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German Pages 416 Year 2013
Cornelia Bohn/Arno Schubbach/Leon Wansleben (Hrsg.)
Welterzeugung durch Bilder
®
Lucius & Lucius • Stuttgart
Herausgeber: Dirk Baecker, Zeppelin University, Friedrichshafen Cornelia Bohn, Universität Luzern William Rasch, Indiana University, Bloomington Urs Stäheli, Universität Hamburg Rudolf Stichweh, Universität Bonn
Redaktion: Johannes F. K. Schmidt
ISBN 978-3-8282-0590-1 ISSN 0948-423X © Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft mbH, Gerokstraße 51, D-70184 Stuttgart Tel. (+49) (0)711 / 2 4 2 0 6 0 , Fax (+49) (0)711/242088 E-Mail: [email protected]. Internet: www.luciusverlag.com Die Zeitschrift und alle in ihr enthaltenen einzelnen Beiträge und Abbildungen sind für die Dauer des Urheberrechts geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung undVerarbeitung in elektronischen Systemen. Layout: Claudia Rupp, Stuttgart Druck: Rosch-Buch, Scheßlitz Printed in Germany
SOZIALE SYSTEME ZEITSCHRIFT FÜR SOZIOLOGISCHE THEORIE
Jahrgang 18 (2012), Heft 1 + 2 Inhalt Editorial
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Bettina Heintz Welterzeugung durch Zahlen. Modelle politischer Differenzierung in internationalen Statistiken, 1948-2010
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Cornelia Bohn Bildlichkeit und Sozialität. Welterzeugung mit visuellen Formen
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Arno Schubbach Das Bilden der Bilder. Zur Theorie der Welterzeugung und ihrer bildtheoretischen Verpflichtung
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Thomas Khurana Idee der Welt. Zum Verhältnis von Welt und Bild nach Kant
94
Martin Petzke Visualisierung und Differenzierung. Zur wahlverwandtschaftlichen Beziehung bildlichen Eigensinns und der Konstitution eigenlogischer Sinnsysteme am Beispiel der Religion
119
Sybille Krämer Karten erzeugen doch Welten, oder?
153
Tobias Werron Wie ist globale Konkurrenz möglich? Zur sozialen Konstruktion globaler Konkurrenz am Beispiel des Human Development Index . . . .
168
Theodore M. Porter Irrenärzte aller Länder! Tabular Unity and the Nineteenth-Century Struggle to Comprehend Insanity
204
4
Leon Wansleben Heterarchien, Codes und Kalküle. Beitrag zu einer Soziologie des algo trading
225
Daniel $über Von Fäusten und Fingern. Visuelle politische Kommunikation im gegenwärtigen Serbien
260
Il-Tschung Lim »Know your Money!« Falschgeldbeobachtung und visuelle Echtheitssicherung von Geld in der US-amerikanischen Ökonomie (18.-20. Jahrhundert)
300
Inge Hinterwaldner Erlebnis-Raum in Der Garten und Heufieber
323
Ralf Konersmann Welterzeugung durch Kulturmetaphern
346
Monica Juneja The world as narrative. Reconfiguring vision in early modern Eurasia
360
Thomas Elsaesser World Cinema: Realismus, Evidenz, Präsenz
386
Abstracts Über die Autoren Autorenhinweise
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Soziale Systeme 18 (2012), Heft 1+2, S. 5-6
© Lucius & Lucius, Stuttgart
Editorial
Der vorliegende Band geht auf eine Jahrestagung von eikones, dem schweizerischen Nationalen Forschungsschwerpunkt »Bildkritik. Macht und Bedeutung der Bilder«, zurück. Unter dem Titel »Welterzeugung durch Bilder« versammelten sich vom 17. bis 19. November 2011 Forscherinnen und Forscher aus Soziologie, Philosophie und Geschichte sowie Kunst-, Medien- und Filmwissenschaft im Schaulager in Münchenstein, um zu diskutieren, wie Bilder Welten erzeugen können und zur Globalisierung einer Welt beitragen. Entsprechend der jeweiligen disziplinären Orientierungen rückten die Vorträge unterschiedliche Bilder und Visualisierungen ins Zentrum und kontextualisierten deren Welterzeugung in verschiedenen Zusammenhängen. Nichtsdestotrotz zeichneten sich in der interdisziplinären Diskussion zum einen die theoretischen Konturen einer Welterzeugung ab, die sich durch Sichtbarmachung vollzieht und sich ihre spezifisch visuellen Ressourcen nutzbar macht. Zum anderen wurde deutlich, dass dieser bildtheoretischen Einsicht zugleich Rechnung zu tragen ist seitens der Theorien von Sozialität, Kultur und Geschichte. Die Initiative zu dieser Tagung verdankt sich der interdisziplinären Zusammenarbeit im Rahmen des Nationalen Forschungsschwerpunkts »Bildkritik«. Bei eikones sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler versammelt, die sich der Frage nach dem Bild widmen, ihre verschiedenen disziplinären Perspektiven in die Zusammenarbeit einbringen und die gemeinsamen Ergebnisse wiederum in die disziplinäre Forschung einspeisen. Die Frage nach der Welterzeugung durch Bilder kam so im Gespräch zwischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Soziologie und Philosophie auf. Denn die empirische Forschung zu sozialen Praktiken, die wesentlich auf dem Gebrauch bildlicher Darstellungen basieren, erfordert nicht nur eine theoretische Reflexion auf die für Sozialität grundlegende Funktion von Bildern. Die Frage nach der Welt des Sozialen und den sozialen Welten verknüpft sich darüber hinaus mit der historischen Semantik der Weltbegriffe und schließlich mit philosophischen Traditionen, die unsere Welt im Zusammenhang der Bedingungen ihrer Erfahrung, Darstellung und Erzeugung zu begreifen versuchten. Zugleich sollten diese so grundlegenden wie allgemeinen Fragen stets an die Spezifik der bildlichen Welterzeugung gebunden bleiben und dadurch mit zentralen bildtheoretischen Fragen verknüpft werden. Der vorliegende Band versammelt nicht nur die ausgearbeiteten Beiträge dieser Tagung, sondern wurde durch weitere Aufsätze ergänzt. Ohne die Tagung wäre dieser Band dennoch kaum entstanden, weshalb wir an dieser Stelle nochmals allen danken möchten, die zu ihrem Gelingen beigetragen haben.
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Editorial
Wir danken zuallererst dem Schaulager für die großzügige und freundliche Aufnahme in diesem außergewöhnlichen Haus. Wir danken dem Management von eikones, dessen Hilfe für den reibungslosen Ablauf unabdingbar war, und den Kolleginnen und Kollegen, die uns in der Organisation wie in der Durchführung der Tagung mit Rat und Tat zur Seite standen. Die vorliegende Publikation konnte nur dank weiterer Unterstützung zustande kommen. Wir danken den Gutachterinnen und Gutachtern der Beiträge für ihre Beurteilungen und Hinweise, den Herausgeberinnen und Herausgebern der Zeitschrift für die Aufnahme des Bandes in die Reihe der Themenhefte der Sozialen Systeme sowie deren Redakteur Johannes F. K. Schmidt für seine bereitwillige Hilfe und nachsichtige Geduld. Schließlich danken wir Andrea Haase Brauchli für das präzise Lektorat der Beiträge und eikones für die finanzielle Unterstützung der Publikation.
Cornelia Bohn, Arno Schubbach, Leon Wansleben
Soziale Systeme 18 (2012), Heft 1+2, S. 7-39
© Lucius & Luríus, Stuttgart
Bettina Heintz
Welterzeugung durch Zahlen Modelle politischer Differenzierung in internationalen Statistiken, 1948-2010 Zusammenfassung: Der Aufsatz interpretiert Statistiken als numerische »Weisen der Welterzeugung«. Er untersucht, auf welche Weise Statistiken die Welt darstellen und sie gleichzeitig als übergeordnetes Ganzes - als »(Welt)Gesellschaft« - erfahrbar machen. Indem Statistiken heterogene und weltweit verstreute Ereignisse auf einige wenige Vergleichsdimensionen reduzieren, erzeugen sie einen Vergleichszusammenhang, der unter Umständen globale Reichweite hat. Am Beispiel der UN-Bevölkerungsstatistik von 1948 bis heute wird gezeigt, wie sich der statistische Blick auf die Welt in den letzten sechzig Jahren verändert hat und was sich soziologisch daraus lernen lässt. In einem ersten Abschnitt wird das soziologische Konzept des Vergleichs eingeführt und auf Globalisierungsprozesse bezogen. Der zweite Abschnitt befasst sich mit Statistiken als einer besonderen Form numerischer Vergleiche. Der Schwerpunkt liegt auf der Institutionalisierung der nationalen Statistik im 19. Jahrhundert und ihren Folgen für die >Entdeckung< der Gesellschaft in der Soziologie. Der dritte Abschnitt bildet das Kernstück des Aufsatzes. Am Beispiel des Wandels des Klassifikationssystems der UN-Bevölkerungsstatistik von 1948 bis heute wird dargestellt, wie die globale Ordnung in diesem Zeitraum beobachtet und beschrieben wurde. Die Ergebnisse dieser Analyse weisen darauf hin, dass bis in die späten 1960er Jahre die imperiale Ordnung und nicht die segmentäre Differenzierung in formal gleichberechtigte Nationalstaaten als Normalfall betrachtet wurde. Erst 1970 wird der Nationalstaat in der statistischen Beobachtung zu einer globalen Kategorie. Der Aufsatz nimmt dieses Ergebnis zum Anlass, die systemtheoretische »Primatsthese« auf der Basis der neueren Imperiumsgeschichte einer kritischen Überprüfung zu unterziehen. In einem vierten und letzten Abschnitt wird die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Statistik und Gesellschaftsbegriff noch einmal aufgegriffen und auf globale Zusammenhänge bezogen: Lässt sich analog zur nationalen Statistik auch von einer »Geburt der Weltgesellschaft aus dem Geist der internationalen Statistik« sprechen?
Sprache, Bilder und Zahlen sind verschiedene Weisen der Welterzeugung. Sie versuchen sichtbar zu machen, w a s sich der direkten Erfahrung entzieht, und verleihen dem Sichtbargemachten gleichzeitig Faktizität. Dies gilt in besonderem M a ß e für numerische Darstellungen und exemplarisch für Statistiken. Obschon Statistiken das Ergebnis einer Vielzahl von kontingenten Entscheidungen sind, werden sie in der Regel für die Sache selbst gehalten: »What is counted usually counts.« (Miller 2001, 386) Dieser Doppelcharakter von
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Statistiken - die Darstellung und Herstellung von Wirklichkeit - ist der Ausgangspunkt dieses Aufsatzes. Er untersucht zum einen, was sich aus den Kategorien der internationalen Statistik über die Struktur der Weltgesellschaft lernen lässt, und geht zum anderen der Frage nach, inwieweit Statistiken die Vorstellung eines übergeordneten Ganzen - einer (Welt)Gesellschaft - entstehen lassen. Statistiken sind quantifizierte Beobachtungssysteme, die heterogene und weltweit verstreute Ereignisse zueinander in Beziehung setzen und dadurch den Eindruck eines zusammenhängenden Ganzen erzeugen. Ihr primäres Darstellungsmedium ist die Tabelle. Im Gegensatz zu bloßen Listen, die eine nur aufzählende Funktion haben, stellen Tabellen Beziehungen zwischen Einheiten her und erlauben damit, wie es Gottfried W. Leibniz formulierte, »was zusammen gehöret, gleichsam in einen augenblick zu übersehen, [...] dann das ist das Amt einer tafel, dass die Connexion der Dinge sich darinn auf einmahl fürstellet, die sonst ohne mühsames nachsehen nicht zusammen zu bringen [sind]« (Leibniz 1986 [1680], 345; Hervorh. B. H.). Das konstituierende Prinzip von Statistiken ist der Vergleich. Statistiken setzen Einheiten (z.B. Nationalstaaten) anhand ausgewählter Vergleichsdimensionen (z.B. Bevölkerungsgröße oder Pro-Kopf-Einkommen) zueinander in Beziehung und erzeugen damit ein Relationsgefüge, das sich in Form einer Tabelle synoptisch darstellen lässt. Besonders prägnant wird diese Vergleichsfunktion in Rankings zum Ausdruck gebracht, die Einheiten nicht nur vergleichend relationieren, sondern sie zusätzlich in eine Rangfolge bringen. In der Soziologie werden internationale Statistiken vor allem als Datenquelle benutzt, nicht aber zu einem eigenen Untersuchungsgegenstand gemacht. Demgegenüber geht dieser Aufsatz davon aus, dass Statistiken auch kulturelle Dokumente sind, die sich aus einer wissenssoziologischen Perspektive heraus analysieren lassen. Dies wird am Beispiel der Länderklassifikation der UN-Bevölkerungsstatistik und ihres Wandels im Zeitraum von 1948 bis 2010 gezeigt. Im Einzelnen gliedert sich der Aufsatz in vier Teile. Im ersten Teil wird argumentiert, dass weltweite Verbindungen nicht nur über grenzüberschreitende Vernetzungen zustande kommen, sondern auch über Vergleiche. Vergleiche bringen räumlich Entferntes und sozial Heterogenes in einen Zusammenhang und stellen auf diese Weise auf einer Beschreibungsebene weltweite Verbindungen her, etwa dann, wenn in Reiseberichten des 18. Jahrhunderts die politische Verfassung Chinas mit jener in Europa in Beziehung gesetzt wird oder Statistiken Länder hinsichtlich ihres Pro-Kopf-Einkommens miteinander vergleichen. Der zweite Teil befasst sich mit der Entstehung der nationalen und internationalen Statistik. Am Beispiel von Adolphe Quetelets Sozialer Physik lege ich zunächst dar, dass die soziologische >Entdeckung< der Gesellschaft im 19. Jahrhundert maßgeblich durch die Institutionalisierung der nationalen Statistik beeinflusst war. Dieser Zusammenhang führt mich zu der Frage, ob zwischen der internationalen Statistik und dem Konzept der Weltgesell-
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schaft ein ähnlicher Zusammenhang besteht. Anschließend gehe ich auf die Entstehungsgeschichte der internationalen Statistik ein und beschreibe die kulturellen und sozialen Voraussetzungen, die gegeben sein müssen, damit weltweite quantifizierte Vergleiche überhaupt möglich werden. Der dritte Teil wendet sich dem genannten Fallbeispiel zu, der UN-Bevölkerungsstatistik zwischen 1948 und 2010. Anhand einer Analyse des Wandels des Klassifikationssystems von Territorien zeige ich, dass sich der Nationalstaat als universelle Beobachtungskategorie erst um 1970 durchsetzte. Die Ergebnisse dieser Analyse weisen darauf hin, dass bis in die 1960er Jahre die imperiale Ordnung und nicht die segmentäre Differenzierung in formal gleichberechtigte Nationalstaaten als Normalfall betrachtet wurde. Ausgehend von der neueren Imperiumsgeschichte interpretiere ich dieses Ergebnis als Indiz dafür, dass die Weltgesellschaft bis zu diesem Zeitpunkt durch eine »hierarchische Opposition« (Louis Dumont) gekennzeichnet war, deren Wirkungsweise Niklas Luhmann am Beispiel der stratifizierten Gesellschaft der Vormoderne beschrieben hat. In einem letzten Teil greife ich die in Abschnitt 2 aufgeworfene Frage nach dem Zusammenhang zwischen internationaler Statistik und dem Modell einer WeZigesellschaft wieder auf und frage abschließend, ob man - in Abwandlung eines Aufsatztitels von Friedrich H. Tenbruck (1990) - auch von einer >Geburt der Weltgesellschaft aus dem Geist der internationalen Statist i k sprechen kann. 1
1.
Welt-Vergleiche
>Globalisierung< ist zunächst ein deskriptiver Begriff und meint in der Regel eine Ausweitung grenzüberschreitender Verbindungen: »Globalization refers to the growth of the ties that span space« (Lechner 2009, 1). Die meisten Autoren analysieren diese raumübergreifenden Verbindungen als Vernetzungsphänomen, als grenzüberschreitende Bewegungen von Geld, Gütern, Informationen und Personen mit der Folge, dass Ereignisse an einem Ort der Welt immer häufiger durch Vorgänge geprägt sind, die sich an ganz anderen Orten der Welt abspielen. Die Schlüsselbegriffe sind >flowsconnectivitytiesCultural linkages< sind Verbindungen, die auf abstrakten Kategorien und Modellen beruhen und auch ohne Kontakte bzw. Kontaktketten zwischen Akteuren zustande kommen. Als Beispiel führen sie globale Kategorien an und argumentieren, dass bereits die Zuordnung von Einheiten zu ein und derselben Kategorie zwischen diesen eine Verbindung herstellt - eine »perceived similarity« - , die Diffusionsprozesse erleichtert. Kategorisierung ist allerdings nur eine Variante der Herstellung von >cultural linkagestiesIndigeneharte FaktenBankZahlen< sind Werte gemeint, die auf Messung beruhen und eine gemeinsame Metrik voraussetzen, z.B. wissenschaftliche Daten, Statistiken oder Testresultate. Espeland /Stevens (2008) sprechen in diesem Zusammenhang von »numbers that commensurate«. Davon sind Zahlen zu unterscheiden, die qualitative Unterschiede zwischen Objekten bezeichnen und diese in eine nominale oder ordinale Ordnung bringen. Ein Beispiel dafür sind Hausnummern oder Klassifikationscodes.
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der Aktienkurse auf einem einschlägigen Performanceindex zu verfolgen. Dazu kommt, dass die numerische Sprache eine praktisch universelle Sprache ist - eine Art Lingua franca - , die es nur in einer Variante gibt. Die konkreten Rechenpraktiken mögen zwar kontext- und kulturspezifisch variieren, die Regeln des Umgangs mit Zahlen sind aber praktisch universell. In Peru gelangt man bei einer Kalkulation zum selben Ergebnis wie in Deutschland, und eine internationale Statistik ist auch ohne kulturelle und sprachliche Übersetzung weltweit interpretierbar. Demgegenüber lässt sich eine Sprache nicht umstandslos in eine andere übersetzen: es gibt keine bedeutungsäquivalente Übersetzung, außer vielleicht im Bereich hoch formalisierter Wissenschaftssprachen. 3 Die Universalität mathematischer Regeln und die geringe Indexikalität numerischer Ausdrücke sind ein wesentlicher Grund dafür, weshalb Zahlen relativ problemlos zirkulieren, von Land zu Land, von Funktionssystem zu Funktionssystem und von Organisation zu Organisation. Internationale Statistiken sind dafür ein Beispiel.
2. Von der nationalen zur internationalen Statistik Internationale Statistiken sind gigantische Abstraktionsmaschinerien. Sie aggregieren Millionen von Mikrodaten, die an Tausenden Orten der Welt gesammelt, in nationalen statistischen Ämtern zusammengeführt, klassifiziert, aggregiert und transformiert werden, um dann in einem weiteren Schritt an internationale Statistikagenturen übermittelt und dort ein weiteres Mal kompiliert, klassifiziert und transformiert und schließlich in Form von Tabellen oder Graphiken veröffentlicht zu werden. Die Grundlage internationaler Statistiken sind weltweit und oft in Sekundentempo stattfindende Einzelereignisse. Im Falle der UN-Bevölkerungsstatistik: Geburten, Sterbefälle oder Grenzübergänge, die in Geburtsurkunden, Todesbescheinigungen oder Einreisezertifikaten verzeichnet sind und dadurch registrierbar werden. 4 Zwischen einer Geburt in Deutschland, einem Todesfall in Malawi und der Einreise eines Chilenen in die USA und den Daten der internationalen Statistik liegt eine Myriade von Entscheidungen, die durch epistemische Vorleistungen - durch Taxonomien, Erhebungstechniken, Klassifikationssysteme, Kalkulationsverfahren, Computerprogramme - präformiert sind. Statistiken beanspruchen zwar, eine ihnen äußere Welt abzubilden, es fehlt ihnen aber eine von ihren epistemischen Vorleistungen und Verfahren unabhängige Referenz. Am Anfang stehen nicht >objektive< Ereignisse oder Gegenstände, son3 Ein Beispiel sind die Übersetzungsprobleme, mit denen die U N konfrontiert ist. Während die Abschlussdokumente von UN-Weltkonferenzen in die sechs offiziellen UN-Sprachen übersetzt werden und die Übersetzung komplexe politische Probleme aufwirft (Cao/Zhao 2008), werden UN-Statistiken nur auf Englisch und Französisch veröffentlicht. 4 Zur Veranschaulichung vgl. den world population counter auf http://www.worldometers.info.
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dem Messwerte oder administrative Aufzeichnungen, Produkte also, die bereits organisatorisch und epistemisch vorgeformt sind. Diese ursprünglichen »Inskriptionen« (Latour 1988) werden in einer langen Kette von Übersetzungen und Transformationen so lange bearbeitet, verdichtet und relationiert, bis das, was sie darzustellen beanspruchen, »gleichsam in einen augenblick zu übersehen« (Leibniz) ist.5 Würde man versuchen, diese Transformations- und Entscheidungskette zurückzuverfolgen bis hin zu den lokalen Rohdaten, z.B. einem Kreuzchen in einem Zensusfragebogen, würde man notwendigerweise scheitern - und würde es dennoch gelingen, hätte man dafür den Weltblick verloren. Diese Beispiele zeigen, wie voraussetzungsvoll die Etablierung einer internationalen Statistik ist: Es braucht Vereinheitlichung, Zentralisierung und Standardisierung. Da die nationale Statistik in ihrer Entstehungsphase mit ähnlichen Problemen konfrontiert war, gehe ich zunächst auf die Institutionalisierung der nationalen Statistik und ihre Folgen für den soziologischen Gesellschaftsbegriff ein und skizziere dann die Entwicklung der internationalen Statistik. 2.1
Nationale Statistik und die >soziale Physik< der Gesellschaft
Entscheidende Schritte in der Quantifizierung des Vergleichs waren die Institutionalisierung der amtlichen Statistik zu Beginn des 19. Jahrhunderts und die Etablierung der Statistik als wissenschaftliche Disziplin (Porter 1986; Desrosières 2005; Hacking 1990). Die Kompilierung statistischer Daten war an sich nicht neu, sondern setzte bereits Ende des 17. Jahrhunderts mit der Entwicklung der »politischen Arithmetik« in England ein (Porter 1986, 18 ff.; Lazarsfeld 1961, 279 ff.). Die Begründer der politischen Arithmetik waren Privatpersonen, häufig ehemalige Kaufleute, die die Techniken der doppelten Buchführung auf das Sammeln demographischer Daten übertrugen. 6 Die politischen Arithmetiker stellten Tabellen zu Geburten, Heiraten und Todesfällen zusammen und stießen dabei auf Regelmäßigkeiten, die vorher nicht bekannt waren, etwa dass Bevölkerungsrückgänge relativ rasch kompensiert werden oder die Geburtenrate von Jungen immer leicht höher liegt als die der Mädchen. Wie der Name >political arithmetic besagt, war der Referenzrahmen ein politischer, der Hauptadressat war der Staat in Gestalt des herrschenden Souveräns. 7 Politische Arithmetik war, in den Worten eines ihrer Protagonisten,
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Eine Steigerungsform der synoptischen Kapazität von Statistiken stellen globale >skopische Systeme< dar. Dazu am Beispiel der internationalen Verschuldung informativ Grimpe 2010. 6 Zur Verwendung buchhalterischer Techniken in der Religionsstatistik anregend Petzke 2013. 7 Im deutschsprachigen Raum wurden die staatlichen Überwachungs- und Regulierungsaufgaben bis weit ins 18. Jahrhundert unter den Begriff der >Policey< subsumiert, der Begriff >Politik< blieb dagegen auf den Bereich der Außen-, Militär- und Steuerpolitik beschränkt. Erst im
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»the art of reasoning by figures upon things relating to, and of interest to, the government« (Charles Davenant 1771, zit. in Donnelly 1998, 231).8 Insofern hatte die politische Arithmetik eine explizit politische Funktion: Sie stellte die Grundlagen bereit für das, was Michel Foucault (2006) »Biopolitik« bzw. »Biomacht« nannte: die Regulierung des Gattungskörpers zum Zwecke der Wohlstandsvermehrung und der Steigerung der allgemeinen >GlückseligkeitGesetze der Gesellschaft zu erfassen. Die Namensänderung von Politischer Arithmetik< zu >Sozialer Statistik bringt diesen Wandel auf den Begriff. Im Mittelpunkt stand das Konzept der Bevölkerung, wobei Bevölkerung nicht mehr als Summe von Einzelindividuen aufgefasst wurde, sondern als eine Realität sui generis, die eigenständige und von den Statistikern - und später von den Soziologen - zu entdeckende Gesetzmäßigkeiten aufweist. Die von den Statistikern beschriebenen Makro-Eigenschaften und Ordnungsmuster führten zu einer grundlegend neuen Auffassung des Sozialen. Das Soziale wurde nicht mehr, wie noch in der Politischen Arithmetik, mit dem Politischen bzw. Staatlichen gleichgesetzt, sondern repräsentierte nun gerade umgekehrt jenen Bereich, der jenseits des Staates lag. Mit dieser Reinterpretation lieferte die Soziale Statistik eine weitere Begründung für die im 19. Jahrhundert typische Trennung von >Staat< und >GesellschaftGesellschaft< - nicht mehr die >hohe< Gesellschaft und auch nicht die >geselligesoziale Physik< war die Beobachtung von Regularität und Stabilität über die Zeit hinweg, die durch die Institutionalisierung der amtlichen Statistik nun erstmals möglich wurde. Was sich auf der individuellen Ebene als willkürliche »Laune des Willens« (1838, 5) präsentierte, erwies sich auf der Aggregationsebene des Sozialen als regelmäßig und geordnet. Sogar die persönlichste aller individuellen Entscheidungen - der Suizid - wies Regelmäßigkeiten und konsistente Beziehungen zu anderen Größen auf, wenn man die Ebene der »ganzen Gesellschaft« (10) in den Blick nahm. Wie war das zu erklären? Welche >unsichtbare Hand< schuf aus Zufällen Ordnung und reduzierte die Vielfalt individueller Entscheidungen auf einige wenige soziale Muster? Quetelet stützte seine Erklärung auf einen Vergleich mit der Physik: Wenn aus den Zufälligkeiten des individuellen Lebens auf gesellschaftlicher Ebene Ordnung entsteht, muss es ähnlich wie in der Physik allgemeine Gesetze geben, die diese Ordnung erzeugen. Quetelet konnte diese sozialen Gesetze zwar nicht im Einzelnen benennen, aber er konnte mindestens eine mathematische Begründung dafür liefern, weshalb man soziale Gesetze entdecken kann, ohne die individuellen Handlungen und deren Motive zu analysieren. Das Werkzeug dazu war das Gesetz der großen Zahlen von Jakob Bernoulli, ergänzt durch die wahrscheinlichkeitstheoretischen Beweise von Carl Friedrich Gauß und Pierre-Simon Laplace.10 Um die sozialen Gesetze herauszufinden, müssen wir, so Quetelet, »vom einzelnen Menschen abstrahiren, wir dürfen ihn nur als einen Bruchtheil der ganzen Gattung betrachten. Indem wir ihn seiner Individualität entkleiden, beseitigen wir Alles, was zufällig ist; und die individuellen Besonderheiten, die wenig oder gar keinen Einfluss auf die Masse haben, verschwinden von selbst und lassen uns zu allgemeinen Ergebnissen gelangen« (1838,3). Hinter dieser Überlegung stand das sogenannte Gaußsche Fehlergesetz, das später unter dem Namen
10 Zu den mathematischen Details Desrosières 2005, Kap. 2 und 3; Porter 1986, Kap. 4; Hacking 1990, Kap. 12 und 13.
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>Normalverteilung< bekannt wurde und das besagte, dass man bei einer hohen Beobachtungszahl die Abweichungen vom Mittelwert - die >Fehler< - vernachlässigen kann. Man braucht nur lange genug zu würfeln, damit die Zahl 5 mit einer Wahrscheinlichkeit von 1:6 gewürfelt wird. Daraus zog Quetelet den Schluss, dass die statistischen Mittelwerte eine eigene Aussagekraft haben, auch wenn man die individuellen Handlungen und Motive nicht kennt (2). Man muss nur »die Massen studieren, um aus den Beobachtungen alles Zufällige und Individuelle zu entfernen. Die Wahrscheinlichkeitsrechnung zeigt, dass unter übrigens gleichen Umständen, man sich umso mehr der Wahrheit oder den Gesetzen [...] nähert, eine je grössere Anzahl von Individuen den Beobachtungen zur Stütze dienen« (9). Das gilt sogar für ein Verhalten, das selten ist und außerhalb der Norm liegt, wie etwa Kriminalität und Suizid. Aus diesen statistischen Durchschnittswerten konstruierte Quetelet den »homme moyen« - den Durchschnittsmenschen. Der >Durchschnittsmensch< repräsentierte zwar vorerst nur die nationale Gesellschaft, es sei aber gut vorstellbar, dass man ihn irgendwann auch für das gesamte »Menschengeschlecht« errechnen könne: »Die scheinbare Absurdität einer solchen Untersuchung rührt nur von dem Mangel an Beobachtungen her« (Quetelet 1921, 151 f.). Eine solche >Welt-Statistik< lag zwar auch für Quetelet in weiter Ferne, nicht aber eine internationale Statistik, die nationale Durchschnittmenschen hinsichtlich ihrer physischen und sittlichen Merkmale miteinander verglich. Da Quetelet der Auffassung war, dass das numerische Profil des Durchschnittsmenschen das Produkt sozialer Gesetze sei, die sich je nach Land unterscheiden können, ließen sich aus einem solchen Vergleich Informationen über die Struktur nationaler Gesellschaften gewinnen. Mit seiner These, dass (nationale) Gesellschaften eigenständige Makroeigenschaften aufweisen, vermachte Quetelet den Sozialwissenschaften ein neues Untersuchungsobjekt, das von Emile Durkheim sechzig Jahre später als ultimativer Beweis für die Unverzichtbarkeit der Soziologie ins Feld geführt wurde: »Unter dem Vorwand, die Soziologie fester zu untermauern, indem man sie auf die psychologische Konstitution des Menschen gründet, bringt man sie von dem einzigen Gegenstand ab, der ihr zusteht. Man sieht nicht, dass es keine Soziologie geben kann, wenn es keine Gesellschaften gibt, und dass es keine Gesellschaften gibt, wenn es nur Individuen gäbe« (Durkheim 1983 [1907], 21; Hervorh. E. D.). Obschon sich Durkheim von Quetelet und seiner Konzeption des Durchschnittsmenschen abgrenzte (Durkheim 1983, 347 ff.), wäre seine Begründung der Soziologie ohne die Vorarbeiten von Quetelet kaum denkbar gewesen. Quetelets Konzept des >Durchschnittsmenschen< macht deutlich, wie sehr die Gesellschaftsauffassung der Soziologie durch die >Soziale Statistik< in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geprägt war. Was Quetelet abwechslungsweise und nicht immer konsistent als sozialen Körpermenschliche Gesellschaft oder soziales System< bezeichnete, wurde zum Gründungsbegriff der Soziologie und ebnete den Weg zu Dürkheims emergenztheoretischer Auffassung,
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dass die Gesellschaft zwar aus den Wechselwirkungen der Individuen entsteht, aber dennoch eine eigene Realität mit eigenen Gesetzmäßigkeiten bildet (Heintz 2004, 20 ff.)· Insofern hat die Statistik nicht nur dazu beigetragen, die Bewohner eines Landes in einen Vergleichszusammenhang zu bringen, sondern sie hat zudem zur Entdeckung verholfen, dass es jenseits der Individuen ein übergeordnetes Ganzes - eine Gesellschaft - gibt. In Abwandlung eines Aufsatztitels von Friedrich H. Tenbruck (1990) könnte man deshalb auch von der >Geburt der Gesellschaft aus dem Geist der nationalen Statistik< sprechen. Lässt sich dieser Zusammenhang auch auf die Weltgesellschaft übertragen? Kann man auf eine ähnliche Weise von der >Geburt der We/igesellschaft aus dem Geist der internationalen Statistik< sprechen? Ich komme auf diese Frage im letzten Abschnitt zurück. 2.2
Die Ausbreitung der internationalen Statistik
Implizit waren zwar bereits die frühen Statistiken auf eine vergleichende Beobachtung hin angelegt (Behrisch 2004, 558), aber erst Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden, unter aktiver Beteiligung von Adolphe Quetelet, erste Initiativen für den Aufbau einer internationalen Statistik. Den Anfang machte der Internationale Statistische Kongress, der 1853 mit dem Ziel gegründet worden war, die Vergleichbarkeit der nationalen Statistiken durch die Festlegung von Standards zu verbessern. Die Gründung des Kongresses war zwar eine primär europäische Angelegenheit, das Projekt hatte aber eine deutlich größere Reichweite: Neben den USA und lateinamerikanischen Staaten waren auch Australien, Japan und die Türkei vertreten (Nixon 1960, 149). Die Kongresse scheiterten zwar an der zunehmenden Staatenkonkurrenz und wurden nach 1878 nicht mehr fortgesetzt (Randeraad 2011), mit der Gründung des International Statistical Institute (ISI) wurde das Projekt einer Standardisierung und Koordination nationaler Statistiken aber auf neue Weise weitergeführt. Im Unterschied zu den internationalen statistischen Kongressen war das International Statistical Institute eine wissenschaftliche Assoziation, in der Regierungsvertreter keine Mitgliedschaftsrechte mehr hatten. Gleichzeitig wurde auch die Zielsetzung erweitert: Neben der Verabschiedung von Empfehlungen und der Veröffentlichung von internationalen Vergleichsdaten wurde auch ein >World Census Project< ins Auge gefasst (Ventresca 2002, 15), wenn auch bis zur Gründung der UN nicht realisiert. Mit der Gründung des Völkerbundes 1919 erhielt die internationale Statistik einen neuen Anstoß. Während das International Statistical Institute eine ausschließlich private Assoziation war und die statistischen Kongresse eine Art >private-public partnership< bildeten, war es jetzt eine internationale Regierungsorganisation, die die statistischen Aktivitäten bündelte, Empfehlungen formulierte und vergleichende Daten publizierte. Das langfristige Ziel bestand darin, eine internationale Agentur zu etablieren, die nicht mehr (nur) auf die
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freiwillige Koordination der nationalen statistischen Ämter angewiesen war, sondern den Aufbau einer internationalen Statistik selbst an die Hand nahm. Als Regierungsorganisation verfügte der Völkerbund nicht nur über mehr Autorität und Ressourcen, sondern hatte auch andere Möglichkeiten, die Implementierung der verabschiedeten statistischen Standards zu beeinflussen (Nichols 1942). Da die statistischen Aktivitäten aber nur schwach institutionell abgestützt waren, blieb die Resonanz beschränkt (Latham 1946). Erst mit der Gründung des Statistical Office der UN wurden die organisatorischen Voraussetzungen dafür geschaffen, eine systematische internationale Statistik zu etablieren (Ward 2004). Aber auch dann dauerte es noch relativ lange, bis die internationale Statistik tatsächlich zu einem globalen Vergleichsinstrument wurde (s. Abschnitt 3). Die lange Geschichte der Statistik belegt, welche Schwellen überwunden werden mussten, bis quantitative Vergleiche auf Dauer gestellt werden konnten. Es müssen mindestens vier Voraussetzungen gegeben sein, damit sich eine nationale bzw. internationale Statistik etablieren kann. Eine erste und entscheidende Voraussetzung ist kultureller Art. Wie ich im ersten Abschnitt ausgeführt habe, konnte sich eine nationale Statistik erst dann entwickeln, als die Gemeinsamkeiten zwischen den Bewohnern eines Landes als relevanter erachtet wurden als ihr sozialer Stand. Das gleiche gilt auch für die internationale Statistik. Auch internationale Statistiken setzen eine Gleichheitssemantik voraus, nur bezieht sich die Gleichheitsannahme in diesem Fall nicht auf Personen, sondern auf Völker und Staaten (s. dazu Abschnitt 3.2). Eine zweite Voraussetzung ist Zentralisierung und Organisationsbildung. Flächendeckende Bevölkerungserhebungen erfordern einen zentralisierten Staat mit einem funktionierenden Behördenapparat und eine zentrale Agentur, ein »centre de calculation« (Latour), die die Daten auf der Basis standardisierter Verfahren erhebt und bearbeitet. Der Aufbau einer Statistik erfordert drittens Standardisierung und Vereinheitlichung. Um den Wohnsitz, den Familienstand oder die berufliche Tätigkeit zu erfassen, müssen Maße, Erhebungsmethoden (Fragebögen) und Aufzeichnungsverfahren (Formulare) standardisiert und muss die Datenverarbeitung rationalisiert und zentralisiert werden. Die Geschichte der nationalen Statistik zeigt, welche immensen sozialen Eingriffe dazu erforderlich waren. »Society must be remade before it can be the object of quantification. Categories of people and things must be defined; measures must be made interchangeable, land and commodities, labor and its products, must be conceived as represented by an equivalent in money« (Porter 1992, 201). In einer Gesellschaft, in der praktisch jede Stadt ihre eigenen Maßeinheiten hatte und der Grundherr berechtigt war, die Maße festzulegen, stießen solche Vereinheitlichungsprojekte oft auf erheblichen lokalen Widerstand.11 11 Wie voraussetzungsvoll bereits die Einführung von Hausnummern war, zeigt anschaulich Tanter 2007. Denn um Häuser mit Hausnummern zu versehen, mussten zuerst die Nummerierungsabschnitte, d. h. die Basiseinheiten festgelegt werden, und dazu brauchte es Krite-
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Im Falle weltweiter Statistiken, die mit einer sehr viel größeren Vielfalt von Sozialstrukturen, rechtlichen Regulierungen, Währungen und Maßen konfrontiert sind, stellt sich dieses Problem noch sehr viel schärfer. Eine internationale Statistik setzt viertens universelle Vergleichskriterien voraus. Diese Voraussetzung ist in einigen Fällen unproblematisch, etwa wenn Länder hinsichtlich ihrer Nahrungsmittelproduktion verglichen werden, sie wird aber zu einem erheblichen Problem, sobald komplexe soziale und wirtschaftliche Vergleiche durchgeführt werden. Das bekannteste Beispiel ist das Bruttoinlandsprodukt GDP bzw. das daraus errechnete Pro-Kopf-Einkommen (informativ Speich 2011). Die Berechnung des GDP beruht auf einem ökonomischen Modell, dem Modell der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, das für westliche Marktwirtschaften entwickelt wurde und nur bedingt auf Länder anwendbar ist, in denen ein großer Teil des nationalen Einkommens auf Subsistenzarbeit, Schattenarbeit und nicht registrierten Rücküberweisungen 12 von im Ausland lebenden Familienangehörigen beruht (s. dazu Ward 2004, Kap. 2). Dazu kommt, dass jede Statistik eine Auswahl treffen muss: Die Festlegung von Vergleichskriterien und Vergleichsindikatoren ist notwendigerweise selektiv. So ignoriert die Vermessung der wirtschaftlichen Leistung eines Landes anhand des Bruttoinlandsprodukts alles Übrige: unbezahlte Arbeit, die Verteilung des Einkommens oder die ökologischen Nebenfolgen. Was quantitativ nicht erfasst wird oder nicht erfassen werden kann, bleibt unsichtbar und wird damit sozial irrelevant gemacht. Das wichtigste Darstellungsmedium von Statistiken ist die Tabelle. Bereits Leibniz hatte die Tabelle als »bequämstes Instrument« beschrieben, um den »Kern der Nachrichtungen« darzustellen. Und sie muss »schrifftlich (sein), dieweil man nicht allezeit die dinge in Natura vor äugen haben und besichtigen kann« (Leibniz 1986 [1680], 341; s. o. Einleitung). Schriftlich bedeutet nicht, dass die Zellen notwendig numerische Informationen enthalten müssen: quantitative Tabellen, so wie wir sie heute kennen, wurden erst im Verlaufe des 19. Jahrhunderts zum Normalfall. 13 Tabellen sind eine spezifische rien. Sollte man die Nummerierungsabschnitte nach geographischen, religiösen (Pfarreien), politischen (Grundherrschaft) oder sozialen Kriterien (Status der Bewohner) voneinander abgrenzen? In einer Welt, in der soziale und religiöse Unterschiede noch einen Unterschied machten, war es keineswegs selbstverständlich, dass die Schlösser der Herrschaft und die Hütten der Untertanen fortlaufend nummeriert werden. Für ein ähnlich gelagertes Beispiel s. Desrosières 2005, 47ff. 12 Ein bekanntes Beispiel ist das Hawala-System, bei dem keine Geldströme fließen und monetäre Leistungen oft durch nicht monetäre Gegenleistungen kompensiert werden. 13 Ein instruktives Beispiel ist die Kontroverse über den wahren Charakter< einer Tabelle, die innerhalb des 1800 gegründeten Bureau de statistique de la République geführt wurde. Die einen orientierten sich an der Deutschen Universitätsstatistik (s. o. Anm. 8) und bezeichneten quantitative Tabellen als »Skelette ohne Substanz«, die »enigmatisch« ausdrückten, was man sprachlich »auf natürliche Weise und ohne Ungereimtheiten« formulieren kann. Die anderen hielten sich an die politische Arithmetik und argumentierten, dass es die Aufgabe der Statistik sei, »Vergleiche« herzustellen. Dazu brauche man aber »massenhafte Fakten«, die sich nur in Form von Zahlen darstellen lassen, der »verführerische Glanz eines eleganten Stils« helfe dabei nicht (zit. in Desrosières 2005, 40 ff.).
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Darstellungs/orm. Sie bringen Informationen in eine rasterförmige und oft hierarchisch aufgebaute Struktur. Im Unterschied zu Listen oder Fließtexten ermöglichen sie, die Verbindungen zwischen den dargestellten Inhalten auf einen Blick zu sehen. Graphisch teilen sie eine Fläche in horizontal und vertikal gegliederte Felder auf und gewinnen dadurch eine visuelle Dimension (anregend Segelken 2010, 89 ff.). Die Visualität von Tabellen ist nicht nur ein wesentlicher Grund dafür, weshalb »die Connexion der Dinge sich darinn auf einmahl fürstellet« (Leibniz), sie dirigiert auch das Sehen und lenkt den Blick in eine bestimmte Richtung. Durch die Aufbereitung von statistischen Daten in Form von Graphiken und Bilddiagrammen wird diese visuelle Disziplinierung noch weiter verstärkt (Anderson 2008; Hoggenmüller 2013).
3.
Welt-Modelle: Die UN-Bevölkerungsstatistik zwischen kolonialer Differenz- und weltgesellschaftlicher Gleichheitssemantik
Statistiken setzen voraus, dass die verglichenen Einheiten ein und derselben Kategorie zugeordnet werden: Adlige und Bettler der Kategorie >PersonStaatcountries< bezeichneten Gebiete subsumieren, und nach welchen Kriterien werden sie voneinander abgrenzt? Die fehlende Kommensurabilität äußert sich auch in terminologischen Unsicherheiten: Was in der Tabellenüberschrift als >area< bezeichnet wird, heißt in der Spaltenüberschrift >countryarea< in der Tabellenüberschrift zweimal und in unterschiedlicher Bedeutung vor. Diese terminologische Unentschiedenheit bleibt bis 1990 bestehen. 1955 wird aus >each area of the world< >each part of the worldeach country and territory of the world< ersetzt, 1965 fällt >territory< wieder weg, 1975 wird der Begriff >area< wieder eingeführt und der Zusatz heißt nun >each country or area of the worldKontinentcountry< bezeichneten Einheiten vergleichbar sind, also ein und derselben Kategorie angehören, faktisch handelt es sich aber um ein Ensemble ganz unterschiedlicher Einheiten. Was könnte im Jahre 1948 die Gemeinsamkeit zwischen Frankreich, Triest, Togoland, Nauru und den namenlosen >possessions< Spaniens in Nordafrika sein, die alle unter dem Begriff >country< aufgeführt werden? Die Tabelle enthält dazu keinerlei Informationen, sie bietet jedoch in der linken Spalte eine komplexe und ineinander verschachtelte Klassifikation an (s. Schema 1). Die oberste Ordnungsebene bilden die Kontinente. Auf der nächst tieferen Ebene werden sieben Kategorien unterschieden, denen der gleiche Ordnungsstatus zugewiesen wird: 1. abhängige Gebiete (non-self-governing territories and dependencies),19 2. Treuhandgebiete (trust territories), 3. ehemalige Mandatsgebiete des Völkerbunds (former mandated territories), 4. militärisch verwaltete Gebiete (military government), 5. Kondominien (condominium), 6. Gebiete unter internationaler Verwaltung (international administration) und 7. unabhängige Staaten. Im Unterschied zu den anderen Kategorien wird diese siebte Kategorie jedoch nicht als eigene Kategorie kenntlich gemacht: Die unabhängigen Staaten werden ohne Überschrift eingeführt. 20 Auf einer dritten Ordnungsebene werden die Kolonien weiter unterteilt, zunächst nach Kolonialmacht (Frankreich, Großbritannien, Spanien etc.), dann - allerdings ohne dies durch Überschriften anzuzeigen - nach Territorien (Algerien, FranzösischÄquatorialafrika, Französisch Westafrika, Marokko etc.)21 und schließlich noch nach Gebieten innerhalb dieser Territorien (z. B. Tschad, Gabun, Mittelkongo und Ubangi Schari im Falle von Französisch-Äquitorialafrika).22 18 Die Schwierigkeit, die Sowjetunion einzuordnen, zeigt sich auch darin, dass die Bezeichnung »Union of Sowjet Socialist Republics« als Kontinentüberschrift und gleichzeitig als Unterkategorie neben der Ukraine und Weißrussland aufgeführt wird. 19 Im Unterschied zum Völkerbund wird der Begriff >Kolonie< strikt vermieden. Dies gilt auch für die anderen UN-Dokumente dieser Zeit, etwa die UN-Charta. Einfachheitshalber werde ich im Folgenden aber von Kolonien sprechen und den Begriff >abhängige Gebiete< in der Regel als Oberbegriff verwenden. 20 In der Tabelle sind insgesamt rund 250 Einheiten aufgeführt. Von diesen sind über 180 den sieben Kategorien auf der zweiten Ordnungsebene zugeordnet, davon werden gut siebzig als unabhängige Staaten eingestuft. 21 Diese Gebiete werden zwar der gleichen Kategorie zugeordnet (Hoheitsgebiete von Frankreich), faktisch haben sie aber einen teilweise ganz unterschiedlichen politischen Status. Französisch-Westafrika war eine Föderation von sieben Kolonien (u. a. Dahomey, Mauretanien, Niger), Marokko war ein Protektorat (Französisch-Marokko) und Algerien wurde 1947 ein französisches Departement. Die Algerier erhielten zwar die französische Staatsbürgerschaft, nicht aber die gleichen Rechte wie die französischen Siedler. 22 Interessant ist ein Vergleich mit der Bevölkerungsstatistik des Völkerbundes. In der Bevölkerungstabelle von 1926 ist die Kolonialmacht das primäre Klassifikationskriterium, der politische Status (Kolonie, Mandatsgebiet, Protektorat etc.) ist sekundär: »German Colonies and Protectorates«, »Belgian Congo«, »British Colonies, Protectorates and Mandated Territories« etc. Dieser Unterschied weist darauf hin, dass die imperiale Ordnung 1948 nicht mehr
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Diese Klassifikation zeigt zwar die Komplexität der Verhältnisse an, sie gibt aber keinen Aufschluss darüber, was mit >country< gemeint ist und worin die Gemeinsamkeit zwischen Basutoland (Kolonie), Tanger (internationale Verwaltung), Swasiland (Protektorat), Nauru (Treuhandgebiet), Ryukyu Inseln (militärische Verwaltung), den Neuen Hebriden (britisch-französisches Kondominium) und den USA bestehen könnte. Die einzige Gemeinsamkeit besteht darin, dass es sich um geographisch definierte Gebiete handelt. Aber wie diese Gebiete identifiziert und voneinander abgrenzt werden, bleibt unklar. Sind es politische Gesichtspunkte, und wenn ja welche, oder werden zusätzlich kulturelle und religiöse Kriterien berücksichtigt? Da diese Frage offenbleibt, ist die Bezeichnung >country< nicht interpretierbar, sie ist ein leerer Begriff: Die Einheiten, die miteinander verglichen werden sollen, fallen nicht unter dieselbe Kategorie, sie sind in diesem Sinne inkommensurabel. Im Verlaufe der Zeit wird das Klassifikationssystem verschlankt: 1960 wird noch zwischen ehemaligen Mandatsgebieten, Treuhandgebieten und >nonself-governing territories and dependencies< unterschieden (letztere immer noch nach Kolonialmacht sortiert), 1965 wird erstmals die Kategorie u n a b hängige Staaten< eingeführt und den >non-sovereign countries< gegenübergestellt, 1970 fällt auch diese Unterscheidung weg. Die Gebiete werden von diesem Zeitpunkt an nur noch alphabetisch geordnet, ohne ihren politischen Status kenntlich zu machen, auch nicht in den Fußnoten. Um zu erfahren, ob es sich um einen unabhängigen Staat oder um ein abhängiges Gebiet handelt, muss man sich anderer Informationsquellen bedienen. Erst von diesem Zeitpunkt an wird der Nationalstaat in der statistischen Beobachtung zu einer globalen Kategorie, und komplementär dazu werden die weiterhin bestehenden abhängigen Gebieten unsichtbar gemacht. 23 Die Bevölkerungsstatistik erhebt nicht nur den Anspruch auf Vergleichbarkeit, sondern auch auf Erfassung des gesamten >WeltkörpersEuropean population bzw. die >non-indigeneous population erfasst wurde und wo die Bevölkerungszahl nicht genau erhoben werden konnte (Schiffsbesatzungen, Militärdienst außer Landes etc.). So wird etwa für die Seychellen notiert, dass die Angaben zu 600 Personen fehlen. Bei einer Bevölkerungsgröße von damals 35232 sind das weniger als 2 Prozent. Diese (Über)Präzision steht in markantem Kontrast zu einer auffälligen Leerstelle. Es wird zwar für einige (aber längst nicht für alle) Gebiete vermerkt, dass sich die Zahlen auf die >European population beschränken, dass damit aber die einheimische Bevölkerung, also die Mehrheit der Weltbevölin gleichem Maße als konsolidiert betrachtet wurde und alternative Formen politischer Organisation sichtbar wurden (s. u.). 23 1970 gab es immerhin noch 46 Kolonien.
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kerung, aus der Statistik ausgeschlossen bleibt, wird nicht weiter kommentiert. Als nicht gezählt werden nur jene Bevölkerungsgruppen ausgewiesen, die auch innerhalb der (nicht erfassten) einheimischen Bevölkerung marginalisiert sind und in der Vorstellungswelt des 19. Jahrhunderts für das nicht zivilisierbare Andere standen: die >full blood Aboriginesbush Negroestribal Indians< oder die >jungle inhabitantsEuropean population^ und nicht zivilisiert (>jungle inhabitantszivilisierbaren Nichtzivilisierten< könnte ein Indiz dafür sein, dass die globale Gleichheitssemantik zu dieser Zeit noch ein relativ marginales Beobachtungsschema war und sich noch nicht gegen die koloniale Differenzsemantik durchgesetzt hatte. 3.2
Modelle globaler Differenzierung
Es gibt verschiedene theoretische Ansätze, um die weltweite Ausbreitung des Nationalstaates zu erklären. Die klassische Nationalforschung ging davon aus, dass das Modell des Nationalstaates Ende des 18. Jahrhunderts in Europa bzw. in den nord- und südamerikanischen Territorien (Anderson 1991) aufkam und von dort aus allmählich weltweit diffundierte. Demgegenüber sehen neuere Arbeiten den entscheidenden Faktor in globalen Prozessen wechselseitiger Beobachtung, die Ende des 19. Jahrhunderts dazu führten, dass der Nationalstaat als ein universales Modell begriffen wurde, dessen Elemente überall auf der Welt übernommen und adaptiert werden können (siehe u. a. Goswami 2002; Werron 2012) Der vorliegende Aufsatz befasst sich mit einer anderen historischen Phase und einer anderen Frage. Es geht nicht darum, wann und weshalb sich der Nationalstaat als weltweite Strukturform durchsetzte, und auch nicht um die Entstehungsgeschichte des Nationalstaats als ein universales Modell, das von Unabhängigkeitsbewegungen aufgegriffen werden konnte, aber bis nach dem Zweiten Weltkrieg längst nicht immer wurde (Cooper 2007). Vielmehr interessiert die Frage, wann und unter welchen Bedingungen sich das Modell des Nationalstaates tatsächlich als universales Modell durchsetzte. Ich unterscheide also zwischen dem Nationalstaat als Strukturform und dem Nationalstaat als Modell und zwischen der Bereitstellung eines Modells und seiner tatsächlichen Übernahme. Zur Beantwortung dieser Frage beziehe ich mich zum einen auf die vorhergehende Analyse der Bevölkerungsstatistik und zum andern auf die neuere historische Imperiumsforschung. Im Gegensatz zur Imperiums- und Globalisierungsgeschichte schenkt die soziologische Weltgesellschaftsforschung der imperialen Ordnung kaum Beachtung. Imperien gelten ihr in der Regel als vormodernes Relikt, und Imperium und Nationalstaat werden als einander ausschließende Alternativen angesehen, die sich historisch kaum überlappen
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(allerdings Go 2011; Kumar 2010).24 Die Tatsache, dass um 1900 ein großer Teil Asiens und fast ganz Afrika durch Kolonialmächte beherrscht war und die abhängigen Gebiete noch 1945 einen Gebietsanteil von rund dreißig Prozent ausmachten (Wimmer/Min 2006), wird soziologisch kaum thematisiert und erst recht nicht theoretisiert. Dies gilt in besonderem Maße für die Systemtheorie und den Neo-Institutionalismus, in deren Theorien der Begriff des Imperiums und die Realität einer imperialen Weltordnung ein blinder Fleck ist (als Ausnahme Strang 1990; s. auch Stichweh 2007, 27f.).25 In beiden Theorien werden Weltgesellschaft und Nationalstaat konstitutiv aufeinander bezogen: keine Weltgesellschaft ohne Nationalstaat und umgekehrt. Demgegenüber zeigt die neuere Imperiumsgeschichte, dass Imperium und Nationalstaat über längere Zeit hinweg komplementäre Formen politischer Organisation bildeten, und die imperiale Ordnung auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch für eine gewisse Zeit aufrechterhalten werden konnte (Burbank / Cooper 2010, Kap. 13; Calhoun 2006; Cooper 2005, 187ff.; Darwin 2009, Kap. 12-14; Mazower 2009, insb. Kap. 1; Osterhammel 2009, 584, 605). 26 Die Analyse der Bevölkerungstabelle verweist auf einen zusätzlichen Punkt: Sie gibt einen Hinweis darauf, dass sich auch das Modell des Nationalstaats bis Ende der 1960er Jahre noch nicht als universales Modell durchgesetzt hatte. Erst von 1970 an wird der Nationalstaat in der statistischen Beobachtung als globale Kategorie verwendet, und die weiterhin bestehenden abhängigen Gebiete werden im Gegenzug dazu invisibilisiert. Bis 1965 unterscheidet die Statistik zwischen verschiedenen politischen Organisationsformen - unabhängigen Staaten, Kolonien, Treuhandgebieten, Mandatsgebieten etc. - , die sie alle der gleichen Ordnungsebene zuordnet (s. o. Schema 1). Die Kategorie der unabhängigen Staaten bleibt dabei implizit, nur die abhängigen Gebiete werden durch eigene Überschriften kenntlich gemacht und in Abhängigkeit ihrer 24 Auf definitorischer Ebene werden Imperien und Nationalstaaten durch folgende Merkmale voneinander abgegrenzt: Moderne Imperien zeichnen sich durch eine Zentrum/PeripherieStruktur aus, sie sind kulturell heterogen, bestimmen die Beziehung zwischen Zentrum und Peripherie als ethnisch oder kulturell definierte Hierarchie und beanspruchen für ihr Weltmodell universelle Anwendbarkeit und Legitimität. Demgegenüber betonen Nationalstaaten ihre kulturelle Homogenität und definieren sich über das Prinzip der Gleichheit aller Bürger. Ihre Legitimation erreichen sie über die Idee der Volkssouveränität (Wimmer/Min 2006, 870; Osterhammel 2009, 607ff.; Kumar 2010,121 f.). 25 Ein Grund für diese >Blindheit< könnte darin liegen, dass sich beide Weltgesellschaftstheorien von Wallersteins Weltsystemtheorie und deren ökonomischer Verengung abgegrenzt haben (programmatisch Hopkins / Wallerstein 1979; informativ Hack 2005). An die Stelle der ökonomisch definierten Zentrum/(Semi)Peripherie-Unterscheidung setzten sie das Konzept eines globalen Zusammenhanges, d. h. einer Weltgesellschaft. Die Tatsache, dass mit der Weltgesellschaftstheorie eine soziologisch plausiblere Alternative bereitstand, könnte dazu geführt haben, dass der Begriff des Zentrums bzw. des Imperiums in der Soziologie lange Zeit diskrediert war - und es offensichtlich trotz der Befunde der neueren Imperiumsgeschichte noch immer ist. 26 Die Imperiumsgeschichte unterscheidet im Anschluss an Robinson / Gallagher (1953) zwischen >formalen< und >informellen< Imperien. Ich kann auf diese wichtige Unterscheidung im Folgenden nicht näher eingehen, vgl. aber am Beispiel eines Vergleichs des Britischen Empires mit den USA informativ Go 2011.
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politischen Verwaltung und der jeweiligen Kolonialmacht intern differenziert. Dies weist darauf hin, dass die imperiale Ordnung und nicht die segmentare Differenzierung in formal gleichberechtigte Nationalstaaten als Normalfall betrachtet wurde. Das heißt die Seite, die bezeichnet und damit kommunikativ anschlussfähig gemacht wird, ist die Seite der Abhängigkeit, die ihrerseits implizit - aber eben nur implizit - auf Souveränität verweist. In einem zweiten Schritt werden die abhängigen Gebiete ihrerseits intern differenziert, indem innerhalb der Kategorie der >non-self-governing territories and dependencies< zwischen der Kolonialmacht und den von ihr kontrollierten Territorien unterschieden wird. In systemtheoretischer Terminologie handelt es sich um einen >re-entryZivilisation< zu einem universalen Vergleichsmodell, das Hand in Hand ging mit der Konstruktion einer grundlegenden und teilweise biologisch begründeten Differenz zwischen den Angehörigen des Zentrums und den Untertanen der Peripherie (Burbank/Cooper 2010, Kap. 10; Fisch 2001; Go 2011, 72 ff.; Osterhammel 2009, Kap. XVII). Oder in Jürgen Osterhammels Formulierung: »Asien war Europa vergleichbar, solange sich Europa noch nicht für unvergleichlich hielt« (1998, 378; Hervorh. B. H.). Dies gilt in besonderem Maße für das Britische Imperium, das sich nicht als krude Kolonialmacht verstand, sondern die koloniale Unterwerfung mit einem zivilisatorischen Sendungsbewusstsein verband.28 Nirgendwo anders war die Vorstellung einer globalen >Zivilisierungsmission< so ausgeprägt wie in Großbritannien. Der Anspruch Großbritanniens auf eine universale Modellfunktion mochte zwar von anderen Kolonialmächten bestritten werden, unbestritten aber war die Vorstellung, dass die Welt nur durch Europa repräsentiert werden konnte. Ähnlich wie es in der frühzeitlichen Gesellschaft Europas undenkbar war, »dass die eigentlichen Qualitäten des gesellschaftlichen Lebens durch Bauern oder das Personal in der Küche repräsentiert werden könnten« (Luhmann 1988, 53), war es bis nach dem Zweiten Weltkrieg undenkbar, dass die globale Ordnung durch die weltgesellschaftliche Peripherie, die >nicht zivilisiertem Völker, repräsentiert werden könnte, zumal es nicht einmal sicher war, ob sie in der Lage waren, ihre eigenen Territorien zu verwalten.29 Die kolonialisierten Völker mussten zuerst einen »Zivilisierungsprozess« durchlaufen, bevor man ihnen staatliche Unabhängigkeit zubilligen konnte (Fisch 2010, 139 ff., 27 Aus der systemtheoretischen Definition von Weltgesellschaft folgt aber nicht automatisch, dass die Weltgesellschaft notwendigerweise funktional differenziert sein muss. Der Zusammenhang zwischen Weltgesellschaft und funktionaler Differenzierung wird über eine Zusatzthese hergestellt: über die These, dass die Funktionssysteme aufgrund der ihnen inhärenten Logik zu einer Transzendierung räumlicher Grenzen tendieren. 28 Frankreich entwickelte Ende des 19. Jahrhunderts seine eigene »mission civilisatrice« (Conklin 1997, v. a. Kap. 1), erreichte damit aber nicht die gleiche Resonanz und Legitimation wie die britische civilization missions 29 Die Begründung dafür variierte und reichte von einer >not-yetAnderenrepräsentationsfähig< seien, wurde in der UN-Charta von 1945 noch einmal offiziell bekräftigt. Die Kolonialmächte haben in ihren Hoheitsgebieten »die Völker, die noch nicht die volle Selbstregierung erreicht haben [...,] bei der fortschreitenden Entwicklung ihrer freien politischen Einrichtungen zu unterstützen, und zwar je nach den besonderen Verhältnissen jedes Hoheitsgebiets, seiner Bevölkerung und deren jeweiliger Entwicklungsstufe« (Art. 73).31 Erst in der sogenannten Entkolonialisierungserklärung von 1960 (Resolution 1514 XV) wird das bedingungslose Recht auf Selbstbestimmung als Forderung formuliert und in den Menschenrechtspakten dann auch rechtlich kodifiziert (Fisch 2010, 224 ff.). Insofern spricht einiges dafür, dass die globale Ordnung auf ähnliche Weise durch eine >hierarchische Opposition charakterisiert war wie die stratifizierte Gesellschaft der Frühen Neuzeit. Imperiales Zentrum und Peripherie standen nicht nur in einem Verhältnis struktureller Ungleichheit, sondern waren durch eine Hierarchie gekennzeichnet, in der das Zentrum den Anspruch auf Repräsentation des Ganzen erhob. 32 Auf diese strukturelle und semantische Ordnung legt sich mit der UN-Charta und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte eine neue Selbstbeschreibung, die die Gleichheit aller Menschen und die Selbstbestimmung aller Völker postuliert, letzteres allerdings nur am Rande und noch nicht als Recht formuliert (Charta, Art 1.2, Art. 55). Wie ich zu zeigen versucht habe, wird die widersprüchliche Koexistenz zwischen imperialer Ordnung und aufkommender Gleichheitssemantik, kolonialem Differenzdiskurs und funktionaler Ausdifferenzierung auch in den widersprüchlichen Kategorisierungen der Bevölkerungsstatistik reflektiert. Die Statistik behauptet zwar Vergleichbarkeit und unterstellt damit eine prinzipielle Gemeinsamkeit zwischen den verglichenen Einheiten, faktisch werden die abhängigen Gebiete aber über ihre Relation zur Kolonialmacht definiert und nicht als eigenständige, den Nationalstaaten gleichgestellte Einheiten behandelt. Die auch rechtliche Durchsetzung der Gleichheitssemantik führt dann in den 1960er Jahren zu einem endgültigen Legitimationsverlust des Repräsentationsanspruchs der Imperien. In Analogie zur Selbstbeschreibung des Nationalstaates als Gemeinschaft gleichberechtigter Bürger beschreibt sich die Weltgesellschaft nun als Gemeinschaft gleichberechtigter Menschen und Völker. Diese Selbstbe30 Neu gegenüber der frühmodernen Stratifikationsordnung ist jedoch die temporalisierte Perspektive, die eine Veränderung in der Zeit zulässt. Aus einem Bauern konnte kein Adliger werden, aus einer Kolonie aber irgendwann vielleicht ein unabhängiger Staat. 31 Noch 1950 wurde die Forderung, dass sich die Kolonialmächte zur Durchsetzung der Menschenrechte in ihren Hoheitsgebieten verpflichten sollten, mit dem Argument abgewiesen, dass die Idee der Menschenrechte mit der Vorstellungswelt von Völkern auf >tiefer Entwicklungsstufe< inkompatibel sei: »By imposing those rules on them at once, one ran the risk of destroying the very basis of their society« (zit. in Moyn 2010, 96). 32 Frederick Cooper formuliert eine nicht unähnliche Idee, wenn er das Spannungsverhältnis zwischen Differenzierung und Inkorporierung als Hauptmerkmal moderner Imperien beschreibt (Cooper 2005,153 ff.).
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Schreibung bildet das Fundament für die Entstehung einer allgemeinen und weltweiten Inklusionserwartung, die sich im Anspruch auf >Entwicklung< und >Modernisierung< äußert. Dieser Anspruch stützt sich auf den nun erstmals möglichen Vergleich zwischen den »>have< and >have-not< nations« (Parsons 1967, 471) und bezieht seine Virulenz aus dem Prinzip der Gleichberechtigung aller Menschen und aller Völker. 33 In den beiden Menschenrechtspakten, die 1966 verabschiedet wurden und 1976 in Kraft traten, findet diese Semantik ihren institutionalisierten Ausdruck. In der UN-Bevölkerungsstatistik äußert sie sich in einem Sortierungsprinzip, das nicht mehr unterschiedliche politische Organisationsformen unterscheidet, sondern >nur noch Nationalstaaten kenntgewöhnlichen< Nationalstaaten, die denselben politischen Status haben wie ihre ehemaligen Kolonien. Erst von diesem Zeitpunkt an kann man von einer Ausdifferenzierung eines (segmentär differenzierten) weltpolitischen Systems sprechen. Diese Überlegungen lassen sich noch einen Schritt weiterführen und auf die Frage nach der Differenzierungsform der Weltgesellschaft selbst beziehen. Luhmann hat bekanntlich einen Primat funktionaler Differenzierung behauptet, in späteren Jahren ergänzt durch die Vermutung, dass sich möglicherweise die Differenzierung von Inklusion und Exklusion über die funktionale Differenzierung lege (Luhmann 1995b). In der neueren Systemtheorie sind die Meinungen geteilt, ob die gegenwärtige Weltgesellschaft tatsächlich als funktional differenziert beschrieben werden kann und was >Primat< funktionaler Differenzierung im Weltmaßstab überhaupt heißt (kritisch Japp 2007; Holzer 2007). Meint funktionale Differenzierung die Institutionalisierung globaler Erwartungshorizonte, an denen gemessen die Beeinflussung von politischen Entscheidungen durch Geld oder die Steuerung von Gerichtsurteilen über politische Macht illegitim ist? Oder meint funktionale Differenzierung die faktische Durchsetzung dieser Erwartungen in allen Weltregionen - und 33 Ein wissens- und wissenschaftssoziologisch eindrückliches Beispiel für diesen Wandel ist die Theorie des internationalen Schichtungssystems, die in den 1960er Jahren aufkam und die ihre schichtungstheoretischen Überlegungen aus der Annahme eines weltweiten Wertes der Entwicklung bzw. Modernisierung ableitete. Vgl. dazu ausführlicher Greve/Heintz 2005, 93 ff.
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ab wann bzw. anhand welcher Kriterien entscheidet man, ob es sich um eine weltweite Durchsetzung handelt?34 An diese Unsicherheit schließt eine weitere Frage an, die ich bereits angesprochen habe: Wie war die Weltgesellschaft differenziert, bevor sie funktional differenziert war? Die vorangehende Analyse sollte nahelegen, die definitorische Kopplung von Weltgesellschaft und funktionaler Differenzierung noch einmal zu überdenken und hinter die systemtheoretische These eines Primats funktionaler Differenzierung ein (weiteres) Fragezeichen zu setzen. Die neuere Imperiumsgeschichte belegt, wie sehr die Struktur der Weltgesellschaft bis in die 1960er Jahre durch eine Zentrum/Peripherie-Struktur bestimmt war. Die Analyse der Bevölkerungsstatistik stützt diesen Befund, indem sie zeigt, dass auch die statistische Beobachtung durch das Modell einer imperialen Ordnung geprägt war. Diese Interpretation gewinnt an Plausibilität, wenn man diese Ordnung nicht nur als strukturelle Ungleichheit versteht, sondern auch als spezifische Ordnung der Repräsentation. So gesehen könnte man die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg als eine Übergangsphase interpretieren, die zwischen einer primär stratifikatorischen Weltordnung und einer Weltgesellschaft liegt, die zumindest auf der Ebene institutionalisierter Erwartungen funktional differenziert ist. Ob meine Vermutung haltbar ist, dass die Weltgesellschaft vom 19. bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts durch eine spezifische Form stratifikatorischer Differenzierung gekennzeichnet war, müsste weiter geprüft werden. Unbestritten scheint mir aber zu sein, dass die soziologische Weltgesellschaftstheorie dringend einer historischen Untermauerung bedarf, auch wenn dadurch einige ihrer Prämissen vielleicht ins Wanken geraten.
4.
>Die Geburt der Weltgesellschaft aus dem Geist der internationalen Statistik< - ein Fazit
Ausgangspunkt des Aufsatzes war die Annahme, dass (internationale) Statistiken eine spezifische Weise der Welterzeugung sind: Statistiken stellen Welt nicht nur dar, sie stellen sie auch her. Sie tun dies, indem sie heterogene und weltweit verstreute Ereignisse zueinander in Beziehung setzen und über diese vergleichende Relationierung den Eindruck eines zusammenhängenden Ganzen erzeugen. Im ersten Anschnitt habe ich das soziologische Konzept des Vergleichs eingeführt und argumentiert, dass sich Vergleiche unterschiedlicher Kommunikationsmedien bedienen können. Vergleiche im »Medium der Quantifikation« (Luhmann) scheinen dabei ein besonders effizientes Verfahren der 34 Diese Frage lässt sich problemlos in eine neo-institutionalistische Terminologie übersetzen: Im ersten Fall handelt es sich um die Institutionalisierung einer >Weltkulturenge Kopplung< zwischen weltkulturellen Erwartungen und faktischer Implementierung.
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Distanzüberbríickung zu sein. Im zweiten Abschnitt bin ich auf die Institutionalisierung der nationalen Statistik im 19. Jahrhundert eingegangen und habe ausgeführt, wie sehr der soziologische Begriff der Gesellschaft als eigenständiger Wirklichkeitsbereich durch die >Soziale Statistik geprägt war. Der dritte Abschnitt befasste sich mit einem empirischen Fall, der Bevölkerungsstatistik der UN. Anhand einer Analyse des Wandels des bevölkerungsstatistischen Klassifikationssystems habe ich ausgeführt, dass der Nationalstaat in der statistischen Beobachtung erst seit 1970 zu einem universalen Modell wurde. Dieses Ergebnis habe ich zum Anlass genommen, die in der Weltgesellschaftstheorie verbreitete Kontrastierung von Imperien und Nationalstaat auf der Basis der neueren Imperiumsgeschichte einer kritischen Überprüfung zu unterziehen. Im Anschluss an Luhmanns Überlegungen zur Repräsentationsordnung stratifizierter Gesellschaften habe ich die Vermutung formuliert, dass die globale (politische) Ordnung bis in die 1960er Jahre durch eine >hierarchische Opposition charakterisiert war, in der das Zentrum gleichzeitig den Anspruch auf die Repräsentation der Gesamtordnung beanspruchte. Erst mit dem endgültigen Legitimationsverlust des Repräsentationsanspruchs der Imperien löst sich die imperiale »Inklusionshierarchie« (Stichweh 2010, 302) auf und kann man streng genommen von einer Ausdifferenzierung und segmentären Differenzierung des weltpolitischen Systems sprechen. Zum Abschluss möchte ich noch einmal auf die im zweiten Abschnitt gestellte Frage zurückkommen: Besteht zwischen der internationalen Statistik und der >Entdeckung< der Weltgesellschaft ein ähnlicher Zusammenhang wie zwischen nationaler Statistik und der >Entdeckung< der Gesellschaft? Kann man auch von einer >Geburt der We/fgesellschaft aus dem Geist der internationalen Statistik< sprechen? Die Vorstellung, dass die Weltgesellschaft ein eigengesetzlicher und irreduzibler Wirklichkeitsbereich ist, der für die Soziologie einen neuen Untersuchungsgegenstand bildet, wurde erst in 1970er Jahren systematisch formuliert. Die damals entwickelten Weltgesellschaftstheorien von Niklas Luhmann, John W. Meyer und Peter Heintz grenzten sich von der Modernisierungstheorie wie auch von Immanuel Wallersteins Ökonomismus ab. Der Behauptung eines Primats der Ökonomie setzten sie das Konzept der Weltgesellschaft entgegen und der modernisierungstheoretischen Vorstellung eines inter-nationalen Schichtungssystems das Konzept einer emergenten Realität jenseits der Nationalstaaten (ausführlicher Greve/Heintz 2005). Eine besonders pointierte Formulierung dieser Idee stammt von Albert Bergesen, der 1980 in explizitem Anschluss an Dürkheims Emergenzauffassung des Sozialen einen grundlegenden Paradigmenwechsel gefordert hat. Was Durkheim für die nationale Gesellschaft behauptet habe, sei heute auf den globalen Zusammenhang zu übertragen: »Something is going on above and beyond individual societies: There is a collective reality [...] that has its own laws of motion, that, in turn, determine the social, political, and economic realities of the national societies it encompasses« (Bergesen 1980a, xiii).
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Es ist vielleicht kein Zufall, dass die drei Weltgesellschaftstheorien zum gleichen Zeitpunkt entstanden sind, als sich auch die internationale Statistik als weltweites Vergleichsinstrument etablierte. Ähnlich wie die nationale Statistik versuchte, den >Volkskörper< zu erfassen, versuchen internationale Bevölkerungsstatistiken den >Weltkörper< sichtbar zu machen und dessen Makroeigenschaften zu beschreiben. Was bereits die Statistiker des 19. Jahrhunderts in Erstaunen versetzte, dass nämlich die unermessliche Vielfalt des individuellen Handelns auf der Aggregationsebene der (nationalen) Gesellschaft als regelmäßig und geordnet erscheint, war angesichts der enormen Disparität der Lebensformen und Kulturen im globalen Maßstab noch viel verblüffender. Die durch internationale Statistiken nachgewiesenen weltweiten Ordnungsmuster ließen eine reduktionistische Erklärung als noch auswegsloser erscheinen wie im Falle der nationalen Statistik. Bergesens an Dürkheims Gesellschaftsbegriff geschulte Einsicht einer Irreduzibilität und Eigengesetzlichkeit globaler Strukturen zieht daraus den konsequenten Schluss: »The final break with the sociological past [...] will come when we invert the partsto-whole framework of the world-system outlook and move to a distinctly whole-to-parts paradigm« (Bergesen 1980b, 10). Genau diesen Schritt haben die Weltgesellschaftstheorien vollzogen. Die internationale Statistik könnte dazu beigetragen haben.
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Soziale Systeme 18 (2012), Heft 1 +2, S. 40-68
Cornelia
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Bohn
Bildlichkeit und Sozialität Welterzeugung mit visuellen Formen Zusammenfassung: Die Studie identifiziert in den soziologischen Sozialitätstheorien eine fraktale Distinktion: Auf der einen Seite der Unterscheidung stehen optisch-visuell geführte Sozialtheorien und Forschungsprogramme (Simmel, Goffman, neuere interaktionistische Forschungen), die andere Seite fokussiert auf Sprache (Mead, Luhmann). Der Beitrag plädiert für eine Resymmetrisierung von Bildlichkeit und Sprachlichkeit im Aufbau soziologischer Theoriebildung. Er widmet sich dem Problem der Konstruktion der Bildlichkeit als soziales Faktum, dessen welterzeugendes Potenzial - so die These - sich im rekursiven Gebrauch visueller Formen erschließt. Es wird eine Sichtung von Theoriebeständen und interdisziplinären Forschungsresultaten vorgenommen. Die daraus resultierenden Vorschläge lauten erstens - mit Rekurs auf Medientheorien (die Überbrückung der Alter-Ego-Divergenz und die Medium-FormTheorie) - Bildlichkeit als eine Form im Medium der Visualität aufzufassen. Bildlichkeit und Sprachlichkeit werden dabei weder als durch einander ersetzbare noch als völlig autonome Modi verstanden. Zweitens kann Bildlichkeit - mit Rekurs auf und in Modifikation von Husserls Überlegungen zum »Bildbewußtseins« - als eine dreistellige, artefaktabhängige, vom Wahrnehmungsmodus unterschiedene genuin soziale Sinnform analysiert werden; drittens werden Verweislogiken immanenter und instruktiver Bildlichkeit unterschieden. Die Studie schließt mit Beispielen instruktiver Bildlichkeit aus Neuroradiologie und Ökonomie.
Es wäre verlockend, die Antwort auf die Frage, >wie Bilder Welt erzeugenreicher< an Erkenntnissen werden und sich in diesem Prozess rekursive Formen identifizieren lassen.
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daran anschließende neuere Forschungen, die räumlich-visuelle und zeitliche Kopräsenz als Ausgangspunkt für kommunikative Muster, für Sinnbildung und Strukturaufbau auffassen. Der fraktale Zyklus ist gegeben, da selbstverständlich auch sprachliche Interaktion in dieser Traditionslinie einen Ort erhält. Jedoch avanciert sie nicht zur prominenten Theorieposition, wie dies bei Mead oder Luhmann geschieht.4 In optisch geführten Sozialitätstheorien geht es immer um die Annahmen der Gleichzeitigkeit und Gleichräumlichkeit und einer wechselseitigen Wahrnehmbarkeit der Interagierenden. Wahrnehmung ist somit immer schon Teil der sozialen Situation und konstitutives Element von Sozialität. Ist die wechselseitige Wahrnehmbarkeit nicht gegeben, wird in der neueren interaktionistischen Forschung von facte-to-screen- anstatt von /flce-to-/flce-Situationen ausgegangen, um die Wechselwirkung und Interaktivität in reduzierter Form oder in einem >Als-ob-Modus< auch unter Bedingungen von Abwesenheit aufrechtzuerhalten, oder die eingeschränkte Wechselseitigkeit wird dilemmatisch als >eye contad dilemmck konfiguriert.5 Weil es diese beiden Möglichkeiten der Fundierung des Sozialen gibt, läge es nahe, die Frage nach dem welterzeugenden Potenzial des Bildlichen in die Tradition der optisch-visuell geführten Sozialitätstheorien einzufügen und diese angesichts gegenwärtiger gesellschaftlicher Lagen möglicherweise aus ihrer Interaktionslastigkeit herauszuführen. Denn wenn wir Sozialität - mit einer Formulierung Luhmanns - als Problem selektiver Akkordierung begreifen, besonders dadurch ausgezeichnet, dass mit dem Selektionspotenzial anderer Teilnehmer gerechnet werden kann, müssen Ereignisse auch jenseits interaktiver zeitlicher und räumlicher Kopräsenz verortbar und sozial zurechenbar sein. Nur so können sie als Auswahl aus angebbaren Möglichkeiten begriffen werden, deren Möglichkeitshorizonte die unmittelbare Anschließbarkeit auch insofern transzendiert, als Zeitstellen übersprungen werden können. Dies wird umso mehr erforderlich, als die gesellschaftliche Kommunikation zunehmend unabhängiger wird von simultaner Kopräsenz der Ereignisse und der raumzeitliche Relevanzbereich der Selektionsverkettungen über Sinnbildung ins Weltweite expandiert. Die Gegenwart der Kommunikation ist dann nicht notwendigerweise eine interaktive Gegenwärtigkeit.6 Fasst man Bild4 Im ersten Fall als signifikante Geste und geteiltes Symbol, im zweiten Fall gilt sprachliche Kommunikation, mit Reflexivität und Negationspotenzial ausgestattet, als Voraussetzung für soziokulturelle Evolution; als »Muse der Gesellschaft« gilt Luhmann Sprache als das Medium, das die Differenz von Information und Mitteilung vereindeutigt und damit den selbstreferenziellen Vollzug der Gesellschaft in Gang zu setzen vermag (vgl. Luhmann 1997, 205 ff.). 5 »Face to screen« geht auf Goodwin (1995, 260) zurück. Das Problem des eye contact dilemma sowie das Phänomen dislozierter Beobachtungen findet sich in working place studies (vgl. Christian Heath/Hindmarsh/Luff 1999 und Suchman 2007). 6 Die Ablösung der Sozialität von Kopräsenzannahmen ist bereits mit der Etablierung des Schriftgebrauchs gegeben - das wird immer wieder übersehen. Die für Echtzeitmedien typische Gleichzeitigkeit bei nicht vorhandener Gleichräumlichkeit, bei interkontinentaler oder interstellarischer räumlicher Distanz also, ist selbstverständlich mitgemeint, allerdings nicht mehr unter einen noch sinnvoll zu handhabenden Interaktionsbegriff zu subsumieren.
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lichkeit als ein solches Ereignis auf, wäre sie - auch aus noch zu erläuternden systematischen Gründen - nicht schon als Wahrnehmung oder als interaktiv oder kommunikativ verfügbar gemachte dislozierte, simulierte oder vergegenwärtigte >Wahrnehmung< zu begreifen. Die Potenziale der Bildlichkeit für Sozialität - so meine These - bestehen vielmehr gerade in einer eigenen kommunikativen Sinnform, die im Medium der Visualität Selektionsverkettungen auch jenseits räumlicher und / oder zeitlicher Kopräsenz ermöglicht. Bilder können dann - wie auch die Schriftlichkeit in der wissenschaftlichen Publikation oder bei Zeugenaussagen vor Gericht - als Wahrnehmungsäquivalente behandelt werden. Sie sind aber nicht originäre Wahrnehmung, noch sind sie mitgeteilte Wahrnehmungen - systematisch ohnehin undenkbar -, vielmehr fungieren sie als Mitteilungen, die unter anderem auch Wahrnehmungen dokumentieren können oder überhaupt erst Beobachtbarkeit ermöglichen, etwa durch Verfahren der Kompression oder der Dilatation in der Wissenschaft. Darin erschöpft sich aber ihre soziale Bedeutung nicht; denn diese Möglichkeit im Medium der Visualität teilen Bilder mit anderen mitteilenden Sinnformen, zum Beispiel der Schriftlichkeit, die von Wahrnehmungen berichten, immer aber selbst auch als Akt und Artefakt wahrgenommen werden müssen. Darauf komme ich zurück. Ein weiterer in der bildtheoretischen Literatur vorhandener Vorschlag, der nicht nur bild-, sondern welterzeugenden Wirkung der Bildlichkeit habhaft zu werden, artikuliert sich als Theorem der Bildakte oder der Blickakte, der allerdings - wie bereits die zugrunde liegende Sprechakttheorie - die gerade erwähnte Frage nach der Verknüpfung der >Akte< offenlässt.7 Hier werden Einsichten in die Eigentümlichkeit des Performativen aus der Sprechakttheorie - Sprechen sei Handeln - mit einem Wiederbelebungsversuch der von Sartre inspirierten lacanschen subjekttheoretischen Diktion eines primordialen Angeblicktwerdens< und dessen viel zitiertem Modell der >Blickverschränkung< kombiniert. Der Übergang von einer Theorie des Blickes zu einer Theorie der Bilder oder der Visualisierung wird dann durch die anthropologisierende Aussage, dass in interpersonalen Blickbeziehungen< die Keimform Knorr/Bruegger (2002, 909) sprechen hingegen von »response presence« - u m die Interaktion auf Gleichzeitigkeit bei nicht vorhandener Gleichräumlichkeit auszudehnen. Hier wird implizit die schützsche These, Sozialität sei durch Gleichzeitigkeit garantiert, übernommen, die bereits für den zeitversetzten Modus im Schriftgebrauch, erst recht aber für Online- und Offlinekommunikation nicht mehr einleuchtet. Zur ausführlichen Kritik dieser Auffassung vgl. Bohn 1999, bes. Kap 2. 7 Zum Bildakt vgl. Bredekamp 2010, der diesen anhand historisch und typisch verschiedener Bildereignisse vorstellt. In einer im Material sichtbaren Systematisierung liegt der Ertrag dieses Buches. Zur Weiterführung des Bildaktes zum Blickakt vgl. Krämer 2011; z u m image act vgl. Bakewell 1998, die Elemente der Sprechakttheorie und der Zeichentheorie von Peirce zusammenführt, somit den Verstrickungen der Subjekt-Objekt-Relationen entgeht und dem Bild - im Unterschied zur Arbitrarität des Sprachlichen - im Anschluss an Peirce' >Ikonizität< eine visuell erkennbare Ähnlichkeitsrelation des Bildes mit den Objekten, die es >abbildetSubjekte< zurückdelegiert, oder den Bildern selbst wird Subjektcharakter attribuiert. Auf eine solche Anleihe bei anthropologisch begründeten Mängel-, Begehrens- oder Wesensstrukturen zur Erläuterung der sozialen Bedeutsamkeit von Visualität werde ich im Folgenden verzichten. Ein anderer Versuch, Visualität sozialtheoretisch prominent zu platzieren, geht von einem welterzeugenden Potenzial des Sichtbarmachens im Sinne der Erzeugung gesellschaftsweiter Reputation der persona publica aus. Während das Konterfei von Personen lange nur in Kunstwerken oder auf Münzen zu sehen war, entstehe mit der fotografischen und cinematografischen Multiplikation der Bilder, die sich in Presse, Fernsehen und Internet fortsetzt, eine neue >mediatisierte< Sichtbarkeit der Person. Ausführlich analysiert Nathalie Heinich die damit einhergehende semantische Transformation der Sichtbarkeitsregime der Person von den traditionellen Konzepten wie Fama, Ikone, >Gloire< über Celebrity und Vedette zu dem, so die These, neuen Konzept der Visibilité, das das mediale Regime auszeichne. Zugleich geht jene Studie von einem emotiven Attachement und einem affektiven, quasianthropologischen Wunsch aus, zu sehen und von anderen gesehen zu werden. Der Theorievorschlag lautet, von einem neuen Kapital der Visibilité im Sinne einer über soziale Sichtbarkeit vermittelten gesellschaftsweiten Anerkennung von Personen auszugehen, das einer eigenen Logik folgt; jenes >Capital de la Visibilité< wird durchaus - darin anderen Kapitalien vergleichbar - in verschiedenen Kontexten (Sport, Populärkultur, Kunst, Gelehrtenkommunikation, Sichtbarkeitsstrategien Intellektueller) ambivalent gehandhabt, wie materialnah gezeigt wird (vgl. Heinich 2012).8 Das Problem des in dieser sorgfältig recherchierten Studie enthaltenen Theorievorschlages für eine allgemeine Sozialitätstheorie der Visualität und Piktoralität besteht einerseits in einem unausgewiesenen Medienbegriff, der Medialität mit Reproduzierbarkeit und Verbreitung gleichsetzt, anderseits in der Reduktion der soziologischen Analyse der Visibilität auf die soziale Sichtbarkeit von Personen. Visibilität wird damit zu einer medientheoretisch gestützten Chiffre für eine auf Personen fokussierte Sichtbarkeits- und Anerkennungslogik in der sozialen Welt. Um die Frage zu beantworten, wie Bildlichkeit und Sozialität systematisch verknüpft sind und welche welterzeugenden Potenziale des Bildlichen sich daraus ergeben, möchte ich einen anderen theoretischen Weg gehen. Anstatt auf Personen und deren soziale Sichtbarkeit zu fokussieren, soll Bildlichkeit als Sinnform und in ihrer Artefaktabhängigkeit selbst als Ereignis und Bestandteil sozialer Operativität aufgefasst werden. Um den anthropologischen Reduktionismus einer Theorie der Bildlichkeit ebenso wie den letztlich darauf gegründeten Dualismus von Blicken versus Sprechen/Hören als Fundierung 8
Es handelt sich um eine interessante Erweiterung der Theorie Bourdieus, die allerdings den Feldaspekt und somit den horizontalen Differenzierungsaspekt nicht systematisch berücksichtigt.
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des Sozialen zu unterlaufen, sollen Bildlichkeit und Ikonizität als spezifische Medium-Form-Relation aufgefasst und als Elemente einer gesellschaftstheoretisch argumentierenden Sozialitäts- und Medientheorie expliziert werden. Die asymmetrische fraktale Distinktion Blicken versus Sprechen, die sich auf der Ebene der Artefakte noch einmal wiederholt, soll damit resymmetrisiert und in eine Matrix des Normalfunktionierens gesellschaftlichen Sinnprozessierens einfügt werden. Was heißt das für eine sozialtheoretische Analyse des Bildlichen? Es heißt zunächst, dass sich die Frage, was Bilder zu leisten vermögen, nicht positiv und ein für alle Mal beantworten lässt. Vielmehr lässt sich Bildlichkeit, in der ihr eigenen Pluralität, als dasjenige bestimmen, dem jeweilige Gesellschaften >Bildqualität< zuerkennen. Ob einem Ereignis oder einem Artefakt Bildqualität attribuiert wird, kann in sozialtheoretischer Perspektive als Resultat sozialer Unterscheidungsprozesse aufgefasst werden. Diese Zurechnungs- und Unterscheidungsleistungen wären in detailreichen historischen und phänomennahen Analysen empirisch nachzuzeichnen. 9 Jeder Versuch, Bildlichkeit konstitutiv über ihre inhärente Monofokalität, ihre unmittelbare Evidenz oder ihre völlige Unbestimmtheit beziehungsweise immanente Unschärfe zu bestimmen, um nur in der Debatte vertretene Extreme zu benennen, scheint somit verfehlt. Hier kann erst einmal festgehalten werden, dass jeder sozial etablierte Bildgebrauch selbst in hohem Maße kontingent ist, da sich die Konzeption des Bildlichen selbst wandelt, sowohl diachron wie synchron verschiedene Konzeptionen des Bildlichen nebeneinander existieren und diese Konzeptionen in den Bildern selbst enthalten sind. Bilder sind aber nicht nur Gegenstände und Themen semantischer Analysen, sondern selbst Faktum der gesellschaftlichen Semantik, die sprachlich, numerisch, symbolisch und piktoral operiert.10 Historisch-semantische Analysen können etwa zeigen, wie Bilder, die stets als Artefakte begriffen wurden, unter modernen Bedingungen beginnen, selbst ihr Hergestelltsein zu kommunizieren, und sich dadurch nicht nur von wahrnehmbaren >natürlichen< Weltsachverhalten unterscheiden, sondern auch von der außerweltlich-göttlichen Schöpfungsgestalt der Ikone, die Existenz und Darstellung gerade nicht unterscheidet.11 Sie können zeigen, dass bestimmte
9 Im Sinne von Svetlana Alpers (1998), die ausdrücklich betont, dass ihre Modifikationen des Konzepts der visual culture von Baxandall dem empirisch anders gelagerten Fall ihrer Studie geschuldet ist, dessen Analyse dann freilich nicht ohne theoretisch-begriffliche Konsequenzen bleibt: »The term >visual culture< I owed to Michael Baxandall. But my use of the notion was different from his because of the nature of the case.« (Alpers, in: Questionnaire 2006, 361). 10 Faktum im Sinne von Rheinberger 2007; vgl. auch Poovey 1998; vgl. Luhmann 1980, 36. 11 Zum Bild als Ikone vgl. Belting 2011. Dass das Bild die Ikone ist und nicht die Ikone darstellt, schließt nicht die der Bildlichkeit inhärente Hergestelltheit aus, wie es hergestellt und autorisiert wird, ändert sich freilich historisch (Gott, Natur, Künstler). Weniger überzeugend die Umkehrung der Kausalität zwischen Heiligem und Ikone, die auf eine Abbildtheorie reagiert, bei Mondzain (1996, 186): »Ce n'est pas le saint qui est à l'origine de l'icone, mais l'image qui est cause de ce qui est saint.«
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Bilder - etwa religiöse Ereignisbilder - in bestimmten historischen und sozialstrukturellen Konstellationen eine religiöse Wirklichkeit mit Mitteln der Kunst, aber nicht eine künstlerische Wirklichkeit darstellen. Sie könnte zeigen, wie sich Bildkonzepte und die verwendeten visuellen Formen in der Zeit wandeln und sehr heterogene Phänomene erfassen wie höchst voraussetzungsvolle planimetrische, ornamentale, figürliche, geometrische, skulpturale Artefakte, Zeichnungen, Gemälde, Fotografien, Aufführungen, Performances, bildgebende Verfahren, Landkarten und Diagramme, Bewegtbilder, computergestützte Visualisierungen, gerechnete Bilder. Selbstreflexive künstlerische Bilder, die alle genannten Bildkonzepte verwenden, verkörpern und kommentieren, sind in meinen Überlegungen ein Fall des Möglichen, jedoch nicht der paradigmatische. Weder das ästhetisch-künstlerische Bildhandeln und -erleben noch der epistemische Bildgebrauch sind in sozialtheoretischer Perspektive zu privilegieren, auch wenn die Bildforschungen in den Feldern Kunst und Wissenschaft bisher die überzeugendsten empirischen Befunde aufzuweisen haben. Bildwissen soll aber nicht auf den epistemischen Bildgebrauch begrenzt werden, denn Bildwissen wird in allen gesellschaftlichen Subsystemen generiert. Es kann mutieren, migrieren, findet sich unter Experten wie unter Amateuren, in den Zentren und im Aufmerksamkeitsfokus systemspezifischer Publika. Welche legitime Verwendung es jeweils erfährt und wie es zustande kommt, ist eine semantisch-empirische Frage. Der Blick auf das empirische Material ist unverzichtbar und instruktiv, löst aber noch nicht die theoretischen Probleme. Die von semantischer Rekonstruktion zwar nicht unabhängige, aber unterschiedene systematisch-theoretische Aufgabe besteht nun darin, eine Sozialitätstheorie um die Beschreibung und Analyse ikonisch-piktoraler Prozesse zu ergänzen. Während die semantische Analyse primär danach fragt, was das je historisch und kontextuell Spezifische im Bildlichen ist, welche operativen und strukturellen Möglichkeiten Bildwissen und piktorale Beobachtungsweisen eröffnen, welche je historisch und kontextuell divergierende Relevanz und Glaubwürdigkeit dem Bildlichen zuerkannt wird, widmet sich die im nächsten Schritt entfaltete systematische Frage dem Problem, wie Bildlichkeit in einer Sozialitätstheorie zu platzieren ist, um auf dieser Grundlage analytische Unterscheidungen vorzuschlagen.
2. Visualität: Symmetrisierung von Bildlichkeit und Sprachlichkeit Das visuell in Form einer Tabelle dargestellte Argument verwendet einen kommunikationstheoretischen Medienbegriff, den ich explizit mit der in der Systemtheorie verwendeten Medium-Form-TYxeoríe verknüpfen werde, um die Bedeutung eines für die Theorie neuen, aber gesellschaftlich bewährten Typs der Visualisierungsmedien plausibel zu machen (Tabelle 1, Übersicht der Me-
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dientypen). Erst mit der Kombination beider Medienbegriffe, so soll gezeigt werden, lässt sich der unverzichtbare Artefaktcharakter der Bildlichkeit in die Theorie einbeziehen, ohne sie der ereignishaft-dynamischen Selbststabilisierung von Sinnprozessen zu berauben. 12 Hilfreich sind dabei Husserls bislang wenig beachtete und auch nicht zu einer Bildtheorie ausgearbeiteten konzeptionellen Überlegungen zum Bildbewusstsein, die in modifizierter Form für eine Sozialtheorie der Bildlichkeit fruchtbar gemacht werden können. Die Modifikation folgt der zuerst von Mead formulierten Einsicht, dass das Bewusstsein nicht ohne Kommunikation, ohne »Übermittlung von Gesten« und signifikanten Symbolen »innerhalb eines gesellschaftlichen Prozesses oder Erfahrungszusammenhangs« zustande kommt. 13 Instruktiv für unsere Frage nach operativen Modi der Welterzeugung sind ebenso Meads Überlegungen zur vokalen Geste, die allerdings um das von Michael Tomasello beschriebene Phänomen der ikonischen Geste zu ergänzen sind. Bei Mead findet sich zwar - das ist bekannt - die Herleitung von Bewusstsein und Sinn aus der gestischen und symbolvermittelten Kommunikation. Er hatte aber weder einen Prozess des selbstbezüglichen Aufbaus von Sinnstrukturen berücksichtigt, die über bloße, durch signifikante Symbole ermöglichte Verhaltensabstimmungen hinausgehen, noch hinlänglich zwischen Bewusstsein und Kommunikation als eigenem Operationsmodus unterschieden; in diesen Punkten schließe ich an systemtheoretische Überlegungen selbstreferenziell geschlossener Operationsmodi an, die durch sinnhafte Ereignisse und Sinnstrukturen operativ und koevolutiv gekoppelt sind, ihre Komplexität wechselseitig in Anspruch nehmen, aber in ihrem selektiven Anschlussverhalten eigenständig, kontingent und mit hohen Freiheitsgraden ausgestattet sind. Zu solchen von Bewusstsein und Kommunikationen geteilten Sinnformen, die zwar Wahrnehmung in Anspruch nehmen, aber gerade nicht ausschließlich als Wahrnehmungsphänomene zu beschreiben sind - so meine These - zählen Ikonizität und Piktoralität.
12 Die Rezeption bezieht sich neuerlich meistens auf die Medium/Form-Differenz - man findet in der Literatur die unzutreffende (von mir jedenfalls nicht geteilte) Annahme, die Medien/Form-Theorie löse die frühere Medientheorie ab. Luhmann hat beide Medientheorien in den späteren Schriften implizit, jedoch niemals explizit miteinander kombiniert - es bleibt unklar, welches Theoriestück auf welches Problem reagiert. Eine systematische, historisch informierte Ausformulierung der Medium-Form-Theorie steht jedoch noch aus. 13 Durch vokale Gesten und signifikante Symbole eröffnete Möglichkeiten, die in sich selbst hervorgerufenen Reaktionen anderer als Grundlage der eigenen Verhaltenssteuerung zu nutzen, sind für Mead (1980, 87) »für Genesis und Existenz von Geist oder Bewusstsein verantwortlich«. Daher sind Gesten und signifikante Symbole, mittels derer Individuen sich selbst und anderen die möglichen Handlungsweisen aufzeigen, so Mead (1980, 130), »sinnlos außerhalb der gesellschaftlichen Handlungen, in die sie eingebettet sind und aus denen sie ihre Signifikanz ableiten«. Erst die »Analyse der Kommunikation [...] erklärt [...] die Existenz des Geistes durch die Kommunikation und die gesellschaftliche Erfahrung ...« (89). Sein Einwand gegen Wundts ahistorischen Bewusstseinsbegriff trifft sowohl auf Husserl wie im Übrigen auch auf die gegenwärtige Bewusstseinsphilosophie und deren bildtheoretische Überlegungen zu (z. B. Becker 2011 mit Anleihen bei der Kognitionspsychologie).
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Tabelle 1: Transformation kommunikativer Unwahrscheinlichkeiten in Wahrscheinlichkeiten/ Matrix Medientypen Wechselseitige Intransparenz von alter und ego
Verstehensmedien
Gesten: ikonische Gesten, Zeigegesten, vokale Geste Sprache: audio-phon
Soziale Sichtbarkeit (von Unsichtbarem und Sichtbarem)
Visualisierungsmedien Ikonik / Piktoralität
Artefakte, Aufführungen, Performances, Gemälde, Skulpturen, Zeichnungen, bildgebende Verfahren, computergenerierte Bildlichkeit, Screens, Graphen, Kurven, Tabellen, Synopsen, Diagramme, Kartogramme, Fotografien, Bewegtbilder, Tableau vivant, interaktive Bilder
Erreichen des Adressaten
Verbreitungsmedien
Schriftsprache, Buchdruck, Echtzeitmedien, audiovisuelle Medien
Erfolg der Kommunikation
Erfolgsmedien
Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien: Macht, Wahrheit, Geld, Liebe, etc.
Die hier im Anschluss an Luhmann verwendete Kommunikationstheorie geht von dem Problem der Überbrückung der Alter-Ego-Divergenz aus und hat bislang drei, in der Tabelle dargestellte Bezugsprobleme identifiziert, an die kurz erinnert sei: die wechselseitige Intransparenz der Bewusstseine Alters und Egos füreinander - darauf reagieren Verstehensmedien; das Problem der Erreichbarkeit abwesender Adressaten, das mit den Verbreitungsmedien in eine Wahrscheinlichkeit transformiert wird; schließlich die sich aus jener Problemlösung ergebende neue Problematik der gesteigerten Ablehnungswahrscheinlichkeit, also des Erfolgs der Kommunikation im Sinne ihrer Annahme als Prämisse weiteren Handels - darauf reagieren symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien wie zum Beispiel Geld, Macht, Liebe, Wahrheit. Jene genuin kommunikationstheoretische Medientheorie verdankt ihren theoretischen Schwung dem methodischen Prinzip der Unwahrscheinlichkeit, das heißt dem Aussetzen des Normalfunktionierens, um nach einem Problem für eine gesellschaftlich gefundene Problemlösung zu suchen. Mein Vorschlag ist, die bereits identifizierten Medien durch den Typus der Visualisierungsmedien zu ergänzen, deren spezifische Form der Überbrückung der Ego-Alter-Divergenz im Sichtbarmachen von Unsichtbarem und Sichtbarem besteht - darin ist auch das Herstellen von Unsichtbarkeit enthalten - und im Verfügbarhalten jener Sichtbarkeits-/Unsichtbarkeitsverhältnisse für Dritte durch Artefaktbildung. Visualisierungsmedien sind dann in einem soziali-
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tätstheoretischen Zusammenhang nicht in erster Linie als Wahrnehmungs-, sondern als Kommunikationsmedien zu behandeln. Wie die Gesten der »Teil komplexer Handlungen« sind, von denen »mehr als ein Wesen betroffen ist«, so noch einmal Mead, unterstellen auch Bilder und Visualisierungen, wie sich im Anschluss daran formulieren lässt, dass immer auch Alteritäten betroffen und adressiert sind. Wie die Gesten nicht Ausdruck von etwas Vorgängigem sind - etwa eines Gefühls - , sondern die eingenommene Haltung >bedeutenletzten Elementen^ die es nach den Erkenntnissen der Nuklearphysik (sic) à la Heisenberg ohnehin nicht gibt«.19 Medien verbrauchen sich nicht, so die zweite Eigenschaft. Als Vermögen, das Formbildung ermöglicht, sind sie stabil, während die Formen instabil und zerfallsanfällig sind oder sich durch die Bildung neuer Formen in den unsichtbaren Status des Medialen transformieren. Für Visualisierungsmedien lassen sich unendlich viele solcher im Medium durch Formbildung selbst qualifizierte Elemente und Formen benennen, die als >visuelle Formen< fungieren: 20 figürliche Formen, geometrische Formen; Schatten, Proportionen, Perspektiven; Punkte, gerade Linien, Kurven, Formen und Diagramme, die für >ObjekteGegenstandBildobjektes< bestimmen. Für das Kunstwerk hatte Goodman (1984, 87; vgl. Hahn 2000) einmal deutlich gemacht, »dass ein Objekt zu gewissen Zeiten ein Kunstwerk ist und zu anderen nicht«, und dies an einem Gemälde von Rembrandt exemplifiziert, das aufhört, als Kunstwerk zu fungieren, wenn es als Ersatz für eine Fensterscheibe gebraucht wird, und somit die Gebrauchsfunktion ins Zentrum seiner Bestimmung gerückt. Ich möchte eine weitere Beobachtung Husserls aufgreifen, die eine differenziertere Antwort als die der Gebrauchsweise erlaubt, um auch diese in modifizierter Form sozialtheoretisch zu nutzen. Um den Bildmodus nicht nur vom originären Wahrnehmungsmodus, sondern auch von der symbolischen Auffassung zu unterscheiden, schlägt Husserl eine Graduierung des Bildmodus vor. Er unterscheidet zwischen »innerer (immanenter) Bildlichkeit und äußerer (symbolischer) Bildlichkeit« (1980, 35), um diese möglicherweise und eher tentativ dem künstlerischen Bild und jene dem wissenschaftlichen Bild zuzuordnen. Immanent bildliche und symbolische oder signitive Auffassung, so Husserl, haben gemein, dass sie nicht schlicht Auffassungen sind. Beide weisen in gewisser Art über sich hinaus. Aber die symbolische aus sich hinaus, und die signitive noch dazu auf einen dem Erscheinenden innerlich fremden Gegenstand. Jedenfalls sie weist nach außen. Die bildliche Auffassung weist auch auf einen anderen Gegenstand, [...] und vor allem, sie weist auf den Gegenstand durch >sich< selbst hindurch. Der meinende Blick wird bei der symbolischen Vorstellung von dem Symbol hinweggewiesen; bei der bildlichen Vorstellung auf das Bild hingewiesen. (Husserl 1980, 34) Entscheidend für meine Argumentation ist weder die durchaus sinnvolle Unterscheidung von Zeichenhaftigkeit oder Immanenz der Bildbedeutung noch die mögliche Zuordnung von Bildtypen zu Handlungsfeldern oder die Festlegung der Verweisungen des Bildsinns durch eine Bildfunktion, sondern die Einlassung des Bildmodus in je aktuelle Verweisungsstrukturen in Handlungsketten. Das Bild ist darin nicht substanzielles Objekt, sondern artefaktgebundenes Ereignis. Seine Identität gewinnt es im kommunikativen Anschluss, der aus dem Verweisungsüberschuss selegiert und eine je aktuelle Bestimmung des Bildsinns vornimmt; dies kann durch den Verweis nach innen oder nach außen geschehen. Die von Husserl eingeführte Unterscheidung modifizierend, möchte ich die beschriebene immanente Bildlichkeit von einer instruktiven Bildlichkeit unterscheiden, die sich als operative Formen im Sinne einer strukturierten Komplexität des Visualisierungsmediums beobachten las-
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sen. Charakteristisch für die Verweisungslogik der immanenten Bildlichkeit war es ja, dass sie die bewusstseinsmäßige und - so ist hinzuzufügen - die kommunikative Aufmerksamkeit durch das Bild hindurch auf das Bild selbst richtet, um dort zu verweilen. Im Modus instruktiver Bildlichkeit als Element komplexer Handlungsverkettung hingegen werden kommunikative und bewusstseinsmäßige Aufmerksamkeit aus dem Bild heraus nach außen verwiesen - und damit ist jetzt nicht die noematisch-fremdreferenzielle Verweisung des Dargestellten als bloßes Zeichen für etwas anderes wie im symbolischen Bildmodus gemeint, sondern eine Verweisungsstruktur in einen pragmatischen Kontext hinein auf mögliche Anschlusshandlungen hin. Instruktive Bildlichkeit bereitet Handlungsoptionen vor.32 Während die immanente Bildlichkeit die Singularität und Unvertretbarkeit des Artefakts betont, ist der instruktive Bildmodus zwar ebenfalls artefaktabhängig, aber nicht unvertretbar. Die Beschaffenheit des Bildes als physisches Ding: Farbgebung, Wahl der diagrammatischen Form (Säule, Kreis, Linien, Punkte, Größe, zwei- oder dreidimensional, römische, arabische, numerische Legende, Ansicht, Draufsicht) sind durchaus austauschbar und in der pragmatischen Konsequenz irrelevant.
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Exemplare instruktiver Bildlichkeit: Neuroradiologie, Ökonomie
Typische Modi instruktiver Bildlichkeit sind Entwürfe eines Architektenteams, solange sie in Planungs- und Umsetzungsprozesse von Konstruktions- und Baumaßnahmen einbezogen sind. Sie verwandeln sich in Elemente eines immanenten Bildmodus, sofern sie postum museal ausgestellt werden, sie verwandeln sich in institutionelles Gedächtnis, sofern sie als realisierte oder nicht realisierte Entwurfsvarianten archiviert werden. Monitoring von Finanzströmen, Operationsverläufe, dislozierte Beobachtungen bei der Flug- oder UBahnsteuerung, die Visualisierung von Kursschwankungen im Finanzgeschäft sind ebenso instruktive Bildmodi wie die reduktive Visualisierung großer Datenmengen oder durch Präparate und reduktive bildgebende Verfahren sichtbar gemachte Mikrostrukturen von Zellen, Organen oder von anatomischen Strukturen. Letzteres gilt insbesondere dann, wenn solche Darstellungen nicht in Lehrbüchern oder in interaktiven Bildprogrammen zu Lehrzwecken fungieren, sondern Momente des chirurgischen Operationsprozesses selbst sind. Man denke etwa an den Zusammenhang von Neuroradiologie und Neurochirurgie. Der Neurochirurg orientiert die Schnittführung an einem von der Neuroradiologie gerechneten Bild, das sich an einem Modellkopf bemisst und durch Farbgebung oder Dichte anzeigende Grauwerte das pathologische Gewebe vom umliegenden Gewebe unterscheidet. Der Modellkopf selbst wird in 32 Beide Bildmodi, immanente wie instruktive Bildlichkeit, sind aufs Engste verknüpft mit den visuell fundierten Erfolgschancen symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien (Kunst, Wahrheit, Macht, Geld).
Bildlichkeit und Sozialität. Weiterzeugimg mit visuellen
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Formen
die instruktive Bildlichkeit einbezogen. Das radiologisch erfasste Bild ermöglicht, die Schnittführung durch errechnete Bewegungslinien zu erproben, da es in situ immer um die Ermittlung des gefäß- und gewebeschonenden kürzest möglichen Zugang zur Operationsstelle geht. Das Bild taucht somit im Handlungsfeld mehrfach auf: als Vorstellung im Bewusstsein des Operateurs, als neuroradiologisch modelliertes, nach dem metrischen System gerechnetes und hergestelltes Bild und als Monitoring und Echtzeitbild des mikroskopisch geführten Operationsvorgangs. Gerechnetes Bild und Echtzeitbild fungieren als geteiltes für das Team sichtbares Artefakt. Es handelt sich um einen polythetischen Prozess, dessen kontingenter Verlauf ein ständiges optisches Kontrollieren und Maßnehmen am mehrfach vorhandenen Bild im Vollzug der operativen Intervention ist. Anders bei der sehr jungen interventionellen Neuroradiologie, bei der Bildgebung und Therapie uno actu zusammengehen. 3 3 Verwendete bildgebende Verfahren sind unter anderem die anatomische Strukturen des Gehirns errechnende Kernspinntomografie, die röntgenologische bildgebende Schnittführung der Hirnstrukturen durch Computertomografie oder die kontrastmittelgeführte röntgenologische Gefäße darstellende Angiografie (Abb. 1, 2, 3). Zur hohen Kunst der interventionellen Neuroradiologie zählt das Coiling mit oder ohne Protektionsbaiion etwa zur Therapie eines Aneurysmas oder anderer Embolisationen von Gefäßmissbildungen (Abb. 4).
Abbildung 1: Neuroradiologie -
Abbildung 2: Neuroradiologie Angiografie 1
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Spektroskopie
Abbildung 3: Neuroradiologie Angiografie 2
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33 Professionssoziologisch ist die Differenzierung der Berufsfelder N e u r o r a d i o l o g i e / N e u r o chirurgie und der dazugehörigen Jurisdiktionen im S i n n e A b b o t t s ein auch bildtheoretisch interessanter Fall. Ich verdanke diese Einblicke Volker Hochdörffer (Neurochirurg) und Maria Mörsdorf (Neuroradiologin), der ich auch für die Bildbeispiele danke, und B e o b a c h tungen in der Neurochirurgie des Brüderkrankenhauses in Trier. Zu frühen Formen der computertomografisch unterstützten radiologischen Bildgebung vgl. A m b r o s e 1973. Vgl. auch Friedrich 2010 und Alac 2011.
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Man könnte im Anschluss an die Unterscheidung von Erleben und Handeln im Sinne der immanenten und instruktiven Bildlichkeit auch von Erlebensbildern und Handlungsbildern sprechen, ohne allerdings im Artefakt selbst schon die Antwort auf die Zuordnung zum Erlebens- oder Handlungsmodus zu suchen. Erst die Kombination aus Bildartefakt, Handlungskontext, medial und kulturell verfügbarem Verweisungspotenzial in der aktuellen Handlungsverkettung bestimmt den jeweiligen Modus, mit dem sich entscheidet, ob das Bild nach innen, als durch sich selbst auf sich selbst verweisend, oder nach
L Abbildung 4: Neuroradiologie Protektionsbaiion
- Coiling mit
außen, auf anderes verweisend, zum Zuge kommt, das heißt, ob die Finalität der Beobachtung des Bildes als Bild - paradigmatisch sicherlich im Erleben von visueller Kunst - besteht oder ob Bildlichkeit informierend, orientierend, strukturierend, fokussierend als vorbereitende oder simultane Begleitung von Handlungsanschlüssen fungiert. Die welterzeugende Bedeutung instruktiver Bildlichkeit möchte ich zum Schluss mit in der Literatur gut dokumentierten Beispielen aus der Ökonomie veranschaulichen. 34 Die in Frage stehenden visuellen Formen sind die durch Spalten und Linien charakterisierte Tabelle sowie die für kontinuierliche Darstellung des Diskontinuierlichen ausgezeichneten Kurven. Für die Entwicklung moderner Ökonomie als >kapitalistisches< erwerbsorientiertes Wirtschaften hatte die doppelte Buchführung eine gewichtige Bedeutung, die jüngst wieder unter dem Stichwort >accounting< nach wie vor kontrovers diskutiert wird. Werner Sombart hatte - das ist bekannt - der doppelten Buchführung eine katalysatorische Bedeutung für die Entwicklung moderner Ökonomie zugeschrieben. Sein für unseren Zusammenhang zentrales Argument ist, dass sie mittels ihrer tabellarischen, mehrspaltigen Form die Trennung von Einnahmen und Ausgaben oder >Doppelschreibung< (loi digraphique: debit/credit) transparent mache und den Gewinn eines Unternehmens erstmals tatsächlich berechenbar mache, da sie es nicht nur erlaubt »den lückenlosen Kreislauf des Kapitals in einer Unternehmung zu verfolgen« (Sombart 1987, 34 Für die wahlverwandtschaftliche Beziehung monofokaler, reduktiver Bildlichkeit und gesellschaftlicher Differenzierung am Beispiel der Religion (frühe synoptische, statistische oder kartographische Gesamtdarstellungen der räumlichen Streuung von Religionszugehörigkeit sowie deren Unterscheidung von politischen Grenzziehungen) vgl. den Beitrag von Martin Petzke in diesem Band.
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und Sozialität.
Welterzeugung
mit visuellen
Formen
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114).35 Vielmehr würde durch die damit verbundene Idee des Erwerbs eine Betrachtungsweise ermöglicht, die den Begriff des Kapitals überhaupt erst erschaffen habe. »In der doppelten Buchhaltung gibt es nur noch einen einzigen Zweck: die Vermehrung eines rein quantitativ erfaßten Wertbetrages« (120). Mit Sombarts Hinweis auf eine Allianz zwischen doppelter Buchführung, Rechenhaftigkeit der modernen Ökonomie und dem nur numerisch zu verrechnenden Geldmedium wird die hier zur Diskussion stehende Kovariation von visueller und numerischer Darstellung und der zunehmenden Monetarisierung moderner Ökonomie hervorgehoben. 36 Anders als die Tabelle kennt die Kurve keine Leerstellen. Eine berühmte, mit einer eigenen semantischen Karriere verbundene Kurve in der Ökonomie ist die Phillipskurve (Abb. 6). Sie mutierte von einer konkreten historischen Aussage zu langfristigen wirtschaftlichen Entwicklungen in Großbritannien von 1861-1957 über den Zusammenhang zwischen dem Zuwachs von Geldlöhnen und Arbeitslosigkeit zu einem eigenen analytischen Konzept des Trade-off zwischen Arbeitslosigkeit und Preis-Lohn-Inflation, das in Form einer konvexen Kurve visualisiert wird. Ein anderes Beispiel für die Verknüpfung analytischer Konzepte mit visuellen Darstellungen sind Trade-off-Relationen, wie sie typisch in volkswirtschaftlichen oder soziologischen Darstellung des Pareto-Optimums zu finden sind, das eine Wahlverwandtschaft mit dem Gleichgewichts- und dem Grenznutzentheorem der Ökonomie unterhält (Abb. 7). Ein klassischer Anwendungsfall ist die Verteilung eines gegebenen Einkommens auf verschiedene Güter, um anhand von Preisen und Befriedigungsversprechen die effizienteste Mittelallokation zu ermitteln; die Variablen sind Güter, Preise und Einkommen. Je nach Einkommen - so die analytische Aussage - variiert die parabelförmige Kurve, um die >optimale< prozentuale Verteilung zu errechnen. 37
35 Die genaue schrittweise Entwicklung (bei Sombart finden sich fünf Etappen) von dem ersten überlieferten mehrspaltigen wissenschaftlichen System der doppelten Buchführung durch Luca Pacioli 1494 (Abb. 5) über die Schaffung eines Kapitalkontos, der Bedeutung einer Indexspalte und schließlich die Einführung von Jahresbilanzen und Inventur, die den Zusammenhang der Konten untereinander deutlich machte, wie sie im 17. Jahrhundert erfolgte und die systematische Berechnung des Gewinns erst ermöglichte, bis zur heutigen Form kann hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden; ebenso die Anschlussdebatte zur Legitimität, Rhetorizität und historisch genauen Situierung der Verwendung der neuen visuellen Form der Darstellung ökonomischer Praxis, vgl. Carruthers/Espland 1991; Chiapello 2007. 36 »Wie sehr die Rechenhaftigkeit durch die doppelte Buchhaltung gefördert werden mußte, liegt auf der Hand: diese kennt keine wirtschaftlichen Vorgänge, die nicht in den Büchern stehen: quod non est in libris, non est in mundo; in die Bücher kommen kann aber nur etwas, das durch einen Geldbetrag ausgedrückt werden kann. Geldbeträge aber werden nur in Ziffern dargestellt, also muss jeder wirtschaftliche Vorgang einer Ziffer entsprechen, also heißt Wirtschaften Rechnen.« (Sombart 1987, 120 f.) 37 Die Anwendung sind vielfältiger geworden und die ursprünglichen Prämissen mehrfach revidiert, vgl. Samuelson 1998; für die Phillipskurve vgl. auch Lipsey 2010; für das ParetoOptimum vgl. auch Lloyd 2010; Pareto 1981.
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Schließlich kann der von M a r y Morgan untersuchte Übergang des ökonomischen D e n k e n s zur Modellwissenschaft als Beispiel für die Kovariation von visuellen Formen als Teil des semantischen Apparates einer Gesellschaft und der Transformation des handlungsrelevanten Wissens des gesellschaftlichen Subsystems Ökonomie angeführt werden. Für die erste Generation der >Modellmacher< Ende des 19. Jahrhunderts spielen - so Morgan (2012, 93) - diagrammatische Modelle als Visualisierungen der Ökonomie eine ausgezeichnete Rolle, um eine neue Version des ökonomischen Wissens im Zusammenwirken von Prozessen der Visualisierung und der Herstellung einer neuen Vorstellung der Ökonomie als Sinnhorizont zu etablieren. 3 8 Entscheidend für die rekursive Verknüpfung von visuellen Formen im Modus der instruktiven Bildlichkeit mit subsystemspezifischen Semantiken ist, dass der geteilte Wahrnehmungsraum keineswegs immer identisch ist mit dem daraus heri Ají. ti'iiW f rbrjM. vorgegangenen konzeptionellen WisS ftWfff Λ ¿o·.*)·!.,)'« ^WaU^-id, J,-, t, i.*. . Λ . ..Iti I' ί. m, ! " ti ' -.r'^.ptrir'iciíc-.'^f ι sensraum. Auch wenn nicht mehr ioj IP Pro CT iuta»ff A ipr/f Íf amtriíexterneEntstehungsgeschichte< von Werken angesprochen, da hier die Identifikation und Authentifizierbarkeit des Werks nicht wie im Falle der Musik durch ein Notationssystem gewährleistet werden kann (Goodman 1997 [1976], 115-121 und 186 f.). Die Notwendigkeit, auf die Entstehung Bezug zu nehmen, erscheint daher eher als negative, in der Absenz des Notationssystems begründete Notwendigkeit. Ebenso wenig sind die empirischen Eigenschaften von Bildern von Belang, sofern sie nicht in eine besondere symbolische Beziehung auf den dargestellten Gegenstand einbezogen sind, nämlich in Gestalt der Exemplifikation (59 ff.). Goodman rückt Bilder wie alle Symbole in die Perspektive der transzendentalen Frage, wie sich der symbolische Bezug auf die symbolisierten Gegenstände eröffnet. 11 Es sei an dieser Stelle jedoch nicht verheimlicht, dass ich eine zeichentheoretische Auffassung von Bildern nicht für angemessen halte. Unter der umfangreichen Literatur zum Verhältnis von Bild und Zeichen sei an dieser Stelle zum einen mit Bezug auf die Materialität der Bilder verwiesen auf Boehm 2007, 77-82, sowie zum anderen für eine zeichentheoretische Position auf Scholz 2004. Darüber hinaus sei die nach wie vor lesenswerte Diskussion zwischen Mieke Bai und Norman Bryson auf der einen und James Elkins auf der anderen Seite angeführt: Bai/Bryson 1991; Elkins 1995; Bai 1996; Elkins 1996.
Das Bilden der Bilder
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Goodman auf eine genuin zeichentheoretische >Transzendentalisierung< begründete. Sie entfaltete vielmehr eine Semantik des >BildensTranszendentalisierung< der Bilder und ihrer welterzeugenden Funktion verstanden werden kann. Die Anfänge einer Semantik des welterzeugenden >BildensBilden< allerdings noch nicht die Rede ist. Auch von >Bild< spricht Kant nur gelegentlich, und zwar mit Bezug auf die Einheit von Begriff und Anschauung, wie bspw. die anschauliche Darstellung des Begriffs des Hundes, des Dreiecks oder der Zahl Fünf (Kant 1983 [1781/87], A140-142/Β 179-181). Er führt damit zum einen die verbreitete und überlieferte philosophische Rede von >Vorstellungsbildern< (imago, image) fort und expliziert sie zum anderen durch seine zentrale These, dass Erkenntnis und Erfahrung auf der Einheit von Anschauung und Begriff beruhen und allein durch deren Synthese zustande kommen (A 50-52/Β 74-76). Durch die Anschauung werden demnach einzelne Erkenntnisgegenstände gegeben, die der Verstand unter Begriffe bringt und die Vernunft in einen größeren systematischen Zusammenhang stellt. Kant argumentiert dabei, dass wir in der Anschauung wie unter den Begriffen Elemente annehmen müssen, die in jeder empirischen Erkenntnis vorausgesetzt sind, aber nicht selbst der Erfahrung entspringen können und in diesem Sinne apriorisch genannt werden: die Formen der Anschauung Raum und Zeit sowie bestimmte Kategorien des Verstandes. Weil auf der anderen Seite aber jede empirische Erkenntnis mit einer Anschauung verknüpft sein muss, stellt sie sich - so könnte man mit Kant folgern - stets in der Gestalt eines >Bildes< dar. Kant selbst spricht jedoch nur selten von >Bildern< und offenbar nur in diesem übertragenen Sinne, der mit Bildern im konkreten Sinne wenig zu tun hat. Die Anfänge einer Semantik des >Bildens< sind dagegen eng mit Kants Erörterung der Frage verknüpft, wie Anschauungen und Begriffe zusammenkommen können. In einem ebenso einschlägigen wie viel diskutierten Kapitel der Kritik der reinen Vernunft führt Kant zu diesem Zweck den sogenannten Schematismus ein und definiert ihn als »allgemeines Verfahren der Einbildungskraft, einem Begriff sein Bild zu verschaffen« (1983 [1781/87], A 1 4 0 / Β 179 f.). Jedes >Vorstellungsbild< ist auf diese Weise von der Tätigkeit der >Einbildungskraft< her zu fassen: »[D]as Bild ist ein Produkt des empirischen Vermögens der produktiven Einbildungskraft« (A141 / Β 181). Kant unterscheidet dabei das >Bild< als einzelnes Ergebnis dieses Prozesses scharf vom >Schema< als Verfahren seiner Produktion, das er wiederum als »Produkt und gleichsam ein Monogramm der reinen Einbildungskraft a priori« versteht (A141/Β 181).12 12 Diese scharfe Unterscheidung von Bild und Schema erweist sich am paradigmatischen kantischen Beispiel der geometrischen Darstellung jedoch als fragwürdig (Schubbach 2012b, 365-374).
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Diese kantische Verknüpfung der überlieferten Bezeichnung der Vorstellungen als >Bilder< mit der Tätigkeit der Erkenntnisvermögen und insbesondere der produktiven Einbildungskraft wird sich als maßgeblich erweisen für eine Semantik des Bildens, in der die Reflexion auf die transzendentalen Bedingungen des Erkennens in eine konstruktivistische Theorie der Welterzeugung überführt wird: Wie sich das >Vorstellungsbild< als >Produkt< der produktiven Einbildungskraft erweist, soll sich auch ihr Gegenstand als Ergebnis dieses >Bildens< fassen lassen. So nahe diese zuallererst rhetorische Verknüpfung zwischen dem einzelnen >Bild< und der Tätigkeit der >Einbildungskraft< auch liegen mag, die Formulierung >Bilden< spielt bei Kant keine wesentliche Rolle. Es lässt sich zumindest spekulieren, dass ein möglicher systematischer Grund darin liegen könnte, dass Kant zwar die notwendige Tätigkeit und Produktivität der Erkenntnisvermögen betont, sie aber keineswegs konstruktivistisch begreift. Denn die empirische Erkenntnis - und für Kant ist jede Erkenntnis empirisch ist darauf angewiesen, dass die Gegenstände der Erfahrung in der Anschauung gegeben sind. Die Tätigkeit der Einbildungskraft gleicht daher eher einer fragilen Vermittlung zwischen gegebener Anschauung und vorausgesetzten Begriffen als einem einseitigen, konstruktivistischen >Bilden< der Gegenstände. Es ist bekannt, dass der Deutsche Idealismus an der Gegebenheit der empirischen Anschauung Anstoß nahm und sie möglichst restlos in die Spontaneität von Verstand und Vernunft aufzulösen suchte. Insbesondere Johann Gottlieb Fichte führte daher konsequent jedes Vorstellungsbild ausschließlich auf die Tätigkeit des Subjekts zurück und setzte damit ein bei Kant lediglich angebahntes >Bilden< der Einbildungskraft frei.13 Diese konzeptionelle und semantisch-rhetorische Verschiebung lässt sich beispielhaft in Fichtes Die Thatsachen des Bewußtseyns von 1810-11 beobachten (1971 [1817]). Dieser einführende Text verfolgt kein deduktives Vorgehen wie Fichtes immer wieder überarbeitete Wissenschaftslehre, sondern versucht seinen philosophischen Ansatz ausgehend vom alltäglichen Selbstverständnis und im Appel an den Mitvollzug des Gedankengangs durch die Zuhörer seiner Vorlesung zu entwickeln. Er setzt dabei an der äußeren Wahrnehmung an und bezieht sie wie Kant auf die Tätigkeit der Einbildungskraft. Die »Bilder« der Wahrnehmung begreift Fichte daher im Anschluss an Kant als »Product der Einbildungskraft« (1971 [1817], 554) und über Kant hinausgehend als >Produkte< eines »bestimmten Bildens« (552). Dass diese neue Formulierung einen entscheidenden Bruch mit Kants Theorie der Erkenntnis darstellt, zeigt sich an Fichtes Konsequenzen. Denn die Reflexion darauf, dass jede äußere Wahrnehmung auf einem >Bilden< der Einbildungskraft beruht, versteht er als »Wissen vom Bilden als solchem« (552) und damit als eine Einsicht, die das Bewusstsein zum Selbstbewusstsein der »Freiheit des Bildens« und der »Freiheit der Einbildungskraft« (553 f.) führt. Anders gesagt wird das Bewusstsein bei Fichte
13 Vgl. zum Folgenden Sandkaulen 2010, 136-140.
Das Bilden der Bilder
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von der Reflexion auf die Abhängigkeit des Äußeren vom subjektiven Bilden über das Wissen um die Unabhängigkeit dieses Bildens von allem Gegebenen bis zum Selbstbewusstsein seiner Freiheit gegenüber jeder Bindung an ein bestimmtes Bild geführt. 14 Die naiv-realistische Auffassung unserer äußeren Erfahrung soll folglich dem Selbstbewusstsein eines unendlichen und freien Vermögens des Bildens weichen, das die endlichen und bestimmten Gegenstände seiner Erfahrung als »Product der Freiheit« (559) und letztlich als »Beschränkung« seiner selbst begreift (551).15 Die transzendentale Reflexion Kants wird so in eine konstruktivistische Position überführt, die ihr Zentrum im »freien Construiren durch die Einbildungskraft« hat (556).16 Diese Semantik des Bildens ist durchaus außergewöhnlich und eigentümlich, aber keineswegs solitär. Sie spielt beispielsweise noch in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen eine Rolle, wobei sie allerdings auch angepasst wird. Cassirer entwirft die konzeptionellen Umrisse seiner Kulturphilosophie erstmals 1917, wobei er seine erkenntniskritische Theorie des Begriffs in eine allgemeine Theorie der kulturellen Symbolismen überführt und sich zu diesem Zwecke einiger systematischer Grundzüge des Deutschen Idealismus bedient, zu dem er in denselben Jahren eine philosophiehistorische Studie verfasst (Cassirer 2000b [1920]).17 Cassirer begreift dabei die >Bilder< der Erfahrung und die Leistungen des >Bildens< von vornherein als subjektiv und kulturell. In diesem Ausgangspunkt näher an Hegel als an Fichte eröffnet er mit Bezug auf Mythos und Religion, Sprache und Erkenntnis den Horizont einer Kulturgeschichte, in der die menschliche Erfahrung zunächst von der Unmittelbarkeit der >Bilder< eingenommen und geradezu benommen ist, um sich dann in ein reflektierteres, distanzierteres und letztlich freieres Verhältnis zu den Dingen zu setzen. 18 Ähnlich wie bei Fichte soll die Reflexion ein 14 »In der Reflexion ist Freiheit in Beziehung auf das Bilden, und darum fügt zu jenem ersten Bewusstseyn des Seyns hier sich das Bewusstseyn des Bildens hinzu. In der Wahrnehmung sagte das Bewusstseyn aus: das Ding ist, und damit gut. Hier spricht das neuentstandene Bewusstseyn: es ist auch ein Bild, eine Vorstellung des Dinges. Da ferner dieses Bewusstseyn die realisierte Freiheit des Bildens ist, so spricht in Beziehung auf sich selbst das Wissen: ich kann jene Sache bilden und vorstellen, oder auch nicht.« (Fichte 1971 [1817], 552) Einige Zeilen später bekräftigt Fichte nochmals, worauf es ihm zuallererst ankommt: »[D]em neuentstandenen Bewusstseyn des Bildes liegt ein reales Sichbefreien zum Grunde«. 15 Diese Reflexion Fichtes auf die schöpferische Freiheit des Bewusstseins und dessen Transformation zur Realisierung seiner Freiheit führt im Hintergrund das christlich-neuplatonische Denken der Ebenbildlichkeit des Menschen fort, wie bei Christoph Asmuth (1997) nachzulesen ist. 16 Vgl. zur Selbstbeschränkung der Einbildungskraft durch die Setzung eines »Bilds des Widerstands« der materiellen, qualitativ bestimmten Außenwelt Fichte 1971 [1817], 583-587. 17 Im Folgenden stütze ich mich auf meine Habilitationsschrift (Schubbach 2012a) und insbesondere die dort vorgenommene Rekonstruktion der im Nachlass Cassirers erhaltenen ersten Aufzeichnungen zu einer »Philosophie des Symbolischen« von 1917 (vgl. zum Befund Schubbach 2012a, 28 ff.). Ich zitiere den Nachlass, der in der Beinecke Rare Book and Manuscript Library unter GEN MSS 98 katalogisiert ist, als Cassirer Papers und gebe dabei wie üblich Box und Folder der Bibliothek sowie etwaige Titel und Nummerierungen von Cassirers eigener Hand an. 18 Vgl. zu Hegels Verständnis des Bildes im scharfen Unterschied zu Fichte Sandkaulen 2010, 142-145, und zu Cassirer ausführlicher Schubbach 2012a, 219 ff.
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anderes Verhältnis zur Welt herbeiführen, indem sie die Produktivität kultureller Symbolisierung und die involvierte Tätigkeit des Subjekts hervortreten lässt: Statt sich wie im Mythos von den >Bildern< gefangen nehmen zu lassen, soll der Mensch sie vor allem in Sprache und Erkenntnis wiederum als Produkte seiner Tätigkeit, als Produkte seines >Bildens< begreifen lernen. An dieser systematischen Stelle greift Cassirer in der Philosophie der symbolischen Formen und den anfänglichen Aufzeichnungen zu diesem Projekt auf Fichtes Semantik des Bildens zurück. Der Begriff des >Bildes< bezeichnet dabei eine sinnliche Gegebenheit, die sich letztlich als Ergebnis einer produktiven Symbolisierung begreifen lassen soll.19 Sie wird von Cassirer kulturgeschichtlich mit dem Mythos assoziiert, den er dadurch kennzeichnet, dass »hier [...] das >Gebilde< nicht unmittelbar als das Ergebnis des schöpferischen Prozesses des Bildens, als reine Schöpfung der produktiven Einbildungskraft gesucht und als solche Schöpfung gewußt« (Cassirer 2002 [1925], 32) sei. Dieses vermeintlich gegebene >Bild< bezieht Cassirer dagegen zunächst nach dem Vorbild des Schematismus-Kapitels aus Kants Kritik der reinen Vernunft auf »eine rein geistige Funktion (>SchemaBilden< versteht. 21 Auf diese Weise soll eine »fortschreitende Emanzipation vom >Bild«< vollzogen werden, die sich letztlich als »Übergang vom >Bild< zur >Funktion«Bild< zum >Bilden< über die Reflexion: »Diese Emanzipation von der sinnlichen Unmittelbarkeit - sowohl des Objektes als des Bildes - ist der entscheidende Charakter aller sogen. >Reflexionneue Stil< der Renaissance rasch verbreitet wurde: So »schuf die neu erfundene Druckkunst eine Schaar leicht beweglicher Verkünder des neuen pathetischen Stiles, der nun die Künstlerwerkstätten weit über Italien hinaus in Gärung brachte.« (2010f [1914], 295) 32 Die >Druckkunst< ist dabei nur die jüngste Errungenschaft in einer ganzen Reihe von Techniken der Produktion, Reproduktion und Vervielfältigung der Bilder: »Der flandrische Teppich ist der erste noch kolossalische Typus des automobilen Bilderfahrzeuges, der, von der Wand losgelöst, nicht nur in seiner Beweglichkeit sondern auch in seiner auf vervielfältigende Reproduktion des Bildinhaltes angelegten Technik ein Vorläufer ist des bildbedruckten Papierblättchens, d.h. des Kupferstichs und des Holzschnittes, die den Austausch der Ausdruckswerte zwischen Norden und Süden erst zu einem vitalen Vorgang im Kreislaufprozesse der europäischen Stilbildung machten.« (Warburg 2010h [1929], 636 f.) Dieser bekannte Gedanke einer »wandernden Bilderwelt« (2010d [1913a], 326) 33 zeigt erneut, dass Warburg Bilder sowohl in ihrer welterzeugenden Funktion als auch in ihrer empirischen Realität fasst. Deshalb stellt die Welterzeugung durch Bilder nicht nur ein zeitliches, sondern auch ein räumliches Geschehen dar. Wie die Bilder und die erzeugte Welt konkret lokalisiert sind und sich ausbreiten können, hängt dabei ebenso von der materialen
32 Warburg formuliert diesen Gedanken mehrmals in ähnlichen, meist sehr bekannten Worten. Er spricht so von den »beweglicheren Bilderfahrzeugen der im Norden entdeckten Druckkunst« (2010c [1912/22], 376); »War schon durch den Druck mit beweglichen Lettern der gelehrte Gedanke aviatisch geworden, so gewann jetzt durch die Bilddruckkunst auch die bildliche Vorstellung, deren Sprache noch dazu international verständlich war, Schwingen, und zwischen Norden und Süden jagten nun diese aufregenden ominösen Sturmvögel hin und her, während jede Partei versuchte, diese >Schlagbilder< (wie man sagen könnte) der kosmologischen Sensation in den Dienst ihrer Sache zu stellen.« (2010g [1920], 456); vgl. darüber hinaus Warburg 2010g [1920], 426 f. 33 Am Ende des hier zitierten Vortrage greift Warburg (2010d [1913], 345 f.) die Vorstellung der »internationalen Wanderschaft« eines »Bilderkreises« nochmals auf und spricht mit Bezug auf die »Mischungen von schneller Wanderbewegung und unausrottbarer Sesshaftigkeit« auch von einer »pragmatischen Kulturgeschichte« (vgl. auch 2010e [1913], 370). Diese bündige Formel scheint die hier vertretene Deutung zu bestätigen - aufgrund der mangelnden Explikationen und im Zusammenhang von Warburgs mannigfaltigen, oft voneinander abweichenden Selbstcharakterisierungen ist dies aber schwer zu belegen. Die >Wanderung der Bilder< findet sich immer wieder, so spricht Warburg in seinem Dürer-Aufsatz von der »Etappenstraße [...], auf der die wandernden antiken Superlative der Gebärdensprache von Athen über Rom, Mantua und Florenz nach Nürnberg kamen, wo sie in Albrecht Dürers Seele Einlaß fanden« (2010a [1905], 181).
Das Bilden der Bilder
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Verfasstheit der Bilder und ihrer Beweglichkeit wie den Bedingungen ihrer Produktion und Vervielfältigung ab. Eine neue historische Welt wird somit zum einen durch Bilder erzeugt, die einen Ort haben, was sowohl im Zusammenhang ihrer Entstehung als auch mit Bezug auf die Verfügbarkeit von Vorbildern vor Ort gilt. Zum anderen vollzieht sich die Genese der Renaissance wesentlich durch die Vervielfältigung und Verbreitung dieser Bilder an anderen Orten, durch die internationale Bilderwanderungder gute Europäer seinen Kampf um Aufklärung in jenem Zeitalter internationaler Bilderwanderung, das wir - etwas allzu mystisch - die Epoche der Renaissance nennen.« (Warburg 2010c [1912/22], 397)
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Arno Schubbach
21) versucht.35 Seine These besteht darin, dass sich die moderne Wissenschaft wesentlich auf die Arbeit mit Aufzeichnungen begründet. Er führt dazu nicht nur die Anfertigung und Vorhaltung von Aufzeichnungen an, sondern auch ihre identische Reproduktion, breite Distribution und lokale Sammlung, wofür auch er sich auf das Paradigma der Druckerpresse bezieht (31-35 und 43 f., mit Bezug auf Eisenstein 1979). Wie Warburg die Bilder der Renaissance versteht Latour die »practice of inscribing« als einen empirischen Prozess innerhalb der Welt und des »writing, printing, and visualizing« (1990, 22) als die Produkte ganz konkrete, materielle Artefakte. Mit Bezug auf die wissenschaftliche Erkenntnis betont er aber stärker noch ihre transzendentale Funktion, geht es ihm mit der Entstehung der modernen Wissenschaft doch auch darum, wie wissenschaftliche Fakten etabliert werden. 36 Die Welt dieser Fakten wird durch Aufzeichnungen - und nicht etwa unmittelbare Beobachtung - erzeugt. Hierbei spielen Verfahren eine Rolle, durch die die empirische Welt in Aufzeichnungen verwandelt wird.37 Nicht minder zentral ist aber die identische Vervielfältigung und dadurch ermöglichte Sammlung von Aufzeichnungen und Publikationen. Denn sie dienen nicht etwa lediglich der Verbreitung von Erkenntnissen, die an einem Ort gewonnen worden wären. Sie erlauben vielmehr Vergleiche und Abgleiche von Beobachtungen und Kenntnissen, um Differenzen und Abweichungen festzustellen, einen identischen Befund abzusichern und letztlich eine Erklärung mitzuteilen sowie ihr zur Anerkennung zu verhelfen. Latour begreift die Produktion von Erkenntnis folglich nicht als zunächst lokal und sodann sich ausbreitend. Sie prozessiert von vornherein verteilt: Sie setzt einen Prozess der Aufzeichnung an vielen Orten voraus sowie deren Sammlung an einigen wenigen Orten, um nicht zuletzt die Aufgabe der Publikation einzuschließen, durch die andere Forscher überzeugt und das Faktum anerkannt wird (Latour 1990, 23 f.). Die wissenschaftliche Erkenntnis involviert daher nicht nur die konkreten, materiellen Artefakte der Aufzeichnungen, sie nutzt deren spezifische, materielle Eigenschaften gezielt als Ressourcen für ihre eigenen Operationen, bei ihrer Kombination, Verdichtung und Präsentation in der Publikation ebenso wie in der identischen Vervielfältigung, dem unveränderten Transport und der reichhaltigen Sammlung an einem Ort (26 und 36-48). Latours Konzeption der >immutible mobiles< kann somit als eine Theorie der Welterzeugung aufgefasst werden, in der die Grenze zwischen transzendentaler Funktion und empirischer Charakteristik der Aufzeichnungen stets gekreuzt wird und zirkuläre Strukturen zwischen diesen bei35 Vgl. die Konklusionen Latour 1990, 54-57. 36 Latour spricht natürlich nicht im affirmativen Sinne von einer transzendentalen Funktion, beschreibt seine Untersuchungen der wissenschaftlichen Erkenntnis aber mitunter durchaus in der Weise, dass sie als praxeologische Wendung der kantischen Erkenntnistheorie erscheinen, vgl. Latour 1996, 212: »Die Arbeit mit dem Pedologenfaden hätte Kant bestimmt gefallen, und er hätte in ihm die praktische Form seiner Philosophie wiedererkannt.« 37 Dieser Aspekt ist ausführlicher behandelt in Latour 1996.
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den Aspekten konstitutiv sind. Wie bei Warburgs Genese der Renaissance in Auseinandersetzung mit der Antike handelt es sich bei Latours Entstehung der modernen Wissenschaften und der Erzeugung wissenschaftlicher Erkenntnisse somit um Prozesse, die eine Welterzeugung durch Bilder nur insofern zustande bringen, als diese Bilder in der Welt situiert sind, Ort und Zeit haben, sie sich bewegen und verbreiten können, sie vervielfältigt, bewahrt und versammelt werden. An der Welterzeugung haben Bilder demnach nur insofern Anteil, als sie selbst Teil der Welt sind, zu deren Darstellung sie hergestellt werden.
4.
Welterzeugung durch Bilder - transzendental und empirisch
Wie ich zu zeigen versucht habe, ist die Theorie der Welterzeugung durch Bilder eng verknüpft mit der jeweiligen Konzeption des Bildes und folglich abhängig von grundlegenden bildtheoretischen Annahmen. Ein zeichentheoretischer Begriff der Bilder blendet die konkrete Beschaffenheit und Gemachtheit der Bilder weitgehend aus, um - wie im Falle der Sprache und ihrer immanent definierten Zeichen - stattdessen ausgehend von gegebenen Bildern die spezifische Form ihrer Repräsentation zu untersuchen. Nelson Goodmans einschlägige symbolphilosophische Theorie des Bildes verfolgt einen solchen Ansatz, der aber den empirischen Charakter von Bildern, ihre technische Herstellung und materiale Realisierung sowie ihre empirische Situierung in Zeit und Raum außer Acht lässt. Goodmans >Transzendentalisierung< des Bildes auf symbolphilosophischer Grundlage stellt sich dabei selbst in eine transzendentalphilosophische Tradition, die in der Semantik des Bildens die Bilder nicht minder, aber auf andere Weise >transzendentalisiertWelt< sowie der besonderen Anschlusslogik mit den bildlichen Potenzialen der Kombination von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, der Synoptizität und der visuellen Rhetorizität im Einklang steht. Die konstitutive Rolle, die Bilder aufgrund dieser Wahlverwandtschaft für Differenzierungsphänomene einnehmen, wird am Beispiel der Religion illustriert. Hier sind es religionsbezogene Kartographien, die zunächst im 17. Jahrhundert einen Diskurs globaler Religionsvergleiche flankieren und dann im Zuge der neu in Gang kommenden Mission des 19. Jahrhunderts katalytisch auf einen Sinnzusammenhang einwirken, in deren Zentrum die christliche Bekehrung einer Weltpopulation steht. Diese Sinnsphäre wird heute durch das evangelikale Christentum getragen, das solche Karten mit den technischen Potenzialen des Internets aufrüstet.
1.
Einleitung
Die zunehmende wissenschaftliche Beschäftigung mit der Bildlichkeit, auf die die Formeln des »iconic turn« (Boehm) oder »pictorial turn« (Mitchell) verweisen, macht sich mittlerweile auch in einer wachsenden Zahl von Publikationen bemerkbar, die sich dem Thema (eher) soziologisch nähern. 1 Die Thematik der Visualisierung bzw. des Bildes ist indessen bislang kaum systematisch unter differenzierungstheoretischen Gesichtspunkten betrachtet worden. Zwar finden sich zahlreiche Studien, die die Funktion und Bedeu-
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Soziologische Studien zur Rolle von Bildlichkeit und Visualität finden sich wohl erstmals in der Wissenschaftssoziologie; vgl. nur Lynch/Woolgar 1988 und Heintz/Huber 2001. Vgl. Maasen/Mayerhauser/Renggli 2006 für Beiträge zum Thema Bild aus einer diskursanalytischen Perspektive. Zur Einbettung in einen systemtheoretischen Rahmen vgl. Bohn 2006.
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tung visueller Medien in bestimmten Funktionsbereichen thematisieren. 2 Zu differenzierungstheoretisch relevanten Verallgemeinerungen gelangen diese dabei allerdings selten. Eine Ausnahme in letzterer Hinsicht bilden Urs Stähelis Arbeiten (2006; 2007) zu visuellen Semantiken, die - am Beispiel der Finanzökonomie - der allgemeinen Rolle von Visualität in den Selbstbeschreibungen gesellschaftlicher Funktionssysteme nachgehen. 3 Der Akzent liegt dabei auf Funktionen der >Außendarstellung< des Systems und den damit verbundenen Inklusionseffekten. Am Fall der Finanzwerbung wird demonstriert, wie sich in bildlichen Darstellungen die Einheit des Systems anschaulich repräsentieren lässt. Zugleich lassen sich, so Stäheli, in der Aufnahme und eigenlogischen Artikulation von Elementen eines populären Bildrepertoires bestimmte Figuren der Inklusion in die systemspezifischen Kommunikationsprozesse inszenieren und plausibilisieren.4 Auch im vorliegenden Beitrag geht es darum, einigen allgemeinen funktionalen Verbindungen von visueller Kommunikation und ausdifferenzierten Teilsystemen nachzugehen. Dabei soll der Blick aber nicht auf den Aspekt der Außenrepräsentation gesellschaftlicher Funktionssysteme verengt werden. Vielmehr gilt das Interesse hier grundlegenden Wahlverwandtschaften zwischen den Potenzialen bildlicher Kommunikation auf der einen Seite und der Konstruktion spezifischer Sinnwelten und eigenlogischer Systemzusammenhänge auf der anderen Seite.5 Dabei soll von der Annahme eines irreduziblen Eigensinns des Bildlichen ausgegangen werden, wie sie die bildwissenschaftliche Diskussion weitgehend eint (vgl. Belting 2007; Boehm 2007; Krämer/Bredekamp 2003; Heßler/Mersch 2009). Die zentrale These dieses Aufsatzes ist, dass die >Eigenwirklichkeit< der Bilder eine generelle Adäquanz für die Konstitution der besonderen Sinnkosmoi ausdifferenzierter Teilsysteme aufweist. Ein sich ausdifferenzierender Sinnzusammenhang findet in der Bildlichkeit ein besonders 2 Vgl. für die Wissenschaft den Band von Heintz/Huber 2001; für die Wirtschaft KnorrCetina/Brügger 2002; für das Recht Röhl/Ulbrich 2000 und Röhl 2005; für die Politik Hofmann 1999 und Lesske 2005. 3 Vgl. ferner die Studie von Rudolph (2007), die sich allerdings weniger für Bilder als für die wahrnehmungsbedingte Zuordnung situativer Handlungsvollzüge zu Funktionssystemen interessiert. 4 In mancherlei Hinsicht treffen sich diese Überlegungen mit Jürgen Links Konzeption der Kollektivsymbolik (vgl. z. B. Link 1988). Auch hier dienen Bilder, zu denen nicht nur visuelle Abbildungen im engeren Sinne, sondern auch Sprachbilder zählen, dem Anschluss etwa von ökonomischen, politischen, wissenschaftlichen Spezialdiskursen an einen >populären InterdiskursBildes< anbelangt, so sind in diesem Zusammenhang ausschließlich artifiziell produzierte Darstellungen auf Trägermedien aller Art im Blick, also etwa Illustrationen, Graphiken, Schaubilder, Diagramme, Karten, Tabellierungen etc. Auf die Frage des Verhältnisses von Medium und Bild soll hier nicht eingegangen werden; vgl. dazu anstatt vieler Hinterwaldner/Buschhaus 2006. Ebenso müssen hier Fragen des Verhältnisses von semiotisch-sprachlichen und rein graphischen Elementen in Darstellungen außen vor gelassen werden. Die bildtheoretischen Argumente beziehen sich hier stets auf die Potenziale, die den graphischen Komponenten und Relationierungen entspringen.
Visualisierung und Differenzierung
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geeignetes Substrat, um Eigengesetzlichkeiten verdichtend zu veranschaulichen und damit sinnspezifischen Dynamiken weiteren Anschub zu verleihen. In diesem Zusammenhang soll zunächst eine differenzierungstheoretische Traditionslinie innerhalb der Soziologie skizzenhaft herausgearbeitet werden, deren Differenzierungsparadigma in erster Linie auf die Ausdifferenzierung spezifischen Sinns abstellt (2). Es betrifft dies unter den Klassikern vor allem die Arbeiten Wilhelm Diltheys, Georg Simmeis und Max Webers, an die innerhalb der gegenwärtigen Theorielandschaft insbesondere die Systemtheorie Niklas Luhmanns in entscheidenden Punkten anknüpft. Hier sollen die differenzierungstheoretischen Perspektiven Simmeis und Luhmanns rekonstruiert werden. Davon ausgehend sind dann allgemeine Überlegungen zu den besonderen Affinitäten von visuellen Darstellungen und der Ausdifferenzierung besonderer Sinndomänen anzustellen (3). Im weiteren Verlauf dieses Aufsatzes sollen diese Überlegungen an einem Anwendungsfall exemplifiziert werden. Hier gilt es, der Herausbildung einer spezifischen Sphäre globaler interreligiöser Beobachtung nachzugehen und die konstitutive Rolle aufzuzeigen, die Bilder in diesem Zusammenhang spielen (4). Ausgangspunkt sind hier Kompendien und Traktate des 17. und 18. Jahrhunderts, die es sich zur Aufgabe machen, die religiöse Vielfalt der Welt zu inventarisieren. Daran knüpft im 19. Jahrhundert eine insbesondere protestantische Missionsbeobachtung an, die nun auch eine Handlungsorientierung mit diesen Betrachtungen verbindet. Es entsteht hier eine Sinnsphäre, die sich für Bekehrungen zum Christentum interessiert und in dieser Hinsicht statistische Bilanzierungen und geographische Verortungen der weltweiten religiösen Zugehörigkeitsverhältnisse zum immer neuen Ausgangspunkt missionarischer Intervention macht. Heute wird diese dezidiert auf Bekehrung setzende Missionsperspektive innerhalb des Protestantismus vor allem durch die evangelikale Strömung fortgeführt. Wie zu zeigen sein wird, kontinuieren hier gerade auch die visuellen Semantiken, die konstitutiv an der Aufdauerstellung und Selbstperpetuierung dieses Sinnzusammenhangs beteiligt sind und sich gegenwärtig auch der Möglichkeiten des Internets bedienen.
2.
Differenzierung und Sinn
Vergleicht man das differenzierungstheoretische Gedankengut der soziologischen Klassiker, so wird deutlich, dass von einer einheitlichen Tradition nicht die Rede sein kann (vgl. hierzu Hahn 1999; Tyrell 1998). Auf der einen Seite lassen sich etwa Herbert Spencer und Emile Durkheim einem gemeinsamen Differenzierungsparadigma zuordnen, das den Akzent in der Hauptsache auf ein Auseinandertreten von vormals verbundenen Rollenstrukturen legt. An zentraler Stelle steht dabei eine Organismusanalogie: Differenzierung wird als >Dekomposition< eines gesellschaftlichen Ganzen gedacht, deren Teile in einem interdependenten, funktional aufeinander bezogenen Verhält-
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Martin Petzke
nis stehen. 6 Dem steht auf der anderen Seite eine eher deutsche Tradition differenzierungstheoretischen Denkens gegenüber, die sich insbesondere mit den Namen Wilhelm Dilthey, Georg Simmel und Max Weber verbindet. Diese Auffassung gesellschaftlicher Differenzierungsprozesse setzt dezidiert auf die Ausdifferenzierung besonderen Sinns. Es geht damit weniger um Prozesse der Arbeitsteilung und Spezialisierung von Rollengefügen; ausdifferenzierte Rollenzusammenhänge kommen nun eher als Trägerstrukturen in den Blick, auf denen ein spezifisches Sinngeschehen aufruht. Dies lenkt den Fokus auf die >Eigengesetzlichkeiten< der jeweiligen Sinndomänen. Entsprechend wird hier statt von einem harmonischen Zusammenspiel der Teilgebiete vielmehr von >Interdependenzunterbrechungen< und zum Teil gar widersprüchlichen Auseinanderentwicklungen ausgegangen. Georg Simmel hat im Zusammenhang seiner religionssoziologischen und kulturphilosophischen Schriften einen konturierten Entwurf dieser Differenzierungskonzeption vorgelegt (vgl. hierzu auch Petzke 2011). Im Rahmen seiner Kulturphilosophie ist von >objektiven Kulturgebilden< die Rede, derer jedes einem »autonomen Ideal« (Simmel 1989 [1900], 619) untersteht. Entsprechend gehören die Kulturprodukte je einer eigenen »sachlichen Ordnung von Werten [an], einer logischen oder sittlichen, einer religiösen oder künstlerischen, einer technischen oder rechtlichen« (Simmel 1996 [1919], 391). Die kulturellen Erzeugnisse erhalten hier allein nach Maßgabe eigenlogischer >Sachideale< ihren jeweiligen Wert. Sehr deutlich wird hier vor allem die Homogenität und Monofokalität solcher Sinngebiete herausgestellt: Das Kunstwerk soll nach den Normen der Kunst vollkommen sein, die nach nichts als nach sich selbst fragen und dem Werke seinen Wert geben oder verweigern würden, auch wenn es so es zusagen auf der Welt gar nichts weiter als eben dieses Werk gäbe; das Ergebnis der Forschung als solches soll wahr sein und absolut weiter nichts, die Religion schließt mit dem Heil, das sie der Seele bringt, ihren Sinn in sich ab, das wirtschaftliche Produkt will als wirtschaftliches vollkommen sein und erkennt insoweit keinen anderen als den wirtschaftlichen Wertmaßstab für sich an. (Simmel 1996 [1919], 398) Mit der »Eigengesetzlichkeit« (1996 [1919], 417) dieser objektiven Kulturgebiete verbindet sich folglich eine legitime Indifferenz< gegen alle ihnen äußerliche Logiken und Sinnmomente. 7 Dieser Aspekt der Homogenisierung wird im Rahmen der religionssoziologischen Schriften Simmeis insbesondere mit einer Semantik der Steigerung und Reinigung versehen. Sachlich >bereinigte< Sinnperspektiven destillieren sich aus noch sehr diffusen, »mit anderen Formen und Inhalten« verwobenen 6 Vgl. zum Dekompositionsparadigma in der Differenzierungstheorie Mayntz 1988. 7 Vgl. zum differenzierungstheoretischen Aspekt der »legitimen Indifferenz< Tyrell 1978, 183; dort ist auch der Aspekt der »thematischen Reinheit< benannt.
Visualisierung und
Differenzierung
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Vorformen heraus (Simmel 1898, Ulf.): So gilt etwa für die Wissenschaft, »dass sie nur eine Steigerung, Durchbildung, Verfeinerung aller der Erkenntnismittel ist, deren niedrigere und trübere Grade uns auch zu den Einsichten und Erfahrungen des täglichen, praktischen Lebens verhelfen« (111). Und auch im Falle der Religion finden sich >religioide< Einfärbungen bereits in den alltäglichen Beziehungen, etwa im Glauben des Kindes an seine Eltern, in den Einheitsgefühlen im gesellschaftlichen Verband oder in der Abhängigkeitserfahrung des Individuums gegenüber dem moralischen Urteil der sozialen Gruppe. Was hier nur in unvollendeten Ansätzen vorliegt und stets von anderen Stimmungen und Beziehungswerten durchsetzt ist, steht mit der Heraussonderung objektiven religiösen Sinns völlig rein und ideal da: Hier differenzieren sich nun Gottesvorstellungen heraus, »welche durch ihr Wesen das gleichsam gesondert darstellen, was bis dahin als bloße Beziehungsform und in Verschmelzung mit realeren Lebensinhalten existiert hatte« (114). Im Rahmen seiner Abhandlungen zur Religion wird neben diesem Aspekt der Homogenisierung und Destillierung noch ein weiterer zentraler Gesichtspunkt der Simmel'schen Differenzierungstheorie sichtbar, der gerade vor dem Hintergrund der Thematik dieses Bandes von Bedeutung ist. So ist bei Simmel die Ausdifferenzierung spezifischer Sinngebiete gleichbedeutend mit der Erzeugung einer eigenen Sinnwelt. Das Weltmotiv tritt hier nicht zuletzt aufgrund der totalisierenden Perspektive der ausdifferenzierten Teilgebiete hinzu, die den gesamten >Weltstoff< nach eigener Maßgabe rekonfiguriert. So setzt die »besondere Gesetzlichkeit« der Kunst etwa »neben die Welt der Wirklichkeit eine neue, aus demselben Material gestaltete und ihr äquivalente« (Simmel 1995 [1906], 44). Und Gleiches gilt für die Religion: »Aus dem anschaulichen und begrifflichen Stoff, den wir auch in der Schicht der Wirklichkeit erleben, erwächst in neuen Spannungen, neuen Maßen, neuen Synthesen die religiöse Welt« (44). Diese steht autonom und widerspruchslos neben weiteren, »nach anderen Kategorien erbauten Weltbildern« (45). Schließlich findet sich bei Simmel der Gedanke einer eigengesetzlichen Entwicklungslogik und pfadabhängigen Handlungsprogrammatik innerhalb der verschiedenen Kulturgebiete. Diese Entwicklungsgesetze treiben allenthalben wie mit »logische [r] Notwendigkeit ein Glied nach dem andern hervor« (Simmel 1996 [1919], 408). Für die Technik ist dies in aller Deutlichkeit gesagt: »So kann etwa die industrielle Herstellung mancher Fabrikate die von Nebenprodukten nahe legen, für die eigentlich kein Bedürfnis vorliegt [...]; die technische Reihe fordert von sich aus, sich durch Glieder zu komplettieren, deren die seelische, eigentlich definitive Reihe nicht bedarf« (408 f.). Nichts anderes wird für die Wissenschaft konstatiert: Das bloße »Weitergehen der sachlichen Norm« und der »Leergang der Methode« treiben die Wissenschaft immer weiter über sich hinaus, zum Teil bis in eine »Bearbeitung des Unwesentlichen« (409). Und auch die Religion hat für Simmel »gewisse Bildungsgesetze, die ihre, aber nicht immer unsere Notwendigkeit entfalten« (403).
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Martin Petzke
Unter den aktuellen soziologischen Differenzierungstheorien liegt wohl keine so deutlich auf dieser Linie wie das gesellschaftstheoretische Œuvre Niklas Luhmanns. Obgleich der Funktionalismus der >Funktionssysteme< auch andere Bezüge unter den Klassikern erlaubt, so teilt die dezidiert auf Sinn abstellende Differenzierungsperspektive ihre darüber hinausgehenden Prämissen doch spürbar mit dieser deutschen Theorietradition. Die sinntheoretische Kontinuität lässt sich hier insbesondere infolge Luhmanns Aufnahme der phänomenologischen Perspektiven Edmund Husserls herstellen. 8 Gerade darin liegt aber zugleich ein eigenständiger Akzent auf dem operativen, temporalisierten Charakter der gesellschaftlichen Teilsysteme. Deren Ausdifferenzierung vollzieht sich hier über eine rekursive Schließung spezifischer kommunikativer Operationen, die je »teilsystemspezifische Möglichkeitshorizonte« (vgl. Luhmann 1987, 191, Hervorh. M. P.) reproduzieren. Dabei werden sowohl selbstreferenzielle als auch fremdreferenzielle Sinnbezüge realisiert, also solche, die die Selbstbezüglichkeit des Operationszusammenhangs selbst betreffen, wie auch solche, die auf den >systemabgewandten< Sinn, die vermeinte Welt< im Sinne Husserls verweisen. So wird in der Wirtschaft etwa von der selbstreferenziellen Logik der Zahlung her eine eigene sinnspezifische >Welt< konfiguriert, für die Arbeit, Übereignung von Waren, Dienstleistungen etc. bestimmend sind. Wirtschaftliches Operieren konstituiert somit zweierlei aufeinander bezogene >VerweisungskontexteRändern< aber zugleich auf weitere Möglichkeiten des Erlebens und Handelns, die im nächsten Moment in das Aktualitätszentrum des Systems rücken können und selbst wieder auf weitere Möglichkeiten verweisen. Die Reproduktion des Systems läuft somit über den rekursiven Anschluss selektiv aktualisierter Möglichkeiten. Der systemspezifische Sinn ist das Korrelat dieser geschlossenen Operativität und erscheint je in actu als Differenz von Aktualität und mitangezeigten Potenzialitäten. Analog zu den Zahlungen und den ihnen zugehörigen wirtschaftsspezifischen >Appräsentationen< reproduzieren wissenschaftliche Publikationen wissenschaftsspezifische, kollektiv bindende Entscheidungen politikspezifische und Rechtsentscheidungen rechtsspezifische Möglichkeitshorizonte. Es handelt sich also auch hier um eine Ausdifferenzierung besonderer Sinnwelten, die unter ständiger Verschiebung eines spezifischen, sinnhomogenen Horizonts im systemeigenen Operieren abgeschritten werden. Die Systeme nehmen dabei ebenfalls totalisierende Perspektiven auf
8
Zum soziologischen Anschluss an Husserls Sinnbegriff siehe schon Luhmann 1971.
Visualisierung und
Differenzierung
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die Welt unter je besonderen Sachgesichtspunkten ein, indem sie schlechterdings alles hinsichtlich der Relevanzstruktur ihrer Sinndomäne beobachten, etwa indem sie es den spezifischen Codes von wahr/falsch (Wissenschaft), Eigentum/Nichteigentum bzw. Zahlung/Nichtzahlung (Wirtschaft) etc. subsumieren. Sie kombinieren folglich »Universalismus und Spezifikation« (Luhmann 1997, 709) in der Beobachtung ihrer gesellschaftlichen Umwelt. Nicht zuletzt in diesen universalisierenden Perspektiven der gesellschaftlichen Teilsysteme liegen auch weltgesellschaftstheoretische Implikationen. Wo eine rein sacfahematische Alleinzuständigkeit reklamiert wird, treten räumliche Grenzen in den Hintergrund (oder systemspezifisch auseinander) und der Blick weitet sich potenziell ins Globale (vgl. Luhmann 2005; 1997, 809; Stichweh 2005, 7 ff.).9 Schließlich verbinden sich mit den selbstreferenziellen wie fremdreferenziellen Sinnverweisungen spezifische Anschlusslogiken und >ProgrammatikenSteigerung< und >Reinigung< in der Heraussonderung spezifischer Sinnmomente steht hier in einem funktionalen Verhältnis zu der besonderen »affirmativen Kraft« (Heßler/Mersch 2009a, 29) des Bildlichen und seinen einzigartigen Kapazitäten, anderen Sinn abzublenden. Die visuellen Darstellungsformen harmonieren mit der Kombination von »Reduktion und Steigerung von Komplexität« (Luhmann 1984, 248), wie sie der Ausdifferenzierung von Sinnsystemen eigen ist.13 Sie implementieren qua indes allein auf solchen Bildattributen liegen, die sich für die Installation eines eigengesetzlichen Sinngeschehens ausdifferenzierter Teilsysteme einspannen lassen. 12 Ich übertrage hier einen Gedanken auf den Fall der Bildlichkeit, den Bettina Heintz (2008, 119 f.) am Beispiel der Quantifizierung unter dem Stichwort »Sichtbarmachung und Intransparenz« herausgearbeitet und im Anschluss an Luhmann (1990) beobachtungstheoretisch verallgemeinert hat. 13 Vgl. auch Manovich 2011, 38 ff., der in der >Reduktion< eines der zwei entscheidenden Charakteristiken bildlicher Darstellungen von Informationen seit dem 18. Jahrhundert sieht. Reduktion wird auch bei Manovich implizit an Komplexitätssteigerungen gekoppelt, da jene
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Differenzierung
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Bildlichkeit sinnhafte Interdependenzunterbrechungen und den Aufbau von Indifferenzschwellen bei gleichzeitiger unmittelbarer Vergegenwärtigung der eigenlogischen Wirklichkeiten des spezifischen Systems. Mehr noch als im Sprachlichen und Schriftlichen lassen sich durch die spezifischen Möglichkeiten der visuellen Verdichtung und der Invisibilisierung im Sichtbarmachen sinnfremde Verweisungsüberschüsse weitgehend einfangen. 14 Eine »Hypostasierung« der Funktions- bzw. Sinnperspektive (Luhmann 1983, 30) und visuelle Darstellungsformen stehen folglich, so die These, in einer wahlverwandtschaftlichen Beziehung. Zu denken ist hier etwa an politische Karten, die ein geographisches Terrain allein unter dem Gesichtspunkt von Machthoheiten, Machtkonstellationen und politischen Zuständigkeiten abbilden und dabei, unter Absehung familiärer, religiöser oder ökomonomischer Verknüpfungen, die politische Grenzziehungen hier durchkreuzen mögen, einen >rein< politischen Raum veranschaulichen. 15 Zu denken ist ferner an den ökonomischen Graphen, der eine Zeitperiode allein hinsichtlich der sich darin ereigneten oder projektierten konjunkturellen Schwankungen in den Profitmargen o.ä. betrachtet (vgl. dazu Tanner 2002). Weiterhin ist an bildgebende Verfahren oder Modellzeichnungen in der Wissenschaft zu denken, die einzig jenes >Faktum< oder jene Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge herauspräparieren und graphisch hervorheben, die unter Theoriegesichtspunkten bzw. hinsichtlich einer wissenschaftlichen Problemstellung interessieren. Dabei lassen sich bedeutsame Relationen und Muster in den Daten über solche Visualisierungen zum Teil überhaupt erst erschließen. Durch die selektive Darstellung allein forschungsrelevanter Daten gibt das Bild hier einen signifikanten empirischen Zusammenhang erstmals zu erkennen (vgl. Heintz/Huber 2001, 16 f.; Krämer 2011, 431; Tufte 2001).
die Entdeckung neuartiger Muster in den relevanten Daten erlaube. Das zweite Charakteristikum besteht Manovich zufolge in der Verwendung räumlicher Variablen in der Darstellung solcher Informationen. Der Autor stellt diesen Darstellungen jüngere Formen direkter Visualisierung gegenüber, die ohne Reduktionen auskommen. 14 Wie bei Stäheli (2007, 76ff.) erörtert, können sich selbstverständlich auch Bilder hinsichtlich ihrer »Logik der Assoziation« solchen Verweisungsüberschüssen nicht völlig entziehen, was dann aber wieder gerade im Sinne der Eigenlogik des Systems genutzt werden kann, etwa indem unter Inklusionsgesichtspunkten der Anschluss an populäre Bildsemantiken absichtsvoll gesucht wird. 15 Vgl. zu Kartierungen Gombrich (1984), der diese als Grenzfall des Bildes sieht, insofern sie Darstellungen ausgewählter Informationen über die physische Welt (statt ihrer Erscheinung) sind, ohne freilich in den Darstellungskonventionen ganz auf Zugeständnisse an die Erscheinungswelt verzichten zu können. (Am anderen Ende des Spektrums stünde als weiterer Grenzfall der Spiegel, der der Erscheinungswelt nahezu vollständig verhaftet bleibt). Stephan Günzel (2009) erweitert Gombrichs Überlegungen, indem er Karten im Zwischenfeld von Bildern und Diagrammen situiert. Sie sind Diagramme, indem sie Relationen von Daten visualisieren, die auch tabellarisch niedergelegt werden könnten; sie sind Bilder, indem sie dabei zugleich auf topographische Aspekte eingehen und somit diskrete bzw. digitale Datenstrukturen in eine analoge Form überführen. Vgl. zur Visualisierung von quantitativen Daten auch Tufte 2001.
128 3.2
Martin Petzke
Totalisierung und Synoptizität
Allen voran Simmel hat im Zusammenhang mit seinen Überlegungen zur Ausdifferenzierung autonomer Sinngebiete das Motiv von besonderen >Welten< ins Spiel gebracht. Die Eigengesetzlichkeit der Sphären lässt einen ebenso spezifischen wie >totalisierenden< Blick auf die wirkliche Welt< werfen, der diese noch einmal nach ganz eigenen Kategorien formt und rekonfiguriert. Es differenzieren sich hier selbstgenügsame Sinnuniversen aus, die nur in sachlicher Hinsicht beschränkt sind und folglich das Weltganze unter ihren je spezifischen Wert- und Sinnpostulaten beleuchten. Es ist exakt dieser Aspekt, den auch Luhmann (1997, 709) im Blick hat, wenn er von der Kombination von »Universalismus und Spezifikation« der Funktionssysteme spricht. Das Bildliche kommt auch diesem totalisierenden bzw. universalisierenden Moment in der Ausdifferenzierung spezifischen Sinns auf ganz besondere Weise entgegen. Es ist vor allem die Synoptizität der bildlichen Darstellung, die es dieser erlaubt, eigenlogische Sinnzusammenhänge bzw. spezifische >Weltformungen< in ihrer Totalität zu repräsentieren. Stäheli (2007) hat unter dem Stichwort der Totalisierung vor allem auf die Selbstrepräsentation von Funktionssystemen nach außen Bezug genommen. Nicht minder wichtig ist indes die Repräsentationsfunktion nach >innenWelt< veranschaulicht, deren Komplexität zeitlich entfaltet, i.e. selektiv abgeschritten werden muss. Der Darstellung kommt hier eine Horizontstruktur zu, die mögliche Anschlussoperationen vorzeichnet und sich im Zuge weiterer Operationen stetig verschieben würde, ohne je vollständig einholbar zu sein. Folglich lassen sich solche visuellen Darstellungen in der Regel nicht auf überdauernde Selbstbeschreibungen reduzieren; vielmehr handelt es sich um zeitindizierte Beobachtungen, die auf spezifische Weise Selbst- und Fremdreferenzen kombinieren, indem sie >Welt< unter je sinnspezifischen Sachgesichtspunkten (fremdreferenziell) rekonstruieren und damit zugleich selbstreferenziell auf einen spezifischen Operationszusammenhang zurückverweisen. Visuelle Synopsen generieren so verdichtete Modelle besonderer >WeltenWelt< offenlegt. Der geographische >Weltstoff< wird hier hinsichtlich der ihn durchziehenden Machtrelationen und Einflussgrenzen zu einer neuen Ganzheit gestaltet. Politische Weltkarten aus den 1980er Jahren etwa veranschaulichen in ihrer Synopsis die globale Konfrontation zwischen den sozialistischen und nicht sozialistischen Blöcken auf eine Weise, die auf einen Blick machtbezogene Gleichgewichte oder Ungleichgewichte suggeriert, strategisch bedeutsame Einflussgebiete oder bedrohliche Nähen verdeutlicht (USA und Kuba) und so entsprechende Anschlüsse nahelegt (vgl. hierzu Münkler 2011). Der Blick gilt hier somit einerseits der politisch-territorialen Welt (Fremdreferenz) und verweist dabei andererseits auf potenziell mögliche und gebotene politische Maßnahmen und Machtkommunikationen (Selbstreferenz).16 Auch in den empirischen Wissenschaften lassen sich bestimmte wissenschaftliche Sinnwelten synoptisch repräsentieren und damit weitere Forschungsbewegungen überhaupt erst motivieren. Zu denken ist hier an die Visualisierungsform der Tabelle, wie sie etwa in der Darstellung des Periodensystems zum Zuge kommt. Hier wird der gesamte naturwissenschaftlich relevante >Weltstoff< (im buchstäblichen Sinne) in der systematischen Zusammenschau aller bekannten Elemente erschöpfend geordnet, wobei zugleich mit Blick auf offene Felder deutlich wird, welche spezifischen Elemente noch möglich sind bzw. mit welchen Entdeckungen noch zu rechnen ist. Die Tabelle verweist dabei selbstreferenziell auf einen spezifischen Forschungszusammenhang der chemischen Wissenschaften und fremdreferenziell auf eine spezifische Konstruktion von Welt unter dem Gesichtspunkt ihrer chemischen Zusammensetzung. In der Wirtschaft etwa verdichten Graphen Gesamtzustände der (Welt-)Ökonomie, an denen sich weiteres wirtschaftliches >Handeln< orientieren kann. 17 Marktsegmentanalysen lösen gesamte Populationen in Konsumentengruppen mit je unterschiedlichen Präferenzstrukturen auf, deren Proportionen in entsprechenden Pie-Charts deutlich werden und bestimmte Stilisierungen firmeneigener Produkte nahelegen. Stets gilt hier, dass über die synoptisch-synthetisierenden Kapazitäten der Bildlichkeit ein eigenlogischer Weltzusammenhang >totalisierend< zur Darstellung gebracht und so eine operative >Abarbeitung< der damit erfassten Komplexität stimuliert wird.
16 Vgl. dazu auch Gugerli/Speich (2002, 75) in ihrer Untersuchung zur Kartographie der Schweiz: »Sie [i. e. Landkarten, M. P.] eröffnen einen Möglichkeitsraum, indem sie ihren Leserinnen und Lesern ein Handlungspotenzial offerieren, das zur Veränderung der Realität einlädt.« (Hervorh. i. O.) 17 Vgl. zu solchen visuellen Totalisierungen der Ökonomie auch die Überlegungen von KnorrCetina (2003; 2009) und Knorr-Cetina/Brügger (2002) zum bildschirmbasierten Handel in der Finanzwirtschaft.
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3.3
Martin Petzke
Programmatik und Rhetorizität
Die soeben aufgeführten Beispiele haben bereits deutlich gemacht, dass die visuellen Repräsentationen besonderer Sinnwelten unmittelbar mit den spezifischen Anschlusslogiken dieser Sphären verwoben sind. Sie verhalten sich gegenüber den jeweiligen Systemimperativen nicht neutral, vielmehr schreiben sich diese über eine visuelle Rhetorizität direkt in das Bild ein und legen somit bestimmte Anschlussoperationen nahe, während andere eher abgeblendet werden. Die systemspezifischen >Kontingenzformeln< wie wissenschaftliche Limitationalität, wirtschaftliche Knappheit etc. verschaffen sich, so ließe sich mit Luhmann befinden, im Bild selbst einen Ausdruck. Es werden Anschluss-Selektionen bildlich vorstrukturiert und damit die Reproduktion, die >Autopoiesisherauslesen< lassen.19 Im wirtschaftlichen Zusammenhang vermag etwa die dramatische Auf- und Abwärts-Topographie des Graphen entsprechende >HandelsObjektivität< und >Faktizität< nicht erst über spezifische Formgebungen in das Bild ein, sondern werden schon über das Bildliche selbst suggeriert. 21 Die obigen Bemerkungen zur Nichthypothetizität und Nichtkonjunktivität von Bildern haben deutlich gemacht, dass das visuell Dargestellte bereits als objektiv seiend daherkommt: »Bilder argumentieren weder konjunktivisch noch Konditional [...], sie setzen zeigend ein Faktum« (Heßler/Mersch 2009a, 23, Hervorh. i. O.). Bilder, bildgebende Verfahren etc. bergen folglich besondere Potenziale, wissenschaftlich zu überzeugen und >Fakten< zur Grundlage weiteren wissenschaftlichen Erlebens und Handelns zu erheben. Dies liegt nicht zuletzt deshalb nahe, weil sich die empirischen Wissenschaften gerade über die Referenz auf intersubjektiv geteilte Wahrnehmung als Garantie wissenschaftlicher Wahrheit begründet haben (vgl. Shapin 1996). Aufgrund ihrer Objektivitätssuggestion kann Bildern in den Wissenschaften dann gar ein problematischer Status zukommen: Der selektive Entstehungsprozess und zum Teil hypothetische Charakter der Darstellungen wird hier leicht >übersehen< (vgl. Heintz/Huber 2001, 24 ff.).22 Visualisierungen haben damit besondere rhetorische Möglichkeiten, bestimmte Handlungssuggestionen zu vermitteln, die mit einem spezifischen Systemimperativ im Einklang stehen. Gerade im Zusammenspiel mit den spezifischen Potenzialen der Monofokalität und Synoptizität der Bildlichkeit realisiert sich dabei ein bildeigener Sinnüberschuss. Hier wird dann dem Bild nicht einfach wieder entnommen, was schon vorher sinnhaft präsent war und lediglich ins Bildhafte übertragen wurde. Vielmehr entfaltet hier der Eigensinn des Bildes eine differenzierungstheoretisch bedeutsame Wirkung, indem systemrelevante Bezüge, Verbindungen, Zusammenhänge, Handlungsoptionen etc. homogenisiert und überschaubar werden und so eine sinnspezifische Systemdynamik angeschoben und katalysiert wird. Exakt diesen Verbindungen von Visualisierung und Differenzierung gilt es nun im Weiteren am Beispiel der Religion nachzugehen. Dass dabei ausschließlich Karten das Material der Analyse bilden, soll dem Allgemeinheitsanspruch der hier veranschlagten bildtheoretischen Argumente keinen Abbruch tun.
20 Vgl. zu solchen >performativen Wirkungen von wirtschaftlichen >Repräsentationsmedien< auch Kalthoff 2009, 281 f. und Rottenburg/Kalthoff/Wagener 2000. 21 Vgl. zur Wissenschaftsgeschichte von Objektivitätspostulaten im Zusammenhang mit Bildern Daston/Galison 1992. 22 Vgl. hierzu aber Joyce 2008,24ff., die gerade die kulturellen Voraussetzungen, wissenschaftsinternen Kontroversen und kontingenten Aushandlungen in der Durchsetzung des bildgebenden Verfahrens MRI beleuchtet.
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4. Zur Ausdifferenzierung einer interreligiösen Sinnsphäre Im Folgenden soll es um das Verhältnis von Visualisierungsformen und der Entstehung einer spezifischen interreligiösen Sinnstruktur gehen. Von Interesse sind hier insbesondere Beobachtungen, in denen ein >SelbstReligion< als ein globaler Sinnzusammenhang vielfältiger Religionen zutage tritt. Dabei sollen allein religiöse Sinnkonstruktionen von Seiten des Christentums Gegenstand sein.23 Hier interessieren zunächst Kompendien, die sich ab dem 17. Jahrhundert einer vergleichenden Bestandsaufnahme aller Religionen der Welt annehmen und dies zum Teil mit entsprechenden kartographischen Unterfangen verbinden (4.1). Diese qualitativ vergleichende Perspektive gewinnt im Zuge der protestantischen Mission des 19. Jahrhunderts einen zusätzlichen quantitativen Akzent. Im Zusammenhang mit dem Missionsinteresse vermählen sich die religionsinventarisierenden Beobachtungen mit einem populationsstatistischen Diskurs und verzeichnen nun unter missionsstrategischen Gesichtspunkten religiöse Zugehörigkeiten. Hier entsteht im Rahmen von Registrations- und Bilanzierungsleistungen insbesondere der protestantischen Mission eine Aufmerksamkeitssphäre, die sich auf den Akt der Bekehrung und damit auf die sich kontinuierlich wandelnden Anhängerzahlen der Religionen kapriziert. Diese neue, quantitative Logik der Beobachtung schlägt sich wiederum in entsprechenden Visualisierungsformen und Kartographien nieder, die die Mission entsprechend zu orientieren und dirigieren vermögen (4.2). An solche Beobachtungsformen knüpft heute insbesondere die Mission des evangelikalen Christentums an, die ihrem Missionsverständnis immer noch eine dezidierte Bekehrungsperspektive und einen Heilsexklusivismus zugrunde legt. Wie zu zeigen ist, wird dabei auch von den neuen Möglichkeiten, die der Computer und das Internet für entsprechende Visualisierungen liefern, Gebrauch gemacht (4.3). 4.1
Die Religionen der Welt: Globale Beobachtungen von Seiten des Christentums im 17.-18. Jahrhundert
Im 17. Jahrhundert verfestigen sich in Europa Beobachtungsperspektiven, deren Blick einer weltreligiösen Vielfalt gilt. Dies findet seinen Ausdruck im Aufkommen eines ebenso bemerkenswerten wie neuartigen >Genres< von Religionskompendien, die mit dem Anspruch auftreten, erschöpfende Bestands23 Einer analytischen Definition von Religion will ich mich dabei enthalten. Hier soll es allein darum gehen, wie bestimmte Vertreter und Strömungen im Christentum einen globalen interreligiösen Zusammenhang unter bestimmten Sinngesichtspunkten beobachten und Handlungen darauf ausrichten. Auch die Validität oder Übereinstimmung solcher Beobachtungen mit den Selbstauslegungen der dabei beobachteten >Religionen< sollen hier ausgeklammert werden. Vgl. zu letzterem Aspekt des Näheren Petzke 2013, 391 ff. Dort sind die vorliegenden Fallbeispiele ferner unter allgemeinen differenzierungstheoretischen Gesichtspunkten erörtert.
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aufnahmen aller Religion der Welt zu liefern. Zu den ersten dieser Art zählt die Abhandlung des Engländers und anglikanischen Geistlichen Samuel Purchas (ca. 1577-1626) aus dem Jahre 1613. Sie trägt den Titel Purchas, his Pilgrimage, or Relations of the World and the Religions Observed in All Ages and Places Discovered, from the Creation unto the Present,24 Das damit angezeigte neuartige Interesse an >anderen< Religionen als der christlichen hat ein Verständnis von >Religion< zur Voraussetzung, das mit dem Wort einen generischen Begriff verbindet: Verschiedene >Religionen< lassen sich hier als >Fall< von >Religion< fassen und vergleichen. Die Entwicklung hin zu dieser Semantik ist jedoch keinesfalls geradlinig und kann hier nicht umfassend nachgezeichnet werden. 25 Eine bedeutende semantische Verschiebung im Religionsbegriff verband sich mit den reformatorischen Spaltungen. Entwicklungen innerhalb der protestantischen Theologie Englands führten zunehmend zu einem Verständnis von Religion als einem klar umgrenzten >Set< von Glaubensannahmen (vgl. Harrison 1990, 19 ff.). Diese semantische Wendung drückt sich in dem Aufkommen zahlreicher Bücher auf, die sich explizit und ihrem Titel nach den >propositionalen Annahmen< dessen zuwenden, was sie als die wahre Lehre des Christentums ansehen. Dies schafft nun zugleich die Voraussetzungen, andere Religionen (im Plural!) als objektive oder objektivierbare Bestände, sei
24 Als die übrigen Bestandsaufnahmen dieser Art nenne ich hier nur die ein Jahr später erscheinende Untersuchung des englischen Gelehrten Edward Brerewoods (ca. 1565-1613) mit dem Titel Enquiries Touching the Diversity of Languages and Religions Through the Chiefe Parts of the World; die Schrift Pansebeia: A View of all Religions of the World with the several Church-Governments from the Creation, to these times. Together with a Discovery of All known Heresies, in all Ages and Places, throughout Asia, America, Africa and Europe des anglikanischen Geistlichen Alexander Ross (ca. 1591-1654) aus dem Jahre 1652; das Traktat William Turners (1653-1701), ebenfalls Geistlicher der anglikanischen Kirche, mit dem Titel: The History of all Religions in the World: From the Creation down to this Present Time aus dem Jahre 1695; das Historical Dictionary of All Religions from the Creation of the World to this Present Time (1737-39) des anglikanischen Geistlichen Thomas Broughton (1704-1774); A Dictionary of All Religions des Schriftstellers und Robinson-Crusoe-Autors Daniel Defoe von 1704; von französischer Seite etwa das mehrbändige Werk Cérémonies et coutumes religieuses de tous les peuples du monde (1723-1743), herausgegeben vom hugenottischen Buchhändler Jean Frédéric Bernard (1680-1744) und illustriert vom zum Protestantismus bekehrten Kupferstecher Bernard Picart (1673-1733), die beide nach Holland umgesiedelt waren (zu Bernard und Picart jetzt Hunt/Jacob/Mijnhardt 2010; 2010a, die deren Werk allerdings ausdrücklich nicht in diese Traditionslinie stellen); zu den Illustrationen Picarts speziell Wyss-Giacosa 2006; von katholischer Seite in Frankreich die Bände L'histoire des religions de tous les royaumes du monde (1710 ff.) des Priors Nicolas Jovet; in Amerika An Alphabetical Compendium of the Various Sects which have Appeared in the World from the Beginning of the Christian Aera to the Present Day aus dem Jahre 1784 von Hannah Adams (1755-1831); deutscherseits etwa das Werk Vollständiger Abriß aller jemals in Welt bekannten und üblichen Religionen, nach ihren Ursprung, Fortgang, Abwechselung, Schicksaalen, Lehrsätzen, Gleichheit und Ungleichheit unter einander des protestantischen Theologieprofessors Johann Christoph Köcher (1699-1772) aus dem Jahre 1753 wie auch das Werk Beschreibung aller Religionen in der Welt des Protestanten Balthasar Hausknecht (erstmals 1768). Einige dieser Titel sind auch zusammengetragen bei Masuzawa (2005, 50 ff. und passim). Vgl. ferner Jordan 1986 [1905] und Pailin 1984 zu diesen frühen Religionsvergleichen. Eine differenzierungstheoretische Interpretation des Materials fehlte bislang; dazu jetzt ausführlicher Petzke 2013, 227 ff. 25 Vgl. hierzu Tenbruck 1993, bes. 49 ff.; Feil 1986; 1992; 2001; 2000; Harrison 1990, 5 ff.
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es von Glaubensartikeln, sei es von damit verbundenen Praktiken, zu denken und miteinander zu vergleichen - so wie es die oben aufgeführten Kompendien tun. Wie Pailin (1984) und Harrison (1990) zeigen, war das Interesse an anderen Religionen als der christlichen dabei durch das Konzept der natürlichen Religion geprägt. Damit verband sich der Gedanke, dass der Mensch allein durch vernünftige Betrachtung der Natur zu wahren religiösen Einsichten, etwa die Existenz und das Wesen Gottes betreffend, gelangen könnte. Im Zusammenhang mit der Strömung des Deismus und des Sozianismus im England des 17. Jahrhunderts wurde das Konzept der natural religion somit zunehmend gegen das Konzept der revealed religion ausgespielt, so wie dies auch von Seiten der Verfechter der Offenbarungsreligion in umgekehrter Richtung geschah. 26 So dienten andere Religionen als Prüfstein für den Gedanken der natürlichen Religion - entweder als Beleg, wenn argumentiert wurde, dass religiöse Kernannahmen sich auch in den Religionen anderer Völker aufwiesen ließen, oder als Widerlegung, wenn die Perversion und Entartung solcher Religionen aufgeführt wurden (vgl. Pailin 1984, 23 ff.). Eine weitere Rolle spielte der durch die reformatorische Spaltung des Christentums entstandene Antagonismus selbst, der eine entsprechende Polemik zwischen den Konfessionen auf Dauer stellte. Vergleiche mit >heidnischen< Religionen waren ein willkommenes Mittel, um den innerchristlichen Antipoden zu diskreditieren, etwa in der Verhöhnung des Katholizismus als >PaganopapismusReligionen< gestellt wurde, unter denen dann allenfalls noch graduelle Qualitätsunterschiede plausibel vertreten werden konnten (vgl. Harrison 1990, 9). Hier sollen nun eher die differenzierungstheoretischen Implikationen der oben genannten Religionsinventarisierungen im Fokus stehen. Es lässt sich bei diesen das Hervortreten einer thematisch >reinenWelt< von Bedeutung. Zum einen wird darauf im Titel dieser Abhandlungen referiert - im Sinne von Welt, in der sich die Religionen befinden. Man hat es hier also durchaus schon mit einem geographisch-räumlichen Weltbegriff zu tun. 28 Zum anderen lassen die Werke deutlich die Konstruktion einer sinn26 Siehe zum Gegensatz von natürlicher Religion und Offenbarungsreligion auch Schröder 1992. 27 In diesem Zusammenhang kristallisiert sich eine allgemeine, >einzelreligionsunspezifische< Selbstbeschreibung von Religion heraus, die der Beobachtung von Religionen ein bestimmtes >Modell< von Religion schlechthin unterlegt. Sehr deutlich etwa im Traktat Turners, in denen die einzelnen >Religionen< hinsichtlich Priesterrollen, Gottesvorstellungen, Gottesdienste, Kleidungsvorschriften etc. verglichen werden. 28 Wie Braun (1992) in der historisch-semantischen Erörterung des Weltbegriffs allerdings darlegt, ist die Semantik von Welt bis in die späte Neuzeit von dem Gegensatz Gott - Welt geprägt. Welt bestimmt sich in diesem Zusammenhang als die von Gott geschaffene Welt in ihrer zeitlichen Endlichkeit, dem die Unvergänglichkeit Gottes gegenübersteht, wie auch
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spezifischen >Welt< erkennen. So wird in den Titeln der Traktate reichlich Gebrauch von Aliquanteren gemacht, und zwar in der sachlichen, zeitlichen und räumlichen Dimension. Welt kommt hier folglich im differenzierungstheoretischen Sinne als Totalitätsperspektive auf interreligiöse Sachverhalte ins Spiel. So zeichnen sich einerseits die Werke fast durchweg durch den Anspruch aus, Religionen in zeitlich-historischer Hinsicht erschöpfend zur Darstellung zu bringen. Nicht nur die gegenwärtige religiöse Landschaft, sondern alles, was jeher, »from the Creation down to the Present Time« (Turner 1695), an Religionen bestanden hat, ist relevant; teilweise, etwa bei Samuel Purchas, sind dabei noch die Historien der einzelnen Religionen selbst im Blick. Daneben wird in räumlich-geographischer Hinsicht ebenfalls Vollständigkeit beansprucht. Nicht nur die hiesigen Religionen sind von Interesse, sondern jene »in All [...] Places Discovered« (Purchas 1613). Schließlich geben sich die Darstellungen auch in der sachlichen Dimension einen erschöpfenden Anstrich. In ihnen soll ausdrücklich die komplette Vielfalt der Religionen Gegenstand der Betrachtung sein; es geht also nicht allein um historisch und geographisch vollständige Bestandsaufnahmen einer Religion, sondern darum, »a View of all Religions« (Ross 1614) zu liefern.29 Was sich hier folglich zeigt, ist eine >WeltWelten< im Plural spricht: als »Formen [...], in denen wir gegebene Inhalte ordnen, - eben als (endliche) Gesamtheit diesseitiger Dinge, die in Verbindung mit dem Demonstrativum >diese< stets auf die jenseitige Transzendenz des Reich Gottes und die Aufhebung des »gegenwärtige[n] Erfahrungszusammenhang[s]« verweisen (446). Entsprechend trägt diese Semantik von Anbeginn die pejorative Konnotation von gefallener, verderblicher Welt bis hin zu einer contemptus mundi mit sich, die im 17. Jahrhundert Braun zufolge zur neuen Blüte kommt. Tatsächlich drängt sich auch in den hier genannten Traktaten eine semantische Paarung von >Welt< als Gesamtheit der Dinge mit den beschriebenen Sündenfallsmotiven auf. Die Vielfalt nicht nur der Religionen schlechthin, sondern auch die Zersplitterung des Christentums selbst wird fast durchgängig als Ausdruck menschlicher Verfallenheit gedeutet (vgl. zu diesem Aspekt Masuzawa 2005, 52 ff.). 29 Bis weit ins 19. Jahrhundert liegt dieser Gesamtschau üblicherweise die Vierertypologie von Judaismus, Christentum, >Mohammedanismus< und Paganismus/Heidentum/Idolatrie zugrunde. Das Christentum erfährt dabei zumeist eine nach Denominationen und Sekten differenzierende Betrachtung; seltener wird auch beim Islam noch nach Strömungen und Sekten unterschieden. Das >Heidentum< steht dabei freilich nicht auf Augenhöhe mit den übrigen Religionen, sondern bildet gewissermaßen eine >Residualkategorie< für diejenigen Erscheinungen, die keiner der drei abrahamitischen Religionen zuzuordnen sind. Aufgrund der geringen Materialbasis wurden unter dieser Rubrik vor allem Darstellungen von Autoren des antiken Griechenlands und Roms herangezogen (vgl. Pailin 1984, 15). Bei den Auseinandersetzungen mit dem Islam und dem Judentum stehen in weitaus größerem Ausmaße Primärmaterialien zur Verfügung. In weiten Teilen wird allerdings auch hier, so scheint es, auf biblische Quellen (beim Judentum), Reiseberichte, geschichtliche Abhandlungen etc. zurückgegriffen. Vgl. für die herangezogenen Quellen für das Judentum und den Islam in religionsvergleichenden Arbeiten aus dem England des 17. und 18. Jahrhunderts auch Pailin 1984, 63 ff., 81 ff. Zur allmählichen Auflösung der Heiden-Klassifikation und der Konstruktion eines Konzerts von Weltreligionen im späten 19. Jahrhundert vgl. Masuzawa (2005). Auf die in diesem Zusammenhang bedeutsame Semantik der >WeltreligionenWeltganzenwiderspruchslos< neben Welten bestehen kann, die nach anderen Kategorien geformt sind, verschafft sich nun auch in visuellen Darstellungen Geltung. Besonders drängt sich dies in den religionsbezogenen Weltkarten auf, die schon früh mit den Kompendien einhergehen. Schon in der bereits erwähnten Schrift von William Turner (1695, 603) findet sich eine, freilich noch sehr karge und undifferenzierte Weltkarte, die die Ausbreitung der Religionen auf dem Globus darstellt, indem sie die einzelnen Kontinente mit den Namen der darin sich befindlichen Religionsformen beschriftet (siehe Abb. 1).
Abbildung 1: Religionskarte aus Turner (1695, 603).
Der zentrale Punkt ist hier, dass nicht die politischen Einteilungen der Kontinente von Interesse sind. Diese bilden eine eigene, aber für die vorliegende Weltperspektive irrelevante Konfiguration des geographischen >Materialsmahomedische< und >heidnische< Religion; wo zwei Religionsformen räumlich koexistieren, werden eigene Farbkombinationen gewählt (etwa für »Lutherisch u. Catholisch«), Hier zeigen sich die bildlichen Potenziale der sinnhomogenen, monofokalen Darstellung wie die der synoptischen Gesamtdarstellung. Es ist eine rein religiöse Sinnwelt, weitgehend bereinigt von politischen Bezügen, die sich dem Betrachter in ihrer Totalität offenlegt. Die Karten kombinieren dabei auf spezifische Weise Selbst- und Fremdreferenzen dieser Sinnperspektive, indem sie selbstreferenziell auf den Bestand der Religionen verweisen und damit den religiösen Bezug der Beobachtung ausflaggen sowie fremdreferenziell die geographische Verortung ebenjener Religionen vornehmen.
Abbildung 2: Religionskarte Afrika von Hase/Böhme
(1737).
Die Weltkarten zeigen zugleich deutlich, dass dort, wo es um Welt im differenzierungstheoretischen Sinne geht, das heißt um totalisierende Perspektiven nach autonomer Maßgabe, unweigerlich auch weltgesellschaftstheoretische Implikationen im Spiel sind. Denn das, was diese Religionswelt (im Difieren-
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zierungssinne) ordnet, ist nicht zuletzt >Welt< in dem, mit Braun (1992, 486) gesprochen, »anthropozentrisch-geschichtlichen« Sinne, der sich gemeinhin mit dem Begriff der Weltgesellschaft verbindet. So kommt im Zusammenhang dieser Karten eine Gesamtmenschheit mit ihren religiösen Glaubensvorstellungen und der Globus als das ihr gemeinsame Habitat ebenso in den Blick wie die gemeinsame Geschichte, in der die Religionen der Menschheit entstehen, perennieren, koexistieren und vergehen. Es bleibt hinsichtlich dieser vollinventarisierenden Religionsvergleiche indessen bei der Ausdifferenzierung bloßer Beobachtungsformen - einer Semantik oder einem >DiskursMohammedanernPopulation< als eine manipulierbare quantitative Größe von signifikanter Bedeutung hervorgetreten (vgl. hierzu auch Hacking 1990, 21 f.). Ausschlaggebend waren hier insbesondere die political arithmetic John Graunts (1620-1674) und William Pettys (16231687) in England sowie deutscherseits die Arbeiten Johann Peter Süßmilchs (1707-1767), die Methoden der doppelten Buchführung auf die Betrachtung der Bevölkerungszahlen anwandten und Möglichkeiten zu deren Steigerung anempfahlen. 31 Zweitens ließ die zunehmende koloniale Welterschließung 30 Vgl. zum Leben Careys Tyrell 2004, 94 ff. und Flachsmeier 1963, 185 ff. 31 Zu Graunt vgl. Kreager 1988 und Jenner 2004, 299. Zur Geschichte der >Statistik< vgl. Stigler 1986, Porter 1986 und Lazarsfeld 1961; mit dem Namen verband sich zunächst eine eher qualitative Erfassung zentraler Eigenschaften des Staates um Hermann Conring (1606-
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den populationsstatistischen Blick im Rahmen eines geographischen Diskurses ins Globale sich weiten. Und drittens schließlich scheinen insbesondere die prä- und postmillenaristischen Eschatologien der Erweckungsbewegungen an der Wende zum 19. Jahrhundert die Verbindung von statistischem und missionarischem Denken nahegelegt haben. Diesen war die Vorstellung gemein, dass mit der Verkündung des Evangeliums an alle Menschen der Erde und deren Bekehrung die Wiederkunft Christi beschleunigt werden würde ein numerisch-statistischer Überblick über das noch zu Leistende lag hier nahe. Entsprechend verbindet sich schon mit dem Traktat Careys eine klare Programmatik der Bekehrung der für Carey ebenso imposanten wie alarmierenden weltweiten Menge an Heiden. Das neu entfachte Missionsinteresse stellt diese statistische Beobachtung der religiösen Welt auf Dauer. Von besonderer Relevanz sind dabei die Berichterstattungen der zahlreichen Missionsgesellschaften amerikanischer, englischer, deutscher, skandinavischer und französischer Herkunft. Diese führten in der Regel akribisch Buch über ihre Konversionserfolge und legten sie in regelmäßigen Abständen nebst ihrem ökonomischen Haushalt in entsprechenden Publikationsorganen offen. 32 Für die überwiegend freiwilligen Assoziationen, die sich außerhalb und teils in Opposition zu den jeweiligen Amtskirchen und unter weitreichender Indienststellung von Laien formierten, hatte dies nicht zuletzt den Zweck der Motivation und Steigerung der Spendenbereitschaft im Kreis der heimatlichen Unterstützer der Mission. Auf der Grundlage dieser leicht erhältlichen Informationen etablierten sich bald publizistische Unternehmungen, die sich allein der Beobachtung des globalen gesamtchristlichen Missionsfortschritts verschrieben. Zu den wichtigsten dieser Organe zählen die Allgemeine Missions-Zeitschrift, die ab 1874 monatlich erschien und von Gustav Warneck u. a. in Verbindung mit Reinhold Grundemann und Franz M. Zahn herausgegeben wurde, sowie das Magazin für die neueste Geschichte der evangelischen Missions- und Bibelgesellschaften (ab 1816), das ab 1857 den Namen Evangelische s Missions-Magazin trug; amerikanischerseits ist hier etwa die Missionary Review (ab 1878; ab 1888: Missionary Review of the World) zu nennen. Hier wurden die regelmäßig erscheinenden Statistiken der einzelnen Missionsgesellschaften in ebenso regelmäßigen Abständen zu einem Gesamtstand der christlichen Mission auf allen Kontinenten verrechnet. Neben globalen Bilanzierungen erschien etwa in der Allgemeinen Missions-Zeitschrift über die monatlichen Ausgaben hinweg eine »Missionsrundschau« (vor 1882: »Missionszeitung« bzw. »Quartalbericht«), die in der Regel immer von Neuem einen Überblickszyklus über alle Kontinente (Afrika, Asien, Amerika, Ozea-
1682) und Gottfried Achenwall (1719-1772), bevor sich unter diesem Etikett schließlich das heutige quantitative Verständnis von Statistik durchsetzte. 32 Für einen ausführlichen Überblick über die wichtigsten Missionsgesellschaften der verschiedenen an der Mission beteiligten Länder samt ihrer Publikationsorgane vgl. Warneck 1913 [1882], 90 ff.
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nien sowie >HeimatPopulationenTüpfchen< der ihnen zugeordneten Farbe ausgewiesen, und auch in diesem Fall wird dort, »wo statistische Angaben nicht gänzlich mangeln, durch die Grösse derselben ein ungefähres Zahlenverhältnis angedeutet« (Abt. I, No. 1). Entsprechend findet sich bei solchen Karten auch eine Legende, die drei unterschiedlich großen Tupfern drei verschiedene Zahlenbereiche für die Anzahl von >Seelen< (nun insgesamt, und nicht auf Quadratmeilen heruntergerechnet) zuweist. 34 Daneben wird in einzelnen Länderkarten ein genaues Bild über die Ausbreitung der Mission geliefert. Hier sind die Missionsgebiete der verschiedenen namentlich ausgewiesenen Missionsgesellschaften, teilweise auch der katholischen Mission, eingezeichnet. Gelegentlich geben die Karten Aufschluss darüber, ob dort bereits selbstständige Gemeinden bestehen. Auch an diesen Kartographien wird die oben erörterte Wahlverwandtschaft zwischen der Ausdifferenzierung besonderer Sinnperspektiven und visueller Darstellungen deutlich. Die Monofokalität tritt hier wiederum in der Farbge3 3 Berücksichtigt werden »Juden«, die christlichen Konfessionen (»römisch-catholisch«, »evangelisch«, »griech.-catholisch« und »Monophysiten«), »Muhamedaner« und »Heiden«, wobei bei Letzteren gegebenenfalls (etwa für Asien) zwischen » S c h a m a n i s m u s resp. Naturreligion«, »Brahmanismus« und »Buddhismus« unterschieden wird. 34 Im S i n n e von G ü n z e l s vorgeschlagenem Kontinuum >BiId< vs. >Diagramm< (s.o. Fn. 15) liegen diese Karten näher a m Pol des >DiagrammsReligionenwelt< konstruiert. Auch dabei kommt >Welt< in zweifacher Hinsicht vor: einerseits über den visuellen Bezugs zu geographischen Weltkarten, andererseits über das Zusammenziehen aller missionsrelevanten Daten in einem oder wenigen Bildern. Im Gegensatz zu den Darstellungen des 17. und 18. Jahrhunderts wird nun allerdings nicht allein ein Beobachtungs-, sondern auch ein Handlingsräum von ebenso sachspezifischer Eingrenzung wie universaler Extension eröffnet. Es schreibt sich anders als zuvor auch noch eine spezifische Programmatik bzw. ein Handlungsimperativ anschaulich in die Rhetorik des Bildes ein.
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