nach A.Deißmann, Licht vom Osten, 41923, 229. 26 Vgl. Chr.Niemand, Jesus und sein Weg zum Kreuz, 2007, 421–426.
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lich muss man unterscheiden. Das mit Jesus sympathisierende „Volk“, dessentwegen Jesus vor dem Passa beseitigt werden sollte (Mk 14,1f), meint das Volk, das zu den Festen in die Stadt strömte. Das feindselige „Volk“ der Barabbasszene könnte die Jerusalemer Stadtbevölkerung sein, auf welche die Hohepriester Einfluss hatten. Die Tempelweissagung bedrohte die Interessen aller Jerusalemer, deren materielle Existenz vom Tempel abhing. Exkurs: Die Soldaten in der Passionsgeschichte Nach dem Verhör durch das Synedrium wird Jesus verspottet und misshandelt: „Da finden einige an, ihn anzuspeien und sein Angesicht zu verdecken und ihn mit Fäusten zu schlagen und zu ihm zu sagen; Weissage uns! Und die Knechte (hyperetai) schlugen ihn ins Angesicht“ (Mk 14,65). Die Knechte der Hohepriester verspotten Jesus als Propheten, nicht als Messias. Dagegen verhöhnten die Soldaten (stratiōtai) der Römer Jesus später als „König der Juden“ (15,16–19).27 Bei diesen römischen Kohorten handelte es sich um Hilfstruppen. Sie rekrutierten sich aus der nicht-jüdischen Bevölkerung Palästinas, unter denen Judenfeindschaft verbreitet war – insbesondere ein Hass gegen jüdische Könige, von denen die benachbarten Gebiete in der Hasmonäerzeit unterdrückt worden waren. Diese Kohorten, die ca. 30 n. Chr. Jesus als König der Juden verhöhnten, sind dieselben, die 15 Jahre später (44 n. Chr.) den verstorbenen König Agrippa I. verhöhnen, indem sie die Büsten seiner Töchter in Bordelle schleppen (Jos Ant 19,356–366). Deswegen sollten sie 44 n. Chr. zur Strafe an den Pontus versetzt werden. Die Verspottung Jesu zeigt: Jesus hat auch unter Vertretern antiker „Judenfeindschaft“ gelitten. Seine Verspottung hat im Übrigen eine Analogie in der Verspottung des Karabas als jüdischem König ca. 38 n. Chr. in Alexandrien, der stellvertretend für Agrippa I. verhöhnt wurde (Philo, Flacc 36–40).
5. Die Rolle der Jünger: Flucht, Verleugnung und Verrat Das Verhalten der Jünger widerspricht jedem heroischen Ideal: Alle fliehen, Petrus verleugnet Jesus, Judas verrät ihn. Jesus wirkt umso positiver. Wird um des Kontrastes willen das Versagen der Jünger so stark betont? Wohl kaum, denn die Jünger waren Autoritäten in den Gemeinden. Erzählungen von ihrem unrühmlichen Verhalten widersprachen ihrer Stellung. Flucht, Verleugnung und Verrat der Jünger sind historisch. 5.1 Die Flucht der Jünger
Der Leser des MkEv ist auf das Versagen der Jünger vorbereitet. Im ganzen MkEv haben sie kein volles Verstehen für Jesus. Die engsten Jünger schlafen in Gethsemane, alle lassen Jesus bei seiner Gefangennahme im Stich. Nur Frauen beobachten „von ferne“ seine Kreuzigung. Das Petrusevangelium steigert das Fluchtmotiv: Die Jünger verbergen sich, weil sie als „Brandstifter“ des Tempels gesucht werden, und verbringen die Zeit bis Ostern in Fasten 27 B.Mutschler, Die Verspottung des Königs der Juden. Jesu Verspottung in Jerusalem unter dem Blickwinkel einer parodierten Königsaudienz, 2008.
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und Trauern: EvPetr 7 (26f). Andere Schriften behandeln sie „schonender“. Nach dem LkEv harren die Jünger bei Jesus „in seinen Anfechtungen“ aus (Lk 22,28). Lk berichtet auch von keiner Jüngerflucht, seine Kreuzigung beobachten nicht nur Frauen, sondern „alle seine Bekannten“ einschließlich der Jünger (23,49). Auch im JohEv fliehen sie nicht. Jesus sorgt vielmehr dafür, dass sie unbehelligt gehen dürfen (Joh 18,9). Der Lieblingsjünger steht zusammen mit Frauen und Jesu Mutter unter dem Kreuz (19,26f). Wenn die Jüngerflucht so deutlich in den Überlieferungen zurückgedrängt wird, spricht das für ihre Geschichtlichkeit. 5.2 Die Verleugnung des Petrus28
Auch die Verleugnung des Petrus sorgte für Irritation. Petrus hatte eine herausgehobene Position, gehörte zu den ersten Jüngern, die berufen wurden (Mk 1,16–20), ist der Erste einer Dreiergruppe, die Jesus auch in nichtöffentlichen Szenen begleitet (Mk 5,37; 9,2; 14,33) und führt die Zwölferliste an (Mk 3,16–19parr). Im MkEv ist wahrscheinlich Petrus gemeint, wenn ein anonymer Jünger bei der Gefangennahme Jesu einen der Knechte mit dem Schwert verletzt (14,47parr), denn er wird in Joh 18,10f mit Petrus identifiziert. Petrus folgt Jesus nach dessen Gefangennahme „von ferne“ (Mk 14,54), verleugnet ihn vor einer einfachen Magd, während sich Jesus vor dem Hohepriester zu seiner Hoheit bekennt. Petrus bereut sein Versagen (14,72). Am Ende des MkEv schickt der Engel am Grab die Frauen zu Petrus und den Jüngern mit der Osterbotschaft. Da im MkEv Petrus (zusammen mit seinem Bruder Andreas) als erster Jesus begegnet und am Ende von den Frauen als erster die Osterbotschaft hört, soll der Leser vielleicht schließen, dass Petrus der wichtigste Träger der Jesusüberlieferungen ist. Von Anfang bis Ende hat er die größte Nähe zu Jesus. Das MtEv steigert die Ambivalenz im Bilde des Petrus. Als sinkender Petrus verkörpert er den „Kleinglauben“ der Jünger (14,31), als Felsen, auf dem die Kirche erbaut ist, ihren Glauben (16,16.18). Aber unmittelbar danach wird er als „Ärgernis“ scharf kritisiert (16,23). Dem entspricht, dass sein Versagen in der Passion schärfer herausgearbeitet wird: Petrus verleugnet Jesus, als der Hohepriester Jesus beim lebendigen Gott beschwört, zu sagen, ob er der Messias, der Sohn Gottes, sei (26,63), und so den Leser an das Bekenntnis des Petrus zum Messias, dem Sohn des lebendigen Gottes, erinnert (16,16). Wenn Jesus Petrus lehrt, dass er nicht nur sieben, sondern siebzigmal siebenmal vergeben muss, gilt das vor allem für ihn selbst: Er ist auf Vergebung angewiesen (18,21f). Am positivsten wird Petrus im LkEv dargestellt. Vor seiner Verleugnung verspricht Jesus, für seine Bekehrung zu beten (22,32). Während der Verleugnung sieht er ihn an – will er an diese Zusage erinnern? (22,61). In der frühen Kirche gehen nach der Apg wichtige Impulse von Petrus aus: bei der Sammlung der Gemeinde, ihrer Öffnung für Nichtjuden und derVermittlung zwischen Antiochien und Jerusalem.
28 Ch.Böttrich, Petrus. Fischer, Fels und Funktionär, 2001, ders., Art. Petrus, WiBiLex (2015); M.Hengel, Der unterschätzte Petrus, 2006; J.Becker, Simon Petrus im Urchristentum, 2009.
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Die Evangelien bewältigen Irritationen durch die Verleugnung des Petrus, indem sie auch seine positiven Seiten betonen (MtEv), sein Versagen beschönigen (LkEv), ihn als guten Hirten bestätigen (JohEv) und ihm die Erkenntnis zuschreiben, dass Jesus der „gerechte Bote“ oder ein „Engel“ ist (ThEv 13). Wenn ein Versagen so kunstvoll verschleiert wird, muss sich in ihm eine Erinnerungsspur erhalten haben. 5.3 Der Verrat des Judas Iskarioth
Jesu Schicksal war besiegelt, als einer seiner Jünger seinen nächtlichen Aufenthaltsort verriet. Die Furcht der Tempelaristokratie davor, dass Jesus Sympathien im Volk besaß (vgl. Mk 11,18.32; 12,12; 14,2), muss begründet gewesen sein. Daher wird Jesus heimlich verhaftet. Warum aber war einer seiner Jünger bereit, seinen Aufenthaltsort zu verraten? Dazu gibt es nur begründete Vermutungen. Judas war Jesus nach Jerusalem gefolgt. Seine Abwendung von Jesus wurde wahrscheinlich durch etwas ausgelöst, das erst spät deutlich geworden war. Nach Lk 19,11 hofften die Jünger, das Reich Gottes werde sich bald offenbaren. Die Emmausjünger sagen: „Wir hofften, er sei es, der Israel erlösen werde“ (Lk 24,21). Auch hofften sie, im Reich Gottes über die zwölf Stämme Israels zu herrschen (QLk 22,28–30). Das setzt voraus, dass die zwölf Stämme wieder vereint sind. Diese Hoffnung war mit einer Wallfahrt zum Zion verbunden, bei der nicht nur Israeliten, sondern alle Völker zum Zion zusammenströmen. Dann soll der Opferkult und der Viehhandel im Tempel aufhören. An jenem Tag „werden alle Kessel in Jerusalem und Juda dem Herrn Zebaoth heilig sein, sodass alle, die da opfern wollen, kommen werden und sie nehmen und darin kochen werden. Und es wird keinen Händler mehr geben im Hause des Herrn Zebaoth an jenem Tage.“ (Sach 14,20–21)
Die Jerusalemer Symbolhandlungen Jesu sind Ausdruck solcher Erwartungen: Sein Einzug in Jerusalem weckte die Hoffnung, mit ihm komme die Herrschaft Davids. Der Einzug führte zum Tempel, als dort nichts geschah, war das eine erste Enttäuschung für einige Jünger (Mk 11,11). Jesus stellte durch seine Tempelaktion in einer zweiten Symbolhandlung die Erneuerung des Tempels in Aussicht (11,15–18). Doch auch jetzt gab es keinen Umschwung. Dann nahm Jesus im Abendmahl in einer dritten Symbolhandlung den endzeitlichen Kult mit seinen zwölf Jüngern vorweg, bot ihnen aber keine Herrscherposition an, sondern nur Brot und Wein (14,17–25). Erst jetzt verließ Judas den Jüngerkreis, um Hohepriestern den Aufenthaltsort Jesu zu verraten. Dass einer durch eine Kette von Enttäuschungen an Jesu Sendung verzweifelte, wäre ebenso verständlich wie die Flucht aller bei seiner Gefangennahme. Was wissen wir sonst von Judas? Nach Joh 12,3–8 kritisiert er die Verwendung teuren Öls für Jesu Salbung. Sein Vorschlag, das Geld den Armen zur Verfügung zu stellen, wird ihm als Geldgier ausgelegt. Aber es könnte sich darin die Erinnerungsspur erhalten haben, dass er Jesu Einsatz für die Armen bejahte. Sein Beiname Iskariot bedeutet „Mann aus Kerijot“. Nach Jos 15,25 gab es in Judäa einen Ort „Kerijot“, der aber für die Zeit Jesu nicht belegt ist. Wahrscheinlich war Judas Iskariot
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der einzige Jünger, der aus dem Süden stammte. Das könnte seine Bindung an den Jerusalemer Tempel erklären.29 Hat ihn die Tempelaktion Jesu irritiert? Judas lieferte Jesus nach einer Absprache mit den Hohepriestern aus (Mk 14,10), also nicht mit dem ganzen Synedrium aus Hohepriestern, Ältesten und Schriftgelehrten (Mk14,43). Erst Lk fügt bei den Personen, mit denen Judas konspirierte, die „Hauptleute“ hinzu (Lk 22,4). Daraus folgt: Nur die für den Kult zuständige Gruppe arbeitete eng mit Judas zusammen. Das könnte ein Indiz dafür sein, dass Judas ein kultpolitisches Motiv für seinen Verrat hatte. Für solch ein Motiv spricht, dass Judas erst nach der symbolischen gedeuteten Mahlzeit Jesus verließ. Denn jetzt erst wurde klar, dass Jesu Tempelkritik zu einem neuen „Kult“ führen konnte. Spaltungen von Religionen werden meist in Form neuer Riten sichtbar. Für seinen Verrat erhielt Judas Geld, was als Lohn des Verräters angeprangert wird (Mk 14,10). Man kann den Lohn als „Ausstiegshilfe“ deuten. Wie sollte ein Jünger, der um der Nachfolge willen alles verlassen hatte, ins „normale“ Leben zurückfinden? Nach Apg 1,18 kaufte Judas mit dem Geld einen Acker nahe Jerusalem als Grundlage für eine neue Existenz. Auch das spricht für seine Herkunft aus dem Süden. Die Überlieferungen von seinem Selbstmord durch Erhängen noch vor Jesu Hinrichtung (Mt 27,3–10) bzw. durch einen Unfalltod auf seinem Acker (Apg 1,18) lassen sich nicht ausgleichen. Dass Judas nicht mehr ins normale Leben zurückgefunden hat und bald gestorben ist, könnte aber stimmen. Diese Überlegungen sind Vermutungen aufgrund von Indizien. Verräter wie Judas – er wird in Lk 6,16 explizit „Verräter“ genannt – schreiben sich weit positivere Motive zu als diejenigen, die ihre Opfer sind. Vielleicht hatte dieser „Verräter“ einmal von einer neuen Einheit Israels geträumt, die alle umfassen sollte, Reiche und Arme, Judäer und Galiläer, aber musste dann registrieren, dass Jesus neue Spaltungen bewirkt. Nach der „Tempelaktion“ Jesu war deutlich, dass es zu einem tiefen Konflikt mit dem bestehenden Tempel kommen konnte. Ein neues Ritual war Anzeichen einer Spaltung. Auch die Anklage gegen Jesus vor dem Synedrium war kultpolitisch motiviert. Sie wendet sich gegen die Prophetie einer Tempelzerstörung und eines neuen Tempels. War Judas eine tragische Gestalt, der eine Spaltung des Judentums verhindern wollte? Eine bedenkenswerte Vermutung schreibt Judas eine politische Enttäuschung zu. Er habe gehofft, dass sich Jesus an die Spitze eines Aufstandes gegen die Römer stellt (J.Schröter).30 War Judas vielleicht Vertreter einer jüdischen „Befreiungstheologie“? Dann müsste er spätestens nach Jesu Stellungnahme zur Steuerfrage gemerkt haben, dass Jesus einen Aufstand ablehnte. Er hätte auch kein Motiv gehabt, Jesus an die von ihm bekämpften Römer auszuliefern. Judas lieferte ihn in der Tat nur an die Hohepriester aus. Für die Tempelaristokratie war vor allem Jesu Tempelkritik wichtig. In der Tat treten nur für diese Tempelkritik im
29 Die Deutung des Eigennamens als Mann aus Kerijoth ist nicht sicher. Eigentlich erwartet man einen „Eigennamen + min + Ortsnamen“, hier aber fehlt das min (griech apo), das sagt: er stamme „aus“ Kerijoth. So M.Limbeck, Art. Iskariot, NBL 2 (1995) 143 f. Eine Deutung auf einen Ortsnamen vertritt z. B. M.Meiser, Art. Judas Iskarioth, WiBiLex (2010) 2. 30 J.Schröter, Jesus. Leben und Wirkung, 2020, 114.
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Verfahren vor dem Synedrium Zeugen auf – vielleicht aufgrund von Informationen durch Judas. Falls Judas aber politisch motiviert war, müsste er darüber verzweifelt gewesen sein, dass die Hohepriester Jesus an die von ihm gehassten Römer zur Hinrichtung auslieferten. Es wäre dann durchaus denkbar, dass Judas sich deshalb umgebracht hat.
Möglicherweise hatte Judas aber nur ein sehr pragmatisches Ziel: Er wollte durch Kauf von Land aus der heimatlosen Wanderexistenz in ein normales Leben zurückfinden und in seiner Heimat Fuß fassen. Historisch-kritische Forschung muss sich darum bemühen, auch ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Schon christliche Gnostiker haben es versucht. Nach dem Judasevangelium (2. Jh.n. Chr.) war er Jesu bester Freund, den er beauftragt hatte, ihn um des Heils willen zu verraten. Dadurch konnte Jesus seine leibliche Hülle verlassen und in seine göttliche Heimat zurückkehren.31
6. Die Rolle der Römer beim Vorgehen gegen Jesus32 Die Verantwortung für Jesu Hinrichtung liegt letztlich bei den Römern. Ihre Herrschaft wurde durch einen aus dem Ritterstand stammenden „Präfekten“ ausgeübt. Später (nach 44 n. Chr.?) wurde dieses militärische Amt durch einen „Prokurator“ der Finanzverwaltung ersetzt. Tacitus schreibt Anfang des 2. Jh.n. Chr. irrtümlich, Jesus sei per procuratorem Pontium Pilatum gekreuzigt worden (Ann 15,44). Eine 1961 in Cäsarea gefundene Inschrift belegt für Pilatus dagegen den Titel praefectus Judaeae. Münzprägungen zeigen, dass er als einziger römischer Beamter Symbole wählte, die das religiöse Empfinden der Juden verletzten.33 Dazu passt, dass er Kaiserbilder und -symbole gegen jüdischen Widerstand in Jerusalem einzuführen versuchte (Bell 2,169–174).34 6.1 Die Römer in den Quellen
Eine Tendenz zur Entlastung der Römer ist vor allem im Sondergut der Evangelien spürbar. Im mt Sondergut bestätigen Pilatus und seine Frau Jesu Unschuld. Gott offenbart sich der Frau wie den Weisen aus dem Morgenland durch Träume (MtS 2,12). Sie warnt Pilatus vor „diesem Gerechten“ (MtS 27,19), Pilatus wäscht seine Hände in Unschuld (MtS 27,24). Im lk Sondergut bezeugt Pilatus, er und Herodes hätten keine Schuld an Jesus gefunden (LkS 23,6– 12). Im JohEv stellt Jesus vor Pilatus fest: „Der mich dir ausgeliefert hat, hat größere Sünde“ 31 Vgl. G.Wurst, Das Judasevangelium (CT 3), in: Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung Bd. 2, 2012, 1220–1234. 32 Dazu R.L.Webb, Roman Examination*, 2009, bes. die Zusammenfassung S. 759–761. 33 Eine Münze des Pilatus aus dem Jahr 29 n. Chr. zeigt ein Trankopfergefäß, ein simpulum. Vgl. Y.Meshorer, Jewish Coins of the Second Temple Period, 1967, Nr. 229. Münzen aus den Jahren 30 und 31 zeigen den Krummstab der Auguren, der römischen Zeichendeuter (vgl. Nr. 230, 231). Alle enthalten ein heidnisches Symbol. 34 Zu Pilatus vgl. J.Blinzler, Prozeß*, 41969, 260–175.
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(Joh 19,11). Im Petrusevangelium wird Jesus von Herodes den Juden zur Kreuzigung übergeben. Pilatus betont: „Ich bin rein am Blute des Sohnes Gottes, ihr habt solches beschlossen.“ (EvPetr 11 (46) Eine zunehmende Beschuldigung der Juden ist in späteren christlichen Quellen, z. B. bei Justin und in den Pilatusakten, zu beobachten. Möglicherweise ist eine Tendenz zur Entlastung der Römer aber schon im MkEv wirksam (S.G.F.Brandon, Trial*, 1968). Sie ist ambivalent: Was soll man von einem römischen Richter halten, der von der Unschuld eines Angeklagten überzeugt ist und ihn dennoch zum Tode verurteilt? Ist das nicht ein schwerer Vorwurf gegen solche Richter? 6.2 Die rechtliche Verantwortung für Jesu Verurteilung
Die Römer sind aus drei Gründen die Hauptverantwortlichen für Jesu Tod:35 (1) Der Prozess gegen Jesus entspricht römischem Recht, (2) das jus gladii lag bei ihnen, (3) die Kreuzigung war eine römische Todesstrafe. (1) Der Prozess gegen Jesus war entweder eine coercitio oder eine cognitio: Coercitio durch „Zwangsmaßnahmen“ gehörten zur Vollmacht jedes römischen Statthalters, alles zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung zu tun. Coercitio war legalisierte Willkür,36 cognitio ein Verfahren nach Rechtsregeln mit Anklage, Verhör und Urteil. Schweigen konnte als Geständnis gewertet werden und ein Urteil überflüssig machen. Bei Jesus handelte es sich um eine cognitio. Der titulus crucis deutet auf eine förmlich festgestellte Gesetzesverletzung. Im JohEv setzt sich Pilatus zum Urteilsspruch auf einen Richterstuhl (bēma, 19,13 vgl. Mt 27,19). Das LkEv spricht von einem „Todesurteil“ (Lk 24,20), das Testimonium Flavianum des Josephus setzt eine Anklage (endeixis) und ein Urteil voraus (Ant 18,64). Die Reminiszenzen an einen Prozess sind u. E. gerade deswegen historisch, weil sie dem Bild von Pilatus widersprechen. Philo schreibt ihm zwar „Hinrichtungen ohne Gerichtsverfahren“ zu und klagt über „seine unaufhörliche und unerträgliche Grausamkeit“ (LegGai 302). Nachdem Pilatus vom Kaiser deswegen getadelt worden war (ebd. 303–305), wird er in weiteren Prozessen das Recht beachtet haben. Daher wiegen Indizien schwer, die auf ein regelrechtes Gerichtsverfahren beim Verfahren gegen Jesus weisen. (2) Für das Todesurteil war nicht das Synedrium, sondern die römische Instanz verantwortlich. In Kyrene entschied z. B. der Statthalter, ob er bei Kapitalprozessen urteilen wollte oder ein Geschworenengericht einsetzte,37 die Mitwirkung anderer Instanzen war also nicht a priori ausgeschlossen. Das letzte Wort hatten die Römer. Nur sie besaßen das jus gladii, das Recht, die Todesstrafe zu verhängen.
35 K.Müller, Kapitalgerichtsbarkeit*, 1988, 41–83. H.-G.Knothe, Prozess Jesu*, 2005, 67–101. 36 H.Last, Art. Coercitio, RAC 3 (1957) 235–243. 37 Vgl. K.Müller, Kapitalgerichtsbarkeit*, 1988, 60 f.
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1. Josephus betont, dass Coponius, der erste Präfekt über Judäa (6–9 n. Chr.), alle Vollmachten einschließlich des jus gladii hatte (Bell 2,117). 2. Das JohEv hält diesen Sachverhalt zutreffend fest, wenn in ihm „die Juden“ sagen: „Uns ist es nicht gestattet, jemanden hinzurichten“ (Joh 18,31). 3. Nach talmudischer Überlieferung wurde Juden 40 Jahre vor der Tempelzerstörung (70 n. Chr.) das Recht entzogen, Kapitalprozesse durchzuführen (Bill. I, 1027). Mit der runden Zahl 40 ist wohl die Zeit direkter Römerherrschaft über Judäa seit 6 n. Chr. gemeint.
Die Fälle, in denen im 1. Jh. n. Chr. jüdische Instanzen Todesurteile fällten oder vollstrecken ließen, sind Ausnahmen, sei es, weil der Tempel lokal eine „Rechtsenklave“ war (H.Schwier)38, sei es temporal in Zwischenzeiten, in denen kein römischer Mandatsträger die Herrschaft ausübte: 1. Das Tempelrecht drohte jedem Heiden, der in den inneren Tempelbezirk vordrang, er werde „selbst Ursache seines darauffolgenden Todes“ sein.“39 Es gab wohl eine Tendenz, solch eine legal zugelassene Gemeinschaftsjustiz40 auf andere „Vergehen“ gegen den Tempel auszuweiten. Das erklärt die Hinrichtung des Stephanus (Apg 7,54–60). 2. In einer Zwischenzeit ließ der jüdische Klientelkönig Agrippa I. (41–44 n. Chr.) Jakobus Zebedäus hinrichten (Apg 12,2), als er vorübergehend ganz Palästina regierte. Das Synedrium verurteilte den Herrenbruder Jakobus 62 n. Chr. während einer Vakanz nach dem Tod des Prokurators Festus und vor Amtsantritt seines Nachfolgers Albinus. Der Hohepriester Ananus verlor deswegen sein Amt (Ant 20,200f).
Zwei nichtchristliche Zeugen für die Hinrichtung Jesu schreiben eindeutig Pilatus die Verantwortung für das Todesurteil zu: Nach (Tacitus Ann 15,44,3, geschah es per procuratorem Pontium, also „durch“ ihn, nicht nur zu seiner Zeit „unter ihm“ (sub Pontio Pilato). Nach Josephus, Ant 18,63f, war die jüdische Aristokratie dadurch beteiligt, dass sie Jesu bei Pilatus anzeigte. (3) Die Kreuzigung war eine römische Todesstrafe für Sklaven und Aufrührer und durfte wegen ihres entehrenden Charakters (offiziell) nicht an römischen Bürgern vollstreckt werden.41 Quintilius Varus soll nach dem „Räuberkrieg“ im Jahr 4 v. Chr. 2000 Juden gekreuzigt haben (Ant 17,295). Unter dem Prokurator Felix (ca. 52–60 n. Chr.) stieg „die Zahl der gekreuzigten Räuber und der Einwohner, denen eine Verbindung mit diesen nachgewiesen werden konnte …, ins Ungeheure“ (Bell 2,253). Auch Jesus wurde zwischen „Räubern“ hin38 H.Schwier, Tempel und Tempelzerstörung. Untersuchungen zu den theologischen und ideologischen Faktoren im ersten jüdisch-römischen Krieg (66–74 n. Chr.), 1989, 57–61. 39 So lautete die am Tempel angebrachte Warninschrift, vgl. Bell 5,193f; 6,124–126; Ant 15,417; Philo LegGai 212; Apg 21,27–30. Zur Inschrift vgl. M.Küchler, Jerusalem. Ein Handbuch und Studienführer zur Heiligen Stadt,, 22007, 348f Abb. 175. 40 Anders K.Müller, Kapitalgerichtsbarkeit*, 1988, 66–69: Auch im Falle von Vergehen gegen den Tempel sei die Vollstreckung eines Todesurteils den Römern vorbehalten gewesen. 41 H.-W.Kuhn, Die Kreuzesstrafe während der frühen Kaiserzeit. Ihre Wirklichkeit und Wertung in der Umwelt des Urchristentums, ANRW II 25.1, 1982, 648–79.
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gerichtet (Mk 15,27 par).42 Nur vom jüdischen König Alexander Jannäus (103–76 v. Chr.) wird die Anwendung der Kreuzesstrafe gegen 800 innenpolitische Gegner berichtet, was als besonders frevelhaft galt (Bell 1,97f). Hätte eine jüdische Instanz Jesus zum Tode verurteilt, hätte eine Steinigung wie bei Jakobus (Ant 20,200f) oder eine Enthauptung wie bei Johannes dem Täufer nahe gelegen (Mk 6,21–29).43 Das JohEv spricht den Zusammenhang zwischen Hinrichtungsart und Verurteilung durch die Römer indirekt an: Weil die Juden das jus gladii nicht besaßen, wurde Jesus gekreuzigt (18,31f). 6.3 Der sachliche Grund für das Vorgehen der Römer gegen Jesus
Die Anklage gegen Jesus formuliert Pilatus als Frage: „Bist du der König der Juden?“ (Mk 15,2). Jesus antwortet: „Du sagst es“, was kaum eine Distanzierung ist, als habe er gesagt: „Das sagst Du, aber nicht ich“ (15,2).44 Jesus hat wahrscheinlich zur Hauptanklage keine eindeutige Aussage gemacht. Pilatus hätte kaum seine Freilassung (im Austausch mit Barabbas) erwägen können, sollte er sich als König der Juden bekannt haben. Aber Jesus hat auch der Anklage nicht widersprochen, er sei der König der Juden. Sonst hätten Römer und Juden seine Anhänger später mit dem Argument verunsichern können, ihr Meister habe an sich gezweifelt. Davon hören wir nichts. Hinzu kommt, dass der titulus crucis den Grund der Verurteilung Jesu nennt: Er wurde als „König der Juden“ hingerichtet, d. h. als jemand, der die politische Macht an sich reißen wollte. Für die Historizität des titulus crucis spricht: Der Brauch, auf einem Schild die Ursache der Strafe bekannt zu geben, ist gut belegt (z. B. bei Sueton Caligula 32,2; Domitian 10,1; Dio Cassius 54,3,7), jedoch nicht so oft, dass jeder Erzähler ihn hinzudichten konnte. Zudem ist der titulus crucis aus römischer Perspektive formuliert. Die Juden verspotten ihn nicht als „König der Juden“ (Mk 15,26), sondern als „König Israels“ (15,32). Ferner hatte die nachösterliche Gemeinde kein Interesse daran, einen politisch missverständlichen Königsanspruch Jesu, der sie in Schwierigkeiten brachte (vgl. Apg 17,7), zu erfinden. Auch das JohEv bezeugt den politischen Charakter der Anklage Jesu. Nur im JohEv nennen ihn seine Anhänger einen „König“ (1,49; 6,15; 12,13). Nur hier berufen sich die anklagenden Juden auf das allgemeine Recht: „Jeder, der sich selbst zum König macht, widersetzt sich dem Kaiser“ (19,12). Nur hier macht Jesus klar, dass seine „Königsherrschaft“ kein weltliches Königtum ist (18,36). Jesus wurde daher vor Pilatus sicher als „Königsprätendent“ angeklagt. Dabei konnten ihm zwei Delikte vorgeworfen werden: einer42 Diese „Räuber“ waren wohl Aufständische, die aus politischen und religiösen Überzeugungen gegen die römische Besatzungsmacht kämpften, vgl. M.Hengel, Die Zeloten, 21976, 25–47.347 f. 43 Die Tempelrolle aus Qumran (2./1. Jh. v. Chr.) forderte im Falle von Landes- bzw. Volksverrat die Strafe des „Aufhängen am Pfahl“ – allerdings zu einer Zeit, bevor Kreuze in Palästina zum Symbol der Römerherrschaft wurden (vgl. 11QTempel 64,6–13). 44 Ch.Niemand, Weg zum Kreuz*, 2007, 374, nennt folgende Möglichkeiten des Verständnisses: 1) emphatisch zustimmend: „Du selbst sagst es!“, 2) sarkastisch herausfordernd: „Das sagst du, aber du glaubst es nicht!“ 3) kontrastierend: „Das sagst Du, aber nicht ich“, was bedeuten kann: „Ich stimme nicht zu“ oder: „Nicht ich sage es, weil es mich in Probleme bringen könnte“ oder zustimmend: „Du sagst es, aber nicht ich – denn ich würde es anders ausdrücken!“
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seits perduellio (von duellum = bellum?), d. h. schwere Landesfeindschaft, andererseits ein crimen laesae maiestatis populi romani, d. h. eine Schädigung des Ansehens des römischen Volkes und seiner Mandatsträger. Da in der damaligen Zeit Prozesse wegen Majestätsverbrechen zunahmen (Tacitus Ann 2,50), ist Jesus wahrscheinlich wegen eines crimen laesae maiestatis hingerichtet worden. 6.4 Der Anhalt im Wirken Jesu
Dass der Vorwurf des crimen laesae maiestatis gegen Jesus berechtigt war, wird meist bestritten. Er ist historisch jedoch sehr verständlich: (1) Schon Jesu Botschaft von der „Königsherrschaft“ Gottes musste die Erwartung wecken, er selbst sei der König, der diese Herrschaft herbeiführt. Nach Mk 11,9f rufen Pilger bei seinem Einzug in Jerusalem: „Gesegnet sei die Königsherrschaft (basileia) unseres Vaters David, die nun kommt“. Diese Erwartung konnte Jesus zum Verhängnis werden, unabhängig davon, wie er sich selbst verstand. (2) Jesus verstand sich möglicherweise selbst als „Messias“ in einem unpolitischen Sinn, sein religiöser Messiasanspruch konnte aber von Gegnern im Sinne des crimen laesae maiestatis politisch sehr leicht umgedeutet werden. (3) Manche meinen, Jesus habe sich als „Messias“ in einem politischen Sinn verstanden und wie die Zeloten zusammen mit seinen Jüngern von einem Aufruhr geträumt.45 Die für diese „Rebellionsthese“46angeführten Belege lassen sich u. E. anders interpretieren, auch wenn sie oft ein berechtigtes Element enthalten.47 1. Der Einzug in Jerusalem (Mk 11,1–11) wird nach dem Modell des Einzugs eines Herrschers in Sach 9,9f gestaltet, der auf einem Esel reitet, Kriege beendet und Frieden bringt, ein bewusstes Gegenbild zu kriegerischen Königen, wahrscheinlich zu Alexander dem Großen. Jesu Einzug von Osten her ist ein Gegenbild zum Einzug der Römer vom Westen. 2. Die Tempelreinigung war kein Umsturzversuch, sondern eine prophetische Zeichenhandlung zur Bekräftigung der Tempelweissagung. Sie geschah in der Erwartung einer durch Gott herbeigeführten Wende, nicht als Vorbereitung einer Revolution. Aber richtig ist: Nicht Jesus, wohl aber Gott selbst sollte eine „Revolution“ herbeiführen. 3. Dass ein „Zelot“ unter den Jüngern Jesu ist, Simon mit dem Beinamen Zēlōtēs (Lk 6,15), spricht dagegen, dass alle Jünger Zeloten waren. Wenn in einer Gruppe jemand den Beinamen „der Deutsche“ hat, waren 45 So z. B. S.G.F.Brandon, Trial*, 1968, bes. 140–150. Vgl. E.Bammel, The Revolution Theory from Reimarus to Brandon, in: E.Bammel/C.F.D.Moule, Jesus and the Politics of His Day, 1984, 11–68. Ein differenziertes Plädoyer für die Revolutionsthese ist F.Bermejo-Rubio, Jesus and the Anti-Roman R esistance. A Reassessment of the Arguments; JSHJ 12 (2014) 1–105. Zu vielen seiner richtigen Beobachtungen haben wir oben eine andere Deutung skizziert. 46 Diese Bezeichnung ist angemessener als der verbreitete Begriff „Zelotenhypothese“. Denn die „Zeloten“ treten in den Quellen erst im Zusammenhang mit dem jüdischen Krieg als Konfliktpartei auf. Die Widerstandsbewegung ist weit älter. 47 M.Hengel, War Jesus Revolutionär? 1970. H.Lichtenberger (Hg.), Martin Hengels „Zeloten“. Ihre Bedeutung im Licht von fünfzig Jahren Forschungsgeschichte, 2013; darin Chr. Grappe, Die Zeloten, der historische Jesus und der Jesus der Evangelien, 81–106.
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die anderen sicher keine Deutsche.48 Aber dieser eine Zelot zeigt: Jesus zog auch Menschen an, die das Ideal des „heiligen Eifers“ teilten oder geteilt hatten. 4. Lk 22,38 versteht die Bereitstellung von zwei Schwertern nicht als Vorbereitung eines Aufruhrs, sondern als Widerruf der prinzipiellen Schutzlosigkeit auf Reisen in den Aussendungsregeln. Auch die Essener konzedierten Waffen für die Reise (vgl. Bell 2,125). Es kommt aber in der Passionsgeschichte nur ein Schwert zum Einsatz (Mk 14,47). Aus zwei Schwertern, von denen eins benutzt wird, auf eine bewaffnete Truppe zu schließen, ist ein allzu kühner Schluss. 5. Keiner der Jünger Jesu wurde mitverhaftet, was bei Annahme einer aufrührerischen Bewegung zu erwarten gewesen wäre. Aber unbestreitbar ist: Es gab bei der Verhaftung Jesu Widerstand eines Jüngers mit dem Schwert. Alle interpretierten ihre Lage als bedroht. Sonst wären sie nicht geflohen. 6. Die Aufstandsbewegung richtete sich vor allem gegen die Steuerzahlung an die Römer, Jesus aber hat die Steuerzahlung bejaht und sich deutlich von der Widerstandsbewegung distanziert (Mk 12,12–17). Aber natürlich ist es kein Zufall, dass man gerade ihn mit dieser Frage konfrontiert: Seine Verkündigung der Herrschaft Gottes gab mit Recht Anlass zu der Frage, ob er daneben auch die Herrschaft des Kaisers anerkennen will. Im Übrigen passt auch sein Verhältnis zu Zöllnern (Mk 2,15) schlecht zu einem „antirömischen Revolutionär“. 7. Jesus hat seinen zwölf Jüngern die Herrschaft über Israel zugesprochen (QLk22,30). Wenn in jüdischen Traditionen Menschen an der Herrschaft Gottes beteiligt werden, kämpfen sie in Kriegen gegen die anderen Völker oder richten über sie. Dass sie im Wort Jesu nur über die zwölf Stämme herrschen sollen, ist etwas Neues (H.Roose).49 Aber natürlich können auch so modifizierte Verheißungen Erwartungen auf eine neue Herrschaft anfeuern. 8. Nach Ostern wurden einige Jesusanhänger in Judäa Märtyrer – besonders dort, wo die römische Herrschaft nicht wirksam war: Der Märtyrer Stephanus verstieß gegen die Heiligkeit des Tempels als einer Rechtsenklave, in der die Römer sich zurückhielten (Apg 6,8–7,59). Die Hinrichtungen von Jakobus Zebedäus und des Herrenbruder Jakobus geschahen unter der Herrschaft Herodes Agrippa I. (41–44 n. Chr.) und während einer Vakanz im römischen Prokuratorenamt 62 n. Chr., also in Zeiten, als die Römer nur begrenzt das Land kontrollierten. Der für die Hinrichtung des Jakobus verantwortliche Hohepriester Ananus wurde kurze Zeit später einer der Anführer beim Aufstand gegen die Römer. Dass es einer antirömischen Aufstandsbewegung gerade in den Zeiten besser ging, als die Römer direkt regierten – und sie bedroht waren, wenn diese Herrschaft eingeschränkt war, passt nicht zur Rebellionsthese. 9. Nicht nur die Geschichte nach Jesu Tod widerspricht dieser These, sondern auch die Geschichte vorher: Jesu Lehrer, Johannes der Täufer, verwandelte die Aggression, die sich in vorhergehenden Bewegungen gegen die Römer richtete, in Motivation zu Umkehr und Erneuerung (s.§ 8). Jesu vertiefte diese Wende: Im Unterschied zur Erwartung des Königtums Gottes in jüdischen Traditionen (z. B. Jes 24–27; 33,17–22; Sach 14,9) löste er die kommende Königsherrschaft Gottes von der Hoffnung auf einen Sieg über die Feinde Israels. Sie wurde u. a. zu einem Sieg über den Satan. Nur deswegen konnte sie verborgen in der Gegenwart beginnen. 48 Anders S.G.F.Brandon, Jesus and the Zealots, 1967, 355: Dass Jesus einen Zeloten in den inneren Jüngerkreis aufnahm, zeige, dass zelotische Grundüberzeugungen mit der Nachfolge Jesu vereinbar waren. Dagegen M.Hengel, Die Zeloten, 21976, 344–348. 49 H.Roose, Eschatologische Mitherrschaft. Entwicklungslinien einer urchristlichen Erwartung, 2004.
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Richtig an der „Rebellionsthese“ ist, dass Jesus in einigen Kreisen des Volkes Erwartungen auf einen „Umsturz“ geweckt hat. Richtig ist, dass er verkündigte, mit ihm komme die Gottesherrschaft als Ende der Satansherrschaft und Erneuerung der Menschen. Die Ankläger und Richter haben seinen Anspruch politisch gedeutet, aber mit Anhalt in Jesu Verkündigung. Denn eindeutig ist: Die Herrschaft Gottes würde das Ende der Römerherrschaft sein. Insofern sahen die Römer in Jesu Botschaft mit Recht eine Bedrohung ihrer Herrschaft.50 Auch hat Jesus die Erwartung der Gottesherrschaft durch Gewaltverzicht zwar „entmilitarisiert“, aber nicht „entpolitisiert“. Sein Traum von einer Gottesherrschaft, in der Heiden und Juden gleichberechtigt sind, konkurrierte mit dem imperium romanum, das viele Völker in einem Reich vereinte.
7. Objektive Ursachen der Hinrichtung Jesu Wir können davon ausgehen: Jesus hat messianische Erwartungen geweckt und wurde als „König der Juden“ hingerichtet. Die Römer und die Aristokratie wollten mit seiner Hinrichtung nicht nur ihn treffen, sondern die Erwartung der „Gottesherrschaft“. Sie hätte das Ende der Römerherrschaft bedeutet. Unabhängig von seinen Intentionen war Jesus auf jeden Fall in ein Spannungsfeld von ungelösten objektiven Konflikten geraten. An erster Stelle ist der politische Konflikt zwischen Juden und Römern zu nennen. Die Juden waren seit 63 v. Chr. Teil des Römischen Reiches, hofften aber auf Wiederherstellung eines selbständigen jüdischen Staates. Erst seit 6 n. Chr., ca. 25 Jahre vor dem Auftreten Jesu, wurde Judäa direkt von Römern regiert. Hoffnungen auf einen eigenen König waren lebendig geblieben und hatten 4 v. Chr., also ca. 30 Jahre vor Jesu Wirken, zu einem Krieg geführt. Es war römische Staatsraison, messianische Träume zu unterdrücken und jeden zu beseitigen, der sie weckte oder auf sich zog. Dazu kamen Spannungen zwischen der jüdischen Tempelaristokratie und Pilatus, der durch Standarten mit Kaiserbildern in Jerusalem fast einen Aufstand provoziert hatte (Bell 2,169–174; Ant 18,55–59). Auch hatte er Proteste ausgelöst, als er den Tempelschatz zur Finanzierung einer Wasserleitung heranziehen wollte (Bell 2,175–177; Ant 18, 60–62). Auf Münzen ließ er heidnische Kultgefäße abbilden: Ihm fehlte Verständnis für die Heiligkeit des Tempels. Ein Prophet, der den Tempel kritisierte, konnte ihm nur recht sein. Wenn Mk 15,10 unterstellt, er habe durchschaut, dass die Hohepriester diesen Propheten aus Konkurrenzneid loswerden wollten, ist das nicht unrealistisch. Nicht unterschätzen darf man den Konflikt in der jüdischen Aristokratie zwischen Tempelaristokratie und herodäischen Fürsten. Herodes Antipas hat wohl begrüßt, dass Jesus seine Tätigkeit nach Süden verlagerte, vielleicht sogar versucht, ihn durch eine Tötungs drohung loszuwerden (Lk 13,31–33). Ein endgültiges Verschwinden Jesu war in seinem Inte50 Vgl. P.Egger, Crucifixus*, 1997, 199: „Was lag für einen römischen Statthalter näher, als einen Mann, der behauptet, er habe in seinem Wirken die ‚basileia tou theou‘ bereits Ereignis werden lassen, als ‚basileus‘ ans Kreuz zu hängen?“
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resse. Zu Pilatus musste es Spannungen geben. Denn Pilatus verkörperte die Drohung, die über den Herodessöhnen und der Tempelaristokratie schwebte: Versagten sie, würden die Römer direkt ihr Land übernehmen (vgl. Joh 11,48). Schließlich sind Spannungen zwischen Stadt und Land zu berücksichtigen: Das einfache Volk in Jerusalem hatte andere Interessen als die Leute vom Land. In Jerusalem hingen nicht nur Priester vom Tempel ab, sondern auch Handwerker, Händler und Bauern. Tempelkritiker bedrohten ihre Lebensgrundlage. Vielen war daran gelegen, dass Jesus verschwand. Sie sahen lieber Barabbas als Jesus in Freiheit, d. h. lieber einen, der (vielleicht zu Unrecht) verdächtigt wurde, Feind der Römer zu sein, als einen Tempelkritiker. Hingewiesen seien auch auf Spannungen zwischen Juden und Heiden in Palästina: Menschen aus dem nicht-jüdischen Palästina dienten in den Kohorten des Pilatus als Soldaten und wurden später bei ihrer Entlassung römische Bürger. Sie hatten gewiss kein Verständnis für messianische Träume. Denn die bedeuteten, dass ein jüdischer Herrscher sie unterwerfen würde. Sie haben aus Überzeugung Jesus als jüdischen König verhöhnt und damit alle messianischen Ambitionen, die für sie eine Bedrohung waren. Beim Tod Jesu wirkten sich viele Spannungen und Konflikte aus. Verantwortlich für seinen Tod ist in letzter Instanz sein Richter. Pilatus hätte die Macht und das Recht gehabt, ihn freizulassen. Er konnte Jesus opfern, weil ihm bewusst war: Auch die Herodäer, viele Priester und ein Teil des Volkes in Jerusalem würden es begrüßen, wenn er diesen Kritiker zum Schweigen brächte.
8. Subjektive Sinndeutung: Wie hat Jesus seinen Tod gedeutet? Jesus hat seinen Tod riskiert. Er hatte das Schicksal Johannes des Täufers vor Augen und parallelisierte sein Auftreten mit ihm. Beide wurden abgelehnt, der Täufer als Besessener und Asket, Jesus als Fresser und Weinsäufer (Lk 7,31–35). Beide beriefen sich auf eine außernormale „Vollmacht“ (Mk 11,27–33). Wahrscheinlich hat Jesus den Tod des Täufers im Lichte der Tradition gedeutet, dass Israel schon immer Propheten abgelehnt und getötet habe. Die deuteronomistische Tradition vom gewaltsamen Ende der Propheten begegnet in einigen Jesusüberlieferungen, die authentisch sein können wie die Worte von den abgelehnten Boten der Weisheit (Lk 11,49–51; 13,34–35). Sie sprechen nicht von Jesu Tod, sondern vom Tod vieler Propheten und legen ihrem Sterben keine Heilsbedeutung zu. Sie sterben durch die Sünden anderer Menschen, nicht, um deren Sünden zu sühnen. Im Winzergleichnis (Mk 12,1– 10) werden die Boten misshandelt und getötet, am Ende wird der Sohn des Besitzers ermordet. Dass dieser aus dem Weinberg hinausgeworfen wird, hat keine Entsprechung in der Passion Jesu. Das könnte auf eine vorösterliche Version des Winzergleichnisses deuten. Wenn Jesus mit seinem möglichen Tod gerechnet hat, hat er ihn wahrscheinlich als Tod eines Märtyrer-Propheten gedeutet, aber gleichzeitig gehofft, der Einbruch des Reiches Gottes könne ihn davor bewahren. Das Gethsemanegebet bittet darum, dass „der Kelch“ des Todes an ihm vorübergeht (Mk 14,36). Gewiss ist die Gethsemaneszene eine Dichtung – aber in ihr könnte die Stimmung Jesu in seinen letzten Tagen authentisch „verdichtet“ erhalten
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sein. Der Inhalt dieses Gebets muss nicht unhistorisch sein. Solche Geschichten haben „anekdotische Authentizität“. Markante Züge einer Person schlagen sich in ihnen nieder, die vielleicht niemals so geschehen sind, aber Charakteristisches einer Person festhalten. Wir halten eine offene Todeserwartung Jesu, wie sie Jesus in seinem Gebet in Gethsemane formuliert, für wahrscheinlich. Er selbst hat seinen Tod provoziert, riskiert und ist vor ihm zurückgeschreckt. Er wusste aufgrund des Geschicks des Täufers, dass er gefährdet war, aber hoffte bis zuletzt, dass Gott sein Reich verwirklichen werde, ohne dass er und seine Jünger sterben müssten. Bis heute fällt in Jesusworten auf, dass sie von der Auferstehung der Toten nur im Blick auf schon Verstorbene sprechen, im Wort von Jona und der Königin des Südens (Mt 12,38–42 par) oder im Sadduzäergespräch über Abraham, Isaak und Jakob (Mk 12,18– 27), nicht aber – abgesehen von den Leidensweissagungen Jesu – von der zukünftigen Auferstehung gegenwärtig Lebender. Wenn Jesus eine offene Todeserwartung hatte, müssen viele Überlieferungen, in denen er seinen Tod vorhersagte vaticinia ex eventu sein, vor allem die Leidensweissagungen, in denen er seinen Tod als notwendiges Geschehen vorhersagt. Sie könnten aber als allgemeine Aussage über das Schicksal von Propheten echt sein (z. B. in Lk 13,31–33). Jesus hat wahrscheinlich gesagt, dass Propheten umkommen, vielleicht auch gelegentlich betont, dass er ein sterblicher Menschensohn ist. Später hat man nach seinem Tod diese Aussage als Vorwissen seines eigenen Todes verstanden. Alle Deutungen seines Todes als ein Sterben „für andere“ sind wahrscheinlich nachträgliche Deutungen (z. B. Mk 10,45). Wenigstens ging den Emmausjüngern die Notwendigkeit des Leidens des Messias erst nach Ostern durch Begegnung mit dem Auferstandenen und durch die Lektüre der Schrift auf. Der Auferstandene sagt zu ihnen: „O ihr Toren, zu trägen Herzens, all dem zu glauben, was die Propheten geredet haben! Musste nicht Christus dies erleiden und in seine Herrlichkeit eingehen? Und er fing an bei Mose und allen Propheten und legte ihnen aus, was in der ganzen Schrift von ihm gesagt war“ (Lk 24,25–27). Auch die Einsetzungsworte beim Abendmahl wurden wahrscheinlich retrospektiv umformuliert. Daher wissen wir nicht genau, wie sie ursprünglich gelautet haben. Jesus hat bei seinem letzten Mahl bedeutungsschwere Worte gesprochen. Sie wurden nach seinem Tod und den Ostererfahrungen gewiss neu verstanden.
9. Zusammenfassung und hermeneutische Überlegungen51 Der Tod Jesu ist die Folge von Spannungen zwischen einem Charismatiker vom Lande und einer städtischen Elite, einer jüdischen Erneuerungsbewegung und der römischen Fremdherrschaft, dem Verkündiger einer kosmischen Veränderung und Vertretern des status quo. Religiöse und politische Gründe lassen sich nicht auseinanderhalten: Jesus wollte nicht mit seinen Jüngern die Herrschaft an sich reißen. Aber er verkündigte eine bald hereinbrechende 51 G.Häfner/H.Schmid (Hg.), Wie heute vom Tod Jesu sprechen? 2 2005. G.Theißen, ‚Gestorben für uns‘. Kritik eines kirchlichen Grundlagentextes, EvTh 76 (2016) 85–101 = Der Tod Jesu für uns, in: ders., Resonanztheologie, 2020, 269–289.
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„Gottesherrschaft“, in der die Ersten die Letzten und die Letzten die Ersten sein würden. Gott werde sie wunderbar herbeiführen. Er und seine Jünger würden Israel regieren (Lk 22,28–30 par). Für Tempelaristokratie und Römerherrschaft war in ihr kein Platz. Seine Gegner verfolgten verschiedene Interessen. Das Synedrium nahm an der Tempelkritik des Propheten Anstoß, die seine Privilegien erschütterte, der römische Präfekt an seiner Predigt von der „Königsherrschaft Gottes“, das seine Macht gefährdete. Vor dem Synedrium wurde Jesus daher als „Prophet“ (Mk 14,65), vor den Römern als „König“ (15,16–18) verspottet. Beide hatten das Interesse, Unruhe zu vermeiden. Dabei handelten neben den Eliten auch einfache Menschen: Eine jüdische Volksmenge hat Jesu Tod gefordert. Wahrscheinlich waren es jüdische Soldaten, die Jesus nach dem Verhör vor dem Synedrium als „Propheten“ verspottet haben, heidnische Soldaten haben ihn auf jeden Fall als „König der Juden“ misshandelt und gekreuzigt. Die Jünger spielten eine traurige Rolle: Judas verriet den Aufenthaltsort Jesu, Petrus verleugnete ihn, alle flohen. Nur Frauen blieben am Ende bei ihm. Die Verantwortung für seine Hinrichtung liegt bei den Römern, die auf Initiative des Jerusalemer Synedriums handelten. Das Synedrium überwies Jesus an die Römer, weil nur Römer die Todesstrafe verhängen konnten. Darüber hinaus wirkten viele Faktoren zusammen: Jesus selbst hat sein Ende riskiert, als er nach Jerusalem zog. Immer wieder zog er selbststigmatisierend Aggressionen auf sich und wurde ein Opfer struktureller Konflikte zwischen Stadt und Land, Juden und Römern, Volk und Aristokratie. Bis heute werden diese Konflikte verschieden beurteilt. Für die einen verkörpert das Imperium Romanum einen Imperialismus, der vor Grausamkeit in Kreuzigungen nicht zurückschreckt, wenn es um die Macht ging. Für andere ist es ein effektiv verwaltetes Reich, das in seinen Grenzen durch die Pax Romana Frieden schuf und eine Rechtsordnung durchsetzte, die als Römisches Recht bis heute nachwirkt. Unbestreitbar ist: Das Kreuz macht die grausame Seite dieses Imperiums sichtbar. Wodurch aber zog Jesus solche Aggressionen auf sich, dass er gekreuzigt wurde? War es seine kritische Haltung zur Thora, seine Kritik am Tempel, sein Messiasanspruch? Waren es politische Aspekte seiner Verkündigung der Königsherrschaft Gottes? Jesu „Thorakritik“ war als eine liberale Thoraauslegung kein Grund, ihn umzubringen. Seine eschatologischen Erwartungen wurden auch von anderen Juden geteilt. Ihre Intensivierung durch sein Auftreten war für die Oberschicht gewiss ein Problem. Tempelkritik und Tempelweissagung aber waren für ihr Vorgehen wohl entscheidend. Durch seine Tempelkritik geriet Jesus mit dem religiösen Zentrum des Judentums in Konflikt. Doch lässt sich dieser Konflikt von anderen Aspekten seines Wirkens nicht isolieren: Seine liberale Thoraauslegung musste ihn jetzt erst recht verdächtig machen. Denn die Thora war die Legitimationsgrundlage des Tempels. Dasselbe gilt von politischen Aspekten seines Wirkens: Der Tempel begründete die politische Autonomie der jüdischen Gemeinschaft, aber auch die Privilegien der Oberschicht. Wer ihn kritisierte, war politisch ein Unruhestifter. Andere Juden standen ebenfalls in Distanz zum Tempel: der Täufer, die Essener, von den Samaritanern ganz zu schweigen. Es war die große „Leistung“ des Judentums in den ersten Jahrhunderten n. Chr., dass es sich in eine Religion verwandelte, die ohne Tempel leben konnte – trotz innerer Bindung an ihn.
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Jesus gehört mit seiner Verkündigung in diesen Verwandlungsprozess hinein. Er ist damit ein Teil der jüdischen Religionsgeschichte. Sein Tod bestätigt eine bittere Erkenntnis Israels: Es gibt keinen Zusammenhang zwischen gutem Tun und Ergehen. Der Gerechte kann leiden, Leidende können gerecht sein. Gott kann auf der Seite des Ausgestoßenen, Verachteten und Hingerichteten stehen. Deshalb haben Jesu Anhänger die Geschichte von Jesu Tod bald mit den Motiven der passio iusti, des Leidens des Gerechten, erzählt. So konnten sie den unerwarteten Tod Jesu bewältigen. An Jesus anknüpfend sagten sie, er sei als Prophet wegen seiner Botschaft umgebracht worden. Sein Leiden sei sein notwendiger Durchgang zur Herrlichkeit. Wahrscheinlich sagten sie über Jesus hinausgehend sehr früh schon: Er hat sich geopfert, um für die Sünden der Menschen Sühne zu leisten und die Menschen so mit Gott zu versöhnen. Wir können nicht ausschließen, dass auch Jesus am Ende seines Lebens diese Deutung teilte. Sicher ist das nicht. Diese Deutung wurde in der Neuzeit aber nicht aus historischen Gründen, sondern aus ethischen Gründen vehement bestritten. Sie passe nicht zu unserem Gottesbild: Gott sei nicht auf den Tod eines Menschen angewiesen, um gütig zu sein. Sie widerspreche unserem Menschenbild: Schulden kann man übertragen, nicht aber Schuld. Sie widerspreche unserer Ethik: Wer die Todesstrafe ablehnt, kann in einer Todesstrafe nicht die Grundlage des Heils erkennen. Gerade deshalb ist es wichtig, diese Deutung verständlich zu machen. Nach seinem Tod deuteten seine Jünger sein Sterben als freiwilliges „Opfer“, das einen neuen Bund Gottes mit den Menschen besiegelt. Entscheidend ist dabei: Nicht Menschen hatten dieses „Opfer“ dargebracht. Vielmehr gaben ihnen Ostererscheinungen die Gewissheit, Gott habe dies Opfer gebracht – ihnen zugute, obwohl sie alle versagt hatten. Damit geschah eine revolutionäre Veränderung des Opferdenkens. Gewöhnlich dienten „Sühneopfer“ dazu, eine erzürnte Gottheit zu beschwichtigen oder eine verletzte Ordnung wiederherzustellen. Der opfernde Mensch bittet Gott um Versöhnung. Die Sicht der ersten Christusanhänger umfasst dagegen zwei neue Gedanken: Bei diesem Opfer wirkt der Mensch nicht auf Gott ein, damit er von seinem Zorn lasse; vielmehr handelt Gott, damit Menschen von ihrer Feindseligkeit gegen Gott und ihre Nächsten ablassen. Nicht Gott, sondern der Mensch soll verwandelt werden. Ferner wirkt dieses Opfer nicht durch den Tod allein, sondern durch Überwindung des Todes. Bei Tieropfern wird das Tier getötet, das Leben symbolisch bewahrt, indem das Blut des Tieres als Ursprung des Lebens an Gott zurückgegeben wird. Das Opfer Jesu aber wurde nicht durch seinen Tod, sondern durch Überwindung des Todes wirksam. Gott gab Leben dahin, um es aus dem Tode neu zu schaffen. Paulus hat dieses neue Opferdenken begrifflich erfasst. Heil wird nicht durch „Beschwichtigung“ eines erzürnten Gottes, sondern durch Überwindung menschlicher Feindschaft geschaffen (Röm 5,6–11). Heil wird nicht durch Tötung, sondern durch Auferweckung bewirkt (4,25). Heil beginnt nicht mit der Bitte des Menschen um Versöhnung, sondern umgekehrt mit der Bitte Gottes an die Menschen: „Lasst euch versöhnen mit Gott“ (2Kor 5,20). Darüber hinaus hat Paulus den Tod Jesu noch in einer anderen Weise neu gedeutet: nicht nur als Sühnetod, sondern als Ärgernis. Er sah in ihm ein skandalon, mit dem Gott die Maß-
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stäbe dieser Welt auf den Kopf stellt, indem er das Schwache und Nichtige erwählt. Deshalb nannte er das Kreuz ein Ärgernis für Juden, eine Torheit für Griechen (1Kor 1,23). Deshalb spottete Lukian über die Verehrung des „gekreuzigten Sophisten“ (Peregr. 13). Deshalb hielt Kelsus die christliche Botschaft für unvernünftig, weil Jesus „in allerschändlichster Form“ hingerichtet worden war (Or c.Cels VI,10). Aber nicht nur Gebildete schüttelten den Kopf, auch ein einfacher Mensch verspottete um 200 n. Chr. in Rom durch ein Graffito einen Christen, der einen Gekreuzigten mit Eselskopf verehrt, mit den Worten: „Alexamenos betet Gott an“.52 Gerade das Kreuz als Ärgernis ist uns aber heute zugänglich. Schwerer ist es dagegen heute, die von Paulus vertretene Deutung als Sühnetod zu verstehen.53 Jesus hat seinen Tod riskiert, als er nach Jerusalem zog. Denn er hatte das Geschick Johannes des Täufers vor Augen. Aber es ist nicht sicher, dass er selbst seinen Tod als ein „Sterben für andere“ intendierte. Die Einsetzungsworte beim Abendmahl könnten in dieser Hinsicht nachösterliche Deutung sein. Die Didache 9 kennt eine Form des Abendmahls ohne diese Deutung seines Todes. Die Emmausjünger konnten Jesu Sterben keinen Sinn abgewinnen; erst der Auferstandene belehrte sie darüber (Lk 24,25–27). Die Deutung als Sühnetod ist durch den Versöhnungstag inspiriert. Im Sündenbock-Ritual übertrug der Hohepriester durch Handauflegung die Sünden des Volkes auf den Sündenbock, der in die Wüste gejagt wurde, um dort zu verenden. Das Ritual offenbart: Wir sind bereit, anderes Leben zu opfern, um das eigene Leben zu retten. Dass wir vom Leiden und Sterben anderer Lebewesen profitieren, ist aber kein Ausdruck primitiver Mentalität. Es ist eine in der Evolution des Lebens begründete harte Realität. Das religiös gedeutete Kreuz führt uns vor Augen, dass wir bereit sind, andere für uns sterben zu lassen. Die Gewalt, die sich darin zeigt, ist aber im Neuen Testament nicht der Grund des Heils. Erst die Botschaft von Kreuz und Auferstehung sagt: Obwohl wir auf Kosten anderen Lebens leben, ist ein Leben möglich, das nicht auf Kosten anderen Lebens, sondern für andere lebt. Jesu zentrale Botschaft war das Liebesgebot, verstanden als Unterstützung von Schwachen und Armen, Kranken und Verlorenen. Die Botschaft von Ostern aber ist, dass wir ein Leben auf Kosten anderen Lebens durch ein Leben für andere überwinden können. Leben ist immer Stellvertretung, entweder stellvertretendes Leiden für andere oder stellvertretendes Leben für andere.
52 Abbildungen: M.Küchler, Jerusalem. Ein Handbuch und Studienführer zur Heiligen Stadt, 2007, 424. 53 Hin und wieder wird angenommen, Jesus selbst habe seinen Tod als Tod für andere gedeutet. Er habe auf wachsenden Widerstand durch seine Gegner mit dem Entschluss reagiert, auch für seine Feinde stellvertretend zu sterben. Vgl. L.Oberlinner, Der Weg Jesu zum Leiden, in: L.Schenke (Hg.), Jesus von Nazaret – Spuren und Konturen, 2004, 275–318.
§ 17 Jesus als Auferstandener: Ostern und seine Deutung
D.C.Allison, Resurrecting Jesus: The Earliest Christian Tradition and its Interpreters, 2006; ders., Arguing Resurrection, Apologetics, Criticism, History, 2021; St. Alkier, Die Realität der Auferweckung in, nach und mit den Schriften des Neuen Testaments, 2009; J.Becker, Ostererfahrung und Osterverständnis im Urchristentum, 2007; R.Bultmann, Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung, in: H.W.Bartsch (Hg.), Kerygma und Mythos 1948, 21951, 15–53; ders., Zum Problem der Entmythologisierung (1963), in: ders. Glauben und Verstehen IV, 1984, 128–137; H.J.Eckstein/M.Welker (Hg.), Die Wirklichkeit der Auferstehung, 2002; K.M.Fischer, Das Ostergeschehen, 1980; E.Gräb-Schmidt (Hg.), Auferstehung, Marburger Jahrbücher Theologie 24 (2012); J.Fried, Kein Tod auf Golgatha. Auf der Suche nach dem überlebenden Jesus, 2019; H.Graß, Ostergeschehen und Osterberichte, 1956 41970; P.Hoffmann, Art. Auferstehung Jesu Christi II/1, TRE 4 (1979) 478–513; ders. (Hg.), Zur neutestamentlichen Überlieferung von der Auferstehung Jesu, 1988; A.Lindemann, Auferstehung, 2009; G.Lüdemann, Die Auferstehung Jesu, 1994; W.Marxsen, Die Auferstehung Jesu von Nazareth, 1968; W.Pannenberg, Grundzüge der Christologie, 1964, 47–112; ders., Systematische Theologie, Bd. 2, 1991; L.Schenke, Auferstehungsverkündigung und leeres Grab, 1968; G.Theißen, Die Auferstehung Jesu. Osterglaube und Ostermystik, in: Resonanztheologie, Beiträge zu einer polyphonen Bibelhermeneutik, 2020, 291–324; U.Wilckens, Der Ursprung der Überlieferung der Erscheinungen des Auferstandenen, in: W.Joest/W.Pannenberg, Dogma und Denkstrukturen, 1963, 56–95 = P.Hoffmann (Hg.), Zur neutestamentlichen Überlieferung von der Auferstehung Jesu, 1988, 139–193; ders., Auferstehung, 1970.
Ohne Osterglauben wäre das Christentum nicht entstanden. Für Paulus war klar: „Ist Christus nicht auferstanden, so ist euer Glaube nichtig, so seid ihr noch in euren Sünden, … so sind wir die elendsten unter allen Menschen“ (1Kor 15,17–19). Auch der „historische Jesus“ bliebe unzugänglich. Denn viele Zeugnisse von ihm wären ohne den Osterglauben kaum entstanden.
1. Die Diskussion um den Osterglauben Die Erzählungen von Ostererscheinungen und vom leeren Grab sind deutungsoffen. Sie wurden sowohl als Zeugnisse für menschlichen Betrug als auch für göttliches Handeln, als Kerygma „von oben“ oder als Ausdruck allzu menschlichen Verlangens gedeutet.1
1
Zur Diskussion im 18. und 19. Jh. vgl. P.Hoffmann, Die historisch-kritische Osterdiskussion von H.S.Reimarus bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in: P.Hoffmann (Hg.), Überlieferung*, 1988, 15–67.
490
Vierter Teil: Passion und Ostern
1.1 Deutungen des leeren Grabes: Betrug, Scheintod, Umbestattung?
Die Betrugshypothese von H.S.Reimarus (1694–1768) hielt den Vorwurf in Mt 28,11–15 für zutreffend, dass die Jünger den Leichnam Jesu gestohlen haben, um an ihrer Hoffnung auf ein messianisches Reich festhalten zu können und seinen Tod als Tod für die Sünden der Menschen zu verkündigen. Auch die Scheintodhypothese von H.E.G.Paulus.2 (1761–1851) geht von der Historizität eines leeren Grabes aus: Jesus sei scheintot gewesen und ins Leben zurückgekehrt. Möglicherweise wollte schon die Nachfrage des Pilatus, ob Jesus gestorben sei (Mk 15,44f), die Vermutung zurückweisen, Jesus sei noch nicht tot gewesen. Nach der Umbestattungshypothese hat Joseph von Arimathia Jesus provisorisch in einem nahen Grab bestattet und nach dem Sabbat ohne Kenntnis der Jünger an anderer Stelle beigesetzt. Schon im JohEv begegnet dieser u. a. von H.J.Holtzmann (1832–1910) vertretene Verdacht; Maria Magdalena schließt aus dem leeren Grab, dass jemand Jesu Leichnam entfernt hat, bis sie im vermeintlichen Gärtner Jesus erkennt (Joh 20,2.14f).3 Alle bisher genannten Deutungen setzen das historische Faktum des leeren Grabes voraus. Das veränderte sich mit D.F.Strauß. 1.2 Die „subjektive Visionstheorie“ in der liberalen Theologie
D.F.Strauß (1808–1874) führte in: Das Leben Jesu, 1835/36 den (1) historischen Ursprung des Osterglaubens auf Visionen der Jünger in Galiläa zurück – weit weg vom Grab Jesu, das erst durch eine Legende zum leeren Grab wurde. (2) Die Erscheinungserzählungen zeigten mythische Motive, wenn der Auferstandene durch verschlossene Türen geht und plötzlich verschwindet. Sekundär hinzugefügte Motive – der Auferstandene redet, isst und lässt sich betasten – sollen Zweifel an seiner Realität zurückweisen. (3) Die Visionen werden psychologisch erklärt: Das Ärgernis des Kreuzes wurde durch Visionen überwunden, wie sie ein „frommer Enthusiasmus“ in Belastungssituationen hervorbringt. Strauß vertrat damit eine subjektive Visionstheorie im Unterschied zur objektiven Visionstheorie, nach der die Ostererscheinungen durch Gott im Innern der Jünger erzeugt wurden. Er verband sie in seinen frühen Schriften (4) mit einem objektiven Sinn des Osterglaubens: Der Mythos vom Gottmenschen enthalte die Idee der Einheit von Gott und Mensch. Diese Idee verwirkliche sich nicht in einem einzigen menschlichen Individuum, sondern nur in der menschlichen Gattung. Die ganze Menschheit „ist der Sterbende, Auferstehende und gen Himmel Fahrende“, Ostern die „Aufhebung ihrer Endlichkeit“ (Das Leben Jesu, Bd. 2, S. 735). C.Holsten (1825– 1897) gab dieser subjektiven Visionstheorie die im 19. Jh. vorherrschende psychologische Fassung: Der „Widerspruch des einst lebenden mit dem nun toten Messias“ war der „Anlaß zur Vision des Petrus“. C.Holsten, Die Messiasvision des Petrus und die Genesis des petri-
2 3
Im Folgenden werden ältere Titel nach der „Chronologische(n) Auswahlbibliographie zur Auferstehung Jesu“ seit 1770, 453ff, zitiert. H.E.G.Paulus, Kommentar über die drey ersten Evangelien, 1802. H.J.Holtzmann, Das leere Grab und die gegenwärtigen Verhandlungen über die Auferstehung Jesu, ThR 9 (1906) 79–86.119–132.
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nischen Evangeliums, in: Zum Evangelium des Paulus und Petrus, 1868, 231. Nach W.Wrede, Das Messiasgeheimnis in den Evangelien, 1901, wurde Jesus jedoch erst aufgrund der Ostererscheinungen als Messias verehrt, so dass der Osterglaube nicht mehr als Folge eines vorösterlichen Messiasglaubens der Jünger, sondern ihr Messiasglaube als Folge von Ostern erklärt wurde. R.Bultmann, Die Frage nach dem messianischen Bewußtsein Jesu und das Petrusbekenntnis, ZNW 19 (1919/20) 165–174, verhalf dieser These zur Anerkennung in der kritischen Forschung. 1.3 Die „objektive Osterbotschaft“: Kerygma und existenzialer Glaube
Die Dialektische Theologie war überzeugt: Ostern ist als Handeln Gottes historisch unerklärbar, aber nur der Glaube an die Auferweckung kann historisch die Entstehung des Christentums erklären. Dabei gingen Formgeschichte und Kerygmatheologie ein enges Bündnis ein. Die formgeschichtliche Skepsis gegenüber Jesusüberlieferungen führte zur historischen Aufwertung des Osterglaubens: Je weniger Hoheitsaussagen auf den geschichtlichen Jesus zurückgeführt werden konnten, um so plausibler wurde ihre Erklärung durch den Glauben an den „Auferstandenen“, der in verschiedenen „Formen“ und „Formeln“ tradiert wurde. Bei den Formen unterschied C.H.Dodd in: The Appearances of the Risen Christ, 1957,4 prägnante Erzählungen (Mt 28,8–10, 16–20; Joh 20,19–21) und jüngere erzählerisch ausgestaltete umschreibende Erzählungen (Lk 24,13–35; Joh 21,1–14). Die Formeln zeigen nach W.Kramer, Christos Kyrios Gottessohn, 1963, dass elementare Aussagen wie „Gott hat Jesus von den Toten auferweckt“ Allgemeinüberzeugung des Urchristentums waren. Die kerygmatheologische Deutung des Osterglaubens geht von der religionsgeschichtlichen Erkenntnis aus, dass die Jünger eine neue Welt erwarteten. Sie mussten in den Ostererscheinungen daher ein „eschatologisches Ereignis“ sehen, d. h. ein Ereignis, in dem Gott eine neue Welt herbeiführt, das man missversteht, wenn man es im Rahmen der alten Welt „erklären“ will. Zu einem eschatologischen Ereignis erhalte man nur Zugang, wenn man überzeugt sei, selbst „im eschatologischen Geschehen zu stehen“. R.Bultmann verband diese Deutung in: Die Auferstehungsgeschichten und der christliche Glaube, ThLZ 25 (1940) 242– 2465, mit der Überzeugung, dass Jesus „ins Kerygma auferstanden“ ist, in dem sich dieses eschatologische Geschehen ereignet. Er widersprach damit der Deutung von E.Hirsch, Osterglaube. Die Auferstehungsgeschichten und der christliche Glaube, 1940, der in den Ostervisionen keine Begegnung mit einem objektiven Kerygma sah, sondern ein subjektives Erleben der Ewigkeit. Faktisch kam er dieser Deutung aber sehr nahe.
4 5
C.H.Dodd, The Appearances of the Risen Christ, in: D.E.Nineham (Hg.), Studies in the Gospels, 1957, 9–35 (dt. Übers.: P.Hoffmann (Hg.), Überlieferung*, 1988, 297–330) Vgl. P.Hoffmann (Hg.), Überlieferung*, 1988, 118–125.
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Vierter Teil: Passion und Ostern
1.4 Historische Ereignisse im Kerygma und deren Deutung
Angesichts des in der existenztheologischen Exegese verbreiteten Verzichts auf eine historische Begründung des Osterglaubens unter den Neutestamentlern wurde die historische Diskussion von einem Kirchengeschichtler und Systematiker neu angestoßen. Der Kirchengeschichtler H.v.Campenhausen trat in: Ablauf der Osterereignisse, 1952, für die Priorität des leeren Grabes ein: Die Jünger versteckten sich nach Jesu Verhaftung in Jerusalem, erfuhren von den Frauen, dass diese „am dritten Tag“ das Grab leer gefunden hatten. Daraufhin glaubte Petrus an Jesu Auferweckung, sammelte die Jünger und führte sie nach Galiläa, um Jesus wiederzutreffen. In Galiläa erlebten erst Petrus, danach die Zwölf Erscheinungen. Die spätere Überlieferung lässt den „Engel“ im Grab diese Ereignisse ankündigen (Mk 16,7; Mt 28,5). Die Priorität der Erscheinungen behauptete dagegen der Systematiker H.Graß in: Ostergeschehen und Osterberichte, 1956 41970. Er verwarf die Tradition vom leeren Grab als unhistorisch. Wahrscheinlich sei Jesus als Verbrecher zusammen mit zwei weiteren Hingerichteten an unbekanntem Ort begraben worden. Stattdessen trat Graß für eine „objektive Visionstheorie“ als plausibelste Deutung des Gesamtbefundes ein. Um zu klären, was sich beim Osterglauben argumentativ klären lässt, unterschied W.Marxsen in: Die Auferstehung Jesu als historisches und theologisches Problem, 1964, das „Sehen des Gekreuzigten“ und den Glauben an seine Auferweckung durch Gott als dessen Interpretament. Das „Sehen Jesu“ müsse unerklärt bleiben, das geschichtlich bedingte Interpretament lasse sich dagegen erklären. Vor allem zwei Erklärungen wurden diskutiert: (1) Für K.Berger war in: Die Auferstehung der Propheten und die Erhöhung des Menschensohnes, 1976, die Auferweckung einzelner Menschen der Erwartungshorizont des Osterglaubens. Juden konnten unabhängig von der allgemeinen Totenerweckung mit ihr rechnen. Daher wird Jesus in Mk 6,14 für den wiederauferstandenen Täufer gehalten. Konsens wurde aber, dass (2) die Auferweckung aller Toten der Erwartungshorizont des Osterglaubens war: So U.Wilckens in: Der Ursprung der Überlieferung der Erscheinungen des Auferstandenen, in: W.Joest/W.Pannenberg, Dogma und Denkstrukturen, 1963, 56–95: Eine apokalyptische Erwartung war der überlieferungsgeschichtlich vorgegebene Deutungsrahmen der Ostererscheinungen. Neu war im urchristlichen Osterglauben vor allem, dass die allgemeine Totenauferstehung an einer einzelnen Gestalt vorweggenommen wurde. 1.5 Ostern als objektives Geschehen und subjektive Erfahrung
Die Kerygmatheologie klammerte das Ostergeschehen aus der historischen Betrachtung aus, da es als eschatologisches Geschehen nur durch Menschen erfasst wird, die sich von diesem Geschehen verwandeln ließen. Nachdem man aber die Deutungstraditionen rekonstruiert hatte, mit denen das Ostergeschehen interpretiert wurde, lag es nahe, eine Synthese von Ereignis und Deutung zu versuchen – auch mit Aussagen über das Ostergeschehen selbst. W.Pannenberg verteidigte in: Grundzüge der Christologie, 1964, nachdrücklich die Objektivität des Ostergeschehens. Die Grabestradition sei historisch genauso ursprünglich wie die
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Erscheinungstradition, aber erst durch Erscheinungen wurde das leere Grab zum Zeugnis für die Auferstehung. Ohne sie sei es mehrdeutig. Das (bestätigende) Zeugnis des leeren Grabes verbürge die Objektivität des Ostergeschehens: Pannenberg erhöht die Plausibilität des Ostergeschehens durch analoge Erfahrungen bei der Begegnung mit dem Tod, z. B. Lichterscheinungen in Nahtoderfahrungen. Entscheidend war für ihn, dass das Ostergeschehen als Prolepse des universalgeschichtlichen Endes gedeutet wird. Nur im Rahmen universalgeschichtlicher Apokalyptik könne man Ostern verstehen. Der Neutestamentler G.Lüdemann, Die Auferstehung Jesu, 1994, vertrat dagegen wie E.Hirsch eine subjektive Visionstheorie. Die Überlieferung vom leeren Grab sei eine Legende. Grundlage des Osterglaubens seien psychologisch erklärbare Erscheinungen vor Petrus und Paulus: Die Vision des Petrus erkläre sich durch einen Trauerprozess, durch den Petrus Schuldgefühle gegenüber dem von ihm verleugneten Herrn bewältigte. Im Verfolger Paulus brach eine ins Unbewusste verdrängte Faszination durch Jesus ins Bewusstsein. Andere Visionen basierten wie die vor 500 „Brüdern“ auf sozial verursachter Suggestion. Diese subjektive Visionstheorie verband Lüdemann mit einer Deutung, die in diesen Visionen eine theologische „Wahrheit“ sieht: Vergebung der Sünden, Erfahrung wahren Lebens und eine Begegnung mit der Ewigkeit.6 Trotz gegensätzlicher Wertung haben diese Deutungen eins gemeinsam: In diesem Osterglauben nehmen Menschen eine Beziehung zur Gesamtwirklichkeit als Vorwegnahme (oder „Prolepse“) des Endes oder als Kontakt mit der Ewigkeit auf. Dadurch erhalten partikulare Erfahrungen theologischen Offenbarungscharakter. 1.6 Suche nach Erfahrungsanalogien: Überleben? Halluzination?
Die in den Quellen bezeugten Ereignisse wurden immer wieder neu im Lichte von Analogien in unserer Erfahrungswelt analysiert, entweder durch medizinische Analogien zum Scheintod oder psychologische Analogien zu den Visionen. Medizinisch deutet J.Fried, Kein Tod auf Golgatha. Auf der Suche nach dem überlebenden Jesus, 2019, mit Hilfe von Wiederbelebungserfolgen nach Unfällen die Ostergeschichte: Der Lanzenstich des Soldaten in Jesu Seite habe als Punktion diesem das Leben gerettet (Joh 19,34f). Er habe sich im Grab erholen können, habe danach im Orient gewirkt und heterodoxe christliche Gruppen inspiriert, von denen das ThEv zeugt. Ob Jesus in dieser Weise aus auferstanden ist, ist zwar höchst unwahrscheinlich, sicher aber ist: Hier ist die Scheintodhypothese wieder auferstanden. Psychologische Analogien hat der kanadische Philosoph Ph.H.Wiebe in: Visions of Jesus. Direct Encounter from the New Testament to Today, 1997, untersucht. Die 30 Christusvisionen, die er ausgewertet hat, seien erlebnisecht, auch wenn sie kulturellen Mustern entsprechen. Sie variierten der Form nach von irrealen Erscheinungen bis hin zu real wirkenden Begegnungen mit Menschen. Das erkläre auch die Mannigfaltigkeit der Ostererzählungen, 6
Später verwarf er diese Deutung des Osterglaubens in: G.Lüdemann, Die Auferweckung Jesu von den Toten. Ursprung und Geschichte einer Selbsttäuschung, 2002.
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so Ph.H.Wiebe, Degrees of Halluzinatoriness and Christic Visions, ARPs 26 (2004) 201–222. Der Theologe und Psychologe M.Reichardt deutete in: Psychologische Erklärung der paulinischen Damaskusvision? Ein Beitrag zum interdisziplinären Gespräch zwischen Exegese und Psychologie seit dem 18. Jahrhundert, 1999, die Vision des Paulus als Belastungsvision. Unter den halluzinatorischen Erlebnissen hat G.Theißen in: Erleben und Verhalten der ersten Christen. Eine Psychologie des Urchristentums; 2007, 140–159, drei Erfahrungsanalogien unterschieden: Nahtod-, Trauer- und Krisenvisionen, d. h. Visionen vor dem eigenen Tod, nach dem Tod nahestehender Menschen und in biographischen Krisensituationen. 1.7 Ostererfahrung und Ostermystik konstruktivistisch gedeutet
Der amerikanische Neutestamentler D.C.Allison hat die bisherige Forschung zusammengefasst in: Resurrecting Jesus: The Earliest Christian Tradition and its Interpreters, 2006, und in: Arguing Resurrection, Apologetics, Criticism, History, 2021. Der Wert dieser Arbeiten liegt darin, dass sie für alle Phänomene des Erlebens und Deutungen der Texte offen sind. Dabei war Allison auch durch eigene Erfahrungen motiviert, die er 2006 auf S. 275f so beschreibt: One of my best friends was, in 1987, tragically run over by a drunk driver. After several weeks in a coma, she died along with her unborn baby. About a week after this, I awakened in the middle of the night. There, standing at the end of my bed, was my friend Barbara. She said nothing; she simply was there. Her appearance did not match the traditional lore about ghosts. She was not faint or transparent or frightening. She was to the contrary beautiful and brightly luminous and intensely real. Her transfigured, triumphant presence, which lasted only a few seconds, gave me great comfort. Although she said nothing, this thought entered my mind: this sight is ineffably beautiful, and any person in that state would be ineffably beautiful. Whatever the explanation, this is just exactly what happened.
Parallel dazu legte P.Lampe in: Die Wirklichkeit als Bild, 2006, eine konstruktivistische Deutung des Ostergeschehens vor: Osterglaube basiere auf denselben Evidenzquellen wie wissenschaftliche Erkenntnisse: (1) auf sinnlicher Wahrnehmung in Visionen, (2) auf deren intersubjektiver Verbreitung, (3) auf kognitiven Deutungen, die diese Erfahrungen in das Gesamtwissen der Jünger einfügen. (4) Evidenz gewinnen diese Überzeugungen durch emotionale Verstärkung, sie überwanden bei den Jüngern Schuldgefühle, die durch Flucht und Verleugnung entstanden waren und wurden (5) durch soziale Anerkennung gefestigt: Wer eine Ostervision erfahren hatte, wurde als Zeuge geschätzt und hatte eine Chance, Autorität zu erlangen. Letztlich deutet P.Lampe die Osterbegegnungen als Erfahrungen Gottes im Rahmen einer Wirklichkeitskonstruktion, die in allen Dingen Gottes creatio ex nihilo wahrnimmt. Sein Schüler Shin Yoshida interpretierte die Ostererfahrung psychologisch als Trauerarbeit der Jünger. Die Auferstehungserfahrung der Jünger sei „eine tiefe mystische Einheitserfahrung. Solche Erfahrungen können mit Erleuchtungserfahrungen in verschiedenen mystischen Traditionen verglichen werden.“ So S.Yoshida, Trauerarbeit im Urchristentum. Auferstehungsglaube, Heils- und Abendmahlslehre im Kontext urchristlicher Verarbeitung
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von Schuld und Trauer, 2013, 120. Im Anschluss an ihn hat G. Theißen in: Die Auferstehung Jesu. Osterglaube und Ostermystik, in: Resonanztheologie, 2020, 291–324, Ostern als Schöpfungsmystik bei Paulus, Liebesmystik im JohEv und Wortmystik im ThEv gedeutet.
2. Die Gattungen und Formen der Ostertexte Urchristlicher Osterglauben begegnet im NT in Formel- und Erzähltraditionen. Die Formeltradition wurde in Paulusbriefen vor 60 n. Chr. verschriftlicht, die Erzähltradition in Evangelien ab ca.70 n. Chr. Die Traditionen selber sind sehr viel älter. 2.1 Die Formeltradition
Innerhalb der Formelüberlieferung lassen sich Aussagen über das Ostergeschehen und über die Ostererfahrung unterscheiden. Das Geschehen wird in drei typischen Aussagen festgehalten: (1) Die Auferweckungsformel „Gott hat Jesus von den Toten erweckt“ begegnet als Aussagesatz (Röm 10,9; 1Kor 6,14; 15,15) und als partizipiale Prädikation Gottes, „der Jesus von den Toten auferweckt hat“ (Röm 4,24; 8,11; 2Kor 4,14; Gal 1,1; Kol 2,12). Gott ist hier das Subjekt. (2) Die Auferstehung oder Auferweckung Jesu begegnet ferner in zwei- und mehrgliedrigen Formeln, deren Subjekt in der Regel Jesus ist. Ȥ Als Kombination von Sterbens- und Auferstehungsformel: „Jesus ist gestorben und auferstanden“ (1Thess 4,14, vgl. 1Kor 15,3f; 2Kor 5,15). Ȥ Als Kombination von Dahingabe- und Auferweckungsformel über Jesus, „welcher ist um unsrer Sünden willen dahingegeben und um unserer Rechtfertigung willen auferstanden“ (Röm 4,25). Ȥ Als Kombination der Auferweckungs- und Erhöhungsformel: Gott hat „ihn von den Toten auferweckt und eingesetzt zu seiner Rechten im Himmel“ (Eph 1,20 vgl. 1Petr 1,21).
(3) Eine eigenständige Überlieferung sind die Leidensankündigungen der Passionssummarien in Mk 8,31; 9,31; 10,33 f. Hier ist der Menschensohn das Subjekt. Von ihm heißt es, dass er getötet und nach drei Tagen auferstehen wird. Außerdem berichtet Paulus formelhaft von Ostererfahrungen mit Worten der Tradition, aber auch mit individuellen Aussagen über seine eigenen Erfahrungen, am deutlichsten in 1Kor 4,6: Ȥ Eine Offenbarungsaussage begegnet in Gal 1,12.15 f. Paulus verdankt seine Berufung zum Heidenapostel einer Offenbarung. Ihr Inhalt ist Jesu Hoheit als Sohn Gottes, die seine Auferweckung einschließt (vgl. Gal 1,1). Paulus betont hier die Singularität der ihm widerfahrenen Erscheinung.
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Vierter Teil: Passion und Ostern
Ȥ Eine Erscheinungsaussage ist 1Kor 15,5–8. Paulus sagt „als letztem … erschien er auch mir“. Dabei übernimmt er die traditionelle Formel (ōhthē), mit der er auch von seiner Berufungsvision berichtet, die er in eine Kette anderer Ostererscheinungen einreiht. Ȥ Die Erkenntnisaussage in Phil 3,8–10 betont seine eigene Deutung der Ostererscheinung: Aufgrund seiner Erkenntnis Jesu Christi (seiner gnōsis) bewertet er sein Leben neu. Da er in 1Kor 8,1 auch den Korinthern bescheinigt: „Wir haben alle Erkenntnis“ (gnōsis), teilt er hier seine Sprache mit anderen Christen.
In 2Kor 4,6 deutet Paulus wohl am persönlichsten sein Ostererleben in der Sprache des Schöpfungsglaubens als einen inneren Vorgang in seinem Herzen: „Denn Gott, der sprach: Licht soll aus der Finsternis hervorleuchten, der hat einen hellen Schein in unsre Herzen gegeben, dass durch uns entstünde die Erleuchtung zur Erkenntnis der Herrlichkeit (doxa) Gottes in dem Angesicht Jesu Christi.“ 2.2 Die Erzähltradition
In der Erzähltradition sind Berichte von Erscheinungen und vom leeren Grab relativ unabhängige Traditionen, die nur dort zusammenkommen, wo Erscheinungen am Grab Jesu erzählt werden. Bei den Erscheinungen lassen sich zwei Formen unterscheiden:7 Auftragserscheinungen zielen auf einen Missionsauftrag an die Jünger (Mt 28,16–20; Lk 24,36–49; Joh 20,19–23). Er wird sofort als der Auferstandene erkannt. Wenn er nach 1Kor 15,7 allen „Aposteln“ erschienen ist, deutet auch das auf einen Auftrag hin: Denn „Apostel“ sind beauftragte Boten. Wenn er dagegen 500 „Brüdern“ erscheint, werden diese Gemeindeglieder, zu denen an dieser Stelle sicher Frauen gehören, von den Aposteln als Amtsträgern deutlich unterschieden. In Identifikationserscheinungen begegnet Jesus in unbekannter Gestalt. Maria Magdalena und die Emmausjünger erkennen ihn erst, nachdem er Maria mit Namen angeredet bzw. das Brot gebrochen hat (Joh 20,16; Lk 24,30f). Am galiläischen See identifiziert erst der Lieblingsjünger ihn mit Jesus, indem er sagt: „Es ist der Herr!“ (Joh 21,7). Es sind Rekognitions- oder anagnōrisis-Erscheinungen. Sie werden nur von Menschen erzählt, die wie Maria Magdalena, der Lieblingsjünger und die Emmausjünger nicht zum Zwölferkreis gehören. Meist gelten Auftragserzählungen als die älteren, Identifikationserzählungen als die jüngeren Texte. Doch die Erscheinung vor Maria Magdalena Joh 20,11–18 konkurrierte nach Mk 16,9 mit der Ersterscheinung vor Petrus. Auftragserscheinungen sind nicht unbedingt ursprünglicher. Da sie im Urchristentum zur Legitimierung der eigenen Gruppenexistenz nötig waren, haben sie wohl andere Formen zurückgedrängt.
7
Nach P.Hoffmann, Art. Auferstehung* (1979) S. 501.
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Gattung und Aussageabsicht der Erzählung vom leeren Grab (Mk 16,1–8) wird in der Forschung kontrovers beurteilt. (1) Alle Scheintod-, Betrugs- und Umbettungshypothesen setzen seine Geschichtlichkeit voraus. (2) Meist gilt sie aber als Legende. Das offene Grab, die Suche der Frauen und das Verschwinden des Leichnams sind Elemente einer Entrückungserzählung, die in den Dienst der Botschaft von der Auferstehung Jesu gestellt wurden.8 Schließloch wird sie (3) als ätiologische Kultlegende gedeutet, die in der Jerusalemer Urgemeinde eine Feier der Auferstehung Jesu am Grab begründete und dabei historische Realität mit einer legendarischen Erzählung verband.9 Grab- und Erscheinungstradition werden in der älteren Schicht nur durch Identifikationserscheinungen verbunden: Maria Magdalena hält den Auferstandenen zunächst für den Gärtner. Oft werden Erscheinungen am Grab als Erscheinungen eines jungen Mannes interpretiert (Mk 16,5) oder von zwei Männern, die als Engeln gedeutet werden (Lk 24,22– 24). Erst im Fragment des eindeutig jüngeren Petrusevangeliums wird geschildert, wie der Auferstandene das Grab in der Nacht verlässt, bevor die Frauen sein leeres Grab finden: Zur Nacht aber, die der Herrentag erleuchtete, während Soldaten je zu zweit Wache schoben, ertönte eine mächtige Stimme im Himmel und sie sahen, wie sich die Himmel öffneten und wie Männer von dort in gleißendem Licht herabstiegen und sich dem Grab näherten. Nachdem jener Stein dann, der auf den Eingang gelegt war, von selbst weggerollt war, ein Stück freigegeben hatte und das Grab geöffnet war, gingen die beiden Jünglinge auch hinein. Als nun jene Soldaten dies bemerkten, wecken sie den Centurio und die Ältesten auf – denn auch sie waren dort, um zu wachen – und als sie erläuterten, was sie gesehen hatten, da sahen sie wiederum, dass drei Männer aus dem Grab heraustraten, die beiden den einen stützen und ein Kreuz ihnen folgte und, während der Kopf der beiden bis zum Himmel reichte, überstieg derjenige aber des von ihnen an der Hand Geführten die Himmel. Und sie hörten eine Stimme aus den Himmeln: ‚Hast Du den Entschlafenen verkündet?‘ Und vom Kreuz wurde die Antwort vernommen: ‚Ja‘. EvPetr 9–10 [34–42]
2.3 Formel- und Erzählüberlieferung: Parallelen und Differenzen
Die folgende Graphik gibt einen Überblick über die wichtigsten Aussagen zum Osterglauben. Sie finden sich in verschiedenen Formen und Formeln:
8 9
E.Bickermann, Das leere Grab, ZNW 23 (1924) 281–292 = P.Hoffmann (Hg.), Überlieferung*, 271–284; ders., Art. Auferstehung* (1979) 449. L.Schenke, Auferstehungsverkündigung*, 1968. Pointe ist dann die Engelbotschaft 16,6: „Er ist auferstanden …“, wobei das „Siehe die Stelle, wo sie ihn hingelegt haben“ einen konkreten kultischen Bezug in Prozessionen zum Grab hat.
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Vierter Teil: Passion und Ostern
Ostertexte Summarische Aussagen (meist Formeln)
Erzählüberlieferungen
Aussagen über das Geschehen
Aussagen über das „Erkennen“
Erscheinungsberichte
Auferweckungsformel ὁ θεὸς αὐτὸν ἤγειρεν ἐκ νεκρῶν/ Gott hat ihn von den Toten auferweckt (Röm 10,9 u.ö.) Gott ist Subjekt
Offenbarungsaussage ἀποκαλύψαι τὸν υἱὸν αὐτοῦ ἐν ἐμοί/ Gott gefiel es, seinen Sohn (in) mir zu offenbaren (Gal 1,16) folgt: Auftrag
Bekehrungserzählung des Paulus Apg 9; 22; 26
Sterbens- und Auferstehungsformel Ἰησοῦς ἀπέθανεν καὶ ἀνέστη/Jesus ist gestorben u. auferstanden (1Thess 4,14) Christus ist Subjekt
Erscheinungsaussage ὥφθη + Dat. d. Pers./ er erschien/ließ sich sehen (1Kor 15,58) folgt: Verkündigung
Auftragserscheinungen Mt 28,16–20 Lk 24,36–49 Joh 20,19–23
Passionssummarien
Erkenntnisaussage
Mk 8,31 u.ö. Der Menschensohn ist Subjekt
γνῶσις Ἰησοῦ Χριστοῦ/ Erkenntnis Jesu Christi (Phil 3,8) folgt: Umwertung aller Werte
ἀναγνώρισις-/Rekognitionserscheinungen Lk 24,13ff Joh 20,11–18 (Joh 21,1–14)
Grabüberlieferung
Grabüberlieferung Mk 16,1ff par. Entrückungserzählung mit typischem Motiv des unauffindbaren Leichnams
Wir können unterscheiden: Aussagen über das objektive Ostergeschehen, das als Auferweckung oder Auferstehung gedeutet wird – beides in Analogie zum Verständnis des Todes als Schlaf, von dem man erwacht und von dem man aufsteht. Davon zu unterscheiden sind Aussagen darüber, wie Menschen dessen gewiss werden – sei es durch Offenbarung, Erscheinung des Verstorbenen oder durch dessen Erkenntnis. Die Erzählüberlieferungen sind Erscheinungsberichte in drei Varianten: Die Begegnung mit dem Auferstandenen wird als Bekehrung, als Auftrag oder als ein Wiedererkennen dargestellt. Eine Sonderform bilden die Erzählungen vom leeren Grab. Der folgende Vergleich von Formel- und Erzähltradition zeigt, dass sie genug übereinstimmen, um auf tatsächliche Erscheinungserfahrungen zurückschließen zu können, aber dass sie kaum voneinander abhängig sind.
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Jesus als Auferstandener: Ostern und seine Deutung
1Kor 15,3–8
Erzählüberlieferung
15,4f: „dass Christus auferstanden ist und Kephas erschienen ist“
Lk 24,34: „Sie sagten: der Herr ist wirklich auferstanden und Simon erschienen.“ Damit konkurriert die Ersterscheinung vor Maria Magdalena: Joh 20,11–18; Mk 16,9–11.
15,5: „danach den Zwölfen“
Auftragserscheinungen: Mt 28,16–20 in Galiläa zur Mission; Lk 24,36–49 in Jerusalem zur Mission und in Joh 20,19–23 zur Kirchengründung
15,6: „danach erschien er mehr als 500 Gemeindegliedern auf einmal“
Die Pfingstgeschichte (Apg 2) könnte eine Verarbeitung dieser Tradition sein.10
15,7: „dann erschien er Jakobus“
Erscheinung vor Jakobus im EvHebr 5 (von 1Kor 15,7 abhängig?)
15,7: „dann allen Aposteln“ – ohne ephhapax (auf einmal), also sukzessiv?
Eine Entsprechung fehlt, wenn nicht „alle Apostel“ mit „den Zwölfen“ identisch sind oder Entsprechungen in Lk 24,13–27; Joh 20,11–18 zu finden sind (s. u.)?
15,8: „als letztem aber von allen erschien er als einer Fehlgeburt auch mir“ [= Paulus]
Christuserscheinungen vor Paulus in Apg 9,1–19; 22,3–21; 26,9–23
Das Begräbnis Jesu wird ausdrücklich erwähnt, nicht aber ein leeres Grab
Das leere Grab (Mk 16,1–8 par; Joh 20,1–18)
Identifikationserscheinungen könnten allenfalls indirekt in 15,7 in Erscheinungen vor allen Aposteln enthalten sein.
Identifikations-Erscheinungen (anagnōrisis-Erscheinungen) (Lk 24,13–27; Joh 20,11–18)
3. Auswertung der Formelüberlieferung zu den Ostererscheinungen Da die Evangelien jünger als die Paulusbriefe sind, hat die in 1Kor 15,3–8 erhaltene Überlieferung als ältestes Zeugnis eine Schlüsselstellung bei der historischen Frage nach dem Ostergeschehen. 1. Der traditionelle Charakter von 1Kor 15,3–8 ist unbestritten. Indizien dafür sind: die Überlieferungsformel, die traditionelle Sprache und die geprägte Form. Durch die Überlieferungsformel: „Ich habe überliefert, was ich auch empfangen habe“ (15,3) zeigt Paulus, dass er eine Tradition im Konsens mit anderen Aposteln weitergibt. Ausdrücklich betont er: „Es sei nun ich oder jene, so verkündigen wir, und so habt ihr geglaubt“ (15,11). Er muss erlebt haben, dass andere Apostel ihre Ostererscheinungen bezeugten. Auf Tradition weist die geprägte Form mit parallelem Aufbau: 10 E.v.Dobschütz, Ostern und Pfingsten. Eine Studie zu 1 Kor 15, 1903.
500
Vierter Teil: Passion und Ostern
1. Jesu Tod: „Er starb“ + Sinndeutung: „für unsere Sünden“ + Erfüllung „nach den Schriften“ (kata tas graphas) + Bestätigung des Todes durch das Begräbnis: „er wurde begraben“ (etaphē); 2. Jesu Auferweckung: „Er wurde auferweckt“ + Zeitbestimmung: „am dritten Tag“ + Erfüllung „nach den Schriften“ (kata tas graphas) + Bestätigung der Auferstehung durch Erscheinung: „er erschien“ (ōphthē).
Darüber hinaus gibt es unpaulinische Wendungen. Paulus spricht sonst von der Sünde im Singular. Statt der Wendung „nach den Schriften“ schreibt er meist: „es ist geschrieben“. Die Aussage: „er erschien“ (ōphthē) kommt bei ihm nicht mehr vor. Dem Perfekt: „er wurde auferweckt“ (egēgertai) zieht er den Aorist ēgeiren vor. „Die Zwölf“ begegnen bei ihm nur hier. 2. Der Umfang der Tradition ist nicht sicher zu bestimmen, aber V. 3b–5 sind nach allgemeinem Konsens traditionell. Zur Tradition gehören 1Kor 15,3b–5. Nur diese Verse sind von „Ich habe empfangen“ abhängig. Wahrscheinlich hat Paulus die Erscheinung vor 500 Brüdern (und Schwestern) (V.6b) hinzugefügt: Indem er auf den Tod einiger Zeugen hinweist, signalisiert er: Wenn Korinther nach Jerusalem kommen, werden sie nicht 500 Auferstehungszeugen antreffen. Die folgende Erscheinung vor Jakobus und „den Aposteln allen“ (V.7) dürfte ebenfalls Tradition sein. Paulus schließt sich in den Kreis „aller Apostel“ ein, auch wenn er sich als „Missgeburt“ oder „Fehlgeburt“ bezeichnet (V.8). Mit seiner eigenen Ostererscheinung erweitert er selbst die Formeltradition. 3. Herkunft und Alter der Formel führen nahe an die Ereignisse selbst heran. Die Formel ist älter als die korinthische Gemeinde, die ca. 49/50 gegründet wurde. Paulus hat sie bei Gründung der Gemeinde schon als Tradition überliefert. Die Gewissheit, dass die anderen Apostel ebenso predigten wie Paulus, basiert darauf, dass er Petrus und Jakobus schon zwei/drei Jahre nach Jesu Tod in Jerusalem gesprochen hat (Gal 1,18f). Beim Apostelkonzil (ca. 46/48 n. Chr.) konnte Paulus weitere Zeugen sprechen. Schon bald nach Jesu Tod hat es also eine geprägte Überlieferung von seinem Sterben und Auferstehen gegeben. J.Jeremias versuchte, die Formel aufgrund sprachlicher Indizien auf die aramäisch sprechende Urgemeinde zurückzuführen:11 ōphtē im Doppelsinne von „erscheinen“ und „gesehen werden“ entspricht der Doppelbedeutung von נִ ְר ָאהim Hebräischen. Da aber das artikellose „Christos“ im Aramäischen ungewöhnlich wäre, könnte die Formel auch in einer griechisch sprechenden judenchristlichen Gemeinde entstanden sein (H.Conzelmann).12 11 J.Jeremias, Die Abendmahlsworte Jesu, 31960, 95–97. 12 H.Conzelmann, Zur Analyse der Bekenntnisformel I. Kor. 15,3–5, EvTh 25 (1965) 1–11; dgg. J.Jeremias, Artikelloses Χριστός. Zur Ursprache von 1. Kor 15,3b–5, ZNW 57 (1966) 211–215.
Jesus als Auferstandener: Ostern und seine Deutung
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4. Die Geschichte des Urchristentums erscheint in dieser Formel in Form einer Konkurrenz von „Petrus und die Zwölf“ (V.5) mit „Jakobus und alle Apostel“ (V.7). Das Nebeneinander beider Gruppen deutet auf eine Konkurrenz zwischen Petrus und Jakobus. Beanspruchten beide die Ersterscheinung für sich? (A.v.Harnack).13 Oder weisen die zwei Gruppenerscheinungen auf Erscheinungen in Galiläa vor den Zwölf und in Jerusalem im Umkreis des Jakobus? (G.Sass).14 Oder ist der Kreis der Apostel offen für alle, die nacheinander berufen wurden. Man denke nur an die „Apostel“ Andronikus und Junia (Röm 16,7). Vielleicht spiegelt sich hier auch eine Verlagerung der Führungsautorität in Jerusalem von Petrus zu Jakobus (U.Wilckens).15 5. Der Sinn der Tradition: Die traditionelle Formel will sowohl Bedeutung wie Faktizität der Ereignisse aussagen. Zur Deutung von Tod und Auferstehung Jesu verweist sie auf die „Schriften“. Die Deutung der Ereignisse durch die „Schriften“ lässt offen, welche Schriftstellen gemeint sind: Das „Sterben für unsere Sünden“ erinnert an Jes 53,5f, auch wenn diese Stelle erst 1Petr 2,24 explizit auf Jesu Tod gedeutet wird. Der „dritte Tag“ erklärt sich durch Hos 6,2: „Am dritten Tage werden wir auferstehen“.16 Die Faktizität der Ereignisse wird durch „begraben“ und „erscheinen“ belegt. Umstritten ist, ob Paulus ein leeres Grab voraussetzen musste (so J.Kremer).17 Er glaubte eigentlich, dass der Leib als irdische Hütte verwest (2Kor 5,1). Bestritten wird von W.Michaelis,18 dass ōphtē (er erschien) ein visuelles Sehen einschließt. Doch setzt Paulus in 1Kor 9,1 ein „Sehen“ voraus. Sicher galt eine Erscheinung des Auferstandenen als Offenbarung Gottes: In der LXX kann ōphtē eine Theophanie bezeichnen (P.Hoffmann).19 Dagegen, dass Erscheinungen vor allem der Legitimation von Leitungsstellen dienten (U.Wilckens), spricht, dass die 500 „Brüder“ (und Schwestern) keine Ämter einnehmen, obwohl sie sich auf eine Erscheinung des Auferstandenen berufen konnten. 6. Die Verwendung der Tradition: Umstritten ist, ob Paulus die Faktizität der Auferstehung (R.Bultmann) oder nur den Konsens der Apostel betonen will (K.Barth).20
13 A.v.Harnack, Die Verklärungsgeschichte Jesu, der Bericht des Paulus (I. Kor. 15,3 ff.) und die beiden Christusvisionen des Petrus, 1922, 62–80 = P.Hoffmann (Hg.), Überlieferung*, 89–117. 14 G.Sass, Apostelamt und Kirche, 1939, 132–136. 15 U.Wilckens, Ursprung*, 1963 = P. Hoffmann (Hg.), Überlieferung*, 139–193. 16 Einen Überblick über verschiedene Deutungen gibt P.Hoffmann, Auferstehung* (1979) 482 f. 17 J.Kremer, Das älteste Zeugnis von der Auferstehung Christi, 1966, 36–38. 18 W.Michaelis, Die Erscheinungen des Auferstandenen, 1944, 108 f. 19 P.Hoffmann, Auferstehung* (1979) 493 f. 20 K.Barth, Die Auferstehung der Toten. Eine akademische Vorlesung über I. Kor. 15, 1924 41953, 75–86; R.Bultmann, Karl Barth, Die Auferstehung der Toten 1926, in: GuV I, 1933, 38–64, 54 f.
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Vierter Teil: Passion und Ostern
Dafür, dass Paulus in 1Kor 15,3–11 eine Beweisabsicht verfolgt, spricht: Er will die Auferstehung Christi beweisen, indem er die Erscheinungen chronologisch ordnet und sich auf noch lebenden Zeugen beruft. Für die Berufung auf einen Konsens spricht, dass die Auferstehung Jesu unter den Korinthern gar nicht strittig war, sondern nur die „Auferstehung der Toten“ – möglicherweise, weil man an die Unsterblichkeit der Seele oder an eine geistliche Auferstehung im gegenwärtigen Leben glaubte. Zwischen Beweisabsicht und Konsensvergewisserung besteht freilich kein Widerspruch. Unser Fazit ist: Die Überlieferung in 1Kor 15,3b–5, die nahe an die Ereignisse selbst heranführt, bezeugt Einzel- und Gruppenerscheinungen. Sie wird durch das Selbstzeugnis des Paulus als Augenzeugen betätigt, der weitere Zeugen persönlich gekannt hat. An der subjektiven Authentizität dieser Zeugnisse besteht kein Zweifel. Aufschlussreich sind die Einzelerscheinungen: Petrus hatte Jesus verleugnet, Paulus seine Anhänger verfolgt, Jakobus (möglicherweise) die Skepsis der Familienmitglieder gegenüber Jesus geteilt (Mk 3,20f). Eine vierte Einzelerscheinung wurde in dieser Überlieferung übergangen: die Erscheinung vor Maria Magdalena.
4. Auswertung der Erzählüberlieferung zu den Ostererscheinungen Die in den Formeln in 1Kor 15,3–8 bezeugten Erscheinungen werden von den Erzählüberlieferungen der Evangelien zum Teil bestätigt. Gleichzeitig sind Formel- und Erzählüberlieferung aber verschieden genug, um als unabhängig voneinander zu gelten. Im MkEv steht die Erscheinung eines „jungen Mannes“ im Zentrum der Grabeserzählung. Seine Botschaft überbietet alle menschlichen Bekenntnisse: Jesus ist mehr als der vom Täufer angekündigte Stärkere, mehr als der Messias des Petrusbekenntnisses. Er war nicht nur ein Sohn Gottes, wie der Hauptmann bekannte, sondern er ist lebendig. Alle Epiphanien im MkEv sind von Geheimnis umhüllt. Die Himmelsstimme bei der Taufe hört nur Jesus, die Stimme auf dem Berg verstehen die Jünger erst Ostern. Die Erscheinung des „jungen Mannes“ am Grab endet mit Furcht und Schweigen der Frauen. Eine Ostererscheinung Jesu wird abgesehen vom Hinweis auf eine Erscheinung Jesu in Galiläa (Mk 14,28; 16,7) im MkEv nicht berichtet. Dass die Frauen „niemandem etwas sagten“, ist ein Paradox, denn woher könnte der Evangelist von den Ereignissen am Grab wissen, wenn nicht direkt oder indirekt von ihnen? Der rätselhafte Schluss des MkEv wurde verschieden gedeutet: Ȥ Manche postulieren eine umfangreichere Schrift, deren Ende in der Überlieferungsgeschichte weggebrochen wurde – ein mechanischer Schaden, hinter dem keine Absicht steckt. Ȥ Andere rechnen mit einer Grundschrift, in der die Verklärung die Ostergeschichte war, die durch den Mk-Evangelisten in die Mitte des MkEv versetzt wurde (W.Schmithals).21
21 W.Schmithals, Der Markusschluß, die Verklärungsgeschichte und die Aussendung der Zwölf, ZThK 69 (1972) 379–411.
Jesus als Auferstandener: Ostern und seine Deutung
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Ȥ Einige verstehen den Abbruch in 16,8 als Leseaufforderung zur erneuten Lektüre des MkEv. Die Leser sollen sich in ihr erneut nach Galiläa begeben, um Jesu Weg zu verfolgen (M.Horstmann).22 Ȥ Bestechend ist die Deutung, in 16,7 werde keine Ostererscheinung Jesu, sondern seine Parusie angekündigt, Mk 16,7 sei Ausdruck einer Naherwartung des Mk-Evangelisten (E.Lohmeyer).23 Ȥ Richtig ist auf jeden Fall: Der Geheimnischarakter der Offenbarung im MkEv wird noch einmal unterstrichen (W.Nauck).24
Warum aber wird der „junge Mann“ am Grab erst in den synoptischen Parallelen eindeutig zu einem Engel? Unsere Vermutung, auf die wir noch später zurückkommen, ist: Dieser „junge Mann“ war ursprünglich Jesus. Maria Magdalena sieht ihn zusammen mit zwei anderen Frauen. Nach einer Parallelüberlieferung im JohEv begegnete sie am Grab dem Auferstandenen, erkannte ihn aber zunächst nicht. Das MtEv erzählt von einem Betrugsversuch der Hohepriester, die mit Geld die Grabeswache bestechen, damit sie das Gerücht verbreiten sollen, die Jünger hätten Jesu Leichnam gestohlen (Mt 28,11–15). Dadurch wird die Ostergeschichte zur Anklage gegen die Führer der Juden: Beginnt also Ostern die Zuwendung Gottes zu den Heiden? Der auf alle Völker ausgeweitete Missionsbefehl ist aber keine Abwendung von Israel. Denn der Auferstandene ist der universale Herrscher, dem alle Gewalt im Himmel und auf Erden gegeben ist (28,18). Hier wird kein Volk ausgeklammert. Das LkEv lokalisiert alle Ostererscheinungen in Jerusalem und konzentriert sie zeitlich auf 40 Tage bis zur Himmelfahrt. Der Auferstandene deutet selbst das Geschehen: Die „Engel“ greifen auf seine Prophetie zurück (24,6). Er selbst belehrt die Emmausjünger aus den Schriften über sein Leiden. In antidoketischer Tendenz wird die Berührbarkeit des Auferstandenen, seine Wundmale und sein Essen betont (24,39–43). Die Himmelfahrtserzählung stilisiert Jesus als Gegenmodell zu den Kaisern, die nach ihrem Tode durch Aufnahme in den Himmel verewigt wurden. Das JohEv lokalisiert die Erscheinungen in Jerusalem und in Galiläa. Sie verteilen sich auf zwei sukzessiv entstandene Schlusskapitel Joh 20 und 21, die beide von der Konkurrenz zwischen Petrus und dem Lieblingsjünger zeugen: Der Lieblingsjünger kommt als erster zum Glauben (20,8), erkennt den Herrn (21,7), gibt Petrus freiwillig den Vortritt (20,5f), der zum „guten Hirten“ eingesetzt und durch sein Martyrium rehabilitiert wird: Er „folgt“ nun Jesus, ohne ihn zu verleugnen (21,15–19).
22 M.Horstmann, Studien zur markinischen Christologie, 21973, 132. 23 E.Lohmeyer, Das Evangelium des Markus, 1959, 356. 24 W.Nauck, Die Bedeutung des leeren Grabes, ZNW 47 (1956) 243–267, S. 251f; 257 f.
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MtEv
Vierter Teil: Passion und Ostern
MkEv
27,62–66 Grabwache 28,18 Das leere Grab Ȥ Der Stein wird von einem Engel vor den Augen der Frauen weggewälzt. Ȥ Die Frauen verschweigen die Botschaft nicht, sie haben Furcht und Freude.
16,1–8 Das leere Grab Ȥ Das Grab ist offen, in ihm begegnet ein Engel mit der Osterbotschaft. Ȥ Die Frauen fliehen und sagen aus Furcht niemandem etwas.
28,9–10 Erscheinung vor drei Frauen (u. a. Maria Magdalena): Ȥ Auftrag zur Verkündigung an die Jünger.
16,9–20 Sekundärer Mk-Schluss: 16,9–13 Erscheinungen vor Einzelnen: Ȥ Erscheinung vor Maria Magdalena, Unglaube der übrigen Ȥ Erscheinung vor zwei Jüngern, Unglaube der übrigen
28,11–15 Betrug der Hohepriester 28,16–20 Gruppenerscheinung vor den Elfen: Ȥ Auftrag zur weltweiten Mission, Taufe und Lehre
16,14–16 Gruppenerscheinung vor den Elfen Ȥ Tadel des Unglaubens Ȥ Auftrag zur weltweiten Mission, Taufe und Lehre
+ 16,17f Bestätigung des Glaubens durch Zeichen: Ȥ Dämonenaustreibung Ȥ Reden in neuen Zungen Ȥ Schlangen hochheben und Ȥ Gift trinken ohne Schaden Ȥ Krankenheilung + 16,19 Jesu Aufnahme in den Himmel und Sitzen zur Rechten Gottes
505
Jesus als Auferstandener: Ostern und seine Deutung
LkEv
JohEv
24,1–12 Das leere Grab Ȥ Das Grab ist offen: zwei Engel verkünden die Osterbotschaft im Rückgriff auf Jesu Worte. Ȥ Die Frauen richten die Botschaft aus, stoßen aber auf Unglauben bei den „Aposteln“. Ȥ V. 12: Lauf des Petrus zum Grab (fehlt D it).
20,1–10 Das leere Grab Ȥ Nur Maria Magdalena geht zum Grab
24,13–35 Erscheinung vor zwei (Emmaus-) Jüngern: ἀναγνώρισις -Motiv; Belehrung aus Schriften.
20,11–18 Erscheinung vor Maria Magdalena: ἀναγνώρισις -Motiv; Belehrung der Jünger über Auffahrt Jesu.
24,36–49 Gruppenerscheinung vor den Aposteln: Ȥ Realität des Erschienenen durch Betasten, Sehen der Hände und Füße und Essen Ȥ Belehrung aus den Schriften Ȥ Missionsauftrag
20,19–23 Gruppenerscheinung vor den Jüngern: Ȥ Realität des Erschienenen (geschl. Tür): Sehen von Händen und Seite (πλευρά 19,34) Ȥ Auftrag zur Kirchengründung, Sendung, Geistverlehung, Sündenvergebungsvollmacht
+ 24,50–51 Himmelfahrt von Bethanien aus
+ 20,24–29 Erscheinung vor Thomas: Überwindung des Zweifels + 21,1–14 Erscheinung am See Genezareth + 21,15–23 Auftrag an Petrus zur Kirchenleitung, Martyrium und sein Verhältnis zum Lieblingsjünger
Ȥ Wettlauf der beiden Jünger: Petrus kommt nach dem Lieblingsjünger zum Grab
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Vierter Teil: Passion und Ostern
5. Historische Kritik der Erscheinungserzählungen Ein Rätsel ist: Warum ist von der Ersterscheinung vor Petrus nur die Formeltradition in 1Kor 15,3 erhalten, aber keine Erzählung? Und warum begegnet von Maria Magdalena neben Joh 20,1–18 nur eine summarische Erzählung im sekundären Mk-Schluss (Mk 16,9–11). Oder lassen sich schon im ältesten Evangelium Erinnerungsspuren dieser beiden Ersterscheinungen finden? 5.1 Die Erscheinung vor Petrus
Von der Erscheinung vor Petrus könnten Motive in der Verklärungserzählung erhalten sein.25 Diese Erzählung erinnert an die Theophanie auf dem Sinai durch den Berg, die sieben Tage, die Wolke, die Verwandlung, den Strahlenglanz, vor allem aber durch die Stimme Gottes, die nicht das Gesetz verkündet, sondern dazu mahnt, Jesu Lehre zu hören (Mk 9,7). Die Verklärung hat Züge einer Ostererscheinung: Der Ort ist ein Berg in Galiläa. Das passt dazu, dass die Jünger nach der Hinrichtung Jesu in ihre Heimat zurückkehrten. Petrus unterschätzt Jesu einzigartige Würde. Wenn er Mose, Elia und Jesus drei Hütten bauen will, stellt er sie auf eine Stufe, als gehöre Jesus zu den „Ahnen“. Der göttliche Glanz, in den sich Jesus verwandelt hat, zeigt jedoch, dass Jesus eine unvergleichliche Würde zukommt. Petrus versteht sie nicht. Er habe nicht gewusst, was er antwortete (9,6). Das ist eine Erinnerungsspur daran, dass ihm und den Jüngern erst nach und nach aufgegangen ist, dass Jesus mehr war als einer der Ahnen im Himmel. Wir nehmen an: Weil Petrus seine Erscheinung Jesus zu gering eingeschätzt hat, blieb sie nur indirekt in der Verklärungsgeschichte erhalten. Aber noch im 2. Jh. n. Chr. erzählt die Offenbarung des Petrus die Verklärung Jesu als Ostergeschichte und Himmelfahrt des Petrus.26 Seine Ostererfahrung wurde als Verklärungsvision erst nachträglich zur Vorstufe der Ostererfahrung.27 Auch Mk 9,9 weist deutlich auf Ostern: Die Jünger sollten erst nach der Auferstehung des Menschensohns erzählen, was sie gesehen haben (Mk 9,9). Das kann man als Indiz dafür verstehen, dass sie ihre Vision nicht erst nach Ostern erzählen sollen, sondern dass eine Ostervision in diese Erzählung eingegangen ist. Mit dieser Ostererfahrung des Petrus an einem unbekannten Ort in Galiläa begann die Geschichte des Christentums. Petrus und die anderen Jünger waren nach der Kreuzigung dahin geflohen. Dort hatte Petrus eine Vision.
25 Eine weitere Spur enthält die Berufung des Petrus in der lk Fassung: „Von nun an wirst du Menschen fangen“ (Lk 5,10). Vergleichbare Motive finden sich in einer Ostergeschichte Joh 21,1–14. 26 Offenbarung des Petrus, äthiopischer Text 15–17; griechischer Text 4–20. Vgl. W.Schneemelcher, Neutestamentliche Apokryphen II, 575–578. 27 Eine andere Möglichkeit ist, dass eine Ostervision mit vorösterlichen Erfahrungen der Jünger in einem veränderten Bewusstseinszustand verschmolzen wurde. Vgl. J.J.Pilch, Ereignisse eines veränderten Bewusstseinszustandes bei den Synoptikern, in: W.Stegemann/B.J.Malina/G.Theißen (Hg.), Jesus in neuen Kontexten, 2003, 33–42.
Jesus als Auferstandener: Ostern und seine Deutung
507
5.2 Die Erscheinung vor Maria Magdalena
Das Christentum hat einen zweiten Anfang in der Ersterscheinung vor Maria Magdalenas. Der sekundäre Mk-Schluss sagt in Mk 16,9 eindeutig, dass Jesus ihr als „erster“ erschienen ist. Dafür lassen sich gute Argumente anführen:28 1. Dass die Erscheinung vor Maria Magdalena in 1Kor 15,3–8 nicht erwähnt wird, spricht nicht gegen sie. In 1Kor 15 werden möglicherweise keine Frauen erwähnt, weil ihr Zeugnis weniger Gewicht hat. Maria Magdalena wäre als Empfängerin einer Ersterscheinung dem Petrus an Autorität gleichgestellt. Das war vielleicht für viele unvorstellbar. 2. Das MkEv kündigt durch den „Jüngling“ den Frauen Erscheinungen in Galiläa vor den „Jüngern und Petrus“ an (Mk 16,7), sagt aber nicht: Dort werden sie ihn sehen, sondern: „Dort (in Galiläa) werdet ihr ihn sehen“. Das könnte auch die Frauen einschließen. 3. Dass die Ersterscheinung vor Maria Magdalena erst in späten Traditionsschichten bezeugt ist – Mk 16,9–20 stammt aus dem 2. Jh. – wird dadurch ausgeglichen, dass sie auch in Joh 20,1–18 bezeugt ist. 4. Der sekundäre Mk-Schluss bewahrt als ein Summarium der Osterereignisse ältere Traditionen.29 Als er an das MkEv gefügt wurde, deutete er die vorhergehende Geschichte so, dass die Begegnung der Maria Magdalena am Grab die Ersterscheinung war, folgte dabei aber einer eigenen Überlieferung.
Es ist wahrscheinlicher, dass eine Tradition von einer Ersterscheinung vor Maria Magdalena unterdrückt wurde, als dass sie nachträglich entstanden ist. Wahrscheinlich wurde eine Erscheinung in der Nähe des Grabes (wie in Joh 20,1–18) in die Geschichte vom leeren Grab verwandelt: Der „junge Mann“, den Maria Magdalena in ihm trifft, war ursprünglich Jesus selbst.30 Schon der sekundäre Mk-Schluss hat das Ende des Mk-Evangeliums wohl so ver28 Für die Historizität der Protophanie vor Maria Magdalena: M.Hengel, Maria Magdalena und die Frauen als Zeugen, in: O.Betz u. a. (Hg.), Abraham unser Vater, 1963, 243–256. 29 Vgl. J.Gnilka, Das Evangelium nach Markus II, 1979, 353. 30 Drei weitere Beobachtungen passen zu unserer Annahme, dass der „junge Mann“ ursprünglich Jesus selbst war, ohne dass sie das beweisen: (1) Engel werden im NT nie als „Jünglinge“ (neaniskoi) bezeichnet. Der „Jüngling“ wird erst in Mt 28,2.5 zum Engel. Lk 24,4 verdoppelt ihn zu zwei Gestalten und (in Verbindung mit 24,23) zu zwei Engeln. Beide Seitenreferenten, die mit Engeln rechnen, nennen ihn aber nie einen „Jüngling“. Mt spricht von einem Engel (Mt 28,2), Lk von zwei Männern (24,4) und Engeln (24,23). Aber das EvPetr 13 [55] spricht im Anschluss an das MkEv von einem „Jüngling“ im Grab, der nicht Jesus ist. (2) Mt und Lk machen erzählerisch die Identifikation mit Jesus unmöglich: In Mt 28,2 steigt der Engel vom Himmel herab, befindet sich also nicht wie bei Mk im Grab. Lk 24 spricht von zwei Engeln im Grab. Nur im MkEv (und im EvPetr) treffen die Frauen einen einzigen „jungen Mann“ genau dort, wo sie Jesus suchen: im Grab. (3) Die bei Mt und Lk vollzogene sekundäre Deutung des „Jünglings“ als Engel ist historisch denkbar: Im Hirten des Hermas erscheint ein Engel als „Jüngling“ (neaniskos) (Vis II,4,1; III,10,7). Vorneutestamentlich begegnen in 2Makk 3,26.33 zwei junge Männer (neaniai) in prachtvollen Gewändern in der Funktion von Engeln.
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Vierter Teil: Passion und Ostern
standen und basiert wahrscheinlich auf Versionen von einer Begegnung am Grab als Ersterscheinung vor Maria Magdalena. Zwei Frauen sind dann als Zeugen hinzugekommen – so wie Petrus in der Verklärungsgeschichte zwei weitere Zeugen erhalten hat. Die große Bedeutung der Maria Magdalena, die in den Frauenlisten an erster Stelle steht (Mk 15,40 f.47; 16,1 par; Lk 8,2f; 24,10), ließe sich durch solch eine Ersterscheinung des Auferstandenen vor ihr gut erklären. 5.3 Die Erscheinung vor Jakobus
Dass auch Jakobus eine Erscheinung erfahren hat, wird durch Paulus in 1Kor 15,7 bezeugt, der Jakobus zwei bis drei Jahre nach Jesu Tod in Jerusalem getroffen hat (Gal 1,19). Die formelhaft berichtete Erscheinung in 1Kor 15,7 wird durch ein Fragment des Hebräerevangeliums in einer eindeutig sekundären Erzählung bestätigt: Als aber der Herr das Leintuch dem Knecht des Priesters gegeben hatte, ging er zu Jakobus und erschien ihm. Jakobus hatte nämlich geschworen, er werde kein Brot mehr essen von der Stunde an, in der er den Kelch des Herrn getrunken hatte, bis er ihn von den Entschlafenen auferstanden sehe. Und kurz darauf sagte der Herr: Bringe einen Tisch und Brot! Und sogleich wird hinzugefügt: Er nahm das Brot und dankte und brach es und gab es Jakobus dem Gerechten und sprach zu ihm: ‚Mein Bruder, iss dein Brot, denn der Menschensohn ist von den Schlafenden auferstanden‘.31
Davon, dass Jakobus beim Abschiedsmahl Jesu anwesend war und den „Kelch des Herrn“ getrunken hat, wissen die Evangelien nichts. Sein Schwur, bis zur Begegnung mit seinem auferstandenen Bruder kein Brot zu essen, ist ein Echo der Worte Jesu beim Abschiedsmahl, er werde keinen Wein trinken, bis er ihn neu im Reich Gottes trinkt. Der Hungerstreik von Jakobus betont, wie wichtig ihm die Begegnung mit dem auferstandenen Bruder ist. Dadurch dass der Auferstandene einem Knecht der Hohepriester sein Leintuch gegeben hat, wird suggeriert, dass Jakobus die Ersterscheinung gehabt hat. Denn Jesus hat gerade erst sein Grab verlassen. 5.4 Die Erscheinung vor Paulus
Paulus schildert sein Damaskuserlebnis als visionäres (Seh-)Erlebnis. Nach der traditionellen Formel in 1Kor 15,8 folgen Stellen in Gal, 1Kor und 2Kor mit einer zunehmenden Verinnerlichung des Erlebens. Die älteste (vorpaulinische) Überlieferung spricht von einer Erscheinung des Auferstandenen in der Sprache alttestamentlicher Gottes- und Engelserscheinungen: Wenn der Auferstandene erschien (ōphthē) (1Kor 15,8), so umschließt das ein Sehen. Doch wird auch die
31 EvHebr 5, bei Hieronymus, de vir. ill. 2,12f. Vgl. Chr.Markschies/J.Schröter, Antike christliche Apokyryphen in deutscher Übersetzung, Bd I, 2012, 605.
Jesus als Auferstandener: Ostern und seine Deutung
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Erscheinung vor 500 Gemeindegliedern mit ōphtē beschrieben. Wenn das Pfingsterlebnis gemeint ist, wäre das eher ein ekstatisches Erleben gewesen. Im Galaterbrief sagt Paulus, dass Gott seinen Sohn in ihm „offenbarte“ (Gal 1,16). Diese Offenbarung geschieht „in“ oder „an“ Paulus (en emoí). Paulus ist überzeugt, dass sie durch Gott bewirkt wurde – wahrscheinlich in seinem Innern. Denn wenig später schreibt er über diese große Veränderung in seinem Leben: „Ich bin mit Christi gekreuzigt. Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Denn was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes“ (Gal 2,19f). Hier beziehen sich die parallelen Wendungen „in mir“ und „im Glauben“ auf das Innere des Paulus. In 1Kor 9 spricht Paulus von einem Sehen Jesu: „Bin ich nicht ein Apostel? Habe ich nicht unsern Herrn Jesus gesehen?“ (1Kor 9,1). Auch hier klingt alttestamentliche Sprache an: Jesaja sah den Herrn auf seinem hohen Thron sitzen (Jes 6,1), befand sich aber dabei auf Erden. Ebenso schaute Paulus auf Erden den himmlischen Christus. Die anderen Apostel hatten ihm voraus, dass sie schon dem irdischen Jesus nachgefolgt waren. Ihre Erscheinungen werden als Begegnungen mit dem Auferstandenen auf unserer Erde dargestellt. Paulus wurde dagegen direkt vom Himmel aus berufen. Dieser Unterschied zwischen Paulus und den anderen Aposteln hat wohl bei der Wiedergabe der Tradition in 1Kor 15,3–8 eine Rolle gespielt. Paulus fügt seine eigene Erscheinung als „Missgeburt“ zur Kette der anderen Erscheinungen. Möglicherweise wäre sie eine „normale“ Geburt gewesen, wenn er den auferstandenen Jesus wie die anderen Apostel auf Erden erlebt hätte, während Paulus ihn als Erscheinung vom Himmel her erfahren hat. Deswegen hat er wohl die Erscheinung vor 500 Gemeindegliedern in die Zeugenkette aufgenommen. Denn das hinter dieser Massenerscheinung vermutete Pfingsterleben bezog sich auch auf eine „Erscheinung“ vom Himmel her (Apg 2,2). Damit war klar: Die Erscheinung vor Paulus war diesen Erscheinungen gleichwertig. Eine Erscheinung vom Himmel her meint auch die Erleuchtung durch die Herrlichkeit Jesu Christi im zweiten Korintherbrief. Gemeint ist das Schöpfungslicht des jenseitigen Gottes. Ort der Erleuchtung ist das Herz des Paulus: „Denn Gott, der sprach: Licht soll aus der Finsternis hervorleuchten, der hat einen hellen Schein in unsre Herzen gegeben“ (2Kor 4,6). Da Paulus hier nur wenig an urchristliche Formelsprache anknüpft, ist dies seine persönlichste Deutung des Damaskuserlebnis: In einer Lichterscheinung, die er als Erneuerung des Schöpfungslichts deutet, war für ihn Gottes Herrlichkeit vom Angesicht des Moses auf das Angesicht Jesu Christi übergegangen (3,12–18).32 Die Erzählüberlieferungen der Apg bestätigen die Erscheinungen des Paulus. Es sind Erscheinungen vom Himmel her, finden aber im Inneren des Paulus statt. Denn Paulus sieht nach Apg 9,3–9 ein strahlendes Licht und hört eine Stimme vom Himmel. Seine Begleiter hören die Stimme, sehen aber nicht das Licht. In Apg 22,9 wird umgekehrt erzählt, dass seine Begleiter das Licht sehen, aber die Stimme nicht hören. Einmal ist das Sehen, dann 32 Manche zögern, diese Stelle auf das Damaskuserlebnis zu beziehen, da es von einem inneren Erlebnis spricht, Paulus deutet hier seine Begegnung mit dem Auferstandenen als Begegnung mit der Schöpfermacht Gottes. So Th.Schmeller, Der zweite Brief an die Korinther (2Kor 1,1–7,4), 2010, 246–250.
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das Hören der Stimme eine innere Erfahrung des Paulus. Der Unterschied lässt sich erklären: Nach der ersten Erzählung wurde nur Paulus blind, nicht aber die Begleiter, die ihn nach Damaskus führen. Durch die Erscheinung konnte er ja nur dann erblinden, wenn er den Erhöhten gesehen hat und dadurch geblendet wurde. In beiden Erzählvarianten hat Paulus eine Wahrnehmung, die andere in der gleichen Situation nicht haben, also eine Halluzination, in denen Menschen etwas sehen oder hören, das in ihrem Innern stattfindet, aber es dissoziativ so wahrnehmen, als sei es ein äußeres Geschehen. Der Grund dafür ist, dass wir in dissoziativen Zuständen nicht zu allen Teilen unseres Bewusstseins Zugang haben. In der Antike war man überzeugt, dass solche Erfahrungen einem objektiven Geschehen entsprechen. Daher konnten andere Menschen an ihnen teilnehmen. In unserem Falle nehmen sie freilich nur die Stimme oder nur die Lichterscheinung wahr. Ein Vergleich hält die Beziehungen zwischen der Apg und den Selbstaussagen des Paulus fest: Erzählungen der Apostelgeschichte
Das eigene Zeugnis des Paulus
Apg 9,3–19: Erscheinungsbericht des Autors der Apg:
Phil 3,4–11 Selbstbericht des Paulus:
Die Bekehrung des Paulus durch eine subjektive Vision mit Erblindung und öffentlich sich ereignender Audition, die auch seine Begleiter hören. Ananias gibt seine Offenbarung über Paulus nicht weiter, heilt und tauft ihn.
Seine Bekehrung als radikale Umorientierung durch die Erkenntnis Jesu Christi, Abwertung der vorchristlichen Zeit als „Schaden“ und „Dreck“.
Apg 22,3–21: Der Erscheinungsbericht als Zeugnis des Paulus vor dem Volk mit subjektiver Audition und öffentlicher Vision. Paulus wird in Damaskus zum Missionar, im Jerusalemer Tempel zur weltweiten Heidenmission berufen.
Gal 1,16: „Ich habe mich nicht mit Fleisch und Blut beraten“. Gal 1,17: „noch ging ich hinauf nach Jerusalem“. Röm 15,19: Aber „von Jerusalem beginnend …“ hat Paulus missioniert.
Apg 26,2–23: Der Erscheinungsbericht als Zeugnis des Paulus vor König Agrippa II.: Die Berufung des Paulus geschieht durch eine subjektive Audition und eine öffentliche Vision. Ananias wird nicht erwähnt.
Gal 1,15f: Berufung des Paulus als Prophet: ausgesondert vom Mutterleib an (Jes 49,1); berufen zum Missionar, „seinen Sohn zu offenbaren (apokalypsai) in mir“. Nach Aufenthalt in Arabien Rückkehr nach Damaskus.
5.5 Die Gruppenerscheinung vor elf Jüngern
Nach der Geschichte vom leeren Grab gehen die Erzählungen in den Evangelien auseinander. Bei der Gruppenerscheinung vor elf Jüngern sind die Unterschiede zu groß, als dass sie voneinander abhängig sein können, die Übereinstimmungen aber groß genug, um auf dasselbe Geschehen zu schließen, zumal auch die Formeltradition Gruppenerscheinungen bezeugt. Die Formelüberlieferung in 1Kor 15,3–8 und die Erzählüberlieferung in den Evangelien haben nur die Erscheinung vor den Zwölfen gemeinsam, wobei die „Zwölf“ in den Evangelien elf Jünger geworden sind (Mt 28,16; Lk 24,9.33). Die Erscheinungen sind mit einem Auftrag verbunden. Formel- und Erzählüberlie-
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ferung sind unabhängig voneinander. Das LkEv könnte freilich 1Kor 15,3–8 gekannt haben, da bei ihm Kenntnis der Paulusbriefe möglich ist. Doch erwähnt Lk 24,34 die Petruserscheinung als Erscheinung vor „Simon“ und nicht vor „Kephas“, wie Petrus in 1Kor 15,5 heißt.
Die Gruppenerscheinung vor den Jüngern hat in der Überlieferung besondere Merkmale: (1) Ihr geht die Ersterscheinung vor Petrus voran (1Kor 15,3–5): Beide werden zusammen erwähnt (Mk 16,7). Wahrscheinlich hat Petrus den Jüngerkreis nach seiner Ostererscheinung wieder gesammelt, so dass sie zusammen als Gruppe den Auferstandenen erleben konnten. (2) Dabei schwankt die Zahlenangabe zwischen zwölf und elf Jüngern. Judas war durch Verrat ausgeschieden. Die „Zwölf“ aber waren mit der Aufgabe verbunden, die zwölf Stämme zu repräsentieren und Israel zu erneuern. Diese Aufgabe blieb. Dazu passt, dass (3) Erscheinungsberichte vor den elf Jüngern Auftragserscheinungen sind. Als Ursprungerzählung der Kirche hatten sie eine soziale Funktion und wurden deswegen die wichtigsten Erscheinungen. Ein Ergebnis ist: Wir müssen mit zwei ursprünglichen Erfahrungstypen rechnen: Identifikations- und Auftragserscheinungen. Auftragserscheinungen waren für die Legitimation der neuen Gruppe entscheidend. Daher hatten sie mehr Chancen, sich durchzusetzen. Die Identifikationserscheinungen lassen erkennen, dass die Betroffenen unsicher waren, was sie erlebt hatten. In 1Kor 15,3–9 werden diese Identifikationserscheinungen nicht erwähnt. In ihnen wurde der Auferstandene nicht sofort erkannt. Ein Motiv der Verunsicherung findet sich zwar in allen Erscheinungstraditionen. Petrus konnte den Auferstandenen nicht angemessen einordnen. Das aber bedeutet: Wenn die ersten Erscheinungen Jesu vor Maria Magdalena in Jerusalem und vor Petrus in Galiläa von Unsicherheit zeugen, bewahren sie ein uraltes Motiv. Auch bei der Erscheinung vor den Zwölfen heißt es, dass einige zweifelten (Mt 28,17). Außernormale Erfahrungen sind nicht standardisiert und ereignen sich in vielen Formen. Mit Aufnahme in das Erzählrepertoire einer Gemeinschaft tritt aber eine Tendenz zur Vereinheitlichung ein. Gilt das aber auch für die Erzählung vom leeren Grab?
6. Historische Kritik der Grabeserzählungen Überlieferungen vom leeren Grab sind in allen kanonischen Evangelien und im EvPetr in vergleichbarer Weise enthalten. Einige sekundäre Elemente lassen sich leicht erkennen, z. B. der Wettlauf des Petrus mit dem Lieblingsjünger im JohEv. Das Problem ist: Es gibt keine Parallelüberlieferung in der Formeltradition, obwohl Jesu Begräbnis in 1Kor 15,4 bezeugt wird. Dennoch gibt es immer wieder Versuche, dem leeren Grab eine Schlüsselrolle bei der Rekonstruktion der Osterereignisse (H.v.Campenhausen) oder als deren Bestätigung (W.Pannenberg) zu geben. Die Argumente pro und contra einer Historizität des leeren Grabes zeigen freilich, wie schwer es ist, das leere Grab historisch zu beurteilen. 1. Pro: Die Auferstehungsbotschaft konnte in Jerusalem nicht verkündigt werden, wenn in einem ungeöffneten Grab der Leichnam Jesu gewesen wäre. Der Erfolg der Osterbotschaft in Jerusalem wäre ohne ein leeres Grab undenkbar.
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Contra: Der Auferstehungsglaube verträgt sich mit dem Wissen um ein Begräbnis und ungeöffnetes Grab. Herodes Antipas glaubt, Jesus sei der Täufer, der „von den Toten auferweckt worden sei“, obwohl der Täufer begraben worden war (Mk 6,14.29). Da es sich um eine „Rückkehr“ ins irdische Leben handelt, läge hier die Frage nach einem leeren Grab erst recht nahe! Jesus selbst bezeugt den Glauben, dass Abraham, Isaak und Jakob als Auferstandene bei Gott sind (Mk 12,18–27). Gleichzeitig wurden die Gräber der Patriarchen verehrt, ohne dass ein Gerücht bezeugt ist, sie seien leer. Vgl. zu Abrahams Grab in Hebron (Ant 1,256; Bell 4,532). 2. Pro: Paulus bezeugt in 1Kor 15,4 ein Begräbnis Jesu und muss nach den Prämissen seines Auferstehungsglaubens an einen verwandelten Leib ein leeres Grab voraussetzen. Der jüdische Glaube an die leibliche Auferstehung impliziert im Unterschied zum Glauben an die Unsterblichkeit der Seele die Annahme eines leeren Grabs. Contra: Nach 2Kor 5,1 betrachtet Paulus den Körper als die alte „Hütte“, die beim Tod abgebrochen wird, Gott gibt den Gestorbenen eine neue „Hütte“. Die alte Hütte ist der verwesende Leib. Paulus muss kein leeres Grab voraussetzen, wenn er in diesen Bildern denkt. Doch waren die Bilder der Auferstehungshoffnung im Judentum viel zu variabel, um einen sicheren Schluss zu ermöglichen. Nach Lk 23,43 verspricht der Gekreuzigte einem der Mitgekreuzigten, er werde noch heute mit ihm im Paradies sein. Auch Paulus hofft nach Phil 1,23 unmittelbar nach seinem Tod bei Christus zu sein. Nach äthHen 22 ruhen die Leiber der Verstorbenen bis zum jüngsten Tag in ihren Gräbern, während ihre Geister in himmlischen Kammern aufbewahrt werden (vgl. auch Jub 23,31). Auf keinen Fall kann man also aus generellen Vorstellungen im Judentum über das Schicksal von Körper und Seele nach dem Tode postulieren, dass das Grab leer sein musste, um an eine Auferstehung glauben zu können. 3. Pro: Der Vorwurf, die Jünger hätten den Leichnam Jesu gestohlen, setzt die Existenz eines leeren Grabes voraus. Nicht sein Faktum, sondern seine Deutung ist zwischen Anhängern und Gegnern der Auferstehungsbotschaft umstritten. Contra: Die Überlieferung vom Grabesraub setzt nicht das Faktum des leeren Grabes voraus, sondern nur eine Überlieferung, die von einem leeren Grab berichtet. Aber selbst wenn sie ein leeres Grab als gesichert voraussetzen würde, müsste es nicht Jesu Grab sein. In der Nähe Golgathas liegen viele archäologisch nachweisbare Gräber. Mit einem dieser Gräber könnte sich die Geschichte vom leeren Grab verbunden haben – falls nicht ein dort vorhandenes leeres Grab die Geschichte erst hervorgerufen hat. 4. Pro: Die Grablegung durch Joseph von Arimathia ist im MkEv gut bezeugt. Der Fund eines Gekreuzigten in Givʿat ha-Mivtar (im Nordosten des heutigen Jerusalems) zeigt, dass es denkbar war, dass die Leiche eines Hingerichteten an nahestehende Personen ausgeliefert und von ihnen bestattet wurde.33 33 Vgl. H.W.Kuhn, Der Gekreuzigte von Givʿat ha-Mivtar. Bilanz einer Entdeckung, in: Theologia crucis – Signum crucis, 1979, 303–334.
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Contra: Wer die Überlieferung vom leeren Grab bezweifelt, tendiert meist dazu, auch die Grablegung durch Josef von Arimathia in Zweifel zu ziehen. Diese Grablegungsgeschichte wäre entstanden, weil die ersten Christen den Gedanken nicht ertrugen, dass Jesus nicht ehrenhaft begraben worden sei. Sie konnten dabei an ein in der Nähe der Hinrichtungsstätte liegendes ungenutztes Grab des Joseph von Arimathia anknüpfen. In Apg 13,29 ist eine konkurrierende Tradition erhalten, nach der „die Jerusalemer“ (im Plural) Jesus vom Kreuz abnahmen und begruben. Nach Joh 19,31 sind es „die Juden“, die Pilatus um die rechtzeitige Abnahme der Gekreuzigten vor dem Sabbat bitten. Möglicherweise ist also Jesus zusammen mit den mitgekreuzigten Verbrechern anonym beerdigt worden. Doch Überreste des Gekreuzigten von Givʿat ha-Mivtar legen nahe, dass er durch seine Familie bestattet wurde; bei ihm fand man die Knochenreste eines Kindes. Die einst verbreitete Annahme, Jesus sei anonym zusammen mit anderen Hingerichteten bestattet worden, ist keineswegs gesichert. Zu bedenken ist ferner: Zwar waren Jünger geflohen, sie kannten das Grab nicht, wohl aber die Frauen, die Jesus begleitet hatten. Doch warum reagiert Maria Magdalena nach einem Blick in das offene Grab mit den Worten: „Ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben“ (Joh 20,13)? 5. Pro: Der jüdische Brauch, Märtyrer- und Heiligengräber zu verehren (J. Jeremias), lässt eigentlich einen auf das Grab Jesu ausgerichteten „Heiligenkult“ erwarten, falls man von seinem Grab wusste. Dass sich solch ein Brauch nicht entwickelte, lässt sich erklären, wenn das Grab leer und der zu verehrende Heilige abwesend war. Contra: Auch ein leeres Grab hätte als Ort des Auferstehungswunders kultisch verehrt werden können, wie es in der Grabeskirche bis heute geschieht. Vor allem ist zu bedenken: Leere Felsengräber bewiesen damals nichts: Wenn nach einem Jahr das Fleisch verwest war, wurden die Knochen in Ossuarien gesammelt. Diese Sekundärbestattung war nur im Umkreis von Jerusalem und nur in neutestamentlicher Zeit ein Brauch: Nicht das Grab, sondern die Ossuarienkiste mit den Gebeinen wäre Gegenstand solch eines „Reliquienkults“ geworden.34 6. Pro: Die Überlieferungen vom leeren Grab sind in den Evangelien widersprüchlich genug, dass sie voneinander unabhängig sind, aber stimmen genug überein, um sich zu bestätigen: In den Synoptikern entdecken die Frauen ein leeres Grab. In Joh 20,1–18 entdeckt Maria Magdalena nur ein offenes Grab und kommt durch eine Erscheinung Jesu außerhalb des Grabes zum Glauben an Jesu Auferstehung. Contra: Im JohEv entdeckt Maria Magdalena nur ein offenes Grab, betritt es aber nicht. Grund ihres Glaubens an die Auferstehung Jesu ist ihre Begegnung mit einem Unbekannten nahe am Grab, der sich als Jesus zu erkennen gibt. Das JohEv macht so deutlich, dass das leere Grab die Auferstehungsbotschaft nur in Verbindung mit einer Erscheinung in der Nähe des Grabes begründet. Auch Mk 16 lässt noch die Entstehung solch einer Erzählung 34 Zu den Heiligengräbern vgl. J.Jeremias, Heiligengräber in Jesu Umwelt, 1958. Zu den Ossuaren R.Wenning. Art. Ossuar, NBL 3 (2001) 53 f.
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erkennen. Die Frauen gehen in das geöffnete Grab und werden dort mit der Botschaft des „jungen Mannes“ konfrontiert: „Er ist auferstanden!“ Danach erst folgt die Feststellung, er sei nicht hier. Auch hier ist also die Wortverkündigung das Primäre. Im Matthäusevangelium wälzt ein „Engel“ den Stein vom Grab, und verkündet von ihm aus die Auferstehungsbotschaft außerhalb des Grabes. Das Sehen des leeren Grabes folgt hier noch deutlicher erst der Auferstehungsverkündigung. Mk und Mt lassen also noch erkennen, dass die Verkündigung der Auferstehung am Anfang stand und die Geschichte vom leeren Grab ihr folgte. Erst im LkEv suchen die Frauen vergeblich im leeren Grab nach Jesus und hören danach erst als Erklärung für das leere Grab die Botschaft von seiner Auferstehung. 7. Pro: Die Grabesgeschichte wird auf das Zeugnis von Frauen zurückgeführt. Bei einer erfundenen Geschichte, hätte man „zeugnisstärkere“ Männer erfunden, um das leere Grab zu bezeugen, z. B. Joseph von Arimathia. Die in damaligen Zeiten schwächeren Zeuginnen sprechen für die Echtheit der Überlieferung. Contra: Das Schweigemotiv bei Mk spricht für eine sekundäre Erfindung der Geschichte. Die Frauen sagen aus Furcht nichts von der Entdeckung des leeren Grabes, damit plausibel wird, warum man so lange nichts vom leeren Grab wusste. Sie werden von dem „jungen Mann“ vielleicht deshalb zu den Jüngern und zu Petrus geschickt, damit „zeugnisstärkere“ Männer für ihre Überlieferung eintreten. Richtig ist: Die Frauen, deren Zeugnis damals weniger Gewicht hatte, sprechen für eine echte Erinnerungsspur in dieser Überlieferung. Maria Magdalena hat wahrscheinlich in der Nähe des Grabes eine Erscheinung Jesu gehabt (Joh 20,1–2.11–18). Vermutlich war diese Tradition schon vor Mk in die Erscheinung eines anonymen jungen Mannes vor Maria Magdalenas und anderen Frauen verwandelt worden. Er wird im MkEv nicht „Engel“ genannt. Ursprünglich war es Jesus. Aus einer Begegnung mit Jesus wurde aber schon im MkEv eine Begegnung mit einem „Engel“, der die Frauen auf Petrus und die Jünger verweist und damit ihr Zeugnis deren Zeugnis unterordnet. 8. Pro: Die Lage des unter Konstantin „entdeckten“ Grabes enthält eine alte Erinnerungsspur: Das Grab wurde in der Stadt unter einem Venustempel entdeckt, der nach Gründung von Aelia Capitolina 136 n. Chr. gebaut worden war. Da antike Gräber außerhalb der Stadt liegen, hätte niemand ohne eine alte Lokaltradition nach Jesu Grab mitten in der Stadt gesucht. Golgatha lag in der Zeit Jesu dagegen tatsächlich außerhalb der Stadtmauern. Denn erst Herodes Agrippa I. ließ zwischen 41 und 44 n. Chr. eine „dritte Mauer“ errichten, durch die Golgatha und das Grab innerhalb dieser Mauern zu liegen kam. Daher ist wahrscheinlich, dass es schon im 1. Jh. eine in die Zeit vor 40 n. Chr. zurückreichende Lokaltradition gab, die Jesu Grab dort lokalisierte, wo es heute in der Grabeskirche verehrt wird. Contra: Die Lokaltradition vom leeren Grab könnte auch sehr viel später entstanden sein. Nachdem Hinrichtungsstätte und Gräberfeld in die Stadt einbezogen worden waren, musste dieses Feld erst gereinigt werden: Juden bauten keine Häuser auf Friedhöfen. Als Herodes
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Antipas die Stadt Tiberias auf einem Friedhof baute, war das ein Skandal (Ant 18,38). Solange man in Jerusalem noch wusste, dass vor der Stadt in Golgatha Menschen hingerichtet und in der Nähe begraben wurden, konnte die Hinrichtungsstätte und das Grab Jesu auch sehr viel später dort gesucht werden, als schon lange keine Augenzeugen mehr existierten. Orte der Hinrichtung werden lange erinnert, nachdem sie nicht mehr benutzt wurden. Auch wenn man mit einer später entstandenen Lokaltradition rechnet, reicht sie freilich lange in der Zeit zurück. 9. Pro: Der archäologische Befund35 des in der Grabeskirche vorhandenen „Grabes“ stimmt überzufällig mit dem literarischen Befund überein: Es ist ein „neues Grab“. Es fehlen die kleinen Grabkammern (loculi), die von der Hauptkammer ausgehen, es liegt in der Nähe Golgathas in einem aufgegebenen Steinbruch, der als Garten hat dienen können. All das passt zu Joh 19,4: „Es war aber an der Stätte, wo er gekreuzigt wurde, ein Garten und im Garten ein neues Grab, in das noch nie jemand gelegt worden war“. Die joh Überlieferung setzt ein Grab voraus, wie wir es heute sehen können. Contra: Die Übereinstimmung zwischen literarischem und archäologischen Befund lässt sich auch anders erklären: An die Existenz eines in der Nähe Golgathas gelegenen ungenutzten Grabes knüpfte sich sekundär die Geschichte von der Auffindung des leeren Grabes. Dieses neu angelegte Grab wurde nicht weiter ausgebaut. Denn die Golgatha wurde seit 41–44 n. Chr. nicht mehr als Grablegungsstätte benutzt, weil sie durch den Mauerbau des Herodes Agrippa Teil der Stadt geworden war. Innerhalb einer Stadt durfte es keine Friedhöfe geben. Das neue Grab muss kurz vor diesem Mauerbau angelegt worden sein. Es musste unter den ausgebauten Gräbern auffallen und könnte tatsächlich das Grab gewesen sein, in das Jesus nach seiner Kreuzigung gelegt wurde, könnte aber auch nachträglich mit ihm identifiziert worden sein: Als Christen sich fragten, in welchem Grab Jesus begraben worden war, wählten sie dieses neue Grab aus, das einem Josef von Arimathia gehörte. Deshalb entspricht die Geschichte in „überzufälliger Weise“ den örtlichen Gegebenheiten. Das JohEv, das auch sonst mehrere Jerusalemer Ortstraditionen verarbeitet, hat auf jeden Fall Jesu Grab mit diesem „neuen Grab“ identifiziert (19,41). Dennoch ist bemerkenswert, dass wir die Grabestradition bis in die Zeit vor 41 n. Chr. zurückverfolgen können. Fazit: Mit historisch-kritischen Methoden lässt sich das leere Grab weder beweisen noch widerlegen. Dennoch lässt eine neuere Rekonstruktion der Osterereignisse das leere Grab wieder „auferstehen“ und stützt sich dabei auf medizinische Überlegungen: Die Unfallchirurgie kennt bei Verletzungen im Brustinneren das Phänomen, dass sich Wasser und Blut in der Pleurahöhle sammelt und es danach zur Ohnmacht aufgrund von Atemnot kommt. Ist nur ein Lungenflügel betroffen, kann der Verletzte überleben, wenn durch Punktierung das Blutgemisch abgelassen und die Lunge wieder aktiv werden kann. J.Fried, Kein Tod auf Golgatha*, 2019, hat mit Hilfe dieser Analogie Ostern gedeutet: Jesus habe die Kreuzigung aufgrund eines Lanzenstichs in seine Seite überlebt, der durch eine unbeabsichtigte Punktierung sein Leben gerettet habe (Joh 19,34f). Jesus habe sich danach im 35 Vgl. M.Küchler, Jerusalem, 2007, 409–483, bes. 426–433.
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Grab erholen und das Grab als Lebender verlassen können. Aber zu viele Argumente sprechen gegen diese an sich bestechende Rekonstruktion: 1. Die Überlebenschancen einer Kreuzigung waren auch bei vorzeitiger Abnahme vom Kreuz sehr gering. Josephus erzählt, dass er gegen Ende des jüdischen Kriegs bei der Rückkehr von einer Mission unter gekreuzigten und noch lebenden Kriegsgefangenen drei seiner Verwandten entdeckt und Titus unter Tränen davon berichtet. Der ließ sie vom Kreuz abnehmen und pflegen. Nur einer überlebte (Jos Vita 420f). Da Jesus keine Pflege im Grab erhielt, wäre sein Überleben unwahrscheinlich. 2. Nach der Kreuzigung hören wir im Matthäusevangelium von dem Verdacht, die Jünger wollten den Leichnam stehlen, weshalb Pilatus das Grab bewachen ließ (Mt 27,62–66). Warum entstand damals kein Gerücht, dass er gegen alle Erwartung seine Kreuzigung überlebt hat? Das Gerücht vom Leichendiebstahl der Jünger geht auf jeden Fall von der Annahme aus, dass Jesus wirklich gestorben ist. 3. Wenn das JohEv in 19,34f nachdrücklich die Wahrheit dieser Episode „beschwört“, muss man historisch-kritisch den Verdacht haben: Ihre Wahrheit wird beschworen, weil sie umstritten oder nicht bekannt war. Dafür spricht: Alle Jünger waren geflohen. Das JohEv mildert ihr Versagen, indem es den Lieblingsjünger als einzigen am Kreuz anwesend sein lässt. Der verspricht dem sterbenden Jesus, sich um dessen Mutter zu kümmern. So wie die Anwesenheit des Lieblingsjüngers in dieser Szene am Kreuz eine nachträgliche Dichtung ist, so auch der danach erzählte Lanzenstich, für den die Erzählung den Lieblingsjünger noch einmal als indirekten Zeugen braucht, steht er doch für das Zeugnis des Soldaten ein, der den Lanzenstich durchgeführt hat. 4. Die Erzählung beruft sich nicht nur auf lebendige Zeugen, sondern daneben auf das Zeugnis des Propheten Sacharja in der Schrift, der geweissagt hat: „Sie werden den sehen, den sie durchbohrt haben“ (Sach 12,10 vgl. Joh 19,37). Dieses Zitat begegnet unabhängig von der Passionsgeschichte in einer Vision des erhöhten Christus in der Apokalypse: „Siehe, er kommt mit den Wolken, und es werden ihn sehen alle Augen und alle, die ihn durchbohrt haben, und es werden wehklagen um seinetwillen alle Geschlechter der Erde.“ (Apk 1,7). Die schöpferische Kraft solcher Schriftworte hat nachweislich oft bei der Ausgestaltung der Passionsgeschichte mitgewirkt, auch wenn in Joh 19 nicht „alle“, sondern nur ein Soldat den Gekreuzigten mit seiner Lanze sticht. Der Plural, dass ihn „alle, die ihn durchbohrt haben“, sehen, stimmt mit der Passionsgeschichte des JohEv überein, weil Jesus schon vorher von mehreren Soldaten (vgl. den Plural in Joh 19,23f) an Händen und Füßen durchbohrt worden war. 5. Das Durchbohren hat einen historischen Haftpunkt: Kreuzigungen wurden oft durch Annageln der Hände und Füße vollzogen (wie bei den Füßen des Gekreuzigten von Givʿat ha-Mivtar zu sehen ist). Wenn Sach 12,10 sich auf etwas Historisches bezieht, dann gewiss auf das Durchbohren dieser Glieder. Das aber war ein richtiges Durchbohren. Nach der Scheintodhypothese darf der Lanzenstich die Brust Jesus aber nicht durchbohren, sondern durfte die Pleurahöhle nur anbohren. 6. Wahrscheinlich wurde die Durchbohrung von Händen und Füßen sekundär zu einem Lanzenstich entwickelt, weil die Erscheinung in Jerusalem vor Maria Magdalena mit der Unsicherheit verbunden war, wen sie wirklich gesehen hat. War es nicht eine andere Gestalt wie der Gärtner? Eindeutige Identifikationsmerkmale für Jesus konnten nicht die durchbohrten Hände und Füße sein. Durch Annagelung waren auch andere Gekreuzigte so hingerichtet worden. Der ungläubige Thomas will zwar auch anhand dieser Wunden Jesus erkennen, aber darüber hinaus vor allem an der Seitenwunde Jesu, die er sehen und berühren will, um Gewissheit zu erhalten, dass der Auferstandene Jesus ist. Die Seitenwunde wurde in dieser Erzähltradition zum individuellen Erkennungsmerkmal Jesu (Joh 20,24–29).
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Wie lässt sich die Grabesgeschichte deuten? Folgende Möglichkeiten seien skizziert: 1. Der durch Ostererscheinungen hervorgerufene Auferstehungsglaube führte zur Nachfrage nach dem Grab Jesu. Ein in der Nähe von Golgatha gelegenes ungenutztes Grab wurde sekundär als Grab Jesu gedeutet. Wo Jesus begraben war, wusste niemand. 2. Möglicherweise wusste man, wo Joseph von Arimathia ihn bestattet hatte. Die Frauen fanden dies Grab am Ostermorgen offen oder leer vor, schwiegen aber, weil sie nicht des Grabraubes beschuldigt werden wollten. Erst die Ostererscheinungen gaben dem „leeren Grab“ eine Deutung, die einem „Engel“ in den Mund gelegt wurde. 3. Am wahrscheinlichsten ist u. E. folgende Deutung: Maria Magdalena hatte in der Nähe des Grabes halluzinatorische Erfahrungen, in denen sie Jesus erkannte. Es handelt sich um erlebnisechte Trauervisionen, wie sie von vielen Menschen bezeugt sind. Vergleichbare „Identifikationserscheinungen“ wie die Erscheinung vor den Emmausjüngern folgten. Sie werden ebenso von einer Frau wie von Männern erzählt. Aber erst, als mehrere Jünger eine gemeinsame Erscheinung hatten und als „Auftrag“ zur Erneuerung ihrer Mission deuteten, wurde die Überzeugung: „Jesus lebt“ unter den Anhängern Jesu verbreitet. Eine „Verifikation“ durch ein leeres Grab war nicht nötig. Man erzählte damals oft von Traumerscheinungen verstorbener Menschen, ohne dass man postulierte, sie hätten das Grab verlassen.36 Die ersten Christen erwarteten vor allem, dass Jesus bald wiederkehrt. Darauf konzentrierte sich ihre Hoffnung, nicht auf das, was mit seiner Leiche nach seiner Kreuzigung geschehen war. In jedem Fall zeigt der Befund: Die Geschichte vom leeren Grab kann nur von den Erscheinungen her erhellt werden, nicht aber der Osterglaube vom leeren Grab her.
7. Die Ostererfahrungen. Versuch einer Rekonstruktion Die grundlegenden Erscheinungen Jesu geschahen vor Simon Petrus und Maria Magdalena. Erinnerungsspuren an sie finden wir im ältesten Evangelium, die Verklärungsgeschichte als Erinnerungsspur der Ersterscheinung vor Petrus, die (Engel)-Erscheinung am Grab als Erinnerungsspur der Ersterscheinung vor Maria Magdalena. Beide wurden transformiert in Gruppenerscheinungen ins MkEv aufgenommen: Jesus offenbart sich danach auf dem Berg der Verklärung nicht allein dem Petrus, sondern auch Johannes und Jakobus, der Engel am Grab erscheint nicht allein Maria Magdalena, sondern drei Frauen. Wenn weitere Zeugen hinzugefügt wurden, entspricht das der Zeugenregel (Dtn 19,15).37 Beide Erscheinungsberichte zeigen, dass unsicher war, wer in solchen Erscheinungen begegnete: Zählte der auf
36 Vgl. D.Zeller, Erscheinungen Verstorbener im griechisch-römischen Bereich, in: ders., Neues Testament und hellenistische Umwelt, 2006, 29–43. Eine jüdische Tradition erzählt von Glaphyra, dass ihr kurz vor ihrem Tod im Traum ihr toter Ehemann Alexander erschien und sie wegen ihrer Ehe mit Archelaos kritisiert (Ant 17, 349–353). 37 Dtn 19,15 formuliert die Zeugenregel für alle Vergehen (vgl. Mt 18,16; 2Kor 13,1; 1Tim 5,19).
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dem Berg verherrlichte Jesus zu den Ahnen wie Mose und Elia? War Maria Magdalena einem Menschen begegnet, einem Engel oder Jesus selbst? Die Erscheinung vor Maria Magdalena ist mit Jerusalem verbunden. Sie wurde im MkEv zur Begegnung der Frauen mit einem „jungen Mann“ (Mk 16,1–8). In Mt 28,2 f. wurde dieser junge Mann zu einem Engel und verdoppelte sich in Lk 24,4.23 zu zwei Engeln.38 Ursprünglich handelte es sich um eine Christuserscheinung vor Maria Magdalena. Das JohEv kennt sie als Erscheinung in Grabesnähe, der sekundäre Markusschluss als Ersterscheinung (Mk 16,9). Im JohEv erkennt Maria Magdalena Jesus zunächst nicht (Joh 20,14). Daher gab es Zweifel, ob Maria Magdalena wirklich Jesus gesehen hat. Die Trauervision der Maria Magdalena konnte als Engel- wie als Christuserscheinung gelten.39 Nach Lk 24,11 wurde den Worten der Frauen nicht geglaubt. Daher gelangte diese Erscheinung nicht in den „Kanon“ der grundlegenden Erscheinungen in 1Kor 15,3–8. Wie im ältesten Evangelium die Verklärungsgeschichte eine Erinnerungsspur der Erscheinung des Petrus ist, so die Grabesgeschichte eine Erinnerungsspur der Erscheinung vor Maria Magdalena. Sie sind die ältesten Erscheinungen und werden im ältesten Evangelium in verwandelter Form erzählt. Die Verklärungsgeschichte spielt anders als die Ersterscheinung vor Maria Magdalena in Galiläa – dort, wo nach Mk 14,28; 16,7 Petrus und die anderen Jünger dem Auferstandenen begegnen sollen. Diese Erscheinung konnte man so deuten, dass sich Jesus wie andere Ahnen aus dem Jenseits gemeldet hat. Die Erscheinung vor Maria Magdalena konnte man so deuten, dass ihr eine geheimnisvolle Gestalt erschienen war. Bei diesen beiden Ersterscheinungen gab es kein Vorverständnis davon, was in ihnen zu erwarten sei. Sie enthielten noch nicht die volle Osterbotschaft, wie sie sich erst aufgrund aller Erscheinungen herauskristallisierte. Deswegen werden sie im MkEv als Vorläufer von Selbstoffenbarungen Jesu erzählt, jedoch mit einem Unterschied: Die Erscheinung vor Petrus zeigt Jesus in göttlichem Glanz fast schon in der himmlischen Welt, in die Petrus auf einem hohen Berg Einblick hat. Die Identifikationserscheinung vor Maria Magdalena findet dagegen auf der Erde am Grab Jesu statt. Jesus betont ihr gegenüber, dass er noch nicht zum Vater zurückgegangen ist (Joh 20,17). Beide Erzählungen haben gemeinsam, dass Jesus am Anfang als „normaler“ Mensch erscheint. Die Verklärung verwandelt ihn nur vorübergehend in göttliche Herrlichkeit, aber am Ende kündigt Jesus seine Auferstehung an (Mk 9,9). Ebenso wird Maria Magdalena die Erscheinung Jesu vor den Jüngern nur angekündigt (Mk 16,7). Beide Erscheinungsberichte wurden so zu Vorläufern der eigentlichen Erscheinungen. Im Markusevangelium finden wir somit Erinnerungsspuren der beiden Ersterscheinungen in transformierter Gestalt. Teils wurden sie als Verklärung in die Zeit des Lebens Jesu zurückverlegt, teils zur Erscheinung eines Boten am Grab, der nicht Jesus ist, sondern auf Jesus verweist. Beide Relikte einer Ersterscheinung wurden im ältesten Evangelium relativiert, die Verklärungsgeschichte durch ein befristetes Schweigegebot (Mk 9,10), das die Jünger verpflich38 Hier ist direkt von Engeln die Rede. In Lk 24,4 fehlt noch die Bezeichnung als „Engel“. Wenn dort von „zwei Männern in glänzenden Kleidern“ die Rede ist, sind aber sicher Engel gemeint. 39 „Mark’s angelophany is a transmuted christophany“ vermutet auch D.C.Allison, Resurrecting Jesus*, 2006, 299–352, 335.
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tet, über das, was sie gesehen haben, zu schweigen, bis der Menschensohn von den Toten aufersteht. Dem Mk-Evangelisten ist noch bewusst, dass er als Verklärung etwas erzählt, was sich erst aufgrund der Auferstehung ereignet hat. Eine Relativierung der Grabesgeschichte ist der Auftrag des „jungen Mannes“ an Petrus und die Jünger, nach Galiläa zu ziehen, um dort Jesus zu sehen. Dadurch wird die Erfahrung am Grab zum Vorspiel späterer Erscheinungen vor den Jüngern, die mit einem Missionsauftrag die wichtigsten Erscheinungserzählungen wurden. Petrus hat nach seiner Ersterfahrung in Galiläa die anderen Jünger gesammelt. Jesus hatte ihnen verheißen, sie sollten Regenten der zwölf Stämme in der Königsherrschaft Gottes sein. Wenn Jesus trotz seiner Hinrichtung lebendig war, konnte ihre Sendung an die zwölf Stämme Israels weitergehen. Petrus konnte beim Rest der Zwölf das Sendungsbewusstsein wiederbeleben. Es war mit Jesu Kreuzigung zusammengebrochen, erlebte aber Ostern eine Auferstehung. Eine Gruppenerscheinung hat die Jünger darin bestärkt. Die Berichte stimmen darin überein, dass sie im Freien stattgefunden hat. Unsere Rekonstruktion ist also: In den Erscheinungen vor Petrus und Maria Magdalena sind Elemente von Unsicherheit und Unwissenheit Relikte der Ersterscheinungen, bei denen den Betroffenen erst mühsam klar wurde, wen sie gesehen hatten und wie sie es deuten sollten. Sie wurden im ältesten Evangelium als Verklärung auf dem Berg und als Begegnung mit einem unbekannten „jungen Mann“ am Grab erzählt. Dadurch wurden sie zu Vorstufen der eigentlichen Begegnungen mit dem Auferstandenen. Im Jüngerkreis entstand erst durch eine Gruppenerscheinung ein erneuertes Sendungsbewusstsein. Auftragserscheinungen haben andere Erscheinungen an den Rand gedrängt. Denn nur sie begründeten die neu entstandene Gemeinschaft. Was die Jünger und Jüngerinnen in ihren Erscheinungen sahen, konnte Verschiedenes sein. Pfingsten zeigt: Diffuse Lichterscheinungen waren ausreichend, um von einem Erscheinen Jesu zu sprechen. Sie konnten sich erzählerisch zu Zungen mit Feuerflammen entwickeln, konnten aber auch als Erscheinung Jesu wie in 1Kor 15,6 überliefert werden. Das Pfingsterlebnis bzw. die Erscheinung vor 500 Gemeindegliedern setzt voraus, dass die Jünger aus Galiläa in die jüdische Hauptstadt zurückkehrten und Unterstützung bei vielen Sympathisanten fanden. Wie aber kam es zur Überlieferung vom leeren Grab? Wahrscheinlich wurde aus der Christuserscheinung der Maria Magdalena in der Nähe des Grabes die Überlieferung vom leeren Grab. Da Maria Magdalena in einem halluzinatorischen Erlebnis in Grabesnähe einen Menschen gesehen und in ihm Jesus erkannt hatte, konnte der Gedanke entstehen: Das Grab ist leer. Jesus muss es verlassen haben. Wenn dagegen Jesus wie in der Verklärungsgeschichte als Bewohner der himmlischen Welt in göttlichem Glanz gesehen wurde, brauchte niemand über das leere Grab nachzudenken. Auch Abraham, Isaak und Jakob waren Bewohner der himmlischen Welt. Dennoch verehrte man Gräber mit ihren Überresten. Eine Notwendigkeit, nach einem leeren Grab zu fragen, hat am Anfang nicht bestanden. Die ersten Christusanhänger erwarteten das baldige eschatologische Ende. Die Vielzahl der Erscheinungen und ein ekstatisches Erlebnis von 500 Gemeindegliedern befeuerten diese Erwartung. Bald wollten sie mit Jesus im Reich Gottes das Gemeinschaftsmahl feiern. Erst
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mit fortschreitender Zeit, als sich sein Kommen verzögerte, musste man sich dessen vergewissern, dass er tatsächlich auferstanden war. In dieser Situation wurde die Überlieferung von der Erscheinung vor Maria Magdalena in der Nähe des Grabes neu erzählt – im JohEv in der Version, dass Jesus sein Grab verlassen hat, um Maria zu begegnen, im MkEv in der Version, dass sie einem „jungen Mann“ begegnet war, der ihr (und anderen Frauen) die Erscheinungen Jesu vor Petrus und den Jüngern ankündigte. Das MkEv verrät noch ein Wissen darum, dass es die Erscheinung vor Maria Magdalena in einer neuen, bisher nicht verbreiteten Version erzählt. Darum beendet es seine Erzählung damit, dass die Frauen aus Furcht nichts gesagt hätten (Mk 16,8). Diese Transformation der Erscheinung vor einer Frau in der Nähe des Grabes wurde erleichtert, weil ca. 10 bis 14 Jahre nach der Hinrichtung Jesu seine Hinrichtungsstätte mit den dort befindlichen Gräbern durch den Bau einer zweiten Mauer zum Stadtteil Jerusalems wurde. Von da ab wurde dort niemand mehr bestattet. Kurz vorher hatte man dort ein neues Grab angelegt, musste dessen Bau aber einstellen, sodass wir in der Grabeskirche bis heute ein Grab sehen, das anders als üblich nicht mehrere Grabstätten (loculi) enthält. Es kann das Grab gewesen sein, in das man Jesus gelegt hat, sicher aber das Grab, in dessen Nähe Maria Magdalena ihre Christusvision gehabt hatte. Wir neigen also dazu, die Ostererscheinungen in ihrer Mannigfaltigkeit – als Identifikations- und Auftragserscheinung und als Einzel-, Gruppen- und Massenerscheinungen – für erlebnisecht zu halten. Erzählerisch ist an ihnen stark gestaltet worden. Die Variationsbreite dieser Geschichten ist „echt“, aber deshalb muss nicht jede Variation echt sein. Die Unsicherheit, wie man sie deuten soll, ist nicht nur ein literarisches Motiv, sondern war von Anfang an mit ihnen verbunden. Deshalb wurden die Identifikationserscheinungen, die Jesus noch in irdischer Gestalt erscheinen ließen, gegenüber den anderen abgewertet und gingen nicht in die summarische Formelliste in 1Kor 15 ein. Doch sei am Schluss unserer Überlegungen betont: Sie sind nur ein Versuch, die Erinnerungsspuren von Ostern auszuwerten, zu ordnen und zu deuten. Diese Überlegungen allein können nicht klären, wie wir heute mit diesen Erscheinungsberichten umgehen sollen. Dazu geben aber u. E. die Aussagen bei Paulus und im Johannesevangelium einige wertvolle Hinweise.
8. Hermeneutische Reflexion Die Auferstehung Jesu widerspricht dem modernen Weltbild. Bei der Deutung des Osterglaubens gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder wird das Ostergeschehen so umgedeutet, dass es in die moderne Überzeugungswelt passt, oder moderne Prämissen werden durch den Osterglauben verändert. Zu den Interpretationen des Ostergeschehens innerhalb moderner Prämissen gehören die rationalistischen Erklärungen des leeren Grabes durch Diebstahl, Scheintod oder Umbestattung, sowie die Interpretation der Erscheinungen als Halluzinationen. Zu den Interpretationen des Ostergeschehens, die moderne Prämissen modifizieren zählt die objektive Visionstheorie, die damit rechnet, dass sich auch in halluzinatorischen Erfahrungen eine Wirklichkeit offenbaren kann, sowie die objektive Erscheinungstheorie, die mit realen Begegnungen rechnet. Historische Untersuchungen können hier nicht ent-
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scheiden. Die beste historische Untersuchung zur Auferstehung Jesu kommt mit Recht zu dem Ergebnis: „The purely historical evidence is not, on my view, so good as to make disbe�lief unreasonable, and it is not so bad as to make faith untenable“ (D.C.Allison).40 Das gilt auch für die „klassischen“ theologischen Deutungen des Osterglaubens. Aber sie sind dazu geeignet, um Kriterien für seine Deutung aus ihnen abzuleiten. 8.1 Hermeneutische Kriterien für eine Deutung des Osterglaubens
Kriterien für die Beurteilung des Osterglaubens sind bei W.Marxsen seine wirkungsgeschichtliche Aktualität, bei R.Bultmann der individuelle Existenzgewinn, bei W.Pannenberg die Universalität, bei K.Barth eine autonome Letztbegründung. Während W.Marxsen Ostern als Aktualisierung der Botschaft des irdischen Jesus versteht, hören die anderen Ansätze in Ostern eine über den irdischen Jesus hinausgehende neue Botschaft. Ȥ Ostern offenbart nach der existenzialen Deutung den Menschen, der seine Eigentlichkeit als Geschenk Gottes verwirklicht (R.Bultmann); Ȥ nach der universalgeschichtlichen Deutung die Geschichte, deren Ende in der Auferstehung Jesu antizipiert wurde (W.Pannenberg); Ȥ nach der offenbarungstheologischen Deutung Gott selbst als sich autonom begründende letzte Realität (K.Barth). a) Das Kriterium der Aktualität (W.Marxsen)
Für W.Marxsen ist Ostern die „Weiterereignung des Jesuskerygmas“. Historisch könne man nur feststellen, dass Menschen nach Jesu Tod ein Widerfahrnis hatten, das sie als Auferstehung deuteten.41 Die Auferstehung Jesu selbst sei kein historisches Ereignis, sondern ein zeitgebundenes Interpretament dieser Widerfahrnis. Die Osterzeugen erlebten erneut die Nähe Gottes, die sie in der Begegnung mit Jesus als Geschenk erfahren hatten. Osterglaube ist also Weiterverkündigung der Botschaft des irdischen Jesus, ein Ausdruck dafür, dass die „Sache Jesu“ weitergeht. Damit bleibt W. Marxsen im Rahmen moderner Prämissen. Das Weiterwirken von Personen und ihrer Sache nach ihrem Tod widerspricht nicht dem säkularen Verständnis der Geschichte, sondern erst die Aussage W. Marxsens, dass sich in dieser Sache das „Eschaton“ ereignet. Damit nähert er sich der existentialen Deutung R. Bultmanns, nur mit dem Unterschied, dass er das Eschaton nicht erst mit Ostern, sondern mit dem irdischen Jesus verbindet. Sein Entwurf liefert uns ein erstes Kriterium: Die Osterbotschaft gibt der Person Jesu und ihrer Botschaft über seinen Tod hinaus Aktualität. b) Das Kriterium der Existenzverwirklichung (R.Bultmann)
Die existentiale Deutung deutet den Menschen als Raum von Möglichkeiten, die sich in Entscheidungen realisieren. Die Rede von der Auferstehung Jesu ist nach Bultmann eine mythische Vorstellung, die für den modernen Menschen „erledigt“ sei. Man müsse die Auferste40 D.C.Allison, Arguing Resurrection*, 2021, 353. 41 W.Marxsen, Die Auferstehung Jesu als historisches und theologisches Problem, 1964, 20.
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hung heute so verkündigen, „daß diese nicht als ein angeblich historisches oder ein mythisches Ereignis erscheint, sondern als eine Wirklichkeit, die unsere eigene Existenz trifft“,42 nämlich als Aufforderung, den offenen Raum menschlicher Existenz so auszufüllen, dass der Mensch in ihm seine „Eigentlichkeit“ realisiert. Gelungene Existenz ist geschenkte Existenz. Diese bleibende Wahrheit der Osterbotschaft lasse sich durch existentiale Interpretation erheben. Mit ihr konfrontiert, wird dem modernen Menschen ein Selbstverständnis angeboten, das dem natürlichen Menschen verschlossen bleibt. 1. Osterglaube ist dabei Ausdruck der Bedeutsamkeit des Kreuzes, Glaube an das Kreuz als Heilsereignis, durch das alle innerweltlichen Verwirklichungen eigentlicher Existenz durchkreuzt werden und scheitern. 2. Osterglaube ist ferner Glaube an das Wort. Der gekreuzigte und auferstandene Christus begegnet in der Verkündigung. In der Anrede Gottes wird das Ereignis Jesus Christus präsent „als das je mich in meiner Existenz treffende Ereignis“.43 3. Osterglaube ist Glaubensentscheidung angesichts des Kreuzes, ein Erkennen des gescheiterten eigenmächtigen Lebensvollzugs und die Realisierung eines neuen Selbstverständnisses als Ja zum Leben als radikalem Geschenk. Der so verstandene Osterglaube ist nach R.Bultmann im NT zentral: Er ist Antwort auf eine Anrede Gottes und nicht immanent erklärbar. Osterglaube offenbart: Wahres Leben ist radikales Geschenk – eine creatio ex nihilo. Daraus ergibt sich das Kriterium: Osterglaube soll wahres Leben ermöglichen, das über alles hinausgeht, was wir in der Welt vorfinden. c) Das Kriterium der Universalität (W.Pannenberg)
Die universalgeschichtliche Deutung von W.Pannenbergs will die Wahrheit der Auferstehungsbotschaft darin erkennen, dass sie in einem konkreten Ereignis Zugang zur Gesamtrealität öffnet.44 Drei Postulate machen das moderne Weltbild mit dem Glauben an die Auferstehung vereinbar: 1. Das universalgeschichtliche Postulat sagt: Die Geschichte ist nur als Ganzes verständlich, das erst vom Ende her überschaubar wird. Der Schlüssel zu ihr muss ein Ereignis sein, in dem das Ende als „Prolepse“ vorweggenommen wird. Sofern modernes Geschichtsverständnis einem Ganzheitspostulat folgt, öffnet es sich für proleptische Endereignisse, deren Bewahrheitung noch aussteht. 2. Das anthropologische Postulat: „Erscheinungen“ eines Gestorbenen werden nur in einem apokalyptischen Horizont zur Prolepse der allgemeinen Auferstehung. Dieser Horizont
42 R.Bultmann, Die Auferstehungsgeschichten und der christliche Glaube, ThLZ 25 (1940) 242–246, S. 245 = P. Hoffmann (Hg.), Überlieferung*, 1988, 118–125. 43 R.Bultmann, Zum Problem der Entmythologisierung (1963), Glaube und Verstehen IV, 1965, 128–137, S. 137. 44 W.Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 2, 1991, 385–405; ders., Grundzüge der Christologie, 1964 5 1976, 47–112.
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ist sinnvoll: Personales Leben erfüllt sich nicht in diesem Leben, sondern ist auf unbegrenzte Fortdauer angelegt. „Auferstehung“ wird zum anthropologischen Sinnpostulat. 3. Das naturwissenschaftliche Postulat: Parapsychologische Phänomene zeigen die Unabgeschlossenheit unseres Weltbildes. In Visionen kann ein objektiver Faktor stecken. Ein definitives Urteil über die naturgesetzliche Unmöglichkeit der Auferstehung eines Toten zu unvergänglichem Leben können die Naturwissenschaften – so Pannenberg – nicht abgeben. Die drei Postulate verbindet Pannenberg mit einer historischen Quellenanalyse, bei der das Ostergeschehen historisch durch „Visionen“ bezeugt und durch das „leere Grab“ bestätigt wird. Der Osterglaube verifiziert einen universalgeschichtlichen Erwartungshorizont. Man muss diese universalgeschichtliche Theologie nicht in allen Punkten teilen, um ihr ein wichtiges Kriterium zu entnehmen: Religion bezieht sich auf das Ganze der Wirklichkeit, das in konkreten Erfahrungen zugänglich wird. d) Das Kriterium der autonomen Letztbegründung (K. Barth)
Die offenbarungstheologische Deutung K. Barths bestreitet der historischen Wissenschaft die Zuständigkeit für ein Ereignis wie die Auferstehung, das nicht historisch, aber dennoch wirklich ist. 1. Auferstehung ist die alleinige Tat Gottes: Während alle sonstigen Ereignisse um Jesus „historischen“ Charakter haben, weil sie im Zusammenwirken menschlicher Entscheidungen und Aktionen stehen, ist die Auferstehung ausschließlich Gottes Tat ohne jedes menschliche Tun. Ihre einzige Analogie ist die Schöpfung als Gottestat. Daher ist die Auferstehung kein „historisches Faktum“, dessen Wahrscheinlichkeit historischer Analyse zugänglich wäre. 2. Auferstehung ist gegenüber dem Kreuzesgeschehen eine „neue Tat Gottes“ (KD IV/1, 368.335). Das bedeutet (gegen Bultmann): Sie ist nicht nur Enthüllung der „Bedeutsamkeit des Kreuzes“, sondern ein Ereignis, das dem Kreuz und seiner Bedeutung widerspricht. Auferstehungsglaube ist Offenbarung: Als exklusiv göttliche Tat kann die Auferstehung vom Menschen nicht verstanden und an andere vermittelt werden. Dadurch wird sie zum Paradigma für Offenbarung überhaupt: Die Auferstehung Jesu ist „die eigentliche, ursprüngliche, exemplarische Offenbarungstat“ (KD IV/1, 336), die sich nur durch Initiative Gottes erschließt. Osterglaube offenbart das Wesen Gottes in einem exklusiv von Gott gewirkten Geschehen, das nur durch Gott selbst begreifbar wird. Auch diese Theologie muss man nicht in allen Punkten teilen, um anzuerkennen, dass in ihr das wichtigste Kriterium für die theologische Deutung partikularer Ereignisse deutlich wird: Gott wird dort erfahren, wo der Mensch auf eine Realität stößt, die autonom sich selbst begründet und keiner weiteren Begründung bedarf. Wir stoßen auf sie im „Wunder “, dass überhaupt etwas existiert und nicht nichts. Obwohl wir von Sein und Nichtsein keine Erfahrung wie von Phänomenen dieser Welt haben, sind wir immer mit dieser alles umgrei-
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fenden Wirklichkeit konfrontiert, von der wir ein Teil sind. Bewusst wird das in religiösen Erfahrungen, in der Menschen von einer Resonanz der Gesamtwirklichkeit in ihrer Existenz ergriffen werden, durch Transparenz begrenzter Erfahrungen etwas von der Gesamtwirklichkeit wahrnehmen und im Kerygma als sinnvolle Botschaft erleben. Diese Konfrontation geschieht in der Bibel als Schöpfungsglauben und Osterglauben. Das Neue Testament selbst zeigt uns einen Weg, wie wir uns mit Sein und Nichts auseinandersetzen können. Es ist der Weg der Mystik, die als Ostermystik auch einen Osterprotest umschließt. 8.2 Eine hermeneutische Skizze: Osterglauben als Ostermystik
Osterglaube ist bei Paulus Schöpfungsmystik, im Johannesevangelium Liebesmystik, im Thomasevangelium Wortmystik. Bei Paulus erfährt der Glaubende Ostern als creatio ex nihilo, die ihn neu schafft und mit allem verbindet, im Johannesevangelium als Liebesmystik, die in der Gemeinde Einheit schafft und von der Welt distanziert, im Thomasevangelium als Wortmystik, deren Sinn die Einheit mit Gott ist. Gemeinsam ist allen Deutungen: Ostern ist ein Licht, das Welt und Menschen erneuert. Alle entwickeln in verschiedenen Variationen eine Christusmystik. Alle versetzen den Menschen in einen Widerspruch zur Welt. Kehrseite der Ostermystik ist immer ein Osterprotest – ein Widerspruch zur Welt. a) Osterglaube als Schöpfungsmystik: Paulus45
Bei Paulus ist der Auferstehungsglaube Vertrauen auf den Gott, der aus Nichts schafft. Wenn Abraham der Verheißung eines Sohnes trotz seines Alters vertraut, glaubt er an den, „der die Toten lebendig macht und ruft das, was nicht ist, dass es sei“ (Röm 4,17). Diesen Glauben bezieht er nicht (nur) auf die Schöpfung am Anfang und die Neuschöpfung am Ende der Zeit, sondern auf Isaaks Geburt mitten in der Zeit. Denn Gott schafft jederzeit aus Nichts. Paulus deutet seine Ostererfahrung in 2Kor 4,5f als Begegnung mit diesem Gott: „Denn Gott, der da sprach: Licht soll aus der Finsternis hervorleuchten, der hat einen hellen Schein in unsre Herzen gegeben“ (2Kor 4,6). Die Glaubenden werden nicht erst in der Ewigkeit erneuert, sondern hier und jetzt: „Wir tragen allezeit das Sterben Jesu an unserm Leibe, damit auch das Leben Jesu an unserm Leibe offenbar werde“ (2Kor 4,10). Diese Mystik findet ihren Ausdruck im Hymnus auf die Liebe Gottes in Röm 8,31–39. Durch Glauben bewältigt Paulus die Leiden in der Welt und hofft auf Vereinigung mit Christus: Diese mystische Erfahrung vergegenwärtigt die Zeit vor der Schöpfung, bevor Zeit und Raum entstanden. Der Glaubende existiert jenseits von Leben und Tod, Hohem und Tiefem, Gegenwärtigem und Zukünftigem. Hier werden Gegensätze aufgehoben, die jeder Wahrnehmung und Strukturierung der Welt zugrunde liegen. Paulus erlebt diese Mystik aber nicht als Selbstauflösung des Ichs in Gott, sondern als Liebe Gottes in der Gegenwart, die durch den Geist in die Herzen der Gläubigen ausgegossen ist (Röm 5,5). Dieser Geist motiviert ihn zu einem Leben in Widerspruch zur vorhandenen Welt durch einen „vernünftigen Gottesdienst“, der sich 45 G.Theißen, Paulus und die Mystik. Der eine und einzige Gott und die Transformation des Menschen, ZThK 110 (2013) 263–290.
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nicht dieser Welt gleichstellt, sondern kritisch prüft, was Gottes Wille ist (12,1f). Die Ostermystik motiviert einen gleichzeitigen Osterprotest gegen die Trennung von Juden und Heiden, Freien und Sklaven, Frauen und Männer (Gal 3,28). b) Osterglaube als Liebesmystik: Das Johannesevangelium
Die joh Theologie belebt den Glauben durch eine neue Interpretation. Die ersten Christen erwarteten Gottesherrschaft, Parusie, Auferstehung und Gericht. Das Ausbleiben der P arusie wurde zum Problem. In seiner ersten Abschiedsrede bekräftigt Jesus zunächst die traditionelle Erwartung der Parusie, indem er den Jüngern ankündigt, dass er ihnen in den himmlischen „Wohnungen“ einen Platz vorbereiten und sie dorthin holen wird: „Ich komme wieder und werde euch zu mir holen, damit auch ihr dort seid, wo ich bin“ (14,3). Am Ende der Abschiedsrede aber deutet er die Parusie neu, indem er ankündigt, dass er zu jedem kommen wird, der ihn liebt: „Wir werden zu ihm kommen und bei ihm wohnen“ (14,23). Jesus bereitet nicht Wohnungen beim Vater im Himmel vor, sondern die Christen sollen ihm und Gott eine Wohnung in ihrem Leben bereiten. Parusie und ewiges Leben werden so zur Erkenntnis einer mystischen Einheit: „An jenem Tage werdet ihr erkennen: Ich bin im Vater, ihr seid in mir und ich bin in euch“ (14,20). Auferstehung und Gericht werden zu gegenwärtigen Ereignissen: „Wer mein Wort hört und dem glaubt, der mich gesandt hat, hat das ewige Leben; er kommt nicht ins Gericht, sondern ist aus dem Tod ins Leben hinübergegangen“ (5,24). Am Ende des öffentlichen Teils im JohEv fasst Jesus seine Botschaft in einem „ersten“ Gebot zusammen, als Auftrag, das Leben zu offenbaren (12,49f). Im zweiten Teil wird diese Offenbarung durch das „neue Gebot“ der Liebe überboten (13,34). Mit diesem Liebesgebot hat Jesus „alles mitgeteilt, was ich von meinem Vater gehört habe.“ (15,12–15). Das JohEv ist geschrieben, um dieses Liebesgebot vom Himmel auf die Erde zu bringen. Die Christen sollen in dieser Einheit der Liebe mit Gott und Jesus bleiben: „Wie mich mein Vater liebt, so liebe ich euch auch. Bleibt in meiner Liebe! Wenn ihr meine Gebote haltet, so bleibt ihr in meiner Liebe, wie ich meines Vaters Gebote halte und bleibe in seiner Liebe.“ (15,9– 10). Die Abschiedsreden werden durch das hohepriesterliche Gebet um die Einheit der Christen und ihre Einheit mit Jesus und Gott abgeschlossen. Jesus betet: „Und ich habe ihnen die Herrlichkeit gegeben, die du mir gegeben hast, damit sie eins seien, wie wir eins sind, ich in ihnen und du in mir, damit sie vollkommen eins seien und die Welt erkenne, dass du mich gesandt hast und sie liebst, wie du mich liebst.“ (17,22f). Die joh Christusmystik wird zusammengefasst in 1Joh 4,16: Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.
Diese Liebe steht in Spannung zur Welt. Sie widerspricht dem Hass der Welt (Joh 15,18–25), in der Christen verfolgt werden. Sie widerspricht dem „Fürsten dieser Welt“, hinter dem der römische Kaiser erkennbar ist. Aus Loyalität ihm gegenüber wird Jesus hingerichtet. Auch
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hier ist Ostermystik mit Osterprotest verbunden: Die Erfahrung der Liebe verbindet sich mit einem Protest gegen den Hass der Welt. c) Osterglaube als Wortmystik: Das Thomasevangelium
Auch das Thomasevangelium vertritt eine subtile Mystik. Es steht der Gnosis nahe, doch es fehlen der Glaube an einen zweiten Weltschöpfer und eine Christologie, nach der der Erlöser nur scheinbar Fleisch geworden ist, weswegen es eindeutig noch zum Mehrheitschristentum gehört. Nach dem ThEv hat sich der Erlöser „im Fleisch offenbart“ (ThEv 28) und ist in der Welt allgegenwärtig: „Ich bin das Licht, das über allen ist. Ich bin das All; das All ist aus mir hervorgegangen, und das All ist zu mir gelangt. Spaltet das Holz, ich bin da. Hebt einen Stein auf, und ihr werdet mich dort finden.“ (ThEv 77). Das ThEv unterscheidet sich von dem Mehrheitschristentum jedoch deutlich durch eine individualistische Mystik. Das erste Wort im Thomasevangelium ist Anleitung zum Verstehen dieses Evangeliums: „Dies sind die verborgenen Worte, die der lebendige Jesus sagte, und Didymos Judas Thomas schrieb sie auf. Und er sagt: Wer die Deutung dieser Worte findet, wird den Tod nicht schmecken“ (ThEv 1). Die entscheidende Erkenntnis wird also durch Jesu Worte vermittelt. Wer sie in sich hinein nimmt, wird werden wie Jesus. Den Erkennenden wird sich der verborgene Sinn der Worte offenbaren: „Jesus spricht: Wer von meinem Mund trinken wird, wird werden wie ich. Ich selbst werde zu ihm werden und was verborgen ist, wird sich ihm offenbaren.“ (ThEv 108). Das ThEv verkörpert die Botschaft vom unendlichen Wert der menschlichen Einzelseele. Die Gottesherrschaft ist der Bereich, aus dem die Menschen stammen und zu dem die Erlösten zurückkehren. Ihre Erkenntnis ist daher Erkenntnis des Selbst: „Das Königreich ist in eurem Innern, und es ist außerhalb von euch“ (ThEv 3). Trotz aller Abwertung der Welt bleibt die Welt ein Medium der Offenbarung. Wir finden sogar Züge einer kosmischen Frömmigkeit. Den Jüngern werden die Steine dienen (ThEv 19). Was das ThEv von allen anderen urchristlichen Schriften unterscheidet, ist sein Individualismus. Es wird keine Gemeinde sichtbar. Es spricht zu Einzelnen und Einsamen. Ihnen bietet es eine Mystik der Vereinigung mit Gott an: eine Rückkehr dorthin, woher alles stammt. Auch hier ist Mystik mit Protest verbunden: Solange die Christen in der Welt leben, leben sie als Einsame im Widerspruch zu dieser Welt.46
46 Mehr zum Verständnis des Osterglaubens als Ostermystik: G.Theißen, Die Auferstehung Jesu. Osterglaube und Ostermystik, in: Resonanztheologie, 2020, 291–324; ders., Botschaft in Bildern. Entmythologisierung als theologische Wahrheitssuche, 2021, 112–115, 143–149.
§ 18 Vom historischen Jesus zum Christusglauben
D.C.Allison, The Historical Christ and the Theological Jesus, 2009; R.Bauckham, Jesus and the God of Israel: God Crucified and Other Studies on the New Testament’s Christology of Divine Identity, 2009; D.Boyarin, The Jewish Gospels. The Story of the Jewish Christ, 2012; R.A.Bühner, Hohe Messianologie: übermenschliche Aspekte eschatologischer Heilsgestalten im Frühjudentum, 2020; M.Casey, From Jewish Prophet to Gentile God. The Origins and Development of New Testament Christology, 1991; L.W.Hurtado, One God. One Lord. Early Christian Devotion and Ancient Jewish Monotheism, 1988; ders., Lord Jesus Christ. Devotion to Jesus in Earliest Christianity, 2003; B.Lang, Art. Monotheismus, NBL 2 (1995) 834–844; J.Schröter, Jesus und die Anfänge der Christologie, 2001; G.Theissen, Vom Historischen Jesus zum kerygmatischen Gottessohn, EvTh 68 (2008) 285–304; ders., Resonanztheologie. Beiträge zu einer polyphonen Bibelhermeneutik, 2020; ders., Botschaft in Bildern. Entmythologisierung als theologische Wahrheitssuche, 2021; W.Zager, Jesus aus Nazareth – Lehrer und Prophet. Auf dem Weg zu einer neuen liberalen Christologie, 22008.
Der historische Jesus schrieb sich eine entscheidende Rolle in der Geschichte zwischen Gott und Mensch zu, verstand sich aber als ein Mensch. Widersprach es seinem Selbstverständnis, dass er nach Ostern wie ein Gott verehrt wurde? Oder war das mit seinen Überzeugungen vereinbar? Zwei Verbindungen sind erkennbar: ein Bewusstsein von Statuskontingenz durch die Abhängigkeit seines Status von Gott und ein vorösterlicher Anspruch, der durch die Ostererscheinungen transformiert und verstärkt wurde. Statuskontingenz bedeutet: Status wird verliehen. Jesus hat es in Übereinstimmung mit antiker Mentalität Gott überlassen zu bestimmen, wer er ist. Seine Jünger haben die Ostererscheinungen als Erhöhung Jesus erlebt und einen vorösterlichen Anspruch Jesu dadurch gesteigert. Das Bewusstsein von Statuskontingenz wurde durch den monotheistischen Glauben verstärkt, denn der Monotheismus ließ nur eine Möglichkeit für die Erhöhung eines Menschen zu einer Position neben Gott offen, die das MkEv durch Kombination von zwei Perikopen zum Ausdruck bringt. In der ersten zitiert Jesus das Grundbekenntnis Israels: „Höre Israel, Gott dein Herr (Kyrios) ist ein Herr (Kyrios)!“ (Mk 12,29). Ein Schriftgelehrter unterstreicht: „Er ist einer und kein anderer ist neben ihm!“ (V. 32). Zur Entstehungszeit des MkEv aber wurde Jesus schon lange als Herr neben Gott verehrt. Die zweite Perikope gibt die Antwort auf dieses Problem. In ihr sagt Gott zu Jesus: „Setze dich zu meiner Rechten, bis ich deine Feinde unter deine Füße lege“ (Mk 12,36 = Ps 110,1). Danach hat Gott das Recht, das Gebot seiner Alleinverehrung aufzuheben und einem anderen neben sich einen Platz einzuräumen. Der jüdisch-hellenistische Tragiker Hezekiel (im 2. Jh.v. Chr.) hat diese Souveränität Gottes in einem Traum des Moses zum Ausdruck gebracht: Gott überlässt in diesem Traum Moses seinen Platz:1 1
Übers. E.Vogt, Tragiker Ezechiel, JSHRZ 4/3, 1983, 115–278, S. 124, Zeile 68–82.
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Es schien (mir) auf dem Gipfel des Sinai ein Thron, ein gewaltiger, zu stehen, der reichte bis in des Himmels Falten; auf ihm saß ein vornehmer Mann mit einem Diadem und einem großen Zepter in der Hand, der viel Glück bedeutenden (linken). Mit der Rechten aber gab er mir einen Wink, und ich trat vor den Thron. Das Zepter aber übergab er mir, und auf dem hohen Thron ließ er mich Platz nehmen, und er übergab mir das Königsdiadem und weicht selbst vom Thron. Ich aber erblickte das ganze Erdenrund und was unter der Erde und über dem Himmel ist und eine Fülle von Sternen fiel mir zu Knien, ich aber zählte sie alle, und sie zogen an mir vorbei wie ein Heer von Sterblichen. Da erschrak ich und erwache aus dem Schlaf.
Nicht nur Moses wird über diesen Traum erschrocken gewesen sein. Hier wurde eine Grenze überschritten, die latente Bereitschaft dazu brach in einem Traum ins Bewusstsein. Aber Gott verursacht diese Grenzüberschreitung. Für Jesus gilt: Er konnte es Gott überlassen zu bestimmen, wer er war. Wie aber kamen seine Jünger zu der Gewissheit, dass Gott Jesus erhöht hat?
1. Die Transformation der Jüngererwartungen Die Jünger hatten zu Jesu Lebzeiten aufgrund seiner Verkündigung das Reich Gottes erwartet. Die Hinrichtung Jesu durchkreuzte ihre Hoffnungen, aber Begegnungen mit dem Auferstandenen gaben ihnen die Gewissheit, ihre Erwartung sei trotzdem in Erfüllung gegangen, anders als erwartet, vorläufig nur im Himmel. Weil Jesus dem Tod entrissen worden war, wechselte der Verkündiger der Gottesherrschaft von der Seite der Menschen auf die Seite Gottes. Die Datierung seiner göttlichen Hoheit mit Ostern ist gut belegt: Eine alte Formel sagt, dass Jesus seit der Auferstehung von den Toten zum „Sohn Gottes“ eingesetzt wurde (Röm 1,4 vgl. Apg 13,33). Im MtEv sagt der Auferstandene: „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden“ (Mt 28,18–20). Damit trat er neben Gott.2 Diese Steigerung der Würde Jesu zum Sohn Gottes bewirkte zweierlei: einerseits eine Dissonanzreduktion des Widerspruchs zwischen Jesu Wirken und seiner Kreuzigung, andererseits eine Transzendenzreduktion durch Übernahme von Vermittlerrollen, durch die der Auferstandene den fernen Gott zugänglich machte. Moderne Mentalität neigt dazu, solch eine Distanz- und Transzendenzreduktion weniger als Auswirkung der Erhöhung Jesu zu verstehen, sondern als Ursache dieser Erhöhung im Erleben und Denken seiner Anhänger. Deswegen sollte bewusst bleiben: In den Begegnungen mit dem Auferstandenen haben die Jünger die kontingente Schöpferkraft Gottes erfahren als eine ihr Leben umgreifende Daseinskontingenz. 2
Bei Jesus gab es nur wenig Ansatzpunkte für einen Glauben an die transformierende Kraft der Auferstehung. Er rechnete mit Veränderungen durch die Auferstehung: (1) Sie hebt den Unterschied zwischen Männern und Frauen auf. Die Auferstandenen werden weder heiraten noch geheiratet werden, sondern sein „wie die Engel in den Himmeln“ (Mk 12,25). (2) Sie macht die Königin des Südens und die Niniviten zu Zeugen gegen die Israeliten. Heiden treten in der Rolle der Richter auf – gegen die Erwartung, dass Israel die Heiden richten wird (Mt 12,41f).
Vom historischen Jesus zum Christusglauben
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Sie erfuhren das Wunder des Seins. Sie erfuhren sich dabei nicht als Ursache, sondern als verursacht und radikal abhängig. 1.1 Dissonanzreduktion durch Erhöhung
Die Erhöhung Jesu im Himmel über alle Mächte kompensiert seine Erniedrigung auf Erden. Dabei setzte sich eine im Monotheismus angelegte Dynamik durch. Mit der Erhebung JHWHs zum einzigen Gott hatte Israel im Babylonischen Exil seine Niederlage auf Erden bewältigt. Angesichts der Zerstörung Jerusalems musste Israel entweder die Überlegenheit der siegreichen Völker und ihrer Götter anerkennen oder durch die Überlegenheit JHWHs die Niederlage auf Erden durch seinen Sieg im Himmel ausgleichen. Deuterojesaja setzte diese Alternative durch: Er erklärte die anderen Götter für nichtexistent. Nicht sie hatten im Kampf gegen Israel gesiegt, sondern der eine und einzige Gott. Je totaler die Niederlage JHWHs und seines Volkes auf Erden schien, umso größer musste der „metaphysische“ Sieg JHWHs über alle Götter im Himmel sein. Israel bewältigte seine Niederlage, indem es sich zum Glauben an den einen und einzigen Gott verpflichtete und seinen Ungehorsam ihm gegenüber zur Ursache der Katastrophe erklärte. Durch die Krisen des 6. Jh. verwandelte sich so die Monolatrie der vorexilischen Zeit, d. h. eine auf einen Gott konzentrierte Religion, die mit der Existenz anderer Götter rechnete, in den exklusiven Monotheismus des Judentums, der die Existenz anderer Götter leugnet. Diese Dynamik wiederholte sich in abgewandelter Form im Urchristentum. Die Kreuzigung galt als Widerlegung der mit Jesus verbundenen Erwartungen. Die Ostererscheinungen ermöglichten es, diese Niederlage in einen Sieg des Erhöhten zu verwandeln. Jesu Erniedrigung wurde durch seine Erhöhung, das Kreuz durch Erhebung Jesu zu gottgleichem Status bewältigt. 1.2 Transzendenzreduktion durch Vermittlung
Doch es gab einen entscheidenden Unterschied zwischen der Entstehung des Monotheismus und der Christologie: Dort wurde der Himmel von konkurrierenden Göttern geleert, hier aber wurde ein Mensch in den Himmel aufgenommen. Der Monotheismus hatte eine Sehnsucht nach Transzendenzreduktion bewirkt: Je jenseitiger und überlegener der eine und einzige Gott wurde, umso größer das Verlangen nach Vermittlern. Neben den transzendenten Gott zogen daher weitere Gestalten in die himmlische Welt ein: die Weisheit als seine Partnerin in der Urzeit (Spr 8,22–31; JesSir 24; SapSal 6–9), der Menschensohn als sein Beauftragter in der Endzeit (Dan 7). Gott erscheint dadurch in drei Gestalten: als transzendenter Gott, als seine Frau in Gestalt der Weisheit und als sein „Stellvertreter“ in Gestalt des Menschensohns.3 Die Weisheit verkörpert die weltzugewandte Seite Gottes. In ihr lebt in bildlicher Form die Himmelskönigin aus der polytheistischen Vergangenheit Israels weiter. Die Jesusüber3
B.Lang, Art. Monotheismus*, 1995, spricht mit Recht von Ansätzen eines „Duotheismus“ im Judentum, aber im Grunde ist es ein „Tritheismus“, da neben den einen Gott zwei Gestalten treten.
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lieferung deutete den irdischen Jesus als ihren Boten. Aufgrund der Ostererscheinungen wurde er mit dieser präexistenten Weisheit Gottes identifiziert – vor allem im Johannesprolog, wo Jesus das ewige Wort Gottes ist, das sich in ihm inkarniert hat (Joh 1,1–18). Aus der weiblichen Weisheit wurde dabei der männliche Logos, der schon bei Philo von Alexandrien als „zweiter Gott“ galt (QuaestGen 2,62). Gleichzeitig blieb die Weisheit eine menschliche Qualität: Gute Lehrer vereinen beides, menschliche und göttliche Weisheit. Die zweite Gestalt neben Gott sah „wie ein Menschensohn“ aus und erhielt in Dan 7,14 die Herrschaft, nachdem die Herrschaft der Tiere als Symbole unmenschlicher Weltreiche vorbei war. Der Menschensohn gehört zu den Engelgestalten, die den Himmel neben Gott bevölkern. Manche dieser Engel waren einst „Gottheiten“ gewesen, die im Monotheismus zu Dienern Gottes geworden waren. Die ersten Christen haben Jesus mit diesem himmlischen „Menschensohn“ identifiziert. Aus einer den Engeln vergleichbaren himmlischen Gestalt „wie ein Menschensohn“ wurde dabei der Sohn des Mensch: ein konkreter Mensch nahm ihre Stelle ein. Die Weisheit und der Menschensohn waren Gestalten neben Gott. Gott unterschied sich von ihnen. Nur Gott durfte angebetet werden, sein Name JHWH dabei nicht ausgesprochen werden. Daher nannte man ihn den „Herrn“, hebräisch Adonaj, griechisch Kyrios. Als Herr erwies er sich vor allem durch seine Überlegenheit über alle anderen Gottheiten. Dieser polytheistische Hintergrund ist noch zu spüren, wenn Ps 89,7 fragt: „Wer in den Wolken könnte dem Herrn gleichen und dem Herrn gleich sein unter den Himmlischen?“ Alle drei Titel und Rollen haben also einen mythischen Hintergrund: Die Weisheit ist für die Frau des Himmelsgottes transparent, der Menschensohn für den jungen Gott, der als Thronnachfolger die Herrschaft Gottes, des „Hochbetagten“ (Dan 7,22), übernimmt. Gott selbst aber bleibt der Herr, der im Himmel über andere Gestalten herrscht. In der späteren Trinitätslehre wird diese innere Pluralität Gottes gedanklich entfaltet.
2. Die nachösterliche Verehrung Jesu Die Verehrung Jesu als Gottheit führte dazu, dass sich die Anhänger Jesu aus dem Judentum entfernten. Oft wurde das dadurch erklärt, dass sie Jesus an Erlöserrollen der Umwelt anpassten. Die wichtigsten „Rollen“, mit denen Jesu Bedeutung zum Ausdruck gebracht wurde, stammen jedoch aus dem Judentum: Der Kyriostitel ist Übertragung des Gottesnamens der LXX auf Jesus. Der Sohn-Gottes-Titel gehört zur Messiaserwartung, die Präexistenzvorstellung zur Weisheit. Eine direkte Übernahme fremder Anschauungen war angesichts der im Judentum tief verankerten Ablehnung anderer Götter unwahrscheinlich, wohl aber eine Gestaltung der eigenen Überzeugungen in Analogie zu ihnen, um sie in einem „Überbietungssynkretismus“4 konkurrenzfähig zu machen. Wenn die Christen von ihrem Kyrios sprachen, konkurrierten sie mit dem Kult des Kaisers als Kyrios oder dominus et deus und sprachen damit dem Kaiser göttliche Legitimation ab. Wenn sie vom Sohn Gottes spra4
G.Theissen, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, 2000 42008, 71–98.
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chen, konkurrierten sie mit der Verehrung von Göttersöhnen. Wenn sie vom Menschensohn sprachen, überboten sie andere Religionen durch Aufwertung des Menschen. Woran aber erkennen wir, dass sich die Christusanhänger durch diese Aufwertung des Menschen Jesus zu einer Gottheit vom Judentum entfernten? Drei Kriterien gibt es dafür: die kultische Verehrung Jesu, seine Schöpfungsmittlerschaft und seine Inkarnation. 1. Die kultische Verehrung Jesu setzt dessen göttlichen Status voraus (L.W.Hurtado, One God*, 1988 und Lord Jesus Christ*, 2003). Auch für Philo war der Logos ein „zweiter Gott“ (QuaestGen 2,62), der Tragiker Hezekiel schildert, wie Mose im Traum vorübergehend den Platz Gottes einnimmt (S. 124, Zeile 68–82). Aber sie denken nicht daran, den Logos oder Moses wie einen Gott zu verehren. Die Trennung von Juden und Christen wurde erst durch die kultische Verehrung Jesu als Gott bewirkt. 2. Die Schöpfungsmittlerschaft macht Jesus über alles in der Welt überlegen (R.Bauckham, Jesus*, 2009): Als Schöpfungsmittler ist Jesus nicht nur wie viele Zwischenwesen im Himmel relativ, sondern absolut präexistent, weil er alles mitgeschaffen hat. Belegt ist diese Schöpfungsmittlerschaft Jesu schon bei Paulus: Denn Christen haben nur einen Gott (heis theos), den Vater, von dem alle Dinge sind und wir zu ihm, und einen Herrn (heis kyrios), Jesus Christus, durch den alle Dinge sind und wir durch ihn. (1Kor 8,6)
atte der historische Jesus noch die Formel „Es ist ein Gott“ (heis theos) auf Gott bezoH gen und sich damit auf die Seite der Menschen gestellt (Mk 10,17f), so wurde hier die Formel heis kyrios auf ihn als präexistenten Schöpfungsmittler übertragen. 3. Die Inkarnation (M.Casey) unterstreicht die Überwindung der Distanz zwischen Gott und Mensch: Die Erhöhung Jesu zur Gottheit macht es zu einem großen Wunder, dass er sich inkarniert (Phil 2,6–11; Joh 1,1–18). Neben der kultischen Verehrung Jesu und seiner Schöpfungsmittlerschaft ist daher die Inkarnation das dritte Merkmal der „hohen“ neutestamentlichen Christologie, mit der sich der Glaube der Christusanhänger vom strengen Monotheismus entfernte, in dem Gott und Mensch immer unterschieden bleiben. Natürlich stellt sich die Frage: Hatte sich nicht schon vor ihnen im Judentum eine „hohe Messianologie“ gebildet (R.A.Bühner)? Viele Vorstellungen vom Messias, waren schon in den Übersetzungen der Lxx und ihrer Rezeption mit gottähnlichen Motiven angereichert worden. Dabei wird freilich übersehen, dass im Judentum auch die verschiedenen Gestalten einer „hohen Messianologie“ von Gott erwählt, ernannt oder erhöht wurden, d. h. auch sie verdankten ihren Status dem Handeln Gottes.5 Zwar gilt das auch für Jesus, wenn er zum 5
Vgl. die Analysen bei R.A.Bühner, Hohe Messianologie*, 2020, z. B. zu Ps 72,1: „O Gott, gib dein Gericht dem König und deine Gerechtigkeit dem Königssohn“. Hier steigert die Lxx die Hoheit des Königs, indem sie u. a. seinen Namen in V.17 schon „vor der Sonne“ datiert.
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Sohn Gottes und zum Kyrios von Gott erhöht wurde (vgl. Röm 1,3f; Phil 2,9). Doch Jesus hatte schon vorher eine göttliche Hoheit, im Mt- und LkEv aufgrund seiner göttlichen Zeugung, bei Paulus und im Johannesevangelium aufgrund seiner Schöpfungsmittlerschaft. Seine Erwählung und Erhöhung im Ostergeschehen ist Wiederherstellung einer schon vorher existierenden hohen Stellung. Bei Aussagen über „hohe Messiasse“ im Judentum ist die Erwählung dagegen der entscheidende Akt, der ihre Hoheit begründet. 2.1 Von der Nachfolge zur Verehrung des Kyrios
Der irdische Jesus forderte keine Verehrung für sich. Erst nach Ostern verehrten seine Anhänger ihn als „Kyrios“. Dieser Titel wurde zur Anrede eines göttlichen Wesens, das kultisch verehrt wird, das als Schöpfungsmittler allem überlegen war und als Inkarnierter den Menschen unendlich nahe kam. Der aramäische Maranatha-Ruf begegnet schon bei Paulus in 1Kor 16,22, im Rahmen einer Abendmahlsfeier in Did 10,6. Er wird in Apk 22,20 als Ruf: „Herr, komm!“ ins Griechische übersetzt. Die Erhaltung einer aramäischen Formel in griechischen Texten beweist dessen hohes Alter. Sie geht auf das frühe palästinische Urchristentum zurück. Eine weitere vorpaulinische Formel sagt, dass die Auferstehung Jesu von den Toten der Grund für seine Verehrung als gegenwärtiger „Kyrios“ war: „Denn wenn du mit deinem Munde bekennst, dass Jesus der Herr (kyrios) ist, und in deinem Herzen glaubst, dass ihn Gott von den Toten auferweckt hat, so wirst du gerettet“ (Röm 10,9). Solch eine Kyrios-Akklamation begegnet mehrfach bei Paulus, z. B. Röm 10,9; 1Kor 12,3. Nach Phil 2,10f sollen alle Knie derer, die im Himmel, auf Erden und unter der Erde sind, sich vor ihm beugen und seine Hoheit bekennen. Umstritten ist, ob dabei auch an dämonische Mächte in der Unterwelt gedacht ist, die sich dem Kyrios unterwerfen, oder nur an verstorbene Menschen in der Unterwelt, die Jesus als Herrn anerkennen.6 Mit der Übertragung des Kyrios-Titels wurde Jesus auf jeden Fall in die Nähe Gottes gerückt: Das zeigt die Versicherung des Philipperhymnus, Gott habe dem Erhöhten den Namen gegeben, der über alle Namen ist (Phil 2,9). Gemeint ist der Gottesname, da sich die unmittelbar darauf verarbeitete Schriftstelle Jes 45,23 Lxx ursprünglich auf Gott bezieht, im Philipperhymnus aber auf den erhöhten Jesus übertragen wird, so „dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind“ (Phil 2,10). Alle bekennen, dass Jesus der Kyrios ist (2,11). Da Paulus dieselbe Schriftstelle Jes 45,23 Lxx in Röm 14,11 auf Gott bezieht, ist ihm bewusst, dass er im Philipperhymnus Jesus so anspricht, als sei er Gott selbst. Nach dem Philipperhymnus wussten die ersten Christen also sehr wohl: Mit seiner Erhöhung hatte Jesus göttliche Würde erhalten. Die religionsgeschichtliche Schule leitete den Kyrios-Titel von Mysteriengottheiten ab (W.Bousset). Aber „Kyrios“ ist kein für hellenistische Mysteriengottheiten charakteristischer Name. Nur im Isiskult in Ägypten gilt Isis als Kyria. Kyrios begegnet als „baal“ dagegen in den Volksreligionen Syriens und Mesopota6
So O.Hofius, Der Christushymnus Phil 2,6–11, 1976.
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miens.7 Darüber hinaus war Kyrios die Anrede für Respektspersonen wie den Kaiser. Als Agrippa in Alexandrien als jüdischer König verspottet wurde, wurde der ihn darstellende Mann als „Marin“ (Herr) angeredet (Philo Flacc 39)! Paulus spricht von „Kyrioi“ im Himmel und auf Erden, denkt also auch an irdische Autoritäten – und könnte dabei auch an den Kaiserkult denken. Nur hier wurde ein irdischer „Kyrios“ vergöttlicht. Wenn Jesus als Kyrios verehrt wurde, war das auch eine latente Opposition zur Verehrung des Kaisers, in erster Linie aber eine Übertragung des jüdischen Gottesprädikats auf Jesus.
Die Akklamation Jesu als „Kyrios“ war eine einschneidende Neuerung nach Ostern. Der Auferstandene saß zur Rechten Gotts (Ps 110,1 vgl. Mk 12,36; Apg 2,34f; 1Kor 15,25) und wurde als ein göttliches Wesen verehrt, das vor seiner Erhöhung extremste Niedrigkeit bis hin zum entehrenden Kreuzestod erlitten hatte. Paulus denkt beim „Kyrios“ Jesus aber zugleich auch an den irdischen Jesus. Wenn er dessen Anweisungen und Gebote zitiert, beruft er sich nämlich auch auf Jesus als „Kyrios“. Der Kyrios ist bei ihm der Ursprung des christlichen Ethos: Ȥ In 1Thess 4,1 schreibt Paulus: „Im Übrigen, Brüder, bitten und ermahnen wir euch im Namen Jesu, des Kyrios – da ihr von uns empfangen habt, wie ihr leben sollt, um Gott zu gefallen.“ Ȥ Für Worte zur Ehescheidung und zum Unterhalt der Apostel beruft er sich auf den Kyrios: „Den Verheirateten aber gebiete nicht ich, sondern der Kyrios“ (1Kor 7,10). Ȥ Dasselbe gilt für die Unterhaltspflicht der Gemeinden für die Apostel: „So hat auch der Kyrios befohlen, dass die, die das Evangelium verkündigen, sich vom Evangelium nähren sollen“ (1Kor 9,14). Ȥ Paulus legitimiert die Einsetzungsworte des Abendmahls durch den Kyrios: „Denn ich habe von dem Kyrios empfangen, was ich euch weitergegeben habe“ (1Kor 11,23). Ȥ In Röm 14,14 bezieht er sich wahrscheinlich auf Jesu Wort über Rein und Unrein (vgl. Mk 7,15) zurück, und beruft sich hier ausdrücklich auf den Kyrios Jesus.
Wenn Paulus kontroversen Anweisungen Autorität verschaffen will wie bei der Frage der Ehescheidung oder des Unterhaltsrechts, beruft er sich auf den „Kyrios“. Im LkEv kritisiert Jesus die Jünger mit den Worten: „Was nennt ihr mich aber Herr, Herr, und tut nicht, was ich euch sage!“ (Lk 6,46). Auch wenn der Kyrios-Titel den gegenwärtig Erhöhten meint, so ist in ihm also auch eine Erinnerungsspur des historischen Jesus erhalten – vor allem durch die Autorität, die seine Worte haben. 2.2 Vom Messias zum Sohn Gottes
Jesus wurde nach Ostern als „Sohn Gottes“ verehrt. Im Alten Orient waren Könige „Söhne Gottes“. Entsprechend wurde in Israel der König als „Sohn Gottes“ proklamiert (Ps 2,7). Israel hat diese orientalische Herrschaftsideologie in die Erwartung eines zukünftigen messianischen Heilskönigs verwandelt, hat aber auch ganz Israel kollektiv als „Sohn Gottes“ (Hos 11,1) und alle Israeliten als „Söhne“ Gottes verstanden (PsSal 17,27.31). Alle Israeliten 7
Vgl. M.Hengel, Der Sohn Gottes, 1975, 120ff A.135.
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wurden „Söhne“ Gottes (PsSal 17,27.31). In einer vorpaulinischen Formel fasst Paulus in Röm 1,3f sein Evangelium als Predigt vom Sohn Gottes zusammen, „der geboren ist aus dem Geschlecht Davids nach dem Fleisch, der eingesetzt ist zum Sohn Gottes in Kraft durch die Auferstehung von den Toten nach dem Geist der Heiligkeit“. Vorher war Jesus ein Anwärter auf seine hoheitliche Position, durch seine Auferstehung füllt er sie in „Kraft“ aus. Ps 2,7 datiert in Apg 13,33 die Einsetzung Jesu zum Sohn auf die Auferweckung: „Du bist mein Sohn, heute habe ich dich gezeugt“. Sonst begegnet in den Evangelien diese Gottesstimme bei Taufe und Verklärung (Mk 1,11; 9,7). Da in der Verklärung Motive einer Osterepiphanie verarbeitet sind, liegt es nahe, den ursprünglichen Haftpunkt der Verehrung Jesu als Gottes Sohn in der Auferweckung Jesu zu sehen. Wenn das MkEv in der Passionsgeschichte ein Bekenntnis des heidnischen Hauptmanns kennt: „Dieser war ein Sohn Gottes“ (15,39), so weiß der Hauptmann noch nichts von seiner Auferstehung. Dass Jesus Sohn Gottes ist, bleibt im MkEv ein Geheimnis und wird erst Ostern offenbar. Es war erst eine Folge der Ostererkenntnis, dass Jesus der messianische „Sohn Gottes“ war, auch wenn er schon vor Ostern messianische Erwartungen evoziert hat. Da diese Erwartungen durch seine Kreuzigung widerlegt schienen, musste der Messiastitel nach Ostern neu konzipiert werden. Dass der Messias leiden musste, erkennen die Emmausjünger erst durch den Auferstandenen (Lk 24,26). So wie der Kyrios-Titel mit Worten des irdischen Jesus vor Ostern verbunden blieb, so blieb auch der Titel „Sohn Gottes“ mit dem irdischen Jesus durch eine allgemeine Sohnmetaphorik verbunden, die auch andere Menschen umfasst. Jesus sprach von Menschen als „Söhnen Gottes“, wenn sie Frieden stiften und die Feinde lieben (Mt 5,9.45). Damit folgte er der Tradition jüdischer Weisheit, nach der man durch soziales Verhalten zum Sohn Gottes wird (Sir 4,10).8 Neben dieser ethischen Verwendung des Sohn-Gottes-Begriffs begegnet die eschatologische Verheißung, dass alle Israeliten „Söhne Gottes“ sein werden.9 Auch bei Paulus sind die Christen nicht aufgrund ihres Verhaltens „Söhne Gottes“, sondern durch die Gabe des Geistes (Röm 8,14; Gal 4,6f). Der Geist ist eine Gabe der Endzeit und motiviert das Verhalten der Christen. So kann man auch hier feststellen: Als Sohn Gottes öffnet Jesus den Himmel. In seiner Nachfolge werden auch andere Menschen zu Söhnen und Töchtern Gottes auf Erden. Alle Bilder von der „Familie Gottes“ setzen diese Sohn-Metaphorik voraus. Jesus ist also nicht nur Sohn Gottes im Himmel, sondern zugleich Bruder der Menschen auf Erden. 2.3 Vom Menschensohn zum neuen Menschen
Jesus hat von sich als gegenwärtigem „Menschensohn“ gesprochen und erwartet, dass er als zukünftiger Menschensohn neben der Königin von Saba und den Niniviten im Jüngsten Gericht als Zeuge und Richter auftreten wird. Entscheidend ist bei diesem Gericht: Ein „Menschensohn“ wird über die anderen „Menschen“ urteilen. Alle werden an dem gemes8 9
Vgl. Sir 4,10; SapSal 2,18; vgl. Philo Conf 145–147; SpecLeg 1,318. Jub 1,24f; PsSal 17,27.31; äthHen 62,11; AssMos 10,3; TestJud 24,3.
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sen, was sie sich gegenseitig angetan haben. Das gilt auch für Jesus: „Wer mich bekennt vor den Menschen, den wird auch der Menschensohn bekennen vor den Engeln Gottes“ (Lk 12,8). Im Gericht gilt: Was einer den geringsten Brüdern getan haben, das ist so, als hätte er es dem Menschensohn selbst getan (Mt 25,40). Dass der historische Jesus sich mit dem Begriff „der Menschensohn“ als Mensch meint, zeigt die Verwendung dieses Begriffs in Mk 2,27f: „Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen. So ist der Menschensohn ein Herr über den Sabbat“. Bestätigt wird das durch die Unterscheidung des Menschensohns von den Tieren in: „Die Füchse haben Gruben, und die Vögel haben Nester, aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege“ (Mt 8,20). Wenn Tiere im Kontrast zum heimatlosen Menschensohn als Inbegriff der Geborgenheit erscheinen, so steht das in deutlichem Gegensatz zu der himmlischen Gestalt von Dan 7, die „wie ein Menschensohn“ erscheint und die Herrschaft der bestialischen Tiere ablösen soll. Bei Jesus werden dem Menschensohn dagegen die Tiere als Inbegriff von Geborgenheit entgegengesetzt, die nicht der Heimatlosigkeit des Menschen ausgesetzt sind. Der von Jesus messianisch aufgeladene allgemeine „Menschensohnbegriff“ findet nach Ostern einen Nachklang in der Konzeption des Paulus von Jesus als „neuem Menschen“, der dem ersten Menschen Adam typologisch entgegengesetzt ist. Aus dem „Sohn des Menschen“ ist bei Paulus „der Mensch“ geworden (1Kor 15,47). Paulus deutet Jesu Erscheinung als Offenbarung des Menschen, der ein vollkommenes Ebenbild Gottes ist und dessen Herrlichkeit widerstrahlt (2Kor 4,4f; 3,18). Dieser neue Mensch ist ein Modell für alle Menschen. Als Erstling der Toten (1Kor 15,23) wurde Jesus in ein himmlisches Wesen verwandelt, die anderen Christen werden ihm folgen und sogar Engel richten (1Kor 6,3). Doch bleibt auch dieser „Mensch“ bei Paulus an den irdischen Jesus gebunden: In Röm 5,12–21 bezieht Paulus die Adam-Christus-Typologie nämlich nicht auf den Auferstandenen wie in 1Kor 15, sondern auf den Ungehorsam Adams und den Gehorsam Christi. Der Tod Adams ist hier also nicht wie in 1Kor 15 Merkmal seines vergänglichen Wesens, sondern Folge seines Verhaltens. Der Weg zur Überwindung des Todes wird nicht durch die Auferstehung geöffnet, sondern schon durch den Gehorsam des irdischen Christus. Der Glaube, dass mit Christus ein neuer Mensch erschienen ist, hatte Folgen für das Selbstverständnis der Christen. Auch sie wollten durch ihn neue Menschen werden. Indem sie „Christus anziehen“, wollten sie die sozialen Unterschiede zwischen Juden und Griechen, Sklaven und Freien, Männern und Frauen überwinden (Gal 3,28; vgl. 1Kor 12,13; Kol 3,11). Sie stehen als „neues Geschöpf“ jenseits der Unterschiede von Juden und Heiden (Gal 6,15). All das setzt die Überzeugung voraus, dass sich Jesus nicht nur exklusiv von allen anderen Menschen unterscheidet, sondern der einzigartige „Mensch“ ist, mit dem inklusiv eine neue Menschheit beginnt. Alle Menschen werden verändert, so dass sie wie Christus werden. Die Menschensohnchristologie wurde nach Ostern dadurch verwandelt, dass Jesus zum Prototyp einer neuen Menschheit wurde. Diese neue Menschheit wird durch einen pneumatischen „neuen Menschen“ verwirklicht, der die Todesgrenze überwindet. Eben dieser Menschensohn tritt an die Stelle Gottes. Er wird zum Richter über alle Menschen.
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2.4 Zusammenfassung
Der Messiastitel wurde nachösterlich auf Jesus bezogen. In den Augen seiner Anhängerinnen und Anhänger waren aber schon in vorösterlicher Zeit messianische Erwartungen ansatzweise in Erfüllung gegangen. Leiden und Kreuzigung gehörten allerdings nicht zu diesen Erwartungen, deren Integration in das Bild des Messias wurde nachträglich ungeheuer wichtig. Denn durch Überwindung von Sünde und Schuld durch das Leiden des Messias wurde der Weg zu den Heiden geöffnet, die durch Abwendung von dem einen und einzigen Gott Sünder waren. Jesus bestätigte als Messias Israels, dass durch Überwindung der Sünde aller Menschen die Verheißungen für alle Völker gelten. Der Sohn-Gottes-Titel knüpfte an messianische Erwartungen an, betonte jedoch in besonderer Weise Jesu Verbindung mit Gott. Nicht menschliche Erwartungen gehen hier in Erfüllung wie beim Messiastitel. Sohn Gottes wurde Jesus vielmehr aufgrund einer göttlichen Stimme. Der Sohnestitel bezeichnet Jesus als den Offenbarer, der Gottes Stimme in der Welt repräsentiert – und für die Menschen eine Chance ist, über ihn in Kontakt mit dem verborgenen Gott zu kommen. Im Zentrum steht der Menschensohn-Titel, der erst durch Jesus zu einem messianischen Titel wurde. Durch ihn verlieh er dem Menschen messianische Würde. Der Osterglaube führte zum Glauben an einen verwandelten „Menschen“. Durch Verwandlung aller Gläubigen in diesen „neuen Menschen“ wurden traditionelle Unterschiede zwischen Völkern, Klassen und Geschlechtern überwunden, besonders die Unterschiede zwischen Juden und Griechen, Sklaven und Freien, Männern und Frauen (Gal 3,28). Das vom „Menschenähnlichen“ verwirklichte Gottesreich soll die tierischen Reiche ablösen. Die Geschichte wird dabei als Übergang von bestialischen Reichen zu einem menschlichen Reich gedeutet. Alle Titel aber wurden überboten von der Verehrung Jesu als Kyrios. Durch sie wurde Jesus in die Nähe Gottes gerückt. Umso wichtiger ist, dass diese Verehrung nie die Bindung an den irdischen Jesus verliert: Als Messias ist Jesus Sohn Israels, so dass jede Beziehung zu ihm eine Beziehung zu Israel ist. Als Sohn Gottes ist Jesus Repräsentant der Stimme Gottes in dieser Welt; so dass die Beziehung zu ihm eine Beziehung zu Gott ist. Als Menschensohn ist Jesus ein Vertreter der Menschen. Ohne diese Bindung an den irdischen Menschen Jesus würde Jesus zu einer formalen Autorität erhoben. Die Autorität Jesu aber muss an den Juden Jesus gebunden bleiben, an den Freund der Zöllner und Sünder, an den Kritiker der Selbstgerechten, den Verkünder der Gnade Gottes, an das Opfer priesterlicher Feindseligkeit und staatlicher Macht. In der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts entwarfen Theologen oft eine Kyrios-Chris tologie mit minimaler Rückbindung an diesen irdischen Jesus. Nur der kerygmatische Christus, der nachösterlich als Kyrios verehrt wurde, galt als Offenbarung. Das menschliche Antlitz Jesu wurde undeutlich. Seine jüdischen Züge verblassten. Seine sozialen Tendenzen wurden unwichtig. Die Suche nach dem historischen Jesus galt als gescheitertes Unternehmen liberaler Theologie. Seit einem halben Jahrhundert kam es zu einer Neuorientierung. Man erkannte in Jesus wieder das menschliche Antlitz, interpretierte ihn im Rahmen der realen und sozialen Geschichte, ordnete ihn ins Judentum ein. Der erinnerungshistorische Ansatz sucht sein Bild zu bewahren und erkennt auch in den Bildern des nachösterlichen Glaubens die Erinnerungsspuren des historischen Jesus. Eine für die gegenwärtige theolo-
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gische Situation entscheidende Frage ist darüber hinaus natürlich, welche Bedeutung die Erinnerung an Jesus heute haben kann. Dazu skizzieren wir einige Gedanken zur Entwicklung der Christologie in der Alten Kirche als Anregung zum Weiterdenken heute.
3. Altkirchliche Christologie als Modell religiöser Erfahrung? Wie können der historische Jesus und der kerygmatische Christus heute Zugang zu Gott ermöglichen?10 Wir hatten gesehen: Der historische Jesus sprach und handelte in Bildern. Er übertrug Bilder vom menschlichen Leben auf Gott. In Gleichnissen wird die Welt transparent für etwas „ganz Anderes“. Solche Bilder ermöglichen religiöse Erfahrungen. Merkmale religiöser Erfahrung sind: Eine begrenzte Erfahrung wird transparent für die Gesamtwirklichkeit, findet Resonanz in Menschen und transformiert das Leben dadurch, dass sie wie ein Wort anspricht und Menschen verbindet. 11 Warum kann in solchen Erfahrungen „Gott“ begegnen? Das Kriterium dafür ist: Überall, wo die Wirklichkeit für das Wunder transparent wird, dass überhaupt etwas existiert und nicht nichts, wird Daseinskontingenz zum Zeichen Gottes in allen Dingen. Überall da, wo durch diese Erfahrung unsere Existenz ins Schwingen gerät, wird sie zur Resonanz auf diese alles umgreifende Wirklichkeit. Überall da, wo wir in solchen Erfahrungen die Aufforderung zu einem Neubeginn unseres Lebens hören, hören wir Gottes Stimme als ein Wort das uns als Indikativ und Imperativ anspricht und mit anderen Menschen verbindet. Religion ist Resonanz der Gesamtwirklichkeit in Menschen, die sich intentional auf ihren Ursprung zurückbezieht und dadurch Menschen vereint. Diese Intentionalität ist mit anderen Menschen „geteilte Intentionalität“, die sich in gemeinsamen Überzeugungen, Liedern und Gebeten äußert. Sofern das Leben und der Tod Jesu ein Gleichnis Gottes ist, kann er religiöse Erfahrung vermitteln. In seiner Gestalt wird Transzendenz für Menschen transparent, ergreift Menschen als Resonanz, verändert als Wort Gottes ihr Leben und verbindet sie in einer Gemeinschaft. Die Theologiegeschichte zeigt, dass wir mit solchen Deutungen eine alte Tradition fortsetzen. Patristische Theologen haben die christologischen Bilder in zwei Lehren von der Trinität und der Vereinigung von göttlicher und menschlicher Natur in Christus zusammengefasst. Protestanten spielen die Bibel oft gegen diese als „überholt“ geltende „Dogmen“ aus. Aber antike Intellektuelle haben wahrscheinlich in diesen Bildern die Grundstruktur religiöser Erfahrung entdeckt: die Transparenz Gottes in der Gestalt Christi, die in Menschen Resonanz findet und ihr Leben verändert, wenn sie sich von ihm als Wort ansprechen lassen.12 Das in der Alten Kirche entwickelte christologische Dogma will nämlich die Frage beantworten: Wie kann man die Gegenwart Gottes in einem Menschen erkennen? Die Zwei10 Ausführlicher G.Theißen, Botschaft*, 2021. 11 G.Theissen, Religious Experience. Experience of Transparency and Resonance, in: Experience in a new key, Open Philosophy 2 (2019) 679–699. 12 Vgl. G.Theissen, Das Dogma von Christus: Christologie als religiöse Dichtung, in: ders., Resonanztheologie*, 2020, 341–360.
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Naturen-Lehre deutet diese Gegenwart Gottes als Vereinigung von Gottheit und Menschheit in einer Person. Sie begegnet formelhaft schon bei Tertullian, der von duae substantiae und una persona spricht.13 Ihr Sinn blieb rätselhaft. Das Konzil von Chalkedon 451 umkreist dieses Rätsel durch vier Negationen: Gottheit und Menschheit seien in Christus verbunden: „unvermischt, unverwandelt“, „ungetrennt, unzerteilt“.14
Diese Zwei-Naturen-Lehre wird oft abgewertet. Kirchenpolitisch sei sie das Ergebnis eines Machtkampfes, bei dem sich Rom im Bündnis mit Konstantinopel gegen Alexandrien durchgesetzt habe, wo die Lehre von „einer Natur“ zu Hause war. Theologisch sei sie Ausdruck intellektueller Ohnmacht. Man habe nicht mehr die Kraft zu einer positiven Aussage gefunden, sondern in einer intellektuellen Resignation nur zwei Extreme ausgeschlossen. Einerseits habe man sich dagegen abgegrenzt, dass die göttliche Natur die menschliche Natur aufsaugt oder sich mit ihr vermischt. Dagegen stellte das Konzil fest: Sie seien unvermischt und unverwandelt. Andererseits habe man sich gegen deren Trennung abgegrenzt und festgestellt: Beide Naturen sind ungeteilt und ungetrennt. Hinzu kam als Pointe, dass Christus „in zwei Naturen unvermischt, unverwandelt, ungetrennt und unzerteilt erkannt wird“. Die Formel von Chalkedon sagt in erster Linie also nicht, wie sich die beiden Naturen verbinden, sondern wie Gott aufgrund dieser Verbindung erkennbar wird. Es geht um die Erkenntnis Gottes in einem konkreten Menschen. Damit haben einige Intellektuelle der Alten Kirche die Struktur religiöser Erfahrung zutreffend erfasst. Der Philosoph und Politologe W.Leidhold bestimmt religiöse Erfahrung als eine Spannung von Anwesenheit und Abwesenheit des Göttlichen.15 Gott wird in einem konkreten Stück dieser Welt, z. B. in einer Person, intensiv erfahren. Insofern ist er anwesend, aber sein Ursprung entzieht sich dem Menschen. Insofern ist er abwesend. Wird nur seine Anwesenheit wahrgenommen, wird Endliches verabsolutiert. Dann droht Idolatrie z. B. durch Verklärung der Natur oder der Nation als Präsenz des Göttlichen. Wird nur die Abwesenheit registriert und Gott geleugnet, drohen Agnostizismus und Atheismus. Man nimmt nicht mehr Gottes Spuren in unserer Lebenswelt wahr. Religiöse Erfahrung aber verbindet beides: Präsenz und Abwesenheit Gottes. Gott wird erfahren als „präsente Abwesenheit“ und „abwesende Präsenz“. Schon Paulus beschreibt die Erfahrung Gottes in dieser Weise, wenn er sagt: „Sein unsichtbares Wesen wird aus seinen Werken gesehen“ (Röm 1,20). Sichtbar ist von Gott, dass er unsichtbar ist. Präsent ist er dadurch, dass er abwesend ist. 13 Vgl. Tertullian Adv. Praxeas, 27,1: „Wir erkennen also ein doppeltes Wesen (status), nicht vermischt, sondern in Einer Person vereinigt, Jesus – als Gott und als Mensch“; ebd. 29,2: „Da nun in Christus Jesus zwei Substanzen erkannt sind, die göttliche und die menschliche, und es feststeht, dass die göttliche unsterblich ist, die menschliche aber sterblich, ist es doch klar, in welchem Sinne er ihn gestorben nennt, nämlich als Fleisch, Mensch und Menschensohn, nicht als Geist.“ H.Karpp, Textbuch zur altkirchlichen Christologie, 1972 22013, S. 73 und 74. 14 H.Karpp, Textbuch zur altkirchlichen Christologie, 1972 22013, S. 138. 15 W.Leidhold, Gottes Gegenwart. Zur Logik religiöser Erfahrung, 2008.
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Man kann das an einem Gleichnis verdeutlichen: Wenn ein zweidimensionales Wesen, das in alle Richtungen einer Fläche schauen kann, senkrecht vom Licht getroffen wird, spürt es wohl das Licht, kann aber die Quelle nicht sehen. Das Licht ist präsent, seine Quelle aber abwesend. Vergleichbar ist religiöse Erfahrung: Gott ist präsent und zugleich abwesend. Wer nur das präsente Licht erkennt, verendlicht Gott. Wer die abwesende Quelle bestreitet, leugnet Gott. Wer sich beidem öffnet, begegnet Gott. Die Zwei-Naturen-Lehre ist eine scharfsinnige Formel, die sagt: Christus ermöglicht Erfahrung Gottes. In vergleichbarer Weise ist in der Trinitätssymbolik eine tiefe Weisheit verborgen. Auch sie formuliert in ihrer Tiefenstruktur, was in jeder Religion geschieht! Jede Religion braucht ein Zentrum, das der Erfahrung zugänglich ist, aber für eine umfassendere Wirklichkeit transparent ist. In der Trinitätssymbolik ist das der „Sohn“. Texte in Bibel und Predigt machen Jesus für menschliche Erfahrung zugänglich, dazu sakramentale Riten. In anderen Religionen sind diese Vermittler Moses, Mohammed oder Buddha, dazu rituelle oder visuelle Medien. Jede Religion macht ferner einen Vorbehalt gegenüber der Verabsolutierung des Endlichen, sie bezieht sich auf etwas Unendliches, das sich unserem Begreifen entzieht. Im Begrenzten erscheint, was nicht begrenzt ist. In der Trinitätssymbolik ist dieses Unendliche „Gott der Vater“, in anderen Religionen ist es Allah oder das Nirwana. Jede Religion aktiviert schließlich eine Kraft, die Menschen mit der ganzen Wirklichkeit und anderen Menschen verbindet. In der Trinitätssymbolik ist das der „Heilige Geist“. Die westlichen Kirchen insistieren darauf, dass er vom Vater und vom Sohn ausgeht und ergänzen daher ein filioque im Credo. Die östlichen Kirchen halten daran fest, dass Gottes Geist auch ohne Vermittlung durch Christus in der Welt wirken kann. Sie sind historisch und sachlich im Recht: Gottes Geist wirkt auch unabhängig von Christus und den christlichen Kirchen. Ist also in der Trinitätssymbolik eine Struktur verborgen, die man in jeder Religion finden kann? Wenn Religion Resonanz der Gesamtwirklichkeit im Menschen ist, die sich intentional auf ihren Ursprung bezieht und Menschen verbindet, können wir den Trinitätsglauben als Verschlüsselung dieser Erfahrung dekodieren. Resonanzerfahrung erfasst subjektiv den ganzen Menschen. Sie hat einen Ort im konkreten Menschen, der sich für die Gesamtwirklichkeit öffnet und in Kontakt mit ihr kommt. In der Trinitätssymbolik nimmt der „Sohn“ diese Stelle ein – als Modell für jeden Menschen und jeden konkreten Ort, der zum Medium Gottes wird. Transparenzerfahrungen machen die ganze Wirklichkeit, in der alles mit allem verbunden ist, erlebbar. Diese Verbundenheit schafft der „Geist“ in der Trinitätssymbolik. Er verbindet Menschen sozial in kleinen Gruppen, universal in großen Gemeinschaften, mystisch im Erleben der Gesamtwirklichkeit. Transformationserfahrungen sind in Erfahrungen von Resonanz und Transparenz enthalten. In ihnen begegnet das Wort als Zuspruch und Forderung. Der Ursprung dieses Wortes liegt in einer unendlichen Tiefe. In der Trinitätssymbolik ist Gott als „Vater“ dieser Ursprung, der im Wunder unserer Existenz als Daseinskontingenz erfahren wird. Wir finden in unserem Dasein die Herausforderung vor, unsere Existenz zu realisieren. Was hier als Resonanz-, Transparenz- und Transformationserfahrung unterschieden wird, ist eine Einheit. Wenn uns das Wort aus einer unendlichen Tiefe des Seins anspricht, antworten wir mit Resonanz. Wenn die wahrnehmbare Wirklichkeit transparent wird für das Ganze der Wirklichkeit, öffnet sich eine unendliche
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Tiefe. Wenn wir in unserer Existenz mit dem Wunder von Sein und Nichts konfrontiert werden, spüren wir die Unendlichkeit Gottes in Kontrast zu unserer Endlichkeit; denn das „Nichts“, mit dem wir konfrontiert werden, ist ohne Ende und Begrenzung. Dennoch ist es sinnvoll, diese drei Aspekte unterscheiden Unsere These ist also: Die von theologische Intellektuellen in der Antike entwickelte Trinitätstheologie und die Zwei-Naturen-Lehre enthalten Formeln für jede religiöse Erfahrung. Das zeigt auch ein Blick auf eine moderne Religionstheorie. Die kognitive Religionswissenschaft erklärt die Verbreitung religiöser Gedanken durch die optimale Verbindung von „Kontraintuitivem“ und „Intuitivem“. Kontraintuitiv ist, was die Regeln unserer Alltagsontologie durchbricht, also die Grenzen zwischen Sachen, Artefakten, Pflanzen, Tieren und Personen. Das erklärt die Aufmerksamkeit, die religiöse Vorstellungen finden; ihre Einbettung in ein Netz intuitiver Ideen aber erklärt, warum sie auf Dauer überliefert werden. Optimal für die Verbreitung religiöser Vorstellungen ist eine Verbindung von intuitiven und minimal kontraintuitiven Aspekten. Jedoch ist an einer Stelle eine Erweiterung dieser „kognitiven Religionstheorie“ notwendig, damit sie dem urchristlichen Glauben und den Religionen gerecht wird:16 Insbesondere die biblische Religion kontrastiert nicht nur Sachen, Artefakte, Pflanzen, Tiere und Personen, sondern alle Seinsbereiche zusammen als Sein mit dem Nichts. Mythen erzählen, wie die Götter aus Nichts die Welt geschaffen haben. Am Anfang war dieses Nichts ein amorphes Etwas, bis Basilides, ein christlicher Lehrer Anfang des 2. Jh. n. Chr., den Gedanken einer creatio ex nihilo konsequent zu Ende dachte. Religiöses Erleben ist bis heute überall dort möglich, wo wir darüber staunen, dass überhaupt etwas ist und nicht nichts. Diesen „Schöpfungsgedanken“ erfassen wir erst, wenn wir die oben genannten fünf Seinsbereiche um die umgreifende Kategorie von Sein und Nichts erweitern. Mit dem Glauben an die aus dem Nichts schaffende Macht Gottes in Gestalt des Auferstandenen aktiviert der christliche Glaube also nur eine Grundkategorie unseres Wirklichkeitsverständnisses. Der historische Jesus macht mit Gleichnissen und Symbolhandlungen die Welt für Gott transparent, der aus Nichts schafft, und vermittelt so eine indirekte Begegnung mit Gott. Der kerygmatische Christus konfrontiert dagegen direkt mit dem Gott, der aus Nichts schafft. Aus dem historischen Jesus, der in Gleichnissen spricht und dadurch Zugang zu Gott schafft, wurde Christus, der als Gekreuzigter und Lebendiger selbst ein Gleichnis Gottes ist. Wie verhält sich dabei die Bildlichkeit der Worte Jesu mit der Bildlichkeit der Verkündigung von Jesus? Beide sind eine Verbindung von kontraintuitiver und intuitiver Vorstellungen. In den Gleichnissen und Symbolhandlungen werden intuitiv einleuchtende Bilder der Alltagswelt für Gott transparent, das Kerygma bezeugt dagegen kontraintuitive Einbrüche in unsere Alltagswelt. Das entspricht den beiden Grundformen religiöser Erfahrung: Entweder wird durch eine veränderte Einstellung des Menschen unsere Alltagswelt transparent für Gott, oder diese Alltagswelt erhält Risse, durch die wir unmittelbar mit einem Totaliter 16 Vgl. G.Theissen, Cognitive Analysis of Faith and Christological Change. A Contribution to a Psychology of Early Christian Religion, in: T.Biro/I.Czachesz (ed.), Changing Minds, Religion and Cognition through the Ages, 2012, 81–101.
Vom historischen Jesus zum Christusglauben
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Aliter konfrontiert werden. Der historische Jesus lässt uns unsere Alltagswelt als einen Schleier erleben, durch den Gott transparent wird, im Kerygma aber zerreißt dieser Schleier. Wir werden mit der Macht konfrontiert, die das Wunder des Seins selbst ist. Der historische Jesus steht auf Seiten des Menschen, der nach Spuren Gottes in dieser Welt sucht; der kerygmatische Christus bricht als Spur Gottes in diese Welt hinein. Auch wenn zwischen beiden eine Spannung besteht, gehören beide zusammen. In Christus wird ein konkreter Mensch für die Transzendenz transparent. Durch ihn hören wir ein „Wort“, das den Menschen verwandelt. Ziel ist, dass er Gott entspricht. Das aber erreicht er nur dadurch, dass er erkennt: Gott hat ihm diese Entsprechung schon immer geschenkt. Das verpflichtet ihn, sich und die Welt so zu verändern, dass sie Gott entsprechen.
§ 19 Wer war Jesus? Eine Zusammenfassung
Wir stoßen in unseren Texten nie direkt auf den historischen Jesus, sondern immer nur auf Erinnerungsspuren von ihm, die wir zu Erinnerungsmustern zusammenfügen können. Je besser wir einzelne Elemente zu einem Ganzen zusammenfügen und im Rahmen der damaligen Geschichte zugleich kontextualisieren und profilieren können, umso wahrscheinlicher ist, dass es sich um „wirkungsauthentische“ Auswirkungen des historischen Jesus handelt. Was können wir von ihm wissen, wenn wir die Quellen in dieser Weise auswerten?
1. Sein Herkunftsmilieu Jesus wurde gegen Ende der Regierungszeit des Herodes I. (37–4 v. Chr.) als Sohn eines Holz- und Steinarbeiters namens Joseph und seiner Frau Maria in Nazareth in einer Zeit geboren, als messianische Hoffnungen lebendig waren. Nach dem Tod des Herodes wollten mehrere Rebellen Israel von römischer Herrschaft befreien. Sie weckten in Judäa Erwartungen auf einen messianischen Herrscher, in Galiläa Hoffnungen auf die Herrschaft Gottes. Ihre Aufstände wurden niedergeschlagen. Als zehn Jahre später Judäa und Samarien unter direkte römische Verwaltung kamen und die Steuern direkt an die Römer gezahlt werden mussten, propagierte ein Lehrer namens Judas aus Galiläa einen Steuerstreik und rief damit erneut zum Aufstand auf. Auch er scheiterte. Etwa 20 Jahre später vertrat Jesus in Galiläa wiederum eine radikaltheokratische Lehre: Gott soll allein herrschen. Jesus distanzierte sich jedoch von der Steuerverweigerungskampagne, zumal vor seinem Auftreten Johannes der Täufer bereits eine Wende eingeleitet hatte. Etwa 15 bis 20 Jahre nach den gescheiterten Aufstandsbewegungen rief Johannes der Täufer eine Bewegung ins Leben, die sich nicht nach außen gegen die Römer richtete, sondern das Judentum von innen her erneuern wollte. Wenn der Täufer unabhängig vom Tempel Sündenvergebung als Rettung vor dem bevorstehenden Gericht Gottes anbot, war das Opposition gegen die priesterliche Oberschicht, wenn er die Ehepolitik des Antipas kritisierte, Opposition gegen die politische Oberschicht. Vor allem aber kritisierte er den Stolz aller Juden, Kinder Abrahams zu sein. Er forderte alle auf, sich durch Umkehr zu erneuern und diese Umkehr öffentlich durch eine Taufe zu demonstrieren. Seine Taufe war ein statusverleihendes Ritual: Priester und Leviten wurden geweiht, indem ein Höhergestellter sie besprengte. Die Taufe bestätigte allen Getauften ihren Status als Kinder Gottes. Johannes band durch sie gleichzeitig Menschen an sich. Denn nur er vollzog die Taufe. Er weckte durch diese Ausrichtung auf seine Person und sein ganzes Wirken messianische Erwartungen, lenkte sie aber von sich weg auf einen nach ihm kommenden „Stärkeren“. Die von ihm bewirkte Wende bestand vor allem darin, Aggression gegen die Fremden
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in Energie zur Umkehr zu verwandeln. Jesus schloss sich seiner Bewegung an, hat sich wie alle anderen Anhänger des Täufers öffentlich als Sünder bekannt, hat sich taufen lassen und wahrscheinlich weit mehr vom Täufer gelernt, als wir erkennen können. Viele Jesusworte werden Vorläufer in der nur fragmentarisch erhaltenen Verkündigung des Täufers haben.
2. Der Nachfolger des Täufers Jesus setzte die eschatologische Verkündigung des Täufers mit neuen Akzenten fort. Er lehrte anders als der Täufer nicht in der Wüste, sondern suchte bewohnte Stätten auf, lehrte sowohl in Synagogen als auch im Freien. Dass er in Synagogen predigte, zeigt, dass er eine elementare jüdische Bildung besaß. Er konnte lesen und schreiben. Er benutzte in seiner Verkündigung dieselben Bilder wie der Täufer, Bilder von Saat und Ernte, Baum und Frucht, wandelte sie aber ab: Der Baum erhält eine zweite Chance. Die Saat geht „von selbst“ auf. Menschen brauchen auch kein Ritual, um im Leben neu anzufangen. Jesus ließ sich zwar selbst taufen, taufte aber während seines öffentlichen Wirkens nicht. Jesus setzte dafür die ethische Verkündigung des Täufers fort: Nach Josephus hatte der Täufer seine Ethik in zwei Geboten zusammengefasst, als Frömmigkeit gegenüber Gott und Gerechtigkeit gegenüber den Mitmenschen. Jesus lehrte wahrscheinlich in Anknüpfung an ihn das Doppelgebot der Liebe. Nach der Inhaftierung des Täufers trat er selbständig auf. Als nach dessen Hinrichtung das vom Täufer erwartete Gericht ausblieb, deutete er das als Gnade Gottes, der den Menschen noch einmal eine Chance zur Umkehr gibt. Gewissheit dafür, dass eine Heilszeit angebrochen war, gab ihm eine Vision, in der er den Satan vom Himmel stürzen sah. Den Sieg über ihn erlebte er in Exorzismen, die für ihn der Beginn des Reiches Gottes waren. Schon Jesus, nicht erst das Urchristentum musste eine „Parusieverzögerung“ verarbeiten. Jesus lenkte ferner nach dem Vorbild des Täufers messianische Erwartungen von sich weg auf eine nach ihm kommende Gestalt. Während der Täufer dabei den Unterschied zwischen sich und dem „Stärkeren“ betonte, sprach Jesus von sich und dem Kommenden in gleicher Weise als „Menschensohn“. Damit gab Jesus dem Kommenden den gleichen Titel wie sich selbst. Er erwartete, im zukünftigen Gericht Gottes Zeuge und Richter zu sein – ebenso wie die Niniviten und die Königin des Südens. Seine Gerichtsvision sagt: Richter und Gerichtete stehen als Menschen auf derselben Stufe. Im Gericht wird der Menschensohn alle Menschen daran messen, was sie anderen Menschen getan haben. In vergleichbarer Weise modifizierte Jesus eine andere Gerichtserwartung: Eigentlich sollte der Messias über die zwölf Stämme regieren (oder „richten“) und dadurch Israel erneuern. Jesus aber beauftragte damit zwölf Jünger aus dem Volk. Sie sollten als Gleiche über Gleiche richten. Durch diesen „Gruppenmessianismus“ relativierte er die Unterschiede zwischen den Menschen. Darüber hinaus hat Jesus allen Menschen eine Hoheitsrolle als Kinder Gottes zugeschrieben, wenn sie Frieden stiften und durch Feindesliebe Gott nachahmen. Dann nämlich sind sie für ihn Söhne oder Töchter Gottes (Mt 5,9; 5,45). Jesus hat so an mehreren Stellen eschatologische Bilder und Erwartungen durch eine größere Gleichheit der Menschen geprägt: Der himmlische Menschensohn findet im irdischen Menschensohn eine Entsprechung, der messianische Herrscher hat
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in seinen Anhängern messianische Mitregenten, der einzigartige Sohn wirkt neben vielen Söhnen und Töchtern. Doch ließ Jesus seine eigene Rolle im Endgeschehen offen, weil er überzeugt war: Gott allein gibt dem Menschen seinen Status. Er teilte die antike Überzeugung von Statuskontingenz. Keiner kann sich selbst erhöhen. Status wird zugeteilt. Unsere Unsicherheit, wie Jesus sich selbst verstanden hat, ist daher nicht nur durch die Grenzen unserer historischen Erkenntnis begründet, sondern in Jesu Selbstverständnis: Was dieser seinen Jüngern sagte, als sie um die Ehrenplätze neben ihm stritten, gilt auch für ihn: Gott allein teilt den Status zu, den ein Mensch hat.
3. Der Charismatiker Als Charismatiker hatte Jesus die Gabe, Anhänger für sich zu gewinnen. Seine ethische Lehren für alle Menschen unterscheiden sich von den radikalen Anforderungen an seine Nachfolger: Von den Nachfolgern forderte er in Grenzfällen sogar Verstöße gegen die Thora wie die Missachtung des Elterngebots, wenn er einem Nachfolger verwehrt, seinen Vater zu beerdigen. Als Wanderprediger konnten er sowie seine Jünger und Jüngerinnen Freiheit von Familie, Besitz, Heimat und Sicherheit praktizieren. Doch blieb auch Jesus seiner patriarchalischen Zeit verhaftet. Die zwölf Jünger sollen eine Herrschaft von Männern bilden. Gerade deswegen ist bemerkenswert: Jesus gründete kein Lehrhaus mit männlichen Schülern, sondern lehrte in Synagogen und im Freien, so dass auch Frauen unter seinen Hörern waren. Das erklärt, warum er Beispiele wählt, in denen ein Mann und eine Frau nebeneinanderstehen – in den Gleichnisse vom Hirten, der sein verlorenes Schaf sucht, und der Frau, die ihren Groschen verloren hat, oder im Gleichnis vom Senfkorn, den ein Mann sät, und vom Sauerteig, den eine Frau backt. Auch begleiteten ihn Männer und Frauen auf seinen Wanderungen, die wichtigste Jüngerin war Maria Magdalena. Als Charismatiker hat Jesus viele Menschen fasziniert, aber auch Widerspruch provozierte. Seine Wirkung war ambivalent. Das zeigt sich in seinen allernächsten Bezugskreisen: Seine Familie hielt ihn zeitweilig für verrückt, schloss sich nach Ostern aber dennoch seiner Gemeinde an. Seine männlichen Jünger verließen ihn, als er inhaftiert wurde, einer von ihnen hatte seinen Aufenthaltsort verraten, so dass Jesus unbemerkt von der Öffentlichkeit verhaftet werden konnte. Menschen aus dem Volk begrüßten ihn mit Hosianna, andere forderten: „Kreuzige ihn!“ Zwar ist es eine legendarische Entfaltung dieses Motivs, wenn einer seiner Henker in ihm einen „Sohn Gottes“ sah oder die Frau seines Richters Pilatus eine Botschaft über ihn im Traum empfing, die ihn von Schuld freisprach. Aber solchen legendarischen Entfaltungen liegt zugrunde, dass er ambivalent gewirkt hat, er hat fasziniert und irritiert, angezogen und abgestoßen.
4. Der Prophet: Die beginnende Gottesherrschaft Jesus verkündigte eine verborgen in der Gegenwart anbrechende Königsherrschaft Gottes. Er verband dabei Bilder von Gottes Königtum mit Bildern vom Vater, sprach aber nie von
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Gott als „König“. In der von ihm verkündigten „Königsherrschaft“ Gottes sollte sich Gott als Vater mit seiner Güte durchsetzen. Mit diesem Bild vom Vater deutete er gegenwärtige Erfahrungen: Der Vater vergibt Sünden, sorgt für seine Kinder, ist für sie ein Vorbild. Die Gegenwart war für Jesus ein erneuerter Schöpfungsvorgang: Der Mensch soll wieder Herr über den Sabbat sein wie am Anfang der Schöpfung. Die Welt soll wieder frei sein von Dämonen. Es soll keinen Unterschied zwischen Rein und Unrein geben. Wie bei der Schöpfung des ersten Paares soll die Verbindung von Mann und Frau unauflösbar sein. Wie die Propheten vor ihm verkündigte Jesus eine Erneuerung der vergangenen Taten Gottes – und griff dazu auf kontrapräsentische Erinnerungsbilder der Vergangenheit zurück: auf Schöpfung, Exodus, Sinai, Landnahme, Königtum, Rückkehr aus dem Exil. Er erwartete, dass die in der Welt verstreuten Juden zusammen mit Heiden in die Gottesherrschaft strömen werden. Die von ihm verkündigte, schon in der Gegenwart anbrechende Gottesherrschaft konnte vorerst mit der Herrschaft der Römer koexistieren. Jesus sah keinen grundsätzlichen Widerspruch zwischen Gott und dem Kaiser wie die zelotischen Aufrührer. Er ersetzte vielmehr ihre Alternative „Gott oder Kaiser“ durch die noch weitergehende Alternative „Gott oder Mammon“. Nicht nur das Geld, das man dem Kaiser als Steuern zahlte, sondern jede Überordnung von Geld und Reichtum über andere Güter und Werte widerspricht nach Jesus Gottes Willen. Gott war für Jesus eine ethische Energie zur Rettung der Armen, Schwachen und Kranken, die sich in das „Höllenfeuer“ des Gerichts verwandelt, wenn man seine Botschaft ablehnte. Jeder hatte dabei die Wahl zwischen Heil und Unheil, jeder eine Chance. Bei Zöllnern, Sündern und Prostituierten fand er für diese Botschaft mehr Offenheit als bei den Frommen und Gelehrten. Einen rituellen Nachweis der Umkehr durch eine Taufe verlangte er nicht. Vielmehr ersetzte er den Taufritus durch das schlichte Gebet um Sündenvergebung im Vaterunser. Die Güte Gottes war ihm ohne Sühneriten, ohne Taufe und ohne Opfer gewiss. Darin unterschied er sich von Johannes dem Täufer. Ferner unterschied er sich von ihm dadurch, dass er Heilungen vollzog.
5. Der Wundertäter: Heilungen durch Glauben In seinen Heilungen sah Jesus Zeichen der beginnenden Gottesherrschaft. Die Kranken kamen mit der Erwartung zu ihm, dass sie durch seine Wunderkraft geheilt würden. Er aber schrieb in Gegensatz dazu die Heilung ihrem Glauben zu: „Dein Glaube hat dich gerettet!“ Er praktizierte dabei einen thaumaturgischen Synergismus: Menschen sind durch ihren Glauben an ihrer eigenen Heilung beteiligt, die ein Teil von Gottes endzeitlicher Heilung der Welt ist. Jesus hat damit die Wirksamkeit des Glaubens entdeckt, den sogenannten PlaceboEffekt, nur, dass er die Kraft des Glaubens als Heilursache bewusstmachte, während ein Placebo ein Medikament ist, dessen Wirkungskraft aufgrund ihres Glauben den Benutzern nicht bewusst ist. Schon früh traute man ihm unglaubliche Sachen zu: Die Fama vom Wundertäter Jesus machte sich schon zu seinen Lebzeiten selbständig, als man z. B. von wunderbaren Brotvermehrungen erzählte. Seine Heiltätigkeit zog auch Heiden an.
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6. Der Dichter: Gleichnisse und Symbolhandlungen Jesus beeindruckte als Dichter mit allgemein verständlichen Gleichnissen. Anders als die (späteren) rabbinischen Lehrer interpretierte er mit ihnen nicht die Schrift. Obwohl Füchse, Schafe und Wölfe in seinen Worten als Bilder begegnen, entfaltet er nur einmal ein Tierbild als das „verlorene Schaf“ in einem Gleichnis. Nicht die Tierwelt, sondern die Menschenwelt wird in seinen Gleichnissen transparent für Gott, darüber hinaus auch die friedliche Pflanzenwelt. Er verglich das Kommen der Gottesherrschaft mit einer still wachsenden Saat. Andere erwarteten sie damals als Sieg über die Feinde. Pflanzen aber kämpfen nicht. Wenn Jesus Bilder von jährlich neu wachsenden Pflanzen zum Bild für die von ihm ins Leben gerufene Gemeinschaft machte, entsprach das der knappen Zeit bis zum Ende. Wenn er außergewöhnliche Ereignisse wie den Fund eines Schatzes im Acker oder den Erwerb einer kostbaren Perle als „Gleichnis“ erzählt, als handle es sich um sich wiederholende Ereignisse, so sagt er: In seiner Nachfolge wird auch Außergewöhnliches „normal“. Umgekehrt gilt auch: Wenn er bei der Saat hervorhebt, wie viel Samen verloren geht, verbreitet er Zuversicht: Auch ungewöhnliche Verluste wiedersprechen nicht dem Erfolg. Vor allem vermittelt Jesus in seinen Gleichnissen kleinen Leuten ein „aristokratisches“ Selbstbewusstsein: Alle haben eine unendliche Verantwortung vor Gott. Alle können im Leben die kostbare Perle finden. Wo Gottes Härte unverständlich ist, entdeckt Jesus Chancen. Wo Gott überraschend gnädig ist, weckt er Unmut. Im Hintergrund seiner Gleichnisse wird oft auch ein Gott sichtbar, der für Menschen unverständlich ist – wie der Richter, der zur Intervention für die bittende Witwe genötigt werden muss. Wichtig ist dabei immer: Jesu Verkündigung in poetischen Bildern lässt den Menschen Freiheit, was sie sich von diesen Bildern aneignen. Jesus wirkte aber nicht nur durch sprachliche Bilder, sondern als „Straßenkünstler“ auch durch prophetische Symbolhandlungen: Symbolisch gedeutete Heilungen und Exorzismen verbreiteten die Kunde von ihm schneller im Volk als alle Worte. Seine verschiedenen Symbolhandlungen interpretieren sich gegenseitig. Am Anfang stehen drei Symbolhandlungen, mit denen er seine Botschaft in Galiläa symbolisiert: die Berufung der Jünger, ihre Ernennung zu zwölf Richtern und die Aussendung von Jüngerinnen und Jüngern an Israel. Die „Herrschaft“ der Zwölf stand in Opposition zu damaligen Herrschaftsstrukturen. Die Einsetzung von friedlichen Boten der Gottesherrschaft, die Kranke heilen und in Häusern ein einfaches Mahl teilen, stand im Gegensatz zu den gewalttätigen Aktionen der Widerstandsbewegung. Am Ende seiner Tätigkeit konzentrierte er erneut seine Botschaft in drei Symbolhandlungen: im Einzug in Jerusalem, in der Tempelaktion und im letzten Mahl, von denen die ersten beiden öffentliche Protestaktionen waren, während das letzte Gruppenmahl auf den inneren Kreis beschränkt war. An ihm nahmen vor allem die zwölf Jünger teil, auch Frauen in der Begleitung Jesu könnten anwesend gewesen sein. Jesus nahm bei diesem Mahl die Position der Zwölf im Reich Gottes vorweg. Er ergänzte, was in der Tempelaktion noch fehlt: An die Stelle der Riten im Tempel bot er eine schlichte Mahlzeit mit Brot und Wein. Da viele Symbolhandlungen Jesu eine Opposition zum Ausdruck bringen, ist das auch für diese letzte Symbolhandlung wahrscheinlich.
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7. Der Lehrer: Das Doppelgebot der Liebe Jesus war vor allem ein Lehrer. Seine engsten Anhänger nannte er „Schüler“. Schwerpunkt seiner Lehre war die Ethik mit der Frage: Wie soll sich der Mensch verhalten, um am sich realisierenden Reich Gottes jetzt und in der Zukunft teilnehmen zu können? Jesus verschärfte in seiner Lehre die universalen Aspekte der Gebote, die Menschen verbinden, entschärfte aber rituelle Forderungen, durch die sie sich voneinander abgrenzen. Im Zentrum seiner Ethik stand das (vielleicht vom Täufer angeregte oder sogar von ihm übernommene) Doppelgebot der Liebe, das er zur Liebe gegenüber Feinden, Fremden und Sündern verschärfte. Bei Sabbatgeboten dehnte er Ausnahmeregelungen für den Fall von Lebensrettung auf Fälle von Lebensförderung aus, auch dann, wenn keine Todesgefahr drohte. Rein und unrein war für ihn nur das, was aus dem Innern des Menschen kommt. Seine Vision der zukünftigen Gottesherrschaft bestand in einem gemeinsamen Mahl, bei dem Juden und Heiden nicht mehr durch Speise- und Reinheitsgebote getrennt sind. Seine Lehre öffnete so die Grenze zu anderen Völkern, aber ebenso zwischen den Schichten im eigenen Volk. Denn er formulierte Einstellungen der Oberschicht so um, dass sie für einfache Menschen zugänglich wurden: Beim Umgang mit Macht mahnte er zur Großzügigkeit. Feindesliebe war in der Antike die Großzügigkeit der Mächtigen gegenüber ihren Gegnern. Jesus aber verlangte sie auch von einfachen Menschen, selbst dann, wenn sie verfolgt werden. Reiche konnten sich durch Wohltaten eine Klientel schaffen. Jesus aber lobte die arme Witwe, deren Spende wertvoller als die der Reichen war. Reiche konnten sorglos leben. Jesus aber wies auf Lilien und Vögel als Vorbilder für die Freiheit von Sorgen für alle. Ferner sollte auch Weisheit kein Privileg derer sein, die wegen ihres Reichtums nicht arbeiten müssen, sie wirkt auch in heimatlosen Wandercharismatiker. Jesus richtete den Ruf der Weisheit gerade an die Schuftenden und Beladenen. Auch sie sollen Ruhe finden und lernen. Verbunden damit finden wir in seiner Lehre auch einen gegenläufigen Zug: Er machte Unterschichtwerte wie „Demut“ und „Nächstenliebe“ für alle verbindlich und forderte: Wer der Erste sein will, soll bereit sein, die Position des Letzten zu übernehmen. Oberschichtmitglieder wie Josephus und Philo lobten anders als Jesus nicht die Nächstenliebe, sondern die „Menschenliebe“ der Juden, die auch die Liebe zu Fernerstehenden umfasst. Fernkontakte hatten vorwiegend Mitglieder der Oberschicht. Jesus aber deutete die Nächstenliebe neu als Liebe zu allen Menschen, auch zu Fremden und Feinden. Sie sind zwar keine „Nächsten“, aber werden durch Liebe und Hilfe zu Nächsten. Obwohl in der Ethik Jesu das doppele Liebesgebot als Liebe zu Gott und zum Nächsten im Zentrum steht, spricht Jesus nie von der Liebe Gottes zu den Menschen – sondern nur indirekt von ihr, wenn er die Feindesliebe als Nachahmung des gerechten und großzügigen Gottes deutet, der alle Menschen gleich behandelt. Mit den Pharisäern diskutierte er über seine Lehre gerade deshalb, weil er ihnen nahestand. Beide wollten das Leben konsequent am Willen Gottes ausrichten, stritten aber über den Weg. Beide vertraten einen konsekutiven Synergismus: Gott ermöglicht, dass der Mensch bei der Verwirklichung seines Willens mitwirkt. Wenn Jesus lehrte, dass der Samen in der Erde „von selbst“ Frucht bringt, appellierte er an die Selbsttätigkeit des Menschen. Die Verwandlung der Welt durch Gottes Herrschaft sollte auch menschliches Handeln verändern und das Handeln von Menschen konnte in dieser Weise dabei mitwirken.
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8. Jesus als Märtyrer: Der Konflikt in Jerusalem Durch Lehre und Leben erregte Jesus Widerspruch. Er provozierte die politische Elite durch seinen Einzug in Jerusalem von Osten als eine Gegendemonstration zum Einzug des römischen Statthalters vom Westen her. Dieser Einzug war nach dem Modell von Sach 9,9ff gestaltet, dem Einzug eines Frieden bringenden Königs. Viele, die Jesus nachfolgten, erwarteten, er werde dieser neue König sein. Durch Kritik am Tempel provozierte er die religiöse Elite. Während der Täufer den Tempel nur indirekt kritisiert hatte, weil er nicht mehr effektiv Sündenvergebung vermittelte, griff Jesus ihn direkt an: Gott werde einen neuen Tempel an die Stelle des alten setzen. Seine Kritik am Tempel brachte er in einer symbolischen Protesthandlung zum Ausdruck, in der Grundzüge seiner Botschaft verdichtet sind: Ȥ Die Tempelreinigung wandte sich gegen den Tempel als Geldzentrum, wenn Jesus den Handel mit Geld und Opfertieren störte. Mammon und Gott waren für ihn unvereinbar, der Zugang zu Gott darf nicht vom Geld abhängen und nicht durch Geld verstellt werden. Das entsprach seiner Heilspredigt für die Armen. Ȥ Seine Tempelreinigung wandte sich gegen die Abschirmung des Tempels nach außen: Der Tempel sollte eine Gebetsstätte für alle Völker werden und sich für die Fremden öffnen (zu denen damals auch die Samaritaner gehörten). Das entsprach Jesu Erwartung, dass alle Völker in das Reich Gottes strömen werden. Ȥ Seine Tempelreinigung wandte sich gegen den Weiterbau am unvollendeten Tempel, wenn er verhinderte, dass Baumaterialien durch ihn getragen wurden. Der Tempel sollte bald durch einen neuen Tempel ersetzt werden. Das entsprach Jesu Erwartung eines grundlegenden eschatologischen Wandels. Für seine Jünger und Anhänger und Anhängerinnen setzte Jesus in Opposition zum Tempelkult einen neuen Ritus ein: ein schlichtes Essen, das er zur Passazeit, aber vor Beginn des Passafestes mit ihnen zusammen feierte. Judas, einer aus dem engsten Jüngerkreis, verriet unmittelbar nach diesem letzten Mahl seinen Aufenthaltsort, vielleicht um ein kultisches Schisma im Judentum zu verhindern. Die Einführung von neuen Riten ist dafür das erste Zeichen. Er lieferte Jesus auch nicht an die Römer aus, sondern an die für den Kult zuständige Tempelaristokratie. Aufgrund seines Verrats konnte Jesus nach dem letzten Mahl noch in der Nacht verhaftet werden. Er wurde wegen seiner Tempelweissagung vom Synedrium verhört. Die Aristokratie klagte ihn vor Pilatus aber nur wegen des politischen Verbrechens an, er habe als Königsprätendent nach der Macht gegriffen. Die Passionsgeschichte enthält insgesamt viele Erinnerungen eines „kommunikativen Gedächtnisse“, in dem Vertrautheit mit Ereignissen und ihrem Milieu vorausgesetzt wird, so dass sie bald nach Jesu Tod geprägt wurde, als noch Augenzeugen lebten. Die Hörer und Leser der Passionsgeschichte wussten z. B. mehr über Barabbas, der freigelassen wurde, während Jesus verurteilt wurde. Barabbas war zusammen mit anderen Rebellen gefangen genommen worden, die einen Mord begangen hatten; vielleicht war er nur am falschen Ort zur falschen Zeit. Dann wäre verständlich, dass die Jerusalemer ihn freibaten. Durch die Alternative zwischen Jesus und Barabbas schob Pilatus die Verantwortung für die Hinrichtung Jesu von sich weg. Unabhängig davon ist
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Jesu Verurteilung durch Pilatus nachvollziehbar. Denn Jesus verstand sich als Repräsentant der Herrschaft Gottes. Die von ihm verkündigte „Herrschaft Gottes“ wäre das Ende der Römerherrschaft gewesen. Zwar hat er die Erwartung der Gottesherrschaft durch Gewaltverzicht „entmilitarisiert“, aber keineswegs „entpolitisiert“. Denn in der Gottesherrschaft sollten die Armen und Außenseiter zur Geltung kommen und Heiden Zugang haben. Als politischer Unruhestifter wurde Jesus verurteilt und zusammen mit zwei Rebellen (wahrscheinlich im April 30 n. Chr.) gekreuzigt. Seine Jünger waren geflohen. Einige Jüngerinnen waren mutiger und erlebten das qualvolle Sterben Jesu am Kreuz in Sichtweite.
9. Die posthume Religionsstiftung Nach seinem Tod flohen seine Jünger aus Jerusalem und kehrten nach Galiläa zurück. Dort erlebte Petrus eine Jesuserscheinung, sammelte danach den Zwölferkreis, so dass sie aufgrund dieser Erneuerung ihrer Gemeinschaft auch die Gewissheit ihres Missionsauftrags für die zwölf Stämme Israels erneuerten. Ihre Ostererscheinung erlebten sie als eine „Auftragserscheinung“. Die Jünger kehrten aus Galiläa nach Jerusalem zurück. Dort hatte Maria Magdalena in der Nähe seines Grabes eine Ostererscheinung erlebt, in der sie Jesus zunächst nicht erkannt hatte – das Muster für weitere „Identifikationserscheinungen“, wie sie auch von den zwei Jüngern in Emmaus erzählt wurden. Alle Jünger und Jüngerinnen kamen aufgrund verschiedener Erscheinungen zu der Überzeugung, dass Jesus lebendig war. Ihre Erwartungen waren aber ganz anders in Erfüllung gegangen, als sie erhofft hatten. Sie erkannten wie die Emmausjünger jetzt erst: Jesus war ein leidender Messias. Sie erinnerten sich ferner: Jesus hatte von sich als „dem Menschen(sohn)“ gesprochen – gerade, wenn er mit allzu hohen Erwartungen an sich konfrontiert war. Damit hatte er den Begriff „Mensch“ mit messianischer Würde aufgeladen und gehofft, die Rolle dieses „Menschen“ als Zeuge im Gericht auszufüllen. Jetzt erkannten sie: Er war „der Mensch“, dem Gott nach einer Weissagung in Dan 7 alle Macht im Himmel und auf Erden geben wird. Für sie rückte Jesus damit an die Seite Gottes. Auch erwarteten die ersten Christusanhänger nach Ostern, dass Jesus bald wiederkommt. Sie wurden darin durch ekstatische Erlebnisse wie die „Erscheinung“ Jesu vor 500 Brüdern und Schwestern bestärkt. Ihr Blick war in die Zukunft gerichtet. Es gab keinen zwingenden Grund, nach einem leeren Grab zu suchen. Denn Juden wie Paulus konnten den toten Leib als eine „verfallene Hütte“ betrachten, die durch eine „neue Hütte“ im Himmel ersetzt wird. Daher vertrat Paulus seinen Osterglauben, ohne dass er sich dafür auf ein leeres Grab berufen musste. Das wurde anders, als sich die Wiederkunft Jesu verzögerte. Dann wollte man sich dessen vergewissern, dass Jesus wirklich auferstanden ist. Ein dauerndes Zeichen für seine Auferstehung wäre ein leeres Grab gewesen. Ein leeres Felsengrab aber hätte nach Jesu Tod bald jede „Beweiskraft“ verloren. Denn nach Verwesung des Fleisches wurden damals die Knochen in Knochenkisten gesammelt. Hinzu kam: Das Gräberfeld in der Nähe von Golgatha wurde schon ein Jahrzehnt nach Jesu Tod aufgegeben, als unter Herodes Agrippa (41–44) eine neue Stadtmauer gebaut wurde, die auch dieses Gräberfeld umschloss. Damals musste auch ein neues Felsengrab, das noch keine Nebenfächer
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hatte, aufgegeben werden, bevor es fertig war. Da Maria Magdalena in der Nähe dieses Gräberfelds ihre Ostererscheinung erlebt hatte, wurde dieses neue Grab zum Grab Jesu, das wir noch heute in der Grabeskirche besuchen. Es könnte das echte Grab Jesu sein. Aus der „Identifikationserscheinung“ vor Maria Magdalena in der Nähe dieses Grabes im JohEv war im MkEv die Geschichte vom leeren Grab geworden. Aus der rätselhaften Gestalt, die Maria Magdalena im JohEv zunächst als Gärtner identifiziert, wurde dabei ein junger Mann, der im MkEv nicht mit dem auferstandenen Jesus identifiziert wurde, sondern als ein Bote des Himmels gilt, der die Botschaft seiner Auferstehung übermittelte. Wenn der Mk-Evangelist betont, dass die Frauen niemandem etwas davon erzählten, dürfte das ein Zeichen dafür sein, dass diese Fassung der Erscheinungsgeschichte vor Maria Magdalena bisher unbekannt war. Im Urchristentum aber wurde der Glaube an den Auferstandenen nicht nur in verschiedenen Varianten erlebt, sondern auch neu gedeutet, sehr beeindruckend als Ostermystik in drei Fassungen: bei Paulus als Schöpfungsmystik, im Johannesevangelium als Liebesmystik, im Thomasevangelium als Erkenntnismystik. Zur Ostermystik gehört ein Protest gegen das Leid in der Welt, gegen den Hass in ihr und die Verdunkelung der Wahrheit. Mit diesem Osterglauben war der christliche Glaube als neue Variante des Judentums geboren: als ein messianisches Judentum, das seinen Messias in den Himmel neben Gott erhob und sich im Laufe der ersten drei Jahrhunderte nach und nach von seiner Mutterreligion trennte. Unsere methodische Leitfrage war in diesem Buch, das nach dem historischen Jesus fragt: Kann man aus den Erinnerungsbildern von Jesus mit Hilfe historischer Rekonstruktion die Frage beantworten, wer Jesus war? Dabei sind nicht nur einzelne Erinnerungsspuren, die als tendenzspröde und authentisch gelten, wichtige Indizien, sondern Erinnerungsmuster in vielen Überlieferungen, die sich zu einer historisch verständlichen Gestalt zusammenfügen lassen. Wir haben versucht, bei den verschiedenen Themen der Verkündigung Jesu solche Erinnerungsmuster in den Texten nachzuweisen und sie „milieuauthentisch“ in den Kontext der damaligen Zeit einzuordnen. Im Rückblick sei betont: Die Gesamtheit dieser Themen bilden vielleicht das überzeugendste Erinnerungsmuster. In der Geschichte gab es nur einmal einen Charismatiker, der eschatologische Predigt, Wunderheilungen, ethische Lehren, die Poesie der Gleichnisse und Symbolhandlungen so verband wie Jesus von Nazareth. Nimmt man hinzu, was wir von seinem Leben erkennen, seine Herkunft aus Galiläa, sein Wanderleben mit Jüngerinnen und Jüngern, sein Ende in Jerusalem als gekreuzigter Messias, so ist das Ergebnis: Jesus hat wirkungsauthentisch deutliche Spuren hinterlassen, durch die wir ihn erkennen können. Wir erkennen sie in Erinnerungen, die durch mündliche Traditionen eines kommunikativen Gedächtnisses geprägt worden waren, aber in verschriftlichter Form immer mehr zu Bestandteilen des kulturellen Gedächtnisses wurden. Natürlich sind unsere Ergebnisse keine Erkenntnisse mit Absolutheitsanspruch, sondern „nur“ plausible Analysen und Rekonstruktionen, die in den wissenschaftlichen Diskurs über Jesus eingebettet sind und ihn weiterführen. Sie wollen für Menschen mit verschiedenen Einstellungen zum christlichen Glauben nachvollziehbar sein und dabei auch verständlich machen, warum sich für viele Menschen in dieser Gestalt etwas „offenbart“, das ihr Leben und ihren Glauben grundlegend bestimmt.
Literaturverzeichnis
Die im Buch verwendeten Abkürzungen finden sich im folgenden Verzeichnis. Weitere Abkürzungen folgen dem Abkürzungsverzeichnis der RGG und TRE.
Primärliteratur Jüdische Literatur Zwischentestamentarische Literatur W.G.Kümmel (Hg.), Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit, JSHRZ, Gütersloh 1973ff
ApkAbr Arist AssMos äthHen 4Esr JosAs Jub 1Makk 2Makk 3Makk PsPhok PsPhilo PsSal SapSal Sib Sir SyrBar Tob TestXIIPatr TestLev TestJud Testlss
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Stellenregister
Außerbiblische Quellen, die im Text wörtlich zitiert werden, sind im Stellenregister fett gedruckt und mit einem Sternchen versehen.
1. Altes Testament Gen 1,3–5 443 Gen 1,5b 443 Gen 1,27 366 Gen 5,1 358 Gen 6 198 Gen 28 230 Gen 41,46 147 Gen 49,10 397 Ex 2 147 Ex 3,6 135, 218 Ex 8,15 240, 390 Ex 12,10 LXX 151 Ex 12,46 LXX 151 Ex 14,31 390 Ex 17,7 241 Ex 20,2 342 Ex 21,24f 365 Ex 23,4 358 Ex 23,4f 359 Ex 23,5 356 Ex 23,20 103, 188 Ex 24,8 434 Ex 29,4 187, 396 Ex 29,4–9 109, 205, 405 Ex 29,5–9 187 Ex 32 126 Ex 34 126 Ex 34,9 241 Lev 4,3 396 Lev 4,5 396 Lev 4,16, 396 Lev 11 368 Lev 11,20 183 Lev 11,22 183 Lev 16 126
Lev 17,10–14 183 Lev 19,7f 358 Lev 19,18 343, 344, 345, 346, 348, 357, 358, 365 Lev 19,33f 357 Lev 24,20 365 Lev 25 341 Num 6,5 183 Num 6,18 183 Num 8,7 109, 187, 205, 405 Num 19 450 Num 19,19 450 Num 24,17 146, 396, 397 Dtn 4,30 298 Dtn 4,35 343 Dtn 4,37 349 Dtn 6,4 104, 342, 343, 344, 350 Dtn 6,4f 348, 350 Dtn 6,5 343, 344, 345, 348 Dtn 7,7f 349 Dtn 10,15 349 Dtn 12,5 126 Dtn 13 458, 469 Dtn 17,2–7 469 Dtn 17,17 366 Dtn 18 458 Dtn 19,15 517 Dtn 19,21 365 Dtn 24,1–4 197 Dtn 27,15 392 Jos 3 286 Jos 4,7 435 Jos 15,25 475 Jos 22,5 350 Ri 9,7–15 304, 321, 324
1Sam 12,3 396 1Sam 12,5 396 1Sam 16,18 155 1Sam 24,11 396 1Sam 24,14 304 2Sam 5,4 147 2Sam 7,12ff 397 2Sam 7,14 404 2Sam 7,14f 387 2Sam 12 301, 321 2Sam 12,1–12 304 2Sam 12,24 349 2Sam 14,4–7 321 2Sam 23,1–4 403 2Sam 23,8 403 1Kön 2,10, 399 1Kön 5,13 403 1Kön 6,11 403 1Kön 19,13 182 1Kön 19,16 396 1Kön 19,19 182 1Kön 19,19–21 208 1Kön 20,39–40 321 2Kön 1,8 182 2Kön 2 182 2Kön 2,8 182, 286 2Kön 2,19–22 79 2Kön 4,42–44 264, 278 2Kön 14,8–14 321 2Kön 19,14f 229 1Chr 5,38 135 1Chr 24,3 135 1Chr 29,22 396 2Chr 9,8 230 Ijob 1,15ff 394
562
Ijob 25,6 413 Esr 7,6 Ps 2 406, 419 Ps 2,1ff 397 Ps 2,2 396 Ps 2,7 382, 387, 404, 533, 534 Ps 8,5 408 Ps 18,51 396 Ps 22 427 Ps 22,2 427, 464 Ps 22,17 113 Ps 22,27 427 Ps 23 295 Ps 24,7–10 229 Ps 45 229 Ps 47,9 229 Ps 50,3 250 Ps 68,22 LXX 81 Ps 71 419 Ps 72 236 Ps 72,1 531 Ps 72,17 LXX 531 Ps 89,7 530 Ps 93 229 Ps 96 229 Ps 97 229 Ps 97,10 349 Ps 99 229 Ps 99,1 229 Ps 105,15 396 Ps 110 419, 533 Ps 110,1 349, 419, 527 Ps 113–114 441 Ps 115–116 441 Ps 116,13 441 Ps 119 335 Ps 145,13 230 Ps 145,15f 230 Ps 146,3f 413 Ps 146,8 349 Spr 5,21f 358 Spr 8,22–31 368, 529 Spr 15,9 349 Spr 16,7 LXX 348 Spr 22,11 349 Spr 24,29 359 Spr 25,21f 359 Pred 3,16 369 Pred 4,1 369 Pred 4,7f 369
Stellenregister
Jes 1,9 244 Jes 2,2ff 236 Jes 2,2–5 232 Jes 5,1f 87 Jes 5,1–7 304, 322 Jes 6,1 509 Jes 6,5 229 Jes 6,9f 317 Jes 7,14 LXX 112, 198, 404 Jes 8,23 161 Jes 8,23–9,1 112 Jes 8,23–9,6 396, 397 Jes 11 398 Jes 11,1ff 396, 397 Jes 12,32 240 Jes 14,2 232 Jes 20,1–6 372, 429 Jes 24–27 482 Jes 24,21f 231 Jes 24,23 231 Jes 25,6–8 231 Jes 29,13 LXX 79 Jes 29,18f 390 Jes 33,17–22 231, 482 Jes 35,4 235, 250 Jes 35,5f 206 Jes 37,14–16 229 Jes 40,3 113, 177, 183, 188 Jes 40,9f 235 Jes 42,1 240 Jes 43,1ff 236 Jes 43,19 257 Jes 45,1 396, 399 Jes 45,6f 257 Jes 45,23 LXX 532 Jes 48,14 349 Jes 49,7 232 Jes 49,22 232 Jes 51,12 413 Jes 52,7 231, 399 Jes 53,5f 501 Jes 53,12 113, 403, 437 Jes 55,5 232 Jes 56,6–8 232 Jes 56,7 170, 450 Jes 58,6 78, 266 Jes 58,8f 329 Jes 60 232 Jes 60,4 232 Jes 60,9 232
Jes 61,1 396 Jes 61,1f 206, 266, 318, 390, 399 Jes 63,1–3 385 Jes 63,9 349 Jes 63,15 349 Jes 64,7 180 Jes 66,20 232 Jer 1,1 170 Jer 3,12 298 Jer 3,25 298 Jer 26,1–19 469 Jer 26,20 170 Jer 27,2–11 429 Jer 28,6 392 Jer 31,3 349 Jer 31,8 440 Jer 31,9 298 Jer 31,20 392 Jer 31,31 378, 434 Jer 31,31f 434 Jer 31,31–33 452 Jer 31,32 375 Jer 31,33 375 Jer 31,39f 375 Jer 38,8 440 Ez 1,1 147 Ez 17,3–10 321 Ez 19,2–9 321 Ez 19,10–14 321 Ez 21,1–5 321 Ez 24,3–5 321 Ez 34 295 Ez 36,25–27 181 Ez 36,26f 187, 375 Dan 2 231 Dan 2,28f 232 Dan 7 130, 231, 247, 308, 383, 408–412, 416, 529, 535, 549 Dan 7,9 244 Dan 7,13 383, 409, 410, 412, 414 Dan 7,13f 409, 412, 414 Dan 7,14 398, 530 Dan 7,18 409 Dan 7,22 530 Dan 7,27 409 Dan 8,15 409 Dan 9,23 394 Dan 9,25f 396 Dan 10,14 394 Dan 10,16 409
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Frühjüdische Literatur
Dan 10,18 409 Hos 1,2–3,5 372 Hos 1–2 429 Hos 6,2 501 Hos 11,1 112, 533 Hos 11,1–11 392 Hos 11,4 349 Joel 3,1–5 181, 187 Am 3,2 103 Am 9,11f 397 Ob 21 231 Jona 232 Mich 1,1 170 Mich 4,1ff 236 Mich 4,1–5 232
Mich 5,1 155 Mich 5,1ff 396, 397 Mich 5,1–4 112 Zeph 3,15 231 Zeph 3,17 349 Zeph 3,20 232 Hag 2,6–9 232 Sach 2,15 232 Sach 6,15 232 Sach 8,20–22 232 Sach 9,9 112, 113 Sach 9,9f 396, 397, 481 Sach 9,9ff 548 Sach 12,10 516 Sach 13,7 113
Sach 14,9 231, 482 Sach 14,14 232 Sach 14,16–19 232 Sach 14,20–21 475 Mal 1,2 349 Mal 2,14 366 Mal 2,14–16 366 Mal 3,1 103, 182, 188 Mal 3,2f 182 Mal 3,7 182 Mal 3,19 182 Mal 3,23f 182, 188 Mal 3,24 183
äthHen 46,4 410 äthHen 46,4ff 410 äthHen 48,3 410 äthHen 48,10 389, 398, 399, 410 äthHen 52,4 398, 399, 410 äthHen 60,7f 410 äthHen 60,24 410 äthHen 62,1ff 410 äthHen 62,3ff 247 äthHen 62,11 406, 534 äthHen 62,14 426 äthHen 70–71 415 äthHen 85–90 389 äthHen 85–90,42 448 äthHen 89,11 389 äthHen 90,9–12 389 äthHen 90,9ff 398 äthHen 90,28f 451 äthHen 90,37f 398 äthHen 95,4–7 247 äthHen 96,4–8 247
4Esr 7,28 398, 410 4Esr 10,50–55 448 4Esr 12 412 4Esr 12,1–34 410 4Esr 13 389, 409–412 4Esr 13,3 410 4Esr 13,12 410 4Esr 13,26 410 4Esr 13,37 410 4Esr 13,52 410
2. Frühjüdische Literatur Apokalypse Abrahams ApkAbr 10,5 409 ApkAbr 29 389 ApkAbr 31 389 Aristeasbrief Aristeasbrief 131 345 Aristeasbrief 132 344 Arist 140f* 369 Arist 142* 127 Arist 207* 357 Assumptio Mosis AssMos 4,2 258 AssMos 6,6f 180 AssMos 6,7 148, 159 AssMos 7,1 180 AssMos 9,6f 115 AssMos 10,1* 115, 206, 233, 250, 258 AssMos 10,1ff 233, 239 AssMos 10,3 406, 534 AssMos 10,13 395 Äthiopische Henochapokalypse äthHen 1–36 127 äthHen 22 512 äthHen 36–69 415 äthHen 37–71 389 409, 410, 412 äthHen 42 368 äthHen 46,1 410
Baruch Bar 2,34f 395 Bar 2,35 439 Bar 4,36f 395 Bar 4,36ff 236 Bar 5,5ff 395 Viertes Buch Esra 4Esra 130, 413
Hezekiel Tragiker Hezekiel 527–528 Tragiker Hezekiel Z. 68–82* 419, 527–528, 531 Flavius Josephus Ant 1,23 126 Ant 1,256 512 Ant 4,47 253s Ant 4,176–301 346 Ant 4,223 159, 230 Ant 4,271–274, 351 Ant 6,160 184 Ant 6,165f 403 Ant 7,338 184 Ant 7,356 184 Ant 7,374 184 Ant 8,45–49 105 Ant 8,46–48* 273
564
Ant 8,353f 208 Ant 9,182 282 Ant 10,278 252, 253 Ant 10,280 253 Ant 12,272–277 220 Ant 12,277 145 Ant 13,79 469 Ant 13,171–173 134 Ant 13,288–292 131 Ant 13,288–296 131 Ant 13,297 134, 168 Ant 13,297f 134, 136, 219 Ant 13,298 134 Ant 13,318 129 Ant 13,318f 161 Ant 13,372 131 Ant 13,376 132 Ant 13,380f 132 Ant 13,408f 219 Ant 13,410f 132 Ant 14,14f 231 Ant 14,22–24 285 Ant 14,41 159 Ant 14,91 156 Ant 14,159 159 Ant 14,165 159 Ant 14,167 159 Ant 15,318 171 Ant 15,371 134 Ant 15,372–379 448 Ant 15,375 184 Ant 15,380 148 Ant 15,380ff 400 Ant 15,390 448 Ant 15,417 479 Ant 16,42 184 Ant 16,277 145 Ant 17,25 167 Ant 17,27 167 Ant 17,28 167 Ant 17,42 136 Ant 17,89 145 Ant 17,149–167 448 Ant 17,204 472 Ant 17,224 402 Ant 17,272 138, 231 Ant 17,273 397 Ant 17,273f 138, 231 Ant 17,273–277 398 Ant 17,277 138
Stellenregister
Ant 17,278–84 138 Ant 17,279f 402 Ant 17,280 231, 397 Ant 17,285 182, 231 Ant 17,287–284 398 Ant 17,289 158 Ant 17,295 479 Ant 17,306 166 Ant 17,319 166 Ant 17,349–353 517 Ant 17,355 144 Ant 18,1f 144 Ant 18,4 59, 136, 159 Ant 18,4f 138, 220 Ant 18,5* 251, 351 Ant 18,9 159 Ant 18,11–25 134 Ant 18,12 134 Ant 18,15 134 Ant 18,16 134 Ant 18,16f 219 Ant 18,17 134, 219 Ant 18,19 448 Ant 18,23 59, 354, 395 Ant 18,23–25 138 Ant 18,30 449 Ant 18,37f 160, 163, 164 Ant 18,38 163, 515 Ant 18,55–59 483 Ant 18,55–62 35 Ant 18,59 36 Ant 18,60–62 483 Ant 18,62 36 Ant 18,63 282 Ant 18,63f* 34, 35, 60, 281, 457, 479 Ant 18,64 478 Ant 18,65 36 Ant 18,85–89 140, 449 Ant 18,90 166 Ant 18,109–112 177 Ant 18,113 177, 178 Ant 18,116–119* 37, 176, 179 Ant 18,117 178, 347, 353 Ant 18,118 159, 207 Ant 18,136 177, 178 Ant 18,167 51 Ant 18,240–244 139 Ant 18,240–256 160 Ant 18,251f 160
Ant 18,269–272 169 Ant 18,270–72 360 Ant 18,274 166 Ant 19,299 166 Ant 19,356–366 473 Ant 20,43 168 Ant 20,97 208 Ant 20,97f 166 Ant 20,97–99 141, 286 Ant 20,102 139, 160 Ant 20,106f 170 Ant 20,167 208 Ant 20,167f 141, 286 Ant 20,169–172 141, 286 Ant 20,188 141, 208 Ant 20,200* 34, 36, 37, 38, 198, 218, 398 Ant 20,200f 479, 480 Ant 20,215 472 Ant 20,225 170 Ap 1,176–182 126 Ap 1,232.236 35 Ap 1,236 35 Ap 2,164–166 230 Ap 2,168f 125 Ap 2,102–104 449 Ap 2,190–219 346, 351 Ap 2,206 347 Ap 2,213 346, 356 Bell 1,97f 480 Bell 1,113 132 Bell 1,331 399 Bell 1,402 171 Bell 1,534–551 147 Bell 1,648 36 Bell 2,5–7 448 Bell 2,56 138, 158, 159, 231, 402 Bell 2,68 158 Bell 2,117 479 Bell 2,117f 138 Bell 2,118 36, 138, 159, 349, 354 Bell 2,119–121 134 Bell 2,119–166 134 Bell 2,122 134 Bell 2,125 482 Bell 2,125f 208 Bell 2,129 174 Bell 2,136 134 Bell 2,139 184
565
Frühjüdische Literatur
Bell 2,141 134, 135 Bell 2,142 134 Bell 2,147 361 Bell 2,154–158 134 Bell 2,160f 134 Bell 2,162–166 134, 219 Bell 2,163 134 Bell 2,165 134 Bell 2,166 134 Bell 2,168 164 Bell 2,169–174 36, 360, 477, 483 Bell 2,175–177 483 Bell 2,176 36 Bell 2,253 479 Bell 2,258–60 141 Bell 2,259 286 Bell 2,261–263 141, 286 Bell 2,301 171 Bell 2,405 59 167 Bell 2,427 167 Bell 2,433 36 Bell 2,444 398 Bell 2,457f 162 Bell 2,466–468 162 Bell 2,477f 162 Bell 2,559–601 162 Bell 2,614 164 Bell 3,41f 154 Bell 3,42f 153 Bell 3,400 393, 394, 396 Bell 3,400ff 399 Bell 3,516–521 153 Bell 3,516–524 156 Bell 4,219 394 Bell 4,460–464 79 Bell 4,510 398 Bell 4,532 512 Bell 4,575 398 Bell 5,136 171 Bell 5,142–155 171 Bell 5,193f 479 Bell 5,194 449 Bell 5,405 167 Bell 6,124–126 479 Bell 6,125 Bell 6,285f 141 Bell 6,300–309 141, 170, 461, 466, 469, 471 Bell 6,312f 75 Bell 7,109 49
Bell 7,219–243 49 Bell 7,253 144 Bell 7,264 168 Bell 7,410 354 Bell 7,418f 354 Vita 1–6 186 Vita 11f 38 Vita 12 134 Vita 13f 136 Vita 63 136 Vita 65f 163 Vita 65–67 164 Vita 66f 164 Vita 67 162 Vita 71 164 Vita 74–76 168 Vita 119 164 Vita 191 136 Vita 197 136 Vita 346–348 169 Vita 348 169 Vita 375–380 163 Vita 403 156 Vita 420f 516 Joseph und Aseneth JosAs 12,14f 392 JosAs 23,9 359 JosAs 29,3 359 Buch der Jubiläen Jub 1,17–23 439 Jub 1,23 181, 187 Jub 1,24f 406, 534 Jub 1,29 448 Jub 7,20 345 Jub 20,2 345, 346 Jub 23 395 Jub 23,31 512 Jub 36,7f 345 Jub 50,9 234 1. Makkabäerbuch 1Makk 1,11 127 1Makk 1,20–28 128 1Makk 2,24–27 129 1Makk 2,29–41 362 1Makk 2,41 220 1Makk 2,42 130 1Makk 5,14f 161
1Makk 5,23 161 1Makk 7,13f 130 1Makk 14,4–15 400 1Makk 14,11–14* 400 1Makk 14,41 131 2. Makkabäerbuch 2Makk 1,10 396 2Makk 3,26 507 2Makk 3,33 507 2Makk 7,1–42 460 2Makk 14,6 130 4. Makkabäerbuch 4Makk 2,14 358 Philo von Alexandrien Abr 135 126 Conf 145–147 405, 534 Decal 65 344 Hypothetica 7,1–9 351 Flacc 36–40 47Bi Flacc 39 533 LegGai 212 449, 479 LegGai 299 171 LegGai 299–305 98, 219 LegGai 302 97, 458, 478 LegGai 303–305 478 Migr 89–92 364 Praem 95 398 Prob 75–87 135 QuaestGen 2,62 530, 531 SpecLeg 1,66f 448 SpecLeg 1,318 405, 534 SpecLeg 2,63 345–346 SpecLeg 2,235 347 SpecLeg 3,208f 353 Virt 51–174 346, 356 Virt 116f 356 Virt 116–120 358 VitMos 2,22 362 PMur PMur 19 366 Pseudo-Philo PsPhilo Ant 42,1 366 Pseudo-Phokylides PsPhok 8 347
566
PsPhok 77 359 PsPhok 140–142 358 PsPhok 228 353 Psalmen Salomos PsSal 6,4 230 PsSal 9,6f 394 PsSal 10,10 230 PsSal 17 248, 406, 419 PsSal 17–18 398, 399 PsSal 17,1 258 PsSal 17,3 230, 258 PsSal 17,13 230 PsSal 17,23f 397 PsSal 17,26 209, 384, 402, 406 PsSal 17,27 406, 533, 534 PsSal 17,28 248 PsSal 17,30 397 PsSal 17,31 406, 533, 534 PsSal 17,32 398 PsSal 17,44 238 PsSal 17,46 230 PsSal 18,1 398 PsSal 18,5 398 PsSal 18,6 238 PsSal 18,7 398 PsSal 18,28 232 PsSal 18,31 232 Qumran-Schriften CD I,5–11 132 CD I,8–11 132 CD I,9 132 CD II,12 399 CD IV,18,1 448 CD IV, 21–V,2 366 CD V,18–21–VI,1 398 CD VI,19 439 CD VI,20–VII,4 346 CD VII,18–21 396 CD VII,19–21 397 CD VIII,21 439 CD X,10–13 174 CD X,21 361 CD XI,4f 361 CD XI, 9f 362 CD XI,13f 361 CD XI,22 174 CD XII,22 399 CD XIV,18f 399
Stellenregister
CD XV,12 371 CD XIX,10f 385, 399 CD XX,1 385, 399 CD XX,12 439 1QGenAp XX 267 1QH IV,30 413 1QM I,1 233 1QM I,3 233 1QM VI,6 233, 239 1QM XII,7f 258 1QpHab IX 469 1QpHab XII,7f 448 1QS I,3–6 184 1QS III,6–10 448 1QS IV,21 181, 187 1QS V,8f 371 1QS VI,2–5 427 1QS VIII,2 346 1QS VIII,11f 135 1QS VIII,13f 188 1QS VIII,12–14 113 1QS IX,3f 348 1QS IX,3–6 132 1QS IX,9–11 385, 399 1QS IX,16 135 1QS IX,19f 188 1QS X,17f 359 1QS XI,20 413 1QSa II,11ff 399 1QSa II,12 398 1QSa II,17–22 427 1QSb V,20–29 398 4Q 161 = 4QpJesajah Frg. 8,11– 25 398 4Q 174 = 4QFlor III,10–13 398 4Q 174 = 4QFlor III,11f 404 4Q 175 = 4QTest 398 4Q 242 = 4QprNab 394 4Q 246 = 4QApocalypse 398, 404, 406, 410 4Q 252 = 4QpGen Frg. 1 v,1ff 397 4Q 285 = 4QSerekh ha milhamah Frg. 5 398, 403 4Q 400–406 229 4Q 403 = 4QShirShabb Frg. 1 i,31–33 234 4Q 491 = 4QM 419 4Q 521 = Messianic Apocalypse Frg. 2 ii,1 399
4Q 521 = Messianic Apocalypse Frg. 2 ii,11–13 206, 390 4Q 541 = 4QTLevi ar Frg. 9 398, 403 4QFlor = 4Q 174 III,6f 448 4QFlor = 4Q 174 III,10–12 397 4QFlor = 4Q 174 III,10–13 398 4QFlor = 4Q 174 III,11–13 397 4QFlor = 4Q 174 III,18f 397 4QMMT = 4Q 394–399 132, 135 4QPatr = 4Q 252 399 4QPatr = 4Q 252 Frg. 1 v,1ff 397 4QprNab = 4Q 242 394 4QpNah = 4Q 169 I,2 132 4QpNah = 4Q 169 I,7 132 4QpPs 37 = 4Q 171 4,8f 469 4QTest = 4Q 175 398 11QMelch = 11Q 13 389, 399 11QPsa = 11Q 05 27,11 403 11Q 19 = 11QTempel 29,8– 10 448 11QTempel = 11Q 19 64,6– 13 480 Sibyllinische Orakel Sib 3,46 258 Sib 3,49f 398 Sib 3,55 258 Sib 3,286 398 Sib 3,593f 347 Sib 3,652 398 Slavischer Henoch SlHen 9–10 329 Jesus Sirach Sir 4,10 405, 534 Sir 10,6 359 Sir 13,15 356 Sir 13,15 LXX 358 Sir 24 339, 368, 529 Sir 24,10f 368 Sir 24,23 368 Sir 31,15 346, 356 Sir 38,24ff 325 Sir 38,24–34 215 Sir 39,3 325 Sir 45,15 396
567
Urchristliche Literatur
Sir 48,10 182 Sir 51 257 Sir 51,1 257 Sir 51,10 393 syr. Achikar* 135 322 Syrische Baruchapokalypse SyrBar 29,3 389, 398 SyrBar 30,1 398 SyrBar 30,1f 389 Testament Abrahams TestAbr 8 392 TestAbr 20 392 Testamente der Zwölf Patriarchen TestBenj 3,3–5 345
TestBenj 3,8 403 TestBenj 9,1 258 TestBenj 10,7 258 TestDan 5,1–13 233 TestDan 5,3 345 TestDan 5,10ff 239 TestIss 5,1f 345 TestIss 5,2 348 TestIss 7,6 348 TestJos 1,4–6 329 TestJos 11,1 345 TestJud 24 398, 399 TestJud 24,3 406, 534 TestLev 18 398, 399
Tob 8,8 392 Tob 11,11f 395 Tob 13,4 258 Tob 13,6 258 Tob 13,7 258 Tob 13,13 232 Tob 13,15 258 Tob 14,4 395
Tobit Tob 4,13 346
Weisheit Salomos SapSal 1–5 368 SapSal 2,16–18 405 SapSal 2,18 534 SapSal 3,8 258 SapSal 5,5 405 SapSal 6–8 368 SapSal 6,4 258 SapSal 6,9 529 SapSal 11,10 258
Mt 3,10 175, 179–181, 188, 202, 310 Mt 3,11 179, 181, 406 Mt 3,12 181, 202, 310 Mt 3,13–17 201 Mt 3,14 175 Mt 3,15 75, 184, 201, 391 Mt 4,12–16 112 Mt 4,14 161 Mt 4,15 154, 329 Mt 4,17 188 Mt 4,24 75 Mt 4,44 108 Mt 5–7 74, 341, 391 Mt 5,3 116, 167 Mt 5,3f 235 Mt 5,3ff 248 Mt 5,6 235 Mt 5,8 61 Mt 5,9 75, 205, 340, 387, 405, 534, 543 Mt 5,11 413 Mt 5,13f 367 Mt 5,15f 155 Mt 5,16 319 Mt 5,17 3,51 394 Mt 5,19 249
Mt 5,20 237, 253, 351 Mt 5,21f 63, 351, 391 Mt 5,21–26 352 Mt 5,21–48 216 Mt 5,22 365 Mt 5,23f 365 Mt 5,23–26 65, 352 Mt 5,25f 155, 166, 245, 246, 314 Mt 5,27f 39, 62, 63, 301, 351, 366 Mt 5,27–30 352 Mt 5,28 211, 365 Mt 5,32 366 Mt 5,33f 351, 365 Mt 5,33–37 61, 63, 352 Mt 5,34f 365 Mt 5,35 258, 417 Mt 5,38–42 372, 464 Mt 5,38–48 358, 359 Mt 5,39 365 Mt 5,41 359 Mt 5,42 365 Mt 5,43 351 Mt 5,43ff 257 Mt 5,43–48 75, 358 Mt 5,44 64 Mt 5,44f 205, 405
Hebr. TestNaph 1,6* 345
3. Urchristliche Literatur 3.1 Neues Testament Mt 1–2 74 Mt 1,1–17 155 Mt 1,20 155 Mt 1,22f 76 Mt 1,23 112, 198 Mt 2 146 Mt 2,1–12 50, 144 Mt 2,1ff 50, 144 Mt 2,2 111, 146, 147, 472 Mt 2,5f 155 Mt 2,6 112 Mt 2,9f 146 Mt 2,12 477 Mt 2,13–21 266 Mt 2,15 76, 112 Mt 2,16–18 155 Mt 3–4 74 Mt 3,2 188 Mt 3,4 94 Mt 3,6 432 Mt 3,7 179, 202 Mt 3,7–10 181 Mt 3,8 180, 185, 204, 322 Mt 3,9 139, 180, 187, 202
568
Mt 5,45 202, 359, 369, 387, 391, 534, 543 Mt 5,46f 359 Mt 5,47 367 Mt 5,48 359 Mt 6,1 253 Mt 6,1–18 185, 219 Mt 6,2 155 Mt 6,5 155 Mt 6,9 405 Mt 6,9–13 253–258 Mt 6,10 116, 235, 464 Mt 6,10b 250, 255 Mt 6,12 109, 249 Mt 6,14f 256, 394 Mt 6,16 155 Mt 6,16–18 65 Mt 6,22f 315 Mt 6,24 139 Mt 6,25ff 255, 260 Mt 6,25–34 228, 355 Mt 6,26 212 Mt 6,28 212, 215, 235 Mt 6,32 329 Mt 6,33 116, 230, 251, 253, 369 Mt 6,34 62 Mt 7,1 249 Mt 7,1f 64 Mt 7,6 323 Mt 7,11 257 Mt 7,12 65, 104, 341, 345, 356, 357, 377 Mt 7,16–18 323 Mt 7,16–20 310 Mt 7,19 175, 188 Mt 7,21 236, 237 Mt 7,24–27 246, 315, 319 Mt 7,26 322 Mt 8–9 73, 74, 266 Mt 8,2 75 Mt 8,5 115 Mt 8,5–13 83, 277 Mt 8,10f 142, 248, 417 Mt 8,11 223, 236 Mt 8,11f 139, 142, 232, 244, 245, 371, 426 Mt 8,17 266 Mt 8,19 216 Mt 8,19f 208, 372
Stellenregister
Mt 8,20 324, 391, 411, 412, 413, 414, 535 Mt 8,21 208, 353, 411 Mt 8,21f 195, 372, 430 Mt 8,22 62 Mt 8,23–27 289 Mt 8,23 289 Mt 8,29 274 Mt 9,2 271 Mt 9,8 411 Mt 9,27–31 280 Mt 9,29 288, 390 Mt 10 74, 319, 374 Mt 10,5 329, 406, 449 Mt 10,5f 110 Mt 10,6 76, 157, 319 Mt 10,7f 282 Mt 10,7–15 251 Mt 10,10 372 Mt 10,14 243 Mt 10,16 305, 319, 324, 406 Mt 10,18 329 Mt 10,23 110, 225, 237, 413, 414 Mt 10,24 108 Mt 10,24f 208 Mt 10,28–31 250 Mt 10,34–36 214 Mt 10,37 214 Mt 10,40 108, 109 Mt 11 74 Mt 11,2 201, 208 Mt 11,2f 390 Mt 11,2ff 105 Mt 11,2–6 175, 181, 197, 206, 281, 282, 390, 415 Mt 11,3 75 Mt 11,5 113 Mt 11,6 281, 390, 404 Mt 11,7–9 99 Mt 11,7–15 197 Mt 11,8 139 Mt 11,9 182, 239, 389 Mt 11,10 103 Mt 11,11 203, 238, 249, 389 Mt 11,12 202, 252, 389 Mt 11,12f 238, 241, 248, 364, 364 Mt 11,14 188 Mt 11,16–19 197, 204 Mt 11,18 411
Mt 11,18f 413, 414 Mt 11,19 109, 202 Mt 11,20–24 100, 148, 282 Mt 11,21–24 244 Mt 11,27 107, 405 Mt 11,28–30 74,76, 355, 370 Mt 12 74 Mt 12,9–13 93 Mt 12,11f 361 Mt 12,18 240, 329 Mt 12,21 329 Mt 12,22ff 240 Mt 12,22–30 109, 273, 290 Mt 12,28 105, 225, 233, 239, 240, 274, 282, 285B, 289 Mt 12,29 240, 274 Mt 12,31 411 Mt 12,33f 188 Mt 12,33–37 310 Mt 12,38 122 Mt 12,38–40 281 Mt 12,38–42 485 Mt 12,40–42 325 Mt 12,41 216, 239 Mt 12,41f 212, 216, 244, 528 Mt 12,42 216 Mt 12,43–45 246 Mt 13 74, 319 Mt 13,3–30 319 Mt 13,16 108 Mt 13,16f 238, 388 Mt 13,19 256 Mt 13,23 216 Mt 13,24 312, 320 Mt 13,24–30 115, 313, 319 Mt 13,30 245 Mt 13,31 312 Mt 13,33 312, 316, 320 Mt 13,34 216 Mt 13,36ff 310 Mt 13,36–43 205, 319, 328 Mt 13,38–43 63, 319 Mt 13,41f 245 Mt 13,42 319 Mt 13,44 304, 316, 320 Mt 13,44–46 243, 297, 314 Mt 13,44f 299 Mt 13,45 320 Mt 13,45f 316 Mt 13,47f 329
569
Urchristliche Literatur
Mt 13,49 316 Mt 13,52 216, 268, 302 Mt 13,54 155 Mt 13,55 199 Mt 14,1ff 74 Mt 14,12 208 Mt 14,26 214 Mt 14,28–31 74 Mt 14,31 474 Mt 14,33 74, 279 Mt 15,3 75 Mt 15,4 75 Mt 15,7b 108 Mt 15,11 354 Mt 15,19 65 Mt 15,20 108 Mt 15,28 288, 390 Mt 16,16 74, 474 Mt 16,17–19 74 Mt 16,18 474 Mt 16,20 401 Mt 16,21 74 Mt 16,23 474 Mt 17,13 188 Mt 17,19f 253 Mt 17,24–27 74, 168, 280, 417 Mt 18 74, 256 Mt 18,3 108, 116 Mt 18,4 249 Mt 18,6f 66 Mt 18,10–14 319 Mt 18,12–14 320 Mt 18,14 316 Mt 18,16 517 Mt 18,18 108, 109 Mt 18,20 103, 104 Mt 18,21f 93, 329, 474 Mt 18,23ff 245, 249, 258 Mt 18,23–35 166, 245, 246, 319, 329, 394, 417 Mt 18,30 245 Mt 18,35 316 Mt 19–20 74 Mt 19,1 75 Mt 19,6 366 Mt 19,9 366 Mt 19,10–12 374 Mt 19,12 248, 366 Mt 19,16–26 93 Mt 19,16–30 374
Mt 19,21 374 Mt 19,23f 243 Mt 19,27f 452 Mt 19,28 160, 209, 244, 249, 259, 402, 404, 413, 417 Mt 20,1ff 257 Mt 20,1–16 62, 165, 245, 297, 301, 302, 314, 325, 328, 329 Mt 20,11f 308 Mt 20,16 316, 327 Mt 20,19 329 Mt 20,25 329 Mt 21–22 74 Mt 21,2 113 Mt 21,4 113 Mt 21,7 112 Mt 21,12–17 431 Mt 21,17 151 Mt 21,21f 275 Mt 21,28–32 204, 246, 248, 314, 315 Mt 21,28–22,14 319 Mt 21,31 187, 196, 235, 252, 360 Mt 21,31f 180, 237, 371, 372 Mt 21,32 183, 184, 204, 347 Mt 21,39 446 Mt 21,45 216 Mt 22,1ff 258 Mt 22,1–14 244 Mt 22,2 417 Mt 22,3 313 Mt 22,4 313 Mt 22,7 49, 75, 244, 309, 327, 472 Mt 22,9 313 Mt 22,15 216 Mt 22,34 216 Mt 22,34–40 65, 341, 343 Mt 22,37 104, 350 Mt 22,40 356 Mt 22,41 216 Mt 23–25 74 Mt 23 319 Mt 23,4 335 Mt 23,8–10 210 Mt 23,10 401 Mt 23,13 252, 355 Mt 23,23 168, 217, 301, 365 Mt 23,23f 136 Mt 23,25f 365
Mt 23,26 101, 241 Mt 23,27f 80 Mt 23,27–31 472 Mt 23,34 103 Mt 23,34–36 446 Mt 24–25 319 Mt 24,3 111 Mt 24,27 111, 413 Mt 24,28 305 Mt 24,30 413 Mt 24,36 405 Mt 24,37 111, 413 Mt 24,37–39 211, 246 Mt 24,39 111 Mt 24,40f 212, 247 Mt 24,43f 299, 313 Mt 24,45–51 245, 319 Mt 25 418 Mt 25,1–13 245, 314, 319, 330 Mt 25,13 327 Mt 25,14–30 93, 314 Mt 25,31–46 341 Mt 25,31ff 244, 245, 413 Mt 25,31–46 319, 328, 329, 412 Mt 25,34 223, 329 Mt 25,34ff 258 Mt 25,40 416, 329, 535 Mt 26–28 74 Mt 26,6 151 Mt 26,24 66 Mt 26,25 464 Mt 26,26 436 Mt 26,26–28 432 Mt 26,26–29 433, 436 Mt 26,28 186, 330 Mt 26,42 464 Mt 26,52 464 Mt 26,53 464 Mt 26,61 451, 464 Mt 26,63 474 Mt 26,73 161 Mt 27,3–10 74, 464, 476 Mt 27,19 74, 464, 477, 478 Mt 27,24 477 Mt 27,24f 74 Mt 27,25 49, 472 Mt 27,31 74 Mt 27,34 81 Mt 27,48 81 Mt 27,52 464
570
Mt 27,62 150, 216 Mt 27,62–66 504, 516 Mt 27,63 287 Mt 27,63f 469 Mt 28,2 507, 507, 507 Mt 28,2f 518 Mt 28,5 492, 507 Mt 28,8–10 491 Mt 28,9–10 504 Mt 28,11–15 490, 503, 504 Mt 28,16 510 Mt 28,16–20 284, 491, 496, 498, 499, 504 Mt 28,17 511 Mt 28,18 109, 405, 503, 504 Mt 28,18–20 103, 528 Mt 28,19 76 Mt 28,19f 110 Mt 28,19–20 73, 319 Mt 28,20 319 Mk 1,1–13 71 Mk 1,1 71 Mk 1,2f 183 Mk 1,3 113, 177 Mk 1,4 99, 109, 185, 186 Mk 1,5 185, 207 Mk 1,6 182, 183 Mk 1,7 179, 181 Mk 1,7f 175 Mk 1,8 110 Mk 1,9 109 Mk 1,9f 148 Mk 1,9–11 109, 201, 205 Mk 1,11 286, 362, 534 Mk 1,14 183 Mk 1,14f 219, 370, 371, 372 Mk 1,14–4,34 71 Mk 1,15 223, 225, 363, 388 Mk 1,15f 238 Mk 1,16f 238 Mk 1,16ff 109, 156 Mk 1,16–18 109 Mk 1,16–20 148, 156, 197, 207, 474 Mk 1,17 248 Mk 1,18–20 315 Mk 1,19f 166 Mk 1,21–28 277, 365 Mk 1,22 61, 193, 215, 216, 377, 419
Stellenregister
Mk 1,23–28 274 Mk 1,24 154, 362 Mk 1,28 60, 105, 271, 282, 292 Mk 1,29 29, 156 Mk 1,29–31 102, 166, 214, 291 Mk 1,31 213 Mk 1,32 444 Mk 1,32–34 281 Mk 1,40–45 78, 292, 354, 365 Mk 1,41 293 Mk 1,44 271 Mk 1,45 105, 271 Mk 2,1–3,6 196, 219 Mk 2,1–12 292, 394, 394 Mk 2,5 288, 292 Mk 2,6–10 284 Mk 2,7 395 Mk 2,10 411, 414 Mk 2,11 292 Mk 2,13f 148, 207 Mk 2,13–17 365 Mk 2,14 156, 197 Mk 2,15 360, 482 Mk 2,15–17 215, 360, 430 Mk 2,16 215 Mk 2,17 62, 196, 268, 306, 317, 318, 373, 394 Mk 2,18 201, 208 Mk 2,18f 388 Mk 2,18ff 239, 243 Mk 2,18–20 185, 315 Mk 2,18–22 219 Mk 2,18–28 196 Mk 2,19 196, 306 Mk 2,19f 317 Mk 2,20 110, 239, 413 Mk 2,21 212, 438 Mk 2,21f 317 Mk 2,22 281 Mk 2,23 61 Mk 2,23–28 361 Mk 2,23–3,6 136, 197, 277 Mk 2,27 71, 362, 362, 363, 368 Mk 2,27f 196, 411, 535 Mk 2,28 411 Mk 2,36 61 Mk 3,1–6 197, 220, 280, 361, 362 Mk 3,4 220, 362 Mk 3,6 219, 470
Mk 3,7–12 207, 281 Mk 3,8 271 Mk 3,11 406 Mk 3,14f 208 Mk 3,16–19 474 Mk 3,20 198, 207, 210 Mk 3,20f 109, 197, 200, 372 Mk 3,21 117, 221 Mk 3,22 40, 105, 167, 216, 280, 282, 287 Mk 3,22–26 317 Mk 3,22–27 63, 115, 196, 273 Mk 3,23–27 233 Mk 3,24 227 Mk 3,27 240, 246, 306 Mk 3,28f 404 Mk 3,28–30 149 Mk 3,31–35 197, 198, 200, 201, 214, 372 Mk 3,34f 406 Mk 3,35 210 Mk 3,38 412 Mk 4 57, 73 Mk 4,1 77, 207 Mk 4,1–34 315, 317 Mk 4,2 312, 317 Mk 4,3 312 Mk 4,3–9 88, 307, 310, 314 Mk 4,10–12 312, 318 Mk 4,10–20 87, 297 Mk 4,12 317 Mk 4,13ff 310 Mk 4,13–20 205, 308, 309, 328 Mk 4,14 252 Mk 4,15 252 Mk 4,16 252 Mk 4,18 252 Mk 4,20 252 Mk 4,21f 315 Mk 4,22 62, 63, 88 Mk 4,26–29 63, 71, 216, 242, 252, 297, 314–316, 325, 370 Mk 4,28 224 Mk 4,28f 250 Mk 4,29 245 Mk 4,30f 312 Mk 4,30–32 63, 307, 310, 316 Mk 4,32–34 323 Mk 4,33 67, 317, 327 Mk 4,34 305
571
Urchristliche Literatur
Mk 4,35–41 279 Mk 4,35–8,26 71 Mk 5,1–20 162, 273–274 Mk 5,1–17 73, 157, 251 Mk 5,7 406 Mk 5,9 241 Mk 5,11–13 273 Mk 5,15–43 291 Mk 5,19 292 Mk 5,20 105, 271 Mk 5,21–24 269, 276, 291 Mk 5,25–34 213, 275, 365 Mk 5,34 60, 72, 253, 268, 275, 288, 390 Mk 5,35–43 269, 276 Mk 5,36 288 Mk 5,37 474 Mk 5,39 276 Mk 5,43 271 Mk 6,1 155 Mk 6,1–6 87, 197 Mk 6,2 155, 272, 370 Mk 6,2f 199, 200 Mk 6,3 64, 99, 102, 198 Mk 6,4 61, 87, 108, 169 Mk 6,5 109, 281 Mk 6,5f 287, 293 Mk 6,7–11 205 Mk 6,7–13 60, 197, 243, 430 Mk 6,8 64, 256, 372 Mk 6,8f 102 Mk 6,8ff 63 Mk 6,12 60 Mk 6,14 109, 271, 492, 512 Mk 6,14f 282 Mk 6,14–16 148, 164, 169 Mk 6,15 379 Mk 6,16 266 Mk 6,17 177 Mk 6,17f 183 Mk 6,17ff 176 Mk 6,17–20 164 Mk 6,17–29 76, 176, 177 Mk 6,20 178, 183, 184, 347 Mk 6,21–29 480 Mk 6,29 201, 208, 512 Mk 6,30–44 390 Mk 6,34 207, 306 Mk 6,34–44 436 Mk 6,35–44 283
Mk 6,35ff 283 Mk 6,45–52 108, 279 Mk 6,45–8,26 76 Mk 6,49 108 Mk 6,49–50 283 Mk 6,52 279 Mk 7,1 216 Mk 7,1ff 135 Mk 7,1–5 136, 167 Mk 7,1–13 135, 136 Mk 7,1–15 196, 197, 215, 216 Mk 7,1–23 80, 354 Mk 7,3 111, 472 Mk 7,4 354 Mk 7,6 79, 155 Mk 7,6–13 137, 168, 219 Mk 7,8–13 131 Mk 7,14–23 317 Mk 7,15 64, 102, 202, 352, 353, 354, 361, 363, 365, 368, 371, 533 Mk 7,17 354 Mk 7,19 80 Mk 7,21 65 Mk 7,21f 72 Mk 7,24 157 Mk 7,24f 292 Mk 7,24–30 73, 99, 148, 149, 162, 213, 277 Mk 7,27 162 Mk 7,27f 317 Mk 7,31 157 Mk 7,31–37 266 Mk 7,32–37 268 Mk 7,33 275, 292 Mk 7,36 33, 271, 283 Mk 8 18 Mk 8,1–10 283, 436 Mk 8,6 283 Mk 8,6f 283 Mk 8,11f 286 Mk 8,11–13 281 Mk 8,18 289 Mk 8,22–26 266, 268, 289, 293 Mk 8,23 275 Mk 8,26 28, 292 Mk 8,27 156, 157 Mk 8,27–29 460 Mk 8,27–30 122, 148, 402 Mk 8,27–33 138, 169, 197
Mk 8,27–9,10 71 Mk 8,28 379 Mk 8,29 73, 382, 401, 402 Mk 8,29ff 415 Mk 8,30f 402 Mk 8,31 216, 413, 495, 498 Mk 8,31f 445 Mk 8,33 73, 382, 402 Mk 8,34f 372 Mk 8,35 63 Mk 8,38 63, 411, 416 Mk 9,1 237 Mk 9,2 474 Mk 9,2–10 279, 284 Mk 9,6 506 Mk 9,7 71, 286, 506, 534 Mk 9,9 284, 506, 518 Mk 9,9f 110 Mk 9,9–13 188 Mk 9,10 518 Mk 9,11–10,52 71 Mk 9,11–13 175 Mk 9,13 188 Mk 9,14–29 290 Mk 9,21 413 Mk 9,23 390 Mk 9,23f 275, 288 Mk 9,31 413, 495 Mk 9,33 156 Mk 9,34 88 Mk 9,37 63 Mk 9,37b 109 Mk 9,38f 271 Mk 9,38–40 282 Mk 9,41 400, 401 Mk 9,42 64 Mk 9,43ff 236, 237 Mk 9,43–47 248, 252 Mk 9,43–48 371 Mk 9,47 252 Mk 9,48 71 Mk 9,49f 63 Mk 10 76 Mk 10,1 147, 169 Mk 10,1–45 196 Mk 10,1–9 219 Mk 10,2–9 197, 215, 368 Mk 10,2–12 64, 197 Mk 10,5–9 366 Mk 10,8 367
572
Mk 10,9 366, 367 Mk 10,10–12 102, 366 Mk 10,11 62 Mk 10,11f 61, 63, 366 Mk 10,12 368 Mk 10,14f 248 Mk 10,15 116, 235, 236, 237, 252 Mk 10,17 223 Mk 10,17f 391, 531 Mk 10,17–22, 372 Mk 10,17–27 197 Mk 10,18 72, 98, 109, 122, 197, 257, 364, 404, 419 Mk 10,23 235, 236, 237, 252 Mk 10,24 252 Mk 10,25 62, 247, 252 Mk 10,28–30 210, 372 Mk 10,29 214 Mk 10,29f 63, 214 Mk 10,30 406 Mk 10,31 88 Mk 10,33 216 Mk 10,33f 495 Mk 10,35 355 Mk 10,35–45 197 Mk 10,37 249 Mk 10,38 281 Mk 10,40 384, 404, 419 Mk 10,41ff 247 Mk 10,42–44 355, 367 Mk 10,43f 249 Mk 10,45 110, 394, 437, 485 Mk 10,46ff 401, 402 Mk 10,46–52 291 Mk 10,47 64, 102 Mk 10,52 105, 288, 390 Mk 11,1–13,37 71 Mk 11,1 171 Mk 11,1–11 430, 481 Mk 11,2 113 Mk 11,2–6 181 Mk 11,8f 170 Mk 11,9f 481 Mk 11,10 401, 402, 430 Mk 11,11 151, 475 Mk 11,12–14 277, 430 Mk 11,15 450 Mk 11,15–18 431, 475 Mk 11,16 431 Mk 11,17 170, 431, 450
Stellenregister
Mk 11,18 216, 431, 468, 475 Mk 11,19 151 Mk 11,20–22 430 Mk 11,20ff 277 Mk 11,22 288 Mk 11,22f 63, 288 Mk 11,22–24 275, 282 Mk 11,24 108 Mk 11,25 394 Mk 11,27 216 Mk 11,27–33 149, 177, 197, 215, 389–390, 445, 484 Mk 11,28 219 Mk 11,32 182, 475 Mk 12,1 327 Mk 12,1–9 87, 149, 165, 314, 446 Mk 12,1–10 484 Mk 12,1–11 322 Mk 12,1–12 165, 301, 309, 317 Mk 12,1–13 406 Mk 12,1–44 196 Mk 12,3–17 197 Mk 12,12 317, 475 Mk 12,12–17 482 Mk 12,13 216, 219, 470 Mk 12,13–17 139, 149, 166, 197, 220, 251, 349, 354, 430 Mk 12,18–27 135, 137, 197, 216, 218, 485, 512 Mk 12,20 104 Mk 12,25 528 Mk 12,28–34 64, 197, 215, 221, 342, 343 Mk 12,29 72, 342, 348, 527 Mk 12,30 350, 370 Mk 12,32 72, 344, 348, 527 Mk 12,32f 184 Mk 12,32–34 71 Mk 12,33 104, 347, 350 Mk 12,34 116, 252, 350 Mk 12,35–37 64, 197, 199 Mk 12,36 349, 419, 527, 533 Mk 12,38–40 197 Mk 13 60, 72, 99, 412 Mk 13,1 72, 451 Mk 13,1f 431 Mk 13,3 171 Mk 13,6 103 Mk 13,6–8 322 Mk 13,6–9 322
Mk 13,7 232 Mk 13,10 67, 71, 73, 227 Mk 13,11 63 Mk 13,12 63 Mk 13,14 60 Mk 13,21 396 Mk 13,23–31 281 Mk 13,24–27 318 Mk 13,26 412 Mk 13,28f 310, 317 Mk 13,29 316 Mk 13,30 237 Mk 13,31 88 Mk 13,32 322, 405 Mk 13,32–37 317 Mk 13,33–37 314 Mk 13,35 63 Mk 14,1–15,37 71 Mk 14,1–52 463 Mk 14,1 216 Mk 14,1f 108, 151, 443, 463, 468, 471, 473 Mk 14,2 444, 475 Mk 14,3 151 Mk 14,3–9 197, 459 Mk 14,9 71, 73 Mk 14,10 452, 476 Mk 14,10f 463 Mk 14,12 150, 444 Mk 14,12–16 434 Mk 14,12–25 463 Mk 14,13 150 Mk 14,17 150, 431 Mk 14,17–25 475 Mk 14,18–27 459 Mk 14,20 431 Mk 14,22 283 Mk 14,22–24 439 Mk 14,22–25 64, 102, 433, 434, 436 Mk 14,23 436 Mk 14,24 437, 439 Mk 14,25 170, 236, 417, 424, 426, 431, 434, 438, 447 Mk 14,27 108, 113 Mk 14,28 459, 502, 518 Mk 14,32 171 Mk 14,32ff 459 Mk 14,32–42 459, 463 Mk 14,33 474
573
Urchristliche Literatur
Mk 14,36 108, 393, 447, 484 Mk 14,41 413 Mk 14,42–52 463 Mk 14,43 207, 216, 431, 476 Mk 14,47 60, 99, 462, 474, 482 Mk 14,50 445 Mk 14,51 462 Mk 14,51f 60, 99 Mk 14,53 462 Mk 14,53f 463 Mk 14,53–65 102 Mk 14,53–15,41 463 Mk 14,54 474 Mk 14,55–64 64, 443, 459, 469 Mk 14,55–65 463, 466 Mk 14,57f 141 Mk 14,58 72, 108, 286, 431, 451, 469 Mk 14,59 467 Mk 14,60 462 Mk 14,61 401, 402 Mk 14,61f 415, 464, 466, 469 Mk 14,61–63 459 Mk 14,62 412, 457, 468, 470 Mk 14,62f 469, 470 Mk 14,63 467 Mk 14,63f 470 Mk 14,64 468 Mk 14,65, 466, 470, 473, 486 Mk 14,66–72 463 Mk 14,72 474 Mk 15,1–27 102 Mk 15,1 466, 468 Mk 15,2 401, 480 Mk 15,2–5 403 Mk 15,2–20 463 Mk 15,2–41 459 Mk 15,6 443 Mk 15,6–14 207, 459, 463, 471 Mk 15,7 462, 472 Mk 15,10 483 Mk 15,11 471 Mk 15,15 102 Mk 15,16 171 Mk 15,16–18 486 Mk 15,16–19 473 Mk 15,16–20a 459 Mk 15,16–20 64 Mk 15,17 397 Mk 15,19 102
Mk 15,21 359, 443, 444, 462 Mk 15,21–37 463 Mk 15,22 171 Mk 15,24 102 Mk 15,24f 64 Mk 15,26 401, 402, 403, 480 Mk 15,27 480 Mk 15,29 141, 286 Mk 15,32 401, 480 Mk 15,34 464 Mk 15,38–16,8 71 Mk 15,39 71, 464, 534 Mk 15,40 163 Mk 15,40f 197, 211, 445, 508 Mk 15,41 213 Mk 15,42 150, 443 Mk 15,42–47 102, 459 Mk 15,42–16,8 464 Mk 15,43 116, 218, 471 Mk 15,44f 71, 490 Mk 15,46 443, 444 Mk 15,47 163, 508 Mk 16,1 163, 508 Mk 16,1f 444 Mk 16,1ff 498 Mk 16,1–6 459, 460 Mk 16,1–8 497, 499, 504, 518 Mk 16,5 497 Mk 16,6 71, 154, 497 Mk 16,7 64, 102, 492, 502, 503, 507, 511, 518 Mk 16,8 503, 520 Mk 16,9 213, 496, 507, 518 Mk 16,9–11 499, 506 Mk 16,9–13 504 Mk 16,9–20 66, 504, 507 Mk 16,14–16 504 Mk 16,17f 269, 504 Mk 16,18 40 Mk 16,19 504 Lk 1 177 Lk 1,1f 58 Lk 1,1–4 76 Lk 1,3 77 Lk 1,5 144, 147, 176 Lk 1,5–4,13 76 Lk 1,15 183 Lk 1,17 188 Lk 1,35 76 Lk 1,41f 175
Lk 1,52 77 Lk 1,76 188 Lk 1,80 177 Lk 2,1–7 77 Lk 2,1f 144 Lk 2,3–6 144 Lk 2,4 155 Lk 2,10–11 145 Lk 2,11 155 Lk 2,14 145, 155 Lk 2,39 393 Lk 2,41–52 200 Lk 2,46 241 Lk 3,1 147, 176 Lk 3,3 186 Lk 3,7 179, 202, 207 Lk 3,7–9 180 Lk 3,7–10 69 Lk 3,8 139, 202 Lk 3,9 149, 179, 180, 371 Lk 3,10–14 180, 183, 185 Lk 3,11 185 Lk 3,15f 182, 400 Lk 3,16 179 Lk 3,16f 69, 179 Lk 3,17 180, 181 Lk 3,20 201 Lk 3,21f 201 Lk 3,23 147, 199 Lk 4,1–13 69 Lk 4,14–9,50 76 Lk 4,16 155 Lk 4,16f 161 Lk 4,16–30 78 Lk 4,18f 76, 318 Lk 4,23 62, 305 Lk 4,25–27 212 Lk 5,1 77 Lk 5,1ff 109 Lk 5,1–11 109, 269, 278, 280, 284, 289 Lk 5,10 284, 506 Lk 5,26 38, 282 Lk 5,32 318 Lk 6,5D* 66 Lk 6,13 129 Lk 6,15 160, 481 Lk 6,16 476 Lk 6,18 281 Lk 6,20 107, 235
574
Lk 6,20f 235, 236 Lk 6,20ff 248 Lk 6,20b–21 371 Lk 6,20–49 69 Lk 6,20–8,3 76 Lk 6,21 278 Lk 6,22 413 Lk 6,24 60, 61, 247 Lk 6,27f 69 Lk 6,27–36 101, 358, 359 Lk 6,31 357, 359 Lk 6,32–34 359 Lk 6,32–35 367 Lk 6,35 359 Lk 6,36 210, 359, 393 Lk 6,37f 69 Lk 6,37ff 101 Lk 6,37–42 101 Lk 6,39 305, 306 Lk 6,41f 210, 316 Lk 6,46 533 Lk 6,47–49 69, 246, 306, 316 Lk 7,1–10 69, 83, 156, 280 Lk 7,1ff 156 Lk 7,3 111, 472 Lk 7,5 156 Lk 7,10 288 Lk 7,11–14 69 Lk 7,11–17 78, 276, 280 Lk 7,18f 69 Lk 7,18–23 149, 188, 206, 221, 280, 371 Lk 7,22 371 Lk 7,22f 69 Lk 7,24 207 Lk 7,24–26 148, 163 Lk 7,25 183 Lk 7,28 203, 238 Lk 7,31 306, 312 Lk 7,31–35 69, 169, 212, 316, 360, 484 Lk 7,33 183 Lk 7,33f 394 Lk 7,34 430 Lk 7,36–50 197, 217, 352, 367, 394 Lk 7,37–50 360 Lk 7,41–43 394 Lk 7,41f 318 Lk 7,44–47 360 Lk 8,1–3 157, 197
Stellenregister
Lk 8,2 163, 213 Lk 8,2f 78, 508 Lk 8,3 220 Lk 8,7 241 Lk 9,1 281 Lk 9,1–2 274, 289 Lk 9,5 243 Lk 9,26 246 Lk 9,29 180 Lk 9,51f 169 Lk 9,51–56 43, 147 Lk 9,51–18,14 76 Lk 9,51–19,27 76 Lk 9,55 66 Lk 9,57–62 69 Lk 9,58 60, 324 Lk 9,59f 60, 210, 372 Lk 9,59–62 207, 373 Lk 9,60 62 Lk 10 110 Lk 10,1f 211 Lk 10,1–12 148, 221, 430 Lk 10,2–12 70 Lk 10,2–16 69 Lk 10,4ff 63 Lk 10,4–9 205 Lk 10,5 208 Lk 10,5f 59, 99, 217 Lk 10,5ff 247 Lk 10,7f 217 Lk 10,8 353 Lk 10,9 60, 208, 217, 223, 274, 289, 373 Lk 10,10 208 Lk 10,10f 243 Lk 10,10ff 247 Lk 10,11 373 Lk 10,13–15 148, 149, 156, 157, 169, 244, 371 Lk 10,13ff 247 Lk 10,14 162, 245 Lk 10,16 58, 63, 103, 108, 109 Lk 10,18 206, 239, 246, 274 Lk 10,19 206 Lk 10,19f 281 Lk 10,21 109 Lk 10,21f 355 Lk 10,21–24 69 Lk 10,22 78, 320, 393 Lk 10,23f 238, 244
Lk 10,24–26 246, 320 Lk 10,25–27 343, 357 Lk 10,27 104, 184, 347, 350 Lk 10,28ff 343 Lk 10,29–37 307 Lk 10,30–37 78, 162, 297, 300, 318 Lk 10,36 357 Lk 10,37 307 Lk 10,38–42 197, 214 Lk 10,40f 368 Lk 11,1 185, 201, 208, 256 Lk 11,2 210, 235, 242, 393, 404 Lk 11,2–4 69, 148, 253–258 Lk 11,4 203 Lk 11,5 312 Lk 11,5–8 212, 256, 312, 314 Lk 11,9f 256 Lk 11,11ff 210 Lk 11,11–13 212, 256, 371 Lk 11,13 76 Lk 11,14 280 Lk 11,14f 69 Lk 11,14ff 240 Lk 11,15–18 63 Lk 11,17–26 69 Lk 11,19 390 Lk 11,20 62, 135, 225, 239, 241, 269, 274, 285, 289, 390 Lk 11,21f 63, 240 Lk 11,27f 197, 210, 214 Lk 11,27–33 203 Lk 11,29ff 69, 246, 247 Lk 11,30 412 Lk 11,31 370 Lk 11,31–32 61, 70, 162, 244, 368, 417, 418 Lk 11,32 149, 371 Lk 11,34–36 316 Lk 11,37ff 247 Lk 11,37–52 217 Lk 11,37–54 217 Lk 11,39–52 69 Lk 11,41 101 Lk 11,45 216 Lk 11,49 103 Lk 11,49–51 62, 70, 212, 246, 446, 484 Lk 11,52 216 Lk 12,2f 63
575
Urchristliche Literatur
Lk 12,4–7 250 Lk 12,5 369 Lk 12,6f 369 Lk 12,8 246, 412, 417, 535 Lk 12,8f 63, 69, 149 Lk 12,11f 63 Lk 12,16–21 297, 307, 313, 314, 325 Lk 12,21 316 Lk 12,22–31 60, 69 Lk 12,22–32 213, 369 Lk 12,29–32 212 Lk 12,30 210, 367, 393 Lk 12,31 252 Lk 12,32 393 Lk 12,35–40 245, 303 Lk 12,37 249 Lk 12,39f 63, 69, 317 Lk 12,42–46 69, 317 Lk 12,49 89, 306 Lk 12,49f 394 Lk 12,49–52 251 Lk 12,51 393 Lk 12,51–53 60, 69, 210, 372 Lk 12,52f 63 Lk 12,53 200 Lk 12,55 77 Lk 12,58f 69, 306, 317 Lk 13,1–3 159 Lk 13,1–5 203, 246 Lk 13,2–8 323 Lk 13,6–9 149, 203, 322, 371 Lk 13,8f 204, 306 Lk 13,10–17 213, 272, 280, 361 Lk 13,13 362 Lk 13,15 155 Lk 13,15f 361 Lk 13,16 281, 362, 367 Lk 13,18f 63, 212, 242 Lk 13,18–21 69, 116, 317 Lk 13,20 320 Lk 13,20f 212, 242, 306 Lk 13,23–27 317 Lk 13,24–30 69 Lk 13,28f 236, 244 Lk 13,29 162, 223 Lk 13,31 115 Lk 13,31–33 156, 164, 169, 217, 483, 485 Lk 13,32 305
Lk 13,34 110, 147, 446 Lk 13,34f 69, 70 Lk 13,34–35 213, 446, 484 Lk 14,1ff 249 Lk 14,1–6 280, 361 Lk 14,1–24 217 Lk 14,5 361 Lk 14,7–11 312, 417 Lk 14,14 362 Lk 14,15 235 Lk 14,16–24 244, 245, 308, 318 Lk 14,21 417 Lk 14,26 60, 63, 200, 210, 214, 341, 372 Lk 14,28–33 312 Lk 14,31–32 313 Lk 14,31–33 251 Lk 14,33 316 Lk 14,34f 63, 317 Lk 15 296, 318 Lk 15,1 360 Lk 15,1f 318 Lk 15,1–7 317 Lk 15,1–10 326 Lk 15,3–7 212, 295, 307, 320 Lk 15,3–10 315 Lk 15,4–7 326 Lk 15,7 196 Lk 15,7–10 318 Lk 15,8–10 212, 301, 314, 326 Lk 15,10 196, 316 Lk 15,11–32 78, 204, 212, 246, 249, 307, 313, 314, 329, 371, 394 Lk 15,18f 313 Lk 15,21 313 Lk 15,22 204 Lk 15,24 203 Lk 15,32 196, 203, 318 Lk 16,1–8 246, 330 Lk 16,1–12 318, 328 Lk 16,1ff 245, 249 Lk 16,8–13 316 Lk 16,13 139, 317, 355, 364 Lk 16,16 202, 238, 363, 364, 364 Lk 16,17 363 Lk 16,18 63 Lk 16,19–31 78, 307, 314, 318 Lk 16,29–31 329 Lk 17,3 210 Lk 17,5f 253
Lk 17,6 63, 288 Lk 17,7–10 245, 315, 323 Lk 17,10 316 Lk 17,11 147 Lk 17,11–19 78, 280 Lk 17,18 449 Lk 17,19 241, 288, 390 Lk 11,20 241 Lk 17,20f 224 Lk 17,21 241–242 Lk 17,22 443 Lk 17,23–37 69 Lk 17,25 413 Lk 17,26–37 99 Lk 17,26 412 Lk 17,26f 246 Lk 17,28 412 Lk 17,30 413 Lk 17,33 63 Lk 17,34 247 Lk 17,34f 317 Lk 17,35 215 Lk 18,1–8 212, 252, 302, 303, 305, 314, 318, 329, 330 Lk 18,8 326, 413 Lk 18,9–14 78, 307, 314, 318, 394 Lk 18,12 136 Lk 18,14 111, 196 Lk 18,18–23 360 Lk 18,18 223 Lk 18,29b 214 Lk 19,8 360 Lk 19,10 196, 318, 394 Lk 19,11 170, 440, 475 Lk 19,11–27 155, 317 Lk 19,13–15 67 Lk 19,15–24 245 Lk 19,28–24,52 76 Lk 19,39 216 Lk 19,43f 77 Lk 19,45f 431 Lk 20,15 446 Lk 21,8 77 Lk 21,20–24 77 Lk 21,21 241 Lk 21,36 414 Lk 21,37 151 Lk 21,38 66 Lk 22,4 476
576
Lk 22,14–38 435 Lk 22,15 433, 435, 442, 443 Lk 22,15–20 432, 433 Lk 22,17–19a 424, 434 Lk 22,28 70, 474 Lk 22,28ff 413 Lk 22,28–30 67, 69, 148, 160, 231, 235, 317, 402, 404, 417, 430, 452, 486 Lk 22,29 393 Lk 22,29f 424 Lk 22,30 70, 209, 211, 426, 482 Lk 22,32 474 Lk 22,35–38 78 Lk 22,35f 111 Lk 22,37 113, 465 Lk 22,38 482 Lk 22,61 474 Lk 22,66 468 Lk 22,66–71 466 Lk 22,66–77 468 Lk 22,69 414 Lk 23,2 77, 466 Lk 23,6–12 465, 477 Lk 23,12 219 Lk 23,13f 472 Lk 23,27–31 78, 465, 472 Lk 23,28–30 384 Lk 23,34 66, 465, 465 Lk 23,35 35 Lk 23,39–43 78, 472 Lk 23,43 330, 465, 512 Lk 23,47 465 Lk 23,48 465 Lk 23,49 474 Lk 23,51 218 Lk 23,52 Lk 23,54 150 Lk 24 507 Lk 24,1–12 505 Lk 24,4 507, 507, 518 Lk 24,6 503 Lk 24,7 413 Lk 24,9 510 Lk 24,10 508 Lk 24,11 518 Lk 24,12 505 Lk 24,13ff 498 Lk 24,13–27 38, 499 Lk 24,13–35 435, 445, 491, 505
Stellenregister
Lk 24,19f 38 Lk 24,20 466, 478 Lk 24,21 445, 475 Lk 24,22–24 497 Lk 24,23 507, 507, 518 Lk 24,25 465 Lk 24,25ff 404 Lk 24,25–27 485, 488 Lk 24,26 401,445, 534 Lk 24,26f 113 Lk 24,28–30 475 Lk 24,30f 496 Lk 24,33 510 Lk 24,34 499, 511 Lk 24,36–43 108 Lk 24,36–49 496, 498, 499, 505 Lk 24,37–39 283 Lk 24,39f 113 Lk 24,39–43 503 Lk 24,44 113, 465 Lk 24,47 319 Lk 24,49 76, 393 Lk 24,50–51 505 Joh 1–20 82 Joh 1,1–13 83 Joh 1,1–18 82, 530, 531 Joh 1,6–8 188 Joh 1,8 175 Joh 1,14–18 83 Joh 1,15 175, 188 Joh 1,17 401 Joh 1,19–12,50 83 Joh 1,19–23 188 Joh 1,19ff 82 Joh 1,20 182, 400, 401 Joh 1,21 182 Joh 1,25 401 Joh 1,27 179 Joh 1,29 186, 201 Joh 1,31 393 Joh 1,33 179, 188 Joh 1,35f 201 Joh 1,35–37 208 Joh 1,35–42 85 Joh 1,35–51 207 Joh 1,41 82, 395, 401 Joh 1,44 85, 156 Joh 1,45f 154 Joh 1,46 154 Joh 1,49 82, 480
Joh 2–11 84 Joh 2,1–11 278, 280 Joh 2,6 84, 167 Joh 2,11 84 Joh 2,13 147 Joh 2,13ff 148 Joh 2,14 449 Joh 2,14–22 452 Joh 2,19 108, 141, 449, 451 Joh 2,20 148, 449 Joh 2,21 169, 452 Joh 2,22 83, 85, 108, 111, 452 Joh 2,23 84 Joh 3,3 84, 108, 116, 223 Joh 3,5 116, 223 Joh 3,7 471 Joh 3,16 83, 107, 320, 349, 373 Joh 3,22 202 Joh 3,22–24 201 Joh 3,25 208 Joh 3,26 201 Joh 3,28 401 Joh 3,30 188 Joh 3,50–52 471 Joh 4–7 82 Joh 4,2 201, 202 Joh 4,4–42 214 Joh 4,25 395, 401 Joh 4,29 401 Joh 4,44 108 Joh 4,45 84 Joh 4,46 115 Joh 4,46–54 83 Joh 4,48 83 Joh 4,53 83 Joh 4,54 84 Joh 5 82 Joh 5,1–16 105 Joh 5,1–18 280, 361 Joh 5,2 84 Joh 5,2–16 84 Joh 5,2–18 450 Joh 5,14 79 Joh 5,17 105 Joh 5,18 102 Joh 5,19 320 Joh 5,24 525 Joh 5,27 408 Joh 5,43 393 Joh 6 289
577
Urchristliche Literatur
Joh 6,1 83, 163 Joh 6,4 147 Joh 6,5 207 Joh 6,5–15 283 Joh 6,15 83, 85, 108, 480 Joh 6,23 163 Joh 6,30 390 Joh 6,32 105 Joh 6,42 198 Joh 6,49 390 Joh 6,51–58 435, 436 Joh 6,52–58 269, 283 Joh 6,54–56 438 Joh 6,56 435 Joh 6,67–71 402 Joh 7 83 Joh 7,5 198 Joh 7,12 287, 469 Joh 7,22f 361 Joh 7,26f 401 Joh 7,31 401 Joh 7,36 66 Joh 7,41f 85, 401 Joh 7,42 199 Joh 7,45–52 218 Joh 7,47 469 Joh 7,48 207 Joh 7,52 66, 154, 167 Joh 7,53–8,11 82 Joh 8,1–11, 352 Joh 8,2–11 367 Joh 8,6 161 Joh 8,20 78 Joh 8,29–34 188 Joh 8,58 85 Joh 9 289 Joh 9,1–7 84, 450 Joh 9,1–11 268 Joh 9,1–41 280 Joh 9,6 275 Joh 9,7 84 Joh 9,22 401 Joh 9,35ff 411 Joh 10,1–5 320 Joh 10,1–6 81 Joh 10,1–16 327 Joh 10,1–18 315 Joh 10,1–21 324 Joh 10,6 305 Joh 10,10 393
Joh 10,11–13 306 Joh 10,14f 405 Joh 10,17f 451, 465 Joh 10,24 401, 403 Joh 10,30 79 Joh 10,33 102 Joh 10,41 105, 188, 267, 284 Joh 11 269 Joh 11,1–44 84, 276 Joh 11,1–45 280 Joh 11,27 401 Joh 11,41 105 Joh 11,41f 276, 286, 290 Joh 11,47–53 85, 467, 468 Joh 11,47f 467 Joh 11,48 108, 484 Joh 11,49 467 Joh 11,50 472 Joh 11,55 147, 450 Joh 12,3–8 475 Joh 12,13 480 Joh 12,13f 112 Joh 12,14 112 Joh 12,16 83, 85, 108, 111 Joh 12,21 156 Joh 12,23 411, 465 Joh 12,24 320 Joh 12,25f 84 Joh 12,31 85, 239, 280 Joh 12,32f 465 Joh 12,34 401, 411 Joh 12,47 393 Joh 12,49f 525 Joh 13–17 83, 349, 373 Joh 13 434, 436 Joh 13,1 150, 151 Joh 13,1–17 107, 249 Joh 13,1–30 436 Joh 13,2–17 465 Joh 13,8 434 Joh 13,10 185, 450 Joh 13,16 84, 108, 320 Joh 13,20 84, 108 Joh 13,26 107 Joh 13,30 150 Joh 13,34 438, 525 Joh 13,34f 83, 434, 465 Joh 14,3 525 Joh 14,13f 84 Joh 14,20 525
Joh 14,23 525 Joh 14,26 85, 108, 111 Joh 14,30 85 Joh 15–17 82 Joh 15,1–8 310, 324, 327 Joh 15,3 450 Joh 15,7b 108 Joh 15,9–10 525 Joh 15,9–17 83, 111, 320, 465 Joh 15,12–15 525 Joh 15,18–25 85, 525 Joh 15,20 108 Joh 15,21 320 Joh 16,11 85, 239, 280 Joh 16,12–15 83 Joh 16,25 305, 320 Joh 16,28 393 Joh 16,29 305, 320 Joh 16,32 108 Joh 17,3 401 Joh 17,8 82 Joh 17,11 90 Joh 17,12 401, 465 Joh 17,22f 525 Joh 18,1–19,42 83 Joh 18,1 150 Joh 18,1–9 465 Joh 18,9 465, 474 Joh 18,10f 474 Joh 18,11 108 Joh 18,13 467 Joh 18,14 472 Joh 18,19 467 Joh 18,19–24 85, 467 Joh 18,28 85, 150, 450 Joh 18,31 458, 479 Joh 18,31f 480 Joh 18,36 83, 84, 85, 116, 480 Joh 18,36f 465 Joh 18,37 393 Joh 18,38 472, 465 Joh 18,39 465 Joh 19,3 458 Joh 19,4 515 Joh 19,6 465 Joh 19,7 470 Joh 19,11 467, 477–478 Joh 19,12 85, 108, 480 Joh 19,12–16 465 Joh 19,13 171
578
Joh 19,14 151 Joh 19,14f 465 Joh 19,17 465 Joh 19,19 116, 154 Joh 19,19–22 465 Joh 19, 21f 116 Joh 19,23f 516 Joh 19,25–27 465 Joh 19,26f 445, 474 Joh 19,31 85, 150, 151, 513 Joh 19,34 505 Joh 19,34f 515, 516 Joh 19,36 151 Joh 19,37 516 Joh 19,38–42 218 Joh 19,41 515 Joh 19,42 150 Joh 20 83, 503 Joh 20,1–2 514 Joh 20,1–10 505 Joh 20,1–18 499, 506, 507 Joh 20,2 490 Joh 20,5f 503 Joh 20,8 503 Joh 20,11–18 213, 496, 498, 499, 505, 514 Joh 20,13 513 Joh 20,14 518 Joh 20,14f 490 Joh 20,16 496 Joh 20,17 393, 518 Joh 20,19–21 491 Joh 20,19–23 496, 498, 499, 505 Joh 20,21 109 Joh 20,23 84, 108, 109 Joh 20,24–29 505, 516 Joh 20,25 113 Joh 20,29 238 Joh 20,30 280 Joh 20,30f 82, 84 Joh 20,31 401 Joh 21 82, 83, 503 Joh 21,1 163 Joh 21,1–14 109, 269, 284, 491, 498, 505, 506 Joh 21,7 496, 503 Joh 21,15 373 Joh 21,15–19 503 Joh 21,15–23 505 Joh 21,20–25 84
Stellenregister
Joh 21,22f 237 Joh 21,24 66, 84 Joh 21,25 82, 280 Apg 1,12 361 Apg 1,13 160 Apg 1,14 111, 198 Apg 1,18 476 Apg 2 499 Apg 2,1 ff 78 Apg 2,2 509 Apg 2,22 289 Apg 2,34f 533 Apg 2,36 380 Apg 2,42–47 261, 435 Apg 2,46 426 Apg 4,1 168 Apg 4,10 49 Apg 4,19 50 Apg 4,32–37 261 Apg 5,1–11 277, 289 Apg 5,17 168, 218 Apg 5,29 50 Apg 5,34–40 218 Apg 5,36 141, 286 Apg 5,36–37 139, 166 Apg 5,37 138, 139, 144 Apg 6,1–6 100 Apg 6,6–8,3 449 Apg 6,8–7,59 482 Apg 6,14 451 Apg 7,54–60 479 Apg 7,55f 457 Apg 7,56 411, 412 Apg 9 498 Apg 9,1–19 499 Apg 9,3–9 509 Apg 9,3–19 510 Apg 9,22 35 Apg 10,1–11 353 Apg 10,6 77 Apg 10,18 353 Apg 11,16 110 Apg 11,30 59, 111 Apg 12,1f 452, 468 Apg 12,2 479 Apg 12,12 214 Apg 12,20 162 Apg 12,20–23 277, 289 Apg 13,1 220 Apg 13,25 179
Apg 13,27f 466 Apg 13,29 513 Apg 13,33 404, 528, 534 Apg 13,38f 77 Apg 15 111 Apg 15,6 111 Apg 15,10 335 Apg 15,13 111 Apg 15,28 335 Apg 17,6 46 Apg 17,7 46, 480 Apg 18,1–3 214 Apg 18,2 46 Apg 18,15 42 Apg 18,23 59 Apg 19,1–7 185 Apg 20,6 435 Apg 20,7–12 435 Apg 20,35 65 Apg 21,3–6 162 Apg 21,18 111 Apg 21,27–30 479 Apg 21,28f 449 Apg 21,38 141, 286 Apg 22 498 Apg 22,3 136 Apg 22,3–21 499, 510 Apg 22,9 509 Apg 23,6–8 136 Apg 23,6–10 217 Apg 23,6–11 168 Apg 23,8 135, 216 Apg 26 498 Apg 26,2–23 510 Aph 26,4f 217 Apg 26,5 136 Apg 26,9–23 499 Apg 26,28 77 Apg 26,28f 42 Apg 27,35 435 Apg 28,1–6 269 Apg 28,31 77 Röm 1,3 102 Röm 1,3f 64, 106, 109, 155, 199, 205, 279, 284, 380, 387, 404, 532 Röm 1,4 109, 528 Röm 1,20 538 Röm 4,17 524 Röm 4,24 495
579
Urchristliche Literatur
Röm 4,25 487, 495 Röm 5,5 524 Röm 5,6 401 Röm 5,6–8 373 Röm 5,6–11 487 Röm 5,8 401 Röm 5,12–21 535 Röm 5,14 405 Röm 8,11 495 Röm 8,14 534 Röm 8,15 393 Röm 8,31–39 111, 349, 524 Röm 8,32 456 Röm 9,1 365 Röm 9,29 244 Röm 10,9 495, 498, 532 Röm 11,16f 323, 324 Röm 11,16–24 309 Röm 11,17–24 327 Röm 11,23 327 Röm 11,25–32 142 Röm 11,26ff 142 Röm 12,1f 525 Röm 12,6 193, 222 Röm 12,9 64 Röm 12,14 64, 101 Röm 12,17 64,101 Röm 12,21 64 Röm 14,10 64\ Röm 14,11 532 Röm 14,13 64, 101 Röm 14,14 64, 102, 354, 533 Röm 14,17 223, 237 Röm 14,20 354 Röm 15,3 64, 102 Röm 15,7 501 Röm 15,12 214 Röm 15,19 510 Röm 16,3 214, 341 Röm 16,7 214, 341, 501 1Kor 1–4 65 1Kor 1,1 214 1Kor 1,23 488 1Kor 2,8 64, 102, 456 1Kor 3,3 102 1Kor 3,12–18 509 1Kor 3,16f 452, 454 1Kor 4,6 509 1Kor 4,20 223 1Kor 5,7 151
1Kor 6,3 535 1Kor 6,9f 223, 237 1Kor 6,14 495 1Kor 7,10 533 1Kor 7,10f 64, 101, 102, 365 1Kor 7,10–12 104 1Kor 7,40 104 1Kor 8–10 59 1Kor 8,1 496 1Kor 8,6 344, 348, 531 1Kor 9,1 501, 509 1Kor 9,5 102, 198, 214, 341 1Kor 9,14 64, 101, 102, 533 1Kor 10,1–13 425 1Kor 10,14–22 436 1Kor 10,21 425 1Kor 11,17–23 442 1Kor 11,23 102, 150, 426, 428, 434, 533 1Kor 11,23–25 433, 434 1Kor 11,23–26 64, 101, 436 1Kor 11,24 426, 428, 437 1Kor 11,24–25 438 1Kor 11,25 426, 428, 434, 437 1Kor 11,26 235, 425, 434, 440 1Kor 11,29f 425 1Kor 12,3 532 1Kor 12,13 535 1Kor 12,15 323, 324 1Kor 12,30 193, 222 1Kor 13,13 111 1Kor 14,16 392 1Kor 14,22–24 438 1Kor 15 499, 501,520, 535 1Kor 15,1f 426 1Kor 15,3 102, 113, 499, 506 1Kor 15,3f 495 1Kor 15,3ff 401, 501 1Kor 15,3–5 64, 106, 500, 502, 511 1Kor 15,3b–5 500 1Kor 15,3–8 106, 499, 502, 507, 509, 510, 511, 518 1Kor 15,3–9 511 1Kor 15,3–11 446, 502 1Kor 15,4 511, 512 1Kor 15,4f 499 1Kor 15,5 209, 499, 501, 511 1Kor 15,5–8 496 1Kor 15,6 499, 519
1Kor 15,7 92, 102, 496, 499, 501, 508 1Kor 15,8 499, 500, 508 1Kor 15,11 499 1Kor 15,15 495 1Kor 15,17–19 489 1Kor 15,23 535 1Kor 15,24 223 1Kor 15,25 533 1Kor 15,47 535 1Kor 15,50 223 1Kor 15,58 498 1Kor 16,19 214 1Kor 16,22 235, 532 2Kor 1,1–7,4 509 2Kor 1,1 214 2Kor 3,18 535 2Kor 4,4f 535 2Kor 4,5f 524 2Kor 4,6 496, 524 2Kor 4,10 524 2Kor 4,14 495 2Kor 5,1 501, 512 2Kor 5,15 495 2Kor 5,16 20, 102 2Kor 5,20 487 2Kor 6,16–18 454 2Kor 11,31 365 2Kor 12,1ff 416 2Kor 12,8 281 2Kor 12,9 294 2Kor 12,12 281, 284 2Kor 13,1 517 Gal 1,1 495 Gal 1,12 495 Gal 1,14 129, 136 Gal 1,15f 495, 510 Gal 1,16 498, 509, 510 Gal 1,17 510 Gal 1,18 77 Gal 1,18f 500 Gal 1,19 64, 102, 111, 199, 508 Gal 1,20 365 Gal 2 111 Gal 2,1 77 Gal 2,1ff 59 Gal 2,1–10 67 Gal 2,1–14 353 Gal 2,9 111, 452
580
Gal 2,11–14 353 Gal 2,19f 509 Gal 2,20 456 Gal 3,1 102 Gal 3,28 29, 525, 535, 536 Gal 4,6 393 Gal 4,6f 405, 534 Gal 5,21 223 Gal 6,15 535 Eph 1,20 495 Phil 1,1 59 Phil 1,23 512 Phil 2,5–11 102 Phil 2,6–11 281, 387, 531, 532 Phil 2,9 532 Phil 2,10 532 Phil 2,10f 532 Phil 2,11 532 Phil 3,4–11 510 Phil 3,6 129 Phil 3,8 498 Phil 3,8–10 496 Phil 4,2f 214 Kol 2,12 495 Kol 3,11 535 Kol 4,11 34 Kol 4,14 77 1Thess 2,12 223 1Thess 2,14f 102, 456 1Thess 2,15 49, 446 1Thess 2,16 239 1Thess 2,19 111 1Thess 4,1 533 1Thess 4,14 495, 498 1Thess 4,15 239 1Thess 4,15–17 64 1Tim 5,19 517 2Tim 4,11 77 Phlm 1 214 Phlm 24 77 Hebr 2,6 408 Jak 1,10f 310 Jak 5,12 365, 417 Jak 5,13–16 292 1Petr 1,21 495 1Petr 2,24 501 1Petr 4,16 42 1Petr 5,13 72 1Joh 4,7–21 103
Stellenregister
1Joh 4,16 525 Apk 1,7 516 Apk 1,13 411, 412 Apk 1,23 408 Apk 2–4 103 Apk 2,2 103 Apk 5,14 392 Apk 7,12 392 Apk 14,14 252, 408, 411, 412 Apk 20 23 Apk 22,20 532
3.2 Außerkanonische Literatur Acta Pauli Martyrium des Paulus 3 43 Papyrus Hamburg 1 43 Ägypterevangelium EvÄg Frg. 6* (= Clem.Al. Strom III,92,2) 90–91 ApkPetr 262 Barnabasbrief Barnabasbrief 55 Barn 12,10 411 Barn 15,8f 361 Didache Did 1,2* 65, 356 Did 1,3 184 Did 5,1 65 Did 6,2 374 Did 8,1 65 Did 8,2 256, 436 Did 9–10 426, 436 Did 9 488 Did 9,2 436 Did 9,3 436 Did 10,2 436 Did 10,6 532 Did 11–12 60 Did 11,3 436 Did 14,1 436, 442 Did 14,2 Did 15,3 75, 436 Did 15,4 436
Ebionäer-Evangelium EvEb 2a 93 EvEb 3 93, 94 EvEb 4 92, 93, 201 EvEb 6* 91, 94, 423, 455 EvEb 7* 94 Epistula Apostolorum 90 Hebräer-Evangelium EvHebr 1 92 EvHebr 1b 92 EvHebr 2 92 EvHebr 2a 92 EvHebr 4 67, 91, 93 EvHebr 5 92, 499, 508* EvHebr 6 92 EvHebr 7 92, 93 Hirt des Hermas 55, 507 Vis II,4,1 507 Vis III,10,7 507 Sim I–IX 328 Sim I–X 324 Sim V,55 245 Ignatiusbriefe 55 IgnEph 7,2 268, 275 IgnMg 9,1 361 IgnSm 1,1 75, 175 IgnSm 7,1 438 Judas-Evangelium 477 Justin Apol I,28,2 262 Apol I,65 429 Apol I,65–67 440 Apol I,66 425 Apol I,66,1 439 Apol I,66,3 429, 438, 439 Apol I,66,4 440 Apol I,67,3 110, 442 Apol I,67,3–4 439 Apol I,67,7 442 Dial 49 175 Dial 51 175 Dial 69,7 469 Dial 88 165, 175 Dial 93,2* 184, 347
581
Urchristliche Literatur
Dial 93,3 184, 347 Dial 97,3 113 Dial 108,2 469 Kindheitsevangelium des Thomas 94–95 1. Klemensbrief 1Clem 13,2* 57, 65 1Clem 23ff 262 1Clem 46,8 66 2. Klemensbrief 2Clem 4,5 2Clem 5,2ff 66 2Clem 8,5 66 2Clem 11 262 2Clem 12,2* 66, 91 Pseudoklementinen PsClem Rec 1,60,1 175 Nag-Hammadi-Schriften Diolog des Erlösers (NHC III,5) 89, 90 Epistula Jakobi (NHC I/2) 89, 90 EpJak 7,24–28* 90, 327 EpJak 8,16–23 90, 327 EpJak 12,22–27 90, 327 Thomasevangelium ThEv 1* 86, 88, 320, 526 ThEv 2 86, 88, 92 ThEv 3 86, 88, 235, 241, 320, 526 ThEv 4,2 88 ThEv 5 87, 327 ThEv 5,2 87, 88 ThEv 6 87 ThEv 6,5 87, 88 ThEv 7 87 ThEv 8 87, 88, 320, 327 ThEv 9 87, 88, 327 ThEv 10 306 ThEv 11,1 88 ThEv 12 88, 111 ThEv 13 402, 475 ThEv 14 217 ThEv 14,4 89, 280, 353
ThEv 16 210, 251 ThEv 19 526 ThEv 20 327 ThEv 21 87, 306 ThEv 21,5 87 ThEv 21,9f 252 ThEv 22 87, 116, 213, 320 ThEv 22,4–7 87, 91 ThEv 25 87, 88 ThEv 26 87 ThEv 27 88 ThEv 28 526 ThEv 31 87 ThEv 46 202, 203 ThEv 49 87 ThEv 51 87, 235 ThEv 53 59, 111, 353 ThEv 55 210 ThEv 56 87 ThEv 57 281, 320, 327 ThEv 63 327 ThEv 64 244, 320, 327 ThEv 65 87, 320 ThEv 70 87 ThEv 71 86, 451 ThEv 76 320, 327, ThEv 77 86, 88, 526 ThEv 79 210, 214 ThEv 80 87 ThEv 81 87 ThEv 82 67, 89 ThEv 86 89, 411, 413 ThEv 87 87 ThEv 96 212, 320, 327 ThEv 97 88, 320 ThEv 98 88, 306, 313, 320 ThEv 99 210 ThEv 101 210 ThEv 103 87, 327 ThEv 106 87 ThEv 107 81, 108, 320, 327, 373 ThEv 108 88, 526 ThEv 109 86, 320, 327 ThEv 110 86, 87 ThEv 111 86 ThEv 112 87 ThEv 113 86, 87, 88, 241 ThEv 114 86, 97, 213
Nazaräerevangelium EvNaz 1 93 EvNaz 4 91, 93, 361 EvNaz 8 92, 201 EvNaz 9 93 EvNaz 10 91, 93 EvNaz 23 166 Offenbarung des Petrus 506 Papyri aus Oxyrhynchos POx 1 55, 56, 86, 87 POx 654 56, 86, 92 POx 655 56, 86 POx 840 56, 78, 79, 80, 95, 450 POx 1224 Frg. 2* 67 POx 2949 55 POx 4009 55, 80 Papyrus Egerton 2 56, 78, 95 Frg. 1,1–20 78 Frg. 1,22–30 78 Frg. 1,31–40 79 Frg. 2,43–59 79 Frg. 3 79 Papyrus Köln VI 255 78 Petrusevangelium EvPetr 2 [5] 151, 442 EvPetr 3 [7]–4 [10] 472 EvPetr 4 [10] 80 EvPetr 4 [13] 472 EvPetr 5 [16] 81 EvPetr 5 [19] 80 EvPetr 7 [25] 472 EvPetr 7 [26f] 473–474 EvPetr 9–10 [34–42]* 497 EvPetr 11 [46] 477 EvPetr 13 [55] 507 Protevangelium des Jakobus 94–95 SyrDidaskalia SyrDidaskalia 21 151
582
Stellenregister
4. Griechisch-Römische Literatur Augustus Res Gestae 8 144 Res Gestae 12 145 Res Gestae 13 145 Res Gestae 25 145 Res Gestae 26 145 Cato De Agricultura 2,1–2 245 Dio Cassius Cass Dio 54,3,7 480 Cass Dio 55,27,6 98 Cass Dio 67,14,1f 53 Cass Dio 68,1 43, 77 Dion Chrysostomos Chrysostomos 3,30 279 Diodorus Siculus Diod Sic XL,2 230 Diod Sic XL,3,5 159 Epidauros W3, 277*
Nikolaus von Damaskus De vita sua 138 Papyrus Florentinus Nr. 61* 472 Philostrat 105, 267, 285 Vita Apollonii IV,20,19 273 Vita Apollonii IV,45* 276 Phlegon von Tralles Phlegon von Tralles 51 Plato Kriton 49d 360 Phaidon 81cd 273 Plinius d. Ä. Nat.Hist 27,7 268 Nat.Hist 28,60 268 Plinius d.J. Ep I,18 45 Ep III,8 45 Ep III,24 45 Ep X,94 45 Ep X,95 45 Ep X,96* 42 Ep X,96,7 442 Ep X,97 42
Ben IV,26,1 360 Ben IV,26,3 360 Ben IV,28,1–6 360 Ben VI,11,1–2* 324 Prov II,8f 418 Ira II,33,2 359 Strabo Geogr XVI,2,34–46 127 Geogr XVI,2,46 158 Sueton De vita Caesarum 45 Augustus 94 73 Caligula 32,2 480 Claud 25 43 Claud 25,4* 45, 46 Domitian 10,1 480 Domitian 15,1 53 Nero 16,2* 43 Vespasian 7 289 Vespasian 7,2f* 275
Homer Ilias 2,408 253
Plutarch Plutarch Mor. 218A* 391 Alexander 2f 106
Tacitus Ann 2,42,5 166 Ann 2,50 481 Ann 15,44 98, 477 Ann 15,44,2–5 43 Ann 15,44,3 44, 395, 479 Ann 15,44,4 43, 85 Ann 15,44,5* 44 Hist 4,81 289 Hist 5,1–13 44 Hist 5,5,1 43, 44, 356 Hist 5,9,2 140, 160
Inschrift von Priene 145
Porphyrius Abst II, 26 126
Valerius Maximus Val. Max. I,3,3 46
Lukian von Samosata Peregrinus 11 47 Peregrinus 13* 47, 98, 488 Peregrinus 16 47
Quintilian Inst. V,11,1ff 325 Inst. V,11,19 325
Victorinus von Pettau de fabr mundi 3f 151
Epiktet ench. 17* 418 diss. 1,25,7ff 418 diss. 3,22,54* 360 diss. 3,22,59 418 Fragm. 11 418
Seneca Ben IV,21,1
583
Griechisch-Römische Literatur
5. Rabbinische Literatur Erub VI,2 361 Quid IV,14* Sanh VII,5 470 Sota IX,10 168 Sota XI,5 392 Taan III,8 286 Pirque Avot Av I,3* 335 Av I,12* 346, 358 Av III,9–10 286 Av VI,1* 346 jBer 3b* 408 jSchab 15d 167 jTaan 4,8 396, 398 bAZ 9a* 364 bAZ19a 335 bAZ 27b, 40 bBer 33a 286 bBer 34b 168, 286
bEr 53b 161 bGittin 56a 393 bMen 65 168 bJoma 67b* 335 bQuid 66a 131 bPes X 440 bPes 112b 286 bSanh IV,1 468 bSanh VII,5 468 bSanh 43a* 39, 40, 151, 442, 469 bSanh 67a 39, 40 bSanh 97a/b 64 bSanh 107b 39 bSchab 31a* 104, 345 bSchab 104b 39, 40, 266 bSchab 128b 361, 362 bSota 47a 39 bTaan 23a 286 bTaan 23b* 286, 393 bTaan 24b/25a* 278, 286 bTaan 24b 285, 286 bTaan 30a 335
Mekh Ex 20,2* R Jischmael Bahodesch 5 342 Mekh Ex 31,13* 362 Mekhilta Deut 1,11 299 Mekh R Ishm Beshallah 6,8–22 303 Mekh R Shim Yoh 14,22 303 SLev 19,18 345, 358 GenR 24(16b) 358 Ex Rabba 2:2 295 DtnR 2 zu Dtn 4,30* 298 Tg Neofiti zu Gen 4,14 408 Kairoer Targumfragment zu Gen 4,14 408 Midr zu Ps 118 329 Mishmarot 18 155
6. Christliche Literatur Epiphanius Pan. Haer 19,1–6 174 Pan. Haer 30 93 Pan. Haer 48,11,9 103 Pan. Haer 52,1–2 174
Euseb h.e. 5,8,4 84 Euseb h.e. 6,12,2–6 80 Euseb h.e. 6,38 174 Euseb Theoph 4,12 93 Chron. I,265 51
Euseb Euseb h.e. 1,11,7–8 35 Euseb h.e. 2,13 411, 412 Euseb h.e. 2,15,1f 72 Euseb h.e. 2,23 411, 412 Euseb h.e. 3,12 85, 199 Euseb h.e. 3,18,4 53 Euseb h.e. 3,20,1–6* 85, 109, 165 Euseb h.e. 3,32 85, 199 Euseb h.e. 3,39,4 58 Euseb h.e. 3,39,15 72, 110 Euseb h.e. 3,39,16 74, 100 Euseb h.e. 4,2,1–5 85 Euseb h.e. 4,22,7 174 Euseb h.e. 4,22,8 93 Euseb h.e. 5,8,2 74
Irenäus Haer 3,11 84 Hieronymus, de vir. ill. 2,12f* 508 Hippolyt Ref. Haer 5,7,20f 86 Ref. Haer 9,4 174 Ref. Haer 13–17 174 Clemens von Alexandrien Strom I,15,72 126 Strom I,24 67 Strom I,158,2 67 Strom III,92,2 90
Origenes c.Cels I,32 39, 51 c.Cels I,47 35 c.Cels VI,10 488 c.Cels VII,9* 103 in Luc. hom. 1 86 Comm. In Mt 10,17 35 Comm. In Joh 19,7,2 67 Photius von Konstantinopel Photius cod.13 98 Syr. Liber Graduum, Serm. III 3 Liber Graduum III,3; XV,4 67 Tertullian Adv. Marc. 1,14 68 Adv. Marc. 4,19,10 145 Adv. Praxeas 27,1 538 Adv. Praxeas 29,2 538
Sachregister (Auswahl)
Abba 101 A.10, 254, 392f Abendmahl 101, 150f, 236, 283, 330, 423–455, 463, 475, 485, 488 Abendmahlsworte, Einsetzungsworte 72, 427, 428f, 437–440 Abraham 110, 126, 130, 139, 180f, 187, 197, 202, 203, 204, 213, 236, 267, 346, 367, 368, 388 A.19, 389, 405, 417, 485, 512, 519, 524, 542 Achikar 204 A.20, 322 Adorzismen 268 Aesop 297, 323 Agrippa I. s. u. Herodes Agrippa I. Agrippa II. s. u. Herodes Agrippa II. „Ägypter“, Zeichenprophet 141, 286 Albinus, Prokurator 34, 141, 466, 472, 479 Alexander der Große 98, 106, 127 Alexander Jannäus 129, 131 A.13, 132, 480 Alexander, Tiberius Julius (römischer Prokurator) 139 Alexandra Salome 132, 135 Alkimos, Hoherpriester 130, 133 Allegorese 63, 309f Allegorie, allegorisch 61, 63, 87, 296, 297, 308–311, 327, 332 Allegorisierung, allegorisierende Auslegung 205, 309f, 319, 323, 328 Almosen 101, 185 Amen 61, 271, 392 Amenemope 323 Analogiebildung 106f Analogien/Analogieprinzip/ Modell 27, 107, 114, 121, 290, 493f
Ananus, Hohepriester 34, 479, 482 Andreas, Jünger Jesu 80, 85,100, 166 Antiochus IV. Epiphanes 128, 133 Antiochus IV., König von Kommagene 49 Antisemitismus, Judenfeindschaft 18, 199 A.13, 298 A.10, 473 Antithese(n) 107, 216, 237, 336, 351–352, 382, 391 Antonius Felix, Prokurator 141, 286, 479 Apokalypse, synoptische 60, 72, 99, 396, 412 Apokalyptik, apokalyptisch 21, 70, 87, 95, 116, 121, 127, 130f, 159, 223–228, 231–233, 234, 235, 239, 247, 248, 258–262, 289, 332, 339, 368, 380, 383, 410, 412f, 420, 425, 459, 492f, 522 Apokryphen, apokryph 28, 54–96, 126, 130, 180, 280 Apollonius von Tyana 105, 267, 276, 285 Apostelkonzil 67, 77, 500 Aramäisch 70, 74, 93, 100f, 161, 171, 395, 397, 400, 408, 413, 500, 532, Archäologie, archäologisch 84, 132, 135, 154, 155f, 161, 163, 171f, 185, 512, 515 Archelaos 138, 143, 144, 147 A.14, 158f, 164, 180, 219, 472, 517 A.36 Aretas IV. Nabatäerkönig, 176, 177–179 Aristobulos 129, 131, 155 A.7, 161 Arme, Armut 18, 78, 91, 93, 107, 164–167, 235f, 248, 258, 278, 282, 283, 318, 340, 355, 364
A.47, 371–373, 374, 415, 450, 461, 475f, 488, 545, 548, 549 Askese 54, 202, 205, 208f Athronges 138, 397,398, 402 Auferstehung 134, 135–137, 197, 216, 218, 232, 282, 485, 528 Auferstehung Jesu 15, 16, 20, 37, 50, 73, 80f, 83, 87, 90, 102, 109, 194, 239, 265, 271, 280, 330, 381, 387, 403, 464, 488, 489–526, 528, 532, 534, 535, 549, 550 Augustus 73, 76, 143, 144f, 146, 147, 155, 166 Bar Kochba, Simon 98, 267, 396, 398, 470 Batanäa (im Nordosten) 158, 167 Ben Azzai 358 Bergpredigt 64f, 74, 153, 185, 237, 246, 319, 338, 341, 358, 374–376, 417 A.72, 464 Berufung 69, 109, 148, 156, 197, 208, 239, 272, 430, 495, 506 A.25, 510, 546 Berufungserzählung 109, 197, 207f Berufungsvision 229, 239f, 496 Beschneidung 46, 59, 127, 128, 353 Bethanien 151, 171 Bethlehem 85, 112, 144, 155, 199 Bethphage 171 Bethsaida 85, 156, 157, 244 Bilderverbot, Bilderlosigkeit 36, 126, 154, 163, 164 Bildfeld 90, 117, 202, 203f, 205, 221, 245, 251f, 309f, 312, 315, 324, 326, 417 Brüder Jesu 34, 38, 52, 92, 94, 102, 111, 165, 198, 200, 201, 210, 218, 329, 452, 479, 482, 508
585
Sachregister (Auswahl)
Bundesnomismus, covenantal nomism 126, 335, 339 Caligula 70, 72, 99, 140, 166, 168f, 360 Caesarea 44, 121, 477, Cäsarea Philippi 18, 168 Charisma, charismatisch 22, 61, 105, 114, 193--222, 267, 281, 288, 291–204, 284, 388, 390, 393, 395, 397, 416, 419 Charismatiker 38, 59, 112, 114, 138, 193–222, 266f, 269, 284, 395, 396, 419, 485, 544 Chassidim 130, 134 Chiliasmus 112, 227 A.16, s. auch Millenarismus Chorazim 99, 157, 244, 247 Christologische Titel 21, 89, 116, 181, 194, 196, 379–388, 395– 420, 466, 530, 532–537, 543 Christos/Christus 38, 41, 42, 45, 52, 78, 102, 143, 145, 146, 167, 182, 188, 331, 344, 375, 379–385, 395–404, 407, 466, 498, 500, 509, 522, 524, 531, 535, 537–541 Christusmythos 20, 107 Christusmystik 435, 524–526 Christusdogma 17 Claudius 43, 45f Claudiusedikt 46 Coponius 170, 449, 479 Cuspius Fadus, Prokurator 141 Dämonen 135, 139, 167, 213, 216, 233, 238, 239–241, 246, 249, 251, 257, 259, 267f, 272– 274, 282, 285, 290–293, 297, 390, 401, 406, 425 David 64, 85, 117, 138, 144, 147, 155, 165, 184 A.20, 199, 221, 229 A.29, 296, 301, 321, 362, 380, 386, 394–407, 430, 475, 481, 534 Dekapolis 75, 157, 162f Demetrios, Seleukide 132 Didache 55, 65, 75, 101, 356, 429, 436, 440, 488 Differenzkriterium 21, 23, 26, 29, 113–119 Domitian 53, 77, 85, 109, 165, 199
Doppelgebot der Liebe 104, 184, 189, 216, 341, 342–349, 350, 352, 356, 357, 373, 543, 547 Duotheismus 529 A.3 Ebionäerevangelium 91, 93, 94, 201, 455 Edomiter 131 Egertonevangelium 55f, 78f, 95, 281 Ego-divinum 103 Ehe, Ehepolitik 101, 102, 139, 148, 159, 168, 177–179, 183, 189, 197, 248, 366f, 376, 542 Ehebruch 39, 42, 66, 127, 351f, 365, 366 Ehescheidung 61, 63, 64, 101, 102, 104, 197, 215, 366f, 533 Eleazar, jüdischer Exorzist 105, 273 Elia 174, 179, 181, 182f, 188, 208, 267, 276, 286, 364, 506 Eliezer ben Hyrkanos 105 Elisa 79, 208, 264, 278 Entmythologisierung 120, 122, 225, Epikuräer 127, 134 Epiphanie(n) 272, 279, 280, 502 Erinnerung/-en 6f, 16, 19, 20, 24–27, 28, 29, 54, 97, 96, 98, 105, 108, 110, 111, 112, 141, 146, 171, 174, 183, 190, 195, 213, 222, 228, 239, 256, 271, 279, 280, 341, 361f, 391, 426, 428f, 439, 445, 453, 458, 459, 462, 467, 537, 546, 550 Erinnerungsbild/-er 7, 26, 29, 95, 97, 114, 115, 118, 189, 195, 228, 545, 550 Erinnerungsethisch 6f, 27, 120, 122 Erinnerungshermeneutik, erinnerungshermeneutisch 6, 24, 73, 120, 227 Erinnerungshistorisch 6f, 24–29, 97, 195, 228, 268– 269, 305, 341, 485, 416, 428f, 461f, 537 Erinnerungsmuster 26, 28, 63, 102, 110, 116, 117f, 157, 227, 258, 300 A.20, 303, 305, 321,
342, 363, 364, 416–420, 453, 542, 550 Erinnerungsspur 7, 26, 76, 89, 108, 109f, 116, 160, 167, 198, 200, 206, 269, 276, 277, 280– 282, 288, 324, 342, 348f, 363, 393, 394, 405, 444, 467, 475, 476, 506, 514, 517f, 533 Erinnerungsstruktur 7, 115, 325, 328, 341 Erneuerungsbewegungen 23, 29, 127, 137–141, 142, 340, 485 Eschatologie, futurisch 95, 107, 116, 118, 219, 224–228, 235– 237, 299, 415 Eschatologie, präsentisch 82, 87, 89, 95, 107,116, 118, 219, 224–228, 234, 235, 238–243, 243 A.50, 258, 299 Essener, essenisch 115, 126, 128, 131, 132, 134, 135, 137, 142, 151, 174, 184, 185, 208f, 361, 448, 482 Evozierte Christologie 379, 385–388, 395–407, 416, 417f, 534 Existenziale Interpretation 6, 20, 29, 226, 261, 381, 491, 521f Exorzismus/-men 69, 105, 109, 118, 162f, 167, 196, 239–241, 246, 251, 258f, 267–269, 272–274, 275, 277,279f, 280– 282, 284, 289f, 362, 384, 390, 543, 546 Explizite Christologie 21, 379, 386, 407–416 Fabel 204 A.20, 297f, 302f, 315, 321–326 familia Dei 210f, 211, 260 Familie Jesu 77, 85, 109, 111, 155, 165, 199 s. o. Brüder Jesu Familienkritik 88, 174, 544 Familienmetaphorik 246 Fasten 88, 151, 185, 201, 239, 243, 306, 315, 317, 361, 388 Feindesliebe 69, 75, 101, 206, 259, 340, 349, 358–360, 367, 369, 372 A.54, 391, 405, 488 A.53, 534, 544, 547
586
Formgeschichte, formgeschichtlich 57, 83, 111, 146, 265, 459f, 491 Frauen 23, 29, 50, 78, 80, 187, 207, 210f, 211–215, 221, 341, 352, 366f, 369, 429, 431, 440, 442, 444, 445, 454, 463f, 465, 472, 473f, 486, 492, 496, 497, 502, 503, 504f, 507f, 513f, 517f, 520, 525, 528 A.2, 535, 536, 544, 546, 550 Freer-Logion 66 Frevelpriester 132, 133 Galiläa 18, 22, 26, 70, 83, 84, 85, 99, 129, 131, 135, 136, 138, 139, 149, 153–169, 170, 172, 177, 196, 199f, 207, 216, 217, 231, 395, 402, 403 A.50, 424, 430, 443 A.25, 459, 461, 490, 492, 499, 501, 502, 503, 506, 507, 511, 518, 519, 542, 546, 549 Gamaliel 218 Garizim 131, 140, 174 Gebet 84, 116, 168, 185, 201, 203, 223, 234f, 235, 242, 250, 253, 252–258, 270, 286, 292, 350, 392, 394, 401, 405, 418, 429, 440, 463, 485, 525, 537, 545, 548 Geburtsgeschichten s. Kindheitsgeschichten Gedächtnis, episodales 304 Gedächtnis, kulturelles 7, 24, 27, 54, 461f, 550 Gedächtnis kollektives 25, 96, 461 Gedächtnis, kommunikatives 7, 24, 54, 58, 96, 461f, 548, 550 Gedächtnis, semantisches 196, 304 Gekreuzigter von Givʿat haMivtar 113, 512f, 516 Gericht 34, 63, 155, 306 Gericht, eschatologisches 61, 74, 149, 176, 177, 179, 183, 185, 187, 189, 201, 205, 206, 231, 243–247, 252, 255, 257, 259, 317, 318, 328f, 371, 389, 410, 417f, 472, 525, 534f, 542, 543, 545, 549
Sachregister (Auswahl)
Gerichtspredigt des Täufers 149, 175, 179–183, 185–189, 201– 207, 227, 247, 249, 259, 543 Gerichtspredigt Jesu 61, 107, 175, 180, 221, 243–247, 259, 315 Geschenkwunder 272, 278, 279f, 281 Geschichtlichkeit Jesu 18f, 52, 98 Gesetz s. Thora Gestaltplausibilität 114, 117f Gleichnisse 50, 61, 63, 67, 81, 88, 90, 107, 120, 165, 242, 245, 249, 295–333, 428, 544, 546, 550 Goldene Regel 104, 345, 348, 356–358, 377 Golgatha 171, 172, 512, 514f, 517, 549 Gottesherrschaft s. Reich Gottes Grab Jesu 80, 171, 444, 459f, 463f, 474, 489f, 492f, 496– 499, 501, 502–505, 507f, 511–517, 519f, 520, 523, 549f Griechisch 33, 44 A.36, 52, 86, 93, 100f, 161f, 241, 287, 296, 304, 330, 395, 400, 408, 458, 500, 530, 532 Großgrundbesitz, Großgrundbesitzer 164, 165 Gruppenmessianismus 160, 209, 228, 384, 402f, 406, 417, 543 s. auch messianisches Kollektiv Hanan ha-Nehba 286, 393 Hanina ben Dosa 22, 105, 168, 195, 266, 278, 285f Hannas, Hohepriester 467 Hasmonäer 129, 131f, 133, 134, 136, 154, 161, 217, 230, 397, 473 Hebräerevangelium 91, 92, 93, 96, 175 A.7, 508 Heilsgeschichtliche Theologie 225, 260, 265, 363, 465 Heilungswunder, Heilungen 87, 105, 162, 275f, 227, 235, 258f, 263–294, 361f, 384, 390, 415, 545 Hellenisierung, hellenistisch u. ä. 54, 125–142, 154, 161–
164, 183, 189, 196, 215, 265, 285, 287, 302, 338f, 344, 345f, 348, 356 A.31, 358, 391, 397, 460, 461, 527, 532 Hellenistisches Christentum 58, 72, 265, 339, 380f, 388, 425– 427, 438 Hellenistische Reformer 127– 130, 133 Henoch 130, 232, 368, 410, 415, 419 Herodes Antipas 80, 98, 99, 115, 144, 147 A.14, 148, 149, 154, 155, 156, 157, 158–160, 163f, 168, 169, 174, 176, 177–179, 180, 183, 187, 189, 217, 219f, 305, 428, 465, 477f, 483f, 512, 514f, 542 Herodes I. 112, 136, 137, 128, 143f, 144, 145, 146–147, 148, 152, 158f, 165, 166, 171, 180, 182, 184 A.18, 379, 400, 448f, 461, 542 Herodes Agrippa I. 138, 162 A.27, 167, 171, 277, 289, 479, 482, 514f, 550 Herodes Agrippa II. 77, 167, 510 Herodianer 139, 198, 215, 219f, 354, 470 Herodias 139, 176, 177f, 178f, 366 Herrschaft Gottes s. Reich Gottes Hillel, Rabbi, Hilleliten 98, 104, 137, 194, 345 Historische Kritik, historischkritisch 15, 17, 20, 27, 119– 122, 142, 149, 424, 477, 506– 511, 511–517 Honi 266, 285f Idumäa 129, 217 Ignatius von Antiochien 75, 85, 175 A.7, 195, 268, 275, 284, 438 Implizite Christologie 20, 21, 300, 379, 382, 385, 416, 417 Interimsethik 225, 337, 376 Jakob 417, 448, 485, 512, 519 Jakobus, Sohn des Judas Galilaios 166 A.35
587
Sachregister (Auswahl)
Jakobus, Herrenbruder 34, 38, 52, 54, 90, 92, 102, 109, 111, 198, 200, 218, 284, 412, 452, 479, 480, 482, 499, 500, 501, 502, 508 Jakobus Zebedäus 458, 470, 482 Jason, Hohepriester 128, 133 Jebusiter 229 A.29 Jerusalem 36, 48, 60, 66, 69, 77, 79f, 82–84, 100, 109, 110, 111, 126, 127, 128, 131f, 135, 136, 137, 139f, 140f, 147, 149, 150f, 155, 159, 161, 166f, 168f, 169–171, 172, 196f, 198, 213, 215, 216, 218, 221f, 225, 230, 232, 233, 236, 280, 286, 309, 317, 319, 327, 347, 360, 398 A.41, 402, 423–455, 456–488, 492, 497, 499, 500–502, 503, 508, 510, 511, 512–520, 546, 548, 549 Jesus, Sohn des Ananias 141, 170, 461, 471 Johanna, Jüngerin Jesu 214 Johannes, der Presbyter 55 A.2 Johannes der Täufer 38, 58, 69, 92, 93, 94, 98, 105, 109, 113, 139, 140, 141, 147, 148, 149, 159, 163f, 168, 169, 173–189, 200–207, 208, 212, 221, 227, 235, 238f, 241, 244, 247, 249, 256, 259, 260, 266, 267, 280, 281, 282, 284, 306, 319, 326, 339, 347, 349, 353, 354, 371, 385, 389f, 393 A.32, 394, 395, 401, 405f, 407, 411, 415, 418, 419, 429f, 445f, 449, 450, 453, 455, 480, 484, 488, 492, 502, 512, 542, 543, 547, 548 Johannes Hyrkan 129, 131, 132, 134, 135 Johannes Markus 55 A.2, 72 Johannes Presbyter 56 A.2 Johannes von Gischala 160, 168, 394 Johannes Zebedäus 84 Jona 61, 70, 117, 122, 149, 162, 216, 232, 239, 244, 325, 368, 412, 485
Jonathan, Makkabäer 129, 132, 133 Josef, Vater Jesu 94, 144, 155, 198f, 210, 542 Joseph, Stammvater Israels 147 Joseph von Arimathia 218, 443, 471, 490, 512f, 514, 517 Josephus 33–39, 40, 44 A.37, 49, 52, 54 A.1, 60, 75 A.58, 98, 105, 134, 136, 138, 141, 148, 150, 154, 156 A.11, 159, 168, 169, 171, 175–179, 183–187, 190, 216f, 230f, 253, 273, 282, 283, 285, 286, 346f, 353, 356, 361, 394, 396, 399, 457, 478, 516, 543, 547 Joses, Bruder Jesu 198 Jubeljahr 341 Judäa 38, 44, 48, 60, 72, 75, 79, 131, 138, 140, 144f, 147, 150, 154, 155 A.7, 158, 159, 161, 163, 164, 166f, 168, 201, 216, 220, 443 A.25, 449, 457, 472, 476, 479, 482, 542 Judas, Bruder Jesu 165 Judas Didymus Thomas, Jünger Jesu 86, 526 Judas Galilaios 36 A.8, 59, 99, 118, 136, 138, 139, 144, 158, 159, 166, 168, 185, 220, 227, 231, 251, 259, 349, 350f, 354, 364, 395, 402, 430, 542 Judas, Jünger Jesu 75, 209, 267, 402, 452, 463, 464, 473, 475– 477, 486, 511, 548 Judas Makkabäus 129 Judas, Sohn des Hezekias, 138, 158 A.19, 159, 402 Judentum 20, 21f, 23, 26, 29, 33–41, 44f, 49f, 51, 54, 75, 77, 79, 104, 111, 114, 115, 125–142, 179, 185, 189, 194, 195, 196, 197, 198, 206, 211, 212, 215–220, 228, 243, 250, 257f, 266, 269, 285f, 298f, 392f, 321–325, 332, 334f, 335f, 336, 338–341, 342– 373, 382–385, 392, 394f, 400, 413, 419, 438, 443f A.25,
452f, 461, 476, 486, 512, 529, 530–532, 537, 542, 548, 550 Jüngerflucht 445, 463, 473f Jungfrauengeburt 93, 94, 112, 198, 381 Justin 77, 110, 113, 165, 175 A.7, 184, 347, 425, 429, 438, 439f, 478 Justus von Tiberias 97 Kaddischgebet 234, 255 Kaiphas, Hohepriester 461, 467 Kaiserkult, Kaiserverehrung 42, 53, 60f, 72, 99, 138, 139, 140, 220, 240, 354, 355, 360, 364, 394, 399, 503, 531, 533, 545 Kana 84, 105, 167, 265, 278, 280 Kanon, kanonisch 7, 28, 54f, 55–57, 68, 70, 71, 79 A.64, 81, 87, 94, 96, 126, 130, 233, 511, 518 Kanon der zwei Tugenden 179, 183, 346–349 Kapernaum 69, 83, 154, 156f, 157, 162, 172, 244, 247, 274, 278, 280, 288 Kapitalgerichtsbarkeit, Kapitalprozess 457f, 468, 478f Kerygma, kerygmatisch 19–21, 24, 26, 29, 110f, 120, 194f, 261, 265, 267, 293f, 331–332, 337f, 381, 489, 491–492, 524, 536, 537, 540f Kindheitsgeschichten, Jesu Kindheit 57, 74, 75, 76, 94f, 112, 146f, 198f, 220, 462 Kleinbauern 165f Kognitiv 27, 117, 292, 296, 305, 306, 314, 322, 332, 352, 540 Kognitiver Ansatz 7, 24–27, 181, 305 Kognitive Dissonanz 227, 529 Kognitive Strukturen, Umstrukturierung 117, 118, 227 Kognitive Wende 25 Kohärenzkriterium 113f, 115, 117, 118 Kollektiv, messianisches 160, 221, 384, 402, 407 s. auch Gruppenmessianismus Königs-, Messiasprätendenten
588
85, 109, 137, 138f, 231, 397, 400, 402, 548 Kontextplausibilität, kontextplausibel 114f, 117, 330, 325, 118, 290, 321–326 Kontrapräsentische Erinnerung 7, 16, 24, 26, 27, 117, 228, 341, 545 Kriterien der Jesusforschung 26f, 97, 113–119 Kynismus, Kyniker 23, 47, 59 A.20, 163, 174f, 205, 208f, 323 A.62, 339, 360, 430 Kyrios 40, 60, 81, 344, 349f, 380f, 387, 530–533, 536 Kyrios-Gottheit, Kyrioskult 381, 383, 387 Lehrer der Gerechtigkeit 98, 128, 131, 132, 133, 135, 419, 469 Leidensweissagung 402, 413, 445, 485 Leontopolis 128, 131 Levi, Jünger Jesu 100, 161 Liebesgebot 22, 64, 83, 86, 88, 103, 184, 215, 342–349, 350, 358, 367, 434, 488, 525, 547 Liturgie, liturgisch 233, 234f, 429, 436 A.15, 439f, 441 Logienquelle 18, 23, 58, 67, 68–70, 78, 87, 95, 99, 112, 156, 207, 236f, 271, 280, 306, 316f, 363, 370, 411 Lokalaristokratie Jerusalemer 466–471 Lot 412 Lukuas, Messiasprätendent 85 Machärus 176 Magdala 154, 157, 161, 163, 213 Magie 40, 52, 105, 266f, 287f Magier 37 A.19, 146, 155, 266f, 274, 285, 287f Makarismus/Seligpreisung 61f, 69, 167, 107, 116, 188, 210, 235f, 238, 244, 371 Makkabäer 128–130, 132, 189 Mara bar Sarapion 46f, 48–50, 98 Maria Magdalena 83, 87, 163 A.28, 157, 213, 213 A.40,
Sachregister (Auswahl)
490, 496f, 503, 505, 506, 507f, 511, 513, 514, 516, 517– 520, 544, 549, 550 Maria, Mutter Jesu 95, 106, 144, 198, 542 Markion 68, 77 Mattathias 129 Mehrfachbezeugung 113, 114, 115f, 303, 330, 413 memory (approach) 24f, 25, 26 Menahem, Königsprätendent, 398 Menahem, Vertrauter Herodes Antipas 220 Menelaos, Hoherpriester 128, 133 Menschenfischer 248, 372 Menschensohn 21, 22, 60, 66, 69, 70, 89, 92, 119, 130, 131, 149, 154, 160, 181, 193, 196, 202, 203, 221, 225, 237, 244, 245, 246, 259, 318, 328f, 379–385, 385, 386, 387, 388, 389, 391, 394, 398, 399, 401, 407–416, 416–420, 443, 457, 466, 468, 470, 485, 495, 498, 506, 508, 519, 529f, 531, 534f, 536 , 538 A.13, 543 Messianität Jesu 19, 37, 154, 199, 380, 386, 403f, 415, 466f Messias 18, 21, 37, 45, 71, 82, 83, 85, 112, 113, 138, 144, 146, 155, 167, 175, 181, 189, 193, 199, 206, 209, 222, 248, 264, 266, 267, 298, 329, 364, 370–385, 385, 386, 388, 389, 390, 395–404, 406, 407, 410, 413, 416–420, 424, 428f, 445, 467, 470, 471, 474, 481, 485, 531, 532, 533f, 534, 536, 543, 549, 550 Messiasbewusstsein, -anspruch 243 A.50, 380, 396, 457, 469f, 481, 486 Messiasbekenntnis 73, 83, 138, 148, 149, 289, 293, 380, 382, 401, 402, 415, 459, 460, 502 Messiaserwartung 69, 122, 138, 149, 383, 386, 387, 396–404, 397, 398, 400f, 402, 530
Messiasgeheimnis 19, 73, 265, 380, 404, 491 Messiasprätendent 85, 137, 138f, 140, 397, 466 Messiastitel 89, 383, 387, 396, 398, 401, 402, 403, 466, 534, 536 Metapher 181, 204 A.20, 210, 253, 255, 305, 308, 311, 332, 418, 453 Milieuauthentizität, milieuauthentisch 7, 25, 26, 84, 115, 156, 162, 172, 550 Millenaristische Bewegungen 23 A.21, 112 Minor Agreements 63f, 71, 361 A.40 Monotheismus, monotheistisch 102, 103, 125f, 234, 257, 260, 343, 344, 348, 349, 352, 354, 419, 527, 529f, 531 Mose 51, 78, 125, 127, 130, 131, 134, 135, 146f, 159, 180, 187, 215, 216, 232, 240f, 253, 279, 285, 295 A.1, 329, 350, 353, 368, 385, 390f, 419, 423 A.1, 451, 485, 506, 509, 518, 528f, 531, 539 Mündliche Jesusüberlieferung 25, 55, 57–67, 72, 79, 88, 96, 111f, 260, 333, 550 Mündliche Thora, Tradition der Väter 126, 134,136–137 Mysterienkulte, -religionen 381, 425, 427, 440, 533 Mythos, mythisch 17, 18f, 20, 27, 28, 106, 107, 173, 201, 226, 256, 260, 262, 264, 291, 332, 340, 381, 382, 455, 490, 521f, 530, 540 Nabatäer 176, 177f, 189 Nachfolge, nachfolgen 23, 60, 69, 70, 74, 87, 88, 105, 107, 141, 172, 174, 195, 200, 206, 208, 210, 214, 216, 222, 226, 283, 304, 317, 321, 326, 353, 369, 372f, 414, 420 A.76, 445, 476, 482 A.48, 532, 534, 546 Nächstenliebe 16, 197, 224, 340,
589
Sachregister (Auswahl)
342–349, 350f, 356–363, 365, 377, 378, 547 Naherwartung 77, 132, 170, 179f, 202f, 206, 226, 227, 260, 262, 310, 337, 447, 503 Nathanael 207 Nazoräerevangelium 91, 93, 361 Nazareth 78, 87, 99f, 109, 112, 144, 154–156, 170, 172, 200, 282, 318, 362, 542 Nero 43–45, 460 Nikodemus 83, 107, 167, 218, 373, 471 Normwunder 272, 276f, 280, 284, 289 Noah 412 Ölberg 141, 171, 286 Olympia, Mutter Alexander d. Gr. 106 Oniaden 127, 128 Opferkult 94, 110, 126, 129, 343, 348, 350, 423, 434, 439, 448, 455 Opfer Christi 455, 487 Ostererscheinung, Ostervision 66, 106, 284, 489–526, 549, 550 Osterglaube 110, 489–526, 536 Ostergraben 108 Ostermystik 494f, 524–526, 550 Oxyrhynchos 56, 78, 79 Parallelismus, sozialmythischer 248, 251,409, 413, 416 Parusieverzögerung 203, 204, 225, 227, 262,299, 405 A.54, 543 Passa(fest) 40, 52, 85. 94, 108, 140, 147f, 150f, 152, 169, 427, 432, 433, 435f, 440–444, 447, 450, 454, 472, 473, 548 Passaamnestie 151, 443, 472 Passalamm 94, 151, 444 A.26 Passamahl 150f, 427, 432, 434, 440–444, 454 Passion 90, 112, 113, 150–152, 169f, 170–171, 218, 222, 436, 444, 456–488 Passionsgeschichte 72, 84, 99, 111, 113, 116, 151, 170, 171, 207 A.26, 216, 218, 222, 435, 436, 442, 444, 451
Paulus 19, 20, 42 A.33, 43 A.35, 46, 47, 64f, 73, 77, 98, 101– 103, 104, 111, 116, 128, 186, 193 A.1, 195, 199, 209, 214, 217, 216, 222, 223, 237, 237 A.43, 245, 261, 281, 294, 324, 338, 349 A.18, 353f, 354 A.27, 365, 366, 381, 405 A.55, 416 A.71, 424f, 425f, 432, 434, 435, 436, 437, 438, 440, 442, 446, 447, 452, 456, 487f, 489, 493, 494, 495f, 498, 499–502, 508, 508–510, 512, 524f, 532, 532f, 534, 535, 538, 549, 550 Peräa 139, 147, 158, 161, 169, 176, 177 Persontypisch 26, 116, 118 Petronius, syrischer Legat 166, 340, 360 Petrus 64, 71, 72, 73, 74, 75, 80, 81, 83, 84, 85, 90, 102, 109, 110, 122, 138, 148. 149, 156, 157, 161, 166, 172, 207, 209, 213, 214, 279, 280, 284, 289, 291, 293, 341, 373, 380, 382, 402, 415, 452, 458, 460, 463, 464, 473, 474–475, 486, 490f, 492, 493, 496, 500, 501, 502, 503, 505, 506, 506, 507, 508, 511, 514, 517–520, 540 Petrusevangelium 55, 57, 80f, 472, 473, 478, 497 Phädrus 523 Pharisäer 34, 37 A.19, 69, 75, 101, 115, 128, 130 A.10, 131, 132, 133, 134, 135, 136–137, 138, 156, 159, 168, 169, 187, 196, 198, 215f, 216–217, 218– 219, 220, 221f, 237, 241, 247, 282, 307, 314, 318, 339, 341, 351, 354, 355, 364, 443 A.25, 470f, 547 Philippus, Jünger Jesu 85, 100, 207 Philippus, Sohn Herodes I. 148, 156, 157, 158, 159, 167, 177, 178, 219 Pilatus 34, 35, 36, 37, 38, 39, 44, 52, 72, 80, 81, 85, 97f, 100,
108, 116, 121, 140, 147, 150, 151, 152, 158, 159, 171, 150, 151f, 158, 159, 171, 219, 246, 340, 360, 401, 403, 428, 456, 458, 459, 462, 463, 464, 465, 466, 467, 469, 470, 471, 477f, 479, 480, 483, 484, 490, 513, 516, 544, 548, 549 Plausibilitätskriterium 23, 27, 29, 114 Plinius d. Ä. 268 Plinius d.J. 41–43, 45, 46, 53, 85 Politische Aspekte des Wirkens Jesu 16, 85, 108, 138, 140, 156, 158–160, 172, 195, 219f, 221, 224, 239, 240f, 249, 273, 354f, 359, 377, 380, 381, 383, 386, 398f, 399f, 400, 428, 446, 450, 457–458, 461f, 466f, 469f, 470f, 471, 475–477, 477–483, 483f, 485f, 548f Pompejus 159, 161, 230f Porcius Festus, Prokurator 34, 141, 479 Präexistenz, präexistent 70, 78, 82–85, 106, 107, 175, 387, 410, 530, 531 Prätorium 171, 172 Prophet, prophetisch (AT) 22, 23, 34, 37, 61, 69f, 76, 79, 92, 93, 103, 107, 113, 122, 126, 137, 147, 149, 170, 193 A.1, 203f, 208, 212, 216, 222, 231, 232, 233, 238, 244, 248, 279, 286, 301, 318, 321, 329, 338, 342f, 348, 356, 363f, 368, 372, 383, 394, 396, 399, 403, 429, 445f, 456, 461, 466, 471, 485, 510, 516 Prophet (Jesus) 21f, 37, 61, 69f, 87, 107, 110, 112, 122, 125, 141, 147, 149, 154, 169, 170, 208, 212, 216, 222, 223–262, 264, 266, 274, 278, 279, 282, 286, 287, 338, 340, 368, 370, 372, 379, 384, 385, 387, 388– 395, 399, 403 A.50, 416f, 428, 429–431, 445f, 447, 449, 450f, 456, 458, 463, 466, 469,
590
470, 473, 476, 481, 483, 484f, 486f, 503, 544f Prophet (Johannes) 113, 140, 173–189, 179, 182f, 185, 188, 189, 203, 204, 227, 239, 389f Propheten (urchristliche) 72, 103, 159, 174, 510 Propheten (zeitgenössische) 35 A.4, 58 A.15, 103, 129, 131, 140–141, 174, 179, 286, 383, 448, 449, 461, 471 Prostituierte 180, 184, 237, 360, 372, 545 Ptolemäer 127 Ptolemais 163, 164 Pythagoräer 134 Quintilius Varus, syrischer Legat 138, 155, 158, 479 Quirinius 144–145 Qumran 98, 100, 113, 128, 132, 135, 136, 137, 184, 188, 229, 233 A.36, 234, 338, 340, 346, 352, 359, 366, 371, 383, 384, 385 A.17, 389, 390, 398f, 403, 406, 409, 427f, 429, 448, 449, 480 Qumrangemeinde 132, 338, 428, 449 Rabbinen 37, 98, 137, 168, 194, 217, 295, 298, 302, 315, 322, 326, 338, 340, 351, 358, 391, 369 Rabbinische Bewegung 137, 453 Rabbinische Literatur, Quellen 39–41, 53 A.59, 75, 87, 98, 105, 137, 155, 167, 196, 216, 217, 266, 278, 285, 298f, 301, 302f, 312, 316, 323, 328, 330, 333 A.79, 338f, 339, 358, 364, 440–442, 453, 546 Rabbinisches Jesusbild 33, 39–41, 53 A.59 Räuberkrieg 158, 398, 400, 402, 479 Realgeschichte, realgeschichtlich 29, 228, 339 Redaktion, Redaktionsgeschichte 27, 265, 302, 402, 450, 460
Sachregister (Auswahl)
Redaktionell 75, 83, 87, 88, 157, 274 A.34, 302, 312, 460, 470 Reich Gottes, der Himmel 84, 90, 91, 107, 115, 116, 118, 131, 165, 196, 223–262, 278, 299, 300, 312, 319, 337, 355, 369, 372, 375, 382, 395, 409, 414, 417, 418, 424, 431, 438, 439, 440, 447, 450, 453, 455, 465, 475, 485, 508, 520, 528, 536, 546, 547, 548 Reich Römisches 77, 120, 137, 144, 145, 413, 483 Reich der Herodäer 160, 166 Reichtum 47, 139, 243, 247, 297, 354, 545, 547, Reichtumskritik 47, 88, 139, 243, 247, 297, 354, 545, 547 Reinheit 32, 80,101, 102, 132, 167, 174, 176, 177, 168, 185, 186, 202, 217, 292, 317, 352– 354, 361, 365, 368, 369, 371, 450, 533, 545 Reinheit, offensive 217 Reinheitsgebot 22, 56, 64, 79, 80, 84, 127, 135, 136, 142, 163, 168, 183, 215, 317, 363, 365, 544, 547 Reinheitsriten, -rituale 185, 187, 189, 450 Religionsgeschichte 29, 289, 382f, 487, Repräsentative Volksherrschaft 221 Resonanz 378, 524, 537–541 Rettungswunder 272, 279 Richter (Gott) 19, 180, 181, 202, 244, 245, 252, 305, 333, 546 Richter (Stellvertreter: Menschensohn, Jesus) 70, 202, 207, 244, 328f, 380, 381, 410, 412, 536, 543 Richter (die Zwölf) 148, 244, 317, 404, 417, 428, 431, 546 Richter (Menschen) 39, 52, 152, 240, 275, 403, 412, 417f, 420, 458, 462, 478, 483, 484, 528, 534 Sabbat 22, 61, 66, 127, 151, 234,
336, 345, 367, 368, 443, 513, 535, 545, 547 Sabbatbruch, Sabbatkonflikt 66, 93, 94, 269, 271, 277, 280, 293, 361–363, 411, 470 Sabbatheiligung, Sabbatgebote 22, 127, 128, 136, 142, 216, 220, 234, 277, 293, 361–363, 365, 444, 468, 547 Sabbatheilungen, Wunder am Sabbat 213, 219, 265, 269, 272, 277, 278, 280, 290, 367 Sabbatlieder in Qumran 229, 234 Sadduzäer 126, 131, 133, 134, 135, 137, 168, 215, 216, 217– 219, 361 Salome, Tochter der Herodias 90, 178 Salomo 61, 70, 117, 162, 184 A.20, 216, 228, 230, 239, 244, 273, 323, 349 A.19, 368, 370, 400 Samarien 100, 129, 131, 138, 147, 158, 163, 166, 169, 217, 542 Samaritaner, Samariter 131, 158, 162, 170, 297, 300f, 304, 307, 318, 327, 357f, 449, 548 Satan 63, 66, 69, 115, 196, 206, 227 A.22, 233, 239–241, 242, 246, 248, 251, 256, 257f, 259, 267, 273, 274, 280, 281, 290, 313, 362, 382, 390, 402, 482, 483, 548 Schammaiten 137 Schriftgelehrte 61, 64, 101, 135, 151, 155, 167, 168, 184, 194, 196, 215f, 216, 217, 221, 222, 234, 237, 247, 252, 260, 268, 277, 317, 318, 322, 335, 342f, 344, 347, 348, 350, 351, 355, 448, 463, 476, 527 See (Genezareth, galiläischer) 83f, 154, 156f, 162, 164, 172, 273f, 279, 283, 496, 505 Selbststigmatisierung 195, 202, 208 Sekundärer Mk-Schluss 40, 55 A.3, 66, 504, 506, 507 Selbstverständnis Jesu 149, 206,
591
Sachregister (Auswahl)
254, 274, 283, 285, 287, 306, 379–420 Seleukiden 127–130 Semeia-Quelle 14, 84 Sentius Saturnus 145 Sepphoris 154, 155f, 157, 158, 160, 161, 163, 164, 169, 199 Sexualität, sexuelles Begehren 88, 351, 352, 365, 366, 367 Sidon 157, 162, 163, 244, 371 Simon ben Giora 398 Simon, Bruder Jesu 198 Simon der Zelot 160, 481 Simon, Königsprätendent 138, 397, 398, 402 Simon von Kyrene 443, 444, 462, 463 Simon, Makkabäer 129, 131, 161, 400 Simon, Sohn des Judas Galilaios 166 A.35 Sitz im Leben 25, 29, 58, 70, 75, 111f, 134, 229, 256f, 265, 299, 302, 340, 368, 369, 376, 411, 435 Skepsis 18f, 20, 24, 25, 26, 59, 97–122, 149, 221, 222, 270, 281, 290, 380f, 383, 491, 502 Skript, kulturelles 273f, 315 Sohn Gottes 21, 23, 54, 71, 73, 82, 93, 106, 109, 110, 190, 202, 205, 238 A.46, 266, 279, 284, 286, 381, 382, 387f, 404–407, 411, 418, 420, 464, 470, 474, 496, 502, 509, 528, 531, 532, 533f, 536, 544 Sohngottheiten 287, 381, 406 A.56, 531 Sozialgeschichte, sozialgeschichtlich 23, 27, 103, 195, 226f, 229, 267f, 301f, 339– 341, 393f , 428, 461 Sozialmythischer Parallelismus 248, 251, 409, 413, 416 Soziologie, soziologisch 29, 112, 114, 222, 461 Speiseaskese 94 Speisegebote 46, 48, 127, 136, 168, 217, 367, 547 Spruchquelle s. Logienquelle
Steuerverweigerung, Steuerstreik 139, 144, 395, 430, 542 Steuerzahlung 56, 59, 79, 139, 140, 144, 159, 166 A.35, 220, 251, 349, 355, 364, 430 A.10, 470, 482 Stigma 154, 195, 198, 210 Stoiker, stoisch 47, 134, 324, 410 A.64 Strafwunder 94 A.102, 276f, 289 Sueton 41, 43 A.34, 45f, 275 Sühne, Sühnefunktion, Sühneopfer 70, 119, 126, 132, 203, 394, 403, 446 A.28, 448, 484, 485–488, 545 Sühnetod 77, 487f Sündenvergebung 84, 109, 115, 139, 185–187, 201, 203, 255, 256, 259, 292, 328, 330, 390, 391, 393, 394f, 405, 411, 432, 450, 454, 505, 542, 545, 548 Symbolhandlung, symbolische Handlung, Heilung 174, 180, 203, 206, 277, 289, 291–293, 420, 423–455, 475, 540, 546, 548, 550 Symbolpolitik, symbolpolitisch 140, 141, 195, 428 Synagogen, Synagogengottesdienst 75, 125f, 154, 155, 156, 161, 200, 345, 543, 544 Synergismus 134, 216, 252 Synergismus, konsekutiver 253, 547 Synergismus, paränetischer, ethischer 274, 289 Synergismus, revolutionärer 138, 289 Synergismus, thaumaturgischer 274, 288, 289,293, 345 Synedrium 64, 72, 85, 108, 132, 151, 216, 218, 222, 401, 415, 444, 451, 457, 458, 459, 463, 464, 466, 467, 468, 469, 470, 471, 473, 476, 477, 478f, 486, 548 Tacitus 41, 43–45, 52, 53, 85, 98, 121, 140, 150, 160, 395, 477 Taufbewegung 174 Taufe, taufen 80, 99, 106, 110,
139, 140, 173–189, 201, 206, 256, 259, 347, 352, 354, 389f, 391, 404f, 430, 432, 434 A.13, 454, 455, 542, 545 Taufe Jesu 51, 71, 92, 93, 106, 109, 110, 143, 147, 148, 175 A.7, 187, 201–205, 256, 391, 404f, 502, 534 Täuferjünger 85, 256 Täufer redivivus 109, 282 Tempel 22, 61, 70, 73, 79, 99, 125, 126, 128, 129 A.9, 131, 136, 137, 140, 141, 142, 148, 151, 160, 167, 168f, 169, 170, 171, 187, 194, 200, 202, 228, 229, 236, 237, 340, 360, 368, 394, 428, 431, 435, 442, 447–453, 454, 464, 468, 474, 475, 476, 479, 482, 486, 510, 542, 548 Tempelaktion Jesu, Tempelreinigung 140, 148, 149, 177, 203, 215, 219, 389f, 428, 430, 431, 445, 447, 449, 450–452, 453, 475, 476, 481, 546, 548 Tempelaristokratie 79, 139, 171, 219, 222, 428, 469, 475, 476, 483f, 486, 548 Tempelersatz: Qumrangemeinde 132 Tempel in Leontopolis 128, 131 Tempelkritik, -opposition 131, 140, 170, 177, 218, 428, 449, 469, 470, 471, 476f, 484, 548 Tempelkult 94, 126, 128, 130, 135, 140, 161, 215, 228, 229, 384, 405, 452, 454, 475, 476, 486, 548 Tempel, neuer 169, 170, 174, 286, 447, 448–449, 452, 453, 454, 476, 548 Tempelreinigung 140, 148, 149, 177, 203, 215, 219, 389f, 445, 447, 450, 451, 453, 481, 548 Tempelrolle 351, 352 Tempel der Samaritaner 131,140, 174, 449 Tempelschatz 36, 128, 483 Tempelsteuer 75, 168, 280 Tempelweihung 129, 133, 390 Tempelweissagung, -prophetie
592
141, 170, 179, 423, 461, 466f, 469, 473 Tempelzerstörung, Tempelverlust 72, 75, 77, 86, 137, 137, 141, 217, 218, 342, 409, 423, 431, 453, 464, 479 Tempel, zweiter, erneuerter 234, 400 Tendenzwidrigkeit, tendenzwidrig, -spröde 26, 38, 115– 117, 118, 328, 344, 354, 39, 437, 463, 467, 550 Testimonium Flavianum 33–39, 281, 282, 283, 478 Testimonium Flavianum, arab. Fassung nach Agapius von Hierapolis 37, 232 Thallus 51 Theios Aner 35 A.4, 285 Theudas 139, 141, 166 A.35, 174, 286 third quest, „dritte Frage“ 6, 16, 22–24, 29 Thomasevangelium 23, 55f, 67, 86–89, 112, 271, 316 A.53, 320, 327, 411, 524, 526, 550 Thomas von Aquin 374 Thora 21, 23, 104, 126, 128, 136f, 167–169, 194, 216, 237, 302, 326, 334–335, 338f, 340, 342–349, 350–354, 358, 359, 363, 363–368, 368, 370, 372f, 391, 408, 486, 544, Thora, mündliche 131, 136, Thoraentschärfung, – verschärfung 102, 107, 135, 142, 277, 338, 352, 364–367, 386 Tiberias 154, 155f, 157, 158 A.17, 160, 161, 162, 163f, 164, 166, 168, 515 Tiberius, Kaiser 44, 51, 140, 147, 164, 166, 176 Todesprophetie 236, 447 Trajan, Kaiser 41, 42, 45, 84, 85, 165, 199 Tyros 157, 162f, 163, 244, 371 Umkehr 16, 39, 42, 43, 66, 126, 139, 149, 174, 177, 178, 179– 182, 182f, 185f, 189, 202, 203–204, 206, 232, 243, 244, 246, 247, 249, 256, 257, 258,
Sachregister (Auswahl)
259, 260, 271, 282, 299 A.12, 316, 318, 320, 322, 363, 371f, 373, 394, 482, 542f, 545 Unmittelbarkeit 21, 194, 266, 386, 387, Vatermetaphorik, Gott als Vater 60, 66, 78, 90, 105, 109, 117, 198, 203, 210, 212f, 242, 253–258, 298, 303, 307, 369, 393, 405, 406, 420, 518, 525, 529, 545 Vaterunser 69, 109, 148, 149, 207, 235, 236, 250, 253–258, 393, 394, 405, 436, 464, 545 Vaticinia ex eventu 414, 485 Vegetationsmetaphorik 202, 310 Vergebung, vergeben 66, 84, 109,139, 174, 185–187, 189, 201, 203, 243, 246, 249, 254– 256, 292, 318, 320, 329 A.76, 330, 353, 390, 391, 394f, 404, 405, 411, 432, 433, 450, 454, 465, 474, 493, 542, 545, 548 Verklärung Jesu 71, 279, 280, 282, 284, 502, 506, 517–520, 534 Vertrautheitsindizien 60, 68, 72, 461f, 548 Vespasian, Kaiser 34, 85, 105, 199, 275, 289, 394, 396, 399 Völkerwallfahrt, Zustrom zum Zion 142, 228, 231, 232, 236, 244, 399, 440, 453, 475 Volkstümliche Verschiebung 105, 271, 283 Vollmacht Jesu 109, 111, 119, 149, 194, 196, 208, 215, 219, 300, 379, 386f, 389, 393, 394f, 411, 413, 416, 419, 445, 451 Wachstumsgleichnisse 90, 115, 224, 242, 245, 309, 314, 317f, 326 Wandercharismatiker 23, 29, 60, 67, 69, 70, 78, 111, 195, 209, 214, 340, 355, 363, 368, 547 Weisheit, weisheitlich 23, 36 A.15, 48, 53, 57, 89, 127, 194, 195, 199f, 215, 228, 230, 235, 239, 244, 260, 287, 302, 334f, 337, 355, 359, 363f, 534
Weisheitslehre,-sprüche 22, 35 A.4, 37 A.19, 61–63, 65 A.38, 69f, 104, 107, 131, 179, 216, 219, 228f, 286, 315, 323, 325, 339, 356f, 366, 268–370, 405, 547 Weisheitsmythos 19, 63, 102, 125, 212f, 261, 368, 484, 529f Wirkungsauthentisch 7, 26, 67, 97, 110, 119, 305, 323, 341, 418, 453, 542, 550 Wirkungsplausibilität 115–117, 285, 326–328 Wunder 17, 22, 38f, 40, 51, 67, 79, 81, 84, 94f, 105, 141, 162, 174, 193, 200, 206, 240f, 244, 253, 263–294, 390, 404, 414, 424, 450 A.44, 464, 531 Wundercharisma 193 A.1, 195, 206, 222 Wundercharismatiker, Wundertäter 22, 37 A.19, 52, 86, 105, 168, 170, 195, 207, 222, 266f, 284–288, 545 Wundergeschichten 59 A.18, 60, 60 A.22, 72, 105, 106f, 109, 116, 195, 213, 251, 263, 264–266, 270–280, 295f, 318, 323, 460 Wunderglaube 50, 83, 111, 288 Wunderheilungen 227, 290–293, 545, 550 Zacharias 188, Zauberpapyri 266, 287 Zeichenpropheten 140–141, 174, 208, 286 Zeloten 160, 461, 481–483 Zensus des Quirinius 144–145, 155 Zöllner 161, 194, 184, 185, 187, 196, 204, 237, 244, 248, 307, 314, 318, 349, 359, 360, 367, 372f, 430, 536 Zwei-Quellen-Theorie 17, 18, 67f Zwölferkreis, die Zwölf 27, 40 A.27, 69, 70, 100, 140, 148, 160, 205, 208, 209, 210, 211, 221, 228, 235, 244, 249, 317, 394, 385, 402f, 405, 417, 420, 425, 428, 430f, 442, 452, 475, 482, 492, 496, 500, 501, 510f, 519, 543, 544, 546, 549
Zusammen mit real- und sozialgeschichtlichen Erkenntnissen machen sie Jesu Bild in den Quellen als Auswirkung seines Wirkens verständlich. Innerhalb der Veränderungen und Spannungen seiner Zeit wirkt Jesus menschlicher, sozialer und politischer als sonst, während gleichzeitig seine charismatische Ausstrahlungskraft und seine Bedeutung für den Glauben klarer hervortreten. Neben einzelnen ‚Erinnerungsspuren‘ an ihn ermöglichen vor allem ganze ‚Erinnerungsmuster‘ in den Überlieferungen von ihm den Rückschluss auf sein Wirken. Unverwechselbar ist bei ihm z. B. die Verbindung der Erwartung einer neuen Welt und des Glaubens als Heilkraft in dieser Welt, des Dichters von Parabeln und des Lehrers einer grenzüberschreitenden Ethik, des Erfinders symbolischer Handlungen und des Märtyrers, der sein Leben riskierte und im Glauben seiner Anhänger weiter lebt.
Dies ist ein utb-Band aus dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehr- und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen.
ISBN 978-3-8252-6108-5
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Theißen | Merz
Während in der Gesellschaft die Erinnerung an Jesus verblasst, halten erinnerungshistorische Ansätze ‚kontrapräsentisch‘ an ihr fest.
Wer war Jesus?
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