Weltstadtvergnügen: Berlin 1880-1930 [1 ed.]
 9783666300875, 9783525300879

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Daniel Morat, Tobias Becker, Kerstin Lange, Johanna Niedbalski, Anne Gnausch und Paul Nolte

Weltstadtvergnügen Berlin 1880–1930

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 49 Abbildungen und 2 Karten Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-666-30087-5 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Umschlagabbildung: Postkarte (Ausschnitt) »›Casanova‹ Casino International. Die schönste Tanzstätte des Kontinents« (Aquarell von Martin Frost) © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen /  Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Daniel Morat

1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1.1 Äußere und innere Urbanisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.2 Vergnügungskultur und Kosmopolitismus . . . . . . . . . . . . . . . 14 1.3 Berliner Vergnügen im Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

Tobias Becker

2. Unterhaltungstheater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 2.1 2.2 2.3 2.4

Betrieb: Topographie, Ökonomie, Politik . . . . . . . . . . . . . . . . 32 Publikum: Bürger, Angestellte, Arbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 Metropole: Die Stadt auf der Bühne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 Kosmopolitismus: Die Welt auf der Bühne . . . . . . . . . . . . . . . . 61

Kerstin Lange

3. Tanzvergnügen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 3.1 3.2 3.3 3.4

Von Rixdorf zur Friedrichstraße: Berliner Tanzlokale im Wandel . . . 77 Neue Modetänze: Ragtime, Tango und der Berliner Schieber . . . . . . 85 Erfahrung und Ordnung des Tanzvergnügens . . . . . . . . . . . . . 94 Tanz – Kosmopolitismus – Weltstadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104

Daniel Morat

4. Populärmusik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 4.1 Zwischen Gartenkonzert und Operettenbühne: Orte und Urheber der Populärmusik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 4.2 Zwischen Zuhören und Mitsingen: Die Praxis der Populärmusik . . . 122 4.3 Zwischen Gassenhauer und Berlinschlager: Populärmusik und innere Urbanisierung . . . . . . . . . . . . . . . . 133 4.4 Zwischen Wiener Walzer und Jazz: Kosmopolitismus in der Populärmusik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143

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Inhalt

Johanna Niedbalski

5. Vergnügungsparks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 5.1 Hasenheide und Halensee: Die Topographie und Geschichte der Vergnügungsorte . . . . . . . . . 159 5.2 Biergarten, Lunapark und Amerikanischer Vergnügungspark: Die Organisation des Vergnügens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 5.3 Massenbesuch und Elitetage: Das Publikum der Vergnügungsparks . . 175 5.4 Rasende Bahnen: Urbane Erlebnisse mit Vergnügungsattraktionen . . 181

Anne Gnausch

6. Kokainkonsum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 6.1 Zur Einführung von Kokain und Morphium im Kaiserreich . . . . . 198 6.2 Von »Kokainhöhlen« und Halbweltdamen: Berlin im Drogendiskurs der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . 203 6.3 Gesetzliche Rahmenbedingungen und internationale Dimensionen . . 210 6.4 Kokainhandel und -konsum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 6.5 Zwischen Vergnügen und Verfall: Kokain in Kunst und Kultur . . . . 227

Paul Nolte

7. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231

Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268

Vorwort

Dieses Buch geht auf zwei von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Projekte zurück: »Metropole und Vergnügungskultur. Berlin im transnationalen Vergleich, 1880–1930« (Projektleitung: Daniel Morat, Paul Nolte; Mitarbeit: Kerstin Lange, Anna Littmann, Johanna Niedbalski, Anne Gnausch) und »West End und Friedrichstrasse. Populäres Musiktheater in London und Berlin, 1890–1939« (Projektleitung: Paul Nolte, Len Platt; Mitarbeit: Tobias Becker,­ David Linton, Laura Ameln, Alissa Rubinstein; kofinanziert durch den britischen Arts & Humanities Research Council (AHRC)).1 Der Aufbau des Buchs und seiner Kapitel sowie die in der Einleitung formulierten Leitthesen und -überlegungen wurden in der gemeinsamen Projektarbeit und -diskussion entwickelt. Wir danken David Linton, Anna Littmann, Len Platt, Laura Ameln und Alissa Rubinstein für die produktive Projektzusammenarbeit und der DFG sowie dem AHRC für die großzügige Finanzierung. Den Mitgliedern der ­»Berliner Werkstatt zur Stadtgeschichte«, besonders Hanno Hochmuth und Henning Holsten, sowie Alexander C. T. Geppert und Jens Wietschorke danken wir für produktive Diskussionen. Helen Wagner danken wir für das gründliche Lektorat des Manuskripts und die Recherche der Bildrechte. Bei Vandenhoeck & Ruprecht danken wir Martina Kayser und Daniel Sander für die kompetente Betreuung des Buchs. Die Autorinnen und Autoren

Berlin im Dezember 2015

1 Es liegen bereits andere Buchveröffentlichungen aus diesem Projektkontext vor: Becker, Inszenierte Moderne; Becker, Littmann u. Niedbalski, Die Stadt der tausend Freuden; Lange, Tango in Paris und Berlin; Nolte, Die Vergnügungskultur der Großstadt; Platt,­ Becker u. Linton, Popular Musical Theatre in London and Berlin.

Daniel Morat

1. Einleitung »Fremder, der du nach Berlin kommst, der du Anteil haben willst an all dem bunten Treiben, der du wandeln willst durch die leuchtenden Ballsäle, mit den lachenden Mädeln kosen, über die pikanten Scherze der Kabaretts und über die strammen Trikots der Variétékünstlerinnen dich ergötzen willst --- Fremder, folge mir in das Labyrinth der Freuden!«1

Der Schriftsteller Edmund Edel wusste um die Verlockungen der Berliner Vergnügungskultur. In seinem Beitrag über das Nachtleben in dem Reiseführer Ich weiß Bescheid in Berlin von 1908 sparte er nicht mit Superlativen: »In keiner Stadt der Welt«, so Edel, »lachen die Nächte so laut und gellend wie in Berlin«.2 Auch andere Reiseführer priesen in diesen Jahren vor dem Ersten Weltkrieg die Berliner Vergnügungskultur als singulär und als besondere Attraktion. So war etwa im Reiseführer Berlin für Kenner von 1912 zu lesen: »Das Berliner Nachtleben ist erwiesenermaßen mit dem Nachtleben keiner anderen Stadt, selbst nicht mit dem von Paris, zu vergleichen, und charakterisiert Berlin einzigartig als Weltstadt.«3 Die Friedrichstraße als Zentrum des damaligen Berliner Vergnügungslebens erschien deshalb zugleich als »die weltstädtischste Straße von Berlin«.4 Carl Moreck bezeichnete sie Ende der Weimarer Republik, im Rückblick auf die Kaiserzeit, als »Substanzierung der Weltstadtexistenz Berlins«.5 Das Nacht- und Vergnügungsleben findet breiten Raum in den Reiseführern der Zeit, von den Theatern, Konzert- und Opernhäusern über die Varietés, Kabaretts, Zirkusse, Eispaläste und Kinos bis hin zu den Ball- und Tanzsälen, den Bars und Biergärten, den Restaurants und Nachtcafés, den Vergnügungsparks und Sportarenen. Reiseführer sind Werbeschriften für Leserinnen und Leser mit ganz bestimmten Freizeitbedürfnissen. Insofern sind diese Aussagen nicht einfach für bare Münze zu nehmen und der Schwerpunkt, den sie auf die Vergnügungskultur legen, spiegelt nicht das Großstadtleben als solches. Sie treffen aber doch sehr gut das Bild, das man sich nicht nur außerhalb, sondern auch in Berlin selbst von dieser damals noch jungen Metropole machte. Denn wie der Unter1 2 3 4 5

Edel, Berlins leichte Kunst und lustige Nächte, S. 101. Ebd., S. 100. Berlin für Kenner, S. 13. Ebd., S. 21. Moreck, Führer durch das »lasterhafte« Berlin, S. 11.

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titel des zuerst zitierten Führers »durch Groß-Berlin für Fremde und Einheimische« selbst sagte, richteten sie sich nicht nur an Touristen, sondern ebenso an Berlinerinnen und Berliner, die sich über das Vergnügungsangebot der Großstadt informieren wollten. So konstatierte etwa auch der vom Berliner Lokalanzeiger herausgegebene Tägliche Vergnügungsanzeiger, Berlin habe ein »Nachtleben, wie es kaum eine zweite Stadt der Welt aufzuweisen hat«, und er empfahl den Berlinerinnen und Berlinern die Vergnügungsstätten mit »internationalem Publikum«, um dort am »weltstädtischen Leben« teilzuhaben.6 Damit benannte er in gleicher Weise wie die Reiseführer genau den Zusammenhang, dem wir in diesem Buch nachgehen wollen, zwischen Weltstadt und Vergnügen. Die Parole »Berlin wird Weltstadt« hatte David Kalisch schon 1866 im Titel einer seiner Lokalpossen ausgegeben.7 Unter ihr vollzog sich nach dem Aufstieg Berlins zur Hauptstadt des Deutschen Kaiserreichs 1871 dann dessen rasante Entwicklung hin zu einer Millionenstadt. Weltstadt werden, das hieß allerdings nicht nur Einwohnerwachstum und Zuwachs an wirtschaftlicher und politischer Bedeutung. Es bedeutete auch, dass man auf dem Gebiet der Unterhaltungskultur mit anderen (europäischen) Metropolen wie Paris, Wien oder London konkurrieren können musste.8 Das Verhältnis von Weltstadt und Vergnügen erschöpft sich jedoch nicht in diesem Phänomen der Metropolenkonkurrenz. Die Vergnügungskultur, so die Hauptthesen dieses Buchs, übernahm vielmehr noch zwei weitere, zentrale Funktionen in der Entwicklung Berlins zur Weltstadt: Zum einen diente sie als Medium und Katalysator der »inneren Urbanisierung«, also der kognitiven und habituellen Anpassung an die Bedingungen des Großstadtlebens und der Herausbildung einer Großstadtmentalität.9 Zum anderen fungierte sie als Verhandlungsfeld des Kosmopolitismus, das heißt der Arten und Weisen, in denen die Welt in der Stadt präsent war. Zum besseren Verständnis dieser beiden Hauptthesen werden die Zentralbegriffe der inneren Urbanisierung, der Vergnügungskultur und des Kosmopolitismus in den nächsten beiden Abschnitten genauer erläutert. Im Anschluss folgt ein kurzer Überblick über die Sozialtopographie des Berliner Vergnügens und seines Wandels im hier gewählten Untersuchungszeitraum.

6 Täglicher Vergnügungsanzeiger, hg. v. Berliner Lokal-Anzeiger, 1.10.1909, S. 6. 7 Kalisch, Haussegen, oder: Berlin wird Weltstadt! Vgl. zu Kalisch in diesem Kontext Marx, »Berlin ist ja so groß!«, S. 90–95. 8 Dieser Zusammenhang wurde auch schon früh so benannt, etwa 1872 in der Neuen Berliner Musikzeitung: »Berlin wird eben Weltstadt; die Veranstaltungen, welche zur Unterhaltung des Publikums getroffen werden, nehmen von Jahr zu Jahr grössere Dimensionen an […].« (Neue Berliner Musikzeitung 26 (1872), S. 293.) 9 Korff, Mentalität und Kommunikation in der Großstadt. Vgl. dazu auch Fritzsche, Als Berlin zur Weltstadt wurde.

Einleitung

1.1 Äußere und innere Urbanisierung Das 19.  Jahrhundert erlebte einen beispiellosen Aufstieg der Städte. Während um 1800 in Europa etwa 19 Millionen Menschen in Städten lebten, waren es um 1900 über 108 Millionen, die Zahl der europäischen Großstädte erhöhte sich im gleichen Zeitraum von 21 auf 147.10 Dieser Prozess der Verstädterung bzw. Urbanisierung war eng mit der Industrialisierung verbunden, die zur Abwanderung von Arbeitskräften aus der Landwirtschaft in die industriellen Zentren führte.11 Ebenso wie die Industrialisierung vollzog sich auch die Urbanisierung in den verschiedenen europäischen Ländern in unterschiedlichen Geschwindigkeiten und nach unterschiedlichen Mustern. In Deutschland nahm die Dynamik der Urbanisierung ab Mitte des Jahrhunderts zu. Berlin zählte um 1850 bereits 412.000 Einwohner und war damit schon zu diesem Zeitpunkt die größte deutsche Stadt.12 Bis zur Reichsgründung 1871 verdoppelte sich die Einwohnerzahl auf 826.000, 1877 war die erste Million erreicht, 1905 die zweite. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs war Berlin die drittgrößte europäische Stadt nach Paris und London. Durch die Bildung Groß-Berlins 1920, das heißt durch die Eingemeindung der umliegenden Städte und Gemeinden (von denen sieben bereits selbst Großstädte mit über 100.000 Einwohnern waren) stieg die Einwohnerzahl mit einem Schlag auf knapp 3,9 Millionen, 1925 erreichte sie dann die Vier-­Millionen-Grenze.13 Berlin war damit in einer Geschwindigkeit gewachsen, die das Wachstum der ›alten‹ Metropolen bei weitem übertraf, und war am Ende dieser ›Aufholjagd‹ nun, nach New York und London, die drittgrößte Stadt der Welt. Dieses quantitative Wachstum ging mit nachhaltigen qualitativen Veränderungen des städtischen Lebens einher. Die Dichte der Bebauung und der Wohnverhältnisse sowie die hohe Zuwanderung führten zu neuen Formen des sozialen Miteinanders und zu neuen Herausforderungen an die städtische Infrastruktur. Der Ausbau der Verkehrsnetze und der technische Fortschritt der Verkehrsmittel 10 Vgl. Zimmermann, Die Zeit der Metropolen, S. 13 f. Vgl. zur europäischen Stadtgeschichte Lees u. Hollen Lees, Cities and the Making of Modern Europe; Lenger, Metropolen der Moderne. Die Urbanisierung des 19. Jahrhunderts war allerdings nicht allein ein euro­ päisches, sondern ein globales Phänomen; vgl. dazu Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, S. 354–464. 11 Diese Abwanderung wurde wiederum durch die sogenannte Agrarrevolution ermöglicht, die zur Produktivitätssteigerung in der Landwirtschaft führte, so Arbeitskräfte freisetzte und die für die Versorgung der Städte notwendige »agrarische Überproduktion« (Lenger, Metropolen der Moderne, S. 65) gewährleistete. 12 Allerdings nicht die größte Stadt des Deutschen Bundes, denn Wien hatte zum selben Zeitpunkt bereits über 500.00 Einwohner; vgl. zu den Zahlen und zur Geschichte der Urbanisierung in Deutschland insgesamt Reulecke, Geschichte der Urbanisierung in Deutschland. 13 Vgl. Erbe, Berlin im Kaiserreich, S. 693–695.

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erhöhten die innerstädtische Mobilität und ihr Tempo, Produktions- und Konsumverhältnisse wandelten sich, neue Medien wie die Boulevardzeitung, das Telefon oder das Kino verbreiteten sich zunächst in den Städten. Nicht zuletzt wurde der Wandel selbst zu einem dauernden Element des städtischen Lebens, da sich die Städte im Zuge ihres Wachstums beständig veränderten, alte Straßen und Gebäude neuen weichen mussten, an die Stelle von Stadtmauern Ringstraßen oder Stadtbahnen traten, Gaslaternen durch elektrische ersetzt wurden und vieles mehr. In Bezug auf Berlin brachte Karl Scheffler diesen permanenten Wandel 1910 auf die berühmte Formulierung, Schicksal dieser Stadt sei es, »immerfort zu werden und niemals zu sein«.14 Schon den Zeitgenossen fiel auf, dass dieser städtische Wandel auch Auswirkungen auf die Erfahrungs- und Wahrnehmungsmuster der Großstadtbewohner hatte, dass sich die veränderten Lebensbedingungen in einer Veränderung von Mentalität und Habitus der Menschen in den Großstädten niederschlugen. Seit dem späten 19. Jahrhundert entstand ein literarisches, journalistisches und proto-soziologisches Schrifttum, dass sich mit dem städtischen Wandel beschäftigte und die Entstehung eines neuen Menschentypus beschrieb: des Typus des »Stadtmenschen« oder auch »Großstadtmenschen«.15 Wahrscheinlich das berühmteste Beispiel für dieses Schrifttum ist der Aufsatz Die Großstädte und das Geistesleben des Berliner Philosophen und Soziologen Georg Simmel aus dem Jahr 1903. Simmel fragte darin nach der »psychologische[n] Grundlage, auf der der Typus großstädtischer Individualitäten sich erhebt«, und sah sie in der »Steigerung des Nervenlebens, die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht«.16 Als Reaktion auf diese Steigerung des Nervenlebens entwickle der Großstädter, so Simmel, eine Haltung der »Blasiertheit« und »Reserviertheit«, deren »Verstandesmäßigkeit« als »Präservativ des subjektiven Lebens gegen die Vergewaltigungen der Großstadt« wirke.17 Diese Formulierung von den »Vergewaltigungen der Großstadt« macht Simmels kulturkritische Vorbehalte gegenüber dem Großstadtleben deutlich, dem er insgesamt sehr ambivalent gegenüberstand.18 Sein Text war dennoch wegweisend für die spätere Stadtsoziologie und -ethnographie, die die mentalen Anpassungsleistungen an die Lebensbedingungen der Großstadt untersucht. 1985 hat Gottfried Korff für diese Fragerichtung nach den »geistigen Eigentümlichkeiten« der Großstadt den Begriff der »inneren Urbanisierung« geprägt.19 Im 14 15 16 17 18

Scheffler, Berlin, S. 219. Fritzsche, Als Berlin zur Weltstadt wurde, S. 48; Lenger, Großstadtmenschen. Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben, S. 116. Ebd., S. 121, 123 f. u. 118. Vgl. Jazbinsek, The Metropolis and the Mental Life of Georg Simmel; dazu auch Frisby, Georg Simmels Großstadt; Müller, Die Großstadt als Ort der Moderne. 19 Korff, Mentalität und Kommunikation in der Großstadt, S. 344. Korff bezog sich dabei allerdings nur in einer Fußnote auf Simmel und stützte sich stärker auf die zeitgenös­ sischen volkskundlichen Arbeiten von Hermann Schwabe und Willy Hellpach.

Einleitung

Folgenden greifen wir diesen Begriff auf, um nach der Rolle der Vergnügungskultur bei der mentalen Verarbeitung der großstädtischen Lebensbedingungen und bei der Herausbildung eines großstädtischen Habitus zu fragen.20 Ebenso wie die äußere verstehen wir dabei auch die innere Urbanisierung als einen historischen Prozess, der zwar nie ganz abgeschlossen ist, der sich aber vor allen Dingen in der Phase des schnellen Städtewachstums und des tiefgreifenden städtischen Wandels in der zweiten Hälfte des 19. und dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts vollzog. Unter innerer Urbanisierung wird also die Anpassung an die Lebensbedingungen in der Großstadt allgemein verstanden. Folglich fand dieser Prozess in allen Städten statt, die sich zu Großstädten wandelten. Er war jedoch zugleich eng mit der Frage nach den Besonderheiten der je eigenen Stadt verknüpft. In unserem Fall ging es also nicht nur um die Frage: Was macht das Leben in der Großstadt aus? Sondern auch spezifischer: Was macht das Leben in der Großstadt Berlin aus? Was ist typisch für Berlin im Unterschied zu (und in Konkurrenz mit) anderen Großstädten? Was heißt es vor diesem Hintergrund, eine Berlinerin oder ein Berliner zu sein? Diese letzte Frage gewann vor allen Dingen angesichts der hohen Zuwanderungsraten an Bedeutung.21 Es ging also auch um die Heraus­ bildung und Konstruktion einer spezifischen Stadt-­Identität Berlins. Diese Stadt-Identität Berlins war, wie wir eingangs gesehen haben, eng mit dem Anspruch verknüpft, Weltstadt zu sein. Es ist verschiedentlich darauf hingewiesen worden, dass Berlin weder hinsichtlich seiner nationalen noch seiner internationalen Bedeutung jemals das Niveau von Paris oder London erreicht hat und dass der »Mythos« von der »Weltmetropole Berlin« daher mit Vorsicht zu genießen sei.22 Dies war auch den kritischeren Zeitgenossen bereits aufgefallen, weshalb Walther Rathenaus Formulierung, Berlin sei »der Parvenu der Großstädte und die Großstadt der Parvenus«, vielfach aufgegriffen wurde.23 Für unsere Frage nach dem Zusammenhang von Weltstadt und Vergnügen spielt es jedoch keine entscheidende Rolle, ob Berlin wirklich eine »erstrangige Weltmetropole«24 war oder nicht (wie immer das genau zu bestimmen wäre). Wichtiger ist die Bedeutung, die dem Weltstadtstatus Berlins in der Wahrnehmung der Berlinerinnen und Berliner zukam. Die Vergnügungskultur spielte dabei gerade 20 Wir tun das trotz der theoretischen Probleme, die sich aus einer zu schematischen Trennung von ›innen‹ und ›außen‹ ergeben können, die sich bei einem differenzierten Umgang mit diesem Konzept aber vermeiden lassen. Vgl. zu dieser Kritik an dem Konzept Prestel, Gefühle in der Friedrichstraße. 21 Vgl. zur hohen Bedeutung der Zuwanderung für das Wachstum Berlins und zu den Herkunftsregionen der Zuwanderer Erbe, Berlin im Kaiserreich, S. 696. 22 Vgl. Briesen, Berlin – Die überschätze Metropole; ders., Weltmetropole Berlin? Ein Indiz ist etwa, dass in Berlin, anders als in Paris und London, niemals eine Weltausstellung stattgefunden hat. 23 Rathenau, Impressionen, S. 140. 24 Briesen, Weltmetropole Berlin?, S. 184.

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deshalb eine so große Rolle, weil hier der Vergleich mit Paris und London weniger vermessen war als auf anderen Gebieten und Berlin im Glanze seines Vergnügungslebens tatsächlich als kosmopolitische Metropole erschien. Doch wie sind Vergnügungskultur und Kosmopolitismus genauer zu beschreiben?

1.2 Vergnügungskultur und Kosmopolitismus Die Menschen haben sich zu allen Zeiten vergnügt. Die gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Bedingungen, unter denen sie das taten, haben sich im Laufe der Jahrhunderte jedoch tiefgreifend verändert. Folglich ist auch die Vergnügungskultur selbst einem fortwährenden historischen Wandel unterworfen. Der Übergang von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft seit dem späten 18. Jahrhundert sowie Industrialisierung und Urbanisierung bildeten die Voraussetzung für die moderne Erscheinungsform der Vergnügungs­ kultur, die im 19.  und 20.  Jahrhundert zugleich Massen- bzw. Populärkultur wurde. Die Begriffe Vergnügungskultur, Massenkultur und Populärkultur werden im Folgenden weitgehend synonym verwendet. Durch ihre jeweils unterschiedliche Begriffsgeschichte betonen sie zwar unterschiedliche Aspekte des gleichen Phänomens (dazu unten mehr), sie beziehen sich aber alle drei auf die gleiche Grundentwicklung, die in Europa und Nordamerika im 19. und 20. Jahrhundert durch zwei Haupttendenzen gekennzeichnet war: Zum einen strukturierte sich die Vergnügungskultur in der nachständischen Gesellschaft als Vergnügungsmarkt, das heißt als Teil  des sich entfaltenden Kapitalismus. Diese Kommerzialisierung führte zugleich zu Tendenzen der Standardisierung und sie war an den Aufstieg der Arbeitsgesellschaft mit ihrer Trennung von Arbeit und Freizeit gebunden, in der immer größere Teile der Bevölkerung über disponibles Einkommen und über ausreichend freie Zeit verfügten, um die Angebote der Massenkultur nutzen zu können. Zum anderen war das Feld der unterhaltenden Künste durch ein kulturelle Hierarchisierung geprägt, welche die Vergnügungskultur von der Sphäre der Hochkultur abgrenzte.25 Die kulturelle Dichotomisierung in Hoch- und Populärkultur oder auch in ›ernste‹ und ›unterhaltende‹ Kunst war im Wesentlichen das Ergebnis des bürgerlichen Bildungs- und Kunstdiskurses sowie bürgerlicher Kulturpraktiken.26 Im Einzelnen (das heißt in Bezug auf einzelne Romane, Musik- oder Theaterstücke) war die jeweilige Zuordnung zur Hoch- oder Trivialkultur weitgehend willkürlich. Sie diente in erster Linie dem bürgerlichen Dis25 Vgl. dazu grundlegend Levine, Highbrow / Lowbrow; Coelsch-Foisner u. Flothow, High Culture and / versus Popular Culture. Die Abwertung der Populärkultur hatte dabei nicht zuletzt mit der zuerst genannten Kommerzialisierung zu tun und verband sich oftmals mit antikapitalistischen Affekten; vgl. dazu Maase, Happy Endings?, S. 142. 26 Vgl. dazu Bollenbeck, Bildung und Kultur.

Einleitung

tinktionsbedürfnis gegenüber den unterbürgerlichen Schichten. Dieses richtete sich vor allen Dingen gegen die städtischen Unterschichten und die Arbeiterschaft, während die ›Volkskultur‹ der ländlichen Gesellschaft in dieser Zeit von der Massenkultur der Städte unterschieden und romantisiert wurde.27 Dabei ist es allerdings wichtig zu betonen, dass auch Bürger (und Adlige) die Angebote der städtischen Vergnügungskultur nutzten, dass die Massenkultur in diesem Sinne also »keine Klassenkultur« war.28 Vielmehr ist  – das zeigen die folgenden Kapitel – die Vergnügungskultur selbst als Arena der sozialen Distinktion zu verstehen, bei der sich soziale Hierarchien in der Sitzplatzstaffelung des Theaters oder im Besuch des Vergnügungsparks an »Elitetagen« äußerten. Auf der Ebene des (bildungsbürgerlichen) Diskurses führte das dazu, ›gute‹ von ›schlechten‹ Vergnügungen zu unterscheiden.29 Es bedeutet aber auch, dass sich bei weitem nicht alle Bürger an die kulturellen Vorgaben ihrer Deutungseliten hielten und dafür beim Besuch eines Varietés oder eines verruchten Tanzlokals wahlweise mit einem schlechten Gewissen bestraft oder gerade mit dem besonderen Kitzel des Verbotenen belohnt wurden. Auch wenn sie also schon immer mit einer gehörigen Portion Doppel­ moral verbunden war, prägte die bürgerliche Unterhaltungskritik doch lange den (akademischen) Blick auf die Vergnügungskultur.30 Um 1900 äußerte sich diese normative Perspektive ganz praktisch im sogenannten »Schundkampf«, also in den Kampagnen bürgerlicher Reformer und Pädagogen gegen vorgeblichen »Schmutz und Schund« in den populären Künsten, die einen nicht unerheblichen Einfluss auf die obrigkeitlichen Regulierungen des Vergnügungslebens hatten.31 Der Schundkampf war in erster Linie durch sittlich-moralische Bedenken geprägt und sorgte sich um den vermeintlich verderblichen Einfluss der Populärkultur auf die Jugend. Neuauflagen dieser moral panics, die sich an der Populärkultur und ihrem oftmals freien Umgang mit Sexualität und Körperlichkeit entzündeten, fanden sich das ganze 20. Jahrhundert hindurch. Aber auch dort, wo sittlich-moralische Bedenken eine geringere Rolle spielten, konnte die bürgerliche Unterhaltungskritik eine langanhaltende Wirkung entfalten. Das zeigt sich etwa bei Vertretern der Kritischen Theorie wie Siegfried Kracauer, Theodor W. Adorno oder Max Horkheimer. Für sie stand in erster Linie die soziale Funktion der Massenkultur innerhalb des kapitalistischen Systems im Vordergrund. Der Hauptvorwurf an die Vergnügungen lautete, gegenüber diesem kapitalistischen System grundsätzlich affirmativ zu sein und durch ihren manipulativen Charakter systemstabilisierend zu wirken: »Amusement 27 28 29 30

Vgl. dazu Göttsch, Volksultur; allg. Zimmermann u. Reulecke, Die Stadt als Moloch? Maase, Grenzenloses Vergnügen, S. 22. Vgl. dazu Wietschorke, Vergnügen. Vgl. als Kritik an dieser lange anhaltenden kritischen Perspektive auf das Vergnügen Heinlein u. Sessler, Die vergnügte Gesellschaft. 31 Vgl. dazu, viele ältere Arbeiten zusammenfassend, Maase, Die Kinder der Massenkultur sowie den Sammelband Maase u. Kaschuba, Schund und Schönheit.

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[sic] ist die Verlängerung der Arbeit unterm Spätkapitalismus«, wie es im berühmten Kulturindustriekapitel der Dialektik der Aufklärung hieß.32 Gegenüber dieser negativen Sicht auf das ›Amüsement‹, die sich zumeist mit dem Begriff der Massenkultur verband, entwickelte sich im letzten Drittel des 20.  Jahrhunderts eine positivere Bewertung der Populärkultur, die vor allen Dingen in den britischen Cultural Studies formuliert wurde. Während die Kritische Theorie in erster Linie die Kulturindustrie als System und den manipulativen Charakter ihrer Produkte fokussierte, wandten sich die Cultural Studies den Rezipientinnen und Rezipienten und ihrem Umgang mit den Produkten der Massenindustrie zu.33 In dieser Perspektive betonten die Cultural Studies vor allen Dingen das »widerspenstige Verhältnis zur hegemonialen Ordnung«, in dem die populären Vergnügungen stünden oder jedenfalls potentiell stehen könnten.34 Ihnen ist deshalb häufig ein zu unkritisches Verhältnis zu ihrem Gegenstand vorgeworfen worden.35 Was sie mit der Kritischen Theorie der Kulturindustrie jedoch gemeinsam haben, ist die starke Konzentration auf die Massenmedien  – von Trivialliteratur und Kino über Radio und Comics bis zum Fernsehen – als Trägern der Populärkultur. Gegenüber diesem Schwerpunkt auf den Massenmedien wollen wir uns in diesem Buch auf die städtischen Angebote der Vergnügungskultur konzentrieren, deren Nutzung nicht in erster Linie als Medienrezeption, sondern als urbane Praxis des Ausgehens beschrieben werden kann.36 Dabei haben wir den Begriff der Vergnügungskultur nicht nur deshalb als Leitbegriff gewählt, um die normativen Aufladungen der Begriffe Massenkultur und Populärkultur zu vermeiden. Mit dem Begriff des Vergnügens ist auch eine besondere Art der ästhetischen Erfahrung angesprochen, die für den hier untersuchten Zusammenhang von Weltstadt und Vergnügen zentral ist.37 Denn das Vergnügen stellt einen Modus der ästhetischen Erfahrung dar, in dem das urbane Leben selbst zum Gegenstand der Kontemplation und damit potentiell der Reflexion werden konnte.38 Mit dieser Überlegung folgen wir der These von einer »Ästhetisierung der Lebenswelt«39 32 Adorno u. Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, S.  145. Vgl. dazu aus der umfang­ reichen Literatur nur Hecken, Theorien der Populärkultur. S. 35–45. 33 Vgl. Göttlich u. Winter, Die Politik des Vergnügens, S. 8: »Massenkultur stellt also eher ein Repertoire dar und die Populärkultur ist das, was die Zuschauer mit den Produkten der Kulturindustrie tatsächlich machen.« 34 Ebd., S. 9. 35 Vgl. dazu auch Winter, Spielräume des Vergnügens und der Interpretation. 36 Vgl. dazu für Nordamerika Nasaw, Going Out. 37 In ähnlicher Weise kann auch der Begriff der ›Unterhaltung‹ zur Fokussierung auf ästhetische Erfahrung dienen; vgl. Hügel, Unterhaltung; Faulstich, »Unterhaltung« als Schlüsselkategorie von Kulturwissenschaft; zur begrifflichen Unterscheidung von ›Vergnügen‹ und ›Unterhaltung‹ auch Maase, Populärkultur, Unterhaltung, Vergnügung. 38 Vgl. zum Begriff der Kontemplation als Kategorie ästhetischer Erfahrung in diesem Kontext Maase, Zur ästhetischen Erfahrung der Gegenwart, S. 18 f. 39 Bubner, Ästhetische Erfahrung, S. 147.

Einleitung

im Zuge der Entfaltung der Massenkultur. Der »historische Aufstieg der Massenkultur«, so etwa Kaspar Maase, beruhe darauf, »daß sie ästhetische Erfahrung im vollen Sinn des Wortes zum Element des Alltags der einfachen Leute gemacht hat«.40 Die Massenkünste dienten damit zugleich der »Lebensbewältigung« und der »Selbstverständigung« der historischen Subjekte, da sie die Auseinandersetzung mit den eigenen Lebensumständen erlaubten.41 Da diese Lebensumstände (groß-)städtisch waren, diente die Vergnügungskultur der Anpassung an die urbanen Lebensverhältnisse und beförderte so »das gesellschaftliche Einverständnis mit Urbanität als spezifisch moderner Lebensform«.42 Damit ist unsere wichtigste Leitthese benannt, die besagt, dass die weltstädtische Vergnügungskultur einen zentralen Stellenwert bei der Strukturierung, Repräsentation und Reflexion der modernen Großstadterfahrung einnahm und damit zur inneren Urbanisierung der Stadtbewohner im oben genannten Sinn beitrug.43 Um diese Leitthese anhand der einzelnen Vergnügungsangebote überprüfen zu können, unterscheiden wir in den folgenden Kapiteln jeweils drei Ebenen, auf denen die ästhetische Erfahrung der Großstadt in den Vergnügungen gemacht wurde: 1. Zum einen geht es um die Angebotsseite, also darum, dass die Vergnügungen tatsächlich von jemanden gemacht (im Sinne von hergestellt) wurden. Wer waren diese Anbieter? Wie sind die ökonomischen Strukturen und Bedingungen der Vergnügungskultur zu beschreiben? Was waren die Orte der Vergnügungskultur und wie sind diese innerhalb des Stadtraums zu situieren? 2. Zum anderen geht es um die Seite der Rezipientinnen und Rezipienten und um die subjektive Erfahrungsdimension des Publikums. Wer nutzte die Angebote der Vergnügungskultur, mit welchen Absichten und mit welchem Ergebnis? Diese Nutzung ist dabei nicht als passive Rezeption zu beschreiben, sondern als urbane soziale Praxis, die selbst zur Produktion der Vergnügungskultur beitrug. 3. Schließlich geht es drittens um die Repräsentations- und Reflexionsfunktion der Vergnügungskultur für die Großstadterfahrung:44 Wie wurde das Leben in der Weltstadt auf den Bühnen, auf der Tanzfläche, in den Vergnügungsparks oder in der Populärmusik dargestellt und künstlerisch verarbeitet? Und wie wurde diese künstlerische Verarbeitung wiederum zum Gegenstand des Diskurses über die Großstadterfahrung? In welcher Form war die Stadt als Erfahrungsraum selbst Programmbestandteil der verschiedenen Vergnügungsformen? 40 Maase, Grenzenloses Vergnügen, S. 30; vgl. dazu auch Maase, »… ein unwiderstehlicher Drang nach Freude«. 41 Maase, Grenzenloses Vergnügen, S. 17. 42 Makropoulos, Theorie der Massenkultur, S. 82. 43 Vgl. dazu bereits Becker u. Niedbalski, Die Metropole der tausend Freuden. 44 Vgl. zum hier zugrunde gelegten Repräsentationsbegriff Chartier, Die Welt als Reprä­ sentation.

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Diese dritte Erfahrungsebene berührt sich mit einem vierten Fragekomplex, den wir in den folgenden Kapiteln behandeln werden und der vor allen Dingen mit dem Begriff der Weltstadt zu tun hat. Versteht man Weltstadt weitgehend synonym zu Metropole, so zeichnen sich Weltstädte nicht nur durch eine gewisse Größe, politische und wirtschaftliche Bedeutung und kulturelle Vielfalt aus, sie definieren sich vor allen Dingen auch durch ihre Beziehung nach außen, sowohl zum Umland bzw. zur Provinz, für die sie Metropole sind, als auch zu anderen Metropolen, mit denen sie in Wechsel- und Austauschverhältnissen stehen.45 Diese Austauschprozesse finden sich auch auf der Ebene der Vergnügungskultur, die schon seit dem 19. Jahrhundert hochgradig international vernetzt war, mit Transfers von Genres und Stilen, Künstlern und Unternehmern, Angebotsstrukturen und Formaten. In den folgenden Kapiteln wollen wir jedoch weniger diese Transferprozesse selbst in den Blick nehmen, sondern den Fokus auf ihre Effekte in Berlin richten. Die Weltstadt Berlin wird so zugleich als kosmopolitische Stadt erkennbar, als Knotenpunkt in einem weltweiten Netzwerk kultureller Transfers und als End- wie Ausgangspunkt der Migration von Menschen, Dingen und Ideen.46 Kosmopolitismus ist als politischer Begriff hochgradig normativ aufgeladen. In den letzten Jahren hat sich jedoch auch eine Diskussion um kulturellen Kosmopolitismus entfaltet, der weniger stark politisch besetzt ist und wertneutraler als Form der Auseinandersetzung und Begegnung mit dem Fremden definiert wird, etwa als »banal cosmopolitanism«, wie er sich im Konsum exotischer Waren vollzieht.47 In diesem Sinn soll Kosmopolitismus hier als Begriff für die Arten und Weisen benutzt werden, in denen die Welt in der Stadt präsent war.48 Die Vergnügungskultur erscheint dann zugleich als Verhandlungsfeld des Kosmopolitismus, da hier nicht nur vielfältige fremde Einflüsse zum Tragen kamen (in den Theaterformaten, Tanz- und Musikstilen, Fahrgeschäften im Vergnügungspark etc.), sondern das Fremde auch auf den Bühnen der Vergnügungskultur dargestellt und reflektiert wurde. Die Frage nach dem Kosmopolitismus in der Vergnügungskultur ist daher unmittelbar mit ihrer Repräsentations- und Reflektionsfunktion für die innere Urbanisierung verknüpft. Aber auch auf der praktischen Ebene des Erfahrungsvollzugs bedeutete die kognitive und mentale Anpassung an die Bedingungen des Großstadtlebens nicht nur die Anpassung an veränderte Lebensrhythmen und Reizstrukturen, sondern auch das Einüben des Umgangs mit kultureller Differenz, die für eine Weltstadt kennzeichnend war und ist. 45 Vgl. Reif, Metropolen; Zohlen, Metropole als Metapher. 46 Vgl. zu dieser Definition kosmopolitischer Städte als »nodes in a global cultural network« und als »endpoints of migratory movements that produce cultural mosaics« Horvath, The Cosmopolitan City, S. 89. 47 Vgl. Molz, Cosmopolitanism and Consumption, S. 36. 48 Vgl. zu einer ähnlich wertneutralen Begriffsverwendung im Kontext der Vergnügungskultur auch Walkowitz, Nights Out.

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Für den Soziologen Richard Sennett definiert sich der öffentliche Raum der Stadt in erster Linie über die Orte, »an denen Fremde einander regelmäßig begegnen können«.49 Der Kosmopolit wiederum ist, nach einer französischen Definition aus dem 18.  Jahrhundert, »ein Mensch, der sich mit Behagen in der Vielfalt bewegt«, weshalb er für Sennett als »der perfekte ›Öffentlichkeitsmensch‹ (public man)« erscheint.50 In diesem Sinne unterstützte die Vergnügungskultur die Bildung städtischer »Öffentlichkeitsmenschen«, denn die Erfahrung des Vergnügens, das Lachen im Theater, das Ausgelassensein auf der Tanzfläche oder im Vergnügungspark, bedeutete auch ein emotionales Behagen in der Gegenwart von und in der Gemeinschaft mit Fremden.51

1.3 Berliner Vergnügen im Wandel Welches sind nun die konkreten Orte des Vergnügens, an denen dieses emo­ tionale Erleben stattfinden konnte?52 Viele der Vergnügungsformen, die wir in diesem Buch untersuchen, fanden zunächst im Grünen statt. Das gilt für die Unterhaltungsbühnen der Sommertheater ebenso wie für das Tanzvergnügen in Rixdorf, die Biergartenkonzerte im Tiergarten oder die Neue Welt in der Hasenheide.53 Im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelte sich eine weit verzweigte Ausflugsinfrastruktur an den grünen Rändern der Stadt, die vor allen Dingen an den Wochenenden genutzt wurde. Rudolf Lorenzen unterscheidet in seiner einschlägigen Untersuchung fünf unterschiedliche »Ausflugskomplexe«: Die Brauereigärten nördlich (Chausseestraße und Alt-Moabit) und östlich (Friedrichshain) der Innenstadt, den Vergnügungspark Tivoli sowie die Biergärten in der Hasenheide und die Restaurants in Tempelhof im Süden, die Schank­wirtschaften im Treptower Park und an der oberen Spree im Südosten, den Tiergarten im Westen und schließlich alle weiter außerhalb liegenden »Landpartien«.54 Im Zuge des Stadtwachstums wich jedoch nicht nur der grüne Rand der Stadt immer weiter zurück. Viele der Vergnügungsorte verlagerten sich auch ins Stadtzentrum (wobei manche dafür ihren Standort gar nicht wechseln mussten, da dieser nun von der gewachsenen Stadt umschlossen wurde). Die Citybildung, die sich auch in Berlin beobachten lässt, führte daher gleichzeitig zur Heraus-

49 Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens, S. 33. 50 Ebd., S. 32 f. 51 Vgl. Nasaw, Going Out, S. 2: »›Going out‹ meant laughing, dancing, cheering, and weeping with strangers with whom one might – or might not – have anything in common.« 52 Vgl. zu den folgenden Ausführungen zur sich wandelnden Topographie des Berliner Vergnügens auch die beiden Stadtpläne von 1902 und 1926 auf S. 24–27. 53 Vgl. u. a. Jansen u. Lorenzen, Possen, Piefke und Posaunen; Uebel, Viel Vergnügen. 54 Jansen u. Lorenzen, Possen, Piefke und Posaunen, S. 111.

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bildung eines eigenen Vergnügungsviertels.55 Wie eingangs schon erwähnt, lag dieses entlang der Friedrichstraße.56 Mit dieser räumlichen Verlagerung ging auch eine zeitliche Ausdehnung des Vergnügungslebens einher, das sich immer weiter in die Nacht hinein erstreckte (auch an den Wochentagen). Dafür war nicht zuletzt der Aufstieg der künstlichen Beleuchtung und der Siegeszug der Elektrizität ab den 1880er Jahren verantwortlich, mit deren Hilfe die Nacht tatsächlich zum Tage gemacht werden konnte.57 Nacht- und Vergnügungsleben wurden immer mehr zu Synonymen, gleich mehrere Vergnügungsführer luden zu Streifzügen durch »Berlin bei Nacht« ein.58 Wie wir in den folgenden Kapiteln zeigen werden, beschränkte sich die Vergnügungskultur allerdings nicht auf das Nachtleben, da etwa Kurkonzerte schon am Morgen stattfanden, Tanztees am Nachmittag und die Vergnügungsparks (zumindest am Wochenende) den ganzen Tag über geöffnet hatten. Die Vergnügungskultur verlagerte sich nicht nur räumlich und zeitlich im Laufe des 19. Jahrhunderts, sondern veränderte auch ihren Charakter hin zu einer Massenkultur. Um die gestiegene Nachfrage nach den Vergnügungsangeboten zu befriedigen, wurden deshalb in den Jahren um 1900 nicht nur neue Theater, Lichtspielhäuser, Tanzdielen und Vergnügungsparks gebaut. Es entstand auch eine neue Art von Großveranstaltungshäusern, die bis zu 10.000 Personen Platz boten und in denen neben Bällen und Konzerten auch Sportveranstaltungen stattfanden. Zu diesen Multifunktionsarenen des Vergnügens zählten die 1905/06 errichteten Ausstellungshallen am Zoo, der 1908 eröffnete Eispalast in der Luther­straße, der 1910 eröffnete Sportpalast in der Potsdamer Straße und der 1911 eröffnete Admiralspalast in der Friedrichstraße.59 Zeitgleich schloss sich auch das Vergnügen dem »Zug nach dem Westen« an, das heißt der Verlagerung vor allen Dingen des bürgerlichen Wohn- und Geschäftslebens in die westlichen Stadtteile sowie nach Charlottenburg und Schöneberg.60 Schon vor dem Ersten Weltkrieg bildete sich daher ein zweites, neues Vergnügungsviertel um den Tauentzien und den Kurfürstendamm herum. In den 1920er Jahren spielte sich das (bürgerliche) Vergnügungsleben dann im Wesentlichen hier ab. Der eingangs bereits zitierte Carl Moreck schilderte das Viertel um den Kurfürstendamm in seinem Führer durch das »lasterhafte« Berlin von 1930 als »das heutige, das lebendige, das gegenwartssichere Berlin«, 55 Vgl. zur Citybildung Bodenschatz, Citybildung und Altstadterneuerung in der Kaiserzeit; zum Vergnügungsviertel Becker, Das Vergnügungsviertel. 56 Hoppe, Die Friedrichstraße; Mugay, Die Friedrichstraße. 57 Vgl. Korff, Berliner Nächte; Schivelbusch, Lichtblicke; Schlör, Nachts in der großen Stadt. 58 Vgl. Haber, Berlin bei Nacht; Wolff, Berlin bei Nacht sowie die Zeitschrift gleichen Namens, die in den 1920er Jahren erschien; daneben auch Satyr, Lebeweltnächte der Friedrichstadt. 59 Arenhövel, Arena der Leidenschaften; Lehne, Der Berliner Admiralspalast. 60 Edel, Neu-Berlin, S. 7.

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während die Friedrichstraße als Relikt einer älteren Zeit erscheint.61 Aber etwa für das Unterhaltungstheater blieb die Friedrichstraße auch während der Weimarer Republik das eigentliche Zentrum.62 Nicht nur deshalb möchten wir in diesem Buch stärker die Kontinuitäten in der Vergnügungskultur über den Ersten Weltkrieg hinweg betonen als das sonst vielfach geschieht. Die »Goldenen Zwanziger« in Berlin haben in der Rückschau einen beinahe mythischen Glanz angenommen und häufig wird die Vergnügungskultur dieser Zeit als etwas ganz Neues, Einzigartiges geschildert. So postulierte schon der amerikanische Historiker Walter Laqueur in seiner wegweisenden Studie über die Kultur von Weimar im Kapitel »Berlin amüsiert sich«: »Die Weimarer Zeit erzeugte eine ›Populärkultur‹ ganz eigener Art«.63 Zudem ließ die Katastrophe des Ersten Weltkriegs die schon von Zeitgenossen aufgestellte These plausibel erscheinen, die »Vergnügungssucht« der 1920er Jahre sei eine Reaktion auf das Trauma des Krieges.64 Wie die folgenden Kapitel zeigen werden, hatten sich die wesentlichen Strukturen und Elemente der Berliner Vergnügungskultur der 1920er Jahre jedoch schon vor dem Ersten Weltkrieg etabliert. Das heißt nicht, dass es gegenüber der Vorkriegszeit keine Veränderungen gab. Aber es heißt, dass der Zäsurcharakter des Krieges für die Vergnügungskultur insgesamt relativiert werden muss.65 Zu den Dingen, die sich änderten, gehörte die soziale Reichweite der Vergnügungskultur. Häufig ist zu lesen, »dass die Etablierung einer wirklich umfassenden Massen- und Unterhaltungskultur erst für die 1920er Jahre zu konstatieren ist«.66 Das hat zum einen mit der Ausdehnung der Angestelltenschicht und deren Konsumpraktiken, zum anderen mit dem Aufstieg des Kinos zum Massenmedium zu tun, der im eigentlichen Sinn erst in die 1920er Jahre fällt.67 Auch hier lässt sich aber argumentieren, dass es sich lediglich um eine quantitative Ausdehnung handelte, die sozialen Grundstrukturen des Vergnügens sich aber nach 1918 nicht fundamental änderten. Zu diesen Grundstrukturen gehört es, das wurde oben bereits betont, dass die Massen- keine Klassenkultur war, sie potentiell also allen Mitgliedern der Gesellschaft offen stand. Allerdings war sie 61 62 63 64

Moreck, Führer durch das »lasterhafte« Berlin, S. 36; vgl. dazu auch unten S. 194. Vgl. unten, S. 36. Laqueur, Weimar, S. 279. So etwa Klaus Mann: »Ein geschlagenes, verarmtes, demoralisiertes Volk sucht Vergessenheit im Tanz.« (Zit. n. Becher, Geschichte des modernen Lebensstils, S. 176.) 65 Während wir in den folgenden Kapiteln bewusst nach dem Zäsurcharakter des Ersten Weltkriegs fragen (also nach dem Davor und Danach), werden die Besonderheiten der Vergnügungskultur während des Krieges nur sporadisch behandelt; vgl. dazu ausführlicher Baumeister, Kriegstheater; Rüger, Entertainments. 66 Sabelus u. Wietschorke, Die Welt im Licht, S. 16; vgl. dazu auch Maase, Grenzenloses Vergnügen, S. 115–154; Peukert, Die Weimarer Republik, S. 166–178. 67 Vgl. Kocka, Die Angestellten in der deutschen Geschichte 1850–1980, S.  142–170; zeit­ genössisch dazu Kracauer, Die Angestellten; zum Kino als Massenmedium Führer, Auf dem Weg zur »Massenkultur«.

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in sich sozial gestaffelt: Nicht alle Angebote der Vergnügungskultur waren allen Mitgliedern der Gesellschaft gleichermaßen zugänglich. So konzentrierten sich in den eben genannten Vergnügungszentren der Friedrichstraße und der Gegend um die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche eher die kostspieligen Vergnügungen. Daneben gab es aber auch in den Arbeitervierteln des Nordens und Ostens ein vielfältiges Vergnügungsangebot, das im Wesentlichen die gleichen Elemente beinhaltete wie das bürgerliche Vergnügungsangebot, jedoch in gleichsam einfacherer Ausführung: Possentheater statt Metropol-Theater, Musikkneipe mit Schwof statt Tanztee im Grand Hotel, Rummelplatz statt Vergnügungspark, Eckkino statt Filmpalast, Tingel-Tangel statt Varieté.68 Umgekehrt lässt sich jedoch argumentieren, dass auch »Elemente der Volks- und Arbeiterkultur in die neue Populärkultur« eingegangen sind.69 Es ging also nicht primär um eine soziale Diffusion bürgerlicher Vergnügungspraktiken, sondern um die Entstehung einer klassenübergreifenden Vergnügungskultur, in die proletarische ebenso wie bürgerliche Traditionen eingegangen sind.70 Dabei fanden sich innerhalb dieser klassenübergreifenden Vergnügungskultur durchaus unterschiedliche, sozial abgestufte »Vergnügungsstile«.71 Ein weiteres Moment des Wandels nach 1918 betrifft die Geschlechterordnung des Vergnügens. Diese war während des Kaiserreichs äußerst ambivalent. Zum einen eröffnete die Vergnügungskultur verheirateten wie ledigen Frauen neue Bewegungsspielräume jenseits des ehelichen oder elterlichen Heims. Zum anderen richtete sich die erotische Seite des Vergnügungsangebots aber in erster Linie an Männer, so dass der eingangs bereits zitierte Reiseführer seinen (männlichen) Lesern vor dem Besuch bestimmter Nachtlokale empfehlen konnte, »seine Damen vorher ins Hotel zu bringen«.72 Alleinstehende Frauen liefen nicht nur in diesen Nachtlokalen, sondern auch auf dem Trottoir der Friedrichstraße nach Einbruch der Dunkelheit Gefahr, für Prostituierte gehalten zu werden.73 Die notorische Verbindung von lasterhafter Vergnügungskultur und »Halbwelt« beschäftigte die Gemüter sowohl der Vergnügungssuchenden wie der Vergnügungsgegner.74 Diese Verbindung wurde in den 1920er Jahren 68 Wobei es auch im Berliner Osten Varietés gab, die diesen Namen verdienten; vgl. dazu Hochmuth u. Niedbalski, Kiezvergnügen in der Metropole; Sabelus u. Wietschorke, Die Welt im Licht. 69 Sabelus u. Wietschorke, Die Welt im Licht, S. 18. 70 Vgl. Abrams, From Control to Commercialization, S. 292; zum Verhältnis von Arbeiterund Vergnügungskultur am Beispiel des Rheinlands bzw. des Ruhrgebiets auch dies., Workers’ Culture in Imperial Germany; Kift, Kirmes, Kneipe, Kino sowie das Themenheft »Arbeiter und Massenkultur« der Mitteilungen aus der kulturwissenschaftlichen Forschung 30 (1992). 71 Korff, Berliner Nächte, S. 86. 72 Berlin für Kenner, S. 162. 73 Prestel, Gefühle in der Friedrichstraße, S. 29–33. 74 Vgl. Häusler u. Hitzer, Zwischen Tanzboden und Bordell; Smith, Berlin Coquette.

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nicht aufgehoben. Das Leitbild der Neuen Frau und die teilweise Überwindung der wilhel­minischen Sexualmoral veränderten aber die sittlichen Bewertungsmaßstäbe und erweiterten die Handlungs- und Bewegungsspielräume der Frauen. Zugleich erlaubten sie ein Aufblühen der homosexuellen Subkultur, die während des Kaiserreichs noch nicht denkbar gewesen wäre.75 Mit diesen Bemerkungen sind die Sozialtopographie des Berliner Vergnügens und seine Geschlechterordnung nur sehr knapp skizziert. In den folgenden Kapiteln über das Unterhaltungstheater, das Tanzvergnügen, die Populärmusik und die Vergnügungsparks werden viele der genannten Punkte ausführlicher behandelt. Dabei zeigen sich auch vielfältige Überschneidungen und Wechselwirkungen zwischen diesen einzeln untersuchten Vergnügungsformaten. Das Kapitel über den Kokainkonsum behandelt dagegen nicht ein Format, sondern gleichsam eine Art Begleiterscheinung des Vergnügungslebens, die vor allen Dingen während der 1920er Jahre mit dem »lasterhaften« Berlin assoziiert wurde und die eben angesprochene Verbindung von Vergnügen und »Halbwelt« illustriert. Mit diesen Kapiteln ist nicht die gesamte Vergnügungskultur abgedeckt. Besonders das Kino und der in den hier behandelten Jahrzehnten zum Massenphänomen aufsteigende Zuschauersport stellen weitere wichtige Elemente der Berliner Vergnügungskultur dar.76 Doch auch in ihrem exemplarischen Charakter sind die folgenden Kapitel geeignet, den systematischen Zusammenhang von Weltstadt und Vergnügen aufzuzeigen. Der breitere Konnex von Großstadt, Moderne und Vergnügen ist – in anderer Form – bereits für andere Metropolen wie Paris, London oder New York untersucht worden.77 Uns geht es nicht darum, für Berlin hier die schon von den Zeitgenossen herbeigewünschte Gleichrangigkeit zu behaupten. Es geht vielmehr um den Nachweis einer Gleichartigkeit. So wie auch in anderen Metropolen half die Vergnügungskultur im Berlin der langen Jahrhundertwende dabei, sich an das Leben in der modernen Großstadt anzupassen und den eigenen Platz in einer zunehmend international vernetzten und kosmopolitischen Welt zu finden.

75 Vgl. allerdings zur Schwulenkultur auch schon der Kaiserzeit Beachy, Gay Berlin. 76 Vgl. zum Kino nur, mit weiterführender Literatur, Morat, Kino; zum Sport Dinçkal, Sportlandschaften. 77 Vgl. als einschlägige Studien besonders Rearick, Pleasures of the Belle Epoque; Schwartz, Spectacular Realities; Bailey, Popular Culture and Performance in the Victorian City; Horrall, Popular Culture in London c. 1890–1918; Walkowitz, Nights Out; Erenberg,­ Steppin’ Out; in vergleichender Perspektive Jerram, Streetlife, S. 173–246.

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Karte 1: Berlin im Kaiserreich. Pharus-Plan von 1902

Karte 2: Berlin in der Weimarer Republik. Pharus-Innenstadtplan von 1926

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2. Unterhaltungstheater

In der südlich Unter den Linden verlaufenden Behrenstraße versammelte sich am Abend des 4.  September 1898 eine Menge Schaulustiger, angezogen von einem rastlosen Strom von Kutschen, denen die Angehörigen der feinen Gesellschaft Berlins entstiegen. Anlass für deren Besuch und den dadurch ausgelösten Menschenauflauf war die Wiedereröffnung des Theaters Unter den Linden, nach längeren Umbaumaßnahmen unter einer neuen Direktion und unter einem neuen Namen als Metropol-Theater. Das war keiner der üblichen Theaternamen, sondern eine selbstbewusste programmatische Ankündigung: »Stolz wie der Prachtbau ist sein Name«, ließ der neue Direktor des Hauses, Richard Schultz, verlauten, »in seinen Dimensionen, in der Prunkhaftigkeit seiner­ äusseren Gestaltung, in der Eleganz und Pracht seines inneren Schmuckes ist das Haus der Metropole des Deutschen Reiches würdig, ein Weltstadt-Etablissement in des Wortes wahrster Bedeutung.«1 Bereits durch die Wahl des Namens verknüpfte das Theater sein Schicksal mit dem der Stadt Berlin. Es beschwor ihre Weltstadtgeltung und präsentierte sich zugleich als deren Ausweis. Diesem Selbstbewusstsein trug auch die Architektur eines Gebäudes Rechnung, das, einem barocken Stadtpalais nachempfunden, als das »schönste Theater Berlins«, wenn nicht gar als eines der »schönsten Theater der Welt« galt (siehe Abb. 1).2 Die nach der neuesten Pariser Mode gekleideten Damen und die Herren im Frack kamen als Zuschauer einer Premiere und zugleich als deren Mitwirkende, wurden sie doch vor dem Theater von ihrem eigenen Publikum erwartet. Bereits ihre Teilnahme war ein Zeichen von Reichtum und gesellschaftlicher Geltung, denn Theaterbillets für diesen Abend ließen sich überhaupt nur zu stark überteuerten Preisen auf dem Schwarzmarkt erwerben. Diejenigen, die sich keine Karte leisten konnten, kamen als Schaulustige dennoch auf ihre Kosten. Während sie auf dem Trottoir verharrten, traten die Auserwählten durch die Flügeltüren ins Vestibül des Theaters, wo sie sich einer prächtigen, neo­barocken Freitreppe gegenübersahen. Rechts und links davon führten halbkreisförmige Korridore zum Parkett, in dessen hinterem Teil statt uniformer Theaterbestuhlung runde Tische standen, die das Publikum zum Essen und Trinken einluden. Wer die Treppe 1 Programmheft zur Wiedereröffnung des Metropoltheaters, undatiert (1898), Stiftung Stadtmuseum Berlin, Bestand Metropoltheater, unkatalogisiert. 2 Metropol-Theater, in: Berliner Zeitung, 4.9.1898; Metropol-Theater, in: Berliner Tageblatt, 4.9.1898.

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Abb. 1: Das Metropol-Theater in der Behrenstraße um 1900

hinaufstieg, gelangte in ein ebenfalls halbkreisförmiges Promenoir, das darauf ausgelegt war, »den Aufenthalt im Theater freier und geselliger zu gestalten, und […] die leichten Darbietungen der Bühne plaudernd, speisend, rauchend, kurz, in grösster Behaglichkeit und Ungezwungenheit zu geniessen« (siehe Abb.  2 und 3).3 Von diesen, bereits von der Architektur des Hauses nahegelegten Genüssen machten die Besucherinnen und Besucher des Theaters regen Gebrauch, bis endlich die Premiere, nicht nur des neuen S­ tückes, sondern auch der neuen Direktion des Hauses begann. »Alle Ränge dicht gefüllt,« beschrieb Alfred Holzbock am nächsten Tag im Berliner Lokalanzeiger die Atmosphäre, »nirgends ein Plätzchen frei. An allen Ecken und Enden ein Konversiren und Kokettiren, durch welches theilweise das Milieu des Publikums gekennzeichnet wurde. Was an L ­ iteratur nicht zu sehen war, ersetzte die Finanz- und Lebewelt.«4 Das Stück, mit dem das Metropol-Theater eröffnete, hieß Im Paradies der Frauen in Abwandlung des Titels von Émile Zolas Warenhaus-Roman Das Paradies der Damen – eine beabsichtigte Referenz, denn es spielte zum Teil in einem Warenhaus, genauer gesagt in Berlins größtem Warenhaus Wertheim: »Wo ist 3 Das Theater ›Unter den Linden‹, Berlin, in: Centralblatt der Bauverwaltung 12 (1892), Nr. 41, S. 437–440, hier S. 439; Das Theater Unter den Linden, in: Deutsche Bauzeitung, 26.11.1892, S. 577–579, hier S. 578. 4 Alfred Holzblock, Eröffnung des Metropoltheaters, in: Berliner Lokalanzeiger, 4.9.1898.

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Abb. 2: Zuschauerraum des Metropol-Theaters

Abb. 3: Grundriss des Metropol-Theaters

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wohl die Dame / Die Wertheim nicht kennt? / Es winkt schon der Name / Höchst chik und potent.«5 Hierher kam die Frau des Teufels, nachdem ihr Gatte ihr untreu geworden war, um sich nach der aktuellsten Mode auszustaffieren und so den Anschluss an die neue Zeit zu finden. Die Männer konnten dabei nur staunend zuschauen: »Famose Weiber, dieses Berlin ist einzig«.6 Hier klangen bereits die Leitthemen an, denen das Metropol-Theater bis zum Ersten Weltkrieg treu bleiben sollte: die Glorifizierung Berlins in allen seinen Facetten, das Feiern des Konsums und die Ausbeutung weiblicher Schönheit – wobei einschränkend hinzuzufügen ist, dass das Unterhaltungstheater gleichzeitig einer paternalistisch-sexistischen und einer progressiv-emanzipatorischen Geschlechterpolitik huldigte, denn in Verkehrung der tatsächlichen Geschlechterhierarchien waren auf der populären Bühne Frauen das starke und Männer das schwache Geschlecht: »Die Herren der Schöpfung / Sind dann längst abgesetzt, / Die Frauen, die schlauen, sie regieren jetzt«.7 Mit seiner nur lose zusammenhängenden Handlung, der es weniger darum zu tun war, eine Geschichte zu erzählen, als Gelegenheiten zu bieten, extravagante Figuren und schmissige Couplets sowie aktuelle Moden vorzustellen, näherte sich Im Paradies der Frauen dem Genre der Revue. Damit war es prototypisch für die Unterhaltung, die das Metropol-Theater bald berühmt machen sollte. Denn nach einer kürzeren Durststrecke, während derer manche Direktor Schultz prophezeiten, er würde mit der Bühne ebenso eine Bruchlandung erleben wie viele seiner Vorgänger, fand das Theater seit 1903 mit der Jahresrevue sein Erfolgsrezept. Dieses aus Paris importierte Genre nutzte die Form eines dramatisierten Stadtrundgangs durch Berlin, um die wichtigsten Ereignisse und Personen des vergangenen Jahres satirisch auf die Bühne zu bringen.8 Es machte auch insofern seinem Titel Ehre, da sich die Jahresrevuen bald ein ganzes Jahr hindurch auf dem Spielplan hielten. Dies allein bezeugt bereits ihre Popularität, die bald weit über Berlin hinausausstrahlte und das Theater selbst zu einer Sehenswürdigkeit der Stadt machte: »Für die Ausländer und Provinzler, die die Reichshauptstadt besuchten,« erinnerte sich ein Journalist nach dem Zweiten Weltkrieg, »gab es in Berlin nur drei Dinge von Wichtigkeit zu sehen: den Kaiser Wilhelm, die Ab­ lösung der Wache Unter den Linden und eben die Metropol-Revue.«9 5 Im Paradies der Frauen, 2. Bild, 1. Szene, LAB , A Pr. Br. Rep. 30-05-02 Nr. 859. 6 Ebd. 7 Ebd., 2.  Bild, 10.  Szene; zur Repräsentation von Geschlechterrollen auf der Bühne des populären Musiktheaters vgl. Bailey, Popular Culture and Performance in the Victorian City, S. 175–193; Klotz, Operette, S. 80; Linhardt, Inszenierung der Frau; Schutte, Frauenrollen. 8 Zum Genre der Jahresrevue vgl. Charle, Ein paradoxes Genre; Kothes, Die theatralische Revue; Hasche, Bürgerliche Revue und ›Roter Rummel‹; Völmecke, Die Berliner Jahresrevuen; Jelavich, Berlin Cabaret, S.  104–117; Otte, Jewish Identities in German Popular­ Entertainment, S. 201–279. 9 Pem, Und der Himmel hängt voller Geigen, S. 72.

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Die nicht eben schüchterne Erklärung des Programmheftes von 1898, das Metropol-Theater sei ein Weltstadtetablissement, das zur Weltstädtigkeit Berlins beitrage, bemühte es sich hartnäckig einzulösen. Bereits zur Wiedereröffnung beobachtete Alfred Holzbock mit vergifteter Anerkennung, es habe »auf der Bühne und im Zuschauerraum ein echtes Weltstadtbild in all seinem oberflächlich heiteren Glanz und Reiz« geboten.10 Das Metropol-Theater zelebrierte den Kosmopolitismus auf der Bühne und im Zuschauerraum, denn das Berlinerischste aller Berliner Theater wurde nicht nur von Einheimischen, sondern auch von deutschen ›Provinzlern‹  – wie die Berlinerinnen und Berliner alle nannten, die nicht in Berlin wohnten – und Ausländern frequentiert. Diese hatten auch in den Revuen einen festen Platz: Schon in Im Paradies der Frauen war eine klischeehaft temperamentvolle Italienerin namens Estella aufgetreten, die ein mit italienischen Brocken durchsetztes Deutsch radebrechte und auch in jeder folgenden Jahresrevue kam mindestens eine Figur aus Frankreich, Groß­ britannien, Italien, den USA oder einem anderen Land vor. Diesen beiden miteinander verflochtenen Bühnenthemen  – der Stadt und der Welt in der Stadt  – spürt das folgende Kapitel nach. Es untersucht, wie das ­Theater als wirtschaftlicher Betrieb funktionierte und welche politischen Rahmenbedingungen es dabei zu beachten hatte, welche Rolle es in der Vergnügungslandschaft Berlins einnahm, von welchem Publikum es frequentiert wurde, welche Bedeutung es im Prozess der inneren Urbanisierung spielte und schließlich wie es die Stadt und die Welt inszenierte.

2.1 Betrieb: Topographie, Ökonomie, Politik Das Metropol-Theater widerspricht heutigen Vorstellungen von Theater: Es war keine öffentlich subventionierte Hochkulturbühne, die einen Bildungs- und Erziehungsauftrag für sich beanspruchte, sondern eine GmbH, die mit dem Vertrieb von Unterhaltung möglichst viel Geld verdienen wollte – und bis zum Ersten Weltkrieg auch tatsächlich Millionen einnahm. Als Geschäftstheater war es keineswegs eine Ausnahme, denn abgesehen von den beiden am Gendarmenmarkt gelegenen, von der Krone subventionierten Hoftheatern, dem Königlichen Schauspielhaus und der Königlichen Oper, waren alle Berliner T ­ heater wirtschaftliche Unternehmen, selbst Max Reinhardts Deutsches Theater, das künstlerisch in jener Zeit bedeutendste. Um bestehen zu können, mussten diese Bühnen möglichst viele Billetts verkaufen, und da sich zu jeder Zeit mehr Geld mit unbeschwerter Unterhaltung als mit elitärer Kunst verdienen ließ, w ­ aren die allermeisten Berliner Theater um 1900 Unterhaltungstheater, die Komödien, Lustspiele und Possen, vor allem aber Operetten spielten. Nur die wenigsten und die besten konnten, wie Max Reinhardt, davon leben, Klassiker wie­ 10 Alfred Holzblock, Eröffnung des Metropoltheaters, in: Berliner Lokalanzeiger, 4.9.1898.

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Shakespeare, Goethe und Schiller und avancierte neue Dramen zu inszenieren. Es war die einseitige Beschränkung der Theatergeschichte auf die Kunst, der Snobismus gegenüber dem Populären und der Widerwille gegen den Kommerz, die dazu geführt haben, dass dies weitgehend in Vergessenheit geriet. Denn im Gegensatz etwa zum Deutschen Theater hat die Theatergeschichte dem­ »seichten, kommerziellen Unterhaltungstheater« im Allgemeinen und einem »musikalischen Lusthaus der kleinen Seelen« wie dem Metropol-Theater im Besonderen keine Aufmerksamkeit geschenkt.11 Daher ist als allererstes über das Berliner Theater in der Zeit der langen Jahrhundertwende festzuhalten, dass es ein Geschäftstheater und ein Unterhaltungstheater war. Da das Metropol-­ Theater dafür typisch war, dient es hier als Beispiel. Das Geschäftstheater wurde von den Intellektuellen abgelehnt, weil hier nicht länger der bildungsbürgerliche Autor und Kritiker, sondern »der Zuspruch des Publikums«, der »laute Publikumserfolg […] den Ausschlag« gab.12 Anstatt die Massen zu bilden und zu erziehen, wie dies die Intellektuellen vom Theater verlangten, suchten die Direktoren der Geschäftstheater vielmehr deren Geschmack zu befriedigen, um ihre Einnahmen zu maximieren. Damit schwand der Einfluss des Bildungsbürgertums, das während dieser Zeit ohne­hin seine gesellschaftliche Vorrangstellung einbüßte.13 Es entwickelte daraufhin ein »Heimweh nach einer Epoche, in der die Werte der Kultur das Erbteil und der Besitz einer einzelnen Klasse waren und nicht jedermann offenstanden«, das konstitutiv werden sollte für seine Auseinandersetzung mit der Populärkultur im 20. Jahrhundert.14 Umgekehrt grenzte sich das Unterhaltungstheater von der Hochkultur ab. In der Posse Rund um Berlin, die 1899 im Metropol-Theater lief, antwortete eine junge Berlinerin auf die Frage, warum sie lieber ins Varieté als in ein Theater ginge: »Weil wir uns alle […] selbst auf die dümmste Weise lieber von der alltäglichen Misere erholen wollen, als uns von der sogenannten neuen Richtung immer gerade mit der Nase drauf stoßen zu lassen«.15 Mit der ›neuen Richtung‹ war der Naturalismus gemeint, dessen Programm es war, auf soziale Missstände aufmerksam zu machen, und dem hier eine eindeutige Absage erteilt wurde. Einige Szenen später trat dann sogar das Varieté selbst auf, verkörpert durch eine Schauspielerin. Als diese von den ihr feindlich gesonnenen Berliner Theater­direk­to­ren bedrängt wurde, eilte ihr der Direktor des Metropol-Theaters, ­R ichard Schultz, persönlich zu Hilfe und engagierte sie zur Bestürzung seiner Kollegen für seine Bühne, in der Hoffnung, dass »aus der Mamsell Übermut / Ein Stückchen neue 11 Fischer-Lichte, Geschichte des Dramas, 2.  Bd., S.  84; Brauneck, Die Welt als Bühne, 3. Bd., S. 18. 12 Hahn, Das deutsche Theater und seine Zukunft, S. 44; Seelig, Geschäftstheater oder Kulturtheater?, S. 16. 13 Vgl. Vondung, Zur Lage der Gebildeten; Jarausch, Die Krise. 14 Eco, Apokalyptiker und Integrierte, S. 39. 15 Rund um Berlin, 1. Bild, 1. Scene, LAB , A Pr. Br. Rep. 030-05-02 Nr. 1254.

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lust’ge Kunst geboren« werde.16 Nirgends kam das Unterhaltungstheater der Formulierung eines künstlerischen Programms näher als in dieser Posse, die den Naturalismus und den Bildungsanspruch zurückwies, das Varieté zum Vorbild erhob und unbeschwerte Unterhaltung propagierte. Die Gründung des Theaters Unter den Linden 1892 fiel in eine Phase der raschen Expansion der Berliner Theaterlandschaft. Noch bis zur Jahrhundertmitte hatte Berlin bloß eine Handvoll Theater aufzuweisen, von denen nur die beiden Hoftheater im Zentrum der Stadt lagen. Alle anderen Theater, zumeist handelte es sich um Sommerbühnen, deren Zuschauerraum nicht überdacht war, mussten mit einer Lage außerhalb der Stadt in den Vororten Vorlieb nehmen. Wiederholte Versuche von Schauspielern und Gastronomen, neue Bühnen zu gründen, wurden von Seiten der zuständigen Polizeibehörden in der Regel abgewiesen. Diese sahen im Theater einen potentiellen Ort des Umsturzes, da hier große Menschenmengen zusammenkamen und die gezeigten Stücke die Emotionen ansprachen.17 Vor dem Hintergrund einer ständigen Revolutionsfurcht galt es damit gleich als doppelt gefährlich. Außerdem wollte der Staat verhindern, dass die Hoftheater Konkurrenz bekamen. Im liberaleren Klima der Revolution von 1848 und deren Nachwehen konnten dann einige neue Bühnen gegründet werden, doch erst die Reform der Gewerbeordnung von 1869 führte zu einer wirklichen Liberalisierung der Theatergesetzgebung. Durch die Unterstellung des Theaters unter die Gewerbeordnung wurde es staatlicherseits als Gewerbe eingestuft und nicht als eine den Schulen oder Museen vergleichbare Bildungsinstitution unter die Aufsicht des Kultusministeriums gestellt, wie viele Intellektuelle gefordert hatten. Hatte die Berliner Polizei noch 1868 bloß einen von sechs Konzessionsanträgen genehmigt, kamen 1869 auf 34 genehmigte Anträge nur noch neun Ablehnungen, im folgenden Jahr auf 37 nur drei.18 In dem Jahrzehnt nach 1870 gab die Berliner Polizei 146 Konzessionen aus, die allerdings keineswegs alle zum Bau eines neuen Theaters führten.19 In vielen Fällen ging es einfach darum, die Attraktivität einer bestehenden Gastwirtschaft durch die Abhaltung von zumeist eher amateurhaften Aufführungen zu steigern. Dennoch kam es auch zur Gründung einer ganzen Reihe neuer Bühnen. Seit den 1880er Jahren wurden dann im Umkreis der Friedrichstraße in rascher Folge zahlreiche neue Theater gebaut. Südlich der Friedrichstraße in der Belle-­A lliance-­Straße (heute Mehringdamm) lag das gleichnamige Belle-Alliance-Theater. Es ging 1869 aus einem jener typischen, vor den Toren der Stadt gelegenen Sommergärten hervor. Ebenfalls in der Nähe des Belle-Alliance16 Ebd. 17 Zur Furcht vor dem Theater und der Theaterzensur vgl. Goldstein, The Frightful Stage; Stark, Banned in Berlin. 18 Vgl. LAB A Pr. Br. Rep. 030-05 Nr. 1657. 19 Verwaltungs-Bericht, S. 92.

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Platzes befand sich das 1908 erbaute Theater in der Königgrätzer Straße. Weiter nördlich in der Charlottenstraße, einer Parallelstraße der Friedrichstraße, stand seit 1888 das ­Berliner Theater (zuvor hatte sich hier seit 1869 das WalhallaTheater befunden). Weiter östlich folgte das 1880 eröffnete Central-Theater, das Richard Schultz von 1893 bis 1898 führte. Direkt an der Friedrichstraße eröffnete 1884 das Apollo-Theater, ein Varieté, in dem die ersten Operetten von Paul Lincke zur Aufführung kamen. An der Leipziger Straße nach Osten hin lag das 1881 aus einem Konzertsaal hervorgegangene Varieté Reichshallen-Theater. Auf der anderen Seite der Friedrichstraße und weiter im Norden wurde 1892 das Theater Unter den Linden fertiggestellt, das Richard Schultz 1898 übernahm. Gleich nebenan lag die Kaiserpassage, in der sich neben Geschäften und Cafés das Passage-Theater befand. An der schräg gegenüberliegenden Ecke von Unter den Linden gründete Max Reinhardt 1901 in einem Saal des Viktoria-Hotels das Kabarett Schall und Rauch, das später in Kleines Theater umbenannt wurde. Wer die Friedrichstraße weiter nach Norden ging, kam zu dem direkt am Bahnhof Friedrichstraße gelegenen Wintergarten, dem größten Varieté Berlins. In der dort kreuzenden Georgenstraße lag nach Osten hin das 1902 erbaute Trianon-Theater, das vor allem Adaptionen französischer Schwänke zur Aufführung brachte. Vor der Weidendammerbrücke entstand 1904 mit der Komischen Oper ein weiteres Operettentheater. 1911 eröffnete gleich nebenan der Admiralspalast, der verschiedene Vergnügungsetablissements beherbergte, darunter auch ein Theater, das in der Zwischenkriegszeit mit spektakulären Revuen für Aufsehen sorgte. Die dichteste Konzentration von Theatern aber fand sich in einem kleinen Gebiet nördlich der Spree. Das Gebäude einer ehemaligen Markthalle wurde seit 1879 erst als Zirkus Renz, dann als Zirkus Schumann betrieben. Nach dem Ersten Weltkrieg erwarb es Max Reinhardt und ließ es von Hans Poelzig zum Großen Schauspielhaus umbauen. Gleich nebenan befand sich das 1892 vollendete Neue Theater am Schiffbauerdamm. Die älteste Bühne in dieser Gegend aber war das Deutsche Theater, das 1850 als Friedrich-­ Wilhelmstädtisches-Theater gegründet worden war. Im Nebenhaus ließ Max Reinhardt 1906 die Kammerspiele einrichten. Nicht weit von dort hatte 1888 das Lessing-Theater eröffnet, zu dem sich 1913 etwas unterhalb, am Schiffbauer­ damm, das Komödienhaus gesellte. Weiter nördlich die Friedrichstraße hinauf befand sich seit 1904 das Lustspielhaus. Wo die Friedrichstraße bereits zur Chausseestraße geworden war, stand unweit des Stettiner Bahnhofs seit 1865 das Woltersdorff-Theater (seit 1883 Neues Friedrich-Wilhelm-Städtisches Theater). Die genaue Anzahl der Theater im Umfeld der Friedrichstraße und das von ihnen gebotene Programm schwankten zum Teil  von Jahr zu Jahr aufgrund der oft und rasch wechselnden Betreiber. Deutlich sollte jedoch geworden sein, dass es um die Friedrichstraße herum zu einer Konzentration von Theatern kam, die an vergleichbare Theaterviertel in anderen Metropolen erinnert, etwa an das Londoner West End oder den New Yorker Broadway. In der Mitte der Friedrichstraße aber und damit im Herz des Berliner Theaterviertels lag das

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Metropol-Theater. Die Friedrichstraße blieb auch dann noch das Theaterzentrum Berlins, als im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts der ›Zug nach dem Westen‹ einsetzte, der zur Herausbildung eines neuen Vergnügungsviertels in der Gegend um die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche führte. Der Kurfürsten­ damm und die hier gelegenen Cafés waren die Bühne, auf der sich das literarische, künstlerische und intellektuelle Leben der Weimarer Republik abspielte. Auch kam es zur Ansiedlung einer Reihe neuer Theater, die allerdings, mit Ausnahme des Theaters des Westens am Bahnhof Zoo und der Deutschen Oper, eher kleinere, intime Theater waren. Bis zum Zweiten Weltkrieg blieb die Friedrichstraße mit ihren großen Operetten- und Revuebühnen das Zentrum des Berliner Unterhaltungstheaters.20 Die Konzentration so vieler Theater in einem überschaubaren urbanen Raum war keineswegs zufällig, sie verdankte sich vor allem dem Prozess der City­ bildung, wie ihn fast jede Stadt im Übergang zur Metropole durchmachte. Dieser Prozess bezeichnet die Abwanderung der Wohnbevölkerung aus dem Stadtinneren aufgrund steigender Bodenpreise und Mieten und die Herausbildung funktionaler Räume. So fungierte die Leipziger Straße mit ihren zahlreichen großen Warenhäusern als Einkaufsstraße, in der Behrenstraße waren viele Banken ansässig, die Wilhelmstraße diente als Regierungsviertel und der Haus­ vogteiplatz war das »Konfektionszentrum« Berlins.21 Ökonomisch betrachtet waren Theater und Varietés Dienstleister, die sich nur bedingt von anderen Branchen des tertiären Sektors unterschieden. Ihre Konzentration in bestimmten Straßen und Vierteln folgte somit der Logik der Citybildung. Hinzukam, dass sich in der Nähe der Friedrichstraße die großen Fernbahnhöfe Berlins befanden, der Potsdamer Bahnhof und der Anhalter Bahnhof im Süden, der Stettiner Bahnhof und der Hamburger Bahnhof im Norden, vor allem aber der Bahnhof Friedrichstraße in ihrer Mitte, der einen zentralen Hauptbahnhof ersetzte. Wie schon die Zeitgenossen wussten, war die »Nähe mehrerer grösserer Verkehrsmittel« eine Bedingung für das Florieren jeder Theatergegend.22 Sie sorgten für einen kontinuierlichen Strom von Touristen, die auch damals bereits eine wichtige Klientel der Theater ausmachten. »Berlin gehört den Fremden«, meinte der Theaterkritiker Alfred Kerr 1895, um sich gleich­ darauf zu korrigieren, »nicht ganz Berlin, aber doch die Friedrichstadt. Dort kommen sie meistens an, dort wohnen sie, dort finden sie die Hauptrestaurants, die Hauptvergnügungstempel«.23 Tatsächlich war das Dreieck zwischen der 20 Zu diesem Überblick über die Entwicklung der Berliner Theaterlandschaft vgl. Freydank, Theater in Berlin; Leonhardt, Piktoral-Dramaturgie; Itoda, Berlin & Tokyo; Becker, Inszenierte Moderne, S. 132–139. 21 Loeb, Berliner Konfektion, S.  15; zur Berliner Citybildung vgl. Thienel, Verstädterung; Matzerath, Berlin; Erbe, Berlin im Kaiserreich, S. 693–710; Bodenschatz, Citybildung und Altstadterneuerung; Wagner, Die Dorotheenstadt, insbes. S. 10–20. 22 Epstein, Theater als Geschäft, S. 24. 23 Kerr, Wo liegt Berlin?, S. 72 f.

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Wilhelmstraße, Leipziger Straße und der Nordseite von Unter den Linden das »Hotelviertel« Berlins, in dem sich sowohl luxuriöse Grandhotels wie das A ­ dlon als auch schäbige Absteigen befanden.24 Zu den Hotels kam eine Unzahl von Restaurationsbetrieben. »In der Friedrichstraße rechnet man auf 250 Häuser mehr als 250 Trink- und Eßgelegenheiten, Gasthöfe, Restaurants, Viktualien­ läden«, meinte der französische Berlin-Kenner Jules Huret 1909.25 Die Theater in der Friedrichstraße profitierten erheblich von der Nähe der Hotels, Gastwirtschaften und Warenhäuser, waren deren Kundinnen und Kunden doch zugleich auch potentielle Theaterbesucherinnen und -besucher. Die Beziehungen waren allerdings nicht nur räumlicher Art, mitunter kam es auch zu wirtschaftlichen Verflechtungen. Das Metropol-Theater beispielsweise teilte sich ein Grundstück mit dem den Linden zugewandten Hotel Lindenhof, zu dem eine überdachte Passage hinüberführte, so dass Hotelgäste bequem ins Theater und wieder zurück gelangen konnten.26 Überdies verfügte es über ein angeschlossenes Restaurant.27 Auch zur Modeindustrie und den Waren­häusern unterhielten die Theater sehr gute Kontakte. So warben die Theater  – wie in Im Paradies der Frauen  – auf der Bühne für bestimmte Warenhäuser, während diese sich umgekehrt bei der Präsentation ihrer Waren an den Strategien der Bühneninszenierung orientierten.28 Manche Warenhauskonzerne engagierten sich sogar finanziell an Theaterunternehmen. Adolf Jandorf beispielsweise, der Chef eines der größten Warenhauskonzerne, saß im Aufsichtsrat der Neues Operettentheater GmbH, nachdem sich das von ihm geleitete Kaufhaus des Westens mit 20.000 Mark an dieser beteiligt hatte.29 Das war kein reines Mäzenatentum, denn die Warenhäuser hatten ein lebhaftes ökonomisches Interesse an den Theatern. Wertheim am Leipziger Platz machte mit dem Verkauf von Theaterbilletts 1907 einen Umsatz von anderthalb Millionen Mark – selbst bei einem Jahresgesamtgewinn von 60 Millionen keine unbedeutende Summe.30 Solche Kooperationen zeigen, dass die Theater damals kommerzielle Betriebe waren, die sich in der angebotenen Ware, nicht aber ökonomisch von anderen Unternehmen unterschieden. Wie diese waren sie als GmbHs und Aktiengesellschaft organisiert. Das Metropol-Theater ist dafür wiederum ein gutes Beispiel. Als Richard Schultz das Haus 1897 übernahm, besaß er nicht genügend Kapital, um das Theater auf eigene Rechnung zu führen, weshalb er eine Ge24 Wagner, Die Dorotheenstadt, S. 663, vgl. dort auch S. 649–668; Huret, Berlin um Neunzehnhundert, S. 53–60; Hoppe, Die Friedrichstraße, S. 55–60. 25 Huret, Berlin um Neunzehnhundert, S.  53; zum Restaurationsgewerbe der Friedrichstraße vgl. auch Wagner, Die Dorotheenstadt, S. 666–672. 26 Vgl. Berliner Neubauten, in: Deutsche Bauzeitung 26 (1892), S. 553 f. 27 Das Theater ›Unter den Linden‹ Berlin, in: Centralblatt der Bauverwaltung 12 (1892), S. 437–440, hier S. 439; Satyr, Lebeweltnächte der Friedrichstadt, S. 58. 28 Vgl. Becker, Feste des Konsums?. 29 Vgl. Neues Operettentheater GmbH, LAB A Pr. Br. Rep. 030-04 Nr. 1990. 30 Vgl. Ein Hausdiener als Dramatiker, in: Berliner Lokalanzeiger, 14.3.1908.

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sellschaft mit beschränkter Haftung gründete, in deren Auftrag er das Theater leitete.31 1899 trat Schultz von der kaufmännischen Leitung des Theaters zurück und gab diese an seinen Mitdirektor und Geschäftsführer Fritz Paul Jentz ab.32 Auf dem Zenit ihres Erfolgs gründeten Schultz und Jentz 1909 die Metropol-Theater Aktiengesellschaft Berlin mit einem Stammkapital von einer Million Mark, die Aktie zu 1000 Mark.33 Wie bei vielen Aktiengesellschaften ging es auch bei der Umwandlung des Metropol-Theaters von einer GmbH in eine Aktiengesellschaft darum, frisches Kapital zu akquirieren. Dafür spricht, dass die Gesellschaft wenig später auf dem Nachbargrundstück den Metropol-Palast eröffnete, in dem sich ein Biercabaret, der Palais de Danse und der P ­ avillon Mascotte befanden, der bis in die 1920er Jahre als »das eleganteste Nachtlokal Berlins« galt.34 Die Aktiengesellschaft war so profitabel, dass sie jährlich Dividenden in Höhe von 20 bis 22 Prozent ausschüttete.35 Selbst der Erste Weltkrieg führte nur zu einer vorübergehenden Flaute, die schnell in eine neue Hochkonjunktur mündete, die bis 1920 anhielt.36 So erwirtschaftete das MetropolTheater 1917/18 fast zwei Millionen Mark.37 Im ersten Friedensjahr setzte sich Richard Schultz zur Ruhe, woraufhin sein Kompagnon Fritz Paul Jentz alleiniger Geschäftsführer der Metropol-Theater AG wurde.38 Schon bald zeigte sich, dass Schultz im richtigen Moment von Bord gegangen war, denn im wirtschaftlichen Unwetter der Nachkriegszeit geriet sein ehemaliges Schiff zunehmend in Seenot. Ein Grund dafür waren die explodierenden Kosten, insbesondere die Lohnsteigerungen, die dafür sorgten, dass die Schauspieler mehr verdienten, die aber zugleich »die Betriebsunkosten der deutschen Theater auf eine ungeahnte Höhe« trieben.39 Gleichzeitig brachen 31 Notarielle Verhandlung vom 19.  Oktober 1897 über die Errichtung einer Gesellschaft, LAB A Pr. Br. Rep. 030-05 Nr. 306; vgl. auch in: Handbuch der deutschen Gesellschaften mit beschränkter Haftung, S. 378. 32 Vgl. Der Schauspiel-Unternehmer Richard Schultz, LAB A Pr. Br. Rep. 030-05 Nr. 3061. 33 Eine Theatergründung, in: Vossische Zeitung, 1.12.1909. 34 Vgl. Berliner Neubauten, in: Deutsche Bauzeitung 26 (1892), S. 553 f.; Szatmari, Das Buch von Berlin, S. 142; zum Metropol-Palast vgl. Kassenerfolg im Metropol. Die Gründung des Metropolpalastes, in: Berliner Morgenpost, 2.5.1912; Ladon, Kaiserhof-Passage, in: Die Zukunft 79 (1912), S. 303–306, hier S. 306; Zobeltitz, Chronik der Gesellschaft, 2. Bd., S. 208, 231; Turszinsky, Berlin, S. 9–15; Wolffram, Tanzdielen und Vergnügungspaläste, S. 89–93; zum Metropol-Palast vgl. das Kapitel über Tanzvergnügen. 35 Vgl. Deutsche Tageszeitung, 17.10.1910; Generalversammlung der Metropoltheater-­A ktien­ gesellschaft, in: Berliner Tageblatt, 12.12.1910; Metropol-Theater Aktiengesellschaft in Berlin, in: Berliner Börsen-Courier, 3.11.1911; 20 Prozent Dividende des Metropol-Theaters, in: ebd., 28.11.1912. 36 Bernard Weller, The After-War Stage, in: The Stage Yearbook (1920), S. 33–40. 37 Vgl. Eine interessante Theaterbilanz, in: Die deutsche Bühne 6 (1914), Nr.  13, S.  194 f.; Max Epstein, Drei Theaterbilanzen, in: Die Schaubühne (1917), S. 320–323; ders., Die drei Theater-Aktiengesellschaften, in: Die Weltbühne 14 (1918), Bd. 1, S. 369–372. 38 Vgl. LAB A Pr. Br. Rep. 030-05 Nr. 2375. 39 Ebd.

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die Einnahmen weg, denn die Bevölkerung musste sparen und sie sparte »zuerst am Theater­besuch«.40 Bald machte sich das Fehlen von Schultz’ untrüglichem Gespür für den Publikumsgeschmack bemerkbar, denn seinen Nachfolgern am Metropol-Theater gelang es nicht, an die Erfolge der Vorkriegszeit anzuknüpfen, die sie 1926 geradezu verzweifelt beschworen mit einer Wieder Metropol überschriebenen Revue.41 Nachdem auch diese floppte, blieb Jentz 1927 kein anderer Ausweg mehr, als Bankrott anzumelden. Daraufhin übernahmen Fritz und Alfred Rotter die Direktion, die zu diesem Zeitpunkt bereits den größten deutschen Theaterkonzern führten, dem sie nun auch noch das Metropol-Theater hinzufügten.42 Allein in Berlin führten sie fünf Bühnen gleichzeitig, zu denen noch weitere in Dresden, Breslau und Stettin hinzukamen.43 Mit den zunächst noch reichlich fließenden Gewinnen verschafften sie sich immer neue Kredite, die es ihnen erlaubten, weitere Theater zu übernehmen. Solange diese Gewinne abwarfen, funktionierte ihr Schneeballsystem. Als jedoch ausgerechnet in den wirtschaftlich katastrophalen frühen dreißiger Jahren gleich mehrere aufwändige Inszenierungen scheiterten, brach es in sich zusammen. Im Januar 1933 waren die Rotter-Brüder zahlungsunfähig und setzten sich ins Ausland ab. Die Berliner Staatsanwaltschaft erließ einen Haftbefehl, konnte ihrer jedoch nicht mehr habhaft werden.44 Das Metropol-Theater wurde nun, wie schon so viele Geschäftstheater vor ihm, von der öffentlichen Hand übernommen. Am 24. Juli 1937 schrieb Joseph Goebbels in sein Tagebuch: »Ich will Metropoltheater in Berlin kaufen. Und ganz groß darin herauskommen. Führer begeistert von meinem Plan«.45 Am 1. August 1938 wurde es vom Propagandaministerium übernommen.46 Ohne den Nationalsozialismus, der das Theater systematisch gleichschaltete und verstaatlichte, wäre es vermutlich nie zur Zerschlagung des Berliner Geschäftstheaters gekommen. Der erste Keim für diese Entwicklung war jedoch schon früher gelegt worden. Die Liberalisierung der Theatergesetzgebung im Zuge der Reform der Gewerbeordnung von 1869 hatte keineswegs zu einer voll40 Levy, Gedanken über Theater und Wirtschaft, in: Das Junge Deutschland 3 (1920), Nr. 5/6, S. 177–185, hier S. 178. 41 Wieder Metropol; Monty Jacobs, Wieder Metropol, in: Vossische Zeitung, 17.9.1926. 42 Vgl. Das Metropol-Theater unter Geschäftsaufsicht, in: Berliner Börsen-Courier, 28.12.1926; Das Metropoltheater unter Geschäftsaufsicht, in: Berliner Lokal-Anzeiger, 28.12.1926; Alois Munk, Der Niedergang des Metropol-Theaters, in: Berliner Lokal-Anzeiger, 6.8.1927; Die neuen Streiche der Brüder Rotter, in: Das Kleine Journal, 18.12.1927. 43 Vgl. Brief Rechtsanwalt Castro an Amtsgericht Berlin-Mitte vom 7.9.1931 und Brief der Industrie- und Handelskammer Berlin an Amtsgericht Berlin-Mitte vom 18.4.1932, LAB A Pr. Br. Rep. 030-05 Nr. 2966. 44 Konkursantrag gegen die Brüder Rotter. Das Ende des Theater-Konzerns, in: Vossische Zeitung, 18.1.1933; Die Berlin Theater-Katastrophe, in: Tägliche Rundschau, 18.1.1933; vgl. auch Kamber, Der Zusammenbruch. 45 Fröhlich, Tagebücher, 1. Teil, 4. Bd., S. 231. 46 Vgl. Drewniak, Das Theater im NS -Staat, S. 59.

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ständigen Theaterfreiheit geführt. Auch danach noch bedurfte es zum Betrieb eines Theaters einer Konzession der örtlichen Polizeibehörde, die diese versagen konnte, wenn bestimmte Bedingungen nicht eingehalten wurden. In den folgenden Jahrzehnten wurden diese Bedingungen und auch der Theaterparagraph in der Gewerbeordnung immer wieder angepasst, mit dem Ziel, die Zahl der Theater und mehr noch der Varietés zu limitieren und ihre weitere Zunahme zu beschränken. Außerdem erließ die Polizei detaillierte Vorschriften zur Anlage der Theater, zur Beleuchtung, Heizung und zu den Feuerlöscheinrichtungen, deren Einhaltung durch regelmäßige Inspektionen überprüft wurde. Nicht nur die Theater, auch die von ihnen aufgeführten Stücke sowie die Aufführungen selber wurden polizeilich überwacht. Offiziell war die Zensur zwar mit der Revolution von 1848 abgeschafft worden, unter der Hand aber hatte die preußische Polizei auf dem Verordnungsweg 1851 eine Vorzensur aller Theaterstücke eingeführt, die bis zum Ende des Kaiserreichs in Kraft blieb.47 Im Jahrzehnt zwischen 1891 und 1900 reichten Berliner Theater pro Jahr zwischen 200 und 400 Stücke ein, von denen die Polizei zwischen neun und 22 verbot, was im Schnitt einem Anteil von 10 Prozent entspricht.48 Darüber hinaus verlangte das Polizeipräsidium bei etwa der Hälfte aller eingereichten Stücke Streichungen oder Änderungen. Die Eingriffe der Zensur waren also erheblich. Weitaus schwieriger festzustellen ist, nach welchen Kriterien die Polizei die Stücke zensierte. Die Anmerkungen und Streichungen der Zensoren in den vom Metropol-Theater eingesandten Theaterzensurexemplaren bezogen sich zumeist auf sexuelle Anspielungen und Witze. In Im Paradies der Frauen beispielsweise strich die Zensur in dem Satz: »Ich unterhalte mich übrigens großartig in diesem entzückenden sündigen Berlin!«, das Wort »sündig«.49 In der Revue Der Teufel lacht dazu von 1906 fielen die folgenden Zeilen der Zensur anheim: »›Treibt det Fräulein ein Gewerbe?‹ frage ik, ›I natierlich‹ lacht se. ›Treibt sie’s alleine?‹ frage ik. ›Nee‹ sagt sie ›es muss immer eener dabei sein!‹«.50 Prostitution gehörte in den Augen der Zensoren nicht auf die Bühne.51 Ein anderer Themenbereich, auf den die Polizei beim Lesen der eingereichten Textbücher ganz besonders achtete, war die Politik. Dennoch enthielten die Metropol-Revuen zahlreiche politische Anspielungen und mehrfach schlüpften Schauspieler in die Rolle bekannter Politiker. Kein Politiker wurde so oft erwähnt wie August Bebel – allerdings auf wenig schmeichelhafte Weise. Gleich 47 Verordnung des Königl. Polizei-Präsidii zu Berlin, über öffentliche Theater und ähnliche Vorstellungen, vom 10. Juli 1851, in: Ministerial-Blatt 12 (1851), S. 117 f., zur Zensur vgl. Kleefeld, Theaterzensur; Lohkamp, Das Recht der Theaterzensur; Houben, Polizei und Zensur; Sommer, Zur Geschichte der Berliner Theaterzensur; Walach, Das doppelte Drama; Stark, Banned in Berlin. 48 Dritter Verwaltungsbericht des Königlichen Polizei-Präsidiums, S. 373–374. 49 Im Paradies der Frauen, 2. Bild, 4. Szene, LAB , A Pr. Br. Rep. 30-05-02 Nr. 859. 50 Der Teufel lacht dazu, 2. Bild, 7. Szene, LAB , A Pr. Br. Rep. 30-05-02 Nr. 3620. 51 Vgl. Stark, Banned in Berlin, S. 189–190, 196–197, 217.

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in der ersten Jahresrevue, Neuestes! Allerneuestes! von 1903, musste sich ein nach Berlin gekommener Fürst aus der Provinz fragen lassen: »Haben Hoheit noch nie Bebeln gehört?«, woraufhin dieser antwortete: »O, ich habe in letzter Zeit sogar sehr viel pöbeln gehört«.52 Auf diese Weise wurde gleichermaßen die Ignoranz des Fürsten karikiert wie die Sozialdemokratie auf Pöbel reduziert. Die konservative Lesart wurde noch dadurch unterstrichen, dass der Fürst im weiteren Fortgang der Szene ausrief: »Ja, um Gottes Willen, gibt es denn hier Niemanden, der die Leute zur Raison bringen könnte?« Alsdann erschien der wenige Jahre zuvor verstorbene Reichskanzler Bismarck auf der Bühne: »Ja! Einen gab’s – der hätt’ den Spuk gebannt, / Gebannt mit Eisenwort und Eisenhand!«.53 Das war der Beitrag des Metropol-Theaters zur Diskussion über die Sozialistengesetze, mit denen Bismarck die Sozialdemokratie seit 1878 in die Illegalität gezwungen und deren Nichtverlängerung 1890 schließlich zu seinem Sturz geführt hatte.54 Die Zensur ließ alle diese Szenen ohne Einwände passieren, vermutlich waren derartige satirische Ausfälle gegen die Führungsfigur der deutschen Sozialdemokratie sogar willkommen. Manche Beobachter meinten, dass das Metropol-Theater mit seiner offensiv zur Schau gestellten Systemtreue und seinen Bebel-Parodien die Nachsicht der Zensur in anderen Dingen ›erkaufte‹. Das legt jedenfalls eine Besprechung in der Berliner Morgenpost nahe, in der es über den Hausautor des Metropol-Theaters, Julius Freund, hieß: Er teilt satirische Hiebe nach allen Seiten aus und läßt einen die Langmut der Zensur bewundern, bis er uns wieder durch einen gewissen Hurra-Patriotismus darüber belehrt, daß auch die Zensur in Berlin nachsichtig sein kann, wenn man, wie Freund, auf der andern Seite hübsch lieb und brav ist.55

Die Berliner Polizei beschränkte sich im Übrigen nicht auf die Vorzensur, sondern ließ jede einzelne Vorstellung durch anwesende Beamte überwachen, die, mit dem Manuskript bewaffnet, sicherstellten, dass es keine Abweichungen vom genehmigten Text gab. Trotz der eben genannten Obrigkeitstreue monierte die Polizei auch bei Neuestes! Allerneuestes! eine Vielzahl von Punkten: Veränderungen an Figuren, das Kostüm einer Darstellerin, das »zu tief ausgeschnitten« sei, und dass zwei Schauspieler extemporiert hätten.56 Nachdem ein Polizei­ rapport 1909 vermerkt hatte, Guido Thielscher und Fritzi Massary, die beiden Stars des Metropol-Theaters, hätten mehrfach Stellen vorgetragen, die von der Zensur gestrichen worden waren, stellte das Polizeipräsidium sogar Strafanzeige ­gegen Thielscher.57 52 Neuestes! Allerneuestes!, 3. Bild, 13. Szene, LAB , A Pr. Br. Rep. 30-05-02 Nr. 2638. 53 Ebd. 54 Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte, 2. Bd., S. 409–426; Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 3. Bd., S. 993–1000. 55 Berliner Morgenpost, 13.3.1904; ähnlich: Die Welt am Morgen, 16.9.1907. 56 Brief Polizeipräsidium an Metropol-Theater, 8.1.1903, LAB , A Pr. Br. Rep. 030-50-714. 57 Vgl. Das Theater Unter den Linden, LAB , A Pr. Br. Rep. 030-50 Nr. 709.

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Mit der Weimarer Republik kam die Theaterzensur – jedenfalls soweit es um eine offizielle Vorzensur ging – an ihr Ende. Das gilt jedoch nicht für den Einfluss des Staates auf das Theaterleben, der im Gegenteil in einem bisher unbekannten Maße zunahm. So warf die Abdankung Kaiser Wilhelms II. auch Fragen für das Berliner Theater auf, denn was sollte nun mit dem Königlichen Schauspielhaus und der Königlichen Oper passieren? Noch am Abend des 9. November 1918 traf im Reichstagsgebäude der Rat der Intellektuellen zusammen, der hauptsächlich aus Künstlern der Avantgarde bestand und der ein Manifest veröffentlichte, das die Übernahme der Hoftheater durch den Staat forderte.58 Nach einigem Hin und Her wurde dieser Forderung entsprochen – einer der wenigen Erfolge, die die Rats-Intellektuellen für sich verbuchen konnten. Diese Entscheidung bedeutete einen weitreichenden Paradigmenwechsel, denn die Hoftheater waren zwar letztlich aus Steuermitteln unterhalten worden, unterstanden aber dem Kaiser, der den Intendanten benannte und der nicht selten direkt in den Betrieb der Bühnen eingegriffen hatte.59 Nun jedoch übernahm zum ersten Mal der preußische Staat Theater in eigener Regie. Zu ihnen gehörten auch die ehemaligen Hofbühnen in Kassel und Wiesbaden und seit 1923 das Schiller-Theater in Charlottenburg sowie seit 1924 die Staatsoper am Platz der Republik. Hatten sich vor dem Ersten Weltkrieg etwa 90 Prozent aller deutschen Theater in privater Hand befunden, kehrte sich das Verhältnis bereits in der Weimarer Republik um: in der Spielzeit 1933/34 betrug der Anteil der kommunalen oder staatlichen Theater schon 82,8 Prozent, bis 1937/38 erhöhte er sich auf 90,2 Prozent.60 Damit kam das Berliner Geschäftstheater, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden war und in der Zeit der langen Jahrhundertwende eine große Ausdehnung erfahren hatte, an sein Ende. Theater war zu einer öffentlichen, von Kommunen und Ländern finanzierten Angelegenheit geworden – und sollte es bleiben.

2.2 Publikum: Bürger, Angestellte, Arbeiter Die Berliner Geschäftstheater lebten beinahe ausschließlich von den Einnahmen durch den Billettverkauf und waren deshalb darauf angewiesen, dass ihre Stücke möglichst lange und vor möglichst ausverkauftem Haus liefen. Anders als die Hoftheater sprachen sie nicht bloß die höfische Gesellschaft, anders als die seit dem 18. Jahrhundert entstanden bürgerlichen Theater nicht bloß bürgerliche Kreise an, sie zielten vielmehr auf »ein Massenpublikum quer durch alle Schichten und Klassen« ab.61 Nicht Kunst oder Bildung diktierten Inhalt 58 Vgl. Laqueur, Weimar, S. 139. 59 Vgl. Förster, Kulturpolitik im Dienst der Legitimation. 60 Vgl. Rickelt, Schauspieler und Direktoren, S. 11; Stury, Deutsche Theaterstatistik, S. 20–22; vgl. auch Daiber, Schaufenster der Diktatur, S. 13. 61 Daniel, Hoftheater, S. 39.

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und Form der Theaterunterhaltung, sondern allein die Quote. Die Intellektuellen wurden nicht müde zu beklagen, dass »der Zuspruch des Publikums«, der »laute Publikumserfolg […] den Ausschlag« gab.62 Was sie nicht sagten: dass sie selbst gerne den Ausschlag gegeben hätten und um ihren Einfluss fürchteten. Durch sein Kommen oder Ausbleiben bestimmte das Publikum ganz wesentlich mit über das Schicksal eines Stücks und eines Theaters. Ablesbar war das an der Karriere von Richard Schultz. Ohne seine Erfolge am Central-Theater wäre er nie in die Lage versetzt worden, ein Haus wie das Metropol-Theater zu übernehmen. Ohne den Erfolg der ersten Jahresrevue Neuestes! Allerneuestes! von 1903 hätte es sicher nicht weitere zehn Jahresrevuen gegeben. Als Chauffeur, ins­ Metropol!, die zehnte Jahresrevue, 1913 bei Publikum und Kritik durchfiel, zögerte er nicht, diese sofort vom Spielplan zu nehmen. Er ersetzte sie durch die Operette Die Kino-Königin, denn der Erfolg von Jean Gilbert hatte gezeigt, dass das Publikum zu dieser Zeit Operetten den Vorzug gab. Wieder einmal bewies Schultz einen sechsten Sinn für den Geschmack des Publikums, denn Die KinoKönigin hielt sich ein halbes Jahr auf dem Spielplan. Wie wichtig ein solches Gespür war, lässt sich daran ablesen, dass es regelmäßig zu Bankrotten kam – wie vor und nach Schultz am Metropol-Theater. Im Gegensatz zu Verlegern und Filmproduzenten und ähnlich wie die Betreiber von Tanzlokalen oder Vergnügungsparks kannten die Theaterdirektoren ihr Publikum aus der Nähe, da sie diesem jeden Abend persönlich begegneten. Sie konnten bei der Uraufführung und noch während der gesamten Laufzeit eines Stücks beobachten, welche Szenen, Witze und Lieder beim Publikum ankamen und welche durchfielen. Als beispielsweise ein krasser Fall von Product-Placement, bei dem die Schauspielerinnen von der Bühne Reklamezettel ins Publikum warfen und den Namen eines Warenhauses auf ihren unberockten Beinen zeigten, bei Teilen des Publikums auf Widerstand stieß, strich Schultz diese Szene umgehend.63 So wichtig das Publikum für das Berliner Geschäftstheater war, so schwierig ist es, verlässliche Aussagen über dessen Größe und Zusammensetzung zu treffen. Fest steht, dass mit der Gründung vieler neuer Theater die Zahl der Sitzplätze um etwa das zehnfache zunahm und damit auch das potentielle Theater­ publikum. Allerdings ist dieser Trend vor dem Hintergrund eines rasanten Bevölkerungswachstums zu sehen, so dass die Zahl der Plätze relativ gesehen sogar gleich blieb. Eher noch für eine Vergrößerung des Berliner Theaterpublikums spricht, dass in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg die Eintrittspreise weitgehend stabil blieben, während gleichzeitig die Reallöhne wuchsen.64 Dank dieser Entwicklung konnten sich mehr Menschen einen Theaterbesuch leisten. Außerdem nahmen die Laufzeiten stetig zu. Hits wie Jean Gilberts 62 Hahn, Das deutsche Theater, S. 44; Seelig, Geschäftstheater oder Kulturtheater?, S. 16. 63 Bei dem Stück handelte es sich um die Posse Berlin bleibt Berlin, vgl. Berliner Courier, 24.8.1902; Becker, Feste des Konsums?. 64 Vgl. Becker, Inszenierte Moderne, S. 201–208.

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Operette Die keusche Susanne wurden weit über tausend Mal aufgeführt und dürften so allein in Berlin fast eine Million Zuschauer, wenn nicht sogar mehr erreicht haben.65 Das Metropol-Theater galt zu seiner Hochzeit vor dem Ersten Weltkrieg gemeinhin als ausgesprochenes Oberschichttheater, ein Ruf, der sich in der Theatergeschichtsschreibung bis heute gehalten hat.66 Diesen Ruf verdankte es vor allem seinen Premieren und Bällen, über die die Zeitungen ausführlich berichteten. Allerdings fand sich gerade zu diesen speziellen Veranstaltungen ein spezielles Publikum ein (siehe Abb. 4). Dafür sorgte bereits der Umstand, dass die Billetts für solche exklusiven Ereignisse nicht einfach am Kartenschalter zu erhalten waren, sondern zu stark überteuerten Preisen auf dem Schwarzmarkt.67 Nur wer Geld und Einfluss hatte, kam in den Besitz einer Eintrittskarte. Die alteingesessenen Eliten des Kaiserreichs aus Adel, Junkertum, Militär und Beamtenschaft verschmähten das Metropol-Theater allerdings weitgehend. Für sie galt, was ein Berlin-Führer von 1905 über die Theater der Stadt im Allgemeinen befand: »Niemand vom Kaiserlichen Hof nimmt in bemerkenswerter Weise an den Premièren der Saison teil. Niemand vom hohen Adel. Kein braver Junker. Kein standesgemäßer Beamter«.68 Sofern die traditionellen Eliten überhaupt am Theaterleben der Stadt partizipierten, zogen sie die königlichen Bühnen am Gendarmenmarkt vor. Das Metropol-Theater war die Bühne der neuen gesellschaftlichen Eliten, wie sie sich nach der Reichsgründung herausgebildet hatten und die halb neidisch, halb spöttisch mit den Kürzeln als ›Tout Berlin‹ beziehungsweise – nach dem Postbezirk, in dem sie wohnten – als ›Berlin W‹ bezeichnet wurden. Wo noch um die Mitte des Jahrhunderts eigenständige Städte und Dörfer, freie Flächen und Felder lagen, entstanden mit dem rapiden Wachstum Berlins neue Stadtteile und Villenviertel. Am Tiergarten, an den neuen Boulevards wie dem Kurfürstendamm und der Tauentzienstraße, in Charlottenburg und Schöneberg und in weiter außerhalb gelegenen Villenvierteln siedelten sich jene Teile der Gesellschaft an, die, wie der Kritiker ­Siegfried Jacobson es ausdrückte, »durch den ungeheuren Glückswechsel der Gründungsepoche aus niederen Lebenslagen an die Oberfläche gehoben worden« waren.69 Gemeint waren jene Industriellen, Unternehmer, Bankiers, Börsen­spekulanten und Rechtsanwälte, die in der Hochkonjunktur, die auf den deutsch-­französischen Krieg gefolgt war, zu Geld gekommen waren.

65 Vgl. Schneidereit, Berlin, wie es weint und lacht, S. 158. 66 Kothes, Die theatralische Revue, S. 33; Hasche, Bürgerliche Revue, S. 59; ähnlich: Völmecke, Die Berliner Jahresrevuen, S. 19. 67 Den Handel mit Theater-Billetts betreffend, LAB , A Pr. Br. Rep. 030-05 Nr. 169, insbesondere den Brief des Polizeipräsidenten vom 16.  September 1910, Bl.  274–276; sowie Der Reichsbote, 21.9.1910; Berliner Morgenpost, 7.9.1910. 68 Berlin und die Berliner, S. 367. 69 Jacobson, Das Theater der Reichshauptstadt, S. 6.

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Abb. 4: Silvesterball im Metropol-Theater 1909

Für Berlin W, das nicht nur in den Augen der traditionellen Elite als »nicht vornehm, sondern nur parvenumäßig« galt, war der Besuch der Metropol-Premieren eine wichtige soziale Praxis.70 Zu den Ersten zu gehören, die eine neue Jahresrevue ansehen konnten, war Ausweis der eigenen sozialen Position und der Zugehörigkeit zur Gesellschaft von Berlin W. Alsdann war die Teilnahme an einer Premiere eine Möglichkeit, sich vor anderen Vertretern dieser Gesellschaft zu inszenieren. Das Metropol-Theater bot dem neuen und heterogenen Milieu von Berlin W ein Forum für Vergesellschaftung, in dem Normen und Verhaltensweisen generiert und ausgehandelt wurden, durch die es sich erst als soziale Gruppe konstituierte.71 Diese Wirkung hielt weit über den Premierenabend hinaus an, denn wer an diesem teilgenommen hatte, sah sich in die Lage versetzt, mitreden zu können. »Es wäre entsetzlich für Leute, die in Gesellschaft verkehren,« schrieb der Schriftsteller Edmund Edel 1908, »wenn sie nicht über das neueste im Theaterwesen mitsprechen könnten, und es ist direkt kompromittierend, wenn einer die großen Stars nicht gesehen hat«.72 Zum Mitreden ermächtigten die Metropol-Revuen ihr Publikum auf zweierlei Weise: erstens in ihrer Funktion als soziales Forum und zweitens, indem sie auf der Bühne gesellschaftliche Ereignisse und Moden  – wie das Skifahren in St. Moritz oder den Kasinobesuch in Monte Carlo – und nicht zuletzt die Gesellschaft von Ber70 Berlin für Kenner, S 115. 71 Vgl. Otte, Jewish Identities, S. 206–213. 72 Edel, Neu-Berlin, S. 52.

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lin W selbst thematisierten. So enthielt die Jahresrevue Das muß man seh’n! ein Lied mit dem Titel Die Leute vom Kurfürstendamm, das das Milieu von Berlin W zum Gegenstand hatte: ’S giebt in Berlin nen kleinen Kreis, Der ›tout Berlin‹ sich nennt, Wo jeder was vom anderen weiss, Wo sich ein jeder kennt; Wer was hat, wer was kann, Wer sich nennt comme il faut, Aus dem Tiergartenviertel Aus der Gegend vom Zoo, Und die Leute vom Kurfürstendamm – Alle zusamm’, alle zusamm’!73

Dieses Lied, das auf ironische Weise ›Tout Berlin‹ die Referenz erwies, zeigt, dass Richard Schultz und sein Hausautor Julius Freund genau wussten, wer ihre Zuschauer waren. Dass die Revuen ›Tout Berlin‹ schmeichelten, war Kalkül, denn es war ein wichtiger Multiplikator. Nicht nur gehörten ihm viele Kritiker und Journalisten an, die über das Theaterleben schrieben, ihre bloße Teilnahme an den Premieren und Bällen des Metropol-Theaters tat kund, dass dieses en vogue war – auch in den Augen derer, die sich selber nicht zu ›Tout Berlin‹ rechnen durften. Seinen repräsentativen Charakter behielt das Metropol-Theater trotz aller gesellschaftlichen und politischen Umbrüche auch in der Weimarer Republik (siehe Abb. 5). Bei der Premiere von Ball im Savoy beispielsweise saßen »in der ersten Loge der Reichskanzler nebst Gemahlin, in der anschließenden Fritz Rotter und Familie, in der nächsten Herr Staatssekretär Meißner, Herr von­ Papen kam, der ›Kronprinz‹ fehlte nicht«.74 Dennoch ließ nicht nur die schlichtere, weniger steife Mode das Publikum in der Zwischenkriegszeit demokratischer erscheinen. Dazu trug auch der Aufstieg der Angestellten bei, der meist mit der Weimarer Republik assoziiert wird, der aber in Großstädten wie Berlin schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufgrund der Entstehung großer Warenhäuser und der Ausbildung neuer Dienstleistungsberufe nicht mehr zu übersehen war.75 Als neue Sozialformation grenzten sich die Angestellten ebenso gegen das traditionelle Bürgertum wie gegen die Arbeiterschicht ab, insbesondere durch ihren innovationsoffenen und konsumfreudigen Lebensstil.76 Zu diesem gehörte unter anderem das Ausgehen in Restaurants, in Tanzlokale, ins Kino und eben auch ins Theater. Wie eine Studie 73 74 75 76

Das muß man seh’n!, 5. Bild, 3. Szene, LAB , A Pr. Br. Rep. 30-05-02 Nr. 3915. Alle auf ihn!, in: 8 Uhr-Abendblatt, 19.1.1933. Vgl. Kocka, Die Angestellten, insbes. S. 90–115, 130–140. Vgl. Spree, Angestellte als Modernisierungsagenten; Coyner, Class Patterns; Torp, Konsum und Politik.

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Abb. 5: Fotografie des Publikums des Metropol-Theaters von Erich Salomon von 1919

zur Lebenshaltung von 2.000 Arbeiter-, Angestellten- und Beamtenhaushalten von 1928/29 belegt, gaben die Angestellten unabhängig von ihrer jeweiligen Gehaltsstufe mehr für den Freizeitkonsum – insbesondere für Theater und Kino – aus als Beamte und Arbeiter.77 Im Schnitt wandten die Angestellten einen größeren Anteil ihres Budgets für das Theater auf als für das Kino, sie stellten also einen nicht zu vernachlässigenden Anteil des Publikums. Da die wenigsten Angestellten, im Gegensatz zu bildungsbürgerlichen Theaterbesuchern, Zeitungsartikel verfassten oder Memoiren hinterließen, sind sie als Publikum weit schwieriger zu greifen. Eine der wenigen Ausnahmen ist­ William Friedländer. Dieser hatte »gerade seine Lehrzeit ›in Baumwolle‹ hinter sich und sollte mit sechzig Mark Monatsgehalt als ›junger Mann‹ anfangen«, vorher aber »wollte er sich mit drei Mark in der Tasche einen guten Abend machen; und ein guter Abend hieß damals ein Besuch der neuen Metropol-­Revue«.78 Bei 77 Vgl. Die Lebenshaltung von 2000 Arbeitern-, Angestellten- und Beamtenhaushaltungen; Coyner, Class Patterns, S. 315–324; Spree, Angestellte als Modernisierungsagenten; Torp, Konsum und Politik, S. 60–63. 78 Pem, Und der Himmel hängt voller Geigen, S. 71; vgl. auch Schneidereit, Berlin, wie es weint und lacht, S. 128.

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diesem Anlass stellte Friedländer fest, wie einträglich das Geschäft mit TheaterBilletts war. Kurzentschlossen gab er seine Karriere in der Textilbranche auf, um stattdessen in den Schwarzmarkthandel einzusteigen.79 Friedländer war nicht der einzige Angehörige der Angestelltenschicht, der das Metropol-Theater besuchte. Der Schriftsteller Fedor von Zobeltitz bemerkte sogar anlässlich eines der eher exklusiven Theaterbälle die Anwesenheit von »Kommis aller Branchen«.80 Erwähnenswert ist auch noch ein aus Prag stammender Versicherungsvertreter und seine Berliner Verlobte, Prokuristin bei einer Firma für Diktiergeräte: Franz Kafka und Felice Bauer. Bei einem Berlinaufenthalt 1910 hatte Kafka dort die Revue Hurra! Wir leben noch! gesehen, die ihm allerdings gar nicht gefiel: »mit einem Gähnen […] größer als der Bühnenraum« habe er im Theater gesessen, schrieb er seiner Verlobten. Das hielt ihn jedoch nicht davon ab, 1913, als er die Osterfeiertage in Berlin verbrachte, am Ostersonntag mit Felice Bauer eine Vorstellung der Operette Die Kino-Königin im Metropol-Theater anzusehen.81 Dass sich Angestellte durch den Besuch eines Theaters von der Arbeiterschaft abzusetzen hofften, legt nahe, dass Arbeiter kaum am Theaterleben der Jahrhundertwende teilhatten. Auch lässt die Orientierung des populären Musiktheaters an den Mittelschichten vermuten, dass dieses nicht nach dem Geschmack der Arbeiter war.82 Doch anzunehmen, dass Arbeiter um 1900 nie ein Theater von innen gesehen hätten, wäre falsch. Zumindest der Besuch eines der außerhalb des Zentrums gelegenen Theater war für einen Arbeiter durchaus erschwinglich. Ein unverheirateter Arbeiter gab 1902 im Schnitt zwischen 1,50 und 1,90 Mark pro Tag für Nahrung aus, womit ein Billett – wenn auch nicht eines für das Metropol-Theater – durchaus im Rahmen dessen lag, was er sich leisten konnte.83 Wie die Erhebung unter den 2.000 Haushalten von 1932 ergab, wendeten deutsche Arbeiter im Schnitt denselben Betrag für Theater- wie für Kinobesuche auf.84 Das lässt darauf schließen, dass viele Arbeiter sich zumindest zu besonderen Anlässen ein Bühnenstück ansahen. In Berlin existierten mit der 1890 gegründeten Freien Volksbühne und der 1892 von ihr vorübergehend abgespaltenen Neuen Freien Volksbühne überdies zwei Vereine, die es sich zum Ziel gesetzt hatten, der Arbeiterklasse durch günstige Vereinsvorstellungen den Zugang zum Theater zu öffnen. Mit fast 70.000 Mitgliedern ermöglichte die Volksbühnen-Bewegung vor dem Ersten Weltkrieg einem beträchtlichen Teil  der Berliner Arbeiterschaft den Theater-

79 Ebd. 80 Zobeltitz, Chronik der Gesellschaft, 2. Bd., S. 178. 81 Koch, Kafka in Berlin, S. 16, 25. 82 Jackson, The Middle Classes, S. 254 f. 83 Vgl. Hohorst u. a., Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch, S. 107, 109, 113; Schneider, Der Arbeiterhaushalt, S. 111–116, 141–143. 84 Coyner, Class Patterns, S. 320–322; Torp, Konsum und Politik, S. 60 f.

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besuch.85 Da die Volksbühne erst seit 1914 ein eigenes Theater am Bülowplatz (dem heutigen Rosa-Luxemburg-Platz) besaß, schloss sie zuvor Verträge mit verschiedenen Berliner Theaterdirektionen ab, die ihr nicht nur ihre Bühnen, sondern auch ihre Ensembles für Vereinsvorstellungen vermieteten, darunter auch das Metropol-Theater. So verpachtete Richard Schultz sein Haus an die Neue Freie Volksbühne »für sämtliche Sonn- und Feiertage in der Zeit vom 19. September 1909 bis Ende Mai 1910«. Die aufzuführenden Stücke, bei denen es sich um »Volksschauspiele und Possen« handeln sollte, wurden »von der Direktion des Metropol­t heaters eigens für den Verein einstudiert«.86 Pro Aufführung zahlte die Neue Freie Volksbühne Schultz 1.200 Mark. Von diesem Geschäft profitierten beide Seiten: Schultz, der aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen an Sonn- und Feiertagen sowieso keine öffentliche Theateraufführung hätte abhalten können, gelang es so, sein Haus optimal auszunutzen. Und die Volksbühne, deren geschlossene Vorstellungen durch diese Bestimmung nicht betroffen waren, erhielt ein Theater samt Ensemble. Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht war jedoch nicht der einzige Faktor, der über die Teilhabe an Theaterunterhaltung entschied. Im bürgerlichen Zeitalter galt die Öffentlichkeit als eine männliche Sphäre, in der sich Frauen nur in Begleitung von männlichen Familienangehörigen aufhalten konnten, wollten sie nicht ihr gesellschaftliches Ansehen riskieren. Das Theater stand dahingehend unter besonderer Beobachtung, da ihm immer wieder eine enge Verbindung zur Prostitution unterstellt wurde. Im Zuge seiner Etablierung als bürgerliche Bildungs- und Erziehungsanstalt seit dem 18. Jahrhundert und dem damit einhergehenden sozialen Aufstieg entwickelte es sich zu einem auch vom Bürgertum akzeptierten heterosozialen Raum. Das gilt selbst für das MetropolTheater. Obwohl dessen Promenoir weithin als Ort kommerzieller Sexualität bekannt war, wurde es auch von bürgerlichen Frauen besucht. Denn die »Leute, die ins Metropoltheater gehen, sind nämlich nicht bloß die hohlköpfigen Lüstlinge, die genau wissen, was sie dort suchen, sondern auch anständige Bürgersleute, die ihre Frauen mitbringen«, wie der Schriftsteller Ernst von ­Wolzogen 1906 klarstellte.87 Die Fotografien des Publikums des Metropol-Theaters geben ihm Recht (siehe Abb. 4 und 5). Manche Intellektuelle meinten sogar ein weibliches Geschmacksdiktat zu beobachten, das sie für den angeblichen Niedergang der Bühnenkunst verantwortlich machten. »Die Vorherrschaft der Frau im Theater, und einer geistig unmündigen, verzogenen Luxusfrau,« schrieb Siegfried­ Jacobson 1904, »verhinderte, daß Fragen und Gegenstände des öffentlichen Le85 Vgl. Bab, Wesen und Weg, S. 19; Nestriepke, Geschichte der Volksbühne, S. 382; Braulich, Die Volksbühne; Pforte, Freie Volksbühne Berlin; Bonnell, The People’s Stage. 86 Vertrag zwischen dem Verein Neue Freie Volksbühne, Berlin, vertreten durch dessen Vorstand und der Direktion des Metropoltheaters, vertreten durch Herrn Direktor Richard Schultz, Berlin, undatiert, LAB A Pr. Br. Rep. 030-50 Nr. 709. 87 Wolzogen, Theatralische Probleme, S. 315.

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bens, daß mächtige Zeitströmungen zu szenischem Ausdruck kamen«.88 Dass bereits die gestiegene Präsenz von Frauen im Publikum die Kulturkritik in helle Aufregung versetzte, sagt allerdings mehr über diese als über eine tatsächliche ›Verweiblichung‹ des Theaters aus, das auch in der Zwischenkriegszeit noch fest in der Hand männlicher Direktoren, Regisseure und Kritiker war. Der Theaterbesuch konnte für verschiedene Zuschauerinnen und Zuschauer Unterschiedliches bedeuten, immer aber war er eine soziale Praxis, die in Gemeinschaft mit anderen ausgeübt wurde und die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe und Schicht demonstrierte. ›Tout Berlin‹ ging ins Theater, um zu sehen und gesehen zu werden, um die eigene gesellschaftliche Stellung nach außen hin zu zeigen und mit Mitgliedern derselben Schicht zusammenzutreffen. Ähnlich verhielt es sich im Fall der Angestellten, für die der Theaterbesuch eine Gelegenheit war, sich sowohl von der Arbeiterschicht wie vom traditionellen Bürgertum abzugrenzen. Die Arbeiter schließlich besuchten das MetropolTheater nahezu ausschließlich als Angehörige der Neuen Freien Volksbühne zu der von dieser organisierten Spezialvorstellung und daher als Vereinsmitglieder. Immer war der Theaterbesuch ein soziales Ereignis, das zur Herausbildung und zur Sichtbarkeit sozialer Schichten und Gruppen beitrug. Durchweg besaß er den Charakter eines festlichen, außeralltäglichen Ereignisses, das mit bestimmten Ritualen verbunden war und für das man sich entsprechend kleidete. Ob Premiere oder Vereinsvorstellung, für die jeweiligen Teilnehmer handelte es sich um eine seltene Gelegenheit, der etwas Besonderes jenseits des gewöhnlichen Alltags innewohnte. Wenn vielleicht auch sonst nichts, so einte doch dies zumindest das Publikum des Metropol-Theaters – wie das der Berliner Theater insgesamt  –, das ansonsten sozial höchst heterogen war, so dass Angehörige von ›Tout Berlin‹ wohl niemals mit solchen der Volksbühne zusammentrafen. Zugleich war das Theater ein heterosozialer Ort, der von Frauen wie Männern besucht wurde. Beides hat es mit anderen urbanen Vergnügungsorten gemein, die die bestehende soziale Ordnung reproduzierten und zugleich Freiräume eröffneten, um mit neuen Rollen und Identitäten zu experimentieren – nicht zuletzt in Bezug darauf, was es hieß, in einer Metropole zu leben.

2.3 Metropole: Die Stadt auf der Bühne Das rasche Wachstum der Städte im 19. Jahrhundert, das sich vor allem durch den konstanten Zuzug aus anderen, meist ländlichen Regionen speiste, führte zu einer Identitätskrise. Was verband die vielen, nach Herkunft, Klasse, Religion und Lebensstil so unterschiedlichen Menschen miteinander, die nun plötzlich in Großstädten wie Paris, London, Wien oder Berlin lebten und miteinander auskommen mussten? Was machte den Wiener zum Wiener und den 88 Jacobson, Das Theater der Reichshauptstadt, S. 24.

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Berliner zum Berliner? Wodurch zeichneten sie sich aus und worin wichen sie voneinander ab? Zu dieser Frage, das heißt zur Herausbildung einer spezifischen urbanen Identität, trugen um 1900 alle populären Medien bei, ganz besonders das Theater. Ob es nun die Operetten Offenbachs, die Wiener Operette, das Londoner Melodrama oder die Madrider Zarzuela waren, immer drehte sich die Handlung um städtische Figuren, städtische Freuden und Probleme und damit um die Erfindung einer städtischen Identität.89 Das Berliner Theater entdeckte die Stadt um die Mitte des 19. Jahrhunderts mit den Lokalpossen des Schriftstellers David Kalisch, die Berliner Charaktere, Ereignisse und Themen parodierten, weshalb es immer wieder zu Konflikten mit der Polizei kam.90 In Breslau geboren und zeitweise in Paris ansässig, fand Kalisch in Berlin eine bleibende Heimat und seinen Gegenstand  – zunächst als Journalist, dann als Bühnenautor von Stücken wie Berliner auf Wache (1848), Die Bummler von Berlin (1854) und Berlin, wie es weint und lacht (1858).91­ Kalischs vielleicht bekanntestes Stück war Der Haussegen oder Berlin wird Weltstadt, dessen Titel sich schnell zu einem »Symbol der aufstrebenden Metropole« entwickelte.92 Als diese Posse 1866 erschien, war Berlin in jeder Hinsicht noch weit davon entfernt, als Weltstadt gelten zu können. Kalischs ironische Formel ging jedoch schnell in allgemeinen Gebrauch über, wie der britische Verleger Henry Vizetelly bei einem längeren Berlin-Aufenthalt in den 1870er Jahren beobachtete: »The mot d’ordre, however, was given, ›Berlin wird Weltstadt‹ was in every mouth, echoed in every newspaper, and placarded over the Litfass columns.«93 Was später die Forderung nach einem ›Platz an der Sonne‹ für das Deutsche Kaiserreich war, das war die Formel ›Berlin wird Weltstadt‹ schon früher für seine Hauptstadt: Sie erhob den Anspruch auf Weltgeltung und löste ihn zugleich rhetorisch ein. Wie manche Deutsche ihr Land als Nachzügler unter den Nationen empfanden, so wussten viele Berlinerinnen und Berliner, dass ihre Stadt es weder an Größe und Geschichte noch in wirtschaftlicher Bedeutung und internationaler Geltung mit etablierten Metropolen wie Paris und London aufnehmen konnte – doch das hielt sie nicht davon ab, ihre Stadt mit ihnen zu vergleichen. Von der Lokalposse führt ein direkter Weg zu den Jahresrevuen, die seit 1903 am Metropol-Theater herauskamen. Schon als Direktor des Central-Theaters hatte Richard Schultz die Zugkraft von ›Berlin‹ erkannt, das im Zentrum einer ganzen Reihe von eigens für diese Bühne geschriebenen Stücken stand. Am er89 Vgl. Kracauer, Jacques Offenbach, insbes. S. 258–260; Linhardt, Residenzstadt und Metropole, insbes. S. 134; Booth, The Metropolis on the Stage; Lamas, Zarzuela. 90 Zu Kalisch und der Lokalposse vgl. Klotz, Bürgerliches Lachtheater, S. 89–121; Schnei­ dereit, Berlin, wie es weint und lacht; Nöbel, ›Damals war’s‹, Jansen u. Lorenzen, Possen, Piefke und Posaunen, insbes. S. 50. 91 Kalischs Stücke liegen vor in zwei Bänden als Kalisch, Hunderttausend Taler. 92 Stern, Gold und Eisen, S. 238. 93 Vizetelly, Berlin under the New Empire, 1. Bd., S. 165.

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folgreichsten von ihnen war Eine tolle Nacht von Wilhelm Mannstaedt und Julius Freund, eine Proto-Revue, die in fünf Bildern einzelne Aspekte des Berliner Nachtlebens thematisierte. Ihr Protagonist war der Fabrikant Pieper, der nach langer Abwesenheit in der Provinz wieder einmal nach Berlin kommt: »Ist man in Berlin geboren, / So wie ich, / Bleibt man immer unverfroren / Glauben Sie nicht? / Zwänge durch die Menschenmenge / Mich umher, / Diese Enge im Gedränge / Paßt mir sehr!«94 Pieper ist zwar in Berlin geboren, lebt aber schon seit Langem in der Provinz, weshalb er zugleich Einheimischer und Fremder ist. Dieses Gefühl dürfte bei dem Publikum des Central-Theaters auf Resonanz gestoßen sein, stammten doch aufgrund des rasch voranschreitenden Wachstums der Stadt viele von ihnen aus anderen Teilen Deutschlands. Doch die eigentliche Hauptfigur war Berlin selbst. Ihm näherte sich das Stück in einer Art dramatisierter Stadtführung, die sich der Form nach bereits der Revue annäherte. Der Berliner ­Courier meinte, das Stück böte anstatt »einer Handlung […] ein tolles Charivari, ein buntes Durcheinander, ein unerzählbares Kopf d’runter, Kopf d’rüber«.95 Dennoch zeigte sich die Kritik überwiegend angetan und das galt erst recht für das Publikum, dessen »Jubel […] sich von Bild zu Bild« steigerte.96 Der Erfolg am Central-Theater ermöglichte es Richard Schultz, das wesentlich teurere, aber zentraler gelegene Theater Unter den Linden zu übernehmen. Bereits die Umbenennung in Metropol-Theater kündigte an, dass er das Erfolgsrezept, Theater über Berlin für Berlin zu bieten, fortzuführen gedachte. Auf Possen wie Rund um Berlin und Berlin bleibt Berlin folgten dann die Jahresrevuen. Als dramaturgische Klammer diente ihnen allen – wie schon in Eine tolle Nacht  – das Rundreiseschema, das heißt der Besuch eines auswärtigen Gastes, dem die Sehenswürdigkeiten der Stadt vorgeführt wurden.97 Dabei reichte die Bandbreite der Themen von politischen und gesellschaftlichen Ereignissen bis hin zu den ebenso lästigen wie omnipräsenten Baustellen. In Neuestes! Aller­neuestes! beispielsweise klagte 1903 ein von Kopf bis Fuß bandagierter Berlin-Tourist, der »blos ’nen kleinen Bummel über die aufgebuddelten Linden machen« wollte, dreimal abgestürzt zu sein, »in ein Gasloch, ein elektrisches Loch und ein Telephonloch«.98 Fünf Jahre später, in Donnerwetter  – tadellos! war er dann bestens vorbereitet. Sein »Touristenkostüm für Berlin ­innere Stadt« enthielt ein Rettungsseil, eine Grubenlampe, »’ne solide Spitzhacke natürlich auch und für 8 Tage Proviant, falls ich mir in den Katakomben verlaufen sollte« (siehe Abb. 6).99 Keine Vorkehrung 94 95 96 97

Freund u. Mannstaedt, Eine tolle Nacht, S. 17. Undatierter Zeitungsartikel abgedruckt in: Freund u. Mannstaedt, Eine tolle Nacht, S. 3 f. Ebd., S. 6. Vgl. Kothes, Die theatralische Revue, S. 30–32; Jansen, Glanzrevuen der Zwanziger Jahre, S. 22. 98 Neuestes! Allerneuestes!, 3. Bild, 2. Szene, LAB , A Pr. Br. Rep. 30-05-02 Nr. 2638. 99 Donnerwetter – tadellos!, 2. Bild, LAB , A Pr. Br. Rep. 30-05-02 Nr. 4214.

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Abb. 6: Guido Thielscher mit Spitzhacke, Leiter und Seil als Berlin-Tourist in der Jahresrevue Donnerwetter  – tadellos! von 1908

half jedoch gegen die Einsicht: »Ich kenne mein schönes altes Berlin gar nicht wieder.«100 Solche nostalgischen Kommentare aber waren die Ausnahme in den Jahresrevuen, galten doch selbst die Baustellen letztlich als Ausweis von Berlins Wachstum und Modernität. Wirklich negative Aspekte des Großstadtlebens und der Urbanisierung  – Armut, Kriminalität oder Alkoholismus, wie sie in vielen anderen Stücken und Romanen dieser Zeit thematisiert wurden  – kamen auf der Bühne des Metropol-­Theaters nicht vor. Es wollte unterhalten und konzentrierte sich deshalb auf die angenehmen Seiten der Metropole, allen voran auf deren Nacht-

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Abb. 7: Die Terrassen vom Halensee – der Luna-Park in der Jahresrevue Hurra, wir leben noch von 1910

und Vergnügungsleben. Die Jahresrevue Hurrah, wir leben noch von 1910 etwa widmete ein ganzes Bild dem Luna-Park in Halensee, der personifiziert als Frau Luna auftrat: Wohn ich auch in der Vorstadt blos, Knapp vor Berlins Portal, Doch ist bei mir der Andrang gross, Gross meiner Freunde Zahl! Bei mir da fahren Tag und Nacht Rasselnd die Autos vor, Bei mir da wimmelt, scherzt und lacht Meiner Verehrer Chor. Meine Verehrer, die treiben es arg, Bei den Terrassen am Halensee! Bin Fräulein Luna vom Lunapark, Die Junggesellen und Strohwitwenfee!101

Passend dazu zeigte das Bühnenbild die »Terrassen vom Halensee« (siehe Abb. 7). Überhaupt thematisierten die Metropol-Revuen Berlin nicht nur in den Texten, Richard Schultz legte auch großen Wert darauf, dass die Bühnenbilder es so realistisch wie möglich abbildeten. Eine tolle Nacht spielte an der Kreuzung Unter den Linden/Friedrichstraße, in Ein tolles Jahr zeigte die Bühne »die Kranzler101 Hurrah, wir leben noch!, 2. Bild, 3. Szene, TSFU NL Julius Freund 97/102/W184. Vgl. zum Luna-Park ausführlich das Kapitel über Vergnügungsparks.

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ecke unter den Linden«, in Der Teufel lacht dazu war »das bekannte Strassenbild der Friedrichstrasse an der Behrenstrasse […] mit dem Blick auf den Eingang der Passage« zu sehen, in Das muß man seh’n! eine Nachbildung der Jägerstraße mit dem Linden-Buffet und in Die Nacht von Berlin »die Behrenstrasse« und das »hell erleuchtete Palais de danse«.102 Es ist kein Zufall, dass immer wieder diese in unmittelbarer Nachbarschaft gelegenen Straßen gezeigt wurden. Denn die Kreuzung von Unter den Linden und Friedrichstraße, wo sich die Menschenmassen am dichtesten drängten, war vor dem Ersten Weltkrieg einer der Orte in Berlin, wo die Stadt am großstädtischsten war. Außerdem befand sich genau hier das­ Metropol-Theater, das sich als Ausweis der Groß- und Weltstädtigkeit Berlins präsentierte. Nirgends wird diese Verbindung zwischen Berlin und dem Metropol-Theater deutlicher als in dem Couplet Die kleine Tingeltangeleuse: Metropolinchen – Schatz an der Spree, Dich hab’n die Herr’n Zum Fressen gern, Weil Du modern – vom Kopf zur Zeh’! Wie du Dich rausgemaust, Das ist ’ne wahre Pracht, Berlin ist immer schön Jedoch am schönsten in der Nacht! Was schadet’s denn, dass meine Tugend Hat hie und da ’nen kleinen Sprung? Ich hab’ die Fehler meiner Jugend, Ich bin als Weltstadt noch so jung!103

Auf den ersten Blick schien mit ›Metropolinchen‹ das Metropol-Theater gemeint, das seine Abstammung aus dem Tingeltangel  – wie umgangssprachlich jene Varietétheater hießen, die sich an die gewöhnliche Bevölkerung richteten  – nicht verleugnete. Gegen Ende aber spricht Berlin selbst und stellt sich als junge Weltstadt vor. Hier schloss sich der Kreis zur Lokalposse. Was einst mit David Kalischs Der Haussegen oder Berlin wird Weltstadt begonnen hatte, fand in den Metropol-Revuen der Jahrhundertwende seinen vorläufigen Höhepunkt. Die Jahresrevue war nicht das einzige Genre, das die Stadt zum Thema machte. Etwa zeitgleich mit ihr entwickelte sich in Berlin eine eigene Spielart der Operette, die bis dahin vor allem mit Paris und Wien assoziiert wurde. Die erste Berliner Operette war Frau Luna von Paul Lincke und Heinrich BoltenBaeckers, die 1899 als Teil eines Varieté-Programms am Apollo-Theater heraus­ 102 Ein tolles Jahr, 2. Bild, TSFU, NL Freund 97/02/W172; Der Teufel lacht dazu, 2. Bild, LAB , A Pr. Br. Rep. 30-05-02 Nr. 3620; Die Nacht von Berlin, 3. Bild, LAB, A Pr. Br. Rep. 30-05-02 Nr. 5140. 103 Das muß man seh’n!, 4. Bild, 1. Szene, LAB , A Pr. Br. Rep. 30-05-02 Nr. 3915.

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kam, wo sie mit über 600 Aufführungen einen großen Erfolg erlebte.104 Wie die Jahresrevuen, so orientierten sich auch die Operetten an gängigen Berlin-­ Klischees und brachten sie zugleich überhaupt erst hervor. Die Melodien von Lincke »summte ganz Berlin«, da Straßenmusikanten und Drehorgelmänner sie bis in die hintersten Winkel der Stadt trugen.105 Dennoch ging die Operette nie eine so enge Verbindung mit Berlin ein wie mit Wien, »von einem Berliner Operettenstil kann man ernsthaft nicht reden«, befand etwa der Kritiker Karl Westermeyer.106 Wahrscheinlich erwiesen sich die Berliner Operetten gerade deshalb als exportfähig, denn Nachfolger Linckes wie Jean Gilbert und Walter Kollo waren international sehr erfolgreich. Zwar spielten auch ihre Operetten fast immer in Berlin, dieses nahm allerdings derart kosmopolitische und universelle Züge an, dass bloß der Name der Stadt und einige lokale Bezüge ausgetauscht werden musste und schon funktionierte ein Stück in einem anderen kulturellen Kontext. Nach dem Ersten Weltkrieg rückte Berlin dann, verglichen mit der zentralen Rolle, die es in den Metropol-Revuen eingenommen hatte, ein Stück weit in den Hintergrund. Von den 24 Bildern, aus denen Für Dich!, die Charell-Revue von 1925, bestand, war gerade noch eines an der Spree angesiedelt, andere führten das Publikum nach Venedig, in den Fernen Osten, an Bord eines Ozeandampfers, in die Alpen und zum Orakel von Delphi.107 Einen ausgeprägteren BerlinBezug wiesen die Haller-Revuen im Admiralspalast auf. Drunter und Drüber von 1923 beispielsweise spielte zwar teils am Mississippi, in Belutschistan und Ägypten, begann aber in bekannteren Gefilden: In der Friedrichstraßenenge Welche Menge, welch’ Gedränge! Droschke, Auto und Gendarm, Kesse Pärchen Arm in Arm. Liebesleute, Diebesbeute, Kleine Leute, feine Leute, Alles ruft und knuppt und pufft, Und ein Schrei geht durch die Luft: Immer feste, immer munter, Hier geht alles drüber und drunter! Und je toller, desto lieber, Hier geht alles drunter und drüber!108 104 Zur Berliner Operette vgl. Kiaulehn, Berlin, S.  238; Born, Berliner Luft, insbes. S.  92; Schneidereit, Berlin, wie es weint und lacht, S.  51, 101–107; ders., Paul Lincke, insbes. S. 51–59; Jansen, Glanzrevuen der Zwanziger Jahre, S. 22. 105 Modrow, Berlin 1900, S. 189; vgl. dazu Richter, Der Berliner Gassenhauer, S. 102 u. 184 f. sowie unten das Kapitel zur Populärmusik. 106 Westermeyer, Die Operette im Wandel des Zeitgeistes, S. 138. 107 Vgl. Benatzky, Für Dich, 1. Akt, 1. Lied. 108 Haller u. Wolff, Drunter und Drüber, 1. Akt, 1. Lied.

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Auf den ersten Blick erinnert diese Friedrichstraßenszene stark an das Auftrittslied des Fabrikanten Pieper in Eine tolle Nacht. Doch eine in vergleichbarer Art abgehackte, aufzählende und atemlose Schilderung der Großstadt sucht man in der Vorkriegszeit vergeblich. Darin glich es viel eher den Gedichten von Jakob van Hoddis oder George Grosz’ expressionistischen Druckgraphiken. Wie bei ihnen verwies das Gedränge in den Straßen Berlins über sich selbst hinaus auf eine als chaotisch empfundene Gegenwart, das ›Drunter und Drüber‹ der Zeitläufte, das dieser Revue ihren Titel und ihr übergreifendes Thema gab. Im offenen Widerspruch dazu stand ein anderes Berlin-Lied aus derselben Revue, der Linden-Marsch: So lang’ noch Untern Linden Die alten Bäume blüh’n, Kann nichts uns überwinden, Berlin, du bleibst Berlin. Wenn keiner treu dir bliebe, Ich bleib dir ewig grün, Du meine alte Liebe, Berlin bleibt doch Berlin.109

Der Linden-Marsch setzte einen deutlichen Kontrapunkt zum Eingangslied: Wo dieses das Chaos des gegenwärtigen Berlins beschworen hatte, träumte er sich (und das Publikum) in Form eines Marsches in die Zeit vor dem Krieg zurück. Anstatt Urbanität und Modernität zu feiern, schwelgte er in Nostalgie. Zugleich erhob er Berlin zu einem der wenigen verlässlichen Fixpunkte in einer sich unaufhörlich wandelnden Welt. Ein ähnliches Schicksal ereilte das MetropolTheater, das ebenfalls zum Gegenstand sentimentaler Reminiszenzen wurde. In der Revue Wieder Metropol, die 1926 am Metropol-Theater herauskam, gab es das Lied Das Märchen vom verklungenen Berlin, das dem alten Berlin in Gestalt der unvergessenen Revue-Stars gedachte: Wer euch besessen, kann nie euch vergessen, Ihr Männer vom alten Berlin! Hier auf der Bühne Mit strahlender Miene Sangt einstmals ihr die Melodien: Jetzt sitzt ihr oben, Im Himmel da droben, Und lächelt wohl still vor euch hin, Hört eure Lieder, Sie klingen wieder Aus eurem alten Berlin!110 109 Ebd., 1. Akt, 6. Lied. 110 Wieder Metropol, S. 18.

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Diese Ode an die Revueseligkeit von einst entsprach einem allgemeinen Trend zur »Sentimentalisierung Berlins« in der Zwischenkriegszeit, der sich auf verschiedene Weise artikulierte, beispielsweise in einem wahren Zille-Kult.111 Heinrich Zille hatte zwar schon vor dem Ersten Weltkrieg mitunter Entwürfe für Bühnenbilder geliefert und das Metropol-Theater hatte 1912 seine Szenen aus dem Strandbad Wannsee nachgestellt – mit Zille selbst in der Hauptrolle (siehe Abb. 8).112 In der Weimarer Zeit standen er und seine leicht wiedererkennbaren Großstadttypen dann jedoch symbolisch für eine Zeit und eine Stadt, die es nicht mehr gab. In der von James Klein 1924 in der Komischen Oper inszenierten Revue Das hat die Welt noch nicht gesehn gab es eine Zille-Szene, zu der Zille selbst das Bühnenbild beigesteuert hatte (siehe Abb. 9).113 Im folgenden Jahr inszenierte Erik Charell im Großen Schauspielhaus das Singspiel Hofball bei Zille, zu dem Zille abermals die Bühnendekoration lieferte und aus dem heraus sich ein richtiger Ball entwickelte, der jährlich wiederholt wurde und zu dem sich die Nachfahren von ›Tout Berlin‹ als Nutten und Ganoven verkleideten.114 Noch ein Jahr später, 1926, brachte mit Hermann Haller der dritte große Revue-Direktor im Admiralspalast die Revue An und Aus heraus, die ein zillemäßiges Lied mit dem Titel Mein Berlin enthielt: Mein Berlin In deinen Laubenkolonien Da blühn die Veilchen und Geranien. Mein Berlin in deinen Straßen blühn Die Linden und die leuchtenden Kastanien. Mein Berlin Auf den Balkons da glühn Tomaten zehnmal schöner als in Spanien. Auf der ganzen Welt gibt es nichts Was mir wie mein Berlin gefällt.115

Von Menschenmenge und Großstadtgedränge war hier endgültig keine Rede mehr. Berlin war zur beschaulichen Stadt der Veilchen und Kastanien, der Laubenkolonien und Balkongärten geworden. Dafür spielte nun die Handlung öfter an Orten, die einem kleinbürgerlichen und proletarischen Publikum vertrauter waren als die exklusiven Hotels, Warenhäuser und Vergnügungslokale, um die die Jahresrevuen der Vorkriegszeit gekreist waren.

111 Jansen, Glanzrevuen der Zwanziger Jahre, S. 163. 112 Vgl. Chauffeur, in’s Metropol!, 3. Akt, 6. und 7. Szene, TSFU NL Julius Freund 97/02/W174; Flügge, ’ne dufte Stadt ist mein Berlin, S. 79. 113 Vgl. dazu Das vergnügliche Berlin, in: Die Voss 13.9.1924, S. 6. 114 Brennert, Hofball bei Zille. 115 Zit. n. Jansen, Glanzrevuen der Zwanziger Jahre, S. 164; vgl. auch An und Aus, in: Vossische Zeitung 19.8.1926.

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Abb. 8: Die Szene »Im Familienbad Wannsee« aus der Jahresrevue Chauffeur – in’s Metropol! von 1912, in der Heinrich Zille selbst auf der Bühne stand

Abb. 9: Das Bühnenbild zur James Klein-Revue Das hat die Welt noch nicht gesehn von 1924 stammte von Heinrich Zille

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Eine noch stärkere Tendenz, dem Großstadttrubel Lebwohl zu sagen, findet sich in den Operetten jener Zeit. Nur noch wenige von ihnen spielten im Berlin der Gegenwart, dagegen verlegten die Librettisten die Handlung immer öfter in ländliche Räume. Das bekannteste Beispiel ist Im weißen Rößl von 1930. Es spielte im Salzkammergut, wohin es das Publikum geradezu physisch versetzte, dank eines Bühnenbildes, das in den Innenraum des Großen Schauspielhauses ausgriff und diesen in ein Alpen-Diorama verwandelte.116 Die Großstadt war hier nur noch insofern präsent, als einer der Protagonisten ein Berliner Unterwäschefabrikant namens Wilhelm Giesecke war, der den umgekehrten Weg des Fabrikanten aus Eine tolle Nacht ging, nämlich von der Großstadt in die Provinz, wo er sich im Alpenkostüm denkbar deplatziert ausnahm.117 Das idyllische Salzkammergut diente als Gegenwelt zur hektischen Großstadt, als Ort, an dem Großstädter zur Ruhe kommen.118 Noch beschaulicher ging es in Schön ist die Welt zu, einer Operette von Franz Lehár, die im selben Jahr am Metropol-Theater herauskam und die in einer abgelegenen Bergwelt spielte. »Schön ist also die Welt nur in der Natur, jenseits von künstlich geschaffenen Lebensräumen, von Urbanität, von gesellschaftlichen Konventionen, den wüsten un­ sauberen Städten, der sozialen Differenzierung, den Sorgen und Ängsten der Weltwirtschaftskrise«, resümiert Wolfgang Jansen, der den Operetten der dreißiger Jahre insgesamt eine »Abkehr von jeglicher Urbanität« attestiert.119 Die Repräsentation Berlins auf der Bühne korrespondierte dem jeweiligen Entwicklungsstand der Stadt. So zeigten die Lokalpossen Mitte des 19.  Jahrhunderts eine aufstrebende Großstadt, die in vielem noch provinziell war und in der die Ansichten und der Geschmack des Bürgertums den Ausschlag gaben. Die Jahresrevuen dagegen richteten sich an ein sehr viel heterogeneres Publikum, das sie direkt ansprachen und dem sie auf immer wieder neuen Stadtrundgängen die Veränderungen und Neuerungen Berlins vor Augen führten. Dass Berlin sich in ihnen geradezu prahlerisch selbstbewusst und welt­städtisch gab, enthüllt, wie stark die Stadt damals auf der Suche nach einer Gegensätze überbrückenden und die widersprüchlichen Teile der Stadt verbindenden Identität war. Zu keiner anderen Zeit trug die Bühne mehr zum Prozess der inneren Urbanisierung bei. Wie die Massenpresse, die über Berichte ebenso wie über Anekdoten aus dem Alltagsleben die Berlinerinnen und Berliner lehrte, wie man sich in der Metropole zurecht fand, führte das am Massen­publikum ausgerichtete Theater seinen Zuschauerinnen und Zuschauern vor, wie man sich im Großstadtbetrieb verhielt, wie man sich kleidete, wie man sprach, welche Vergnügungsstätten man besuchte – kurz, wie man ein richtiger Großstadtmensch

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Vgl. Berg, ›Det Jeschäft ist richtig!‹; Dömeland, Grosses Schauspielhaus, Berlin. Vgl. Benatzky u. a., Im weißen Rößl. Vgl. Jansen, Schön ist die Welt!, S. 222. Jansen, Schön ist die Welt!, S. 225.

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wurde.120 Es tat dies auf vielfältige Weise: indem es die Großstadt auf der Bühne reproduzierte, indem es Geschichten über die Großstadt erzählte und indem es Großstadtszenen nachstellte, in denen typenhafte Großstadtmenschen – Fabrikanten und Lebemänner, Prostituierte und Damen der Gesellschaft, Adelige und Ladenmädel – auftraten. Berlin spielte dabei die Hauptrolle, aber schon um deren Weltläufigkeit und Weltgewandtheit, ihre Konkurrenzfähigkeit gegenüber anderen, älteren Metropolen zu demonstrieren, war es notwendig, die weite Welt auf die lokale Bühne zu holen.

2.4 Kosmopolitismus: Die Welt auf der Bühne Das Theater einzelner Städte, Regionen und Länder war nie völlig in sich und von anderen Nationen abgeschlossen. Bereits in der frühen Neuzeit gab es europaweit reisende Theatergruppen. Doch erst die Kommerzialisierung des Theaters im 19. Jahrhundert und die mit ihr einhergehende ständig wachsende Nachfrage nach neuen Stücken führte, unterstützt von der Mobilitätsrevolution im Zeichen des Dampfes, zu einer durchgreifenden Transnationalisierung. Sichtbar wurde diese bereits an äußerlichen Dingen wie der Theaterarchitektur, die ungeachtet mancher regionaler und nationaler Besonderheit durch und durch europäisch war. Das Metropol-Theater beispielsweise wurde von einem in Wien ansässigen und in ganz Mitteleuropa operierenden Architektenbüro entworfen, das dabei Stilformen aus bereits existierenden Theaterhäusern aufgriff. So war die Freitreppe eine verkleinerte Kopie der berühmten Treppe in der Pariser Opéra Garnier während das Promenoir dem Londoner Empire Theatre of­ Varieties entlehnt war.121 Auch der Theaterbetrieb entwickelte sich zu einem grenzüberschreitenden Geschäft. Waren noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts viele Theater Fami­ lienbetriebe gewesen, gab es um die Jahrhundertwende bereits die ersten transnational operierenden Theaterkonzerne. Ehe Richard Schultz das Theater Unter den Linden übernahm und auf Erfolgskurs brachte, hatten dessen Besitzer Gespräche mit dem britischen Theaterunternehmer George Edwardes geführt, der in London verschiedene Bühnen und Varietés führte. Nur aufgrund des Widerstands Londoner Aktionäre, die Edwardes’ uneingeschränkte Aufmerksamkeit für die ihm anvertrauten Theater verlangten, kam diese Verbindung nicht zustande.122 Den umgekehrten Weg schlugen 1912 Schultz und Jentz ein. Um ihre bestehende Aktiengesellschaft nochmals zu vergrößern, gründeten sie unter 120 Zum Beitrag der Massenpresse zur inneren Urbanisierung vgl. Fritzsche, Als Berlin zur Weltstadt wurde. 121 Vgl. Hoffmann, Die Theaterbauten, S. 54. 122 Vgl. Gaiety Theatre Company, Limited, in: The Era, 3.9.1892, S. 9; City Notes, in: National Observer, 3.11.1894, S. 634.

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dem Namen Metropole Palace Company Ltd. eine englische Aktiengesellschaft mit einem Aktienkapital von sechs Millionen Schilling (etwas über sechs Millionen Mark), die sie allerdings aufgrund inzwischen eingetretener wirtschaftlicher Schwierigkeiten bereits im nächsten Jahr wieder liquidierten.123 Obwohl es sich beides Mal um äußerst kurzlebige Episoden handelte, zeigen diese doch, in welch internationalen Dimensionen Theaterunternehmer bereits vor dem Ersten Weltkrieg dachten. Theaterunternehmer waren allerdings nicht die einzigen, die dazu beitrugen, dass die Vergnügungskultur transnationaler und kosmopolitischer wurde. Aufgrund zunehmender grenzüberschreitender Wirtschaftsbeziehungen und eines expandierenden Tourismus bildete sich ein »homogenes Weltstadt-Publikum« heraus – oder zumindest meinte Siegfried Kracauer dies zu beobachten.124 In der Tat war Berlin bereits in den 1890er Jahren mit rund einer halben Million Touristen die meistbesuchte Stadt Deutschlands. Während der folgenden Jahrzehnte nahm ihr Anteil weiter zu: um 1900 betrug er eine, 1913 1,4 Millionen. Mitte der 1920er Jahre kamen jährlich mehr als anderthalb Millionen Besucherinnen und Besucher nach Berlin, davon im Schnitt etwas über ein Zehntel aus dem Ausland.125 An erster Stelle jedoch rangierten durchweg Besucherinnen und Besucher aus anderen deutschen Regionen. Kein Theater zielte mehr auf diese Klientel ab als das Metropol-Theater. Die Jahresrevuen mit ihrem Rundreiseschema, das die Sehenswürdigkeiten von Berlin und die Ereignisse und Moden der zurückliegenden zwölf Monate dramatisierte, streichelten nicht nur das Berliner Gemüt, sondern übten eine große Anziehungskraft auf Touristen aus. So schob der Schriftsteller Edmund Edel den »Mißstand […] ideenloser Revuebilder« auf die »Provinzialen, bei denen es ein heiliges Vermächtnis zu sein scheint, gelegentlich ihres Berliner Aufenthalts diese leichteste aller Theaterkost zuerst zu sich zu nehmen«.126 In den Augen des Kritikers Walter Turszinsky boten die Jahresrevuen »für das Reisepublikum das richtige Futter«, da sie »all die Reize der Großstadt«, wegen derer die Provinzler nach Berlin kamen, in höchster Konzentration aufwiesen.127 Dass Fedor von Zobeltitz bei einer Veranstaltung im Metropol-Theater viele Zuschauer Französisch und Englisch reden hörte und auch Besucherinnen und Besucher aus Italien und sogar aus Japan den Weg hierher fanden, deutet darauf­hin, dass es neben den ›Provinzlern‹ auch viele ausländische Gäste 123 Kassenerfolg im Metropol. Die Gründung des Metropolpalastes, in: Berliner Morgenpost, 2.5.1912; Ladon, Kaiserhof-Passage, in: Die Zukunft 79 (1912), S. 303–306; Eine neue Metropolpalast-Transaktion, in: Das Organ der Variétéwelt, 20.12.1913, S. 11 f.; Der Ankauf des Berliner Metropolpalastes, in: ebd., 28.12.1913, S. 13; vgl. auch Hahn, MetropolTheater, S. 101. 124 Kracauer, Kult der Zerstreuung, S. 313. 125 Vgl. die Angaben zum Fremdenverkehr im Statistischen Jahrbuch der Stadt Berlin. 126 Edel, Neu-Berlin, S. 54. 127 Turszinsky, Berliner Theater, S. 124.

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anzog.128 In der Nachkriegszeit wurden sich schließlich auch die städtischen Behörden des ökonomischen Potentials des Fremdenverkehrs bewusst, das die Unternehmer bereits längst erkannt hatten. So schrieb Karl Vetter, der Chefredakteur und Leiter der Presse- und Werbe-Abteilung des Fremdenverkehrsamts Berlin, 1928 im Programmheft einer Haller-Revue einen Artikel, in dem er diese als Attraktion der Stadt apostrophierte: »Noch jeder, der der Parole ›Jeder einmal in Berlin‹ gefolgt ist, hat die Abendunterhaltung der Millionenstadt gesucht«.129 Indem er einen Beitrag zum Programmheft eines Revue-Theaters beisteuerte, erkannte Vetter die Bedeutung der Theater für den Fremdenverkehr an. Umgekehrt nützte die Werbekampagne »Jeder einmal in Berlin« den Theatern, indem sie ihnen neue Zuschauerinnen und Zuschauer zuführte. Am deutlichsten wurde der Kosmopolitismus des Theaters aber an der Zusammensetzung des Personals. Auch dahingehend tat sich das Metropol-­ Theater hervor. Sein Direktor Richard Schultz stammte – wie Max Reinhardt und etliche weitere Berliner Direktoren – aus Wien, wo er als Schauspieler angefangen hatte, um sich dann Stufe für Stufe zu einem der erfolgreichsten, auf jeden Fall aber reichsten Theaterdirektoren der Vorkriegszeit hochzuarbeiten. Aus Österreich kamen auch die beiden Stars seines Theaters: Fritzi Massary, die ihren Aufstieg zur Operettendiva am Metropol-Theater begann und beschloss, ehe sie 1933 über Großbritannien in die USA emigrieren musste, und Joseph­ Giampietro, der das Metropol-Theater sogar Max Reinhardts Deutschem Theater vorzog.130 Zu dem kosmopolitischen Ensemble gehörten auch drei Briten, allen voran Will Bishop, der an verschiedenen Londoner Theatern und Music Halls als Tänzer und Choreograph gearbeitet hatte, ehe er 1911 nach Berlin kam, um Ballettmeister am Metropol-Theater zu werden. Bereits 1909 hatte Richard Schultz die Schauspielerin Madge Lessing und ihren Partner Fritz Wright engagiert, nachdem er sie in einer Operette in der Pariser Music Hall Olympia gesehen hatte.131 Daneben standen am Metropol-Theater die Amerikanerin Edith Whitney und die Französin Betty Darmand auf der Bühne.132 Nach dem Krieg 128 Zobeltitz, Chronik der Gesellschaft, 1. Bd., S. 232; Giovanni Boglietti, Berlino. Impressioni, Nuova Antologia di Scienze, in: Lettere ed Arti 165 (1899), S. 3–32; Sazanami, Berliner Tagebuch, S. 58. 129 Karl Vetter, Die Revue im Weltstadtprogramm, zit. nach Jansen, Glanzrevuen der Zwanziger Jahre, S. 91. 130 Vgl. Das Kleine Journal, 1.5.1911; Guest, Ballet in Leicester Square, S. 118; Freund, Aus der Frühzeit; Dora Duncker, Das Metropoltheater und die Berliner Revue, in: Bühne und Welt 10 (1907/08), Nr. 1, S. 45–54. 131 Vgl. Turszinsky, Berlin, S. 18; The Drama in Berlin, in: The Era, 10.4.1909, S. 21; Vossische Zeitung, 25.4.1909; Berliner Morgenpost, 18.9.1910; Das Kleine Journal, 1.5.1911; vgl. auch Freund, Aus der Frühzeit; Who was Who in the Theatre, Bd. 4, S. 2628. 132 Vgl. Das Kleine Journal, 1.5.1911; Guest, Ballet in Leicester Square, S. 118; Freund, Aus der Frühzeit; Dora Duncker, Das Metropoltheater und die Berliner Revue, in: Bühne und Welt 10 (1907/08), Nr. 1, S. 45–54, hier S. 52; Edith Whitney Married?, in: New York­ Times, 16.3.1910, S. 9.

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waren es vor allem die Tiller Girls, die die weite Welt verkörperten. Meist wurden sie mit den USA assoziiert, obwohl die erste Gruppe dieses Namens aus Großbritannien stammte und die meisten Berliner Tiller Girls aus Deutschland kamen.133 In den nicht an die Sprache gebundenen Bereichen Musik und Tanz waren internationale Karrieren einfacher und daher noch üblicher. So war es für Komponisten, Musiker und Musikerinnen bereits um 1900 selbstverständlich, dass sie einige Zeit im Ausland zubrachten. Das belegen etwa die Lebensläufe der Dirigenten und Hauskomponisten des Metropol-Theaters: Julius Einödshofer war Wiener und hatte an verschiedenen österreichischen Theatern gearbeitet, bevor er 1892 nach Berlin kam; Victor Hollaender stammte aus Schlesien und kam über Anstellungen in Hamburg, Budapest, Marienbad, Milwaukee, C ­ hicago und London ans Metropol-Theater.134 Selbst ein so zutiefst mit Berlin verwachsener Komponist wie Paul Lincke zog nach seinen ersten großen Erfolgen am Apollo-Theater für zwei Jahre nach Paris, um dort das Orchester der Folies­ Bergère zu leiten.135 Noch umfangreicher als der personelle Austausch war der Im- und Export von Stücken. Bis um 1900 dominierte Paris die europäische Theaterwelt – ablesbar an der verbreiteten Polemik gegen die »friedliche französische Invasion« und die »Franzosenherrschaft auf der Bühne«.136 Das Metropol-Theater etwa führte nicht nur 1898 Die kleinen Michus (Les p’tites Michu) von André Messager auf, Hausautor Julius Freund schuf auch etliche Bearbeitungen nach Pariser Vorlagen.137 Diese konnten allerdings ein juristisches Nachspiel nach sich ziehen, wie im Fall von Durchlaucht Radieschen, von dem der deutsche Verleger Georges Feydeaus meinte, es beruhe auf dessen Stück La duchesse des F ­ olies­ Bergère. Der nachfolgende Gerichtsprozess ging durch drei Instanzen und endete 1906 vor dem Reichsgericht, dem obersten Straf- und Zivilgericht des Deutschen Reiches, dessen Urteil – ein Freispruch für Freund – bis heute im Urheberrecht als Präzedenzfall zitiert wird.138 133 Vgl. Jansen, Glanzrevuen der Zwanziger Jahre, S.  121–123; Jelavich, Berlin Cabaret, S. 175–185; Fleig, Tanzmaschinen; Lehne, Massenware Körper. 134 Vgl. Hollaender, Von Kopf bis Fuß, ins. S. 7–9, 30 f., 43 f.; vgl. auch Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration, Bd. 2, S. 565; Kühn, Victor Hollaender; Lareau, Victor Hollaender. 135 Vgl. Kiaulehn, Berlin, S. 238 f.; Born, Berliner Luft, S. 73–80; Schneidereit, Paul Lincke, S. 38, 46. 136 Heinrich Stümcke, Von den Berliner Theatern 1899/1900, in: Bühne und Welt 2 (1899/1900), Nr. 1, S. 124–126, hier S. 124; ders., Von den Berliner Theatern, ebd. 5 (1903/04), Nr. 1, S. 122–124, hier S. 124. 137 Vgl. Freund, Aus der Frühzeit; beispielsweise die Operette Die verkehrte Welt nach Le Royaume des femmes von Ernest Blum und Paul Ferrier. 138 Zu den Begriffen der ›Bearbeitung‹ und der ›freien Benutzung‹ eines Werkes im Sinne der §§ 12 und 13 des Urheberrechtsgesetzes vom 19.  Juni 1901, in: Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen 63 (1906), S. 158–160.

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Abb. 10: Die Geisha von 1897

Paris war allerdings nicht der einzige Exporteur von Theaterstücken und bekam zunehmend Konkurrenz von anderen Städten. Wien gehörte schon lange zu den produktiven Metropolen im Bereich des Theaters. Das Metropol-Theater etwa spielte 1898 die Operetten Die Blumen Mary von Carl Weinberger.139 Relativ neu unter den Exporteuren im Bereich des populären Musiktheaters war Großbritannien. Nachdem die Operetten von Gilbert und Sullivan – mit Ausnahme von Der Mikado – auf dem Kontinent weitgehend ignoriert worden waren, öffnete Die Geisha in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts diesen Markt für Musical Comedies. Die Geisha, die von den Abenteuern einiger Briten in einem Fantasiejapan erzählte, hielt sich in Berlin über mehrere Jahre hinweg auf dem Spielplan und erreichte am Ende über 1.000 Aufführungen, womit sie eine der erfolgreichsten Operetten der Vorkriegszeit gewesen sein dürfte (siehe Abb. 10).140 139 Vgl. Metropol-Theater, 1898–1907, LAB A Pr. Br. Rep. 030-50 Nr. 714; Freund, Aus der Frühzeit. 140 Vgl. Schneidereit, Berlin, wie es weint und lacht, S. 141.

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Auf sie folgten dann Adaptionen einer Reihe weiterer Musical Comedies.141 1900 zeigte das Central-Theater mit Die Schöne von New-York (The Belle of New York) von Gustave Kerker die erste amerikanische Operette, die in Europa für Furore sorgte – und dass, obwohl sie zuvor am Broadway durchgefallen war.142 Ihr Erfolg war so groß, dass Richard Schultz bei Kerker sogleich eine Operette für das Metropol-Theater in Auftrag gab.143 Berlin importierte jedoch nicht nur, sondern entwickelte sich immer mehr zu einem der wichtigsten Exporteure. Das begann bereits mit Eine tolle Nacht, dem Stück, mit dem Richard Schultz sich am Central-Theater für Größeres empfohlen hatte. Die Kunde von seinem Erfolg drang bis zu George Edwardes in London, der sich sogleich die Rechte an dem Stück sicherte und es unter dem Titel The Circus Girl herausbrachte.144 Bedeutendes Ausmaß erreichte der Export in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg in Folge des sensationellen weltweiten Erfolgs von Franz Lehárs Operette Die lustige Witwe, die manchen Berechnungen zufolge bis zum Mai 1909 18.000 Aufführungen in 442 deutschen, 135 englischen und 154 amerikanischen Städten erlebte.145 Plötzlich gab es eine Nachfrage nach deutschsprachigen Operetten, von denen nicht nur Wiener, sondern auch Ber­ liner Komponisten profitieren. An erster Stelle ist dabei Jean Gilbert zu nennen, dessen Operette Die keusche Susanne, 1911 in Berlin uraufgeführt, noch im selben Jahr in Wien, 1912 in Budapest, London und New York und 1913 in Paris zu sehen war.146 Ähnlich weite Verbreitung fanden auch seine nächsten Werke: Der liebe Augustin, Autoliebchen und Die Kino-Königin, die ihre Premiere 1913 am Metropol-Theater feierte und im folgenden Jahr gleichzeitig in Paris, London, Budapest und New York anlief.147 1914 liefen sogar gleich an vier Theatern im Londoner West End Operetten von Berliner Komponisten. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges kam es sofort zu einer völligen Einstellung des Austausches. Stücke von Autoren und Komponisten aus Feindstaaten verschwanden überall vom Spielplan. Im Nachhinein aber erwies sich der Krieg als eine vorübergehende Unterbrechung des transnationalen Kulturaustausches. Bereits 1920 forderte der britische Impresario Albert de Courville in der Times, den Boykott deutscher Stücke aufzuheben.148 Im folgenden Jahr 141 A Greek Slave (Ein griechischer Sklave), San Toy (San Toy), A Chinese Honeymoon (Chinesische Flitterwochen), The Silver Slipper (Der silberne Pantoffel), alle zwischen 1899 und 1903 am Central-Theater. 142 Vgl. Central-Theater, 1898–1904, LAB A Pr. Br. Rep. 030-05 Nr. 477. 143 Die oberen Zehntausend, LAB A Pr. Br. Rep. 30-05-02 Nr. 4433; vgl. auch Amerikanische Operette von Julius Freund Musik von Gustav Kerker, in: Vossische Zeitung 25.4.1909. 144 Vgl. Hollingshead, ›Good Old Gaiety‹, S. 73; Hyman, The Gaiety Years, S. 90–92; Gänzl, The Encyclopedia, S. 274 f.; es war auch am Broadway zu sehen und wurde noch 1927 verfilmt, http://www.imdb.com/title/tt0138138/ [17.09.2015]. 145 Hyman, The Gaiety Years, S. 91, Gänzl, The Encyclopedia, S. 903–906. 146 Gänzl, The Encyclopedia, S. 766–768. 147 Ebd., S. 855–856, 62–62, 774–775. 148 Vgl. Leserbrief, in: The Times, 8.4.1920, S. 8.

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kam Wenn Liebe erwacht von Eduard Künneke in London heraus, gefolgt von weiteren sechs Operetten.149 Vor allem zu Beginn der dreißiger Jahre schwelgte die europäische Theaterwelt wieder in Berliner Operettenkonfektion. Lehárs späte Operette Das Land des Lächelns, das Fritzi Massary-Vehikel Eine Frau, die weiß, was sie will (beide am Metropol-Theater uraufgeführt) liefen ebenso in Paris, London und New York wie das Alpenspektakel Im weißen Rössl.150 Parallel dazu kamen nun vermehrt amerikanische Ensembles und Stücke, vor allem aber amerikanische Musik- und Tanzstile nach Europa, wie Cakewalk, Onestep, Twostep, Charleston, Foxtrott oder Tango.151 Das Theater, stets bemüht, die eigene Aktualität zu beweisen, indem es sich die neuesten Moden einverleibte, griff diese Stile bereitwillig auf. Insbesondere die Operette diente »als ›Sammelbecken‹ aller bis zum jeweiligen Erscheinen des Werkes vorhandenen Modetänze« und trug dadurch wesentlich zu ihrer Popularisierung bei.152 So brachte das Metropol-Theater 1913 Die Tangoprinzessin von Jean Gilbert heraus, die jedoch, abgesehen von dem Lied Ich tanz so gerne Tango, weiter wie gewohnt im Walzertakt komponiert war.153 In der Zwischenkriegszeit wurde es dann gang und gäbe, dass Jazz-Bands auf der Bühne standen, sogar in einem Stück wie Im weißen Rössl, das im Salzkammergut in der K.u.K.-Zeit angesiedelt war. Bald wurde deshalb allerorten besorgt eine »amerikanische Invasion« beklagt.154 Tatsächlich jedoch war der transatlantische Kulturaustausch nun bloß nicht länger mehr eine Einbahnstraße. Nicht zuletzt machte das populäre Theater die weite Welt auch in den gezeigten Stücken zum Thema. Sogar in den um Berlin kreisenden Jahresrevuen des Metropol-Theaters kam stets mindestens eine ausländische Figur vor. Allerdings war es deren hauptsächliche Aufgabe, Berlins Stellung als kosmopolitische Metropole zu unterstreichen. Das klang bereits in der Posse Eine tolle Nacht an, in der der Fabrikant Pieper bekannte, er habe »schon viel soupiert, mit Pariserinnen, Engländerinnen, Spanierinnen, geradezu entzückend, doch mit keiner so gemüthlich, so nett, als mit der Berlinerin«.155 In Halloh, die große Revue von 149 Vgl. Die Frau im Hermelin (The Lady of the Rose) von Jean Gilbert, Der letzte Walzer (The Last Waltz) von Oscar Straus, Der Vetter aus Dingsda (The Cousin from Nowhere) von Eduard Künneke, Madame Pompadour (Madame Pompadour) von Leo Fall, Der Fürst von Pappenheim (Toni) von Hugo Hirsch, Mädi (The Blue Train) von Robert Stolz, vgl. dazu Gänzl, The Encyclopedia, S. 1587; 491 f., 850 f., 1508 f., 923 f., 800. 150 Vgl. dazu Gänzl, The Encyclopedia, S. 496 f., 489 f., 72 f.; Norton, ›So this is Broadway‹. 151 Vgl. dazu auch die beiden folgenden Kapitel. 152 Hoffmann, Aspekte zur Jazz-Rezeption, S. 81; vgl. auch Wicke, Von Mozart zu Madonna. 153 Vgl. Gilbert, Die Tango-Prinzessin; Gänzl, The Encyclopedia, S.1424. 154 Du Maurier, Gerald, S. 206; Rudolf Pechel, Berliner Theater, in: Deutsche Rundschau 221 (1929), Nr. 4, S. 268–270; Friedrich Wallisch, Amerikanisierung des Theaters, in: Neue Schaubühne 3 (1921), Nr. 6, S. 135 f.; French Playwrights Resent American Invasion, Literary Digest 104 (1930), Nr. 5, S. 27; zu amerikanischen Gruppen in Europa vgl. Naumann, African American Performers; Lareau, Bitte einsteigen!. 155 Eine tolle Nacht, 3. Bild, 2. Szene, LAB A Pr. Br. Rep. 030-05-01 Nr. T 298.

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1909 zeigte sich ein Österreicher »aufs Angenehmste überrascht«: »Ich hab’ Berlin ja immer für ein besseres Staderl gehalten – aber so was – ich bitt’, das ist ja eine reine Metropole!«.156 Und in der gleichen Revue bescheinigte eine Amerikanerin den Spreeathenern: »O yes. Früher hat man nur gekonnt leben in Paris und London, aber jetzt […] jetzt ist Berlin geworden  – Amerikafähig.«157 So schmeichelte Berlin sich selbst, indem es sich ­Figuren vorführte, die ihm schmeichelten. Da dies das Zeitalter des Imperialismus war, wurde die eigene Überlegenheit oft durch Vergleiche mit anderen unterstrichen. In der Jahresrevue Hurra! Wir leben noch von 1910 etwa trat ein Berliner »Saisonlöwe« auf, der nach London gefahren war, um das britische Nachtleben zu studieren. Das aber hatte »[f]abelhaft enttäuscht! Leute haben ja gar keine Ahnung von Nachtleben. Und um Ihnen unsere Ueberlegenheit zu zeigen, habe ich den ersten Snob Londons Mstr. Twostep mit herüber gebracht!« Daraufhin stimmten der Saisonlöwe und Mr Twostep das Berlin-London-Bummelduett an: Saisonlöwe: In Berlin fängt’s Leben an, der rechte Saus und Braus, Wenn die Nacht beginnt, Wenn die Nacht beginnt! Engländer: An der Themse legt man sich in’s Bett und schläft sich aus, Wenn die Nacht beginnt, Wenn die Nacht beginnt! Saisonlöwe: Ja, in der Nacht, da klingt’s und singt’s am grünen Strand der Spree Engländer: Doch in London bei der Nacht Wird die Großstadt zugemacht! Saisonlöwe: Mit den süßen Mädeln trifft man sich im séparé! Beide: An der Themse Mit der Bremse In der Schute kommt die gute Heilsarmee Engländer: Am Themsestrand Nicht amüsant Saisonlöwe: Nur bei den Spreeathenern Lebt es sich pikant! Beim Berliner Snob Die echte Bummelei – Engländer: Lernt der lange Piccadilly – boy!158

Das Klischee, nachts begegne man am »Themsestrand« allenfalls der Heilsarmee, eine »echte Bummelei« sei hier jedoch nicht möglich, war in Berlin beliebt, zeigte es doch die eigene Überlegenheit: London mochte als altein156 Halloh, die große Revue, 5. Bild, 1. Szene, LAB A Pr. Br. Rep. 30-05-02 Nr. 4559. 157 Ebd. 158 Hurra! Wir leben noch!, 3. Bild, 1. Szene, TSFU, NL Julius Freund 97/102/W184.

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gesessene Metropole, Finanzkapitale und Hauptstadt eines globalen Empires bedeutender sein, auf dem Gebiet des Vergnügens hingegen machte es Berlin nichts vor. Dieser Topos findet sich in unzähligen Stadtschilderungen, wobei meistens nicht London, sondern das für seine Vergnügungsindustrie berühmte Paris als Vergleichsobjekt herhielt: »Das Berliner Nachtleben ist erwiesenermaßen mit dem Nachtleben keiner anderen Stadt, selbst nicht mit dem von Paris zu vergleichen, und charakterisiert Berlin einzigartig als Weltstadt«, meinte der in der Einleitung schon zitierte Reiseführer Berlin für Kenner.159 Und in Lebeweltnächte der Friedrichstraße hieß es: »Galt früher Paris als die Stadt des Lichts und des Lasters, als die Geburtsstätte aller illegitimen Freuden, […] so ist man sich heute auf dem ganzen Erdenrund darüber einig, daß die Berliner Nächte das Lockendste bieten.«160 Das Nachtleben wurde hier zum hauptsächlichen Beleg für den Kosmopolitismus Berlins – und offensichtlich bedurfte es dieser Bestätigung, um sich der eigenen Stellung zu versichern. Der geradezu obsessive Zwang, sich mit anderen zu vergleichen und die eigenen Vorzüge herauszustellen, war Ausdruck des Minderwertigkeitsgefühls der ›Parvenupolis‹, wie auch Peter Jelavich meint: »It would hardly have been necessary to provide constant comparisons with Paris, London, and Vienna if the Metropol had been­ confident about the status of Berlin.«161 Obwohl Mr. Twostep vordergründig eine Karikatur auf die puritanischen Engländer war, zielte das Duett eigentlich auf jene ab, die gegen die Berliner Vergnügungsindustrie polemisierten und denen hier beigebracht werden sollte, wie man sich amüsiert. Zur Hochzeit des deutschen Kolonialismus entdeckte das Theater zunehmend auch die außereuropäische Welt als Gegenstand und Schauplatz. In der Jahresrevue von 1907 beispielsweise verkörperten fünf Schauspielerinnen als »Fräulein Südwest-Afrika, Fräulein Ostafrika, Fräulein Kamerun, Fräulein Samoa und Fräulein Kiautschau!« die fünf größten deutschen Kolonien.162 Angeführt wurden sie von einem »Kolonialwarenhändler en gros« namens Bernburg. Gemeint war damit Bernhard Dernburg, seit 1907 Staatssekretär des neugeschaffenen Reichskolonialamtes. Bernburg pries die Kolonien an wie ein Zuhälter seine Dirnen: »Diese biegsamen Figuren, diese feurigen Augen, hier zum Beispiel dieser entzückende Swakopmund! Weiter unten finden Sie schon das tadelloseste Elfenbein! Und dann die landschaftlichen Reize! Hier Flachland, hier Meerbusen! Wälder voller Affen«.163 Weibliche Allegorien von Erdteilen oder Ländern hatten eine lange Tradition. Hier jedoch diente der Bezug auf Geschlechterhierarchien dazu, das ungleiche Machtverhältnis zwischen Deutsch159 Berlin für Kenner, S. 13. 160 Satyr, Lebeweltnächte der Friedrichstraße, S. 7. 161 Jelavich, Berlin Cabaret, S. 112. 162 Das muß man seh’n!, 5. Bild, 5. Szene, LAB , A Pr. Br. Rep. 30-05-02 Nr. 3915. 163 Ebd.

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land und seinen Kolonien zum Ausdruck zu bringen, das massiv sexualisiert wurde – eine Strategie, die sich um 1900 häufig fand. Dank des Erfolgs des Mikados und der Geisha einerseits und politischer Ereignisse wie dem Boxeraufstand und dem Russisch-Japanischen Krieg andererseits, rückte Asien in den Fokus des populären Musiktheaters. Victor Hol­ laender, später Hauskomponist am Metropol-Theater, schrieb 1898 San-Lin, eine im »Chinesenviertel« von San Francisco spielende Oper, und Paul Lincke brachte 1899 am Apollo-Theater eine in Indien angesiedelte Operette mit dem Titel Im Reiche des Indra heraus.164 Ein Höhepunkt des Asien-Exotismus auf der Bühne war Franz Lehárs Operette Das Land des Lächelns, die 1929 am Metropol-Theater uraufgeführt wurde. In ihr spielte Richard Tauber den chinesischen Prinzen Sou-Chong, der  – als Diplomat völlig europäisiert  – die verwöhnte Wiener Grafentochter Lisa heiratete und mit nach China nahm. Dort a­ llerdings blätterte schon bald der europäische Lack ab und Lisa musste feststellen, dass ihr Vater recht hatte, als er ihr prophezeite: »Mein Kind ich warne dich […] Europa und China, das ist wie Feuer und Wasser […] wie Himmel und Hölle […] sei auf der Hut! Mach’ keine Dummheiten, die du später einmal bitter bereuen könntest!«165 Am Ende kehrte Lisa nach Wien zurück und Sou-Chong blieb allein in seinem Palast zurück – die Ordnung war wiederhergestellt. Die populäre Bühne kultivierte und popularisierte existierende Klischees über die außereuropäische Welt, besaß aber mitunter so viel Selbstironie, sich diese Klischees bewusst zu machen und zu verlachen. In der Revue Von Mund zu Mund aus dem Jahr 1926 gab es ein Lied, das auf die Repräsentation Japans in den Operetten der Vorkriegszeit anspielte und doch niemals in einer solchen hätte vorkommen können: O Joshiwara – Futschijama – Futsch O – O – O O Kokolores – Kaliklora – Putsch Mi – ka – do Harakiri – Butterfly Nagasaki – Weiheiweih Nippon – Nippes – Nepp in Tokio Mah-Jongg und Kimono. Ich bin die kleine Muschi-Puschi-Pi, Mein Vater ist ein Meister der Magie, Rings im Land bekannt Als Tschin-Tschin-Tschong. Mach ich pingpangpong auf dieses Gong, Erscheint der Tschin-Tschin-Tschong.166 164 Vgl. Hollaender, San-Lin; Im Reiche des Indra, LAB , A Pr. Br. Rep. 30-05-02 Nr.  650; Born, Berliner Luft, S. 104 f. 165 Léon u. a., Das Land des Lächelns, S. 33. 166 Charell, Von Mund zu Mund, 2. Lied.

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In einer Art abgehackter Baby-Sprache mischen sich hier japanische Begriffe wie »Mah-Jongg«, »Harakiri« und »Kimono« mit geographischen Bezeichnungen wie »Nippon«, »Futschijama« und »Nagasaki« und pseudojapanischen Namen wie »Muschi-Puschi-Pi«, wobei die einzige Gemeinsamkeit darin bestand, dass sie alle an europäische Stereotype über Japan erinnerten, die am Ende als das entlarvt werden, was sie schon immer gewesen waren: »Kokolores«. In der selbstreferentiellen Bezugnahme auf den Mikado und Madama Butterfly erinnerte sich das Theater seiner eigenen Vergangenheit als Erzeuger und Verbreiter solcher Stereotype, die es nun aber durch die monotone Aneinanderreihung infrage stellte, dekonstruierte und aufhob. Es bestand nicht länger auf Authentizität, sondern machte, sich der eigenen Stereotype bewusst geworden, diese selbst lächerlich. Die Klischees existierten fort, aber nur noch ironisch gebrochen waren sie akzeptabel. Als das Große Schauspielhaus im nächsten Jahr den Mikado zeigte, aktualisierte es das Stück dementsprechend auf eine Weise, die von dem japanischen Hintergrund nichts übrig ließ: Wir leben in Europa, wollen weiße Haut und blonde Haare. Also machen wir aus Nanki-Pu, dem Straßensänger, einen jungen Amerikaner. Aus der Prinzessin Yum-Yum und ihren Gespielinnen rosige blondlockige Geschöpfe. Daß sie Japanerinnen sind, steht auf dem Theaterzettel, und der muß genügen.167

Kein Satz brachte deutlicher zum Ausdruck, dass es in der Repräsentation der außereuropäischen Welt immer, zuerst und vor allem um Europa ging. Parallel zur Ironisierung traditioneller Klischees kamen europäische Theater­ besucherinnen und -besucher in der Zwischenkriegszeit verstärkt mit Dar­ stellerinnen und Darstellern aus anderen Ländern in Berührung. »Pariser Apachen, spanische Tänzer, jüdelnde Agenten, eine New-Yorker Jazzband, englische Girls«, solche Aneinanderreihungen ausländischer Attraktionen prägten die zur Übertreibung neigende Werbung für die Revuen ebenso wie die sehr viel kühleren Besprechungen in den Zeitungen.168 Außereuropäische Figuren wie der Prinz Song-Chu in Das Land des Lächelns wurden zwar meist immer noch von gelb oder schwarz angemalten europäischen Schauspielern gespielt, dennoch fanden nun zum ersten Mal in einem größeren Umfang afroamerikanische Schauspielerinnen und Schauspieler, Sängerinnen und Sänger, Musikerinnen und Musiker, Tänzerinnen und Tänzer den Weg nach Berlin. Das bekannteste Beispiel ist Josephine Baker. Während andere schwarze Darsteller sich mitunter einem sogar gewalttätigen Rassismus ausgesetzt sahen, lag ihr ganz Berlin zu ­Füßen: »In Berlin, war es, wo ich die allermeisten Liebesbriefe bekommen habe. Die meisten Blumen und Geschenke«, erinnerte sie sich in ihren 167 Der Mikado. Die Erneuerung im Großen Schauspielhaus, in: Vossische Zeitung, 2.9.1927; vgl. auch Schneidereit, Berlin wie es weint und lacht, S. 248 f.; Jansen, Glanzrevuen der Zwanziger Jahre, S. 168; Berg, ›Det Jeschäft ist richtig‹. 168 Quodlibet. Operette und Revue, in: Vossische Zeitung 1.9.1924.

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Memoiren.169 Dagegen konnte sie im katholisch-konservativen Süden, in München und Wien, aufgrund der Kampagnen selbsternannter Sittenwächter zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr auftreten.170 Die Hochzeit des Metropol-Theaters fiel zusammen mit der Hochzeit des Berliner Unterhaltungstheaters insgesamt. Nie öffneten mehr neue Theater ihre Pforten als in der letzten Dekade des 19. und der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts. Aufgrund der wachsenden Stadtbevölkerung und zunehmender Reallöhne befriedigte das Theater – zusammen mit Zirkus und Varieté – die gestiegene Nachfrage nach Unterhaltung. Stets ein riskantes Geschäft, geriet es in der Zwischenkriegszeit bedingt durch die allgemein schwierige wirtschaftliche Lage zunehmend in Bedrängnis. Die Theaterunternehmer suchten einen Ausweg in Zusammenschlüssen und wirtschaftlicher Konzentration. Wie das Metropol-Theater gehörten die meisten Berliner Theater Anfang der dreißiger Jahre zu einem Trust. Parallel zur wirtschaftlichen Konzentration begann die Verstaatlichung des Theaters. Vor 1914 hatten sich allein die Hoftheater in öffentlicher Hand befunden. Seit der Etablierung des Staatstheaters 1919 stieg die Zahl der kommunal und staatlich betriebenen Theater an. Mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten und dem Reichstheatergesetz von 1934 erreichte die Verstaatlichung einen Höhepunkt und selbst die Theater, die offiziell weiterhin als selbständige Betriebe operierten  – wie das Metropol-Theater  – wurden in Wirklichkeit vom Propagandaministerium kontrolliert.171 Zugleich mussten die seit den Tagen David Kalischs für das Berliner Unterhaltungs­ theater so wichtigen jüdischen Direktoren und Komponisten, Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Schauspielerinnen und Schauspieler entweder ins Ausland fliehen oder sie wurden in Konzentrationslagern ermordet. Damit war das seit Mitte des 19.  Jahrhunderts entstandene kommerzielle Berliner Unterhaltungstheater am Ende. Es hat nur wenige Nachahmer gefunden, denn das in der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus entstandene Staatstheatersystem wurde nach 1945 in beiden Teilen Berlins übernommen. Von einzelnen Ausnahmen abgesehen, verfügt Berlin heute über kein Geschäftstheater mehr. Die Hochzeit des Berliner Unterhaltungstheaters war auch eine Zeit der Identitätssuche, an der das Theater teilhatte. Es warf die Frage auf, was es bedeutete, Berlinerin und Berliner zu sein, und beteiligte sich an ihrer Beantwortung. Dadurch trug es bei zum Prozess der inneren Urbanisierung. Nach dem Ersten Weltkrieg spielte Berlin im Unterhaltungstheater zwar immer noch eine wich169 Artur Michel, Josephine Baker. Die »Memoiren« der schwarzen Tänzerin, in: Vossische Zeitung 1.1.1928. 170 München verbietet Josefine Baker, in: Vossische Zeitung 14.2.1929; Vaterländische Verbände gegen Josefine Baker, ebd. 15.2.1929; vgl. auch Nenno, Femininity, the Primitive, and Modern Urban Space; Lareau, Bitte einsteigen!. 171 Vgl. Kauffmann, Operetta and Propaganda in the Third Reich.

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tige, jedoch eine im Vergleich zur Vorkriegszeit weniger wichtige Rolle. Zugleich wich die optimistisch-fröhliche einer eher sentimental-nostalgischen Repräsentation der Großstadt. Bei der Repräsentation Berlins auf der Unterhaltungsbühne spielte Kosmopolitismus von Beginn an eine wichtige Rolle. Aber es handelte sich um einen zweischneidigen, ambivalenten Kosmopolitismus. Einerseits war das populäre Musiktheater äußerst weltoffen. Es operierte als transnationales Geschäft, es brachte Akteure, Ensembles, Attraktionen und Stücke von überallher in die Metropole, stellte sie aus und machte die Welt – die europäische wie die außereuropäische – zum Thema auf der Bühne. Es schuf damit einen kosmopolitischen Raum in der Metropole, in dem allerdings meist weniger die ferne Welt selbst als Klischees über diese vorgeführt wurden. Stets diente der Kosmopolitismus dazu, etwas über das eigene Gemeinwesen auszusagen. Die internationalen Figuren in den Jahresrevuen des Metropol-Theaters schmeichelten den Berlinerinnen und Berlinern, in dem sie die Weltläufigkeit Berlins unterstrichen und seine Gleichwertigkeit mit anderen, konkurrierenden Städten betonten. Entsprechend mussten Afrika, Japan und China dazu herhalten, die zivilisatorische und kulturelle Überlegenheit Europas über diese Länder zu demonstrieren. Dass dadurch in Abgrenzung gegen das fremde Außen so etwas wie eine geteilte europäische Identität zum Ausdruck kam, lässt sich etwa daran ablesen, dass gerade diese Stücke – der Mikado, die Geisha und Das Land des Lächelns – am leichtesten außerhalb ihres Ursprungslandes Karriere machten. Dieser Kosmopolitismus darf jedoch nicht mit Völkerverständigung verwechselt werden. Mitunter war es gerade der Kosmopolitismus, der in einer Gegenreaktion Abwehr hervorrief und so Engstirnigkeit, Ignoranz und Provinzialismus bloßlegte. Die Invasionsrhetorik, die immer und überall aufkam, sobald ein Land im transnationalen Kulturaustausch eine führende Rolle übernahm, ist dafür das beste Beispiel.

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3. Tanzvergnügen

Im Sommer 1913 veröffentlichte die Zeitschrift Elegante Welt die Sondernummer »Berlin als Fremdenstadt«.1 Die Artikel dieser Ausgabe führten die Reisenden vom Bahnhof kommend »hinein in das große Berlin« und beschrieben im Stile eines Reiseführers die kulturellen Sehenswürdigkeiten und Ausflugsziele, vor allem aber ausführlich »die Vergnügungsmöglichkeiten des Sündenbabels«.2 Unter der Überschrift »Berliner Nächte« konnte man lesen, die Stadt habe sich so stark verändert, dass »jemand, der 5 Jahre von Berlin fort war und heute zurückkehrt, sie gar nicht mehr erkennen würde«. In den folgenden Beschreibungen des nächtlichen Vergnügungsangebotes, die die Schnelligkeit des Berliner Lebens immer wieder hervorhoben, nahmen die vielfältigen Tanzlokale einen zentralen Stellenwert ein. »Drinnen in der Stadt ist inzwischen Hochflut. Alle Tanzlokale sind jetzt gefüllt – viele ziehen dem lauten Palais de danse die intimeren Tanzstätten vor. Tabarin und Moulin Rouge  – ja sogar im Alten Ballhaus ist Hochbetrieb.«3 Die größte Aufmerksamkeit widmete der Artikel dem Palais de Danse im Metropol-Palast, über den es hieß: »Dann kam der große Schlag, die große Wende – die Eröffnung des Palais de Danse. Und das war ein Ereignis so großer Tragweite, daß es das ganze nächtliche Programm über den Haufen warf.«4 (Siehe Abb. 11.) In der Behrenstraße, in unmittelbarer Nachbarschaft zum Metropol-Theater, hatten dessen erfolgreiche Eigentümer Richard Schultz und Paul Jentz 1909/1910 den Metropol-Palast errichtet.5 Ein »weltstädtisches, für die vornehmste Lebewelt bestimmtes Etablissement« war hier entstanden, dessen Größe und Ausstattung die zeitgenössischen Beobachter beeindruckte.6 Neben einem etwa 1.000 Per­ so­nen fassenden Konzertsaal im Erdgeschoss des Gebäudes bot der Metropol-­ Palast seinen Gästen im ersten Stockwerk das Weinrestaurant Pavillon Mascotte und schließlich den Palais de Danse, der über breite Marmortreppen direkt von der Behrenstraße aus durch einen eigenen Barraum zu erreichen war. Von 1 2 3 4 5 6

Berlin als Fremdenstadt, Elegante Welt 24 (1913). Franz Wolfgang Koebner, Ein Tag in Berlin, in: Elegante Welt 24 (1913), S. 6 f. Franz Wolf, Berliner Nächte, in: Elegante Welt 24 (1913), S. 16. Ebd., S.14. Vgl. dazu auch das Kapitel zum Unterhaltungstheater. Der Metropolpalast in der Behrenstraße, in: Die Bauwelt 75 (1911), S. 21. Zum Palais de Danse vgl. auch Geisthövel, Das Tanzlokal, S. 141–150 und Wolffram, Tanzdielen und Vergnügungspaläste, S. 88–95.

Tanzvergnügen

Abb. 11: Der Palais de Danse im Metropolpalast, Anzeige von 1913

23 Uhr bis 2 Uhr am Morgen öffnete der 400 m² große Saal, der mit Marmor­ säulen und Spiegelflächen ausgestattet war, »um die Ueppigkeit des Eindrucks bis an die Grenze des Erreichbaren zu steigern«.7 Rundherum um eine achteckige Tanz­f läche waren zwei bis drei Reihen Tische platziert und ein erhöhtes Podium für die Musiker errichtet worden. »Ueber dem Ganzen liegt die schwere, parfürmierte Luft, durchzittert vom Klange der rhythmischen Two Steps, durchraschelt von bunten Papierschlangen, von wirbelnd schneeigem Konfetti. Eng aneinandergeschmiegt gleiten die Paare vorüber«, fing die Elegante Welt die Stimmung auf einem der Bälle des Metropol-Palastes zur Karnevalszeit 1912 ein.8 Das Orchester des Palais de Danse unter der L ­ eitung des rumänischen Kapellmeistesters Giorgi Vintilescu bot dem Publikum populäre Tanzmusik: Walzer, Polka, Mazurka und zu US -amerikanischer Ragtimemusik und argentinischem Tango auch immer mehr neue, transatlantische Modetänze. »Der Eindruck des in der Mischung der Architektur, der Farben, Lichter, Erscheinungen und Bewegung unvergleichlichen Bildes ist mit der bleibendste, den man aus Berlin mitnehmen kann«, urteilte der Reiseführer Berlin für Kenner 1912. »In diesem herrlichen Rahmen feiert die Berliner Lebewelt alle Abende ihre mondainen Feste. (…) Ber7 Der Metropolpalast in der Behrenstraße, in: Die Bauwelt 75 (1911), S. 21. 8 Franz Wolfgang Koebner, »Die Bälle der Behrenstraße. Metropol – Palais de Danse, in: Elegante Welt 8 (1912), S. 10.

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lin bei Nacht erreicht hier seinen raffinierten und luxuriösen Höhepunkt.«9 Mit einer solchen Ausstattung wurde der Palais de Danse nicht nur zu einem der bekanntesten Tanzsäle im Berlin der Vorkriegszeit, sondern mit einem Eintrittspreis von 5 Mark und Sektpreisen von bis zu 20 Mark auch zu einem der exklusivsten Orte, dessen Renommee von der Prominenz der Gäste profitierte. Hier vergnügte sich das wohlhabende Publikum Berlins, darunter Schauspielerinnen wie die am Metropol-Theater engagierte Fritzi Massary oder das international erfolgreiche Tanzpaar Adelaide and Hughes aus den USA, die sich unter die Tanzpaare mischten.10 Auch »die großen Kokotten« Berlins konnte man hier antreffen: »Sie sitzt im vollen Brillantenschmuck und in kostbarer ausgesuchter Toilette wie eine Fürstin in diesen Lokalen und bietet sich nicht an«, so der Berlin-Reiseführer, der damit die Anziehungskraft des Ortes noch zu unterstreichen wusste.11 Der Werbeslogan des Metropol-Palastes in den Anzeigen der Tagepresse  – »Metropol-Palast. Die größte Sehenswürdigkeit Berlins. Treffpunkt aller Fremden« – war nicht ohne Grund an Touristen und an ein internationales Publikum adressiert.12 Das Metropol-Theater und der Metropol-Palast waren exemplarisch für die großen Etablissements, die die Vergnügungskultur von Berlin um 1900 prägten und nicht nur den Berlinerinnen und Berlinern ein glamouröses Programm boten, sondern vor allem auch nach außen als Aushängeschilder der Stadt dienten. Berlin als Weltstadt konnte man nicht nur auf der Bühne des Metropol-Theaters, sondern auch gleich nebenan im Palais de Danse erleben. Mit den US -amerikanischen Ragtimetänzen und dem argentinischen Tango wurden die Tanzenden hier selbst zu einem Element einer großstädtischen Kultur, die sich gerade durch ihre vielfältigen Austauschbeziehungen über die Grenzen Berlins hinaus konstituierte und zwischen den Metropolen zirkulierte. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges war der Palais de Danse sicherlich einer der schillerndsten Orte des Berliner Tanzvergnügens. Bis zur Zerstörung des Gebäudes während des Zweiten Weltkriegs blieb die Geschichte des Metropol-Palastes jedoch wechselhaft. In den 1920er Jahren büßte auch dieser Tanzsaal aufgrund der Verlagerung des Vergnügungslebens in den Westen der Stadt einiges an seiner Attraktivität ein. Zwar bescheinigte ein Berlin-Reiseführer 1927 dem Pavillon Mascotte, »eine der schönsten Tanzstätten Europas« zu sein, der Palais de Danse jedoch verlor sein Publikum vor allem an die neu eröffneten Tanzsäle im Berliner Westen.13 Unter verschiedenen Namen und Besitzern versuchte man in den folgenden Jahren immer wieder an die erfolgreichen Anfänge anzuknüpfen. Aus dem Palais de Danse wurde von 1928 bis 1930 beispielsweise das Alcazar, das ambitioniert Varieté, Kino und Tanzpalast unter einem Dach 9 Berlin für Kenner, S. 171 f. 10 Franz Wolfgang Koebner, »Die Bälle der Behrenstraße. Metropol – Palais de Danse, in: Elegante Welt 8 (1912), S. 11. 11 Berlin für Kenner, S. 170. 12 Berliner Lokalanzeiger, 5.6.1913. 13 Szatmari, Das Buch von Berlin, S. 141 f.

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vereinte und schließlich seit 1934 das Atlantis, welches sich im Verlauf der 1930er Jahre mit immerhin 2350 Plätzen und bekannten Tanzorchestern noch einmal als Ballhaus etablieren konnte.14 Die Szenen aus dem Palais de Danse in seiner Glanzzeit öffnen jedoch den Blick für das Tanzvergnügen in Berlin, das um 1900 auf vielfältige Weise den Wandel der Vergnügungskultur der Großstadt und die transnationalen kulturellen Bezüge der Weltstadt Berlin spiegelte. Das folgende Kapitel wird, mit einem zeitlichen Schwerpunkt auf den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, Tänze und Tanzlokale beleuchten und dabei vor allem die Reaktionen auf die Ankunft neuer transatlantischer Tanzformen in den Mittelpunkt stellen. US -amerikanische Ragtimetänze und der argentinische Tango eröffneten den Berlinerinnen und Berlinern die Möglichkeit der Erfahrung und Aneignung des Weltstadtvergnügens. Zugleich zeigte sich in der kosmopolitischen Dimension der Vergnügungskultur jedoch auch eine Herausforderung: Entlang der neuen Tänze wurden kulturelle und moralische Neuordnungen im Inneren sowie auch die Repräsentation der Stadt nach außen verhandelt.

3.1 Von Rixdorf zur Friedrichstraße: Berliner Tanzlokale im Wandel Auf den Sonntag freu ich mir ja dann geht es raus zu ihr feste mit vergnügtem Sinn Pferdebus nach Rixdorf hin. Dort erwartet Rieke mir ohne Rieke kein Plaisir Rieke Riekchen Riekake die ist mir nicht po-pa-pe. Geh mit ihr ins Tanzlokal Rieke, Riekchen woll’n wir mal? kost’n Groschen nur für die ganze Tour.15

In Rixdorf ist Musike hieß eines der bekanntesten Tanzlieder Berlins, das als Rixdorfer in der Version des Komikers Littke-Carlsen zu einer der populärsten Melodien Berlins wurde. Freizeit und Tanzvergnügen, so klingt es in diesen Zeilen an, gehörten für die Bevölkerung untrennbar zusammen. An den Wochenenden und zu festlichen Anlässen, in den Sommermonaten und besonders zur Karnevalssaison, waren Tanzveranstaltungen ein selbstverständlicher Teil des geselligen Beisammenseins. Anlässe, Orte und Tänze konnten jedoch höchst unterschiedlich sein. Zwischen den einfachen Tanzböden, die die Ber14 Wolffram, Tanzdielen und Vergnügungspaläste, S. 92. 15 »In Rixdorf ist Musike«, Musik Eugen Philippi, Text Oskar Klein. Berlin 1895. Vgl. Richter, Der Berliner Gassenhauer, S. 448.

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linerinnen und Berliner im 19. Jahrhundert am Wochenende an den Stadtrand lockten, und der Eröffnung des glamourösen Palais de Danse im Metropol-­ Palast in der Nähe der Friedrichstraße, hatte sich ein breites Angebot verschiedenster Tanzveranstaltungen und Tanzlokale für ein heterogenes Großstadtpublikum herausgebildet. Soziale Grenzziehungen strukturierten den urbanen Raum und trennten das Zentrum vom Stadtrand. Das Repertoire der Tänze, die Organisation und die Ordnung von Veranstaltungen sowie vor allem die Frage nach dem Wandel des Tanzvergnügens sind daher Teil einer Kulturgeschichte der Stadt. Bevor die Gegend rund um die Friedrichstraße zum Mittelpunkt der Vergnügungskultur wurde, fand das populäre Tanzvergnügen lange Zeit in den Berliner Vororten statt. Rund um den Kreuzberg, entlang der Hasenheide, am Halensee oder an den Ufern der Spree, gehörten im 19. Jahrhundert vor allem in den Sommermonaten zahlreiche Tanzlokale oder Tanzböden im Freien zu den beliebten Ausflugszielen, an denen Musikkapellen aufspielten.16 Der Reiseführer Berlin für Kenner führte den Berlinbesucher an diese Orte, an denen man »ein typisches Berliner Sonntagsbild« kennenlernen konnte, und beschrieb die einfachen Tanzsäle in den Vororten: »In ihnen tanzt des Sonntags nicht nur die Berlinerin, die ›Samstags ihren Besen führt‹, sondern es tanzt all das junge Volk, das in der Woche hinter dem Ladentisch steht oder hinter der Schreibmaschine sitzt.«17 Zugleich fand sich in den Berliner Arbeiterstadtvierteln, im Wedding, in der Stralauer Vorstadt oder in Rixdorf ein dichtes Netzwerk von Vergnügungsmöglichkeiten, das der dortigen Bevölkerung einen Ausgleich zu den harten Arbeitsbedingungen bot. Hier gab es kleine Kinos, Theater und Tanzlokale sowie eine große Anzahl von Wirtshäusern, die aufgrund der engen Wohnverhältnisse in den Mietskasernen rege genutzt wurden.18 Hans Ostwald widmete diesen einfachen Tanzlokalen eine eigene Ausgabe der Großstadt-Dokumente, die er mit den Worten einleitete: »Was dem Berliner Leben eine besondere Note zuführt, ist das Bestehen der vielen Tanz- und Ballsäle. Jeder Stadtteil hat seine eigenen Tanzlokale, in jedem Vorort laden mehrere ›Etablissements‹ mehrmals wöchentlich zum Tanz ein.«19 (Siehe Abb. 12.) Diese kleineren Tanzlokale 16 Jansen, Das Varieté, S. 23. Vgl. dazu auch das Kapitel zur Populärmusik. 17 Berlin für Kenner, S. 138. 18 Vgl. beispielsweise für die populäre Kultur des Arbeiterstadtviertels Berlin Friedrichshain: Hochmuth/Niedbalski, Kiezvergnügen in der Metropole; allgemeiner zur Arbeiterkultur mit einem Schwerpunkt auf dem Ruhrgebiet, Kift, Kirmes – Kneipe – Kino. 19 Ostwald, Berliner Tanzlokale, S. 3. Zwischen 1904–1908 gab der Berliner Journalist und Schriftsteller Hans Ostwald (1873–1940) unter dem Obertitel »Großstadt-Dokumente« insgesamt 51 Bücher heraus, in denen bekannte Autoren wie beispielsweise Magnus Hirschfeld, Julius Bab oder Max Winter den Alltag und die populäre Kultur von Berlin (und einigen anderen europäischen Großstädten) schilderten und sich dabei oftmals den sozial marginalisierten Bevölkerungsgruppen widmeten; vgl. dazu Fritzsche, Vagabond in the Fugitive City; Thies, Ethnograph des dunklen Berlin.

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Abb. 12: Heinrich Zille, Ball in der Kaschemme, um 1906

nahmen häufig kein Eintrittsgeld. Ein Tanzmeister sammelte in der Mitte der Tanzfläche nach jedem Tanz 10 Pfennige von den Herren ein und die Tanz­ kapellen spielten zu Walzer und Polka auf. Die Veranstaltung von Tanzbelustigungen fiel in Berlin unter die Aufsicht der Gewerbe-Polizei, die hierfür allgemeine Berechtigungen ausgab. Paragraph 1 der Polizei-Verordnung legte seit 1851 fest: »Ohne ausdrückliche Erlaubniß des Königlichen Polizei-Präsidiums darf keine öffentliche Lustbarkeit irgend einer Art (Ball, Tanzmusik, Redoute, Maskerade, Concert, Theater und Aehnliches) veranstaltet werden.«20 Die Vergabe einer solchen Erlaubnis regelte Paragraph 33c der Gewerbeordnung des Deutschen Reichs, der die Zulassung öffentlicher Tanzlustbarkeiten an detaillierte Bestimmungen zurückband: Die Größe des 20 Polizei-Verordnung über öffentliche Lustbarkeiten. Berlin, den 10. Juli 1851. LAB , A. Pr. Br. Rep. 030, Nr. 12205.

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Veranstaltungsortes, der Feuerschutz und auch die »sittliche Unfehlbarkeit« der weiblichen Bedienung waren hierfür ausschlaggebende Faktoren.21 1880 besaßen in Berlin 114 Besitzer von Tanzlokalen die allgemeine Berechtigung, Tanzveranstaltungen anbieten zu dürfen. Diese war ein Jahr gültig und berechtigte die Inhaber, an bestimmten festgelegten Tagen Tanzlustbarkeiten abzuhalten. Für den Raum Berlin ergaben sich daraus 438 regelmäßige Tanzveranstaltungen pro Woche. Hinzu kamen wöchentlich circa 20 Veranstaltungen mit Sondergenehmigungen, die mit einer Frist von sechs Tagen im Voraus anzumelden waren.22 Die Anzahl der Tanzlokale in Berlin stieg zum Ende des Jahrhunderts kontinuierlich an und hatte sich um 1900 bereits fast verdoppelt. Nun gab es nach behördlichen Angaben 204 nach Paragraph 33c der Reichsgewerbeordnung zugelassene Lokale zur Veranstaltung öffentlicher Tanzlustbarkeiten.23 Nicht nur quantitativ erhöhte sich die Zahl der Tanzlokale in Berlin. Mit der Reform der Gewerbeordnung und dem wirtschaftlichen Aufschwung der Gründerjahre veränderte sich auch qualitativ das Bild des Vergnügungsangebotes. Unter der Überschrift »Berlin tanzt« hieß es 1912 in der Zeitschrift Cabaret-Revue: Die Vorort-Tanzlokale, der ›Schwof‹ von Halensee und Wilmersdorf genügen schon längst nicht mehr dem verwöhnten Geschmack der Berliner jeunesse dorée. Man ist auch zu bequem geworden, erst weit herauszufahren und sich bei der Rückfahrt sein Plätzchen auf dem überfüllten ›Lumpensammler‹, der letzten Straßenbahn, erkämpfen zu müssen.

Stattdessen, so schwärmte der Autor dieses Artikels weiter, ginge man nun in die Etablissements »du dernier cri« im Zentrum Berlins, wo es üblich geworden sei, auch während des Menüs zwischen den Tischen zu tanzen und »nicht nur ganz Berlin, sondern auch Halb-Berlin verkehrt«.24 Der »Parvenu«25 unter den europäischen Metropolen war zu einer Weltstadt geworden. Berlin reihte sich mit seinem internationalen Unterhaltungsangebot rund um die Friedrichstraße nun selbstbewusst neben Paris und London ein. »Haben die Berliner Nächte von ihrem alten Reiz auch manches eingebüßt – sie sind doch immer noch die imposantesten in der ganzen Welt«, schrieb die Elegante Welt und verwies damit 21 Bekanntmachung, betreffend die Redaktion der Gewerbeordnung für das Deutsche Reich. Deutsches Reichsgesetzblatt, Band 1883, Nr. 15, S. 177–240. 22 Den Verfassern dieser Auszählungen war bewusst, dass sie mit dieser Zahl der öffentlichen Veranstaltungen nur einen Bruchteil der Vergnügungsorte und -anlässe in Berlin behördlich erfassen konnten. Eine »nicht unbedeutende Anzahl von Tanzbelustigungen«, so der Polizeibericht, würde von Privatpersonen und Vereinen veranstaltet. Deren Anzahl belief sich wöchentlich auf geschätzt etwa 70 Veranstaltungen, die sich der Kontrolle der Polizei weitgehend entzogen. Verwaltungs-Bericht des Königlichen PolizeiPräsidiums 1871–1880, S. 425 f. 23 Dritter Verwaltungsbericht des Königlichen Polizei-Präsidiums von Berlin für die Jahre 1891–1900, Berlin 1902, S. 399. 24 Roué, Berlin tanzt, in: Der Tanz. Spezialbeilage zur »Cabaret-Revue« 42 (1912), S. 28. 25 Walther Rathenau, Die schönste Stadt der Welt, in: Die Zukunft 26 (1899), S. 36.

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auch auf den schnellen Wandel der Vergnügungskultur.26 Mehr und mehr hatte diese neben den hochkulturellen Institutionen und Veranstaltungen an Bedeutung gewonnen und war um die Jahrhundertwende zu einem wichtigen Faktor in der Selbstinszenierung der Städte geworden. Das Vergnügen gewann damit an wirtschaftlicher und politischer Relevanz und rückte nun im doppelten Sinne ins Zentrum. Große Theater und Varietés, wie das Metropol-Theater mit dem angrenzenden Metropol-Palast, wurden (wie auch im vorigen Kapitel deutlich wurde) für die Attraktivität der Unterhaltungskultur in Berlin immer bedeutsamer. Zum einen konnte man sich hier in einem direkten Vergleich mit den Angeboten anderer europäischer Metropolen messen. Berlin, so vermittelte es sich hier der Bevölkerung, hatte eine Vergnügungskultur zu bieten, die sich in diesem Ausmaß in keiner anderen deutschen Stadt, wohl aber in anderen europäischen Metropolen finden ließ, mit denen man selbstbewusst in Konkurrenz treten konnte. Zum anderen boten die Bühnen der großen Varieté­t heater dem Publikum Attraktionen und Eindrücke aus der ganzen Welt. Die Tänze, die hier von international tätigen Künstlerinnen und Künstlern aufgeführt wurden, fanden über die Bühnen hinaus bald darauf auch Verbreitung in den Tanzsälen. Die großen Varietétheater Berlins waren imposante Gebäude, die Bühnen, Tanzsäle und Restaurants, kinematographische Vorstellungen, Bäder oder Eislaufbahnen unter einem Dach vereinten. Die Hauptattraktion all dieser Orte war zweifellos ihr Bühnenangebot, das internationale Künstler und Künstlerinnen für Berlin engagierte. Der Reiz dieser großen Häuser lag jedoch gerade in ihrer Multifunktionalität. Das Unterhaltungsangebot ging hier weit über den Besuch einer Bühnenvorstellung hinaus und bot vor allem für Tanzveranstaltungen eine glamouröse Spielfläche. Der Wintergarten in der Dorotheenstraße war das größte und bekannteste Berliner Varietétheater.27 Das 1877 neu errichtete Central-Hotel am Bahnhof Friedrichstraße beherbergte einen Wintergarten für Konzerte, dessen größte Attraktion bei seiner Eröffnung ein Glasdach war, durch das der Berliner Nachthimmel zu sehen war, ein Effekt der später durch künstliche Sterne aus Glüh­birnen ersetzt wurde. Nachdem der Wintergarten in den ersten Jahren vor allem Konzerte geboten hatte, erweiterte man auch hier das Programm im Sinne des nun moderner und lukrativer erscheinenden Varietés und engagierte vor allem Tänzerinnen und Sängerinnen. Der Eintritt im Wintergarten kostete zwischen 6 Mark in den Logen und 1 Mark unten im Saal, so dass dieser Ort zwar nicht »allen«, wohl aber einem größeren Publikum offenstand.28 Auch der Admiralspalast in der Friedrichstraße warb mit seinem vielseitigen Unter26 Franz Wolf, Berliner Nächte, in: Elegante Welt 24 (1913), S. 16. 27 Jansen, Das Varieté. S. 89ff; vgl. auch Festschrift 50 Jahre Wintergarten 1888–1938. 28 Allgemein zum Aspekt der Zugänglichkeit des Unterhaltungsprogramms und der Regulierung des Publikums durch Eintrittspreise vgl. auch Maase, Grenzenloses Vergnügen, S. 58–60.

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haltungsangebot, welches mehrere Cafés, Bars und Restaurants, einen Ballsaal, eine Bäderanlage, ein Lichtspieltheater und als größte Attraktion eine Eisarena vereinigte und täglich von mehreren tausend Menschen besucht wurde.29 Getanzt wurde im Admiralspalast in demselben Saal, der auch als Lichtspieltheater diente, oder außerhalb der Saison auch auf der abgetauten Fläche der Eisarena. Der Tanzsaal fasste etwa 300 Personen.30 Diese großen Häuser repräsentierten weit über die Grenzen der Stadt hinaus die Berliner Vergnügungskultur. Rund um die F ­ riedrichstraße fanden sich jedoch Tanzlokale verschiedenster Größe und Exklusivität. So seien die Rosensäle, die in der Jägerstraße unweit der­ Friedrichstraße zu finden waren, »architektonisch nicht so betörend«, konnte man in einem Reiseführer lesen. Für einen Eintrittspreis von 2 Mark tanzte man hier jedoch auch täglich ab 10 Uhr abends »Wackeltanz und Twostepp« und stand dem internationalen Angebot der großen Häuser damit in nichts nach.31 Ein »typisches Berliner Genre« sei im Alten Ballhaus in der Joachimstraße zu finden, einem einfachen Tanzlokal, das etwas abseits der Friedrichstraße lag, so der Reiseführer: »Neben der Halbweltdame trifft man das junge Berliner Mädel in Rock und Bluse, das sich im Tanz ausleben will.«32 Das Luna-Ballhaus auf dem Gelände des Luna-Parks am Halensee lag am westlichen Ende des Kurfürstendamms zu dieser Zeit noch etwas abseits. Doch bereits vor dem Ersten Weltkrieg galt es bei der Berliner Bevölkerung als eines der besten Tanzlokale im Westen der Stadt. Den Palais de Danse überlasse der eingeweihte Berliner den Fremden, die nicht wüssten, dass das Nachtleben Berlins hier weit draußen im Westen genauso pulsiere wie in der Friedrichstadt, schrieb die Elegante Welt. Das Luna-Ballhaus sei mit einem Schlage »der Treffpunkt aller Leute geworden, die in Berlin etwas sind und eine gewisse Popularität besitzen, wie wir sie sonst nur in Paris finden« (siehe Abb. 13).33 Die Verlagerung der Vergnügungskultur in den Westen der Stadt, die Ablösung der Friedrichstraße durch die Gegend rund um den Kurfürstendamm, die sich hier bereits andeutete, betraf das Tanzvergnügen in den 1920er Jahren weit mehr als die Theater. Zwar blieben die großen Varietétheater bestehen und für den Fremdenverkehr lukrativ, ähnlich wie der Palais de Danse hatten sie jedoch den Glanz der Vorkriegsjahre verloren. Die Vergnügungen der Friedrichstraße hätten »einen gewissen musealen Reiz«, höchstens nach Mitternacht käme man aus dem Westen wieder in die Friedrichstadt, »zu den fast schon historisch gewordenen Amüsements«, formulierte Curt Moreck 1931 in seinem Reiseführer durch das »lasterhafte« Berlin.34 Stattdessen konzentrierte sich das Tanz­ 29 30 31 32 33 34

Lehne, Der Berliner Admiralspalast, S. 23. Ebd., S. 34. Berlin für Kenner, S. 174. Ebd. S. 177. Franz Wolf, Magic City und Luna-Park, in: Elegante Welt 28 (1913), S. 14. Moreck, Führer durch das »lasterhafte« Berlin, S. 14 u. 20. 

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Abb. 13: Im Luna-Ballhaus

vergnügen nun entlang dem Kurfürstendamm und der Tauentzienstraße. »Es gibt Tanzflächen von einem Quadratmeter bis zu einem Quadratkilometer, und was sich darum herum aufbaut, das stuft sich von der Kaschemme bis zum Palast. Ebenso verschieden ist die Gesellschaft«, so Moreck.35 Das größte Berliner Varietétheater lag nun dementsprechend ebenfalls im Westen: Die Scala in der Lutherstraße, 1920 eröffnet, bot mit etwa 3000 Sitzplätzen im Saal ein international renommiertes Revueprogramm aus Tanz und Artistik.36 Im Gebäude der Scala befand sich auch das Tanzlokal Scala-Casino, welches 1927 nach einem Umbau unter dem Namen Casanova – Casino International als Tanzrestaurant und Bar eröffnete und sich als »Hauptquartier der feinen Lebewelt« etablierte.37 In der Hardenbergstraße wurde seit 1924 die Barberina zu einem der ersten großen Tanzpaläste im Berliner Westen. In dem einem barocken Theater nachempfundenen Tanzsaal gab es dort täglich ab 5 Uhr einen Tanz-Tee, abends bot man dem Publikum täglich »Spitzennummern internationaler Tanzartistik«, anschließend konnte bis 3 Uhr morgens getanzt werden.38 35 36 37 38

Ebd., S. 116. Jansen, Das Varieté, S. 209. Moreck, Führer durch das »lasterhafte« Berlin, S. 117. Ebd., S. 122; vgl. auch Wolffram, Tanzdielen und Vergnügungspaläste, S. 59–61.

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Zu einem besonderen Ort des großstädtischen gesellschaftlichen Lebens wurden in den 1920er Jahren auch die großen Hotels in Berlin. »Um fünf Uhr nachmittags beginnt auch in Berlin die Herrschaft des König Charleston«, schrieb ein Berlin-Reiseführer und führte im Folgenden durch das Vergnügungsangebot der Berliner Luxushotels.39 Das Hotel Adlon am Brandenburger Tor, das neue Palais am Zoo oder das Hotel Eden am Kurfürstendamm präsentierten ihren Gästen ein Spitzenprogramm international anerkannter Jazzorchester. Hier etablierte sich vor allem bereits am Nachmittag der Besuch eines Tanztees, der für einen Eintrittspreis von drei bis fünf Mark auch denen offenstand, die nicht in den Hotels wohnten, sehr wohl aber an dem mondänen Ambiente teilhaben wollten.40 Im Hotel Adlon spielte das Orchester Marek Webers, im Neuen Palais am Zoo konnte man Jazz- und Unterhaltungsmusik von Julian Fuhs hören.41 Im Hotel Eden warb man mit einer Jazzband zum Charleston und einer argentinischen Kapelle zum Tango. Als »deutscher Tangokönig« wurde in den 1920er Jahren der Spanier Juan Llosas bekannt, dessen »Original SpanischArgentinische Tangokapelle« im Hotel Eden und in allen größeren Tanzlokalen Berlins auftrat.42 Wie ein Blick in die Reiseführer von Berlin zeigt, war demnach seit der Jahrhundertwende bis in die 1920er Jahre ein vielfältiges Nebeneinander von Orten zu finden, von denen die einen mit einer glamourösen Architektur und Ausstattung Berlin als Weltstadt und ›Hauptstadt des Vergnügens‹ zu inszenieren suchten, während die kleineren Lokale das ›echt Berlinerische‹ versprachen und die lokalen Prägungen der einzelnen Stadtviertel bewahrten. Die Elegante Welt stellte diesbezüglich fest: (…) den Fremden, die nach Berlin kommen, um die Weltstadt kennen zu lernen, geht es hier genauso wie in Paris und London. Sie sehen nur die für sie frisierten und zurechtgemachten Attraktionen, und das typische, weltstädtische Berlin in seiner einzig dastehenden Eigenart geht ihnen erst nach langen Monaten auf. Die Fremden gehen in die großen Revuetheater und vorbei an den kleinen Musentempeln mit den lokalen berlinischen Revue-Operetten, sie gehen in Cafés, in bekannte Restaurants, ins Palais de Danse, und vorbei an den kleinen Weinstuben, den Tango-Salons, den Bars, denen eine Handvoll in Berlin populärer Leute den Stempel gibt.43 39 Szatmari, Das Buch von Berlin, S. 70 ff. 40 Zur Entstehung und Bedeutung des Grandhotels seit 1880 vgl. Knoch, Das Grandhotel; insbesondere zur Funktion des Grandhotels als »Laboratorium sozialer und konsumtiver Stile« vgl. Knoch, Simmels Hotel, S. 88. 41 Marek Weber (1888–1964) dirigierte seit 1914 das Orchester des Hotel Adlon und gehörte zu den bekanntesten Orchesterleitern der Berliner Salonorchester der 1920er Jahre. Julian Fuhs (1891–1975), gebürtiger Berliner, wanderte 1910 in die USA aus und wurde dort als Orchesterleiter mit Jazzmusik erfolgreich; vgl. Lange, Jazz in Deutschland, S. 21. 42 Juan Llosas (1900–1954); vgl. Ludwig, Tango Lexikon, S. 299. 43 Franz Wolfgang Koebner, Ein Tag in Berlin, in: Elegante Welt 24 (1913), S. 7 f.

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Die Orte des Tanzvergnügens spiegelten somit eindrücklich die unterschiedlichen Formen der Gestaltung der Freizeit einer heterogenen Großstadtbevölkerung. Erst im Zusammenspiel dieser Komplexität würde man das Gesamtbild Berlins verstehen, resümierte der Reiseführer. Hierfür sei ein Ausflug nach ­R ixdorf oder ein Blick in die Hinterhöfe der Arbeiterstadtteile genauso bedeutsam wie ein Abend im Palais de Danse und auf der Friedrichstraße. Für die Repräsentation Berlins nach außen waren jedoch vor allem die kosmopolitischen Orte von Bedeutung. Die großen Berliner Varietés, die Tanzsäle und die Grandhotels wurden weit über die Grenzen der Stadt hinaus bekannt und blieben auch in den 1920er Jahren das Aushängeschild der Berliner Vergnügungskultur. In ihnen spiegelte sich von Anfang an der Weltstadtanspruch Berlins. Hier traf sich ein Publikum aus aller Welt, hier spielten international renommierte Orchester und hier wurden neue Musik und neue Tänze eingeführt. Die Veranstaltungen an diesen Orten boten dem Publikum Erlebnisdimensionen, deren Wirkung über diese begrenzten Räumlichkeiten hinausging. Auf diesen Tanzflächen veränderte sich das Tanzvergnügen Berlins.

3.2 Neue Modetänze: Ragtime, Tango und der Berliner Schieber In der Ballnummer der Zeitschrift Elegante Welt, die jeweils im Februar eines jeden Jahres zur Karnevalssaison erschien, schrieb man 1912 über den Palais de Danse: Und was wird nun eigentlich hier getanzt, in diesen heiligen Hallen des Sektes und der Liebe? Hier tanzt man ein Konglomerat von Boston, Walzer, und Two step. Der Amerikaner nennt es ›Turkey trot‹, der Engländer ›one step‹, der Berliner ›Schieber‹. Der Pariser bezeichnet nicht das Schema, sondern die Melodie. Er tanzt die ›Mariette‹ oder den ›Tango argentino‹, den ›Mysterious Rag‹ oder den ›Chili‹.44

Um die Jahrhundertwende stand das Tanzvergnügen in vielen europäischen Metropolen vor grundlegenden Veränderungen. Künstler und Künstlerinnen auf den Bühnen der Varietétheater und die Orchester der großen Tanzsäle präsentierten dem Publikum neue Tanzmusik und neue Tanzstile, die das Repertoire erweiterten und den Gesellschaftstanz in mancher Hinsicht revolutionierten: US -amerikanische Ragtimetänze und der argentinische Tango wurden zu populären Modetänzen innerhalb der internationalen Vergnügungskultur von Berlin. Ein Rückblick in die europäische Tanzgeschichte zeigt, dass der Erfolg dieser transatlantischen Tänze das Ende europäischer bürgerlicher Traditionen ankündigte, die den Gesellschaftstanz über ein Jahrhundert geformt hatten. Bis 44 Franz Wolfgang Koebner, Die Bälle der Behrenstraße. Metropol – Palais de Danse, in: Elegante Welt 8 (1912), S. 10.

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zum Ende des 18. Jahrhunderts dominierte die französische Tanzkunst der höfischen Eliten das europäische Tanzgeschehen. Das Menuett sowie verschiedene Kontertänze (Contredanses) prägten die aufwendig inszenierten Bälle, die zu obligatorischen Veranstaltungen gesellschaftlicher Repräsentation und Kommunikation zählten. Zur geselligen Unterhaltung der einfachen Bevölkerung gehörte eine Vielfalt an Volkstänzen, die sich aus regionalen Traditionen entwickelten und auf den Tanzböden einfacher Wirtshäuser oder im Freien praktiziert wurden.45 Mit der Französischen Revolution vollzog sich ein erster Bruch in der europäischen Tanzgeschichte. Der Walzer, der seine Ursprünge in der volkstümlichen Volte hatte, wurde zum ersten genuin bürgerlichen Gesellschaftstanz und galt in Frankreich in den Jahren nach der französischen Revolution als kultureller Ausdruck der Vertreter der neuen Republik.46 Im Verlauf des 19.  Jahrhunderts bildete sich nun ein eigenes bürgerliches Repertoire heraus, welches sich bewusst von den Tänzen des Hofes und den Volkstänzen abgrenzte. Hierzu trugen die Einrichtung von Tanzschulen, der Bedeutungszuwachs professioneller Tanzlehrer und ein bürgerliches Ballwesen bei.47 In Berlin gehörten beispielsweise der wohltätige Presseball in den Festsälen des Zoologischen Gartens oder der Subskriptionsball, der in der Karnevalszeit im Opernhaus Unter den Linden stattfand und nur dem Hof und dem höheren Bürgertum offenstand, zu den wichtigsten Veranstaltungen dieser Art.48 Der Walzer blieb der vorherrschende Tanz des 19. Jahrhunderts. Daneben waren eine Reihe weiterer Tänze, wie etwa die böhmische Polka oder die polnische Mazurka bei bürgerlichen Tanzveranstaltungen beliebt. Durch die geschäftstüchtige Verbreitung von Choreographien durch Tanzlehrer erneuerte sich das Repertoire ständig durch Importe aus europäischen Regionen.49 Um die Jahrhundertwende erschienen innerhalb der internationalen Programme der Varietétheater die ersten Ragtimetänze auf den Bühnen der europäischen Metropolen. Ragtime, der sich seit den 1860er Jahren in den USA herausgebildet hatte, verband europäische Marschrhythmen mit Elementen aus der afro-amerikanischen Musik. Als Klaviermusik führten afro-amerikanische Pianisten, wie Scott Joplin und James Scott, einen starken, oft staccato-artigen Rhythmus mit einer synkopierten Melodieführung zusammen und entwickelten den Ragtime so als musikalische Form, die (als Vorläufer des Jazz) verschiedene Stile zusammenführte.50 Wie erfolgreich sich der Ragtime innerhalb 45 Dahms, Tanz, S. 286. 46 Vgl. hierzu die grundlegende Untersuchung des Tanzwissenschaftlers Remi Hess, Der Walzer; vgl. auch Gasnault, Guinguettes et Lorettes. 47 Dahms, Tanz, S. 286. Zur Abgrenzung zwischen höfischer Tanzkunst und bürgerlichem Gesellschaftstanz vgl. auch Braun/Gugerli, Macht des Tanzes – Tanz der Mächtigen. 48 Pomplun, Dabeisein- damals, heute, immer…, S. 5. 49 Dahms, Tanz, S. 279. 50 Zur Geschichte des Ragtime in der USA vgl. Berlin, Ragtime; zur Präsenz des Ragtime in London vgl. Bailey, »Hullo Ragtime«.

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der populären Kultur etablierte und wie schnell damit auch seine Verbreitung außerhalb der USA vonstatten ging, verdeutlichte sich beispielsweise an dem Auftritt der Militärkapelle des Dirigenten und Komponisten John Philip Sousa, der auf der Weltausstellung 1900 in Paris und während einer anschließenden Tournee seines Orchesters Ragtimestücke in sein Programm integrierte.51 Der erste einer ganzen Reihe von Tänzen, die zu Ragtimemusik getanzt wurden, war der Cakewalk. Dieser entwickelte sich aus einer Vermischung verschiedener Elemente afro-amerikanischer Tänze und als Parodie auf die als steif empfundenen europäischen Tanzformen der herrschenden weißen Elite, wie sie im 18. Jahrhundert vor allem in den höfischen Quadrillen und Promenaden zum Ausdruck kamen. Er stellte somit eine humorvolle Persiflage dar, die vor allem improvisierte und mit grotesken Körperbewegungen experimentierte.52 Um 1900 war der Cakewalk in New York als Modetanz afro-amerikanischer Bühnenkünstler in die Musicalprogramme aufgenommen worden.53 Der Erfolg des Cakewalk auf dem New Yorker Broadway öffnete diesem die Türen nach Europa. In Paris gastierte das Tanzpaar Les Elks mit der Pantomime Les­ Joyeux Nègres auf der Bühne des Nouveau-Cirque, in London hatte das afroamerikanische Broadway Musical In Dahomey Premiere und in Berlin konnte man Charles Johnson und Dora Dean in der Creole Show einen Cakewalk auf der Bühne des Wintergarten tanzen sehen.54 Auch Berliner Komponisten begannen, den Cakewalk in ihre Programme zu integrieren. Paul Lincke beispielsweise, dessen Operettenkompositionen ansonsten fast durchgängig dem Berliner Lied zugeordnet werden können, komponierte 1903 mit Coon’s Birthday einen Cakewalk.55 Doch es waren nicht nur die Bühnen, die dem Publikum in Berlin Neues boten. In den Varietétheatern löste gegen Mitternacht häufig ein Tanzorchester das Bühnenprogramm ab. Einige der Tänzer und Tänzerinnen mischten sich dann unter das Publikum, wodurch eine klare Trennung zwischen Bühne und Zuschauern und damit zwischen visueller, auditiver und körperlicher Erfahrung aufgelöst wurde. Der Tanz beschränkte sich somit nicht auf den visuellen und auditiven Eindruck, den die Bühnenvorstellungen für das Publikum bereithielten. Zentral waren das körperliche Erleben und das Gefühl der direkten Teilhabe am großstädtischen Vergnügen – oder, wie Hans Ostwald in seinen 51 Scott, Sounds of the Metropolis, S. 53. 52 Zur Geschichte des Cakewalk in Europa grundlegend Kusser, Körper in Schieflage; vgl. auch Nederveen Pieterse, White on Black, S. 137 f. 53 Kusser, Körper in Schieflage, S. 167 ff. 54 Scott, Sounds of the Metropolis, S. 53 und Kusser, Körper in Schieflage, S. 222; vgl. auch Gordon, Dances with Darwin, S.172 ff. 55 Paul Lincke, Coon’s Birthday. Negers Geburtsag – La Fête du nègre. American Cake-Walk, 1903; vgl. Ritzel, Hätte der Kaiser Jazz getanzt…S. 270; zur Rezeption schwarzer Bühnenkünstler und -künstlerinnen auf den Bühnen in Deutschland vgl. auch Ciarlo, Advertising Empire, S. 223.

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Schilderungen des »galanten Berlins« einige Jahre später formulierte: »Jeder kann sehen, wie getanzt wird, und kann zugleich den Tanz selbst genießen. Jeder steckt im Trubel drin und jeder macht den Trubel.«56 Die Restaurants der großräumigen Varietétheater warben daher häufig damit, dass bei ihnen gleich nach dem Souper »zwischen den Tischen« getanzt werde, so dass der Eindruck entstehe: »Das alles geschieht in unmittelbarer Greifweite der Zuschauer, auf einer Bühne, die der Saal selber ist, und deren Vorgänge dem Publikum auf den Leib rücken.«57 Die Wahrnehmung und die Möglichkeit der Aneignung neuer Tanzformen veränderten sich hiermit grundlegend. Nicht mehr professionellen Tanzlehrern oblag das Monopol, das Repertoire der Gesellschaftstänze durch die Vermittlung an Tanzschulen zu steuern, sondern nun entschied das Publikum mehr und mehr selbst über den Erfolg oder Misserfolg neuer Modetänze. Zwischen Bühne und Tanzsaal entstand eine enge Wechselbeziehung: Was man als Tanznummer internationaler Stars gesehen hatte, wollte man gleich darauf selbst lernen und was beim Publikum erfolgreich war, integrierten die Direktoren als Erfolgsgaranten in ihre Revuen. Ragtime wurde zur Tanzmusik des neuen Jahrhunderts. Dem Cakewalk, der aufgrund seiner exzentrischen und eher komplizierten Figuren nur für kurze Zeit als Modetanz populär wurde, folgte bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs eine ganze Reihe von neuen US -amerikanischen Modetänzen, die dem Publikum einfache und leicht zu erlernende Tanzweisen boten. Das Vorwärtstanzen oder »schieben« war die charakteristische stilistische Neuerung, die diese Tänze grundlegend von den tradierten bürgerlichen Rundtänzen unterschied.58 Zu US -amerikanischer Ragtimemusik tanzte man nun Twostep und Onestep, Paartänze, die Raum für vereinfachte Schrittabfolgen und Improvisationen ließen. »Der One step ist von allen modernen Tänzen der leichteste. Ja, ohne große Ansprüche betreffs der Ausgestaltung der Melodie kann er von jedem einigermaßen ruhigen und graziösen Tänzer sofort getanzt werden«, schrieb Franz Wolfgang Koebner in seinem Tanz-Brevier, nachdem er festgestellt hatte, »der gute alte Walzer ist ja heute so gut wie tot«.59 Als Twostep und Onestep tanzte man auch einige sogenannte Tiertänze. Beim Turkey Trot (Puter-Schritt) oder Grizzly Bear (Bärentanz) imitierten die Tanzenden Tierbewegungen und lieferten damit humorvolle Einlagen (siehe Abb. 14 u. 15). Die kurzen aber aufsehenerregenden Erfolge dieser Tänze verdeutlichten vor allem eines: Die alten standardisierten Formen des Gesellschaftstanzes hatten ihre Dominanz in den Tanzsälen endgültig verloren. Im deutschen Sprachgebrauch umfasste der Sammelbegriff »Schiebe- und Wackeltänze« die entscheidenden Neuerungen der Ragtimetänze: Die geradlinige Bewegung im Raum, die oft56 57 58 59

Ostwald, Das galante Berlin, S. 232. Walter Turszinsky, Zwischen den Tischen, in: Elegante Welt Nr. 6 (1912), S. 12. Ritzel, Synkopen-Tänze, S. 181, vgl. auch Schär, Der Schlager und seine Tänze, S. 96–98. Koebner u. Leonard, Das Tanz-Brevier, S. 13 u. 23. 

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Abb. 14: Lisa Weise und Oskar Gabo beim Bärentanz in der Posse Filmzauber

Abb. 15: Der neueste amerikanische Tanz, der »Puter-Schritt«

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mals improvisierten Figuren, die skurrilen Körperbewegungen und der engere Körperkontakt der Tanzenden zueinander machten die US -amerikanischen Tänze populär.60 »Schieben« konnte man aber nicht nur die neuen Ragtimetänze. Die Tanzformen in den Ausflugslokalen und auf den Tanzböden der einfachen Berliner Bevölkerung unterschieden sich ebenfalls deutlich von den idealisierten Vorstellungen des bürgerlichen Gesellschaftstanzes. Zu populären Walzerund Polkamelodien tanzte man auch hier mit lebhafteren Bewegungen und in engerem Körperkontakt, als es die moralischen und ästhetischen Normen des Gesellschaftstanzes vorsahen. Zum einen wurden die sogenannten Schiebeund Wackeltänze daher bald zu einem Synonym für alle Tanzformen, die, unabhängig von ihrer Herkunft, neue Bewegungsstile hervorbrachten und damit bestehende Ordnungen provozierten. Zum anderen aber galt genau dies bald als ›typisch berlinerisch‹. In einer der Strophen des Rixdorfer Schieber hieß es: »Rieke, feste angefaßt, / Tschinglala, tralala. / Rechts herum, links herum, / Immer mang das Publikum. / Kreuz und quer, hin und her, / Das gefällt mir sehr.« Hier entstand ein deutliches Bild der Tanzweisen in den Vororten Berlins, wo man »mit vorgeschobenen Schultern, geknickten Knien und hoch­erhobe­ nen Armen« tanzte.61 Die Berliner Lieder, aus den Federn von Paul Lincke, Ludolf Waldmann und anderen, die das Tanzvergnügen mit viel Lokalkolorit und oftmals voller frivoler Anspielungen untermalten, bewegten sich zwischen Varietébühne und Tanzlokal, zwischen Zentrum und Vorstadt. Zur großstädtischen Vergnügungskultur gehörten die Schiebetänze der Berliner Vororte damit genauso wie die internationalen Programme rund um die Friedrichstraße. Ein »transatlantischer Schiebetanz« war der argentinische Tango, der in Berlin schließlich zum populärsten Modetanz der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg avancierte. Die Entstehung des Tango in Buenos Aires seit den 1880er Jahren stand in einem engen Kontext zu der argentinischen Immigrationspolitik, die eine große Anzahl europäischer Auswanderer auf der Suche nach Arbeit ins Land brachte.62 Am Stadtrand von Buenos Aires entwickelte sich eine populäre Kultur der Großstadt, die die prekären Lebensbedingungen der Einwanderer und der argentinischen Arbeiterbevölkerung spiegelte. In der Musik und in der Choreographie des Tango fanden sich kulturelle Stile von beiden Seiten des Atlantiks. Europäische Musik verband sich mit argentinisch ländlichen

60 Die US -amerikanischen Tänze können auch in die zwei Kategorien Bewegungstänze (räumliche Fortbewegung, wenige Drehungen, geschlossene Paarhaltung) und Platztänze (kaum Bewegung im Raum, Distanz der Tanzenden, pantomimische Elemente) eingeteilt werden; vgl. Günther/Schäfer, Vom Schamanentanz zur Rumba, S.  251 ff.; Schär, Der Schlager und seine Tänze, S. 77–79. 61 Ostwald, Berliner Tanzlokale, S. 63. 62 Grundlegend zur argentinischen Geschichte des Tango: García Jiménez, El tango; Rossi, Cosas de negros; Salas, El Tango.

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Traditionen und der Musik der schwarzen Bevölkerung von Buenos Aires. Die Erfahrung der Migration und der Heimatlosigkeit sowie die städtische Armut schrieben sich in die Tangotexte ein, die die Lebensbedingungen in der Großstadt eindrücklich reflektierten. Unmittelbar verbunden mit einer solchen sozialen Verortung des Tangos in seiner Entstehungszeit waren Assoziationen mit Armut, Prostitution und Kleinkriminalität. Nicht nur seine Choreographie, die sich wie bei den Berliner Schiebetänzen durch ein langsames Vorwärts­gleiten und einen engen Körperkontakt auszeichnete, machte den Tango demnach zu einem »echten« Schiebetanz, sondern vor allem die primäre Zuordnung des Tanzes zur Arbeiterbevölkerung von Buenos Aires und die damit einhergehenden bürgerlichen Vorbehalte.63 Gleichwohl etablierte sich der Tango mit der Integration der Einwanderer in die argentinische Gesellschaft in den folgenden Jahrzehnten zunehmend als eigenes Genre und als inhärenter Teil  der populären Kultur von Buenos Aires. Vom Stadtrand rückte der Tango nun ins Zentrum und wurde für Musikerinnen und Musiker, Tänzerinnen und Tänzer zu einer Chance des Ausbruchs aus der Armut, des sozialen Aufstiegs oder gar des Aufbruchs in die Metropolen Europas. Die neuen Tänze, die wie der Tango in Berlin an­kamen und dort innerhalb eines ganz spezifischen metropolitanen Kontextes angeeignet und neu interpretiert wurden, trugen die Heterogenität und die konfliktvollen sozialen Ungleichheiten der Großstädte bereits deutlich sichtbar mit sich. Circa 1907 brachten Tangomusiker und Tangotänzer, reisende Argentinier und ein expandierender Noten- und Grammophonplattenmarkt den Tango nach Europa, wo der Tanz zunächst in Paris und London aufgenommen wurde.64 Doch schon kurze Zeit später lag auch Berlin im ›Tangofieber‹ (siehe Abb. 16). Schnell gab es verschiedenste Arten von Tangoveranstaltungen an vielen Orten in der Stadt. Sie reichten vom Tangounterricht in privaten Salons über die glamourösen Ballveranstaltungen im Palais de Danse bis zum »Tanz auf dem Eise« im Berliner Admiralspalast. Im Februar 1913 traten im Admiralspalast 87 Tanzpaare zur »Meisterschaft von Groß-Berlin« an. Getanzt und bewertet wurden gleich mehrere der neuen Modetänze: Boston, Twostep, Onestep und Tango. Die Jury, der unter anderem eine Tänzerin des Metropol-Theaters, der Herausgeber der Zeitschrift Elegante Welt, Franz Wolfgang Koebner, sowie ein Ballettmeister und zwei Sportreporter angehörten, vergab den ersten Preis (eine goldene Uhr und einen Handkoffer) schließlich an den Sohn des früheren serbischen Ministerpräsidenten, den Tänzer Niki Georgewitsch (Nicolaus Georgevicz) mit seiner Partnerin (siehe Abb. 17), den zweiten Preis an den Berliner Zeichner Rudolf Leonard und den dritten Preis an den US -amerikanischen Tennismeister Dr. Cribben, wobei die jeweili63 Vgl. Savigliano, Tango and the Political Economy of Passion, S. 137 ff.; Castro, The Argentine Tango as Social History, S. 89 ff. 64 Zur Geschichte des Tango in Paris vgl. Zalko, Paris – Buenos Aires; Humbert, El tango en París; Lange, Tango in Paris und Berlin.

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Abb. 16: Charakteristische Stellungen aus dem »Tango«, dem neuen Pariser Mode-Tanz, der gleich dem »Boston« einen Siegeszug durch die Welt antritt

gen Tanzpartnerinnen immer namenlos blieben. Eine illustre Gesellschaft also, die demonstrierte, dass der Tango schnell zu einem Amüsement der höchsten Gesellschaftsschichten und wohlhabenden Touristen in Berlin geworden war. Das Resümee dieses erfolgreichen Abends lautete: »In keiner Stadt wird so gut getanzt wie in Berlin.«65 Der große Erfolg des Tango in den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg verdeutlichte, dass mit den neuen Modetänzen lukrative Geschäfte zu machen waren: Die Vergnügungskultur der Großstadt war auch als wirtschaftlicher Faktor relevant. Spezielle Tangokleider wurden produziert und Tangopostkarten entworfen, Tanzanleitungen entwickelt und mit Tanzunterricht geworben. Auch vor diesem ökonomischen Hintergrund erklärt sich die schnelle Abfolge neuer Tänze, die mit den Erfolgen der Ragtimemusik begonnen hatte und sich in den 1920er Jahren mit den Modetänzen zu US -amerikanischer Jazzmusik fortsetzte. Der Erste Weltkrieg unterbrach eine solche Dynamik nur kurzfristig. »Allerorten schießen die Jazz-Bands aus der Erde«, schrieb Franz Wolfgang K ­ oebner 1921 im Vorwort seines neuen Buchs, in dem er die Modetänze vorstellte, die nun mit der Jazzmusik nach Europa kamen.66 Während die Kriegszeit von Tanzverboten geprägt war, begann man in Berlin 1919 den Foxtrott zu tanzen, der aus dem Onestep hervorging und stilistisch noch eng an Onestep und Twostep angelehnt war.67 Die folgenden Tanzneuheiten galten, genau wie die 65 Franz Wolfgang Koebner, Tanz-Turnier, in: Elegante Welt 7 (1913), S. 10. 66 Koebner, Jazz und Shimmy, S. 4; vgl. dazu auch das Kapitel zur Populärmusik. 67 Schröder, Tanz- und Unterhaltungsmusik in Deutschland, S. 261.

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Abb. 17: Niki Georgewitsch, Gewinner des Meisterschaftspreises im Tanzturnier des Admiralspalastes

dazugehörige Jazzmusik, als schnell, wild und exzentrisch. »Dies um jeden Preis Sichaustoben, dieses maßlos Übertriebene, diese Orgien der Gliederverrenkungen, ward allgemein Sitte«, schrieb der Tanzhistoriker Heinz ­Pollack und führte diese Tanzformen auf die Entbehrungen des Krieges zurück.68 Noch sehr viel mehr als die Modetänze der Vorkriegszeit brachen sie mit vorherrschenden Vorstellungen des Gesellschaftstanzes, in dem sie vor allem die Paartanzformationen auflösten und das Tanzgeschehen immer weiter individualisierten. Der Shimmy beispielsweise, der den Foxtrott etwa 1924/25 ablöste, kam fast ohne Bewegung im Raum aus und schien ausschließlich aus Schüttelbewegungen der Arme und Beine zu bestehen. Zum erfolgreichsten Tanz der 1920er Jahre wurde der Charleston, dessen Popularität in den europäischen 68 Pollack, Die Revolution des Gesellschaftstanzes, S. 43.

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Großstädten eng an die F ­ igur Josephine Baker geknüpft war, die 1926 erstmalig in Berlin auftrat. Das extrem schnelle Tempo und die exzentrischen Tanzfiguren dieses Tanzes, die vor allem durch die isolierten Bewegungen einzelner Gliedmaßen und die dabei nach außen verdrehten Knie auffielen sowie der außerordentliche internationale Erfolg Josephine Bakers als afro-amerikanischer Tänzerin trugen dazu bei, dass dieser Tanz bis heute als einer der prägenden Tänze der Großstadtkultur der 1920er Jahre gilt.69 Zum Symbol widerständiger Jugendkulturen und zum deutlichsten Ausdruck des Vorgehens gegen US -amerikanische Tanzmusik und ein damit verbundenes Lebensgefühl durch das nationalsozialistische Regime wurden in den 1930er und 1940er Jahren schließlich die Swingtänze. Seit 1933 begannen die Ausgrenzung jüdischer Musiker und Orchesterleiter und die Versuche der ›Reinigung‹ eines deutschen Repertoires von US -amerikanischer Jazzmusik. Dies bedeutete zunächst häufig bloß eine Veränderung der Bezeichnungen, so dass aus dem Onestep ein Marsch wurde.70 Doch obwohl Jazzorchester vor allem in den Großstädten in den 1930er Jahren weiterhin erfolgreich blieben, beendete der Nationalsozialismus zunächst eine Weiterentwicklung des Tanzes in Deutschland, an die erst mit der Präsenz US -amerikanischer Soldaten und mit neuen Tänzen wie Jitterburg und Boogie Woogie am Endes des Zweiten Weltkriegs angeknüpft wurde.

3.3 Erfahrung und Ordnung des Tanzvergnügens Die Berliner Friedrichstraße, das Londoner West End oder der New Yorker Broadway – weltweit entwickelten sich die Vergnügungsviertel der Metropolen zu Zentren, an denen der grundsätzliche Wandel der populären Kultur hin zu einer internationalen, kommerziellen und modernen Massenkultur besonders deutlich hervortrat. Sie wurden damit im doppelten Sinne zu Bühnen, auf denen Akteure, Ideen und Innovationen aufeinandertrafen, sich in der Interaktion mit dem Publikum transformierten und damit auch globale Entwicklungen dynamisierten. Das neue Repertoire des internationalen Tanzvergnügens blieb bis mindestens zum Beginn des Ersten Weltkrieges ein Phänomen, welches man weltweit zuerst in den Tanzsälen der Metropolen und erst später in anderen kleineren Städten finden konnte. Gerade die zeitlich versetzte Diffusion kultureller Formen und die stilbildende Vorreiterrolle der Metropolen zeichneten diese als Zentren aus, die in diesem Sinne auch als Orte einer verdichteten Entwicklung und »kultureller Magnetfunktion« charakterisiert worden sind.71 69 Schär, Der Schlager und seine Tänze im Deutschland der 20er Jahre, S.  95; Vgl. auch­ Eichstedt u. Polster, Wie die Wilden, S. 53 ff. 70 Eichstedt u. Polster, Wie die Wilden, S. 73. 71 Reif, Metropolen, S. 4. Zur zentralen Funktion von Metropolen als Knotenpunkte innerhalb von Städtesystemen vgl. auch Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, S. 381 ff.

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Für die Erfolgsgeschichte der Ragtimetänze und des Tango um die Jahrhundertwende und auch bei der Verbreitung des Jazz in den 1920er Jahren kam den Metropolen eine zentrale Bedeutung zu. Denn nicht nur die Herausbildung der neuen Tänze ist im spezifischen Kontext der Großstadt zu verorten, sondern darüber hinaus zeigte sich im Prozess der Aneignung vor allem die Verarbeitung urbaner Erfahrungswelten. In Berlin boten die neuen Modetänze dem Publikum die Möglichkeit der körperlichen Teilhabe an der großstädtischen Vergnügungskultur. Jeder einzelne, so schien es, konnte hier die Schnelllebigkeit und den Wandel der Großstadt erleben, jedes Tanzpaar konnte diesen Eindrücken Ausdruck verleihen. Die neuen Tänze wurden dadurch zu einer Projektionsfläche für die Frage danach, welche körperlichen Ausdrucksformen der Erfahrung der Großstadt und ihrer Vergnügungskultur entsprachen. Viele Stimmen in der zeitgenössischen Presse sprachen sich diesbezüglich positiv gegenüber den neuen Tänzen aus und betonten die Notwendigkeit der Aneignung. Diese Tanzformen würden ein städtisches Lebensgefühl widerspiegeln, so der bekannte Zeichner und Tangotänzer Rudolf Leonard, sie seien Abbild und integraler Bestandteil einer modernen Großstadtkultur des 20. Jahrhunderts. Der Tanz von heute müsse sich den Linien, dem Stil und der Wesensart des Lebens anpassen: Unsere heutige Generation hat enorm viel Sport in sich; und das ist es haupt­ sächlich, was unsere Linie so völlig verändert hat; wir sind schlanker, biegsamer geworden, wir leben schneller in jeder Beziehung, wir sind beherrschter, skeptischer, ganz unromantisch, ich möchte fast sagen großstädtischer.72

Leonard sah in den neuen Tänzen eine Form der Anpassung an das schnellere Tempo der Großstadt. Das Erlernen der neuen Tänze schien in dieser Lesart durchaus eine der erstrebenswerten körperlichen Fähigkeiten des Großstädters zu sein. Auch Franz Wolfgang Koebner ergriff in diesem Sinne das Wort. Seiner Ansicht nach erforderten die veränderten Lebensbedingungen in der Großstadt eine neue Tanzkunst. In der internationalen Lebewelt habe sich in den letzten Jahren eine eigene Art zu tanzen eingebürgert. Man habe sich vom Zwang alter Schemen befreit und tanze individueller, so die Ausführungen Koebners, der die neuen Tänze damit nicht nur als einen zeitgemäßen Ausdruck modernen, städtischen Lebens interpretierte, sondern auch auf den Status von Berlin als Weltstadt hinwies. Die Stadt hielt für ihr Publikum ein internationales Repertoire bereit, welches man zeitgleich auch auf der anderen Seite des Atlantiks, in Buenos Aires oder New York sowie in den europäischen Metropolen London oder Paris finden konnte.73 Künstler und Künstlerinnen, die an der Verbrei72 R. L. Leonard, Der verlästerte Tango. Eine Erwiderung auf den sensationellen Artikel Alexander Moszkowskis im »Berliner Tageblatt«: Pro und contra Tango!, in: Elegante Welt 45 (1913), S. 10. 73 Von der Quadrille zum »Turkey Trot«. Eine Tanzstudie von K. O. Ebner, in: Elegante Welt. Ball- und Tanz-Nummer 8 (1912), S. 14–16.

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tung eines solchen internationalen Repertoires teilhatten, formulierten ihre Erfahrungen ähnlich: Die australische Tänzerin Madame Saharet beispielsweise, die auf ihren internationalen Tourneen auch im Berliner Varieté Wintergarten gastierte, äußerte sich zu den neuen Tänzen, die nun in jeder Metropole zu finden waren: Die neue Generation hätte den Twostep nicht mit so viel Enthusiasmus akzeptiert, wenn ihr sein Rhythmus nicht schon im Blute geschlummert hätte; denn sie ist unromantisch die neue Generation. Sie will nichts mehr wissen von Träumen und Walzeridyllen. Sie ist auf dem Asphalt erwachsen. Wo man fester auftreten muß. Wo das Leben nach neuen, strafferen Rhythmen pulst.74

In der zeitgenössischen Beobachtung verband man also zum einen die Erfahrung der Großstadt Berlin mit den körperlichen Ausdrucksmöglichkeiten der neuen Modetänze. Ragtime und Tango schienen den Tanzenden etwas völlig Neues zu bieten und ein individuelles sinnliches Erleben der Stadt zu ermöglichen.75 Zum anderen fand man die Bestätigung für den Status von Berlin als Weltstadt in der Präsenz der Tanzimporte in den Berliner Tanzsälen. Das Angebot eines Repertoires und die Möglichkeit der Teilhabe an den neuen Tänzen bestätigten Berlin seine Gleichwertigkeit und Konkurrenzfähigkeit. Dem Varieté und dem populären Theater, so ist bereits im ersten Kapitel argumentiert worden, kam eine wichtige Bedeutung als Medium der Erfahrung und Vermittlung von Großstadt zu. Der Theaterwissenschaftler Peter Marx hat dies mit der Formulierung zugespitzt: »Die Erfindung der Großstadt beginnt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die Erfindung des Großstädters auf der Bühne der kommerziellen Unterhaltungstheater«.76 Mit den neuen Tänzen, so kann man darüber hinaus argumentieren, konnten die Großstadtbewohner selbst Teil des Geschehens werden. Die Weltstadt Berlin wurde hier am eigenen Leib erfahrbar, die neuen Tänze schieden das neue vom alten Berlin. In Übereinstimmung mit den Revuen auf der Bühne des Metropol-Theaters, die dem Publikum die Großstadt und die Weltstadt präsentierten, erfüllten damit auch die Ragtimetänze und der argentinische Tango ihren Beitrag zur Konstruktion und Selbstwahrnehmung Berlins als Metropole. Gerade der wechselseitige Prozess aus der Inszenierung solcher Angebote auf den Bühnen der Stadt, den subjektiven Erfahrungsformen des Publikums und der Reflexion und Interpretation dieses Erlebens in den Medien dynamisierte dabei das Selbstverständnis der Stadt und ihre Repräsentation nach außen.77 74 Madame Saharet, Die neuen Tänze, in: Der Tanz. Spezialbeigabe zur Cabaret-Tanz-­ Revue 63 (1913), S. 13. 75 Zum Aspekt der physischen Teilhabe und damit zu einer Körpergeschichte des Tango im Kontext der Großstadt vgl. auch Elsner, Das vier-beinige Tier. 76 Marx, »Berlin ist ja so groß!«, S. 95. Vgl. auch Baumeister, Theater und Metropolenkultur. 77 Jelavich, Modernity, Civic Identity, and Metropolitan Entertainment, S. 96; zur Funktion der Massenpresse vgl. diesbezüglich auch Fritzsche, Als Berlin zur Weltstadt wurde.

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Das rasante Wachstum und der grundlegende Wandel des Lebens vermittelten sich der Berliner Bevölkerung insgesamt jedoch als widersprüchlicher und mehrdimensionaler Prozess. Die Notwendigkeit der Suche nach neuen Ausdrucksformen des Großstadtlebens war daher nur eine Lesart der neuen Tänze. Ihr gegenüber standen Stimmen, die bürgerliche Vorstellungen von Moral und Sittlichkeit vertraten und eine Gefährdung des städtischen Ordnungsgefüges befürchteten. Die Gestaltung der Freizeit sollte lediglich den verdienten Ausgleich zu einem disziplinierten Arbeitstag darstellen, dessen Produktivität durch das Vergnügen nicht gefährdet werden durfte. Ein reglementierter Alkoholkonsum, eine streng einzuhaltende Sperrstunde sowie die Kontrolle der Prostitution standen folglich ganz oben auf der Liste der dringenden Aufgaben, mit denen sich die Berliner Behörden und ihre Polizei zu beschäftigen hatten und die damit auch direkt auf das Erleben und die Erfahrung des Publikums einwirkten.78 Tanz­ lokale und Tanzveranstaltungen standen im besonderen Fokus der Ordnungsund Moralhüter. Das Königliche Polizei-Präsidium stufte die öffentlichen Tanzlustbarkeiten zu Beginn der 1880er Jahre in seinem Verwaltungsbericht als die »bedenklichste und wichtigste Art der Vergnügungen« ein: Unzweifelhaft konnten solche Tanzlocale, welche ausschließlich von prostituierten Frauenpersonen besucht werden, in denen der Tanz früher zum großen Theil bis 3 Uhr Morgens ausgedehnt wurde und die lediglich dazu benutzt werden, um Bekanntschaften mit Herren anzuknüpfen und zu vermitteln, nur schädlich wirken, mag man auch über die angebliche Notwendigkeit solcher Einrichtungen einer Großstadt denken, wie man will.79

Auch der Sittenhistoriker Eduard Fuchs formulierte bezüglich der Schiebetänze sehr deutlich: »Ein brünstigeres Tanzen, richtiger eine pornographischere Form ist also wohl kaum denkbar«, und warnte daher eindringlich, »daß die Popularität dieser Tänze sich nicht bloß auf die Vorstadttanzsäle beschränkte, auf den ›Salon de Schwoof‹ des gewöhnlichen Volkes, sondern auch auf die vornehmsten Tanzlokale der reichen Lebewelt sich erstreckte.«80 Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ergriff die Berliner Polizei eine ganze Reihe von Maßregeln, die sich auf Ordnung, Reglementierung und Kontrolle des Vergnügungslebens konzentrierten und unter denen neben der Erteilung oder Verweigerung einer Tanzerlaubnis vor allem der Einhaltung und Kontrolle der Polizeistunde große Bedeutung zukamen. Die allgemeine Polizeistunde, der Zeitpunkt an dem ›Schanklokale‹ schließen und ›Tanzlustbarkeiten‹ beendet sein mussten, war noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf 11 Uhr 78 Zur Thematik der Kontrolle öffentlichen Vergnügens vgl. für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts grundlegend Hoelger, Die Reglementierung öffentlicher Lustbarkeiten in Berlin um 1900; vgl. auch Maase, Die Kinder der Massenkultur. 79 Verwaltungs-Bericht des Königlichen Polizei-Präsidiums 1871–1880, S. 424 80 Fuchs, Illustrierte Sittengeschichte, S. 153 f.

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abends festgelegt worden. Doch bereits um 1900 hatte auch die Berliner Polizei eingesehen, dass »die Verhältnisse der Großstadt, mit ihrem Tag und Nacht fortgehenden ruhelosen Leben und Treiben« eine strenge Durchsetzung der Polizeistunde nicht zuließen, und hatte die Tanzerlaubnis daher bis auf 2 Uhr nachts ausgeweitet.81 Darüber hinaus entschloss man sich jedoch 1903, »in den Varietes, Tingeltangeln und Tanzlokalen zweifelhaften Charakters einen besonderen Überwachungsdienst einzuführen, der von geeigneten in Civil gekleideten Schutzleuten« wahrgenommen werden sollte. Diese Beamten in Zivil hatten von nun an zu überwachen, inwiefern »deklamatorische Vorträge und dergl. anstössigen Inhalts vorgetragen werden, ob die Auftretenden durch Kostüme, Gebärden und dergl. anstössig wirken, ob Kellnerinnen oder Sängerinnen mit den Gästen zusammen sitzen und zechen oder die Gäste zum Trinken animieren«.82 Wie eng die Gestaltung der Freizeit mit dem Arbeitsleben in der Großstadt verknüpft war, und wie stark damit auch politische und wirtschaftliche Interessen in das Vergnügungsleben hineinwirkten, zeigten die Sorgen, die bezüglich des Erwerbslebens formuliert wurden. Überaus skeptisch wies der Verwaltungsbericht des Königlichen Polizei-Präsidiums am Ende des 19. Jahrhunderts darauf hin, dass durch eine lange Polizeistunde der »zunehmende[n] Sitten­ losigkeit des Volkes, namentlich des Arbeiterstandes und der dienenden Klasse« nicht Vorschub geleistet werden dürfe.83 Das Nachtleben, so der Bericht weiter, gäbe den Arbeitern Anlass, »früher nie gekannte Bedürfnisse und Genüsse sich anzugewöhnen, in dem allabendlichen Wirtshausleben ihren kärglichen Lohn zu vergeuden und ihre Vermögensverhältnisse zu zerrütten«. Die bis spät in die Nacht zechenden Gäste seien »unfähig, am nächsten Morgen wieder mit der erforderlichen körperlichen und geistigen Frische an ihr Tagwerk zu gehen«. Die Sorge um die Erwerbsfähigkeit der Bevölkerung lenkte den Blick vor allem an die Ränder der Stadt. Abseits der Friedrichstraße richteten sich Kontrolle und Misstrauen vor allem gegen die proletarische Bevölkerung. Hierbei wusste sich die Berliner Polizei international durchaus zu bestätigen – die Beschreibung der Freizeitgestaltung der Arbeiterschaft als deviant glich sich in den europäischen Großstädten: 81 Dritter Verwaltungs-Bericht des Königlichen Polizei-Präsidiums 1891–1900, S. 400; zur Reglementierung und Disziplinierungen des öffentlichen Lebens der Städte in der Nacht vgl. grundlegend Schlör, Nachts in der großen Stadt. 82 Acten des Polizei-Präsidiums zu Berlin, betreffend Variétés. LAB , A. Pr. Br. Rep. 030-05 (Theaterpolizei), Nr. 1466. Die Kontrolle von Tanzlokalen war bereits 1851 als Aufgabe in die Berliner Polizei-Verordnung aufgenommen worden: »Den mit der Beaufsichtigung der öffentlichen Lustbarkeit beauftragten Beamten müssen angemessene Plätze in dem Lokale unentgeltlich eingeräumt werden. (…) Der Unternehmer und jeder Theilnehmer muß den Anordnungen der Aufsichtsbeamten unweigerlich und bei Vermeidung von Zwangsmaßregeln und gesetzlicher Bestrafung Folge leisten«. Polizei-Verordnung über öffentliche Lustbarkeiten. Berlin, den 10. Juli 1851. Um 1900 wurde eine solche polizeiliche Präsenz an den Orten des Vergnügens intensiviert 83 Verwaltungs-Bericht des Königlichen Polizei-Präsidiums 1871–1880, S. 427 f.

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Das Polizei-Präsidium steht in dieser Ansicht durchaus nicht allein da, denn auch die Polizeibehörden anderer großer Städte, wie London und Paris, sind bereits vor längerer Zeit zu der Ueberzeugung gelangt, daß es mit einer guten vorsorglichen Polizei und mit dem öffentlichen Wohl unverträglich ist, wenn eine zu große Anzahl von Schanklocalen der Bevölkerung Gelegenheit bietet, die Nächte zu durchschwärmen, das an sich schon unzureichende Einkommen zu verprassen und obenein die Gesundheit zu schädigen.84

Dort, wo das Angebot nicht mehr touristisch vermarktet werden konnte und der Ruf von Berlin als Weltstadt nicht direkt zur Disposition stand, griffen ganz andere Wahrnehmungen des städtischen Vergnügens. Einige Stadtviertel standen damit im besonderen Fokus der städtischen Ordnungsbehörden. Gleichwohl betrafen die polizeilichen Regelungen ganz Berlin und sie liefen quer zu vermeintlich klaren geographischen und sozialen Grenzziehungen. So waren es oftmals gerade auch die prominenten Orte in der Friedrichstraße, die im öffentlichen Interesse standen, repräsentierten sie doch Berlin nach außen. Auf welche Weise und wie streng polizeiliche Verordnungen durchgesetzt wurden, zeigt auch ein Beispiel aus dem Lunapark. Dort waren 1911 Beschwerden gegen das Tanzlokal Mon Plaisir laut geworden, die sich gegen die dortigen Bühnenaufführungen richteten, welche gegen »die guten Sitten« verstoßen würden.85 Ein Kriminalkommissar besuchte das Etablissement und erstattete dem Polizei-Präsidenten von Berlin-Schöneberg daraufhin Bericht: Für die dort vorgeführten Tänze seien im Voraus keine Genehmigungen eingeholt worden.­ Darüber hinaus hätten sich die Darstellerinnen unsittlich benommen, indem sie sich nach den Vorführungen unter dem Publikum aufgehalten hätten und »sich zu den Herren gesetzt und Umarmungen und Küsse von letzteren geduldet haben«. Das Polizei-Präsidium von Schöneberg-Wilmersdorf entschied schließlich, dem Direktor des Tanzlokals Mon Plaisir, Cäsar Wagner, die Vergünstigung, auch nach 11 Uhr abends Tanzaufführungen veranstalten zu dürfen, zu entziehen. Darüber hinaus wurde gegen den Direktor aufgrund der ohne Erlaubnis aufgeführten Tänze ein Strafverfahren eingeleitet. Immer wieder berichtete auch die Berliner Presse von Gerichtsurteilen, die wegen »unsittlichem Tanzen« ergangen waren. Am 2. April 1913 titelte die Abendausgabe des Berliner Lokal-Anzeigers »Ein Berliner in München wegen Schiebetanzes verurteilt«.86 Der Artikel informierte über die Verurteilung des Korrespondenten des Berliner Tageblattes, der beim Münchener Presseball »den Schiebetanz in anstößiger Form getanzt« habe, obwohl er mehrmalig durch den Tanzmaître »auf das Unstatthafte dieses Tanzes auf einem Ball der besten Gesellschaft aufmerksam gemacht worden war«. Tatsächlich hatte dieser 84 Ebd. 85 Das Tanzlokal »Mon Plaisir« im Lunapark. LAB , A. Pr. Br. Rep. 030-05, Nr. 3833. 86 Ein Berliner in München wegen Schiebetanz verurteilt, in: Berliner Lokalanzeiger, 2.4.1913.

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Korrespondent seinerzeit vom Presseball berichtet und die polizeiliche Bevormundung kritisiert. »Wer feiert Fasching – wir oder die Polizei?«, lautete seine provokante Formulierung, nachdem er geschildert hatte, wie während der Veranstaltung »vier beamtete Kriminalisten als Wachtposten über den Anstand und die Sittlichkeit der ersten Münchener Gesellschaft aufgestellt« gewesen seien. Dazu habe in der Mitte ein Tanzordner mit Polizeibefugnissen gestanden, der »den lauernden Kriminalisten die harmlosen Opfer der letzten Polizeiverordnung (…) mit Faustgriff zu treiben hatte«. Einen solchen Tanzordner, der mit Polizeigewalt gegen die Tanzenden vorging, habe er noch auf keinem anständigen Ball irgendeiner Metropole gesehen, beklagte sich der Reporter.87 (Siehe Abb. 18.). In den Prozessakten zu diesem Fall wurde festgehalten, dass der Korrespondent des Berliner Tageblattes, Joachim Friedenthal, damals 26 Jahre alt, wegen groben Unfugs nach § 360 des RstGB zu einer Geldstrafe von 50 Mark verurteilt worden war. Das Gericht hatte es als erwiesen angesehen, dass der Angeklagte, »mit einer den vornehmen Ständen angehörigen Dame in der Weise, dass er die Dame mit einer Hand weit unten an ihrem Gesäß festhielt, dass er die Dame fest an sich drückte, dass er seine Knie zwischen die Knie der Dame schob und dass er mit vorgestrecktem Unterleib die Dame vor sich herschob.«88 In Berlin handelte schließlich der Polizeipräsident Traugott von Jagow. Am 31. Mai 1913 erging ein Schreiben an sämtliche Polizei-Hauptmannschaften von Berlin, in denen grundsätzlich darauf hingewiesen wurde, dass die Beamten auf »die sogenannten Schiebe- und Wackeltänze sowie sonstige anstößige Tänze ihr besonderes Augenmerk richten und gegen die Tanzenden auf Grund § 183 oder § 360 Ziffer 11 des Strafgesetzbuchs Strafanzeige erstatten.« Nach dem Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich fielen die Tänze damit unter Paragraph 360, Nr.  11 zur Verübung groben Unfugs oder Paragraph 183 zur Erregung öffentlichen Ärgernisses durch unzüchtige Handlungen.89 Gegenüber den Saalinhabern, die solche Tänze duldeten, wurde die Strafandrohung der Beschränkung oder gar der Entziehung der Tanzerlaubnis unterstrichen.90 Verurteilungen ein87 Ein Presseball unter Polizeiaufsicht (von unserem Korrespondenten), in: Berliner Lokalanzeiger, 28.1.1913. 88 Akten des Polizei-Präsidiums zu Berlin, betreffend anstoßerregende Tänze. LAB , A. Pr. Br. Rep. 030-05 (Theaterpolizei), Nr. 1512. 89 Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, § 360, Nr.  11: »Mit Geldstrafe bis zu fünfzig Thalern oder mit Haft wird bestraft, wer ungebührlicherweise ruhestörenden Lärm erregt oder wer groben Unfug verübt.« Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, Dreizehnter Abschnitt, Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit, § 183: »Wer durch eine unzüchtige Handlung öffentlich ein Aergerniß gibt, wird mit Gefaengniß bis zu zwei­ Jahren bestraft; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.« Gesetz, betreffend die Redaktion des Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Buch als Straf­gesetzbuch für das Deutsche Reich. Deutsches Reichsgesetzblatt, Band 1871, Nr. 24, S. 127–205, Fassung vom 15. Mai 1871. 90 Akten des Polizei-Präsidiums zu Berlin, betreffend anstoßerregende Tänze. LAB , A. Pr. Br. Rep. 030-05 (Theaterpolizei), Nr. 1512.

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Abb. 18: In München ist der Schiebetanz verboten

zelner Tänzer und Strafen gegen Betreiber von Tanzlokalen sollten abschreckend wirken und sie trafen tatsächlich beide Seiten gleichermaßen. Mehrere Saalbesitzer berichteten, dass sie in finanzielle Nachteile geraten seien, weil sie die neuen Tänze nicht geduldet hätten und somit Kundschaft an die Konkurrenz verloren hätten. Tanzlehrer, die ›das Wackeln‹ unterbinden wollten, seien entlassen worden.91 Für das Publikum war die Kontrolle und Einschränkung der neuen Tanzformen damit genauso ein Teil  der Erlebnisdimensionen des Tanzvergnügens wie das Angebot der körperlichen Teilhabe an dieser großstädtischen Kultur. Beide Erfahrungen waren zwei Seiten der gleichen Medaille, die verdeutlichten, dass die Vergnügungskultur der Großstadt sich um 1900 im Wandel befand und Ordnungen und Bedeutungen öffentlich diskutiert wurden. Gleichwohl veranschaulichen die Maßnahmen der Berliner Behörden und der Polizei, dass die Erfahrung, die sich dem Publikum über die neuen Tänze vermittelte, auch eine Erfahrung der Disziplinierung war. Dies betraf die Ragtimetänze vor allem deshalb, weil sie Körperbewegungen und Tanzfiguren in die Öffentlich91 Der Tanz- Von überall her, in: Der Tanz. Spezialbeigabe zur Cabaret-Revue 57 (1913), S. 12 f.

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keit brachten, die außerhalb der bisherigen moralischen Grenzen des bürgerlichen Gesellschaftstanzes lagen. Dies betraf aber unter dem Sammelbegriff der Schiebetänze vor allem auch die Tanzformen der Arbeiterbevölkerung  – sei es in Berlin oder in Buenos Aires  – die sich bürgerlichen Wertmaßstäben entzogen. Die Schiebetänze sind daher mit Recht auch als »proletarische Internationale des Tanzes« bezeichnet worden, denn in Berlin und Buenos Aires oder auch in London und Paris glichen sich diese Tanzformen vor allem in ihrer Verortung in den Wohnvierteln der Arbeiterbevölkerung.92 Das Tanzvergnügen als Teil der großstädtischen Vergnügungskultur bewegte sich damit in einem Spannungsfeld veränderter Lebensrealitäten in der Stadt. Für ein expandierendes Vergnügungsangebot sowie für die damit einhergehenden institutionellen und wirtschaftlichen Veränderungen mussten strukturell neue Ordnungen geschaffen werden und ideell moralische Normen und Verhaltensdirektiven ausgehandelt werden. Zu Beginn des Jahres 1913 schaltete sich die Zeitschrift Der Kunstwart in die Diskussionen um die neuen Modetänze und den deutschen Gesellschaftstanz ein. Unter dem Titel »Tanz und Gegenwartskultur« stellte man fest: Wenn der Tanz, der gesellige Tanz, ein zuverlässiger Kulturmesser ist – und er ist es sicher in etwas ergiebigerem Sinne als der vielberufene Seifenverbrauch  – so sagt auch er: es steht nicht sonderlich gut um unsere Kulturherrlichkeit. Er sagt es zunächst freilich nur von dem faulen Zauber der Großstadtkultur, im besonderen der Berliner Luxuszivilisation. Allein hieraus erwächst uns kein starker Trost, da das Berliner Beispiel ja in allen Fragen des äußeren (und womöglich gar des in­neren) Lebens vom ganzen Reich mit immer noch wachsender Beflissenheit nachgeahmt wird.93

Die neuen Modetänze, so konnte man diesen Äußerungen entnehmen, standen nicht nur in der Kritik, weil ihre Choreographien als moralisch anstößig wahrgenommen wurden, sondern weil sie darüber hinaus ein Gradmesser für den allgemeinen Stand des deutschen Gesellschaftstanzes und der deutschen Kultur zu sein schienen. Zielten die polizeilichen Verbote und Kontrollen konkret gegen unsittliches Verhalten in den Tanzlokalen, schwang hier eine sehr viel grundlegendere Sorge mit, hinsichtlich der Frage, welchen Einfluss die augenscheinliche Veränderung der Tanzmoden auf das kulturelle Leben nehmen würden. Im Mittelpunkt der Kritik stand die Großstadt Berlin mit ihrer Vergnügungskultur, deren »ausschweifendes Leben« solche Auswüchse überhaupt erst ermöglichen würde und damit negativ auf das ganze Deutsche Reich ausstrahle. Der Tanz schien prädestiniert dafür zu sein, einer solchen »Genusssucht« und »Großstadtverkommenheit« Ausdruck zu verleihen, so der Kunstwart. Was die überzeugten Tangotänzer und -tänzerinnen als Ausdruck eines 92 Eichstedt u. Polster, Wie die Wilden, S. 31. 93 Willhelm Rath, Tanz und Gegenwartskultur, in: Der Kunstwart 9 (1913), S. 154–157.

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neuen Lebensgefühls feierten, wurde hier als Ausdruck städtischer Großstadtverkommenheit gedeutet, die sich in Berlin im Besonderen manifestierte und die Vorbildfunktion der Reichshauptstadt gefährdete. Die ambivalenten Deutungsmuster der neuen Modetänze lassen sich in die grundlegenden Debatten um den Wandel der populären Kultur einordnen, denen weit über die Stadt hinaus nationale Bedeutung zugemessen wurde. Nach dem Ersten Weltkrieg und in den 1920er Jahren lösten sich die Bedeutungszuschreibungen des Tanzes von einer solchen primären Verbindung zur Stadt. Das Repertoire des Gesellschaftstanzes und die neuen Tanzimporte, die mit der Jazzmusik in den europäischen Metropolen Eingang fanden, wurden in ihren Bedeutungszuschreibungen und Interpretationen nicht mehr direkt mit der Herausbildung Berlins als Großstadt verknüpft. Gleichwohl blieb der Tanz als kulturelle Metapher virulent. Dies war zunächst an der Verarbeitung des Kriegsgeschehens abzulesen. Das Motiv des Totentanzes und die Darstellung versehrter Kriegskörper zeigten, dass Tanzformen auch weiterhin einen Gradmesser gesellschaftlicher Verfassungen darstellten. In diesem Sinne wurden gerade auch die Tänze der Jazzmusik interpretiert. Die verrenkten Glieder und die außer Kontrolle geratenen Körper konnten bildstark auf die Erfahrungen des Krieges in der Vergangenheit und die politisch wie wirtschaftlich verunsichernden Entwicklungen der 1920er Jahre übertragen werden. In einem Gedicht über den Charleston brachte der Simplicissimus diese Themen zusammen: Charleston Wir tanzen in Fransen die Welt unsrer Väter: Was dann kommt, und dran kommt, das findet sich später! Wir lästern, was gestern uns heilig und teuer Nur Geld gilt im Weltbild der trunkenen Schreier – Verrenke Gelenke im Jazzband-Gegröhle: die Beene alleene ersetzen die Seele – – –94

94 Karl Kinndt (Reinhard Koester), Simplicissimus 31 (1927) Nr. 43, S. 571.

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Abb. 19: Otto Dix, Großstadt (1927/1928)

Fast zeitgleich vollendete Otto Dix sein Großstadt-Triptychon, welches bis heute als ein beeindruckendes Zeugnis der 1920er Jahre gilt (siehe Abb. 19). Hier treffen das Nachtleben Berlins, die Jazzmusik und ein Tanzpaar auf versehrte Kriegskörper und großstädtische Armut. Gerade in dieser Möglichkeit, die urbanen Ambivalenzen darzustellen und zu deuten, lag daher weiterhin die gesellschaftliche Aussagekraft des Tanzes.

3.4 Tanz – Kosmopolitismus – Weltstadt Die Internationalisierung des Angebotes in der Großstadt veränderte die Vergnügungskultur um 1900 grundlegend. Diese Entwicklung schuf für das Publikum neue Erfahrungshorizonte und bot das Erlebnis der Teilhabe an der Weltstadt Berlin. Die neuen Tänze präsentierten dem Publikum ›die Welt in der Stadt‹. Sie verhießen eine subjektive Erfahrung einer neuen Metropolenrealität, die sich über die Vergnügungskultur vermittelte. Das Tanzvergnügen in Berlin am Vorabend des Ersten Weltkriegs war in mehrfacher Hinsicht ein kosmo­ politisches Vergnügen. Erstens setzte sich das Repertoire der Tänze zu einem hohen Grad aus kulturellen Importen zusammen, die im Vergleich zu den Gesellschaftstänzen des 19.  Jahrhunderts nicht mehr vornehmlich aus Zirkulationen innerhalb Europas hervorgegangen waren. Dies resultierte aus der zunehmenden Verflechtung Berlins mit der Welt, durch die die Stadt nicht nur politisch und wirtschaftlich, sondern auch auf kultureller Ebene zunehmend in globale Austauschprozesse eingebunden war. Die Erfindung des Grammophons und die weltweite Ausweitung des Musikalienmarktes waren dabei wichtige Faktoren, die um die Jahrhundertwende bereits relevant waren und sich in den 1920er Jahren vor allem mit der Entwicklung des Radios beschleunig-

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ten.95 Die Tänze selbst trugen dabei Spuren einer transnationalen Geschichte in sich, die auf jahrhundertelange Zirkulationen kultureller Formen über den Atlantik verwies und auf diese Weise eurozentristische Konzepte in sich ab­ geschlossener nationaler Kulturen in Frage stellte.96 Zu Akteuren dieser kulturellen Transfers wurden vor allem Künstlerinnen und Künstler, für die internationale Engagements und damit weltweite Mobilität die Regel geworden waren. War der Künstlerberuf seit jeher durch Reisen geprägt, so ­erreichten diese seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch aufgrund vereinfachter Verkehrswege neue, globale Dimensionen. Zweitens verbanden die transatlantischen Tänze die Metropolen weltweit miteinander. Mit den zirkulierenden Programmen der Varietétheater, den internationalen Engagements von Künstlerinnen und Künstlern sowie einem zunehmenden internationalen Tourismus bewegten sich die Tänze zwischen den Städten. Die Ähnlichkeiten der Vergnügungskulturen der Metropolen untereinander waren damit oftmals sehr viel größer als zwischen Berlin und den kleineren deutschen Städten. Sie entstanden durch vielfältige Austauschprozesse und riefen zeitgleich auch das Bedürfnis nach Abgrenzung hervor. Der Status von Berlin als kosmopolitischer Weltstadt maß sich in diesem Sinne an der Vergleichbarkeit mit anderen Metropolen und an der Fähigkeit, an einer inter­ nationalen Konkurrenz teilzuhaben.97 Drittens wurde Kosmopolitismus, verstanden als ein Zusammentreffen verschiedenster kultureller Einflüsse in einem verdichteten Stadtraum, damit zu einer konkreten Alltagserfahrung der Berlinerinnen und Berliner. Neben dem Repertoire des Tanzvergnügens oder dem internationalen Angebot der Varietétheater bedeutete dies auch die Begegnung mit einer steigenden Anzahl von Touristen aus aller Welt in der Stadt. Mit der zunehmenden Attraktivität von Berlin als ›Fremdenstadt‹ veränderte sich auch für die Berliner Bevölkerung die Wahrnehmung ihrer eigenen Stadt.98 Kosmopolitismus bedeutete immer auch konkurrierende Interessen und Deutungsangebote.99 Die kosmopolitischen Dimensionen der großstädtischen Vergnügungskultur, so verdeutlichte es sich bei genauerem Hinsehen, konstituierten ein Spannungsfeld, welches auch die Kritiker der Inszenierung von Berlin als Weltstadt auf den Plan rief. Des Öfteren wurden die neuen Modetänze als »Tanzepidemie, die von Frankreich und Amerika herüber droht«, interpretiert.100 Solche Formulierungen 95 Scott, Sounds of the Metropolis, S. 38–57. 96 Um das Narrativ einer linearen Entwicklung zu durchbrechen, hat Astrid Kusser hierfür das Bild des Strudels eingeführt; vgl. Kusser, Körper in Schieflage, S. 17 ff. 97 Lange, Tango in Paris und Berlin, S. 184. 98 Steward, The Attractions of Place, S. 255–283; vgl. auch Becker, Das Vergnügungsviertel, S. 156 ff. 99 Walkowitz, Nights Out, S. 5. 100 Franz Wolf, Groteske Gesellschaftstänze. Pas de l’ours und turkey trot, in: Elegante Welt 12 (1912), S. 4.

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inszenierten eine Bedrohungssituation und suggerierten, man sei den neuen Tänzen willenlos ausgeliefert. Die Erfahrung der Weltstadt Berlin, die sich über die Partizipation an den neuen Tänzen vermittelte, brachte in einer solchen Lesart die Gefahr des Verlustes der eigenen Identität mit sich. Den öffentlichkeitswirksamsten Ausdruck einer solchen Sorge um die deutsche Kultur im Allgemeinen und der Vorbildfunktion von Berlin im Besonderen fand das Vorgehen gegen die neuen Tänze im November 1913 mit der Nachricht, der Kaiser hätte seinen Soldaten das Tanzen in Uniform verboten, über das die Berliner Tagespresse umgehend berichtete. Der Kaiser habe seiner Abneigung gegen die neue Tanzmode Ausdruck verliehen und einen Kabinettsordre an die Regimentskommandeure und Schiffskommandanten gerichtet, in dem er die Angehörigen von Armee und Marine ersucht habe, »in Uniform weder Tango noch One- oder Twostep zu tanzen und Familien zu meiden, in denen diese Tänze ausgeführt werden«. Zuwiderhandlungen würden mit sofortiger Dienstentlassung geahndet, berichtete das Berliner Tageblatt.101 Unabhängig davon, ob eine solche Anordnung durch Wilhelm II. je wirklich erlassen worden war und welche Auswirkungen eine solche Handlung gehabt hätte, unterstrich diese Meldung in der Presse die Aufladung des Themas  – aus dem Tango schien für kurze Zeit gar ein Politikum zu werden. Die Reaktionen auf diese Nachricht waren jedoch fast durchweg ironisch, in Karikaturen wurde die Absurdität dieser Neuigkeit verarbeitet (siehe Abb. 20). Selbst die französischen Medien griffen die Nachricht auf. Die Tageszeitung Le Petit Journal veröffentlichte eine Karikatur, die ein Paar beim Tangotanzen zeigte, umringt von mehreren Polizisten in Uniform. Der Kommentar zur Zeichnung vermerkte, hier würden die deutschen Beamten nicht etwa im Tanzen instruiert, sondern darin, woran sie verbotene Tanzformen in Zukunft erkennen könnten.102 Rückblickend zeigt sich an dieser Anekdote gleichwohl folgendes: Während die neuen Tänze auf der einen Seite als Ausdruck großstädtischen Vergnügens interpretiert wurden und damit in einem direkten Verhältnis zu einer spezifisch metropolitanen Kultur standen, bezogen konkurrierende Deutungsangebote zum anderen über die Stadt hinaus Konzepte nationaler Kultur mit ein. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs zeigte sich in der Kritik gegenüber den transatlantischen Tänzen damit auch eine zunehmende Nationalisierung kultureller Identitätsentwürfe im Deutschen Kaiserreich.103 Gerade in der Gleichzeitigkeit transnationaler Verflechtungen und nationaler Abgrenzungen mani101 Der Kaiser gegen den Tango. Ein Erlaß an die Offiziere, in: Berliner Tageblatt 17.11.1913; vgl. auch Tango für Offiziere verboten!, in: Der Tanz. Spezialbeigabe zur Cabaret-Revue 70 (1913), S. 12. 102 Le tango et la police. Comment les agents allemands aprennent à reconnaître les danses prohibées, in: Le Petit Journal, supplément illustré, 1205 (21.12.1913), S. 406; vgl. Lange, Tango in Paris und Berlin, S. 169. 103 Conrad, Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich, S. 9; vgl. auch Bayly, Die Geburt der modernen Welt, S. 241–245.

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Abb. 20: »Wir empfangen Donnerstags vier Uhr, Herr Leutnant!« – »Tangorein?«

festierten sich daher die Dynamik zwischen den europäischen Metropolen und die Ambivalenzen eines metropolitanen Kosmopolitismus.104 Konkurrenz und Abgrenzung sowie komplexe Machtverhältnisse, die sich in der Vergnügungskultur spiegelten, wurden daher auch zunehmend politisch relevant. Die Verarbeitung der Erfahrungen der Großstadt, die Auseinandersetzung mit ›der Welt‹ und die Anpassung an die im doppelten Sinne ›schnelleren Rhythmen der Stadt‹ waren Teil der inneren Urbanisierung, die in Berlin um die Jahrhundertwende ihren verdichteten Raum fand. Während die Berliner Schiebetänze zum Sinnbild für das authentische Berlin wurden, spiegelte sich in den neuen Tänzen die Inszenierung von Berlin als Weltstadt. Beide Erlebnis­ 104 Walkowitz, Nights Out, S. 4 f.

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formen der Stadt, die sich hier über den Tanz vermittelten, fanden zeitgleich statt, ohne sich gegenseitig auszuschließen. Sie spiegelten die Vervielfältigung von Lebenswelten, die Suche nach neuen Ausdrucksformen sowie vor allem die Verarbeitung der Erfahrung der Großstadt in der Vergnügungskultur wider. Was die einen als Ausdruck der Weltstadt Berlin und eines neuen Jahrhunderts feierten, kritisierten die anderen als sittlichen Verfall der Großstadt. Die Reaktionen der Berliner Polizei sowie die Kritik der Gegner der neuen Tänze verdeutlichten, dass der kulturelle Wandel der populären Kultur in der Großstadt auch ein offenes Konfliktfeld darstellte. Dieses Spannungsverhältnis ist symptomatisch für die kulturellen Formen der Großstadt um 1900. Zum Prozess der inneren Urbanisierung gehörte auch dies: Das Aushandeln neuer Formen, die für die einen bedrohlich, für die anderen verführerisch waren, von den einen kommerziell nutzbar gemacht und von den anderen ordnungspolitisch verfolgt wurden. Die Aneignung und Aushandlung solcher Bedeutungszuschreibungen, die sich an den neuen Modetänzen spiegelten, zeigen, dass der Prozess der inneren Urbanisierung von den Menschen in der Großstadt Lernprozesse erforderte und öffentlich diskutiert wurde und die Vergnügungskultur somit die Komplexität und Multidimensionalität der Großstadt vermittelte.

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4. Populärmusik

Kam man 1912 als »Fremdling und Gastfreund«1 nach Berlin, so empfahl einem der in diesem Jahr erschienene Reiseführer Berlin für Kenner, den Besuch mit einem Bummel durch die Stadtmitte zu beginnen. Von Unter den Linden, der »historischen Prachtstraße Berlins«, sollte der erste Weg zunächst die Friedrichstraße mit ihren Seitenstraßen hinunterführen bis zur Leipziger Straße, diese dann am Kaufhaus Wertheim und dem Leipziger Platz vorbei bis zum Potsdamer Platz, von dort wieder hinauf auf der Siegesallee durch den Tiergarten und durch das Brandenburger Tor hindurch zurück auf die Lindenpromenade, die einen schließlich zum Königsschloss führte.2 Der Reiseführer versprach mit diesem Bummel ein erstes Eintauchen in das »Gewoge der Riesenstadt« und in den »Taumel[…] des Berliner Lebens«.3 Je nachdem, zu welcher Uhrzeit man diesen Spaziergang unternahm, konnte man dabei bereits mit der Vielfalt der Berliner Populärmusik in Berührung kommen und die Bedeutung erleben, die ihr im »Taumel« und »Gewoge« des Berliner Lebens zukam. Hielt man sich etwa um die Mittagszeit Unter den Linden auf, so wurde man Zeuge des Aufzugs der Wache, die täglich unter großer Anteilnahme der Bevölkerung und der Touristen vom Brandenburger Tor mit Musikbegleitung zur Haupt- und Königswache neben dem Zeughaus zog und von dort weiter zum Schloss. Nach Ablösung der Wache im Schloss fand dann ein Militärkonzert der Regimentskapelle im Lustgarten statt (siehe Abb.  21).4 Wollte man sich danach in einem der zahlreichen Restaurants und Cafés der Friedrichstadt stärken, so warb etwa das Lokal Hopfenblüte (Unter den Linden 27) damit, dass dort »alltäglich von 1 Uhr mittags ab bis 1 Uhr nachts vier Künstlerkapellen« konzertierten, »darunter zwei erstklassige Damenkapellen«.5 Musik wurde auch in anderen Restaurants, Cafés und Bierlokalen so häufig gespielt, dass es dem Reiseführer eigens hervorhebenswert schien, wenn man in 1 2 3 4 5

Berlin für Kenner, S. 7. Ebd., S. 20–27. Ebd., S. 10. Vgl. ebd., S. 45. Anzeige in ebd., S. 200. Auch andere Cafés in der Nähe, wie das Café Minerva oder das Café Stern (beide auf dem nördlichen Teil der Friedrichstraße zwischen Unter den Linden und Oranienburger Tor gelegen), warben in dem Reiseführer mit »erstklassige[n] Kapellen« (ebd., S.  207) bzw. dem täglichen »Konzert eines Wiener Salon-Orchesters« (ebd., S. 208).

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einem Lokal einmal »ohne Musik einen Skat spielen kann«.6 Am Nachmittag luden dann die eleganten Grandhotels Unter den Linden und am Tiergarten zum Fünfuhrtee mit Begleitmusik, abends fanden hier nicht selten private Festveranstaltungen und Bälle statt, in den angeschlossenen Restaurants wurde »Tafelmusik« gespielt.7 Das Unterhaltungslokal Clou in der Mauerstraße (zwischen Behrenstraße und Leipziger Straße)  bot ebenfalls schon am Nachmittag ein kosten­loses »Promenadenkonzert«.8 Ging man über den Königsplatz hinaus etwas weiter in den Tiergarten hinein, so kam man am Krollschen Gartenetablissement vorbei, in dem ebenfalls Musik gespielt wurde, zu den Zelten. Hier reihten sich schon seit dem späten 18. Jahrhundert mehrere Garten- und Bierlokale aneinander, die im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem festen Ausflugsziel der Berlinerinnen und Berliner geworden waren und täglich ebenfalls mit Musik um ihr Publikum warben (siehe Abb. 22).9 Kurkonzerte fanden hier teilweise schon in den frühen Morgenstunden statt, ab dem Nachmittag wurde dann für die musikalische Untermalung des Kaffee- und Biergenusses aufgespielt. In den Abendstunden öffneten rund um die Friedrichstraße schließlich die zahlreichen Unterhaltungsbühnen, auf denen – von der Operette über das Kabarett, die Revue und das Varieté bis zum Tingel-Tangel – Musik in der einen oder anderen Form zum Programm gehörte. Im Anschluss an die Bühnenshow ging es zum Tanz in die Balllokale und Nachtcafés, aus deren offenen Fenstern, wie Edmund Edel 1910 schrieb, noch um drei Uhr nachts »die Gassenhauer und Walzer durch die Sommernacht«­ flöteten.10 Am nächsten Morgen um sechs Uhr gab es dann, sofern es ein Sonntag war, wieder das erste Kurkonzert im Tiergarten im Kronprinzen-Zelt 1.11 Musik konnte so zum ständigen Begleiter des Großstadtalltags werden.12 Diese »Symbiose von Musik und Alltag«13 war nicht erst eine Folgeerscheinung der Ende des 19. Jahrhunderts entwickelten technischen Möglichkeit der Tonspeicherung und -wiedergabe. Das Radio, das zum Alltagsbegleiter des 20. Jahrhunderts werden sollte, war 1912 noch nicht erfunden, die Tonträgerindustrie steckte noch in den Kinderschuhen. Die Allgegenwart der (live gespielten) Musik im großstädtischen Leben war vielmehr das Ergebnis einer längeren 6 7 8 9 10 11

Ebd., S. 136 (Hervorhebung im Original). Ebd., S. 62–69. Ebd., S. 81. Ebd., S. 141. Edel, Neu-Berlin, S. 26. Vgl. den in Jansen u. Lorenzen, Possen, Piefke und Posaunen, S. 4 abgedruckten Konzertanzeiger von 1904 (Abb. 3). Wochentags fand das erste Kurkonzert um 7 Uhr statt. 12 Wobei sich natürlich auch in der Großstadt Tage ganz ohne Musik verleben ließen, etwa wenn sie sich nur zwischen Arbeits- und Schlafstätte abspielten. Allerdings drang die Musik, wie die weiteren Ausführungen zeigen werden, zunehmend auch in den Alltag der Arbeiterinnen und Arbeiter ein. 13 Wicke, Von Mozart zu Madonna, S. 25.

Populärmusik

Abb. 21: Berlin. Unter den Linden. Aufziehen der Wache, Ansichtskarte von 1910

Abb. 22: Berlin. J. C. Kistenmachers Garten, Ansichtskarte von 1910

Entwicklung, die bis zum Ende des 18. Jahrhunderts zurückreichte und die Derek Scott als »popular music revolution« bezeichnet.14 Der französische Komponist Hector Berlioz berichtete schon 1843 nach seinem Berlinbesuch: »Die Musik schwebt dort in der Luft, man atmet sie ein, man wird von ihr durchdrungen. Man findet sie im Theater, in der Kirche, im Konzert, auf der Straße, 14 Scott, Sounds of the Metropolis.

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in den öffentlichen Gärten, überall…«15 Die lange Jahrhundertwende um 1900 stellt daher keinen Anfangspunkt in der Geschichte der Populärmusik dar, sondern vielmehr eine Transformationsepoche, die einerseits durch eine ökonomische und soziale Ausweitung des Musikmarkts gekennzeichnet war und andererseits durch den Aufstieg der Musikmedien Schallplatte und Radio. Noch bis in die 1920er und frühen 1930er Jahre hinein blieb allerdings live gespielte Musik dominant, bis hin zur live gespielten Kinomusik der Stummfilmzeit. Wie ist nun aber die Populärmusikrevolution des langen 19. Jahrhunderts näher zu beschreiben? Für Peter Wicke ist sie vor allen Dingen durch den Aufstieg der Idee einer »Musik für jedermann« gekennzeichnet.16 Auch im Ancien Régime spielte Musik bereits eine Rolle im Alltag der Menschen, sie blieb aber immer ständisch gebunden: Es gab die Kirchenmusik für die Kirche, die Hofmusik für den Adel, die Stadtmusik für das städtische Bürgertum und die ­›gemeine Musik‹ für die Dorffeste der ländlichen Gesellschaft. In der heraufziehenden bürgerlichen Gesellschaft entstand demgegenüber die Idee einer für jedermann zugänglichen Musik, die nicht mehr an Standesgrenzen gebunden war. Diese Entwicklung lässt sich einerseits als Demokratisierung der Musik beschreiben, da sie den Zugang zur Musik egalisierte und für immer weitere Teile der Gesellschaft eröffnete.17 Vor allen Dingen ist sie aber, andererseits, durch eine Kommerzialisierung der Musik geprägt: Musik wurde zur Ware und zum Gegenstand kapitalistischer Unternehmungen.18 Wurde der Zugang zur Musik vormals durch Standeszugehörigkeit geregelt, so entschied darüber nun die Frage, ob man sich den Besuch eines Konzerts oder eines Lokals mit Musikunterhaltung ökonomisch leisten konnte. Die wichtigste medientechnische Voraussetzung für diese Kommerzialisierung bestand in der Entwicklung der Notendruckschnellpresse mithilfe der Lithographie Ende des 18. Jahrhunderts, die Notendrucke in Massenauflagen ermöglichte.19 Es war schließlich auch, so Peter Wicke, der »Ware-Geld-Mechanismus«, der darüber entschied, »was sich mit dem Begriff des ›Populären‹ verband«.20 Dabei ist die Unterscheidung zwischen Populärmusik und der davon abgegrenzten Kunstmusik – oder in den späteren Begriffen: zwischen E- und U-Musik – selbst ein Ergebnis der geschilderten Prozesse. Da die ständischen Demarkationen weggefallen waren, so lässt sich etwas vereinfacht sagen, schuf sich das Bürgertum mit der Idee und schließlich der Institution der Kunstmusik ein neues Medium

15 Zit. n. Allihn, »Die Musik schwebt dort in der Luft«, S. 12. 16 Wicke, Von Mozart zu Madonna, S. 9. 17 Vgl. zum Begriff der Demokratisierung in diesem Kontext Giesbrecht-Schutte, Zum Stand der Unterhaltungsmusik um 1900; Schutte, Untersuchungen zur Entstehung und Funktion »populärer« Musikformen. 18 Vgl. Scott, Sounds of the Metropolis, S. 15–37. 19 Wicke, Von Mozart zu Madonna, S. 16 f. 20 Ebd., S. 15.

Populärmusik

der sozialen Distinktion.21 Die Kriterien für die Unterscheidung zwischen Populär- und Kunstmusik sind dabei nicht in erster Linie in der Musik selbst zu suchen, sondern im Kontext ihrer Aufführung und Rezeption.22 Eine Ouvertüre aus einer Mozart-, Verdi- oder Wagner-Oper wurde als Kunstmusik wahrgenommen, wenn sie im Konzert- oder Opernsaal von einem professionellen und klassisch ausgebildeten Orchester vor einem schweigsamen und aufmerksamen Publikum aufgeführt wurde. Dieselbe Ouvertüre erfüllte jedoch die Funktion von Populärmusik, wenn sie in Bearbeitung für Salon-Orchester in einem Gartenlokal für die speisenden und sich unterhaltenden Gäste gespielt wurde.23 Im selben Maße, in dem die Kunstmusik im Kontext der bürgerlichen Kunstideologie in die Sphäre des Erhabenen und Außeralltäglichen gehoben wurde, erhielt die Populärmusik in dem bereits genannten Sinn den Charakter eines Alltagsbegleiters. Im Folgenden steht die Populärmusik im Kontext der Vergnügungskultur Berlins zwischen 1880 und 1930 im Vordergrund. Ausgespart bleiben dadurch zum einen die Entwicklung der Kunstmusik vor allen Dingen im philharmonischen Konzert und der Oper und zum anderen die Entwicklung der bürgerlichen Salon- und Hausmusik.24 Auch die Geschichte der Gesangsvereine bürgerlicher oder proletarischer Spielart sowie die Schulmusik werden nicht berücksichtigt. Dort, wo sich diese unterschiedlichen Ausformungen musikalischer Praxis berührten, werden aber auch die Schnittstellen und Übergänge in den Blick genommen.

4.1 Zwischen Gartenkonzert und Operettenbühne: Orte und Urheber der Populärmusik Mehrere Entwicklungslinien haben zur Allgegenwart der Populärmusik im Berlin der langen Jahrhundertwende geführt. An erster Stelle ist dabei an die Tradition der Gartenkonzerte zu denken. Wie bereits in der Einleitung geschildert, entstand seit dem frühen 19. Jahrhundert eine umfangreiche Ausflugs- und Freizeitinfrastruktur im Weichbild von Berlin, die sich im Verlauf des Jahrhunderts weiter ausdifferenzierte. Dabei ist vor allem auf den Tiergarten hinzuwei21 Vgl. dazu Sponheuer, Musik als Kunst und Nicht-Kunst. 22 Vgl. zu diesem Argument, dass Populärmusik nicht vom Charakter der Musik selbst her zu bestimmen ist, sondern von den sozialen Praktiken, die sich an sie knüpfen, auch ­Wicke, »Populäre Musik« als theoretisches Konzept; zur Begriffsproblematik auch­ Rösing, »Populäre Musik«. 23 Dieses systematische Argument gilt auch unabhängig davon, dass sich durchaus typische Genres und Formen der klassischen und der populären Musik herausgebildet haben, die sich auch auf formaler und innermusikalischer Ebene unterscheiden lassen. In den Grenzbereichen lässt sich die Unterscheidung aber nie nur nach innermusikalischen Kriterien bestimmen. 24 Vgl. zur Salonmusik noch immer Ballstedt u. Widmaier, Salonmusik sowie Budde, Musik in Bürgerhäusern, zu Oper und Konzert Müller, Das Publikum macht die Musik.

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sen, der im Laufe der Stadtentwicklung als grünes Zentrum Groß-Berlins immer wichtiger wurde. Drei Ausflugsziele taten sich hier durch ihr Musikangebot besonders hervor: Erstens In den Zelten, die oben schon erwähnten Garten­ lokale am Spreeufer, die sich aus den Leinenzelten entwickelt haben, in denen im 18. Jahrhundert erstmals Erfrischungen verkauft wurden; zweitens das ebenfalls schon erwähnte Krolls Etablissement, ein riesiger, 1844 eröffneter Vergnügungskomplex zwischen den Zelten und dem Brandenburger Tor, der in den 1890er Jahren in ein Opernhaus umfunktioniert wurde; und drittens der ebenfalls 1844 eröffnete Zoologische Garten, der unter seinem dritten Direktor Heinrich Bodinus ab 1869 mit großem Restaurant und Musikpavillon von einer rein zoologischen Anstalt zu einem Ausflugspark erweitert wurde.25 Jedoch wurde nicht nur in diesen Ausflugsetablissements, sondern auch in den Biergärten und den Vergnügungsparks am Rande Berlins Musik gemacht, ja die Musik gehörte oftmals zu den wichtigsten Werbemitteln, um die zahlende Kundschaft anzulocken. Begründer der Tradition der Berliner Gartenkonzerte waren aber zunächst nicht die Schankwirte und Biergärtenbetreiber, die später zumeist als Konzertveranstalter auftraten, sondern die Hoboisten der Garde­ regimenter, die um 1800 erstmals für nicht mehr nur der Hofgesellschaft vorbehaltene »Volkskonzerte« im Tiergarten aufspielten.26 Die Militärmusik blieb dann bis zum Ersten Weltkrieg eine dominierende Größe auf dem Gebiet der Berliner Populärmusik. Das lag zum einen an der hohen Militärpräsenz in der preußischen Residenz- und Garnisonsstadt Berlin und zum anderen an der Tatsache, dass die Militärmusiker neben ihren Dienstverpflichtungen im Regiment auch private Engagements annehmen konnten.27 Dazu waren sie zumeist aus ökonomischen Gründen genötigt, um ihren kargen Sold aufzubessern.28 Die Betreiber der Biergärten, Ausflugslokale und Vergnügungsparks griffen gerne und zahlreich auf dieses Angebot zurück, um ihr Musikprogramm zu bestreiten und von der Popularität der Militärmusik zu profitieren. Die wichtigste Person für die Entwicklung der Berliner Militärmusik hin zur allgemeinen Vergnügungsmusik war Wilhelm Wieprecht. Der 1802 in SachsenAnhalt geborene Komponist, Dirigent und Arrangeur wurde 1838 zum »Direktor aller Musikkapellen des Garde-Korps« ernannt und war von da ab bis zu seinem Tod 1872 die zentrale Gestalt und der wichtigste Reformator der preu25 Vgl. Pappenheim, In den Zelten, durch die Zeiten; Reichhardt, …bei Kroll 1844 bis 1957; Wieke, Vom Etablissement zur Oper; Klös, Die Arche Noah an der Spree. 26 Vgl. Jansen u. Lorenzen, Possen, Piefke und Posaunen, S. 129 f. 27 Vgl. zur hohen Militärpräsenz die Aufzählung in ebd., S. 134 für das Ende des 19. Jahrhunderts: »In Berlin stehen 13 Garde Regimenter der Infanterie, 8 der Kavallerie, 5 der Artillerie, hinzu kommen die Garde Pioniere und die Garde Eisenbahn. Und jede Einheit hat ihr Musikkorps.« 28 Vgl. dazu allg. Eckhardt, Zivil- und Militärmusiker im Wilhelminischen Reich. Die Konkurrenz der an sich in festem Sold stehenden Militärmusiker für die Zivilmusiker war allerdings ein viel diskutiertes berufspolitisches Problem; vgl. ebd., S. 71–99.

Populärmusik

ßischen Militärmusik. Er experimentierte mit unterschiedlichen Orchesterformationen, die immer pompöser wurden. Anlässlich des Berlinbesuchs von Zar Nikolaus I. am 8. Mai 1838 stellte er ein Riesenorchester aus 1.000 Musikern und 200 Tambouren aus allen Berliner Musikkorps zusammen und führte erstmals den Großen Zapfenstreich auf, der in seiner heutigen Form auf ­Wieprecht zurückgeht. Im Juli 1867 erhielt er mit seinem Orchester den ersten Preis beim Wettbewerb der Militärkapellen auf der Weltausstellung in Paris. In Berlin wurde er wie ein Held gefeiert. Dort spielte er nicht nur bei militärischen Anlässen, sondern wurde auch von zivilen Konzertveranstaltern verpflichtet, wie zum Beispiel dem Zoologischen Garten unter Heinrich Bodinus, mit dem Wieprecht 1870 einen Vertrag über 16 sommerliche Konzerte abschloss.29 Neben und zum Teil schon vor Wieprecht gelangten aber auch andere Militär-Kapellmeister wie Josef Gungl, Friedrich Weller oder Carl Liebig zu großer Berühmtund Beliebtheit. Die Kapellmeister und Dirigenten dieser Sorte können als die ersten eigentlichen Stars der Berliner Populärmusik gelten. Auch nach dem Tod Wieprechts 1872 und während des ganzen Deutschen Kaiserreichs blieb die Militärmusik prägend in Berlin, ebenso wie die oben geschilderte Ausflugsinfrastruktur. Das zeigt sich etwa an einem Konzertanzeiger aus dem Jahr 1904 (siehe Abb. 23) aus dem nicht nur der fortgesetzte Musikbetrieb im Zoo, In den Zelten, in Krolls Etablissement, in der Hasenheide und in den diversen Biergärten in Friedrichshain, Schöneberg und Moabit hervorgeht, sondern auch, dass er zumeist von Militärkapellen bestritten wurde. Das tägliche »Militär-Doppelkonzert« im Zoologischen Garten wurde auch in dem eingangs zitierten Reiseführer von 1912 angepriesen. Die dortige Schilderung gibt zugleich einen Eindruck von den Größenordnungen, in denen sich diese Konzerte abspielten: Nebenher ist der Zoologische Garten auch das größte Vergnügungs-Etablissement von Berlin. Im Sommer spielen täglich zwei und an Sonntagen drei Militärkapellen. Im Winter finden nachmittags Konzerte in den Sälen statt. […] Am Konzertplatz, der in Terrassen angeordnet ist, und von der berühmten ›Lästerallee‹, dem Korso, durchschnitten wird, haben mehr als 10.000 Menschen Platz. In den Sälen, Veranden usw. haben in heizbaren, gedeckten Räumen gleichfalls insgesamt 10.000 Personen Platz, so daß hier umfangreichste Winterfestlichkeiten stattfinden können und stattfinden.30

Wie aus dieser Passage zudem hervorgeht, war das Format des Gartenkonzerts nicht auf die Sommermonate beschränkt. Fast alle größeren der genannten Vergnügungslokale verfügten über Saalbauten, die auch im Winter bespielt werden konnten.

29 Vgl. Applegate, »Eine große Nachtmusik«; für die ältere Literatur Kalkbrenner, Wilhelm Wieprecht; für den Kontext Höfele, Die Deutsche Militärmusik. 30 Berlin für Kenner, S. 117.

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Abb. 23: Konzertanzeiger von 1904

Populärmusik

Was nun den Charakter der dargebotenen Musik anbelangt, so bedeutete die hohe Präsenz der Militärmusiker nicht, dass in allen diesen Konzertgärten und Vergnügungslokalen nur Militärmusik gespielt wurde. Die Marschmusik erfreute sich zwar großer Beliebtheit und Marschrhythmen spielten eine wichtige Rolle in der Berliner Populärmusik. Die Militärkapellen spielten aber auch andere Musikgenres, insbesondere Tanzmusik vom Walzer über die Polka bis zum Rheinländer.31 Darüber hinaus wurden auch einzelne Stücke klassischer Komponisten wie Wolfgang Amadeus Mozart, Richard Wagner oder – bei den Militärmusikern besonders beliebt – Carl Maria von Weber gespielt. Dies erfolgte zumeist in entsprechenden Arrangements und Bearbeitungen, die nicht selten von den (häufig auch selbst komponierenden) Dirigenten und Kapellmeistern besorgt wurden.32 Insgesamt lässt sich an den Garten- und Militärkonzerten sehen, dass die Trennung von Kunst- und Populärmusik bis zum Ende des 19. Jahrhunderts noch nicht vollständig abgeschlossen war. Sowohl was das Repertoire und das musikalische Material, als auch was die Darbietungsformen anbelangte, zeigten sich hier noch vielfältige Überschneidungen und Mischungen. Als prominentes Beispiel für diese Überschneidungen kann der Name ­Benjamin Bilse genannt werden. Der schon vorher als Komponist und Kapellmeister erfolgreiche Bilse kam 1867 nach Berlin und bespielte dort seit 1871 den neu erbauten Konzertsaal am Dönhoffplatz an der Leipziger Straße mit seinem Orchester. Die ›Bilse-Konzerte‹, mit großem Orchester und vor großem Publikum gespielt, waren bald eine feste Institution des (besseren) Berliner Gesellschaftslebens und als Heiratsmarkt beliebt. Wie einem Gemälde Adolph Menzels von 1871 zu entnehmen ist, wurde bei Bilse während der Konzerte gegessen und getrunken (siehe Abb. 24). Das Repertoire reichte von Tschaikowsky und Brahms über die »Walzerkönige« Lanner und Strauß bis zu Bilses eigenen Kompositionen, die vornehmlich aus Walzern, Polkas, Quadrillen und Märschen bestanden. Max Kretzer schreibt in seinen 1919 erschienenen, aber schon aus der Vorkriegszeit stammenden Berliner Erinnerungen und Studien, dass besonders der Donnerstagabend im Berliner Konzerthaus ein »sogenannter ›leichter‹ Abend« gewesen sei, an dem die »leichtfertige[…] Unterhaltungsmusik« das »Reich der Töne« beherrscht habe. Bilse selbst bezeichnete er als den »eigentliche[n] Schöpfer der volkstümlichen Instrumentalmusik, die er in ein System gebracht hatte«.33 Um rentabel zu wirtschaften, musste das Bilse-Orchester neben den Auftritten im eigenen Konzertsaal auch regelmäßig Gartenkonzerte und auswärtige Gastspiele geben. Der Arbeitsdruck der Musiker war hoch. 1882 kam es 31 Vgl. zur Bedeutung der Tanzmusik für die Populärmusik insg. Wicke, Von Mozart zu Madonna, S. 47–74; zum Tanz auch oben, Kap. 3. 32 Vgl. Allihn, »… über meine Klinge mußten alle großen Meister springen…«. 33 Kretzer, Wilder Champagner, S. 31 f. Leider gibt es zu Benjamin Bilse bislang keine monographische Studie; vgl. stattdessen die Abschnitte in Kiaulehn, Berlin, S. 268 ff.; Mugay, Berliner Musike, S. 302 f.

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Abb. 24: Adolph Menzel, Konzert mit dem Dirigenten Bilse, 1871

angesichts einer Konzertreise nach Warschau zu einem Streit über Gagen und Arbeitsbelastung, der zum Austritt von 54 Musikern aus dem Bilse-Orchester führte. Die ausgetretenen Musiker protestierten jedoch nicht nur gegen die Arbeitsbedingungen, sondern auch gegen das in ihren Augen (oder genauer: Ohren) zu populäre Repertoire. Sie gründeten das Berliner Philharmonische Orchester, das später unter dem Namen Berliner Philharmoniker weltberühmt wurde und sich ganz auf die Kunstmusik konzentrierte. Insofern kann die Trennungsgeschichte von Bilse-Orchester und Berliner Philharmonikern exemplarisch für die Trennungsgeschichte von Kunstmusik und Populärmusik stehen, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts vollzog. Dass diese Trennung nur schrittweise und keineswegs linear vonstattenging, lässt sich allerdings auch an den Berliner Philharmonikern sehen, die ihre ersten eigenen Konzerte ebenfalls noch mit populärer Musik im Gartenlokal Flora bestritten. Erst unter ihrem Chefdirigenten Hans von Bülow, der das Essen, Trinken, Reden und Rauchen

Populärmusik

während seiner Konzerte unterband, setzte sich ab 1887 die Entwicklung zum reinen ›ernsten‹ Orchester durch.34 Der Austritt der 54 Musiker aus dem Bilse-Orchester verweist allerdings nicht nur auf die Trennung von Kunst- und Populärmusik, sondern auch auf die oftmals prekären Arbeitsbedingungen von Berufsmusikerinnen und -musikern. Mit dem Aufstieg der Populärmusik und dem schrittweisen Aufbrechen der Zunftordnungen im 19. Jahrhundert hat sich auch der Berufsstand des frei auf dem Markt agierenden Dienstleistungsmusikers herausgebildet.35 Leider gibt es keine genauen Angaben über die Zahl der um 1900 in Berlin tätigen Berufsmusikerinnen und -musiker. Die Berufsstatistik der deutschen Großstädte erfasste »Musik, Theater, Schaustellungen aller Art« in einer Kategorie und wies darin für das Jahr 1895 5.960 Erwerbstätige im Hauptberuf aus.36 Im Deutschen Reich insgesamt soll es 1906 über 50.000 Zivilberufsmusikerinnen und -musiker gegeben haben.37 In seiner Dissertation über die soziale Lage der Berufsmusiker in Deutschland von 1921 ging Richard Thielecke trotz des Weltkriegs bereits von etwas höheren Zahlen aus. Er unterteilte die »ausübenden Musiker« (die er von den »produktiven« Musikern, d. h. den Komponisten unterschied)  dabei in die Gruppen der Dirigenten, Musikpädagogen, Solisten, Orchestermusiker, Ensemble- und Kinomusiker, »freistehenden Musiker« und Werksmusiker.38 Die »freistehenden Musiker« bildeten dabei die größte Gruppe, wobei zu ihnen auch »die stets wachsende Zahl der engagementslosen Orchestermusiker« gehöre.39 Sie seien auf »Gelegenheitsmusiken« angewiesen, sie besorgten »vor allem Tanz-, Umzugs- und Grabmusik« oder fungierten als »Aushilfsmusiker in grösseren Theater- oder Konzertorchestern«: »Ihr Los ist ein sehr trauriges.«40 Von diesem traurigen Los gibt auch der auf eigenen Erfahrungen beruhende, allerdings stellenweise fiktionalisierte Bericht Auskunft, den Victor Noack 1906 unter dem Titel Was ein Berliner Musikant erlebte in der von Hans Ostwald herausgegebenen Reihe der Großstadt-Dokumente veröffentlichte. Noack schildert darin die prekäre Karriere eines Klavierdienstleisters aus dem »Musikproletariat«, der sich nach der Ausbildung bei einem Stadtkapellmeister mit wechselnden Aufträgen und Engagements mehr schlecht als recht über Wasser hält, sich stets am Rande der Armut bewegt und schließlich als Zuhälter endet.41 Der ge34 Vgl. Haffner, Die Berliner Philharmoniker, S. 7–50. 35 Vgl. Wicke, Zwischen musikalischer Dienstleistung und künstlerischem Anspruch. 36 Berufsstatistik der deutschen Großstädte. Erster Theil. Bearbeitet im Kaiserlichen Statistischen Amt (Statistik des Deutschen Reiches, Neue Folge, Bd. 107), Berlin 1897, S. 46. Im getrennt erfassten Charlottenburg waren es 482 Erwerbstätige (ebd., S. 61). 37 Vgl. Noack, Was ein Berliner Musikant erlebte, S. 107; dazu auch Schröder, Tanz- und Unterhaltungsmusik in Deutschland 1918–1933, S. 171. 38 Vgl. Thielecke, Die soziale Lage der Berufsmusiker in Deutschland. 39 Ebd., S. 20. 40 Ebd., S. 21. Vgl. dazu auch als zeitgenössische Streitschrift Krehl, Musikerelend; zur Untergruppe der Unterhaltungsmusikerinnen Kaufmann, »…routinierte Trommlerin gesucht«. 41 Noack, Was ein Berliner Musikant erlebte, S. 110.

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samte Bericht ist von stark moralischen Wertungen gefärbt, da er die »Degeneration und Demoralisation« beklagt, denen der Dienstleistungsmusiker durch die stete Nähe zur »Halbwelt«, zur Prostitution und zum Alkoholismus ausgesetzt sei.42 Er endet schließlich mit einem Plädoyer für die gewerkschaftsförmige Organisation der Berufsmusiker im Zentralverband der Zivilmusiker Deutschlands, in dem Noack als Mitglied aktiv war und der zur Verbesserung der sozialen Lage der Berufsmusiker beitragen sollte.43 Unabhängig von diesen moralischen und berufspolitischen Fragen macht der Bericht von Victor Noack die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Auftrittsmöglichkeiten von Berufsmusikerinnen und -musikern deutlich. So spielte­ Noack unter anderem in den oben ausführlicher erwähnten Garten- und Sommerlokalen sowie auf privaten Festveranstaltungen. Den größeren Teil  seiner Engagements fand er jedoch in den Lokalen der Innenstadt, vom »vornehmen Ball-Etablissement der Friedrichstadt« und dem »mit Stuck und Goldbronze überladenen, lichtgesättigten Kaffeehaus« bis zum »vornehmen Weinrestaurant« und der »eleganten ›Damenkneipe‹«.44 Diente die Musik in diesen Lokalen  – ebenso wie in den Sommergärten – in erster Linie der Unterhaltung der essenden und trinkenden Gäste (und damit der Aufwertung des gastronomischen Angebots) oder der Tanzbegleitung, so verzeichnet Noack auch zwei Engagements in Etablissements, in denen die musikalische Darbietung im Vordergrund stand (und das gastronomische Angebot deren Aufwertung diente): einem »Tingel-­ Tangel«, in dem er »jeden Abend von sechs bis elf frivole Coupletsänger und Chansonetten begleiten« musste, sowie einem »sehr bekannten Variété«.45 Damit verweist der Bericht von Noack auf eine zweite Entwicklungslinie in der Berliner Populärmusik um 1900, die bis ins frühe 19. Jahrhundert zurückreicht. Lässt sich die Allgegenwart der Populärmusik in der Berliner Gastronomie auf die Tradition der Biergarten- und Ausflugslokalkonzerte zurückführen, so hat auch die Vielfalt der auf Theater- und Unterhaltungsbühnen gespielten Populärmusik ihren Ursprung schon vor der Zeit der Jahrhundertwende. Allerdings bestehen zwischen diesen beiden Entwicklungslinien vielfältige Berührungs- und Überschneidungspunkte, da auch die Theater und Varietés häufig aus Sommergärten und Ausflugsgaststätten hervorgegangen sind und in den Café chantants und Singspielhallen auch die Gastronomie eine wichtige 42 Ebd., S. 107. Vgl. zur Nähe von Vergnügungskultur und Prostitution auch Häusler u. Hitzer, Zwischen Tanzboden und Bordell; zum Verhältnis von Vergnügungskultur und Drogenkonsum unten Kap. 6. 43 Auf die Geschichte dieser Berufsverbände, zu denen neben dem Zentralverband der Zivilmusiker Deutschlands u. a. der sehr viel größere Allgemeine Deutsche Musiker­ verband sowie der Deutsche Musikdirektoren-Verband gehörten, kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden; vgl. dazu zeitgenössisch Thielecke, Die soziale Lage der Berufsmusiker in Deutschland. 44 Noack, Was ein Berliner Musikant erlebte, S. 40, 74, 84 u. 102. 45 Ebd., S. 48 u. 98.

Populärmusik

Rolle spielte. Im Kapitel über das Unterhaltungstheater sind die Entwicklung der Theaterlandschaft und die Bildung der Vergnügungszentren zunächst um die Friedrichstraße und später im neuen Westen bereits beschrieben worden. Der Populärmusik kam auf diesen Unterhaltungsbühnen je nach Genre unterschiedliches Gewicht zu. War sie in den Revuen und Operetten integraler Bestandteil der gesamten Bühnenhandlung, so wechselten sich im Varieté akrobatische, humoristisch-deklamatorische und musikalische Nummern ab. Im Café chantant und im Tingel-Tangel standen Musik- und Tanzdarbietungen im Vordergrund, während im später entstandenen Kabarett sich Gesangs- mit Sprechnummern abwechselten.46 Die großen Theater, Operettenhäuser und Varietés unterhielten in der Regel eigene Musikerensembles, prominente Kapellmeister spielten eine nicht unerhebliche Rolle in der Werbung und beim Kassenerfolg. Die kleineren Bühnen und Singspielhallen engagierten meist in kürzeren Abständen wechselnde Ensembles. Diese Ausdifferenzierung der Vergnügungslandschaft mit ihren vielfältigen Auftrittsmöglichkeiten für Populärmusikerinnen und -musiker war bis zum Ersten Weltkrieg bereits weit fortgeschritten. So listete das Ortsverzeichnis des Artisten-Kalenders von 1911 etwa 48 Theater, Varietés und Circusse auf, in denen Dienstleistungsmusiker auf Engagements hoffen konnten, sowie 40 Sommer­ lokale, 5 Cabarets und 124 Konzertlokale.47 Nach dem Ersten Weltkrieg blieb diese Grundstruktur weitgehend erhalten, wobei sich aber im Detail Verschiebungen erkennen lassen. Diese betreffen in erster Linie den Rückgang der Gartenlokale (der mit dem weitgehenden Wegfall der Militärkapellen einherging) und den Aufstieg der Kabaretts. So wurden im Ortsverzeichnis des ArtistenHandbuchs von 1926/27 für Berlin folgende Etablissements aufgeführt: 10 Varietés (darunter der Lunapark als »Sommeretablissement« und das »Métropol-Varieté«), 37 Kabaretts, 22 »Dielen mit Tanz oder Tanzvorführungen«, 100 Konzertlokale, 44 Weinrestaurants und Bars, 11 »Hotels mit Conzert«, 11 Sommerbühnen (darunter wiederum der Lunapark) und 24 Tanzsäle.48 Hinzu kamen die in dieser Aufzählung fehlenden Kinos, deren Zahl schon vor dem Krieg rasch gewachsen war und die vor allen Dingen während der 1920er Jahre, in der Hoch46 Vgl. zu diesen Genreunterscheidungen (mit ihren vielfältigen Überschneidungen) den Überblick bei Jansen, Das Varieté. 47 Verlag des »Artist« (Hg.), Artisten-Kalender für das Jahr 1911, 14. Jahrgang, Düsseldorf 1911, S. 104–111. 48 Vgl. Verlag des »Artist« (Hg.), Artisten-Handbuch 1926–27. 22. Jahrgang des Artistenkalender, Düsseldorf 1926, S. 19–24. Das Ortsverzeichnis des Artisten-Kalenders macht insgesamt – vor wie nach dem Ersten Weltkrieg – deutlich, dass die weite Verbreitung der Populärmusik nicht auf Berlin beschränkt war. Auch in den anderen großen und mittelgroßen deutschen Städten war die Grundstruktur der Populärmusikstätten ähnlich, die Musiker waren in der Regel darauf angewiesen, für wechselnde Engagements von Stadt zu Stadt zu reisen. Das Ortsverzeichnis des Artisten-Kalenders macht aber auch deutlich, dass Berlin, was die Anzahl der eingetragenen Etablissements anbelangt, mit sehr deutlichem Abstand vor allen anderen Städten des Deutschen Reichs lag.

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phase der Kinopaläste, eine wichtige Spielstätte für Populärmusikerinnen und -musiker geworden waren, vom einzelnen Klavierspieler bis zum 30 Musiker umfassenden Orchester. 1925 soll es in Berlin insgesamt 352 Kinos gegeben haben.49 Die Einführung des Tonfilms ab 1929 verschärfte dann, zusammen mit der Weltwirtschaftskrise und dem Aufstieg des Radios, die Krise des Musikergewerbes. Doch an der Allgegenwart der Populärmusik im Großstadtleben änderte auch diese Krise nichts mehr. Sie setzte lediglich die live spielenden Dienstleistungsmusikerinnen und -musiker unter Druck, die nun zunehmend durch Grammophone, Radios und (Kino-)Lautsprecher ersetzt wurden. Die Musik selbst jedoch blieb als großstädtischer Alltagsbegleiter präsent.

4.2 Zwischen Zuhören und Mitsingen: Die Praxis der Populärmusik Die Darstellung des Populärmusikangebots und der unterschiedlichen Spielstätten für Dienstleistungsmusiker hat bereits deutlich gemacht, dass die großstädtische Populärmusik grundsätzlich keinen exklusiven, sondern einen sozial integrativen Charakter hatte. Sie war tatsächlich »Musik für jedermann«.50 Dabei lassen sich im Einzelnen jedoch vielfältige soziale Differenzierungen erkennen. So gab es etwa unter den Varietés solche, die eindeutig ein ›gehobenes‹ Publikum adressierten, während sich etwa das im Berliner Osten gelegene Plaza als »Volksvarieté« an ein proletarisches Publikum wandte.51 Die Tanztees und Ballveranstaltungen in den Grandhotels blieben der ›eleganten Welt‹ vorbehalten, zum Tanzvergnügen in die Hasenheide gingen in erster Linie die Arbeiterinnen und Arbeiter, die Handwerker und Dienstmädchen. Daneben gab es aber auch Großveranstaltungshäuser wie den 1908 eröffneten Eispalast in der Lutherstraße oder den 1911 in Betrieb genommenen Admiralspalast in der Friedrichstraße, bei denen das Publikum in sich sozial differenziert war. So war es etwa für das Sechstagerennen im 1910 eröffneten Sportpalast in der Potsdamer Straße (bei dem die Begleitmusik eine wichtige Rolle spielte) charakteristisch, dass es gleichzeitig die ›bessere Gesellschaft‹ anzog, die sich in den Logen und auf den teureren vorderen Plätzen niederließ, und ein kleinbürgerlich-proletarisches Publikum, das das Parkett und den sogenannten »Heuboden«, den letzten Rang oberhalb der Musikkurve, bevölkerte.52 Im Einzelnen ist es schwierig oder ganz unmöglich, die genaue soziale Zusammensetzung des Publikums der jeweiligen Populärmusikformate und -angebote 49 Vgl. Schröder, Tanz- und Unterhaltungsmusik in Deutschland 1918–1933, S. 178–187; allg. dazu auch Bandur, Frühe Kinomusik im städtischen Raum. 50 Wicke, Von Mozart zu Madonna, S. 9. 51 Vgl. Jansen, Das Varieté, S. 221–236; zur sozialen Differenzierung des Berliner Vergnügens auch Hochmuth u. Niedbalski, Kiezvergnügen in der Metropole (dort zum »Plaza« S. 131–134). 52 Vgl. Morat, Sport und Vergnügungskultur.

Populärmusik

zu rekonstruieren. Um die soziale Funktion der Populärmusik zu bestimmen, ist das jedoch auch nicht notwendig. Stattdessen ist es sinnvoller, die Verbreitungswege der Populärmusik zu verfolgen und das Populärmusikhören und -machen als urbane soziale Praxis in den Blick zu nehmen. Dies ist insbesondere bei den populären Liedern möglich, die als Schlager und Gassenhauer in charakteristischer Weise durch den Stadtraum wanderten. Diese beiden Begriffe hängen eng miteinander zusammen und werden gelegentlich auch synonym gebraucht. Während der Begriff des Gassenhauers als Bezeichnung für populäre, auf den Gassen gesungene Lieder schon aus der Frühen Neuzeit stammte, kam der Begriff des Schlagers erst in der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts auf. Er bezeichnete zunächst noch kein bestimmtes musikalisches Genre, sondern in erster Linie den Erfolg eines populären Lieds (im Sinne des Verkaufsschlagers). Er etablierte sich bereits um 1900 als »Sammelbezeichnung, die die verschiedenen Liedtypen, von Operettenlied bis Couplet, von Chanson bis zum Gassenhauer, zusammenfaßte«.53 In dieser Aufzählung subsumierte Peter Wicke die Gassenhauer als Teilmenge unter die Schlager. Die Unterscheidung zwischen den beiden Begriffen lässt sich jedoch produktiver machen, wenn man sie zur Gewinnung unterschiedlicher Perspektiven auf das gleiche Phänomen der populären Lieder nutzt. Der Schlagerbegriff, so wird im Folgenden argumentiert, impliziert dann in erster Linie den kommerziellen Vermarktungsaspekt, während der Begriff des Gassenhauers die aktive Aneignung der Populärmusik durch die Stadtbevölkerung betont. Der Schriftsteller und Berlinchronist Walther Kiaulehn lässt die »große Schlagerzeit in Berlin« mit den 1890er Jahren beginnen und assoziiert sie in erster Linie mit den Operettenkomponisten Paul Lincke, Walter Kollo und Jean Gilbert, die er als die »drei Schlagerkönige an der Spree« bezeichnet.54 In dieser Zeit lässt sich tatsächlich bereits von einer Schlagerindustrie sprechen, die in Berlin eine Hochburg hatte und die eng mit der Operettenproduktion, dem Musikverlagswesen und der aufstrebenden Tonträgerindustrie verbunden war.55 Auf diese Weise ergab sich ein typischer Verbreitungsweg für die Schlagermelodien: Nachdem sie für eine Operette oder Revue komponiert und auf einer Theater- oder Varietébühne aufgeführt worden waren, wurden sie auf Schallplatte aufgenommen und als Notendruck für den privaten Gebrauch, aber auch für den Gebrauch von Kaffeehaus- und Gartenlokal-Kapellen verkauft. Die Noten und Texte wurden dabei nicht nur in Notenbüchern, sondern auch auf Flugblättern und Ansichtskarten vervielfältigt (siehe Abb. 25). Auf diese Weise fanden die Schlager ihren Weg von der Theaterbühne in die Gartenlokale und 53 Wicke, Von Mozart zu Madonna, S.  89; vgl. auch Czerny u. Hofmann, Der Schlager; Sperr, Schlager. 54 Kiaulehn, Berlin, S. 238. 55 Vgl. Becker, Die Anfänge der Schlagerindustrie; zum Musikverlagswesen auch Döll, Das Berliner Musikverlagswesen in der Zeit von 1880 bis 1920; Jäger, Der Musikalienverlag; Nathaus, Popular Music in Germany, 1900–1930.

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Abb. 25: Paul Linckes Glühwürmchen-Idyll aus der Operette Lysistrata von 1902 auf einer Ansichtskarte

Kaffeehäuser, in die Privatwohnungen und auf die Straße, wo sie von den Straßenkindern gesungen und von den Leierkastenmännern gespielt wurden, wie sich auch der Operettenkomponist Oscar Straus erinnerte: »Zuerst mußten sie auf der Bühne Erfolg haben. Dann kaufte man die Noten für die Klavier spielende Tochter. Schließlich übernahmen die Tanzkapellen die Schlager, bis unsere Melodien zu Gassenhauern und so allmählich zu Tode gehetzt wurden.«56 56 Zit. n. Pem, Und der Himmel hängt voller Geigen, S. 25. Dieser Art der Verbreitung populärer Lieder ist allerdings auch schon vor der »großen Schlagerzeit« bezeugt. So erinnert sich Felix Philippi an die Lieder aus den beliebten Volksstücken und Possen des Wallner-

Populärmusik

Abb. 26: Werbeanzeige von Otto Werde (ohne Jahr)

Auf diesem Verbreitungsweg – der von den Komponisten durchaus kritisch gesehen werden konnte, wie das Zitat von Oscar Straus belegt – beruhte das Geschäftsmodell der Musikverlage, weshalb der Verlag von Otto Wrede mit dem Slogan warb: »Schlager von Wrede – singt Jeder und Jede« (siehe Abb. 26). Dies ist zunächst nur eine Werbebehauptung. Tatsächlich finden sich aber viele Be-

Theaters aus der Zeit vor der Reichsgründung: »Von der schnellen Popularität eines solchen Couplets der damaligen Zeit macht man sich keinen Begriff; es wurde Gemeingut, weil es volkstümlich gedacht und weil es volkstümlich empfunden war. Ein paar Tage nach seiner bejubelten Feuertaufe im Wallnertheater flatterte es durch Berlin, zog es ein in die Beletagen, in die Küchen und Gemüsekeller; es tönte von den Lippen der Schul­ jungen und der Dienstmädchen, die Schusterjungen pfiffen’s, die Marktweiber gröhlten’s, die Droschkenkutscher und Eckensteher brummten’s, und die Leierkasten wimmerten es.« (Philippi, Alt-Berlin, S. 117.)

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lege für die weite Verbreitung der Populärmusik auf den Straßen und Hinter­ höfen Berlins. Der Leierkasten, der auch auf der Wrede’schen Werbeanzeige zu sehen ist und als typisches Berliner Straßenmusikinstrument gelten kann, spielte bei dieser Verbreitung eine nicht unwesentliche Rolle. Als Instrument stammt die Drehorgel bereits aus dem 18. Jahrhundert. In Berlin wurde sie aber erst im Laufe des 19. Jahrhunderts zum typischen Hinterhofinstrument, seit sie quasi-industriell gefertigt wurde und eine regelrechte Drehorgelindustrie den Verkauf oder die Vermietung an die Drehorgelspieler organisierte und die Versorgung mit wechselnden Musikwalzen sicherstellte.57 Laut einer Quelle aus dem Jahr 1893 sollen in dieser Zeit 3.000 Drehorgelspieler in Berlin gleichzeitig ihrem Gewerbe nachgegangen sein.58 Der Leierkasten war allerdings nicht das einzige Straßenmusikinstrument. Auf den Hinterhöfen wurde auch gesungen, getrommelt, Geige oder Harfe gespielt, auch Grammophone konnten mit mobilem Untersatz als Straßenmusikinstrument und zur Begleitung klein­ künst­lerischer Darbietungen eingesetzt werden (siehe Abb. 27).59 Publikum dieser Hinterhofkonzerte und -vorstellungen waren die Arbeiterinnen und Arbeiter, Kinder und Jugendlichen, die in den Hinterhäusern wohnten, sowie die Heimarbeiterinnen und Handwerker, die dort ihre Werkstätten hatten, aber auch die Hausfrauen und Dienstmädchen in den ›besseren‹ Wohngegenden, die von den Drehorgelspielern ebenfalls, wenn auch seltener, frequentiert wurden. Das Kleingeld für die Musikerinnen und Musiker wurde häufig in Papier gewickelt aus dem Fenster in den Hof geworfen. So beschrieb August Trinius die »Berliner Hofmusik«, der er in seinem Berliner Skizzenbuch von 1885 ein eigenes Kapitel widmete: Den Vortritt unter allen Vertretern der Berliner Hofmusik beanspruchen seit Jahren die Leierkastenvirtuosen. […] Ein Abkommen untereinander scheint wenigstens stattzufinden. Denn jeder Hofvirtuose hat seinen bestimmten Stadttheil, seine bestimmten Häuser und Höfe, in denen er genau an demselben Tage, zur selben Stunde, mit unheimlicher Pünktlichkeit, gleich den Aposteln an der Rath­ hausuhr zu Prag, erscheint. […] Die Kinder auf dem Hofe vergessen Ball und Puppe. Sie haben sich angefaßt und tanzen lachend im Ringelreihen zu dem Takte

57 Vgl. Hopf u. a., Der Leierkasten; Kerbs, Leierkästen in Berlin 1912–1932; Metzger u. Kreiss, Drehorgeln; Zeraschi, Drehorgeln; allg. auch Grosch, Drehorgel, Orgellied und die Eroberung des öffentlichen Raums durch populäre Musik im 19. Jahrhundert, der besonders den »Medienwechsel von der Bühne auf die Walze« (S. 60) in den Blick nimmt und dabei zeigt, dass die Drehorgel schon im frühen 19. Jahrhundert als Verbreitungsmedium für Bühnenmusik diente. 58 Lindenberg, Straßenexistenzen, S. 114. 59 Seit 1869 war das ambulante Musizieren der Gewebeordnung unterworfen, d. h. es erforderte den Erwerb eines Legitimationsscheins; vgl. Grosch, Drehorgel, Orgellied und die Eroberung des öffentlichen Raums durch populäre Musik im 19. Jahrhundert, S. 51; vgl. zur Harfe als typischem Hinterhofinstrument Schröder, Großstadtklang.

Populärmusik

Abb. 27: Willy Römer, Berliner Hofmusik, 1905

der Musik. Der Schusterjunge im Keller pfeift die Melodie und haut dabei mit kräftigen Hammerschlägen auf das zähe Sohlenleder nieder. Und während Madame soeben den dritten ›Nickel‹ sorgfältig einwickelt, trällert die rotharmige ­Kathrine in der Küche das allerliebste Lied mit.60

Diese Straßen- und Hinterhofmusikpraxis hielt bis zum Ende des hier behandelten Zeitraums an. So beschrieb etwa Christopher Isherwood in seinem fiktionalisierten Erinnerungsbuch an seine Berliner Zeit 1931/32 die Hinterhofmusik in einem Mietshaus in der Gegend um das Hallesche Tor:

60 Trinius, Vom grünen Strand der Spree, S. 17–20. In seiner Schilderung hebt August Trinius allerdings auch darauf ab, dass die Hofmusik nicht von allen Anwohnern gern gehört und von vielen (so wie auch von Trinius selbst) als Lärmbelästigung empfunden wurde. Vgl. dazu auch den Bericht aus der Berliner Gerichtszeitung über ein Verfahren gegen einen des Hausfriedensbruchs angeklagten Drehorgelspieler: »Die Drehorgel, die seit langem in Berlin das Bürgerrecht erworben hat, regt die Gemüter zu sehr entgegengesetzten Empfindungen an. Die einen, darunter vornehmlich die Dienstmädchen und die Straßenjungen, verehren mit schwärmerischer Begeisterung den Leierkastenmann, während wieder andere demselben mit lauten Zornesäußerungen oder auch mit innerlichem Knirschen alles erdenklich Böse an den Hals wünschen.« (Berliner Gerichtszeitung 34 (1886) Nr. 70); dazu ausführlicher Morat, Sounding Out Urban Space.

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In dem düsteren Hofschacht unten, aus dem bei diesem feuchtkalten Herbstwetter nie der Nebel wich, gaben die Straßensänger und Musikanten fast ununterbrochen ihre Vorstellungen. Mandoline spielende Knaben, ein alter Mann mit Ziehharmonika und ein Vater, der mit seinen kleinen Töchtern sang.61

Wie die Werbeannonce des Otto Wrede Verlags anzeigt, lag die Verbreitung der Populärmusik von den Operettenbühnen bis in die Hinterhöfe im genuinen Geschäftsinteresse der Musikindustrie. Es sollen sogar Leute dafür bezahlt worden sein, die neuesten Melodien auf den Straßen zu pfeifen, um sie bekannt zu m ­ achen.62 Insofern lässt sich durchaus von einer von Verkaufsinteressen gesteuerten Verbreitung der Populärmusik ›von oben‹ sprechen. Allerdings war das kein einseitiger Prozess. Denn gleichzeitig fand auch ein Prozess der Aneignung der Populärmusik ›von unten‹ statt, der nicht alleine mit dem kommerziellen Interesse der Musikindustrie erklärt werden kann. Während letzteres vor allen Dingen mit dem Schlagerbegriff assoziiert ist, verbindet sich der Aneignungsprozess von unten in erster Linie mit dem Begriff des Gassenhauers. Gassenhauer waren zunächst einmal die populären Lieder, die so beliebt und erfolgreich waren, dass sie von den Leuten auf den Straßen und in den Biergärten (mit-)gesungen wurden. Dieses Singen fand aber nicht immer in der vom Komponisten gedachten Weise statt. Es ist vielmehr konstitutiv für den Gassenhauer, dass er abgewandelt wurde und in unterschiedlichen Versionen kursierte, die oft auf lokale Besonderheiten oder aktuelle Begebenheiten Bezug nahmen und nicht selten parodistischen oder ironischen Charakter hatten. Diese Form der populären Gesangspraxis lässt sich bis ins frühe 19. Jahrhundert zurückverfolgen.63 Um 1900 konnten dann auch die Schlager aus der Operetten-

61 Isherwood, Goodbye to Berlin, S. 133 f. 62 Vgl. Peregrin, Kultur, in: Der Antirüpel (Recht auf Stille). Monatsblätter zum Kampf gegen Lärm, Roheit und Unkultur im deutschen Wirtschafts-, Handels- und Verkehrsleben 2 (1910) Nr. 3, S. 15 f.: »Ein neuer Beruf hat sich in Berlin ausgebildet. Die Operettenhochflut der letzten Jahre hat die Fabrikanten der zugkräftigeren Marsch- und Walzerschlager einigermaßen ins Gedränge gebracht. Der Absatz der Komposition hat mit der zunehmenden Zahl solcher Schlager stark nachgelassen. In einer Zeit, wo ein Walzer den anderen ablöst, geraten Melodien sehr bald in Vergessenheit, wenn nicht für ihre Volkstümlichkeit in möglichst nachhaltiger Weise gesorgt wird. Deshalb haben die ingeniösen Operettenkomponisten und ihre Verleger zu dem originellen Mittel gegriffen, Leute anzuwerben, die imstande sind, die neuesten Couplets bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit dem Publikum vorzupfeifen. In erster Linie dienen dazu die Claqueure der Berliner Spezialitäten- und Operettentheater. Darüber hinaus aber bezahlt man heut schon einen großen Teil  Lindenbummler und andere Elemente dafür, daß sie die betreffende Melodie auf Straßen und Plätzen zum Vortrage bringen. Wenn die Stadtpfeifer von Berlin bei diesem Geschäft auch nicht gerade Seide spinnen können, so ist das Honorar als Beitrag zum Lebensunterhalt doch sehr willkommen.« 63 Vgl. dazu als Standardwerk Richter, Der Berliner Gassenhauer sowie als populärwissenschaftlichere Darstellung Mugay, Berliner Musike, S. 160–189.

Populärmusik

produktion zu Gassenhauern werden, und zwar genau dann, wenn sie in der genannten Weise abgewandelt und umgedichtet wurden. Ein berühmtes Beispiel dafür ist etwa der Berliner Gassenhauer Mutter, der Mann mit dem Koks ist da, der in den 1880er Jahren aufkam und der auch auf den Leierkästen in den Hinter­höfen gespielt wurde.64 Die Melodie stammt aus der Operette Gasparone von Karl Millöcker aus dem Jahr 1884 und gehörte dort zu dem Walzerlied Er soll Dein Herr sein. Der Text, mit dem das Lied bekannt geworden ist, wird jedoch dem sogenannten Berliner Volksmund zugeschrieben, der hier die klammen Lebensverhältnisse in den Berliner Mietskasernen thematisierte: »Mutter, der Mann mit dem Koks ist da! / Stille doch, Junge, ick weeß et ja! / Haste denn Jeld? Ick hab’ keen Jeld / Wer hat denn den Mann mit dem Koks bestellt.« Dieser neue Text war so erfolgreich, dass er sich nicht nur auf den Straßen verbreitete, sondern auch den Weg zurück auf die Bühne fand: Im April 1886 wurde im Luisenstädtischen Theater eine Gesangsposse mit dem Titel Der Mann mit dem Coaks oder Das weinende Berlin aufgeführt.65 Ein anderer populärer Gassenhauer aus den gleichen Jahren war das Lied Im Grunewald ist Holzauktion, das als Umdichtung eines Rheinländers von Franz Meißner aufkam und die Abholzung des Grunewalds zur Errichtung der dortigen Villenkolonie kommentierte. Über diesen Gassenhauer wusste die Tägliche Rundschau im Januar 1892 zu berichten: Noch vor vierzehn Tagen war dieser Singsang in den weitesten Kreisen unbekannt und heute ertönt er von der Bühne des ›Adolph-Ernst-Theaters‹, aus Küchenfenstern und Schusterkellern, aus Schneiderstuben und Baugerüsten. Und aus den breitesten Volksschichten ist dieser Gassenhauer bereits in Familien und Gesellschaften gelangt. Man spielt ihn bei Bällen, Tanzkränzchen, großen und kleinen Festlichkeiten und singt und tanzt dazu.66

Auch hier findet sich also eine Ausbreitung von ›unten‹ – aus den »breitesten Volksschichten«  – nach ›oben‹  – zu den »Bällen« und auf die Theaterbühne. Die Verbreitung der populären Lieder ist folglich nicht als ein linearer, von der Schlagerindustrie einseitig gesteuerter Prozess anzusehen. Vielmehr reagierte 64 Vgl. als Beleg für die Verbreitung auf den Hinterhöfen den oben schon zitierten Bericht aus der Berliner Gerichtszeitung, 34. Jg, Nr. 70, 19. Juni 1886. 65 Richter, Der Berliner Gassenhauer, S. 389 f. Franz Magnus Böhme berichtet in seiner zeitgenössischen Studie über den Gassenhauer sogar von Übersetzungen in mehrere europäische Sprachen, die von »Studenten aus Eisenberg« angefertigt worden seien, um »das epochemachende, furchtbare Lied vom Mann mit dem Coaks auch anderen Nationen zugänglich zu machen« (Böhme, Die Gassenhauer seit hundert Jahren, S. 59). Im Kontext der Drogenkultur der Zwischenkriegszeit konnte der Liedtext dann noch einmal eine andere Bedeutung annehmen; vgl. dazu unten S. 228. 66 Zit. n. Richter, Der Berliner Gassenhauer, S. 193. Das »Luisenstädtische Theater« wurde 1888 von Adolf Ernst (der schon vorher sein Direktor war) gekauft und in »Adolf-ErnstTheater« umbenannt.

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die Schlagerindustrie auch auf die Popularität einzelner Gassenhauer, um diese wiederum für sich zu nutzen. So entstand eine Art Kreislauf, in dem die Schlager von der Bevölkerung aufgegriffen und weitergesungen, dabei aber auch abgewandelt und parodiert wurden, wobei diese Parodien dann von der Musikindustrie teilweise wieder aufgenommen und zurück auf die Musikbühnen gebracht werden konnten. Waren die Parodien also einerseits eingebunden in den Verwertungskreislauf der Musikindustrie, so dienten sie andererseits auch als eine »Form sozialer Distanzerhaltung«, wie Peter Wicke argumentiert.67 Denn in den Parodien des ›Volksmunds‹ war immer auch – zumindest potentiell  – ein subversives Element der ›einfachen‹ gegenüber den ›feinen‹ Leuten enthalten, das den glatten Verwertungsinteressen entgegenstand und die süßliche Anbiederung mancher Schlagertexte durch Ironisierung entlarvte. Das erkannte auch Heinrich Lee in seiner zeitgenössischen Beschreibung der »Berliner Volkslieder«, in der er die Parodie als »Berliner Spezialität« bezeichnete.68 War die einfache Nachahmung populärer Lieder durch andere Komponisten und Musikverleger das Ergebnis von »Geschäftsspekulation«, so Lee, so zeige sich in der Parodie die spöttische Natur des Berliners: Während aber in Wien dieses [Profit-]Streben nur die Form der Nachahmung annimmt, so dass zum Beispiel dem vor einigen Jahren dort sehr volkstümlich gewesenen Liede von der ›Mutterlieb‹ ein Lied von der ›Vaterlieb‹ gefolgt ist, kehrt der Berliner erst bei diesem Anlass seine Natur, seine wahre, heraus. […] Von den unzähligen Parodien auf das gefühlvolle Mandolinenlied mit dem Refrain ›Mit meiner Mandoline / Die mit mir weint und lacht, / Sing’ ich dir Liebes­ lieder / Bring’ ich dir gute Nacht!‹ seien hier nur die Verse hergesetzt: ›Mit meiner Mandoline, / Die mit mir ächzt und kracht, / Hol’ ich mir kalte Füße / So spät um Mitternacht.‹69

Heinrich Lee brachte seine Wertschätzung dieses Berliner Witzes dadurch zum Ausdruck, dass er ihn unter der Überschrift »Berliner Volkslieder« abhandelte. Denn das »Volkslied« war die zentrale Referenzgröße und normativ aufgeladene Leitkategorie, unter der die populären Lieder und Gassenhauer von der zeitgenössischen Musikkritik verhandelt wurden.70 Die wenigsten Kritiker erkannten den Gassenhauern dabei jedoch den Status von Volksliedern zu. Da der Volksliedbegriff eng mit Vorstellungen des naturnahen ländlichen Lebens verbunden war, konnte der Gassenhauer als typisch großstädtische Erscheinung 67 Wicke, Von Mozart zu Madonna, S. 81; vgl. ebd., S. 82: »Zu wissen, ›wo man hingehört‹, war eine der wichtigsten Funktionen, die das populäre Lied in Form von Gassenhauer, Moritat, Küchen- oder Anekdotenlied vor dem Hintergrund der immer unübersichtlicher werdenden sozialen Interaktionsnetze zu erfüllen hatte.« 68 Lee, Berlin von heut’, S. 23. 69 Ebd., S. 23–25. 70 Vgl. zum Volksliedbegriff aus einer umfangreichen Literatur in unserem Kontext nur Grosch, Über das Alter der Populären Musik und die Erfindung des ›Volkslieds‹.

Populärmusik

nicht einfach mit dem Volkslied gleichgesetzt werden. Der direkte Gegenbegriff zum Volkslied war allerdings nicht der Gassenhauer, sondern der Schlager. Dieser wurde im Kontext der Schunddebatte als unmittelbarer Ausdruck des Seichten und kommerziell Verflachten auf dem Gebiet der Musik angesehen. Dem Gassenhauer konnte aufgrund der geschilderten Praxis des Abwandelns und Parodierens demgegenüber nicht jede Form der ›volkstümlichen‹ Kreativität abgesprochen werden. Selbst Anton Penkert, der 1911 unter dem Banner eines »Kampfs gegen die musikalische Schundliteratur« (»Sie verdirbt den Geschmack, bedroht das Gemüt und raubt der guten Musik den Boden«) eine der schärfsten Kritiken des Gassenhauers veröffentlichte, konnte nicht ganz umhin zuzugestehen, dass zwischen »Volkslied und Gassenlied […] sicher irgendwelche Verwandtschaft« bestehe.71 Auch der Musikkritiker Karl Storck sprach sich in seinen Beiträgen zur Reform unseres Musiklebens aus dem gleichen Jahr klar gegen den »Schund« der Schlager aus, sortierte die Gassenhauer aber wegen ihrer musikalischen Kreativität zwischen »Schundlied« und »Volkslied« ein und wollte zu ihrer »Höherentwicklung« beitragen.72 Selbst Franz Magnus Böhme, der dem Gassenhauer in seiner 15 Jahre zuvor veröffentlichten Studie sehr viel positiver gegenüberstand, fühlte sich genötigt zu betonen, dass der Gassenhauer »nicht mit dem wirklichen Volksliede« verwechselt werden dürfe, ja dass der Gassenhauer sogar »einen Teil der Mitschuld« daran trage, »daß das edle Volkslied mehr und mehr verschwindet«.73 Diese normative Abgrenzung zwischen Volkslied und Schlager bestand auch nach dem Ersten Weltkrieg fort. So berichtete etwa Heinz Schmidt 1927 an das 1914 gegründete Volksliedarchiv in Freiburg: In Berlin singt eigentlich alles. Die Kinder ihre Kinderlieder, die Schulbuben Spottlieder, die jungen Leute Liebeslieder, die Erwachsenen Soldaten- und Kneipenlieder. Der Schlager beherrscht natürlich alles. Der Volksliedschatz des Landes, des Dorfes hat in Berlin keinen Platz. Erst der Krieg und die Jugendbewegung (Wandervogel) haben wieder die Volkslieder beliebter gemacht. Neben dem Schlager, dessen ältere Vertreter meist verkümmern und als Vierzeiler oder dergleichen weiter ihr Leben fristen, bilden einen Hauptbestandteil des Volksgesanges Lieder wie das von Fritz Bollmann oder von Bolle und das von Annemarie. Diese Art Lie71 Penkert, Das Gassenlied, S. 3 u. 7. 72 Storck, Musik-Politik, S. 51–63 u. 165–173. Diese Zwischenstellung zwischen »Volkslied« und »Schlager« findet sich interessanterweise mehr als ein halbes Jahrhundert später auch noch bei dem schon zitierten DDR-Musikwissenschaftler Lukas Richter. Den ideologischen Vorgaben entsprechend, musste Richter die Schlager als Massenprodukte der Vergnügungsindustrie ebenfalls ablehnen. Aber auch er versuchte, die Gassenhauer als »Übergangserscheinung« zwischen »Volkslied« und »Schlagerlied« von der kategorischen Verurteilung zu bewahren und sie als Form der Musik »von unten« zu retten (wenn ihnen auch nicht die gleiche historische Dignität zukam wie den Arbeiterliedern); vgl. die Erstauflage Richter, Der Berliner Gassenhauer, S. 7–15. 73 Böhme, Die Gassenhauer seit hundert Jahren, S. 4 f.

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der ist der eiserne Bestand. Alles andere ist Modesache und verschwindet bald, leider auch echte Volkslieder, die irgendwie mal auftauchen.74

Ohne die normative Abgrenzung von Schlagern und anderen Liedern kam dagegen Herbert Kleye aus. Der 1901 in Berlin geborene Arbeiter, der nach 1918 in der kommunistischen Partei als Leiter der Agitprop-Truppe Junge Garde aktiv war, begann 1945 Lieder und Verse zu sammeln und aufzuschreiben, die er seit seiner Kindheit im Elternhaus, auf der Straße und im Betrieb gehört hatte. Als er 1967 starb, war seine Sammlung – die er seit 1954 als Mitarbeiter des Arbeiterliedarchivs der Akademie der Künste in Berlin fortgeführt hatte – auf insgesamt 4858 Textbelege angewachsen.75 Sie umfasst nicht nur Arbeiterlieder im engeren Sinn, sondern alles, was in Kleyes Umfeld gesungen und gespielt wurde, von Kinderliedern und Spottversen angefangen bis hin zu Trink-, Tanz- und Volksliedern. Auch hier lässt sich – zumindest für die Zeit zwischen 1900 und 1930 – eine Dominanz der Schlager feststellen, die Kleye auch unter diesem Begriff notierte, häufig zusammen mit einem Herkunftshinweis (»Musik: Paul Lincke« [Nr. 34] oder »Schlager: Aus einer Operette von 1912« [Nr. 81]) und dem Zusatz »Im Elternhaus gesungen« [Nr. 34], »Auf der Straße gelernt« [Nr. 81] oder auch »Aus einer Operette von Paul Lincke. […] Vom Leierkasten gelernt« [Nr. 88], »Aus einer Revue des Metropol-Theaters. […] Auf der Straße und Leierkasten gelernt« [Nr. 86].76 74 Zu A 82865–A 82931, Deutsches Volksliedarchiv Freiburg. Vgl. zur Langlebigkeit der normativen Kategorien dieser Debatte auch Herbert Connor, Haben Schlager künstlerischen Wert?, in: Die Musik 24 (1932), S. 749–751, der zunächst zwar schrieb, dass es an und für sich keinen Grund gäbe, »den Schlager, den Gassenhauer mit musikalischem Schund gleichzusetzen«, dass aber durch die Entwicklung »der letzten 50 Jahre«, insbesondere in der »industrialisierten Großstadt«, »auch der Gassenhauer in ein Produkt verwandelt worden [sei], das sich textlich wie musikalisch durch billige Gemeinheit auszeichnet« (S. 749). »Der Schlager«, so Connor weiter, »von Natur aus ein Produkt des Volkes, ist erst in der modernen Großstadt, die alle Bindungen der Gemeinschaft verloren hat, zu einem Objekt minderwertiger Unterhaltung geworden« (S. 751). 75 Vgl. zum Hintergrund Zinn, Unser Lied ist immer dabei. 76 Vgl. Sammlung Arbeiterlieder Herbert Kleye, S 0145, Deutsches Volksliedarchiv Freiburg. Die Nummern in eckigen Klammern beziehen sich auf die fortlaufend nummerierten (aber nicht chronologischen) Eintragungen. Die hier aufgeführten sind nur einige Beispiele aus den ersten Nummern, ähnliche Bemerkungen finden sich im ganzen Bestand; vgl. etwa die Berliner Luft, die als »Lincke-Schlager« unter der Nr. 1121 aufgeführt wird. Andere LinckeLieder wie etwa Heimlich, still und leise aus der Operette Frau Luna sind allerdings auch ohne Namensangabe mit dem allgemeinen Vermerk »Schlager um 1905« aufgenommen [Nr. 649]. Zudem täuschte sich Kleye in einzelnen Fällen bei den Jahresangaben, etwa bei dem Lied Warum kiekste mir den immer in die Bluse, das er als »Schlager um 1900« aufnahm [Nr. 392], obwohl es aus der Revue Das hat die Welt noch nicht gesehen von James Klein aus dem Jahr 1924 stammte (vgl. Flügge, ’ne dufte Stadt ist mein Berlin, S. 76). Während für die frühen Schlager fast immer die Eltern, die Straße, der Leierkasten und gelegentlich die Arbeitskollegen als Quelle angegeben werden (wobei es auch viele Eintragungen ohne Quellenangabe gibt), findet sich ab den 1920er Jahren hin und wieder der Hinweis »Von einer Schallplatte gehört« [Nr. 1089] oder »Tonfilmschlager« [Nr. 1111].

Populärmusik

Die Sammlung Kleye belegt damit mehreres: zum einen die Verbreitungswege der Operettenschlager über die Leierkästen in die Hinterhöfe und damit deren breite Rezeption bis ins Arbeitermilieu hinein; zum anderen aber auch die weitverbreitete Praxis des Abänderns und Parodierens, denn Kleye hat neben den Originaltexten häufig auch die Parodien mit aufgenommen, die ihm begegnet waren.77 Zusammen mit den Einzelbelegen über mitgehörte Straßenund Kneipenlieder, die Heinz Schmidt an das Volksliedarchiv eingesandt hat, belegt die Sammlung Kleye schließlich auch den Fortbestand der oben geschilderten großstädtischen Gesangspraxis bis in die 1920er Jahre hinein. Nicht alle auf den Straßen gesungenen Lieder entstammten der Schlagerproduktion, aber doch hinreichend viele, so dass sich hier tatsächlich die große soziale Reichweite der Populärmusik zeigt, ebenso wie das Mitsingen, Abwandeln und Parodieren als zentrale Elemente der urbanen Populärmusikpraxis.

4.3 Zwischen Gassenhauer und Berlinschlager: Populärmusik und innere Urbanisierung Fragt man vor dem Hintergrund dieser Beschreibung der urbanen Populärmusikpraxis nach dem Zusammenhang zwischen Populärmusik und innerer Urbanisierung, so lässt sich diese Frage auf zwei unterschiedlichen Ebenen beantworten: auf der performativen und auf der textlichen. Auf der performativen Ebene erscheint die typisch großstädtische Form der Populärmusikpraxis selbst als Teil der inneren Urbanisierung: Um Großstädterin oder Großstädter zu sein, musste man sich im täglichen Umgang mit der Populärmusik üben (im doppelten Sinn von erlernen und praktizieren). Dazu zählte zum einen das geschilderte Mitsingen und Parodieren, zum anderen aber auch das Musikhören im Modus der Zerstreuung. Während es für das Hören der Kunstmusik seit dem mittleren 19.  Jahrhundert charakteristisch wurde, dass es in Stille und konzentriert geschehen sollte, fand das Hören der Populärmusik zumeist gleichzeitig mit anderen Tätigkeiten wie dem Essen und Trinken, Plaudern und Tanzen, aber auch dem Arbeiten statt.78 Dieses zerstreute Musikhören wurde und wird von der Musikkritik und in der Musikwissenschaft häufig als defizitäre Form des Musikhörens charakterisiert. Misst man es jedoch nicht am normativen Standard des konzentrierten Hörens, lässt es sich auch als eine eigenständige auditive Praxis beschreiben, die den Umgang mit unterschiedlichen simultanen Hör­reizen erforderte und dadurch schulte. War das Großstadtleben nach Georg Simmel durch einen »raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Ein77 Vgl. etwa zu Pauline geht tanzen von Walter Kollo, »Pauline hat Wanzen« [Nr. 634]. 78 Vgl. zur Geschichte des Musikhörens und zur Entwicklung des Publikumsverhaltens Gratzer, Perspektiven einer Geschichte des abendländischen Musikhörens; Morat, Zur Geschichte des Hörens.

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drücke«79 geprägt, so zählten zu diesen Eindrücken auch die akustischen Reize und die durch sie hervorgerufenen Empfindungen. Der Besuch eines Gartenkonzerts bedeutete, sich dieser akustischen Simultaneität bewusst auszusetzen und den Umgang mit ihr einzuüben. Davon gibt die Schilderung eines lauen Sommerabends im Konzertgarten eines Musikcafés am Kurfürstendamm einen Eindruck, die Anfang September 1910 in Der Tag erschien. Bevor die Musik einsetzte, so der Reporter Erich K. Schmidt, erfüllte bereits ein »Gewirr, Geklirr, Gelach, Gesumm« den Garten: In der Ecke, neben dem Böcklin-Tor, auf dem Podium unter rotweiß gestreiftem Zeltdach, hocken die Musiker. Der erste Geiger, Kapellmeister zugleich, ohne die übliche Stirnlocke, klopft mit dem Bogen gegen sein Notenpult. Die Musik schrillt auf wie ein Vogel, der schlief. Offenbach und Strauß plätschern dahin, Wagner dröhnt und schwirrt dazwischen. Walzer, leicht und kokett, wiegen sich wellenförmig auf und nieder; verglimmen wie Funken im steilen Blau… Zeitweise braust und zischt der Lärm der Straße in den Garten; rücksichtslos, brutal; verschlingt alles mit schamlosem Gepolter. Oder Huppensignale kugeln dazwischen, ohne Zweck für die Tannhäuser-Ouvertüre. […] Die Kapelle in der Ecke, unter rotweiß gestreiftem Zeltdach, gibt letzte Juchzer, endet mit einem Krach – bumm! […] Das Gewirr, Geklirr, Gelach, Gesumm wirkt wieder intensiver.80

Diese Schilderung lässt durch ihren leicht sarkastischen Ton eine Kritik an dieser Form der Musikpraxis erkennen, ohne dass Erich K. Schmidt sie klar ausformulierte. Andere, wie der Hannoveraner Kulturphilosoph Theodor Lessing, machten aus ihrer Ablehnung der »allgemeine[n] Musikwut« keinen Hehl und bezeichneten das »allgemeine Restaurant- und Kaffeehauskonzert« als »grauenhafte Unsitte«.81 Tatsächlich spielte die Allgegenwart der Populärmusik im urbanen Raum eine prominente Rolle in den Auseinandersetzungen um den Großstadtlärm. Lärmgegner wie Lessing opponierten dabei nicht allein gegen die absolute Lautstärke der städtischen Geräuschkulisse, sondern auch gegen die in ihren Ohren barbarische Vermischung der unterschiedlichen Klänge. Gerade diese Vermischung, so lässt sich umgekehrt argumentieren, war (und ist) aber charakteristisch für die Klanglandschaft der Großstadt und der alltägliche Umgang mit Populärmusik ermöglichte das sich Einstellen auf diese urbane Klangstruktur. Die oben behandelten Gassenhauer und Schlager spielten allerdings nicht nur auf dieser (performativen) Ebene des alltäglichen urbanen Musikhörens eine Rolle bei der inneren Urbanisierung, sondern auch auf der inhaltlichen Ebene der Texte. Denn nicht nur blieb das den Lärm liebende »Volk von Berlin« »bei jedem Leier­mann stehen, um die ältesten Gassenhauer zu hören«82, wie Eugen Szatmari 79 80 81 82

Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben, S. 116. Erich K. Schmidt, Musikcafé am Kurfürstendamm, in: Der Tag 3.9.1910. Lessing, Der Lärm, S. 69. Szatmari, Das Buch von Berlin, S. 206.

Populärmusik

noch 1927 schrieb. Die Gassenhauer thematisierten auch häufig die Veränderungen des städtischen Lebens und die Besonderheiten des Berlinertums. Das war schon an den beiden oben zitierten Beispielen vom Mann mit dem Koks und der Holzauktion erkennbar. Viele weitere Beispiele lassen sich nicht nur in der Studie von Lukas Richter finden, sondern etwa auch in der Sammlung Lieber Leierkastenmann. Berliner Lieder von Johannes Koepp und Wilhelm Cleff.83 Darin sind sowohl Gassenhauer ohne bekannten Urheber aufgenommen wie das Lied von der Pferdebahn (»Fahrn wa so jemütlich uff de Pferdebahn, / det eene Pferd, det zieht nicht, det andre det is lahm, / der Kutscher kann nich fahren, der Kondukteur nich sehn, / und alle fünf Minuten bleibt die Karre stehn«), Bolle reiste jüngst zu Pfingsten oder Denkste denn … du Berliner Pflanze, als auch populäre BerlinSchlager, die von den Drehorgelspielern übernommen wurden, wie Linckes Berliner Luft oder Walter Kollos Solang noch untern Linden.84 Die Texte dieser Berliner Lieder dienten in zweifacher, miteinander verbundener Weise als Medium der inneren Urbanisierung. Erstens konnten sie einzelne Aspekte des großstädtischen Lebens thematisieren, wie im Pferdebahnlied den öffentlichen Nahverkehr. Dabei nahmen sie ihren Ausgangspunkt nicht selten bei den rasanten Veränderungen, denen dieses großstädtische Leben seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts unterworfen war. So zitiert Lukas Richter etwa ein Couplet von Alfred Bender und Gustav Steffens aus den Reichsgründungsjahren mit dem Titel Alt- und Neu-Berlin, in dem diese Veränderungen am Beispiel des oben angesprochenen Großstadtlärms (und damit auch der Populärmusikpraxis selbst) zum Gegenstand gemacht wurden: Wie lag früher man am Morgen friedlich still und ohne Sorgen, und kein Mensch so gut und brav störte uns im besten Schlaf. Fuhr der Milchmann gegen neune mit dem Phylax an der Leine einsam durch die Straßen hin – So war’s früher in Berlin. Heut’ erweckt dich jäher Schrecken, hörst du, wie von allen Ecken Feuerwehr und Pferdebahnen dich zur Vorsicht klingelnd mahnen, gleich darauf Drehorgelton: Siehste woll, da kimmt er schon! Bolle bimmelt mitten drin, du stehst auf in Neu-Berlin!85 83 Koepp u. Cleff, Lieber Leierkastenmann. Johannes Koepp (1895–1957) war Leiter des Märkischen Volksliedarchivs, Wilhelm Cleff hat die Sammlung nach Koepps Tod herausgegeben. 84 Ebd., S. 8, 52, 75, 15 u. 7; vgl. als neuere Sammlung auch Hoffmann, Berliner Liederbuch. 85 Richter, Der Berliner Gassenhauer, S. 80.

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Neben dieser Auseinandersetzung mit dem städtischen Wandel dienten die Berliner Lieder zweitens als Medium der Konstruktion des typisch Berlinischen, wie etwa in dem zur Melodie des Petersburger Marsch gesungenen Gassenhauer Denkste denn … du Berliner Pflanze: »Denkste denn, denkste denn, / Du Berliner Pflanze, / denkste denn, ich liebe dir, / weil ich mit dir tanze? // Denkste denn, denkste denn, det ick darum weene? / Wenn de mir nich lieben dust, denn lieb ich mir alleene.«86 Hier wird nicht die Stadt Berlin zum Thema gemacht, sondern der typische Berliner in seiner robusten Einstellung zu Liebesdingen, wie er im Begriff der »Berliner Pflanze« versinnbildlicht ist. Es ist zugleich ein Tanzlied, welches das Vergnügungsleben selbst zum Gegenstand macht, wie etwa auch der im Tanzkapitel zitierte Rixdorfer, der in ähnlicher Weise ein Bild des typisch Berlinischen anhand des Tanzvergnügens zeichnete. Hans Ostwald hat diesen »Berliner Tanzliedern« in seiner Studie über die Berliner Tanzlokale ein eigenes Kapitel gewidmet, da er in ihnen einen Ausdruck des »Berliner Volkscharakters« erblickte.87 Wenn man den »Berliner Volks­charak­ter« nicht essentialisiert, sondern als das Ergebnis eines sozialen und diskursiven Konstruk­tions­ prozesses ansieht, liegt darin eine richtige Beobachtung. Denn die populären Lieder und Gassenhauer können tatsächlich als wichtiges Medium dieser Konstruktion des Berliner Volkscharakters (oder dessen, was zeitgenössisch dafür gehalten wurde) angesehen werden. Zumeist wurden diese Lieder dabei im Berlinischen Dialekt gesungen und transportierten so eine bestimmte Vorstellung dessen, was schon seit dem 19. Jahrhundert »Berliner Schnauze« genannt wurde.88 Diese Konstruktion des typisch Berlinischen und der Figur der ›Berliner Pflanze‹ oder der ›Berliner Schnauze‹ war nicht zuletzt deshalb wichtig, weil es aufgrund der hohen Zuwanderung seit dem späten 19. Jahrhundert prozentual immer weniger Urberliner gab. Die Berliner Lieder unterstützten so den sozialen und mentalen Integrationsprozess der vielen Migranten, die im Laufe des 19. Jahrhunderts und besonders seit 1870 nach Berlin zogen und dort für den raschen Anstieg der Bevölkerungszahl und die nachhaltigen Veränderungen der Lebensverhältnisse sorgten. Sie erlaubten es sowohl den zuhörenden wie den selbst singenden Stadtbewohnern, sich darüber zu verständigen, was es bedeutete, ein typischer Berliner oder eine typische Berlinerin zu sein. Und nicht zuletzt transportierten sie das so fabrizierte Berlinbild auch nach außen und beeinflussten den Berlin-Tourismus ebenso wie die Wahrnehmung Berlins im Rest des Deutschen Reichs und im Ausland. Allerdings setzte dieser Konstruktionsprozess des typisch Berlinischen nicht erst Ende des 19. Jahrhunderts ein. Die Gassenhauer waren, ebenso wie die Berliner Lokalpossen, aus denen sie nicht selten entnommen waren, schon seit dem 86 Ebd., S. 369. 87 Ostwald, Berliner Tanzlokale, S. 49–71, Zitat S. 67. 88 Vgl. dazu schon zeitgenössisch Brennglas, Humor im Berliner Volksleben; Hans Meyer, Der richtige Berliner in Wörtern und Redensarten; Sichelschmidt, Die Berliner und ihr Witz.

Populärmusik

Biedermeier ein wichtiges Element der Konstruktion der urbanen Identität Berlins.89 Um 1900 beteiligten sich nun auch die Schlager aus den Operetten und Revuen daran.90 Peter Jelavich hat in seiner Untersuchung über das Berliner Kabarett darauf hingewiesen, dass das populäre Musiktheater und das Kabarett dabei zum einen an die Tradition der Berliner Lokalpossen anknüpften, dass sie sie aber zugleich auch mit moderneren Darbietungsformen an die veränderten und beschleunigten Lebensverhältnisse der Metropole anpassten und dass sie damit neue, »moderne« Berlinbilder produzierten.91 Unter den Schlagerproduzenten, die in besonderer Weise zu dieser musikalischen Konstruktion einer Berliner Identität und gleichzeitig zu deren Modernisierung beitrugen, ist an erster Stelle der schon mehrfach angeführte Paul Lincke zu nennen. Mit der Berliner Luft von 1904 komponierte er einen der erfolgreichsten Berlinschlager, der im Laufe des 20. Jahrhunderts den Status einer Berliner »Nationalhymne« erlangte.92 Er machte sich dabei die Popularität der Militärmusik in Berlin zunutze und kombinierte – nicht nur in der Berliner Luft – militärischen Schmiss mit operettenhafter Fröhlichkeit. Schon Hans Ostwald war 1905 der Meinung: »In diesem Marschlied liegt wirklich etwas von dem preußischen Geist des neuen Berlin«.93 Damit wurde Lincke allerdings auch in höherem Maße als andere Berliner Schlagerproduzenten zum Repräsentant des Wilhelminischen Berlin, der nach dem Ersten Weltkrieg praktisch keine neuen Kompositionen mehr schrieb, jedenfalls keine mit einem ähnlichen Erfolg. Den Geist des republikanischen Berlin schien er nicht mehr in gleicher Weise einfangen zu können, selbst wenn seine Melodien auch in den 1920er Jahren noch gespielt wurden. Ein weniger militärisch-schmissiges, dafür stärker sentimental-humoristisches Bild von Berlin und den Berlinern zeichnete Claire Waldoff in ihren Erfolgsliedern, die nicht weniger prominent als Linckes Melodien an der musikalischen Prägung der Berliner Identität beteiligt waren (siehe Abb. 28). Die 1884 in Gelsenkirchen als Clara Wortmann geborene Waldoff kam 1906 nach Berlin und hatte hier 1907 ihr erstes Kabarett-Engagement im Roland von Berlin.94 Dort kollaborierte sie auch zum ersten Mal mit Walter Kollo, der später viele ihrer Schlagererfolge schrieb. Waldoff arbeitete von Anfang an konsequent an ihrem Image als »Berliner Original« und typische »Berliner Pflanze« und machte das Berlinische zu ihrer Marke. In ihren Erinnerungen schrieb sie selbst über 89 Vgl. Richter, Der Berliner Gassenhauer, S. 26–76. 90 Vgl. dazu neben der Darstellung im Kapitel zum Unterhaltungstheater auch Stahrenberg, Donnerwetter! Tadellos!! 91 Vgl. Jelavich, Modernity, Civic Identity, and Metropolitan Entertaiment; ders., Berlin Cabaret. 92 Born, Berliner Luft, S.  129. Schneidereit, Paul Lincke und die Entstehung der Berliner Operette, nennt die Berliner Luft die »Lokalhymne der Stadt Berlin und aller Berliner« (S. 75); vgl. dazu oben, S. 55 f. 93 Ostwald, Berliner Tanzlokale, S. 69. 94 Vgl. zur Biographie Bemmann, Claire Waldoff; Koreen, Immer feste druff.

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Abb. 28: Claire Waldoff, ca. 1904

die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg: »Ich fing an, die Berlinerin zu werden, ein Prototyp der Berliner, ein Repräsentant des modernen Berlin.«95 Auch bei ihren zahlreichen Gastspielen in anderen Städten des Deutschen Reichs oder im Ausland präsentierte sie sich bewusst als »das verkörperte Berlin«.96 Sie steht damit in einer Reihe mit anderen, schon zeitgenössisch so genannten »Berufsberlinern« wie Otto Reutter, Guido Thielscher oder Heinrich Zille.97 Zentraler, im Zille’schen Begriff des »Milljöhs« transportierter Anspruch dieser »Berliner Originale« war es, die sogenannten kleinen Leute in ihren Liedern und Bildern zu porträtieren und ihnen damit eine Stimme zu verleihen. In den Produkten dieser Berlin-Unterhaltungskunst wurde also nicht nur eine städtische, sondern 95 Waldoff, Weeste noch…?, S. 53. 96 Ebd., S. 104. 97 Vgl. zu Waldoff und Reutter in diesem Kontext Marx, »Berlin ist ja so groß!«, S. 95–98.

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Abb. 29: Heinrich Zille, Der neueste Gassenhauer, 1924

auch eine soziale Identität konstruiert, allerdings immer in für das zahlende Publikum konsumierbarer Form. Ein Beispiel hierfür ist die im Unterhaltungstheaterkapitel bereits behandelte James-Klein-Revue von 1924, zu der Heinrich Zille nicht nur ein Bühnenbild beisteuerte, sondern auch die Illustration der Noten, auf denen er die Hinterhof-Aufführungssituation des »neuesten Gassenhauers« darstellte (siehe Abb. 29). Dadurch trug er nicht nur zum geschilderten Verwertungskreislauf der Gassenhauer bei, sondern auch zu deren sentimentalisierter Repräsentation. Auch Claire Waldoff griff zur Unterstreichung ihrer Volkstümlichkeit bewusst auf den Liedtypus des Gassenhauers zurück und beförderte so ganz gezielt den gleichen Kreislauf, in dem die Lieder von der Straße auf die Bühne und von der Bühne auf die Straße wanderten. »Meine Lieder wurden von ganz Berlin gesungen«, wie sie selbst behauptete.98 98 Ebd., S. 52.

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Eine weitere Gemeinsamkeit Waldoffs mit Reutter, Thielscher und Zille war, dass keines dieser »Berliner Originale« in Berlin geboren worden war, wodurch sie den Mechanismus der Integration qua Selbststilisierung exemplarisch vorlebten. In ihren Erinnerungen schrieb Waldoff über Zille: Er war herrlichstes Berlin, trotzdem er Sachse war. Berlin war seine Wahlheimat wie ja auch die meine. Wir waren wohl beide extra für diese Stadt geschaffen worden. […] So waren wir beide berlinerisch, im Wesen, im Dialekt und im Herzen. […] Man sagt immer, der echte Berliner stammt aus Breslau. Zille und ich, wir sind jedenfalls zwei echte Berliner – Wahlberliner – aus Liebe!99

In den Liedern, mit denen Waldoff ihr exemplarisches Berlinertum konstituierte, finden sich nun nicht nur viele typisch Berlinische Figuren, Situationen oder Redeweisen, sondern in einigen wird Berlin auch ganz explizit als Gegenstand besungen. Das berühmteste Beispiel aus der Vorkriegszeit ist dafür wahrscheinlich das von Walter Kollo komponierte Lied ’ne dufte Stadt ist mein Berlin aus dem Jahr 1910 mit einem Text von F. W. Hardt, das Helga Bemmann als Waldoffs »populärsten Berlin-Schlager« bezeichnet.100 In der ersten Strophe wird darin Berlin mit anderen europäischen Hauptstädten wie Brüssel, Paris, London, Rom und Wien verglichen und für »dufte« befunden, was als Kommentar zur Metropolenkonkurrenz verstanden werden kann, in der sich Berlin spätestens seit der Reichsgründung als Weltstadt behaupten wollte. In den anderen Strophen wird mit der doppelten Bedeutung des Berlinischen Ausdrucks »dufte« gespielt, am Beispiel zweier Kutscher eine Kostprobe der »Berliner Schnauze« gegeben, ein knappes Bild des »seelensguten« Berliner Mädels gezeichnet und eine typische sonntägliche Fahrt ins Grüne beschrieben.101 Am wirkungsvollsten an diesem Lied war aber vielleicht das Possessivpronomen »mein« vor »Berlin«, das Waldoff stimmlich besonders auflud und heraushob, 99 Ebd., S. 92 ff. Vgl. zur Verbindung zwischen Waldoff und Zille auch Flügge, ’ne dufte Stadt ist mein Berlin. 100 Bemmann, Claire Waldoff, S. 85. 101 Vgl. den vollständigen Text bei Bemmann, Die Lieder der Claire Waldoff, S. 17 f.: »Ich hab’ schon manche Stadt gesehen, / Ich war in Brüssel und Paris, / Auch London ist, ich kann’s gestehen, / In manchen Sachen gar nicht mies. / Auch Rom ist schön, das merken Blinde, / Gemütlich lebt es sich in Wien, / Doch ich ruf’ laut in alle Winde – / ’ne dufte Stadt ist mein Berlin! // Es fließt die Spree bei uns so ruhig, / Wie sie nur immer fließen kann. / Von Zeit zu Zeit, jawohl, das tu ich, / Seh’ ich mir auch die Panke an. / Und steh’ am Ufer ich der Panke, / Möcht’ gleich ich wieder Leine zieh’n. / Bei dem Gestank ruf’ ich: Ich danke – / ’ne dufte Stadt ist mein Berlin! // Wenn sich zwei Kutscher mal beschimpfen, / Ruft einer oft dem andern zu: ›Mensch, laß dir mal mit ­Mostrich­ impfen, / Du Appelfatzke, Rindsvieh, du!‹ / Drauf hört man gleich den andern fluchen: / ›Du Stiesel, sauf man Terpentin! / Du kannst mir mal bei Krolls besuchen!‹ – / ’ne dufte Stadt ist mein Berlin! // Für seelensgut zu machen Zeiten / Sind wir auch wiederum bekannt, / Und viele Damen, wer will streiten, / Die haben stets ’ne offne Hand. / Erscheint ein Mann mal aus der Fremde, / Sie geben alles hin für ihn, / Wenn’s sein muss,

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wie sich an einer Grammophonaufnahme von 1911 überprüfen lässt.102 Darin ist nicht nur ein Ausdruck des Lokalpatriotismus zu sehen (und zu hören), es wird gleichzeitig eine Art der emotionalen Beziehung hergestellt, wie sie in anderen (Liebes-)Schlagern dem angesungenen »Schatz« vorbehalten blieb. Das gleiche Possessivpronomen (in ähnlicher Weise stimmlich betont) findet sich genau zwanzig Jahre später in einem weiteren populären Berlin-Schlager von Claire Waldoff, diesmal komponiert von Willi Kollo, dem Sohn Walter Kollos, und mit einem Text von Hans Pflanzer, Es gibt nur ein Berlin, mit dem Refrain: Es gibt nur ein Berlin und das ist mein Berlin. Hält uns auch keiner für normal, das ist uns alles ganz egal. Solang die Welt sich dreht, solang die Zeit vergeht, solang die Bäume im Frühling erblühn’, gibt es nur ein Berlin.103

Anders als ’ne dufte Stadt ist mein Berlin ist Es gibt nur ein Berlin ein Marschlied, wodurch vielleicht noch stärker ein lokalpatriotischer Stolz evoziert werden soll. Gleichzeitig entsteht dadurch auch ein Rückbezug auf das Wilhelminische Berlin und eine Parallele zu dem im Unterhaltungstheaterkapitel zitierten Lindenmarsch von Walter Kollo aus dem Jahr 1923 mit dem leicht trotzigen Refrain »So lang’ noch Untern Linden / Die alten Bäume blüh’n, / Kann nichts uns überwinden, / Berlin, du bleibst Berlin«. Eine ähnlich trotzige Nostalgie für das ›gute alte‹ Berlin der Kaiserzeit ist auch in Es gibt nur ein Berlin erkennbar.104 Obwohl Claire Waldoff während der Weimarer Republik mit ihren Auftritten im Kabarett, mit Liedern wie Friedrich Hollaenders Raus mit den Männern aus dem Reichstag von 1926105 und ihrer Verbindung zu Autoren wie Kurt Tucholsky einem eher linken Künstlermilieu zuzuordnen ist (den intellektuellen und

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selbst das letzte Hemde – / ’ne dufte Stadt ist mein Berlin! // Will man im Monat Mai in’t Grüne / Und fährt mit einem Vorortzug, / So hat man stets mit trüber Miene / De Neese voll und gleich genug. / Wenn dreißig im Coupé drin sitzen / Und leis’ die Frühlingsdüfte zieh’n, / Kann man vor Angst wie’n Affe schwitzen – / ’ne dufte Stadt ist mein Berlin!« Track Nr.  11 auf der CD »Mich hat ein fremder Mann geküsst…« aus dem 10- CD -Set »Claire Waldoff. Die Königin der Kleinkunst« (Membran Music Ltd) von 2010. Das Lied stammt aus dem Jahr 1930, der Text hier ist transkribiert nach der Aufnahme von 1932, Track 9 auf der CD »Fritze Bollmann«, ebd. Dabei werden auch die politischen Verwerfungen der späten Weimarer Republik thematisiert und mit der Hoffnung auf eine lokalpatriotische Versöhnung beantwortet: »Von der Isar bis zum Rhein / gibt es hundertzwölf Parteien, / täglich, Juhu, kommt eine dazu. / Keiner weiß mehr was er ist, / Nazi oder Kommunist, / Das ist Berlin, Zauber­ stadt Berlin. / Doch wenn verzweifelt uns’re Lage, / weil der Parteienstreit nicht ruht, / Dann hält Berlin, Berlin die Waage / und bringt uns alle unter’n Hut.« (Ebd.) Vgl. Track Nr. 1 auf der CD »Warum liebt der Wladimir gerade mir«, ebd.

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politischen Außenseitern, die nach Peter Gay die Kultur der Weimarer Republik prägten106), finden sich also auch bei ihr die oben schon zitierte »Sentimentalisierung« Berlins und der nostalgische Rückbezug auf die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg.107 In einem besonders prägnanten Beispiel der Berlin-Nostalgie ist diese zugleich geknüpft an die hier behandelte Populärmusikpraxis, die mit dem alten Berlin verbunden wird, und zwar in dem Lied Lieber Leierkastenmann von Willi Kollo aus dem Jahr 1929, das ebenfalls von Claire Waldoff gesungen wurde: Jeder schimpft heut auf Berlin, Alle aber loben Wien. Überall steht ein Tenor Und singt Wiener Lieder vor. Niemals hörte ich in Wien Lieder aus der Stadt Berlin, Doch ich muss euch eingesteh’n, Ich find sie genauso schön. Das Lied ist schon ’nen Groschen wert Und wenn’s mich auch beim Schlafen stört. Lieber Leierkastenmann Fang nochmal von vorne an! Deine alten Melodien Von der schönen Stadt Berlin. Stehst du unten auf’n Hof Wird mir gleich ums Herz ganz doof. Noch einmal ein junges Blut sein Noch einmal im Tanz sich zärtlich dreh’n. Lasst man Kinder! Lasst man jut sein! Ach die alte Zeit war auch sehr schön.«108

Mit diesem Lied sind die hier geschilderte Populärmusikpraxis und die damit verbundene musikalische Konstruktion einer Berliner Identität gleichsam in ein Stadium der Selbsthistorisierung eingetreten. Wie unter anderem die Liedsammlungen von Herbert Kleye, Heinz Schmidt und Johannes Koepp gezeigt haben, waren Straßenmusik und Straßengesang Ende der 1920er Jahre aber noch 106 Gay, Die Republik der Außenseiter. 107 Vgl. oben, S. 58. 108 Text transkribiert nach Track Nr. 13 auf der CD »Lieber Leierkastenmann«, ebd. In der zweiten Strophe wird dann die städtische Veränderung unmittelbar mit der biographischen in Zusammenhang gebracht: »Jeder zieht zum Westen raus, / Leer steht manches alte Haus. / Doch es geht auf Schritt und Tritt / Immer uns’re Jugend mit. / Draußen steht der Möbelmann / Und die Pferde zieh’n schon an / Da schmeißt Mutter mit nem Wupp / Oben die Erinn’rung ruff. / Und stumm blickt sie im weißen Haar / Zurück wie sie ein Mädel war… / Das war in Schöneberg im Monat Mai / Die Zeit von Schöneberg ist längst vorbei.«

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durchaus lebendig, weshalb etwa Peter Wicke zu widersprechen ist, der vom Ende der Gassenhauer in dieser Zeit spricht.109 Allerdings bewegten sich diese nun häufig in einem Modus der Nostalgie, der auf ihre eigene Geschichte zurückverwies. Damit traten zugleich die zwei oben unterschiedenen Ebenen des Verhältnisses von Populärmusik und innerer Urbanisierung stärker auseinander. Auf der Textebene war die Konstruktion einer Berliner Identität im Medium der Gassenhauer und Berlin-Schlager in den 1920er Jahren zu einem gewissen Abschluss gekommen und musste nun gegen neuerliche Veränderungen nostalgisch verteidigt werden. Auf der performativen Ebene waren aber auch diese neuerlichen Veränderungen mit bestimmten Populärmusikformen verbunden, namentlich dem Jazz, der in den 1920er Jahren vielfach als Ausdruck eines neuen großstädtischen Lebensgefühls interpretiert wurde. Dieses neue großstädtische Lebensgefühl war aber nicht mehr unbedingt typisch berlinisch, sondern wurde vor allen Dingen als »amerikanisch« wahrgenommen, als unsentimental und technikorientiert, während das Stereotyp der »Berliner Pflanze« untrennbar mit »Gemütlichkeit« verbunden war.110 In dieser Verschiebung liegt daher zugleich auch eine Verschiebung im Kosmopolitismus der Populärmusik.

4.4 Zwischen Wiener Walzer und Jazz: Kosmopolitismus in der Populärmusik In der Einleitung wurde Kosmopolitismus als Begriff für die Art und Weise definiert, in der die Welt in der Stadt präsent ist, das heißt in unserem Zusammenhang für die Effekte transnationaler Transferprozesse auf dem Gebiet der Vergnügungskultur in Berlin. In diesem Sinn war die Berliner Populärmusik schon im 19. Jahrhundert in hohem Grade kosmopolitisch, da die oben genannte Popu­lärmusikrevolution von einem internationalen Austausch der Musikstile, aber auch der Musikerinnen und Musiker selbst getragen wurde. In Berlin dominierten, ebenso wie im Rest Europas, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Wiener Walzer und die Pariser und Wiener Operetten das Populär109 Wicke, Von Mozart zu Madonna, S. 91. 110 Vgl. dazu auch Willi Kollos Als der Kremser noch fuhr von 1931, in dem die vormotorisierte Vergangenheit unter dem Leitbegriff der ›Gemütlichkeit‹ ganz explizit gegen die ›Sachlichkeit‹ der Gegenwart abgegrenzt wird: »Wir sind ja heut’ so furchtbar sachlich / und bilden uns nicht wenig ein. / Wir sind ironisch und auch stachlig / aus Angst wir könnt’n gemütlich sein. / Wir machen furchtbar auf gefühllos, / denn wenn man Herz hat, das wär ja stillos, / doch manchmal klingt uns leis und bang / das Lied ins Ohr das Vater sang: // Als der Kremser noch fuhr raus ins Grüne, / als der Vater die Mutter gefreit, / ohne Motor und ohne Maschine, / ja das war noch ’ne herrliche Zeit, / ja das war noch ’ne herrliche Zeit. // Als wir träumten die seligen Träume / war die Welt noch ganz anders als heut’, / und im Grunewald standen noch Bäume. / Ja das war noch ’ne herrliche Zeit.« (Kollo u. Kollo, Lieder, die einst Claire sang, S. 26–28.)

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musikangebot.111 Die Operetten von Jacques Offenbach und Johann Strauß Sohn wurden in Berlin nicht nur von lokalen Orchestern gespielt, zum Teil dirigierten die beiden Komponisten die Aufführungen auch selbst.112 Aber nicht nur Komponisten und Dirigenten konnten zu internationalen Musikstars werden, sondern auch Solisten und Sängerinnen und Sänger wie etwa die französische Chansonsängerin Yvette Gilbert, die 1898 erstmals nach Deutschland kam und dabei auch im Berliner Apollo-Theater auftrat.113 Umgekehrt gaben auch Berliner Populärmusik-Stars wie Claire Waldoff und Paul Lincke Gastspiele im Ausland, Lincke verpflichtete sich sogar für zwei volle Jahre am Pariser Folies Bergère.114 Aber auch die Dienstleistungsmusikerinnen und -musiker, die nicht zu den internationalen Stars gehörten, mussten für ihr berufliches Fortkommen eine hohe Mobilität an den Tag legen und bereit sein, nicht nur im ganzen Deutschen Reich, sondern auch im Ausland Engagements anzunehmen.115 Die oben beschriebene musikalische Konstruktion einer Berliner Identität stand dazu nicht im Widerspruch, sondern in einem Wechselverhältnis. Gerade weil Berlin Weltstadt werden und sich auch auf dem Feld der Vergnügungskultur und der Populärmusik mit anderen Metropolen wie Paris, Wien oder London messen wollte, musste hier einerseits Internationales, dem internationalen Publikum andererseits aber auch etwas Eigenes, typisch Berlinisches geboten werden. Dieser Zusammenhang wurde von Claire Waldoff in ihren Erinnerungen selbst angesprochen, da sie ihren Erfolg auch damit erklärte, dass sie für »die internationale Welt, die sich in Berlin ein Rendezvous gab«, das typische Berlin repräsentierte: »Ich war die sogenannte Rosine im Programm der internationalen Weltstadt.«116 Das Wechselverhältnis von Internationalität und Lokalkolorit zeigt sich auch an der Entwicklung der Operette. Hier dominierten zunächst die Einflüsse der schon genannten Pariser und Wiener Operette. Als mit Paul Lincke und später Walter Kollo und Jean Gilbert dann auch aus Berlin erfolgreiche Operettenkomponisten kamen, war es für deren internationale 111 Vgl. zur »Vorbildfunktion des französischen Unterhaltungsbetriebes« Jansen, Das Varieté, S. 51; zur Bedeutung des Wiener Walzers für die gesamte Populärmusikrevolution des 19. Jahrhunderts Scott, Sounds of the Metropolis, S. 117–143; Wicke, Von Mozart zu Madonna, S. 47–74. 112 Pacher, Sehen Sie, das war Berlin, S. 38–41. 113 Vgl. zu diesem umjubelten Gastauftritt Jansen, Das Varieté, S. 161. 114 Vgl. oben, S. 64. 115 Der Artist als Fachblatt für (reisende) Varieté-Künstler und Unterhaltungsmusiker berichtete schon um 1900 aus dem ganzen europäischen Raum und unterhielt sogar eine englischsprachige Sektion mit Nachrichten aus den USA . 116 Waldoff, Weeste noch…?, S. 53 u. 51. Im selben Kontext schrieb sie auch: »Man erschien erst zu meinem Auftreten nach dem Theaterbesuch und dem Souper bei Hiller oder bei Dressel Unter den Linden, und hinterher wurde die ganze Nacht in der leichtlebigen, springlebendigen, noch jungen Weltstadtmetropole gebummelt. Ich kenne viele internationale Menschen, die das Nachtleben von Berlin amüsanter und toller fanden als das des damaligen Paris.« (Ebd., S. 51 f.).

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Reputation gerade von Bedeutung, dass sie einen eigenen Berliner Operettenstil entwickelten, der sich besonders bei Lincke etwa durch eine stärkere Betonung von Marschrhythmen auszeichnete.117 Der Kosmopolitismus in der Berliner Populärmusik beschränkte sich allerdings nicht auf Einflüsse aus Paris und Wien. Auch süd- und osteuropäische Musikstile konnten in Berlin gehört werden. Dabei wurde jedoch nicht immer Wert auf Authentizität gelegt. Die für eine Weltstadt kennzeichnenden exotischen Moden führten vielmehr dazu, dass von den Dienstleistungsmusikerinnen und -musikern auch die Bereitschaft zur Travestie verlangt wurde. So berichtete Victor Noack 1906: »Gegenwärtig bin ich bei einer italienischen Kapelle engagiert. Ich habe schon als Russe, Pole, Ungar, Spanier, Italiener, ja selbst als Indianer mein Brot verdient. Das Publikum, speziell das Berliner, ist ja so komisch! Man will im Bierkonzert mehr ›sehen‹ als ›hören‹.«118 Hier zeigt sich, dass Internationalität auch simuliert werden konnte, wobei allerdings diese Simulation immer noch ein Effekt von Transfer- und Übertragungsprozessen war und in diesem Sinn als Form des Kosmopolitismus verstanden werden kann. Dieser imaginäre Kosmopolitismus berührte sich mit Formen des Exotismus, der als Wahrnehmungsform des Fremden und Anderen besonders die Rezeption der transatlantischen Musikstile prägte, die schon vor dem Ersten Weltkrieg nach Deutschland kamen.119 Vor allen Dingen die afro-amerikanischen Musikerinnen und Musiker, wie etwa die Fisk Jubilee Singers, die als erste schwarze Gesangsgruppe 1877/78 durch Deutschland tourten und am 17.  November 1877 ihr erstes Deutschlandkonzert in der Singakademie in Berlin gaben, wurden in erster Linie als Exoten bestaunt, selbst wenn ihre musikalischen Fähigkeiten durchaus gewürdigt wurden.120 Die Fisk Jubilee Singers sangen vornehmlich Spirituals, doch die schwarzen Musikerinnen und Musiker aus den 117 Vgl. dazu neben Kap. 2 auch Pacher, Sehen Sie, das war Berlin, S. 53–62; Schneidereit, Berlin, wie es weint und lacht; ders., Paul Lincke. 118 Noack, Was ein Berliner Musikant erlebte, S. 70. 119 In der Musikwissenschaft wird mit Exotismus v. a. die Übernahme und Aneignung ›fremder‹ (zumeist außereuropäischer) Stile und Einflüsse in einzelnen musikalischen Werken bezeichnet, die bewusst der musikalischen Repräsentation des Fremden dienen; vgl. dazu Locke, Musical Exoticism; Taylor, Beyond Exoticism. Demgegenüber wird Exotismus hier als eine Darstellungs- und Rezeptionsweise als fremd wahrgenommener Kulturgüter (und Menschen) verstanden, in der die Fremdheit und Andersartigkeit selbst ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt wird. Im Exotismus wird das Fremde als das Andere (im Unterschied zum Eigenen) inszeniert, rezipiert und dadurch auch konstruiert, wobei die Faszination für das Fremde in der Regel mit dem Gefühl eigener kultureller Überlegenheit einhergeht. Wenn Kosmopolitismus in einem weiteren Sinn die Begegnung mit dem und Aufgeschlossenheit für das Fremde bezeichnet, so lässt sich Exotismus als eine Unterform des Kosmopolitismus verstehen (oder auch als seine ›dreckige kleine Schwester‹). 120 Vgl. zu den Fisk Jubilee Singers Köhler, Zur Frühgeschichte des Jazz in Deutschland, S. 345–348; allg. zu afro-amerikanischen Musikerinnen und Musikern in Europa auch Lotz, Black People; Green, Lotz u. Rye, Black Europe.

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USA, die nach ihnen nach Deutschland kamen, brachten vor allen Dingen den

Ragtime als Musikstil und den Cakewalk als Tanzstil nach Berlin.121 Der Ragtime, den man musikalisch in die Vorgeschichte des Jazz einordnen kann, bediente durch seine ungewohnte und schnelle Rhythmik sowie durch die Einführung von in Europa wenig bekannten Instrumenten wie dem Banjo in besonderem Maße exotistische Erwartungen. Zusammen mit dem Cakewalk löste er vor 1914 eine erste Modewelle afro-amerikanischer Musik aus, von der auch deutsche Musiker, Plattenlabels und Musikverlage profitieren wollten, so dass sich nicht nur deutsche Ragtime-Aufnahmen von diversen Militärkapellen finden und deutsche Notendrucke US -amerikanischer Ragtimestücke (siehe Abb. 30), sondern auch deutsche Nachahmungen wie Paul Linckes oben schon erwähntes Stück Negers Geburtstag von 1903.122 Der Erste Weltkrieg unterbrach diese Transfers internationaler Musikstile und deren exotistische Aneignung in Berlin weitgehend. Die Unterbrechung dauerte allerdings nicht länger als der Krieg selbst, denn schon unmittelbar in der Nachkriegszeit setzte eine neuerliche Rezeption afro-amerikanischer Populärmusik ein, die durch die Präsenz amerikanischer Truppen in Europa noch unterstützt wurde. Neuer Sammelbegriff für diese afro-amerikanische Populärmusik war nun »Jazz«, der sich ab etwa 1915 als Genrebezeichnung in den USA etabliert hatte.123 Allerdings dauerte es im von politischen und wirtschaftlichen Unruhen geprägten Nachkriegsdeutschland bis zum Ende der Inflation, bis Schallplatten mit amerikanischer Jazzmusik zugänglich waren und die ersten afro-amerikanischen Jazz-Musiker hier auftraten. Bis dahin herrschte eine große Unklarheit darüber, was mit diesem neuen Begriff genau gemeint war. Jazz wurde in erster Linie als neue Tanzmusik wahrgenommen, der Begriff »Jazzband« wurde aber – neben der Bezeichnung für eine Band, die Jazz spielt – auch als Bezeichnung für das Schlagzeug benutzt, das als typisches Jazzinstrument galt.124 121 Vgl. dazu oben, S. 86–88. 122 Vgl. Köhler, Zur Frühgeschichte des Jazz in Deutschland, S. 350–354. Dafür, dass auch deutsche Militärkapellen Ragtime-Stücke aufnahmen, ist in erster Linie der US -ameri­ kanische Militärmusiker John Philip Sousa verantwortlich, der 1900, 1901, 1903 und 1904 vier Europatourneen veranstaltete auch einige Ragtime-Stücke im Programm hatte, ohne ansonsten viel von dieser Musik zu halten oder mit ihr zu tun zu haben; vgl. dazu Ritzel, Über Importe populärer Musik aus Amerika in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg sowie oben S. 87. 123 Zum Jazz in der Weimarer Republik (nicht nur auf den Populärmusikbühnen, sondern etwa auch in der Kunstmusik, in der Kunst und der Literatur) gibt es eine breite Forschungsliteratur, auf die hier nicht ausführlich eingegangen werden kann; vgl. etwa Partsch, Schräge Töne; Robinson, Jazz Rception in Weimar Germany; Schmidt, Visual Music; Weiner, Urwaldmusik and the Borders of German Identity; Wipplinger, The Jazz Republic. 124 Vgl. Henry Ernst, Meine Jagd nach der ›Tschetzpend‹, in: Der Artist 44 (1926) Nr. 2134, S. 4f; Koebner, Jazz und Shimmy; Hans Siemsen, Jazz-band, in: Die Weltbühne 17 (1921), S. 287f; dazu auch Schröder, Tanz- und Unterhaltungsmusik in Deutschland 1918–1933, S. 258–283.

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Abb. 30: »Des Negers Traum«, Orchesternoten für Swanee River, Berlin 1902

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Abb. 31: E. Wohlfahrt, Palais der Friedrichstadt, Berlin 1921

Die deutschen Bands, die sich – wie etwa die 1920 bis 1922 in der Berliner Scala auftretende Picadilly Four Jazzband – als Jazzbands bezeichneten, waren in erster Linie »Radau- und Attraktionskapellen«125, die durch Exzentrik und Komik auf sich aufmerksam machten (siehe Abb. 31). Erst in der sogenannten Stabilisierungsphase der Weimarer Republik ab 1924 veränderte sich die Jazzrezeption in Deutschland unter dem Eindruck der nun leichter zugänglichen amerikanischen Schallplatten sowie der Gastspiele afroamerikanischer Jazzgrößen wie Sam Wooding, der am 25.  Mai sein Deutschlanddebut mit der Revue Chocolate Kiddies im Berliner Admiralspalast gab und in den folgenden Jahren immer wieder in Berlin gastierte.126 Während der von Sam Wooding und seinem Orchester gespielte Hot Jazz noch sehr stark im Modus des Exotismus rezipiert wurde, war es dann vor allen Dingen der weiße Amerikaner Paul Whiteman, der mit seinem »symphonischen Jazz« als Erneurer wahrgenommen wurde, der eine ursprünglich »wilde« Musik »veredelt« habe.127 Whiteman gab im Juni 1926 seine ersten drei Berliner Konzerte im Großen 125 Lotz, Amerikaner in Europa, S. 294. 126 Vgl. Green, Lotz u. Rye, Black Europe, S. 280–291; Schröder, Tanz- und Unterhaltungsmusik in Deutschland 1918–1933, S. 284; Bratfisch, Jazz in Berlin, S. 52 f. 127 Bratfisch, Jazz in Berlin, S. 53. Diese unterschiedliche Rezeption von Wooding und White hatte dabei weniger mit deren Musik selbst und mehr mit rassistischen Vorurteilen zu tun, denn auch Wooding hatte bei seinem ersten Konzert u. a. Stücke von Verdi und

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Schauspielhaus und rückte den Jazz damit erstmals aus dem Kontext der Revuetheater und Tanzsäle in einen reinen Konzertrahmen.128 Selbst wenn die konzertförmige Darbietung des Jazz nicht von allen Kritikern begrüßt wurde und während der Weimarer Republik noch kaum Schule machte, hatte sie doch einen spürbaren Einfluss auf die Jazzbands auf den Varietébühnen, in den Kaffee­ häusern und Tanzsälen, von denen Paul Bernhard 1927 unter dem Stichwort der »Jazzverfeinerung« schrieb: Mit zunehmender Verfeinerung der Sitten, nachdem sich die sozialen Schichten sozusagen geologisch geordnet hatten, zogen sich die Jazz-Akrobaten den Frack an, schafften die elementaren Getöse [sic] ab und vermittelten, mit gepflegten Händen zur Salonkapelle geworden, zeitgemäße Musikkunst zu zivilen Preisen für die feinen Leute.129

Mit dem populärer werdenden, ›verfeinerten‹ Jazz mussten sich allerdings nicht nur die ›Radaukapellen‹ der Nachkriegszeit umstellen, sondern auch die Salonund Kaffeehausorchester, wollten sie der gestiegenen Jazznachfrage gerecht werden. Die Kapellen stellten ihr Repertoire entsprechend um, viele Musiker lernten die typischen Jazz-Instrumente wie Saxophon oder Klarinette hinzu und sogenannte »Kombinationsorchester« kamen in Mode, die gleichzeitig als Salonorchester und als Jazzensemble auftreten konnten.130 Viele deutsche Bands gaben sich außerdem englische Namen, um mit der Jazz-Mode mitzugehen.131 Diese Jazz-Mode hat schon zeitgenössisch zur Wahrnehmung einer »Amerikanisierung des Musiklebens«132 geführt, die mit der Wahrnehmung einer allgemeinen Amerikanisierung des modernen Lebens korrespondierte. In diesem Kontext konnte der Jazz als Ausdruck eines neuen Lebensgefühls nicht nur der technisierten Moderne, sondern auch der Großstadt interpretiert werden: »Jazz ist Rhythmus der Zeit, er karikiert das Tempo von Heute. In ihm spiegelt sich das Hasten und Treiben des Grossstadtmenschen.«133 Hierbei ging es aller-

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Tschaikowski in Jazzbearbeitungen gespielt und sich damit um eine Anerkennung des Jazz als ernstzunehmender Musik bemüht; vgl. Green, Lotz u. Rye, Black Europe, S. 283. Vgl. Schröder, Tanz- und Unterhaltungsmusik in Deutschland 1918–1933, S. 302. Bernhard, Jazz, S. 28. Vgl. Schröder, Tanz- und Unterhaltungsmusik in Deutschland 1918–1933, S. 54–70; als zeitgenössische Anleitung zum Umlernen Baresel, Das Jazz-Buch. Vgl. Forschneritsch, Die Kapellmeister-Union E.V, S.  79: »Es blieb den erstklassigen­ Salonkapellmeistern nichts anderes übrig, als sich der Mode zu unterwerfen, und wir erhielten wirkliche und ausgezeichnete Jazzkapellen, die, um sich behaupten zu können, ausländische Namen annahmen.« Szatmari, Das Buch von Berlin, S. 191. H. Emel, Die Tanzmusik im Rahmen des Rundfunks, in: Funk Woche (1926), Nr. 48, zit. n. Johanna Rohlf, As Time Goes by. Jazz and Urban Rhythm in the 1920s, unveröffentlichter Vortrag auf der Tagung »Metropolitan Temporalities« am Center for Metropolitan Studies Berlin, 20.–22. November 2014 (mit Dank an die Autorin für die Überlassung des Vortragsmanuskripts).

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dings – wie oben schon angedeutet – um das Großstadtleben allgemein und nicht mehr speziell um Berlin, das als »europäisches Chicago« lediglich als besonderer Exponent der ›neuen Zeit‹ und als ›amerikanischste‹ Stadt Deutschlands und Europas wahrgenommen wurde.134 In dieser Verbindung von Großstadt, Amerika und technischer Moderne wurde der Jazz von vielen zeitgenössischen Intellektuellen aufgegriffen und interpretiert, er fand Eingang in die Literatur, in die Kunst und auch in die ernste Musik, von Paul Hindemith bis Ernst Krenek.135 Diese breite zeitgenössische Thematisierung hat allerdings in der Forschungsliteratur zu einer gewissen Überbetonung der Amerikanisierung und der Bedeutung des Jazz in der Weimarer Republik geführt.136 Denn selbst wenn von einer Jazz-Mode im Berlin der zweiten Hälfte der 1920er Jahre gesprochen werden kann, dominierten die amerikanischen Einflüsse das Musikleben doch nicht vollständig. Von großer Bedeutung waren etwa auch osteuropäische Musiker wie Dajos Béla, Efim Schachmeister, Sam Baskini, Paul Godwin, Marek Weber oder Mischa Spoliansky, die zumeist nach der Russischen Revolution und dem Ende des Ersten Weltkriegs nach Berlin gekommen waren und die zwar ebenfalls zum Teil Jazz spielten, aber auch andere musikalische Einflüsse verarbeiteten.137 Unter den populären Musikern dieser Zeit in Berlin finden sich noch weitere Ausländer wie der Spanier Juan Llossas, der Brite Billy Bartholomew, der Franzose Paul Romby, der Däne Reinhard Wenskat und der Schweizer Teddy Stauffer.138 Dieser Kosmopolitismus der Berliner Populärmusik spiegelt sich auch in einem Witz der 1920er Jahre, den Rainer Bratfisch wie folgt wiedergibt: Auf die Frage ›Was ist international?‹ antwortet der/die so Befragte: ›Doch sicher die Musik!‹ Der Frager korrigiert: ›Ja, aber erst, wenn ein Russe mit einem ungarischen Namen auf einer italienischen Geige mit seiner echt amerikanischen Jazzband einen Wiener Walzer in Berlin zum englischen Five-O’Clock-Tea spielt.‹139

Auch andere Quellen belegen, dass in den 1920er Jahren auf den Populärmusikbühnen und in den Cafés und Tanzbars nicht nur Jazz gespielt wurde, sondern weiterhin ein internationaler Stilmix vorherrschte, bei dem die österreichischen und französischen Einflüsse noch präsent waren. So berichtete Marek Weber 1929 von seinem Repertoire als Kapellmeister: 134 Vgl. Thies u. Jazbinsek, Berlin  – das europäische Chicago; zur Amerikanisierungsdebatte allg. Lüdtke u. a., Amerikanisierung; Linke u. Tanner, Attraktion und Abwehr; Bechdolf u. a., Amerikanisierung – Globalisierung. 135 Vgl. dazu bes. Partsch, Schräge Töne, S. 174–212; zur Idee des technisch und großstädtisch geprägten »Jazz Age« auch Donald, A Complex Kind of Training. 136 Vgl. zur Kritik am Amerikanisierungsparadigma in der Populärmusikforschung auch Nathaus, Popular Music in Germany, 1900–1930. 137 Vgl. Bratfisch, Jazz in Berlin, S.  43–45; zu Mischa Spoliansky auch Stahrenberg, Hot Spots von Café bis Kabarett. 138 Bratfisch, Jazz in Berlin, S, 62–64. 139 Ebd., S.  44. Mit dem »Russen mit einem ungarischen Namen auf einer italienischen Geige« war höchst wahrscheinlich Dajos Béla gemeint.

Populärmusik

Bei meiner langjährigen Tätigkeit in den Hotels Adlon und Esplanade zu Berlin, wählte ich mit Vorliebe die anmutigen Wiener Walzer, den schmissigen Wiener Walzer, das leicht parfümierte französische Chanson, Auszüge aus den diversen populären Opern, klassische Stücke (Menuetts, einzelne Sätze aus Standard Werken [sic] der Musikliteratur), Volkslieder und -weisen aus aller Herren Länder und, last noch [sic] least, die gerade in Mode befindlichen Schlager. […] Bei Tanzmusik bevorzugte ich vorwiegend amerikanische Piècen, ohne aber die neuen deutschen Tanzstücke in etwas amerikanisierter Form zu vernachlässigen. Der Erfolg bei einem auserwählten internationalen Publikum bewies mir, daß die Art der Programmbildung richtig war. Außerdem brachte ich zum Tanz den ›Original argentinischen Tango‹, der seinen vorübergehend unterbrochenen Siegeszug als Tanz scheinbar wieder aufzunehmen gedenkt.140

Zudem wurde die Jazz-Mode schon zeitgenössisch vielfach kritisiert und die Stimmung drehte sich bereits vor 1933 gegen den Jazz. Wie oben schon angesprochen, verursachten die Weltwirtschaftskrise und die Einführung des Tonfilms ab 1929 eine manifeste Beschäftigungskrise auf dem Musikmarkt, was auch zu einer immer häufiger geäußerten Kritik an der Beschäftigung von ausländischen Musikerinnen und Musikern führte. Diese Kritik richtete sich in besonderer Weise gegen den Jazz. So beschwerte sich etwa Paul Lincke im Goldenen Buch des Kapellmeisters 1931 über die Vorherrschaft von »ausländischen Musikstücken und fremden Kapellen« in den deutschen Konzertlokalen, wo seiner Meinung nach auch kein Jazz gespielt werden sollte, der sich nur zum Tanzen eigne.141 Diese Kritik verband sich immer häufiger mit rassistischen Angriffen auf die angebliche Minderwertigkeit der »Negermusik«142 und führte schon vor 1933 zu (vereinzelten) behördlichen Maßnahmen gegen die Auftritte schwarzer Musiker und damit zu einer Zurückdrängung kosmopolitischer Elemente in der Berliner Populärmusik.143 Für den hier gewählten Untersuchungszeitraum von 1880 bis 1930 ist aber insgesamt eine Vielzahl internationaler Einflüsse und Transfers auf dem Feld der Populärmusik zu konstatieren, die durch den Ersten Weltkrieg nur kurzfristig unterbrochen worden waren. Dies korrespondiert mit anderen Ergebnissen 140 Zit. n. Schröder, Tanz- und Unterhaltungsmusik in Deutschland 1918–1933, S. 55. Vgl. zur anhaltenden Bedeutung der österreichischen Einflüsse bis zum Ende der 1920er Jahre Grünfeld, Bedeutung des österreichischen Repertoires für die deutschen Salon- und Tanzkapellen; zum »Weltrepertoire als Erfolgsgrundlage« Milos, Das Weltrepertoire als Erfolgsgrundlage. 141 Lincke veröffentlichte dort ein kurzes Statement in der Rubrik »Goldene Ratschläge«, in der auch andere Größen der Unterhaltungsmusik zu Wort kamen; vgl. von Coellen u. Gizycki-Arkadjew, Das goldene Buch des Kapellmeisters, S. 179 f. 142 Vgl. Partsch, Schräge Töne, S. 218; Schröder, Tanz- und Unterhaltungsmusik in Deutschland 1918–1933, S. 350–355, 143 Vgl. Schröder, Zur Kontinuität nationalsozialistischer Maßnahmen gegen Jazz und Swing in der Weimarer Republik und im Dritten Reich.

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dieses Kapitels, die den Zäsurcharakter des Ersten Weltkriegs relativieren. So haben sich für die Struktur des Populärmusikangebots, die Dienstleistungsmusikerschaft und die Populärmusikpraxis der Hofmusik und der Gassenhauer weitgehende Ähnlichkeiten für die Zeit vor und nach dem Ersten Weltkrieg ergeben (mit graduellen Verschiebungen etwa durch den Rückgang der Gartenkonzerte und den weitgehenden Wegfall der Militärkapellen nach 1918). Lediglich bei der musikalischen Konstruktion einer Berliner Identität im Medium des Berlin-Schlagers wurde eine deutliche Veränderung nach 1918 hin zum Nostalgischen erkennbar. Dem gegenüber stand die Aufwertung amerikanischer Einflüsse auf dem Feld des musikalischen Kosmopolitismus nach 1920 durch den Jazz, der zugleich als Medium einer veränderten, unter dem Zeichen der Amerikanisierung stehenden Auseinandersetzung mit der Großstadt und dem (technisierten) Rhythmus der Zeit diente. Trotz dieser zeitgenössischen Betonung der Technisierung des Lebens dominierte allerdings bis zum Ende der 1920er Jahre die live gespielte Musik das städtische Populärmusikangebot. Erst mit der Einführung des Tonfilms nach 1929 und dem Aufstieg des Radios zum Massenmedium setzte – zusätzlich beschleunigt durch die Weltwirtschaftskrise – eine Krise auf dem Musikarbeitsmarkt und eine nachhaltige Verschiebung von der live gespielten zur medial reproduzierten Musik ein. Damit veränderte sich auch die Art und Weise, in der die Populärmusik den Großstadtalltag prägte. Ihre Funktion der Alltagsbegleitung verlagerte sich durch die Medialisierung im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts zunehmend vom öffentlichen in den privaten Raum, bis hin zum iPod, der auch die auditive Erfahrung des öffentlichen Raums privatisiert.144 Um 1920 stellte die Populärmusik jedoch noch in live gespielter Form einen integralen Bestandteil des Großstadtalltags im »Taumel des Berliner Lebens« dar.145

144 Vgl. Bull, Sound Moves. 145 Berlin für Kenner, S. 10.

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5. Vergnügungsparks

Im Sommer 1929 beging der Lunapark am Halensee sein 25-jähriges Jubiläum. Anlässlich der besonders feierlichen Eröffnung besann man sich auf Gustav Baumann, den Kapellmeister, der bereits ein Vierteljahrhundert zuvor als Leiter des Berliner Tonkünstler-Orchesters die Saison eingeleitet hatte und der nun auch 1929 mit dem Tannhäusermarsch den Auftakt zum sommerlichen Vergnügen am Halensee musikalisch untermalte.1 Streng genommen bestand 1929 nicht der Lunapark seit 25 Jahren, sondern lediglich sein Haupt­restaurant, die 1904 eröffneten Terrassen am Halensee  – eine Ungenauigkeit, die sicherlich dem Wunsch nach guter Presse zur Eröffnung der Sommersaison geschuldet war.2 Der Lunapark lag am westlichen Ende des Kurfürstendamms, dort, wo die dichte urbane Bebauung überging in die locker bebaute Villenkolonie Grunewald mit ihren repräsentativen Anwesen. Das Hauptgebäude des Lunaparks war eben jenes Restaurant, in dem bereits seit 1904 am Halensee Ausflügler aus der nahen Reichshauptstadt bewirtet wurden. Das dreistöckige Terrassengebäude bot Platz für bis zu 10.000 Gäste. Trotz dieser Größe machte das Gebäude mit seinen von innen illuminierten Türmen, den Statuen, der bunten Bemalung und dem Blumenschmuck einen verspielten und extravaganten Eindruck und unterschied sich stark von der oft als monumental und pompös empfundenen Kurfürstendammarchitektur (siehe Abb. 32).3 Für die Besucherinnen und Besucher, die von den Freitreppen der oberen Terrassen aus einen ersten Blick auf den zu ihren Füßen liegenden Vergnügungspark werfen konnten, bot sich ein buntes Bild und eine beeindruckende Geräuschkulisse: Aus Musikpavillons ertönte Marschmusik oder Jazz, am Fuße des Terrassengebäudes führten Akrobaten ihre Kunststücke vor und im südlichen Teil des Geländes lag das Bayrische Dorf, wo bei eigener Musikbeschal-

1 Vgl. etwa Konzert-Zeitung. Terrassen am Halensee, S. 1; Der jubilierende Lunapark, in: Berliner Herold, 5.5.1929. 2 Der Lunapark eröffnete im Mai 1910 und schloss kurz nach Beginn des Ersten Weltkriegs im August 1914. Zur Sommersaison 1920 eröffnete er erneut und bestand bis Oktober 1933. 3 Bauantrag und -zeichnungen, in: LAB B Rep. 209 Nr. 864; Restaurant Terrassen am Halen­ see, in: Berliner Architekturwelt 7 (1905) Nr. 5, S. 163–170; Architekten- und Ingenieur-­ Verein zu Berlin, Berlin und seine Bauten Teil VIII Band B, S. 73.

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Abb. 32: Lunapark mit Terrassengebäude um 1925

lung Bier vor einer romantisierten Alpenkulisse ausgeschenkt wurde. Hinter dem nördlichen Flügel des Terrassengebäudes befanden sich die Rummelplatz­ attraktionen. Von dort wehten Geräuschfetzen herüber: das Rattern und Dröhnen der Räder auf den Metall- und Holzkonstruktionen, der Motorenlärm der Antriebsmaschinen, das Kreischen der Mitfahrenden, die laut gegrölten Anpreisungen der Rekommandeure, die Musikbeschallung der Attraktionen. Schritten die Besucherinnen und Besucher die Freitreppen in den Park hinab, konnten sie im vorderen Teil verweilen, wo sie entlang des Sees und der Blumenrabatten promenieren, die Vorführungen der Artisten bewundern, der Musik lauschen oder auf einer der Terrassen des Hauptrestaurants speisen konnten, bis abends das Feuerwerk über dem Halensee leuchtete. Ein Alternativprogramm bot sich hinter dem Terrassengebäude, »wo das Leben und Treiben am wildesten und tollsten pulsiert, wo Attraktion an Attraktion sich reiht« und die Rummelplatzgeschäfte lockten.4 Da gab es zum Beispiel die Gebirgsszeneriebahn, eine hölzerne Vorform der Achterbahn, deren Züge durch eine plastisch gestaltete und bemalte Kulisse fuhren, oder die so genannten Selbstfahrgeschäfte, allen voran die damals noch ganz neuen Autoskooter.5 Ein Wellen- und ein Kurbad luden sowohl zu Schwimmwettkämpfen als auch zum Spaßschwimmen und auf einer Sommereisbahn konnten die Gäste im Badekostüm Schlitt-

4 Der Lunapark im Jubiläumsjahr, S. 12. 5 Unter Selbstfahrgeschäften versteht man Anlagen, »bei denen das Publikum auf Fahrzeugen mit eigenem Antrieb, sogenannten Selbstfahrern, auf einer begrenzten Fahrbahn die Fahrtrichtung selbst bestimmen« können (Dering, Volksbelustigungen, S. 127).

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schuhlaufen.6 Außerdem gab es Glücksspiele, Schießbuden und diverse Belustigungsgeschäfte,7 etwa die nach dem damals aktuellen Modetanz benannte Shimmytreppe. Ihre zweigeteilten Stufen wackelten jeweils in unterschiedlicher Richtung auf und ab, so dass man sie nur »unter unsäglichen Mühen besteigen« konnte.8 Neben Theater, Artistik und Sport durften auch ›exotische‹ Welten nicht fehlen: 1929 gab es ein Afrikanisches Dorf, eine »stilechte Siedlung von Völkern des ägyptischen Sudan«.9 Im Laufe der Jubiläumssaison wurden zahlreiche Sonderveranstaltungen und Feste zelebriert. An Pfingsten lockten die traditionellen Frühkonzerte und in einer Schönheitskonkurrenz wurde die Sommerkönigin gekürt. Sowohl die Berliner Feuerwehr als auch die Kriminalpolizei feierten ihre Wohltätigkeitsfeste im Lunapark. Als Krönung eines Festabends wurde ein »Brillant-«, »Riesen-« oder »Fest-Feuerwerk« angekündigt.10 Der Berliner Lunapark war zwar der berühmteste, größte und am längsten bestehende Vergnügungspark Berlins, aber nicht der erste. Bereits 30 Jahre vor der Eröffnung des Lunaparks 1910, begann am 25.  April 1880 in der Hasenheide die Sommersaison der Neuen Welt. Sie gehörte zur dort ansässigen Bergschloßbrauerei und wurde vom Gastronomen Rudolf Sternecker betrieben.11 Betraten die Besucherinnen und Besucher die Neue Welt, so mussten sie zunächst an einem der beiden Kassenhäuschen Eintritt bezahlen. Anschließend führte der von Statuen gesäumte Hauptweg schnurgerade auf einen See mit Fontänen und den dahinter gelegenen Indischen Pavillon zu. Hinter dem Pavillon endete das Vergnügen, hier lagen die Produktionsstätten der Bergschloßbrauerei. Zu ­Füßen des erhöht gelegenen Pavillons und rechts und links des Hauptwegs befanden sich, teilweise unter dichtem Baumbestand, die Vergnügungsattraktionen: die Fahrgeschäfte, die Theater- und Konzertbühnen, die Würfel- und Schaubuden sowie die Tische und Stühle des Brauereiausschanks. Es gab ein großes Restaurationsgebäude, einen Ballsaal, in dem im Sommer getanzt wurde, und ein Hippodrom, in dem geritten werden konnte oder Ringkämpfe stattfanden (siehe Abb. 33).

6 Zum Bau des Wellenbads vgl. LAB B Rep. 209 Nr. 878; Das Wellenbad im Lunapark, in: Der Berliner Westen, 15.5.1927. Zum Bau des Kurbades vgl. LAB B Rep. 209 Nr. 870; Phönix Lunapark, in: Der Berliner Westen, 6.5.1928; Morgen Lunapark, in: B. Z. am Mittag; 4.5.1928. 7 Belustigungsgeschäft ist der Fachbegriff für Attraktionen, bei denen sich »Personen zu ihrer und zur Belustigung anderer Personen betätigen können« (Dering, Volksbelustigungen, S. 138, vgl. auch ebd., S. 139–143). 8 Zobeltitz, Ich hab so gern, S. 167. 9 Der Lunapark im Jubiläumsjahr, S. 14. 10 Frühkonzert im Lunapark, in: Berliner Herold, 19.5.1929; Feuerwehr im Lunapark, in: Vossische Zeitung, 28.8.1929; Kriminalpolizei im Lunapark, in: Vossische Zeitung, 29.6.1929; Anzeigen des Lunaparks, in: Berliner Herold, 2.6.1929, 9.6.1929, 11.8.1929, 25.8.1929. 11 Vgl. Anzeige Sterneckers, in: Berliner Tageblatt, 23.4.1880; Meldung, in: Vossische Zeitung, 23.4.1880.

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Abb. 33: K. Steinberg, Die Neue Welt, 1881

Technisch war die Neue Welt auf der Höhe ihrer Zeit. Gleich am Eingang konnten die Besucherinnen und Besucher in einer elektrischen Eisenbahn Platz nehmen – eine brandneue Erfindung, die nur ein Jahr vor der Eröffnung der Neuen Welt erstmals auf der Berliner Gewerbeausstellung am Lehrter Bahnhof einer breiten Öffentlichkeit vorgestellt worden war.12 Im See vor dem Indischen Pavillon versorgte ein »großer Pulsometer« die »neue Riesenfontaine im See mit kolossalen Wassermassen«. Abends bot sich von der Anhöhe des Indischen Pavillons aus ein »wirklich märchenhaft schöner Anblick«, denn ab 1881 war das gesamte Gelände elektrifiziert und wurde »durch 12 mächtige Girandolen« beleuchtet, die »eine vollkommene Tageshelle über den See […] und über all die vielen verschiedenen Volksvergnügungsstätten« verbreiteten.13 Wie auch im Lunapark prägten Feste, Konzerte, Feuerwerke und Vorführungen von Artisten das Programm der Sommersaison der Neuen Welt. Die größte Sensation war 1881 der Auftritt des damals weltberühmten Seiltänzers Charles Blondin, der 1859 vor einem mehrtausendköpfigen Publikum erstmals auf einem Drahtseil die Niagarafälle überquert hatte. In Berlin zeigte er seine »außerordent12 Entwickelt wurde sie von der Firma Siemens & Halske, vgl. Elektrische Eisenbahn auf der Berliner Gewerbe-Ausstellung, ausgeführt von Siemens & Halske, in: Annalen für Gewerbe und Bauwesen 5 (1879) Nr. 51, S. 105–107. 13 Sterneckers »Neue Welt«, in: Berliner Tageblatt, 4.6.1881. Ein Pulsometer ist eine Dampfpumpe, die Anfang der 1870er Jahre vom amerikanischen Erfinder und Unternehmer C. Henry Hall erfunden wurde.

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lichen Productionen auf dem hohen Seil« und betätigte sich, auf dem Seil stehend, als Feuerwerker.14 Obwohl zwischen der Eröffnung der Neuen Welt und der Jubiläums­saison des Lunaparks fast 50 Jahre lagen, wies das Vergnügungsangebot beider Etablisse­ ments viele Parallelitäten auf: In beiden gab es Großgastronomie und Festveranstaltungen, Konzerte und Tanz, Sport und exotische Bauten, Theateraufführungen und Auftritte von Akrobaten, Feuerwerk und nächtliche Illumination. Auch die Rummelplatzattraktionen wie Schaugeschäfte, Belustigungs- und Fahrgeschäfte sowie Glücks- und Geschicklichkeitsgeschäfte gab es sowohl in der Neuen Welt als auch im Lunapark. Vergnügten sich also die Gäste beider Etablissements mit den gleichen Attraktionen, obwohl beinahe ein halbes Jahrhundert vergangen war und obwohl in diesen Jahrzehnten soziale und politische Umbrüche die Lebenswelt der Besucherinnen und Besucher grundlegend verändert hatten? Die Antwort lautet: ja und nein. Einerseits änderte sich die Grundstruktur der Attraktionen kaum. Andererseits gab es innerhalb dieser Grundstruktur durchaus Verschiebungen, die auf veränderte technische, soziale und gesellschaftliche Rahmenbedingungen verweisen. Die offenkundigste Veränderung war die Zunahme der Fahrgeschäfte, die auch den Bedeutungszuwachs der amerikanischen Vergnügungsparks veranschaulicht. Viele innovative Fahrgeschäfte wurden in den amerikanischen Parks, etwa im New Yorker Vergnügungsviertel Coney Island, erdacht und erprobt, bevor sie in Europa populär wurden.15 Ein weiteres Beispiel sind die so genannten ›Völkerschauen‹, die 1880 in der Neuen Welt noch keine Rolle spielten, im Lunapark aber in jeder Saison zum Angebot gehörten. Zwar gab es schon seit der Frühen Neuzeit immer wieder Schaubuden, die unter anderen ›Kuriositäten‹ und ›Abnormitäten‹ auch ›exotische‹ Menschen ausstellten und sie als ›Wilde‹ präsentierten. Aber die modernen ›Völkerschauen‹, eng mit dem Namen Carl Hagenbeck verbunden, waren Anfang der 1880er Jahre aufgrund ihres finanziellen und logistischen Aufwands noch selten. Erst im Laufe der folgenden Jahre, als immer mehr Impresarios in das zunehmend einträgliche und professionell organisierte Geschäft mit den ›Exoten‹ einstiegen, wurden sie zum allgegenwärtigen Vergnügungsangebot.16 14 Anzeige Sterneckers z. B. in: Berliner Tageblatt, 5.8.1881. Mit bürgerlichem Namen hieß Blondin Jean-François Gravelet. 15 Der erste Vergnügungspark in Coney Island, der Sea Lions Park, wurde 1895 eröffnet, es folgten 1897 der Steeplechase Park, 1903 der Luna Park und 1904 das Dreamland. Zu­ Coney Island und den US -amerikanischen Parks vgl. etwa Kasson, Amusing the Million; Immerso, Coney Island; Adams, The American Amusement Park. Zur Entwicklung von Fahrgeschäften und der Rolle der US -amerikanischen Erfinder s. u. 16 Carl Hagenbeck hatte 1875 seine erste Völkerschau, eine Gruppe Lappländer nebst Rentieren und Alltagsgeräten, auch in der Hasenheide gezeigt; vgl. Dreesbach, Gezähmte Wilde, S. 45. Zu Carl Hagenbeck vgl. etwa Ames, Carl Hagenbeck’s Empire; Dittrich u. Rieke-Müller, Carl Hagenbeck; Thode-Arora, Für fünfzig Pfennig.

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Weitere Beispiele für die Verschiebungen innerhalb des Vergnügungskanons ließen sich anführen. Trotz dieser Akzentverschiebungen blieb die Struktur des Vergnügungsangebots der Parks über den Zeitraum der langen Jahrhundertwende aber grundsätzlich erhalten. Die Vergnügungsparks waren seit dem späten 19.  Jahrhundert öffentliche, kommerziell betriebene Vergnügungsareale, in oder nahe bei Städten gelegen, die unter freiem Himmel und auf einem klar umgrenzten und eingezäunten Gelände ein Vergnügungsangebot präsentierten, das Rummelplatzattraktionen mit den Vergnügungen von Sommerlokalen verband.17 Die Entstehung der Vergnügungsparks und ihrer Attraktionen war ein Prozess, bei dem lokale Traditionen mit transnationalen Entwicklungen des Vergnügungsgewerbes verschmolzen. Vergnügungsparks in dieser Form waren vor allem eine Erscheinung der Großstädte der langen Jahrhundertwende, der Zeit der Hochurbanisierung und der 1920er Jahre.18 Das vorliegende Kapitel widmet sich zunächst der Geschichte der Berliner Vergnügungsparks, den Kontinuitäten älterer Angebote und den innovativen Neuanfängen, der Topographie der Parks, ihrer transnationalen Finanzierung und ihrem kosmopolitischen Programm. Anhand einzelner Angebote wird anschließend nach der subjektiven urbanen Erfahrung des Publikums in den Vergnügungsparks gefahndet sowie die wechselseitige Beeinflussung der Stadt und der Vergnügungskultur nachgezeichnet. Dabei zeigt sich, dass die Parks als Teil  der Vergnügungskultur der langen Jahrhundertwende einen Beitrag zur großstädtischen Vergesellschaftung und damit zur inneren Urbanisierung der Berlinerinnen und­ Berliner leisteten.

17 Mit Rummelplatzattraktionen sind Schaugeschäfte, Fahrgeschäfte, Belustigungsgeschäfte, Glücks- und Geschicklichkeitsgeschäfte gemeint. Die Vergnügungen der Sommerlokale umfassen Theater-, Varietéaufführungen und Konzerte, Gastronomie, Tanz, Feuerwerk und Illumination. Wichtig ist nicht eine klare Zuordnung verschiedener Attraktionen der Parks zu einer der beiden Traditionslinien Rummelplatz oder Sommerlokal – diese Abgrenzungen wurden in der Realität ohnehin häufig überschritten. Wichtig ist vielmehr, zu zeigen, dass die Kombination zweier Traditionslinien die Breite des Angebots der Vergnügungsparks ausmachte. 18 Zwar existieren noch einige Vergnügungsparks dieser Art, etwa das Tivoli in Kopen­ hagen. Auch der Berliner Spreepark erprobte in den 1990ern ein ähnliches Vergnügungsprogramm, musste jedoch mit hohen Schulden 2001 schließen. Aber die meisten heute existierenden Freizeitparks (z. B. Heide Park Resort in Soltau, Europa-Park in Rust) orientieren sich an Themenparks in der Tradition des Disneylands und liegen außerhalb großer Städte.

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5.1 Hasenheide und Halensee: Die Topographie und Geschichte der Vergnügungsorte Die Gründung der Vergnügungsparks in der Hasenheide und am Halensee war kein Zufall, denn beide Orte waren bereits etablierte Ausflugsziele, bevor sie zu Vergnügungsparks ausgebaut wurden. Angesichts der rasant wachsenden Stadt, der sommerlichen Hitze im »steinernen Berlin«,19 der Enge der Wohnverhältnisse, der langen Arbeitszeiten und der sich erst langsam steigernden Freizeit, war der sonntägliche Ausflug ins Grüne bei vielen Berlinerinnen und Berlinern sehr hoch besetzt. Es gibt zahlreiche Schilderungen der ›Völkerwanderungen‹, der Menschenmassen, die an schönen Wochenenden ins Umland strömten, der überfüllten Verkehrsmittel und der mehr oder weniger idyllischen Ausflugsziele: im Norden die Jungfernheide oder die Schönholzer Heide, im Westen den Tiergarten, im Südwesten den Grunewald, im Südosten die Oberspree oder den Müggelsee und im Osten den Treptower Park. Hinzu kamen die Vororte, die zunächst noch einen dörflichen Charakter behielten und in denen zahlreiche Dorf- und Ausflugslokale lockten. Waren diese ehemaligen Dörfer bereits verstädtert, brachten Züge die Ausflügler in die etwas weitere Umgebung, nach Potsdam oder Werder, nach Grünau oder Zeuthen. Die Neue Welt und der Lunapark waren nicht die einzigen Berliner Vergnügungsparks während der langen Jahrhundertwende. Am Weißensee unterhielt Rudolf Sternecker, der auch die Neue Welt einige Jahre betrieben hatte, einen Vergnügungspark. Die Berliner Gewerbeausstellung im Treptower Park im Sommer 1896 wurde durch einen Vergnügungspark ergänzt, der nur einen Sommer Bestand hatte und in enger Kooperation mit der Ausstellung organisiert wurde. Ab 1922 gab es den Universum-Landes-Ausstellungspark, kurz Ulap genannt, auf einem Gelände am Lehrter Bahnhof in Moabit, auf dem zuvor 1879 die erste Berliner Gewerbeausstellung und in den folgenden Jahren weitere Expositionen, Konzerte und Theatervorstellungen stattgefunden hatten. Der Ulap machte dem Lunapark nur vier Jahre lang Konkurrenz, im Januar 1926 meldete er bereits Konkurs an. 1931 wurde das Traumland eröffnet, und zwar in der Schönholzer Heide, deren langjährige Tradition als Ausflugsziel sogar in Berliner Gassenhauern besungen wurde.20 In anderen Etablissements waren die Übergänge zwischen Sommerlokal, Rummelplatz und Vergnügungspark fließend. Häufig wechselten die Betrei19 Hegemann, Das steinerne Berlin. 20 Gemeint ist hier vor allem das Lied Bolle reiste jüngst zu Pfingsten, in dem beschrieben wird, wie sich »Bolle« in der Schönholzer Heide »köstlich amüsierte«. Das Traumland bestand bis zum Zweiten Weltkrieg, übernahm nach der Schließung des Lunaparks zeitweilig dessen Namen und wurde während des Krieges als Zwangsarbeiterlager missbraucht.

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ber und die jeweiligen Angebote in so rascher Folge, dass von einem konti­ nuierlichen Betrieb eines Vergnügungsparks keine Rede sein konnte. Vom Lunapark, dem Ulap, dem Vergnügungspark der Gewerbeausstellung oder der Neuen Welt unterschieden sie sich nicht nur durch ihre Größe oder die Dauer ihres Bestehens, sondern auch durch ihre ausschließlich lokale Ausrichtung. Ihr Publikum kam überwiegend aus den benachbarten Wohngegenden und es fehlten internationale Geldgeber oder Attraktionen. Ein Blick in die Geschichte und Organisation der Neuen Welt und des Lunaparks hingegen zeigt, wie im Zusammenspiel von althergebrachten Vergnügungsorten einerseits und einer kosmopolitischen Ausrichtung des Vergnügungsangebots und der Akteure andererseits die typischen Vergnügungsparks der langen Jahrhundertwende entstehen konnten. Die Hasenheide war ein Waldgebiet, das bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Ausflugsziel und Vergnügungsort avancierte.21 1854 wurde eine befestigte Straße vom Halleschen Tor zur Hasenheide und weiter an deren nördlichen Rand entlang bis nach Rixdorf ausgebaut. Um die Jahrhundertmitte zogen erste Kaffeehäuser Publikum an. Nach 1850 entstanden Brauereien am Rande der Hasenheide und luden in ihre zunächst noch bescheidenen Ausschankgärten. Zahlreiche Ausflügler lagerten jedoch einfach unter den Bäumen, picknickten oder verpflegten sich bei fliegenden Händlern.22 Hinzu kamen allmählich immer mehr Vergnügungsangebote. Für die 1870er Jahre beschrieben Quellen ein buntes Rummelplatztreiben am Rande des Waldgebiets, entlang der Straße Hasenheide und der Pionierstraße (der späteren Blücherstraße) bis fast zum Halleschen Tor. Ein »Wald von bewimpelten Mastbäumen, Thürmen, Triumphbogen« war hier »emporgeschossen […] dazwischen eine Kleinstadt von Baracken, Kunsttempeln, Zelten, Lauben, phantastischen Holzbauten, Wigwams, Thespiskarren, Arenen, Käfigen und lustigen Ateliers«.23 Es gab Karussells, Würfelbuden, Schießbuden oder solche, in denen man sein Lungenvolumen testen konnte; Kraftmesser, Zauberer und Jongleure traten auf. In »fliegende[n] Wirtschaften« konnten Würstchen und Schrippen, Branntwein, Maronen, Orangen oder Salami gekauft werden. »Man lagerte sich im dürftigen Grase, umgeben von Fettpapieren und Eierschalen, spielte Harmonika und sah zu, wie die Kinder die Drachen steigen ließen.«24 (Siehe Abb. 34.) Das bunte Treiben entlang der Pionierstraße und der Hasenheide dauerte allerdings nicht länger als zwei bis drei Jahrzehnte. Bereits 1895 blickte Paul Lindenberg voller Wehmut auf die ›alte‹ Hasenheide zurück und erkannte die Gegend kaum wieder. Das Waldgebiet war nun von Straßen eingeschlossen, die 21 Ihren Namen erhielt sie Ende des 17. Jahrhunderts, als Friedrich Wilhelm von Brandenburg dort zu Jagdzwecken ein Hasengehege anlegen ließ. 22 Vgl. Ritter, Ein Gang durch die Geschichte, S. 69–73; Uebel, Die Neue Welt, S. 2 f. 23 Trinius, Vom grünen Strand, S. 71. 24 Zobeltitz, Chronik der Gesellschaft, S. 51.

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Abb. 34: Vergnügungen in der Hasenheide 1888

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Budenstadt der Wohnhausbebauung gewichen. Die fliegenden Händler, die zahllosen Schaubudenbesitzer, die Tanzplätze unter Bäumen und die vielen kleinen Gartenlokale – dies alles waren Zwischennutzungen, die dem Bauboom der 1880er und 1890er Jahre zum Opfer gefallen waren. Berlin war gewachsen, die Stadt hatte die Hasenheide umschlossen und den Vergnügungen feste Bauten zugewiesen.25 Die Neue Welt war gewissermaßen ein Vorreiter dieser Entwicklung. Denn die Wirte der Schankgärten waren Profiteure im Prozess der ›Zähmung‹ des Vergnügens an der Hasenheide. Während die temporäre Budenstadt langsam der Bebauung weichen musste, ergriffen zahlreiche Wirte die Initiative und offerierten nun in ihren Sommer- und Biergärten ein entsprechend erweitertes Vergnügungsangebot. Sie nutzten so das langsame Sterben des Rummelplatzgetümmels rund um die Hasenheide zu ihrem Vorteil und mit ihnen profitierten die Brauereien, die ihnen Bier lieferten, Kredite vergaben und die Lokale oft auch mit Mobiliar ausstatteten.26 Die Geschichte des Vergnügens am Halensee begann Mitte der 1870er Jahre. Zu dieser Zeit war der Halensee noch Teil des Grunewalds. Erst mit der Fertigstellung der Ringbahn 1877 begann die Erschließung und allmähliche Bebauung des späteren Stadtteils Halensee. Das erste kommerzielle Vergnügungsangebot am Halensee war ein Freibad, das ein Handwerker aus dem nahe gelegenen­ Wilmersdorf von 1874 bis 1878 an der Seite des Sees betrieb, an dem später der Lunapark errichtet wurde.27 Mit dieser Badebude war die Funktion des Grundstücks am Halensee als Vergnügungsort definiert; er wurde für die kommenden knapp 60 Jahre ein Ausflugsziel für die Bewohnerinnen und Bewohner der expandierenden Hauptstadt. 1880 wurde hier ein Ausflugslokal, das Wirtshaus am Halensee, erbaut, ein Fachwerkbau mit einem offenen Türmchen an der dem See zugewandten Seite. Das Wirtshaus wurde von verschiedenen Pächtern betrieben, die die Anlage kontinuierlich ausbauten und neben dem Restaurantbetrieb zusätzliche Attraktionen anschafften, um die Ausflügler zu unterhalten. So gab es in den 1890er Jahren Schießbuden und eine Doppelkegelbahn, Karussells und Kraftmesser, einen Schnellphotographen, Würfelbuden, ein Kasperletheater, und ein Hippo­ drom. Drei Jahre später errichtete ein Pächter eine Wasserrutschbahn, die in den Halensee mündete, nur zwei Jahre nachdem die wahrscheinlich erste Wasserrutschbahn Berlins im Vergnügungspark der Berliner Gewerbeausstellung in Treptow aufgebaut worden war.28 25 26 27 28

Vgl. Lindenberg, Berlin in Wort und Bild, S. 354–358. Vgl. Niedbalski u. Hochmuth, Kiez und Kneipe, S. 140. Vgl. Briefwechsel in: LAB B Rep. 209 Nr. 856. Vgl. diverse Bauanträge in: LAB B Rep. 209 Nr. 856; LAB B Rep. 209 Nr. 857. Eine literarische Schilderung des Wirtshauses liefert Theodor Fontane in: Fontane, Frau Jenny ­Treibel, S. 119–125. Zur Wasserrutschbahn auf der Gewerbeausstellung 1896 s. u.

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Abb. 35: Wirtshaus am Halensee, um 1900.

Trotz dieses breiten Vergnügungsangebots war die »Hauptsache […] in Halen­see der Tanz«: [Abends] beginnt sich [der Garten] zu entleeren, die kinderreichen Familien, die gesetzten Leute verlassen Halensee, der Sturm auf die Stadtbahn, auf die Dampfstraßenbahn beginnt. In den Sälen aber wird noch immer getanzt, ertönt noch immer das heisere: ›Die Paare stehen bleiben, die Herren zahlen!‹ des Tanzmeisters. Je näher die Polizeistunde rückt, […] um so höher gehen die Tanzwogen. […] Morgen ist ja wieder ein Arbeitstag und der nächste Sonntag ist weit.29

Musik und Tanz, Rutschbahnen und Würfelbuden, Kegelbahnen und Kraftmesser – das Wirtshaus am Halensee wartete zwar immer wieder mit einzelnen Attraktionen auf, die für Vergnügungsparks typisch waren, da sie aber nicht gleichzeitig bestanden, erreichte das Areal nie den einheitlichen und geschlossenen Charakter eines Vergnügungsparks (siehe Abb. 35). Als das Wirtshaus am Halensee errichtet wurde, lag es »in hohe Bäumen eingekuschelt«30 am Ende eines unbefestigten Feldweges, der durch eine wüste Brachlandschaft, durch Spargelfelder und Baumschulen führte und der erst im 29 Halensee, in: Berliner Illustrirte Zeitung, 22.9.1895. Getanzt wurden hier wohl die bürgerlichen Modetänze des 19.  Jahrhunderts oder die Berliner Schiebetänze. Die neuen transatlantischen Tänze hingegen wurden erst nach 1900 populär; vgl. dazu oben das Kapitel zum Tanzvergnügen. 30 Der Lunapark im Jubiläumsjahr, S. 4.

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Laufe der 1880er Jahre zum Kurfürstendamm, dem Prachtboulevard der neuen Reichshauptstadt, ausgebaut werden sollte. Für den Ausbau der Straße ausschlaggebend war – neben dem Wunsch, einen repräsentativen Boulevard für den Berliner Westen anzulegen – das Bedürfnis zahlreicher Erholungssuchender, den Halensee und den Grunewald bequem zu erreichen. Den Ausbau des Kurfürstendamms übernahm ab Dezember 1882 die Kurfürstendamm-Gesellschaft, die einem Banken-Konsortium unter der Leitung der Deutschen Bank gehörte und die als Gegenleistung das Vorkaufsrecht für ein 234 ha großes Areal des Grunewalds erhielt, auf dem eine Villenkolonie errichtet wurde. Das Wirtshaus am Halensee befand sich nun am westlichen Ende des als Prachtboulevard konzipierten Kurfürstendamms und am Beginn der Villenkolonie Grunewald, in der bald die repräsentativsten Grundstücke der Reichshauptstadt zum Verkauf standen.31 Ab 1899 gehörte das Grundstück des zukünftigen Lunaparks August Aschinger.32 Die Brüder August und Carl Aschinger wurden in einer beispiellosen Karriere zu Berliner Großgastronomen, ihr Betrieb zum größten Hotel- und Gaststättenkonzern in Europa und ihr Name zum Synonym für rationelle, industriell gefertigte Konzeptgastronomie. Die Aschingers »hatten als eine der ersten erkannt, dass es in einer Massengesellschaft Gewinn bringend war, reichhaltige Mahlzeiten durch rationalisierte Fertigung günstig und in gleichbleibender Qualität anzubieten und schnell zu servieren«.33 Unter der Regie August Aschingers wurden sämtliche Bauten des alten Wirtshauses am Halensee abgerissen, um 1904 den unkonventionellen und spektakulären Neubau der Terrassen am Halensee zu errichten. Allerdings betrieb Aschinger das neue Riesenlokal nicht selbst, sondern verpachtete es, zunächst an den ehemaligen Küchenmeister des Weinrestaurants Kempinski in der Leipziger Straße, Bernhard Hoffmann, ab 1910 dann an die Betreiberfirma des Lunaparks.34 Zur Eröffnung der Terrassen am Halensee trat unter anderem das Berliner Tonkünstler-Orchester unter dem bereits erwähnten Kapellmeister Gustav Baumann auf, das durch Sommerkonzerte im Zoologischen Garten oder im 31 Vgl. Metzger u. Dunker, Der Kurfürstendamm, S. 12–17. Zur Villenkolonie Grunewald vgl. auch Bodenschatz, Villenkolonie Grunewald, S.  132–143; Metzger, Die Villenkolonie Grunewald, S. 163–174. Die Abholzung des Grunewalds für die Errichtung der Villen­ kolonie wurde sogar im Berliner Gassenhauer Im Grunewald ist Holzauktion besungen, vgl. oben, S. 129. 32 Zunächst erwarben beide Brüder die Grundstücke gemeinsam, vgl. etwa die Bauanträge 1899, in: LAB B Rep. 209 Nr. 857. Im Juni 1899 wurden sie per Losentscheid August zugesprochen, da die Brüder ihre Besitzverhältnisse teilweise trennten, vgl. LAB A Rep. 225 Nr. 442; LAB A Rep. 225 Nr. 443. 33 Klein, Aschinger, S. 117. Obwohl die Aschinger’s Aktien-Gesellschaft nie über die Berliner Grenzen hinaus expandierte, entwickelte sie sich nach der Übernahme und ›Arisierung‹ der OHG M. Kempinski & Co im Jahre 1937 zum größten Hotel- und Gaststättenkonzern Europas. Vgl. auch Glaser, Aschingers »Bierquellen«. 34 Konzert-Zeitung. Terrassen am Halensee, S. 5.

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Abb. 36: Terrassen am Halensee, um 1908

Landesausstellungspark bekannt war. Die Terrassen am Halensee behaupteten, »wirklich vornehme Musik« zu bieten, da die Direktion von der »althergebrachten Blasmusik Abstand genommen und anstelle der Militär-Orchester ein vorzügliches Streichorchester« engagiert hatte.35 Neben der »vornehmen« Musik wurde außerdem auf eine »geschmackvolle Gartenanlage« Wert gelegt mit »tausenden von Blumen« und einer »Fontäne-lumineuse«. Es gab »Spielplätze für Kinder, Ruderboote, ein Weissbierzelt, Blumen- und Zigarrenpavillons«.36 Anders als im Vorgängeretablissement und vor allem anders als später im Lunapark gab es keine Karussells, Rutschbahnen oder Würfelbuden. Die Terrassen am Halensee waren somit kein Vergnügungspark, sondern ein riesiges modernes Ausflugslokal am Rande der Stadt. Denn inzwischen war die Bebauung des Kurfürstendamms weitgehend vollendet und reichte bis an den Halensee heran. Auch das Grunewalder Villenareal war parzelliert und weitgehend bebaut. In35 Ebd., S. 15. Zur ansonsten allgegenwärtigen Militärmusik vgl. oben das Kapitel zur Populärmusik. 36 Konzert-Zeitung. Terrassen am Halensee, S. 10.

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nerhalb von zwanzig Jahren hatte sich der Berliner Westen zum Wohngebiet der Reichen und Neureichen entwickelt und die Terrassen am Halensee versuchten, sich als Vergnügungsetablissement am Rande des westlichen mondänen Wohnviertels zu profilieren (siehe Abb. 36).37

5.2 Biergarten, Lunapark und Amerikanischer Vergnügungspark: Die Organisation des Vergnügens Hinter dem Vergnügen steckte Organisation: Kapital musste investiert werden, Künstler und Artisten angeworben, Fahr-, Belustigungs- und Schaugeschäfte ausgewählt, zum Teil importiert und gewartet werden. Mit Behörden wurde über Öffnungszeiten, Feuersicherheit, Baugenehmigungen und Klagen von Anwohnern verhandelt. Die Akteure, die all dies organisierten, waren Gastronomen oder Schausteller, Theaterleute oder Brauereibesitzer. Allen Vergnügungsparks war gemeinsam, dass sie kommerzielle Unternehmen waren und die Betreiber mit dem Vergnügen der Gäste Geld verdienen wollten. Jeder Berliner Vergnügungspark war etwas anders organisiert. Anhand des Beispiels der Neuen Welt und des Lunaparks lassen sich aber wichtige Strukturen der Organisation, unterschiedliche Geschäftsmodelle und Akteure, personelle Verflechtungen und organisa­ torische Herausforderungen des Betriebs eines Vergnügungsparks aufzeigen. Wie die meisten anderen Brauereien unterhielt auch die Bergschloßbrauerei in der Hasenheide einen Schankgarten, in dem das eigene Bier vermarktet wurde.38 Als aber 1880 der Gastronom Rudolf Strenecker den Biergarten übernahm, grundlegend erneuerte und in Neue Welt umbenannte, emanzipierte sich der Ausschank schnell von der Bergschloßbrauerei und bot künftig viel mehr an Vergnügen und Unterhaltung als sonst in Brauereigärten üblich. Der Name Neue Welt war dem Gastronomen Sternecker Programm und Ansporn. Er war laut eigener Bekundung bestrebt, das »Etablissement allen Anforderungen der Neuzeit entsprechend und seiner neuen Bezeichnung würdig« umzugestalten und zu führen.39 Offensichtlich stand die Bezeichnung Neue Welt für neue Attraktionen, neue Technik, neue Sensationen und damit auch neue Erlebnisse, die er seinem Publikum anbieten wollte. 37 Zu den Bewohnern des Kurfürstendamms und des Berliner Westens vgl. Edel, Neu-­ Berlin; Edel, Berlin W; Metzger u. Dunker, Der Kurfürstendamm, S. 34–38. Zur Entstehung des Berliner Westens, dessen kultureller Bedeutung und zum spezifischen Milieu seiner Bewohnerinnen und Bewohner vgl. auch die Kapitel zum Unterhaltungstheater und zum Kokainkonsum. 38 Die Bergschloßbrauerei war 1867 unter dem Namen Bergbrauerei Hasenheide gegründet worden, seit 1875 hieß sie Bergschloßbrauerei. Bis 1926 blieb sie selbstständig, dann wurde sie im Zuge des zunehmenden Konzentrationsprozesses der Berliner Brauereien vom Löwenbrauerei-Böhmisches Brauhaus übernommen. 39 Anzeige von Rudolf Sternecker, in: Berliner Tageblatt, 23.4.1880.

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Bevor Sternecker die Neue Welt gründete, hatte er bereits als Gastwirt das Schloss Weißensee bewirtschaftet, direkt am Weißensee, nordöstlich vor den Toren des damaligen Berlins gelegen. Zwei Sommer über, 1877 und 1878, unterhielt er hier ein Gartenlokal, organisierte Feuerwerke, Konzerte und Feste. Aber bereits im Herbst 1878 zog er sich – vorübergehend, wie sich herausstellen sollte  – aus Weißensee zurück und konzentrierte sich zunächst auf die Hasenheide.40 Vermutlich gab es hier mehr Trubel, mehr Publikumsverkehr und damit größere Chancen, sein Konzept eines über das Essen und Trinken hinaus­gehenden Vergnügungsbetriebs erfolgreich umzusetzen. Allerdings verließ Sternecker bereits zum Ende der Saison 1884 die Neue Welt wieder, um am Schloss Weißensee abermals ein Vergnügungsetablissement zu eröffnen, das seinen Namen über Jahrzehnte hinweg zu einer Marke werden ließ: Künftig, und noch für viele weitere Jahre nach Sterneckers Ausscheiden aus dem Betrieb, hieß das Etablissement in Weißensee Zum Sternecker.41 In der Hasenheide übernahm nach diversen wechselnden Pächtern 1902 Arnold Scholz die Bewirtschaftung der Neuen Welt und führte sie bis zu seinem Tod 1937.42 Mit Scholz verschoben sich auch die Schwerpunkte des Unterhaltungsprogramms der Neuen Welt. 1903 wurde ein neuer Saalbau eröffnet, der als Versammlungsraum für Feste oder kulturelle und politische Veranstaltungen und Theateraufführungen für knapp 2.000 Gäste genutzt werden konnte. Hinzu kam ein Restaurant für bis zu 600 Gäste im Vorbau des Festsaals. ­Neben dem Gartenlokal wurde dieser Saalbau zum Kernbetrieb und Markenzeichen der Neuen Welt. Hier fanden seit 1904 in alpenländischen Dekorationen die alljährlichen Bockbierfeste statt. Hier wurde getanzt, Konzerten gelauscht und Theater gespielt. Außerdem versammelten sich hier Vereine, Verbände und politische Parteien sowohl zu explizit politischen Veranstaltungen als auch zu Festen oder geselligen Zusammenkünften.43 Sternecker und Scholz waren die beiden herausragenden Persönlichkeiten, die die Neue Welt von ihrer Gründung 1880 bis zum Vorabend des Zweiten Weltkriegs gestalteten. Beide waren Gastronomen. Rudolf Sternecker hatte offensicht40 Vgl. etwa Anzeigen, in: Niederbarnimer Kreisblatt, 5.8.1877 oder in: Vossische Zeitung, 20.6.1878; Meldung, in: Niederbarnimer Kreisblatt, 2.10.1878. 41 Sogar noch 1929 wurde zur genauen Beschreibung des Ortes »vormals Sternecker« hinzugefügt; vgl. Anzeige, in: Organ der Variétéwelt, 26.1.1929. Zu Sterneckers Vergnügungspark in Weißensee vgl. Bennewitz, »Bal champêtre«; Bezirksamt Weißensee, Alles nach Weißen­see, S. 2–28. 1894 ging Sternecker bankrott und wurde sogar steckbrieflich gesucht; vgl. Meldungen, in: Der Komet, 5.5.1894 und 27.10.1894. 42 Vgl. 25 Jahre Arnold Scholz – Neue Welt, in: Berliner Herold, 3.4.1927; Uebel, Die Neue Welt, S. 56. 43 Vgl. Uebel, Die Neue Welt, S. 16–24, S. 42; Uebel, Viel Vergnügen, S. 110 f. Für die Veranstaltungen im Saalbau in den Jahre 1925–1930 vgl. LAB A Pr. Br. Rep. 030-05 Nr. 1335. Zu den Berliner Saalbauten allgemein vgl. Niedbalski u. Hochmuth, Kiez und Kneipe, S. 144–153. Der Saalbau der Neuen Welt steht noch heute – eines der wenigen erhaltenen Gebäude der Berliner Vergnügungsparks.

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lich einen hohen programmatischen Anspruch: Er wollte einen Vergnügungsort schaffen, dessen Angebot das ansonsten Übliche übertraf. Seine Lokale sollten Ungewöhnliches und Sensationelles bieten. Sowohl in der Neuen Welt als auch in Weißensee experimentierte er mit neuen Attraktionen, baute die Anlagen um und verwarf alte Pläne. Liest man die von ihm formulierten Anzeigentexte, so hat es den Anschein, als versuchte er ständig, sich selbst zu überbieten. So folgte etwa einem »Gr. Concert« ein »Gr. Dopp.-Concert« und dann ein »Groß. Volksfest und Monstre-Concert«.44 Allerdings verließ er die Neue Welt bereits Ende 1884 und konzentrierte sich auf den Weißensee als Wirkungsstätte. Die Tätigkeit von Arnold Scholz hingegen zeichnete sich vor allem durch ihre Dauer aus. Anders als in vielen vergleichbaren Lokalen, bei denen ein häufiger Wechsel der Betreiber gang und gäbe war, blieb Scholz der Neuen Welt über 35 Jahre lang treu. Allerdings passierte in diesen Jahrzehnten auch nicht viel Neues in der Neuen Welt. Das einmal eingespielte bewährte Programm blieb den Gästen in seiner Grundstruktur erhalten. Auch die großen Zäsuren der Jahrzehnte bildeten sich im Vergnügungsprogramm der Neuen Welt kaum ab. Jahr für Jahr – sowohl vor als auch nach dem Ersten Weltkrieg,45 sowohl vor als auch nach 1933  – wurde das Bockbierfest zelebriert, luden Parteien und Vereine, Verbände oder Firmen in den Saalbau der Neuen Welt und Sommer für Sommer wurde im Garten Bier ausgeschenkt und traten Akrobaten auf.46 So zeichnete sich die Neue Welt durch Kontinuität und Berechenbarkeit aus – angesichts der vielen Betreiberwechsel in andern Vergnügungsgärten eher ungewöhnlich. Eine Ausnahme stellten die Jahre 1910–1914 dar, in denen der Garten der Neuen Welt nicht von Scholz betrieben wurde und in denen der alteingesessene Biergarten wieder in einen Vergnügungspark umgewandelt wurde. Das Jahr 1910 war ein Einschnitt, sowohl für die Neue Welt als auch für die Vergnügungsetablissements am Halensee. Zum einen wurde am Halensee der Lunapark eröffnet, der größte, berühmteste und am längsten bestehende Vergnügungspark Berlins. Zum anderen begann auch in der Neuen Welt ein vierjähriges Intermezzo, das vor allem aufgrund seiner transnationalen personellen und finanziellen Verflechtungen interessant war. Im Oktober 1909 wurde die Luna-Park GmbH gegründet mit dem Ziel, ein »Vergnügungs-Etablissement grossen Stils« zu betreiben.47 Mit dieser Gründung 44 Anzeigen in: Vossische Zeitung, 8.8.1880, 20.8.1880, 22.8.1880. 45 Der Erste Weltkrieg war insofern eine Zäsur, als das Vergnügungslokal ganz geschlossen war, s. u. 46 Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten änderte sich allerdings das Spektrum der Parteien und Verbände, die in der Neuen Welt feierten, weil kommunistische und sozialdemokratische Zusammenkünfte nicht mehr möglich waren, vgl. hierzu Uebel, Die Neue Welt, S. 53–56. 47 Gesellschaftervertrag vom 26.10.1909, in: LAB A Rep. 342-02 Nr. 757. Das Stammkapital der Firma betrug 1.500.000 Mark.

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sprengten die Vergnügungsakteure auf dem Gelände am Halensee erstmals die lokalen Berliner Grenzen. Die Gesellschafter stammten zunächst größtenteils aus England. Der erste Geschäftsführer, der auch den Großteil des Stammkapitals einbrachte, war John Henry Iles aus London, der um 1910 eine Schlüsselfigur der transnationalen Organisation der Vergnügungsparks war. Iles erlangte vor allem als Förderer von Blaskapellen in Großbritannien Berühmtheit. Aber seine unternehmerischen Aktivitäten waren wesentlich breiter und keineswegs auf England beschränkt. Nach einer Reise durch Nordamerika erwarb Iles 1906 die europäischen Patentrechte an den Gebirgsszeneriebahnen des US -Amerikaners LaMarcus Adna Thompson. L. A. Thompson war ein passionierter Erfinder und Bastler, der zahlreiche Rutsch- und Achterbahnen erbaut hatte und sie als erfolgreicher Geschäftsmann geschickt vermarktete. Iles fungierte als europäischer Vertreter einer der Firmen Thompsons, der L. A.­ Thompson Scenic Railways Continental Limited mit Sitz in London, die die Verbreitung der amerikanischen Gebirgsszeneriebahnen in Europa vorantrieb.48 In Berlin organisierte er zunächst die Finanzierung des Berliner Lunaparks. Das Kapital der Luna-Park GmbH war nicht besonders breit gestreut. Denn auch die anderen Gesellschafter standen in enger Geschäftsbeziehung zu Iles. Die L. A. Thompson Scenic Railways Continental Ltd. beteiligte sich als Firma an der Gründung der Lunapark-Gesellschaft. Und auch zwei ihrer Direktoren stiegen in die Luna-Park GmbH ein.49 So kam fast die gesamte Anschubfinanzierung des Berliner Lunaparks aus zwei Quellen: Aus der europäischen Tochtergesellschaft L. A. Thompsons und aus den Händen John Henry Iles’, dessen Geschäfte wiederum direkt mit dieser Firma verbunden waren.50 Im Lunapark blieb es allerdings bei dieser Anschubfinanzierung, denn bereits im April 1911 legte Iles seine Stellung als Geschäftsführer nieder. Neue Geschäftsführer wurden Andrew Oliver McKee und Emil Fürth.51 Im Frühjahr 1910 entfalteten sich auch auf dem Gelände der Neuen Welt Aktivitäten. Arnold Scholz vergab Unterpachtverträge an eine englische Firma, die Neue Welt Berlin Limited mit Sitz in London. Der Managing Director der Firma war ebenfalls John Henry Iles. Unter seiner Regie wurden moderne Fahr- und Belustigungsgeschäfte errichtet und das Freigelände wieder in einen Vergnügungspark verwandelt. Ob auch hinter der Neue Welt Berlin Limited K ­ apital der 48 Vgl. Cross u. Walton, The Playful Crowd, S. 47; Easdown, Amusement Park Rides, S. 17–19, S. 41. 49 Die L. A. Thompson Scenic Railways Continental Ltd. beteiligte sich mit 200.000 Mark am Berliner Lunapark. Die beiden Direktoren George William Patton und Alfred James Mason mit je 5.000 Mark; vgl. Gesellschaftervertrag vom 26.10.1909, in: A Rep. 342-02 Nr. 757. 50 Nur die 5.000 Mark des zweiten Geschäftsführers der GmbH, Frank William Hessin, lassen sich aufgrund der vorliegenden Quellen weder auf Iles noch auf Thompson zurückführen. 51 Vgl. Akten des Handelsregisters LAB A Rep. 342-02 Nr. 757; beide blieben bis September 1912 im Lunapark.

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Abb. 37: Der Amerikanische Vergnügungspark in der Neuen Welt, um 1912

Firma L. A. Thompsons steckte, ist unklar. Auf jeden Fall bemühte sich die Direktion, dem Etablissement einen internationalen Anstrich zu verleihen, nannte es Amerikanischer Vergnügungspark und ließ die US -amerikanische Fahne hissen (siehe Abb. 37).52 Im Juni 1911 wandelte sich die Neue Welt Berlin Limited in eine deutsche GmbH um, die Neue Welt Park GmbH. Deren Geschäftsführer war für die folgenden gut eineinhalb Jahre neben John Henry Iles noch eine weitere Person, die bereits im Lunapark aktiv gewesen war, Andrew Oliver McKee.53 Während 52 Auf der Rückseite der Ansichtskarte, die als Abb. 37 abgebildet ist, heißt es: »Neue Welt, Berlin, Ltd. (J. Henry Iles, London, Managing Director) Hasenheide-Berlin«; vgl. auch Anzeige, in: Berliner Tageblatt, 1.5.1912. 53 Vgl. Artikel aus der Artisten-Zeitschrift Das Programm mit Zitat des Handelsregistereintrags, in: LAB A Pr. Br. Rep. 030-05 Nr. 1334.

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Abb. 38: Das Terrassengebäude des Lunaparks mit amerikanischer Flagge, um 1911

sich Iles also im April 1911 aus der Lunapark-Gesellschaft zurückzog, intensivierte er offensichtlich seine Aktivitäten in der Neuen Welt. Andrew Oliver McKee hingegen war in beiden Etablissements gleichzeitig tätig. Auch die Direktion des Lunaparks bemühte sich, ihrem Etablissement ein amerikanisches Image zu verleihen (siehe Abb. 38).54 Allein schon die Wahl des Namens Lunapark verwies auf Amerika, wo 1903 in Coney Island der erste Vergnügungspark dieses Namens gegründet worden war.55 Die Finanzierung des 54 Vgl. etwa Meldung, in: Der Komet, 2.4.1910; Meldung, in: Das Organ der Variétéwelt, 25.9.1909 oder W. M., Der Lunapark, in: Bauwelt 1 (1910) Nr. 13, S. 15 f. 55 Die Begründer des Luna Parks in Coney Island, Frederick Thompson und Elmer S. Dundy, hatten zuvor gemeinsam ein großes Schaugeschäft betrieben, das Trip to the Moon hieß. Davon leiteten sie dann bei der Gründung ihres eigenen Vergnügungsparks den Namen Luna Park ab. In Berlin weckte er allerdings auch Assoziationen mit der 1899­

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Parks hingegen kann für sein amerikanisches Image nicht ausschlaggebend­ gewesen sein, denn nur ein Teil  der Anfangsfinanzierung stammte indirekt aus amerikanischen Quellen. Bereits im März 1911 brachten sämtliche Gesellschafter ihre Geschäftsanteile der Luna-Park GmbH in eine belgische Gesellschaft, die Luna Park Berlin Société Anonyme Belge ein, so dass diese alleinige Gesellschafterin der Luna-Park GmbH wurde.56 Von September 1912 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs waren Adolf Kuhn und Robert Forbes Geschäftsführer des Lunaparks.57 Robert Forbes war gebürtiger Engländer, lebte aber in Halensee – anders als John Henry Iles, der vermutlich niemals in Berlin ansässig war. Ansonsten verlagerten sich die geschäftlichen Aktivitäten nach Belgien; 1914 waren sämtliche Gesellschafter Belgier.58 Die letzten Jahre vor dem Ersten Weltkrieg brachten auf Seiten der Anbieter der Berliner Vergnügungspark-Branche eine massive Transnationalisierung. Sowohl das Kapital als auch die Akteure repräsentierten eine Transnationalität, die es weder davor gegeben hatte noch in den Jahren nach dem Krieg wieder geben sollte. Die Organisatoren des Vergnügens in Berlin stammten zunächst vor allem aus dem Gastgewerbe, das weniger kosmopolitisch war und stärker von lokalen Akteuren getragen wurde. So blieben auch die Aschingers Berlin treu und investierten nicht anderenorts. Erst mit neuen Akteuren, zunehmend aus künstlerischen Kreisen und aus dem internationalen Showbusiness stammend, zogen internationales Kapital, Ideen und Akteure in Berliner Vergnügungsparks ein. Anders verhielt es sich mit den Vergnügungen, die in den Parks geboten wurden. Hier ließen sich bereits viel früher transnationale Verflechtungen ausmachen. Sowohl die Produzenten der Fahr- und Belustigungsgeschäfte als auch die Artistinnen und Artisten, die Varietékünstlerinnen und -künstler (und in eingeschränktem Maße auch eine kleine Schicht von Schaustellerinnen und Schaustellern) agierten während der gesamten langen Jahrhundertwende über nationale Grenzen hinweg. Für sie war es üblich und auch notwendig, ihre Attraktionen oder ihre Künste international zu vermarkten.59 Die kosmopolitische Ausrichtung der Vergnügungsbranche vor 1914, die das Geschäft in finanzieller und künstlerischer Hinsicht bereichert hatte, wurde

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aufgeführten Operette Frau Luna von Paul Lincke. Die internationale Verbreitung des Namens Luna­park spricht aber eindeutig dafür, dass für die Benennung auch des Berliner Parks das amerikanische Vorbild Ausschlag gab. Der Verwaltungsrat der Firma setzte sich nun aus englischen, französischen und belgischen Mitgliedern zusammen. Vgl. LAB A Rep. 342-02 Nr. 757; Meldung, in: Das Programm, 15.1.1911. Brief der beiden neuen Gesellschafter vom 26.9.1912, in: LAB A Rep. 342-02 Nr. 757. Liste der Gesellschafter vom 8.1.1914, in: LAB A Rep. 342-02 Nr. 757. Sehr deutlich wird diese transnationale Ausrichtung des Artistengewerbes oder der­ Karussellindustrie z. B. anhand der zahlreichen internationalen Anzeigen in den Fachzeitschriften vor dem Ersten Weltkrieg; vgl. Das Programm, Das Organ der Variétéwelt sowie (mit Einschränkungen auch) Der Komet bis Juli 1914.

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ihr durch die veränderten politischen Rahmenbedingungen im Ersten Weltkrieg zum Verhängnis. Im Lunapark war ein regulärer Betrieb schon allein deswegen nicht möglich, weil die Anteile der belgischen Geldgeber des Unternehmens zwangsverwaltet wurden, da sie als Angehörige eines verfeindeten Landes galten.60 Hinzu kam, dass der zweite Geschäftsführer der Luna-Park GmbH, Robert Forbes, Engländer war und bei Ausbruch des Krieges im »Engländerlager bei Spandau« interniert wurde, bevor er »während des Krieges nach England infolge Krankheit ausgetauscht wurde«.61 Mit Beginn des Krieges war die Betreibergesellschaft des Lunaparks also nicht mehr handlungsfähig. Auch die internationalen Reisewege der Artistinnen und Artisten wurden durch die Kriegshandlungen unterbrochen. Anfang August 1914 wurden dann die meisten Vergnügungslokale und -plätze geschlossen, so auch der Lunapark und die Neue Welt. In den Sälen beider Etablissements wurden Lazarette eingerichtet. Teile des Terrassengebäudes des Lunaparks wurden außerdem in eine Konservenfabrik umgewandelt.62 Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wurden zu Pfingsten 1920 die Neue Welt und der Lunapark wieder eröffnet. In der Neuen Welt hielt das vor 1910 übliche Vergnügungsprogramm Einzug. Es gab den Biergarten nebst Sommerbühne und den Saalbau mit Konzerten und Tanz, Vorträgen und Varieté, den Bockbierfesten und politischen Versammlungen. Bis zu seinem Tod 1937 übernahm erneut Arnold Scholz die Regie in der gesamten Neuen Welt – das transnationale Intermezzo in der Hasenheide war beendet und aus dem Vergnügungspark wurde wieder ein Ausflugslokal nebst Veranstaltungssaal. Am Halensee hingegen wurde 1920 abermals ein Vergnügungspark eröffnet. Sein Angebot orientierte sich an der Vorkriegstradition. Die Gebirgsszeneriebahn, die Wasserrutschbahn, das Ballhaus und das Bayrische Dorf wurden wieder er­öffnet, es gab eine Wild-West-Schau, eine Leuchtfontäne und Feuerwerk.63 Allerdings war die Organisation des Vergnügungsbetriebs vor allem in der ersten Hälfte des Jahrzehnts äußerst mühevoll. Kurz vor der Wiedereröffnung beklagten die neuen Betreiber, dass das Gelände des Lunaparks nach wie vor »militärisch besetzt« war. 400 Mann waren auf dem Gelände untergebracht, sowie 140 Pferde »teilweise auf Veranden und innerhalb der Gebäude«. Außer-

60 Vgl. zwei Schreiben des Deutschen Vertreters am Deutsch-Belgischen Gemischten Schiedsgerichtshofs an das Amtsgericht Mitte vom 1.6.1921 und vom 1.12.1923, in: LAB A Rep. 342-02 Nr. 757. 61 Schreiben vom 7.10.1915, in: LAB A Rep. 342-02 Nr. 757; Schreiben der Luna-Park Grundstücks-Aktiengesellschaft vom 26.3.1926, in: LAB A Rep. 342-02 Nr. 757. 62 Vgl. Meldungen, in: Organ der Variétéwelt, 8.8.1914 und 15.8.1914; Die Schließung sämtlicher Rummelplätze mit Rücksicht auf die Kriegslage, in: LAB A Pr. Br. Rep. 030-05 Nr. 1622; Der Lunapark im Jubiläumsjahr, S. 8. 63 Vgl. etwa idl., Berlin. Lunapark, in: Der Artist, 3.6.1920; Wiedereröffnung des Lunaparks, in: Berliner Tageblatt, 23.5.1920.

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dem waren »Geschütze und Minenwerfer […] eingebaut, Bagage versperrt die Zugänge und Maschinengewehre stehen auf den Dächern«.64 Nicht nur die militärischen Einquartierungen machten den neuen Betreibern zu schaffen, auch der Wiederaufbau der maroden Gebäude, der Buden, Fahr- und Belustigungsgeschäfte gestaltete sich schwierig, da Baumaterial knapp war und streng kontingentiert wurde.65 Angesichts dieser Umstände ist es erstaunlich, dass ein Neuanfang überhaupt glückte. Voller Anerkennung schrieb eine Artisten­ zeitschrift nach der Pressevorführung des wieder aufgebauten Geländes: »Hunderttausende werden hoffentlich […] finden, dass alles wieder so ist und noch viel schöner, glanzvoller, raffinierter als Anno Frieden«.66 Hinter den Kulissen blieb allerdings die organisatorische und finanzielle Situation bis Mitte der 1920er Jahre schwierig und von den Krisen dieser Jahre gezeichnet. Vor allem die Inflation führte zu unberechenbaren Zuständen: »Die stetig anwachsende Geldentwertung der Inflationsjahre warf jede Berechnung über den Haufen. Die Eintrittspreise mußten von Saison zu Saison, von Monat zu Monat, von Woche zu Woche, von Tag zu Tag, ja dann fast von Stunde zu Stunde verändert werden.«67 Auch die Lustbarkeitssteuer belastete das Unternehmen. Sie war 1913 vom Berliner Magistrat eingeführt worden und traf zwar sämtliche Vergnügungsbetriebe, allerdings nicht in gleicher Höhe. Bei Einführung der Steuer erhob sich ein erfolgloser Proteststurm der Artistenvereinigungen, der Varieté- und Zirkusdirektoren, der Theaterleiter, Kinobesitzer und Bühnengenossenschaften gegen diese häufig als ›Erdrosselungssteuer‹ charakterisierte Abgabe. Auch der Lunapark klagte über die »allzu hohen Steuerlasten«, die ihm aufgebürdet wurden.68 Erst die auf die Inflation folgenden, häufig als die ›goldenen Zwanziger‹ bezeichneten Jahre, bescherten auch dem Lunapark seine besten Zeiten. Vor allem in den Jahre 1927 bis 1929, als fast wöchentlich Feste und Großveranstaltungen organisiert, das Wellenund das Kurbad eröffnet und die Jubiläumssaison gefeiert wurden, herrschte Hochbetrieb im Lunapark.

64 Brief an das Baupolizeiamt Wilmersdorf vom 24.3.1920, in: LAB B Rep. 209 Nr. 874. 65 Aus den Bauakten aus dem Jahr 1920 geht hervor, dass die Bauarbeiten auf dem Gelände des Lunaparks unter strenger Beobachtungen standen, da es Anzeigen gab, die dem Luna­park vorwarfen, »bewirtschaftete Baustoffe« für »Luxusbauten« eingesetzt zu haben, vgl. LAB B Rep. 209 Nr. 874. 66 idl., Berlin. Lunapark, in: Der Artist, 3.6.1920. 67 Der Lunapark im Jubiläumsjahr, S. 8. 68 Ebd. Wie sehr die Lustbarkeitssteuer die Vergnügungsparks beschäftigte, geht aus der­ Jubiläumsschrift hervor, in der sie diverse Male beklagt wurde: Der Lunapark im Jubiläumsjahr, S. 8, 11, 17, 27. Zu weiteren Steuerkonflikten vgl. Klage der Luna-Park Grundstücks-Aktien-Gesellschaft gegen das Bezirksamt Wilmersdorf wegen der Heranziehung zur Vergnügungssteuer 1930, in: LAB A Pr. Br. Rep. 031-01 Nr. 3281 oder die Aufstellung der Verbindlichkeiten aus dem Jahre 1933, aus der hervorgeht, dass Steuerschulden einen beträchtlichen Betrag ausmachten, in: LAB A Rep. 225 Nr. 454.

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In den 1920er und frühen 30er Jahren waren eine GmbH und eine Aktiengesellschaft für die Organisation des Vergnügens im Lunapark zuständig.69 Die Betreiberfirmen waren arbeitsteilig organisiert. Es gab künstlerische und technische Angestellte, Prokuristen, Gärtner und Werbeleiter. Die Fluktuation unter den Angestellten war enorm, vor allem die künstlerischen Direktoren wechselten etliche Male. Anders als in den Etablissements von Rudolf Sternecker oder Arnold Scholz war der Betrieb weniger von Einzelpersonen, deren Charisma oder persönlichen Netzwerken abhängig, sondern es herrschte eine pragmatische Arbeitsteilung. Welche der beiden Organisationsformen letztendlich die erfolgreichere war, ist schwer abzuschätzen. Die Betreiberfirmen des Lunaparks meldeten im Oktober 1933 Konkurs an, der Lunapark eröffnete im folgenden Frühjahr nicht wieder.70 Sein Ende wurde sicher durch diverse Faktoren bedingt: Mit der Weltwirtschaftskrise blieben die Besuchermassen aus, die bereit und in der Lage waren, viel Geld auszugeben. Die Betreiberfirmen hatten hohe Schulden angesammelt  – ob Steuern oder Misswirtschaft dafür verantwortlich waren, ist kaum rekonstruierbar. Auch der Einfluss der Machtübernahme der National­ sozialisten ist schwer einzuschätzen. Deren Abneigung gegen das vermeintlich dekadente Treiben im ›amerikanischen‹ Park war sicherlich nicht förderlich. Aber die Organisatoren hatten es aus finanzieller Not oder Trägheit in den letzten Betriebsjahren auch versäumt, Investitionen zu tätigen, die das Interesse des Publikums wach gehalten hätten. Letztendlich lebten Vergnügungsparks – anders als Sommerlokale – von Veränderung und nicht von Kontinuität.

5.3 Massenbesuch und Elitetage: Das Publikum der Vergnügungsparks Das zahlende Publikum war ein Hauptakteur der Vergnügungsparks; sein Urteil über einen Park und seine Attraktionen war ausschlaggebend für dessen Erfolg. Die Saison im Vergnügungspark dauerte in der Regel von Mai bis Oktober – in diesen wenigen Monaten waren die Etablissements darauf angewiesen, dass so viele Besucher kamen wie möglich und dass sie dazu animiert wurden, 69 Im Mai 1922 verkaufte die Aschinger’s Aktien-Gesellschaft im Auftrag der Erben August Aschingers das Gelände des Lunaparks an deren Betreiber, vgl. Kaufvertrag vom 5.5.1922, in: LAB A Rep. 225 Nr. 80. Die Betreiberfirma war ab 1922 die Lunaterrassen-Betriebsgesellschaft mbH Kommanditgesellschaft. Sämtliche Geschäftsanteile dieser Gesellschaft sowie das Grundstück des Lunaparks und die Gebäude gehörten aber der LunaPark Grundstücks-Aktien-Gesellschaft. Beide Gesellschaften waren personell, finanziell und räumlich eng verflochten. 70 Vgl. etwa Lunapark und Wellenbad geschlossen, in: Vossische Zeitung, 17.10.1933. Zu weiteren Plänen für Vergnügungslokale am Halensee, die allerdings nicht verwirklicht wurden, vgl. LAB A Rep. 225 Nr. 454.

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so viel Geld wie möglich für die diversen Attraktionen auszugeben.71 In den folgenden Abschnitten stehen daher die Besucherinnen und Besucher im Vordergrund, ihre Anzahl, ihre soziale Herkunft und die Frage, wie sie sich mit welchen Attraktionen vergnügten. Weitgehend einig sind sich die Quellen bei der Beschreibung des Publikums entlang der Hasenheide mit ihren mannigfachen Kleinattraktionen. Hier tummelten sich »Tausende aus den mittleren und unteren Volksklassen«.72 Vor allem war das »Berliner Klein-Bürgertum« anzutreffen, das sich durch eine »Mischung aus Freundlichkeit und Derbheit, […] liebenswürdigem Entgegenkommen und yankeehaftem Großthun, […] überraschender Gutmütigkeit und stets bereiter Spottlust« auszeichnete.73 Die meisten Besucherinnen und Besucher kamen im Familienverband, mit »Kind und Kegel«, mit »sämtlichen altklugen ›Jören‹, vom ältesten bis zur Milchflasche«.74 Aber auch junge Leute kamen in die Hasenheide, um zu tanzen und sich mit anderen zu treffen. Es dominierten zum einen Soldaten aus den umliegenden Kasernen und zum anderen Dienstmädchen, die hier ihren freien Abend verbrachten.75 Die Quellen zeichnen das Bild von Menschenmassen der mittleren und unteren Schichten (»Die Aristokratie hat niemals ihre Karte in diesem Paradiese abgegeben«),76 die sich hier generationsübergreifend und friedlich zusammenfanden – Schilderungen von Schlägereien oder von übermäßigem Alkoholkonsum tauchen nicht auf. Glaubt man den Quellen, gab es nicht einmal Prostitution an der Hasenheide. Es wird das Bild eines harmonischen, geordneten und weitgehend ›gesitteten‹ Vergnügens gezeichnet.77 Das Publikum der Neuen Welt hingegen unterschied sich zumindest graduell von dem der restlichen Hasenheide. Schon der Umstand, dass hier Eintrittsgeld bezahlt werden musste, machte für viele einen Besuch in der Neuen Welt zu einem teuren Spaß, denn entlang der Budenstraße der Hasenheide konnten sich die Besucherinnen und Besucher quasi umsonst vergnügen, wenn sie sich auf das Zuschauen beschränkten, den Rekommandeuren oder den Tanzkapellen lauschten und von zu Hause mitgebrachte Speisen verzehrten. Die geschlossenen Vergnügungsparks hingegen waren der »Elite der Heidebesucher« vorbehalten.78 Vor allem an den sogenannten ›Elitetagen‹, die, wie in den Berliner 71 Dabei war der Eintrittspreis in die Vergnügungsparks noch die kleinste Investition, denn fast jede Attraktion kostete zusätzlich Eintritt. 72 Griebens Reise-Bibliothek, S. 152. 73 Lindenberg, Berlin in Wort und Bild, S. 358. 74 Trinius, Vom grünen Strand, S. 72. 75 Vgl. ebd., S.  71–72; Kretzer, Wilder Champagner, S.  99; Kretzer, Gesammelte Berliner Skizzen, S. 96; Lindenberg, Berlin in Wort und Bild, S. 358; vgl. auch Uebel, Die Neue Welt, S. 13. 76 Trinius, Vom grünen Strand, S. 71. 77 Vgl. vor allem Stinde, Frau Wilhelmine Buchholz, S. 72. 78 Kretzer, Gesammelte Berliner Skizzen, S. 94.

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Vergnügungsetablissements dieser Zeit üblich, gegen ein höheres Eintrittsgeld ein besonderes Programm boten, wurde die Neue Welt zum »Sammelplatz der Berliner Lebewelt, die […] in Scharen herbeiströmte«.79 Offensichtlich war es eine Zeitlang Mode, in die Neue Welt zu gehen. Selbst die »Berliner Halbwelt«80 habe sich hier getroffen – wobei auch aus der Neuen Welt keine Schilderungen offener Prostitution überliefert sind. Die sozialen Unterschiede zwischen den Besucherinnen und Besuchern der Neuen Welt und der restlichen Hasenheide verwischten, nachdem die Neue Welt ab Mitte der 1880er Jahre den Flair des Besonderen und Neuen ablegte. Auch sie wurde zum Ausflugsziel der kleinbürgerlichen und proletarischen Bevölkerung der umliegenden Orte und Stadtbezirke. Der Lunapark hingegen konnte sich nicht allein auf die Bewohnerinnen und Bewohner des Berliner Westens verlassen. Angesichts der jährlich hohen Investitionen in neue Attraktionen oder besondere Ereignisse musste der Park, um sich zu rentieren, von sehr vielen zahlenden Gästen besucht werden. ›Massenbesuch‹ war das oft zitierte Schlagwort, mit dem der Publikumsverkehr in erfolgreichen Zeiten beschrieben wurde.81 Bereits anlässlich der Eröffnung des Lunaparks am Pfingstwochenende 1910 berichtete die Vossische Zeitung von einem »Massenansturm« des Publikums, das in einer »ununterbrochenen Kette« in den Park strömte. Trotz Unwetter wurden 163.432 Besucher gezählt.82 Die Eröffnung des Lunaparks fand Eingang in die Jahresrevue des Metropol-Theaters, was die Popu­ larität des Parks sicher noch steigerte.83 In der folgenden Saison wurden bereits nach weniger als einem Monat 500.000 Besucher gezählt. Im Juni 1911 hatte bei schönem Wetter schon in den frühen Nachmittagsstunden eine »wahre Völkerwanderung nach dem Vergnügungspark« eingesetzt, »so dass stellenweise eine beängstigende Fülle herrschte«.84 Im August desselben Jahres richtete man ein Souvenirfest zur Feier der erreichten Besucherzahl von drei Millionen aus.85 Bei einer Schätzung der Besucherzahlen kamen die Betreiber des Lunaparks 1929 auf rund 50 Millionen seit der Eröffnung 1910.86 Diese Schätzung erscheint nicht unrealistisch angesichts der Tatsache, dass auch laut anderer Berichte die Besucherzahlen 40.000 bis 50.000 Personen betragen konnten – z­ umindest »an 79 Kretzter, Wilder Champagner, S. 102. 80 Trinius, Vom grünen Strand, S. 75. 81 Eine genaue Besucherstatistik liegt nicht vor. Der Lunapark selbst begründet dies mit »mehrfachen Besitzerwechseln«, die eine »sorgfältige Besucherstatistik« unmöglich gemacht hätten. Der Lunapark im Jubiläumsjahr, S. 7. 82 Vgl. Meldung, in: Vossische Zeitung, 18.5.1910. 83 Gemeint ist die Jahresrevue Hurrah, wir leben noch! von Julius Freund, Musik von Viktor Hollaender, Uraufführung im Metropoltheater am 17.9.1910, vgl. dazu auch oben, S. 54 und Abb. 7. 84 Meldungen, in: Das Programm, 21.5.1911 und 4.6.1911. 85 Vgl. Anzeige, in: Berliner Tageblatt, 12.8.1911 86 Vg. Der Lunapark im Jubiläumsjahr, S. 7.

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großen Tagen«.87 Anlässlich des Sommerfests der Funkstunde 1927 besuchten angeblich über 68.000 Menschen an einem Abend den Lunapark, weitere 15.000, die ebenfalls gekommen waren, mussten abgewiesen werden. Normalerweise, so hieß es in der Jubiläumsschrift, habe man Platz für 65.000 Besucher.88 Selbstverständlich gab es auch Tage, an denen »nicht gerade Fülle« herrschte, wie etwa Heinrich Mann in seiner Schilderung eines Besuchs im Lunapark bemerkte.89 Einen nicht zu unterschätzenden Einfluss hatte das Wetter, dessen ›Gunst‹ für alle Sommergärten und Rummelplätze überlebenswichtig war (siehe Abb. 39).90 Angesichts dieser Zahlen wundert es nicht, dass der allgemeine Tenor war, der »Lunapark ist ›für alle‹«. Denn »Ganz Berlin kommt hier her, kleine Geschäftsmädels und große Damen, Bürger und Bohemiens«.91 In der Selbstdarstellung des Lunaparks hieß es: »Jung und Alt, Arm und Reich amüsieren sich auf den grandiosen Attraktionen«.92 In diversen Schilderungen wurde versucht, das breite Spektrum der Besucherinnen und Besuchern näher zu klassifizieren: »Vom russischen Großfürsten bis zum Portokassen-Defraudanten, vom General bis zum Putzer, vom feinsinnigen Gelehrten bis zum widerwärtigsten Protzen, von der Kokotte bis zur – Dame. Es ist alles da!«93 Mehrere Quellen betonen, dass Frauen dominierten; von einem »Riesengewimmel junger Mädchen, meist vom Bürotyp« war zum Beispiel die Rede.94 Der Journalist Hans Kafka meinte neben zahlreichen jungen Frauen auch Philosophieprofessoren, Bankdirektoren, Abteilungsleiter, Bürochefs und »würdige Matronen« ausmachen zu können.95 Anlässlich des Zillefests 1927 beschrieb ein Journalist »Kurfürstendammmädels«, ein »todschickes« Paar, ein »Mädchen, Zigarette im Schnabel«, aber auch »eine ganze waschechte Proletarierfamilie«, ein »richtiger oller Ringkämpfer vom Rummel« und »ein olles Pärchen«.96 Obwohl der Lunapark »für alle« war, lag er doch am Ende des Kurfürstendamms, der zum Symbol nicht nur der Berliner Bourgeoisie, sondern auch der aufstiegswilligen Schicht der Angestellten wurde.97 Diese Schicht wohnte selten 87 Meldung, in: B. Z. am Mittag vom 17.10.1933. 88 Vgl. Der Lunapark im Jubiläumsjahr, S. 9, S. 24. 89 Heinrich Mann, Feuerwerk-Schönheitskonkurrenz. Erlebnisse eines Juli-Abends, in: Vossische Zeitung, 21.7.1929. 90 Angesichts der regnerischen und kühlen Sommer in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre mehrten sich die Klagen der Wirte über das ausbleibende Sommerwetter; vgl. etwa Die Bilanz der Sommerwirte, in: Berliner Herold, 14.7.1929. 91 Hessel, Spazieren in Berlin, S. 160. 92 Der Lunapark im Jubiläumsjahr, S. 7. 93 So eine nicht näher benannte Berliner Zeitung (vermutlich vor dem Ersten Weltkrieg), zit. n. Der Lunapark im Jubiläumsjahr, S. 7 f. 94 Rumpelstilzchen, Berliner Allerlei, S. 208. 95 Hans Kafka, Lunapark. Ein Stück Amerika, versuchsweise, in: Berliner Tageblatt, 7.8.1928. 96 Wochenende bei Zille, in: B. Z. am Mittag, 18.7.1927. 97 Zum Theaterbesuch der Angestellten vgl. das Kapitel zum Unterhaltungstheater.

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Abb. 39: Massenbesuch anlässlich des Frühkonzerts im Lunapark zu Pfingsten 1929

im Berliner Westen, aber sie kam dorthin, um sich zu amüsieren und um ihre Bereitschaft zum sozialen Aufstieg kundzutun. Bereits 1895 beschrieb die Berliner Illustrirte Zeitung das Publikum des Wirtshauses am Halensee folgendermaßen: »Es ist weniger der ›kleine Mann‹ mit der großen Familie«, der hier Erholung und Vergnügen sucht, »weniger der ehrbare ›gediegene‹ Mittelstand, obgleich natürlich an Sonntagen auch diese Elemente vertreten sind, sondern den ›Ton‹ geben hier die kleinen ›Verhältnisse‹ an, welche auch ein Charakteristikum des zur Weltstadt gewordenen Berlin sind«. Es waren vor allem jene »Vertreterinnen des weiblichen Berlin, die neben der Arbeit sich auch amüsieren wollen, deren Moral nicht immer getestet ist und deren Appetit nur von ihrer Tanzlust übertroffen wird«. Gemeint waren konkret das »Ladenfräulein«, die »Konfektioneuse« oder »Putzmacherin« sowie deren männliche Pendants: »der ›junge Mann‹ aus dem Komtoir und dem Laden, der Student und der ›­höhere‹ Handwerker«.98 Daran hatte sich im Lunapark nicht viel geändert, auch hier stellten die »Kurfürstendammmädels« einen Großteil der Gäste  – und h ­ ierin unterschieden sich Halensee und Hasenheide. Dieser Unterschied wird auch deutlich, wenn man die Eintrittspreise von Neuer Welt und Lunapark vergleicht. So kostete der Eintritt in den Lunapark vor dem Ersten Weltkrieg zwischen 25 und 30 Pfennig an den verbilligten Volks98 Alle Zitate aus: Halensee, in: Berliner Illustrirte Zeitung, 22.9.1895.

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tagen und eine Mark an den Elitetagen. An den gewöhnlichen Tagen musste pro Person 50 Pfennig Eintritt gezahlt werden. Damit war eine Eintrittskarte in den Lunapark etwa doppelt so teuer wie in die Neue Welt, denn hier zahlten die Gäste in der Regel 25 Pfennig, an Elitetagen mitunter 50 Pfennig, aber es gab zusätzlich Ermäßigungen für Kinder.99 Diese Preise waren dem Publikum angepasst – in die Neue Welt kamen die Arbeiter und Kleinbürger mit ihren großen Familien, während der Lunapark kein Spielplatz für Kinder war, sondern der »größte und ›vornehmste‹ Rummelplatz Berlins«, ein »Elite-Rummelplatz«.100 Der Lunapark war »perhaps the most frequented place of amusement in all Berlin«.101 Dieses Zitat aus einem englischsprachigen Reiseführer zeigt, dass der Lunapark auch als Touristenziel interessant war. Die überwiegende Mehrheit der Fremden kam aus der deutschsprachigen Provinz. Ohne konkret zu werden hieß es etwa in der Selbstdarstellung des Lunaparks: »enorm war auch die Besucherzahl, die sich aus Provinzlern, den Fremden, zusammensetze«.102 Aber es gibt auch Quellen, die ausländische Gäste erwähnen, die sich angeblich keine Gelegenheit entgehen ließen, »in der Heimat vom Luna-Park und seinen Attraktionen zu erzählen«.103 Zwar wurde angenommen, dass die Gäste den Ruhm der Vergnügungsstätte in alle Welt tragen würden, dass die internationalen Gäste aber selbst zum weltstädtischen Flair der Vergnügungseinrichtung beitrugen, wurde kaum gewürdigt. »Der Lunapark mit seinen mannigfaltigen Attraktionen erfreut sich eines sich stetig steigernden Besuchs der Groß-Berliner wie auch der Fremden, die hier einen entsprechenden Einblick in das weltstädtische Leben und Treiben gewinnen können«.104 Die soziale Zusammensetzung des Publikums war breit, reichte von der Arbeiterschaft bis zum Großbürgertum und rekrutierte sich keineswegs nur aus der Nachbarschaft des Parks. Möglich war diese soziale Vielfalt vor allem, weil sich die Gäste auch innerhalb des Etablissements voneinander abgrenzen konnten. Vor allem die Trennung des Hauptrestaurants in Wein- und Bierterrassen schuf für diejenigen, die es sich leisten konnten, Wein zu bestellen, ein ›gehobenes‹ Ambiente. Der so genannte ›Weinzwang‹ auf den oberen Terrassen wurde erst 1926 aufgehoben.105 Aber massenkompatibel und sozial vielfältig war der 99 Vgl. etwa Anzeigen des Lunaparks, in: B. Z. am Mittag, 3.6.1911, 13.6.1911, 10.9.1911, 17.9.1911; Anzeigen der Neuen Welt, in: Berliner Tageblatt, 18.5.1910, 4.5.1912. 100 Rumpelstilzchen, Berliner Allerlei, S.  208; Lunapark ist eröffnet, in: B. Z. am Mittag, 9.5.1927. 101 Grieben’s Guide Books, S. 94. 102 Der Lunapark im Jubiläumsjahr, S. 7. 103 Der Lunapark ruft wieder, in: Berliner Herold, 15.5.1927; vgl. auch Briefe eines Tauent­zien­ girls, in: Reigen 5 (1924) Nr. 7, S. 2, S. 4; Rumpelstilzchen, Berliner Allerlei, S. 208–209. 104 Meldung, in: Der Artist, 15.7.1927. 105 Vgl. etwa Die Jazz-Maschine im Lunapark, in: Der Komet, 8.9.1923. Dort hieß es, dass »oben auf der zweiten Terrasse« die »Weinpreise und beste Aussicht das gemeine Volk ausschlossen«.

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Lunapark auch, weil seine Attraktionen so unterschiedlich waren und er damit praktisch für jeden Geschmack etwas bereithielt: rasante Fahrgeschäfte ebenso wie gepflegte Grünanlagen, Schießstände wie Tanzlokale, einen bayrischen Bierausschank wie Völkerschauen aus Afrika. Jede Besucherin und jeder Besucher konnte sich ein eigenes Vergnügungsprogramm nach eigenen Vorlieben zusammenstellen und dabei auch das jeweilige Budget berücksichtigen, das für den Besuch zur Verfügung stand. Der ›Massenbesuch‹ im Vergnügungspark war nicht nur aus einer ökono­ mischen Perspektive für die Etablissements überlebenswichtig. Auch für die Besucherinnen und Besucher war es eine wichtige Erfahrung, sich in großen und heterogenen Menschenansammlungen bewegen zu können, die zum Prozess der inneren Urbanisierung gehörte. Der Umgang mit Gedränge, Menschenmassen und Verkehrschaos war eine Voraussetzung des urbanen ­Lebens. Im Vergnügungspark konnte dieser Umgang erlebt und erprobt werden. Außerdem trafen sich in den Parks Menschen aus unterschiedlichen Stadtvierteln, mit unterschiedlichem sozialen und nationalen Hintergrund, Geschlecht und Alter. Sich rücksichtsvoll und friedlich in solchen Gruppen zu bewegen, war eine Herausforderung. Aber auch als Orte der Begegnung waren die Vergnügungsparks bedeutsam. Hier konnten sich kontaktfreudige Menschen treffen und flüchtige Bekanntschaften zu echten Beziehungen werden. Für zahllose junge Menschen, die in die Stadt kamen und denen damit die traditionellen ländlichen Kontaktbörsen nicht mehr zur Verfügung standen, waren Vergnügungsorte wichtige Begegnungsstätten, an denen in der spärlichen Freizeit die Anonymität der Großstadt überwunden werden konnte. Für das Publikum stellte der Besuch eines Vergnügungsparks eine Art Trainingsfeld dar, auf dem das weltstädtische ›Leben und Treiben‹ und die Toleranz, die große heterogene Menschenansammlungen zwangsläufig erfordern, erprobt und erlernt werden und auf dem gleichzeitig Kontakte geknüpft werden konnten.

5.4 Rasende Bahnen: Urbane Erlebnisse mit Vergnügungsattraktionen Auch andere Aspekte des großstädtischen Lebens fanden in den Vergnügungsparks Widerhall. Das Unterhaltungsangebot der Parks wies Bezüge zum urbanen Umfeld auf. Gesellschaftliche Herausforderungen und Entwicklungen, Trends und Modeerscheinungen wurden aufgenommen und in Vergnügungsattraktionen ›verpackt‹. Mitunter wurden die Bezüge offen und bewusst hergestellt. Zum Beispiel fand das enorme Interesse an ›exotischen‹ Welten in Form von regelmäßig stattfindenden ›Völkerschauen‹ Einzug in die Vergnügungsparks. Andere waren eher latent vorhanden. Zum Beispiel waren erotische Reize allgegenwärtig – obwohl die Parks es sich nicht leisten konnten, in allzu zwei-

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felhaften Ruf zu geraten. Indem die Vergnügungsparks an wichtige Erfahrungen ihrer Besucherinnen und Besucher anknüpften oder ihnen die Möglichkeit einräumten, Erfahrungen zu machen, die auch außerhalb des Parks bedeutsam waren, verliehen die Parks ihren Attraktionen Relevanz. Die zunächst sinnlos oder beliebig erscheinenden Fahr- oder Belustigungsgeschäfte erwiesen sich als spielerische Reflexionen gesellschaftlicher Neuerungen oder Herausforderungen der langen Jahrhundertwende. Eine der einschneidenden Erfahrungen der Menschen während der langen Jahrhundertwende war die Steigerung des Tempos, eine Beschleunigung, die sich in diversen Lebensbereichen bemerkbar machte. Werner Sombart dia­ gnostizierte, dass der »Drange nach Beschleunigung des Lebenstempos« zu den tiefgreifenden Erfahrungen im Hochkapitalismus gehörte. Immer »weitere Kreise« wurden vom »Streben nach Beschleunigung der Lebensführung selbst« erfasst: »Man hält es für wichtig, wertvoll, notwendig […]: rasch zu gehen und zu reisen, am liebsten zu fliegen; rasch zu produzieren, zu transportieren, zu konsumieren; rasch zu sprechen ([…] Telegrammstil!), rasch zu schreiben (Kurzschrift!).«106 Die Beschleunigung des alltäglichen Lebens wurde als ein Signum der Moderne wahrgenommen und »das Beschleunigungsprinzip als zentrale Fortschrittskomponente« angesehen.107 In den Städten mit ihren Fabriken und Verkehrsadern, den neuen Kommunikationsmitteln und Medien bündelten sich die Beschleunigungsprozesse in besonderer Weise. Auch in den Vergnügungsparks waren Tempo und Beschleunigung allgegenwärtig. Sie spiegelten damit einerseits eine Erfahrung, die die Menschen auch außerhalb des Vergnügungsparks machten. Andererseits schufen sie einen Raum und Rahmen, in dem die Beschleunigung mit den spielerischen Mitteln des Vergnügungsparks erlebt werden konnte. Eine der schnellsten Attraktionen der Vergnügungsparks waren die so genannten Hochfahrgeschäfte, die Gebirgs-, Gebirgsszenerie-, Achter- und Rutschbahnen.108 Sie gehörten zu den aufwendigsten und spektakulärsten Attraktionen der Vergnügungsparks um 1900. Die Entwicklung der Hochfahrgeschäfte vollzog sich als ein mehrere Jahrzehnte währender, transnationaler Prozess, an dem Erfinder, Ingenieure, Unternehmer und Agenten beteiligt waren. Als Vorläufer der modernen Hochfahrgeschäfte gelten die Rutschbahnen, die in Russland bereits seit der Frühen Neuzeit ein winterliches Vergnügen offerierten. Im Grunde waren sie Eisbahnen, denn es wurden hölzerne Ram-

106 Sombart, Der moderne Kapitalismus, S. 23 f. 107 Borscheid, Das Tempo-Virus, S. 10. Vgl. auch Rosa, Beschleunigung. 108 Die verschiedenen Bezeichnungen und ihre Verwendung werden am besten erklärt bei Dering, Volksbelustigungen, S.  119. Anders als in Derings Arbeit sollen aber hier die Rutschbahnen als Teil der Hochfahrgeschäfte behandelt werden, wie es auch in der amerikanischen Literatur üblich ist. Denn in ihrer Entstehungsgeschichte lassen sich beide Formen kaum sinnvoll voneinander trennen.

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pen aufgestellt, deren schräge Flächen mit Eisquadern bedeckt waren und die mit Schlitten oder stehend auf Schlittschuhen befahren wurden. Spätestens seit Ende des 18. Jahrhunderts wurden vergleichbare Holzrampen auch in den Sommermonaten mit rollenden Wagen befahren, so dass das Vergnügen in den Sommer hinein verlängert wurde.109 Solche Sommer-Rutschbahnen erfreuten sich im frühen 19.  Jahrhundert in ganz Europa großer Beliebtheit. In Paris brach eine »wahre Rutschbahn-­ Euphorie«110 aus, hier gab es in den 1810er Jahren mindestens fünf verschiedene Bahnen. Die spektakulärsten waren die 1817 eröffneten Promenades Aériennes an den Champs Elysées. Von einem etwa 30 Meter hohen Turm aus führten zwei geschwungene Bahnen abwärts, auf denen die Passagiere in kleinen Wagen sitzend hinunter rollen konnten. Die Geschwindigkeit der Abfahrten soll durchschnittlich 50 Stundenkilometer betragen haben – das allein dürfte eine Sensation gewesen sein. Die Bahn war größer, spektakulärer, technisch durchdachter und vor allem schneller als alle Rummelplatzvergnügungen dieser Zeit.111 Wie genau der Transfer der russischen Rutschbahnen nach Frankreich verlief, ist nicht geklärt. Häufig wurde er mit den Napoleonischen Kriegen in Verbindung gebracht (wobei mal die russischen Soldaten, die in Paris waren, den Franzosen die Kultur des Rutschens beigebracht haben sollen, mal erlernten die französischen Soldaten beim Russlandfeldzug angeblich das Rutschen dort vor Ort).112 Diese Erklärung bleibt letztendlich unbefriedigend, da es bereits vor den Napoleonischen Kriegen Rutschbahnen in französischen Lustgärten gegeben hatte.113 Möglicherweise wurden die Rutschbahnen bereits zu einem früheren Zeitpunkt nach Frankreich gebracht oder aber unabhängig voneinander an verschiedenen Orten erfunden. Sicher ist aber, dass sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Idee der Rutschberge in Europa verbreitete. Nicht nur in Paris, auch anderenorts wurden Rutschberge errichtet: in Hamburg und Wien, im Kopenhagener Tivoli und in Birmingham.114 In Berlin wurde 1819 eine erste Rutschbahn auf der Pfaueninsel eingeweiht, einer Sommerresidenz der preußischen Könige. Sie wurde nach einer Reise Kö109 Wann genau sie erfunden wurden, ist nicht bekannt. Möglicherweise existierten sie auch bereits im 15. Jahrhundert, vgl. Cartmell, The Incredible Scream Machine, S. 19 f. 110 Dering, Volksbelustigungen, S. 51. 111 Ausführliche Beschreibungen auch einiger technischer Details sowie diverse Abbildungen in: Dering, Volksbelustigungen, S.  53, Cartmell, The Incredible Scream Machine, S. 21–25. 112 Vgl. Art. Rutschberge, in: Damen Conversations Lexikon, S. 22f; Art. Rutschberge, in: Pierer’s Universal-Lexikon, S. 632; Art. Rutschberge, in: Meyers Großes KonversationsLexikon, S. 340. Vgl. auch Dering, Volksbelustigungen, S. 51; Szabo, Rausch und Rummel, S. 154. 113 Vgl. Cartmell, The Incredible Scream Machine, S. 20 f. 114 Vgl. Dering, Volksbelustigungen, S. 53; Easdown, Amusement Park Rides, S. 8 f.

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nig Friedrich Wilhelms III. nach Russland auf seinen Wunsch hin errichtet – hier ist also ein konkreter Transfer auszumachen. Aber die Bahn diente dem Vergnügen der adligen Sommergäste, vor allem der Kinder, war also nicht der Öffentlichkeit zugänglich.115 Allen zugänglich war hingegen die Rutschbahn im Berliner Tivoli, einem Gartenetablissement am Kreuzberg. Das Tivoli eröffnete 1829 und seine Hauptattraktion war die Rutschbahn, Kreisfahrbahn genannt, die sich das natürliche Gefälle des Kreuzbergs für die Rutschpartie zunutze machte. An der Kreisfahrbahn standen »elegante Wagen bereit«, deren Räder durch eine erhöhte schienenähnliche Führung in der Bahn gehalten wurden und »mit welchen man eine Strecke von 800 Fuß in einer halben Minute« zurücklegte.116 Demnach betrug die durchschnittliche Geschwindigkeit der Bahn immerhin etwa 30 Stundenkilometer, wobei die Abfahrt selbst sicher noch schneller gewesen sein wird.117 In den Darstellungen zur Geschichte der Hochfahrgeschäfte werden all diese frühen Bahnen häufig unterschlagen. Hier wird die Erfindung der modernen Hochfahrgeschäfte allein dem bereits erwähnten US -Amerikaner LaMarcus Adna Thompson zugeschrieben, der deswegen als ›Father of the Gravity Ride‹ bezeichnet wird. Als seine Inspirationsquelle gelten allerdings nicht die auf europäischen Vergnügungsplätzen so beliebten Rutschbahnen, sondern eine Transportbahn für Kohle im US -Bundesstaat Pennsylvania, die seit den 1870er Jahren als Touristenattraktion betrieben wurde.118 1884 eröffnete Thompson seine erste Gebirgsbahn, die Switchback Railway, am Strand von Coney Island. Sie wurde zu einem solchen Erfolg, dass er immer neue Bahnen baute, immer neue Patente für technische Verbesserungen anmeldete und zum erfolgreichen Vergnügungs-Unternehmer avancierte, der sowohl eigene Vergnügungsparks betrieb als auch andere Vergnügungsparks mit Fahrgeschäften belieferte. Allerdings ähnelte die Switchback Railway in ihrer Bau- und Funktionsweise sowie ihrer äußeren Gestalt vielen europäischen Rutschbahnen so sehr, dass es wenig wahrscheinlich erscheint, dass er seine Bahn erfand, ohne die europäischen Rutschberge gekannt zu haben.119 115 Vgl. Seiler, Die russische Rutschbahn, S. 118–124; Stichel, Die Pfaueninsel, S. 29 u. 59 f. 116 Deinhardstein, Skizzen einer Reise, S. 67. Für Abbildungen der Bahn vgl. Thiel, LokalTermin, S. 46 und 47. 117 Da in der Quelle ausdrücklich von Durchschnittsgeschwindigkeit die Rede ist, wurde vermutlich die Rückfahrt zur erhöhten Ausgangsplattform mitgerechnet. 118 Blume, Oder die Welt, S. 47; Adams, The American, S. 13 f. Auch Cartmell, der den europäischen Bahnen ein langes Kapitel widmet, scheint keine Verbindung zwischen den europäischen Bahnen und der ›Erfindung‹ der Roller Coaster durch L. A. Thompson ausmachen zu können; vgl. Cartmell, The Incredible Scream Machine, S. 34–54. 119 Abbildungen und Beschreibungen der Switchback Railway in: Cartmell, The Incredible Scream Machine, S.  45. Eine sehr schöne Lithographie der 1843 eröffneten Rutschbahn des Kopenhagener Tivolis befindet sich zum Vergleich in: Dering, Volksbelustigungen, S. 54.

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Etwa zur selben Zeit wie die Switchback Railway in Coney Island eröffnete auch in Berlin eine neue Rutschbahn, die so genannte Schwedische oder Dänische Rutschbahn in Rudolf Sterneckers Vergnügungspark in Weißensee.120 Sie bestand aus zwei gegenüberliegenden Türmen, von denen ausgehend jeweils eine wellenförmige Rutschbahn zum Fuß des gegenüberliegenden Turms führte. Von dort aus brachte ein Aufzug die Wagen hinauf in Startposition und die Fahrenden rollten wieder zum Ausgangspunkt der Fahrt zurück. Jede Fahrt kostete 10 Pfennig. Die Passagiere saßen in »kleinen, auf Schienen laufenden Wagen«, die »pfeilschnell die wellenförmige Bahn hinab« glitten. Die Bahn erfreute sich wohl großer Beliebtheit, denn an Sonn- und Feiertagen ist die schwedische Rutschbahn von Morgens bis in die späte Nacht hinein in ununterbrochener Benutzung, denn die Berliner geben sich vornehmlich Abends bei elektrischer Beleuchtung mit großer Begeisterung diesem Vergnügen hin, von dem manche Damen derartig entzückt sind, daß sie wohl eine Stunde oder gar noch länger ununterbrochen hin und her rutschen.121

Eine Variante der Rutschbahnen waren die Wasserrutschbahnen. Die Wagen der Wasserrutschbahnen hatten die Form von kleinen Booten, rollten aber genau wie die anderer Rutschbahnen mit Rädern auf Schienen eine schräge Rampe hinab. Allerdings endete die Fahrt hier in einem See oder künstlich angelegten Wasserbecken. Die Mitfahrenden konnten die rasante Rutschpartie gemächlich mit einer kurzen Bootsfahrt ausklingen lassen. Erfunden wurden die Wasserrutschbahnen in den USA; zumindest wurde die erste erfolgreiche Wasserrutschbahn 1895 unter der Bezeichnung Shoot-the-Chutes im Sea Lions Park in Coney Island errichtet. Betreiber des Parks und (vermutlich) auch Erfinder der Bahn war Paul Boyton, ein Abenteurer und Showman, der als Langstreckenschwimmer und Erfinder eines Schwimmanzugs von sich reden gemacht hatte.122 Auch in anderen europäischen Städten gab es bald darauf Wasserrutschbahnen, unter anderem in Berlin 1896 im Vergnügungspark der Gewerbeausstellung in Treptow. Hier hievte ein Aufzug die mit acht bis zehn Personen besetzten Boote auf einen 15 Meter hohen Turm, von dem aus die Rutschpartie begann. »Mit großer, stetig zunehmender Geschwindigkeit saust der Kahn die Bahn hinab, bis er einen Teich erreicht, auf den die Bahn mündet«.123 In anderen Quellen ist von »sausender Eile«124 die Rede, das Boot »fliegt scheinbar 120 Vgl. Anzeigen Sterneckers zur Eröffnung seines Parks in Weißensee, etwa in: Vossische Zeitung, 23.5.1885 oder im folgenden Jahr, in: Vossische Zeitung vom 9.5.1886. 121 Die schwedische Rutschbahn in Weißensee bei Berlin, in: Illustrirte Chronik der Zeit 16 (1887), S. 499, 493. 122 Zu Boyton vgl. Smith, The thrill makers, S. 19–29, 46 f. Bevor die Bahn in Coney Island aufgestellt wurde, war sie im Londoner Ausstellungsgelände in Earl’s Court, vgl. London Metropolitan Archives Captain Boyton’s World Water Show LCC/AR /TH /2/2 1893. 123 Im Vergnügungspark, in: Vossische Zeitung, 14.7.1896. 124 Die Wasserbahn, in: Berliner Tageblatt, 15.7.1896.

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mit großer Gewalt in die Tiefe«.125 »Der Moment, wo das Boot ins Wasser gelangt, ist die Pointe des Ganzen. Das Geschrei der Insassen und der Jubel der Umstehenden ist unbeschreiblich, wenn die Wassermassen nach allen Seiten auseinanderspritzen«.126 Die Schienen der Wasserrutschbahn der Treptower Gewerbeausstellung führten in einer geschwungenen Bahn durch eine künstliche Felsenschlucht, so dass die Illusion, einen Wasserfall hinab zu rutschen, durch die Kulissenaufbauten zusätzlich verstärkt wurde.127 Damit nahm sie Elemente eines anderen Typs von Fahrgeschäften auf, der Gebirgsszeneriebahnen oder Scenic Railways, deren hölzerner Aufbau durch plastische Kulissen versteckt wurde. Die Züge fuhren durch Gebirgslandschaften mit Grotten und Wasserfällen, Schluchten und Almhütten, aber auch historische oder fantastische Szenen waren beliebt. Zur schnellen Fahrt kam bei diesen Bahnen der visuelle Reiz des Betrachtens der Kulisse hinzu. L. A. Thompson hatte 1887 die erste amerikanische Scenic Railway in Atlantic City erbaut. Sie wurde ein großer Erfolg, zahlreiche weitere folgten.128 Nach 1907 verbreiteten sich die Gebirgsszeneriebahnen, wie oben dargestellt, durch John Henry Iles Initiative auch in Europa. Die Wasserrutschbahnen und die Gebirgsszeneriebahnen galten um 1910 in Europa als Inbegriff der amerikanischen Fahrgeschäfte  – obwohl dies angesichts der zahlreichen Parallelentwicklungen und Transfers, die zu ihrer Entstehung beigetragen haben, nur eingeschränkt richtig war. Dennoch trugen beide Fahrgeschäfte maßgeblich zum amerikanischen Image sowohl des Lunapark als auch der Neue Welt nach 1910 bei (siehe Abb. 40). Bis zum Ersten Weltkrieg präsentierte sich die Szeneriebahn des Lunaparks in einer klassischen Gebirgsdekoration. Seit den 1920er Jahren allerdings nahm sie eine eigenständige künstlerische Entwicklung. Der Maler Josef Fen­neker stattete die Bahn mit einem abstrakten Gemälde aus. Die Bahn »bietet sich jetzt mit riesenhaften Farbklexen als kubistische Schnellbahn dar«, notierte die­ Vossische Zeitung 1920.129 Im folgenden Jahr waren es »expressionistische Kurven« (siehe Abb. 41).130 Diese abstrakten Dekorationen hatten kein Vorbild in den ursprünglich amerikanischen Gebirgsszeneriebahnen. Die Gestaltung durch den expressionistischen Künstler zeigte vielmehr die Emanzipation vom ursprünglichen Erbauer und die vielfältigen Möglichkeiten der eigenständigen Entwicklung der Hochfahrgeschäfte. Den abstrakten Formen folgten weitere, eher konventionellere 125 Illustrierter Amtlicher Führer, S. 236. 126 Die Berliner Gewerbe-Ausstellung. Von unserem Special-Correspandenten. XIII, in: Der Komet,18.7.1896. 127 Vgl. F. B., Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit. Neue Bahnen, in: Die Gartenlaube 43 (1896) Nr. 42, S. 714–716; Illustrierter Amtlicher Führer, S. 236. 128 Vgl. Cartmell, The Incredible Scream Machine, S. 47–53. 129 Wiedereröffnung des Lunaparks, in: Vossische Zeitung, 23.5.1920. 130 Der Lunapark, in: Der Berliner Westen, 6.5.1921.

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Abb. 40: Gebirgsszeneriebahn und Wasserrutschbahn im Lunapark, um 1920.

Abb. 41: Gebirgsszeneriebahn des Lunaparks mit expressionistischen Kurven, 1921

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Kulissen: Beispielsweise führte die Bahn sie als Krummhäuslbahn durch ein »Gewirr traulicher, windschiefer Häuschen alter Städte und Dörfer«131 oder erhielt eine »orientalische Note«132, bevor sie in den letzten drei Jahren ihres Bestehens wiederum alpine Landschaften zierten.133 In den Jahren 1928 und 1929 schmückte sich die Bahn mit der Kulisse einer modernen Großstadt, bei der sich einige an den 1927 erschienen Film Metropolis, andere eher an New York erinnert fühlten (siehe Abb. 42). Siegfried K ­ racauer schrieb hierzu: Im Lunapark von Halensee erhebt sich zwischen dem Wellenbad und der Reitbahn ein gemaltes New York. Bunt und schwindelhaft fahren die Wolkenkratzer­ fassaden zum Nachthimmel empor. […] Die Arbeiter, die kleinen Leute, die Angestellten, die werktags von der Stadt niedergedrückt werden, bezwingen jetzt auf dem Luftweg ein überberlinisches New York. Sie sind Sieger, die zauberhaft hin­ gepinselten Paläste liegen ihnen zu Füßen.134

Die Gebirgsszeneriebahn des Berliner Lunaparks bot ihren Besuchern mehrere Reize. Mit ihren künstlich gestalteten Landschaften und fantasievollen Dekorationen präsentierte sie sich erstens als eine echte Scenic Railway, eine Aussichtsbahn, auf der eine Fahrt mehr bedeutete als bloßer Nervenkitzel durch hohe Geschwindigkeit. Indem virtuelle Landschaften durchfahren wurden, indem die Fahrgäste in exotische, fantastische oder vergangene Welten eintauchen konnten, schuf die Bahn ein virtuelles Reiseerlebnis beziehungsweise ›erzählte‹ Geschichten von fernen Ländern oder vergangenen Zeiten. Dieser Effekt war gewollt, im Jubiläumsheft des Lunaparks ließ man die Bahn von sich selbst behaupten: »Die ganze Welt habe ich durchreist. […] viermal um die Erde bin ich gefahren«.135 Wahrscheinlich noch wichtiger war – zweitens – das Tempo, die Schnelligkeit, die die Wagen bei den Abfahrten erreichten. Die Geschwindigkeit der Gebirgsszeneriebahn lässt sich nicht mit dem Tempo der heute gebauten Stahlachterbahnen vergleichen, sie betrug höchstens 36 Stundenkilometer.136 Auch gab es hier keine Loopings, keine senkrechten Abfahrten, keine Drehungen um 360 Grad. Dennoch empfanden die Passagiere die Fahrt auf der Gebirgsszenerie131 Der Lunapark, in: Vossische Zeitung, 5.5.1923. 132 Eröffnung des Lunaparks, in: Der Berliner Westen, 4.5.1925; Der Lunapark im neuen Glanze Sensationelle Attraktionen  – Eröffnung am 1.  Mai, in: Der Berliner Westen, 29.4.1926. 133 Vgl. Der bunte Lunapark, in: B. Z. am Mittag, 5.5.1931; Eröffnung des Berliner Lunaparks, in: Das Programm, 21.5.1933. 134 Kracauer, Berg- und Talbahn, S. 42; vgl. auch Phönix Lunapark, in: Der Berliner Westen, 6.5.1928. 135 Der Lunapark im Jubiläumsjahr, S.  15; vgl. auch Brown, Landscapes of Theme Park­ Rides, S. 235–268; Szabo, Rausch und Rummel, S. 160–163. 136 Der Lunapark im Jubiläumsjahr, S. 15. Zum Vergleich: Die schnellsten Achterbahnen erreichen heute Geschwindigkeiten von über 200 km/h.

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Abb. 42: Gebirgsszeneriebahn mit Wolkenkratzerkulisse von 1928 oder 1929

bahn als rasant – und das ist wichtiger als die objektiv gemessene Geschwindigkeit. Hinzu kommt, dass vor allem der Geschwindigkeitswechsel den eigentlichen Effekt der Fahrt ausmacht.137 Mit dem Tempo eng verbunden war drittens die ›Angstlust‹, die Vorstellung möglicher Gefahren, denen man bei der Fahrt ausgesetzt sein könnte. Hochfahrgeschäfte inszenieren immer das Spannungsverhältnis zwischen Gefahr und Sicherheit. »Als Automaten des Amüsements darf die gefährlich anmutende Achterbahn aber nie wirklich gefährlich sein, sondern nur eine effektive Illusion von Gefahr erzeugen – mit dem besonderen Vergnügen, diese auch körperlich zu erfahren und die Angst in Lust zu verwandeln.«138 Diese vermeintliche Gefahr ist Teil des Spiels, auf das sich alle einlassen. Die Besucherinnen und Besucher der 137 Das gilt auch heute noch beim Design von Stahlachterbahnen, wie der Ingenieur und Achterbahnbauer Werner Stengel in einem Interview erklärte: »Bei Achterbahnen ist es so, dass der Mensch kein Gespür für Geschwindigkeit hat, der hat keinen Sensor dafür. […] Geschwindigkeit merken Sie nur sekundär, wenn Sie an Gegenständen vorbeifahren, dann können Sie einschätzen, wie schnell Sie vorbeifahren. […] Beschleunigung und Änderung der Beschleunigung, das merkt der Mensch. Und damit spielen wir, auf Achterbahnen und auch in Karussellen.« So eine Fahrt, das ist etwas Herrliches, S. 152 f. 138 Blume, Oder die Welt, S. 36; vgl. auch Bennett, The Birth of the Museum, S. 238; Szabo, Rausch und Rummel, S. 166–169; So eine Fahrt, das ist etwas Herrliches, insb. S. 146–148.

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Vergnügungsparks »sought out and willingly paid to ­experience what might be termed ›ersatz risk‹ – the sensation of being in danger without the possibility of real physical consequences«.139 Beides – das körperliche Empfinden der Beschleunigung und die Angstlust – entlockte den Mitfahrenden Schreie. Dieses Kreischen wurde immer wieder als charakteristischer Sound des Vergnügungsparks geschildert. Der Schriftsteller Fedor von Zobeltitz schrieb das Schreien den mitfahrenden Frauen zu und blieb selbst scheinbar ungerührt: »Zuerst bestieg ich die Gebirgsbahn […]. Wenn es in rasendem Laufe bergab geht, kreischen die Damen – das ist das Hauptvergnügen«.140 Klaus Mann hingegen berichtete in seinem 1926 erschienenen Roman Der fromme Tanz, dass nicht nur die Damen kreischten: Langsam rollte der langgestreckte Wagen hinauf – hoch hinauf bis zum Höhe­punkt des Gerüsts. Paulchen quiekte schon ängstlich im voraus, […] ehe die eigent­ liche Fahrt begann […] Alle zusammen schrien sie: ›Huiii –!!‹, so daß es über den Rummelplatz gellte […] Paulchens Quieken überschlug sich jämmerlich in Todesnot. […] Die Schreie der Damen, verschieden getönt, vereinten sich zum gellenden Chor. Aber über alle anderen hinaus schwang sich Niels’ Stimme, während er sich, die Augen geschlossen, in Fräulein Franziskas Arm warf.141

Glaubt man allerdings Siegfried Kracauer, waren nicht alle Schreie lustbetont, konnte die Angst mitunter auch echt sein: Der Wagen kommt ins Sausen. Er jagt in den Abgrund hinein, seine Geschwindigkeit ist nicht zu ermessen. Ein einziger Schrei bricht los. Jeder muß schreien. Auch wenn er die Zähne zusammenbisse, schriee er jetzt. Die primitiven Instinkte treiben den Schrei heraus. Sie, die für gewöhnlich von dem festen Gefüge der Dinge erstickt werden, sind durch die Verwirrung des Äußeren, durch das Ineinander von Fassade und Holzgerüst freigelegt worden. Das irrsinnige Tempo erweckt sie vollends, und nun spielen sie Aufruhr. Die Fahrenden brüllen vor Angst, zerschmettert zu werden, sie schaudern am Rande der Welt, das Bild der Gefahr versetzt sie in Schrecken. Ihr Schreien ist elementarisch.142

Das Zitat Siegfried Kracauers zeigt, dass keineswegs alle Besucherinnen und Besucher ihre Erlebnisse in den Vergnügungsparks positiv wahrnahmen.143 Dennoch reflektierte Kracauer in seiner Schilderung das sinnlich oder körperlich überwältigende Erlebnis einer Fahrt mit der Gebirgsszeneriebahn und verlieh 139 140 141 142 143

Mohun, Designed for Thrills, S. 291. Zobeltitz, Ich hab so gern, S. 167. Mann, Der fromme Tanz, S. 171 f. Kracauer, Berg- und Talbahn, S. 43. Vor allem intellektuelle Besucherinnen und Besucher berichteten häufig spöttisch, distanziert oder empört über die Attraktionen der Parks und warfen ihnen Kommerzialität, Minderwertigkeit oder Harmlosigkeit vor, vgl. etwa Gorki, Erinnerungen an Zeitgenossen, S.  241–243 oder Joseph Roth, Stunde im Frühlingsrummel, in: Frankfurter Zeitung vom 16.5.1924.

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ihr damit Relevanz. Das körperlich wahrnehmbare Tempo der schnellen Fahrten verband sich mit dem Gefühl, an etwas Zeittypischem teilzuhaben. Kracauer machte damit der Bahn des Lunaparks – vielleicht ungewollt – ein großes Kompliment. Denn gelang es den Vergnügungsparks nicht, die Signifikanz der von ihnen angebotenen Attraktionen zu vermitteln, konnte schnell Belanglosigkeit oder Beliebigkeit einziehen, sich Langeweile breit machen und ein Vergnügungspark in Vergessenheit geraten. Die Vergnügungsparks der langen Jahrhundertwende waren auf transnationale Kontakte angewiesen. Die Vielfalt der Attraktionen, das kosmopolitische Vergnügungsprogramm und die Innovationsfreude, mit der Neues erprobt wurde, sind dafür ebenso ein Beleg wie die internationale Finanzierung des Gewerbes, der Austausch über mehrsprachige Fachzeitschriften oder Akteure, die grenzübergreifend agierten. Dennoch entstanden alle Berliner Vergnügungsparks an traditionellen Vergnügungsorten, die dem lokalen Publikum bekannt waren. Auch das Vergnügungsangebot stellte immer eine Mischung aus Vertrautem und Neuem dar und nicht wenige Akteure konzentrierten sich auf das Berliner Vergnügungsgewerbe. Die Gleichzeitigkeit von lokalen und transnationalen Einflüssen war ein Merkmal der dynamischen und vielseitigen Vergnügungsbranche der langen Jahrhundertwende. Das Publikum der Parks rekrutierte sich aus verschiedenen Bevölkerungsschichten. Damit waren sie Begegnungsorte, an denen Kontakte geknüpft, Heterogenität gelebt und Toleranz geübt werden konnten. Aber die Segregation der Stadt und die sozialen Unterschiede zwischen den Besucherinnen und Besuchern wurden nicht durch einen Besuch im Vergnügungspark aufgehoben. Es existierten deutlich erkennbare soziale Gegensätze zwischen den Parks, ihrem Publikum und ihrer Lage im städtischen Raum. Auch innerhalb der Parks wurden soziale Unterschiede reproduziert. Die Preise der einzelnen Attraktionen und der Geschmack der Gäste entschieden über Abgrenzungen innerhalb der Etablissements und über Zugänge zum Vergnügen. Die Vergnügungsparks griffen gesellschaftliche Neuerungen auf und setzten sie in Attraktionen um. Sie waren zwar künstlich geschaffene Welten, aber die Bezüge zur Realität und zur ›echten Stadt‹ mussten für das Publikum immer deutlich sein – sonst konnten die Attraktionen ihre Relevanz verlieren. Es ging nicht darum, radikale Gegenwelten oder eskapistische Erlebnisse zu kreieren, sondern das Ambiente für einen verspielten Umgang mit echten Herausforderungen, Trends oder Neuerungen. Die Besucherinnen und Besucher hatten so die Möglichkeit, an aus dem Alltag bekannte Phänomene anzuknüpfen, sich mit ihnen spielerisch auseinanderzusetzen und sich neue Techniken oder Praktiken lustvoll anzueignen. Meist fungierten die Parks als Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen. Sie sogen auf, was immer interessant und relevant erschien und verarbeiteten es, indem sie es in Vergnügungsattraktionen umsetzten. Mitunter schafften sie

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es aber auch, eine Vorreiterstellung bei der Vermittlung neuer Techniken oder Trends einzunehmen. Ein Beispiel hierfür ist die anfangs erwähnte elektrische Bahn, mit der die Gäste ab 1880 in der Neuen Welt eine Rundfahrt über das Etablissement unternehmen konnten. Gleichzeitig entwickelten die Ingenieure der Firma Siemens & Halske die Bahn weiter zur Straßenbahn. Im Mai 1881 wurde die erste elektrische Straßenbahnlinie auf dem späteren Stadtgebiet Berlins in Lichterfelde eröffnet.144 Die Bahn im Vergnügungspark war also eine Art Probelauf für den Betrieb im Straßenverkehr. Die Vergnügungsparks konnten den Besucherinnen und Besuchern die Angst vor unbekannten Objekten oder Techniken nehmen, ihnen Praxiserfahrung vermitteln und damit einer Neuheit den Weg in das ›echte‹ Lebensumfeld bahnen. Dabei transformierte sich nicht nur die Innovation von einer kuriosen Attraktion zum Alltagsgerät. Auch die Besucher wurden von neugierigen oder skeptischen Betrachtern zu kompetenten Nutzern eines neuen Objekts. Für den Erfolg der Parks war das Aufgreifen gesellschaftlicher und urbaner Herausforderungen und neuer Techniken essentiell notwendig. Schafften sie es, dem Publikum den Zusammenhang zwischen diesen und den gebotenen Attraktionen zu vermitteln, so erschien auch das Vergnügen relevant, modern und am Puls der Zeit. Die Vergnügungsparks wurden damit zu Vermittlern gesellschaftlicher Aufgaben und zu Reflektionsflächen urbaner Prozesse. Für das Publikum ergaben sich in den zunächst harmlos oder gar sinnfrei erscheinenden Attraktionen zahlreiche Anknüpfungspunkte an die Herausforderungen des urbanen Umfelds, die mehr oder weniger bewusst, mehr oder weniger intensiv wahrgenommen und reflektiert werden konnten. So wirkten die Vergnügungsparks als Katalysatoren der inneren Urbanisierung.

144 Vgl. Bäzold u. Fiebig, Ellok-Archiv, S. 18.

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6. Kokainkonsum

»Zssigarren, Zsigaretten« zischte der junge Mann, der sich an den unerleuchteten Außenanlagen des nächtlichen KaDeWe, des großen Berliner Kaufhaus des Westens, vorbeidrückte. Er trug zwar einige Zigaretten- und Zigarrenpäckchen bei sich, doch diese dienten nur der Tarnung. Tatsächlich wollte er kleine Papierheftchen an den Mann oder die Frau bringen, ihr Inhalt: Kokain. Wir befinden uns im Berlin des Jahres 1922 und bei besagtem Kokainhändler handelte es sich um keinen geringeren als den Schriftsteller Carl Zuckmayer.1 Dieser lebte zu Beginn der 1920er Jahre verarmt in Berlin und handelte aus »einer rabiaten Verzweiflung« mit Kokain, der literarische Durchbruch als Theaterautor sollte ihm erst drei Jahre später gelingen.2 Zuckmayer arbeitete eigentlich als Schlepper für Nachtlokale in der Friedrichstadt, erhoffte sich aber von seiner Versetzung in den Westen, genauer gesagt in die Gegend des Wittenbergplatzes, einen höheren Verdienst. Dies war nur folgerichtig, prognostizierte der Reiseführer Berlin für Kenner doch bereits 1912 den Abstieg des Vergnügungsviertels um die Friedrichstraße: »In einem Dutzend Jahren wird die Berliner Friedrichstadt zum alten Eisen geworfen sein, und in dem Dreieck zwischen Nollendorfplatz, Zoologischer Garten und Viktoria-Luisen-Platz wird sich die Nacht von Berlin abspielen.«3 Mit dieser Voraussage behielt der Reiseführer recht: In den 1920er Jahren entwickelten sich Kurfürstendamm und Tauentzienstraße zum neuen, zweiten Vergnügungsviertel Berlins. Doch wie wir in den vorherigen Kapiteln bereits gesehen haben, hatte der »Zug nach dem Westen« schon vor dem Ersten Weltkrieg eingesetzt.4 Der Journalist Max Osborn datierte den »märchenhaft[en] Aufschwung des Bezirks um die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche« auf das Jahr 1907: Am 27. März diesen Jahres eröffnete das Kaufhaus des Westens am Wittenbergplatz (siehe Abb. 43).5 1 Zuckmayer, Horen der Freundschaft, S. 350. Für Hinweise und Anregungen zum Thema Drogenpolitik und Drogenkonsum in der Weimarer Republik danke ich Annika Hoffmann und Hagen Stöckmann. 2 Ebd., S. 349. 3 Berlin für Kenner, S. 21; zum Begriff des Vergnügungsviertels vgl. Becker, Das Vergnügungsviertel. 4 Edel, Neu-Berlin, S. 7. 5 Osborn, Stadt und Warenhaus, S. 124; zum Kaufhaus des Westens vgl. Meiners, 100 Jahre KaDeWe.

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Abb. 43: Das Kaufhaus des Westens 1907

Das KaDeWe verfügte damals über eine Verkaufsfläche von etwa 24.000 Quadratmetern, in den 120 verschiedenen Abteilungen gab es alles, was das Herz begehrte. Es richtete sich jedoch ausdrücklich an die wohlhabenderen Schichten.6 Diesem Beispiel folgend eröffneten viele Luxusgeschäfte Filialen in der Umgegend des Wittenbergplatzes und die einst beschauliche Tauentzienstraße wandelte sich zum mondänen Einkaufsboulevard. Doch nicht nur das: Dem neuen Geschäftsviertel in Berlin W folgte bald eine Reihe von Cafés, Tanzpalästen, Kinos und Theatern.7 Curt Morecks Führer durch das ›lasterhafte ­Berlin‹ wusste zu berichten: Der Kurfürstendamm ist Berlin, das heutige, das lebendige, das gegenwarts­ sichere Berlin. […] Wenn irgendwo, so kann man hier von Nachtleben sprechen, denn hier lebt die Nacht, hier entwickelt sie ihre ganze intensive Lebendigkeit, hier fängt das Leben mit der Dämmerung an und endet erst mit der Dämmerung […] Der Kurfürsten­damm ist die jugendlichste Straße Berlins, die frische Blutader des neuen Westens.8

6 Vgl. Colze, Berliner Warenhäuser, S. 11 f.; Meiners, 100 Jahre KaDeWe, S. 20–31. 7 Zum Kurfürstendamm vgl. Siedler, Unter den Linden/Kurfürstendamm; Karl-Heinz Metzger u. Ulrich Dunker, Der Kurfürstendamm; Wolffram, Tanzdielen und Vergnügungspaläste; Stürickow, Der Kurfürstendamm; Helga Frisch, Abenteuer Kurfürstendamm. 8 Moreck, Führer, S. 36 u. 39.

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Es gab kaum ein Haus am Kurfürstendamm ohne Restaurant, Café, Bar, Weinstube, Tanzlokal oder Bierkneipe; fast alle Vergnügungsetablissements hatten bis weit in die Nacht hinein, oft bis zum frühen Morgen, geöffnet. Eines der bekanntesten Berliner Tanz- und Nachtlokale war seit Beginn der 1920er Jahre das Kakadu am Kurfürstendamm 226 Ecke Joachimsthaler Straße 10.9 Die großen Etablissements entstanden erst in den Jahren zwischen 1927 und 1929: 1927 das Casanova (Ecke Motzstraße/Lutherstraße)  und das Palais am Zoo (Auguste-­Viktoria-­Platz), 1928 das Gourmenia (Hardenbergstraße 29) und der Delphi-Palast (Kantstraße 12a), 1929 das Uhlandeck (Kurfürstendamm 31) und das Femina (Nürnberger Straße 50–52).10 Der Aufstieg des neuen Westens zum Vergnügungsviertel wurde außerdem entscheidend von der Entwicklung der Filmindustrie geprägt. Am Kurfürstendamm lagen sechs von sieben Uraufführungskinos von Berlin sowie zahlreiche kleine Kinos.11 Ferner befand sich in der Umgegend des Kurfürstendamms auch eine Vielzahl an Theatern, etwa das Theater des Westens (Kantstraße 10–12), das Renaissance-Theater (Ecke Knese­ beckstraße/Hardenbergstraße), das Neue Schauspielhaus (Nollendorfplatz 5) und das Theater am Kurfürstendamm (Kurfürstendamm 206).12 An diesem »Brennpunkt des Berliner Lebens« versuchte Carl Zuckmayer also sein Kokain zu verkaufen.13 Er stellte sich bei diesem Geschäft jedoch nicht besonders geschickt an, war es doch schließlich eine Prostituierte, die sich seiner annahm und das Kokain für ihn an einen Kunden im nahegelegenen Kabarett Femina verkaufte.14 Was in dieser Tatsache anklingt, ist eine direkte Verbindung zwischen dem Kokainkonsum und dem Berliner Vergnügungsviertel um den Kurfürstendamm und die Tauentzienstraße – mithin dem nächtlichen Vergnügungsleben der Metropole. Alles, was ein Mensch des 20. Jahrhunderts an Bedürfnissen und Genüssen zu befriedigen habe, das biete sich ihm auf dem Kurfürstendamm und der Tauentzienstraße, schrieb Curt Moreck.15 Ob er damit auch Kokain meinte, ließ er offen. Eine Glosse des Schriftstellers Rudolf Stein vom 5. November 1920 vermittelt indes den Eindruck, dass der Kokainkonsum im Vergnügungsviertel um den Kurfürstendamm geradezu omnipräsent war:

9 Vgl. Metzger u. Dunker, Der Kurfürstendamm, S. 120–124. Vgl. zu den Berliner Tanz­ lokalen auch oben das Kapitel zum Tanzvergnügen. 10 Vgl. Wolffram, Tanzdielen, S. 22. 11 Vgl. Frisch, Abenteuer Kurfürstendamm, S. 90. 12 Vgl. dazu auch oben das Kapitel zum Unterhaltungstheater. 13 Szatmari, Das Buch von Berlin, S. 36. 14 Vermutlich täuscht sich Zuckmayer hier in seiner Erinnerung, es muss sich um ein anderes Etablissement gehandelt haben. Das Etablissement Femina in der Nürnbergerstraße 50 Ecke Tauentzienstraße eröffnete erst im Jahr 1929; vgl. Wolffram, Tanzdielen und Vergnügungspaläste, S. 151. 15 Moreck, Führer, S. 22.

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Abb. 44: Kokainhandel, Zeichnung von Rudolf L. Leonard, 1921

[…] wenn man abends in einem Kaffeehaus des Westens sitzt, fragt einen in neun von zehn Fällen der Kellner: »Koks, bitte gefällig?« Er meint aber nicht den not­ wendigen Stoff für unsere Zentralheizung, sondern Kokain. Und wenn wir uns umsehen erblicken wir auch hier und da Pärchen, die das weiße Pulver schnupfen.16

Und auch der Schriftsteller Christian Bouchholtz wusste in seinem 1921 erschienenen Buch Kurfürstendamm über selbigen zu berichten: Im Detail war das Kokain eine Zeitlang in Berlin von jedem Bar- und Dielenhändler, von jedem Nachtlokalportier zu kaufen. […] Selbst auf offener Straße war es zu kaufen. Und zwar bei jedem erstbesten wilden Zigarettenhändler, der an einer Straßenecke der Kurfürstendammgegend mit seinem Tabakkasten stand [siehe Abb. 44].17

Das »Koksschnupfen« sei jedoch »eine Modemarotte, eigentlich nur bekannt am Kurfürstendamm«, konstatierte Bouchholtz.18 Dass der hedonistische Kokainkonsum, wie dieses Zitat nahe legt, ein räumlich sowie quantitativ sehr begrenztes Phänomen war, und sich hauptsächlich in den Vergnügungsvierteln Berlins abspielte, bestätigen zeitgenössische Quellen.19 Der Kurfürstendamm, aber 16 Rumpelstilzchen, Berliner Allerlei, S.  33. Rudolf Stein veröffentlichte von 1918 bis 1935 allwöchentlich unter dem Pseudonym »Rumpelstilzchen« Glossen zur Berliner Kultur, Wirtschaft und Politik in der Berliner Tageszeitung Der Tag. 17 Bouchholtz, Kurfürstendamm, S. 105. 18 Ebd., S. 103. 19 Ausnahmslos alle Kokaindelikte, von denen die Vossische Zeitung im Berlin der Weimarer Republik berichtete, fanden in der Umgegend der Friedrichstraße, des Kurfürsten-

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auch die Friedrichstraße waren in der Zeit der Weimarer Republik Zentren des Kokainhandels und Kokainkonsums. Einige Beispiele mögen dies illustrieren: Im November 1924 erwarb der Kaufmann Paul Z. in einem Lokal in der Besselstraße – eine Querstraße im Süden der Friedrichstraße – Kokain und konsumierte dieses in verschiedenen Lokalen der Friedrichstadt.20 Vermutlich handelte es sich bei diesem Etablissement um das Lokal Goldelfe in der Besselstraße 1, welches bei der Polizei als »Versammlungslokal für Kokainisten und Kokainhändler« bekannt war. Dort hatte der Filmschauspieler Erich Gustav Hofmann im Juli 1926 von einem »gewissen Fred« Kokain bezogen und auch noch im Jahre 1929 fanden dort Kokaingeschäfte statt.21 Im selben Jahr wurde der Kokainhändler Harry Schlesinger, »der besonders in der Behren- und Jägerstraße an die Besucher von Nachtlokalen Kokain verkaufte«, in der Chauseestraße, der nördlichen Verlängerung der Friedrichstraße, festgenommen, wie die Vossische Zeitung berichtete.22 Dass auch in Berlin W mit Kokain gehandelt wurde, deuten die eingangs zitierten Memoiren Carl Zuckmayers sowie zeitgenössische Publikationen bereits an, weitere Quellen bestätigen diesen Eindruck. So gab der Kaufmann Walter K., der im September 1921 wegen seiner Kokainsucht in der Berliner Charité behandelt wurde, an, er bekäme »so viel Cocain, wie er wolle, es würde am Kurfürstendamm angeboten in Dielen u. Cafés, von Gästen, die dort verkehrten«.23 Und die Vossische Zeitung schrieb im April 1926, anlässlich der Verhaftung des ehemaligen Medizinstudenten Conrad Rosenthal, der gefälschte Rezepte auf Kokain und Morphium ausstellte, dass dieser in den »Tanzdielen und Bars des [Berliner] Westens« eine »bekannte Persönlichkeit« gewesen sei.24 Kurze Zeit später, im September 1926, meldete das Berliner Tageblatt, dass »in einem Lokal am Wittenbergplatz« ein Kokainhändler und sein »Schlepper« verhaftet worden seien, ihr »Hauptabsatzgebiet« sei »der Kurfürstendamm und die Tauentzienstraße« gewesen.25 Willy Pröger bezeichnete den Wittenbergplatz in seinem 1930 erschienenen Buch Stätten der Berliner Prostitution gar als »Rauschgift­zentrale«.26 Er wusste von einer Litfaßsäule auf dem Platz zu berichten, welche die Rauschgifthändler nutzten, um ihren Kunden mittels eines geheimen Zahlencodes damms oder des Nollendorfplatzes statt. Dies ergab eine Recherche in der Datenbank Vossische Zeitung online. 20 HPAC , M 4387/1924. 21 GStA PK I. HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B, Jüngere Medizinalregistratur Band 1, Nr. 1238 (Verkehr mit Giften, Bd. 21, Spezialia, 1926–1927, Nov.–Jan.); LAB A Rep. 358-01, Nr. 2652. 22 Ein Kokainhändler festgenommen, in: Vossische Zeitung, 26.6.1929. 23 HPAC M, 3232/1921. 24 Die Gönner der Kokainisten, in: Vossische Zeitung, 9.4.1926; vgl. außerdem Rezepte für ›eigenen Gebrauch‹, in: Berliner Tageblatt, 9.11.1926. 25 Schon wieder ein Kokainhändler verhaftet, in: Berliner Tageblatt, 19.9.1926. 26 Weka (=Willy Pröger), Stätten der Berliner Prostitution, S. 108.

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Mitteilungen zukommen zu lassen, wann sie wo Drogen von ihnen erwerben können. Der Wittenbergplatz stand Pröger zufolge »unter ständiger scharfer Beobachtung« des Rauschgift-Dezernates, deshalb wurde der Drogenhandel an ungefährlichere Orte verlegt.27 Die Vorstellung eines verbreiteten Drogenkonsums gehört zum populären Bild der oft als ›wild‹ und ›golden‹ wahrgenommenen 1920er Jahre. Zeitgenosseninnen und Zeitgenossen ebenso wie Historikerinnen und Historiker haben die Jahre der Weimarer Republik mit einer beachtlichen »Kokain-« oder allgemeiner »Drogenwelle« assoziiert. Berlin galt als Zentrum des Kokainkonsums und wurde gar als europäische »Kokainmetropole« der 1920er Jahre bezeichnet.28 Obwohl, wie die neuere Forschung zeigt, von einer gefährlichen »Drogenwelle« – mithin einer medizinisch auffälligen Verbreitung des Kokainismus in der Weimarer Republik – nicht die Rede sein kann, belegen die zahlreichen Beispiele aus zeitgenössischen Quellen, dass in den Vergnügungsvierteln der Reichshauptstadt durchaus eine Nachfrage nach Kokain vorhanden war.29 Kokain wurde in Vergnügungsstätten verkauft und konsumiert, der Konsum war mithin ein Teil des Berliner Vergnügungslebens. Ausgehend von diesem Befund fragt dieses Kapitel nach der Verbreitung und gesellschaftlichen Funktion von Drogen, speziell Kokain, im Berlin der Weimarer Republik. Dabei analysiert es die öffentliche und kulturelle Wahrnehmung von Drogen im Kaiserreich und der Weimarer Republik, untersucht die rechtlichen Rahmenbedingungen, zeigt, wie der Drogenhandel als wirtschaftliches System funktionierte, wer die Händler und Konsumenten und welches die Orte und Praktiken des Kokainhandels- und Kokainkonsums in Berlin waren. Schließlich wird auch der Frage nachgegangen, welche Rolle dem Kokain­ konsum im Nacht- und Vergnügungsleben der Metropole Berlin in den 1920er und frühen 1930er Jahren zukam.

6.1 Zur Einführung von Kokain und Morphium im Kaiserreich 1903 diagnostizierte Georg Simmel in seinem Essay Die Großstädte und das Geistesleben eine »Steigerung des Nervenlebens« in der Großstadt.30 Modern zu leben hieß um 1900 angespannt zu leben, einem »raschen und ununterbrochenem Wechsel äußerer und innerer Eindrücke«, einer permanenten Reizüber­ flutung ausgesetzt zu sein.31 Dem Individuum bot sich in der Großstadt zwar 27 Ebd., S. 109. 28 Schweer u. Strasser, Cocas Fluch, S. 96; vgl. außerdem Briesen, Drogenkonsum und Drogenpolitik, S. 72 f.; Gunkelmann, Geschichte des Kokains, S. 362. 29 Vgl. Hoffmann, Drogenkonsum und -kontrolle; dies., Von Morphiumpralinees und Opiumzigaretten. 30 Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben, S. 116. 31 Ebd.

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ein großes Maß an persönlicher Freiheit und eine Vielzahl an neuen Möglichkeiten, aber es hatte auch mit neuen Anforderungen und Risiken zu kämpfen, so Simmel. Der New Yorker Nervenarzt George Miller Beard bündelte diese als belastend empfundenen Veränderungen der Moderne 1880 im Krankheitskonzept der Neurasthenie.32 Mit der Entwicklung von Morphium und vor allem Kokain waren sich die Mediziner sicher, geeignete Substanzen für die Behandlung der Neurasthenie gefunden zu haben, mit denen das erschöpfte Selbst beruhigt und der allgemeinen Anspannung des »nervösen Zeitalters« entgegengewirkt werden konnte. Bereits 1860 hatte der Chemiker Albert Niemann in Göttingen das Hauptalkaloid der Kokapflanze isoliert und gab ihm den Namen Kokain. Fast zeitgleich publizierte der italienische Arzt Paolo Mantegazza seine Monographie Über die hygienischen und medizinischen Vorzüge des Koka und die Nervennahrung im Allgemeinen. Darin beschrieb er enthusiastisch die Wirksamkeit von Koka bei der Behandlung von Zahnschmerzen, Verdauungsstörungen sowie nervösen Unruhezuständen und gab so den Auftakt zur Anwendung als Heilmittel. Im späten 19.  Jahrhundert kam es zu einem regelrechten Boom der Verwendung von Koka in Tinkturen, Pasten und Getränken. Coca-Cola, ein aus Kokablättern und Kola-Nüssen hergestellter Sirup, wurde als »nervenstärkendes« Mittel gegen »Hysterie, Kopfschmerzen und Melancholie« angepriesen.33 Auch Sigmund Freud kam 1884 zu dem Schluss, dass die Einnahme von Kokain zu »einer Aufheiterung und anhaltenden Euphorie« führe, ferner fühle man »eine Zunahme der Selbstbeherrschung, fühlt sich lebenskräftiger und arbeitsfähiger«. Freud betonte, dass Kokain »ein weit kräftigeres und unschäd­ licheres Stimulans als der Alkohol« sei und der universellen Anwendung derzeit nur der hohe Preis im Wege stünde.34 Er empfahl die Verwendung von Kokain auch zur Behandlung verschiedener psychischer Schwächezustände wie Hysterie, Hypochondrie und Neurasthenie. Vor allem aber hob er die Wirkung des Mittels beim Morphiumentzug hervor, ein fataler Fehler, wie sich später herausstellen sollte. Kokain avancierte zu einem wahren Wundermittel der Medizin, es wurde für diverse Arten von Beschwerden empfohlen und fand in der C ­ hirurgie Anwendung als Lokalanästhetikum. Auch wenn Kokain und Morphium in dem Ruf standen, abhängig zu machen, hielten viele Mediziner an ihrer Verwendung noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts fest. In Fällen, bei denen durch Missbrauch der Stoffe eine Sucht entstand, verorteten die Mediziner die Ursache nicht in den Arzneimitteln, son32 Vgl. zur Neurasthenie z. B. Bergengruen u. a., Neurasthenie und grundlegend: Radkau, Das Zeitalter der Nervosität. 33 Vgl. Jay, High Society, S. 92. Seit 1903 wurde Coca-Cola auf öffentlichen Druck hin allerdings nur noch auf Basis entkokainisierter Kokablätter hergestellt. 34 Freud, Über Coca, S. 62 u. 68.

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dern im Charakter der Süchtigen. Es herrschte die Auffassung vor, dass die Entstehung einer Abhängigkeit durch strenge medizinische Überwachung zu verhindern sei und der ärztliche Einsatz der Substanzen weitergehen könne, ohne ein soziales Problem zu schaffen.35 Vor dem Ersten Weltkrieg waren die typischen Drogenkonsumenten »fast durchweg […] Angehörige der gehobenen und gebildeten Stände« – sozial integrierte, neurasthenische Patienten aus der Mittel­k lasse und Bohemiens – die keinen Anlass zur Sorge gaben.36 In der gesellschaftlichen Wahrnehmung des Kaiserreichs galt es nicht als anstößig, Kokain oder Morphium aus medizinischen Gründen zu konsumieren. Der Drogenkonsum wurde, sofern er außerhalb des medizinischen Kontextes stattfand, als heimliches Laster begriffen und »grundsätzlich in den Subbereich der Gesellschaft bzw. der Kultur verschoben«.37 Nur selten gelangte das Leiden eines Süchtigen an die Öffentlichkeit, so wie im Fall des Psychoanalytikers Otto Gross, an dessen Beispiel sich die Verbindung zwischen Drogenkonsum und Bohemekultur exemplarisch nachvollziehen lässt: Im Oktober 1913 ließ Gross’ Vater, ein Grazer Kriminologie-Professor, den Psychoanalytiker auf Grundlage eines psychiatrischen Gutachtens wegen »Gemeingefährlichkeit« von der Berliner Polizei festnehmen. Er wurde in die österreichische Heilanstalt Tulln bei Wien verbracht.38 Gross war schon seit langer Zeit Kokainist. Der Schriftsteller Erich Mühsam schrieb 1911 in seinem Tagebuch über den Bekannten: Schrecklich ist auch die Kokainsüchtigkeit bei ihm. Ewig auf dem Sprung zur ­Apotheke, ewig mit der Schachtel in der Hand und mit dem Kiel in der Nase, die immer verletzt und mit Salbe verschmiert ist. Dabei halluziniert er neuerdings viel, hört Beschimpfungen gegen sich, er sei ein Feigling etc. […] Sonnabend hatte Gross einen sehr schlechten Tag. […] Er hatte seit vierzehn Tagen das Hemd nicht vom Leibe gezogen gehabt. Er hatte viel Halluzinationen und war sehr unglücklich und gedrückt.39

Gross’ Vater gab als offiziellen Grund für die Verhaftung die Homosexualität seines Sohnes an. Es ist aber davon auszugehen, dass seine Kokain- und Morphiumsucht den tatsächlichen Anlass für die durch den Vater angeordnete Verhaftung darstellte. Gross’ im Grunde unrechtmäßige Festnahme (er wurde als österreichischer Staatsbürger von einer preußischen Behörde festgenommen) löste einen Sturm der Empörung aus und wurde innerhalb der expressionistischen Literaturszene heftig diskutiert. Es folgte eine publizistische Kampagne, in der versucht wurde, Gross’ Sucht zu relativieren, vermutlich um die Unrechtmäßigkeit der Verhaftung zu betonen. Gleichwohl lässt sich aus ihrer Argumen35 36 37 38 39

Vgl. Gunkelmann, Geschichte des Kokains, S. 361 f. Steimann, Morphinismus als Kriegsbeschädigung als Kriegsbeschädigung, S. 719. Sattler, Vergiftete Sensationen, S. 141. Zum Fall Otto Gross vgl. Springer, Otto Groß und Johannes R. Becher. Mühsam, Tagebücher, S. 41 f.

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tation aber die liberale Haltung gegenüber den Rauschmitteln herauslesen. So schrieb Franz Pfemfert, der Herausgeber der Zeitschrift Die Aktion: Groß ist in eine Irrenanstalt geschleift worden, nicht weil er irrsinnig war, nicht weil man ihn irrtümlich für irrsinnig gehalten hat, sondern weil er Morphium genommen hat. Und was ergibt sich aus diesem Tatbestand für eine liberale Redaktion? Fordert sie, daß sämtliche Adelsträger, die Morphin nehmen (es sind nicht wenige), in Irrenhäuser gebracht werden müßten?40

Gross’ Kokain- und Morphiumsucht war Teil seiner Identität als Bohemien und verband sich bei ihm mit einer Psychoanalytik, die seinen Zeitgenossen fremd erschien, sie aber zugleich faszinierte. Der Literaturkritiker Emil Szittya sagte über ihn: »Er nahm Cocain, Morphium (und weiß der Teufel was noch) und wie mit der Psychoanalyse, so wirkte er auch mit der Narkotik auf seine Umgebung«.41 Gemäß der expressionistischen Denkweise propagierte Gross, dass der Mensch bedingungslos leben solle und sich von allen kulturellen und gesellschaftlichen Konventionen frei zu machen habe. Emil Szittya sah in Otto Gross gar den Grund der avantgardistischen Vorliebe für Kokain und Morphium in Künstlerkreisen. Er meinte nachweisen zu können, »daß die Morphiummanie und Cocainmanie, die seit zwanzig Jahren in Deutschland unter den Künstlern wütet, nicht nur von dem gewesenen Privatdozenten ausgegangen ist, sondern […] auch von ihm geleitet wurde«.42 Gross habe zu ihm gesagt: »jeder freiheitliche Mensch müsse Narkotika nehmen, weil Cocain und Morphium die Hemmungen lösen. Man müsse sich sexuell austoben«.43 An diesem Zitat zeigt sich mithin deutlich die positive Bewertung, die Gross dem Drogenkonsum zuschrieb. Die Drogensucht war Teil des programmatischen Exotismus Otto Gross’ und fügte sich in eine Ordnung ein, in der »besonders moderne und industriell produzierte Rauschmittel wie Kokain oder Morphium – im Sinne des medizinischwissenschaftlichen Diskurses – als wirksame Arznei begriffen [wurden], um die widersprüchlichen Ansprüche der Moderne […] zu ertragen«.44 Kokainismus und Morphinismus blieben im Kaiserreich ein Oberschichten­ phänomen, allein schon aufgrund des Preises der Substanzen. Im literarischen Expressionismus wurde zwar das »Recht auf Rausch« proklamiert und der Drogenkonsum somit zu einem Mittel der radikalen (Kultur-)Kritik an der wilhelminischen Gesellschaft stilisiert. Dies verdeutlicht aber nur seine Marginalität, denn seinem Verständnis nach war der Expressionismus eine Außenseiterbewegung.45 Zugleich zeigt sich hier, dass es sich beim Drogenkonsum um ein genuin urbanes Phänomen handelte. Sind doch die Bohemekultur und der Expressionis40 Pfemfert, Der Tatbestand, Spalte 24 f. 41 Emil Szittya, Kuriositäten-Kabinett, S. 151. 42 Ebd. 43 Ebd., S. 152. 44 Sattler, Vergiftete Sensationen, S. 162. 45 Zum Begriff des Expressionismus vgl. Sattler, Vergiftete Sensationen, S. 74–77.

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mus nicht denkbar ohne das Milieu »der modernen Großstadt mit ihrer wachsenden Metropolenkultur«.46 Die Expressionisten verarbeiteten in ihren Texten die Erfahrungen, die ihnen »die neuen urbanen Realitäten« boten.47 Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs im Juli 1914 wurden Kokain und­ Morphium von expressionistischen Drogen zu Schmerzmedikamenten und die Vorliebe für diese Substanzen gelangte so schließlich auch in weitere Kreise der Bevölkerung. Im Ersten Weltkrieg kamen technisierte und maschinelle Waffen mit hoher Vernichtungswirkung zum Einsatz, so dass auf allen Seiten hohe Verluste und viele Verletzte zu beklagen waren. Die Medizin wurde auf den Krieg ausgerichtet, es lässt sich sogar von einer »Medikalisierung des Krieges« sprechen.48 Kokain und Morphium spielten dabei als Schmerzmittel eine wichtige Rolle; die Versorgung der Soldaten mit diesen Substanzen hatte innerhalb der Kriegswirtschaft eine hohe Priorität. Die Situation an der Front war jedoch nur schwer zu überblicken. Je länger der Krieg dauerte, umso mehr häuften sich die Meldungen von iatrogen erzeugten kokain- und morphiumsüchtigen Soldaten.49 Der Mediziner Wilhelm Steimann sah den Grund dafür vor allem darin, dass »in vielen Lazaretten und Krankenhäusern, wo es an der nötigen Aufsicht fehlte, mit Morphiuminjektionen eine Lotterwirtschaft getrieben wurde«.50 Tatsächlich verabreichten Mediziner verletzten Soldaten Kokain und Morphium oft zu lange und in zu hohen Dosen, wie etwa der schon erwähnte Fall des Medizinstudenten Conrad ­Rosenthal verdeutlicht, der im April 1926 festgenommen wurde, weil er in Tanzlokalen des Berliner Westens gefälschte Rezepte auf Kokain und Morphium ausgestellt hatte. Bereits im November 1925 kam Rosenthal in die Nervenklinik der Berliner Charité, wo die Diagnose »Morphinismus« gestellt wurde. Er berichtete, dass er 1914 als Feldunterarzt in den Krieg gezogen und im November 1914 auf »eigenen Wunsch« an die Front gekommen sei. Im Mai 1917 sei er bei einer Offensive im Westen durch einen Granatsplitter am rechten Unterschenkel verwundet worden. Er habe daraufhin vier Wochen lang im Reservelazarett in Aachen gelegen, wo ihm der behandelnde Arzt »fast jeden Tag« Morphium verabreicht habe; so dass sich Rosenthal bald daran gewöhnt hatte und sich nach seiner Entlassung selbst Morphium spritzte.51 Im Verlauf des Krieges wurde aber nicht nur Morphium-, sondern auch Kokainabhängigkeit iatrogen erzeugt. Das zeigt das Beispiel des Kaufmanns Walter Rosenthal, der 1929 wegen Kokainhandels in Berlin festgenommen wurde. Rosenthals Aussage in der Polizeiakte ist zu entnehmen, dass er aufgrund einer 46 47 48 49

Sattler, Vergiftete Sensationen, S. 110. Ebd., S. 114. Hofer, Nervenschwäche und Krieg, S. 195. Eine Sucht gilt als iatrogen erzeugt, wenn der Patient nach der medizinisch indizierten Verwendung von Betäubungsmitteln von diesen abhängig wird. 50 Steimann, Morphinismus als Kriegsbeschädigung, S. 720. 51 HPAC M, 4794/1925.

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Kriegsverletzung mit Kokain behandelt wurde und infolgedessen zum Kokainisten geworden war.52 Ob das wirklich der Wahrheit entsprach oder ob Rosenthal dies nur behauptete, um vor Gericht mildernde Umstände zu erhalten – der Konsum von Kokain stand nicht unter Strafe, der Handel hingegen schon  – muss offen bleiben. Bei den hier geschilderten Beispielen handelte es sich jedoch keineswegs um Einzelfälle. Oberstabsarzt Konrad Alt, Direktor der LandesHeil- und Pflegeanstalt Uchtspringe, stellte 1916 fest, »daß hinsichtlich des Morphiumgebrauches seines Erachtens sehr bedenkliche Zustände herrschten«. Er behauptete sogar, »daß es für jeden Menschen heute eine Leichtigkeit sei, Morphium zu erhalten« und dass aufgrund des Krieges »leichter Morphium zu bekommen wäre als Schnaps«.53 Wie die oben wiedergegebenen Beispiele belegen, fanden Kokain und Morphium im Ersten Weltkrieg wegen der schweren Verletzungen vieler Soldaten medizinisch reichlich Verwendung. Dies hatte zur Folge, dass die Stoffe jene sozialen Grenzen überschritten, die zuvor gewährleistet hatten, dass der Drogenkonsum kein soziales Problem darstellte. Nach dem Krieg stieg der Anteil der Arbeiterinnen und Arbeiter am Morphinismus um das Zehnfache an.54 Der Erste Weltkrieg wirkte mithin als »Multiplikator der Drogensucht«.55

6.2 Von »Kokainhöhlen« und Halbweltdamen: Berlin im Drogendiskurs der Weimarer Republik »Schon vor dem Kriege wußte man, daß in vereinzelten Vergnügungsstätten der Halbwelt heimlich Kokain als ein neues Reizmittel in Form von Schnupfpulvern gelegentlich vertrieben wurde«, konstatierte der Kölner Kriminalpsycho­ loge Gustav Aschaffenburg 1923.56 Doch Kokainsüchtige in der Zeit vor dem Ende des Ersten Weltkriegs waren unauffällig, gleichsam unsichtbar. Sie gliederten sich in die bürgerliche Ordnung ein und bildeten keine klar abgrenzbare Gruppe, weder in medizinisch-psychiatrischer noch in rechtlicher Sicht.57 Die meisten waren, ähnlich wie die Soldaten im Krieg, mit Kokain als Medikament in Berührung gekommen. Der Drogenkonsum wurde nicht als Ausdruck einer soziokulturellen Differenz zur dominanten Kultur begriffen, sondern stellte vielmehr ein nach Möglichkeit zu verheimlichendes Leiden dar; der Süchtige schämte sich seiner Abhängigkeit.58 Eine öffentliche Kokainszene, die Aufsehen hätte erregen kön52 53 54 55 56 57 58

LAB A Rep. 358-01, Nr. 2652. BArch R 1501/110393. Vgl. Steimann, Morphinismus als Kriegsbeschädigung, S. 719. Schivelbusch, Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft, S. 225. Aschaffenburg, Das Verbrechen und seine Bekämpfung und seine Bekämpfung, S. 98. Vgl. Rödszus, Das Betäubungselend, S. 53. Vgl. Scheerer, Die Heroinszene, S. 287.

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nen, gab es in Deutschland vor und während des Ersten Weltkriegs nicht. Doch die Situation in der Nachkriegszeit war, vor allem in Berlin, eine andere, wie die beiden Berliner Suchtmediziner Ernst Joël und Fritz Fränkel 1924 diagnostizierten: »Das vorher fast unbekannte Wort Cocain, an Straßenecken und in Nachtcafés, Spelunken und Dielen den Passanten und Gästen zugeflüstert, war in wenigen Monaten, auch unter dem Spitznamen ›Koks‹, aller Welt bekannt.«59 Bereits im Juni 1919 war in der Frankfurter Zeitung ein Artikel des Freiburger Pharmakologie-Professors Walther Straub erschienen, in dem dieser auf den Kokainismus aufmerksam machte, der gegenwärtig »in Berlin und anderen Großstädten« grassieren solle.60 Im Februar 1920 publizierte der Schöneberger Arzt Bruno Glaserfeld in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift einen Beitrag, in dem er »das gehäufte Auftreten des Kokainismus in Berlin« beklagte.61 Er kam zu dem Schluss, dass »in Groß-Berlin eine schreckliche Volksseuche, im Verborgenem blüht und leider immer weiter um sich greift«.62 Die Sucht sei, so der Autor, schon in »alle möglichen« Kreise der Bevölkerung vorgedrungen. Unter den Kokainisten seien »die Söhne unserer besten und anständigsten Familien«, aber auch Frauen sowie Prostituierte. Insbesondere junge Leute im Alter zwischen 20 und 30 Jahren seien dem Gift verfallen.63 Glaserfeld assoziierte den Kokainhandel und -konsum vor allem mit dem Nachtleben der Metropole Berlin. Er schrieb, dass Kokain nachts auf den Straßen Groß-Berlins erhältlich sei, kleine Päckchen würden den Passanten angeboten. Portiers und Kellnerinnen zahlreicher Dielen und Bars seien »eifrige Vertreiber des Kokains«.64 Auch andere Autoren brachten den Kokainhandel und -konsum immer wieder mit der Reichshauptstadt in Verbindung. Der Charlottenburger Sanitätsrat Max Edel hatte bereits in seinem 1919 im Berliner Tageblatt erschienenen Artikel Reiz und Betäubung. Ein Beitrag zur Krankheit unserer Zeit darauf hingewiesen, dass es ein offenes Geheimnis sei, dass in Berliner Nachtlokalen, »in Dielen, Bars und an ähnlichen Stätten nächtlichen Vergnügens […] Kokain zum Schnupfen serviert wird«.65 Ein Obermedizinalrat aus Karlsruhe teilte dem Reichsgesundheitsamt, das nach dem Erscheinen des Artikels in der Frank­fur­ter Zeitung 1919 eine Umfrage zur Verbreitung des hedonistischen Kokainkonsums in den einzelnen Ländern durchführte, mit: »Von einer irgendwo im Lande ­[Baden] verbreiteten missbräuchlichen Anwendung des Kokain in der Bevölkerung in weiterem Umfang ist keine Rede.«66 Vielmehr wusste er

59 Joël u. Fränkel, Der Cocainismus, S. 15. 60 Der Artikel erschien auch im Berliner Lokalanzeiger vom 4.7.1919. Vgl. Straub, Kokainismus. 61 Glaserfeld, Kokainismus in Berlin. 62 Ebd., S. 185. 63 Ebd. 64 Ebd. 65 Edel: Reiz und Betäubung. 66 BArch R 1501/110395.

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zu berichten: »Der Kokainismus als bedrohliche Volksseuche wird in erster­ Linie als Produkt des Großstadtlebens und als Hauptbrutstätte desselben Berlin bezeichnet.«67 Auch Berlin beteiligte sich an der Umfrage des Reichsgesundheitsamtes, interessant erscheint in diesem Zusammenhang, dass der Polizeipräsident in seiner Stellungnahme zwar zugab, dass in Berlin »ein umfangreicher Schleichhandel mit Kokain getrieben wird«, aber zugleich betonte, dass es »nur in ganz vereinzelten Fällen« nachgewiesen sei »daß das Kokain zu Genußzwecken, nämlich zum Schnupfen, mißbraucht werden sollte«. Es läge kein Anhaltspunkt dafür vor, so der Berliner Polizeipräsident, »daß sich Stätten aufgetan haben, in denen dem Kokainlaster gefröhnt wird.«68 Dies erscheint insofern verwunderlich, als Kokain – im Gegensatz zu Morphium, das »als Rauschgift der Einsamen« galt  – als »ausgesprochenes Geselligkeitsgift«, als Rauschmittel »der Kinoschauspieler, Jazzbandmusiker […] endlich überhaupt aller derer, die eine Steigerung der Unterhaltung, eine Vermehrung des ›Amusement‹ usw. suchen«, charakterisiert wurde.69 Der Kokainismus wurde dem Genusskonsum der ›Lebewelt‹ zugeschrieben und seine Konsumenten galten als genusssüchtig, sie wurden deutlich von den Mor­ phinisten abgehoben. Morphinismus wurde als Krankheit aus dem Krieg anerkannt und exkulpiert. Morphinisten wurden in der Regel als unschuldig an ihrer Situation angesehen, selbst wenn ihr Konsum nicht medizinisch begründet war. So konstatierte der Psychiater Robert Gaupp beispielsweise, dass es sich bei dem Kokainkonsumenten um »einen genußsüchtigen, den Glücksrausch liebenden, sexuell anregungsbedürftigen Degenerierten« handele, »den nicht die Qualen einer Abstinenz, sondern das immer wieder erwachende Verlangen nach dem Genuß und dem Rausch zum gewohnheitsmäßigen Kokainschnupfer« mache.70 Dass nicht nur Mediziner, sondern etwa auch politische Vertreter dieser Auffassung waren, verdeutlicht ein Schreiben des Reichsinnenministers Georg Gradnauer an die Länderregierungen vom 28.  Mai 1921, in dem er die Gefährlichkeit des sich immer weiter ausbreitenden Kokainkonsums besonders hervorhob: Der Kokainismus ist ein Laster, das nicht schnell und nachdrücklich genug bekämpft werden kann. Während beim Morphinismus nicht selten die ärztlich eingeleitete Anwendung von Morphin den Ausgangspunkt einer später folgenden Sucht nach diesem Betäubungsmittel darstellt, entspringt die Kokainsucht lediglich dem Verlangen, sich durch Einführung des Kokains, insbesondere durch Schnupfen, die anregenden und betäubenden Wirkungen dieses Stoffes zu verschaffen.71 67 Ebd. 68 Ebd. 69 Wolff, Alkaloidsuchten, S. 350. 70 Gaupp, Rauschgifte und ihre Bekämpfung, S. 69. 71 Zit. n. Rödszus, Das Betäubungselend, S. 83 f.

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Der Kokainismus wurde von den Zeitgenossen als Symptom der Krise der Weimarer Republik wahrgenommen und der Ursprung dieses Lasters demnach im Ersten Weltkrieg verortet.72 So sei es laut Joël und Fränkel signifikant gewesen, […] daß der Krieg bei gewissen Kreisen der Zuhausegebliebenen wie auch späterhin bei vielen Heimgekehrten die allgemeinen psychischen Bedingungen zu einem Giftkonsum großen Stils schuf. Im Kriege: rasches und verhältnismäßig leichtes Geldverdienen bei Ausschaltung einer großen Anzahl früherer Vergnügungsund Verausgabungsmöglichkeiten, die Unsicherheit der ganzen Lebenslage, die zu einer überhasteten und möglichst viel erraffenden Genußgier führte […].73

Die beiden Berliner Suchtmediziner argumentierten, dass es neben dieser kriegsbedingten Veränderung der Bevölkerung vor allem die Entfremdung von geregelter Arbeit und häufig auch die Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz in der Nachkriegszeit gewesen sei, die, zumal nach Jahren des Verzichtes, zu einem gesteigerten und vergröberten »Rauschbedürfnis« geführt habe.74 Diese Stimmungslage finde ihren Ausdruck »in der Tanzwut, der massenhaften Eröffnung flachster Unterhaltungsstätten [und] der ungenierten Entfaltung der Prostitution«. All dies, so das Fazit Joëls und Fränkels, bilde einen »günstigen Boden« für die Ausbreitung des Kokainismus.75 Auch der Charlottenburger Sanitätsrat Max Edel machte »die ungewöhnlichen seelischen Anspannungen des Weltkrieges« für die Ausbreitung des Betäubungsmittelkonsums verantwortlich: »Alle Leidenschaften sind wach geworden: die Tanzwut, der Spiel­spleen, der Filmfimmel, der Konzertraptus, der Theaterkoller.«76 An diesen Zitaten zeigt sich mithin deutlich, dass die Vergnügungsindustrie als ursächlich für die Ausbreitung des Kokainismus angesehen wurde und sich das Bedrohungs­ szenario eines erhöhten Drogenkonsums so in die Schmutz- und Schunddebatte der Weimarer Republik einschrieb, in der die Vergnügungskultur per se diskreditiert wurde.77 So kann es nicht überraschen, dass im Betäubungsmitteldiskurs der Weimarer Republik der Hinweis auf Akteure des großstädtischen Vergnügungslebens virulent war. Der Cuxhavener Mediziner Arnold Kohfahl kam 1926 beispielweise zu dem Schluss, dass Drogenkonsumenten »unter Artisten zweiten Ranges, Berufsmusikern, Kellnern, kurz unter all den Berufen, die in Nachtlokalen ihr Brot verdienen«, zu finden seien.78 Ganz ähnlich liest sich die Charakterisie72 Zur Krisenmetapher der Weimarer Republik vgl. Föllmer u. Graf, Die Krise der Weimarer Republik. 73 Joël u. Fränkel, Der Cocainismus, S. 14. 74 Ebd. 75 Ebd. 76 Edel, Reiz und Betäubung. Vgl. hierzu auch die Kapitel oben über Tanzvergnügen, Populärmusik und Unterhaltungstheater. 77 Vgl. zum sog. »Schundkampf« oben, S. 15. 78 Kohfahl, Über Heroinmißbrauch, S. 88.

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rung der Kokainkonsumenten in einer Monographie zur straf- und zivilrechtlichen Stellungnahme gegen den Rauschgiftmißbrauch aus dem Jahre 1927: Für den Kokainismus bildet vielfach das Halbweltmilieu den Ausgangspunkt. Die Kranken werden häufig selbst Rauschgifthändler im Kleinen. […] Besonders häufig finden sich solche kleinen Kokainhändler unter Kellnern, Garderobeangestellten, Kaffeehausmusikern, Chauffeuren, der weiblichen wie der männlichen Prostitution.79

Obwohl der Drogendiskurs der Weimarer Republik den Eindruck vermittelt, dass es sich bei den Kokainkonsumenten um eine fest umrissene Gruppe, namentlich die Akteure des metropolitanen Nacht- und Vergnügungsleben handelte, greift diese Deutung zu kurz. So betonten Joël und Fränkel, dass sich das »Treiben« des Kokainismus nicht auf »Halbwelt- und Bohêmekreise« beschränke, »sondern daß es sich gerade auch in den Kreisen der proletarischen Jugend« abspiele.80 Oder, um es mit den Worten des Reichsinnenministers­ Martin Schiele aus dem Jahre 1925 zu formulieren: »[E]s ergibt sich, daß heutzutage nicht nur die Kreise der Halbwelt und die Degenerierten, sondern Leute aus fast allen Schichten der Bevölkerung, dem Kokainismus fröhnen«.81 Eine steigende Verbreitung des Kokainismus konnte statistisch jedoch, auch in Berlin, zunächst nicht nachgewiesen werden. Die Klage der Mediziner, dass es bezüglich des tatsächlichen Drogenkonsums keine verlässlichen Zahlen gebe, wurde während der gesamten Weimarer Republik immer wieder laut.82 Die meisten Ärzte waren aber von einer Zunahme des Kokainismus aufgrund der spezifischen Nachkriegssituation überzeugt und beriefen sich dabei auf ihre Erfahrungen aus der Praxis.83 Des Weiteren war die Idee der ›Proselytenmacherei‹ zentral für das zeitgenössische Bild des Kokainismus. Die Mediziner gingen von der Vorstellung aus, dass die Kokainisten ihre Mitmenschen zum Kokainkonsum überreden und sich dieser dadurch immer weiter verbreitet. Joël und­ Fränkel betonten, dass die eigentliche Gefahr des Kokainismus im »infektiösen Charakter« der Sucht bestünde.84 Im Mai 1921 schrieb das Reichsministerium des Inneren an die Landesregierungen, es sei zu »vermuten, daß der Schleichhandel mit Kokain weiter besteht 79 Fraeb u. Wolff, Rauschgiftmißbrauch, S. 87. 80 Joël u. Fränkel, Der Cocainismus, S. 15. 81 Missbrauch von Kokain, Morphin und anderen Betäubungsmitteln (2.3.1925), in: GStA PK I. HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B, Jüngere Medizinalregistratur Band 1, Nr. 1217 (Verkehr mit Giften, Generalia, 1925–1928, Mrz.-Nov.). 82 Das Preußische Wohlfahrtsministerium wollte zwar eine Enquete zum Drogenkonsum (1918 hatte bereits eine Enquete zum Alkoholkonsum stattgefunden) veranlassen, diese wurde von der Reichsregierung aber aus finanziellen Gründen abgelehnt. 83 So stützt sich beispielweise Glaserfelds Artikel Ueber das gehäufte Auftreten des Kokainismus in Berlin auf Krankengeschichten von vier Konsumenten, die er selbst behan­ delt hat. 84 Joël u. Fränkel, Der Cocainismus, S. 15.

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und vielleicht noch zugenommen hat«.85 Konkreter Auslöser war eine im Februar 1921 in Berlin ausgehobene »Kokainhöhle«. Die Polizei war bei der Suche nach einem Hehlernest auf eine Kellerwohnung am Waterloo-Ufer 12 in BerlinKreuzberg gestoßen, in der Kokain verkauft und konsumiert wurde. Der dort lebende Kellner Willy Beckmann verfügte über einen »großen Vorrat Kokainpäckchen«, den er an »Angehörige aller Gesellschaftsklassen« verkaufte. Ferner ließ er die Kokainpäckchen durch »junge Burschen« auch in Berliner Nachtlokalen vertreiben.86 Hier zeigt sich wieder die eingangs schon angesprochene Verbindung des Kokainismus zum Berliner Nacht- und Vergnügungsleben, ferner deutet sich an, dass es sich beim Kokainkonsum im Berlin der 1920er Jahre um ein schichtenübergreifendes Phänomen handelte. Nach dem Bekanntwerden dieses Falles forderte die Reichsregierung die Länder auf, »das Treiben in gewissen Vergnügungsstätten unausgesetzt zu beobachten und dadurch sowie durch scharfe Überwachung verdächtiger Schankwirtschaften, Drogengeschäfte usw. den Missbrauch und den unerlaubten Schleichhandel mit Kokain mit allen Kräften zu bekämpfen.«87 Es ist anzunehmen, dass aufgrund solcher Aufforderungen in den folgenden Jahren Personen, die in derartigen Stätten verkehrten, von der Polizei besonders aufmerksam beobachtet wurden und demzufolge häufiger als Drogenkonsumenten auffällig wurden.88 Das Schreiben des Innenministeriums hatte sogar zur Folge, dass bei der Berliner Polizei eine eigene Betäubungsmittelabteilung eingerichtet wurde. Da die Umfrage des Reichsgesundheitsamtes im Jahre 1919 keine konkreten Zahlen bezüglich des Kokainkonsums hervorbrachte, waren die Mediziner auf Schätzungen angewiesen. Diese bezogen sich jedoch nur auf Berlin, weil die Diskutanten den Kokainismus eben im Großstadtleben verorteten und von der Annahme ausgingen, dass die Reichshauptstadt besonders betroffen sei. Gleichwohl wurde in der Denkschrift über die gesundheitlichen Verhältnisse des deutschen Volkes 1925 darauf hingewiesen, dass der »Mißbrauch von Rausch­ giften«, der ursprünglich in der »Lebewelt« verbreitet gewesen wäre, sich mehr und mehr auch in weniger wohlhabenden Kreisen einbürgere und auch kein »bedauerliches Vorrecht der Großstädte« mehr sei.89 Ernst Joël vermutete 1923, dass in Berlin »einige Tausend« dem Kokain verfallen seien. Er betonte aber, dass diese Zahl »doch im Wachsen ist«, und forderte seine Kollegen auf, »noch lebhafter als bisher an der Bekämpfung des Kokainmißbrauchs« teilzuneh85 Zit. n. Hoffmann, Morphiumpralinees und Opiumzigaretten, S. 264. 86 Vgl. dazu die Berichterstattunng über die »Kokainhöhle am Waterlooufer« in der Berliner Tagespresse: Aushebung einer Kokainhöhle, in: Vossische Zeitung, 23.2.1921; Die Kokain­ höhle am Waterloo-Ufer, in: Vossische Zeitung, 24.02.1921; Die Kokain-Höhle am Water­ loo­ufer, in: Vossische Zeitung, 3.5.1921. 87 Zit. n. Hoffmann, Drogenkonsum und -kontrolle, S. 104. 88 Vgl. ebd. 89 Zit. n. Hoffmann, Von Morphiumpralinees und Opiumzigaretten, S. 268 f.

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men.90 Auch der Berliner Hygieniker Martin Hahn ging 1925 von einer ähnlichen Zahl aus; er schätzte, »daß in Berlin 5000–6000 Kokainsüchtige leben«.91 Es war schließlich Karl Bonhoeffer, Ordinarius der Psychiatrischen und Nervenklinik der Berliner Charité, der im September 1925 die erste statistische Untersuchung zum Drogenkonsum vorlegte. Er hatte anhand von Krankenhausstatistiken der Städte Berlin, Hamburg, Frankfurt am Main, Köln, Dresden, Leipzig, München und Wien die Ausbreitung des Morphinismus und Kokainismus untersucht. Bonhoeffer hob aber gleich zu Beginn seiner Studie hervor, dass eine solche Anstaltsenquete »natürlich nicht den tatsächlichen Umfang des gewohnheitsmäßigen Mißbrauchs« widerspiegele, da sich nur die »schwersten Fälle« in den Kliniken sammeln würden.92 Der Kokainist entzöge sich meist dem klinischen Kontext. Bonhoeffer begründete dies vor allem damit, »daß viele Kokainschnupfer den Kokainrausch zu Hause oder noch häufiger im Kreise der Genossen ausschlafen« würden und Entzugserscheinungen bei ihnen meist weniger ausgeprägt seien als bei den Morphinisten.93 Der große Teil der »Gelegenheitsschnupfer«, also der Konsumenten, die Kokain gelegentlich und zum Vergnügen zu sich nahmen, war demnach statistisch nicht zu erfassen, die Fälle von besonders schwerem Kokainmissbrauch wurden aber registriert.94 So verwundert es nicht, dass die drei großen öffentlichen Berliner Anstalten zusammen mit der Berliner Charité im Jahre 1924 lediglich 41 Kokainisten aufnahmen.95 In der Psychiatrischen und Nervenklinik der Berliner Charité wurden während der gesamten Zeit der Weimarer Republik lediglich 75 Patienten und 10 Patientinnen mit der Diagnose »Cocainismus« behandelt.96 Diese Zahlen illustrieren einerseits, welch marginale Rolle der Kokainismus im klinischen Kontext spielte, und verdeutlichen so andererseits, dass es nahezu unmöglich ist, verlässliche Angaben über den hedonistischen Kokainkonsum im Berlin der Weimarer Republik zu erhalten. Statistiken spiegeln nur einen Teil  des Konsums wider, namentlich den problematisch und auffällig gewordenen, und erfassen nur die Nachfrage, die über legale Kanäle befriedigt wurde. Eines sollte jedoch deutlich geworden sein: Eine »Drogenwelle«, mithin eine gefährliche Verbreitung des Kokainismus, lässt sich in den 1920er Jahren, auch in der angeblichen »Kokainmetropole« Berlin, statistisch nicht belegen. Zeitgenössische 90 Joël, Kokainismus, S. 819. 91 Springer, Kokain, S. 77. 92 Bonhoeffer u. Ilberg, Über Verbreitung und Bekämpfung des Morphinismus und Kokainismus, S. 229 f. 93 Ebd., S. 230. 94 Vgl. ebd. 95 Vgl. ebd. S. 234 f. 96 Charité Diagnosebücher Frauenabteilung (DB W 1.02–DB W 1.05), Charité Diagnosebuch Männerabteilung (DB M 1.08). Das Diagnosebuch für die Jahre 1927–1932 ist nicht mehr erhalten. Für diese Jahre diente das Aktenfindbuch als Quelle.

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Quellen deuten jedoch auf einen regen Kokainhandel in den Vergnügungsvierteln der Reichshauptstadt hin und legen so den Schluss eines unauffälligen und unproblematischen hedonistischen Kokainkonsums nahe. Im Drogendiskurs der Weimarer Republik wurde jedoch immer wieder über eine Gefährdung der Volksgesundheit durch den hedonistischen Betäubungsmittelkonsum diskutiert. Diese diskursiv erzeugte Bedrohung war letztlich das einzige Sachargument zur Einführung des Opiumgesetzes in Deutschland.

6.3 Gesetzliche Rahmenbedingungen und internationale Dimensionen Kokain und Opiate waren im Deutschen Reich schon vor der Einführung des ersten deutschen Opiumgesetzes von 1920 nicht mehr frei verkäuflich. 1901 wurde die Verordnung betreffend den Verkehr mit Arzneimitteln erlassen, die vorschrieb, dass einige hundert Stoffe – darunter auch Kokain und Opium mit ihren Alkaloiden und Salzen – nur noch in Apotheken verkauft werden durften. Für Heilmittelverschreibung war zwar ein Rezept notwendig, die Betäubungsmittel durften aber auch zu anderen Zwecken abgegeben werden. Im Frühjahr 1910 stimmte der Reichstag für strengere Maßnahmen gegen die unautorisierte Weitergabe und den Verkauf von Kokain und Morphium. Aus Akten des Kaiserlichen Gesundheitsamtes geht hervor, dass einerseits lasche Verschreibungspraktiken von Seiten der Ärzte vermutet wurden und andererseits der vermehrte Absatz von Genussmitteln, die Arzneistoffe enthielten (wie etwa Morphiumpralinees), Besorgnis erregte.97 In den Münchener Neuesten Nachrichten wurde im März 1910 berichtet, dass es in Berlin und Hamburg »Konditoreien« gebe, in denen »Einspritzungen« verabreicht und »Opium- und Morphium-Pralinees« kursieren würden.98 Auch in einem Bericht des Kaiserlichen Gesundheitsamtes hieß es, dass in den beiden Metropolen immer mehr »Morphiumläden« eröffneten, die Injektionen zur Linderung »angespannter Nerven« zum Preis von 5–10 Mark pro Anwendung anböten.99 Seit 1909 fanden wiederholt internationale Opiumkonferenzen statt, die dort geschlossenen Opiumabkommen von 1912 (Den Haag), 1925 und 1931 (Genf) legten den Grundstein für die heutige Drogenpolitik.100 Deutschland ratifizierte das Abkommen der ersten internationalen Opiumkonferenz von Den Haag allerdings nicht. Einerseits war das Deutsche Reich der größte Alkaloidproduzent und hatte kein Interesse an einer Einschränkung der Alkaloidproduktion, weil 97 98 99 100

Vgl. Hoffmann, Von Morphiumpralinees und Opiumzigaretten, S. 261–262. A. S., Narkotika, in: Münchener Neueste Nachrichten, 10.3.1910. Stöckmann, Sucht und Rausch, S. 32. Das Opiumgesetz von 1929 hatte über vierzig Jahre nahezu unverändert Bestand. Vgl. Wriedt, Drogengesetzgebung, S. 13.

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es wirtschaftliche Nachteile gegenüber anderen Nichtunterzeichnerstaaten befürchtete. Andererseits war die deutsche Regierung davon überzeugt, dass die bislang ergriffenen innenpolitischen Maßnahmen völlig ausreichend waren. Bis in die 1920er Jahre hinein zielte die Betäubungsmittelkontrolle des Deutschen Reiches nicht auf den hedonistischen Konsum, vielmehr ging es darum, den medizinischen Umgang mit den Substanzen zu regeln.101 Dies lag nicht zuletzt daran, dass das Laster der Kokainsucht aus deutscher Sicht nicht als ein nationales Problem wahrgenommen wurde.102 Virulent war die Gedankenfigur der Infizierung durch andere Nationen in Folge des Ersten Weltkriegs.103 Joël und Fränkel formulierten es so: In der Tat hatten sich eine große Anzahl von russischen Feldzugsteilnehmern, besonders Intellektuelle und Offiziere, dem Cocaingenuß ergeben. Aus diesen Kreisen rekrutierten sich nun Personen, die nach der russischen Revolution auf deutscher Seite gegen die rote Armee, in welcher übrigens ebenfalls Cocain geschnupft wurde, kämpften, und diese waren es, wie uns immer wieder übereinstimmend mitgeteilt wurde, die die Unsitte auch in den deutschen Truppenverbänden einführten. Es ist geradezu erstaunlich, wieviel ehemalige Angehörige der Freikorps man unter den Berliner Cocainisten findet.104

Es überrascht daher nicht, dass einige derer, die im Berlin der 1920er Jahre wegen Kokainhandels vor Gericht gestellt wurden, russische Emigranten waren.105 Aber auch Frankreich wurde beschuldigt, den Kokainismus nach Deutschland gebracht zu haben. Französische Offiziere hätten dabei eine wichtige Rolle gespielt, schrieb der Berliner Nervenarzt Alfred Kauffmann 1924. So sei Kokain »durch das berüchtigte ›Loch im Westen‹« eingeströmt, gerade »als im Lande 101 102 103 104 105

Vgl. Hoffmann, Drogenkonsum und -kontrolle, S. 56. Joël u. Fränkel, Der Cocainismus, S. 14. Vgl. Stöckmann, Sucht und Rausch, S. 53. Joël u. Fränkel, Der Cocainismus, S. 14. Im September 1926 wurde der Fall einer internationalen »Kokainschiebergesellschaft« vor dem Berliner Landgericht verhandelt. Ein Apotheker, der Gerichtssachverständiger für Rauschgifte war, hatte das ihm zur Prüfung überlassene Kokain nicht, wie vorgesehen, an Apotheken weiterverkauft, sondern auf dem Schwarzmarkt in Umlauf gebracht. An diesem Geschäft waren u. a. der Apotheker, ein Drogist, drei ehemalige russische­ Offiziere sowie zwei russische Kaufleute beteiligt. Die russischen Emigranten begründeten ihre Taten mit ihrer prekären wirtschaftlichen Situation, was mithin ein zeit­ genössischer Topos war. Dies nimmt nicht wunder, denn die Metropole Berlin war nach der Revolution in Russland 1917 und dem anschließenden Bürgerkrieg zum Zentrum der russischen Emigration geworden. In den frühen 1920er Jahren lebten circa 300.000 russische Flüchtlinge in Berlin. Dank der starken Stellung des Rubels zwischen 1919 und 1923 konnten viele Russen in der Spreemetropole zunächst ein relativ komfortables Leben führen. Mit der Stabilisierung der deutschen Währung seit Ende 1923 wurde ihnen die wirtschaftliche Basis jedoch weitgehend entzogen. Vgl. Kokainschiebungen eines Gerichtssachverständigen, in: Vossische Zeitung, 13.9.1926. Zur russischen Emigration nach Berlin vgl. Schlögel, Berlin. Ostbahnhof Europas.

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die bürgerliche Ordnung sich wieder zu festigen begann«.106 Das Zentrum des französischen Kokainhandels wurde in Paris, namentlich im Quartier Latin und in Montmartre verortet. Das Kokain werde von dort in künstlichen Blumen, gefüllten Mandarinen, Medaillons, Gitarrenböden, ja sogar in kleinen­ Fächern in Beinprothesen von Kriegsinvaliden über die Grenze geschafft.107 In Frankreich wiederum wurde behauptet, dass die »drogue allemande«  – so wurde Kokain damals bezeichnet, denn es war von einem Deutschen entdeckt worden – in großen Mengen von Deutschland aus ins Land geschmuggelt werde. Der französische Abgeordnete Dominique Delahaye bezeichnete Deutschland im französischen Parlament gar als illegalen Drogenlieferanten: »Les boches continuent encore à nous approvisionner par la poste.«108 In der populären Zeitschrift Les lectures pour tout hieß es im August 1922 überdies, dass Deutschland durch den Kokainschmuggel »heimtückischerweise den Krieg gegen Frankreich, nämlich durch Untergrabung seiner Volksgesundheit« fortführe; es war gar die Rede von einer »offensive chimique«.109 Dagegen mutet die Annahme des Pharmakologen Walther Straub, dass »mit Tango und Foxtrott […] nun als weitere Segnung aus Amerika auch der Kokainismus bei uns eingezogen«, der indes »von Kundigen längst erwartet« worden sei, nahezu harmlos an.110 Vorwürfe, andere Nationen würden Drogen einschmuggeln, um den Feind zu schwächen, waren in vielen Ländern verbreitet und finden sich bis in den Zweiten Weltkrieg hinein. Die genannten Beispiele machen deutlich, dass Be­ täubungsmittel dazu dienten, rassistisch-nationalistische Stereotype zu transportieren und den jeweiligen Gegner politisch und moralisch zu diskreditieren.111 So wurde die Drogenthematik in bereits bestehende Feindbilder integriert und als fremdartig definiert, wie es auch Marek Kohn in Bezug auf Großbri­ tannien formuliert hat: »Drugs were seen as a foreign phenomenon, at a time of extreme xenophobia.«112 Mit der Unterzeichnung des Versailler Vertrages nach Kriegsende verpflichtete sich Deutschland allerdings dazu, das Abkommen von Den Haag zu ratifizieren. 1920 erließ die Regierung der jungen Weimarer Republik mit der Verordnung über den Verkehr mit Opium und anderen Betäubungsmitteln vom 20. Juli 1920 das erste deutsche Opiumgesetz.113 Gegenstand des Gesetzes war 106 Kauffmann, Kokainismus und Morphinismus, S. 396. 107 Joël u. Fränkel, Der Cocainismus, S. 14. 108 Journal officiel de la République française. Débats parlementaires, Séance du 27 Janvier 1916, S. 23. Übersetzung: »Die Boches versorgen uns weiterhin per Post.« Das Wort B ­ oches ist eine abwertende Bezeichnung für die Deutschen. 109 Joël u. Fränkel, Der Cocainismus, S. 21. 110 Straub, Kokainismus. Zum Transfer des Tangos nach Berlin vgl. das Kapitel zum Tanzvergnügen. 111 Vgl. Hoffmann, Drogenkonsum und -kontrolle, S. 95. 112 Kohn, Dope Girls, S. 30. 113 Zur Entstehung des deutschen Opiumgesetzes vgl. Briesen, Drogenkonsum und Drogenpolitik, S. 49–54.

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jedoch nur der Handel mit Betäubungsmitteln, womit der Sinn und Zweck der Haager Konvention verfehlt wurde, welche die Kontrolle der internationalen Produktion sowie der In- und Exporte zum Ziel hatte. Auf internationalen Druck hin und angesichts der wachsenden Beunruhigung über den nicht aus ärztlicher Verordnung resultierenden Drogenkonsum in der Nachkriegszeit wurde ein neues Gesetz verabschiedet. Die überarbeitete Fassung, das Gesetz zur Ausführung des Internationalen Opiumabkommens vom 23.  Januar 1912, trat am 30.  Dezember 1920 in Kraft. § 1 führte eine allgemeine Aufsichtspflicht des Reichsgesundheitsamtes für die Einfuhr, Ausfuhr, Herstellung, Verarbeitung und den Verkehr von Morphium, Heroin und Kokain ein.114 Für Import, Export, Herstellung und Verarbeitung, Handel, Erwerb und Veräußerung wurde eine Erlaubnis benötigt. § 3 beschränkte die legale Abgabe der Stoffe auf Apotheken; der Handel durch Drogisten und andere Stellen wurde somit illegalisiert. Ferner war die Abgabe an Privatpersonen nur noch unter Vorlage eines ärztlichen Rezeptes zu Heil­ zwecken erlaubt.115 Das erste deutsche Opiumgesetz verbot Betäubungsmittel also nicht, sondern regelte den Umgang mit ihnen. Erwerb und Besitz waren weiterhin möglich, weil die Stoffe als Heilmittel gebräuchlich waren. Menschen, die Drogen – ob aus medizinischen oder aus hedonistischen Motiven heraus – konsumierten, standen also nicht im Fokus des Gesetzes, denn der Konsum selbst wurde nicht illegalisiert.116 Das Opiumgesetz war vielmehr ein Handels- als ein Konsumentenkontrollgesetz. Das Gesetz machte keine genauen Vorschriften für die Verwendung der Substanzen. Weder der Konsum von Betäubungsmitteln aus anderen als medizinischen Gründen war ausdrücklich verboten noch untersagte das Gesetz explizit eine ärztliche Verschreibung zur Versorgung Abhängiger; bis Mitte der 1920er Jahre verfügten Mediziner bei der Verschreibung von Betäubungsmitteln über einen großen Ermessensspielraum.117 Dass dieser auch ausgeschöpft wurde, illustriert die Aussage des Kaufmanns Walter K., der am Abend des 19. September 1921 aufgrund eines Kokain- und Alkoholrausches auf der Straße zusammenbrach und von Passanten gegen seinen Willen in die Charité gebracht wurde. Er schnupfte »fast täglich« zwei Gramm Kokain.118 K. gab an: »Er hätte viel Cocain auf Rezept bekommen, die Ärzte schrieben meist ›ad usum proprium‹, ein Arzt hätte geschrieben ›zum Schnupfen‹.«119 114 Vgl. ebd., S. 51. 115 Ebd. 116 In Frankreich hingegen wurde mit dem Gesetz vom 12. Juli 1916 die »usage en société«, der »Konsum in Gemeinschaft« verboten; vgl. Hoffmann, Drogenkonsum und -kontrolle, S. 83. 117 Vgl. Briesen, Drogenkonsum und Drogenpolitik, S. 53. 118 HPAC M, 3232/1921. 119 Ebd., Ad usum proprium ist lateinisch und heißt übersetzt »zum eigenen Gebrauch«.

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1926 wurde jedoch ein Präzedenzfall geschaffen, der großes Aufsehen erregte und die medizinische Verschreibungspraxis grundlegend veränderte: Der Mediziner Dr. Bier aus Dresden wurde vom Reichsgericht am 5. Oktober 1926 verurteilt, weil er zwischen September 1924 und Januar 1925 mehr als 3.000 Rezepte über mindestens 3.000 Gramm Kokain ausgestellt und an »Kokainschnupfer« abgegeben hatte.120 Diese verwendeten die Rezepte größtenteils zum Erwerb von Kokain aus Apotheken, verkauften sie aber auch an andere Konsumenten weiter. Nach dem Urteil des Reichsgerichts hatte sich Dr. Bier wegen unerlaubten »Inverkehrbringens« von Betäubungsmitteln und wegen Beihilfe zum unerlaubten Erwerb strafbar gemacht.121 In der Urteilsbegründung hieß es unter Bezugnahme auf das Den Haager Opiumabkommen von 1912, dass der Verbrauch von Betäubungsmitteln auf den »medizinischen Gebrauch« beschränkt werden und »insbesondere der regelmäßige Gebrauch zu bloßen Genuss­zwecken« verhindert werden solle.122 Wie die Urteilsbegründung verdeutlicht, war hedonistischer Drogenkonsum fortan von staatlicher Seite verboten. Der Gesetzgeber hatte bis dahin einen Spielraum gelassen, der mit diesem Urteil explizit eingeschränkt wurde. Nun richtete sich der Fokus des Gesetzes  – neben den Medizinern und Pharmazeuten – auch auf die Konsumenten, denn die Abgabe von Betäubungsmittel an Süchtige war nur noch dann rechtmäßig, wenn gleichzeitig eine Therapie erfolgte.123 Weil eine ärztliche Verschreibung an Süchtige nicht mehr möglich war, mussten die Konsumenten ihren Bedarf nun anderweitig decken; sie wurden so in die Illegalität abgedrängt und kriminalisiert. In dieser Konsequenz hatte das Reichsgerichtsurteil von 1926 die vielleicht weitreichendsten Folgen für die Drogenpraxis in der Weimarer Republik.

6.4 Kokainhandel und -konsum Die Anzahl derer, die Kokain verkauften, kann  – ähnlich wie auch die Zahl der Kokainkonsumenten – nur schwer rekonstruiert werden. Die Niederschrift einer Besprechung, die am 2. Februar 1927 im Reichsgesundheitsamt stattfand, lässt aber die Dimensionen des Drogenhandels im Berlin dieser Zeit er­a hnen. Darin heißt es, »daß in Berlin täglich 3–4 derartige Fälle bei der Kriminalpolizei zum Verhör kämen«. Ferner gaben die beiden Berliner Suchtmediziner Ernst Joël und Fritz Fränkel, die in dieser Besprechung zugegen waren, zu, dass 120 Ebermeyer, Der Arzt und der Kokainschnupfer, in: Berliner Tageblatt, 9.11.1926. 121 Urteil des 1. Strafsenats des Reichgerichts in der Strafsache gegen Bier vom 5.10.1926, in: GStA PK I. HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B, Jüngere Medizinalregistratur Band 1, Nr. 1217 (Verkehr mit Giften, Generalia, 1925–1928, Mrz.–Nov.). Der Fall erregte deutschlandweit so große Aufmerksamkeit, dass der Reichsminister des Inneren den Wortlaut des Urteils an sämtliche Landesregierungen sendete. 122 Ebd. 123 Vgl. Briesen, Drogenkonsum und Drogenpolitik, S. 106.

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»man sich in Berlin im Schleichhandel jederzeit Kokain beschaffen könne«.124 Auch der Leiter des 1927 gegründeten Berliner Rauschgiftdezernates, der spätere Reichskriminalpolizeidirektor Arthur Nebe, berichtete in seinem Aufsatz Kriminalpolizei und Rauschgifte aus dem Jahre 1929, dass die Berliner Kriminalpolizei allmonatlich »gegen 90 bis 100 Personen […] wegen Vergehens gegen das Opiumgesetz« einschreiten müsse.125 Im Sommer 1930 wurden »sieben Kokainschieber« vor dem Berliner Landgericht angeklagt, 500 Gramm Kokain auf dem Schwarzmarkt in Umlauf gebracht zu haben.126 Das Kokain befand sich in einer Originalpackung der Braunschweiger Chininfabrik Buchler & Co und stammte aus einer Sendung, die ordnungsgemäß nach Prag ausgeführt worden war; dies verweist auf die Tatsache, dass die Kokainproduktion den Pharmakonzernen oblag. Die illegale Herstellung des Stoffes war aufgrund der hohen Kosten und der benötigten technischen sowie wissenschaftlichen Ressourcen einfach nicht möglich, so dass sich auch der Schwarzmarkt aus der legalen Kokainproduktion speiste. Kokainhandel auf der Straße, Rezeptfälschungen oder gar ärztlich verordnete Rezepte, Apothekeneinbrüche und Rauschgiftschmuggel waren die Wege, auf denen die Süchtigen zu ihrer Droge kamen, schrieb der Leiter des Berliner Rauschgiftdezernates Arthur Nebe 1929.127 Hinter Einbrüchen und Schmuggel standen oft Rauschgiftgroßhändler, der durchschnittliche Konsument aber versuchte, durch Rezeptfälschungen und Kleinhandel an die Droge zu gelangen. Mit gefälschten Rezepten wurde regelrecht Handel getrieben. So etwa durch Conrad Rosenthal, den morphiumsüchtigen Medizinstudenten, von dem zu Beginn dieses Kapitels schon einmal die Rede war. Er gab sich, obwohl er nie das Examen abgelegt hatte, als Arzt aus und ließ in »verschiedenen Betrieben« Rezeptformulare mit dem Namen Dr. Conrad Rosenthal sowie fingierten Adressen drucken. Diese Rezepte stellte er, je nach Bedarf seiner Kunden, auf Kokain oder Morphium aus; sich selbst verschrieb er Morphium. Rosenthal war in den Tanzdielen und Bars des Berliner Westens eine »bekannte Persönlichkeit«, hunderte von Rezepten mit seiner Unterschrift waren von Apotheken entgegengenommen worden, wie die Vossische Zeitung im April 1926 anlässlich seiner Verhaftung berichtete.128 124 Niederschrift über die Besprechung im Reichsgesundheitsamt am 2.  Februar 1927, in: GStA PK I. HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B, Jüngere Medizinalregistratur Band 1, Nr. 1217 (Verkehr mit Giften, Generalia, 1925–1928, Mrz.–Nov.). 125 Nebe, Kriminalpolizei und Rauschgifte, S. 61. 126 LAB A Rep. 358-01, Nr. 2650. Vgl. außerdem die Berichterstattung in der Berliner Tagespresse: Eine Bande Kokainschmuggler in Berlin verhaftet, in: Der Montag Morgen, 5.5.1930; Sieben Kokainhändler verhaftet, in: Die Welt am Abend, 05.05.1930; Ein Schlag gegen den Rauschgifthandel, in: Kreuzzeitung, 6.5.1930; 1 Kilo Kokain und sieben Händler, in: Berlin am Morgen, 6.5.1930. 127 Nebe, Kriminalpolizei und Rauschgifte, S. 81. 128 Die Gönner der Kokainisten, in: Vossische Zeitung, 9.4.1926. Vgl. außerdem Rezepte für ›eigenen Gebrauch‹, in: Berliner Tageblatt, 9.11.1926.

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Einige Monate später, im September 1926, wurde der Kellner Wilhelm Oberg »auf dem Potsdamerplatz« verhaftet, er trug 30 Kokainbriefe bei sich, die er zum Verkauf anbot.129 Das Kokain hatte er vom Berliner Suchtmediziner Fritz Fränkel auf Rezept erhalten, gedacht war es für eine Entziehungskur. Dieses Beispiel verweist einerseits darauf, dass es selbst für ausgesprochene Betäubungsmittelexperten schwierig war, den tatsächlich süchtigen Patienten vom potentiellen Kokainhändler zu unterscheiden, und belegt andererseits, dass »Betäubungsmittel, die auf den Straßen und in Vergnügungsstätten erhältlich waren, von Mengen herstammten, die ärztlich verschrieben worden waren«, wie der Innenminister bereits im März 1925 vermutet hatte.130 Meist aber, so Nebe in seinem Aufsatz von 1929, würden den Ärzten Rezeptblöcke aus der Praxis gestohlen. Dass dies auch in Berlin der Fall war, illustriert etwa das Beispiel des Medizinstudenten R. Obst, der sich bei mehreren Berliner Ärzten als Kollege vorstellte und diese kurze Unterhaltung nutze, um Rezeptformulare zu stehlen. Auch er füllte die Rezepte auf Kokain und Morphium aus: Obst fälschte den Namen des Arztes, bei dem er die Formulare entwendet hatte. Er beschaffte sich so in Apotheken »größere Mengen« an Kokain und Morphium, die er dann »unterderhand« verkaufte. Bei dem Versuch, in der ­Charité Rezeptformulare zu entwenden, wurde Obst schließlich festgenommen.131 Die genannten Beispiele verdeutlichen, wie virulent die Praxis des Rezeptfälschens zum Zwecke der Rauschgiftbeschaffung war. Darauf reagierte die Reichsregierung durch die Novellierung des Opiumgesetzes von 1929, indem amtliche Rezeptformulare eingeführt wurden und Kokain sowie zahlreiche andere Stoffe nicht mehr in Substanz verschrieben werden durften.132 Die Berliner Suchtmediziner Ernst Joël und Fritz Fränkel hatten bereits 1927 gefordert, Kokain in Apotheken nicht mehr in Form eines »gut versteckbaren, leicht zu schmuggelnden kleinen Pulver[s]« sondern als »unhandliche Lösung« abzugeben, um den Kleinhandel mit Kokain einzudämmen.133 Dieser Kokainkleinhandel lief oft nach einem typischen Muster ab, wie ein Fall aus dem Jahre 1931 exemplarisch illustrieren soll: Dem 60-jährigen, stellungslosen Portier Stephan Bugaiski wurde zur Last gelegt, »im Westen Berlins einen schwunghaften Handel mit Kokain« betrieben zu haben.134 Er hielt sich »allabendlich« in einem Lokal in der Nürnberger Straße 17, einer Seiten-

129 GStA PK I. HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B, Jüngere Medizinalregistratur Band 1, Nr. 1238 (Verkehr mit Giften, Bd. 21, Spezialia, 1926–1927, Nov.-Jan.). 130 Missbrauch von Kokain, Morphin und anderen Betäubungsmitteln (2.3.1925), in: GStA PK I. HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B, Jüngere Medizinalregistratur Band 1, Nr. 1217 (Verkehr mit Giften, Generalia, 1925–1928, Mrz.-Nov.). 131 Ein Medizinstudent als Rauschgifthändler, in: Vossische Zeitung, 28.9.1927. 132 Vgl. Briesen, Drogenkonsum und Drogenpolitik, S. 109 f. 133 Joël u. Fränkel, Öffentliche Maßnahmen, S. 1055. 134 LAB A Rep. 358-01, Nr. 2670.

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straße des Tauentzien, auf, wo er von seiner Kundschaft aufgesucht wurde. Dem Schankwirt des Etablissements und einigen Gästen fiel das Benehmen ­Bugaiskis auf. Er habe sich häufig »mit Gästen auf die Toilette« begeben und sei auch »wiederholt an das Telefon gerufen« worden.135 Nach den Telefongesprächen sei er meist auf die Straße gegangen und »stets nach 5–20 Minuten« zurückgekommen. Es scheint daher evident, dass Bugaiski seine Kokaingeschäfte auf der­ Toilette abwickelte; ferner ist zu vermuten, dass Bugaiski sein Kokain auch in der näheren Umgebung des Lokals verkaufte und dort ein Kokainversteck hatte. »Der Kokainhändler führt seine Ware niemals bei sich, sondern hält sie versteckt, um bei einer polizeilichen Kontrolle nicht überführt zu werden«, heißt es in einem Polizeibericht aus dem Jahre 1930.136 Dass das Verstecken des Kokains eine gängige Praxis der Berliner Drogenhändler – vor allem im Straßenhandel – war, konstatierte auch Arthur Nebe. Er betonte, dass die Kokainhändler »manchmal recht eigenartige Verstecke« wählten.137 Ein Beispiel sei zur Illustration angeführt: Im Juni 1926 wurde der 31-jährige Kellner Friedrich Hinrichsen, der seinen Kunden auch unter dem Namen »Koksfred« bekannt war, festgenommen. Er hatte in der Winterfeldtstraße in Berlin-Schöneberg mit Kokain gehandelt, dabei nutze er ein »sehr geschickt ausgewähltes Versteck«: ein Firmenschild in einer Haustürnische.138 Gängige Kokainverstecke waren Hutfutter, Strumpfbänder und Handschuhe mit Stulpen. Diesen Eindruck vermitteln zumindest Schulungsfotografien der Berliner Kriminalpolizei aus dem Jahre 1925, auf denen typische Situationen nachgestellt waren (siehe Abb. 45–47).139 Bugaiski hatte 14 Kokainbriefchen in einer Zigarettenschachtel versteckt bei sich, die Briefchen trugen verschiedene Bezeichnungen. Dies sei, so ist es dem Polizeibericht zu entnehmen, »ein Trick der Kokainhändler, um sich feste Kundschaft zu sichern«. Die nicht gekennzeichneten Kokainpäckchen würden etwas weniger Kokain als die gekennzeichneten enthalten und an Kunden verkauft, »die zum ersten Mal oder nur selten als Abnehmer erscheinen«.140 Unklar bleibt jedoch, ob die nicht gekennzeichneten Päckchen tatsächlich weniger Kokain enthielten oder ob das sich darin befindliche Kokain gestreckt war. Das Strecken der Ware war nämlich eine gängige Praxis der Kokainhändler, um ihren Verdienst zu erhöhen. Arthur Nebe sowie die Berliner Suchtmediziner Joël und Fränkel berichteten übereinstimmend, dass die Kleinhändler das Kokain,

135 Ebd. 136 LAB A Rep. 358-01, Nr. 2651. 137 Vgl. Nebe, Kriminalpolizei und Rauschgifte, S. 84. 138 Kokain hinter dem Firmenschild, in: Vossische Zeitung, 28.6.1926. 139 Ob es sich hierbei wirklich um Erfahrungen aus der polizeilichen Ermittlungspraxis handelte oder ob die Polizei nur vermutete, dass die genannten Verstecke typisch seien, geht aus den Abbildungen selbst nicht hervor. 140 LAB A Rep. 358-01, Nr. 2670.

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Abb. 45: Kokainbriefchen im Hutfutter

welches sie von den »Großhändlern« bezögen, »mit recht viel billigen Streckmitteln, wie Borax, Natron, Salz, Soda und dergleichen« mischen und in Briefchen, sogenannte »Prisen«, verpacken würden. Ein solches Päckchen enthalte dann nur noch 0,05–0,07 Gramm »bereits gestreckter Ware«, lediglich 25–30 Prozent des Pulvers seien Kokain.141 Der Preis der Ware betrage, unter Berücksichtigung des fälschenden Zusatzes, das »fünf- bis zehnfache des Apothekenpreises«. Der Rezepturpreis in der Apotheke betrug drei Mark pro Gramm »so daß das Geschäft der Händler recht einträglich ist«.142 Aus zeitgenössischen Quellen geht hervor, dass ein Gramm Kokain im Berliner Straßenhandel Ende der 1920er Jahre zwischen fünf und acht Mark kostete. Bugaiski wiederum verlangte einen Preis zwischen einer Mark und 1,50 Mark, allerdings pro Päckchen. Obwohl die 141 Nebe, Kriminalpolizei und Rauschgifte, S. 84; Joël u. Fränkel, Der Cocainismus, S. 18. 142 Joël u. Fränkel, Der Cocainismus, S. 18.

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Abb. 46: Kokain-Päckchen unter dem Strumpfband

Preise für Kokain also durchaus differierten, wird mittels des Vergleichs zum Apothekenpreis die hohe Gewinnspanne des Kleinhandels deutlich. Bugaiski wurde zu einer dreimonatigen Haftstrafe verurteilt. Er stellte ein Gnadengesuch, in dem er seine Tat mit »bitterster Not«, in die er »wegen langer Stellungslosigkeit« geraten sei, begründete und versicherte, »sich zu einer solchen nie wieder hinreissen zu lassen«.143 Bugaiskis Gnadengesuch wurde jedoch abgelehnt. In der Begründung hieß es, das Treiben des Verurteilten sei »äußerst gefährlich gewesen«. Er sei vorbestraft und es sei keine begründete Aussicht vorhanden, »daß der Verurteilte sich in Zukunft gut führen wird«.144 Das Gericht behielt mit dieser Vermutung recht: Am 10.  September 1932 war 143 LAB A Rep. 358-01, Nr. 2670. 144 GStA PK I. HA Rep. 84a Justizministerium, Nr.  56737 Verstoß des Pförtners Stephan­ Bugaiski aus Berlin gegen das Opiumgesetz (1932).

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Abb. 47: Handschuh mit Stulpe, unter der die Kokainpäckchen sitzen

in der Vossischen Zeitung zu lesen, dass in einem Nachtlokal in der Marburger Straße – ebenfalls eine Seitenstraße des Tauentzien – der Portier der Bar,­ Stephan Bugaiski, wegen Kokainhandels festgenommen worden war.145 Fällt es schon für die Gegenwart schwer, Aussagen über den hedonistischen Drogenkonsum zu treffen, weil dieser stigmatisiert ist und viele Menschen solches Verhalten nicht offen thematisieren, so erscheint dies für die Vergangenheit noch schwieriger. Der »mit Betäubungsmitteln getriebene Missbrauch« spielt »sich seiner ganzen Natur nach im Verborgenem« ab, wusste der Reichsinnenminister Martin Schiele schon 1925.146 Doch einige wenige Quellen, namentlich 145 Das weiße Gift, in: Vossische Zeitung, 10.09.1932. 146 Missbrauch von Kokain, Morphin und anderen Betäubungsmitteln (2.3.1925), in: GStA PK I. HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B, Jüngere Medizinalregistratur Band 1, Nr. 1217 (Verkehr mit Giften, Generalia, 1925–1928, Mrz.-Nov.).

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die in Berlin betriebenen Recherchen Ernst Joëls und Fritz Fränkels sowie Krankenakten der Berliner Charité, vermitteln zumindest einen Eindruck der subjektiven Erfahrungsdimensionen des Kokainrausches und informieren ferner über die Praktiken und Motive des Konsums.147 Nach der Auffassung Joëls und Fränkels war »der moderne Cocainismus […] keine rein klinische, sondern auch eine soziale Erscheinung«.148 Ihre Recherchen stellten sie deshalb dort an, »wo sich das eigentliche Leben und Treiben dieser Cocainisten abspielt«, in den Berliner Kokainlokalen. Folglich blendete ihre Studie die Konsumenten, die Kokain diskret erwarben und zurückgezogen konsumierten, von vornherein aus. Kokainlokale gebe es, so die beiden Berliner Suchtmediziner in ihrer Untersuchung, über die ganze Stadt verteilt in unterschiedlichen Ausstattungen, zwischen »erbärmlicher Einfachheit« und »gesuchter Eleganz«.149 Auch der Berliner Pharmakologe Louis Lewin konstatierte 1924: »Es gibt Kokainhöhlen in Berlin, bessere oder schmutzstarrende Lokale, […] in denen Männer und Frauen aus allen Gesellschaftskreisen« verkehrten.150 Dies sind Indizien dafür, dass der Kokainkonsum im Berlin der Weimarer Republik ein schichtenübergreifendes Phänomen war und der Zugang zur Droge nicht sozial bestimmt, aber trotzdem sozial differenziert stattfand. Typisch für diese Etablissements, so Joël und Fränkel, sei, dass »alle Gäste einander kennen«, das Ganze mache oft einen »fast klubmäßigen Eindruck«.151 So berichtete beispielsweise die 29-jährige Kontoristin Gertrud N., die im April 1924 wegen ihrer Kokainsucht in der Charité behandelt wurde, dass sie viel in »cocainistischen Kreisen« verkehre, etwa in Lokalen in der Friedrichstadt, »wo sie jederzeit, auch wenn ihr das Geld ausgegangen«, Kokain bekäme.152 Joël und Fränkel hielten sich vor allem in den »eleganten Lokalen des [Berliner]­ Westens« auf, wo das wohlhabende Bürgertum mit der »kostspieligeren Halbwelt« zusammentraf. Ihnen wurde von Konsumenten berichtet, dass in dieser Szene fast ­jeder seine Cocainbüchse bei sich trage, das Schnupfen sei kein heimlicher und unerlaubter Genuss, »eine Prise würde kaum anders als ein Glas­ Kognak bestellt«.153 Diese Äußerungen der Konsumenten verweisen einerseits darauf, dass der Kokainkonsum in bestimmten Kreisen keiner Stigmatisierung unterlag. Andererseits legt die Aussage aber auch die Vermutung nahe, dass die Konsumenten ihr Kokain nicht nur über Kleinhändler und Straßenhandel erwerben, sondern es in einschlägigen Lokalen ähnlich wie ein Getränk bestellen konnten. 147 Zum historischen Quellenwert von Krankenakten vgl. Radkau, Quellenwert von Patientenakten. 148 Joël u. Fränkel, Der Cocainismus, S. 1. 149 Ebd., S. 16. 150 Lewin, Phantastica, S. 111. 151 Joël u. Fränkel, Der Cocainismus, S. 16. 152 HPAC F, 564/1924. 153 Joël u. Fränkel: Der Cocainismus, S. 16. Vgl. dazu auch oben, S. 196.

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In den Kokainlokalen spielte die »wechselnde Qualität der Ware« als Gesprächsthema »eine oft geradezu beherrschende Rolle (›Fabelhafte Ware heute abend‹, ›stark gemischt‹, ›garantiert reine Mercksche Ware‹ usw.)«. Manche Konsumenten untersuchten gar an »Ort und Stelle ihr Pulver«, indem sie die Intensität und Wirkungsgeschwindigkeit des anästhesierenden Effekts an der Zungenspitze erprobten.154 Anders verhielt es sich dagegen im Straßenhandel. Der Journalist Paul Marcus berichtet in seinen Memoiren, dass ihm auf dem Kurfürstendamm, als er sich auf den Weg in den Tanzpalast Rote Mühle am Kurfürstendamm 115 befand, von einem Händler Kokain angeboten wurde: »Koks gefällig?« flüsterten Händler, den Kragen hochgeschlagen, auf den abend­ lichen Straßen. Die bis dahin wenig bekannte Droge wurde gleich berolinisiert und hieß nun »Koks«. Wollte man aus Neugier auch einmal koksen, bekam man für fünf Mark ein wie ein Arzneipülverchen verpacktes Etwas in einem Hausflur in die Hand gedrückt. Man schnupfte das weiße Zeug verstohlen. Oft verspürte man keinerlei Wirkung, weil das »Koks«, das auch »Schnee« hieß, nur Kartoffelmehl oder Kalk war.155

Dieses Beispiel verdeutlicht, dass unerfahrene Konsumenten, die die Droge nur gelegentlich und aus hedonistischen Gründen zu sich nahmen, mit gefälschtem Kokain abgespeist wurden. Kokain wurde auch oft zusammen mit Alkohol sowie in Gesellschaft konsumiert und war so eingebunden in das nächtliche Vergnügungsleben der Konsumenten, wie etwa das Beispiel des 32-jährigen Kaufmanns Paul Z. illustriert, von dem wir am Beginn des Kapitels schon einmal gehört haben: Er war bereits angetrunken, als er am Abend des 18.  November 1924 verschiedene Lokale aufsuchte: zunächst das Restaurant Aschinger am Alexanderplatz, dann das ­Etablissement Gerold am Oranienburger Tor, unweit des Vergnügungsviertels um die Friedrichstraße. Um 20 Uhr kaufte er »in einem Lokal in der Besselstraße« Kokain. Der Kaufmann schnupfte noch im Etablissement »etwa 2 Gramm« und begab sich dann in die nahegelegene Friedrichstraße, wo er ein ihm »bekanntes Mädchen« traf.156 Gegen 21 Uhr fuhren beide in seine Wohnung in der Novalisstraße 1 am nördlichen Ende der Friedrichstraße. Dort konsumierte er »nochmal 2 Gramm Kokain« und trank einen »Tassenkopf« voll Cognac. Danach verließ er das Haus wieder und begab sich »in eine Bar« in der Friedrichstadt. Sein Rauschzustand war jedoch schon so weit fortgeschritten, dass ihm eine Fortführung des Abends nicht mehr möglich war. Er wurde bewusstlos, woraufhin zwei Bekannte einen Krankenwagen riefen, der ihn in die Charité brachte.157 154 Ebd., S. 18. 155 Pem (= Paul Marcus), Heimweh nach dem Kurfürstendamm, S. 23 f. 156 HPAC , M 4387/1924. 157 Ebd.

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Laut Joël und Fränkel lässt sich der Kokainrausch in drei fließend ineinander übergehende Phasen unterteilen: das euphorische Stadium, das Rauschstadium und das depressive Stadium. Im euphorischen Stadium sei der Konsument in einer »freudig erhöhten Stimmungslage«, habe ein erhöhtes Selbstbewusstsein und einen gesteigerten Rededrang. Ferner fielen alle »Hemmungen und Widerstände« weg und der Kokainist verfüge über eine »motorische Lebhaftigkeit«, die sich in Tanzlust und »zwecklosem Umhergehen« äußere. Im Rauschstadium erfahre die Stimmungslage der Konsumenten dann »eine völlige Verwandlung«. In dieser Phase trete eine illusionäre Umdeutung der Umgebung ein, die getragen sei von gespannter, ängstlich gereizter Stimmung. An jeden »Cocainrausch« schließe sich dann auch noch eine Phase »körperlicher Erschlaffung«, das sogenannte Depressionsstadium, an.158 Die Berliner Suchtmediziner postulierten, dass »bei der überwiegenden Mehrzahl der Cocainisten« eine »sachliche Motivierung«, also etwa ein medizinischer Grund, für den Kokainkonsum fehlte.159 Die Personen, die »in den geschilderten Kreisen« verkehrten, würden »fast unfreiwillig an das weiße Pulver« geraten, weil sie »dessen erstaunliche Wirkungen bei ihren Kameraden oft bewundern«.160 Joël und Fränkel vertraten die Auffassung, dass die Konsumintensität des Milieus, in dem sich der einzelne Konsument bewege, die entscheidende Ursache für das Entstehen einer Abhängigkeit sei. Der Einstieg in den Kokainkonsum erfolge demnach nicht über ein positives Rauscherlebnis, sondern aus dem Bedürfnis, der Mode zu folgen: Zuweilen bekommt es ihnen nicht, oder sie verspüren nicht die geringste Wirkung. Dann aber wird meist aus bloßem Korpsgeist, aus Großmannssucht – nicht anders wie bei Tabak und Alkohol – trotzdem weitergeschnupft, zunächst also ohne jeden euphorischen Gewinn, bis es eines Abends doch zum gewünschten Effekt kommt, und dieser wird dann möglichst bald reproduziert.161

Dieses »gesellige Moment« und damit die Ausbreitung des Kokainkonsums wurde laut Joël und Fränkel erst möglich durch die neue Mode des Schnupfens: Es ist ein in der Geschichte der Genußgifte wohl einzigartiger Fall, daß mit der bloßen Änderung der Applikationsweise, hier also mit dem Ersatz der Injektion durch die Prise, eine alte und schon fast abgetane Toxikomanie wieder neu aufkommt, jetzt aber ein ganz anderes Gepräge hat als früher. Eine Spritze kann man niemand anbieten, wohl aber eine Schnupfdose […].162

158 Joël u. Fränkel, Der Cocainismus, S. 36–48. 159 Ebd., S. 16. 160 Ebd. 161 Ebd. 162 Ebd., S. 17.

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Dieses Zitat verweist darauf, dass die Applikationsform des Schnupfens in den 1920er Jahren die gängigste Form des Kokainkonsums darstellte. Ein Blick auf die Quellen bestätigt dies. Viele Patientinnen und Patienten, die wegen ihres Kokainkonsums in der Charité behandelt wurden, konsumierten die Substanz nasal. Die Praktik des Kokainschnupfens beschrieben Joël und Fränkel wie folgt: Der Kokainist nehme »seine Prise« meist »am Tische sitzenbleibend« mittels einer Nagelfeile oder direkt aus der »Cocainbüchse« zu sich.163 Obwohl Joël und Fränkel, wie eben zitiert, bei der »überwiegenden Mehrzahl der Cocainisten« keine sachlichen Gründe für deren Kokainkonsum konstatierten, betonten sie aber auch, dass es in einzelnen »Verhältnissen noch gewisse sachliche Motivierungen« gebe.164 So etwa im Fall des 20-jährigen L. E., der als Kellner in einem »Animierlokal« tätig war. Er habe das Kokainschnupfen »auf den Rat von Freunden« begonnen, um beim Bedienen »in seinem Schanklokal«, »wo er gedrungenerweise viel mittrinken mußte«, nüchtern zu bleiben. Dies sei insofern gelungen, »als die Alkoholwirkungen gegenüber den Cocainwirkungen in den Hintergrund traten«.165 Selbst das Taumeln der Betrunkenheit, so L. E., könne schnell durch Cocain aufgehoben werden. Aus diesen Äußerungen des K ­ ellners geht hervor, dass er Kokain nicht aus hedonistischen Gründen heraus konsumierte, sondern um seiner Arbeit »besser standhalten zu können«.166 Auch der Schriftsteller Franz Rothenfelder konsumierte Kokain, um besser arbeiten zu können, so ist es seiner Krankenakte zu entnehmen. Er begründete seinen Kokainkonsum damit, dass durch den Kokainrausch »ein wahrer Arbeitstummel« ausgelöst werde.167 Rothenfelder schildert in dem von ihm verfassten Eigenbericht des Patienten Rothenfelder über seinen Cocainismus eindrücklich die Wirkung, die das Kokain bei ihm hervorrief: »[E]s stellte sich das Gefühl völliger Leichtigkeit und Klarheit ein, ja, dies gesteigerte sich bis zur Wunschlosigkeit, ohne das Bewußtsein eines Rausches zu erzeugen.« Der Schriftsteller betonte, dass sich dieser Zustand positiv auf seine »Arbeitstätigkeit und Beweglichkeit« auswirke und das Kokain ihm »nicht Mittel zum Genuß, sondern zur Arbeit« war. Er habe das Gefühl »ohne irgend wie hasten zu müssen in vollständiger Klarheit und Sicherheit Gedanken bis zum Abschluss aneinanderreihen zu können«. Die Zeit schien ihm »im Zustand der Kokainbelebung« aufgehoben zu sein.168 Rothenfelder begann jedoch mit der Zeit, unter den Halluzinationen des Kokainrausches zu leiden. In anderen Krankenakten deutet sich hingegen an, dass Kokain durchaus auch aus hedonistischen Motiven, zur Steigerung des »Amusement« und um das positive Erlebnis des Kokainrausches herbeizuführen, konsumiert wurde: So berich163 Ebd., S. 18. 164 Ebd., S. 16. 165 Ebd., S. 92. 166 Ebd., S. 16. 167 HPAC M, 6778/1925. 168 Ebd.

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tete der 30-jährige Postschaffner Gustav W., der im Oktober 1925 wegen seiner Kokainabhängigkeit in die Charité kam, dass er seit 1919 »nebenbei mit Cocain gehandelt habe« und seitdem »auch Kokain schnupfe«. Er habe in erster Zeit »aus Gaudium« alle zwei bis drei Tage »einige Prisen geschnupft« und »allmählich einen Gefallen daran gefunden« und sich schließlich daran gewöhnt. Nach jeder Prise habe er »ein aufmunterndes, lustiges Gefühl« gehabt, sei sehr munter und redselig gewesen. Hunger und Müdigkeit habe er seitdem nicht mehr gekannt.169 Auch die 29-jährige Kontoristin Gertrud N. gab an, dass sie durch eine Freundin, eine Apothekerstochter, zum Kokain gekommen sei. Nach dem ersten Genuss des Kokains habe sie sich »so leicht und unternehmungslustig« gefühlt, sie habe eine Art Rausch bekommen, »so als ob sie ein wenig angetrunken [sei], dabei aber ganz klar im Kopf«. Am nächsten Tage habe sie wieder geschnupft, »weil der Zustand so angenehm war«.170 Sie habe es dann nicht mehr lassen können. Ihre resignierendes Fazit: »Aus Übermuth habe ich es begonnen und nachher ist es bitterer Ernst geworden.«171 Diese Aussage illustriert eindrucksvoll, dass der Kokainkonsum eine Form des Vergnügens war, die mitunter gefährlich werden und in eine Sucht führen konnte. Die genannten Beispiele verdeutlichen, dass die Motive der einzelnen Konsumenten für ihren Kokainkonsum durchaus verschieden waren und sich aus deren individuellen Lebensumständen herleiteten. Die meisten der in der Charité behandelten Patientinnen und Patienten nahmen Kokain aus hedonistischen Motiven zu sich, um durch das positive Erlebnis des Kokainrausches ihre Stimmung zu verbessern und eventuelle Sorgen zu vergessen. Dass Kokain zur Steigerung der Arbeitskraft konsumiert wurde, bildete eher eine Ausnahme. Auffällig ist, dass Frauen im Betäubungsmitteldiskurs der Weimarer Republik weder als Kokainkonsumentinnen noch als Diskutantinnen eine große Rolle zukam.172 Dass in der Psychiatrischen und Nervenklinik der Berliner­ Charité in der Weimarer Zeit nur zehn Kokainistinnen aufgenommen wurden, bedeutet jedoch nicht, dass Frauen die Droge seltener konsumierten. Es deutet vielmehr darauf hin, dass der Kokainkonsum von Frauen eher unauffällig und unproblematisch verlief. Als Indiz dafür, dass auch Frauen Kokain konsumierten, kann ferner die Tatsache gewertet werden, dass die Berliner Juwelierfirma Gebrüder Friedländer im März/April-Heft 1925 der illustrierten Zeitschrift Die deutsche Elite »2 kleine goldene Dosen für Kokain« bewarb. Die Zeitschrift richtete sich mit 169 HPAC M, 3961/1925. 170 HPAC F, 564/1924. 171 Ebd. 172 Die Vossische Zeitung berichtete während der gesamten Weimarer Republik lediglich von einem Fall, in dem eine Frau aufgrund ihres Kokainkonsums Aufsehen erregte: Im Juni 1926 sprang die Filmschauspielerin Ottilie Müller infolge eines Kokainrausches auf die Gleise des Hochbahnhof Bülowstraße, sie wurde jedoch vom Fahrdienstleiter gerettet; vgl. Der Kokain-Rausch der Filmschauspielerin, in: Vossische Zeitung, 22.6.1926.

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Abb. 48: Werbeanzeige der Firma Friedländer, 1925

einem Preis von »2 Mark für die Einzelnummer« vor allem an die »wohlhabenden Bevölkerungsschichten und die Lebewelt« (siehe Abb. 48).173 Der Begleittext der Anzeige lautete: Was schenkt man einer Dame zu Ostern? Den galanten Herren, die ihren Damen zu Ostern eine Aufmerksamkeit erweisen wollen, ist es diesmal leicht gemacht worden. Die deutsche Elite hat für sie eine Auswahl von Geschenken zusammengestellt, die jedem Geschmack Rechnung tragen. Ob man in Berlin ist, ob man draussen auf dem Lande fern von den gleissenden Auslagen eleganter Läden wohnt, es ist jedem gleich bequem gemacht, etwas Schönes oder Originelles zu finden. Denn auch Ostern ist das Fest des Schenkens für die kleinen und für die grossen Kinder.174

Dass eine illustrierte Zeitschrift »2 kleine goldene Dosen für Kokain« gemeinsam mit anderen Accessoires in einer »Auswahl von Geschenken« anpries, scheint zunächst die These Martina Gunkelmanns zu bestätigen, die von einer »kulturellen Integration des Kokains in der Nachkriegszeit und den frühen zwanziger Jahren« spricht.175 Hält man sich jedoch vor Augen, dass der Präsident des Reichsgesundheitsamtes Franz Bumm persönlich zu der Werbeanzeige Stellung nahm und diese »als ein ausserordentlich bedenkliches Anzeichen für die Ausdehnung der Kokainsucht« wertete, woraufhin die Firma Friedländer eine Ermahnung erhielt, wird deutlich, dass Gunkelmanns Interpretation zu kurz greift.176 173 GStA PK I. HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B, Jüngere Medizinalregistratur Band 1, Nr. 1237 (Verkehr mit Giften, Bd. 20, Spezialia, 1926, Aug-Okt.). 174 Die deutsche Elite. Das Blatt der Gesellschaft 2 (1925), Nr. 3, S. 167. 175 Gunkelmann: Geschichte des Kokains, S. 367. 176 GStA PK I. HA Rep. 76 Kultusministerium VIII B, Jüngere Medizinalregistratur Band 1, Nr. 1237 (Verkehr mit Giften, Bd. 20, Spezialia, 1926, Aug-Okt.).

Kokainkonsum

6.5 Zwischen Vergnügen und Verfall: Kokain in Kunst und Kultur Gleichwohl lässt sich der Kokainkonsum in der Weimarer Republik durchaus als ein kulturelles Phänomen begreifen, übte er doch auf die Zeitgenossen – vor allem auf Angehörige des Kulturlebens wie Intellektuelle und Künstler – eine besondere Faszination aus.177 Der Drogenkonsum schien eine besondere Stimmung zu transportieren, die der Nachkriegszeit, als Reaktion auf Krieg und Umbruch, offensichtlich eignete. Die allgemeine Unsicherheit und Verzweiflung einerseits verband sich dabei mit dem Verlangen nach Zerstreuung, Vergnügung und Extremen andererseits.178 Der Schriftsteller Stefan Zweig sah im Drogenkonsum, ähnlich wie die Diskursteilnehmer in der Betäubungsmitteldebatte, ein Symptom der Zeit und brachte diesen mit der politischen und moralischen Ausnahmesituation im besiegten Deutschland in Verbindung: Eine Epoche begeisterter Ekstase und wüster Schwindelei, eine einmalige Mischung aus Ungeduld und Fanatismus. Alles, was extravagant und unkontrolliert war, erlebte goldene Zeiten […] Alles, was äußerste Spannungen über die bisher bekannten hinaus versprach, jede Form des Rauschgifts, Morphium, Kokain und Heroin, fand reißenden Absatz, in den Theaterstücken bildeten Inzest und Vatermord, in der Politik Kommunismus oder Faschismus die einzig erwünschte extreme Thematik; unbedingt verfemt hingegen war jede Form der Normalität und der Mäßigung.179

Literatur und Film widmeten sich mit zunehmender Begeisterung der Thematik und entwarfen ein Bild des Kokains, das zwischen Vergnügen und Verfall oszillierte. Der Kokainismus wurde auch hier immer wieder mit der Großstadtkultur Berlins in Verbindung gebracht, so etwa in der 1918 erschienenen Novelle Kokain des Expressionisten Walter Rheiner. Der Autor schilderte darin das Leben des jungen Kokainisten Tobias im Berlin des Jahres 1918. Der Protagonist vergnügte sich im Trubel der »klirrenden Cafés« rund um den Kurfürstendamm, ging aber schließlich an seiner Kokainsucht zugrunde.180 Der Text kann als biographischer Schlüsseltext Rheiners gelesen werden, nahm er doch den Suizid des kokainsüchtigen Autors im Jahre 1925 vorweg.181

177 Vgl. etwa Kupfer, Göttliche Gifte. 178 Vgl. Stöckmann, Sucht und Rausch, S. 54. 179 Stefan Zweig, Die Welt von gestern, S. 344. 180 Rheiner, Kokain, S.  7; zur Kokainliteratur der Zwischenkriegszeit vgl. Jeanine Atai, Kokain­literatur in der Zwischenkriegszeit. 181 Der Schriftsteller Franz Wolfgang Koebner (1887–1978) schrieb eine Kurzgeschichte mit dem Titel »Cocain«, in der eine junge Frau ebenfalls aufgrund ihrer Kokainabhängigkeit Suizid begeht; vgl. Koebner, Cocain, S. 6–11.

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Obwohl sich die zeitgenössische Vergnügungskultur vor allem auf die angenehmen Seiten der Metropole Berlin konzentrierte, kam der Kokainkonsum in der Populärmusik der Zwischenkriegszeit durchaus zur Sprache, wurde er doch von denen, die ihn praktizierten, zumeist positiv gesehen. So heißt es etwa in dem 1919 von Fritz Ostini geschriebenem Lied Wir schnupfen und wir spritzen in der ersten Strophe: Einst ward uns durch den Alkohol, Das süße Ungeheuer, Zu Zeiten kannibalisch wohl Doch jetzt kommt das zu teuer Und wir Berliner greifen drum Zu Kokain und Morphium Mag’s donnern drauß’ und blitzen Wir schnupfen und wir spritzen!182

Der Drogenkonsum erfuhr hier eine positive Bewertung und wurde zugleich – durch den Vergleich mit Alkohol – als etwas Alltägliches dargestellt. Dieser Effekt wurde noch durch die Aussage verstärkt, ausnahmslos alle »Berliner« würden sich dem Genuss von Kokain und Morphium hingeben. Auch der Berliner Gassenhauer Mutter, der Mann mit dem Koks ist da aus dem Jahre 1886, der in den 1920er Jahren von Claire Waldoff gesungen wurde, erhielt im Kontext des Kokainismus dieser Zeit eine gewisse Zweideutigkeit, mit der die Sängerin bewusst spielte.183 Doch Kokain wurde im Berlin der 1920er Jahre nicht nur besungen: Die Nackttänzerin Anita Berber, die in zahlreichen Kabaretts, Klubs und Varietés der Spreemetropole auftrat, feierte mit ihren Tänzen des Lasters, des Grauens und der Ekstase 1923 ihre größten Erfolge.184 Den Höhepunkt dieses Programms bildete der Tanz Kokain, nach einem Gedicht ihres Ehemannes Sebastian Droste und nach der Musik von Camille-Saint-Saëns La dance macabre, opus 40 (siehe Abb. 49). Mit diesem Gedicht und dem dazugehörigen Tanz verkörperte Anita Berber gleichsam die außeralltägliche Erfahrung des Kokainrausches und machte diesen so in gewisser Weiße für ihr Publikum erfahrbar. Der tschechische Tänzer und Choreograph Josef Jenčík hielt die Tänze Kokain und Morphium für die »wesentlichsten und persönlichsten künstlerischen Schöpfungen« Anita Berbers, »die stellenweise bis an die pathologische Studie eines brillanten Pantomimen grenzen«.185 Den Tanz Kokain beschrieb er folgendermaßen:

182 183 184 185

Kemper, Kokain in der Musik, S. 238. Vgl. ebd., S. 240; zum Entstehungskontext des Gassenhauers oben, S. 129. Vgl. Fischer, Anita Berber, S. 99–128. Fischer, Anita Berber, S. 104.

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Abb. 49: Anita Berber, Kokain

Also Totenstille und schwere Regungslosigkeit: […] Offenbar der erste schwere Anprall des furchtbaren Giftes, der den Körper gelähmt hat. Die Seele ringt sich irgendwo mühsam zur früheren Herrschaft über den Körper durch. Kaum sichtbare Zuckungen der einzelnen Körperpartien deuten es an. […] Die Tänzerin stellt sich mechanisch auf die Beine. Anscheinend ist sie eine Marionette im grausamen Spiel zwischen dem Gift und der Herztätigkeit.186

Anita Berber wusste, was sie da tanzte, ihr Ehemann Sebastian Droste brachte sie zum Kokain. Die Tänzerin stand offen zu ihrem Kokainkonsum: Im November 1922 spritzte sie sich in einem Caféhaus in Wien, vor allen anderen Gästen, Kokain in den Oberschenkel. Gegenüber dem Feuilletonchef des Berliner Tage­ blatts, Fred Hildenbrandt, bekannte sie freimütig: »Ich weiß genau, was mit mir los ist. Ich bin verkommen. Ich schnupfe Kokain. Ich habe schon entzündete Nasenflügel davon, sehen Sie her«.187 Berber hielt sich oft im Transvestitenlokal Eldorado in der Lutherstraße (heute Martin-Luther-Straße) in Berlin-Schöne­ 186 Ebd., S. 102 f. 187 Ebd., S. 132.

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berg auf. 1928, im Alter von nur 29 Jahren, verstarb Anita Berber  – eine der schillerndsten Figuren des Berliner Vergnügungslebens – schließlich infolge ihrer Kokain- und Morphiumsucht. Zahlreiche Beispiele aus zeitgenössischen Quellen belegen, dass zwischen dem nächtlichen Vergnügungsleben der Metropole Berlin zur Zeit der Weimarer Republik und dem hedonistischen Kokainkonsum eine direkte Verbindung bestand. Die von den Zeitgenossen in den 1920er Jahren postulierte ›Drogenwelle‹ war zwar eine diskursiv erzeugte Konstruktion, dennoch war der Kokainismus im Berlin der Weimarer Republik ein reales Phänomen. Beide Vergnügungsviertel der Reichshauptstadt, der Kurfürstendamm und die Friedrichstraße, waren Zentren des Kokainhandels und Kokainkonsums. Die Nachfrage nach Kokain wurde einerseits durch Kleinhandel in Lokalen, andererseits aber auch durch den Straßenhandel befriedigt, so dass es auch Gelegenheitskonsumenten, denen die einschlägigen Lokale nicht bekannt waren, möglich war, an die Droge zu gelangen. Die meisten Etablissements, in denen Kokain gehandelt und konsumiert wurde, lagen jedoch nicht im Zentrum der Vergnügungsviertel, also nicht direkt auf dem Kurfürstendamm oder in der Friedrichstraße, sondern sie befanden sich vielmehr in den Seitenstraßen – ein Zeichen dafür, dass der Kokainkonsum ein illegales Vergnügen war und mithin ein eher verborgener Teil der Berliner Vergnügungskultur. Die Berliner Vergnügungsviertel um die Friedrichstraße und den Kurfürstendamm galten mit ihrem rasanten Verkehr und ihrer gleißenden Lichtreklame als Symbole urbaner Modernität im Herzen der Metropole. Zugleich waren sie auch Räume, in denen gesellschaftliche Tabus berührt und verletzt werden konnten, so gab es in jedem Vergnügungsviertel ein »gewisses Maß an Kriminalität«.188 Ferner generierte die Anwesenheit vieler Touristen am Kurfürstendamm und in der Friedrichstraße eine Anonymität, die es auch den Berlinerinnen und Berlinern erlaubte, sich unbeobachtet und ungehemmt zu vergnügen.189 Das Vergnügungsviertel war mithin der urbane Raum, in dem Neues ausprobiert und Außeralltägliches erfahren werden konnte. In diesem Sinne lässt sich der hedonistische Kokainkonsum im Berlin der Weimarer Republik als ein Phänomen des »Vergnügungstaumels« der 1920er Jahre deuten, dem laut Gottfried Korff als »Angstausgleich« eine wichtige politische Funktion zukam.190

188 Becker, Das Vergnügungsviertel, S. 150. 189 Vgl. ebd., S. 157. 190 Korff, Berliner Nächte, S. 87.

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7. Ausblick

Weltstadtvergnügen in Berlin! Internationale Starensembles und aufregende neue Tänze, Amüsement am Kurfürstendamm und Ausgehen in der Friedrichstraße, Musik am Tag und erst recht in der Nacht, Überschreitung der gewöhnlichen Erfahrung auch durch Drogenkonsum: Die Bilder versunkener Vergnügungsorte können faszinieren und man staunt, wie Menschen in der Hauptstadt und Weltmetropole Berlin schon vor hundert und mehr Jahren Ablenkung von ihrem Alltag suchten und welche Angebote ihnen dafür zur Verfügung standen. Aus der Perspektive des frühen 21. Jahrhunderts mischen sich dabei Reaktionen der Fremdheit und Verwunderung mit solchen des Wiedererkennens. Manches von dem, was die Berlinerinnen und Berliner ebenso wie die Besucher der Stadt in Entzücken versetzte und von einer noch strahlenderen Zukunft träumen ließ, kommt uns heute altmodisch, exotisch oder naiv vor. Und es mögen sich nostalgische Gefühle einstellen: So wie damals wird die Friedrichstraße nie wieder sein! Oder: Warum verläuft heute eine Stadtautobahn zwischen Rathenauplatz und Funkturm, wo früher der Lunapark lockte? Aber wir stoßen auch auf Spuren, die trotz der vielfach gebrochenen Geschichte Berlins im 20.  Jahrhundert in die Gegenwart führen. Das MetropolTheater gibt es nicht mehr, aber die Komische Oper setzt an gleicher Stelle seine Tradition fort, irgendwo zwischen Hoch- und Populärkultur. Die Gegend um die Friedrichstraße hat nach der Wiedervereinigung eine Renaissance erlebt. Die Fruchtstraße, einst Zentrum des proletarischen Vergnügens,1 heißt seit 1971 »Straße der Pariser Kommune«. Aber um sie herum hat sich in Friedrichshain eine neue Topographie von kommerzieller Unterhaltung und nächtlichem Ausstieg aus dem Alltag etabliert, deren Hauptattraktionen wie das Berghain, ähnlich wie in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, in keinem internationalen Reiseführer fehlen dürfen. Und weiter: In der Teilungszeit stand die Insel WestBerlin zwar ohne das alte Stadtzentrum da, aber profitierte von dem, was sich um 1900 als »Berlin W« um Kurfürstendamm und Tauentzienstraße an Infrastruktur von Konsum, Kommerz und Unterhaltung herausgebildet hatte, vom KaDeWe bis zu den populären Theaterbühnen. So bietet dieses Buch Bausteine zu einer Archäologie der modernen Freizeitund Konsumgesellschaft in Berlin, denn solche ›Ausgrabung‹ hat immer beide Seiten: Sie ruft in Erinnerung, was es unwiderruflich nicht mehr gibt, aber sie 1 Vgl. Hochmuth u. Niedbalski, Kiezvergnügen in der Metropole.

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lässt zugleich Kontinuitäten erkennen und Spuren lesen, in denen wir uns in der Gegenwart wiederentdecken und unsere Herkunft verstehen können. Man könnte sagen: Die Freizeit- und Vergnügungskultur Berlins zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik war neuartig, wollte neu und modern sein und das auch selbstbewusst zeigen; sie war sozusagen ihrer Zeit voraus, jedenfalls insofern, als Freizeit- und Konsumgesellschaft unserer Tage damals noch in weiter Ferne lagen und Lebensstilkonzepte der Selbstverwirklichung, des Genusses und des Hedonismus allenfalls in kleinen, experimentellen Nischen der Gesellschaft zu existieren begannen. Wer sich Berlin und andere Metropolen der vorletzten Jahrhundertwende im Spiegel ihrer Vergnügungskultur, ihrer Freizeitinstitutionen, ihrer Infrastruktur der Außeralltäglichkeit vor Augen führt, muss achtgeben, die Proportionen nicht aus dem Auge zu verlieren. So viele Stecknadeln sich auf einem Stadtplan von 1902 oder 1926 an Orte des Vergnügens stecken lassen, so dicht das Netzwerk der »tausend Freuden«2 geknüpft war: Für die meisten Menschen galten in ihrem Alltag andere Stadtpläne, sie orientierten sich, zugleich selbstverständlich und notgedrungen, an anderen Koordinaten. Berlin war Industriemetropole, Arbeiterstadt, proletarische Hauptstadt. Im Vordergrund stand die alltägliche Lebensbewältigung, die Sorge um Nahrung, Kleidung und Wohnung für sich selber und die Familie, und damit die Erwerbsarbeit, in der Regel an sechs Tagen mit Ausnahme des Sonntags. Die ersten Wege führten hunderttausende Berlinerinnen und Berliner nicht ins Theater oder in den Vergnügungspark, noch nicht einmal ins Ausflugslokal, sondern in die großen Fabriken, in die kleinen Handwerksbetriebe im Kiez, oder zum Putzen, Kochen und Wäschemachen in die bürgerlichen Haushalte des Westens. Die Omni­busse, die Straßenbahnen, die Vorortzüge dienten zuerst der Überbrückung von Arbeitswegen. Produktion und elementare Reproduktion standen vor dem Konsum und der Unterhaltung. Aber das war noch nicht alles. Neben die Stadtpläne des Vergnügens und der Arbeit müsste man andere Pläne mit ihren eigenen ›Stecknadeln‹ legen. Berlin im Kaiserreich war in einem heute, erst recht zwei Jahrzehnte nach dem Abzug der Besatzungsmächte, nicht mehr vorstellbaren Ausmaß Militärstadt. Kasernen und Exerzierplätze, die einst vor den Toren der Stadt angelegt worden waren, wurden im Zuge der rasanten Expansion und des Wachsens der Vorstädte in die Metropole hineingesaugt wie der große Tempelhofer Exerzierplatz, aus dessen östlichem Teil in den 1920er Jahren der Flughafen wurde. Offiziere und Soldaten prägten das Stadtbild, auf den Straßen, in Geschäften, mit eigenen Garnisonkirchen und mischten sich, soweit ihnen das möglich war, unter diejenigen, die Vergnügen suchten. Das Militär prägte die Kultur des Vergnügens, zum Beispiel in der Omnipräsenz der Militärmusik.  – Wieder andere Stadtpläne würden die rasch expandierende soziale Infrastruktur der Millionen­ 2 Vgl. Becker, Littmann u. Niedbalski, Die Stadt der tausend Freuden.

Ausblick

stadt zeigen: die Krankenhäuser und Waisenhäuser, die Heime und diakonischen Einrichtungen, in denen weit entfernt von allem hedonistischen Genuss und sorglosen Vergnügen die Sorge um das elementare physische und psychische Wohlergehen von zehntausenden Einwohnern der Hauptstadt im Vordergrund stand; teils in staatlicher oder kommunaler, teils in kirchlicher Trägerschaft. Überhaupt würde ein weiterer Plan die religiösen und kirchlichen Orte verzeichnen, mit Dutzenden von Kirchen, Synagogen und Gemeindezentren, die seit der Reichsgründung diesen Teil der Versorgung der explosionsartig wachsenden Bevölkerung sicherstellen sollten. Selbst in den Vororten entstand neben der alten, viel zu klein gewordenen Dorfkirche die repräsentative Großkirche mit zusätzlichen Wohn- und Funktionsbauten, häufig im neugo­ tischen Backsteinstil. Die Weltstadt des Vergnügens ist also in vielfältiger Weise in Perspektive zu rücken. Aber das, wovon dieses Buch handelt, war alles andere als ein Randthema der großstädtischen Existenz, und schon gar nicht ein Lebensbereich, der weit entfernt von den ›eigentlichen‹ Realitäten des metropolitanen Alltags gelegen hätte. Das gilt, wie die einzelnen Kapitel gezeigt haben, in verschiedener Hinsicht. Die Kultur des Vergnügens war ein Stück weit außeralltäglich, sollte es sein und wurde häufig auch bewusst so, als eine Art Gegenwelt, inszeniert. Aber vor allem stellte sie für die neu gewordenen Großstädter selber eine Form der Lebensbewältigung dar, die zum Alltag dazugehörte oder, aus der Sicht der zahllosen aus ländlichen Regionen neu zugewanderten Berlinerinnen und Berliner, an die Stelle einer ländlichen, dörflichen, agrarischen Fest- und Freizeitkultur (sofern man hier schon von Freizeit sprechen konnte) trat. Mindestens ebenso wichtig: Die Welt des Vergnügens stand derjenigen der Arbeit, der Produktion, des kapitalistischen Marktes keineswegs diametral gegenüber, und schon gar nicht machte sie sich von deren Funktionsprinzipien frei. Das metropolitane Vergnügen der langen Jahrhundertwende konstituierte sich auf eine Weise, die gerade in Deutschland inzwischen verwundern mag, diesseits der öffentlichen Hand, in marktlichen Strukturen, in kapitalistischen Betriebs­ formen, in weitgespannten, nicht selten transnationalen Netzwerken der Verwertung und des Profitinteresses. Wer Vergnügen jenseits der Erwerbsarbeit suchte, wurde unweigerlich ein Teil dieser großen Maschine; und galt dies schon für die Kunden und kultu­ rellen Rezipienten, dann erst recht für ihre Agenten und Produzenten, für die Tänzerinnen und Schauspieler, die Musiker, das Küchenpersonal und die Bedienkräfte in den Vergügungslokalen und viele andere, von denen die Kapitel in diesem Buch gesprochen haben. Auch deshalb geht es hier um mehr als um die Archäologie einer verlorenen Welt, geschweige denn um ein Liebhaberthema für Freizeithistoriker fernab der mächtigen Hauptströmungen der Geschichte. Die Vergnügungskultur tritt vielmehr als ein Teil des urbanen Komplexes aus Ökonomie, Herrschaft und Lebensführung hervor und bezeichnet darin nicht einen exotischen Sonderraum, sondern trug wesentlich dazu bei, diese gewal-

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tige urbane Maschine überhaupt erst zu konstruieren. Das gilt in einem materiellen und objektiven Sinne, für die baulichen und technischen Infrastrukturen, die menschlichen Arbeitskräfte, die Netzwerke von Kapital und Profit. Es gilt aber auch in einem subjektiven Sinne, für die Konstruktion des sozialen Erfahrungsraums der Metropole, in dem die Bewohner ebenso wie die Besucher in neue Lebensformen und Strategien der Bewältigung der Moderne hineinsozia­ lisiert wurden, also für das, was in diesem Buch immer wieder als »innere Urbanisierung« angesprochen wird. Dieser soziale Raum erscheint in den Institutionen und Praktiken der Berliner Vergnügungskultur um 1900 als erstaunlich offen, als durchlässig und integrativ. Die neuen Formen der kommerziellen Massenkultur traten vielfach mit dem Anspruch (und nicht zuletzt dem ökonomischen Ziel) auf, eben dies zu sein: ein Produkt für die Massen, für weite Schichten der Bevölkerung, ohne Rücksicht auf ihre Klassenlage, ihre Herkunft, Ethnizität oder Konfession oder ihre Einbindung in spezifische Milieukulturen. Aber man muss aufpassen, dieses Bild nicht zu überzeichnen. Schon der Begriff der Masse, der Massenkultur oder der Massengesellschaft selber besaß für die Zeitgenossen vor gut hundert Jahren ebenso wie im heutigen wissenschaftlichen und allgemeinen Sprachgebrauch unterschiedliche Facetten. Er verweist auf den Gegensatz, oder besser: das Spannungsverhältnis, einer Massen- oder Populärkultur zu einer Hoch­kultur oder Kultur der Eliten. Darin setzte sich eine Unterscheidung der alteuropäischen frühneuzeitlichen Gesellschaft im hypermodernen Milieu der Großstädte fort. Auf der anderen Seite war die Differenzierung zwischen Hoch- und Popu­ lärkultur, zwischen »Highbrow« und »Lowbrow«,3 wie neuere Forschungen immer wieder gezeigt haben, erst ein Produkt des 19. Jahrhunderts, wobei die Trennlinie oft weniger zwischen den kulturellen Produkten verlief oder deren inhärenten oder objektiven Wert anzeigte, sondern sich an unterschiedlichen Praktiken und Verwendungszusammenhängen herausbildete, in denen ein und dasselbe Musikstück, Gemälde oder Shakespeare-Drama figurierte. Entsprechend unscharf war, wie auch viele Beispiele in diesem Buch zeigen, die Grenze zwischen Massenkultur und Hochkultur häufig gezogen, und Dynamiken entwickelten sich in unterschiedlicher Richtung: als trickle down-Effekt, wenn Produkte und Praktiken der Hochkultur ihren Weg in massenkulturelle Aneignung fanden, aber auch umgekehrt, als soziale Wanderung ›von unten nach oben‹, wenn urprünglich volks- oder gegenkulturelle Erfindungen wie der Tango oder die Jazzmusik im Laufe des 20. Jahrhunderts – auch weit über die 1920er Jahre hinaus – immer mehr zu Erkennungszeichen einer neuen bürgerlichen Elite und Avantgarde wurden. Die Ambivalenz der bürgerlichen Kultur ist unübersehbar. Einerseits neigte sie zu Tradition und Konventionalisierung, und auf Ausbrüche aus den etablierten Formen, wie sie auch in der neuen 3 Vgl. Levine, Highbrow/Lowbrow.

Ausblick

Massenkultur erprobt wurden, reagierte sie häufig mit moralischem Gestus, mit moralisierter Kulturkritik, mit moral panics. Andererseits gehörte zur Bürgerlichkeit der Kultur des späten Kaiserreichs und der Weimarer Republik, wie Thomas Nipperdey, Wolfgang J. Mommsen oder Wolfgang Hardtwig es beschrieben haben, auch die Avantgarde und das Experiment.4 Je mehr sich die bürgerliche Kultur als avantgardistisch verstand, umso stärker verfiel die populäre Kultur dem Verdikt des »U«, nämlich bloße kommerzialisierte Unterhaltungskultur ohne großen künstlerischen Wert zu sein. ›Masse‹ bedeutete aber auch, im Sprachgebrauch der Zeitgenossen und wiederum weit in die Gesellschaftsdiskurse des 20. Jahrhunderts hinein, den neuen Aggregatzustand der Gesellschaft überhaupt, wie er sich in den Groß­städten zuerst und auf prototypische Weise herausbildete und dessen Ambivalenz Beobachter wie Georg Simmel und viele nach ihm faszinierte: Die Masse war die schiere Zahl von Menschen, die einander auf engstem Raum begegneten, ohne sich persönlich zu kennen oder überhaupt irgendetwas miteinander zu teilen außer eben diese Form der massenhaften und – wie häufig kritisiert wurde – ›anonymisierten‹ und ent-individualisierten Lebensführung. Dennoch erkannte schon Simmel in seinem berühmten Essay über Die Großstädte und das Geistesleben ganz genau, dass dieselben Voraussetzungen, derselbe Kontext der großstädtischen Vergesellschaftung die Freiheit des Individuums und seiner Lebensgestaltung  – des individualisierten Lebensentwurfs, wie wir heute sagen würden – erst möglich machten.5 In diesem Sinne meint Massenkultur, unab­ hängig von einem möglichen Kontrast zur Hoch- oder Elitenkultur, unabhängig auch von einer großen Zahl Anwesender etwa in einem Vergnügungspark oder bei einem Fußballspiel, dass Einzelne sich in kulturelle Räume und Praktiken hineinstellen können, in denen sie ihre soziale Herkunft und Stellung hinter sich lassen können. Insofern stand die neue großstädtische Massenkultur des Vergnügens gegen etablierte Trennlinien und weichte sie zumindest situativ auf. In Deutschland waren das die Kulturen von sozialen Klassen und von (nicht zuletzt konfessionell und politisch geprägten) »sozialmoralischen Milieus«, wie sie der Soziologe M. Rainer Lepsius für die Zeit vom Kaiserreich bis in den Nationalsozialismus beschrieben hat.6 Die offeneren Muster der Massenkultur lösten also in den Jahrzehnten um 1900 die Klassen- und Milieukulturen, zum Beispiel der sozialistischen Arbeiterbewegung oder des Katholizismus, nicht im Sinne eines Modernisierungsfortschritts ab, sondern koexistierten mit diesen. In ihrer Verbindung mit einer bestimmten sozialen Schicht oder Berufsgruppe jedoch wies die neue Massenkultur tatsächlich bereits frühzeitig über die Ära einer 4 Vgl. hier nur: Nipperdey, Wie das Bürgertum die Moderne fand; Mommsen, Die Herausforderung der bürgerlichen Kultur; Hardtwig, Hochkultur des bürgerlichen Zeitalters. 5 Vgl. Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben. 6 Vgl. Lepsius, Parteiensystem und Sozialstruktur.

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segmentiert-hierarchischen Alltagskultur hinaus: nämlich in ihrer von Siegfried ­Kracauer und anderen schon früh beobachteten Prägung durch, und­ Attraktivität für, die neuen angestellten Mittelschichten der Dienstleistungsberufe in Handel und Verwaltung, die in Metropolen wie Berlin seit etwa 1900 besonders dynamisch expandierten.7 Hier repräsentierte die Massenkultur beinahe eine »nivellierte Mittelstandsgesellschaft« avant la lettre.8 Zwischen die Hochkultur der Eliten und die populäre Kultur der einfachen Bevölkerungsschichten schob sich eine »middlebrow culture«, die Elemente von beidem amalgamierte.9 Dass soziale Differenzierung dabei nicht außer Kraft gesetzt, sondern auf offene oder subtile Weise reproduziert wurde, zeigen die Beispiele in diesem Buch immer wieder. Ob man im Lunapark Bier oder Wein konsumierte, demonstrierte sozialen Status nach außen – und entschied sich nicht zuletzt am Portmonee. Insofern schufen die Institutionen des neuen metropolitanen Vergnügens, wie Tobias Becker sagt, »heterosoziale Räume«, in denen Differenz auch in der Vergemeinschaftung bzw. »Vermassung« sichtbar blieb.10 Im Vergleich mit anderen europäischen und globalen Metropolen um 1900 oder 1925, auch im Vergleich mit dem Berlin der folgenden Jahrhundertwende, würde freilich ein bemerkenswert hohes Maß an ethnisch-kultureller Homogenität hervortreten. Berlin war keine vielsprachige Einwanderermetropole wie New York oder Chicago oder Buenos Aires, wo die moderne Massenkultur zur selben Zeit Brücken zwischen sehr verschiedenen Ethnien, Kulturen und Sprachen schlagen musste, und es war eine Kolonialmetropole in einem ganz anderen und viel reduzierteren Sinne als Paris und, vor allem, London. Die Konfrontation mit Menschen anderer Hautfarbe und außereuropäischen Kulturen, wie man sie auch in Berlin auf der Theaterbühne oder bei Schaustellern, oder mit einzelnen Stars wie Josephine Baker, erleben konnte, blieb also vergleichsweise begrenzt; solche Lernprozesse musste Berlin (und Deutschland) seit dem Ende des 20. Jahrhunderts verspätet nachholen. Wichtiger waren demgegenüber wohl die Aufbrüche in der Geschlechter­ ordnung. Zweifellos reproduzierte auch hier die Massenkultur bestehende Rollenzuweisungen, Machtverhältnisse und Normierungen für Männer und Frauen. Aber gegenüber anderen sozialen Räumen des Alltags, von denen oben kurz die Rede war, konnten sich  – je später desto mehr, und insbesondere in den 1920er Jahren – doch beträchtliche Freiräume entwickeln: im Vergleich zur familiären oder ehelichen Rollenverteilung, aber auch im Unterschied zu konkurrierenden öffentlichen oder halböffentlichen Räumen, in denen patriarcha7 Vgl. Kracauer, Die Angestellten. 8 In der später einflussreichen Begriffsprägung von Helmut Schelsky 1953; vgl. Schelsky, Die Bedeutung des Schichtungsbegriffs. 9 Vgl. (an anderen Beispielen, vor allem dem amerikanischer Buchclubs) Rubin, The­ Making of Middlebrow Culture. 10 Vgl. oben S. 49.

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lische Strukturen und eine Trennung (und Hierarchie) von Funktionen und Sphären viel stärker verfestigt waren: in der Arbeitswelt, einschließlich der Arbeiterbewegung, ebenso wie in Schule und Bildung, aber auch im religiös-kirchlichen Feld; vom Militär ganz zu schweigen. Die neuen Institutionen und Praktiken der Massenkultur waren gegenüber solchen separierten Handlungsfeldern nicht nur offener und ermöglichten neue Formen der Begegnung – auch der erotischen und sexuellen Begegnung – von Männern und Frauen. Sie stellten, obwohl zunächst eher verdeckt, herkömmliche Geschlechternormen grundsätzlicher in Frage, spielten in der Travestie mit der Grenzüberschreitung zwischen den Geschlechtern und eröffneten halböffentliche Räume der Homosexualität. Hier holt die Berlin-Forschung allmählich das auf, was für Metropolen wie New York schon früher untersucht worden ist.11 Überwiegt nun, beim Blick auf das Berliner Weltstadtvergnügen in der­ Epoche zwischen 1880 und 1930, das Wiedererkennen oder die Fremdheit? Zunächst einmal muss gefragt werden, ob das damit ins Auge gefasste halbe Jahrhundert, dessen Anfangs- und Endmarke sich nicht an die konventionellen politischen Zäsuren halten, überhaupt als eine einheitliche Epoche verstanden werden kann. Eine solche Sicht auf eine »lange Jahrhundertwende« als Zeit des Durchbruchs der kulturellen Moderne nicht nur in Deutschland, sondern in den westlichen Gesellschaften überhaupt, hat immer mehr an Einfluss gewonnen12 und lag auch unserem Projekt von Anfang an als eine heuristische Vorannahme zugrunde. Während in sozialökonomischer Hinsicht die Industrialisierung, auch in Berlin, schon einige Jahrzehnte früher die Arbeits- und Produktionsverhältnisse revolutionierte, begann sich in den 1880er Jahren ein Muster sozialkultureller Modernität herauszubilden. Der Umbruch erreichte die allgemeinen Lebensverhältnisse der Menschen, auch jenseits des Arbeitsplatzes: ihr Privatleben, ihren Konsum – noch nicht auf dem Lande und in den Kleinstädten, aber in den großen Städten und Metropolen. Dazu gehörten die technischen Innovationen, von denen in diesem Band viel die Rede war: die Anwendung der Elektrizität als Licht- und als Kraftquelle sowie die (teils darauf beruhenden) neuen Verkehrs- und Kommunikationsmittel, vom Telefon bis zur elektrischen Straßenbahn, auf die schon bald die Untergrundbahn folgte. Sozialkulturelle Modernität heißt aber auch, dass die Menschen sich der fundamentalen Umbrüche bewusst wurden und sie als Umwälzungen nicht nur ihres äußeren, sondern auch ihres inneren Lebens erfuhren. Was hier als »innere Urbanisierung« untersucht wurde, lässt sich in einem weiteren Sinne also als eine »innere Modernisierung« fassen. Das Spektrum der Reaktionen war breit und reichte von Faszination und Euphorie, die in unbegrenztem Zukunfts­ optimismus mündeten, bis zu extremer Verunsicherung und Abwehr, die sich in den folgenden Jahrzehnten in politische Bewegungen der Kultur­k ritik und 11 Vgl. Beachy, Gay Berlin; Chauncey, Gay New York. 12 Vgl. grundlegend Nitschke u. a., Jahrhundertwende; Peukert, Weimarer Republik.

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Modernitätsverweigerung übertrugen. Nicht selten werden die 1880er Jahre sogar als Beginn einer Epoche der »Hochmoderne« verstanden, die über die 1930er Jahre, über Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg hinaus das 20. Jahrhundert prägte, bis in die großen ökonomischen, aber eben auch kulturellen Brüche der 1970er Jahre hinein, das Auslaufen der klassischen Industriegesellschaft und ihres robusten Fortschrittsbewusstseins.13 Das Konzept der »langen Jahrhundertwende« oder einer »klassischen Moderne« wendet sich jedoch zunächst einmal gegen die Vorstellung, kulturelle Modernität, Aufbrüche aus der Konvention in Experiment und Avantgarde unter transnationalen (nicht zuletzt amerikanischen) Vorzeichen seien ein Produkt der 1920er Jahre, des Jahrzehnts zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Beginn der Weltwirtschaftskrise. Die Kapitel dieses Buches haben die Korrektur eines solchen verengten Bildes unterstützt. Die Zeit des Erfahrungswandels und der Innovationen – auch in den Formen und Institutionen des Massenvergnügens – liegt, bei allen Unterschieden im Einzelnen, eher um 1890 oder 1900 als um 1920 oder 1925. Ganz falsch ist die Vorstellung, auf ein imperial-nationales Zeitalter vor dem Ersten Weltkrieg wäre ein kosmopolitischtransnationales in den 1920er Jahren gefolgt. Die kommerzielle Massenkultur war vielmehr schon vor 1914 ohne globale Verflechtungen gar nicht denkbar; sie beruhte auf dem Austausch von technischen Patenten und von Theater­ stücken, auf der Zirkulation von neuen Formen ästhetischer Praxis und alltäglichen Verhaltensformen. Deshalb sollte man den Wandel innerhalb dieser »langen Jahrhundertwende«, die immerhin ein halbes Jahrhundert dauerte, nicht unterschätzen – dagegen hilft schon ein Blick auf die Einwohnerzahl Berlins und seiner Vororte 1880 und 1930, oder auf die Stadtpläne beider Jahre. Tatsächlich flachte seitdem die Dynamik der urbanen Entwicklung, nicht nur in Berlin und in Deutschland, spürbar ab, und das Tempo der Innovationen – der technischen, aber auch der ästhe­tisch-kulturellen – verlangsamte sich. Der Erste Weltkrieg wirkte auf sehr unterschiedliche Weise als eine Zäsur. Zum Teil unterbrach der Krieg Entwicklungen, an die Anfang der 1920er Jahre wieder angeknüpft werden konnte. Aber oft reichten die Wirkungen tiefer. Die große Ära des kommerziellen Vergnügungstheaters ging zu Ende, weil die Weimarer Republik hier wie auf anderen Feldern – für Berlin nicht zuletzt: im Wohnungsbau – einen Primat der öffentlichen Hand etablierte. Für den Drogenkonsum wirkte der Krieg als »Multiplikator«.14 Transnationale Kontakte waren unterbrochen und konnten nicht immer wiederhergestellt werden. Und auch wenn die transatlantische Verflechtung des Vergnügens schon vor 1914 bedeutsam war, lässt sich für die 1920er Jahre wohl insgesamt, gegenüber der Zeit des Kaiserreichs, eine Verschiebung

13 Vgl. Herbert, Europe in High Modernity. 14 Vgl. oben, S. 203.

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von der europäischen Metropolenkonkurrenz zu den US -amerikanischen Einflüssen feststellen. Ähnlich differenziert fällt der Blick auf das Ende der Epoche aus, auf die Jahre um 1930, und damit für das Deutsche Reich und seine Hauptstadt auf die Krise der Weimarer Republik und den Übergang in das nationalsozialistische Regime. Der Nationalsozialismus hatte seinen Anteil an dem Niedergang zahlreicher Praktiken und Institutionen des urbanen Massenvergnügens und der Massenkultur, nicht zuletzt durch Berufsverbote für jüdische Künstlerinnen und Künstler, aber auch jüdische Unternehmer und andere Akteure des populären Kommerzes, und schließlich ihre Vertreibung. Aber beim Konkurs des Lunaparks im Jahre 1933 war der Nationalsozialismus nur ein Faktor unter vielen. Eine Stimmung gegen die Jazzmusik hatte sich schon vorher breit gemacht, während für die Musik insgesamt nicht der politische Wechsel, sondern eine technisch-mediale Revolution bedeutsamer war, nämlich die Verschiebung von der original aufgeführten zur medial reproduzierten Musik.15 Zum Teil wirkte der Nationalsozialismus als Verstärker von Trends aus der Weimarer Republik, etwa des Zugs zu einer Verstaatlichung des Kulturlebens. Und es gab neue Massenvergnügungen, deren Ursprünge zwar ebenfalls schon in das beginnende 20. Jahrhundert zurückreichten, die aber erst in den 1920er Jahren ihren eigentlichen Siegeszug antraten und ihn im folgenden Jahrzehnt – auch international gesehen, also im Prinzip unabhängig von den politischen Ereignissen in Deutschland – fortsetzten.16 Das gilt besonders für den Sport als Zuschauerereignis und kommerziell inszenierte Unterhaltung (spectator sports), der freilich von den Nationalsozialisten, mit dem Höhepunkt der Olympischen Spiele in Berlin 1936, als besondere propagandistische Chance verwertet wurde. Jedenfalls gilt die zeitliche Marke von 1930 nicht nur für Berlin und für Deutschland als eine Zäsur in der Entwicklung der Metropolenkultur und des kommerziellen Vergnügens. Die Wirkungen der Weltwirtschaftskrise waren auch in London und Paris, und erst recht in New York und Chicago, zu spüren. Vielleicht auch unabhängig davon legte die künstlerische Avantgarde inter­ national eine Pause ein, bis zu den neuen Aufbrüchen in populärer Musik, bildenden Künsten und Theater in den 1950er Jahren. In diesem Jahrzehnt begann zugleich, mit der wirtschaftlichen Prosperitätsphase nach dem Zweiten Weltkrieg, der Durchbruch zu einer neuen Form der Konsum- und Freizeitgesellschaft. Natürlich gab es dabei Kontinuitäten in die Vorkriegszeit (am meisten wohl in den USA, die West- und Mitteleuropa in dieser Hinsicht schon 1930 voraus gewesen waren), aber in vieler Hinsicht wurden die Weichen für die populäre Vergnügungskultur jetzt anders gestellt. Die nächste mediale Revolution, die des Fernsehens, forcierte den Trend zur Individualisierung und Privatisierung der Freizeit, den das Kinosterben bald sinnfällig zum Ausdruck brachte. 15 Vgl. oben, z. B. S. 39, 94, 151, 175. 16 Vgl. Dinckal, Sportlandschaften.

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Aber auch unter den politischen Vorzeichen der Jahrhundertmitte suchten die Menschen nach anderen Möglichkeiten, ihre Individualität auszudrücken; Individualität geriet zumal in Berlin stärker in Spannung zur ›Masse‹, zur Vergemeinschaftung.17 Und eine neue Form des halb-individualisierten Massentourismus zog die Menschen auf ihren Urlaubsreisen aus den Städten fort statt in die Metropolen hinein, bevor der Städte- und Kultur-Urlaub am Ende des 20. Jahrhunderts wieder populärer wurde. Die eingemauerte Inselstadt West-Berlin bildete einen Sonderfall, aber insgesamt kehrte sich ein Trend, der in diesem Buch ausführlich beschrieben wurde, wieder um: Während das Vergnügen im Zuge des Metropolen­ wachstums und der »Citybildung« um 1900 in die Städte und Stadtzentren hinein gewandert war,18 bewegte es sich nun wieder heraus an die Peripherie, zum Beispiel mit einer neuen Generation der Freizeitparks, die in der Bundes­ republik seit den 1960er Jahren in die Fußstapfen des Berliner Lunaparks traten. Ihr Flächenbedarf ging, wie beim 1967 eröffneten Phantasialand in Brühl oder dem Europa-Park in Rust (1975), weit über innerstädtische Möglichkeiten hinaus, zumal die neuen Parks Teil  der automobilen Freizeitgesellschaft waren (und deshalb wiederum weitflächige Parkplätze benötigten). Als kleine Ironie der Geschichte präsentierte das Phantasialand seit 1970 einen Themenbereich »Alt-Berlin«, mit einer Nachbildung des Bereichs Unter den Linden im Maßstab 1 : 2.19 Bereits 1955 hatte das Disneyland im kalifornischen Anaheim – im damals noch ganz spärlich bevölkerten, überwiegend agrarischen Orange County südlich von Los Angeles – global den Paradigmawechsel vom urbanen Vergnügungspark zum suburbanen Freizeit- und Themenpark eingeleitet. Diese ›Exurbanisierung‹ des kommerziellen Vergnügens markierte seit den 1950er Jahren einen der wichtigsten Gegentrends zur metropolitanen Vergnügungskultur der klassischen Moderne und schloss besonders in den USA auch den privaten Konsum ein – in der Ersetzung des großstädtischen Warenhauses durch die suburbane Shopping Mall.20 Vielleicht hat dieser Trend im späten 20. Jahrhundert erneut gedreht? Metro­ polen, die einst im Niedergang waren wie New York oder die unter politischen Vorzeichen stillgelegt waren wie Berlin, haben ihre globale Attraktivität wiedergewonnen. Las Vegas hat sich seit den 1990er Jahren vom schmudde­ligen Spielerparadies zu einer Metropole des familiären Vergnügens gewandelt.21 In Asien sind neue Metropolen entstanden, in denen die kommerzielle und touristische Attraktivität, sofern die alteuropäischen Begriffe hier greifen, von den Stadtzentren ausgehen, jedenfalls nicht von der Peripherie oder einem suburbanen 17 18 19 20 21

Vgl. Föllmer, Individuality and Modernity in Berlin. Vgl. oben, S. 23 f. https://de.wikipedia.org/wiki/Phantasialand [2.1.2016]. Vgl. z. B. Hardwick, Mall Maker. Vgl., in kulturkritischer Perspektive, Bégout, Zeropolis.

Ausblick

Umland. Dubai, Las Vegas: Sind das nicht künstlich geschaffene Pseudo-Städte, die der urbanen Qualität und Identität der Metropolen um 1900, die Berlin, ­Paris, London, New York keine eigene Identität entgegenzusetzen haben; »Nicht-Orte«, wie es Marc Augé genannt hat?22 Vielleicht liegt darin nur ein europäisches Vorurteil; oder der heutige, nostalgische Blick unterschätzt, wie neu und künstlich die Metropole Berlin um 1910 auf viele gewirkt haben mag. In jedem Fall hat Berlin sich in den zweieinhalb Jahrzehnten seit der Wiedervereingung der Stadt nicht nur als politische Hauptstadt, sondern mindestens ebenso als kulturelle Metropole, ja als Hauptstadt des Vergnügens neu erfunden. Die Partyhauptstadt der EasyJet-Touristen, »arm, aber sexy«: Das populäre Vergnügen ist seit der Jahrtausendwende wieder zur Identitätsmarke Berlins geworden, und zu einem Ausweis eines alt-neuen Kosmopolitismus. Wieviel Kontintuität des »Weltstadtvergnügens« um 1900 darin steckt, ist nicht nur den Touristen meist unbekannt.

22 Vgl. Augé, Nicht-Orte.

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Anhang Bildnachweis Karte 1 Berlin im Kaiserreich. Pharus-Plan von 1902, Copyright: www.pharus.eu Karte 2 Berlin in der Weimarer Republik. Pharus-Innenstadtplan von 1926, Copyright: www.pharus.eu Abb. 1 Das Metropol-Theater in der Behrenstraße um 1900 (Stiftung Stadtmuseum Berlin) Abb. 2 Zuschauerraum des Metropol-Theaters (Benno Jacobson, Das Theater, Berlin 1906) Abb. 3 Grundriss des Metropol-Theaters (Deutsche Bauzeitung 26 (1892) Nr. 91, S. 557) Abb. 4 Silvesterball im Metropol-Theater 1909 (ullstein bild, Nr. 00382295) Abb. 5 Fotografie des Publikums des Metropol-Theaters von Erich Salomon von 1919 (Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz, Nr. 40005675) Abb. 6 Guido Thielscher mit Spitzhacke, Leiter und Seil als Berlin-Tourist in der Jahresrevue Donnerwetter – tadellos! von 1908 (Institut für Theaterwissenschaft der FU Berlin, Theaterhistorische Sammlung Walter Unruh, Nachlass Julius Freund) Abb. 7 Die Terrassen vom Halensee – der Luna-Park in der Jahresrevue Hurra, wir leben noch von 1910 (Institut für Theaterwissenschaft der FU Berlin, Theaterhistorische Sammlung Walter Unruh, Nachlass Julius Freund) Abb. 8 Szene »Im Familienbad Wannsee« aus der Jahresrevue Chauffeur – in’s Metropol! von 1912 (Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz, Nr. 20033159) Abb. 9 Bühnenbild zur James Klein-Revue Das hat die Welt noch nicht gesehn von 1924 (ullstein bild, Nr. 00115137) Abb. 10 Die Geisha von 1897 (Institut für Theaterwissenschaft der FU Berlin, Theaterhisto­ rische Sammlung Walter Unruh, Nachlass Julius Freund) Abb. 11 Der Palais de Danse im Metropolpalast, Anzeige von 1913 (Phonographische Zeitschrift 14 (1913) Nr. 3, S. 33) Abb. 12 Heinrich Zille, Ball in der Kaschemme, um 1906 (Flügge, Das große Zille-Album, S. 388) Abb. 13 Im Luna-Ballhaus (Elegante Welt (1913) Nr. 28, S. 14) Abb. 14 Lisa Weise und Oskar Gabo beim Bärentanz in der Posse Filmzauber (Die Dame (1913) Nr. 8, S. 8) Abb. 15 Der neueste amerikanische Tanz, der »Puter-Schritt« (Berliner Ilustrirte Zeitung, Nr. 8, 25.2.1912) Abb. 16 Charakteristische Stellungen aus dem »Tango« (Berliner Illustrirte Zeitung, Nr. 7, 12.2.1911) Abb. 17 Niki Georgewitsch (Elegante Welt (1913) Nr. 7, S. 9) Abb. 18 In München ist der Schiebetanz verboten (Cabaret-Revue. Halbmonatsschrift für Gesangs-, Vortragskunst und Tanz am Varieté, Cabaret und in Tanzetablissements, 3 (1913) Nr. 56, S. 20) Abb. 19 Otto Dix, Großstadt, 1927/1928 (© VG Bildkunst. Bonn 2015) Abb. 20 Das allerhöchste Verbot (Simplicissimus 18 (1913) Nr. 37, S. 632) Abb. 21 Berlin. Unter den Linden. Aufziehen der Wache (Ansichtskarte von 1910) Abb. 22 Berlin. J. C. Kistenmachers Garten (Ansichtskarte von 1910) Abb. 23 Konzertanzeiger von 1904 (Beiblatt der Allgemeinen Musikalischen Rundschau, 22.–25.5.1904) Abb. 24 Adolph Menzel, Konzert mit dem Dirigenten Bilse, 1871

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Anhang

Abb. 25 Abb. 26 Abb. 27 Abb. 28 Abb. 29 Abb. 30 Abb. 31 Abb. 32 Abb. 33 Abb. 34 Abb. 35 Abb. 36 Abb. 37 Abb. 38 Abb. 39 Abb. 40 Abb. 41 Abb. 42 Abb. 43 Abb. 44 Abb. 45 Abb. 46 Abb. 47 Abb. 48 Abb. 49

Paul Linckes Glühwürmchen-Idyll aus der Operette Lysistrata von 1902 auf einer Ansichtskarte () Werbeanzeige von Otto Werde, o. J. (Flügge, ’ne dufte Stadt ist mein Berlin, S. 56) Willy Römer, Berliner Hofmusik 1905 (Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz, Nr. 20039985) Claire Waldoff, ca. 1904 (Bundesarchiv, Bild 183-R07878) Heinrich Zille, Der neueste Gassenhauer, 1924 (Flügge, ’ne dufte Stadt ist mein Berlin, S. 77) »Des Negers Traum«, Orchesternoten für Swanee River, Berlin 1902 (Foto: Werner Kumpf/Gabi Meisel, Darmstadt, in: Wolbert, That’s Jazz, S. 353) E. Wohlfahrt, Palais der Friedrichstadt, Berlin 1921 (Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz, Kunstbibliothek, Berlin) Lunapark mit Terrassengebäude (Ansichtskarte, ca. 1925) K. Steinberg, Die Neue Welt, 1881 (Stiftung Stadtmuseum Berlin) Vergnügungen in der Hasenheide 1888 (Die Gartenlaube 35 (1888) Nr. 38, S. 637) Wirtshaus am Halensee (Ansichtskarte, ca. 1900) Terrassen am Halensee (Ansichtskarte, ca. 1908) Der Amerikanische Vergnügungspark in der Neuen Welt (Ansichtskarte, ca. 1912) Das Terrassengebäude des Lunaparks mit amerikanischer Flagge (Ansichtskarte, ca. 1911) Massenbesuch anlässlich des Frühkonzerts im Lunapark zu Pfingsten 1929 (ullstein bild, Nr. 00034180) Gebirgsszeneriebahn und Wasserrutschbahn im Lunapark (Ansichtskarte, ca. 1920) Gebirgsszeneriebahn des Lunaparks mit expressionistischen Kurven (Ansichtskarte von 1921) Gebirgsszeneriebahn mit Wolkenkratzerkulisse von 1928 o. 1929 (ullstein bild Nr. 00142054) Kaufhaus des Westens 1907 (Landesarchiv Berlin, F Rep. 290 Nr. II289 / Fotograf: k. A.) Kokainhandel, Zeichnung von Rudolf L. Leonard (Bouchholtz, Der Kurfürstendamm, S. 103) Kokainbriefchen im Hutfutter (Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz, Nr. 20001828) Kokain-Päckchen unter dem Strumpfband (Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz, Nr. 20001827) Handschuh mit Stulpe, unter der die Kokainpäckchen sitzen (Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz, Nr. 20006393) Werbeanzeige der Firma Friedländer (Die deutsche Elite. Das Blatt der Gesellschaft 2 (1925), Nr. 3, S. 168) Anita Berber, Kokain, Foto: Dora Kalmus (Fischer, Anita Berber, S. 133)

Quellen- und Literaturverzeichnis Archivquellen Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde BArch 1501/110393, Der Minister des Innern, 15. November 1916 BArch R1501/110395, Obermedizinalrat Dr. Hauser vom 28.12.1919

Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStA PK) I. Hauptabteilung Rep. 76 Kultusministerium VIII B, Jüngere Medizinalregistratur Band 1, Nr. 1217 (Verkehr mit Giften, Bd. 5, Generalia, 1925–1928, Mrz.-Nov.) I. Hauptabteilung Rep. 76 Kultusministerium VIII B, Jüngere Medizinalregistratur Band 1, Nr. 1237 (Verkehr mit Giften, Bd. 20, Spezialia, 1926, Aug-Okt.) I. Hauptabteilung Rep. 76 Kultusministerium VIII B, Jüngere Medizinalregistratur Band 1, Nr. 1238 (Verkehr mit Giften, Bd. 21, Spezialia, 1926–1927, Nov.-Jan.) GStA PK I. HA Rep. 84a Justizministerium, Nr. 56737 Verstoß des Pförtners Stephan Bugaiski aus Berlin gegen das Opiumgesetz (1932)

Historisches Psychiatrie-Krankenaktenarchiv der Charité (HPAC) DB W 1.02–DB W 1.05 Diagnosebuch Frauenabteilung (Nervenklinik der Charité 1918–1933). DB M 1.08 Diagnosebuch Männerabteilung (Nervenklinik der Charité 1916–1926). HPAC F, 564/1924 HPAC M, 3232/1921 HPAC, M 4387/1924 HPAC M, 3961/1925 HPAC M, 4794/1925 HPAC M, 6778/1925

Landesarchiv Berlin (LAB) Polizeipräsidium Berlin, Theaterpolizei A Pr. Br. Rep. 030-05 Nr. 169 A Pr. Br. Rep. 030-05 Nr. 306 A Pr. Br. Rep. 030-05 Nr. 477 A Pr. Br. Rep. 030-05 Nr. 708 A Pr. Br. Rep. 030-05 Nr. 709 A Pr. Br. Rep. 030-05 Nr. 714 A Pr. Br. Rep. 030-05 Nr. 715 A Pr. Br. Rep. 030-05 Nr. 1334 A Pr. Br. Rep. 030-05 Nr. 1335 A Pr. Br. Rep. 030-05 Nr. 1466 A Pr. Br. Rep. 030-05 Nr. 1512

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Anhang

A Pr. Br. Rep. 030-05 Nr. 1622 A Pr. Br. Rep. 030-05 Nr. 1657 A Pr. Br. Rep. 030-05 Nr. 1990 A Pr. Br. Rep. 030-05 Nr. 2375 A Pr. Br. Rep. 030-05 Nr. 2966 A Pr. Br. Rep. 030-05 Nr. 3061 A Pr. Br. Rep. 030-05 Nr. 3833 A Pr. Br. Rep. 030-05 Nr. 12205 Theaterzensurexemplare A Pr. Br. Rep. 30-05-01 Nr. T 298 (Eine tolle Nacht) A Pr. Br. Rep. 30-05-02 Nr. 650 (Im Reiche des Indra) A Pr. Br. Rep. 30-05-02 Nr. 859 (Im Paradies der Frauen) A Pr. Br. Rep. 30-05-02 Nr. 1254 (Rund um Berlin) A Pr. Br. Rep. 30-05-02 Nr. 4433 (Die oberen Zehntausend) A Pr. Br. Rep. 30-05-02 Nr. 2638 (Neuestes! Allerneuestes!) A Pr. Br. Rep. 30-05-02 Nr. 3620 (Der Teufel lacht dazu) A Pr. Br. Rep. 30-05-02 Nr. 3915 (Das muß man seh’n!) A Pr. Br. Rep. 30-05-02 Nr. 4214 (Donnerwetter – tadellos!) A Pr. Br. Rep. 30-05-02 Nr. 4559 (Halloh, die große Revue) A Pr. Br. Rep. 30-05-02 Nr. 5140 (Die Nacht von Berlin) Bezirksausschuss, Bezirksverwaltungsgericht A Pr. Br. Rep. 031-01 Nr. 3281 Aschinger’s Aktien-Gesellschaft A Rep. 225 Nr. 80 A Rep. 225 Nr. 442 A Rep. 225 Nr. 443 A Rep. 225 Nr. 454 Amtgericht Charlottenburg, Handelsregister A Rep. 342-02 Nr. 757 Bestand A Rep. 358-01 (Generalstaatsanwaltschaft bei dem Landgericht Berlin – Strafverfahren 1919–1933) LAB A Rep. 358-01, Nr. 2650. LAB A Rep. 358-01, Nr. 2651 LAB A Rep. 358-01, Nr. 2652 LAB A Rep. 358-01, Nr. 2670 Bezirksamt Wilmersdorf B Rep. 209 Nr. 856 B Rep. 209 Nr. 857 B Rep. 209 Nr. 864 B Rep. 209 Nr. 870 B Rep. 209 Nr. 874 B Rep. 209 Nr. 878

Quellen- und Literaturverzeichnis

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London Metropolitan Archives Captain Boyton’s World Water Show LCC/AR/TH/2/2 1893

Deutsches Volksliedarchiv Freiburg A 82865–A 82931 A 87077–A 87103 Sammlung Arbeiterlieder Herbert Kleye, S 0145

Zeitungen und Zeitschriften 8 Uhr-Abendblatt Annalen für Gewerbe und Bauwesen Berliner Architekturwelt Bauwelt Berlin am Abend Berlin am Morgen Berliner Courier Berliner Gerichtszeitung Berliner Herold Berliner Illustrirte Zeitung Berliner Lokalanzeiger Berliner Morgenpost Berliner Tageblatt Berliner Zeitung Bühne und Welt B. Z. am Mittag Cabaret-Revue Centralblatt der Bauverwaltung Das Junge Deutschland Das kleine Jorunal Das Organ der Variétéwelt Das Programm Der Antirüpel Der Artist Der Berliner Westen Der Komet Der Kunstwart Der Montag Morgen Der Tag

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Deutsche Bauzeitung Die Bauwelt Die deutsche Bühne Die deutsche Elite Die Gartenlaube Die Musik Die Schaubühne Die Welt am Morgen Die Weltbühne Die Zukunft Elegante Welt Le Petit Journal Münchener Neueste Nachrichten National Observer Neue Berliner Musikzeitung New York Times Niederbarnimer Kreisblatt Reigen Simplicissimus Tägliche Rundschau The Era The Stage Yearbook The Times Vossische Zeitung

Zeitgenössische Schriften Art. Rutschberge, in: Damen Conversations Lexikon, Bd. 9, [o. O.] 1837, S. 22–23. Art. Rutschberge, in: Pierer’s Universal-Lexikon, Bd. 14, Altenburg 1862, S. 632. Art. Rutschberge, in: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Bd. 17, Leipzig 1909, S. 340. Aschaffenburg, Gustav, Das Verbrechen und seine Bekämpfung, Heidelberg 19233. Bab, Julius, Wesen und Weg der Berliner Volksbühnenbewegung, Berlin 1919. Baresel, Alfred, Das Jazz-Buch. Anleitung zum Spielen, Improvisieren und Komponieren moderner Tanzstücke mit besonderer Berücksichtigung des Klaviers, Berlin 1926. Bely, Andrej, Wie schön es in Berlin ist (1924), in: Fritz Mierau (Hg.), Russen in Berlin. Malerei. Literatur. Theater. Film. 1918–1933, Leipzig 19913, S. 56–68. Benatzky, Ralph, Für Dich. Revue in 2 Akten, Berlin 1925. – u. a., Im weißen Rößl. Singspiel in 3 Akten. Frei nach dem Lustspiel von Blumenthal und Kadelburg, Berlin 1952. Berber, Anita u. Sebastian Droste, Die Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase, Wien 1923. Berlin für Kenner. Ein Bärenführer bei Tag und Nacht durch die deutsche Reichshauptstadt, Berlin 1912. Berlin und die Berliner. Leute, Dinge, Sitten, Winke, Karlsruhe 1905. Bernhard, Paul, Jazz. Eine musikalische Zeitfrage, München 1927. Böhme, Franz Magnus, Die Gassenhauer seit hundert Jahren, in: Centralblatt für Instrumentalmusik, Solo- und Chorgesang 11 (1896), S. 4–6, 33–36, 58–60, 81–83 u. 107–108. Bonhoeffer, Karl u. Gustav Ilberg, Über Verbreitung und Bekämpfung des Morphinismus

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Register Personenregister Adorno, Theodor W.  15 Alt, Konrad  203 Aschaffenburg, Gustav  203 Aschinger, August  164, 172, 175 Aschinger, Carl  164, 172 Baker, Josephine  71 f., 94, 236 Bartholomew, Billy  150 Baskini, Sam  150 Baumann, Gustav  153, 164 Beard, George Miller  199 Béla, Dajos  150 Bemmann, Helga   140 Berber, Anita  228–230 Bernhard, Paul  149 Bilse, Benjamin  117–119 Bishop, Will  63 Blondin, Charles  156 f. Bodinus, Heinrich  114 f. Böhme, Franz Magnus  129, 131 Bolten-Baeckers, Heinrich  55 Bonhoeffer, Karl  209 Boyton, Paul  185 Bugaiski, Stephan  216–220 Bülow, Hans von  118 Bumm, Franz  226 Charell, Erik  56, 58, 70 Cleff, Wilhelm  135 Darmand, Betty  63 de Courville, Albert  66 Delahaye, Dominique  212 Dernburg, Bernhard  69 Dix, Otto  104 Droste, Sebastian  228 f. Edel, Edmund  9, 45, 62, 110 Edel, Max  204, 206 Edwardes, George  61, 66 Einödshofer, Julius  64 Fenneker, Josef  186 Feydeaus, George  64 Forbes, Robert  172 f.

Fränkel, Fritz  204, 206 f., 211, 214, 216 f., 221, 223 f. Freud, Sigmund  199 Freund, Julius  41, 46, 52, 64, 177 Friedländer, William  47 f. Fuchs, Eduard  97 Fürth, Emil  169 Gaupp, Robert  205 Gay, Peter  142 Georgewitsch, Niki (Nicolai Georgevicz)  91, 93 Giampietro, Joseph  63 Gilbert, Jean  43, 56, 66 f., 123, 144 Gilbert, William Schwenck  65 Gilbert, Yvette  144 Glaserfeld, Bruno  204, 207 Godwin, Paul  150 Goethe, Johann Wolfgang von  33 Gradnauer, Georg  205 Gross, Otto  200 f. Grosz, George  57 Gungl, Josef  115 Hagenbeck, Carl  157 Hahn, Martin  209 Haller, Hermann  56, 58, 63 Hardt, F. W.  140 Hardtwig, Wolfgang  235 Hildenbrandt, Fred  229 Hindemith, Paul  150 Hinrichsen, Friedrich  217 Hoddis, Jakob van  57 Hoffmann, Bernhard  164 Hofmann, Erich Gustav  197 Hollaender, Friedrich  141 Hollaender, Victor  64, 70,177 Holzbock, Alfred  29, 32 Horkheimer, Max  15 Iles, John Henry  169–172, 186 Isherwood, Christopher  127 f. Jacobson, Siegfried  44, 49 Jagow, Traugott von  100

Register

Jandorf, Adolf  37 Jentz, Fritz Paul  38 f., 61, 74 Joël, Ernst  204, 206–208, 211, 214, 216–218, 221, 223 f.

Mommsen, Wolfgang J.  235 Moreck, Curt  9, 20 f., 82 f., 194 f. Mozart, Wolfgang Amadeus  113, 117 Mühsam, Erich  200

Kafka, Franz  48 Kafka, Hans  178 Kalisch, David  10, 51, 55, 72 Kauffmann, Alfred  211 f. Kerker, Gustave  66 Kerr, Alfred  36 Klein, James  58, 132, 138, 164 Kleye, Herbert  132 f., 142 Koebner, Franz Wolfgang  74–76, 84 f., 88, 91 f., 95, 227 Koepp, Joahnnes  135, 142 Kohfahl, Arnold  206 Kollo, Walter  56, 123, 133, 135, 137, 140, 142, 144 Kollo, Willi  141–143 Korff, Gottfried  12, 230 Kracauer, Siegfried  15, 21, 62, 188, 190 f., 236 Krenek, Ernst  150 Kretzer, Max  117, 176 Kuhn, Adolf  172 Künneke, Eduard  67

Nebe, Arthur  215–218 Niemann, Albert  199 Nipperdey, Thomas  235 Noack, Victor  119 f., 145

Laqueur, Walter  21 Lee, Heinrich  130 Lehár, Franz  60, 66 f., 70 Leonard, Rudolf L.  91, 95 Lepsius, M. Rainer  235 Lessing, Madge  63 Lessing, Theodor  134 Lewin, Louis  221 Liebig, Carl  115 Lincke, Paul  35, 55 f., 64, 70, 87, 90, 123 f., 132, 135, 137, 144–146, 151, 172 Llossas, Juan  150 Lorenzen, Rudolf  19 Maase, Kaspar  17 Mann, Heinrich  178 Mann, Klaus  21, 190 Mannstaedt, Wilhelm  52 Mantegazza, Paolo  199 Marcus, Paul  222 Massary, Fritzi  41, 63, 67, 76 McKee, Andrew Oliver  169–171 Messager, André  64 Millöcker, Karl  129

Offenbach, Jaques  51, 134, 144 Ostini, Fritz  228 Ostwald, Hans  78, 87 f., 119, 136 f. Penkert, Anton  131 Pfemfert, Franz  201 Pflanzer, Hans  141 Poelzig, Hans  35 Pollack, Heinz  93 Pröger, Willy  197 f. Rathenau, Walther  13 Reinhardt, Max  32, 35, 63 Reutter, Otto  138, 140 Rheiner, Walter  227 Romby, Paul  150 Rosenthal, Conrad  197, 202 f., 215 Rothenfelder, Franz  224 Rotter, Alfred  39 Rotter, Fritz  39, 46 Schachmeister, Efim  150 Scheffler, Karl  12 Schiele, Martin  207, 220 Schiller, Friedrich  33 Schlesinger, Harry  197 Schmidt, Erich K.  134 Schmidt, Heinz  131, 133, 142 Scholz, Arnold  167–169, 173, 175 Schultz, Richard  28, 31, 33, 35, 37-39, 43, 46, 49, 51 f., 54, 61, 63, 66, 74 Sennett, Richard  19 Shakespeare, William  33, 234 Simmel, Georg  12, 133 f., 198 f., 235 Sombart, Werner  182 Spoliansky, Mischa  150 Stauffer, Teddy  150 Steimann, Wilhelm  200, 202 f. Stein, Rudolf  195 f. Sternecker, Rudolf  155, 157, 159, 166-168, 175, 185

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Anhang

Storck, Karl  131 Straub, Walther  204, 212 Straus, Oscar  67, 124 f. Strauß, Johann (Sohn)  117, 134, 144 Sullivan, Arthur  65 Szatmari, Eugen  134 Szittya, Emil  201 Tauber, Richard  70 Thielscher, Guido  41, 53, 138, 140 Thompson, LaMarcus Adna  169–171, 184, 186 Turszinsky, Walter  62 Verdi, Giuseppe  113, 148 Vetter, Karl  63 Vintilescu, Georgi  75 Vizetelly, Henry  51 Wagner, Cäsar  99

Wagner, Richard  113, 117, 134 Waldmann, Ludolf  90 Waldoff, Claire  137–142, 144, 228 Weber, Carl Maria von  117 Weber, Marek  84, 150 Weinberger, Carl  65 Weller, Friedrich  115 Wenskat, Reinhard  150 Whiteman, Paul  148 Whitney, Edith  63 Wieprecht, Wilhelm  114 f. Wilhelm II.  42, 106 Wolzogen, Ernst von  49 Wooding, Sam  148 Wrede, Otto  125 f., 128 Wright, Fritz  63 Zille, Heinrich  58 f., 79, 138–140, 178 Zobeltitz, Fedor von  48, 62, 190 Zweig, Stefan  227

Ortsregister Admiralspalast  20, 35, 56, 58, 81 f., 91, 93, 122, 148 Alcazar 76 Anhalter Bahnhof  36 Apollo-Theater  35, 55, 64, 70, 144 Aschinger 222 Atlantis 77 Ausstellungshallen am Zoo  20 Bahnhof Friedrichstraße  35 f., 81 Bahnhof Zoo  36 Behrenstraße  28 f., 36, 55, 74, 110 Belle-Alliance-Straße 34 Belle-Alliance-Theater 34 Berghain 231 Bergschloßbrauerei  155, 166 Besselstraße  197, 222 Brandenburger Tor  84, 109, 114 Breslau  39, 51, 140 Broadway  35, 66, 87, 94 Brüssel 140 Budapest  64, 66 Buenos Aires  90 f., 95, 102, 236 Bülowplatz 49 Casanova  83, 195

Central-Theater  35, 43, 51 f., 66 Charlottenstraße 35 Chicago  64, 150, 236, 239 Clou 110 Coney Island  157, 171, 184 f. Delphi-Palast 195 Deutsche Oper  36 Deutsches Theater  32 f., 35 Disneyland  158, 240 Dresden  39, 214 Dubai 241 Eldorado 229 Empire Theatre of Varieties  61 Europa-Park  158, 240 Femina 195 Flora 118 Folies Bergère  64, 144 Freie Volksbühne  48–50 Friedrichshain  19, 115, 231 Friedrichstraße  9, 13, 20–22, 34–37, 54 f., 69, 77 f., 80–82, 85, 90, 94, 98 f., 109 f., 121 f., 193, 196 f., 222, 230 f. Fruchtstraße 231

Register

Funkturm 231 Gelsenkirchen 137 Georgenstraße 35 Gerold 222 Gewerbeausstellung –– Lehrter Bahnhof 1879  156 –– Treptow 1896  162, 185 f. Goldelfe 197 Gourmenia 195 Großes Schauspielhaus  35, 58, 60, 71, 148 f. Grünau 159 Grunewald 129, 143, 153, 159, 162, 164 f. Halensee  54, 78, 80, 82, 153 f., 159, 162–166, 168 f., 172 f., 175, 179, 188 Hamburg  64, 183, 209 f. Hamburger Bahnhof  36 Hasenheide  19, 78, 115, 122, 155, 157, 159–162, 166 f., 173, 176 f., 179 Hausvogteiplatz 36 Hotel Adlon  37, 84, 151 Hotel Lindenhof  37 In den Zelten  110, 114 f. Jungfernheide 159 Kaiserpassage 35 Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche  22, 36, 193 Kakadu 195 Kaufhaus des Westens (KaDeWe)  37, 193 f., 231 Kleines Theater   35 Komische Oper  35, 58, 231 Komödienhaus 35 Königliche Oper  32, 42 Königliches Schauspielhaus  32, 42 Königsschloss 109 Kreuzberg  78, 184, 208 Krolls Etablissement  110, 114 f., 140 Kurfürstendamm  20, 36, 44, 46, 82–84, 134, 153, 164–166, 178, 193–197, 222, 227, 230 f. Las Vegas  240 f. Leipziger Platz  37, 109 Leipziger Straße  35–37, 109 f., 117, 164 Lessing-Theater 35 London  10 f., 13 f., 23, 35, 50 f., 61, 64, 66–69,

80, 84, 87, 91, 94 f., 99, 102, 140, 144, 169, 185, 236, 239, 241 Los Angeles  240 Lunapark  54, 99, 121, 153–157, 159 f., 1­ 62–166, 168–175, 177–181, 186–188, 191, 231, 236, 239 f. Lustgarten 109 Lustspielhaus 35 Madrid 51 Marienbad 64 Mauerstraße 110 Metropol-Palast  38, 74–76, 78, 81 Metropol-Theater  22, 28–33, 36–41, 43–53, 55, 57 f., 60–67, 70, 72–74, 76, 81, 91, 96, 132, 177, 231 Milwaukee 64 Moabit  115, 159 Mon Plaisir  99 Müggelsee 159 Neues Schauspielhaus  195 Neues Theater am Schiffbauerdamm  35 Neue Welt  19, 155–157, 159 f., 162, 166–171, 173, 176 f., 180, 186, 192 Neues Friedrich-Wilhelm-Städtisches Theater 35 New York  11, 23, 35, 66 f., 71, 87, 94 f., 157, 188, 199, 236 f., 239–241 Opéra Garnier  61 Oranienburger Tor  109, 222 Palais am Zoo  84, 195 Palais de Danse  38, 55, 74–78, 82, 84 f., 91 Paris  9–11, 13 f., 23, 28, 31, 50 f., 55, 63–69, 71, 80, 82, 84 f., 87, 91 f., 95, 99, 102, 115, 140, 143-145, 183, 212, 236, 239, 241 Passage-Theater 35 Pavillon Mascotte  38, 74, 76 Phantasialand 240 Potsdam 159 Potsdamer Bahnhof  36 Potsdamer Platz  109, 216 Potsdamer Straße  20, 122 Reichshallen-Theater 35 Renaissance-Theater 195 Rixdorf  19, 77 f., 85, 90, 136, 160 Roland von Berlin  137 Rote Mühle  222

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Anhang

Schall und Rauch  35 Schiffbauerdamm 35 Schloss Weißensee  167 Schöneberg  20, 44, 99, 115, 142, 217 Schönholzer Heide  159 Sea Lions Park  157, 185 Siegesallee 109 Stettin 39 Stettiner Bahnhof  35 f. Tauentzienstraße  20, 44, 83, 193–195, 197, 217, 220, 231 Tempelhof 19 Terrassen am Halensee  54, 153 f., 164–166, 171, 173 Theater am Kurfürstendamm  195 Theater des Westens  36, 195 Theater in der Königgrätzer Straße  35 Theater Unter den Linden  28 f., 34 f., 41, 52, 61 Tiergarten  19, 44, 46, 109 f., 113 f., 159 Tivoli  19, 158, 183 f. Traumland 159 Treptower Park  19, 159 Trianon-Theater 35

Uhlandeck 195 Universum-Landes-Ausstellungspark (Ulap)  159 Unter den Linden  28, 31, 35, 37, 52, 54 f., 57, 86, 109–111, 135, 141, 144, 240 Walhalla-Theater 35 Weidendammerbrücke 35 Weinrestaurant Kempinski  164 Weißensee  159, 167 f., 185 Werder 159 Wertheim  29, 31, 37, 109 West End  7, 35, 66, 94 Wien  10 f., 50, 55 f., 61, 63–66, 70, 72, 130, 140, 142–145, 150 f., 183, 200, 209, 229 Wilhelmstraße  36 f. Wintergarten  35, 81, 87, 96 Wirtshaus am Halensee  162–164, 179 Wittenbergplatz  193 f., 197 f. Woltersdorff-Theater 35 Zeuthen 159 Zirkus Renz  35 Zirkus Schumann  35 Zoologischer Garten  46, 86, 114 f., 164, 193 Zum Sternecker  167