Was heißt Kritikalität?: Zu einem Schlüsselbegriff der Debatte um Kritische Infrastrukturen 9783839442074

What does »criticality« mean? Which traditions and political agendas is it based on? Is it a concept useful for research

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German Pages 232 Year 2018

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Relevante Beziehungen. Vom Nutzen des Kritikalitätskonzepts für Geisteswissenschaftler
„Kritische Infrastrukturen“ als Ergebnisse individueller und kollektiver Kritikalitätszumessungen – ein Ansatz für die Mediävistik?
„Kritische Rohstoffe“
Was ist kritisch an Kritischer Infrastruktur? Kriegswichtigkeit, Lebenswichtigkeit, Systemwichtigkeit und die Infrastrukturen der Kritik
Relevanzbewertungsbefähigung und Ohnmachtserfahrung: Infrastruktur, Wissen und Zeitkritikalität
Schutz Kritischer Infrastrukturen: Kritikalität Als Entscheidungsmaß Zur Abwehr Von Gefahr Am Beispiel Stromausfall
Produktive Spannungen: Psychoanalytisches Resümee
Autorinnen und Autoren
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Was heißt Kritikalität?: Zu einem Schlüsselbegriff der Debatte um Kritische Infrastrukturen
 9783839442074

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Jens Ivo Engels, Alfred Nordmann (Hg.) Was heißt Kritikalität?

Science Studies

Jens Ivo Engels, Alfred Nordmann (Hg.)

Was heißt Kritikalität? Zu einem Schlüsselbegriff der Debatte um Kritische Infrastrukturen

Das Graduiertenkolleg KRITIS an der Technischen Universität Darmstadt und der Druck dieses Buches werden gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG).

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: buero kleinschmidt, Berlin, 2017, © Graduiertenkolleg KRITIS, TU Darmstadt Korrektorat: Tina Enders Satz: Christian Linxweiler, Tina Enders Druck: docupoint GmbH, Magdeburg Print-ISBN 978-3-8376-4207-0 PDF-ISBN 978-3-8394-4207-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Vorwort

Jens Ivo Engels, Alfred Nordmann | 7 Relevante Beziehungen. Vom Nutzen des Kritikalitätskonzepts für Geisteswissenschaftler

Jens Ivo Engels | 17

„Kritische Infrastrukturen“ als Ergebnisse individueller und kollektiver Kritikalitätszumessungen – ein Ansatz für die Mediävistik?

Gerrit Jasper Schenk, Stephanie Eifert | 47 „Kritische Rohstoffe“

Sebastian Haumann | 97

Was ist kritisch an Kritischer Infrastruktur? Kriegswichtigkeit, Lebenswichtigkeit, Systemwichtigkeit und die Infrastrukturen der Kritik

Andreas Folkers | 123

Relevanzbewertungsbefähigung und Ohnmachtserfahrung: Infrastruktur, Wissen und Zeitkritikalität

Alexander Fekete | 155

Schutz Kritischer Infrastrukturen: Kritikalität als Entscheidungsmaß zur Abwehr von Gefahr am Beispiel Stromausfall

Thomas Münzberg, Sadeeb Simon Ottenburger | 179

Produktive Spannungen: Psychoanalytisches Resümee

Alfred Nordmann | 215

Autorinnen und Autoren | 227

Vorwort Jens Ivo Engels, Alfred Nordmann

Kritikalität ist ein vieldeutiges Ding. Oft begegnet sie uns als Adjektiv: Kritische Bürger, kritische Konsumenten, kritischer Journalismus und kritische Wissenschaft erst recht – hier adelt die Eigenschaft ihre Träger als unabhängige Geister, fähig zur Reflexion. In anderen Fällen markiert Kritikalität einen Umschlag, eine Qualitätsänderung. Erst wenn eine „kritische“ Masse erreicht ist, erlangt sie Bedeutung. In der Kernforschung steht Kritikalität für die Ausgangsbedingung der atomaren Kettenreaktion. Besonders häufig begegnet uns der Begriff im Zusammenhang von Technik: Kritische Infrastrukturen sind jene Einrichtungen der Daseinsvorsorge, die zugleich lebenswichtig für unsere Gesellschaft sind und sie daher im Fall einer Störung auch vital gefährden. Dieses unentrinnbare Nebeneinander von Ermöglichung und Gefährdung macht die Kritikalität so spannend. Erstaunlicherweise hat sich die Wissenschaft noch vergleichsweise wenig mit dem Konzept beschäftigt. Tatsächlich ist die Kritikalität zumindest verbal seit ein bis zwei Jahrzehnten ein fester Bestandteil der politischen und fachlichen Diskussion über den Schutz wichtiger Infrastrukturen in westlichen Industriegesellschaften. Zahlreiche nationale und eine europäische „Strategie zum Schutz Kritischer Infrastruktur“ legen davon beredtes Zeugnis ab. Der Schutz kritischer Infrastrukturen ist das tägliche Geschäft einer Vielzahl von Praktikern in Unternehmen, Verwaltungsapparaten auf unterschiedlichen Ebenen, Beratungsinstitutionen, Sicherheitsbehörden, im Rettungswesen und zahlreichen weiteren Organisationen. Dagegen steckt die kritische Reflexion der Kritikalität noch in ihren Kinderschuhen. Im Vergleich zu vielen anderen Konzepten aus der Infra-

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strukturforschung, wie Resilienz, Vulnerabilität, Risiko, gibt es ein erhebliches Literatur- und Theoriedefizit beim Thema Kritikalität.1 Erst in Ansätzen lässt sich eine zusammenhängende Debatte über das Konzept erkennen. In der Infrastrukturforschung, sowohl der anwendungsorientierten wie der eher theoretisch fokussierten, scheint die Kritikalität häufig gar nicht klärungsbedürftig. Mit anderen Worten: eine fundierte Reflexion darüber, was Kritikalität oder kritisch sei, scheint überflüssig, weil scheinbar selbsterklärend. Nicht selten finden sich geradezu zirkelschlussartige Formulierungen wie die folgende: „C[ritical] I[nfrastructure]s are those systems that provide critical support services“.2 Die Erkenntnis, dass kritisch ist, was kritisch ist, hilft wohl kaum weiter. In der Literatur wurde dieses Defizit zwar wiederholt beschrieben, aber noch kaum behoben.3 Gleichwohl stellt sich die Frage: Wenn die Infrastrukturpolitik und -forschung der letzten zwanzig Jahre ohne eine präzise Idee von Kritikalität ausgekommen ist, warum brauchen wir dann eine Theorie der Kritikalität? Es gibt mehrere Antworten auf diese Frage. Zum einen gibt es bei zahlreichen Praktikern oder praxisnah arbeitenden Wissenschaftlern einen hohen Bedarf an präzisen Begriffen von Kritikalität, etwa, wenn Kritikalität als Maß oder als Entscheidungsgrundlage für die Priorisierung bestimmter Versorgungssysteme gegenüber anderen benötigt wird – so etwa im Beitrag von Thomas Münzberg und Sadeeb Simon Ottenburger. Derartige Entscheidungen müssen sich auf Sachgründe stützen, wenn sie als legitim gelten sollen. Dies wiederum verlangt nach einem reflektierten Konzept von Kritikalität. Kritikalität ist außerdem ein Begriff, mit dem auf einer systemischen Ebene das Verhältnis zwischen Infrastrukturen und den sie betrei-

1

Vgl. dazu auch eine weitere Publikation des Graduiertenkollegs KRITIS: Engels, Jens Ivo (Hrsg.): Key Concepts in Critical Infrastructure Research, Wiesbaden 2018.

2

Zitat aus dem Abstract zu Egan, Matthew Jude: Anticipating Future Vulnerability: Defining Characteristics of Increasingly Critical Infrastructure-like Systems; in: Journal of Contingencies and Crisis Management 15 (2007), S. 4–17.

3

Insbesondere bei Bouchon, Sara: The Vulnerability of interdependent Critical Infrastructures Systems: Epistemological and Conceptual State-of-the-Art, Ispra 2006 und Fekete, Alexander: Common Criteria for the Assessment of Critical Infrastructures; in: International Journal of Disaster Risk Science 2 (2011), S. 15–24.

Vorwort | 9

benden Gesellschaften untersucht werden kann – auch hier geht es um einen Vergleich höherer oder niedrigerer Bedeutung (vgl. den Beitrag von Alexander Fekete). Letztlich landen Praxis und praxisnahe Forschung sehr häufig bei der Grundfrage, welchem System oder welcher Infrastruktur angesichts begrenzter Schutz-Ressourcen jeweils ein Vorrang vor anderen einzuräumen ist. Damit können wir, zum zweiten, feststellen, dass das Konzept der Kritikalität ganz offensichtlich eine hohe Wirksamkeit hat. Das muss die Reflexionswissenschaften auf den Plan rufen. Sich mit Kritikalität konzeptionell zu beschäftigen heißt, nach den Gründen für den Erfolg vom Handlungsfeld „Schutz kritischer Infrastrukturen“ zu fahnden. Es bedeutet auch, sich mit den Grundlagen der oben angedeuteten Entscheidungsprozesse zu beschäftigen. Man könnte es auch so formulieren: Kritikalität verleiht Macht – Deutungsmacht und Handlungsmacht. Machtquellen zu untersuchen lohnt sich immer. Dies unternimmt insbesondere der Beitrag von Andreas Folkers, der drei für die jüngere Vergangenheit archetypische Konzepte von Kritikalität herausarbeitet. Sowohl der Beitrag von Folkers, als auch derjenige von Sebastian Haumann machen deutlich, dass Kritikalität abhängig von zeitlichen und gesellschaftlichen Kontexten ist, sich also historisch wandelt. Beide zeigen sie (auf unterschiedliche Art) die Abhängigkeit der Kritikalitätszuschreibung von sich wandelnden Formen des Wissens. Drittens lohnt sich die Beschäftigung mit Kritikalität, weil das Konzept ein enormes analytisches Potenzial auch für die Geisteswissenschaften besitzt. Neben Folkers und Haumann widmen sich vor allem die Aufsätze von Stephanie Eifert und Gerrit Schenk sowie von Jens Ivo Engels dem Wert des Konzepts der Kritikalität für historische Analysen. Sie zeigen unter anderem Wege auf, die Mehrdeutigkeit der Kritikalität wissenschaftlich produktiv zu nutzen. Und sie weisen darauf hin, dass man Kritikalitätsforschung auch auf Gesellschaften anwenden kann, die den Begriff selbst noch nicht kannten. Alfred Nordmann dreht den Spieß gewissermaßen um und fragt danach, wie man das moderne Kritikalitätsdenken aus einer philosophisch-„psychoanalytischen“ Perspektive beschreiben und damit „analysieren“ kann. Der vorliegende Band ist das schriftliche Ergebnis einer kleinen Tagung, die im Juli 2017 in Darmstadt stattfand. Es war die erste derartige Veran-

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staltung des seit Ende 2016 laufenden Graduiertenkollegs „KRITIS. Kritische Infrastrukturen: Konstruktion, Funktionskrisen und Schutz in Städten“. Das Kolleg widmet sich in interdisziplinärer Perspektive den praktischen wie auch den eher konzeptionellen Fragen beim Schutz technischer Infrastruktursysteme. Beteiligt sind Forscherinnen und Forscher aus der Geschichtswissenschaft, den Planungswissenschaften, der Politikwissenschaft, der Philosophie, der Informatik, dem Bauingenieurwesen, der Verkehrstechnik und der Architektur. Der Mehrwert solcher heterogenen Gruppen besteht oft darin, dass die Beteiligten durch die Kolleginnen und Kollegen anderer Disziplinen herausgefordert werden, routiniert angewandte Begriffe zu erklären und dabei neu zu reflektieren. Dieses Ziel verfolgte die Tagung und verfolgt die vorliegende Publikation mit Blick auf „Kritikalität“. Für das Graduiertenkolleg war und ist es essentiell, den Kernbegriff seines Forschungsgegenstands „Kritische Infrastrukturen“ zu reflektieren. Sehr schnell wurde klar, dass es sich nicht darum handeln kann, eine feste Definition für alle Lagen und in alle Zukunft zu fixieren. Stattdessen interessieren uns die produktiven Irritationen, welche sich aus der interdisziplinären Debatte ergeben. Vergleichsweise viel lernen können hinsichtlich der Kritikalität im Augenblick die Geistes- und Sozialwissenschaften. Daher sind einschlägige Ansätze in diesem Band entsprechend stärker präsent. Auffällig ist die große Bedeutung der Geschichte für die Kritikalitätsdiskussion – neben den Historikern unter den Autoren beziehen sich auch der Soziologe Andreas Folkers, der Geograph und Risiko-Forscher Alexander Fekete und der Philosoph Alfred Nordmann auf historische Zusammenhänge.

ZU DEN BEITRÄGEN Jens Ivo Engels widmet sich dem Potenzial des Konzepts der Kritikalität unter zwei Aspekten: als Phänomen der Zuschreibung, mit der sehr häufig Politik gemacht wird (Kritikalität als Ideologie), aber auch als analytisches Konzept für die Untersuchung technischer Systeme. Einen analytischen Mehrwert verspricht das Konzept dann, wenn es normativ geöffnet wird: Kritikalität einer Infrastruktur sollte nicht in erster Linie unter dem Aspekt eines drohenden Ausfalls, sondern in gleichem Maß auch als Ermöglichungsdimension konzipiert werden. Dies erlaubt es, die Einseitigkeiten zu

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vermeiden, welche durch die Tendenz zur Versicherheitlichung des Kritikalitätsdenkens hervorgerufen sind. Im Mittelpunkt des Aufsatzes steht der Vorschlag, Kritikalität als ein Analysetool für relevante Beziehungen zwischen Komponenten und/oder technischen Infrastrukturen und Bevölkerung zu nutzen. Je dichter die kausalen Einwirkungen (positiv wie negativ), umso höher die Kritikalität. Um der Gefahr der Beliebigkeit zu entgehen, sollte die relationale Perspektive Beachtung finden: Es gibt wohl keine Möglichkeit, Kritikalität absolut zu bestimmen, aber es besteht die Option, vergleichsweise höhere oder geringere Kritikalität einer Infrastruktur zu beschreiben. Die Stärke des Konzepts liegt darin, sowohl materielle Vernetzungen als auch kausale Beziehungen einerseits zwischen Komponenten eines Systems, andererseits zwischen technischen Systemen und gesellschaftlichen Aspekten abzubilden. Dabei können die Dimensionen Raum und Zeit besonders plastisch hervorgehoben werden. Es kommt aber immer auf die Referenzgröße an, also für wen oder für was eine Infrastruktur kritisch ist. Einfach gesagt erlaubt es das Kritikalitätskonzept, Infrastrukturen und ihre Bedeutung in Raum und Zeit aufgrund ihrer Kausalbeziehungen zu kontextualisieren. Gerrit Jasper Schenk und Stephanie Eifert beschäftigen sich mit der Frage, inwiefern es sinnvoll ist, mit dem Begriffspaar „kritische Infrastrukturen“ die Epoche der Vormoderne zu untersuchen. In einem ersten Schritt geht es vor dem Hintergrund der bisherigen Forschung darum, was beschreibungssprachlich unter einer Transport- und Verkehrsinfrastruktur im Mittelalter verstanden werden kann – dabei werden drei Merkmale herausgearbeitet (Artefakte, Praktiken und kognitive Aspekte). In einem zweiten Schritt wird vorgeschlagen, kritische Infrastrukturen des Mittelalters über eine Analyse zeitgenössischer Aussagen zu identifizieren. Die Überlieferungschance für einen mit Infrastrukturen verbundenen Diskurs erscheint gerade in dem Fall am größten, in dem eine Gesellschaft bestimmten Infrastrukturen „Kritikalität“ zuschreibt, also eine (u.U. auch nur gruppenbezogene) Relevanz im Krisenfall. Im Unterschied zum vorangegangen Aufsatz verknüpfen die Autoren also Kritikalität eng mit der Situation der Krise, gehen aber ebenso wie jener davon aus, dass mithilfe dieses Konzepts unterschiedliche Wertigkeiten oder Hierarchien von Infrastruktursystemen im Auge der historischen Betrachter deutlich werden. Dieser als „Kritikalitätszumessung“ bezeichnete Vorgang wird anhand eines Fallbeispiels aus dem

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Köln des 15. Jahrhunderts vorgestellt. Das Konzept der Kritikalitätszumessung erlaubt es, Diskurse über die „Kritikalität“ von Infrastrukturen, den Vorgang der Krisendiagnose selbst und Anschlusshandlungen (wie Maßnahmen zur Krisenbewältigung) zu erfassen und für eine Geschichte vormoderner Infrastrukturen nutzbar zu machen. Damit gerät auch die mit dem Funktionieren von Infrastruktur verbundene Problematik von Vulnerabilität versus Resilienz der betroffenen Gesellschaften in den Blick. Sebastian Haumann greift in seinem Beitrag eine aktuelle Diskussion auf, und erweitert den Horizont der Kritikalitätsforschung auf Gegenstände jenseits der Infrastruktur. Als „kritisch“ sind in den vergangenen zehn Jahren nämlich zunehmend auch Rohstoffe bezeichnet worden. Dabei geht es um Stoffe, die einerseits für die Herstellung von Zukunftstechnologien benötigt werden und damit für die wirtschaftliche Entwicklung essentiell erscheinen, für die andererseits aber ein erhöhtes Versorgungsrisiko droht. So wie das Konzept der „kritischen Infrastrukturen“ zielt auch das Konzept der „kritischen Rohstoffe“ auf das Spannungsfeld von Ermöglichung einerseits und erhöhter Vulnerabilität andererseits. In diesem Beitrag wird untersucht, wie sich das Konzept der „Kritikalität“ von Rohstoffen ebenfalls um eine historische Dimension erweitern lässt und welche weiterführenden Erkenntnisse daraus gezogen werden können. Erstens wird gezeigt, dass der Diskurs über Rohstoffverknappung in der Vergangenheit immer wieder zur Anpassung der Rohstoffnutzung geführt hat. Zweitens wird dargelegt, dass geostrategische Risiken der Rohstoffversorgung in Wechselwirkung mit der zeitgenössischen Konstruktion von Wissen standen. Drittens werden „kritische Rohstoffe“ in ihrer Funktion als Teil der dynamischen Entwicklung von Produktionssystemen analysiert. Die geschichtswissenschaftliche Perspektive lässt erkennen, wie „Kritikalität“, die oft ahistorisch gedacht wird, abhängig vom jeweiligen zeitspezifischen Kontext ist und historischem Wandel unterliegt. Der Beitrag von Andreas Folkers greift die Perspektive der gesellschaftlichen Konstruktion von Kritikalität wieder auf. Er stellt die grundlegende Frage, was „kritisch“ an Kritischer Infrastruktur ist. Dafür analysiert er unterschiedliche Projekte zur Sicherung der Infrastruktur, und zwar: Daseinsvorsorge, Schutz Kritischer Infrastruktur, Business Continuity Management. Auf dieser Grundlage erarbeitet der Autor drei Typen von Kritikali-

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tät: Kriegswichtigkeit, Lebenswichtigkeit und Systemwichtigkeit. Infrastruktur kann demnach als kritisch für die erfolgreiche Kriegsführung, das Leben der Bevölkerung und für ein Netz von interdependenten soziotechnischen Funktionssystemen (mithin für andere Infrastrukturen) betrachtet werden. Wie in den vorangegangenen Beiträgen auch, ist Kritikalität hier eine Chiffre für eine ausgeprägte, gesellschaftlich verabredete Relevanzzuschreibung, wobei der Sicherheits- bzw. Vulnerabilitätsaspekt offenbar dominierte. Der Text zeigt, dass jedes dieser Kritikalitätsverständnisse zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt entstanden ist und für einen gewissen Zeitraum relativ dominant war. Während der beiden Weltkriege stand die Kriegswichtigkeit im Zentrum, nach Ende des Zweiten Weltkriegs dominierte die Lebenswichtigkeit und seit der Jahrtausendwende steht die Systemwichtigkeit von Infrastrukturen im Vordergrund politischer Bemühungen zum Infrastrukturschutz. Der Text untersucht aber auch eine andere Dimension des Kritischen, nämlich Praktiken der Kritik an vorherrschenden Verständnissen der Kritikalität. Damit zeigt der Text, wie Kritische Infrastrukturen zu Infrastrukturen der Kritik werden können. Alexander Fekete schlägt in seinem Beitrag eine Brücke zwischen der theoretischen und der Anwender-Perspektive. Sein essayistisch gehaltener Aufsatz ist ein Plädoyer für interdisziplinäre Reflexionen über die Bedeutung kritischer Infrastrukturen. Mit einem Blickwinkel aus der Sicherheits- und Risikoforschung werden verschiedene terminologische und konzeptionelle Aspekte beleuchtet, und zwar unter Einbeziehung von Beispielen aus Gegenwart und Vergangenheit. Besonderes Gewicht wird der Frage gegeben, welche Lernimpulse aus der Beschäftigung mit Krisen erwachsen können. Auch Fekete verweist auf Kritikalität als ein Ergebnis von Nutzungen und Praktiken einerseits sowie Bedeutungszuweisungen andererseits. Im Einklang mit anderen Beiträgen in diesem Band unterstreicht er, dass Kritikalität als Konzept eine Perspektive bietet, die Relevanz einer Infrastruktur für die Gesellschaft zu untersuchen. Krisen können dabei nicht nur als Katharsis für Lernprozesse verstanden werden, sondern auch als Beschäftigungsgegenstand, der eine Relevanzbewertung erst ermöglicht. Zugleich sind diese Bewertungen abhängig von Ereignissen und anderen zeitbedingten Kontexten. Der Beitrag widmet sich außerdem dem Aspekt „Zeitkritikalität“ untersucht, als eine für Forscher und Anwender relevanten Komponente, die vergleichende Untersuchungen der Relevanz von Infrastrukturen er-

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laubt. Zeit ist neben Raum und zugeordneter Qualität vermutlich eine Kerngröße zur Bestimmung der Kritikalität in Bezug auf Infrastrukturen. Dies gilt u.a. mit Blick auf die Kontraktion von Zeit in der Notfallsituation, wo zahlreiche Vorgänge eigentlich zeitgleich ‚abgearbeitet‘ werden müssten. Zeit als immaterieller Faktor erlaubt es, die Kritikalität technischer wie auch sozialer Infrastrukturen miteinander zu vergleichen, und zwar unter Umständen auch über geographische und epochale Grenzen hinweg. Thomas Münzberg und Sadeeb Simon Ottenburger stellen die Frage, wie das Konzept der Kritikalität als Entscheidungsmaß zur Problemlösung bei der Abwehr von Gefahren eingesetzt werden kann. Insbesondere der fortschreitende Ausbau kommunikations- und informationstechnologischer Strukturen stellt die Behörden und Organisationen der Gefahrenabwehr vor neue Herausforderungen. Die sich mehr und mehr dezentralisierende Stromversorgung führt das Vorhandenseins neuer potentieller Störszenarien, z.B. verursacht durch Cyberattacken, plastisch vor Augen. Die Autoren plädieren dafür, den bestehenden Kritikalitätsdiskurs zu erweitern. Hier finden nämlich bislang die normativen Vorgaben für Entscheidungsträger in der Gefahrenabwehr kaum Berücksichtigung. Dabei sind die Anforderungen an die Entscheidungsfindung – wer, wie, was und wann zur Abwehr von Gefahren zu entscheiden hat – im bestehenden Gefahrenabwehr- und Katastrophenschutzrecht geregelt. Die Autoren schlagen in ihrem Beitrag vor, Kritikalität als Entscheidungsmaß bei der Abwehr von Gefahren in die genannten normativen Grundlagen einzubetten. Dies ermöglicht zum einen den Brückenschlag zwischen der ingenieurwissenschaftlichen Risikoforschung und der täglichen Arbeit der Praktiker. Zum anderen kann auf diese Weise die sektorenübergreifende Gefahrenabwehr verbessert werden, und die Grenzen zwischen Ausfallvermeidung einerseits und Ausfallbewältigung andererseits überwunden werden. Kritikalität als ein risikovergleichendes Maß kann bei der Entscheidungsfindung zu Fragen des kontinuierlichen Betriebs lebenswichtiger Dienstleistungen einen entscheidenden Beitrag leisten. In zukünftigen Stromversorgungssystemen inhärent verankerte Strategien zur Operationalisierung von Kritikalitätskonzepten können Bausteine urbaner Resilienz werden. Mit dem abschließenden Beitrag legt Alfred Nordmann eine besondere Art der Zusammenschau vor. Angesichts zahlreicher Beiträge, die sich dem

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Begriff der Kritikalität, seiner Bedeutung und seinem Nutzen widmen, stellt sich im letzten Teil des Buchs nicht noch einmal die Frage nach einer brauchbaren Definition. Die Geschichte der Zuschreibungen von „Kritikalität“ nimmt eine normative Wendung: Wie kann die Zuschreibung auf angemessene Weise handlungsorientierend wirken?

Relevante Beziehungen. Vom Nutzen des Kritikalitätskonzepts für Geisteswissenschaftler Jens Ivo Engels

Das Konzept der Kritikalität ist in zweierlei Hinsicht für Geisteswissenschaftler interessant: als Phänomen der Zuschreibung, mit der sehr häufig Politik gemacht wird, aber auch als analytisches Konzept für die Untersuchung technischer Systeme. Auf den folgenden Seiten möchte ich beide Aspekte beleuchten, wobei der erste hinter dem zweiten zurückstehen soll. Gleichwohl sollen einige Überlegungen zur Kritikalität als gesellschaftlicher Zuschreibung am Beginn stehen.

KRITIKALITÄT ALS IDEOLOGIE Kritikalität als Ideologie – hinter dieser etwas provokativen Formulierung verbirgt sich die Feststellung, dass Kritikalität stets das Ergebnis einer Zuschreibung ist. Die Eigenschaft der Kritikalität ist einem System, einer technischen Infrastruktur oder auch nur einer technischen Komponente nicht objektiv gegeben, sondern stets von bestimmten Akteuren mit bestimmten Interessen oder Zielen zugewiesen worden. Es kann sich dabei um das Interesse des Ingenieurs handeln, die Bedeutung einer technischen Komponente zu erfassen, zu bemessen oder zu betonen. Es kann sich aber auch um den Versuch einer Regierung handeln, den Schutz „kritischer“ Infrastrukturen als Politikziel zu formulieren, in der Öffentlichkeit zu positio-

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nieren oder zu begründen. In allen Fällen, vom Ingenieur bis zum Politiker, gibt es in der Regel alternative Zuschreibungsmöglichkeiten. Die von Regierungen verkündeten nationalen Strategien zum Schutz kritischer Infrastruktur beruhen darauf, mit der Kritikalität eines technischen Systems für dessen vorrangigen, meist aufwändigen und nicht selten teuren Schutz zu werben, bzw. Grundlagen für entsprechende gesetzliche Regeln zu fixieren. Für Geistes- und Sozialwissenschaftler ist es interessant, die dahinterliegenden Politik- und Gesellschaftskonzepte zu analysieren. So spricht alles dafür, dass die genannten Strategien Teil einer Tendenz aktueller Gesellschaften sind, eine wachsende Zahl von Politikbereichen unter dem Konzept der ‚Sicherheit‘ zu diskutieren. Die sogenannte „Versicherheitlichung“ oder „securitization“ von immer größeren Bereichen des Lebens ermöglicht es offenbar bestimmten Akteuren, ihre Handlungsspielräume zu erweitern. Es gibt dazu mittlerweile eine ausgedehnte Forschung.1 Andreas Folkers weist in seinem Beitrag daneben auf drei grundlegende Konzepte hin, die gesellschaftlich wandelbar sind und Kritikalitätszuschreibungen begründe(te)n: Kriegswichtigkeit, Lebenswichtigkeit, Systemwichtigkeit. Je mehr Infrastrukturen als ‚kritisch‘ für die Daseinsfürsorge eingeordnet werden, umso ausgedehntere Maßnahmen zu ihrer Sicherheit kann der Staat beispielsweise von Infrastrukturbetreibern verlangen. Die Bundesregierung beschloss im Sommer 2017 eine Einschränkung bei der Verfügbarkeit über das Privateigentum: Der Verkauf von Unternehmen ins nicht EUAusland kann künftig untersagt werden, wenn diese zum Bereich Kritischer Infrastrukturen zählen.2 Das ökonomische Gewinninteresse der Privatun-

1

Vgl. beispielsweise Graham, Stephen: Cities under Siege. The New Military Urbanism, New York 2011; Aradau, Claudia: Security That Matters: Critical Infrastructure and Objects of Protection; in: Security Dialogue 41 (2010), S. 491–514 oder Dunn, Myriam A./Kristensen, Kristian S. (Hrsg.): Securing the ‚Homeland‘. Critical Infrastructure, Risk and (In)Security, London 2008. Als ‚Klassiker‘ für den gesamten Bereich der Versicherheitlichung gilt etwa Buzan, Barry/Waever, Ole/Wilde, Jaap de: Security. A New Framework for Analysis, Boulder 1998; vgl. auch Daase, Christopher et al. (Hrsg.): Sicherheitskultur. Soziale und politische Praktiken der Gefahrenabwehr, Frankfurt am Main 2012.

2

Gnirke, Kristina: Bundesregierung will Vetorecht bei Übernahmen, Spiegel Online, 12.07.2017. Online verfügbar unter: http://www.spiegel.de/wirtschaft/unter

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ternehmen wird angesichts des Sicherheitsinteresses der Öffentlichkeit neu bewertet. Beim strategisch-politischen Gebrauch des Kritikalitätsbegriffs springt im Übrigen ein erstes Problem des Konzepts „Kritische Infrastruktur“ ins Auge. Gerade in politiknahen Texten und Verlautbarungen könnte man das Adjektiv getrost streichen, scheinbar ohne einen Verlust an Präzision und Aussagekraft. Denn es stellt sich ja die Frage: sind unkritische Infrastrukturen überhaupt denkbar? Dies wird man in der Regel schon deshalb verneinen, weil zur geläufigen Definition von Infrastruktur ihre Basisfunktion gehört, d.h. sie gilt als Voraussetzung für das Funktionieren einer gegebenen Gesellschaft, Wirtschaft etc.3 Häufig handelt es sich um eine regelrecht tautologische Begriffsverwendung ähnlich des viel zitierten „kleinen Zwergs“. Freilich wäre es voreilig, damit die Akte der Kritikalitätsforschung zu schließen. Denn aus der Perspektive eines kultur- und sozialwissenschaftlich orientierten Forschers ist die Verwendung dieser Tautologie ein aussagekräftiges Phänomen. Offenbar entfaltet sie einen rhetorischen Effekt bei den Adressaten, vielleicht, weil der Autor damit die Dringlichkeit seines (Sicherheits-)Anliegens unterstreichen kann, vielleicht auch ganz schlicht deshalb, weil sich eine Diskursgemeinschaft, eine internationale Debatte, unter diesem ‚Label‘ entwickelt hat, an der man sich beteiligen will. Offenbar wird in der Debatte über Kritische Infrastrukturen rhetorisch mit dem dicken Pinsel aufgetragen – es geht häufig um nicht weniger als das Überleben der Gesellschaften, so wie sie sind oder sich zumindest sehen. Dieser dicke Pinselstrich hat in den letzten Jahrzehnten zu einem Effekt geführt, der in der Literatur immer öfter hervorgehoben wird: Die Sichtbarmachung von technischen Infrastrukturen. Die Diskussion über Sicherheit und Kritikalität vieler Infrastrukturen hat dazu beigetragen, Infrastrukturen und ihre Leistungen für das Alltagsleben technisierter westlicher Gesellschaften beständig in Erinnerung zu rufen. Klassischerweise gelten Infrastrukturen dagegen als verborgen und ‚unsichtbar‘, nicht nur, weil viele von ihnen unterirdisch verlegt sind, sondern weil sie in der Regel unter-

nehmen/auslaendische-investoren-regierung-will-vetorecht-bei-uebernahmen-a1157292.html [Stand 22.08.2017]. 3

Laak, Dirk van: Technological Infrastructure, Concepts and Consequences; in: ICON. Journal of the International Committee for the History of Technology 10 (2004), S. 53–64, hier S. 56.

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brechungslos funktionieren. Über ihr Dasein machen sich die Bewohner dieser Gesellschaften, ihre Nutzer also, weder Sorgen noch Gedanken: „Infrastructure is the invisible background, the substrate or support, the technocultural/natural environment, of modernity.“4 Dies führe zu einer Entlastung im Alltag, ja konstituiere den modernen Alltag, zugleich führe das aber eben auch zu Blindheit vor Risiken. Erst im Augenblick des Funktionsausfalls werde die Infrastruktur wieder ‚erfahren‘. Auch wenn man diese Beschreibung durchaus nicht teilen muss,5 so besteht kaum ein Zweifel, dass die Kritikalitätsdebatte es in gelegentlich durchaus pädagogischer Absicht zum Ziel hat, das Bewusstsein von Bevölkerung und Infrastrukturbetreibern für Ausfallrisiken dauerhaft zu heben – dauerhaft heißt insbesondere: Bevor es zum Funktionsausfall kommt.6 Ein Teil der jüngeren Literatur verweist zudem auf die Machtwirkungen der Kritikalitätsdebatte. Die Aussage über Kritikalität enthält meist eine Gewichtung. Bestimmte technische Komponenten, bestimmte Räume, bestimmte Funktionen werden als kritischer oder weniger kritisch bewertet. Viele Komponenten werden schlicht von der Debatte nicht erfasst. Die Folge ist eine machtpolitische und soziale Ungleichheit, nicht selten eine Segregation: Bestimmten Räumen und Nutzergruppen, insbesondere in der globalen Peripherie, wird weniger Kritikalität zugesprochen als anderen. Wenn man davon ausgeht, dass technische Infrastrukturen dem Ideal der Gleichheit bzw. gleichmäßigen Versorgung verpflichtet sind (was keinesfalls ausgemacht ist)7; dann liegt hier ein struktureller Widerspruch vor, der

4

Edwards, Paul N.: Modernity and Infrastructures. Force, Time, and Social Organization in the History of Sociotechnical Systems; in: Misa, Thomas J./Brey, Philip/Feenberg, Andrew (Hrsg.): Modernity and Technology, Cambridge 2003, S. 185–225, hier S. 191.

5

Skepsis etwa bei Engels, Jens Ivo/Schenk, Gerrit J.: Infrastrukturen der Macht – Macht der Infrastrukturen. Überlegungen zu einem Forschungsfeld; in: Förster, Birte/Bauch, Martin (Hrsg.): Wasserinfrastrukturen und Macht von der Antike bis zur Gegenwart, München 2014, S. 22–58.

6

Vgl. nicht zuletzt die nationale Strategie zum Schutz von Infrastrukturen; Bundesministerium des Innern: Nationale Strategie zum Schutz Kritischer Infrastrukturen (KRITIS-Strategie), Berlin 2009.

7

Vgl. hierzu Laak, Dirk van: Infrastrukturgeschichte; in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), S. 367–393, hier S. 379-380 oder die Debatte über „splintering

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die konkreten Machtverhältnisse dokumentiert. Mit anderen Worten: Die KRITIS-Debatte selbst wäre als ein Instrument der Machtausübung entlarvt.8 Erste Forschungen zur Genese und Vorgeschichte der KRITIS-Debatten liegen vor, insbesondere mit Blick auf die USA. Im Mittelpunkt der Arbeiten von Stephen Collier und Andrew Lakoff steht die Genealogie einschlägiger Kritikalitätszuschreibungen, vor allem im Bereich der Sicherheitspolitik. Nach einigen Vorläufern in der Zwischenkriegszeit wurde im Kalten Krieg und angesichts der spezifischen militärischen Bedrohung der hochtechnisierten US-Gesellschaft durch sowjetische Interkontinentalraketen über neue Gefährdungspotenziale debattiert. Zur Dynamisierung und vor allem Ausweitung des Kritikalitätskonzepts als politisches Instrument liegen erste empirische Ergebnisse vor, auch wenn das Feld aus geschichtswissenschaftlicher Sicht noch kaum vermessen wurde.9 Selten als Problem formuliert ist freilich die umgekehrte Dynamik: In welchen Zeiträumen und Gesellschaften verloren bestimmte Infrastrukturen an Kritikalität? Wo und wann lassen sich Prozesse der ‚Entkritikalisierung‘ technischer Systeme er-

urbanism“; Graham, Stephen/Marvin, Simon: Splintering Urbanism. Networked Infrastructures, Technological Mobilities and the Urban Condition, London/ New York 2001. 8

Folkers, Andreas: Kritische Infrastruktur; in: Marquardt, Nadine/Schreiber, Verena (Hrsg.): Ortsregister. Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart, Bielefeld 2012, S. 154–159, hier insbes. S. 158. Darauf verwiesen in allgemeiner Hinsicht bereits Laak, Dirk van: Infrastrukturgeschichte; in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), S. 367–393 sowie Engels/Schenk: Infrastrukturen der Macht, S. 22– 58.

9

Collier, Stephen J./Lakoff, Andrew: Vital Systems Security: Reflexive Biopolitics and the Government of Emergency; in: Theory, Culture & Society 3 (2014), S. 1–33; Collier, Stephen J./Lakoff, Andrew: Infrastructure and Event: The Political Technology of Preparedness; in: Braun, Bruce/Whatmore, Sarah (Hrsg.): The Stuff of Politics. Technoscience, Democracy, and Public Life, Minneapolis 2009, S. 243–266; Collier, Stephen J./Lakoff, Andrew: The Vulnerability of Vital Systems: How ‚Critical Infrastructure‘ Became a Security Problem; in: Dunn/Kristensen (Hrsg.): Securing ‚the Homeland‘, S. 17–39; Collier, Stephen J./Lakoff, Andrew: Distributed Preparedness: The Spatial Logic of Domestic Security in the United States; in: Environment and Planning 26 (2008), S. 7–28.

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kennen, und worin liegen die Gründe dafür? Dies kann auf der politischen Ebene untersucht werden; ebenso interessant sind die Positionen von Technikern und Ingenieuren. Zumindest in modernen Gesellschaften sind es häufig diese Experten, welche die Bedeutung eines technischen Systems erstmalig hervorheben, oder umgekehrt, in deren Überlegungen, Planungen und Entwicklungskonzepten bestimmte Infrastrukturen an Bedeutung verlieren.10 Im Bereich des Öffentlichen Personennahverkehrs legen Aufstieg, Niedergang und Wiederaufstieg der Straßenbahn als kritische Infrastruktur davon beredtes Zeugnis ab. An diesem Beispiel lässt sich im Übrigen zeigen, wie relativ machtlose Akteure, etwa Bürgergruppen, durch Teilnahme an der Debatte über wechselnde Kritikalität Einfluss gewinnen können. Noch spektakulärer sind Aufstieg und Fall der Kernkraft als elementare Komponente der Energieversorgung in Deutschland.11 Hier zeigt sich viel-

10 Laak, Dirk van: Technokratie im Europa des 20. Jahrhunderts – eine einflussreiche „Hintergrundideologie“; in: Raphael, Lutz (Hrsg.): Theorien und Experimente der Moderne. Europas Gesellschaften im 20. Jahrhundert, Köln 2012, S. 101–128; Engels, Jens Ivo/Hertzog, Philipp: Die Macht der Ingenieure. Zum Wandel ihres politischen Selbstverständnisses in den 1970er Jahren; in: Revue d'Allemagne et des Pays de langue allemande 43 (2011), S. 19–38; Laak, Dirk van: Planung. Geschichte und Gegenwart des Vorgriffs auf die Zukunft; in: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), S. 305–326; Moore, James R./Rodger, Richard: Who Really Ran the Cities? Municipal Knowledge and Policy Networks in British Local Government, 1832–1914; in: Roth, Ralf (Hrsg.): Who Ran the Cities? City Elites and Urban Power Structures in Europe and North America 1750–1940, Aldershot 2007, S. 37–69; Hascher, Michael: Politikberatung durch Experten. Das Beispiel der deutschen Verkehrspolitik im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2006; Kurz-Milcke, Elke/Gigerenzer, Gerd (Hrsg.): Experts in science and society, New York 2004; Raphael, Lutz: Experten im Sozialstaat; in: Hockerts, Hans Günter (Hrsg.): Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit. NS-Diktatur, Bundesrepublik und DDR im Vergleich, München 1998, S. 231–258. 11 Radkau, Joachim: Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft 1945 – 1975. Verdrängte Alternativen in der Kerntechnik und der Ursprung der nuklearen Kontroverse, Reinbek bei Hamburg 1983; Kirchhof, Astrid Mignon/Meyer, Jan-Henrik: Global Protest against Nuclear Power. Transfer and Transnational

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mehr ein Perspektivwechsel als Folge neuer Risikobewertungen. Das Risiko, dem Bevölkerung und Umwelt ausgesetzt sind, gewann Oberhand gegenüber den finanziellen Risiken infolge der Energietransformation oder möglichen Versorgungsengpässen. Hinzu kam ein weiterer Faktor, der nicht unterschätzt werden sollte. In den 1950er und 1960er Jahren war die Meinung verbreitet, Kerntechnologie sei die entscheidende Schlüsseltechnologie für moderne Gesellschaften, vielleicht vergleichbar mit der heutigen Einschätzung über die Bedeutung der IT. Dies beeinflusste die Kritikalitätszuschreibung in hohem Maß; aus heutiger Sicht würde man wohl sagen: in irrationaler Weise. Auch wenn man dieses harte Urteil nicht teilen möchte, liefert die Geschichte der Kerntechnik wichtige Hinweise für die Bedingungen von Kritikalitätskonjunkturen. Sie sind abhängig von (technikbezogenen) Prognosen (Zukunftstechnologie!), aber auch von gesellschaftlichen Werten und Prioritäten (billiger Atomstrom vs. Unfallsicherheit). Beide sind hochgradig wandelbar und können unter Umständen zur Dekritikalisierung führen. Zu diesen und ähnlich gelagerten Fragen stehen substanzielle Forschungen noch aus – relevant scheinen diese Probleme allemal. In diesem Beitrag soll es jedoch schwerpunktmäßig nicht um Kritikalität als Ideologie gehen, sondern es sollen die Potenziale von Kritikalität als analytischem Konzept für die geisteswissenschaftliche Forschung ausgelotet werden.

KRITIKALITÄT UND KRISE Begreift man „Kritikalität“ als analytisches Konzept, so geht es nicht mehr darum, von einer distanzierten Warte Kritikalitätszuschreibungen zu untersuchen, sondern man begibt sich letztlich selbst auf das Feld der Zuschreibung. Einen Mehrwert verspricht das Konzept aber nur, wenn es bestimmte Umstände deutlich macht, die ohne seine Verwendung nicht oder weniger klar ‚sichtbar‘ würden. Zu fragen ist also danach, welche Aspekte in der Infrastrukturforschung durch den Kritikalitätsbegriff gestärkt werden können. Hierzu sind ein paar einleitende Bemerkungen angebracht.

Exchange in the 1970s and 1980s; in: Historical Social Research 39 (2014), S. 165–190.

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Eine allgemein gültige, griffige Definition von Kritikalität ist wohl kaum möglich. Dies liegt auch darin begründet, dass Kritikalität in sehr unterschiedlichen wissenschaftlichen Kontexten verwendet wird – mit abweichenden Inhalten. Gleichwohl ist es möglich, einige typische Verwendungsweisen von Kritikalität zu identifizieren, mögliche Implikationen zu beleuchten, und am Ende dieses Beitrages den erhofften Mehrwert am Beispiel geschichtswissenschaftlicher Fragestellungen zu skizzieren. In der Thermodynamik beschreibt Kritikalität den Punkt des Übergangs von einem Aggregatzustand in einen anderen. In der Nuklearphysik wird eine Kettenreaktion in dem Augenblick „kritisch“, wenn sie sich selbst erhält, also nicht mehr aufzuhalten ist. In der Ökologie bezeichnet Kritikalität nicht einen absoluten Punkt des Übergangs, sondern gilt als relatives Maß für die negativen Folgen menschlicher Eingriffe in ein Ökosystem – je mehr Kritikalität, desto höhere Verwundbarkeit der natürlichen Lebensgemeinschaften in dem betreffenden Ökosystem.12 In diesen kurzen Beschreibungen deuten sich bereits zwei unterschiedliche Verwendungsweisen von Kritikalität an: Gekennzeichnet wird ein kritischer ‚Punkt‘ bzw. ein Schwellenwert, oder aber ein variables Maß an Kritikalität. Die Orientierung am Schwellenwert ergibt sich aus dem gedanklichen Zusammenhang von Kritikalität und Krise. Die Krise, der der Historiker Reinhard Koselleck umfangreiche begriffsgeschichtliche Forschungen gewidmet hat, ist ein Augenblick der Entscheidung, sie markiert einen Umschlagpunkt. In der christlichen Tradition werden Krise und das Jüngste Gericht (als Entscheidung über Heil oder Verdammnis) miteinander in Zusammenhang gebracht; in der politischen Theorie gab es seit ca. 1800 einen Zusammenhang zwischen Revolution und Krise.13 Solche transzendenten Bezüge spielen zwar in aktuellen Begriffsverwendungen keine Rolle mehr. Geblieben ist gleichwohl das Interesse an der Markierung von Um-

12 Darstellung nach Bouchon, Sara: The Vulnerability of interdependent Critical Infrastructures Systems: Epistemological and Conceptual State-of-the-Art, Ispra 2006, S. 36. 13 Imbriano, Gennaro: „Krise“ und „Pathogenese“ in Reinhart Kosellecks Diagnose über die moderne Welt; in: Forum Interdisziplinäre Begriffsgeschichte 2, 1 (2013), S. 38–48, insbes. S. 7–8; Koselleck, Reinhart: Krise; in: Brunner, Otto/Conze, Werner/Koselleck, Reinhart (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe, Stuttgart 1982, S. 617–650.

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schlagpunkten. Zudem feiert das Konzept des „tipping point“ in den Technowissenschaften, insbesondere aber auch in der Resilienzforschung der letzten Jahre, einen beeindruckenden Aufstieg. Gemeint sind die „systementscheidenden Umschlagpunkte“. In den Naturwissenschaften bezeichnen solche Punkte einen Moment der Instabilität, in dem ein System „von einem Zustand des stabilen Gleichgewichts in einen neuen, qualitativ anderen Gleichgewichtszustand kippt“. In der sozialwissenschaftlich geprägten Resilienzforschung ist der „tipping point“ ebenfalls bekannt als Moment, in dem eine grundlegende Veränderung unaufhaltsam wird.14 Im Zusammenhang mit dem kritisch-Werden von Infrastrukturen heben Högselius et al. die Bedeutung von „critical events“ hervor. Gemeint sind Einzelereignisse, etwa Blitzschläge, Anschläge oder Unfälle, die zum Funktionsausfall von technischen Systemen führen.15 In der Infrastrukturforschung kommt es, genereller gesprochen, auf einen ganz bestimmten ‚Schwellenwert‘ an,16 nämlich auf die Grenze zwischen dem ‚Normalbetrieb‘ und dem Ausnahmezustand. Diese Konzeption der Kritikalität geht von der Annahme aus, dass Infrastrukturen der unterbrechungslosen Grundversorgung einer Gesellschaft oder anderer technischer Systeme dienen. Dieses Versprechen ist Teil der Infrastrukturpolitik seit der Moderne um etwa 1900, wobei in den letzten Jahrzehnten allerdings das Bewusstsein für Gefahren und unvorhersehbare Ereignisse deutlich gewachsen ist.17 Kritisch sind folglich Ereignisse oder Entwicklungen, die den Normalbetrieb

14 Zitate aus Höhler, Sabine: Resilienz: Mensch – Umwelt – System. Eine Geschichte der Stressbewältigung von der Erholung zur Selbstoptimierung; in: Zeithistorische Forschungen 11 (2014), S. 425–443, hier S. 441. 15 Högselius, Per/Vleuten, Erik van der/Hommels, Anique/Kaijser, Arne: Europe's Infrastructure Vulnerabilities. Comparisons and Connections; in: Högselius, Per/Vleuten, Erik van der/Hommels, Anique/Kaijser, Arne (Hrsg.): The Making of Europe's Critical Infrastructure. Common Connections and Shared Vulnerabilities, Basingstoke 2013, S. 263–277, hier S. 265. 16 Vgl. auch Fekete, Alexander: Common Criteria for the Assessment of Critical Infrastructures; in: International Journal of Disaster Risk Science 2 (2011), S. 15–24, hier S. 19. 17 Aradau, Claudia: The Promise of Security: Resilience, Surprise and Epistemic Politics; in: Resilience. International Policies, Practices and Discourses 2 (2014), S. 73–87.

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zum Erliegen bringen; kritisch sind Komponenten einer Infrastruktur, deren Funktion während eines Ausfalls nicht rasch ersetzt werden kann.18

KRITIKALITÄT ZWISCHEN BEDROHUNG UND ERMÖGLICHUNG, ODER: NORMATIVE ENGFÜHRUNGEN VERMEIDEN Während das Konzept des Umschlagpunkts auf den ersten Blick wertungsfrei ist, sind Konzepte wie der des Schwellenwerts zwischen Normalbetrieb und Ausnahmefall, also Notfall, hochgradig normativ geprägt – dann das Eintreten des Notfalls soll ja verhindert werden. Das führt ganz unmittelbar zu der Frage nach der Normativität des Kritikalitätsbegriffs. In vielen Fällen wird das Reden von der Kritikalität einer Infrastruktur in den Kontext von Bedrohung und Verwundbarkeit gestellt. Ein plastisches Beispiel hierfür bietet die Kritikalitätsdefinition in der nationalen Strategie zum Schutz Kritischer Infrastrukturen der deutschen Bundesregierung. Dort heißt es: Kritikalität sei ein Maß für die „Bedeutsamkeit einer Infrastruktur in Bezug auf die Konsequenzen, die eine Störung oder ein Funktionsausfall für die Versorgungssicherheit der Gesellschaft mit wichtigen Gütern und Dienstleistungen hat“.19 Auf dieser Linie liegen auch die Definitionen anderer nationaler Infrastruktur-Strategien: Die Schweiz spricht von Kritischen Infrastrukturen dann, wenn deren Ausfall „gravierende Auswirkungen“ auf die Gesellschaft hat. In den USA wird ein „debilitating impact on security, national economic security, national public health“ in den Mittelpunkt gestellt. In Kanada sind es Technologien „which if disrupted or destroyed would have a serious impact on the health, safety, security or economic well-being of Canadians“. Fast wortgleich fällt die Definition im Fall Australiens aus.20

18 Vgl. Egan, Matthew Jude: Anticipating Future Vulnerability: Defining Characteristics of Increasingly Critical Infrastructure-like Systems; in: Journal of Contingencies and Crisis Management 15 (2007), S. 4–17, hier S. 5. 19 Bundesministerium des Innern: KRITIS-Strategie, S. 7. 20 Zusammenstellung der Definitionen bei Lenz, Susanne: Vulnerabilität Kritischer Infrastrukturen, Bonn 2009, S. 18.

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Folkers seziert die internationale politische Debatte über Kritikalität in diesem Sinne als „Bedrohungsdiskurs“, in dem der Bevölkerung suggeriert wird, dass sie von wachsenden Gefahren umstellt sei. Auf dieser Darstellung fuße dann die politische Forderung nach erweiterten Sicherheitsmaßnahmen. Folkers verweist in diesem Zusammenhang auf das Verletzlichkeitsparadoxon: Mit der Verringerung der Wahrscheinlichkeit von Funktionsunterbrechungen in der fortschreitenden Technisierung wächst die potenzielle Gefahr jeder stattfindenden Funktionsunterbrechung21: Je seltener ein Stromausfall, desto gravierender seine Folgen. Mit Blick auf die technisch-wissenschaftliche Verwendung dominiert eine vergleichbare Tendenz, die Kritikalität mit Schwachstellen in Verbindung zu bringen. In den Worten von Sara Bouchon bezeichnet Kritikalität häufig den „lack of a critical element“ „which is essential for continued operations“.22 Viel spricht für die Feststellung, Kritikalität sei häufig nichts anderes als eine Variante von Vulnerabilität.23 Gelegentlich wird Kritikalität mit dem Konzept des Risikos verbunden.24 Diese Konturierung der Kritikalität in einer reinen Bedrohungs- bzw. Sicherheitsperspektive ist kaum befriedigend. Dafür spricht der systemati-

21 Folkers: Kritische Infrastruktur, S. 156-157. 22 Bouchon, Sara: The Vulnerability of Interdependent Critical Infrastructures Systems: Epistemological and Conceptual State-of-the-Art, Ispra 2006, S. 36. 23 So etwa ganz massiv bei Högselius, Per/Vleuten, Erik van der/Hommels, Anique/Kaijser, Arne: Europe’s Critical Infrastructure and Its Vulnerabilities – Promises,

Problems,

Paradoxes;

in:

Högselius/Vleuten/Hommels/Kaijser

(Hrsg.): The Making, S. 3–26; vgl. auch Birkmann, Jörn et al.: Extreme Events, Critical Infrastructures, Human Vulnerability and Strategic Planning: Emerging Research Issues; in: Journal of Extreme Events 3 (2016), S. 1–25. Zur Konzentration auf die Verletzlichkeit von kritischer Infrastruktur siehe auch Murray, Alan T./Grubesic, Tony H. (Hrsg.): Critical Infrastructure. Reliability and Vulnerability, Berlin 2007. 24 Fekete, Alexander/Lauwe, Peter/Geier, Wolfram: Risk Management Goals and Identification of Critical Infrastructures; in: International Journal for Critical Infrastructures 8 (2012), S. 336–353; Boin, Arjen/McConnell, Allan: Preparing for Critical Infrastructure Breakdowns: The Limits of Crisis Management and the Need for Resilience; in: Journal of Contingencies and Crisis Management 15 (2007), S. 50–59.

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sche Grund, dass andere und sehr viel besser ausgearbeitete Konzepte wie Vulnerabilität existieren, so dass Kritikalität als eigenes Konzept überflüssig wäre. Dafür spricht aber vor allem eine andere Überlegung: Das Versprechen durchgängiger Versorgung und unterbrechungsloser Funktion großer technischer System ist längst brüchig geworden. Normal, so Charles Perrow bereits Anfang der 1980er Jahre, ist nicht das kontinuierliche Funktionieren einer Technologie, sondern normal sind die Ausfälle und Unterbrechungen („normal accidents“).25 Auch die in den letzten Jahren boomende Resilienzdebatte sowie der damit verbundene Aufstieg des Preparedness-Denkens legen Zeugnis von dem in der Forschung wachsenden Bewusstsein ab, dass der Normalbetrieb prekär ist.26 Dies ist zwar in der politischen Debatte und der öffentlichen Wahrnehmung anders. Dennoch erodiert die Referenzgröße des Normalbetriebs in der Fachdebatte zusehends, was eine reine Defizitperspektive in der Kritikalität unbefriedigend erscheinen lässt. Anstelle der Defizitorientierung schlagen einige Autoren Erweiterungen des Kritikalitätsbegriffs vor, die auf die Leistungen der als kritisch bezeichneten Infrastruktursysteme zielen. Ganz im Sinne des PreparednessDenkens schlägt Sara Bouchon vor, als kritisch auch jene Elemente und Systeme zu bezeichnen, die Krisen bewältigbar machen. Kritische Infrastrukturen wären hier also solche, die die Folgen von Funktionskrisen abmildern.27 Dies ist zwar eine sehr bedenkenswerte Erweiterung des dominierenden Kritikalitätsdenkens, allerdings meines Erachtens noch nicht ausreichend, da wiederum ausschließlich auf das Problem des Ausfalls fokussiert wird.

25 Perrow, Charles: Normal Accidents. Living with High-Risk Technologies, Princeton 1984. 26 Collier/Lakoff: Infrastructure and Event, S. 243–266; Medd, Will/Marvin, Simon: From the Politics of Urgency to the Politics of Preparedness. A Research Agenda on Urban Vulnerability; in: Journal of Contingencies and Crisis Management 13 (2005), S. 44–49; Brassett, James/Vaughan-Williams, Nick: Security and the performative politics of resilience: Critical infrastructure protection and humanitarian emergency preparedness; in: Security Dialogue 46 (2015), S. 32–50. 27 Bouchon, Sara: The Vulnerability of Interdependent Critical Infrastructures Systems: Epistemological and Conceptual State-of-the-Art, Ispra 2006, S. 37.

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Angemessener scheint es mir, zusätzlich zu Gefahren und Ausfällen auf die Leistungen der ‚kritischen‘ Infrastrukturen abzuheben. In diesem Sinne finden sich viele Formulierungen in der Literatur. In englischsprachigen Texten trifft man nicht selten den Begriff „vital“.28 Lenz schlägt eine Reihe von Begriffen wie „lebenswichtig“, „neuralgisch“, „national bedeutsam“ vor. An anderer Stelle, bei Alexander Fekete, findet sich der Begriff „Relevanz“ einer Infrastruktur bzw. ihrer Leistungen für die Bevölkerung.29 Dieser Begriff scheint mir besonders geeignet, da er den Biologismus von Vitalität vermeidet. Außerdem enthält der Relevanzbegriff unvermeidlich eine Bezugsdimension: Notwendig ist immer die Angabe, für wen oder für was etwas relevant ist. Die Schwäche des Relevanzkonzepts ist zugleich seine Stärke: Der Autor selbst gibt zu, dass Relevanz unbestimmt und die Grenze zwischen dem Relevanten und dem Nicht-Relevanten objektiv nicht angebbar sei. Freilich gilt dies generell für das Konzept der Kritikalität. Nun könnte man einwenden, es handele sich bei all diesen Überlegungen um reine Spiegelfechterei. Den Begriff der Kritikalität durch den ähnlich unbestimmten Begriff der Relevanz näher zu bestimmen kann durchaus als ein geisteswissenschaftliches Glasperlenspiel erscheinen, ein interessanter Zeitvertreib, aber letztlich ergebnisarm. Gegen diese Annahme möchte ich noch einmal die Gefahr der normativen Einschränkung ins Feld führen, die einen Großteil der Diskussion beherrscht. Mit Blick auf die politische Diskussion können solche Überlegungen die Konzentration auf Sicherheit, Bedrohung und Angst überwinden und damit im Sinne der Ideologiekritik eine andere KRITIS-Politik begründen. Innerhalb der Fachdebatte hilft diese Erweiterung des Fokus, Kritikalität nicht allein als Ausgangspunkt für Defizitmanagement zu betrachten, sondern die nutzbringenden und gedeihlichen Funktionen technischer Systeme in den Blick zu bekommen, kurz: die Ermöglichungsdimension von Infrastrukturen.

28 Collier, Stephen J./Lakoff, Andrew: Vital Systems Security: Reflexive Biopolitics and the Government of Emergency; in: Theory, Culture & Society 3 (2014), S. 1–33. 29 Fekete: Common Criteria, S. 16.

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ZWEI PERSPEKTIVEN: SYSTEM- VS. KONSEQUENZBASIERTE KRITIKALITÄT Die Formulierung von der Kritikalität der Infrastruktur enthält, wie bereits angedeutet, die Notwendigkeit einer Referenz: Stets muss angegeben werden, für wen oder was ein technisches System oder eine seiner Komponenten kritisch oder relevant ist. In der politischen Debatte werden in der Regel einige immer wiederkehrende Politikbereiche oder -ziele genannt. Dazu gehören meist öffentliche Sicherheit, Gesundheitsschutz, der freie Verkehr von Gütern und Dienstleistungen (als Voraussetzung für Wohlstand) und das Funktionieren der öffentlichen Verwaltung. Im Grundsatz rekurrieren diese Beiträge also auf das Funktionieren von Staat und Gesellschaft. Letztlich geht es damit um die Verwirklichung des Gemeinwohls. Was das Gemeinwohl genau ist, kann freilich niemals objektiv bestimmt werden. Doch wird man Maßnahmen zum Schutz von Infrastrukturen in demokratischen Gesellschaften nur schwerlich ohne einen Rekurs auf das Gemeinwohl dauerhaft legitimieren können. Vor allem dann, wenn Strategien zum Schutz Kritischer Infrastrukturen Eingriffe in Eigentumsrechte oder andere Grundrechte beinhalten, ist der begründete Verweis auf höherrangige Güter unverzichtbar. Dieser Aussage widerspricht, zumindest auf den ersten Blick, eine in der Literatur häufig anzutreffende Differenzierung in zwei unterschiedliche Typen von Kritikalität. Die Rede ist von der systemischen Kritikalität einerseits und der konsequenzbasierten Kritikalität auf der anderen Seite. Was damit gemeint ist, kann man vergleichsweise einfach erläutern. Systemische Kritikalität hebt auf die Bedeutung einzelner Komponenten oder Subsysteme für das Gesamtsystem infrastruktureller Versorgung ab. Oder auch: „Eine Infrastruktur ist aufgrund ihrer strukturellen Positionierung im System als wichtiges Verbindungsglied […] kritisch“.30 In vielen Fällen wird dieser Bereich vor allem ingenieural gedacht, d.h. es geht um das Zusammenspiel technischer Artefakte oder um die wachsende Interdependenz von netzbasierten Infrastruktursystemen. Demnach wäre etwa die Stromversorgung besonders kritisch für den schienengebundenen Verkehr. Im Zentrum steht also das Verhältnis zwischen (materiellen) Teilen und 30 Metzger, Jan: Das Konzept „Schutz kritischer Infrastrukturen“ hinterfragt; in: Bulletin zur schweizerischen Sicherheitspolitik (2004), S. 73–85, hier S. 77.

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dem Ganzen, sowie technisch gedachte Funktionalitäten. Ein klassischer Fall systemischer Kritikalität äußert sich demnach bei sogenannten Kaskadeneffekten31, jedenfalls wenn man die Bedrohungsperspektive privilegiert. Die andere Kategorie, konsequenzbasierte Kritikalität32, spielt stärker auf übergeordnete gesellschaftliche Relevanz an. Aus politikwissenschaftlicher Sicht geht es hier insbesondere um Politikziele, die mit der für sie kritischen Infrastruktur erreicht bzw. die beim Ausfall der kritischen Infrastruktur gefährdet wären, so wie die oben genannten Ziele Sicherheit, Stabilität und Prosperität. Es geht hier also um von Infrastrukturen bereitgestellten Dienste und Leistungen für die Gesellschaft.33 Der Terminus „konsequenzbasierte Kritikalität“ ist durchaus nicht unproblematisch, da systembezogene Relevanz ja auch Konsequenzen nach sich zieht. Allerdings sind andere in der Literatur anzutreffende Begriffe noch problematischer. So verwendet Jan Metzger den Terminus „symbolische“ Kritikalität.34 Das hat jedoch zwei entscheidende Nachteile. Zum einen wird damit suggeriert, es handele sich bei den Politikzielen um reine Symbolik jenseits der vermeintlich harten Welt der Technik, obwohl wir aus den Forschungen zu sozio-technischen Systemen wissen, dass es keine scharfe Trennlinie zwischen dem Sozialen und dem Technischen gibt.35 Zum anderen verwendet die Strategie zum Schutz kritischer Infrastrukturen

31 Little, Richard G.: Controlling Cascading Failure: Understanding the Vulnerabilities of Interconnected Infrastructures; in: Journal of Urban Technology 9 (2002), S. 109–123. 32 Begriff z.B. bei Egan: Anticipating Future Vulnerability, S. 5. 33 Weitgehend übernommen von Metzger: Schutz kritischer Infrastrukturen, S. 7677, der aber den m. E. untauglichen Terminus „symbolische Kritikalität“ verwendet. 34 Ebd., S. 77. 35 Mayntz, Renate: Große technische Systeme und ihre gesellschaftstheoretische Bedeutung; in: Mayntz, Renate (Hrsg.): Soziale Dynamik und politische Steuerung, Frankfurt am Main/New York 1997, S. 70–85; Hughes, Thomas P./Mayntz, Renate (Hrsg.): The Development of Large Technical Systems, Frankfurt am Main 1988; Vleuten, Erik van der: Understanding Network Societies. Two Decades of Large Technical System Studies; in: Vleuten, Erik van der/Kaijser, Arne (Hrsg.): Networking Europe. Transnational Infrastructure and the Shaping of Europe 1850-2000, Sagamore Beach 2006, S. 279–314.

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der Bundesrepublik Deutschland den Begriff symbolische Kritikalität völlig anders, nämlich im Sinne von Einwirkungen, die die „Gesellschaft emotional erschüttern und psychologisch nachhaltig aus dem Gleichgewicht bringen“.36 Schon um der Begriffsverwirrung nicht Vorschub zu leisten, sollte man auf den Begriff symbolische Kritikalität daher möglichst verzichten. Eine weitere Alternative zum Terminus konsequenzbasierte Kritikalität könnte ein Bezug auf die Nutzer darstellen – Högselius et al. schlagen das Begriffspaar „system vulnerabilities“ versus „user vulnerabilities“ vor.37 Dies hat zwar den Vorteil, die Betroffenheit konkreter Akteure und damit Menschen zu adressieren. Allerdings erkauft man dies mit dem doppelten Nachteil, dass einseitig auf die Bedrohungsperspektive verkürzt wird und andererseits abstrakte Politikziele keine Berücksichtigung finden. Der an anderer Stelle vorgeschlagene Begriff „external impacts“ (als Kategorie zur Bestimmung der Kritikalität) erscheint da schon deutlich tauglicher, weil umfassender.38 Doch auch er berücksichtigt genauso wenig wie die „symbolische“ Kritikalität, dass klare Grenzziehungen zwischen technischen Systemen und ihrer gesellschaftlichen Umwelt kaum sinnvoll sind. In Ermangelung besserer Alternativen scheint mir daher zumindest vorübergehend der Terminus konsequenzbasierte Kritikalität am ehesten tragbar. Der Unterschied zwischen beiden Konzepten liegt in der Perspektive: Schaut die systembasierte Kritikalität tendenziell von der Einzelkomponente aus auf das Zusammenspiel der Interdependenzen vor allem im materiellen Bereich, so fokussiert die konsequenzbasierte Kritikalität aus der Flughöhe gesellschaftlicher Ziele, Ergebnisse und Leistungen der technischen Systeme. Dabei sollte aber klar sein: Es handelt sich lediglich um Perspektiven – eine strikte Trennung oder Grenzziehung zwischen beiden ist weder sinnvoll noch begründbar.

36 Bundesministerium des Innern: KRITIS-Strategie, S. 7. 37 Högselius/Vleuten/Hommels/Kaijser: Europe's Critical Infrastructure, S. 10. 38 Fekete: Common Criteria, S. 16.

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KRITIKALITÄT ALS RELEVANTE RELATION. EIN VORSCHLAG Das bislang Ausgeführte legt den Schluss nahe, Kritikalität als ein analytisches Konzept so weit wie möglich von normativen Vorannahmen zu entlasten. Dabei scheint es mir wichtig, nicht die bislang dominierende Bedrohungsperspektive zu privilegieren. Normativ neutraler ist ein Konzept wie Relevanz. Der Zusammenhang von Kritikalität und Krise zeigt, dass diese Relevanz sowohl zum Guten wie zum Schlechten führen kann, aber in jedem Fall mit Dynamik und Wechselwirkung in einem System verbunden ist. Deutlich wurde auch, dass Kritikalität immer einer Referenz bedarf, also Kritikalität nur „für“ (wen oder was) bestimmt werden kann. Schließlich sollte der Begriff der Kritikalität zwei Perspektiven abdecken, nämlich zum einen die bottom up-Perspektive der Relevanz von Einzelkomponenten für das Gesamtsystem (systembasiert), aber umgekehrt auch die top downPerspektive der Relevanz von Infrastrukturen für gesamtgesellschaftliche Aufgaben (konsequenzbasiert). All diese Bedingungen kann man erfüllen, wenn man das Konzept der Kritikalität als eine besonders intensive Form der Relationalität denkt. Dahinter steht die letztlich schlichte Feststellung, dass Kritikalität vorliegt, wenn es Beziehungen und Verbindungen gibt, also Relationen. Dies können materielle Verbindungen ebenso sein wie andere Formen der Interaktion, die die soziale Dimension mit einschließen. Entscheidend sind dabei kausale Beziehungen, also Wirkungen. Ein Beispiel: Ein Kraftwerk ist mit vielen einzelnen Stromleitungen verbunden; entscheidender noch ist, dass dieses Werk eine bestimmte Region mit Elektrizität versorgt. Versorgt werden unter anderem die Straßenlaternen in einer bestimmten Stadt, was die Beleuchtung in der Nacht sicherstellt. Im Idealfall reduziert dieser Umstand die Straßenkriminalität oder erhöht das subjektive Sicherheitsempfinden der Einwohner. Das Werk versorgt zudem Privathaushalte und die Benzinpumpen der Tankstellen mit Elektrizität. Auf diesem Weg ermöglicht es auch die Versorgung von Einbrecherbanden mit Akkustrom für ihre Taschenlampen und Benzin für ihre Fluchtautos, ermöglicht also Kriminalität und beeinträchtigt mittelbar das Sicherheitsempfinden (vorausgesetzt, Einbrüche werden bekannt). Dieses Beispiel soll zum einen verdeutlichen, dass Kritikalität, als Relationalität verstanden, die Ambivalenz von Kausalbeziehungen abbilden kann; ein und

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dieselbe Leistung kann eine Sache und ihr Gegenteil bewirken. Das gilt im Übrigen nicht nur für so weitreichende Politikziele wie Sicherheit/Kriminalität, sondern auch für technische. Ein und dasselbe Umspannwerk versorgt eine Fabrik mit Strom, in der es zum Kabelbrand kommt, wie auch die installierte Sprinkleranlage. Zum anderen macht es deutlich, dass Kausalbeziehungen in unterschiedlicher Weise eindeutig sind. Der Zusammenhang zwischen Kraftwerk und Straßenlaternen ist einfacher zu belegen als der zwischen Licht auf der Straße und dem Sicherheitsempfinden der Bevölkerung. Aber auch die Kausalität zwischen Kraftwerk und Laterne ist in einer komplexen Energieversorgung weniger schlicht, als es zunächst den Anschein haben mag. Dies gilt etwa, wenn die gedachte Beispielsstadt eingebunden in ein europaweites Leitungsnetz ist, das zahllose Kraftwerke von der Großanlage bis zum einspeisenden Privatbetreiber von Solarpaneelen vernetzt. Das Beispiel zeigt aber auch, dass die Ergebnisse sich bei veränderter Perspektive anders darstellen können. Nimmt man die Kriminalitätsbekämpfung zum Ausgangspunkt (im Sinne der konsequenzbasierten Kritikalität), so wird man schnell auf viele weitere technische Infrastrukturen stoßen, die kritisch sind. Neben der Elektrizität für Straßenlampen werden etwa Kommunikationsinfrastrukturen (Notrufe, Polizeifunk), EDV-Systeme der Polizei oder die Verkehrsinfrastruktur in den Blick geraten. Freilich besteht Kriminalitätsbekämpfung nicht ausschließlich aus Repression, und so müssen auch jene Systeme berücksichtigt werden, die die Prävention unterstützen, möglicherweise bis hin zur Erschließung von Gewerbegebieten, welche Industrieansiedlungen, damit Arbeitsplätze, damit weniger Arbeitslosigkeit und folglich weniger Kriminalität bewirken können. Diese Ausführungen zeigen allerdings auch Gefahren auf: Da ja irgendwie alles mit allem zusammenhängt, droht Beliebigkeit. Forscher, die in dieser Weise mit Kritikalität arbeiten, müssen sich der Gefahr stets bewusst sein. Nur in sehr seltenen Fällen wird man wohl zu dem Schluss kommen, dass ein Element oder ein System völlig unkritisch ist, nämlich dann, wenn es keine Verbindungen und Relationen zu anderen Systemen aufweist oder aber keine politischen oder gesellschaftlichen Konsequenzen hat. Das wird tatsächlich nur in Grenzfällen zu beobachten sein, beispielsweise bei historischen oder musealisierten Infrastrukturen, etwa in Gestalt eines Dampflokomotivenvereins. Insofern bestätigt sich die bereits benannte tautologische Qualität des Begriffs „kritische Infrastruktur“: Völlig un-

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kritische Infrastrukturen sind selten. Umso mehr kommt es darauf an, Kritikalität nicht nur als Relation zu begreifen, sondern auch als relatives Ausmaß. Statt über eine absolute Untergrenze von Kritikalität zu spekulieren, kann sinnvoller über ein ‚mehr‘ oder ‚weniger‘ an Kritikalität geforscht werden oder ‚kritischer als‘/‚unkritischer als‘. Die Relevanz – und damit die Kritikalität – einer Komponente oder einer Infrastruktur drückt sich folglich in der Zahl und der Bedeutung ihrer Relationen aus. Kritikalität ist damit weitgehend ein Ausdruck für das Dichte und die kausale Qualität von Vernetzung. Hier ist bewusst von Ausdruck die Rede und nicht von „Maß“. Maß kommt dann nicht in Frage, wenn dies absolute Messbarkeit impliziert – dafür bräuchte man allgemein akzeptierte oder doch zumindest auf universelle Gültigkeit angelegte Maßeinheiten. Solche stehen aber nicht zur Verfügung. Es kann eigentlich nur kasuistisch vorgegangen werden, das heißt die Frage der Kritikalität ist nur auf den Einzelfall bezogen zu beantworten. Und sie kann immer nur im Vergleich einer Komponente oder einer Infrastruktur mit anderen bestimmt werden.

CUI BONO – WAS BRINGT DAS KRITIKALITÄTSKONZEPT DER HISTORISCHEN TECHNIKFORSCHUNG? Nun erhebt sich die Frage, welche Forschungsrelevanz ein solches, auf den ersten Blick recht nebulöses Konzept von Kritikalität überhaupt haben kann. Mit anderen Worten: Lohnt es sich, mit diesem Konzept zu arbeiten? Die Frage kann nur aus der jeweiligen Fachperspektive beantwortet werden. Aus Sicht der historischen Forschung sprechen ein paar Argumente für die Relevanz dieses Konzepts. Dabei profitiert die Geisteswissenschaft von der Tatsache, dass sie in der Regel nicht die Aufgabe hat, konkrete technische Probleme zu lösen. Sie ist weitgehend mit der Herstellung von Reflexionswissen beschäftigt. Wenn Historiker mit dem Kritikalitätskonzept als Analysetool arbeiten, bedeutet das vor allem so etwas wie eine Prüfaufgabe zu lösen. Es handelt sich im Wesentlichen darum, Zusammenhänge sichtbar zu machen. Analog

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zur Netzwerkforschung39 könnte man zunächst Beziehungsnetze beschreiben und anschließend eine Gewichtung einzelner Beziehungen vornehmen. Doch die Möglichkeiten des Kritikalitätskonzepts weisen über jene der Netzwerkanalyse hinaus, insbesondere unter dem Aspekt der konsequenzbasierten Kritikalität, die ja die Grenzen des Netzwerks transzendiert. Nicht sinnvoll erscheint es mir allerdings, einen „Schwellenwert“ zu bestimmen, im Sinne des oben zitierten Umschlagpunkts oder tipping point. Privilegiert man die Bedrohungsperspektive in Kombination mit der systembasierten Variante von Kritikalität, so könnte man in der Geschichte einer Katastrophe bei guter Quellenlage vermutlich einen Schwellenwert rekonstruieren. Dieser ließe sich dort festmachen, wo der Funktionsausfall oder die Zerstörung einer einzelnen Komponente zum Zusammenbruch der Gesamtversorgung führte. Privilegiert man aber die positive, ermöglichungsorientierte mit der konsequenzbasierten Sichtweise, so wird man es aus der Rückschau deutlich schwieriger haben. Man könnte beispielsweise die Frage stellen, welche Systeme um 1900 für die Etablierung einer modernen Stadtgesellschaft unabdingbar, und welche gewissermaßen überflüssig und damit unkritisch waren. Zwar wissen wir, dass für die Urbanität der Zeit um 1900 eine Kombination von Systemen des Nah- und Fernverkehrs, der Versorgung mit Wasser, Energie (Gas, Elektrizität) sowie der Entsorgung von Abwässern und Unrat entscheidend war.40 Da wir aber keine Experimente durchführen und testweise einzelne Systeme ‚ungeschehen‘ machen können, wird man Schwellenwerte nur mit Schwierigkeiten konstruieren können. Kontrafaktische Argumentationen gelten in der Geschichtswissenschaft in der Regel als wenig hilfreich. Historische Arbeit läuft (in der Summe) eher auf das Gegenteil hinaus: Mit fortschreitender Forschung zu bestimmten Gesellschaften findet man eher zusätzliche ‚kritische‘ Faktoren, die einen Beitrag für eine bestimmte

39 Düring, Marten/Eumann, Ulrich/Stark, Martin/Keyserlingk, Linda v. (Hrsg.): Handbuch Historische Netzwerkforschung. Grundlagen und Anwendungen, Berlin 2016. 40 Schott, Dieter: Europäische Urbanisierung (1000-2000). Eine umwelthistorische Einführung, Köln/Weimar/Wien 2014; Schott, Dieter: Die Vernetzung der Stadt. Kommunale Energiepolitik, öffentlicher Nahverkehr und die „Produktion“ der modernen Stadt. Darmstadt – Mannheim – Mainz 1880–1918, Darmstadt 1999.

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gesellschaftlich-politische Entwicklung geleistet haben. Dies gilt etwa für die Ergebnisse des breit angelehnten, paneuropäischen Forschungsprojekts „Tensions of Europe“. Gegen Ende der Projektlaufzeit wurde festgestellt, dass eine Vielzahl technischer Infrastrukturen – einige von ihnen tatsächlich gebaut, andere im Planungsstadium steckengeblieben – wesentlichen Einfluss auf die politische Integration Europas hatten. Teilweise wurden sie bereits vor der politischen Integration durchgeführt, teilweise bezogen sie über politische Grenzen hinweg größere Räume ein, insbesondere Teile des Ostblocks während des Kalten Krieges. Das Fazit lautet: Europa als Einheit wurde nicht zuletzt ‚erfunden‘ durch die „hidden integration“ via technischer Infrastrukturen.41 Die an diesem Forschungsprogramm Beteiligten werten die technischen Infrastrukturen daher als „kritisch“ für die europäische Integration (im Sinne der konsequenzbasierten, relevanzorientierten Kritikalitätsauffassung – freilich ohne dass die Autoren das in dieser Klarheit reflektieren, zumal sie an anderer Stelle die Bedrohungsperspektive privilegieren).42 Die eigentliche Leistung des Kritikalitätskonzepts liegt in der Möglichkeit, zeitliche und räumliche Referenzen abzubilden, also: Infrastrukturen und ihre Bedeutung in Raum und Zeit aufgrund ihrer oben genannten Kausalbeziehungen zu kontextualisieren. Kontextualisierung ist eine der Kernaufgaben von Geschichtswissenschaft, daher ist das Kritikalitätskonzept auch so attraktiv. Kritikalität steigt oder sinkt im Zeitverlauf, etwa hinsichtlich sektoraler Vernetzung von unterschiedlichen Infrastrukturen (systembasierte Perspektive). Ein Beispiel wären Eisenbahn und Telegraphenkommunikation. Der kombinierte Bau von Schienen- und Telegraphentrassen ermöglichte im 19. Jahrhundert die Überwachung und das Einhalten der Fahrpläne, sowie eine rasche Reparatur der Telegraphenlinien mittels Schienenfahrzeugen.43 Beide Komponenten waren also wechselseitig hochgradig kritisch füreinander.

41 Misa, Thomas J./Schot, Johan: Inventing Europe. Technology and the Hidden Integration of Europe; in: History & Technology 21 (2005), S. 1–19. 42 Högselius/Vleuten/Hommels/Kaijser (Hrsg.): The Making; zur Orientierung an Vulnerabilität Högselius/Vleuten/Hommels/Kaijser: Europe‘s Infrastructure Vulnerabilities. 43 Vgl. Högselius, Per/Kaijser, Arne/Vleuten, Erik van der: Europe‘s Infrastructure Transition. Economy, War, Nature, Basingstoke 2015, S. 353.

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Bevor eigene Infrastrukturen für die Energieverteilung entstanden (Hochspannungsleitungen, Öl- und Gaspipelines) waren Verkehr und Energie eng miteinander gekoppelt. Die Verkehrsinfrastruktur war also in der ersten Phase der Industrialisierung besonders kritisch für die Energieversorgung (Kohlezeitalter), sank danach in ihrer Kritikalität bis zu einem Punkt, an dem einzelne Komponenten fast irrelevant geworden sind. Kritikalität hilft, räumliche Beziehungen zu erfassen. In der systembasierten Perspektive erlaubt es das Kritikalitätskonzept, die in der Geschichte immer wieder zu beobachtende Vernetzung von zunächst isolierten, insulär-regionalen Netzen zu beobachten. Mit seiner Hilfe kann man darstellen, zu welchem Zeitpunkt die Vernetzung gewissermaßen zur Systemgrundlage und damit kritisch wird. In vielen Fällen handelt es sich um eine Geschichte fortschreitender Integration: Im frühen 21. Jahrhundert sind spanische Teile des Stromnetzes für die Stabilität der Versorgung in Norddeutschland von höherer Relevanz als im frühen 20. Jahrhundert, als die Netze noch gar nicht integriert waren. Infrastrukturen wirken immer zugleich integrativ und ausschließend oder fragmentierend.44 Diese Aussage gilt räumlich im klassischen Sinn für den geographischen Raum, aber auch für den nicht-physikalischen Raum des Sozialen. Der Gesichtspunkt der Kritikalität kann nun bei der Beurteilung der Konsequenzen einer Exklusion helfen, im Sinne kritischer oder unkritischer Nichtanbindung. Der fehlende Anschluss einer Region oder einer sozialen Gruppe an eine bestimmte Infrastruktur kann Ausdruck von geringem Interesse wegen geringer Kritikalität dieser Infrastruktur für gesellschaftliche Ziele sein – so ist die Anbindung von Stadtteilen an Schwebebahnen weltweit wegen mangelnder Kritikalität dieser Infrastruktur insulär, da es in der Regel leistungsfähigere parallel dazu betriebene Systeme des Öffentlichen Personennahverkehrs gibt. Es kann sich aber auch um eine Art ‚kritische‘ Unterversorgung handeln, in der beispielsweise das aus Kostengründen knappe Gut ‚Trinkwasserversorgung‘ nur den Reichen zugutekommt, wie etwa in vielen Metropolen des globalen Südens. In bestimmten Fällen kann aber auch Verhinderung der Integration einer sozio-räumlichen

44 Engels, Jens Ivo: Infrastructure and Fragmentation. The Limits of the Integration Paradigm; in: Schiefelbusch, Martin/Dienel, Hans-Liudger (Hrsg.): Linking Networks. The Formation of Common Standards and Visions for Infrastructure Development, Farnham 2014, S. 19–33.

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Einheit an normalerweise als kritisch beurteilte Infrastrukturen einem sozialpolitischen Ziel dienen. Die berühmten niedrigen Brücken des Robert Moses sollten im frühen 20. Jahrhundert verhindern, dass der öffentliche Nahverkehr (Busse) nach Long Island bei New York ausgeweitet wurde. Ziel war es, dass möglichst keine Unterschichtsangehörigen aus der Innenstadt bis in die gepflegten Vorstädte vordrangen.45 Sozialpolitisch waren die Buslinien also in doppelter Hinsicht kritisch: Nur sie hätten es der einfachen Bevölkerung ermöglicht, bis zu den Sandstränden der Insel vorzudringen – durch ihre Verhinderung bewahrte man die soziale Homogenität der Region. Ihre Verhinderung war also kritisch für die Mittelklassenidylle an der Küste. Kritikalität ist ein dynamisches Konzept. Kritikalität kann, wie mehrfach ausgeführt, (auch) als Ermöglichungsbedingung verstanden werden. Dies kommt beispielsweise im konsequenzbasierten Ansatz zum Tragen, vor allem, wenn man die Perspektive umkehrt. In einem größeren Forschungsprojekt an der Universität Siegen wurde der Zusammenhang zwischen netzgebundenen Infrastrukturen einerseits sowie rechtlicher Integration und der Standardisierung von Normen über politische Grenzen hinweg untersucht.46 Dabei wurde letztlich eine kausale Wechselwirkung konstatiert, in der sowohl die technischen Systeme an einem bestimmten Punkt so kritisch wurden, dass sie Bemühungen um Standardisierungen nach sich zogen. Zum anderen aber wurde deutlich, dass Standardisierungen häufig die kritische Voraussetzung für eine Ausweitung infrastruktureller Versorgung darstellen.

45 Winner, Langdon: Do Artifacts have Politics?; in: MacKenzie, Donald/Wajcman, Judy (Hrsg.): The Social Shaping of Technology, Milton Keynes/Philadelphia 1985, S. 26–38; Kritik an Winners Interpretation bei Joerges, Bernward: Die Brücken des Robert Moses: Stille Post in der Stadt- und Techniksoziologie; in: Leviathan, 1 (1999), S. 43–63. Jorges’ Kritik zielt u.a. darauf, dass man dem Planer Robert Moses die unterstellten Intentionen nicht nachweisen könne. Mit dem analytischen Kritikalitätskonzept kann man dieses Problem umgehen: Hier kommt es nicht auf Intentionen, sondern auf Wirkungen an. 46 Ambrosius, Gerold/Heinrich-Franke, Christian: Integration von Infrastrukturen in Europa im historischen Vergleich. Band 1: Synopse, Baden-Baden 2013.

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Ebenfalls in der Ermöglichungsperspektive kritisch waren Energieinfrastrukturen für die Konservierung bestimmter Machtverhältnisse während der kolonial-postkolonialen Transition im subsaharischen Afrika. Mehrere größere Projekte für den Bau von Staudämmen mit Energieerzeugung und angeschlossener industrieller Entwicklung, begonnen während der Kolonialzeit, öffneten den mit dem Bau betrauten Unternehmen sowie internationalen Organisationen Zugang und Machtchancen über den Moment der Unabhängigkeit hinaus.47 Kritisch im Sinne der Bedrohungsperspektive waren diese Infrastrukturen aber auch, und zwar aus Sicht der neu entstehenden Staaten: Ein Verzicht hätte problematische wirtschaftliche Einbrüche mit sich gebracht und wegen Einnahmeverlusten deren finanzielle Handlungsmöglichkeiten zumindest bedroht. Mit dem Kritikalitätskonzept lassen sich in diesem Fall sowohl geographische, machträumliche also auch diachrone Beziehungen beschreiben.

ZUSAMMENFASSUNG Ziel des Artikels war der Versuch, das Konzept der Kritikalität für die geisteswissenschaftliche und insbesondere die historische Technikforschung auszuloten. Neben der Kritikalität als Ideologie, d.h. als gesellschaftliche Zuschreibung in einem meist politisch bestimmbaren Kontext, stand dabei vor allem die Frage im Mittelpunkt, ob Kritikalität auch als analytisches Konzept einen Mehrwert erbringen kann. Die Stärke des Konzepts liegt darin, sowohl materielle Vernetzungen als auch kausale Beziehungen einerseits zwischen Komponenten eines Systems, andererseits zwischen technischen Systemen und gesellschaftlichen Zielen abzubilden (systembasierte und konsequenzbasierte Perspektive). Dabei können die Dimensionen Raum und Zeit besonders plastisch hervorgehoben werden. Dazu gehört der geographisch-physische wie der abstrakte Raum etwa der Sozialbeziehungen. Dazu gehören relative Verschiebungen der Kritikalität in Zeitverläufen. Kritikalität, verstanden als Relevanz, sensibilisiert dafür, dass eine Referenz erforderlich ist (‚kritisch für wen oder was‘). Weniger überzeugend erscheint die Vorstellung, man könne mit einem Kritikalitätskonzept arbei47 Vgl. das Habilitationsprojekt von Birte Förster: Koloniale Machtspeicher. Britische und französische Infrastrukturprojekte in Afrika, 1920–1970.

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ten, das einen absoluten Schwellenwert (‚kritisch‘/‚unkritisch‘) abbildet. Stattdessen wird ein kasuistischer und vergleichender Ansatz präferiert, der mit den Kategorien ‚kritischer als‘/‚unkritischer als‘ operiert. Schließlich sollte neben der Bedrohungsperspektive auch das Potenzial eines Kritikalitätsbegriffs genutzt werden, der die Ermöglichungsdimension gleichberechtigt neben erstere stellt.

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„Kritische Infrastrukturen“ als Ergebnisse individueller und kollektiver Kritikalitätszumessungen – ein Ansatz für die Mediävistik? Gerrit Jasper Schenk, Stephanie Eifert

„Die künftige Infrastrukturgeschichte ist aufgerufen, ein methodisches Rüstzeug zu entwickeln [...].“1

DIE AUSGANGSFRAGEN Die Aufforderung von Engels und Obertreis aus dem Jahr 2007 lässt sich, mit Einschränkungen,2 auch heute noch vorbringen. Gerade im Bereich der Mediävistik sind bisher nur vereinzelt Bemühungen zu erkennen, die Infra-

1

Engels, Jens Ivo/Obertreis, Julia: Infrastrukturen in der Moderne. Einführung in ein junges Forschungsfeld. In: Saeculum 58, 1 (2007), S. 1–12, hier S. 4.

2

Im Bereich der Neueren und Neuesten Geschichte sind die Bemühungen zur Etablierung der Infrastruktur-Geschichte bereits sehr viel weiter fortgeschritten als in der Mediävistik. Einen Überblick hierzu bietet: Schröder, Lina: Der Rhein-(Maas-)Schelde-Kanal als geplante Infrastrukturzelle von 1946 bis 1986. Eine Studie zur Infrastruktur- und Netzwerk-Geschichte, Münster/New York 2017, S. 333–370.

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struktur-Geschichte (ISG)3 als geschichtswissenschaftliche Forschungsrichtung zu etablieren.4 Eine Ursache dafür liegt unserer Meinung nach in dem weitgehend fehlenden theoretischen Fundament dieser jungen Subdisziplin. Daher versuchen wir in diesem Beitrag zunächst den modernen Begriff der ‚Infrastruktur‘ für die Mediävistik nutzbar zu machen. Anschließend legen wir dar, ob und wie in den Quellen feststellbar ist, wann mittelalterliche Infrastrukturen in ihrer Bedeutung als ‚kritisch‘ für Gruppen und/oder Gesellschaften angesehen werden. Hier soll die individuelle und/oder kollektive Kritikalitätszumessung als ein dazu geeignetes Werkzeug vorgestellt werden. Sie macht nicht nur die Spezifität von Krisenphänomenen5 in den Quellen fassbar, sondern liefert auch einen Ansatz zur Untersuchung der Bedeutung, der Funktion und des Wandels von Infrastrukturen und leistet damit einen Beitrag zur Infrastrukturforschung. Die möglichen Überlieferungswege in den Quellen werden skizziert und mit Beispielen erläutert. Ferner soll versucht werden, ‚kritische Infrastrukturen‘ für die spätmittelalterliche Lebenswelt beschreibungssprachlich zu erfassen. Schließlich werden die theoretischen Überlegungen in den bisherigen Forschungsstand zur Kritikalität der Transport- und Verkehrswege eingebunden.6

3

Die von uns gewählte Schreibweise grenzt sich von der ‚Infra-Strukturgeschichte‘ Dirk von Laaks ab und folgt dabei der Argumentation von Lina Schröder, vgl. Schröder: Kanal, S. 13.

4

Hier ist vor allem die Monografie von Sascha Bütow anzuführen: Bütow, Sascha: Straßen im Fluss. Schifffahrt, Flussnutzung und der lange Wandel der Verkehrsinfrastruktur in der Mark Brandenburg und der Niederlausitz vom 13. bis zum 16. Jahrhundert, Berlin 2015.

5

Der Zusammenhang zwischen ‚kritisch‘ und ‚Kritikalität‘ bedarf einer ausführ-

6

Der Aufsatz ist das Ergebnis gemeinsamer Überlegungen von Gerrit Jasper

lichen Reflexion, welche im Abschnitt zur „Daseinsvorsorge“ erfolgt. Schenk und Stephanie Eifert. Schenk trägt vor allem die Ausführungen zum Infrastrukturbegriff, dessen Nutzen für die Mediävistik und zum Forschungsstand bei, vgl. dazu teilweise auch Schenk, Gerrit Jasper: ‚der straßen halb uff der Yll‘ Wasserwege im Elsass als ‚kritische Infrastruktur‘ für Wirtschaft und Gesellschaft (1350–1550), in: Andermann, Kurt/Gallion, Nina (Hrsg.): Weg und Steg. Aspekte des Verkehrswesens von der Spätantike bis zum Ende des Alten Reiches, Ostfildern 2018, S..121–152. Eifert stellt das im Rahmen ihrer Dissertation ent-

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‚INFRASTRUKTUREN‘ IM MITTELALTER – BEGRIFFSFRAGEN Der Begriff ‚Infrastruktur‘ ist ein sprachliches Kind des 19. Jahrhunderts und insofern bedarf seine Verwendung für die Untersuchung mittelalterlicher Phänomene kritischer Reflektion.7 Der Schwerpunkt der historischen Infrastrukturforschung liegt bezeichnenderweise auf dem 19. und 20. Jahrhundert.8 Lässt sich dieser Begriff beschreibungssprachlich also überhaupt für die Analyse mittelalterlicher Phänomene nutzen und welchen wissenschaftlichen Mehrwert hat seine Verwendung? Wie alle wissenschaftlichen Begriffe erleichtert dieser Terminus den Diskurs, sofern hinreichend klar ist, welche in der Regel komplexen Phänomene er kurz und knapp benennt. Als bereits eingeführter Forschungsbegriff erleichtert er außerdem die Zusammenführung von Ergebnissen etablierter älterer und zum Teil hoch spezialisierter Forschungsrichtungen. Dazu zählen z.B. die Altstraßenforschung, die Toponomastik, die Transportund Verkehrsgeschichte, die Unterwasserarchäologie, Wirtschafts- und Technikgeschichte und ihre Interpretation unter der fokussierenden Perspektive der Frage nach dem Charakter der jeweils zugrundeliegenden materiellen und soziokulturellen Struktur von Infrastrukturen.9 Doch was genau kann unter ‚Infrastruktur‘ im Allgemeinen und im Besonderen unter einer Transport- und Verkehrsinfrastruktur im Mittelalter verstanden werden? wickelte Konzept der Kritikalität vor und expliziert das Instrument der Kritikalitätszumessung als Ansatz für eine mittelalterliche Infrastrukturgeschichte. 7

Laak, Dirk van: Der Begriff „Infrastruktur“ und was er vor seiner Erfindung besagte, in: Archiv für Begriffsgeschichte 41 (1999), S. 280–299, hier: S. 280–282. In diesem Abschnitt stützen wir uns mehrfach auf gemeinsame Überlegungen im Kreis der Antragsteller des Darmstädter Graduiertenkollegs 2222 der Deutschen Forschungsgemeinschaft „KRITIS – Kritische Infrastrukturen. Konstruktion, Funktionskrisen und Schutz in Städten“, vgl. http://www.kritis.tu-darm stadt.de (Stand 20.02.2018), ohne dies jeweils im Einzelnen zu kennzeichnen.

8

Forschungsüberblick: Zur Entwicklung der Infrastrukturgeschichte vgl. Engels, Jens Ivo: Machtfragen. Aktuelle Entwicklungen und Perspektiven der Infrastrukturgeschichte, in: Neue Politische Literatur 55 (2010), S. 51–70; vgl. zuletzt Schröder: Kanal.

9

Dazu ausführlicher im Abschnitt „Bemerkungen zum Forschungsstand“.

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Mit Dirk van Laak können Infrastrukturen als kollektive Medien der Subsistenz charakterisiert werden, die sich zwischen ‚Mensch‘ und ‚Natur‘ befinden.10 Sie dienen häufig der privaten und öffentlichen Daseinsvorsorge, in unserem Fall dem Transport von Menschen, Gütern und Informationen.11 Immer sind sie das Resultat langer Prozesse, umfassen aber nicht nur materielle Erscheinungen, sondern auch soziokulturelle Praktiken und kognitive Prozesse. Infrastrukturen stellen Schnittstellen zwischen Gesellschaft und Natur dar, die Individuum und Kollektiv, Materie und Wissen, Ressourcen und Produktion miteinander wechselwirken lassen. Der Bau bestimmter Infrastrukturen, z.B. von Kanälen mit Dämmen, setzt nicht nur politische Entscheidungen voraus, sondern macht auch erhebliche wirtschaftliche Anstrengungen erforderlich, nötigt zu Folgeentscheidungen und gibt oftmals einen Entwicklungspfad vor, der nicht mehr ohne Folgen verlassen werden kann. In der Technikgeschichte spricht man in vergleichbaren Fällen von der Pfadabhängigkeit einer Entwicklung in Raum und Zeit – Infrastrukturen

10 Vgl. Laak: Begriff, S. 290f.; eine engere, auf die Verhältnisse der Moderne zugeschnittene Definition findet sich bei Hermes, Georg: Staatliche Infrastrukturverantwortung. Rechtliche Grundstrukturen netzgebundener Transport- und Übertragungssysteme zwischen Daseinsvorsorge und Wettbewerbsregulierung am Beispiel der leitungsgebundenen Energieversorgung in Europa, Tübingen 1998, S. 168. Zur Entwicklung der Infrastrukturgeschichte vgl. Engels: Machtfragen, und, bezogen auf Wasser-Infrastrukturen, Engels, Jens Ivo/Schenk, Gerrit Jasper: Macht der Infrastrukturen – Infrastrukturen der Macht. Überlegungen zu einem Forschungsfeld, in: Förster, Birte/Bauch, Martin (Hrsg.): Wasserinfrastrukturen und Macht. Politisch-soziale Dimensionen technischer Systeme von der Antike bis zur Gegenwart, München 2014, S. 22–58, hier: S. 23f., 40f. ‚Mensch‘ und ‚Natur‘ werden hier als Idealtypen für eine Heuristik verstanden und sind kein Versuch einer Ontologisierung oder ein Plädoyer für eine dichotomische Weltsicht. 11 Vgl. Vec, Miloš: Artikel „Daseinsvorsorge“, in: Cordes, Albrecht/Lück, Heiner/Werkmüller, Dieter (Hrsg.): Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte 1, Berlin 2008, S. 933–935; ferner vgl. Riegel, Christoph: Die Berücksichtigung des Schutzes kritischer Infrastruktur in der Raumplanung. Zum Stellenwert des KRITIS-Grundsatzes im Raumordnungsgesetz, Dissertation Aachen 2015, S. 7–9.

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sind daher Phänomene der longue durée.12 Meist handelt es sich bei Infrastrukturen um netzwerkartige, komplexe Systeme, die wegen ihrer materiellen Persistenz Konstellationen und Entscheidungen der Vergangenheit gleichsam speichern, Eigendynamiken entwickeln und dadurch Macht auf die jeweilige Gegenwart ausüben.13 Allerdings ist die Frage, ob ein wechselseitiger Zusammenhang zwischen einer bestimmten Gesellschaftsstruktur, einer spezifischen Infrastruktur und besonderen Kulturlandschaft besteht, viel diskutiert und bleibt umstritten – die von Karl August Wittfogel geprägten Begriffe ‚Dammbaugesellschaft‘ und ‚hydraulische Gesellschaft‘ stehen für diese Auffassung.14 In jedem Fall ist die materielle Ausformung von Infrastrukturen von den sozialen Gruppen abhängig, die sie erbauen, betreiben und nutzen: Wie wird der Bau von Kanälen, Hafenanlagen und Kränen finanziert – auf private Initiative, mit frommen Stiftungen, durch Zolleinnahmen oder Abgaben, die von den Anwohnern eingetrieben werden, oder durch allgemeine Steuern? Auch die Planer, Erbauer und Betreiber gehören demnach zu einer Transport- und Verkehrsinfrastruktur. Am Beispiel einer wassergebunde-

12 Zum Konzept vgl. Werle, Raymund: Pfadabhängigkeit, in: Benz, Arthur et al. (Hrsg.): Handbuch Governance. Theoretische Grundlagen und empirische Anwendungsfelder, Wiesbaden 2007, S. 119–131. 13 Vgl. Engels: Machtfragen, S. 64–67; vgl. Engels/Schenk: Macht, S. 24–26 und S. 44, vor allem auch zur Frage der spezifischen ‚Macht‘ von Infrastrukturen. 14 Vgl. Wittfogel, Karl August: Oriental Despotism. A Comparative Study of Total Power, New Haven 1959, besonders S. 26f.; zur Kritik an Wittfogel vgl. z.B. Breuer, Stefan: Max Webers Herrschaftssoziologie, Frankfurt am Main 1991, S. 110f.; Witzens, Udo: Kritik der Thesen Karl A. Wittfogels über den „hydraulischen Despotismus“ mit besonderer Berücksichtigung des historischen singhalesischen Theravāda-Buddhismus, Dissertation Heidelberg 2000; Price, David H.: Wittfogel’s Neglected Hydraulic/Hydroagricultural Distinction, in: Journal of Anthropological Research 50 (1997), S. 194–204, hier: S. 192–198, macht zu Recht darauf aufmerksam, dass die Kritiker häufig Wittfogels Differenzierung in ‚hydroagricultural‘ und ‚hydraulic society‘ übersehen. Vgl. ferner den Vorschlag von Dam, Petra van: An Amphibious Culture. Coping with Floods in the Netherlands, in: Coates, Peter/Moon, David/Warde, Paul (Hrsg.): Local Places, Global Processes. Histories of Environmental Change in Britain and Beyond, Oxford 2017, S. 78–93.

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nen Verkehrs- und Transportinfrastruktur wäre etwa vom Ingenieur (einem Beruf, der sich erst im Spätmittelalter ausbildete15) über den Schiffer bis zum Hafenarbeiter und Zöllner zu denken. Folglich sind auch Berufszweige wie Fährmann, Kranführer und Dammbaumeister eine Komponente von Infrastrukturen als komplexe Systeme. Auch der mit der Ausbildung dieser Spezialisten verbundene Kosmos von theoretischen und praktischen Kenntnissen bis hin zum in den Quellen schlecht fassbaren „tacit knowledge“ der Zeitgenossen16 gehört zur Infrastruktur als soziokulturellem System: Wie treidelt man effizient, wie wird ein Damm gegen Erosion geschützt? Diese spezifischen Kulturpraktiken können zu einer spezialisierten Gesetzgebung, zu einer bestimmten Praxis der Rechtsprechung, eventuell zur Institutionalisierung von Verfahren und der Ausbildung von Körperschaften führen: Wer prüft die errichteten Bauten, wer haftet bei Unfällen, wer entscheidet Streitfälle? Wer kassiert Gebühren, kontrolliert das Be- und Entladen von Schiffen und sorgt für Sicherheit im Hafen? Aushandlungsprozesse und Konflikte gehören zur Geschichte der Infrastruktur und könnten daher eine Grundlage für das Erforschen auch von mittelalterlichen Infrastrukturen liefern. Eine wassergebundene Transport- und Verkehrsinfrastruktur im Mittelalter besteht nicht nur aus festen und beweglichen materiellen Artefakten wie Kanälen, Dämmen, Wehren und Schiffen, sondern auch aus immateriellen Faktoren. Dies sind individuelle und kollektive soziale und kognitive Praktiken wie die Tätigkeit von Spezialisten im Wasserbau und die Refle-

15 Vgl. Popplow, Marcus: Unsichere Karrieren. Ingenieure in Mittelalter und Früher Neuzeit 500–1750, in: Kaiser, Walter/König, Wolfgang (Hrsg.): Geschichte des Ingenieurs. Ein Beruf in sechs Jahrtausenden, München 2006, S. 71–125; allgemein die Beiträge in Arnoux, Mathieu/Monnet, Pierre (Hrsg.): Le technicien dans la cité en Europe occidentale 1250–1650, Rom 2004. 16 Mit Blick auf die spezifisch mittelalterliche, in geringerem Maße auf Schriftlichkeit und institutionell gebundener Formalisierung beruhende Wissensvermittlung soll davon ausgegangen werden, dass z.B. zünftisch gebundenes, nur oral und durch Nachahmung vermitteltes handwerkliches Können eine größere Rolle als heute spielte. Zur Kritik und Differenzierung des Konzepts nach Michael Polanyi vgl. Petersen, Sonja: Vom „Schwachstarktastenkasten“ und seinen Fabrikanten. Wissensräume und Klavierbau 1830–1930, Münster 2011, S. 14–20.

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xion und Kommunikation über den mit dem Bau, Unterhalt und Umgang mit wasserbaulicher Infrastruktur verbundenen Tätigkeiten. Typischerweise gibt es Wechselwirkungen zwischen den materiellen und immateriellen Komponenten von Infrastrukturen, wenn z.B. der Unterhalt von Dämmen regelmäßige Kontrollen und Ausbesserungsarbeiten erforderlich macht und umgekehrt Dammbauspezialisten das infrastrukturelle System verbessern und ausbauen. Wegen der Notwendigkeit, diese Arbeiten gesellschaftlich zu organisieren, führen diese Wechselwirkungen auf die Dauer zu spezifischen Ordnungskonfigurationen.17 Diese formalisierten Strukturen müssen nicht notwendigerweise Institutionen wie städtische Verwaltungen oder Genossenschaften wie Zünfte sein, sondern es kann sich auch um traditionsgebundene, ungeschriebene Verhaltensformen oder um ein auf praktische Erfahrungen gegründetes lokales Wissen handeln.18 Immer jedoch weisen Infrastrukturen durch dieses Wirkungsgefüge materieller, sozialer und kognitiver Faktoren einen systemhaften Charakter auf, der sich netzwerkartig im Raum erstreckt. Die Transport- und Verkehrsinfrastruktur des Mittelalters besteht folglich aus einem mehr oder weniger komplexen System dreier Komponenten, die den Raum netzwerkartig erschließen: Erstens aus einer (festen wie beweglichen) materiellen Struktur, zweitens aus soziokulturellen Praktiken (und ihren Trägergruppen) und drittens aus kognitiven Faktoren wie spezifischen Ordnungskonfigurationen (Deutungen und Vorstellungen von der Infrastruktur).

17 Zum Konzept vgl. Schneidmüller, Bernd/Weinfurter, Stefan: Ordnungskonfigurationen. Die Erprobung eines Forschungsdesigns, in: Schneidmüller, Bernd/ Weinfurter, Stefan: (Hrsg.): Ordnungskonfigurationen im hohen Mittelalter, Ostfildern 2006, S. 7–18. 18 Zum lokalem Wissen, das eher Untersuchungsobjekt des Ethnologen als des Historikers ist, vgl. z.B. Dekens, Julie: Local knowledge for disaster preparedness. A literature review, Kathmandu 2007.

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Diese Beschreibung in definitorischer Absicht zeigt, dass eine Infrastruktur immer ein Kompositum ist, das mehr darstellt als die Summe seiner Teile.19 Um Teil und Ganzes analytisch auseinanderhalten zu können, schlagen wir vor, zum einen das Ganze – die spezifische Infrastruktur – nach dem aus analytischer Sicht überwiegenden Zweck der Infrastruktur zu bezeichnen, in unserem Fall also „Transport- und Versorgungs-Infrastruktur“. Die einzelnen Elemente – Straßen, Brücken, Wasserwege, Hafenanlagen usw. – gehören zu dieser Infrastruktur, sind aber nicht mit ihr als systemisches Ganzes identisch. Natürlich gibt es auch hierbei Unschärfen. So können von einer Transport- und Versorgungsinfrastruktur neben Menschen und Gütern etwa auch Informationen von A nach B transportiert werden; dennoch möchten wir, wenigstens in der Vormoderne, nur dann von einer spezifischen Informations-Infrastruktur sprechen, wenn die systemartige Struktur auf die Übermittlung von Informationen spezialisiert ist und allein dieser Aspekt untersucht wird, z.B. die Organisation und Struktur der frühen Thurn und Taxis-Post,20 die einen Teil der Transport- und Versorgungsinfrastruktur nutzte, zum Teil aber über diese herausgriff. Hier handelt es sich nicht um Teil und Ganzes, sondern um zwei im Auge des Betrachters unterschiedliche Infrastrukturen, die sich einzelne Elemente teilen und sich insofern wie Schnittmengen zueinander verhalten. Untersuchungen bedürfen also immer der größtmöglichen Konkretion,21 indem die spezifische Infrastruktur in ihren einzelnen Elementen, mit ihrem systemischen Zusammenwirken und ihren Grenzen möglichst genau beschrieben wird.

19 Zum Erkenntnisproblem vgl. Oexle, Otto Gerhard: „Der Teil und das Ganze“ als Problem geschichtswissenschaftlicher Erkenntnis. Ein historisch-typologischer Versuch, in: Acham, Karl/Schulze, Winfried (Hrsg.): Teil und Ganzes. Zum Verhältnis von Einzel- und Gesamtanalyse in Geschichts- und Sozialwissenschaften, München 1990, S. 348–383, hier: S. 374–383. 20 Vgl. allgemein Behringer, Wolfgang: Thurn und Taxis. Die Geschichte ihrer Post und ihrer Unternehmungen, München 1990, S. 13–74. 21 Vgl. Pohlig, Matthias: Vom Besonderen zum Allgemeinen? Die Fallstudie als geschichtstheoretisches Problem, in: Historische Zeitschrift 297 (2013), S. 297– 319.

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DASEINSVORSORGE: INDIVIDUELLE UND KOLLEKTIVE KRITIKALITÄTSZUMESSUNGEN ALS VIELSEITIGES ANALYSEINSTRUMENT In Anlehnung an die Auffassung von Miloš Vec dienen Infrastrukturen „der privaten und öffentlichen Daseinsvorsorge“22, in unserem Fall dem Transport von Menschen, Gütern und Informationen. Eine Funktion von Infrastrukturen ist demnach die Versorgung einer Gesellschaft. Durch die unterschiedlichen Bedürfnisse einer (zum Beispiel städtischen) Gesellschaft entsteht eine Hierarchisierung der benötigten Infrastrukturen, da bestimmte Güter eher benötigt werden als andere.23 Aus der Perspektive von Mediävisten können wir jedoch nicht mit dem modernen Konzept der Daseinsvorsorge durch staatliche Fürsorge argumentieren. Dies scheitert bereits am Adjektiv ‚staatlich‘,24 ist methodisch aber auch aus anderen Gründen schwierig.25 Für das späte Mittelalter ist immerhin nachweisbar, dass die Zeitgenossen eine Vorstellung davon hat-

22 Vec: Daseinsvorsorge, S. 933. 23 Demnach könnte man in Anlehnung an marxistische Terminologie Infrastruktur(en) auch als gesellschaftlichen Unterbau und als Grundlage wirtschaftlicher Prosperität bezeichnen, so Schröder: Kanal, S. 16. 24 Zu den Begriffen ‚Staat‘ und ‚Staatlichkeit‘ gab es innerhalb der Mediävistik eine langanhaltende Forschungsdebatte. Inzwischen ist es üblich, diese Begriffe durch andere zu ersetzen oder die semantische Differenz durch das Setzen von Anführungszeichen zu markieren, da zu wenig Gemeinsamkeiten mit dem modernen Staatsbegriff existieren. Zuletzt dazu: Wihoda, Martin: ‚Stát‘ a ‚státnost‘ evropského stredoveku v souradnicich historického myšleni [‚Staat‘ und ‚Staatlichkeit‘ im europäischen Mittelalter als Problem der kritischen Geschichtsschreibung], in: Acta historica et museologica Universitatis Silesianae Opaviensis 7 (2007), S. 29–37. 25 Grundsätzlich ist es methodisch nicht einfach, neuzeitliche Begriffe ins Mittelalter zu übertragen. In diesem Fall hat das moderne Verständnis des Begriffes ‚(soziale) Sicherheit‘ einen viel größeren Konnotationsbereich als die mittelalterliche Vorstellung von ‚securitas‘. Zum modernen Begriff vgl. Kaufmann, Franz Xaver: Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches System, Stuttgart 1973.

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ten, was eine ‚gute Herrschaft‘ umfassen sollte. Diese erstreckte sich auch auf lokale und regionale Führungsgruppen. ‚Gute Herrschaft‘ war ein Konglomerat aus verschiedenen Primär- und Sekundärtugenden, welche zwar antike Wurzeln, jedoch theologische und juristische Umdeutungen erlebt hatte.26 Eine der Anforderungen an eine ‚gute Herrschaft‘ stellte die Wahrung oder Herstellung von ‚securitas‘ dar, was im zeitgenössischen Verständnis auch die Versorgung der Bevölkerung und die Verhütung von sozialen und natürlichen Gefahren umfassen konnte.27 Die Ansprüche an eine ‚gute Herrschaft‘ nach spätmittelalterlichem Verständnis ähneln insofern einigen Konnotationen des modernen Infrastrukturbegriffs, zum Beispiel hinsichtlich der erwünschten Wirkung von Infrastrukturen (wie eben wirtschaftlicher Nutzen und soziale Sicherheit).28 In der (gruppenspezifischen) Deutung des Nutzens bestimmter Infrastruktu-

26 Schenk analysierte die verschiedenen Aspekte der ‚guten Herrschaft‘ exemplarisch am Fresko von Ambrogio Lorenzetti an der nördlichen Wand der Regierungshalle in Siena, vgl. Schenk, Gerrit Jasper: Human Security in the Renaissance? Securitas, Infrastructures, Collective Goods and Natural Hazards in the Tuscany and the Upper Rhine Valley, in: Historical Social Research 35 (2010), S. 209–233. Zur Differenzierung der Begriffe des ‚Gemeinwohls‘ und des ‚gemeinen Nutzens‘ vgl. Eberhard, Winfried: Der Legitimationsbegriff des ‚gemeinen Nutzens‘ im Streit zwischen Herrschaft und Genossenschaft im Spätmittelalter, in: Fichte, Joerg et al. (Hrsg.): Zusammenhänge, Einflüsse, Wirkungen. Kongressakten zum ersten Symposium des Mediävistenverbandes in Tübingen 1984, Berlin/New York 1986, S. 209–233. 27 Vgl. Schenk: Security, 2010, S. 217. Auch bei der Versorgung der Bevölkerung darf nicht mit heutigen Vorstellungen gearbeitet werden, die soziale Exklusion bestimmter sozialer Gruppen stellte durchaus ein Problem dar, wie Christian Jörg feststellte; vgl. Jörg: Hunger, S. 32f. Vgl. hierzu auch Schubert, Ernst: ‚Hausarme Leute‘ und ‚starke Bettler‘. Einschränkungen und Umformungen des Almosengedankens um 1400 und um 1500, in: Oexle, Otto G. (Hrsg.): Armut im Mittelalter, Ostfildern 2004, S. 283–347; Simon-Muscheid, Katharina: Die Stadt als temporärer Zufluchtsort. Flüchtlinge und Flüchtlingspolitik im 15. Jahrhundert, in: Gilomen, Hans-Jörg et al. (Hrsg.): Migration in Städte. Anschluss – Assimilierung – Integration – Multikulturalität, Zürich 2000, S. 57–76. 28 Vgl. Laak, Dirk van: Infra-Strukturgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft für historische Sozialwissenschaften 27 (2001), S. 367–393, hier: S. 367.

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ren für die gesellschaftliche Versorgung liegt also die eine, in deren enger und wechselseitiger Beziehung zum gesellschaftlichen Machtgefüge die andere Gemeinsamkeit zwischen Vormoderne und Moderne.29 Christian Jörg konnte in seiner Dissertation zeigen, dass im Spätmittelalter die Erwartungen an den städtischen Rat als Führungsgruppe hinsichtlich der Wahrung der ‚securitas‘ nicht nur anstiegen, sondern dass dessen Fähigkeit zur Versorgung der Bevölkerung eine wichtige Grundlage für die eigene Legitimation darstellte, da man sich des Zusammenhangs zwischen städtischen Unruhen und mangelnder Versorgung bewusst war.30 Daher ist es nicht verwunderlich, dass gerade in Zeiten von drohendem Mangel und Versorgungsengpässen der städtische Rat31 oftmals als ‚Krisenmanager‘32

29 Zum Zusammenhang von Macht und Infrastrukturen vgl. Engels/Schenk: Macht. 30 Vgl. Jörg: Hunger, S. 179–180. Christian Jörg verwendet zwar den Begriff der ‚securitas‘ nicht, nutzt aber die gleichen Attribute wie Schenk. 31 Da die folgenden Beispiele aus dem städtischen Kontext stammen, nehmen wir bereits jetzt eine thematische Verengung in Bezug auf die zu berücksichtigenden Führungsgruppen vor. Diese Einschränkung ist jedoch auch methodisch notwendig, da bisherige Studien zu spätmittelalterlichen Krisenphänomenen und deren Bewältigung sich hauptsächlich auf den urbanen Raum beziehen, vgl. (in Auswahl): Jörg: Hunger; Moeller, Katrin: Die Krise ‚mittleren‘ Typs? Ein Plädoyer für individualspezifische Ansätze in der wirtschaftshistorischen Krisenforschung vormoderner Gesellschaften am Beispiel der Stadt Halle, in: Adamczyk, Dariusz/Lehnstaedt, Stephan (Hrsg.): Wirtschaftskrisen als Wendepunkte. Ursachen, Folgen und historische Einordnungen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Osnabrück 2015, S. 185–214; Küntzel, Thomas: Krise oder Blütezeit? Das 15./16. Jahrhundert in Bruchsal, in: Denkmalpflege in BadenWürttemberg NF 39 (2010), S. 219–223; Richard, Olivier: Der Regensburger Stadtrat im 15. Jahrhundert. Eine Oligarchie während der Krise (mit Ratslisten), in: Verhandlungen des Historischen Vereins für Oberpfalz und Regensburg 148 (2008), S. 7–35. 32 Der Begriff ist den Gedanken von Ansgar Nünning entlehnt und wird im nächsten Abschnitt tiefergehend reflektiert, vgl. Nünning, Ansgar: Grundzüge einer Narratologie der Krise. Wie aus einer Situation ein Plot und eine Krise (konstruiert) werden, in: Grunwald, Henning (Hrsg.): Krisis! Krisenszenarien, Diagnosen und Diskursstrategie, Münden 2007, S. 48–71, hier: S. 64.

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fungierte und entsprechend seinen Befugnissen verschiedene Ordnungen bzw. Erlasse verabschiedete, welche die Not mildern sollten.33 Auch wenn die Zeitläufe die Überlieferung ausgedünnt haben, sind es diese normativen Quellen, welche den Hauptbestand für heutzutage arbeitende Mediävisten bieten.34 Der Anstieg der Überlieferung ab dem späten Mittelalter wird in der Forschung gemeinhin als Resultat der komplexer werdenden Verwaltungstätigkeit beschrieben. Zumeist vernachlässigt wird der Umstand, dass die verschiedenen, oftmals schnell aufeinanderfolgenden Krisen des Spätmittelalters35 diese Verwaltung erst notwendig gemacht haben. Die normativen Quellen können als Ergebnisse von Aushandlungsprozessen angesehen werden, welche Rechte und/oder Besitz aushandeln und festschreiben (sollen). In gleicher Weise konnten Restriktionen formuliert werden, welche die Versorgung der Stadtbevölkerung auf Kosten des Gewinns Einzelner (städtischer Gruppen) gewährleisten sollten, wie beispielsweise bei der Festlegung von Brotgewichten oder Brotpreisen.36 Gerade der Prozess der Versorgung und die damit in einem engen Zusammenhang stehenden Gewerbe sind für eine Infrastruktur-Geschichte des Mittelalters von besonderer Bedeutung, da sie direkte Anknüpfungspunkte bieten, um ein Versorgungs- und Transportnetzwerk zu rekonstruieren, welches auf einem etablierten Zusammenspiel der oben erläuterten Komponenten beruht. Daher sind es diese Aushandlungsprozesse, welche einen Zugang zu einer mittelalterlichen ISG bilden können.37 Im Folgenden soll versucht werden, diesen Zugang mit dem von der Forschung bisher wenig beachteten Konzept der Kritikalität zu verbinden. Ziel ist es, Wertigkeiten in der Wahrnehmung der Zeitgenossen zu entdecken, die Hierarchien innerhalb der Versorgungsstruktur offenbaren. Durch das Heranziehen von Parallelquellen könnte es so gelingen, zum einen Krisenphänomene des

33 Einen Überblick dazu bietet Jörg: Hunger, S. 178–317. 34 Zur Überlieferung des Mittelalters und der damit verbundenen Selektion vgl. Esch, Arnold: Überlieferungs-Zufall als methodisches Problem des Historikers, in: Historische Zeitschrift 240 (1985), S. 529–570. 35 Hierüber existieren in der Forschung verschiedene Auffassungen, zuletzt dazu sehr ausführlich Jörg: Hunger, S. 48–55. 36 Ebd., S. 30. 37 Weiter unten wird dargelegt, dass nicht nur die normativen Quellen für einen solchen Ansatz nutzbar gemacht werden können.

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späten Mittelalters besser zu verstehen und zum anderen wichtige Infrastrukturelemente zu entdecken und zu systematisieren.38 Begriff und Konzept der Kritikalität39 leiten sich von der Übersetzung des in den USA eingeführten Begriffspaares ‚critical infrastructure‘ ab40. Sara Bouchon und Jan Metzger konnten beide nachweisen, dass ‚kritisch‘ in der Zuordnung zu einer Infrastruktur meist unreflektiert und ohne Rekurs auf eine Definition verwendet wird. Beide Forscher zeigen verschiedene Konnotationen bzw. Verwendungen des Begriffes auf.41 Allen gemein ist, dass sie beschreibungssprachlich mit (potentiellen) Krisenphänomenen einhergehen.42 Diese Überlappung bestätigt sich durch einen Blick in die sprachspezifischen Wörterbücher. So findet sich im Oxford Dictionary zu ‚critical‘ u. a. folgende Erklärung: „of a situation (or problem) having the

38 Das Heranziehen von Parallelquellen ist auch wegen der Quellenkritik unerlässlich. Die von Stephanie Eifert geplante Dissertation wird sich daher in einem besonderen Maß den möglichen Quellen für eine ISG des Mittelalters widmen, um den Ansatz von Sascha Bütow weiterzuentwickeln, vgl. Bütow: Straßen. 39 An dieser Stelle dankt Stephanie Eifert ihrem ehemaligen Kollegen Kristof Lukitsch herzlich für sein geistiges Input bei der Auseinandersetzung mit dem Begriff der ‚Kritikalität‘, das maßgeblich zur Entwicklung des vorliegenden Konzepts beigetragen hat. 40 Der Begriff wird seit dem Jahr 1996 von der US-Regierung genutzt, um besonders schützenswerte Infrastrukturen hervorzuheben. Vgl. Fekete, Alexander: Schlüsselbegriffe im Bevölkerungsschutz zur Untersuchung der Bedeutsamkeit von Infrastrukturen – von Gefährdung und Kritikalität zu Resilienz & persönlichen Infrastrukturen, in: Unger, Christoph/Mitschke, Thomas/Freudenberg, Dirk (Hrsg.): Krisenmanagement? Notfallplanung? Bevölkerungsschutz. Festschrift anlässlich 60 Jahre Ausbildung im Bevölkerungsschutz, Berlin 2013, S. 327– 340, hier: S. 327. 41 Vgl. Bouchon, Sara: The Vulnerability of Interdependent Critical Infrastructure Systems. Epistemological and Conceptual State-of-the-Art, Ispra 2006, S. 38; vgl. Metzger, Jan: Das Konzept „Schutz kritischer Infrastrukturen“ hinterfragt, in: Bulletin zur schweizerischen Sicherheitspolitik (2004), S. 78–85, hier: S. 77– 78. 42 Diesen Zusammenhang stellte auch Jan Metzger fest, vgl. Metzger: Konzept, S. 78.

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potential to become disastrous; at a point of crisis“43 und im Duden findet sich die Formulierung: „eine Wende ankündigend; entscheidend für eine [gefährliche] Entwicklung.“44 Beide Einträge offenbaren die beschreibungssprachliche Nähe zur ‚Krise‘, jedenfalls im einstigen Sinn des Terminus, welcher aufgrund seiner medialen Allgegenwärtigkeit jedoch immer mehr in Vergessenheit gerät.45 Ursprünglich ein Begriff aus der griechischen Antike, der (unter anderem) im medizinischen Bereich den Moment im Krankheitsverlauf eines Patienten beschreibt, an dem die Prognose sowohl die Genesung als auch den Tod als Möglichkeit umfasst, fand der Terminus erst seit dem späten 18. Jahrhundert Eingang in die deutsche Alltagssprache.46 Von Reinhard Koselleck als „punktuelle Umschlagssituation“47 bezeichnet und in der Historiographie als Instrument zur Strukturierung der Vergangenheit genutzt,48 wenden sich jüngere Forschungen immer mehr davon ab, die ‚Krise‘ als eine rein analytische Kategorie aus der Perspektive des später reflektierenden Historikers zu betrachten. Vielmehr versucht man nun die ‚Krise‘ „als eine Kategorie der Selbstbeobachtung in bestimmten historischen Situationen“49 zu verstehen. Demnach ist die ‚Krise‘ ein Konstrukt, welches aus singulä-

43 Oxford Dictionaries: Artikel „critical“, online verfügbar unter: https://en.oxford dictionaries.com/definition/critical [Stand 20.02.2018]. 44 Duden: Artikel „kritisch“, online verfügbar unter: http://www.duden.de/recht schreibung/kritisch [Stand 20.02.2018]. 45 Vgl. Schlögl, Rudolf: ‚Krise‘ als historische Form der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung. Eine Einleitung, in: Schlögl, Rudolf/ Hoffmann-Rehnitz, Philip R./Wiebel, Eva (Hrsg.): Die Krise in der Frühen Neuzeit, Göttingen 2016, S. 9– 32, hier: S. 10; vgl. Nünning: Narratologie, S. 49. 46 Vgl. Koselleck, Reinhart: Artikel „Krise“, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 3, Stuttgart 1982, S. 617–650, hier: S. 617. 47 Ebd., S. 633. 48 Vgl. Schlögl: Krise, S. 29; ähnlich auch bei Meyer, Carla/Patzel-Mattern, Katja/ Schenk, Gerrit Jasper: Krisengeschichte(n). Eine Einleitung, in: Meyer, Carla/ Patzl-Mattern, Katja/Schenk, Gerrit Jasper (Hrsg.): Krisengeschichte(n). „Krise“ als Leitbegriff und Erzählmuster in kulturwissenschaftlicher Perspektive, Stuttgart 2013, S. 9–24, hier: S. 12. 49 Schlögl: Krise, S. 9.

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ren bzw. kollektiven Wahrnehmungen resultiert,50 was dazu führt, Krisen als ein beobachter- und perspektivenabhängiges Wahrnehmungs- und Deutungsphänomen zu bezeichnen.51 Dieses Verständnis vorausgesetzt, ist es ebenso elementar, den prozessualen Charakter52 der Krise zu berücksichtigen: Ein Geschehen oder Ereignis53 wird erst dann zur Krise, wenn entsprechende Akteure diese diagnostizieren. Die Krisendiagnose ist demnach ein beobachtbarer Befund, der ein Urteil über den potentiellen Verlauf der Ereignisse impliziert.54 Da die Prognose negativ ausfallen kann, entsteht ein Handlungs- und Entscheidungsbedarf.55 Die Qualität der Krisendiagnose und des sich daran anschließenden Krisenmanagements entscheiden dann über den Erfolg der Krisenbewältigung. Für den Rückbezug zur Kritikalität ist der Aspekt der Krisendiagnose elementar. Es müssen Faktoren bzw. Attribute existieren, welche ein Geschehen oder ein Ereignis aus der Normalität herausheben, um diese als potentiell ‚krisenhaft‘ oder ‚kritisch‘ deuten zu können.56 Den Faktoren oder Attributen wird durch den Beobachter eine „spezifische[...] Bedeutsamkeit in Bezug auf die Konsequenzen mit der Verbindung zu gesellschaftlichen

50 Vgl. Schlögl: Krise, S. 11; vgl. Meyer et al.: Einleitung, S. 10. 51 Vgl. Nünning, Ansgar: Krise als Erzählung und Metapher. Literaturwissenschaftliche Bausteine für eine Metaphorologie und Narratologie der Krisen, in: Meyer et al.: Krisengeschichte(n), S. 117–134, hier: S. 130. Dieser Aufsatz stellt nach Nünning eine Aktualisierung des Aufsatzes Nünning: Narratologie von 2007 dar. Daher wird dieser nur zitiert, wenn es sich um Gedanken oder Thesen handelt, welche im vorherigen nicht anzufinden sind. Vgl. ferner die Beiträge im Sammelband von Helga Scholten: Scholten, Helga (Hrsg.): Die Wahrnehmung von Krisenphänomenen. Fallbeispiele von der Antike bis in die Neuzeit, Köln/Weimar 2007. 52 Vgl. Schlögl: Krise, S. 11; vgl. Nünning: Narratologie, S. 51. 53 Nünning weist zurecht auf die Diskussion der Begriffe Geschehen und Ereignis hin, daher an dieser Stelle die Differenzierung, vgl. Nünning: Narratologie, S. 55–57. 54 Vgl. Meyer et al.: Einleitung, S. 10. 55 Vgl. Schlögl: Krise, S. 9. 56 Vgl. Nünning: Narratologie, S. 63.

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Werten wie Versorgungssicherheit [...]“57 zugewiesen. Diese Definition zur Beschreibung der Kritikalität nach Fekete kann ebenso dafür genutzt werden, den Prozess bis zum Zeitpunkt der Krisendiagnose zu beschreiben. Der abstrakte Begriff der ‚Kritikalität‘, der alle möglichen Faktoren subsummiert, kann jedoch nicht uneingeschränkt auf den Vorgang angewendet werden. Man könnte eher von einer individuellen bzw. kollektiven Kritikalitätszumessung sprechen. Somit würde auch der subjektive und konstruierende Charakter des Wahrnehmungsprozesses unterstrichen werden. Der Zeitpunkt des Erkennens einer potentiell bedrohlichen Lage stellt also zum einen eine Krisendiagnose dar, welcher aus der Kritikalitätszumessung resultiert, und zum anderen handelt es sich, nach Reinhart Koselleck, um eine als solche wahrgenommene „punktuelle Umschlagssituation“58. Diese befindet sich zeitlich gesehen innerhalb der Krise, ist aber nicht mit dieser gleichzusetzen. Es existieren lediglich Faktoren, welche nach Wahrnehmung der Zeitgenossen dafür sorgen, dass dieser Umschlagspunkt sehr schnell oder allmählich erreicht wird. In der Forschungsliteratur fällt in diesem Zusammenhang oftmals der Terminus des ‚Schwellenwertes‘,59 der sich jedoch für historische Gesellschaften in den seltensten Fällen exakt bestimmen lassen wird. Dennoch ist dieser ‚Schwellenwert‘ zu einem Zeitpunkt x von elementarer Bedeutung, da dieser Moment eine „Zwangslage“60 für die sich darin befindenden Menschen darstellt, in der sie reagieren müssen. Sie sind gezwungen zu handeln und darüber zu reflektieren. Die Vorgänge der Reaktion (im Sinne von Handlungen) und der Reflexion lassen sich zeitlich zwar nicht eindeutig voneinander abgrenzen, doch beiden wohnt das Potential inne, zu einer vermehrten Produktion von Schriftgut zu führen. Diese Aussage trifft nicht nur auf Krisenphänomene zu, sondern auch auf die Prozesse, die als ‚Katastrophen‘ bezeichnet werden. Es wäre jedoch zu einfach, eine ‚Katastrophe‘ lediglich als Steigerung der ‚Krise‘ zu charakterisieren, wie es oftmals im modernen Sprachge-

57 Fekete: Schlüsselbegriffe, S. 330. 58 Koselleck: Krise, S. 633. 59 Vgl. Fekete: Schlüsselbegriffe, S. 332; vgl. Lenz, Susanne: Vulnerabilität Kritischer Infrastrukturen, Bonn 2009, S. 52. Über die Subjektivität solcher Schwellenwerte vgl. Adger, Neil W.: Vulnerability, in: Global Environmental Change 16 (2006), S. 268–281, hier: S. 276. 60 Koselleck: Krise, S. 626.

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brauch und vornehmlich durch die Medien geschieht, die auch nicht davor zurückschrecken, beide Narrative gleichzusetzen.61 Gerade bei einer Verwendung moderner Begriffe für einen Zeitabschnitt wie das Mittelalter, der die hier diskutierten Termini nicht kannte, stellt sich die Frage, ob man diese in der kritischen62 Auseinandersetzung mit der Vergangenheit überhaupt nutzen sollte. Hierbei ist zunächst anzumerken, dass trotz des Fehlens der Begriffe ‚Krise‘ und ‚Katastrophe‘ den Zeitgenossen die Unterschiede in der Tragweite der beiden Phänomene bewusst gewesen zu sein scheinen.63 Außerdem kann eine begründete beschreibungssprachliche Krisenfeststellung durch heutige Historiker bei entsprechend vorhandenen Belegen durchaus zulässig sein.64 Die wesentlichen Unterschiede in der Semantik der Begriffe ‚Krise‘ und ‚Katastrophe‘ arbeitete Ansgar Nünning bereits im Jahr 2013 heraus, welche hier kurz zusammengefasst werden sollen: 1.

2.

Die Krise ist eine Latenzperiode, in welcher die Entscheidung über den Ausgang eines Prozesses im Gegensatz zur Charakterisierung des Geschehens als Katastrophe noch nicht gefallen ist. Krise und Katastrophe verfügen über „unterschiedliche temporäre Verlaufsstrukturen“65, da die Katastrophe aus der Beobachterperspektive zumeist durch Abruptheit und Plötzlichkeit gekennzeichnet ist.66

61 Vgl. Meyer et al.: Einleitung, S. 15; vgl. Schenk, Gerrit Jasper: Vormoderne Sattelzeit? Disastro, Katastrophe und Strafgericht – Worte, Begriffe und Konzepte für rapiden Wandel im langen Mittelalter, in: Meyer u. a.: Krisengeschichte(n), 2013, S. 177–212, hier: S. 179. 62 In diesem Zusammenhang meint ‚kritisch‘ den reflektierten Umgang mit den Zeugnissen der Vergangenheit und steht hier in einem direkten Bezug zur Quellenkritik; vgl. Theuerkauf, Gerhard: Die Interpretation historischer Quellen. Schwerpunkt: Mittelalter, Paderborn/München/Wien/Zürich 1991, S. 31–33. 63 Vgl. Schenk: Sattelzeit, 2013, S. 191. 64 Vgl. Meyer et al.: Einleitung, S. 15. 65 Nünning: Metapher, S. 127. 66 In der Soziologie und einigen Naturwissenschaften ist die Unterscheidung zwischen ‚slow onset‘ und ‚rapid onset‘ Katastrophen geläufig. Diese nehmen aber eine andere Perspektive als diese Analyse ein, da sie den Prozess der Katastrophe aus heutiger Perspektive (also als Beobachtung von Beobachtung) betrach-

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3.

Die Krise birgt das Potential in sich, einen guten Ausgang zu nehmen, was bei der Katastrophe hingegen nicht (mehr) möglich ist.67

Diese Unterschiede können um einen weiteren Aspekt ergänzt werden. Während eine Krise durch die Zeitgenossen/Beobachter innerhalb des Prozesses als solche diagnostiziert wird, geschieht das Feststellen einer Katastrophe durch den Beobachter stets im Nachhinein. Somit kann die Katastrophe entweder als plötzliches, abruptes Ereignis auftreten, sodass den Zeitgenossen schlichtweg für eine Krisendiagnose und das Entwickeln/ Umsetzen einer Bewältigungsstrategie keine Zeit geblieben ist. Oder die Katastrophe resultiert aus einem schlechten/fehlenden Krisenmanagement und ist damit ein möglicher Ausgang der Krise (und insofern sind hier die Abgrenzungen zur Krise unscharf). Da auch Katastrophen Reaktionen bei den Menschen provozieren, welche die Form von Handlungen (Schadensbeseitigung, Präventionsmaßnahmen) und Reflexionen (Berichte) annehmen können, ist auch hier eine vermehrte Produktion von Schriftgut die Regel.68 Daher bezieht sich das im Folgenden vorgestellte Schema auf beide Phänomene. Zur Veranschaulichung werden die möglichen Entstehungszweige an jeweils einem Beispiel erklärt. Beginnen wir zunächst mit den Handlungen: Handlungen sind zumindest teilweise in historischen Quellen greifbar, häufig als Ergebnis von geschilderten Aushandlungsprozessen.

ten. Unser Ansatz geht jedoch vom Erkennen der Katastrophe als solche durch die (zeitgenössischen) Beobachter aus. 67 Vgl. Nünning: Metapher, S. 127. 68 Die unten beschriebenen Beispiele zeigen, dass beide Überlieferungsstränge in einer engen Verbindung miteinander stehen und nicht immer sauber voneinander getrennt werden können. Dies ist ein bekanntes Problem idealtypischer Schemata, das aus Gründen einer klareren analytischen Trennung in Kauf genommen werden muss.

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Handlungen lassen demzufolge direkte oder indirekte Rückschlüsse zu auf: (1) die Bedeutung von einzelnen Waren und Gütern in der jeweiligen Gesellschaft (2) die Bedeutung von Versorgungsketten/ Distributionsprozessen und Logistik (3) materielle Komponenten von Infrastrukturen und den an ihnen beteiligten Akteuren (4) Machtinteressen der handelnden Akteure Die folgenden Beispiele nehmen auf die genannten Rückschlüsse Bezug und stammen aus der Geschichte der Stadt Köln, genauer gesagt sind sie zum einen dem 4. Fragment (Recensio D) der sogenannten Kölner Jahrbücher69 und zum anderen der Koelhoffschen Chronik70 entnommen. Eine Gegenüberstellung beider Werke ist aus quellenkritischen Gründen unbedingt erforderlich. So verfügt die Koelhoffsche Chronik zwar über eine größere Anzahl an Vorlagen71 als die Kölner Jahrbücher, aber sie ist zum einen mit einem größeren zeitlichen Abstand zum Geschehen entstanden und zum anderen konnte die Forschung nachweisen, dass die dem Rat wohlgesinnte Einstellung des unbekannten Verfassers zu Wertungen des Geschehens und sogar zur veränderten Darstellung von historischen Ereignissen führte.72 Volker Henn nimmt von den Kölner Jahrbüchern an, dass

69 Vgl. Cardauns, Heinrich (Bearb.): Cölner Jahrbücher des 14. und 15. Jahrhunderts, in: Hegel, Carl (Hrsg.): Die Chroniken der niederrheinischen Städte, Cöln, Bd. 2, Stuttgart 1963, S. 125–192. Dieses letzte Fragment der Kölner Jahrbücher, in der Forschung als Recensio D bezeichnet, deckt als einziges den Zeitraum unserer Beispiele ab. 70 Vgl. Cardauns, Heinrich/Schröder, C. (Bearb.): Die Chronica van der hiliger Stat van Coellen 1499, in: Hegel, Carl (Hrsg.): Die Chroniken der niederrheinischen Städte, Cöln, Bde. 2 und 3, Stuttgart 1963, Bd. 2 S. 211–638; Bd. 3 S. 1– 641. 71 Siehe dazu die Übersicht von Heinrich Cardauns in der Einleitung zur Koehlhoffschen Chronik, vgl. Cardauns/Schröder: Chronica Bd. 2, S. 217–235. 72 Vgl. Henn, Volker: „Dye historie is ouch als eyn spiegell zo vnderwijsen dye mynschen...“. Zum Welt- und Geschichtsbild des unbekannten Verfassers der

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ihr Verfasser „die Absicht eine[r] Gesamtgeschichte der Stadt“ hatte, doch sind auch diese Quellen nicht frei von Wertungen; die Forschung ist sich gleichwohl darüber einig, dass die Einstellung des Autors gegenüber dem Rat für die Art der Darstellung weniger leitend gewesen ist.73 Die Beispiele stammen aus den Jahren 1435 und 1437 und sind somit in einem Jahrzehnt verortet, das in der Forschung inzwischen gemeinhin als eines gilt, welches von extremen Witterungsverhältnissen gekennzeichnet war.74 Problematisch daran war vor allem die Tatsache, dass diese Naturereignisse mehrere aufeinander folgende Ernten zum Teil schwerwiegend beeinträchtigten und so dramatische Versorgungsengpässe auslösten.75 Um die Zusammenhänge zwischen Witterungsverhältnissen, Versorgungsengpässen und städtischen Maßnahmen zu identifizieren, bieten sich Chroniken als Quelle erster Wahl an. Zwar wird in dieser Quellengattung grundsätzlich die Vergangenheit reflektiert, oftmals schildern sie aber auch Handlungen, wie im Folgenden gezeigt wird.

Koelhoffschen Chronik, in: Rheinische Vierteljahresblätter 51 (1987), S. 224– 249. Weiterhin zur Koelhoffschen Chronik die Beiträge im Sammelband von Mölich, Georg/Neddermeyer, Uwe/Schmitz, Wolfgang (Hrsg.): Spätmittelalterliche städtische Geschichtsschreibung in Köln und im Reich. Die „Koelhoffsche“ Chronik und ihr historisches Umfeld, Köln 2001. 73 Die erhaltene Ratsüberlieferung erlaubt nur eine punktuelle Überprüfung der historiographischen Perspektive. 74 Maßgeblich für die Klimageschichte des Mittelalters: Glaser, Rüdiger: Klimageschichte Mitteleuropas. 1000 Jahre Wetter, Klima, Katastrophen, Darmstadt 2001, S. 57–92. Inzwischen gibt es zahlreiche regionale Klimastudien, welche sich mit den Bedingungen des 15. Jahrhunderts im Besonderen auseinandersetzen, zuletzt: Camenisch, Chantal: Endlose Kälte. Witterungsverlauf und Getreidepreise in den Burgundischen Niederlanden im 15. Jahrhundert, Basel 2015; Camenisch, Chantal et al.: The 1430s: a cold period of extraordinary internal climate variability during the early Spörer Minimum with social and economic impacts in north-western and central Europe, in: Climate of the Past 12 (2016), S. 2107–2126, https://doi.org/10.5194/cp-12-2107-2016 [Stand: 13.02. 2018]. 75 Für einen umfassenden Überblick dazu vgl. Jörg: Hunger, S. 83–177.

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Der Winter des Jahres 1434/1435 war so langanhaltend kalt, dass die Kölner Jahrbücher schreiben, „dat man over den Rin reit ind gink“76, sogar beladene Fuhrwerke konnten die Eisdecke gefahrlos passieren.77 Dies überliefert auch die Koelhoffsche Chronik.78 Das Problem des Jahres 1435 war jedoch weniger der strenge Winter, sondern der späte Frosteinbruch im Mai, der die Reben erfrieren ließ.79 Dies wirkte sich entsprechend negativ auf die Weinlese aus und ließ die Preise immens in die Höhe steigen. Die Nennung der Preise für Wein in beiden Chroniken ist ein eindeutiger Hinweis darauf, dass die Preissteigerung als bemerkenswert groß wahrgenommen wurde.80 Die Quellen berichten weiterhin, dass man aufgrund der schlechten Weinlese nicht nur die Bierproduktion in und um Köln stark erhöhte, sondern das Getränk auch aus den Niederlanden importieren musste, um die Bevölkerung zu versorgen.81 Weiterhin findet sich die Überlieferung eines Ratserlasses an die örtlichen Bierbrauer. So heißt es in einer Urkunde vom ersten Juni des Jahres, dass alle Bierbrauer vom Rat dazu angehalten werden, nur noch Dünnbier zu brauen.82 Ferner ist der Entwurf eines Schreibens des Kölner Rats an den Trierer Erzbischof vom 22. Oktober 1435 erhalten, in dem die Stadt sich darum bemühte, die Erhöhung der Weinzölle zu Engers und Boppard für Köln zu verhüten.83 Wendet man das oben erläuterte Schema auf diesen Eintrag an, ergeben sich folgende Ansätze für die Forschung: Zunächst einmal lässt die Beschreibung des zugefrorenen Rheins darauf schließen, dass man aus der Not eine Tugend machte und die dicke Eisdecke für Transport- und Versorgungszwecke nutzte (3). Beide Chroniken thematisieren anschließend die

76 Kölner Jahrbücher, Recensio D, S. 170. 77 Vgl. ebd. 78 Vgl. Koelhoffsche Chronik, S. 774. 79 Vgl. ebd.; vgl. Kölner Jahrbücher, Recensio D, S. 170. 80 Vgl. Jörg: Hunger, S. 15–16. 81 Kölner Jahrbücher, Recensio D, S. 170; Koelhoffsche Chronik, S. 774. 82 Vgl. Loesch, Heinrich von (Bearb.): Die Kölner Zunfturkunden nebst anderen Kölner Gewerbeurkunden bis zum Jahre 1500, Bd. 2, Bonn 1907, S. 70 Nr. 261. 83 Historisches Archiv der Stadt Köln, Best. 20A (Briefbücher, Ältere Serie), A14, fol. 91. Zur Bedeutung der Zölle am Mittelrhein umfassend Volk, Otto: Wirtschaft und Gesellschaft am Mittelrhein vom 12. bis zum 16. Jahrhundert, Wiesbaden 1998, S. 487–607.

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im Mai erfrorenen Reben und die hohen Weinpreise. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass Wein einen wichtigen Stellenwert im Warenangebot der Stadt hatte. Die Vermutung wird gestützt durch die Tatsache, dass in diesem Jahr der fehlende Wein anscheinend durch Bier zur Versorgung der Bevölkerung ersetzt werden sollte (1). Tatsächlich konnte in der Forschung gezeigt werden, dass Wein in und um Köln großflächig angebaut wurde. Er galt bis in das späte 15. Jahrhundert jedoch nicht nur als Ware zur Grundversorgung der Bevölkerung, sondern war gleichzeitig eines der wichtigsten Exportgüter, wie Franz Irsigler nachweisen konnte.84 Der erwähnte Briefentwurf an den Trierer Erzbischof scheint vor dem Hintergrund der Knappheit mit seinem Bemühen, höhere Zölle zu verhindern, entsprechende Interessen (etwa der Weinhändler85) im Auge zu haben. Weiterhin kann man aus dem Eintrag ableiten, dass der Mengenertrag der Getreideernte sehr viel größer gewesen sein muss als der der Weinlese. Man konnte anscheinend nicht nur Brot, sondern auch Bier in größeren Mengen herstellen.86 Der Stellenwert von Getreide für die Nahrungsversorgung der Bevölkerung ist offensichtlich (1), es wurde aber auch in anderweitigen Produktionsketten genutzt (2), in diesem Fall in Brauereien, was durch die oben erwähnte Gewerbeurkunde bestätigt wird.87 Da aber auch

84 Vgl. Irsigler, Franz: Die wirtschaftliche Stellung der Stadt Köln im 14. und 15. Jahrhundert. Strukturanalyse einer spätmittelalterlichen Exportgewerbe- und Fernhandelsstadt, Wiesbaden 1979, S. 241–270. Einen kurzen aktuellen Überblick zur Kölner Wirtschaftsgeschichte bietet folgender Sammelband: Hillen, Christian/Rothenhöfer, Peter/Soénius, Ulrich S.: Kleine Illustrierte Wirtschaftsgeschichte Kölns, Köln 2013. Zur Rolle von Wein und Bier als Lebensmittel, wobei Bier vor allem für die unteren städtischen Bevölkerungsschichten wegen seines Kaloriengehalts auch einen wichtigen Ernährungsfaktor darstellte, Schubert, Ernst: Essen und Trinken im Mittelalter, Darmstadt 2006, S. 192–198, 210–212, 216f.; Paczensky, Gert von/Dünnebier, Anna: Kulturgeschichte des Essens und Trinkens, München 1999, S. 177, 188, 201–205. 85 Die Gewinnmargen im Weinhandel, der in Köln in patrizischer Hand war, lagen zwischen hohen 8% und 17%, vgl. Schubert: Essen, S. 192–194. 86 Zur folgerichtigen traditionellen Konkurrenz von Brauern und Bäckern um das Getreide vgl. Schubert: Essen, S. 220. 87 Zur Abhängigkeit vor allem der städtischen Unterschichten vom Getreide in Versorgungskrisen – bis zur Hälfte der Einwohner besaß keinerlei Vorräte – vgl.

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Bier importiert werden musste, um die Bevölkerung adäquat zu versorgen, zeigt sich, dass Handelsbeziehungen in die Niederlande bestanden haben müssen, welche die Einfuhr des Bieres über den Rhein ermöglichten (3).88 Von besonderem Interesse ist hierbei, dass das Bier den Rhein hinaufkam, da der Transport von Gütern stromaufwärts stets sehr kostenintensiv gewesen ist (3). Grund dafür ist der bis dato fehlende technische Antrieb, um Schiffe stromaufwärts fahren zu lassen. Daher ‚treidelte‘ man, was bedeutete, dass die Wasserfahrzeuge mit Seilen den Fluss hinaufgezogen wurden. Dies verursachte einen hohen Bedarf an Menschen und Zugtieren, welche regelmäßig gewechselt werden mussten. Das Treideln war demnach nicht nur teuer, sondern auch sehr langsam.89 Die konkrete Handlung zur Abschwächung des Versorgungsengpasses deckt jedoch noch mehr auf: Die Stadt Köln verfügte im Jahr 1435 über eine führende Schicht (4), welche das Problem nicht nur erkannte (Kritikalitätszumessung führt zur Krisendiagnose), sondern auch eine effektive Bewältigungsstrategie entwickelte, um das Gemeinwohl der Bevölkerung und wohl auch das Gruppeninteresse der patrizischen Weinhändler zu sichern.

bereits Dirlmeier, Ulf: Die Ernährung als mögliche Determinante der Bevölkerungsentwicklung, in: Herrmann, Bernd/Sprandel, Rolf (Hrsg.): Determinanten der Bevölkerungsentwicklung im Mittelalter, Weinheim 1987, S. 143–154, hier S. 148. 88 Irsigler konnte nachweisen, dass gerade die Niederlande im 15. Jahrhundert eher ein Konkurrent für die Bierproduktion und den Handel damit gewesen sind, was für die Schwere des Versorgungsengpasses sprechen könnte, vgl. Irsigler: Köln, S. 245. 89 Leider gibt es zum ‚Treideln‘ im Mittelalter nur vereinzelte Aufsätze, welche zumeist einen regional sehr begrenzten Zugriff haben, vgl. für die hier untersuchte Region Volk: Wirtschaft, S. 443–450; ferner Böcking, Werner: Schiffstreideln am Niederrhein, in: Beiträge zur Rheinkunde 42 (1992), S. 52–64; vgl. Stettner, Heinrich: Treideln – trekken – jagen – bomätschen, in: Deutsches Schifffahrtsarchiv 25 (2002), S. 383–423; vgl. Weber, Heinz: Allerlei über die Treidelei, in: Beiträge zur Rheinkunde 39 (1987), S. 23–28. Gerade das Treideln ist ein sehr gutes Beispiel für den Systemcharakter von Infrastrukturen, da nicht nur der Fluss, sondern auch am Ufer gelegene Pfade gemeinsam genutzt werden mussten. Diesen Aspekt möchte Stephanie Eifert in ihrer Dissertation vertiefend aufgreifen.

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Aus kulturwissenschaftlicher Sicht ist dies einer der Fälle, in denen man die emische Perspektive, also die der ‚Insider‘, erahnen kann. Beide Chroniken zeigen den Zusammenhang zwischen Wein- und Bierkonsum in Köln im Jahr 1435. Die Gewerbeurkunde vom ersten Juni des Jahres und der Briefentwurf an den Trierer Erzbischof vom 22. Oktober belegen weiterhin die direkte Reaktion des Rates auf den durch den Maifrost erwarteten Ausfall in der Weinproduktion. Die zweite Konsequenz, die aus der Selbstbeobachtung eines ‚kritischen‘ Zustands resultiert ist, dass Menschen nicht nur dazu neigen Krisen zu beschreiben, sondern diese auch zu hinterfragen und nach möglichen Ursachen dafür zu suchen. Diese Reflexionen werden auch häufig schriftlich, beispielsweise in Berichten, Briefen oder Chroniken, festgehalten. Damit bieten sie Historikern die Möglichkeit, direkte oder indirekte Rückschlüsse zu ziehen auf: (1)

(2) (3)

Schäden und Auswirkungen von Krisen (somit auch auf materielle Elemente von Infrastruktur(en) wie beispielsweise Brücken und Kräne und deren Bedeutung) Handlungen zur Bewältigung (was in einer direkten Verbindung zur ersten Überlieferungsmöglichkeit steht) und Deutungsmuster und Deutungsinteressen

Erneut stammt das folgende Beispiel aus den oben beschriebenen Chroniken. In dem Eintrag zum Jahr 1437 findet sich in den Kölner Jahrbüchern folgende Beschreibung des Winters der Jahre 1436/1437:90

90 Das Jahr 1437 war in großen Teilen Europas geprägt von Versorgungsengpässen und Teuerungen von Getreide- und Fleischpreisen, die zum Teil auf den vorangegangenen Winter zurückzuführen, zum Teil aber auch als Kaskadeneffekt der allgemeinen schwierigen Erntebedingungen der vorherigen Jahre zu verstehen sind, vgl. Jörg: Hunger, S. 127–161. Der Getreidepreisanstieg hielt in Köln bis 1438 an, vgl. Ebenling, Dietrich/Irsigler, Franz: Getreideumsatz, Getreide- und Brotpreise in Köln 1368–1797, Erster Teil: Getreideumsatz und Getreidepreise: Wochen-, Monats- und Jahrestabelle, Köln/Wien 1976, S. LIII. Zum Zusammenhang zwischen Wetter und Viehseuchen vgl. bereits Slavin, Philip: The Great Bovine Pestilence and its economic and environmental consequences in

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„Datum anno domini 1437 do was ein grois kalt winter, des nieman gemeint inhedde, darom dat vie in dem lande seir starf van kelden. ind it ervroir vil wingartz ind korn. darna dede der meivorst noch me schaden an dem wingart ind an allen vruchten.“91

Demnach traten hier zwei ungünstige Witterungsphänomene kurz hintereinander auf, zunächst der harte Winter, welcher ein Viehsterben verursachte und Getreide und Reben schädigte (1). Dies wurde durch den sich anschließenden Frosteinbruch im Mai noch verstärkt, welcher ebenfalls die Reben schädigte, jedoch auch alle anderen Früchte (1). Die Auswirkungen davon werden erst später im Text geschildert, wobei sich die beiden Chroniken erstmals deutlich voneinander unterscheiden. Im Folgenden werden deshalb beide Überlieferungen wörtlich zitiert. In den Kölner Jahrbüchern ist zu lesen: „In dem selven jair [do] binnen Coelne dat korn ein wenich upgeink ind den beckeren zer stont gein bescheit inwart, do woirden de becker eins, dat irre gein brot veil inhatte up sent Panthalions dach, dat nie geleest inwart. da geruchete quam buissen Coellen als wit dat lant was: do wart ieder man erveirt, ind man sachte, Coellen hedde do broit noch korn, ind mallich brachte sind korn. dat korn floich up [...].“92

Die Kölner Jahrbücher berichten also lediglich, dass sich die Bäcker am St. Pantaleonstag darauf einigten, kein Brot mehr zu verkaufen, was Gerüchte über einen Versorgungsengpass hervorrief. In der Koelhoffschen Chronik werden die Zusammenhänge jedoch etwas anders dargestellt: „In dem selven jair, want ein kalt winter geweist was ind ouch die meivorst as vurß is, floich dat korn enwenich up, dairumb wouldnen die becker zo Coellen ouch dat broit verminren ind braechten dat an den rait, ind um dat in zerstunt gein bescheit enwart nae irme willen, wurden si under sich allein eins, dat ir gein brot veil enhadde up sent Panthaleoins dach, noch inwendich noch uiswendich verkoufen enwoul-

England and Wales, 1318–50, in: The Economic History Review 65, 4 (2012), S. 1239–1266, hier S. 1249. 91 Kölner Jahrbücher, Recensio D, S. 174. 92 Ebd., S. 175.

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den, dat nie me gefreischt enwart, wiewail si etzlicher lude korn hadden, durch dat jair broit daevan zo backen. dat gerucht quam [...]“93

In dieser Quelle betont der unbekannte Verfasser nicht nur das vom Rat nicht genehmigte Vorgehen der Bäcker, er steigert auch deren Schuld an der Teuerung der Preise, indem sie ihren ursprünglichen Plan, lediglich das Brotgewicht zu senken, durch die Verweigerung des Verkaufs ersetzten. Bereits Jörg arbeitete an dieser Quellenstelle heraus, dass sich hier die Deutungsinteressen des unbekannten Verfassers der Koelhoffschen Chronik widerspiegeln, was sich auch daran zeigt, dass im anschließenden Abschnitt dargelegt wird, wie die Bäcker bestraft werden und der Rat für die Versorgung der Bevölkerung mit Brot sorgt (2):94 eine Darstellung, welche sich weder in früheren Chroniken noch in anderen Quellen zur spätmittelalterlichen Geschichte Kölns findet, was die These von Jörg stützt, der Autor wolle hier das mangelnde Krisenmanagement des städtischen Rates vertuschen.95 Der Eintrag offenbart jedoch auch, wie nach Auffassung des oder der Autoren die Gewinnsucht Einzelner einen drohenden Versorgungsengpass bzw. eine bestehende Preiserhöhung verschärfen kann.96 Mit dem modellhaften Verständnis von einer Kritikalitätszumessung könnte man an dieser Stelle davon sprechen, dass es innerhalb der Krise eine erneute Kritikalitätszumessung durch die Bäckerszunft gegeben hat und diese nach Möglichkeiten suchte, den drohenden Gewinnverlust durch geplante Teuerungen zu minimieren (2): ein Beispiel dafür, wie unterschiedlich Krisenphänomen von unterschiedlichen Akteuren wahrgenommen, gedeutet und für Anschlusshandlungen nutzbar gemacht werden können.

93 Koelhoffsche Chronik, S. 777. 94 Vgl. Jörg: Hunger, S. 131. 95 Vgl. ebd. 96 Vgl. ebd., S. 131–133. Jörg stellt hier eine Falschaussage des Autors fest, der behauptet, es sei genug Getreide für ein ganzes Jahr in der Stadt gewesen. Dies steht aber in einer deutlichen Diskrepanz zu den hohen Preisen und den auswärtigen Korneinkäufen durch Ratsgesandte, um die Versorgung innerhalb der Stadt zu gewährleisten.

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ANWENDUNGSMÖGLICHKEITEN DES KONZEPTS ‚KRITIKALITÄT‘ IN DER MEDIÄVISTIK Bevor einige Anwendungsmöglichkeiten des vorgestellten Kritikalitätskonzepts in der Mediävistik erörtert werden, soll die hier an einem Beispiel dargelegte Möglichkeit der genaueren Erfassung von Krisenphänomen durch das Instrument der Kritikalitätszumessung kurz zusammengefasst werden. Der jüngeren Forschung folgend wurde vorgeschlagen, eine ‚Krise‘ als Wahrnehmungsphänomen, als Beobachtung von (zeitgenössischen) Beobachtern aufzufassen, ‚Krise‘ also nicht essentialistisch zu definieren. Mit dieser Veränderung rückten die Prozesse der Krisendiagnose und der Krisenbewältigung ins Zentrum des wissenschaftlichen Interesses. Bisher fehlt der Forschung jedoch ein adäquater Begriff, um den Prozess, der zur Krisendiagnose führt, terminologisch präzise zu bezeichnen. Dagegen hat sich für die nach der Krisendiagnose einsetzenden Prozesse der Begriff der ‚Krisenbewältigung‘ bereits etabliert. Wir schlagen daher vor, den Begriff ‚Kritikalitätszumessung‘ für diejenigen Prozesse zu verwenden, die zu einer Krisendiagnose führen. In dieser Phase der Latenz einer Krise erfolgt eine Bewertung der spezifischen Bedeutung variabler Faktoren, die als ‚kritisch‘ (im Sinne von bedrohlich) für eine Gesellschaft oder eine Gruppe charakterisiert werden, in unserem Fall also hinsichtlich der Versorgung der Kölner (oder eventuell auch nur einer Gruppe von Kölnern). Für die Rekonstruktion der emischen Perspektive historischer Akteure stellt die ‚Kritikalitätszumessung‘ eine Chance dar: Mit Helga Scholten können Krisen aus der spezifischen Wahrnehmung der Akteure erklärt werden, welche stets im Kontext mit deren Erfahrungen und Werten betrachtet werden müssen.97 Somit wird das Wahrnehmungsphänomen ‚Krise‘ mit spezifischen Wahrnehmungen erklärt. Wegen der Spezifik der vergleichsweise quellenarmen Epoche des Mittelalters und auch aus grundsätzlichen methodischen Bedenken, inwieweit die ‚Wahrnehmung‘ historischer Individuen und Gesellschaften überhaupt zugänglich ist, wird hier sicher eine Grenze des Machbaren erreicht, da die Quellen diese Art der Analyse nicht gerade erleichtern. Es ist kaum zu rekonstruieren, was die Kölner Bürger alles ‚wahrgenommen‘ haben und wie sie diese Reize in ihre indivi97 Vgl. Scholten, Helga: Einführung in die Thematik Wahrnehmung und Krise, in: Scholten: Wahrnehmung, S. 5–12, hier: S. 6–7.

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duellen Erfahrungen und Werte eingeordnet haben. Erkennbar ist aber, dass bestimmten Erzeugnissen wie Wein und Getreide eine besondere Bedeutung in Bezug auf die eigene Versorgung beigemessen wurde. Die ‚Kritikalitätszumessung‘ erfasst demzufolge spezifische Wertigkeiten, deren Analyse der Ausgangpunkt für weitere Untersuchungen sein kann, wie beispielweise der Rekonstruktion der Bedeutung mittelalterlicher Infrastruktursysteme für die Zeitgenossen. Insofern kann – mit Scholten – auch ein indirekter Zugang zu ‚Wahrnehmungen‘ der Zeitgenossen gewonnen werden, immer mit der methodischen Einschränkung verbunden, dass sie unweigerlich und unauflöslich mit Wertungen und Deutungen verbunden sind. Doch kann überhaupt von einer ‚kritischen Infrastruktur‘ bereits für die Verhältnisse der Vormoderne gesprochen werden? Die ‚Kritikalität‘ von Infrastrukturen der Vormoderne wird bisher allenfalls beiläufig in der historischen Katastrophenforschung thematisiert.98 Begreift man das Konzept der Kritikalität jedoch als Analyseinstrument, das Wertigkeiten bzw. Hierarchien innerhalb von Transport- und Versorgungsinfrastruktur(en) durch die Analyse von Aushandlungsprozessen in und nach Krisen oder Katastrophen aufdecken kann, besteht eine Chance, auch für die Epoche des Mittelalters mit guten Gründen von einer – immer beschreibungssprachlich gedacht – ‚kritischen Infrastruktur‘ zu sprechen.99 Die Suche nach zeitgenössischen Kritikalitätszumessungen in den Quellen erschließt einer Sonde

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Vgl. beispielsweise Wieland, Christian: Grenze zwischen Natur und Machbarkeit. Technik und Diplomatie in der römisch-florentinischen Diskussion um die Valdichiana (17. Jahrhundert), in: Saeculum 58 (2007), S. 13–32; Schenk: Security, S. 209–233; Greifenberg, Dominik: Die mittelalterliche Stadtbefestigung als Forschungsgegenstand der Infrastruktur-Geschichte, in: NiederrheinMagazin 20 (2015/16), S. 22–32; einige Beiträge in: Later, Christian/Helmbrecht, Michaela/Jecklin-Tischhauser, Ursina (Hrsg.): Infrastruktur und Distribution zwischen Antike und Mittelalter. Tagungsbeiträge der Arbeitsgemeinschaft Spätantike und Frühmittelalter 8: Stadt, Land, Fluss – Infrastruktur und Distributionssysteme in Spätantike und Frühmittelalter (Lübeck, 2.–3. September 2013), Hamburg 2015.

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Natürlich muss eine entsprechende Analyse hierfür mehr umfassen als die Auswertung einzelner Chronikeinträge. Wie so oft, müssen verschiedene Quellen(arten) hierfür kombiniert werden.

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gleich die deutende Wahrnehmung von ‚Krise‘, die genauere Erfassung von Gefahren und Risiken durch betroffene Individuen oder Kollektive. Infrastruktur-Geschichte vermag daher auch eine neue Perspektive für die Diskussion zu eröffnen, inwieweit und wo im Mittelalter eine ‚Sicherheitskultur‘ oder, im Gegenteil, eine ‚Risikokultur‘ entstand. Zentral für die Erkennbarkeit von ‚Krisen‘ inmitten der oft bedrohlichen Lebenswirklichkeit der Zeitgenossen ist der Kontrast zur Zeit davor (sozusagen dem Normalzustand).100 Vom krisenhaften 14. Jahrhundert bis in die Neuzeit hinein kann die mittelalterliche Epoche als ausgesprochene „Kultur der Unsicherheit“ charakterisiert werden.101 Ein Kontrast wurde also vor allem dort besonders deutlich, wo sich bereits Zonen relativer Sicherheit gebildet hatten. Solche Inseln der Sicherheit im Meer der Gefahren boten vor allem die größeren Städte, die mit ihren Stadtmauern und Türmen Stein gewordene Bastionen der Sicherheit waren und mit Feuerwehren, Kornspeichern und Trinkwasserversorgung, Hospitälern und Armenkassen eine (noch sehr einfache) Für- und Vorsorge immer stärker institutionalisierten.102 Hier verdichteten sich die Herrschafts- und Verwaltungspraktiken

100 Jüngst charakterisierte Benjamin Scheller das ausgehende Mittelalter als ausgesprochene Risikokultur, vgl. Scheller, Benjamin: Die Geburt des Risikos. Kontingenz und kaufmännische Praxis im mediterranen Seehandel des Hochund Spätmittelalters, in: Historische Zeitschrift 304 (2017), S. 305–331. Diese von Beck für die Postmoderne reklamierte Charakterisierung trifft aber (wenn überhaupt) nur auf einen kleinen Sektor der Gesellschaft zu, auf Fernhandelskaufleute, auf Feldherren, auf Fürsten und Herren, nicht aber auf die große Masse der Bevölkerung. 101 Vgl. Collet, Dominik: Eine Kultur der Unsicherheit? Empowering Interactions während der Hungerkrise 1770–72, in: Kampmann, Christoph/Niggemann, Ulrich (Hrsg.): Sicherheit in der Frühen Neuzeit. Norm. Praxis. Repräsentation, Köln/Weimar/Wien 2013, S. 367–380; vgl. Rohr, Christian: Ein ungleicher Kampf? Sieg und Niederlage gegen Naturgewalten im Spätmittelalter und am Beginn der Neuzeit, in: Fahlenbock, Michaela/Madersbacher, Lukas/Schneider, Inge (Hrsg.): Inszenierung des Sieges – Sieg der Inszenierung. Interdisziplinäre Perspektiven, Innsbruck/Wien/Bozen 2011, S. 91–99, hier: S. 92, 98f. 102 Vgl. Schenk: Security, S. 213–218; die Versicherheitlichung in den Städten nahm gewiss nicht moderne Ausmaße an, aber die Anfänge von Foucaults gouvernementalité und dem dispositif der Sicherheit können hier gefunden

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zur Gefahrenabwehr und Sicherheitskonstruktion, auch wenn hygienische Probleme noch lange Zeit die Sterblichkeit in den Städten auf einem hohen Niveau verharren ließen.103 Es scheint, als habe hier auch die spezifische Kritikalitätszumessung für Infrastrukturen begonnen, wie das Beispiel der Vorbereitung auf eine unvermeidbare Störung, etwa der Beschädigung von Brücken durch Hochwasser, zeigt. Christian Rohr wies dank überlieferter „Bruckamtsrechnungen“ nach, dass die Stadt Wels im 15. und 16. Jahrhundert vorsorglich geeignetes Baumaterial in der Nähe einer bedrohten Brücke über die Traun lagerte, um Schäden schnell ausbessern zu können.104

werden, vgl. Foucault, Michel: Geschichte der Gouvernementalität, Bd. 1: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, Vorlesung am Collège de France 19771978, bearb. Michel Sennelart, Frankfurt am Main 2004, S. 13–51, 54f., 95f., 162, 173–175, 181f. Beispiele: Jörg: Hunger; Fouquet, Gerhard: Bauen für die Stadt. Finanzen, Organisation und Arbeit in kommunalen Baubetrieben des Spätmittelalters. Eine vergleichende Studie vornehmlich zwischen den Städten Basel und Marburg, Köln/Weimar/Wien 1999, S. 400–430; Contessa, Maria Pia: L’ufficio del fuoco nella Firenze del Trecento, Florenz 2000; Barth, Medard: Grossbrände und Löschwesen des Elsass vom 13.–20. Jahrhundert mit Blick in den europäischen Raum, Bühl/Baden 1974. 103 Vgl. Delumeau, Jean: Rassurer et protéger. Le sentiment de sécurité dans l’Occident d’autrefois, Paris 1989, S. 21–29; Rüther, Stefanie: Zwischen göttlicher Fügung und herrschaftlicher Verfügung. Katastrophen als Gegenstand spätmittelalterlicher Sicherheitspolitik, in: Kampmann, Christoph/Niggemann, Ulrich (Hrsg.): Sicherheit in der frühen Neuzeit. Norm – Praxis – Repräsentation, Köln et al. 2013, S. 335–350, hier: S. 350; zu den hygienischen Problemen vgl. Isenmann, Eberhard: Die deutsche Stadt im Mittelalter 1150–1550. Stadtgestalt, Recht, Verfassung, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft, Wien/Köln/Weimar 2012, S. 63–88. 104 Vgl. Rohr, Christian: Überschwemmungen an der Traun zwischen Alltag und Katastrophe. Die Welser Traunbrücke im Spiegel der Bruckamtsrechnungen des 15. und 16. Jahrhunderts, in: Jahrbuch des Musealvereins Wels 33 (2001– 2003), S. 281–327, hier: S. 295–297, 326f. Rohr spricht von einer kontinuierlichen Ausbesserung von Schäden und charakterisiert die vorausschauende Vorratshaltung von Materialien daher als regelrechte „Überschwemmungskultur“, vgl. Rohr, Christian: Extreme Naturereignisse im Ostalpenraum. Na-

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Präventive Maßnahmen ergriff z.B. die Kommune Florenz nach einer verheerenden Überschwemmung Anfang November 1333 durch Verbote, Stauwehre und andere Hemmnisse in den Lauf des Arno stromaufwärts von Florenz in einem festgelegten Abstand zur Stadt zu bauen, um bei einem erneuten Hochwasser einen Rückstau und dadurch verstärkte Überschwemmungsschäden zu verringern.105 Hier und andernorts zeigt sich, dass gerade im Bereich des Transports und der Versorgung der Bevölkerung Infrastrukturen eine maßgebliche Rolle gespielt haben. Daher ist folgerichtig von den Quellen auszugehen, die darüber informieren. Was in der bisherigen Darstellung wegen der gebotenen Kürze nur angedeutet werden konnte, ist das Potential von Quellen, die mit dem Handel in Verbindung stehen. Auch hier sehen die Autoren einen Ansatz für eine mittelalterliche ISG. Solche Quellen können, müssen jedoch nicht, in einem Zusammenhang zu Krisenphänomenen stehen. Grundsätzlich lässt sich jedoch zusammenfassen, dass individuelle bzw. kollektive Kritikalitätszumessungen zu den kulturellen Techniken gehören, welche die Menschen vor den Auswirkungen von Krisen schützen bzw. deren Auswirkungen reduzieren sollten. Gerade die ergriffenen Präventionsmaßnahmen geben Auskunft darüber, welche Infrastruktur(en) und welche zu ihnen gehörenden materiellen Strukturen im Wirkungsgefüge einer Gesellschaft besonders wichtig gewesen sind. Erst wenn über die Bedeutung einer Infrastruktur für die jeweilige Gesellschaft oder Gruppe (als Bezugsgröße) Klarheit besteht, lassen sich Fragen danach, wie verwundbar bzw. widerstandsfähig eine Infrastruktur war, in sinnvoller Weise beantworten. Die jüngere Forschung bietet für eine Charakterisierung dieser Eigenschaften von Infrastrukturen als analytische Leitdifferenz die Konzepte der ‚Vulnerabilität‘ versus ‚Resilienz‘ an.106 Das Konzept der ‚Vulnerabilität‘ (Verwundbarkeit, englisch ‚vulnerability‘) von

turerfahrung im Spätmittelalter und am Beginn der Neuzeit, Köln/Weimar/ Wien 2007, S. 368–370, 398. 105 Schenk, Gerrit Jasper: ‚...prima ci fu la cagione de la mala provedenza de’ Fiorentini...‘ Disaster and ‚Life world‘ – Reactions in the Commune of Florence to the Flood of November 1333, in: The Medieval History Journal 10 (2007), S. 355–386, hier: S. 372–375. 106 Vgl. Gallopín, Gilberto C.: Linkages between vulnerability, resilience, and adaptive capacity, in: Global Environmental Change 16 (2006), S. 293–303.

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Gesellschaften wurde zunächst in der Entwicklungspolitik und Katastrophenforschung verwendet. Es versucht die systemische (d.h. materielle, soziale und kognitive) Anfälligkeit von Gesellschaften gegenüber Risiken kausal und graduell zu erfassen107 und wird mittlerweile trotz einiger Kritik108 auch zur strukturellen Analyse von Infrastruktursystemen genutzt. Unter Vulnerabilität von Infrastrukturen werden beispielsweise Zustände und Prozesse verstanden, durch welche die Exposition, Anfälligkeit und Reaktionskapazität eines Infrastruktursystems oder seiner einzelnen Komponenten bedingt sind.109 Aus historischer Sicht wird dem Konzept eine

107 Vgl. Wisner, Ben et al. (Hrsg.): At Risk. Natural hazards, people’s vulnerability and disasters, London/New York 2004, S. 11–16, 49–86; vgl. auch die Beiträge in Bankoff, Greg/Frerks, Georg/Hilhorst, Dorothea (Hrsg.): Mapping Vulnerability. Disasters, Development and People, London 2004; ferner Bohle, Hans-Georg/Glade, Thomas: Vulnerabilitätskonzepte in Sozial- und Naturwissenschaften, in: Felgentreff, Carsten/Glade, Thomas (Hrsg.): Naturrisiken und Sozialkatastrophen, Berlin/Heidelberg 2008, S. 99–116. Der Vorschlag einer Quantifizierung von Vulnerabilität für Hungerkrisen von Steven Engler überzeugt jedoch nicht, weil er zum einen durch eine schlichte Indexierung mit Zahlenwerten einzelne Faktoren in ihrer Wirkung gleich macht und zum anderen wegen der höchst subjektiven Zu- und Verrechnung von Einzelfaktoren, die tatsächlich oft in z.B. kausalen Beziehungen stehen, die komplexe und spezifische Wirklichkeit jeden Einzelfalls so stark vereinfacht, dass an der Validität auf dieser Weise gewonnener Aussagen gezweifelt werden muss, vgl. Engler, Steven: Developing a historically based „Famine Vulnerability Analysis Model“ (FVAM) – an interdisciplinary approach, in: Erdkunde 66 (2012), S. 157–172. 108 Vgl. Bouchon, Sara: L’application du concept de vulnérabilité aux infrastructures critiques: quelles implications pour la gestion territoriale des risques?, in: Responsabilité et Environnement. Recherches, débats, actions 43 (2006), S. 35–41; vgl. Bürkner, Hans-Joachim: Vulnerabilität und Resilienz. Forschungsstand und sozialwissenschaftliche Untersuchungsperspektiven, Erkner 2010. 109 Vgl. Birkmann, Jörn et al. (Hrsg.): Indikatoren zur Abschätzung von Vulnerabilität und Bewältigungspotenzialen am Beispiel von wasserbezogenen Naturgefahren in urbanen Räumen, Bonn 2011, S. 25; Birkmann, Jörn u. a.: Extreme Events, Critical Infrastructures, Human Vulnerability and Strategic Planning: Emerging Research Issues, in: Extreme Events 3 (2016).

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Brückenfunktion zwischen Natur-, Ingenieur-, Sozial- und Kulturwissenschaften zugeschrieben.110 Als Gegenbegriff beschreibt das ursprünglich aus der Ökosystemtheorie stammende Konzept der Resilienz die Toleranz eines Systems gegenüber Störungen.111 Als ‚resilient‘ wird ein System verstanden, das die prozessförmige Fähigkeit einer dynamischen Reaktion gegenüber Krisen aufweist, zeitlich und räumlich flexible Reaktionen erlaubt, also eine bestimmte Widerstands- und Adaptionsfähigkeiten hat.112 In der zumeist englischsprachigen Forschung werden zum Teil drei Dimensionen von Resilienz unterschieden: Resistenz als vorsorgende Widerstandfähigkeit eines Systems gegenüber Schocks oder schleichenden Veränderungen; Erholungsfähigkeit (englisch ‚recovery‘) als die Kapazität, den Ausgangszustand relativ rasch wieder herzustellen, auf Störungen angemessen zu reagieren und diese zu absorbieren; Kreativität als Fähigkeit eines Systems, durch Anpassung an sich verändernde Bedingungen ein möglichst höheres Funktions- und Schutzniveau zu erreichen.113 Auch wenn das Konzept von politisch-

110 Zum ‚boundary concept‘ Vulnerabilität vgl. Collet, Dominik: „Vulnerabilität“ als Brückenkonzept der Hungerforschung, in: Collet, Dominik/Lassen, Thore/ Schanbacher, Ansgar (Hrsg.): Handeln in Hungerkrisen. Neue Perspektiven auf soziale und klimatische Vulnerabilität, Göttingen 2012, S. 13–25, hier: S. 17f.; ferner vgl. Schenk, Gerrit Jasper: Städte zwischen Vulnerabilität und Resilienz. Kritische Infrastruktur und der gesellschaftliche Umgang mit Katastrophen in der Geschichte, in: Symposium 2015. Resilienz von Gebäuden und Siedlungen im Klimawandel. 26. und 27. März 2015 in Stuttgart, hrsg. v. Stiftung Umwelt und Schadensvorsorge der SV Sparkassenversicherung Gebäudeversicherung Stuttgart, München 2015, S. 12–14, hier: S. 12f. 111 Folke, Carl et al.: Resilience. The Emergence of a Perspective for SocialEcological Systems Analyses, in: Global Environmental Change 16 (2006), S. 253–267. 112 Vgl. ebd.; vgl. Zolli, Andrew/Healy, Ann Marie: Resilience. Why Things Bounce Back, New York 2012. 113 So etwa Maguire, Brigit/Hagan, Patrick: Disasters and Communities. Understanding Social Resilience, in: The Australian Journal of Emergency Management 22 (2007), S. 16–20.

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kulturellen Vorannahmen unserer Zeit geprägt ist,114 begriffliche Unschärfen aufweist115 und die Übertragbarkeit auf historische Infrastrukturen problematisch ist, ermöglicht die Leitdifferenz zwischen ‚Vulnerabilität‘ und ‚Resilienz‘ eine genauere Charakterisierung einer historischen Infrastruktur. Insgesamt könnte man also argumentieren, dass die Kritikalität einer Infrastruktur einen Maßstab dafür abgibt, ob deren Vulnerabilität bzw. Resilienz für die zu untersuchende Gesellschaft von größerer oder geringerer Relevanz ist. Zusammenfassend sehen die Autoren, dass vor allem die Analyse der zeitgenössischen „Kritikalitätszumessung“ folgende Erkenntnismöglichkeiten für die Mediävistik eröffnet: (1) (2) (3)

Erkennen von Wertigkeiten bzw. Hierarchien innerhalb von Versorgungs- und Transportinfrastruktur(en) Exaktere terminologische Abgrenzung der Krisendiagnose von der Krisenbewältigung Erkennen der Spezifik der Verbindung aller drei Komponenten von Infrastruktur(en)

BEMERKUNGEN ZUM FORSCHUNGSSTAND Mobilität, Transport und Verkehr sowie Kommunikation auch der Vormoderne sind zwar schon lang etablierte Forschungsgebiete in der Wirtschaftsund Sozialgeschichte bis hin zur jüngeren Kulturgeschichte.116 In der Altstraßenforschung wie bei der Erforschung wasserbaulicher Infrastruktur liegt der Schwerpunkte jedoch auf der Untersuchung der antiken römischen

114 Vgl. jüngst Höhler, Sabine: Resilienz. Mensch – Umwelt – System. Eine Geschichte der Stressbewältigung von der Erholung zur Selbstoptimierung, in: Zeithistorische Forschungen 11 (2014), S. 425–443; vgl. ferner Hempel, Leon/ Lorenz, Daniel F.: Resilience as an Element of a Sociology of Expression, in: Behemoth – Journal on Civilisation 7 (2014), S. 26–72. 115 Endreß, Martin/Rampp, Benjamin: Resilienz als Prozess transformativer Autogenese. Schritte zu einer soziologischen Theorie, in: Behemoth 7 (2014), S. 73–102. 116 Vgl. den Forschungsüberblick in Engels/Schenk: Macht, S. 27–40.

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Infrastruktur (Straßen, Aquädukte, Brücken, Tunnels).117 Erst in den letzten Jahrzehnten fanden Fragen zur Rolle von Binnenwasserwegen auch für die Zeit des Mittelalters und der Frühen Neuzeit Beachtung.118 Unseres Erachtens lassen die gewonnenen Erkenntnisse die Aussage zu, dass dank einer netzwerkartigen Verbindung von Wasserläufen mit Treidelpfaden, Hafenanlagen mit Ladekränen, Märkten (Stapelplätzen), Kanälen, Schleusen, Brücken, Straßen, Fähren und Zollstationen das kombinierte straßen- und wasserbauliche Transportwegenetz zumindest in Ansätzen den systemhaften Charakter einer Transport- und Versorgungs-Infrastruktur aufweist.119

117 Zur Altstraßenforschung vgl. ebd., S. 33–35. Zur archäologischen, althistorischen, altphilologischen und ingenieurwissenschaftlichen Erforschung der antiken Wasserbauten und ihres Nachlebens für den deutschsprachigen Bereich vgl. die Publikationen der „Frontinus-Gesellschaft“, online verfügbar unter: http://www.frontinus.de/publikationen/index.html [Stand 10.06.2017] und der „Deutschen Wasserhistorischen Gesellschaft“, online verfügbar unter: https:// www.dwhg-ev.com [Stand: 10.06.2017]. 118 Vgl. zum Beispiel Elmshäuser, Konrad (Hrsg.): Häfen, Schiffe, Wasserwege. Zur Schifffahrt des Mittelalters, Hamburg 2002; Boe, Guy de/Verhaeghe, Frans (Hrsg.): Travel, Technology & Organisation in Medieval Europe. Papers on the „Medieval Europe Brugge 1997“ Conference, Zellik 1997; vgl. Patitucci Uggeri, Stella (Hrsg.): La viabilità medievale in Italia. Contributo alla carta archeologica medievale, Florenz 2002; vielfach problematisch: Molkenthin, Ralf: Straßen aus Wasser. Technische, wirtschaftliche und militärische Aspekte der Binnenschifffahrt im Westeuropa des frühen und hohen Mittelalters, Berlin 2006; zentral: Ellmers, Detlev: Techniken und Organisationsformen zur Nutzung der Binnenwasserstraßen im hohen und späten Mittelalter, in: Schwinges, Rainer Christoph (Hrsg.): Straßen- und Verkehrswesen im hohen und späten Mittelalter, Ostfildern 2007, S. 161–184; grundlegend jetzt Bütow: Straßen. Im Rahmen des Schwerpunktprogramms 1630 der Deutschen Forschungsgemeinschaft „Häfen von der Römischen Kaiserzeit bis zum Mittelalter“ (http://www.spp-haefen.de) entstehen zur Zeit Studien, die ein neues Licht auf die Entwicklung an der Epochengrenze werfen werden. 119 Für die Niederlande vgl. Blondé, Bruna/Uytven, Raymond van: Langs: Landen waterwegen in de Zuidelijke Nederlanden. Lopend onderzoek naar het prëindustriële transport, in: Bijdragen to de geschiedenis 82 (1999), S. 135– 158. Erste Versuche für Norditalien bei Bigatti, Giorgio: La provincia delle

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Ob man mit Dietrich Lohrmann die „‚Wiege‘ des modernen Verkehrswasserbaus“ bereits 1179 mit dem Kanal Naviglio Grande in Oberitalien oder aber in Holland mit der 1373 nachweisbaren Doppeltorschleuse von Vreeswijk am Utrecht-Lek-Kanal stehen sieht120, wäre noch zu entscheiden. Die Forschungsthese einer erst im 18. Jahrhundert einsetzenden europäischen „Transportrevolution“121 muss jedenfalls kritisch hinterfragt werden, wenn neben dem Straßenbau auch die Wasserwege einbezogen werden. Die Frage nach der Datierung und Lokalisierung einer ‚Transportrevolution‘ ist wichtig, weil die Effizienz des Transportwesens als wesentlich für die Entwicklung komplexer und differenzierter Wirtschafts- und Gesellschaftsformen gilt. Bereits 1938 hat Johan Plesner die „rivoluzione stradale“ im Mittelitalien des 13. Jahrhunderts als wesentliche Voraussetzung der etwa gleichzeitigen Handelsrevolution mit allen ihren gesellschaftspolitischen Folgen skizziert.122 Eine ähnliche Rolle spielt die ‚Transportrevolution‘ des 18. Jahrhunderts für die frühe Industrialisierung Englands und die Klärung der Frage nach einem eventuellen ‚Sonderweg‘ Europas in die (industrielle)

acque. Ambiente, istituzioni e tecnici in Lombardia, Mailand 1995 und Bergier, Jean-François/Coppola, Gauro (Hrsg.): Vie di terra e d’acqua. Infrastrutture viarie e sistemi di relazioni in area alpina (secoli XIII–XVI), Bologna 2007; ferner jüngst Bütow: Straßen, S. 57–61, 234–248. 120 Vgl. Lohrmann, Dietrich: Wo stand die „Wiege“ des modernen Verkehrswasserbaus?, in: 30. Internationales Wasserbau-Symposium. Mitteilungen des Lehrstuhls und Instituts für Wasserbau und Wasserwirtschaft der RWTH Aachen, Aachen 2000, S. 1–17. 121 Möser, Kurt: Prinzipielles zur Transportgeschichte, in: Sieferle, Rolf Peter (Hrsg.): Transportgeschichte, Berlin 2008, S. 39–78, hier: S. 53–61. 122 Vgl. Plesner, Johan: Una rivoluzione stradale del Dugento, Aarhus 1938, S. 92–101; Forschungsüberblick bei Rombai, Leonardo: Per una storia della viabilità provinviale di Firenze. La “Rivoluzione Stradale” dell’età comunale. Gli interventi dei governi granducali, la gestione provinciale, in: Rombai, Leonardo (Hrsg.): Provincia di Firenze. Le Strade Provinicali di Firenze. Geografia, Storia e toponomastica, Bd. 1, Florenz 1992, S. 83–115, hier: S. 86–93. Zur Handelsrevolution des 13. Jahrhunderts vgl. Spufford, Peter: Handel, Macht und Reichtum. Kaufleute im Mittelalter, Darmstadt 2004, S. 11–44, 132–141.

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Moderne.123 Der Pfad für diese Entwicklung könnte in England jedoch offenbar schon früher gelegt worden sein, wie eine methodisch wegweisende Debatte der jüngeren Zeit zeigt.124 Das zerklüftete Relief der britischen Inseln begünstigte von jeher den kosteneffizienten Transport zu Schiff um die Insel herum. James Frederick Edwards stellte 1987 die Frage, ob und inwieweit eine systemartige Vernetzung von Land- und Wasserstraßen den Wirtschaftsraum Englands bereits im Mittelalter mittels kleinerer Schiffe auch bis weit ins Binnenland erschlossen habe.125 Seine Rekonstruktion des kombinierten Transportnetzes führte zu einer über mehrere Jahre geführten Kontroverse, die mit einer Studie des Oxforder Historikers John Blair zu einem gewissen Ende kam und sich kurz so charakterisieren lässt:126 Das

123 Zur (in transkultureller Perspektive problematischen) Sonderwegdebatte vgl. Mitterauer, Michael: Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs, München 2003; Mathis, Franz: Wann beginnt der „Europäische Sonderweg“? Zur Rolle des Mittelalters in der wirtschaftlichen Entwicklung Europas, in: Brandstätter, Klaus/Hörmann, Julia (Hrsg.): Tirol – Österreich – Italien. Festschrift für Josef Riedmann zum 65. Geburtstag, Innsbruck 2005, S. 441–453; Sieferle: Transportgeschichte; Möser: Transportgeschichte, S. 41f., rechnet bereits vor 1750 mit einer ersten ‚Transportrevolution‘ in England. 124 Zuletzt Langdon, John/Claridge, Jordan: Transport in Medieval England, in: History Compass 9 (2011), S. 864–875; Langdon, John: The Efficiency of Inland Water Transport in Medieval England, in: Blair, John (Hrsg.): Waterways and Canal-Building in Medieval England, Oxford/New York 2007, S. 110– 130; im Band auch Beiträge zu den Methoden. 125 Vgl. Edwards, James Frederick: The transport system of medieval England and Wales – a geographical synthesis, Dissertation Salford 1987. 126 Vgl. Edwards, James Frederick/Hindle, Brian Paul: The transportation system of medieval England and Wales, in: Journal of historical geography 17 (1991), S. 123–134; Langdon, John: Inland water transport in medieval England, in: Journal of historical geography 19 (1993), S. 1–11; Edwards, James Frederick/Hindle, Brian Paul: Comment. Inland water transportation in medieval England, in: Journal of historical geography 19 (1993), S. 12–14; Jones, Evan T.: River navigation in medieval England, in: Journal of historical geography 26 (2000), S. 60–75; Langdon, John: Inland Water Transport in Medieval England – the View from the Mills. A Response to Jones, in: Journal of

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Verkehrs- und Transportwesen Englands wies schon im Hochmittelalter Netzwerkcharakter durch die gezielte Kombination von Land- und Wasserwegen, Brücken, Umladestationen usw. auf. Im Spätmittelalter geriet das System durch eine zunehmende Nutzungskonkurrenz durch Mühlen, Fischerei und andere Hemmnisse der Wasserwege in eine Krise, doch blieb das Netz insgesamt erhalten, indem z.B. variable Wehre und an die Bedingungen besser angepasste Bootstypen eingesetzt wurden. An diesem Beispiel wird geradezu überdeutlich, dass mit der wachsenden wirtschaftlichen Bedeutung der Infrastruktur auch ihre gesellschaftliche Einschätzung als ‚kritisch‘ zunahm. Das Wechselspiel von Aushandlungsprozessen, die nicht nur auf unterschiedlichen individuellen und kollektiven Interessen, sondern auch auf differierenden Kritikalitätszumessungen beruhten, formte sie entscheidend mit. Viele Quellen erzählen mit den Konflikten implizit auch von der Kritikalitätszumessung der Zeitgenossen für eine bestimmte Infrastruktur, von den Gründen für das Handeln der Akteure und ihrer Handlungsmacht, von Experten und Nutzern, von Profiteuren und Saboteuren. Sie sollten genutzt werden, um einen besseren Zugang zu Phänomenen zu gewinnen, die bisher wenig Aufmerksamkeit der Forschung fanden, aber einen wichtigen Faktor der (nicht nur) mittelalterlichen Lebenswelt darstellten.

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„Kritische Rohstoffe“ Sebastian Haumann

In den vergangenen zehn Jahren war immer häufiger nicht nur von „kritischen Infrastrukturen“, sondern auch von „kritischen Rohstoffen“ zu lesen. Wie in Bezug auf Infrastrukturen wird auch hierbei über Sicherheit und Risiken, und insbesondere die Vulnerabilität von Systemen diskutiert. „Kritische Rohstoffe“ sind essentiell für die Aufrechterhaltung von Produktionssystemen und zugleich ihre potenzielle Schwachstelle. Sie werden für die Herstellung von Gütern benötigt, die das Wirtschaftswachstum antrieben und einen modernen Lebensstandard ermöglichen. Einerseits würde es die wirtschaftliche Grundlage der Industriegesellschaft in Gefahr bringen, sollte die Versorgung mit diesen Rohstoffen behindert oder gar unterbrochen werden. Andererseits zieht der notwendige Verbrauch dieser Rohstoffe ökologische Folgen nach sich und produziert geostrategische Abhängigkeiten, die die potenziellen Risiken für die wirtschaftliche Entwicklung der Industriegesellschaften erhöhen. So wie das Konzept der „kritischen Infrastrukturen“ zielt also auch das Konzept der „kritischen Rohstoffe“ auf das Spannungsfeld von sozioökonomischer Bedeutung einerseits und erhöhter Vulnerabilität andererseits. Während „kritische Rohstoffe“ bisher vor allem aus Sicht der Wirtschaftswissenschaften, der Umweltwissenschaften oder im Rahmen von Policy-Analysen untersucht worden sind, kann ein geschichtswissenschaftlicher Beitrag entscheidend dazu beitragen, die langfristigen und tieferen Wurzeln der „Kritikalität“ freizulegen. Denn welche Rohstoffe „kritisch“ waren, hat sich im Laufe der Geschichte immer wieder geändert. Die heut-

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zutage allgegenwärtigen „seltenen Erden“ waren noch Mitte des 20. Jahrhunderts alles andere als „kritisch“.1 Unterdessen ist heute kaum vorstellbar, dass etwa Kalkstein um 1900 als Flussmittel für die Eisen- und Stahlherstellung essentiell für die wirtschaftliche Entwicklung der europäischen Industriegesellschaften war.2 Folglich gibt es Prozesse, die dazu führen, dass Rohstoffe „kritisch“ werden, und – dies scheint für die aktuelle Debatte besonders aufschlussreich – die dazu führen können, dass sie ihre „Kritikalität“ verlieren. Dabei handelt es sich um historische Prozesse, die im Folgenden auf drei Ebenen nachgezeichnet und interpretiert werden. Vordergründig ist die Verwendung des Begriffs „kritische Rohstoffe“ (1.) ein diskursives Phänomen. Was jeweils als „kritisch“ bezeichnet wurde, wandelte sich im Laufe der Jahrhunderte. Auch dann wenn der Begriff „kritisch“ selbst nicht verwendet wurde, gab es immer Diskurse, wie etwa den über die „Holznot“ im 18. und frühen 19. Jahrhundert, die in ähnlicher Weise konturiert waren. Wie über Risiken der Versorgung mit bestimmten Rohstoffen gesprochen wurde, spiegelte zeitgenössische Annahmen über die physischen Eigenschaften, Nutzungsmöglichkeiten und Verbreitung des jeweiligen Rohstoffs, aber auch handfeste ökonomische Interessen. Das heutige Reden von „kritischen Rohstoffen“ reiht sich in eine lange Geschichte des Diskurses über die sozioökonomische Bedeutung und die Risiken der Rohstoffversorgung ein. Wenn sich der aktuelle Diskurs über „kritische Rohstoffe“ in eine lange Geschichte einordnen lässt, bedeutet dies keineswegs, dem Konzept analytisches Potenzial abzusprechen. Im Gegenteil, die historische Perspektive hat einiges zur Weiterentwicklung der analytischen Konzepte beizutragen, die aktuell unter dem Schlagwort der „kritischen Rohstoffe“ zusammengefasst werden. Dabei kommen (2.) zunächst geostrategische Risiken in den Blick. Es geht um Risiken, die mit der Kontrolle über Gewinnung von Rohstoffen zusammenhängen, die an bestimmten Orten in bestimmten – d.h.

1

Kolczewski, Christine: Seltene Erden. Vom Glühstrumpf zum weltweiten Zankapfel, in: Ferrum 85 (2013), S. 35–43; Marschall, Luitgard/Holdinghausen, Heike: Seltene Erden. Umkämpfte Rohstoffe des Hightech-Zeitalters, München 2017.

2

Haumann, Sebastian: Konkurrenz um Kalkstein. Rohstoffsicherung der Montanindustrie und die Dynamik räumlicher Relationen um 1900, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 57 (2016), S. 29–58.

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begrenzten – Quantitäten verfügbar sind. Risiken entstehen meist als Folge der Abhängigkeit von Staaten, die gewissermaßen ein „natürliches“ Monopol besitzen. Auch diese Risiken haben eine Geschichte, oft in langfristig wirksamen handels- und außenpolitischen Weichenstellungen oder in der infrastrukturellen Erschließung, die Zugänglichkeit der Vorkommen bestimmen. Welche Mengen eines Rohstoffs wo verfügbar sind, ist aber nicht nur eine Frage der „natürlichen“ Vorkommen, sondern ebenso eine Frage des Wissens über die Verbreitung von Rohstoffen. Dieses Wissen wandelte sich, und zwar in Wechselwirkung mit der Wahrnehmung und Bewertung geostrategischer Risiken. Das Konzept der „kritischen Rohstoffe“ verweist (3.) auf die Einbindung eines Rohstoffes in Wertschöpfungsketten. Nur dadurch, dass ein Rohstoff für die Produktion eines gesellschaftlich relevanten Gutes benötigt wird, kann er überhaupt „kritisch“ werden. Erst dadurch entsteht das charakteristische Spannungsfeld von sozioökonomischer Bedeutung und erhöhter Vulnerabilität. Auf dieser dritten Ebene liegt das größte Erkenntnispotenzial einer Historisierung des Konzepts der „kritischen Rohstoffe“. Denn die Frage nach der (prekären) Verfügbarkeit eines Rohstoffs muss an die Frage nach der Dynamik von Produktionssystemen zurückgebunden werden. Historisch lassen sich Wertschöpfungsketten als Produktionssysteme beschreiben, die nicht nur durch neue Erfindungen konstituiert werden, sondern durch einen Kontext aus Organisationsprinzipien, Institutionen und – im Falle der Rohstoffe besonders wichtig – einem bestimmten Wissen über Naturphänomene geformt sind. Die Entstehung und der Wandel von Produktionssystemen, in denen bestimmte Rohstoffe eingebunden sind, ist historisch zu erklären. Wenn im Folgenden das Konzept der „kritischen Rohstoffe“ aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive interpretiert und ergänzt wird, steht das Denken und Handeln von Menschen im Mittelpunkt. Dann erklärt sich die Nutzung von Rohstoffen nicht aus deren „natürlichen“ Eigenschaften, sondern aus den gesellschaftlichen Bedingungen, in denen diese „natürlichen“ Eigenschaften eingebunden sind. Damit ist nicht gesagt, dass physikalische oder chemische Attribute eines Rohstoffs und dessen geologische Verbreitung irrelevant wären. Aber für die „Kritikalität“ von Rohstoffen ist entscheidend, wie sich Knappheitsdiskurse, Rahmenbedingungen der Verfügbarkeit und Produktionssysteme formieren.

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„KRITISCHE ROHSTOFFE“ ALS DISKURSIVES PHÄNOMEN Auf den ersten Blick lässt sich die Rede von „kritischen Rohstoffen“ leicht als diskursive Formel entschlüsseln. Die 2009 von der EU Kommission eingesetzte Working Group on Defining Critical Raw Materials beispielsweise erklärte die Verfügbarkeit dieser Rohstoffe pathetisch überhöht zur Grundlage von Wohlstand und einer hohen Lebensqualität schlechthin. Sie seien: „essential for our way of life […] As a society we rely on the availability […] to maintain our quality of life.“3 Letztlich gemeint waren vor allem zukünftige wirtschaftliche Entwicklungschancen, die von der Verfügbarkeit bestimmter Rohstoffe abhingen. Der starke Fokus auf die Herstellung von Produkten, die als Zukunftstechnologien gelten, legt dies nahe. Die EU Working Group nannte als Beispiele die Herstellung von Touchscreens in Kommunikationstechnologien, Windturbinen und Solarzellen in Anlagen für eine künftige Energieversorgung oder Anwendungsgebiete im Bereich der Medizintechnik.4 Die Rohstoffe, die hier angesprochen sind, gelten als „kritisch“ für die Realisierung von Zukunftskonzepten. Auffällig ist, wie sich die Working Group im semantischen Feld von Zukunftssicherheit und Krise bewegte, die das Spannungsfeld von sozioökonomischer Bedeutung und erhöhter Vulnerabilität auf der diskursiven Ebene widerspiegelt. Einer Zukunft, in der eine nachhaltige Stromerzeugung oder eine bessere Medizintechnik möglich ist, wurde ein Bedrohungsszenario gegenübergestellt, das durch die Unterbrechung der Versorgung mit bestimmten Rohstoffen Realität werden könnte. Konkret hatte die EU Kommission die Working Group zum einen damit beauftragt, solche Rohstoffe zu identifizieren, die für die zukünftige wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung entscheidend sein werden. Zum anderen sollte die Working Group die Risiken für die Versorgung mit einzelnen Rohstoffen evaluieren. Vorstellungen der Ermöglichung und der Bedrohung sind in diesem Kritikalitätsdiskurs aufeinander bezogen.5 3

Europäische Kommission: Report on critical raw materials for the EU. Report of the Ad hoc Working Group on defining critical raw materials, 2014, S. 7.

4

Ebd., S. 7f.

5

Europäische Kommission: Critical raw materials for the EU. Report of the Adhoc Working Group on defining critical raw materials, 2010.

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Während die EU Kommission den Begriff der „kritischen Rohstoffe“ mit dem Paradigma wirtschaftlichen Wachstums in Verbindung brachte, gab es auch Stimmen, die den Begriff nutzten, um auf Entwicklungschancen im Sinne einer nachhaltigen Nutzung von Rohstoffen aufmerksam zu machen. Der Begriff der „Kritikalität“ sollte das Bewusstsein für den gesellschaftlichen Umgang mit Rohstoffen – und insbesondere die komplexen globalen Abhängigkeiten zwischen Produktion und Konsum – schärfen. Adressaten waren hier sowohl die Produzenten als auch die Konsumenten von Gütern, die unter Verwendung „kritischer Rohstoffe“ hergestellt werden. Sie sollten zu einem reflektierteren und effizienteren Umgang mit Rohstoffen angeregt werden. Die Argumentation ist dabei doppelbödig: einerseits greift sie die Sorge um geostrategische Abhängigkeiten auf, die durch eine effizientere Nutzung reduziert werden könnten; andererseits ist dieses Argument immer auch mit dem expliziten Hinweis auf ökologische und soziale Folgen verbunden. Insofern wurde das Argument der Abhängigkeit genutzt, um die Ausbeutung von Umwelt und Menschen an den Orten, an denen diese Rohstoffe gewonnen werden, zu thematisieren. Die Risiken, die mit „kritischen Rohstoffen“ in Beziehung gesetzt wurden, umfassen demnach nicht primär Gefahren für die wirtschaftliche Entwicklung, sondern vor allem die Verschärfung ökologischer und sozialer Probleme und Konflikte.6 Sowohl in den Definitionsversuchen der EU Kommission als auch in den alternativen Deutungsangeboten, die auf Nachhaltigkeit abzielen, handelt es sich bei dem Verweis auf „kritische Rohstoffe“ zunächst einmal um eine diskursive Formel. Sie lassen sich problemlos als Positionen in einem Expertendiskurs untersuchen, der zwischen Politikern, Lobbyisten und Wissenschaftlern geführt wird. Mit dem Attribut „kritisch“ soll auf die besondere Bedeutung und die besonderen Risiken hingewiesen werden, die

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Schmidt, Claudia: Entscheidungen im Alltag. Stoffgeschichten und Kritikalitätsbewertungen, in: Müller, Markus M. (Hrsg.): Nachhaltigkeit neu denken. Rio + X: Impulse für Bildung und Wissenschaft, München 2013, S. 167–172; Tuma, Axel et al.: Nachhaltige Ressourcenstrategien in Unternehmen. Identifikation kritischer Rohstoffe und Erarbeitung von Handlungsempfehlungen zur Umsetzung einer ressourceneffizienten Produktion, Augsburg 2014; Exner, Andreas/Held, Martin/Kümmerer, Klaus (Hrsg.): Kritische Metalle in der Großen Transformation, Berlin 2016.

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mit der Nutzung dieser Rohstoffe einhergehen. Weil beides – erhöhte Bedeutung und Risiken – miteinander verschränkt sind, erzeugt das Reden über „kritische Rohstoffe“ einen Handlungsdruck, der über die Thematisierung der Rohstoffversorgung im Allgemeinen hinausgeht. Dass der Begriff in den 2000er Jahren in Umlauf kam, ist dabei sicherlich kein Zufall. Den breiteren Kontext des Diskurses bilden etwa der ansteigende Rohstoffverbrauch von ehemaligen „Schwellenländern“, insbesondere Chinas, und die Thematisierung der sogenannten „seltenen Erden“, bei denen sich der Eindruck von potentiellen Versorgungsrisiken schon mit dem Namen aufdrängt.7 Ein Blick in die geschichtswissenschaftliche Forschung unterstreicht, welche zentrale Rolle der diskursiven Auseinandersetzung für den gesellschaftlichen Umgang mit Rohstoffen zukommt. Historisch betrachtet handelt es sich bei dem Reden über „kritische Rohstoffe“ um eine neue Ausprägung eines Diskurses, der mindestens bis in das 18. Jahrhundert zurückreicht und immer wieder Aktualisierungen erfahren hat. Darin spiegeln sich zum einen Konjunkturen der Rohstoffwirtschaft wider, gekoppelt mit je zeitspezifischen Wahrnehmungsmustern und Zukunftsvorstellungen. Immer wurde für Rohstoffe, denen besondere ökonomische Bedeutung beigemessen wurde, versucht, Risiken zu erfassen und geeignete Maßnahmen zu entwickeln, mit diesen Risiken umzugehen.8 Auch das Konzept der Nachhaltigkeit tauchte erstmals in Diskursen über die Verfügbarkeit von Rohstoffen im 18. Jahrhundert auf.9 Insbesondere die sogenannte „Holznot“Debatte im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert weist Parallelen zum heutigen Diskurs über „kritische Rohstoffe“ auf, die für ein historisiertes Verständnis von „Kritikalität“ instruktiv sind. Im 18. Jahrhundert mehrten sich die Klagen über die Verknappung von Holz. Der konstatierte Mangel drohte die wirtschaftliche Entwicklung abzuwürgen, die mit der beginnenden Industrialisierung gerade erst einsetzte. Der Ökonom Werner Sombart prägte später den Begriff der „Holzbremse“, die die außerordentliche wirtschaftliche Dynamik des 19. Jahrhunderts un-

7

Marschall/Holdinghausen: Seltene Erden, S. 15.

8

Barbier, Edward: Scarcity and Frontiers. How economies have developed through natural resource exploitation, Cambridge 2011.

9

Winiwarter, Verena/Knoll, Martin: Umweltgeschichte. Eine Einführung, Köln 2007, S. 302.

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möglich gemacht hätte.10 Entscheidend war, dass es sich bei der „Holznot“ nicht um eine allgemeine Verknappung handelte, sondern vor allem bestimmte Zweige der industriellen Produktion von ihr betroffen waren – insbesondere die energieintensive Montanwirtschaft, wie die Eisenverhüttung.11 An dem Diskurs über die „Holznot“ waren daher Vertreter der Montanwirtschaft prominent beteiligt. Sie argumentierten, wie die Unternehmer Jacobi, Haniel und Huyssen, die im heutigen Oberhausen Hochöfen zur Eisenherstellung betrieben, dass die Versorgung ihres Werkes „kritisch“ sei, da „für unsere 2 Hochöfen und Hammerwerk […] das Brennholz nicht zureichend ist.“12 Das Preußische Ministerium des Inneren, den Adressaten ihrer Klage, forderten die Unternehmer auf, durch gesetzgeberische Maßnahmen eine zuverlässige Versorgung zu gewährleisten. Als Begründung führten sie die Bedeutung der Eisenverarbeitung für die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung an. Eine solche Argumentation überzeugte die staatlichen Stellen in Preußen, die sich um die Wettbewerbsfähigkeit und Abhängigkeit von anderen Staaten sorgten.13 Mit Blick auf das Entwicklungspotenzial des Maschinenbaus und der Eisenbahn galten die Produkte der Eisenverhüttung als „dasjenige Metall, welches – als Roheisen, Stabeisen und Stahl – den grössten Werth für die menschliche Gesellschaft besitzt und gewissermassen als der Schlüssel zur neueren Cultur und Civilisation

10 Sombart, Werner: Der moderne Kapitalismus, Bd. 2. Das europäische Wirtschaftsleben im Zeitalter des Frühkapitalismus, vornehmlich im 16., 17. und 18. Jahrhundert, Leipzig 1928, S. 1143 und S. 1152. 11 Radkau, Joachim: Zur angeblichen Energiekrise des 18. Jahrhunderts. Revisionistische Betrachtungen über die „Holznot“, in: Vierteljahrschrift für Sozialund Wirtschaftsgeschichte 73 (1986), S. 1–37; Grewe, Bernd-Stefan: „Man sollte sehen und weinen!“. Holznotalarm und Waldzerstörung vor der Industrialisierung, in: Uekötter, Frank (Hrsg.): Wird Kassandra heiser? Die Geschichte falscher Ökoalarme, Stuttgart 2004, S. 24–40. 12 Brief von Jacobi, Haniel & Huyssen an Preußisches Ministerium des Inneren, 28.09.1833, GStAPK, 1. HA Rep. 121, 6570. 13 Mieck, Ilja: Preussische Gewerbepolitik in Berlin, 1806-1844. Staatshilfe und Privatinitiative zwischen Merkantilismus und Liberalismus, Berlin 1965, S. 87f.; Brose, Eric Dorn: The Politics of Technological Change in Prussia. Out of the Shadow of Antiquity, 1809-1848, Princeton 1993.

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betrachtet werden kann“, wie ein zeitgenössischer Kommentar befand.14 Ohne die ausreichende Versorgung mit Holz und Holzkohle schien diese Entwicklung bedroht. Inwieweit die verbreiteten Beschwerden über die Verknappung von Holz an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert zutreffend waren, ist umstritten. Einerseits ließ sich das Argument des Holzmangels in der politischen Debatte nur allzu leicht instrumentalisieren. Unternehmen erhofften, mit Verweis auf die „Holznot“ die Regulierung des Holzmarktes und der Forstwirtschaft zu ihren Gunsten beeinflussen zu können.15 Andererseits ist es wahrscheinlich, dass es regional und für spezifische Verwendungszwecke tatsächlich zu einer Verknappung kam. Gerade im Fall der Eisenverhüttung galten bestimmte Holzsorten als besonders geeignet, um aus ihnen die Holzkohle herzustellen, die für die Eisenproduktion nutzbar war.16 Unabhängig davon, ob der drohende Holzmangel ein geschickt instrumentalisiertes Szenario war oder ob er – wenn auch begrenzt – real war, ist zu konstatieren, dass sich mit Verweis auf die „Holznot“ ein wirkmächtiger Diskurs herausbildete, in dem es um zukünftige Entwicklungschancen ging. Wirkmächtig war der Diskurs um die „Holznot“ deswegen, weil er Akteure dazu brachte, mit der – vermeintlichen oder tatsächlichen – Knappheit umzugehen. In der kontinentaleuropäischen Eisenverhüttung kam es im 18. Jahrhundert zunächst zu Versuchen, den Rohstoffverbrauch „nachhaltiger“ zu gestalten, d.h. durch Verbrauchsbeschränkungen dem nachwachsenden Angebot anzupassen.17 Als derartige Beschränkungen im 19. Jahrhundert der Gewerbefreiheit wichen, setzte die Optimierung der Holzkohlenutzung ein. Technologische Innovationen im Bereich der Eisen-

14 Hartmann, Carl: Handbuch der Bergbau- und Hüttenkunde, oder die Aufsuchung, Gewinnung und Zugutemachung der Erze, der Stein- und Braunkohlen und anderer Mineralien. eine Encyklopädie der Bergwerkskunde, Weimar 1858. 15 Grewe: „Man sollte sehen und weinen!“; Radkau: Zur angeblichen Energiekrise, S. 7f. 16 Radkau, Joachim: Holz - wie ein Naturstoff Geschichte schreibt, München 2012, S. 42f. 17 Fremdling, Rainer: Innovation und Mengenanpassung. Die Loslösung der Eisenerzeugung von der vorindustriellen Zentralressource Holz, in: Siegenthaler, Hansjörg (Hrsg.): Ressourcenverknappung als Problem der Wirtschaftsgeschichte, Berlin 1990, S. 17–46, hier: S. 18ff.

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verhüttung zielten primär darauf ab, die Effizienz der Holzkohlenutzung zu verbessern. Das Sparpotenzial der entsprechenden Innovationen war dabei zum Teil erheblich und trug dazu bei, dass der befürchtete Holzmangel die wirtschaftliche Entwicklung im Allgemeinen nicht hemmte.18 Der Knappheitsdiskurs floss schließlich aber vor allem in die Umstellung der Eisenverhüttung auf einen gänzlich neuen Brennstoff, die Steinkohle, ein. Die Substitution von Holz durch Steinkohle lässt sich nur vordergründig mit der Verschiebung der Preisdifferenz zwischen den beiden Rohstoffen erklären. Im Hintergrund war aber die Antizipation der zukünftigen Verfügbarkeit beider Rohstoffe ein entscheidender Antrieb für die Umstellung. In der breiten Rezeption der britischen Verhüttungstechnologien, die bereits seit dem späten 18. Jahrhundert auf Steinkohle zurückgriff, zeigt sich, wie wichtig und wie ausgeprägt das Bewusstsein für die „kritische“ Bedeutung von Holz war.19 Der epochale Übergang vom solaren zum fossilen Energiesystem, der sich vor allem auch an der Eisenverhüttung festmachte, hatte viel mit der Reflexion der Begrenztheit des Rohstoffs Holz und dessen Zukunftsfähigkeit zu tun.20 In Analogie zu den „kritischen Rohstoffen“ des frühen 21. Jahrhunderts erscheint auch das Reden über die „Holznot“ als diskursive Formel. Allerdings wird in der historischen Langzeitperspektive auch deutlich, welche Folgen dieser Diskurs nach sich zog. Entscheidend für die geschichtswissenschaftliche Bewertung der „Holznot“-Debatte ist, dass sie handlungsleitend wurde, obwohl eine allgemeine Knappheit von Holz nicht nachweisbar ist. Dieser Befund unterstreicht, dass die Frage nach der gesellschaftlichen

18 Plumpe, Gottfried: Die württembergische Eisenindustrie im 19. Jahrhundert. Eine Fallstudie zur Geschichte der industriellen Revolution in Deutschland, Stuttgart 1982. 19 Weber, Wolfhard: Frühe Versuche zum Betrieb von Hochöfen mit Steinkohlekoks in Preußens (Nord-)Westen, in: Rasch, Manfred (Hrsg.): Der Kokshochofen. Entstehung, Entwicklung und Erfolg von 1709 bis in die Gegenwart, Essen 2015, S. 137-152; Fremdling, Rainer: Transfer Patterns of British Technology to the Continent. The Case of the Iron Industry, in: European Review of Economic History 4,2 (2000), S. 195–222. 20 Sieferle, Rolf Peter/Winiwarter, Verena/Krausmann, Fridolin u. a.: Das Ende der Fläche. Zum gesellschaftlichen Stoffwechsel der Industrialisierung, Köln 2006, S. 131-136.

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Einschätzung von ökonomischer Bedeutung eines Rohstoffs und dessen Versorgungsrisiken wesentlich wichtiger ist, als eine reale Verknappung.21 Der Diskurs über „kritische Rohstoffe“ erzeugt ebenso wie der über die „Holznot“ – unabhängig von ihrem Gehalt – Handlungsdruck mit weitreichenden Folgen. Die Konsequenzen, die die Zeitgenossen im 18. und 19. Jahrhundert aus der „Holznot“ zogen, zeichnen sich auch im aktuellen Diskurs über „kritische Rohstoffe“ ab: Sowohl über eine nachhaltige Nutzung der betreffenden Rohstoffe als auch über Methoden der Effizienzsteigerung und schließlich Möglichkeiten der Substitution wird nachgedacht. Ob dies, wie im Fall des Rohstoffs Holz dazu führen wird, dass die befürchtete Knappheit schließlich nicht eintritt, lässt sich freilich nicht absehen. Historisch betrachtet ist aber bereits die Entstehung eines wirkmächtigen Diskurses über die Entwicklungschancen und Versorgungsrisiken entscheidend für den Wandel im Umgang mit Rohstoffen – das Reden über „kritische Rohstoffe“ erscheint so als aktuelle Form eines bekannten Musters.

GEOSTRATEGISCHE RISIKEN UND DAS WISSEN ÜBER ROHSTOFFVORKOMMEN Eine der Prämissen, die dem Konzept der „kritischen Rohstoffe“ zugrunde liegt, ist, dass Rohstoffvorkommen grundsätzlich begrenzt sind, und dass sie räumlich ungleich verteilt sind. Je kleiner die Vorkommen insgesamt sind, desto wichtiger wird ihre räumliche Verteilung. Als besonders problematisch gilt, wenn Vorkommen so stark konzentriert sind, dass einzelne Staaten ein – gewissermaßen „natürliches“ – Monopol haben. Denn durch die Konzentration erhöhen sich die Risiken, die durch Handelsbeschränkungen oder politische Instabilität an den Abbauorten entstehen können und die eine stetige und zuverlässige Versorgung gefährden. Die geostrategischen Risiken ergeben sich also aus der Kombination der Verbreitung von Vorkommen einerseits und der politischen Kontrolle über die Vorkommen andererseits. 21 Vgl. auch: Bösch, Frank/Graf, Rüdiger: Reacting to Anticipations. Energy Crises and Energy Policy in the 1970s, in: Historical Social Research/Historische Sozialforschung 39 (2014), S. 7–21.

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Auch die Working Group der EU Kommission bettet ihre Definition von „kritischen Rohstoffen“ in diesen Kontext ein: „[C]oncentration of supply can be observed […] for the following cases: Brazil (niobium), USA (beryllium), South Africa (platinum) and China (rare earth elements, antimony, magnesium, and tungsten). Supply concentration has often been coupled with […] ‚resource nationalism‘. This [has] contributed to a restriction in supply from the World’s most important suppliers [and] increasing risk across supply chains.“22 Es sind aber nicht nur eigensinnige Staaten, die ihr Monopol im Sinne eines „resource nationalism“ zu nutzen wissen. Auch politisch instabile Regime können zum Problem werden. Allergrößte Sorgen bereitete der EU Working Group, dass die Gewinnung „kritischer Rohstoffe“ selbst zur Instabilität von Versorgerstaaten beitragen könne, wenn die ökologischen Belastungen eines rücksichtslosen Abbaus zu sozialen Verwerfungen führen.23 Mit der Konzentration der Vorkommen, so die Argumentation, erhöhe sich die Gefahr, dass der Ausfall einzelner Lieferanten aus politischen Gründen zu Versorgungsengpässen führen könnte. Die neuere historische Forschung unterstreicht allerdings, dass das als außen- und handelspolitisches Problem präsentierte Risiko der Konzentration zugleich auch eines des Wissens über Rohstoffvorkommen ist. Denn das Wissen über die Verbreitung von Rohstoffen, die Menge des verfügbaren Materials und die Lage der Vorkommen wandelt sich. Dieser Wandel sollte keineswegs als linearer Prozess eines zunehmenden Erkenntnisgewinns verstanden werden. Rohstoffvorkommen sind nicht einfach gegebene Entitäten, über die im Laufe der Zeit immer besseres oder genaueres Wissen zur Verfügung steht. Das Wissen über Rohstoffe und deren Verbreitung ist vielmehr Resultat von Konstruktionsprozessen, in die wandelnde Vorannahmen und Interessen einfließen.24 In historischer Perspektive wird deutlich, wie wandelbar und wie umstritten das Wissen über Rohstoffvorkommen war.

22 Europäische Kommission: Report 2014, S. 9. 23 Ebd., S. 28. 24 Haumann, Sebastian/Thorade, Nora: Rohstoffräume. Räumliche Relationen und das Wirtschaften mit Rohstoffen, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 57 (2016), S. 1–7.

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Die gängige Unterscheidung zwischen „Ressourcen“, als potenziell verfügbare Rohstoffvorkommen, und „Reserven“, als Vorkommen, die unter bestimmten technologischen und ökonomischen Bedingungen gewonnen werden könnten, verweist auf diese Kontextabhängigkeit.25 Annahmen über die zukünftige Preisentwicklung und technologische Innovationen bestimmten so bereits im 19. Jahrhundert die Bewertung und schließlich auch die Identifikation von Rohstoffvorkommen. Mit Bezug auf die Definition von Eisenerz meinte etwa der Hüttenexperte Hermann Wedding 1870: „Man kann nicht von vorneherein sagen, ein Mineral von einem bestimmten Eisengehalt sei ein Eisenerz, sondern es wird die Größe der Ablagerung des Minerals, die Reinheit desselben, die Leichtigkeit der Gewinnung, es werden Transportkosten, Zollverhältnisse, Eisenpreise und viele andere Umstände […] in Betracht gezogen werden müssen.“26 Darüber hinaus haben in der Vergangenheit ökonomische und politische Interessen die Bewertung von Vorkommen signifikant beeinflusst. So basierten die Berechnungen von Ölreserven nicht nur auf Überlegungen zu technologischen Möglichkeiten oder zur Preisentwicklung, sondern sie waren deutlich an außenpolitische Konstellationen gekoppelt. Vor allem aus diesem Grund hat sich seit den 1920er Jahren die berechnete Menge des förderbaren Erdöls immer wieder verschoben.27 Wenn Umfang und Verbreitung von Rohstoffen entsprechend der jeweiligen Annahmen und Interessen definiert wurden, war die Konstruktion dieses Wissen dennoch nicht beliebig.28 Wenn hier Vorannahmen und Interessen als Grundlage eines wandelbaren Wissens über Rohstoffvorkommen betont werden, bedeutet das nicht, dass „richtiges“ Wissen bewusst ver-

25 Graf, Rüdiger: Öl und Souveränität. Petroknowledge und Energiepolitik in den USA und Westeuropa in den 1970er Jahren, Berlin 2014, S. 44-46. 26 Wedding, Hermann: Das Eisenhüttenwesen. I. Abth. Die Erzeugung des Roheisens, Berlin 1870, S. 11. 27 Mitchell, Timothy: Carbon Democracy. Political Power in the Age of Oil, London 2011; Graf, Rüdiger: Expert Estimates of Oil-Reserves and the Transformation of „Petroknowledge“ in the Western World from the 1950s to the 1970s, in: Lübken, Uwe/Uekötter, Frank (Hrsg.): Managing the Unknown. Essays on Environmental Ignorance, New York 2014, S. 140–167. 28 Haumann: Konkurrenz um Kalkstein; Frehner, Brian: Finding Oil. The Nature of Petroleum Geology 1859-1920, Lincoln 2011.

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fälscht oder unterschlagen wurde; es geht um die Bedingungen, unter denen „wahres“ Wissen konstruiert wurde, also „die Entwicklung jener Ordnungsschemata und Wissenskategorien, mit deren Hilfe die modernen Wissenschaften im Laufe der Zeit die Wahrnehmung der natürlichen Umwelt [...] prägten.“29 Seit dem 17. Jahrhundert bildeten sich ein neues Grundverständnis von Naturphänomenen und damit einhergehend neue Erkenntnisinteressen und Methoden heraus, mit denen Wissen über die Umwelt generiert wurde. Im 19. Jahrhundert hatte sich diese Formen der Naturerkenntnis weitgehend stabilisiert und durchgesetzt.30 Die Geschichte der Geologie zeigt, wie stark solche „Ordnungsschemata und Wissenskategorien“ mit ökonomischen Interessen verflochten sein konnten. Für das Wissen über Rohstoffvorkommen lässt sich der Wandel von Grundannahmen, Erkenntnisinteressen und Methodik in ihrem Verhältnis zu wirtschaftspolitischen Interessen über die letzten drei Jahrhunderte an zahlreichen Punkten nachvollziehen.31 Angefangen bei der „Montanistik“ im kameralistischen Staat des 18. Jahrhunderts entstand Wissen über Naturphänomene zunehmend mit Blick auf deren ökonomische Nutzbarkeit.32 Im 19. Jahrhundert folgten die umfassenden geologischen Landesaufnahmen ebenfalls einer Logik, in der wissenschaftliche Vorannahmen

29 Vogel, Jakob: Wissen, Technik, Wirtschaft. Die modernen Wissenschaften und die Konstruktion der „industriellen Gesellschaft“, in: Berghoff, Hartmut/Vogel, Jakob (Hrsg.): Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels, Frankfurt am Main 2004, S. 295–323, hier: S. 313. 30 Shapin, Steven: The Scientific Revolution, Chicago 1996. 31 Porter, Roy: The Making of Geology. Earth science in Britain, 1660-1815, Cambridge 1977; Rudwick, Martin J. S.: The New Science of Geology. Studies in the earth sciences in the age of revolution, Aldershot 2004. 32 Bayerl, Günter: Prolegomenon der „Großen Industrie“. Der technischökonomische Blick auf die Natur im 18. Jahrhundert, in: Abelshauser, Werner (Hrsg.): Umweltgeschichte. Umweltverträgliches Wirtschaften in historischer Perspektive, Göttingen 1994, S. 29–56, hier: S. 29; Fritscher, Bernhard: Erdgeschichtsschreibung als montanistische Praxis. Zum nationalen Stil einer „preußischen Geognosie“, in: Schleiff, Hartmut/Konecny, Peter (Hrsg.): Staat, Bergbau und Bergakademie. Montanexperten im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Stuttgart 2013, S. 205–229.

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und Wirtschaftsinteressen auf das engste miteinander verflochten waren.33 Im frühen 20. Jahrhundert setze dann die geologische Beschäftigung mit Rohstoffen im Kontext internationaler Wirtschaftspolitik auf globaler Ebene ein, die seitdem das Wissen über die Ausdehnung und Verbreitung von Vorkommen prägt.34 Diese Entwicklung des Wissens über Rohstoffe deckte sich mit einem Trend zur Territorialisierung wirtschaftspolitischer Logiken. Seit dem 19. Jahrhundert war die internationale Wirtschaftsordnung zunehmend durch eine „obsession with territory as a key component of future growth and prosperity“ geprägt.35 Die Sorge um den Zugriff auf Rohstoffvorkommen stand im Zentrum dieser „Obsession“. Ökonomische Wachstumschancen wurden an die Kontrolle über Territorien geknüpft, in denen dem jeweiligen Wissen entsprechend relevante Rohstoffe enthalten waren. Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Globalisierung der Rohstoffversorgung stellte sich die Frage, wie mögliche Versorgungsrisiken über den territorialen Zugriff in globaler Dimension zu minimieren seien.36 Diese Logik wirkte wiederum auf die Konstruktion von Wissen zurück. Mit dem Faktor des infrastrukturell und politisch zugänglichen Territoriums etablierte sich eine Variable, die nicht nur die Vorstellungen über der Verfügbarkeit von Roh-

33 In der bisherigen Forschung stehen sich die Positionen der in der DDR durchgeführten Forschung, die auf die ökonomischen Motive fokussierte, und einer Disziplingeschichte der Geologie gegenüber, die das Interesse an der „Wahrheitsfindung“ betont, vgl. z.B. Guntau, Martin: Die Genesis der Geologie als Wissenschaft. Studie zu den kognitiven Prozessen und gesellschaftlichen Bedingungen bei der Herausbildung der Geologie als naturwissenschaftliche Disziplin an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, Berlin 1984; Wagenbreth, Otfried: Geschichte der Geologie in Deutschland, Stuttgart 1999. 34 Westermann, Andrea: Inventuren der Erde. Vorratsschätzungen für mineralische Rohstoffe und die Etablierung der Ressourcenökonomie, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 37 (2014), S. 20–40; Graf: Expert Estimates. 35 Beckert, Sven: American Danger. United States Empire, Eurafrica, and the Territorialization of Industrial Capitalism, 1870–1950, in: American Historical Review 122 (2017), S. 1137–1170, hier: S. 1139. 36 Beckert: American Danger.

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stoffvorkommen beeinflusste, sondern das Wissen um deren Existenz schlechthin.37 Die Frage, welche Mengen eines Rohstoffs wo verfügbar sind, ist also historisch zu beantworten, weil sie auf die Konstruktion von Wissen und den Wandel verweist, dem dieses Wissen unterliegt. Geostrategische Risiken ergeben sich aus der zeitspezifischen Konstitution des Naturwissens im Kontext ökonomischer Interessen oder außenpolitischer Konstellationen, nicht aus der tatsächlichen Verbreitung von Vorkommen per se. Das bedeutet nicht, dass Rohstoffvorkommen als physische Entitäten in bestimmter Quantität und an bestimmten Orten überhaupt nicht existieren würden – die Konstruktion ist nicht beliebig. Aber Rohstoffvorkommen sind als physische Entitäten viel diffuser als die Konstruktionen des Wissens über sie. Mit anderen Worten: In der Konstruktion von Wissen über Rohstoffvorkommen verengten sich die definierten und im geostrategischen Sinne erfassbaren Vorkommen auf einen Ausschnitt eines wesentlich breiteren Spielraums, der auch ganz andere Definitionen von Rohstoffvorkommen und damit andere Schlüsse auf Umfang und Verbreitung der Rohstoffe zugelassen hätte. Will man das Konzept der „kritischen Rohstoffe“ aus historischer Perspektive aufgreifen und weiterentwickeln, ist also zu fragen, wie zeitgenössisches Wissen über Rohstoffvorkommen in Wechselwirkung mit geostrategischen Abhängigkeiten stand. Das Bewusstsein für die Risiken hing unmittelbar mit dem Wissen über den Umfang und die Verbreitung der Rohstoffvorkommen zusammen. Diese historische Konstitution von Wissen ist in der bisherigen Konzeption „kritischer Rohstoffe“ nicht enthalten. Durch die historische Perspektive wird aber deutlich, dass geostrategische Abhängigkeiten und die zeitspezifische Konstitution von Wissen über Vorkommen immer zwei Seiten derselben Medaille sind.

37 Espahangizi, Kijan: Stofftrajektorien. Die kriegswirtschaftliche Mobilmachung des Rohstoffs Bor, 1914-1919 (oder: was das Reagenzglas mit Sultan Tschair verbindet), in: Espahangizi, Kijan/Orland, Barbara (Hrsg.): Stoffe in Bewegung. Beiträge zu einer Wissensgeschichte der materiellen Welt, Zürich 2104, S. 173207; Graf: Öl und Souveränität.

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WERTSCHÖPFUNGSKETTEN UND PRODUKTIONSSYSTEME Während geostrategische Risiken entscheidend für die Bewertung der Vulnerabilität sind, macht die EU Working Group die sozioökonomische Bedeutung von Rohstoffen an deren Rolle in Wertschöpfungsketten fest. Rohstoffe sind der Input, der über mehrere Stufen in immer komplexer miteinander verwobenen Wertschöpfungsketten bis zu einem Fertigprodukt weiterverarbeitet werden. „Kritisch“ können Rohstoffe werden, wenn sie eine Weiterverarbeitung im jeweils nächsten Glied solcher Ketten ermöglichen und ihr Fehlen im Umkehrschluss die Wertschöpfungskette unterbrechen würde. Den Ansatz der Wertschöpfungsketten nutzt die EU Working Group, um die Relevanz einzelner Rohstoffe zu bewerten und deren sozioökonomische Bedeutung zu bestimmen: „The importance for the economy of a raw material is measured by breaking down its main uses and attributing to each of them the value added of the economic sector that has this raw material as input. [...] As each step of the value-added chain builds on previous steps, an upstream bottleneck in supply of raw material will threaten the whole value chain.“38 Die Ausführungen der EU Working Group bezogen sich beispielsweise auf die Wertschöpfungskette von der Gewinnung und Verarbeitung von Indium über die Herstellung von „transparent conducting layers“ bis zu deren Einbau in Touchscreens. In diesem Zusammenhang betrieb sie die Hierarchisierung von Rohstoffen nach ihrer Bedeutung für die Realisierung von Zukunftstechnologien des 21. Jahrhunderts. Für die Hochphase der Industrialisierung im 19. Jahrhundert muss die Wertschöpfungsketten der Eisenund Stahlindustrie als zentral angesehen werden. Aus Eisenerzen, Steinkohle und Zuschlägen wurde in Hochöfen Roheisen erschmolzen, das in einem weiteren Produktionsschritt zu Stahl verarbeitet wurde und schließlich im Eisenbahn- und Maschinenbau eingesetzt wurde. Dabei flossen in allen Verarbeitungsschritten weitere Rohstoffe in die Ketten ein, sei es zur Ver-

38 Europäische Kommission: Report 2010, S. 24.

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besserung der Eigenschaften des Stahls oder als Bestandteil anderer Zwischenprodukte.39 Aus geschichtswissenschaftlicher Sicht lassen sich solche Wertschöpfungsketten am besten als Bestandteil von Produktionssystemen erklären. Solche Produktionssysteme und deren historische Dynamik können in Anlehnung an das Konzept der Large Technological Systems analysiert werden. Sie bestehen aus verschiedenen, ineinandergreifenden Komponenten, zu denen nicht nur Produktionsanlagen und andere technische Artefakte zu rechnen sind, sondern auch der soziale und kulturelle Kontext der Produktion. Dazu gehören die Unternehmensstruktur, die Organisation der Betriebsabläufe, institutionelle Rahmenbedingungen und Eigentumsverhältnisse, vor allem auch Wissensbestände, die dem Produktionssystem zugrunde liegen.40 Rohstoffe stehen als Komponenten solcher Produktionssysteme mit anderen sozialen wie materiellen Komponenten des jeweiligen Systems in Wechselwirkung: „Because they are […] adapted in order to function in systems, natural resources [...] also qualify as system artifacts.“41 Rohstoffe werden also in einer Art und Weise in Produktionssysteme integriert, die von anderen materiellen wie sozialen Komponenten des Systems abhängig ist. Chemische und physikalische Wechselwirkungen im Rahmen der Produktionsprozesse sind hierbei ebenso entscheidend wie Wissensbestände oder der unternehmerische Kontext. Das Beispiel der Kupfernutzung in Elektrizitätssystemen seit dem späten 19. Jahrhundert zeigt, dass es nicht nur auf die stofflichen Eigenschaften des Metalls ankam, sondern auch auf das Wissen über dessen Verbreitung und die unternehmerischen Verflechtungen zwischen Elektrizitäts- und Montanwirtschaft.42 So wird ein Rohstoff in die Wertschöpfungskette für die Herstellung eines gesellschaftlich

39 König, Wolfgang/Weber, Wolfhard: Netzwerke, Stahl und Strom. 1840 bis 1914, Berlin 1997, S. 59. 40 Hughes, Thomas P.: The Evolution of Large Technological Systems, in: Hughes, Thomas P./Bijker, Wiebe/Pinch, Trevor (Hrsg.): The Social Construction of Technological Systems. New Directions in the Sociology and History of Technology, Cambridge, 1987, S. 51-82. 41 Ebd., S. 51. 42 LeCain, Timothy J.: Mass Destruction. The men and giant mines that wired America and scarred the planet, New Brunswick, 2009.

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relevanten Gutes eingebunden und dadurch potenziell zu einem „kritischen Rohstoff“. Insofern Rohstoffe als Komponenten von Produktionssystemen zu „kritischen Rohstoffen“ werden, ist die historische Genese solcher Systeme von besonderem Interesse. Auch die Working Group der EU Kommission bemerkte, dass Rohstoffe nicht per se „kritisch“ seien, sondern dies erst durch bestimmte Entwicklungen werden. Bevor beispielsweise Indium in die Produktionsketten zur Herstellung von Touchscreens eingebunden wurde, sei die Bedeutung dieses Rohstoffs gering gewesen.43 Die Entwicklungen, die hier angedeutet werden, lassen sich als die Geschichte von Produktionssystemen analysieren. Eine grundlegende historische Tendenz, die Auswirkungen auf die „Kritikalität“ von Rohstoffen hat, scheint die zunehmende Komplexität von Wertschöpfungsketten zu sein. Angefangen bei den frühneuzeitlichen Wertschöpfungsketten wie beispielsweise der Salzgewinnung44 über die Eisen- und Stahlherstellung des 19. Jahrhunderts bis zur gegenwärtigen Verarbeitung von seltenen Erden sind die Ketten länger, immer stärker verästelt und differenzierter geworden. Mit der Komplexität der Produktionssysteme wachsen aber auch die Schwierigkeiten der Kontrolle.45 Für die Versorgung mit Rohstoffen bedeutet dies, dass mit der Vervielfältigung von Interdependenzen innerhalb der Systeme auch die Vulnerabilität steigt. Dies ist nicht nur deswegen der Fall, weil immer mehr unterschiedliche Rohstoffe eingebunden werden, für die jeweils potenziell ein Versorgungsrisiko besteht, das das Funktionieren des gesamten Systems beeinträchtigen könnte. Ebenso wichtig ist der wachsende Grad der Festlegung auf bestimmte, zunehmend eng definierte Rohstoffe, als Voraussetzung für ein reibungsloses Ineinandergreifen der Produktionsschritte. Je komplexer das Produktionssystem, desto wichtiger die Festlegung auf eindeutig und eng abgegrenzte Rohstoffe.46

43 Europäische Kommission: Report 2014, S. 7. 44 Vogel, Jakob: Ein schillerndes Kristall. Eine Wissensgeschichte des Salzes zwischen Früher Neuzeit und Moderne, Köln 2008. 45 Hughes: The Evolution of Large Technological Systems, S. 56. 46 Haumann, Sebastian: Die Materialität der Industrialisierung. Kalkstein als „kritischer“ Rohstoff der Eisen- und Stahlindustrie, 1840-1930, Paderborn 2018.

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Nach der Definition, die auch die EU Working Group verfolgt, werden Rohstoffe dann „kritisch“, wenn es in den relevanten Wertschöpfungsketten keine Alternativen zu ihrem Einsatz gibt. Nicht-Substituierbarkeit ist eines der zentralen Kriterien für die „Kritikalität“ von Rohstoffen. Daran anknüpfend lässt sich die historische Analyse von Produktionssystemen unter dem Gesichtspunkt „kritischer Rohstoffe“ weiter präzisieren: Es ist zu fragen, warum und wie Produktionssysteme auf die Nutzung eines spezifischen Rohstoffs festgelegt wurden. Es geht nicht nur um die Einbindung eines Rohstoffs in ein Produktionssystem, sondern um den Grad der Festlegung auf genau diesen Rohstoff, bzw. auf die Enge dessen, was als nutzbare oder geeignete „Qualität“ eines Rohstoffs definiert ist. Wie werden Rohstoffe nicht-substituierbar? Die Festlegung von Produktionssystemen auf bestimmte Rohstoffe, die dann nicht mehr substituierbar waren, ist bisher kaum systematisch untersucht worden. Es ist aber ein Muster zu erkennen, das dem im Zusammenhang mit der Technologieentwicklung bekannten Modell der „Schließung“ bzw. des „lock-in“ entspricht: Aus einer Vielzahl von Möglichkeiten – einem Spielraum für die Nutzung von Rohstoffen – verengt sich mit der Entstehung von Produktionssystemen die tatsächliche Nutzung auf bestimmte Rohstoffsorten. Bisher wurde mit diesen Modellen erklärt, wie sich aus einer Vielzahl von Möglichkeiten, eine bestimmte Technologie auszugestalten, eine dominante Form herausgebildet und Alternativen zunehmend verdrängt wurden.47 Das Erklärungsmodell der Schließung bzw. des lock-in lässt sich aber auch auf die Frage nach der Einbindung bestimmter Rohstoffe in Produktionssysteme übertragen, um das Konzept der „kritischen Rohstoffe“ zu historisieren.48 Nicht-Substituierbarkeit erscheint als Kehrseite der Festlegung, die die zunehmende Komplexität von Produktionssystemen ermöglicht. In Analogie zu Technologischen Systemen kann eine solche Festlegung dazu beitragen, dass Produktionssysteme Momentum erlangen. D.h. die einzelnen ma-

47 Heßler, Martina: Ansätze und Methoden der Technikgeschichtsschreibung, in: Kulturgeschichte der Technik, Frankfurt am Main 2012, S. 9f, online verfügbar unter:

http://www.campus.de/buecher-campus-verlag/wissenschaft/geschichte/

kulturgeschichte_der_technik-4250.html > Ergänzungen zum Buch > Zusatzkapitel > Download [Stand 16.02.2018]. 48 Haumann: Die Materialität der Industrialisierung.

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teriellen und sozialen Komponenten sind derart aufeinander abgestimmt und die Systeme sind so umfassend geworden, dass Veränderungen nur noch schwer und unter hohen Kosten möglich sind.49 Das bedeutet, dass der Austausch eines Rohstoffs unter Umständen die Rekonfiguration des gesamten Systems nötig machen kann – ein Weg, der aufgrund finanzieller, materieller und sozialer Investitionen in das bestehende System selten beschritten wird. Oft wird das Produktionssystem, in der Form, in der es sich etabliert hat, nicht mehr hinterfragt und als einzige mögliche Option gewissermaßen als gegeben angesehen. Das gilt auch für die Verwendung von Rohstoffen in den Systemen.50 Tatsächlich erscheint die Verengung und Festlegung auf bestimmte Rohstoffe als der historische Prozess, der am Wirkmächtigsten ist und zugleich am häufigsten unhinterfragt bleibt. Selbst in dem von der EU Working Group gepflegten Diskurs erscheinen die Wertschöpfungsketten letztlich als statisch – sie sind in herkömmlichen Konzepten der „kritischen Rohstoffe“ ahistorisch. Eine historische Beschäftigung mit „kritischen Rohstoffen“ zeigt aber deutlich, dass die erste Frage nicht ist, wie der Zugriff auf einen Rohstoff gesichert werden kann, sondern auf welche Art und wieso er eine unersetzbare Komponente eines Produktionssystems geworden ist. Die historische Erweiterung des Konzepts der „kritischen Rohstoffe“ richtet die Aufmerksamkeit auf die historische Genese von Produktionssystemen, in die Rohstoffe eingebunden sind, und sucht dabei nach Mustern der Festlegung. Erst dadurch wird die ökonomische Bedeutung, vor allem aber die Vulnerabilität von Wertschöpfungsketten überhaupt erklärlich. Auch hier gilt wieder: Rohstoffe als physische Entität existieren auch jenseits von Konstruktionen – die Genese von Produktionssystemen ist nicht beliebig. Aber in der historischen Entstehung von Produktionssystemen werden die Nutzungsmöglichkeiten auf einen Ausschnitt eines wesentlich breiteren Spielraums verengt. Einbindung und Nicht-Substituierbarkeit sind Resultat von Festlegungen, bei denen kulturelle und soziale Komponenten, wie Wissensbestände oder wirtschaftliche Interessen, einerseits und materielle Komponenten mit ihren jeweiligen physischen Eigenschaften anderer-

49 Hughes: The Evolution of Large Technological Systems, S. 76. 50 Für die Eisen- und Stahlindustrie: Misa, Thomas J.: A Nation of Steel. The Making of Modern America, 1865-1925, Baltimore 1995, S. 264f.

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seits ineinandergreifen. Die Einbindung eines Rohstoffs in Wertschöpfungsketten ist ebenso wie die Festlegung auf einen einzigen Rohstoff das Ergebnis historischer Prozesse in denen Produktionssysteme entstehen.

AUSBLICK In diesem Beitrag habe ich das Konzept der „kritischen Rohstoffe“ auf drei Ebenen dargestellt und gezeigt, wie das Konzept aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive ergänzt werden kann. Die drei Ebenen können selbstverständlich einzeln untersucht werden – viele der hier zitierten Studien haben dies bereits geleistet. Dabei treten vor allem die Analogien hervor, die zwischen aktuellen und vergangenen Phänomenen gezogen werden können. Zentrale Elemente des Konzepts der „kritischen Rohstoffe“ finden sich bereits im 18. und 19. Jahrhundert wieder: die Verschränkung von Ermöglichung und Risiken, die sich an der Sorge um zukünftige Entwicklungschancen festmacht; die Wechselwirkungen zwischen geostrategischen Risiken von der jeweiligen Konstruktion des Wissens über Rohstoffvorkommen; und die Genese und Verfestigung von Produktionssystemen, in die bestimmte Rohstoffe eingebunden sind. Entscheidend für die weitere Forschung wird aber sein, diese drei Ebenen systematisch zusammenzubringen. Denn der Diskurs über „kritische Rohstoffe“, die geostrategischen Risiken und die Produktionssysteme, in die Rohstoffe eingebunden sind, sind in historischen Prozessen miteinander verflochten. Die diskursive Thematisierung antizipierter oder tatsächlicher Knappheit ist insofern wirkmächtig, weil sie auf die Ausgestaltung von Wertschöpfungsketten zurückwirkt. In der Langzeitperspektive wird beispielsweise deutlich, wie wichtig die „Holznot“-Debatte des 18. und 19. Jahrhunderts für die fundamentale Umstellung der Produktionssysteme der Eisen- und Stahlherstellung auf Steinkohle war. Zugleich entsteht erst durch die Einbindung und Festlegung auf bestimmte Rohstoffe die Vulnerabilität der Produktionssysteme, die dann durch geostrategische Risiken akut werden kann. Diese wiederum lassen sich nur mit Blick auf ihre Verflechtung mit dem sich wandelnden Wissen über Rohstoffvorkommen verstehen, das nicht zuletzt durch Knappheitsdiskurse vorangetrieben wird. In der Zusammenschau und in den Wechselbeziehungen zwischen den Ebenen

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lässt sich das Spannungsfeld von sozioökonomischer Bedeutung und erhöhter Vulnerabilität erfassen, das „kritische Rohstoffe“ kennzeichnet. Welche weiterführenden Folgerungen lassen sich abschließend aus der geschichtswissenschaftlichen Perspektive auf „kritische Rohstoffe“ ziehen? Wie gezeigt, ist der aktuelle Diskurs auf zwei verschiedene Motive ausgerichtet, die sich gleichwohl überlagern: zukünftiges Wirtschaftswachstum und nachhaltige Entwicklung. Ziel ist es, sozioökonomische Entwicklungschancen und die ökologischen Folgen des Rohstoffverbrauchs in Einklang zu bringen. Das Konzept spricht in seiner aktuellen Bedeutung beide Aspekte, in unterschiedlicher Akzentuierung, gleichermaßen an. Wenn beide Ziele sich im „Kritikalitäts“-Diskurs des frühen 21. Jahrhunderts miteinander verschränken, ist zu erwarten, dass sich dies auf die Ausgestaltung von Produktionssystemen auswirken wird. Mit anderen Worten: Je intensiver über den angestrebten Ausgleich zwischen ökonomischer und ökologischer Entwicklung gesprochen wird, desto deutlicher wird sich dieses Motiv in der Weiterentwicklung von Wertschöpfungsketten abbilden. Die historische Analyse „kritischer Rohstoffe“ deutet an, dass es keineswegs unmöglich oder utopisch ist, Produktionssysteme mit Blick auf ihren Rohstoffverbrauch den aktuellen Erwartungen entsprechend weiterzuentwickeln. Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive zeigt sich deutlicher als in aktuellen Konzepten, dass „kritische Rohstoffe“ einem historischen Wandel unterliegen und damit auch grundsätzlich wandelbar bleiben. Wenn die „Kritikalität“ von Rohstoffen aus Schließungsprozessen resultiert, deren Folgen aber zugleich diskursiv reflektiert werden können, stellt sich die Frage, ob der Schließung andere Prozesse entgegenzusetzen sind. Lässt sich beispielsweise die „Öffnung“ von Produktionssystemen vor dem Hintergrund der aktuellen Forderung nach ökonomischer und ökologischer Entwicklung gezielt herbeiführen? In welchen historischen Konstellationen weitet sich der Spielraum für die Ausgestaltung von Wertschöpfungsketten aus, um Risiken, seien sie ökonomisch oder ökologisch, zu begegnen? Diese und weitere Fragen bleiben noch zu beantworten. Die Geschichte der Rohstoffnutzung bietet dazu reichlich Material.

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Was ist kritisch an Kritischer Infrastruktur? Kriegswichtigkeit, Lebenswichtigkeit, Systemwichtigkeit und die Infrastrukturen der Kritik Andreas Folkers

EINLEITUNG: KRITIK UND KRITIKALITÄT Was ist kritisch an Kritischer Infrastruktur? Diese Frage drängt sich schon deshalb auf, weil die Öffentlichkeit in regelmäßigen Abständen mit dieser sperrigen Formulierung konfrontiert wird, ohne dass die meisten Beobachter_innen wissen, was damit gemeint ist. Die dünne, amtliche Definition, nach der Kritische Infrastrukturen „Organisationen und Einrichtungen mit wichtiger Bedeutung für das staatliche Gemeinwesen“1 sind, hilft da wohl kaum weiter. Um jedoch gleich falschen Erwartungen vorzubeugen: Mir geht in diesem Beitrag nicht um eine abschließende Klärung der Frage, was genau Kritische Infrastrukturen sind oder wie man sie trennscharf definieren und klassifizieren kann. Vielmehr werde ich aus einer Beobachterperspektive zweiter Ordnung untersuchen, wie Infrastrukturen kritisch geworden sind, unter welchen historischen Bedingungen und in welchen sozialen Kontexten sich je unterschiedliche Verständnisweisen von Kritikalität entwickelt haben, welche Konfliktkonstellationen sich um die Rationalitäten

1

BMI: Nationale Strategie zum Schutz Kritischer Infrastrukturen (KRITISStrategie), hrsg. v. Bundesministerium des Inneren, Berlin 2009.

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und Praktiken der Kritikalität bilden und welche sozialen Effekte die Zuschreibung von Kritikalität hat. Dabei will ich versuchen, auf den ersten Blick ganz unterschiedliche Spielarten des Kritischen in den Blick zu nehmen und miteinander in Beziehung zu setzen: ein funktional-praktisches Verständnis und ein legitimatorisch-reflexives. Während es bei Kritikalität im Zusammenhang mit Kritischen Infrastrukturen normalerweise um die Identifikation wichtiger soziotechnischer Elemente geht, die für das Funktionieren technischer und sozialer Prozesse essentiell sind, geht es bei der Kritik in öffentlichen politischen Debatten und in den kritischen Sozialwissenschaften bekanntlich vornehmlich um die Offenlegung und Denunzierung von Missständen, Ungerechtigkeiten und Unrechtmäßigkeiten, also um Fragen nach der Legitimität von bestimmten Einrichtungen, Praktiken, Prozessen. Ich werde folglich sowohl unterschiedliche Rationalitäten Kritischer Infrastruktur in den Blick nehmen, als auch untersuchen, wie diese zum Gegenstand von Kritik geworden sind. Die Untersuchung von Kritik ist dabei sowohl ein Gegenstand wie auch ein heuristisches Hilfsmittel meiner Analyse. Ich untersuche nämlich Kritik, weil diese sichtbar werden lässt, wie umstritten die Zuschreibung von Kritikalität bisweilen ist. Kritik lässt darauf schließen, dass Machtverhältnisse eine Rolle bei der Zuschreibung von Kritikalität spielen.2 Damit will ich gerade nicht behaupten, dass die Zuschreibung von Kritikalität ausschließlich ein Mittel in den Händen von einigen Mächtigen im Staat oder in der Ökonomie ist und die Rede von Kritischen Infrastrukturen per se verdächtig ist. Vielmehr geht es mir darum zu betonen, dass mit jeder Bestimmung von Kritikalität notwendig bestimmte Wertigkeitshierarchien in Kraft gesetzt werden, die machtvolle Effekte zeitigen und deswegen anfällig für Kritik sind. Was genau kritisch an Kritischer Infrastruktur ist bleibt

2

Hier beziehe ich mich auf eine Bemerkung von Michel Foucault zur heuristischen Fruchtbarkeit der Untersuchung von Widerständen gegen Machtverhältnisse. „Dieser neue Forschungsansatz [...] benutzt [...] Widerstand als chemischen Katalysator, der die Machtbeziehungen sichtbar macht [...]. Statt die Macht im Blick auf ihre innere Rationalität zu analysieren, möchte ich die Machtbeziehungen über das Wechselspiel gegensätzlicher Strategien untersuchen.“ Foucault, Michel: Subjekt und Macht, in: Foucault, Michel (Hrsg.): Dits et Ecrits. Schriften. Vierter Band, Frankfurt am Main 2005, S. 269–294, hier: S. 237.

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deshalb stets offen für gesellschaftliche Auseinandersetzungen. In diesem Sinne betrachte ich Kritische Infrastruktur hier weniger als einen klar zu bestimmenden Sachverhalt, sondern vielmehr als ein „matter of concern“3 bzw. „matter of struggle“4, also als eine Streitsache oder einen Konfliktgegenstand. Ziel des Textes ist es, möglichst klar werden zu lassen, wie Infrastruktur überhaupt zu einem solchen im doppelten Sinne kritischen Gegenstand werden konnte. Im Folgenden werde ich mich zunächst darauf konzentrieren zu zeigen, wie Infrastrukturen zu Zielscheiben von staatlichen und privatwirtschaftlichen Sicherheitsstrategien geworden sind, indem ich die Herausbildung des Topos Kritische Infrastruktur ausgehend vom bereits in den 1930er Jahren von Ernst Forsthoff ausgearbeiteten Konzept der Daseinsvorsorge beschreibe. Anschließend zeige ich, wie sich die Politik des Infrastrukturschutzes und die Rationalität der Kritikalität im Übergang von der Daseinsvorsorge in der alten Bundesrepublik zum Schutz Kritischer Infrastruktur in der Gegenwart verändert hat. Schließlich gehe ich auf die Bemühungen zum Infrastrukturschutz in der Privatwirtschaft ein und zeige die historische Entwicklung und gegenwärtige Relevanz des Business Continuity Managements. Kriegswichtigkeit, Lebenswichtigkeit und Systemwichtigkeit sind die drei wesentlichen Gesichtspunkte, unter denen Infrastrukturen seit dem 20. Jahrhunderts kritisch geworden sind. Danach verschiebt sich der Schwerpunkt von der Frage der Kritikalität auf die der Kritik, insofern ich darauf eingehen werde, wie das mittlerweile etablierte Verständnis von Kritischer Infrastruktur in der Öffentlichkeit und von sozialen Bewegungen kritisiert wurde. Konkret werde ich zeigen wie das Business Continuity Management in Banken im Verlauf zwei jüngerer „Krisenereignisse“ – dem Hurricane Sandy in New York und während der Blockupy Proteste in Frankfurt am Main – zur Zielscheibe von Kritik geworden ist.

3

Latour, Bruno: Why has critique run out of steam? From matters of fact to

4

Stengers, Isabelle: Wondering about materialism; in: Bryant, Levi/Srnicek,

matters of concern, in: Critical inquiry 30, 2 (2004), S. 225–248. Nick/Harman, Graham (Hrsg): The Speculative Turn. Continental Realism and Materialism, Melbourne 2011, S. 368–380.

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Forsthoffs Daseinsvorsorge: Die Amalgamierung von Kriegswichtigkeit und Lebenswichtigkeit Wer sich mit Kritischer Infrastruktur beschäftigt kommt um den Begriff der Daseinsvorsorge nicht herum.5 Tatsächlich verweist der Begriff bereits auf ein frühes Problematisch- bzw. Kritisch-Werden der Infrastruktur am Beginn des 20. Jahrhunderts. Das Konzept der Daseinsvorsorge geht zurück auf den deutschen Juristen Ernst Forsthoff und seine Schrift: „Die Verwaltung als Leistungsträger“ von 1938.6 Forsthoff war ein Schüler und Freund von Carl Schmitt und hat während der Zeit des Nationalsozialismus immer wieder versucht, mit seinen Theorien über Recht und Staat bei den Nazis Gehör zu finden. Dass Forsthoff schließlich bei den Nazis gleichsam abgeblitzt ist und später sogar Berufsverbot erhalten hat,7 ändert nichts an dem zutiefst reaktionären Charakter seiner Schriften. Auch mit seinen Überlegungen zur Daseinsvorsorge hat Forsthoff explizit die nationalsozialistischen Machthaber adressiert. Und es ist keineswegs Zufall, dass Forsthoff seine Überlegungen zur Bedeutsamkeit staatlicher Vorsorge für die Sicherung von Infrastrukturdienstleistungen unmittelbar vor Ausbrauch des Zweiten Weltkriegs anstellt und veröffentlicht hat. Schließlich ist die Bedeutsamkeit der Infrastruktur für die Führung eines industriellen Krieges im Verlauf des Ersten Weltkrieges nachdrücklich bewusstgeworden und war am Vorabend des Zweiten Weltkrieges bereits ein wesentliches Problemfeld der nationalsozialistischen Kriegsmobilisierung. Die Infrastruktur, ein Wort, das zu diesem Zeitpunkt noch nicht verwendet wurde,8 war also bereits kritisch geworden, insofern sie sich als eminent kriegswichtig herausgestellt hatte.

5

Für eine ausführliche Diskussion von Forsthoff und der Politik der Daseinsvorsorge vgl. Folkers, Andreas: Existential provisions: The technopolitics of public infrastructure, in: Environment and Planning D: Society and Space 35, 5 (2017), S. 855–874.

6

Forsthoff, Ernst: Die Verwaltung als Leistungsträger, Stuttgart, Berlin 1938.

7

Kersten, Jens: Die Entwicklung des Konzepts der Daseinsvorsorge im Werk von

8

Laak, Dirk van: Der Begriff Infrastruktur und was er vor seiner Erfindung

Ernst Forsthoff, in: Der Staat 44, 4 (2005), S. 543–569. besagte; in: Archiv für Begriffsgeschichte 41, 1 (1999), S. 280–299.

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Die Bedeutung der Logistik für die Kriegsführung ist immer wieder betont und besprochen worden.9 Schon lange vor Entstehung des industriellen Krieges im 20. Jahrhundert mussten sich Kriegsherren um die Versorgung ihrer Truppen und vor allem um die diese begleitenden Pferde Gedanken machen. Im 20. Jahrhundert wurde dann insbesondere die Versorgung mit Treibstoff zur kritischen Größe der Kriegsführung. Zudem ist mit der Industrialisierung eine bisher in diesem Ausmaß nicht bekannte Kopplung zwischen nationaler Ökonomie und Militär entstanden.10 Klar war schon im Ersten Weltkrieg, dass ein Krieg nur gewonnen werden kann, wenn auch die nationale Industrie und insbesondere eine Reihe von Schlüsselindustrien leistungsfähig und vor allem möglichst wenig abhängig von Rohstoffimporten sind; eine Lektion, die in Deutschland vor allem Walther Rathenau – Feingeist, Politiker und infrastruktureller system builder11 – verstanden hatte, der während des Ersten Weltkriegs die Kriegsrohstoffabteilung des Deutschen Reiches leitete.12 Zudem wurde die Infrastruktur während der Weltkriege kritisch, weil Militärplaner versuchten, die infrastrukturellen Verwundbarkeiten des Feindes auszubeuten. Im sogenannten strategic bombing, das sich erstmals während des Zweiten Weltkriegs entwickelte, ging es darum, durch gezielte Luftschläge kriegswichtige Infrastruktureinrichtungen des Feindes zu treffen und damit lahmzulegen.13 Die Auswahl von geeigneten Zielen wurde in

9

Virilio, Paul: Geschwindigkeit und Politik. Ein Essay zur Dromologie, Berlin 1980.

10 DeLanda, Manuel: War in the Age of Intelligent Machines, New York 1991, S. 108ff. 11 Zum Konzept des system builders mit explizitem Bezug auf Rathenau vgl. Hughes, Thomas Parke: The Evolution of Large Technical Systems, in: Pinch, Trevor J./Bijker, Wiebe E./Hughes, Thomas Parke (Hrsg): The Social Construction of Technological Systems: New Directions in the Sociology and History of Technology, Cambridge/London 1987, S. 51–82. 12 Zu Rathenaus Rolle in der Kriegsrohstoffabteilung vgl. Krajewski, Markus: Restlosigkeit. Weltprojekte um 1900, Frankfurt am Main 2006, hier: S. 196–255. 13 Collier, Stephen J./Lakoff, Andrew: The Vulnerability of Vital Systems: How ‚Critical Infrastructure‘ Became a Security Problem, in: Dunn Cavelty, Myriam/ Soby Kirstensen, Kristian (Hrsg): Securing the Homeland: Critical Infrastructure, Risk and (in)Security, Oxon/New York 2008, S. 17–39.

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der Zwischenkriegszeit und dann verstärkt mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges in den USA zu einer Wissenschaft, an der sich Militärstrategen ebenso beteiligten wie die ökonomischen Planer des New Deals, die letztlich am besten wussten, wie die ökonomisch-industriellen Ströme einer Volks- und Kriegswirtschaft am besten unterbrochen werden konnten.14 Gerade die Treibstoffversorgung stellte sich im Zweiten Weltkrieg als die Achillesferse der deutschen Kriegsökonomie heraus, so dass Rüstungsminister Albert Speer nach der erfolgreichen Bombardierung der wichtigsten deutschen Hydrierungswerke durch die Alliierten Luftstreitkräfte den „technischen Krieg” für verloren erklärte.15 Forsthoff wusste um diese Zusammenhänge und erklärte das von den Nazis erlassene und bis weit in die Nachkriegszeit gültige Energiewirtschaftsgesetz, das der damalige Reichswirtschaftsminister Hjalmar Schacht als „Gesetz zur Wehrhaftmachtung der deutschen Industrie bezeichnete“16 zur paradigmatischen Gesetzgebung für die Art der staatlichen Daseinsvorsorge, die ihm vor Augen stand.17 Dabei ging es darum, den großen Versorgungsunternehmen Gebietsmonopole einzuräumen und sie im Gegenzug darauf zu verpflichten, eine möglichst günstige und sichere Energie- und Stromversorgung für die Bevölkerung und das Militär sicherzustellen. Für Forsthoff steht in seiner Schrift, zumindest auf den ersten Blick, jedoch weniger die Kriegswichtigkeit der Infrastruktur, sondern deren Lebenswichtigkeit – ein Wort, das er immer wieder verwendet18 – im Vordergrund. Die Lebenswichtigkeit öffentlicher Infrastrukturen ist für Forsthoff keine transhistorische Konstante, sondern Ergebnis der Industrialisierung und Urbanisierung moderner Gesellschaften. Erst im Verlauf der Moderne sind öffentliche Infrastrukturen zu lebenswichtigen Einrichtungen und damit „kritisch“ geworden. Zentral für diese Argumentationslinie ist seine

14 Collier, Stephen J./Lakoff, Andrew: Vital Systems Security: Reflexive biopolitics and the government of emergency; in: Theory, Culture & Society 32, 2 (2015), S. 19–51. 15 Speer, Albert: Erinnerungen, Berlin 1969, S. 357. 16 Schacht zitiert nach: Eckardt, Nikolaus/Meinerzhagen, Margitta/Jochimsen, Ulrich: Die Stromdiktatur: Von Hitler ermächtigt, bis heute ungebrochen, Hamburg 1985, S. 18f. 17 Vgl. Forsthoff: Leistungsträger, S. 33ff. 18 Vgl. ebd., S. 19.

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Unterscheidung zwischen „beherrschtem und effektivem Lebensraum“.19 Der beherrschte Lebensraum ist der Bereich, über den ein Mensch autonom verfügen kann und der ihm „eine Summe von Lebensgütern“ liefert, die „eine vergleichsweise gesicherte Lebensbasis darstellen“. Zu den Beispielen für solche beherrschten Räume zählen „der Hof, der Acker, der ihm gehört, das Haus, in dem er lebt“20 und damit Räume, die auf eine Welt verweisen, die bereits zu Forsthoffs Zeiten im Verschwinden begriffen war. So ist denn auch Forsthoffs These, dass die Domäne des beherrschten Lebensraumes im Verhältnis zum Einzugsbereich des effektiven Raumes schrumpft. „Der effektive Raum ist derjenige, in dem sich das Leben, über den beherrschten Raum hinaus, tatsächlich vollzieht. Die industriell-technische Entwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts hat es nun mit sich gebracht, daß sich der effektive Lebensraum vermöge der Ausbildung des modernen Verkehrswesens außerordentlich vergrößert hat und auch jetzt noch in der Zunahme begriffen ist, während der beherrschte Lebensraum sich stark verringerte, bei immer breiteren Schichten ganz verschwand. [...] Die zur Minimalisierung gehende Verengung des beherrschten Lebensraumes kennzeichnet die städtische, zumal die großstädtische Lebensweise.“21

Daraus leitet Forsthoff die Forderung ab, dass in Anbetracht der modernen Lebensbedingungen, in denen der Einzelne nicht mehr eigenständig die Grundlagen seines Lebens sichern kann, eine staatliche Daseinsvorsorge, also eine staatliche Sicherung vitaler Infrastrukturleistungen, notwendig geworden ist. Daseinsvorsorge reagiert auf die existentielle Bedürftigkeit des Menschen durch die „Darbietung von Leistungen, auf welche der in die modernen massentümlichen Lebensformen verwiesene Mensch lebensnotwendig angewiesen ist.“ Beispiele hierfür sind die „Versorgung mit Wasser, Gas und Elektrizität [...] die Bereitstellung der Verkehrsmittel jeder Art, die Post, Telephonie und Telegraphie, die hygienische Sicherung“.22 Lebensnotwendigkeit oder Lebenswichtigkeit, verstanden als die Abhängigkeit der

19 Forsthoff: Leistungsträger, S. 4. 20 Ebd. 21 Ebd. 22 Ebd., S. 7.

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Bevölkerung von der sozio-technischen Umwelt des effektiven Lebensraums, kann hier als klarer Vorläufer dessen gesehen werden, was heute mit Kritikalität bezeichnet wird. Kritisch an den „Leistungen der Daseinsvorsorge“ ist ihre Funktion für das Leben des modernen Menschen bzw. der Bevölkerung, das gleichsam an der technischen Nabelschnur vernetzter Infrastrukturen hängt. Infrastrukturschutz ist insofern ein techno-biopolitisches Projekt. Eine Politik des Lebens, die weniger auf den Körper des Einzelnen oder den Gattungskörper der Bevölkerung zielt – die zwei Pole der Biopolitik, die Michel Foucault identifiziert hat.23 Vielmehr zielt diese Form der Techno-Biopolitik auf die technischen Umweltbedingungen des Lebens und ist damit eine Politik des Lebens jenseits seiner selbst. Forsthoff war sich dieser gesteigerten „infrastrukturellen Macht“24 des Staates in der Moderne sehr bewusst. So betont er explizit, dass die Macht des modernen Staates in dem Maße gewachsen ist, wie sich die technische Reichweite seiner infrastrukturellen Machtnetzwerke vergrößert und immer stärker mit dem Leben der Bevölkerung vermischt hat. „[Der] absolute Polizeistaat konnte zwar das berufliche Leben reglementieren, er konnte Kant tadeln, Schiller zensurieren und die Verbreitung deterministischer Lehren verbieten, er konnte gewiß bis in die Einzelheiten bestimmen, wie gelebt werden sollte. Aber die Vorsorge dafür, daß überhaupt gelebt werden kann, lag nicht annährend in gleichem Umfang bei ihm, wie heute. Insofern ist die Abhängigkeit des Menschen vom Staate im 19. und 20. Jahrhundert viel intensiver geworden, als sie es je in den vergangenen Jahrhunderten gewesen ist.“25

Mit der wachsenden infrastrukturellen Macht des Staates über seine Bevölkerung ging aber bekanntlich nicht nur eine lebensfördernde TechnoBiopolitik einher, sondern ebenso eine lebensgefährdende „Nekropolitik“.26

23 Foucault, Michel: Recht über den Tod und Macht zum Leben; in: Folkers, Andreas/Lemke, Thomas (Hrsg): Biopolitik. Ein Reader, Berlin 2014, S. 65–87, hier S. 68f. 24 Zum Konzept der infrastrukturellen Macht vgl. Mann, Michael: The autonomous power of the state: Its origins, mechanisms and results; in: European Journal of Sociology 25, 2 (1984), S. 185–213. 25 Forsthoff: Leistungsträger, hier S. 8. 26 Mbembe, Achille: Necropolitics; in: Public Culture 15, 1 (2003), S. 11–40.

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Unter techno-biopolitischen Bedingungen besteht das „Leben-Machen“ darin, die Bevölkerung an vitale Infrastrukturdienstleistungen anzuschließen, während das „Sterben-Lassen“ darin besteht, Teilen der Bevölkerung gleichsam den Stecker zu ziehen. Forsthoff hat auch diese letale Dimension der Techno-Biomacht des Staates diskutiert. So schließt er an die geopolitischen Debatten über den Lebensraum im Dritten Reich an, wenn er bemerkt: „Denn es ist gerade eine entscheidende Folgewirkung der massentümlichen Lebensformen und der Beengtheit des völkischen Lebensraums, daß die Daseinsvorsorge, der Kampf ganzer Völker (nicht um imperialistische Ziele, sondern) um die Lebensbehauptung des Volkes selbst sowohl wie jedes einzelnen Volksgenossen als solche zu dem eigentlichen Politikum geworden ist, während jedenfalls die außenpolitischen Kämpfe der früheren Jahrhunderte im wesentlichen auf der Basis einer gesicherten Existenzgrundlage ausgetragen wurden.“27

Mit dieser Bemerkung schreibt Forsthoff die Politik der Daseinsvorsorge wieder in die militaristische Logik des biopolitischen Krieges um Lebensraum ein.28 So kreuzen sich in Forsthoffs Konzept der Daseinsvorsorge zwei Verständnisse von Kritikalität: Kriegswichtigkeit und Lebenswichtigkeit, die auf dem Terrain des biopolitischen Krieges ununterscheidbar werden. Infrastrukturen sind nach dieser Konzeption kritisch, weil das Leben der „Volksgenossen“ von ihnen abhängt, aber auch, weil sie eine zentrale Rolle im biopolitischen Krieg um Lebensraum einnehmen. Von der Daseinsvorsorge zur Kritischen Infrastruktur – Von der Lebens- zur Systemwichtigkeit Trotz Forsthoffs Bemühungen hat das Konzept der Daseinsvorsorge im Dritten Reich nie größere Bedeutung erlangt. Erst nach Ende des Zweiten Weltkriegs in der neuen westdeutschen Bundesrepublik ist Daseinsvorsorge zu einem zentralen verwaltungsrechtlichen Begriff geworden. Forsthoff selbst hat sich bemüht, das Daseinsvorsorgekonzept von den faschistoiden

27 Forsthoff: Leistungsträger, S. 12. 28 Zur Logik biopolitischer Kriegsführung vgl. Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt am Main 1977, S. 163.

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Konnotationen, die er diesem während der dreißiger Jahre gegeben hatte, zu reinigen. Er betonte jetzt – anders als in den 1930er Jahren – dass es auch bei der Politik der Daseinsvorsorge darum ginge, den Anspruch auf Teilhabe an infrastrukturellen Dienstleistungen und den der Wahrung persönlicher Freiheit zu vereinbaren.29 Auch das Verständnis der Lebenswichtigkeit änderte sich im Zuge der Einbürgerung des Daseinsvorsorgekonzepts in die Bundesrepublik. Es ging nun weniger bloß um die Sicherung des nackten Lebens der Bevölkerung durch Bereitstellung existentiell notwendiger Versorgungsleistungen, sondern um die Förderung eines guten Lebens und einer Angleichung des Lebensstandards zwischen den bundesdeutschen Regionen durch gezielten Ausbau der Infrastruktur in der BRD. Entsprechend wurde im Grundgesetz, Artikel 72, Absatz 2 die „Schaffung einheitlicher Lebensverhältnisse“ als Staatsziel der BRD festgehalten. Es sollte jetzt versucht werden, durch staatliche Infrastrukturpolitik „unterschiedlich entwickelte Räume an ein gleichmäßig hohes Wohlstandsniveau heranzuführen.“30 Wie in anderen westlichen Staaten, die sich dem „modernen Infrastrukturideal“ verpflichtet fühlten,31 wurde auch in der Bundesrepublik Infrastruktur zum technopolitischen „Integrationsmedium“.32 Für gegenwärtige Programmatiken zum Schutz Kritischer Infrastruktur ist das Konzept der Daseinsvorsorge weiterhin wichtig. Infrastruktur wird auch hier als „lebenswichtig“ und folglich kritisch und schützenswert betrachtet.33 Gleichwohl hat sich das Verständnis von Kritikalität entscheidend weiterentwickelt. Als kritisch gelten Infrastrukturen heute nämlich

29 Forsthoff, Ernst: Rechtsfragen der leistenden Verwaltung, Stuttgart 1959; Kersten: Entwicklung der Daseinsvorsorge. 30 Neu, Claudia: Daseinsvorsorge. Eine Einleitung; in: Neu, Claudia (Hrsg.): Daseinsvorsorge. Eine gesellschaftswissenschaftliche Annährung, Wiesbaden 2009, S. 9–21, hier: S. 11. 31 Zum modernen Infrastrukturideal vgl. Graham, Stephen/Marvin, Simon: Splintering urbanism: Networked infrastructures, technological mobilities and the urban condition, London/New York 2001. 32 Laak, Dirk van: Infra-Strukturgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 27, 3 (2001), S. 367–393, hier: S. 370. 33 Vgl. etwa BMI: KRITIS-Strategie, S. 7. BBK: Vulnerabilität Kritischer Infrastrukturen, hrsg. v. Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, Bonn 2009, S. 17.

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nicht mehr nur, weil das Leben der Bevölkerung von ihnen abhängt, sondern weil sie wechselseitig voneinander abhängig sind. Nicht nur die Dependenz, sondern auch die Interdependenz ist entscheidend für das gegenwärtige Verständnis von Kritikalität.34 Interdependenz heißt nämlich, dass infrastrukturelle Dienste füreinander funktionswichtig sind. Dadurch bekommt Kritikalität eine systemische Dimension. Der ultimative Horizont des Infrastrukturschutzes wird das „Gesamtsystem“ oder „system of systems“. „Infrastrukturen gelten dann als ‚kritisch’, wenn sie für die Funktionsfähigkeit moderner Gesellschaften von wichtiger Bedeutung sind und ihr Ausfall oder ihre Beeinträchtigung nachhaltige Störungen im Gesamtsystem zur Folge hat.“35 Der Bezug auf ein solches Gesamtsystem erweckt vielleicht noch mehr als die Beschreibung von Infrastruktur als lebenswichtiges Equipment der Bevölkerung den Eindruck, als müsste hier eine zentrale Steuerungseinheit die Sicherung systemischer Funktionsflüsse überwachen und schützen. Allerdings ist das im gegenwärtigen Schutz Kritischer Infrastrukturen gerade nicht der Fall. Noch etwas hat sich nämlich beim Übergang von der Daseinsvorsorge zum Schutz Kritischer Infrastrukturen verändert. Während bei der Daseinsvorsorge der Staat der wesentliche Garant der Sicherung der Infrastruktur war, hat im Zuge der Privatisierung zentraler Infrastrukturdienstleistungen seit den 1990er Jahren die Rolle der Privatwirtschaft bei der Sicherung von Infrastrukturen deutlich zugenommen. Der Schutz Kritischer Infrastrukturen ist also in keiner zentralen Instanz mehr konzentriert, sondern verteilt sich über eine Vielzahl von Infrastrukturbetreibern. Der Staat selbst ist nur noch ein Bestandteil des infrastrukturellen „Gesamtsystems“, der genauso wie andere Systembestanteile auch abhängig von den Versorgungsflüssen seiner infrastrukturellen Umwelt ist. Der Staat der Daseinsvorsorge weicht dem Staat der „Gewährleistungsverantwortung“,36 der nicht mehr unmittelbar für die Erbringung vitaler Infrastrukturleistungen sorgt, sondern vielmehr versucht, private Infrastrukturbetreiber dazu anzuhalten, ausreichende Sicherheits- und Schutzvorkehrungen vorzusehen.

34 Vgl. dazu BBK: Vulnerabilität: S. 21ff. 35 BMI: KRITIS-Strategie, S. 5. 36 Zum Paradigma der Gewährleistungsverantwortung vgl. Kersten, Jens: Mindestgewährleistungen im Infrastrukturrecht, in: Informationen zur Raumentwicklung 1/2 (2008), S. 1–15.

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„Kritische Infrastruktur“ lässt sich so als einer der wenigen verbliebenen staatlichen Hebel verstehen, der private Infrastrukturbetreiber dazu nötigen kann, für ein Mindestmaß an Schutzvorkehrungen zu sorgen. Die Kritikalität der Kontinuität. Zeitkritikalität im Betrieblichen Kontinuitätsmanagement Unter der Bedingung einer liberalisierten Infrastrukturlandschaft ist der Schutz Kritischer Infrastrukturen nicht mehr in einer Institution oder Körperschaft konzentriert, sondern verteilt sich über ein weites Netzwerk von privaten und öffentlichen Infrastrukturbetreibern und Sicherheitsinitiativen. Entsprechend hat sich mittlerweile ein weites Feld von betrieblichen Risikomanagement- und Sicherheitsprogrammatiken etabliert, das einen eigenständigen Beitrag zum Schutz Kritischer Infrastrukturen leistet. Business Continuity Management (BCM) ist gegenwärtig der wohl verbreitetste Ansatz zum Infrastrukturschutz auf der Ebene einzelner Unternehmen.37 Beim BCM wird versucht die wichtigsten, mithin kritischsten, Prozesse eines Unternehmens auch in Falle einer Geschäftsunterbrechung aufrechtzuerhalten. Interessant ist das BCM zum einen, weil es zeigt, wie Kritische Infrastrukturen jenseits von staatlichen Sicherheitsprogrammen geschützt werden und zum anderen, weil sich hier ein modifiziertes Verständnis von Kritikalität etabliert hat. Zwar versteht sich BCM zumeist vornehmlich als Sicherung systemwichtiger Prozesse und Funktionsabläufe und nicht so sehr als Schutz lebens- oder gar kriegswichtiger Einrichtungen. Aber das System, um das es hier geht, ist zunächst einmal nur der jeweilige Betrieb, der wiederum aus interdependenten Teilprozessen zusammengesetzt ist. Es geht also zunächst nur um den Schutz der betriebseigenen Infrastruktur, auch wenn das – wie sich immer wieder zeigt – auf öffentliche Infrastrukturen verweist. Zudem geht es beim BCM nicht nur darum, bestimmte soziotechnische Strukturen zu sichern, sondern betriebliche Operationen bzw.

37 Für eine ausführlichere Darstellung der historischen Entwicklung und gegenwärtigen Relevanz des BCM vgl. Folkers, Andreas: Continuity and catastrophe: business continuity management and the security of financial operations, in: Economy and Society 46, 1 (2017), S. 103–127; sowie: Folkers, Andreas: Das Sicherheitsdispositiv der Resilienz. Katastrophische Risiken und die Biopolitik vitaler Systeme. Frankfurt am Main 2018, S. 353-447.

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Prozesse aufrechtzuerhalten. Dadurch hat sich im BCM ein starker Fokus auf Fragen der Zeitkritikalität etabliert. Die historischen Ursprünge des gegenwärtigen betrieblichen Kontinuitätsmanagements verweisen allerdings ausgerechnet auf das continuity of government-planning, wie es während des Kalten Krieges zunächst in den USA ausgearbeitet wurde. Die Sicherheitstechnologien, die heute kritische betriebliche Systeme schützen sollen, sind also ursprünglich im Kontext von militärischen Überlegungen entstanden, bei denen es um den Schutz kriegswichtiger Infrastrukturen und Institutionen ging. Der Kalte Krieg gilt weithin als der entscheidende historische Zusammenhang für die Entstehung von Konzepten der Kritischen Infrastruktur. Wie Stephen Collier und Andrew Lakoff gezeigt haben,38 ist mit den neuen Möglichkeiten des Luftkriegs während der Weltkriege zunächst die Doktrin des strategic bombing entstanden. Dabei ging es darum, gezielt die kriegswichtige Infrastruktur des Feindes anzugreifen und lahmzulegen. Spätestens im Kalten Krieg begannen Militärplaner jedoch, sich Sorgen über die Verwundbarkeit heimischer Infrastrukturen zu machen. Welche Infrastrukturen sind hierzulande bedroht? Welche gefährlichen Konzentrationen, welche choke points bestehen? Welche Interdependenzen sind zu beachten? Eine entscheidende Wissenstechnik zur Beantwortung dieser Fragen bestand im sogenannten vulnerability mapping.39 Dabei wird eine Folie, die den Zerstörungsradius einer Atombombe anzeigen soll, über die Karte eines bestimmten Gebiets gelegt, um so das Zerstörungspotential eines feindlichen Angriffes und die Verwundbarkeiten im analysierten Gebiet zu ermitteln. Sichtbar wird hier die Kritikalität der Infrastruktur in räumlicher Hinsicht. Als kritisch werden dann etwa choke points, Konzentrationen von Infrastruktureinrichtungen und Interdependenzen zwischen Versorgungssystemen, sichtbar gemacht. Entsprechend gab es den Versuch, durch räumliche Zerstreuung der Infrastruktur derartige Verwundbarkeiten möglichst aufzulösen. Zur gleichen Zeit entstand mit dem Continuity of Government Planning eine verwandte, aber entschieden modifizierte Sicherheitstechnik, die weniger die räumliche, sondern die zeitliche Dimension von Kritikalität in den

38 Collier, Stephen J./Lakoff, Andrew: Distributed preparedness: The spatial logic of domestic security in the United States, in: Environment and Planning D: Society and Space 26, 1 (2008), S. 7–28. 39 Vgl. Collier/Lakoff: Distributed preparedness, S. 16ff.

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Vordergrund stellte. Damit einher ging ein modifiziertes Verständnis von Infrastruktur: nicht mehr lediglich als physisch-technische, räumliche fixierte Struktur, sondern vielmehr als Sequenz von Operationen. Schließlich ging es hier nicht nur darum, die physischen Versorgungsketten, die supply chains, aufrechtzuerhalten, sondern ebenso die chains of command – und zwar in einer Situation, in der ununterbrochene Regierungsoperationen und Anweisungen besonders wichtig waren. Im Gegensatz zu bestimmten Industriezweigen durften die Kritischen Infrastrukturen des Regierens und der militärischen Befehlsketten noch nicht einmal kurz unterbrochen werden. Das Kernstück dieser Kontinuitätsplanung besteht in einem System von Ausweichstandorten, also einer alternativen Infrastruktur für die Regierungsoperationen. Die wohl berühmteste dieser relocation sites ist die Anlage Mount Weather: ein massiver in den Berg gebauter Bunker war mit Ressourcen ausgestattet, die der Regierung eine 30-tägige Nachspielzeit im nuklearen Endspiel ermöglichen sollten.40 Das Äquivalent zu Mount Weather in Westdeutschland war der Regierungsbunker, der bürokratisch korrekt „Ausweichsitz für die Verfassungsorgane des Bundes im Krisen- und Verteidigungsfall zur Wahrung von deren Funktionstüchtigkeit“ hieß. Der Regierungsbunker, das war eine 83.000 Quadratmeter große, 17 Kilometer lange Anlage, der größte Bunker Europas und das größte Bauprojekt der Bundesrepublik, mit Sendezentrale, Krankenstation und Friseursalon ausgestattet, um einen heiß gewordenen Kalten Krieg steuern oder zumindest beobachten zu können.41 Das ist aber nur die technisch-materielle Seite des Continuity of Government Planning. Nicht minderbedeutend war die organisationale und politische Dimension der Planungsbemühungen zur Regierungsfortsetzung. Denn Übungen des Atomkrieges hatten verdeutlicht, dass die Befehlshaber Probleme damit hatten, in der Notfallsituation die richtigen Entscheidungen zu treffen und Prioritäten zu identifizieren.42 Entscheidungsprotokolle, häufig in Form von decision trees und flow charts, sollten auf dieses Problem

40 Krugler, David F: This Is Only a Test: How Washington, DC, Prepared for Nuclear War, New York 2006. 41 Vgl. Klinke, Ian: The bunker and the camp: inside West Germany’s nuclear tomb, in: Environment and Planning D: Society and Space 33, 1 (2015), S. 154– 168. 42 Collier/Lakoff: Vital Systems.

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Antwort geben, indem sie vorab festlegen sollten, wer wann was und in welcher Reihenfolge zu tun hat. Souverän ist hier nicht mehr, wer über den Ausnahmezustand entscheidet, sondern vielmehr der Notfallplan, der bereits vorab alle Entscheidungsoptionen für den Ausnahmezustand festgelegt hat. Es entwickelt sich also gleichsam eine protokollarische Souveränität. Der Souverän steht nicht mehr über dem Geschehen, das er versucht zu regieren, sondern muss sich selbst als kritischen Teil dessen beobachten, was er schützen möchte. Die Souveränität selbst, als zentrale command and control-Infrastruktur in der Krisensituation, wurde nun als ein vitales System wahrgenommen und geschützt. Während sich bei Forsthoff Erwägungen der Kriegswichtigkeit und der Lebenswichtigkeit verschränkten, liegt im Falle der Kontinuitätsplanung während des Kalten Krieges ein Kurzschluss von Fragen der Kriegswichtigkeit und der Systemwichtigkeit vor. Die Regierung wird jetzt als command and control-System verstanden, das kritisch für die erfolgreiche Kriegsführung ist. Das organisatorische Wissen, die Techniken und räumlichen Form des Continuity of Government leben fort im gegenwärtigen Business Continuity Management. Nicht mehr der Staat, sondern private Unternehmen, die sich auf disaster recovery und BCM-Dienstleistungen spezialisiert haben, sind zur treibenden Kraft des Kontinuitätsmanagements geworden. Aber wie kam es zur Entstehung des heutigen BCM? Mit der fortschreitenden Informatisierung von Betrieben hat sich zunächst in den 1980er Jahren ein vor allem auf die IT-Infrastruktur zielendes disaster recovery auf Betriebsebene herausgebildet. Insbesondere die Terroranschläge vom 11. September 2001 im financial district von Manhattan haben aber zu einer Erweiterung des Kontinuitätsmanagements jenseits der Fokussierung auf die IT beigetragen. Schließlich sind hier nicht nur IT-Systeme ausgefallen, sondern Mitarbeiter_innen verletzt und getötet worden, was in einem umfassenden Sinn den Geschäftsprozess beeinträchtigt hat.43 Deshalb brauchte man ein umfassendes BCM, das „mehr ist als Back-Up“.44 So sollte es jetzt weniger nur um den Schutz von assets gehen, also Schutz und Sicherung von Daten. Vielmehr ging es von nun an um die Aufrechterhaltung von geschäftswichtigen

43 Beunza, Daniel/Stark, David: The organization of responsiveness: innovation and recovery in the trading rooms of Lower Manhattan, in: Socio-Economic Review 1, 2 (2003), S. 135–164. 44 Interview mit einem Business Continuity Manager in einer Bank in New York.

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und damit kritischen Prozessen. Nicht mehr Integrität, sondern Kontinuität wurde zur entscheidenden Zielvorgabe von Sicherheitsmaßnahmen. Zur Aufrechterhaltung dieser geschäftswichtigen Prozesse stützen sich Kontinuitätsmanager_innen auf eine Reihe generischer Maßnahmen, die nicht zufällig an die Techniken aus dem Repertoire des Continuity of Government Planning erinnern. So werden zum einen redundante Ressourcen oder Infrastrukturen wie Ausweichstandorte (relocation sites) und Notstromversorgungssysteme vorgehalten und Datenbackups durchgeführt. Zum anderen sollen Notfallpläne als Entscheidungshilfe im Notfall dienen und festlegen, wer was wann zu tun und zu entscheiden hat. In den Notfallplänen spielt die Priorisierung von Maßnahmen eine besonders große Rolle. Zuerst soll nämlich versucht werden, die Prozesse wiederherzustellen, die als besonders „zeitkritisch“ gelten. Als zeitkritisch gelten Geschäftsprozesse, deren fortgesetzter Ausfall für das Unternehmen existenzgefährdend oder zumindest besonders kostspielig wäre. Diese Zeitkritikalität wird wiederum im Vorhinein im Rahmen der sogenannten Business Impact Analyse (BIA) ermittelt.45 Bei der BIA wird zur Bestimmung der Kritikalität nicht mehr auf die klassischen Formen der Verwundbarkeitskartierung, sondern auf sogenannte „Prozesslandkarten“ zurückgegriffen.46 Hier bestimmt die temporale Position in einem Verlaufsgeschehen oder einer Sequenz von Operationen die relative Kritikalität von Prozesselementen und nicht die räumliche Position in einem physischen Infrastrukturnetzwerk. Zugleich bemisst sich die Zeitkritikalität im Betrieblichen Kontinuitätsmanagement aber auch nach den Kosten, die durch einen Ausfall eines Prozesses entstehen. Zeit ist Geld und Zeitkritikalität in gewisser Weise auch Kostenkritikalität. Entsprechend sind Techniken zur Abschätzung von entstehenden Kosten durch Geschäftsunterbrechungen ein zentraler Teil jeder BIA.47

45 ISO 22317: Societal security. Business continuity management systems. Guidelines for business impact analysis (BIA); hrsg. v. International Organization for Standardization, Genf 2015. 46 BSI: BSI-Standard 100-4. Notfallmanagement; hrsg. v. Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, Bonn 2008, hier: S. 32. 47 ISO: BIA.

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KRITISCHE INFRASTRUKTUREN ALS INFRASTRUKTUREN DER KRITIK Mittlerweile hat sich BCM weltweit in einer Vielzahl von Unternehmen etabliert. Grund für die Ausbreitung sind Vorschriften von Regierungen zur Katastrophenvorsorge seit dem 11. September insbesondere für Betreiber Kritischer Infrastrukturen. Eine Reihe von Standards hat mittlerweile Benchmarks für „gutes BCM“ gesetzt. So gibt es mittlerweile einen ISO Standard für BCM48 sowie mehrere nationale Standards für betriebliches Kontinuitäts- und Krisenmanagement.49 Die Standardisierung sorgt für eine globale Ausbreitung und weltweite Isomorphie von BCM-Maßnahmen. Besonders weit ist die Implementierung von Kontinuitätsmaßnahmen im Finanzsektor fortgeschritten. Seit jeher haben Banken eine höchst sensible Risikokultur. So gab es bereits vor dem 11. September in vielen Banken recht umfangreiche disaster recovery-Planungen.50 Ein weiterer Grund für die Ausbreitung des BCM in Banken liegt an der Vielzahl von auditRitualen im Finanzwesen.51 Wirtschaftsprüfungsunternehmen kontrollieren das BCM bei Banken und lassen ihre Einschätzungen über die Güte der Vorsorgemaßnahmen in ihre Bewertungen einfließen. Zudem sind gerade Banken seit dem 11. September von Regulierungsbehörden verpflichtet worden, sich terrorsicher und dann schnell im Sinne eines „All-GefahrenAnsatzes“ katastrophensicher zu machen. Schließlich hat das Thema des „operational risk“ einen wichtigen Anteil an der Ausbreitung des Kontinuitätsmanagements in Banken.52 Die Kategorie des operational risk tauchte regulierungswirksam das erste Mal in der Eigenkapitalverordnung Basel II 48 ISO 22301: Societal security. Business continuity management systems. Requirements; hrsg. v. International Organization for Standardization, Genf 2012. 49 BS: BS 25999-1:2006. Business continuity management – Code of practice; hrsg. v. British Standard, London 2006; BSI: Notfall. 50 Buenza/Stark: Recovery. 51 Power, Michael: The audit society: Rituals of verification, New York/Oxford 1999. 52 Zum operational risk management in Banken vgl. Power, Michael: The Invention of Operational Risk; in: Review of International Political Economy 12, 4 (2005), S. 577–599.

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aus dem Jahr 2004 auf und wurde dort als „the risk of loss resulting from inadequate or failed internal processes, people and systems or from external events.“53 Fortan müssen auch operationelle Risiken bei der Berechnung der Eigenkapitalanforderungen berücksichtigt werden. BCM ist zudem deshalb wichtig für Banken, weil sie ein besonders zeitkritisches Geschäftsmodell haben. Das liegt zunächst daran, dass drohende Verluste bei Banken besonders hoch sind und sich in sehr kurzen Zeiträumen einstellen können. Zudem gibt es sehr viele Fristen und Termine, die unbedingt eingehalten werden müssen und damit zur Zeitkritikalität finanzieller Operationen beitragen.54 Ein weiterer Grund für die Ausbreitung des BCM in Banken ist der hohe Automatisierungsgrad im Finanzsektor. Banken sind auf eine Vielzahl sehr elaborierter technologische Strukturen wie Handelscomputer, Informationsverarbeitungssysteme und Zahlungssysteme angewiesen, die funktionsfähig sein müssen, um einen reibungslosen Geschäftsbetrieb zu garantieren.55 Schließlich bestehen im Finanzsektor sehr hohe Interdependenzen zwischen den Banken und Finanzakteuren. Das ist im Zuge der Finanzkrise ab 2007 zum schwerwiegenden Problem geworden, weil hier „systemische Risiken“ bzw. „Ansteckungsrisiken“, bei denen sich Probleme in einer Bank bei anderen fortgesetzt haben, für gravierende Schwierigkeiten gesorgt haben. In der Bankenregulierung Basel III, die als Reaktion auf die Finanzkrise erarbeitet wurde, wird dementsprechend die „excessive interconnectedness“ des Finanzsystems zum zentralen Gefährdungsfaktor erklärt.56 Um Ansteckungsrisiken zu vermeiden müssen Finanzinstitutionen, die als be-

53 BIS: International Convergence of Capital Measurement and Capital Standards. A Revised Framework (Basel II); hrsg. v. Bank for International Settlements, Basel Committee on Banking Supervision, Basel 2004. 54 ECB: Business Continuity oversight expectations for Systemically Important Payment Systems (SIPS); hrsg.v. Europäische Zentralbank, Frankfurt am Main 2006, S. 5. 55 BIS: The Joint Forum: High-level principles for business continuity; hrsg. v. Bank for International Settlements, Basel Comittee on Banking Supervision, Basel 2006, S. 5. 56 BIS: Basel III: A global regulatory framework for more resilient banks and banking systems; hrsg. v. Bank for International Settlements, Basel Committee on Banking Supervision, Basel 2010, hier: S. 7.

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sonders systemwichtig angesehen werden, weil sie too big bzw. too interconnected to fail sind, besondere Vorsorgemaßnahmen in Form von Eigenkapitalpuffern treffen. Aber schon bevor diese Probleme im Umkreis marktbedingter Ansteckungsrisiken zum zentralen Thema von Finanzregulatoren geworden sind, hatte sich im Umkreis der Überlegungen zum Kontinuitäts- und Operationsmanagement von Banken ein Bewusstsein für das Problem gebildet, dass auch operationale Risiken, also Geschäftsunterbrechungen, sich unter Umständen fortsetzen und zu größeren Krisen eskalieren können.57 Dabei ist es interessanterweise gerade der spezifische Rhythmus aus immer schneller werdenden Transaktionen und kritischen Zeitperioden und Fristen, der das spezifische operationelle Interdependenzrisiko im Finanzmarkt erzeugt. „The velocity with which money and securities turn over on a daily basis underpins the considerable interdependencies – in the form of settlement risk and, ultimately, credit and liquidity risks – among financial industry participants and investors. The result is that operational disruption at one financial industry participant can cause difficulties at others.“58

Aber welche Art von Störungen können überhaupt Geschäftsunterbrechungen in einer Bank auslösen? Auf welche Ereignisse bereiten sich betriebliche Kontinuitätsmanager_innen in Banken vor? In einem Bericht der Bank for International Settlements in Basel aus den Jahr 2006 zum Business Continuity Management bei Banken finden sich kurze Fallstudien, die über BCM-relevante Ereignisse an Finanzstandorten seit dem 11. September berichten: ein Stromausfall in den USA 2003, SARS in Hong Kong, ein Erdbeben in Japan, Terroranschläge in London. Die Fallstudien schließen jeweils mit handlichen lessons learned für das BCM. Ich möchte dieser Aufreihung im Folgenden zwei jüngere Ereignisse hinzufügen: den Hurricane Sandy in New York im Jahr 2012 und die Ereignisse in Frankfurt rund um die Blockupy-Demonstrationen, die ab Mai 2012 in unregelmäßigen Abständen stattfanden. Anstatt handliche lessons learned zu präsentieren, möchte ich mich auf die Kritik konzentrieren, die während dieser Ereignis-

57 ECB: Business Continuity, S. 8. 58 BIS: Joint-Forum, hier: S. 5.

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se an der Logik und den Erscheinungsformen des Kontinuitätsmangements geübt wurde. Hurricane Sandy in New York Vor allem New Yorks Infrastruktur ist von Hurricane Sandy schwer beschädigt worden. Straßen und U-Bahn-Schächte wurden überflutet, Tunnel wurden unpassierbar und es gab einen Stromausfall der 250.000 New Yorker teilweise für Tage ohne Strom ließ und auch den financial district an der Südspitze Manhattans betraf. Wo sonst die hell erleuchtete Skyline New Yorks zu sehen ist, war plötzlich alles dunkel und schwarz. Umso deutlicher stach die weiterhin hell erleuchtete Firmenzentrale der Investmentbank Goldmann Sachs aus der verdunkelten Skyline heraus. Zwar konnte auch Goldmann keinen Strom aus dem zusammengebrochenen Netz mehr beziehen, aber ihr Backup-Stromsystem, das sie im Zuge ihres Kontinuitätsmanagements implementiert hatten, lieferte weiter Elektrizität. Damit hat Goldmann die Sicherheitsmaßnahmen von Banken, aber auch die Ungleichheiten des Schutzes Kritischer Infrastrukturen im Wortsinne beleuchtet. Für besondere Aufregung sorgte in der Öffentlichkeit vor allem die Tatsache, dass, während bei Goldmann für jedermann sichtbar noch die Lichter brannten, im NYU-Hospital auch die Notstromversorgung ausgefallen war und alle Patient_innen evakuiert werden mussten. Ein New Yorker schrieb dazu in einem schnell tausendfach geteilten tweet: „The fact that the NYU hospital is dark but Goldman Sachs is well-lit is everything that’s wrong with this country.“59 Offensichtlich wird hier Kritik am Schutz Kritischer Infrastruktur durch BCM geübt. Die Kritik richtet sich aber nicht so sehr gegen den Schutz Kritischer Infrastrukturen per se, sondern vielmehr gegen die Hierarchie der Kritikalität bzw. darauf, dass die falschen Infrastrukturen geschützt werden, während die wirklich lebenswichtigen, wie ein Krankenhaus, ungeschützt bleiben. Zudem erscheint es als besonders pikant, dass hier ausgerechnet bei Goldmann Sachs noch Licht brennt. Schließlich gehörte Goldmann zu den Banken, die mit ihren Geschäftspraktiken die Finanzkrise mit verursacht haben, um anschließen mit viel Geld vom Staat gerettet zu werden. Es 59 Quelle: Twitter, Ken Shadford: https://twitter.com/kenshadford/status/26311519 1674368001 [Stand 26.01.2018].

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musste deshalb so scheinen, als würde der Schutz Kritischer Infrastruktur hier nach dem Prinzip des too big to fail erfolgen, dem gemäß besonders geschützt wird, wer aus nicht immer einsichtigen Gründen als besonders systemwichtig gilt. Die Frage drängt sich auf, was denn berechtigterweise als kritisch gelten kann. Für viele Menschen sind Krankenhäuser jedenfalls wichtiger als Banken – wenn schon nicht system- so doch zumindest lebenswichtig. Ironischerweise hat Goldmann nur wenig von dem gut funktionierenden Notstromsystem profitieren können. Vor allem der Zusammenbruch der öffentlichen Verkehrsinfrastruktur, von U-Bahnen und Tunneln, mit denen die Banker_innen aus New Jersey oder Long Island in die Stadt strömen, haben einen normalen Geschäftsbetrieb ohnehin unmöglich gemacht. In den Augen der Öffentlichkeit mag die hell scheinende Goldmann-Zentrale so vor allem die ungleiche Verteilung von Sicherheit beleuchtet haben. Hurricane Sandy hat aber auch die Grenzen des BCM vorgeführt, das als privates Sicherheitsprojekt stets auf die Integrität von öffentlichen Infrastruktureinrichtungen angewiesen bleibt. Blockupy in Frankfurt Im Fall der Blockupy-Demonstrationen kam es ebenfalls zur Begegnung von praktischer Kritik und Praktiken der Sicherung von Kritischen Infrastrukturen. Die Blockupy-Aktivist_innen haben dabei zunächst einmal gar nicht das Kontinuitätsmanagment von Banken oder die Sicherungen kritischer Infrastrukturen kritisiert, sondern sind selbst eine Bedrohung für die kritische Kontinuität des Finanzsektors geworden. Die Blockupy-Bewegung hatte es sich explizit zum Ziel gesetzt, den Bankbetrieb für einen Tag zu unterbrechen, um gegen die europäische Krisenpolitik, gegen Austerität und ihren Zusammenhang mit dem Finanzkapitalismus zu demonstrieren. „Wir werden [...] den Geschäftsbetrieb der Banken in Frankfurt blockieren, um unsere Wut über die Troika-Politik konkret werden zu lassen.“60 Dafür wollte sie das Frankfurter Bankenviertel und insbesondere die Europäische Zentralbank blockieren, indem sie etwa die Mitarbeiter_innen daran hinder60 Blockupy: Blockupy Frankfurt 16.-19. Mai. Europäische Aktionstage (Aufruf zur Demonstration), 2012, http://2012.blockupy-frankfurt.org/de/aufruf/blockpy frankfurt.html [Stand 23.03.2016].

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te, das Gebäude zu betreten. Damit haben sich die Blockupist_innen zu den natürlichen Feinden des Business Continuity Managements gemacht. Entsprechend haben Kontinuitätsmanager_innen im Zuge der BlockupyDemonstrationen ihre Notfallpläne, die ursprünglich zur Reaktion auf Terroranschläge oder Pandemien konzipiert wurden, zum Einsatz gebracht. Banker sollten von zu Hause aus arbeiten (die sogenannte remote-Lösung) oder wurden an Ausweichstandorte verlegt. Zudem wurde das Bankenviertel weiträumig von der Polizei abgesperrt. Die Absperrungen waren zwar eigentlich dazu gedacht, Demonstrant_innen an der Blockade der Türme zu hindern. Im Ergebnis führten diese Sicherheitsmaßnahmen paradoxerweise aber genau zu der Blockade, die eigentlich verhindert werden sollte. Vor allem die Demonstrant_innen haben diese „autoimmunen Effekte“ der Sicherheit immer wieder genüsslich betont. Jenseits ihrer Kritik an den Paradoxien der Sicherheit haben die Demonstrant_innen aber noch eine radikalere Kritik an der Sicherheit artikuliert. Denn sie versuchten eine Unterbrechung des Finanzbetriebs zu erreichen, um ihrer Kritik an der Politik der Troika Geltung zu verschaffen. Damit stehen sie in einer langen Tradition von politischen Bewegungen, die versuchen, durch Blockaden logistischer Knotenpunkte oder Infrastrukturen ihre politischen Anliegen durchzusetzen. Von den Arbeiter_innen in der Kohleindustrie am Beginn des 20. Jahrhunderts, über die Proteste gegen die Castortransporte, bis zu Hafenarbeiterstreiks in logistischen Netzwerken der Gegenwart.61 Allerdings hat die intensivierte Versicherheitlichung von Banken, aber auch von supply chains und Häfen seit dem 11. September derartige Proteste erschwert. Blockadeversuche sind nun nicht mehr legitime Manifestationen von Arbeitermacht oder Ausdruck zivilen Ungehorsams, sondern vor allem Sicherheitsrisiken, die zumindest gemäß der Logik des All-Gefahren-Ansatzes auf einer Stufe mit Terrorismus, Wirbelstürmen, Erdbeben, Stromausfällen und Pandemien stehen. Ein ContinuityManager sagte dazu im Interview: „Deshalb wäre für mich Streik und Pan-

61 Vgl. dazu Mitchell, Timothy: Carbon democracy; in: Economy and Society 38, 3 (2009), S. 399–432; Folkers, Andreas: Nuclear States, Renewable Democracies?, in: limn 7 (2017), S. 83–88; Cowen, Deborah: The Deadly Life of Logistics: Mapping Violence in Global Trade, Minneapolis 2014.

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demie mit dem Effekt, beide Male sind die Menschen nicht da, gleich zu bewerten.“62 Wir sehen hier also einen anders gelagerten Konflikt um Kritikalität als im Fall von Hurricane Sandy. Schließlich geht es hier nicht nur um Hierarchien der Kritikalität und die ungleiche Verteilung von Schutz. Vielmehr gibt es einen Konflikt zwischen der Kritikalität von Infrastrukturen – die zeitkritischen Operationen des Finanzwesens – und disruptiven Praktiken der Kritik. Es geht damit auch um die Frage, was Infrastrukturen sind: bloß ein gesellschaftlicher Funktionszusammenhang oder auch Schauplätze öffentlicher Auseinandersetzungen, kritische Infrastrukturen oder auch Infrastrukturen der Kritik, die als Bühne und Resonanzraum für politische Bewegungen dienen können?

FAZIT: KRITISCHE INFRASTRUKTUR ALS MATTER OF STRUGGLE Der historische Streifzug durch diverse Projekte zur Sicherung der Infrastruktur – Daseinsvorsorge, Schutz Kritischer Infrastruktur, Business Continuity Management – hat drei unterschiedliche Verständnisse von Kritikalität beleuchtet. Infrastrukturen werden als kritisch angesehen, weil sie kriegswichtig, lebenswichtig oder systemwichtig sind. Werden Infrastrukturen vor allem als kriegswichtig betrachtet, geht es um die Sicherung von logistischem Nachschub für die Truppenversorgung und um die Wahrung der fortgesetzten Funktionstüchtigkeit von Schlüsselindustrien, die für die Führung eines industriellen Krieges notwendig sind. Der Schutz kriegswichtiger Infrastrukturen hat mit der doppelten Schwierigkeit zu kämpfen, dass einerseits gewohnte Versorgungspfade und Rohstoffquellen unverfügbar sind, die im Feindgebiet liegen oder dieses durchqueren, und der Gegner mit Sabotage oder Luftschlägen versuchen kann, besonders sensible Teile der Kriegsproduktion zu zerstören. Steht die Lebenswichtigkeit der Infrastruktur im Vordergrund geht es darum, die Bevölkerung an Infrastrukturdienstleistungen anzuschließen, die diese für ihren Lebensvollzug benötigt und nicht aus eigener Kraft erbringen kann. Gerade moderne Stadtbewohner_innen sind existentiell auf netz62 Interview mit einem Unternehmensberater mit Schwerpunkt BCM in Frankfurt.

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gebundene Infrastrukturleistungen wie Strom- oder Wasserversorgung angewiesen. Je anspruchsvoller eine solche Techno-Biopolitik der Infrastruktur ist, desto mehr geht es dann nicht nur um die Gewährleistung des bloßen Überlebens, sondern zunehmend um die Förderung eines guten Lebens und die Angleichung der Lebensverhältnisse innerhalb eines gegebenen politischen Bezugsraumes, wie eines nationalen Territoriums oder eines transnationalen Infrastrukturraums, wie der Europäischen Union. Dann wird etwa auch der Ausbau von schnellen Internetleitungen in ländlichen Regionen zu einer Aufgabe der lebensfördernden Infrastrukturpolitik. Die gesteigerte infrastrukturelle Macht über das Leben der Bevölkerung, die gerade dem Staat dadurch zukommt, dass er für die Versorgung mit lebenswichtigen Leistungen sorgt, ist ambivalent. Einerseits kann sie die Form einer lebensfördernden Biomacht annehmen, sie kann aber auch – wie vor allem im Nationalsozialismus geschehen – einer totbringenden Thanatopolitik den Weg bereiten. Systemwichtigkeit betont im Gegensatz zu Lebenswichtigkeit nicht nur die Abhängigkeit der Bevölkerung von vitalen Infrastrukturleistungen, sondern die Interdependenzen innerhalb eines dicht vernetzten Geflechts von Infrastruktursystemen. Gerade mit der Elektrifizierung und der Digitalisierung sind Stromversorgung sowie Informations- und Telekommunikationstechnologien zu Schlüsselinfrastrukturen aufgestiegen, die alle anderen Infrastruktureinrichtungen mit funktionswichtigen Leistungen versorgen. Aber auch umgekehrt ist etwa die Stromversorgung von politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen, von funktionierendem Zahlungsverkehr, von Wasserversorgung und letztlich auch vom Gesundheitswesen abhängig. Werden Infrastrukturen als systemwichtig betrachtet, dann liegt es nahe, besonders die Einrichtungen, Elemente und Funktionsstellen der Infrastruktur zu schützen, die für das Gesamtsystem besondere Bedeutung haben. In der Finanzmarktregulation hat das etwa zur Abgrenzung „systemwichtiger“ Finanzinstitutionen geführt, die verpflichtet werden besondere Schutzvorkehrungen zu treffen. Die Rationalität der Systemwichtigkeit changiert insofern zwischen der Betonung von Interdependenz und der Hierarchisierung der Kritikalität von Infrastrukturen je nachdem, ob diese too big to fail sind oder nicht. Egal ob als kriegs-, lebens- oder systemwichtig verstanden: Infrastrukturen sind stets kritisch in Bezug auf einen größeren Zusammenhang und eine gesellschaftliche oder politische Zielvorstellung. Die kriegswichtige

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Infrastruktur gewährleistet die erfolgreiche Kriegsführung im Dienste eines Souveräns, der sein Territorium verteidigen bzw. vergrößern möchte. Die lebenswichtige Infrastruktur bezieht sich auf die Bevölkerung, deren Leben und Überleben sie schützen und fördern möchte. Die systemwichtige Infrastruktur ist auch auf ein größeres Ganzes bezogen. Hier ist es allerdings keine in Bezug auf die Infrastruktur externe Größe. Vielmehr ist das Funktionsgeflecht der Infrastruktursysteme selbst die Totalität und der Telos, auf den systemwichtige Infrastruktureinrichtungen bezogen werden. Schutz Kritischer Infrastrukturen wird hier gewissermaßen selbstreferentiell. Diese Kritikalitätsverständnisse sind natürlich keineswegs die einzig möglichen oder faktisch vorhandenen. So wird in der offiziellen Definition von Kritischen Infrastrukturen gerade deren Bedeutung für das „staatliche Gemeinwesen“ betont und damit ein politisch-staatliches Verständnis von Kritikalität aufgerufen.63 Kritische Infrastrukturen wären demnach allein aus Staatsräson und für die Wahrung von Recht und Ordnung zu schützen. Gerade im Zusammenhang mit den Ausführungen zum Business Continuity Management haben wir die Bedeutung von ökonomischen Kalkülen für die Bestimmung von Kritikalität gesehen. Im BCM ist ein kritischer Prozess immer auch einer, dessen Ausfall besonders hohe Kosten hätte. Ökonomische Erwägungen spielen ebenso eine zentrale Rolle für die lebensfördernde Infrastrukturpolitik. Im New Deal und der europäischen Nachkriegsökonomie sollte der Ausbau von Infrastrukturnetzwerken bekanntlich der Volkswirtschaft ein starkes Rückgrat zur Verfügung stellen und zur Grundlage von ökonomischer Prosperität werden. Und der Schutz systemwichtiger Infrastrukturen steht notorisch im Verdacht, nur den Interessen von Wirtschaftsunternehmen und Finanzakteuren zu dienen. Jedem Kritikalitätsverständnis lässt sich ein historischer Zeitabschnitt zuweisen, in dem es entstanden ist und besonders dominant war. Die Frage der Kriegswichtigkeit war während der beiden Weltkriege besonders bedeutsam, die Erwägung der Lebenswichtigkeit hat dann nach Ende des Zweiten Weltkriegs in der Sozialpolitik der Nachkriegszeit größere Relevanz bekommen, die Betonung der Systemwichtigkeit schließlich ist besonders charakteristisch für jüngere Programmatiken zum Schutz Kritischer Infrastrukturen, die sich etwa seit der Jahrtausendwende entwickelt haben. Das sind gleichwohl nur sehr grobe und schematische historische Zuord-

63 BMI: KRITIS-Strategie, hier: S. 3.

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nungen. Kriegswichtigkeit, Lebenswichtigkeit und Systemwichtigkeit stehen nicht im Verhältnis einer schlichten historischen Abfolge, sondern sind drei mögliche Paradigmen oder Rationalitäten der Kritikalität, die faktisch neben-, mit- und gegeneinander existieren. So habe ich gezeigt, wie sich bei Forsthoff Überlegungen zur Lebens- und zur Kriegswichtigkeit überschnitten, insofern ihm am Vorabend des Zweiten Weltkriegs und beeinflusst von der nationalsozialistischen Ideologie des Lebensraums die Realität eines biopolitischen Krieges vor Augen stand, bei dem Krieg für und um das Leben der „Völker“ bzw. „Rassen“ geführt wird. Auch im Continuity of Government Planning kam es zu einer Überschneidung der Rationalität vitaler Systeme mit Fragen der Kriegswichtigkeit. Aus Sicht der zunehmend vom kybernetischen control and command-Denken geprägten Militärplaner des Kalten Krieges ging es darum, die Regierung als vitales System für die militärischen Befehlsketten aufrecht zu erhalten, um so zu verhindern, dass die notwendigen Operationen in einem heiß gewordenen Kalten Krieg unterbrochen werden. Wichtig ist außerdem zu bedenken, dass es stets umstritten ist, was genau Kritikalität bedeutet, für was, für wen und wozu etwas wichtig ist. Das unterstreichen vor allem die Momente, in denen Praktiken und Programmatiken zum Schutz Kritischer Infrastruktur zum Gegenstand der Kritik werden. So wurde etwa in New York nach Hurricane Sandy gefordert, die Lebenswichtigkeit von Krankenhäusern und nicht bloß die Systemwichtigkeit von Banken zu berücksichtigen. Die BlockupyDemonstrant_innen haben schließlich sogar die Logik der Kritikalität selbst in Frage gestellt, indem sie Kritische Infrastrukturen als Infrastrukturen der Kritik genutzt und indem sie durch den Versuch, die Operationen des Finanzsystems zu stören, Gehör für ihre Positionen generiert haben.

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Tabelle 1: Rationalitäten der Kritikalität Kritikalitätsverständnis

Ziel

Infrastruktur wichtig für...

Zentrale Infrastrukturen

Entstehungszeitraum

kriegswichtig

Erfolgreiche Kriegsführung

Nation, Souverän

Netzwerke der Militärlogistik, kriegswichtige Schlüsselindustrien

Frühes 20. Jahrhundert

lebenswichtig

Förderung, Sicherung des Lebens

Bevölkerung

Öffentliche Infrastrukturen (Verkehr, Wasserversorgung, Energieversorgung)

Seit Mitte des 20. Jahrhunderts (New Deal, public services, Daseinsvorsorge)

systemwichtig

Erhaltung systemischer Infrastrukturoperationen

Vitale Infrastruktursysteme, system of vital systems

Infrastrukturen von besonderer Bedeutsamkeit für das Gesamtsystem bzw. system of systems (Elektrizitätsinfrastruktur, ITK, systemwichtige Institutionen)

Ende 20. Beginn 21. Jahrhundert

Das heißt nicht, dass die hier idealtypisch herausgearbeiteten Rationalitäten der Kritikalität keine andere als analytische Bedeutsamkeit haben. Sie sind die Koordinaten des historischen Möglichkeitsraums, in dem über die Kritikalität von Infrastrukturen verhandelt und gestritten werden kann. Es musste erst in langen historischen Prozessen, die zumeist von einschneidenden Krisenerfahrungen ausgelöst wurden, herausgeschält werden, warum Infrastrukturen kriegswichtig, lebenswichtig bzw. systemwichtig sind, damit heute auf diese Verständnisprinzipien ohne größere Mühe zurückgegriffen werden kann. Ziel der ersten Teile des Textes war es, die Koordinaten dieses Möglichkeitsraums der Kritikalität von Infrastrukturen im Sinne

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einer „historischen Ontologie“ zu kartieren.64 Im letzten Abschnitt des Textes, der die Kritik an Spielarten der Kritischen Infrastruktur behandelt, ging es dann darum, die Flexibilität und strategische Offenheit dieses Möglichkeitsraumes aufzuzeigen. Die Kritikalität von Infrastrukturen ist, das zeigen die untersuchten Auseinandersetzungen, zu einer Streitsache, einem matter of struggle geworden. Die Zuschreibung von Kritikalität ist zwar tatsächlich ein Instrument der Macht, kann aber ebenso für kritischen Gegenstrategien mobilisiert werden. Die Offenheit des Kritikalitätsverständnisses ist dabei keineswegs nur ein Makel, der durch bessere Definitionen und klarere Gütekriterien ausgeräumt werden könnte. Vielmehr ermöglicht diese Offenheit eine potentielle Demokratisierung der Kritikalitätsbestimmung, die der Definitionshoheit von Sicherheitsexpert_innen entzogen und einer breiten betroffenen Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden könnte. Durch eine solche Öffnung und Veröffentlichung von „Kritischer Infrastruktur“ ließen sich die Problemkomplexe Kritikalität und Kritik tatsächlich aneinander annähern. Kritikalität dürfte dann nicht mehr auf Fragen funktionaler Bedeutung verkürzt werden, die der Öffentlichkeit aus nicht näher erläuterten „Sicherheitsgründen“ noch nicht einmal dargelegt werden. Vielmehr müssten Fragen nach Rechtmäßigkeit und Gerechtigkeit adressiert werden, die bei bisherigen Bemühungen zur Sicherung von Infrastrukturen allzu oft unter den Tisch fallen. Umgekehrt könnte aber auch die Kritik von der Kritikalität lernen. Bekanntlich gerät die Kritik nämlich immer wieder in Verruf, weil sie verdächtigt wird, nur negativ und destruktiv zu sein. Eine Kritik, die ihre Lektion von der Kritikalität gelernt hat, würde demgegenüber darin bestehen zu zeigen, was bedeutsam, unverzichtbar und deshalb schützenswert ist. In diesem Sinne ging es mir auch in diesem Aufsatz, wenn man ihn als kritisch verstehen will, nicht darum zu behaupten, dass „Kritikalität“ bloß ein strategisch eingesetztes Konstrukt der Macht ist, mit der die Regierten gefügig gemacht werden. Vielmehr ging es mir darum, den Facettenreichtum und die historischen Potentiale der Rationalitäten der Kritikalität zu betonen, um so möglicherweise dazu beizutragen, „Kritikalität“ vor einer tat-

64 Zum Konzept der historischen Ontologie vgl. Foucault, Michel: Was ist Aufklärung?, in: Foucault, Michel (Hrsg.): Dits et Ecrits. Schriften Vierter Band, Frankfurt am Main 2005, S. 687–707; Hacking, Ian: Historische Ontologie, Zürich 2006.

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sächlich möglichen Verengung auf ein bloßes Machtinstrument zu bewahren.

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Relevanzbewertungsbefähigung und Ohnmachtserfahrung: Infrastruktur, Wissen und Zeitkritikalität Alexander Fekete

„Nach 13 Jahren Grabung haben wir zu manchen Punkten vor allem eines: Fragen besserer Qualität.“ Klaus Schmidt1

Nachfolgend soll es darum gehen, im essayistischen Stil so genannte Kritische Infrastrukturen (KRITIS) mit einem besonderen Blick auf Bezüge zwischen Forschung und Anwendungspraxis zu betrachten. In den Fokus rückt dabei die Zeitkritikalität, als eine sowohl für die Geschichtswissenschaften als auch für Forscher und Anwender zahlreicher Fachbereiche relevante Komponente, die vergleichende Untersuchungen der Relevanz von Infrastrukturen erlaubt. Zeit ist neben Raum und zugeordneter Qualität vermutlich eine Kerngröße zur Bestimmung der Kritikalität in Bezug auf Infrastrukturen2 und ermöglicht die Zuordnung diverser Bezüge zu histori-

1

Schmidt, Klaus: 9000 Jahre vor Christus – Die ersten Tempel der Menschheit; in: GEO 1 (2008), S. 156.

2

Fekete, Alexander: Common Criteria for the Assessment of Critical Infrastructures, in: International Journal of Disaster Risk Science 2 (2011), S.15–24.

156 | Alexander Fekete

schen wie auch gegenwärtigen Kontexten. Daher werden im Folgenden auch Bezüge zu geschichtlicher Entwicklung betrachtet.

INFRA(- UND SUPRA)STRUKTUR – VERBINDENDE ANSÄTZE FÜR DIE GESCHICHTE Man könnte die Hypothese aufstellen, dass der Anfang der sogenannten Zivilisation auch den Beginn der menschgemachten Abhängigkeit von Infrastruktur darstellt. Im Alten Ägypten wurde sowohl die vorhandene Infrastruktur der Natur, als (fruchtbarer) Boden ‚unter den Füßen‘, und die Wasserführung des Nils und seiner Hochwasser als Ermöglichungskomponente einer Hochkultur bewusst genutzt. Im Alten Ägypten wurden jedoch auch der Himmel und die Sterne als eine Art Suprastruktur begriffen, die ebenfalls Ermöglichungskomponenten darstellt, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Zunächst eine Erläuterung, welche Aspekte von Infra- oder Suprastrukturen zu identifizieren und demnach zu diskutieren sind. Man kann Infrastrukturen als bauliche, technische oder organische Strukturen betrachten, oder das in den Blick nehmen, was Menschen davon nutzen. Aus letzterer Perspektive wären weniger die Kritikalität oder die Relevanz der Infraoder Suprastrukturen selbst als dingliche Wahrnehmung von Objekten zu untersuchen, als vielmehr die Güter, Dienstleistungen, Prozesse3 und Interpretationen, die solche Strukturen ermöglichen. Bislang werden Infrastrukturen sehr eingeengt als technische Systeme behandelt. Zwar ist die Technik eine Hauptermöglichungskomponente menschlicher Zivilisation, jedoch soll in diesem Kapitel dargelegt werden, dass neben der reinen Techne als menschlicher Handhabe auch Denk- und Interpretationsprozesse wesentlich angeregt wurden und daher auch in der gegenwärtigen Forschung zu KRITIS betrachtet werden sollten. Denn schließlich ist auch gegenwärtig der Glaube an eine ‚Machbarkeit‘ und ‚Handlungsfähigkeit‘ des Menschen durch Technik wie auch durch Wissen bestimmend, sei es im ‚Management’ von Krisen, Katastrophen oder auch im ‚Alltag‘. Zurück zur Entdeckung und Nutzung der natürlichen ‚Suprastruktur‘: Himmelszelt und Sternenbildern wurden im Alten Ägypten eine bedeu3

Fekete: Common Criteria.

Relevanzbewertungsbefähigung und Ohnmachtserfahrung | 157

tungsvolle Rolle zugewiesen, gar als Bedeutungszuweiser erster Güte ‚begriffen‘. Um die ‚un(be)greifbar‘ entfernten Sterne und die am gleichen Horizont stattfindenden lebenswichtigen Prozesse und Dienstleistungen der Sonne und des Wetters festzuhalten, wurden sowohl technische Infrastrukturen als auch Wissensinfrastrukturen erschaffen. Die Pyramiden, Sphinx, und ihre Zuwege werden gegenwärtig als Fixierung des Wissens um Abläufe im Zusammenhang mit Himmelsbildern und Prozessvorgängen der Natur verstanden. Sie stellen auch ein kodifiziertes Zeitwissen dar, das neben den Bauwerken auch in Schriftform festgehalten wurde. Die Entwicklung der Schrift und der Eingang in eine Religion dienten möglicherweise der Speicherung und Überlieferung von Wissen.4 Heute setzen sich sogenannte ‚Kritische Infrastrukturen‘ aus (physischen) technischen Versorgungssystemen wie Wasser- oder Energiesystemen, Straßen, aber eben auch aus Strukturen und Organisationen zusammen, die Wissen kodifizieren und überliefern; neben Verwaltungen sind auch Kultureinrichtungen Teil nationaler KRITIS-Sektoren und -Branchen.5 Zur Funktionsfähigkeit moderner wie antiker Kulturen gehören demnach neben handgemachten, technischen Strukturen auch organisatorische Strukturen und: Wissen. Bislang wenig beachtet wird, dass es neben den menschengemachten technischen Strukturen auch die weniger ‚sichtbaren‘ Güter und Leistungen gibt, wie etwa Wissen. Auch werden die technischen Strukturen als KRITIS in den Vordergrund gerückt, nicht jedoch natürliche Flussläufe, klimatische Systeme, Untergrundstabilität als die Infrastruktur per se, und auch viele andere als green oder grey infrastructure bezeichneten Bereiche. Dies wird vor allem durch die Bedeutungszuweisung im Wort ‚Kritische‘ Infrastruktur ausgedrückt und kann auch erst im Kontext verstanden werden, in dem KRITIS verwendet

4 5

Assmann, Jan: Moses der Ägypter, München 1998. KRITIS-Sektoren gemäß der Webseite www.kritis.bund.de vom Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe und dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, online verfügbar unter https://www.kritis.bund.de/ SubSites/Kritis/DE/Einfuehrung/Sektoren/sektoren_node.html [Stand: 02.02.2018].

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wird, gegenwärtig vor allem im sogenannten Bevölkerungsschutz,6 welcher wiederum den Katastrophenschutz und den Zivilschutz umfasst. Die Geschichtswissenschaften aber auch andere interdisziplinär denkende Wissenschaften und Anwenderbereiche haben die Möglichkeit, breiter zu denken und zur Klärung des Begriffs KRITIS beizutragen. Für die verschiedenen Disziplinen der Geschichtswissenschaften kann es interessant sein, bislang möglicherweise disziplinär getrennte Bereiche über ein Thema zu verbinden, das dingliche Strukturen wie KRITIS behandelt. Altertumswissenschaften, Archäologie, Vor- und Frühgeschichte und weitere Fachdisziplinen betrachten vorwiegend menschliche Artefakte, bauliche Strukturen und das, was an Schriftdokumenten spärlich überliefert wird, als Belege und Datenmaterial für ihre Forschung. Das Auftreten menschlicher Kultur und Zivilisation ist gegenüber der reinen Natur durch eben solche technischen Strukturen belegbar. ‚Jüngere‘ Geschichtsperioden werden dagegen vor allem aus Schriftquellen untersucht und für die Forschung ernstgenommen. Infrastrukturen bieten Ansatzpunkte, beides zu verbinden. Ein Kennzeichen der Betrachtungsperspektive von KRITIS ist die Untersuchung von Auswirkungen, sollte die Infrastruktur bzw. ihre Dienstleistung, ausfallen. Bei einem Stromausfall wird vielen Kunden heutzutage erst bewusst, dass wir in einer weitgehend unterbrechungsfreien Versorgungsgesellschaft leben. Durch den Ausfall zeigt sich häufig erst die Bedeutung, die eine Dienstleistung auch für viele andere alltägliche Prozesse hat. Diese Betrachtungsperspektive ist auch eine Hauptunterscheidung zu anderen Infrastrukturuntersuchungen und -begriffen. Es ist zu vermuten, dass frühe Hochkulturen aus dem Wechselspiel zwischen Verfügbarkeitsbegrenzung von Ressourcen und dem Schaffen von Infrastrukturen wichtige Entwicklungs- und Lernimpulse erhalten haben. Neben der Astrologie und Astronomie waren es im Alten Ägypten auch viele Verwaltungsvorgänge, wie etwa das Führen von Listen über Nahrungsmittellieferungen und Wasserstände des Nils, die auf Tonstücken überdauert, heute als Schriftstücke ausgewertet werden können. Die Unterbrechung der Wasserversorgung über den Aquädukt nach Misenum durch den Vulkanausbruch des Vesuvs 79 n. Chr. in der Bucht von

6

BMI: Nationale Strategie zum Schutz Kritischer Infrastrukturen (KRITISStrategie), hrsg. v. Bundesministerium des Innern, Berlin 2009.

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Neapel ist über den damaligen Beobachter und späteren Geschichtsschreiber Plinius dem Jüngeren, überliefert. Aber bei kalendarisch planbaren Hochwassern des Nils oder auch im alltäglichen Gebrauch haben sich, nicht nur für ‚hydraulische Gesellschaften‘7, Routinen ergeben, die eine Verfügbarkeit der Infrastrukturleistung durch Pflege beinhalten. Die Pflege oder Sorge (cura) um Dienstleitungen hat auch zur Organisation ihrer Sicherstellung beigetragen. Bei den Bewässerungssystemen in Wüstenrandgebieten bedurfte es beispielsweise im Iran der regelmäßigen Wartung und Pflege der in den Wüstenboden unterirdisch gegrabenen Bewässerungsstollen (Quanate). Durch solche Bewässerungssysteme wurden zwar Versorgungsleistungen bis weit vom Gebirgsrand, an dem Regen fiel, ermöglicht, doch diese distale Ermöglichung menschlicher Existenz ging mit Abhängigkeiten und Pflegeaufwand einher. Das grundsätzliche Thema der Bedeutung und Abhängigkeit von Infrastrukturen ist damit vermutlich so alt wie die erste Nutzung solcher Systeme. Das lässt sich auch in moderneren Infrastrukturen und ihrer Entwicklung beobachten, seien es Elektrizität, Straßenbahnen oder ‚Smartphones‘ (die weiterhin nichts anderes als Tele-phone, also ‚Fernsprechapparate‘, nur ohne die Abhängigkeit von einer Drahtleitung). Mit der Einführung solcher Technologien und Dienstleistungen entstehen Innovationen, Entwicklungen, aber gleichzeitig auch Abhängigkeiten und Organisationsaufwand, der sich in Pflege und Sorge niederschlagen kann. Gleichzeitig wird jedoch damit auch ein Zustand der Unabhängigkeit von natürlichen Ressourcen, Arbeitsaufwand und Freiheit erstrebt, der als Nebeneffekt die Schaffung von Sicherheitsmechanismen, -strukturen und Zuständen beinhaltet. Security, von Lateinisch se cura, lässt sich mit einem Zustand ‚ohne Sorge‘ oder ‚ohne Pflege‘ interpretieren. Durch alltägliche Unterbrechungen wie Verunreinigungen der Quanate oder aber plötzliche dramatischere Störungen wie etwa der Unterbrechung des Aquädukts durch einen Vulkanausbruch, wird einerseits die Abhängigkeit aber auch der ‚Pflegeaufwand‘ als Sicherheitsgewährleistungsanspruch deutlich. Sicherheit selbst kann in zwei grundsätzliche Komponenten unterschieden werden: der Gewissheit als Klärung von Unsicherheiten oder Lücken des Wissens (epistemisch) und als Sicherstellung von Ressourcen, die häufig durch ihre Begrenztheit in unterschiedlichsten Konflikten ausgetragen

7

Wittfogel, Karl August: Oriental Despotism. A Comparative Study of Total Power, New Haven 1957.

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wird.8 Sicherheit erschafft man schon seit langer Zeit durch Wissen und Gewissheit, aber auch durch Ressourcen. Ressourcen stellen sich wiederum verschiedenartig dar: Sie wurden von Menschen schon immer vielfältig wahrgenommen und erfasst, vor allem, um sie unabhängig vom Entstehungsort aus distal und zu späteren Zeitpunkten nutzen zu können. Mit Schriftzeichen erschuf man wiederum eine Weiterverarbeitungsmöglichkeit von Informationen über Objekte, die sowohl Kommunikation, Interpretation, aber auch Austausch von Gütern und Dienstleistungen beflügelte. Werkzeuge und bauliche Strukturen sind weitere ‚Verlängerungen‘ von Ressourcen, örtlich wie zeitlich. Neben den sogenannten ‚verlängerten Werkbänken‘ als Produktionsstätten und dem frühen Handel mit nur distal verfügbaren Rohstoffen wie Wasser (Aquädukte), Salz oder Feuerstein (Bergwerke) oder Nahrungsmitteln, Holz usw., gibt es auch Strukturen, die keine direkt verzehrbare, sensorisch fühlbare oder gar greifbare Dienstleistung erzeugten. Die Erschaffung von Sicherheit erfolgte aber zum Beispiel auch durch Stadtmauern und andere Arten von Grenzen. Wandel und Persistenz An Stadtmauern lässt sich ein interessanter Wandel der Nutzung und Bedeutungszuweisung zeigen. Zunächst als Abgrenzung und Schutzwerk errichtet, differenzierten Stadtmauern bald Entwicklungsbereiche in und vor der Stadtmauer und grenzten auch ‚Sicherheitszonen‘ wie auch privilegierte Zugänge zu Dienstleistungen und Infrastrukturen voneinander ab. Im Mittelalter wurden Stadtmauern in einigen Regionen in der Breite stark erweitert, um aufkommenden ersten Ingenieursleistungen, der erweiterten Reichweite von Kanonen, Rechnung zu tragen. Nachdem diese ‚Innovationen‘ sich auch durch alternative Stadterstürmungsstrategien bald überlebt hatten, wurden Stadtmauern in der späteren industriellen Entwicklung zu einer ‚sperrigen Infrastruktur‘9 im Sinne eines Hindernisses für Entwicklung. Mauerdurchbrüche wurden häufig zunächst für Eisenbahnen geschaffen, z.B. in Würzburg. Später wurden die Stadtmauern, die verschiedenste Angreifer baulich überlebt hatten, geschleift, um vor allem die Zugänglich-

8

Vgl. Abbildung 1: Sicherheits- und Kritikalitätsrahmenkonzept.

9

Niedenzu, Adalbert/Stöckl, Heinrich/Geipel, Robert: Wahrnehmung und Bewertung sperriger Infrastruktur; in: Münchener Geographische Hefte 74, 47 (1982).

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keit und Durchlässigkeit für Verkehrsmittel aller Art, aber auch für die Stadtplanung zu erleichtern. Heute steht z.B. in Würzburg anstelle der Festungsmauern ein Ringpark, der eine wichtige Erholungsdienstleistung aber auch (in Zeiten des Klimawandels als besonders relevant erachtet) zur Luftqualität beträchtlich beiträgt. Infrastrukturen bilden noch weitere Formen des Wandels oder der Ambiguität ab. Mit der Einführung von Straßenbahnen gingen Verlustängste von Arbeitsplätzen für Kutscher einher, Furcht auch vor Beschleunigungskräften bei der Beförderung und vor Verkehrsunfällen. Mit dem Bau der Eisenbahn in Schweinfurt entstanden außerdem Fälle von Selbstmord an neuen Orten, vor den neuen Eisenbahntunneln in der Stadt. Eine regionale Differenzierung der Effekte räumlich wie topographisch disperser Infrastruktur zeigt sich in moderner Zeit nicht nur durch unterschiedliche Mietpreise entlang von Haltestellen der U-Bahn in größeren Städten oder in sozialen Brennpunkten an verdichteten städtischen Siedlungen, die einen Mangel an Zugang zu Infrastrukturen wie dem Personennahverkehr aufweisen. Bei einem Ausfall Kritischer Versorgungsdienstleistungen wie Wasser, Strom, Wärme werden Differenzierungen der Verwundbarkeit sowohl ländlicher als auch städtischer Gebiete vermutet. Im Falle des Zweiten Weltkriegs lassen sich in z.B. Schweinfurt topographische Unterschiede je nach Höhenlage der Wasserspeicher und Stromnetze in der Dauer der Wiederherstellung ausmachen.10 Gegenüberstellungen der Wiederherstellungs- oder Ausfallsdauer ermöglichen es, die Kritikalität von Infrastrukturen ex-post zu untersuchen. Mittels dieser Zeitfaktoren ist es möglich, diverse Infrastrukturtypen anhand ihrer Dienstleistungen zu untersuchen und zu vergleichen. Schließlich kann man eine Relevanzzuschreibung der Infrastrukturen ex-ante (Kritikalitätsvermutung, Schutzziele, Risikoanalyse) von einer Relevanzdokumentation ex-post (Post Disaster Need Assessment, Damage Assessment, revealed vulnerability, Kritikalitätsbestätigung etc.) unterscheiden. Für den ex-post Fall gibt es im Bereich Kritischer Infrastrukturen noch ungenügend Forschung. Dass eine Auswertung historischer Ereignisse jedoch bedeutsame Erkenntnisse liefern kann, zeigt das Beispiel der Identi-

10 Handfest-Müller, Irene: „Es kommen auch wieder einmal andere Zeiten ...“: Leben in Trümmern – Schweinfurt 1939–1949. Zeitzeugenberichte und Dokumente, Schweinfurt 1994.

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fizierungskriterien der Alliierten im Zweiten Weltkrieg, um Schweinfurt als strategisches Angriffsziel auszuwählen.11 Schweinfurt als Industriestadt wurde vor allem aufgrund der Herstellung von Kugellagern ausgewählt. Kriterien der Begründung der Bedeutsamkeit für einen Angriff nach der ‚Casablanca directive‘ waren „a. die Schlüsselrolle der Industrie für die Wirtschaft b. die Konzentration c. die Schwierigkeit der Wiederherstellung“12

Das lenkt den Untersuchungsblick unter anderem auf die Frage, in welchem Kontext ‚kritisch‘ genutzt wird; kritisch für einen Angriff, kritisch für die Erholungsdauer, kritisch für wen, für welches Ziel, mit welchen Mitteln usw. Zusammengefasst eignen sich diese W-Fragen zur Erfassung des gesamten Kontextes eines so genannten Schutzziels.13 In der Geschichte der Infrastruktur und der zugehörigen Bedeutungszuweisung ist das Wechselspiel zwischen materieller und planerischer Verfügbarkeit eine wichtige Facette. Die Geschichte der industriellen Verfügbarkeit der Dienstleistung Licht enthielt neben der Erschließung und Verteilung von Rohstoffen wie Mineralöl und Gas auch eine Bindung und Entbindung von technischen Strukturen. Einerseits wurden Automobile geschaffen, um mobil und unabhängig zu machen, jedoch sind bis heute auch Elektroautos (noch) von Tankstellen abhängig. Bei Gaslampen war das ähnlich, und auch die Elektrifizierung der Städte mit Laternen und Hauslicht zog eine Abhängigkeit von Leitungs- und Verteilungssystemen nach sich. Häufig wurde zunehmend nicht mehr mit dem materiellen Verkauf von Gütern verdient, sondern mit der Bereitstellung einer Dienstleistung, für die einerseits bestimmte Dienste wie etwa Treibstofflieferungen zunehmend mit weiteren Dienstleistungen verknüpft wurden. Dazu zählen Mit-

11 USSBS: The German anti-friction bearings industry, hrsg. v. United States Strategic Bombing Survey Equipment Division, Washington, DC 1945. 12 Übersetzt nach USSBS: anti-friction, S. 4. 13 Fekete, Alexander: Safety and security target levels: Opportunities and challenges for risk management and risk communication, in: International Journal of Disaster Risk Reduction 2 (2012), S. 67–76.

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nahme- und Gelegenheitseinkäufe an Tankstellenkassen wie auch Sicherheitsdienstleistungen bei Urlaubsreisen. Die moderne Gesellschaft erlebt die Nutzung von Dienstleistungen in einer nahezu ubiquitären Verfügbarkeit und hat sich an sie derart gewöhnt, dass Ausfälle verstärkt wahrgenommen werden als etwas, das weitere Störungen nach sich zieht. Solche Störungen verweisen aufgrund der Vernetztheit der Infrastrukturen und der erhöhten Abhängigkeit der Nutzer auf ein Verwundbarkeitsparadoxon: je entwickelter eine Gesellschaft, desto anfälliger ist sie gegenüber kleinsten Störungen.14 Es handelt sich dabei im Grunde um Störungen der Verfügbarkeit von Ressourcen wie auch um Störungen der Gewissheit um die Verfügbarkeit.15 Verfügbarkeit als materielle und immaterielle Facette verbindet Güter mit dem (planbaren) Wissen um sie. Hier entstehen interessante gegenseitige Abhängigkeiten und Entwicklungen. Dafür ist das Telefon ein gutes Beispiel. Ursprünglich als Fernmeldeapparat bezeichnet, erhält es immer neue Benennungen, die auch eine Bedeutungsänderung implizieren. Weiterhin bleiben auch das Handy oder das ‚Schlaurufgerät‘ Werkzeuge, die – wie das Telefon – Kommunikation über Distanz ermöglichen. Die Verbindung des Fernsprechgeräts mit immer mehr Diensten wie etwa dem Internet und neuerdings dem Autotürenöffner kulminiert in der persönlichen Abhängigkeit von einem Gerät. Auch das Wissen wird als Ressource immer stärker mit diesem Gerät verbunden. Informationsseiten und -dienste sind damit derart ubiquitär abrufbar, dass die Singularität Kurzweils16 greifbarer denn je scheint. Mit der zunehmenden ubiquitären Verfügbarkeit wächst auch die globale Zusammenlegung menschlichen Wissens. Mit diesem Vorteil wächst jedoch auch etwas, das man als Wissenskrise bezeichnen könnte. Mit der Bündelung und räumlich wie zeitlich ubiquitärer Verfügbarkeiten von Infrastrukturdienstleistungen nimmt die Notwendigkeit der Verfügbarkeit materieller Versorgungsressourcen ab, während die Notwendigkeit der Verfügbarkeit des Zugriffs auf gespeichertes Wissen zunimmt. Ein Wissensabhängigkeitsparadoxon entsteht, denn Wissen wird durch Ge-

14 Geier, Wolfram: Kritische Infrastruktur in Deutschland. Die Gefährdungen und der mögliche Schutz, in: Homeland Security 3 (2006), S. 22–29. 15 Vgl. Abbildung 1: Sicherheits- und Kritikalitätsrahmenkonzept. 16 Kurzweil, Ray: The Singularity Is Near: When Humans Transcend Biology, New York 2005.

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räte wie Smartphones oder auch autonome Autos oder Roboter, Informations-Bots in gewisser Weise ‚entwertet‘: Informationen sind nun jederzeit verfügbar und zwar aus multiplen Quellen, die Wissen im Zweifelsfall oft besser gespeichert und verifiziert haben, als es das eigene Gedächtnis zulässt. Analog dazu sind menschengemachte Infrastrukturen Speicherorte von Wissen oder Dienstleistungen, bei denen einerseits eine Distanz zu deren Erzeugung, andererseits ein unmittelbar zugreifbares Wissen, entsteht. Nimmt damit der Bedarf an Bildung, an Wissenserwerb künftig ab? Nimmt der Orientierungssinn nicht nur bei der Straßennavigation, sondern auch beim Überblick über global verteilte Ereignisse, Prozesse und (Beeinflussungs-)Möglichkeiten ab? Wichtig ist an dieser Stelle nur die Vermutung, dass Zugriff wichtiger als Besitz wird; Besitz von Informationen, Speichermedien insbesondere. Ob und wie sich Wissen selbst als Orientierungshilfe bei komplexerer Informationsverfügbarkeit ändern wird und ob Güterbesitz sich im Selbstverständnis ändern wird, lässt sich noch nicht genau sagen. Mit dieser Entwicklung wird sich jedoch wesentlich die Bedeutungszuschreibung von Infrastrukturen ändern; das Materielle wird ggf. noch unsichtbarer und die Ansprüche an die Verfügbarkeit könnten wachsen. Schon heute haben sich die Menschen an die Verfügbarkeit von Straßen, Pendlerbahnen, Versandhandelspaketlieferungen, Staumeldungen, Wartungsservices, und auch Krisenkräfte derart gewöhnt, dass die Erwartungshaltungen an eine Fern-Dauerverfügbarkeit erwachsen sind. Gleichzeitig wirkt sich die Fern-Erreichbarkeit auch auf die Mobilität und Arbeitstags- wie Freizeitgestaltung aus. Mobile Telefone ermöglichen wie auch das Auto neue Freiheiten, aber auch neue Abhängigkeiten. Welche Bedeutungsdeutung ermöglicht hierbei die Kritikalitätsperspektive – erlaubt sie, die Relevanz von Freiheit und Ermöglichung genauso wie auch die Relevanz von Abhängigkeiten und Ausfällen zu bestimmen? Kritikalität kann durchaus als Relevanz-Determinante verstanden werden, die z.B., aber nicht nur, als Erklärungskomponente für Sicherheit (oder Risiko17) dienen kann. Die hier gemeinte Relevanz bezieht sich auf den Pro-

17 BMI: Schutz Kritischer Infrastrukturen - Risiko- und Krisenmanagement. Leitfaden für Unternehmen und Behörden, hrsg. v. Bundesministerium des Innern, Berlin 2011.

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zessstrang, der Sicherheit als Aushandlung von Konflikten über Ressourcen, Rohstoffe, Güter, und Dienstleistungen ansieht, und um den Prozessstrang der Ungewissheit über mögliche Zukunftszustände ergänzt ist.18 Kritikalität ist darin eine Komponente, die sowohl natürliche wie auch menschengemachte grundlegende, unterliegende Infrastrukturen der Gesellschaft wie auch die sie überspannende Suprastrukturen über die Betrachtung gekoppelter dynamischer Mensch-Umwelt-Systeme verbindet (siehe Abbildung 1). Abbildung 1: Sicherheits- und Kritikalitätsrahmenkonzept

Quelle: erweitert und übersetzt nach Frei & Gaupp 1978

Damit verbindet sich das hier entworfene Verständnis von Kritikalität aus der generellen Systemtheorie19, der Kybernetik, wie auch der Komplexitätstheorie, der Hierarchietheorie und der Semiotik mit Anteilen aus den Poli-

18 Frei, Daniel/Gaupp, Peter: Das Konzept Sicherheit, in: Sicherheitspolitik. Analysen zur politische und militärischen Sicherheit, Bad Honnef 1978, S. 3–16. 19 Bertalanffy, Ludwig v.: General System Theory. Foundations, Development, Applications, New York 2006 (original 1968).

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tik- und ggf. auch den Geschichtswissenschaften. Es bleibt damit einerseits begrenzt, ordnet sich jedoch in theoretische Zugänge ein, die langjährig bekannt sind. Die oben aufgezeigte Darstellung ist schematisch und keineswegs vollständig, legt jedoch die Erweiterung der bisherigen Perspektiven einer technisch materiell dominierten Kritikalitätsbetrachtung von Infrastrukturen nahe. Infrastruktur und gesellschaftliche Hintergrundentwicklungen Die der Infrastruktur zugeordnete Bedeutung ist abhängig von den zeitlichen Rahmenbedingungen. Diese Rahmenbedingungen können besondere Ereignisse sein, wie etwa Katastrophen. Die Betrachtung von Infrastrukturen als „Kritische“ Infrastrukturen steht im Zusammenhang mit bestimmten Wahrnehmungshäufungen bestimmter Vorfälle zu tun und beginnt Mitte der 1990er Jahren in den USA,20 später diffundierte diese Sicht in weitere westliche Staaten. Die Angreifbarkeit von Regierungsgebäuden der USA auch im Landesinnern durch Attentäter wurde sowohl auf Seiten der dortigen Regierungsseiten als in auch den Medien und der Bevölkerung in den 1990er Jahren verstärkt wahrgenommen. Interessanterweise ist das Thema Kritische Infrastruktur auf politischer oder Regierungsseite vorangetrieben worden, während die Forschung es erst nach und nach aufgegriffen hat. In Deutschland wird das Thema mit mehreren Ereignissen in Zusammenhang gebracht, u.a. mit dem Kalenderproblem der Umstellung digitaler Uhren in Computersystemen zum Jahrtausendwechsel, oder aber mit den Anschlägen des 11. Septembers 2001 in den USA und der Wahrnehmung hierzulande, später auch mit weiteren Ereignissen, z.B. Hochwasser, Stromausfällen durch Wintersturm oder Kommunikationsfehlern, Computerviren usw. Während Sicherheitspolitik, wie auch die Forschung zu Risiken und Sicherheitsthemen besonders durch punktuelle, aufsehenerregende, ungewöhnliche oder sich häufende Ereignisse starke Impulse erhält, so lassen sich Folgereaktionen daraufhin nur begrenzt durch die Ereignisse allein erklären. Denn sie treffen auch auf Politikfelder, Forschungsfelder und For20 Koski, Chris: Committed to Protection? Partnerships in Critical Infrastructure Protection, in: Journal of Homeland Security and Emergency Management 8 (2011).

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schungsförderungsfelder, die Neuausrichtungen suchen und die eine Prägung solcher gerne fördern. In Deutschland etwa existiert schon länger eine ‚Risikokultur‘ oder ‚Risikogesellschaft‘21, die zu einer Neubetrachtung eines Themas wie Infrastruktur vermutlich bereit ist und eine Technikfolgenabschätzung auch erweitert als ‚Kritische Infrastruktur‘ betrachten kann. Freilich gab es schon zuvor andere Bedeutungszuweisungen zur Infrastruktur; dem Wirtschaftswunder ungefragt unterliegend, in der Ölkrise im Umdenken begriffen, oder insbesondere in der Auseinandersetzung mit der ‚Kernkraft‘ aber auch insgesamt in der umweltpolitischen Wahrnehmung als eine „Sperrige Infrastruktur“22 in der Raumplanung mit hohem gesellschaftlichen Aushandlungsbedarf verstanden. In den USA wurde Infrastruktur schon bei der Eroberung des Westens als Mangelressource begriffen: Viele Stadtneugründungen sind entlang von Bahntrassen entstanden und wieder verschwunden.23 Die ‚Brüchigkeit‘ der Infrastruktur bzw. die Begrenztheit der Daseinsvorsorge wurde gesellschaftlich wie auch wissenschaftstheoretisch bereits in den 1980ern erkannt und wird heute mit nur vermeintlich neuen Begriffen wie Verwundbarkeit und Resilienz belegt und untersucht.24 Dennoch wurde, wie in den vorangegangenen Kapiteln dargestellt, Infrastruktur vermutlich schon immer als gesellschaftlich bedeutsam erachtet. Neben dem Herstellungsaufwand und dem sich daran anschließenden Pflegeaufwand haben Infrastrukturen schon immer eine besondere Aufmerksamkeit erfahren. Es stellt sich somit die Frage, ob die erhöhte Bedeutsamkeitszuweisung tatsächlich erst durch die Neufassung des Begriffes ‚KRITIS‘ erfolgt ist.

21 Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M. 1986. 22 Niedenzu et al.: Wahrnehmung und Bewertung. 23 Brown, Kathi Ann: Critical Path: A Brief History of Critical Infrastructure Protection in the United States, Fairfax 2006. 24 Lovins, Amory B./Lovins, L. Hunter: Brittle Power. Energy Strategy for National Security, Cambridge 1982.

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Wie kritisch wird Kritische Infrastruktur gesehen? Interessanterweise wird der breite Begriff Infrastruktur durch den Zusatz Kritische Infrastruktur kaum deutlicher. Insbesondere im Deutschen ist das Wort kritisch bereits durch den Sprachgebrauch belegt und vorgeprägt, u.a. im Sinne einer kritischen Betrachtungsweise, also tendenziell negativ, skeptisch, prüfend. Ausgedrückt werden soll damit jedoch weniger eine kritische Auswirkung, die von derart bezeichneten Infrastrukturen herrührt, als eine Relevanz oder Bedeutsamkeit, die wiederum erst bei einem negativen Ereignis, dem Ausfall, zutage tritt. Wenig überraschend, dass die Einführung des Begriffs zunächst, oder noch immer, holprig erscheint. Einige Betreiber bestimmter Branchen waren anfangs nicht erpicht darauf, als „Kritische Infrastruktur“ bezeichnet zu werden – welcher Kunde wollte schon ein „kritisches Produkt“ beziehen? Kritikalität ist, wie auch das Pendant Kritizität, ein derart sperriger und ungeläufiger Begriff, dass er sich schon weitaus besser für die Verwendung in einer Fremdworten und Neologismen aufgeschlossenen Wissenschaftscommunity eignet. Unausgekleidete Worthülsen eignen sich sehr gut zur Neuinterpretation alter Themen. Was aber ist kritisch, was nicht? Ohne hier wiederholen zu wollen, was an anderen Stelle zur Begrifflichkeit und zu den Unterschieden benachbarter Wörter25 sowie zu den Grundkomponenten des Begriffs für die Analyse26 schon geschrieben wurde, soll hier nur auf die Nutzbarkeit für die interdisziplinäre Geschichtsforschung eingegangen werden. Kritikalität ist ein Begriff sowohl für die Bedeutsamkeitsbetonung, für die Kontextualisierung und Attributisierung, als auch einer zur Untersuchung von Raum-, Zeit-, und Qualitätsbezügen. Raumbezüge sind als Res-

25 Die Begriffsunterschiede zwischen Kritikalität, Kritischen Infrastrukturen, Verwundbarkeit, Risiko und Resilienz wurden bereits an anderer Stelle dargelegt: Fekete, Alexander: Schlüsselbegriffe im Bevölkerungsschutz zur Untersuchung der Bedeutsamkeit von Infrastrukturen – von Gefährdung und Kritikalität zu Resilienz & persönlichen Infrastrukturen, in: Unger, Cristoph/Mitschke, Thomas/Freudenberg, Dirk (Hrsg.): Krisenmanagement – Notfallplanung – Bevölkerungsschutz. Festschrift anlässlich 60 Jahre Ausbildung im Bevölkerungsschutz, dargebracht von Partnern, Freunden und Mitarbeitern des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, Berlin 2013, S. 327–340. 26 Fekete: Common Criteria.

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sourcenbegriff zu verstehen, denn Kritikalität hat etwas mit kritischer Masse (im positiven Sinne), mit kritischen Kanten und Knotenpunkten in der Kybernetik und Systemtheoriebegrifflichkeit zu tun, mit Besitz und Verfügbarkeit von räumlich dahingehend interessanten Objekten und Prozessen, dass sie eben nicht ubiquitär sind. Die Luft ist auch kritische Infrastruktur, wird als solche aber nicht wahrgenommen, bis sie eines Tages, räumlich, zeitlich oder qualitativ, ausbleibt. Ohnmachtserfahrung Für die Geschichtswissenschaften könnte es interessant sein zu betrachten, inwiefern der Begriff Kritische Infrastruktur ein Machtbegriff ist oder ob er eher auf das Gegenteil verweist: eine Art Ohnmachtserfahrung. In der Risiko- und Sicherheitsforschung legt man beim Begriff Kritische Infrastruktur zum Teil Annahmen zugrunde, die eine stärker von den reinen Gefahren unabhängige Betrachtung einfordern. Man folgt damit der Paradigmenentwicklung innerhalb der sogenannten Naturgefahrenforschung, die seit Gilbert White27 verstärkt die Rolle des Menschen als Architekt einer Katastrophe ausweist und die ihre Kritik an der Ereignis- und Gefahrenfokussierung einer Hazardforschung festmacht.28 Hier tritt der Gegenpart zur Gefahr in den Blick, die Verwundbarkeit etwa, und schließlich Begriffe wie Resilienz sowie der holistischen integrative Anspruch eines All-Hazard Begriffs, womit man sich immer weiter von der Gefahrenbetrachtung entfernt und eine Betrachtung der Relevanz der bedrohten Güter fast schon unabhängig von externen Störgrößen avisiert. Vermutlich ist die Verwendung des Begriffs Kritikalität am besten zu verstehen, wenn man die einzelnen Schritte einer Risikoanalyse differenziert betrachtet. In einer Risikoanalyse ist die Feststellung von Kritikalität ein Arbeitsschritt noch vor einer Gefahren-, Verwundbarkeits- und auch Risikobewertung.29 Es wird damit also zuerst die generelle gesellschaftliche Bedeutung einer Infrastruktur (über ihre Dienstleistung, bzw. deren Aus-

27 White, Gilbert F.: Human adjustment to floods. A geographical approach to the flood problem in the United States, Chicago 1945. 28 Hewitt, Kenneth (Hrsg.): Interpretations of Calamity. From the viewpoint of human ecology, Boston/London/Sydney 1983. 29 BMI: Schutz Kritischer Infrastrukturen.

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bleiben) festgestellt. Weiterhin erfolgt eine Priorisierung der Bereiche für die weitere Risiko-Analyse und das Risiko-Management, einerseits, um den Aufwand durch eine Eingrenzung der Analyse zu verringern, andererseits auch, um die Analyse erfolgreicher, stringenter zu gestalten. Damit wäre die Kritische Infrastruktur einem Ohnmachtsverständnis sehr nahe. Zum einen, da deren Existenz durch einen Ausfall erst erlebbar wird, also die Ohnmacht offenbart oder sie als Voraussetzung betrachtet. Zum anderen auch, weil die Machteinflüsse (z.B. als externe Gefahren oder interne Gefahrenquellen) innerhalb der Kritikalitätsanalyse kaum betrachtet werden. Denn eine solche Risikoanalyse befasst sich an diesem Punkt ausschließlich damit, welche Auswirkungen es haben kann, wenn man einen bestimmten Prozess oder Knotenpunkt stört. Welche Machtverhältnisse zur Gefahr oder zur Prozesskonstellation geführt haben werden hier (noch) nicht in den Blick genommen. Trotzdem ist die Untersuchung von Machtkonstellationen ist der Risikoanalyse immanent, insbesondere in den späteren Teilen der Risikoanalyse, der Verwundbarkeits- oder Resilienzanalyse. Zwar werden Machteinflüsse in vielen quantitativen und technischen Ansätzen nicht untersucht, sie spielen aber insbesondere in community resilience oder social vulnerability Ansätzen eine Rolle. Hier werden Machteinflüsse sowohl als Stressoren, hierarchische Einflüsse von top-down wie bottom-up in Hierarchietheorien untersucht, oder aber als gesellschaftliche Treiber, Dynamiken und Grundbedingungen.30

KRITIKALITÄTSUNTERSUCHUNGEN – ANSÄTZE UND PROBLEME Unklar bleibt bislang, was eine Kritikalitätsanalyse überhaupt ist und wie sie sich ausgestaltet oder abgrenzt. Entweder untersucht sie Auswirkungen, die kritisch sein können durch z.B. die Anzahl betroffener Personen. Dann ist sie jedoch einer Risikoanalyse vollkommen ähnlich. Im historischen Rückblick lässt sich dazu feststellen, dass die heute sehr gebräuchliche Verwendung einer Risikomatrix in Risikoanalysen des Bevölkerungsschut30 Blaikie Piers/Cannon, Terry/Davis, Ian/Wisner, Ben: At Risk. Natural hazards, people’s vulnerability, and disasters, London 1994.

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zes beispielsweise31 ihren Ursprung vermutlich in einem Militärstandard hat32, in der diese Matrix und die gesamte Analyse mit dem Begriff Kritikalität belegt wurde.33 Oder die Kritikalitätsanalyse untersucht andererseits kritische Elemente, deren Ausfall zu einem erhöhten Schaden führen. Dann gleicht sie einer Verwundbarkeitsanalyse. Oder sie bleibt eben beim oben beschriebene Priorisieren vor der eigentlichen Risikoanalyse, konzentriert sich also auf die Feststellung der Relevanz bei einem möglichen Ausfall durch Betrachtung der höchsten Auswirkungskaskaden oder der höchsten betroffenen gesellschaftlichen Werte. Letzteres wird im Bereich Bevölkerungsschutz auch unter dem Begriff Schutzziele untersucht. Das sind strategische Projektmanagementziele, die bei einem Schutz oder einer anderen Sicherheitsfürsorge, erreicht werden sollen. Hier sind wiederum Schutzzielfestlegung und der erste Schritt einer Vorrisikoanalyse, u.a. als Identifizierungsschritt, unklar voneinander abgegrenzt. Dir Kritikalitätsanalyse trägt ein ebenso hypothetisches Merkmal wie jede Risikoanalyse: Sie erstellt einerseits (und vor allem, so wie sie genutzt wird) Mutmaßungen über möglich Schäden an. Die tatsächliche Kritikalität kann eigentlich nur im oder nach einem Schadensfall festgestellt werden. Damit gleicht sie sehr einer Risikoanalyse. Nur die Verwendung von Kritikalität im Sinne einer Vorabfestlegung als allgemein gültig, zu schützende gesellschaftliche Werte im Sinne einer Schutzzielermittlung oder auch in Form von absoluten Grenzen wäre eine originäre, nicht mit anderen Risikobegriffen bereits festgelegte Art der Analyse. Meist wird die Kritische Infrastruktur im Zusammenhang mit Bevölkerungsschutz in Deutschland seit etwa 2003 primär als Angriffsziel, als Verwundbarkeitsseite des Risikos angesehen. Die Rolle als kritische Struktur, die eine Gefahr für andere Bereiche darstellt, wird in aller Regel nur

31 BBK – Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe: Risikoanalyse Bevölkerungsschutz. Ein Stresstest für die Allgemeine Gefahrenabwehr und den Katastrophenschutz, Bonn 2015. 32 US DoD: MIL-STD-1629A. Military Standard. Procedures for Performing a Failure Mode, Effects and Criticality Analysis, hrsg. v. United States Department of Defense, Washington, DC 1980. Vorläufer, vermutlich von 1945 – auf das Originaldokument konnte nicht zugegriffen werden, auch auf Nachfrage. 33 Sogenannte „Failure Mode Effects and Criticality Analysis – FMECA“.

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hinsichtlich der Kaskadeneffekte beim Ausfall einer Infrastruktur mit den Auswirkungen auf andere Infrastrukturen oder betroffene Menschen angesehen. Die Infrastruktur wird nicht als Gefahrenquelle per se betrachtet, so wie z.B. ein Kernkraftwerk oder eine Gefahrstoffquelle für die Umwelt. Weiterhin wird nicht berücksichtigt, dass die Infrastruktur eine Ambiguität aufweist. Bei einem Erdrutsch ist eine Wasserleitung zwar ggf. selbst davon betroffen, jedoch kann sie, wenn sie undicht ist, diesen Erdrutsch auch mitausgelöst haben.

ZEITKRITIKALITÄT UND PERSISTENZ KRITISCHER INFRASTRUKTUREN Kritikalität ist die Vergewisserung einer Deutungshoheitsgemeinschaft über die Relevanz von Dingen, die bereits offensichtlich relevant sind. Damit soll die Relevanz noch einmal verdeutlicht, eventuell sogar legitimiert werden. Ordnung und Zeit spielen hier eine wichtige Rolle. Denn die Feststellung einer Relevanz hilft, Planungssicherheit zu erhalten. Und Planung beruht auf einer Ordnung und Verwaltbarkeit der Dinge, die wiederum durch wissenschaftliche Herangehensweisen geschaffen wurden: die Ordnung der Dinge durch Klassifizierungen und Strukturierungen, durch die u.a. auch moderne Bürokratien ermöglicht wurden. Eine Erfindung, die westliche Gesellschaften besonders prägt, und Ordnung verschafft, ist nicht nur die Raumordnung, sondern auch die Zeitordnung. 34 Dieser Zeitordnung unterliegt grundsätzlich eine Vielfalt an Dingen, die in Planungsprozessen eine gewichtige Rolle spielen, da über die Dringlichkeit eine Nebenbedingung zur Wichtigkeit – als Relevanz – geschaffen wird. Moderne Büroorganisation kennt, wie auch das Projektmanagement, die Sortierung von Tätigkeiten nach Wichtigkeit oder Dringlichkeit. Kritisch werden viele Krisen auch durch die Verkürzung von Zeit, da Prozesse, die gehäuft auftreten, zwar prinzipiell abarbeitbar wären, aber nicht in der zeitlichen Drängung, die gerade Katastrophen oft auszeichnen. Das zeigt sich beispielsweise in Form Hunderter eingehender Notrufen bei Feuerwehren, Rettungsdiensten und Polizei, die zum Zusammenbrechen 34 Obrecht, Andreas J.: Zeitreichtum – Zeitarmut. Von der Ordnung der Sterblichkeit zum Mythos der Machbarkeit, Frankfurt 2003.

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der Kommunikation führen, oder durch die Eile, die geboten ist, um eine Ausbreitung eines Hochhausbrandes noch eindämmen zu können. Zeitkritikalität ist die Komponente der Kritikalität, die mit Zeitfaktoren aller Art zu tun hat.35 Zeit ist neben Raum und zugesprochenen Qualitäten auch ein Untersuchungsfaktor, der auf alle Infrastrukturbereiche anwendbar ist, und der es erlaubt, die Kritikalität von Wasserversorgung mit Kulturgütern oder Finanzströmen zu vergleichen. Es sind entweder Unterbrechungszeitpunkte, Zeiträume, Anfangs- oder Endzeiten, Schnelligkeiten der Wiederherstellung oder andere Zeitfaktoren, die eine Bestimmung der (Zeit-) Kritikalität zulassen. Zeit spielt bei Infrastrukturen auch als Dauer eine große Rolle. Infrastrukturen sind sehr persistent, sie überleben oft die Vernichtung von Städten, da sie entweder so aufwändig sind, dass sie nicht Angriffsziel werden oder, da sie grundlegende räumliche Ordnungen herstellen, wie etwa Straßen, Bahntrassen und insbesondere Untergrundkanalsysteme wie etwa Versorgungsleitungen. Daher prägen diese Leitungssysteme unsere urbanen Kulturen und nicht nur hydraulische Gesellschaften, auch Leitungsgesellschaften aller Art stellen Straßenzüge an den gleichen Stellen vielfach wieder her, da dort sowohl ober- als auch unterirdische Infrastruktursystem liegen und nicht so leicht umgeplant werden können. In Köln sind zum Beispiel noch heute Straßenzüge und auch unterirdische Kanalsysteme der Römerzeit erhalten. Natürliche Infrastruktur wie Topographie, z.B. die Nähe zu Wasserstellen, ist ohnehin seit Jahrtausenden prägend für die Wahl menschlicher Siedlungen.36

35 Fekete: Common Criteria. 36 Schier, Wolfram: Die vorgeschichtliche Besiedlung im südlichen Maindreieck. Teil I: Text und Tafeln. Teil II: Katalog und Karten. Materialheft zur Bayerischen Vorgeschichte Reihe A, 60 (1990).

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ANWENDUNGSBEZUG – ZWIESPALT ZWISCHEN ELITÄRER DEUTUNGSHOHEIT UND EXPERTISE DER ANWENDER Anwendungsbezug, Beispiele und Realitätsbezug sind für die Wissenschaft ein zweischneidiges Schwert. Einerseits sind reale Objekte und Bezüge unerlässliche Eingangsobjekte empirischer Forschungsgrundlagen, andererseits sind Beispiele und Realitätsbezüge immer nur Ausschnitte aus der Wirklichkeit und daher nicht auf einem abstrakten Niveau einfach vergleichbar oder transferierbar. Noch schwieriger gestaltet es sich, Ergebnisse aus der Forschung wieder in die Praxis zu überspielen. Kritische Infrastrukturen sind ein Paradebeispiel für Anwendungsbezug in der Forschung, da hier aus realen Ereignissen und katalysiert über die Politik, ein Thema Eingang erhalten hat. Weiterhin geschieht hier sehr viel Forschung in direkter Zusammenarbeit mit Betreibern der Infrastrukturen, Stadtverwaltungen, Notfallmanagement und vielen anderen Anwendern. Auch die Forschungsförderung hat das erkannt und bietet inzwischen eine Vielzahl an Programmen auf, in der die Einbeziehung von Anwendern Vorbedingung ist und die Ergebnisse anwenderbezogen sein müssen, also in der ‚Praxis‘ nutzbar. Was wiederum ‚nutzbar‘ und ‚Praxis‘ bedeuten ist durchaus diffus; es reicht von theoretisch anwendbar bis ‚implementierbar‘, also serienreif und vor Ort von Nicht-Wissenschaftlern verwendbar. Es existieren jedoch auch überzogene Erwartungen nicht nur von Seiten der Praxis an die Wissenschaft, sondern auch Erwartungen in die umgekehrte Richtung, die bislang weniger beleuchtet wurden. Das bezieht sich hauptsächlich auf jene Gruppe, die ‚anwendungsbezogene Forschung‘ unternimmt und sich nicht davor scheut. Innerhalb der anwendungsbezogenen Forschung existiert oft eine zumindest in Teilen überzogene Erwartungshaltung an die Anwender, die sogenannten ‚Endnutzer‘ der Ergebnisse. Von den Endnutzern wird zum einen die bereitwillige Übernahme der Ergebnisse aus Forschungsprojekten erwartet, bzw. diese Erwartungshaltung auf sie projiziert. Zum anderen wird von den Endnutzern die Expertenmeinungsabgabe erwartet; die Bereitstellung jener Angaben, die notwendig sind, um die Kritikalität, Verwundbarkeit, Schwachstellen wie auch Lösungsmöglichkeiten technischer wie organisatorischer Art aus ihren Aussagen ableiten zu können. Einige dieser ‚Endnutzer‘ wehren sich inzwischen innerhalb offen geführter, integrativer Forschungsprojekte und sehen sich selbst als

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Teilnehmer von Forschungsprojekten nicht nur als diejenigen die ‚ausgequetscht‘ werden möchten, sondern als jene, die selbst mit mehr Fragen als mit konkreten Lösungsideen in solche Projekte hineingehen und deshalb auch forschend beteiligt werden möchten. Hierbei sollte der Fehler vermieden werden, welcher in der Ethnologie bei der Erforschung ihrer Untersuchungssubjekte längst gemacht wurde: Wissen zu extrahieren und später die Deutungshoheit aus der besuchenden beobachtenden Forscherbrille heraus generalisierend für sich beanspruchen. Um das abzumildern und einzuordnen mag man daran denken, dass auch Forschende und Beobachter Teil der Akteure sind, das beobachtete System mitbeeinflussen37 und in ihrer Rolle ‚Teil des Theaters sind’.38

KRITIK UND KRITIKBEFÄHIGUNG, KRISEN ALS KATHARSIS Dieser Beitrag verliert sich selbst in einem Fehler, den er anderen ankreidet: Er wirkt in mehreren Punkten so, als ob er eine elitäre Deutungshoheit beanspruchen könnte. Dabei bleibt dieses Wissen eng begrenzt am Erfahrungshorizont des eigenen Schaffens und vermisst die Aufarbeitung der bereits existierenden Sekundärliteratur. Es ist jedoch an der Zeit, das Thema Kritische Infrastrukturen kritisch aufzuarbeiten. Die Kritikbefähigung erwächst häufig erst nach dem Sammeln eigener Erfahrungen und so soll dieser Beitrag nicht mehr leisten, als lediglich diese eigenen Erfahrungen essayistisch darzustellen. Trotz aller Skepsis und Beschränkungen hinsichtlich der Terminologie und trotz der bisherigen Aufarbeitung sind sowohl Kritikalität als auch Kritische Infrastrukturen Untersuchungsfelder, mit deren Hilfe die Definition einer Relevanz innerhalb einer Risikountersuchung sowie sicherheitspolitische Ziele geschärft werden kann. Weiterhin ist die sprachliche Verwandtschaft der Kritikalität mit der Krise interessant, als in den Zuspitzungen einer Krise wie auch nach Störungen und Katastrophen 37 Fekete, Alexander/Lauwe, Peter/Geier, Wolfram: Risk management goals and identification of critical infrastructures. in: International Journal of Critical Infrastructures 4 (2012). 38 Goffman, Erving: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, München/Zürich 1973.

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die Relevanz deutlicher zutage tritt als in unbeachteten Alltagsmomenten oder auch in den besten hypothetisierten Vorbeschreibungen von Risiken. Krisen können somit nicht nur als Katharsis für Lernprozesse verstanden werden, sondern auch als Beschäftigungsgegenstand, der eine Relevanzbewertungsbefähigung ermöglicht.

LITERATUR Assmann, Jan: Moses der Ägypter, München 1998. BBK: Risikoanalyse Bevölkerungsschutz. Ein Stresstest für die Allgemeine Gefahrenabwehr und den Katastrophenschutz, hrsg. v. Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, Bonn 2015. Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M. 1986. Bertalanffy, Ludwig v.: General System Theory. Foundations, Development, Applications, New York 2006 (Original 1968). Blaikie, Piers/Cannon, Terry/Davis, Ian/Wisner, Ben: At Risk. Natural hazards, people’s vulnerability, and disasters, London 1994. Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe: Kritische Infrastrukturen. Definition und Übersicht, https://www.kritis.bund.de/SubSites/Kritis/DE/ Einfuehrung/einfuehrung_node.html [Stand 02.02.2018]. BMI: Nationale Strategie zum Schutz Kritischer Infrastrukturen (KRITISStrategie), hrsg. v. Bundesministerium des Innern Berlin 2009. BMI: Schutz Kritischer Infrastrukturen – Risiko- und Krisenmanagement. Leitfaden für Unternehmen und Behörden, hrsg. v. Bundesministerium des Innern, Berlin 2011. Brown, Kathi Ann: Critical Path: A Brief History of Critical Infrastructure Protection in the United States, Fairfax 2006. Fekete, Alexander: Common Criteria for the Assessment of Critical Infrastructures, in: International Journal of Disaster Risk Science 2 (2011), S.15–24. Fekete, Alexander: Safety and security target levels: Opportunities and challenges for risk management and risk communication, in: International Journal of Disaster Risk Reduction 2 (2012), S. 67–76.

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Schutz Kritischer Infrastrukturen: Kritikalität als Entscheidungsmaß zur Abwehr von Gefahr am Beispiel Stromausfall Thomas Münzberg, Sadeeb Simon Ottenburger

„Es entspricht der praktischen Lebenserfahrung, dass mit einem Infrastrukturausfall jederzeit gerechnet werden muss. Der Umstand, dass es bisher nicht zu einem gravierenden Infrastrukturausfall gekommen ist, beweist nicht, dass insofern keine Gefahr besteht, sondern stellt für die Betroffenen einen Glücksfall dar, mit dessen Ende jederzeit gerechnet werden muss.“ (In Anlehnung an das Urteil des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen 5K 1012/85 vom 14. November 1985 über Brandgefahren im Industriebereich).

EINLEITUNG Beim Ausfall einer lebenswichtigen Versorgungsdienstleistung wie der Stromversorgung haben die Betreiber der ausgefallenen Kritischen Infrastruktur, die Betroffenen und die Mitwirkenden der Gefahrenabwehr1 die

1

In diesem Kapitel wird Gefahrenabwehr als Sammelbegriff für alle Einrichtungen der Feuerwehr, des Rettungsdienstes und des Katastrophenschutzes verwendet. Die Verwendung erfolgt unabhängig der etablierten Führungsorganisation, der Tragweite des Schadensereignisses, der örtlichen Zuständigkeit oder der Zuständigkeit für einen bestimmten Einsatzabschnitt. Eingeschlossen sind

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| Thomas Münzberg, Sadeeb Simon Ottenburger

Entstehung von Schäden zu vermeiden oder, falls nicht anders möglich, deren Ausmaß zu reduzieren. Derartige Krisensituationen sind in der Regel charakterisiert durch Mangelzustände. Am Beispiel der Stromversorgung besteht ein Mangel dahingehend, dass Strom gar nicht oder nur teilweise zur Verfügung steht. Gleichzeitig ist die Anzahl der Gefahrenabwehr zur Verfügung stehenden Bewältigungsressourcen, wie mobile Notstromaggregate, Netzersatzanlagen und Treibstoffe, durch die ein kontinuierlicher Betrieb oder die Abwehr von stromausfallbedingten Gefahren sichergestellt werden kann, äußerst begrenzt. Um den noch zur Verfügung stehenden Strom als auch die Bewältigungsressourcen effektiv einzusetzen, ist die Bildung von Einsatzschwerpunkten bzw. die Vornahme von Priorisierungen unumgänglich. Hierbei kann die Verwendung eines einheitlichen Maßes, wie das der Kritikalität von Betroffenen, nicht nur ein systematisches, objektives und tatsachengeleitetes und damit rechtmäßiges Entscheiden sichern, sondern zudem das betreiberseitige Vorgehen innerhalb der jeweiligen Betriebsgrenzen einer Kritischen Infrastruktur mit den Maßnahmen der Gefahrenabwehr effektiver verknüpfen. Im Hinblick derartiger Entscheidungssituationen stellt sich die Frage, wie das Konzept der Kritikalität als Entscheidungsmaß zur Problemlösung bei der Abwehr von Gefahren2 einzusetzen ist. Zur Beantwortung dieser Frage werden zunächst Definitionsansätze zum Begriff der Kritikalität im Rahmen der Abwehr von Gefahren in der Literatur reflektiert. Dem Ergebnis der Reflektion ist vorwegzunehmen, dass im bestehenden Kritikalitätsdiskurs die Berücksichtigung der normativen Rahmenbedingungen und der dadurch für Entscheidungsträger der Gefahrenabwehr bindenden Vorgaben zur Entscheidungsfindung auszubauen ist. Die Anforderungen an die Entscheidungsfindung – wer, wie, was und wann zur Abwehr von Gefahren zu entscheiden hat – ist im bestehenden Gefahrenabwehr- und Katastrophenschutzrecht geregelt und wird im Kritikalitätsdiskurs regelmäßig zumindest in keiner ausreichenden Weise Be-

auch die Führungsinstanzen der Führungs- und Verwaltungsstäbe sowie Koordinierungsgruppen. 2

Die Abwehr von Gefahren obliegt nicht allein der Gefahrenabwehr. Aufgrund des Subsidiaritätsprinzips ist es ebenso Aufgabe der potentiell von einer Gefahr Betroffenen und der Betreiber Kritischer Infrastrukturen, deren Einrichtung ausgefallen oder davon bedroht ist.

Kritikalität und Gefahrenabwehr | 181

deutung zugemessen. In diesem Kapitel unternehmen wir daher einen Auftakt, diese Lücke mithilfe eines Brückenschlags zwischen den Anforderungen der Entscheidungsfindung und der ingenieurwissenschaftlichen Risikoforschung zu schließen. Zur Sicherstellung der Praktikabilität des davon abgeleiteten Kritikalitätskonzeptes bedarf es eines Anwendungsbeispiels, anhand dessen wir das Konzept demonstrieren und diskutieren. Wir halten dabei am bereits angesprochenen Beispiel eines Stromausfalls in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt fest. Mithilfe dieses Beispiels und der ingenieurtechnischen, praxisnahen Auslegung im Bereich der Gefahrenabwehr und des Netzbetriebs wird veranschaulicht, welche Vorteile das Kritikalitätskonzept für die Steigerung der Resilienz von Kommunen oder Städten gegenüber netzkritischen Situationen und Stromausfällen hat. Anhand zentraler und weiterhin in der Praxis nicht zufriedenstellend gelöster Probleme wird deutlich, welche Vorteile die Einbettung des diskutierten Kritikalitätskonzeptes in das sich im Umbruch befindliche Regelwerk für ein zukünftiges Stromversorgungssystem hat. Im vorliegenden Kapitel finden sich Ideen und Ansätze aus bereits veröffentlichten oder in Veröffentlichung befindlichen Arbeiten. Hierzu zählen insbesondere die von Thomas Münzberg angefertigte Dissertation sowie weitere Publikationen beider Autoren.3

3

Wie z.B. Ottenburger, Sadeeb Simon/Münzberg, Thomas: An Approach for Analyzing the Impacts of Smart Grid Topologies on Critical Infrastructure Resilience, in: Proceedings of the 14th ISCRAM Conference (2017); Münzberg, Thomas/Wiens, Marcus/Schultmann, Frank: A Spatial-temporal Vulnerability Assessment to Support the Building of Community Resilience against Power Outage Impacts, in: International Journal for Technological Forecasting & Social Change 121 (2017), S. 99–118; Münzberg, Thomas/Müller, Tim/Raskob, Wolfgang: A Future Oriented Agent-Based Simulation to Improve Urban Critical Infrastructure Resilience, in: Fiedrich, Frank/Fekete, Alexander (Hrsg.): Urban Disaster Resilience and Security. Addressing Risks in Societies, Heidelberg 2018, im Druck.

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KRITIKALITÄT ALS ENTSCHEIDUNGSMASS In diesem Abschnitt wird Kritikalität als Entscheidungsmaß für die Abwehr von Gefahren eingeführt. Hierfür wird zunächst auf bestehende Definitionsansätze im Risiko- und Krisenmanagement eingegangen. Anhand des Beispiels eines Stromausfalls wird anschließend die Verwendung des Kritikalitätskonzeptes und dessen Vorteile in der Gefahrenabwehr und in der Stromversorgung bzw. im Netzbetrieb erörtert. Hierzu sind Grundlagen der jeweiligen Entscheidungsproblematik und -findung zu thematisieren. So erfolgt das Tätigwerden der Gefahrenabwehr anhand der gefahr- und schutzgutorientierten Gefahrenprognose. Um Anforderungen an die Verwendung der Kritikalität als Entscheidungsmaß in der Gefahrenabwehr abzuleiten, wird auf die Gefahr- und Schutzgutorientierung als auch auf die Gefahrenprognose näher eingegangen. In der Stromversorgung spielt Kritikalität bisher keine Rolle, weshalb die priorisierte Versorgung von Netzkunden und die damit verbundenen Vorteile bei der Abwehr von Gefahren nicht genutzt werden. Die dahinterliegenden Gründe als auch der Diskussionsstand, eine Priorisierung anhand der Kritikalität von Netzkunden in die Entwicklung der Regelwerke im Netzbetrieb einzubringen, werden erläutert. Auf Basis der Auseinandersetzung mit der Entscheidungsfindung in der Gefahrenabwehr und im Netzbetrieb sowie der jeweiligen Erörterung über die Verwendung des Kritikalitätskonzeptes zeigen sich die Anforderungen an die Kritikalität. Der Kritikalitätsbegriff im Risiko- und Krisenmanagement Im Risiko- und Krisenmanagement sind die Begriffe „kritisch“ und „Kritikalität“ in einschlägigen Normen und Handbüchern als anerkannte Regel der Technik etabliert. Im betrieblichen Kontinuitätsmanagement – ISO 22300:2016 – wird etwas als kritisch betrachtet, wenn es „von wesentlicher Bedeutung hinsichtlich der Zielsetzung oder Ergebnisse“ anzusehen ist. Kritikalität wird in der ISO 18788:2015 zum einen als ein Maß aufgefasst, das die Bedeutung eines Guts oder einer Organisation für die Menschen, die einem Risiko ausgesetzt sind, reflektiert und zum anderen als ein Gradmesser für die Wirkung eines unerwünschten oder zerstörerischen Ereignisses auf die Organisationsfähigkeit gesehen. Jedem Geschäftsprozess wird im Rahmen der IT-Sicherheit eine Kritikalität zugeordnet – Ge-

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schäftsprozesse werden gemäß ihrer Kritikalität kategorisiert und nach einem Schadensereignis beim Wiederanlauf priorisiert. Die Einordnung in Kritikalitätskategorien erfolgt u.a. unter Berücksichtigung der Anforderungen eines Wiederanlaufs oder der Ausfalldauer bezüglich eines zu erwartenden Schadens. Kritikalität erweist sich hierbei als ein skalierbares Maß, um die Signifikanz eines Geschäftsprozesses für die Wertschöpfung einer Einrichtung festzulegen und im Schadensfall die zur Verfügung stehenden Ressourcen in priorisierter Form zu verteilen.4 Auch beim Schutz Kritischer Infrastrukturen hat sich der Begriff der Kritikalität in den letzten Jahren etabliert so z.B. im Bevölkerungsschutz, der unter Kritikalität die Eigenschaft von Kritischen Infrastrukturen versteht, welche die systemische Bedeutsamkeit bzw. Relevanz zum Ausdruck bringt. In den nationalen Programmen zum Schutz Kritischer Infrastrukturen findet sich das Verständnis wieder, dass Kritikalität der Priorisierung von Kritischen Infrastrukturen dient. In der Schweiz wird Kritikalität definiert als ein Maß für die relative Bedeutung eines Versorgungssektors „bezüglich Bevölkerung, Wirtschaft und Dependenzen“.5 Ähnlich lautet auch die in Deutschland verwendete Definition, nach der Kritikalität ein relatives Maß für die Bedeutsamkeit einer Infrastruktur in Bezug auf die Konsequenzen ist, die eine Störung oder ein Funktionsausfall für die Versorgungssicherheit der Gesellschaft mit wichtigen Gütern und Dienstleistungen hat.6 In der wissenschaftlichen Literatur finden sich in diesem Kontext zwei Verwendungen des Kritikalitätsbegriffes. Vorherrschend wird Kritikalität als Auswahlattribut für den Zweck der Identifizierung von Kritischen Infra-

4

Vgl. BSI: BSI-Standard 100-4, Notfallmanagement, hrsg. v. Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, Bonn 2008.

5

BABS: Leitfaden Schutz kritischer Infrastrukturen, hrsg. v. Bundesamt für Bevölkerungsschutz, Bern 2015.

6

Vgl. u.a. Geier, Wolfram: Verstehen wir uns richtig? Definierte Begriffe für eine klare Kommunikation, in: Notfallvorsorge 32, 3 (2006); BMI: Nationale Strategie zum Schutz Kritischer Infrastrukturen (KRITIS-Strategie), hrsg. v. Bundesministerium des Inneren, Berlin 2009; Lenz, Susanne: Vulnerabilität Kritischer Infrastrukturen, Bonn 2009; Riegel, Christoph: Schutz Kritischer Infrastruktur Gesundheit. Projektbericht, hrsg. v. Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, Bonn 2007.

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strukturen genutzt.7 Hierdurch kann zwischen unbedeutenden und bedeutenden Einrichtungen unterschieden werden, womit sich die Anzahl der in der Katastrophenvorsorge zu berücksichtigenden KRITIS-Einrichtung reduziert.8 Darüber hinaus findet Kritikalität als Einstufungsattribut zur Priorisierung von Kritischen Infrastrukturen Verwendung.9 Auch in diesem Fall dient Kritikalität der effektiven Verteilung knapper Ressourcen.10 Grundannahme dieser Verwendung ist, dass die Relevanz der einzelnen Kritischen Infrastruktur (KRITIS) bzw. der KRITIS-Sektoren nicht als gleich zu bewerten ist (vgl. Deutscher Bundestag, 2011).11 Die bisherigen Kritikalitätsansätze adressieren die Beurteilung der Kritikalität von KRITIS-Sektoren, ohne dass daraus konkrete objektspezifische Rückschlüsse gezogen werden können. Theoharidou, Kotzanikolaou und

7

Vgl. u.a. Rome, Erich/Voß, Norman/Connelly, A./Carter, J./Handley, J.: State of the Art Report (1) – Urban Critical Infrastructure Systems, hrsg. v. RESIN – Climate Resilient Cities and Infrastructures, 2015. Online verfügbar unter: http://www.resin-cities.eu/fileadmin/user_upload/D1-1_UCIsystems_Fraunhofer _2015-11-30.pdf [Stand 20.09.2017]; Di Mauro, C./Bouchon S./Logtmeijer, C./ Pride, R. D./Hartung, T./Nordvik, J. P.: A structured approach to identifying European critical infrastructures, in: International Journal of Critical Infrastructures (IJCIS) 3 (2010); Riedman, David: Questioning the Criticality of Critical Infrastructure:

A Case Study Analysis, in: Homeland Security Affairs 12

(2016). 8

Vgl. ebd.

9

Theoharidou, Marianthi/Kotzanikolaou, Panayiotis/Gritzalis, Dimitris: RiskBased Criticality Analysis, in: IFIP Advances in Information and Communication Technology 311 (2009); Fekete, Alexander: Common criteria for the assessment of critical infrastructures, in: International Journal of Disaster Risk Science 2, 1 (2011), S. 15–24; Katina, Polinpapilinho F./Hester, Patrick Thomas: Systemic determination of infrastructure criticality, in: International Journal of Critical Infrastructures 9, 3 (2013).

10 Ebd. 11 Deutscher Bundestag: Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung, Gefährdung und Verletzbarkeit moderner Gesellschaften – am Beispiel eines großräumigen und langandauernden Ausfalls der Stromversorgung, Drucksache 17/5672, 17. Wahlperiode, Berlin 2011.

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Gritzalis12 leiten aus ausgewählten nationalen Programmen zum Schutz Kritischer Infrastrukturen Kritikalitätsfaktoren ab. Sie machen die Kritikalität einer Kritischen Infrastruktur demnach fest an (i)

der potentiellen räumlichen Reichweite der Auswirkungen eines Versorgungsausfalls, (ii) der Stärke der Ausfallkonsequenzen (Schweregrad, Intensität oder Magnitude) und (iii) den zeitabhängigen Auswirkungen. Theoharidou, Kotzanikolaou und Gritzalis stellen darüber hinaus eine Kritikalitätsanalyse vor, die auf einen gesellschaftsorientierten Risikoanalyseprozess basiert und zur Bewertung überregionaler Infrastruktursysteme anzuwenden ist.13 Nach Fekete ist Kritikalität im Wesentlichen an Größenverhältnissen, am zeitlichen Kontext und der Qualität festzumachen.14 Eine konkrete Methodik zur Festlegung wird nicht benannt. Katina und Hester reflektieren eine Reihe von Arbeiten, die Kriterien der sektorspezifischen Kritikalität betrachten. Aus diesen leiten sie 40 generische, übergeordnete Kritikalitätskriterien her, die sich innerhalb des Quadrupels Resilienz-, Interdependenz, Dependenz und der Infrastrukturrisiken kategorisieren lassen.15 Giovinazzi et al. schlagen eine umfangreiche Methodik zur Bemessung der Kritikalität von Sektoren vor. Diese beruht auf der Messung der Infrastrukturabhängigkeiten und einer teils empirischen Funktion, die hinsichtlich der Ausfalldauer und Infrastrukturrelevanz den Einfluss auf die Organisation darstellt.16 Riegel adressiert die räumliche Kritikalität einer Region für die Zwecke der Raumplanung, die anhand der Dichte der Standorte von Kritischen Infrastrukturen und ihrer übersektoralen und akkumulierten Relevanz abgeleitet wird.17 Aus den Ergebnissen der eben genannten Arbeiten ist eine effektive Priorisierung einzelner Einrichtungen, wie es der Abwehr von Gefahren

12 Theoharidou et al.: Criticality Analysis. 13 Ebd. 14 Fekete: Common Criteria. 15 Katina/Hester: Systemic determination. 16 Giovinazzi et al.: Criticality. 17 Riegel: Gesundheit.

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und einer vernünftigen Verteilung von Ressourcen bedarf, nicht hinreichend realisierbar. Ein Grund dafür ist dem Umstand geschuldet, dass die Anforderungen bei der Abwehr von Gefahren an die Entscheidungsfindung nicht ausreichend adressiert werden; dies manifestiert sich in einer fehlenden Schutzpflicht- und Gefahrenorientierung. Auf diese beiden Schwerpunkte wird daher nachfolgend eingegangen. Konzept der Kritikalität in der Gefahrenabwehr Schutzgutorientierung Für das Tätigwerden der Gefahrenabwehr muss ein rechtlich geschütztes Interesse bedroht sein, Schaden zu nehmen. Rechtlich geschützte Interessen ergeben sich aus Schutzpflichten. Hinsichtlich des Ausfalls von Kritischen Infrastrukturen sind zwei Schutzpflichten von herausragender Bedeutung. Aus dem Grundrecht „auf Leben und körperlicher Unversehrtheit“ nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit dem im Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG verankerten Schutz der unantastbaren Menschwürde leitet sich die Abwehr vor unzulässigen Eingriffen als Schutzpflicht des Staates ab.18 Diese Schutzpflicht gilt sowohl gegenüber dem Einzelnen als auch gegenüber der Gesamtheit aller Bürger. Sie verpflichtet den Staat, jedes menschliche Leben umfassend zu schützen und gegenwärtige oder drohende Gefahr für das Leben abzuwenden.19 Die Schutzpflicht bezieht sich nicht nur auf die Abwehr der tatsächlich vorliegenden Gefahren, sondern auch auf die Vorbereitung der Abwehr möglicher Gefahren.20 Sie ist unabhängig 18 Vgl. BVerfGE 46, 160, 164; BVerfGE 45, 187, 254 f.; BVerfGE 56, 54, 63; Dietlein, Johannes: Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, Berlin 2005, S. 62 ff.; Stern, Klaus: Die Schutzpflichtenfunktion der Grundrechte: Eine juristische Entdeckung, DÖV, 6 (2010), 241 ff.; Schulze-Fielitz, Helmuth: Art. 2 II, in: Dreier, Horst (Hrsg.): Grundgesetz Kommentar, Bd. I, 2. Auflage, Tübingen 2004, Rn. 76 ff.; Sachs, Michael: Grundgesetz Kommentar, 5. Auflage, München 2009, Art. 1 Rn. 35; Walus, Andreas: Katastrophenorganisationsrecht – Prinzipien der rechtlichen Organisation des Katastrophenschutzes, hrsg. v. Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, Bonn 2012. 19 Dreier: Grundgesetz Kommentar, Rn. 102. 20 Kloepfer, Michael: Handbuch des Katastrophenrechts, Baden-Baden 2015, S. 394.

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von der Kausalität einer Gefahr, die sowohl menschlich als auch natürlich sein kann.21 Neben der Schutzpflicht hinsichtlich des Rechts auf Leben und körperlicher Unversehrtheit ist in Bezug auf Ausfälle Kritischer Infrastrukturen noch eine weitere Schutzpflicht von Relevanz. Diese leitet sich aus dem Sozialstaatprinzip als sozialstaatliche Leistungspflicht anhand des Art. 20 Abs. 1. GG ab.22 Das Sozialstaatsprinzip führt zu einer Schutzpflicht zur Daseinsvorsorge, die in den Fällen eintritt, in denen sich der Einzelne nicht allein helfen kann und es der Solidarität der Gemeinschaft bedarf (ebd.). In der Literatur und im Kontext der Abwehr von Gefahren wird dieser Ansatz kritisch und kontrovers diskutiert, da durch eine solche Herleitung das Schutzrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG begrenzt wird auf Übergriffe durch andere Menschen oder des Staates, und sich eine darüber hinausgehende Schutzpflicht vor Gefahren nicht ableiten lässt (ebd.). Gleichwohl würde eine aus dem Art. 20 Abs. 1 GG hergeleitete Schutzpflicht auch die Sicherstellung einer Daseinsvorsorge beinhalten. Die Deutung des Begriffs der Daseinsvorsorge als Rechtsbegriff und die damit zusammenhängenden Aufgaben sind Teil tiefgreifender soziologischer und verwaltungsrechtswissenschaftlicher Debatten. Welche Leistungen als der Daseinsvorsorge verstanden werden, ist häufig vom Einzelfall abhängig und hat bisher zu keinem einheitlichen Verständnis geführt. An dieser Stelle soll in Bezug auf diese verwaltungsrechtliche Debatte nur tangierend festgehalten werden, dass als Urheber des Begriffs der Daseinsvorsorge Forsthoff23 angeführt wird,24 der diesen Begriff in Anlehnung an Max Weber mit dem Appropriationsbedürfnis assoziierte, sich lebensnotwendige Güter und Dienstleistungen aus nicht eigenen Quellen zu beschaf-

21 Walus: Katastrophenorganisationsrecht. 22 Murswiek, Dietrich: Art. 2. 23 Forsthoff, Ernst: Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Bd. 1., Allgemeiner Teil, München/Berlin 1956. 24 Vgl. u.a. Krajewski, Markus: Grundstrukturen des Rechts öffentlicher Dienstleistungen, Heidelberg 2011; Franz, Thorsten: Gewinnerzielung durch kommunale Daseinsvorsorge. Zugleich eine Untersuchung zu den Zwecken und Formen der kommunalen wirtschaftlichen Betätigung, Tübingen 2005; Kingreen, Thorsten: Das Sozialstaatsprinzip im Europäischen Verfassungsverbund. Gemeinschaftliche Einflüsse auf das deutsche Recht der gesetzlichen Krankenversicherung, Tübingen 2003.

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fen.25 Die Befriedigung des Appropriationsbedürfnisses sei Aufgabe der Daseinsvorsorge.26 In der modernen Rechtsliteratur wird unter Daseinsvorsorge die staatliche Sorge für die sozialen Existenzbedingungen verstanden, ein menschwürdiges Existenzminimum sicherzustellen.27 Die Bereitstellung bestimmter notwendiger Güter durch das Gemeinwesen im Rahmen der Daseinsvorsorge begründet sich mit dem besonderen öffentlichen Interesse daran.28 Anhand des menschwürdigen Existenzminimums leiten sich Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein und damit Anforderungen an die Gewährleistung eines Mindestmaßes an die Daseinsvorsorge ab.29 Die Schutzpflicht zur Daseinsvorsorge verpflichtet auch dazu, die dafür notwendigen Einrichtungen vor drohenden Gefahren zu schützen und bei Verwirklichung dieser Gefahren einen sozialstaatlichen Mindeststandard aufrechtzuerhalten. Unklar und vom Einzelfall abhängig erscheint die Frage, ob während eines vorübergehenden Notstandes und, wenn ja, in welchem Maße Abweichungen von den zivilisatorischen Anforderungen an die sozialen Existenzbedingungen in Form einer temporären Reduzierung des sozialstaatlichen Mindeststandards auf ein Mindestmaß an das menschwürdige Existenzminimum für ein Überleben zulässig sind. Unabhängig von der kontroversen Auseinandersetzung um die sozialstaatliche Leistungspflicht ist festzuhalten, dass bei einem Ausfall von Kritischen Infrastrukturen die Schutzpflichten der körperlichen Unversehrtheit oder die Sicherstellung einer Daseinsvorsorge beschädigt werden können. Dabei sind nicht nur die direkten Wirkungen der durch einen Ausfall verursachten Nicht- bzw. die Unterversorgung zu betrachten, sondern auch die aus Folgeereignissen resultierenden lebensbedrohlichen Zustände. Gefahrenorientierung und Gefahrenprognose Das Tätigwerden der Gefahrenabwehr begründet sich durch Schutzpflichten, bemessen wird sie jedoch anhand der Gefahr. Der Begriff der „Gefahr“ wird in den Brand-, Hilfeleistungs- und Katastrophenschutzgesetzen der Länder nicht näher erläutert. Mit der Einordnung dieser Gesetze in das be-

25 Vgl. Krajewski: Grundstrukturen. 26 Vgl. Forsthoff: Lehrbuch. 27 Vgl. Franz: Gewinnerzielung. 28 Vgl. Krajewski: Grundstrukturen. 29 Vgl. Franz: Gewinnerzielung.

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sondere Ordnungsrecht kann jedoch zur Deutung des Begriffs der Gefahr auf die jeweiligen Ordnungs- bzw. Sicherheitsbehördengesetze30 und im Besonderen auf die polizei- und ordnungsrechtliche Generalklausel zurückgegriffen werden. Nach allgemeiner Begriffsauslegung der polizei- und ordnungsrechtlichen Generalklausel wird unter einer Gefahr eine Sachlage verstanden, die in absehbarer Zeit mit hinreichender Wahrscheinlichkeit31 bei ungehindertem Geschehensablauf zu einem Schaden für die öffentliche Sicherheit und Ordnung führen würde.32 Ein Schaden stellt eine objektive Verschlechterung oder Verletzung des Schutzguts der öffentlichen Sicherheit und Ordnung dar.33 Das Handeln der Gefahrenabwehr orientiert sich an zukünftig eintretende Entwicklungen.34 Um Gefahren festzustellen und sie zu beurteilen, bedarf es deswegen einer vollständig gerichtlich nachvollziehbaren Gefahrenprognose. Im Rahmen einer Gefahrenprognose sind alle tatsächlichen Anhaltspunkte und Anzeichen heranzuziehen und zu würdigen, die von den Entscheidern verfügbar und erreichbar sind. Anhand der Anhaltspunkte ist auf den zu erwartenden und hypothetischen Geschehensverlauf hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts im konkreten Einzelfall zu schließen (Gefahrenpotential).35 Nach der Auslegung im polizeilichen Recht bedarf es nach Gusy36 dabei (i) (ii) (iii) (iv)

der Tatsachenfeststellung, der Ermittlung von Gefahrindizien, der Ermittlung von Gegenindizien und der Abwägung der verbleibenden Anhaltspunkte.

30 Vgl. Walus: Katastrophenorganisationsrecht, S. 92. 31 Im Polizeirecht wird der Begriff der Wahrscheinlichkeit sehr weit gefasst und in keiner Weise im strengen mathematischen Sinne ausgelegt. Der Begriff der Wahrscheinlichkeit im Kontext des Polizeirechtes wird nachfolgend spezifiziert. 32 Vgl. u.a. Götz, Volkmar: Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, Göttingen, 2001, S. 61 ff; BVerwGE 45, 51, 57; OVG Koblenz, NVwZ, 1992, 499; Jochum, Theo/Rühle, Dietrich G.: Polizei- und Ordnungsrecht, Baden-Baden 2000, Rdnr. 38; § 2 Nds. SOG. 33 Vgl. Götz: Polizei- und Ordnungsrecht, S. 61 ff. 34 Vgl. Gusy, Christoph: Polizei- und Ordnungsrecht, Tübingen 2009. 35 Vgl. Kugelmann, Dieter: Polizei- und Ordnungsrecht, Heidelberg 2012, S. 98 f. 36 Gusy: Polizei- und Ordnungsrecht.

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In der nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr findet sich ein vergleichbares Vorgehen im Führungsvorgang der DV 10037 in den Schritten der Lagefeststellung und der Planung – im Besonderen in der Beurteilung und in der Entschlussfassung – wieder. Für die Feststellung, dass eine Gefahr besteht, existieren juristische Anforderungen, die nachfolgend bezugnehmend auf die einschlägige Literatur des Polizeirechts erörtert werden.38 Der zukünftige Geschehensablauf und der Schaden bei ungehindertem Ablauf ist nach objektiven ex ante Maßstäben zu prognostizieren (Gefahrenprognose). Ausschlaggebend ist die Beurteilung der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts, die durch jeden gut ausgebildeten, gewissenhaften, besonnenen und sachkundigen Durchschnittsentscheider adäquat in der konkreten Situation ex ante getroffen werden würde. Dadurch wird die Verwendung eines objektiven Maßes sichergestellt. Die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts wird verwendet, um unterschiedliche Grade eines Geschehensverlaufes zu beschreiben. Diese Beschreibung erfolgt nicht im strengen mathematischen Sinne, sondern dient lediglich der Unterscheidung zwischen unmöglich und möglich. Als hinreichend wahrscheinlich kann dabei schon die entfernte Möglichkeit gelten.39 Für die Beurteilung der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts ist der Zeitpunkt maßgeblich, in dem eine Gefahr durch den Entscheider festgestellt wird.40 Zu diesem Zeitpunkt ist das Tatsachenwissen zu Grunde zu legen, das augenblicklich im Erkenntnishorizont des Entscheiders liegt. In der Regel ist das verfügbare Tatsachenwissen in einer Entscheidungssitua-

37 Vgl. Ständige Konferenz für Katastrophenvorsorge und Katastrophenschutz (SKK): Führung und Leitung im Einsatz. Führungssystem, Köln 1999. 38 U. a. Götz: Polizei- und Ordnungsrecht; Gusy: Polizei- und Ordnungsrecht; Kugelmann: Polizei- und Ordnungsrecht; Lisken, Hans/Denninger, Erhard: Handbuch des Polizeirechts. Gefahrenabwehr, Strafverfolgung, Rechtsschutz, München 2012. 39 Mehr hierzu bei Schwabe, Jürgen: Fürmöglichhalten und irrige Annahme von Tatbestandsmerkmalen, in: Selmer, Peter/von Münch, Ingo (Hrsg.): Gedächtnisschrift für Wolfgang Martens, Berlin/New York 1987, S. 427 ff. 40 BVerwG, DVBl., 1975, S. 888 f.

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tion stets mit Ungewissheit, Unschärfe und Unwissen behaftet. Die Anforderungen41 an die zu prognostizierende Wahrscheinlichkeit sind geringer, je höher die Bedeutung des Schutzgutes und je größer der zu erwartende Schaden ist.42 Hierbei wird vom Grundsatz umgekehrter Proportionalität gesprochen. Entsprechend der Erkenntnisse einer Gefahrenprognose liegt eine abstrakte Gefahr dann vor, wenn lediglich eine gewisse Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts nach der Sichtweise, allgemeiner Lebenserfahrung und aus reiner subjektiver Überzeugung des Entscheiders als entfernte Möglichkeit oder bloße Mutmaßung unterstellt wird oder Erkenntnisse einer sachkundigen Stelle vorliegen.43 Anhand dieses subjektiven Maßes lässt sich bei einer abstrakten Gefahr noch kein sofortiger Handlungsbedarf erkennen.44 Aus einer abstrakten Gefahr kann sich mit Eintritt eines Geschehensablaufs eine konkrete bzw. drohende Gefahr ergeben. Eine konkrete bzw. drohende Gefahr ist dann zu erkennen, wenn der Geschehensablauf bereits begonnen hat und dabei ist, sich zu verwirklichen. Kommt es bei einer konkreten Gefahr zum Schadenseintritt und der Geschehensablauf hält weiter an, so dass weiterer Schaden droht, handelt es sich im juristischen Sinne um eine Störung (ebd.). Hinsichtlich der zeitlichen Nähe des Schadenseintritts wird der Begriff der gegenwärtigen Gefahr bzw. unmittelbar bevorstehenden Gefahr verwendet.45 Bei einer gegenwärtigen Gefahr wirkt ein schädigendes Ereignis bereits oder die Wirkung steht unmittelbar, in allernächster Zeit bevor. Der Geschehensverlauf ist mit einer an „Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit“ bzw. „fast mit Gewissheit“46 abzusehen und die Sicherheit der

41 Anforderungen an die Gewissheit in Bezug auf die Zuverlässigkeit und Genauigkeit der Gefahrenprognose. 42 BVerwG, DVBl., 1975, S. 888 f. 43 Götz: Polizei- und Ordnungsrecht; Gusy: Polizei- und Ordnungsrecht; Kugelmann: Polizei- und Ordnungsrecht; Lisken/Denninger: Handbuch des Polizeirechts. 44 Ebd. 45 Vgl. OVG Saarlouis, DÖV, 1973, 863. 46 Vgl. BVerwG, 6 C 21.07, 14.

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Prognose durch die zeitliche Nähe hoch.47 Ist die Bedeutung des gefährdeten Schutzgutes besonders hoch, liegt eine erhebliche Gefahr vor.48 Besteht sowohl eine gegenwärtige als auch eine erhebliche Gefahr, wird von dringender Gefahr gesprochen.49 Kritikalität für Gefahrenprognose und Verhältnismäßigkeitsprüfung Um Kritikalität als Entscheidungsmaß in der Gefahrenabwehr im Kontext des Ausfalls Kritischer Infrastrukturen einzusetzen, muss Kritikalität so beschaffen sein, dass es innerhalb der Gefahrenprognose als Gefahrindiz oder Gegenindiz herangezogen werden kann. Hierfür hat es das zu erwartende und hypothetische Gefahrenpotential anhand tatsächlicher, objektiv messbarer Sachverhalte als zeitabhängiges Maß darzustellen. Darüber hinaus kann es ebenfalls zur Verhältnismäßigkeitsprüfung herangezogen werden. Im Hinblick auf das rechtsstaatliche Prinzip des Art. 20 Abs. 3 GG ist bei jeder behördlichen Maßnahme zu prüfen, ob ein legitimer Zweck vorliegt und ob die jeweils umzusetzende Maßnahme im Verhältnis steht (Verhältnismäßigkeitsprüfung). Der legitime Zweck begründet sich durch bedrohte oder verletzte Schutzpflichten. Da Kritikalität einen Bezug zu Schutzpflichten herstellt, muss sie sich wiederum auf Schutzgüter beziehen. Daher stellt die Kritikalität eine Eigenschaft eines Schutzgutes dar.50 Eine Maßnahme ist verhältnismäßig, wenn sie geeignet, erforderlich und angemessen ist. Anhand der Kritikalität kann die Geeignetheit einer Maßnahme geprüft werden. Hierfür muss sie den von Schutzpflichten abgeleiteten legitimen Zweck erreichen oder zumindest fördern. Dies geht mit einer Reduzierung der Kritikalität gegenüber der Ausgangssituation einher. Erforderlich ist eine Maßnahme dann, wenn sie gegenüber anderen geeigneten Maßnahmen das mildere, weniger belastende Mittel darstellt. Im Vergleich

47 Vgl. OVG Saarlouis, DÖV, 1973, 863; BGH, NJW 1951, 769; Stephan, Ulrich/Deger, Johannes/Wöhrle, Günter/Wolf, Heinz/Reiff, Hermann: Polizeigesetz für Baden-Württemberg Kommentar, Stuttgart 2009. 48 Vgl. § 2 Nds. SOG. 49 Vgl. BVerfGE 109, 279; BVerwG 47, 31, 40. 50 Welche Schutzgüter bspw. im Rahmen eines Stromausfalls anhand der Kritikalität für die Abwehr von Gefahren zu identifizieren sind, wird im Abschnitt Kritikalität von Kritischen Infrastrukturen beleuchtet.

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verschiedener gleich geeigneter Maßnahmen, die dasselbe Kritikalitätsniveau erreichen, ist diejenige erforderlich, die am wenigsten negative Begleiterscheinungen wie Kosten, Aufwand, Belastungen etc. hervorruft. Die Angemessenheit erfüllt eine Maßnahme dann, wenn Vor- und Nachteile der Maßnahme gegeneinander abgewogen sind und die negativen Eingriffsauswirkungen zur Wertigkeit der Zielerreichung in Relation stehen. Die mit einer Maßnahme verbundenen Nachteile, um ein niedrigeres Kritikalitätsniveau zu erreichen, dürfen nicht überwiegen. Das Konzept der Kritikalität im Netzbetrieb Im deutschen Netzbetrieb ist ein chancengleicher und unverzerrter Wettbewerb der Marktbeteiligten sicherzustellen.51 Die Netzbetreiber haben jeden Marktbeteiligten gleich zu bewerten und sind verpflichtet, ihr Netz diskriminierungsfrei zu betreiben.52 Sie haben nach § 20 Abs. 1 EnWG „jedermann nach sachlich gerechtfertigten Kriterien diskriminierungsfrei Netzzugang zu gewähren“ und sind zu „diskriminierungsfreier Ausgestaltung und Abwicklung des Netzbetriebs“ verpflichtet.53 Eine Berücksichtigung der Kritikalität von Marktbeteiligten und eine priorisierte Versorgung von Kritischen Infrastrukturen, wie sie bereits in Münzberg et al. 2013 beschrieben wird, widerspricht dieser Diskriminierungsfreiheit. Doch gerade in kritischen Netzsituationen kann ein Schalten unter Berücksichtigung der Kritikalität nicht nur das Netz stabilisieren und einen fatalen Netzzusammenbruch verhindern, sondern durch die prioritäre Versorgung wichtiger Einrichtungen wie Krankenhäuser, Dialysekliniken und Altenpflegeheime54 die Entstehung von Gefahren für die Bevölkerung effektiv verhindern. Bei dem dadurch entstehenden Konflikt zwischen den Rechtsgütern des

51 Vgl. § 7a Abs. 5 EnWG. 52 § 11 Abs. 1 EnWG. 53 § 6 EnWG. 54 Derartige Einrichtungen werden nachfolgend als lokale Kritische Infrastrukturen bezeichnet. Die damit im Zusammenhang stehende Deutung findet sich im Abschnitt Kritikalität von Kritischen Infrastrukturen.

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(i) chancengleichen und unverzerrten Wettbewerbs mit dem (ii) Schutz vor körperlicher Unversehrtheit und (iii) der sozialstaatlichen Leistungspflicht ist für jeden Einzelfall eine Güterabwägung vorzunehmen. Soweit aus technischer, netzdienlicher und netzkritischer Sicht eine prioritäre Versorgung von lokalen Kritischen Infrastrukturen sowie eine Behandlung entsprechend ihrer Kritikalität zumutbar ist, lassen sich kaum haltbare Argumente finden, warum der chancengleiche und unverzerrte Wettbewerb der Marktbeteiligten gegenüber dem Schutz vor körperlicher Unversehrtheit und der sozialstaatlichen Leistungspflicht nicht zurücktreten muss. Kritische Netzsituationen, in denen eine Berücksichtigung der Kritikalität von Marktbeteiligten geboten ist, liegen bei gefährdeter oder gestörter Systemsicherheit vor. Dabei kann zu wenig oder zu viel Strom verfügbar oder die Grenzen der Netzkapazität überschritten sein (Netzengpass). Diese Zustände gehen nicht zwingend mit einem Stromausfall einher, können aber im schlimmsten Fall zu einem Netzzusammenbruch führen. Ein Netzzusammenbruch kann sich weiträumig auf Netzkunden auswirken. Eine Wiederinbetriebnahme ist unter Umständen zeitaufwändig und kompliziert, so dass der Netzwiederaufbau wenige Stunden bis mehrere Tage andauern kann. Um kritische Netzsituationen zu beherrschen, wird die so genannte operative und informatorische Kaskade aktiviert. Die Kaskade nach VDEAR-N 4140 regelt die Zusammenarbeit von vor- und nachgelagerten Netzbetreibern bei kritischen Netzsituationen und hat das Ziel, Störungen im Netzbetrieb zu beheben, um einen Netzzusammenbruch zu verhindern. Im Zusammenhang mit der Kaskade steht das Ampelkonzept zur Engpassbeseitigung,55 das den Zustand eines Netzes und davon abzuleitende Maßnahmen beschreibt. Es werden die Marktphase (grün), die Interaktionsphase (gelb) und die Netzphase (rot) unterschieden. In der Marktphase steht das Stromnetz dem Markt ohne Einschränkungen zur Verfügung. In der Interaktionsphase droht eine kritische Netzsituation, und Netzbetreiber rufen die von Marktteilnehmern angebotene Flexibilität ab. Führt dies nicht zum Er55 bdew: Konkretisierung des Ampelkonzepts im Verteilungsnetz, Diskussionspapier, hrsg. v. Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft e.V., Berlin 2017.

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folg, folgt die Netzphase. In der Netzphase ist die Netzstabilität gefährdet und Kaskadenmaßnahmen sind zu aktivieren. Abbildung 1: Phasen der Smart-Grid-Ampel zur Engpassbeseitigung nach bdew (2017) unter Berücksichtigung der Belange Kritischer Infrastrukturen

Quelle: Eigene Darstellung

Entsprechend der Ampelphasen werden netzdienliche und netzkritische Maßnahmen ergriffen (s. Abbildung 1). Als netzdienlich werden die vorrangigen netz- und marktbezogenen Maßnahmen bezeichnet, die zu einer Erhöhung der Netzkapazität führen sollen. Hierzu zählen Maßnahmen des Lastmanagements wie Lastoptimierung durch Lastverschiebung und des Einspeisemanagements (z.B. Steuerung der Einspeisung). Maßnahmen des Last- und Einspeisemanagements werden üblicherweise innerhalb weniger Minuten umgesetzt. Ein netzkritisches Vorgehen ist dagegen dann angezeigt, wenn bereits Grenzwerte des Netzbetriebs verletzt sind. In dieser Akutsituation ist ein unmittelbares Handeln in kürzester Reaktionszeit ( [Stand 20.09. 2017]. Riegel, Christoph: Spatial criticality - identifying CIP hot-spots for German regional planning, in: International Journal of Critical Infrastructures, 11, 3 (2015). Rome, Erich/Voß, Norman/Connelly, A./Carter, J./Handley, J.: State of the Art Report (1) Urban Critical Infrastructure Systems, hrsg. v. RESIN – Climate Resilient Cities and Infrastructures, 2015. Online verfügbar unter: http://www.resin-cities.eu/fileadmin/user_upload/D1-1_UCIsys tems_Fraunhofer_2015-11-30.pdf [Stand: 20.09.2017]. Sachs, Michael: Grundgesetz Kommentar, 5. Auflage, München 2009. Schulze-Fielitz, Helmuth: Art. 2 II, in: Dreier, Horst (Hrsg.): Grundgesetz Kommentar, Bd. I, 2. Auflage, Tübingen 2004.

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Schwabe, Jürgen: Fürmöglichhalten und irrige Annahme von Tatbestandsmerkmalen, in: Selmer, Peter/von Münch, Ingo (Hrsg.): Gedächtnisschrift für Wolfgang Martens, Berlin, New York 1987, S. 427 ff. Ständige Konferenz für Katastrophenvorsorge und Katastrophenschutz (SKK): Führung und Leitung im Einsatz, Führungssystem, Köln 1999. Stephan, Ulrich/Deger, Johannes/Wöhrle, Günter/Wolf, Heinz/Reiff, Hermann: Polizeigesetz für Baden-Württemberg Kommentar, 6., vollständig überarbeitete Auflage, Stuttgart 2009. Stern, Klaus: Die Schutzpflichtenfunktion der Grundrechte: Eine juristische Entdeckung, in: DÖV 6 (2010). Stolzenburg, Kathrin: Kritische Infrastrukturen in Deutschland, 3. Göttinger Tagung zu aktuellen Fragen zur Entwicklung der Energieversorgungsnetze, Vortrag am 12. Mai 2011, 3. Göttinger Tagung zu aktuellen Fragen zur Entwicklung der Energieversorgungsnetze, 2011. Online verfügbar unter: https://www.efzn.de/uploads/media/004_Stolzenburg. pdf, [Stand 20.09.2017]. Theoharidou, Marianthi/Kotzanikolaou, Panayiotis/Gritzalis, Dimitris: Risk-Based Criticality Analysis, in: IFIP Advances in Information and Communication Technology, 311 (2009). VDN: TransmissionCode 2007 Netz- und Systemregeln der deutschen Übertragungsnetzbetreiber, hrsg. v. Verband der Netzbetreiber, Berlin 2007. VKU & bdew: Praxis-Leitfaden für unterstützende Maßnahmen von Stromnetzbetreibern, hrsg. v. Verband kommunaler Unternehmen e.V. & Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft e.V., Ausgabe 1.0, Berlin 2012. VKU & bdew: Praxis-Leitfaden für unterstützende Maßnahmen von Stromnetzbetreibern, hrsg. v. Verband kommunaler Unternehmen e.V. & Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft e.V., Ausgabe 3.0, Berlin 2014. Walus, Andreas: Katastrophenorganisationsrecht – Prinzipien der rechtlichen Organisation des Katastrophenschutzes, hrsg. v. Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, Bonn 2012. Zio, Enrico/Kröger, Wolfgang: Vulnerability Assessment of Critical Infrastructures, in: IEEE Reliability Society 2009 Annual Technology Report (2009).

Produktive Spannungen: Psychoanalytisches Resümee Alfred Nordmann

„Auf die Zeichen ‚Kraft‘ und ‚Elektricität‘ aber hat man mehr Beziehungen gehäuft, als sich völlig mit einander vertragen; dies fühlen wir dunkel, verlangen nach Aufklärung und äußern unsern unklaren Wunsch in der unklaren Frage nach dem Wesen von Kraft und Elektricität. Aber offenbar irrt die Frage in Bezug auf die Antwort, welche sie erwartet. Nicht durch die Erkenntnis von neuen und mehreren Beziehungen und Verknüpfungen kann sie befriedigt werden, sondern durch die Entfernung der Widersprüche unter den vorhandenen, vielleicht also durch Verminderung der vorhandenen Beziehungen. Sind diese schmerzenden Widersprüche entfernt, so ist zwar nicht die Frage nach dem Wesen beantwortet, aber der nicht mehr gequälte Geist hört auf, die für ihn unberechtigte Frage zu stellen.“ Heinrich Hertz1

Kritikalität ist ein promiskes Konzept, das einen aktiven Grenzverkehr betreibt zwischen sehr unterschiedlichen Denkmustern, Theoriebildungen und Traditionen – wobei sich diese Traditionen gegenseitig informieren, vielleicht alle immer im Spiel sind, dies insbesondere in einem interdisziplinären Graduiertenkolleg, das dieser Promiskuität noch Vorschub leistet. Trotzdem oder gerade deswegen plädiere ich dafür, wesentliche Traditionslinien kenntlich zu machen, idealtypisch, also auch vereinfachend auszuflaggen – weil sie sich nämlich nicht widerspruchsfrei komplementär er-

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Heinrich Hertz, Prinzipien der Mechanik in neuem Zusammenhange dargestellt, Leipzig 1894, S. 9.

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gänzen, sondern spannungsreich ganz unterschiedliche Handlungsbegriffe und ontologische Grundvorstellungen mobilisieren, weil sie vormoderne, hoch- und nachmoderne Denkmuster zum Ausdruck bringen. Wenn der Begriff der Kritikalität sinnstiftend und handlungsorientierend sein soll, sollten wir uns angesichts der im Begriff angelegten impliziten Spannungen fragen, was denn nun eigentlich geltend gemacht wird – soll beispielsweise das menschliche Handeln ermächtigt werden oder wird vielmehr unsere Ohnmacht vorgeführt, geht es um das Gerade-noch-Rechtzeitig oder das Eigentlich-schon-zu-Spät, ist die Rede vom Funktionserhalt eines Teils in einem irgendwie zusammengesetzten Ganzen oder wird vom Gesamtzustand gesagt, er sei insgesamt infiziert, von der Krise geschüttelt? Darüber hinaus gibt es unaufgelöste, insofern auch produktive Spannungen nicht nur zwischen diesen idealtypischen Traditionslinien, sondern auch innerhalb jeder dieser Konzeptionen. Eine an Gaston Bachelard orientierte „Psychoanalyse“ des Kritikalitätsbegriffs bietet sich somit an, also eine spektralanalytische Auftrennung in historische Schichten eines Begriffs (als etwas Psychischem) zur Freilegung sukzessiver, fortbestehender, somit koexistierender Bedeutungsebenen, die sich überlagern, widersprechen, aber einander nicht auslöschen.2 Wenn in diesem Band die Bedeutungsvielfalt des Begriffs immer wieder reflektiert wird, um daraus einen tragfähig nutzbaren Begriff zu gewinnen, könnte es stattdessen auch darum gehen, seine Widersprüchlichkeit produktiv zur Geltung zu bringen oder auch nach dem Vorbild von Heinrich Hertz

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Der Chemiker und Wissenschaftsphilosoph Bachelard hat eine solche „Psychoanalyse“ für Begriffe wie „Feuer“, „Materie“ und „Substanz“ durchgeführt, siehe insbesondere seine Philosophie des Nein, die richtiger Philosophie des Nicht heißen sollte, da es um nichteuklidische Geometrie, nicht-Newtonsche Mechanik, nicht-aristotelische Logik geht, die jeweils etwas verneinen und erweitern (etwa die euklidische Geometrie), wobei sich euklidische Vorstellungen und Denkweisen aber erhalten; Bachelard, Gaston: Philosophie des Nein, Frankfurt am Main 1980. Eine Spektralanalyse des Gebrauchs von Worten wie „Raum“ soll es Bachelard erlauben, die Anteile euklidischer und nichteuklidischer Vorstellungen zu ermitteln, da sich im Gebrauch alte und neue Bedeutungen vermischen. Derartige Versuche sollen hier zumindest skizzenhaft auch für „Kritikalität“ unternommen werden.

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ganz auf „Kritikalität“ als Grundbegriff zu verzichten und so dem quälenden Scheinproblem der Begriffsklärung zu entgehen.3

„KRITIKALITÄT“ – EINE SPEKTRALANALYSE „Der Patient befindet sich nicht mehr in einem kritischen, nur noch in einem ernsten Zustand.“ Diese Wendung hat ihre Herkunft in der Antike. Die Krise ist ein Moment der Entscheidung, die wir aber nicht beeinflussen können, dem entsprechend heißt hier „Lösung“ auch nicht so etwas wie Antwort auf ein Problem, sondern nur, dass sich ein unhaltbarer Zustand in einen gelösten, aufgelösten Zustand transformiert – wie die Lösung eines Krampfs, der auch eine Erlösung ist. Damit besteht eine Verwandtschaft des Begriffs auch zur ästhetischen Kategorie der Katharsis, die sich nicht auf das Verhältnis von Teil und Ganzem bezieht, sondern die Person, Gesellschaft oder den ganzen Menschen erfasst. Die innere Spannung in dieser vormodernen Erscheinung der kritisch krisenhaften Situation besteht darin, dass hier gleichzeitig eine Zuschreibung von Handlungsbedarf, gar Handlungsdruck wie auch von Handlungsgrenzen erfolgt. Im Moment der Krise werden wir auf uns, vielleicht: unser Schicksal zurückgeworfen, was gleichzeitig eine Ent- und eine Ermächtigung beinhaltet. Die These, dass

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Heinrich Hertz hat bekanntlich den Kraftbegriff aus der Riege physikalischer Grundbegriffe verstoßen, um sich der falsch gestellten Frage nach dem Wesen der Kraft zu entledigen; Hertz, Heinrich: Die Prinzipien der Mechanik in neuem Zusammenhange dargestellt, Leipzig 1894. Diese Vorgehensweise soll hier nicht ernsthaft vorgeschlagen oder verfolgt werden. Ganz abwegig ist sie allerdings nicht angesichts einer besonderen Verlegenheit, die die Autoren dieses Bands immer wieder bezeugen: In Kombination mit dem Begriff „Infrastruktur“ ist unklar, was das Adjektiv „kritisch“ dem noch hinzuzufügen vermag. Wenn Infrastrukturen der Daseinsfürsorge dienen und per definitionem nur im Zusammenspiel verschiedener Teile den Funktionserhalt gewährleisten können, sind sie offenbar von vornherein und immer schon „kritisch“. Um diesem Problem zu entgehen, bedarf es keiner besseren Definition von „kritisch“, sondern einer Konzeption unkritischer Infrastrukturen, die etwa der Geselligkeit dienen und so den Kontrast zu „kritischen Infrastrukturen“ verdeutlichen.

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Krisen Akteure produzieren,4 erscheint nun als ein seinerseits erklärungsbedürftiges Phänomen: Wenn in der Krise noch jemand eingreift und etwas heroisch zum Besseren wendet, dann ist er eine Art Erlöser. – Spätestens hier sehen wir, dass uns dieses offenbar vormoderne Narrativ immer noch bewegt und in den Projektionen auf Ingenieure in der Gesellschaft nachwirkt: Angesichts des Klimawandels und dem Wunsch nach einem WeiterSo hoffen wir auf erlösend-technische Problemlösungen, siehe etwa Salpeter als kritischen Rohstoff, der durch das Haber-Bosch-Verfahren plötzlich schier unbegrenzt für Kunstdünger und Schießpulver zur Verfügung steht. Fritz Haber erscheint als Erlöser, der nicht die Schließung von Produktionsketten, sondern die Öffnung einer neuen Hoffnung auf Zukunft bewirkt, indem er das Problem der Welternährung gelöst hat und zugleich eine materielle Grundlage für den ersten Weltkrieg schafft.5 „Dieser Faktor ist kritisch für das Funktionieren einer Infrastruktur oder eines sozio-technischen Zusammenhangs.“ Diese Formulierung hat ihre Herkunft im 18. und 19. Jahrhundert, vielleicht in Kants Kritik der Urteilskraft. Es geht hierbei um die Auszeichnung einer mechanisch-organisch lebenswichtigen Eigenschaft („of vital importance“). Wo es um eine Komponente oder Funktion oder Bedingung geht, die für das Funktionieren eines Funktionszusammenhangs unabdingbar ist, wird Kritikalität nicht wie eben noch als Zustand verstanden, sondern als Eigenschaft oder mereologische Tatsache, die eindeutig entweder gegeben ist oder nicht. Heute würden wir Vorhandensein oder Abwesenheit von Kritikalität als „System“-Eigenschaft bezeichnen, was etwas anachronistisch darüber hinwegtäuscht, dass das Pa-

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Vgl. Meyer, Carla/Patzel-Mattern, Katja/Schenk, Gerrit Jasper: Krisengeschichte(n). „Krise“ als Leitbegriff und Erzählmuster in kulturwissenschaftlicher Perspektive – eine Einführung, in: Meyer, Carla/Patzel-Mattern, Katja/Schenk, Gerrit Jasper (Hrsg.): Krisengeschichte(n). „Krise“ als Leitbegriff und Erzählmuster in kulturwissenschaftlicher Perspektive, Stuttgart 2013, S. 9–23, hier: S. 10f.

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Vgl. hierzu Sebastian Haumanns Beitrag zu diesem Band, aber auch Soentgen, Jens: Volk ohne Stoff. Vom Mythos der Ressourcenknappheit, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 68, 2 (2014), S. 182–186; sowie Soentgen, Jens: Zur Eschatologie des CO2, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 68, 4 (2013), S. 366–374.

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radigma hierfür der Organismus ist und eine Art Naturteleologie, die sich der Ähnlichkeiten und Differenzen zwischen dem organischen Ganzen eines animalischen Körpers und technischen Apparaten wie insbesondere dem Uhrwerk bedient.6 Mereologisch geht es in diesem Sprachgebrauch um Teile und Ganzheiten, wobei diese Ganzheiten wiederum Teile innerhalb größerer Ganzheiten sein können, was besonders deutlich hervortritt in der Rede von Eigenschaften, die „kritisch für“ etwas sind: Per definitionem steht eine kritische Infrastruktur in kritischer Abhängigkeit zur funktionierenden Verfügbarkeit wesentlicher Komponenten und ist ihrerseits „of vital importance“ für ein gesellschaftliches Ganzes. Die innere Spannung dieser Vorstellung verdankt sich ihrem mechanisch-organischen Hintergrund, der nämlich einerseits die mechanische Idee einer kontingenten Zusammengesetztheit aufruft, wonach das Ganze aus diskretisierbaren, immer ersetzbaren und im Funktionsbeitrag verständlichen Teilen besteht, der aber andererseits eine organische oder holistische Idee eines notwendigen Zusammenhangs der Teile im Ganzen aufruft, somit ein geschlossenes Ganzes, das sich nicht wie eine mechanische Blackbox öffnen lässt. Während der holistisch interpretierte Zusammenschluss der Teile eine auf das Ganze gerichtete Sorge evoziert, dabei aber auch eine unbestimmte Hoffnung auf Selbstheilungskräfte zulässt, beinhaltet die mechanische Auffassung des Ganzen einen klaren Handlungsauftrag an die Ingenieure und Maschinenwärter des „Spaceship Earth“, den Erhalt der festen Verbindungen (rigid connections) innerhalb der aus Einzelteilen zusammengesetzten Funktionseinheit problemlösend sicherzustellen. „Wenn eine kritische Masse oder ein kritischer Parameterwert erreicht wird, findet eine grundlegende Zustandsveränderung statt.“ Mit dieser Formulierung lassen wir ein organisch oder mechanisch zusammengesetztes Funktionsganzes hinter uns, kommen Systembegriff, Systemverhalten und Systemdenken ins Spiel. Ihre Herkunft lässt sich in der Mitte des 20. Jahrhunderts verorten, nicht nur im Manhattan Projekt und der Berechnung der Kritikalität von Plutonium für die Explosion einer Atombombe. Die theoretische Begrifflichkeit steuerte vor allem die Kybernetik als erste Sys-

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Gar keinen Raum in dieser Auffassung hat ein Begriff von Kritikalität als relationale Eigenschaft. Vergleiche hierzu den Beitrag von Jens Ivo Engels zu diesem Band.

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temwissenschaft bei, später dann eine Chaos-, Komplexitäts- oder Katastrophentheorie der nicht-linearen Dynamik komplexer Systeme mit ihren tipping points, wonach kleinste Störungen katastrophale Wirkungen bewirken können und grundlegende Zustandsveränderungen hervorbringen. Wenn der tipping point des Systems so etwas wie die Krise im antiken Sinn darstellt, so löst sich diese Krise nicht schicksalhaft, sondern zugunsten eines thermodynamisch vorteilhafteren Zustands, der für die Nutznießer des Systems durchaus katastrophisch sein kann. Und wenn der katastrophische tipping point nun so etwas wie eine gefährliche Entfernung vom thermodynamischen Gleichgewicht darstellt, lässt sich Kritikalität nun als abgestuftes Maß, als ein Mehr oder Weniger darstellen.7 So heterogen diese Theoriebestandteile auch sein mögen, verbindet sich mit ihnen die Idee der Governance, also des Feedback-Regulators, somit des vorsorglichen Steuermanns und des Ingenieurs als Manager und Systemadministrator, der das Systemverhalten zumindest so lange modulieren kann, als es unterkritisch bleibt. Wer das „operating manual“ von „Spaceship Earth“ kennt und etwas von „planetary (oder infrastructural) boundaries“ weiß, wird das System aus den extremen Risikobereichen heraushalten wollen.8 Erst mit der systemtheoretischen Annahme von Sicherheitszonen und der Maßgabe von Vorsicht (precaution) kommen Vulnerabilität und Resilienz in den Blick. Angesichts des möglichen Missverhältnisses von kleiner Störung und katastrophaler Folge muss ein Sensorium für Verletzlichkeit entwickelt werden. Und angesichts der Tatsache, dass wir uns vielleicht schon in gefährlicher Nähe zu nicht voraussagbaren tipping points befinden, bedürfen unsere Regulierungsmechanismen, der Erhalt und die

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Die historische Aufarbeitung der Kybernetik ist kaum mehr überschaubar. Als philosophische Einführung bietet sich insbesondere Dupuy, Jean-Pierre: On the Origins of Cognitive Science. The Mechanization of the Mind, Cambridge 2009. Wie die schicksalhaft den ganzen Menschen erfassende Krise und die gegebene oder nicht gegebene Eigenschaft der Funktionsabhängigkeit, stellt sich dieses Mehr oder Weniger zunächst nicht relational dar.

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Eine Neuauflage von Buckminster Fullers Hinweis auf die Steuerung des Spaceship Earth bieten Steffen, Will/Richardson, Katherine/Rockström Johan et al.: Planetary boundaries: Guiding human development on a changing planet, Science 347, 6223 (2015); vergleiche Höhler, Sabine: Spaceship Earth in the Environmental Age, 1960–1990, Abingdon 2014.

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Erhöhung von Resilienz höchster Aufmerksamkeit. Dieses modulierende Steuern und Regeln geht nicht von den festen Verkopplungen eines über funktionale Abhängigkeiten definierten mechanisch-organischen Ganzen aus, sondern von den Dynamiken auch lose gekoppelter soziotechnischer Teilsysteme, die in ihrem prekären Verhältnis zueinander wichtig werden. Dies beinhaltet auch eine Verschiebung von einem funktionalen Ganzen, das als verstehbares Objekt von Wissen und technischer Kontrolle dem menschlichen Zugriff gegenständlich gegenüber steht, hin zu eigenlogischen Systemdynamiken, denen ein Akteursstatus zugesprochen wird, mit denen Ingenieure und Administratoren also kooperieren müssen, deren Verhaltensweisen sie auch nur im Modus der Kooperation mit den Teilsystemen und ihrer Interaktion verstehen lernen.9 Die innere Spannung der systemtheoretischen Vorstellung liegt darin, dass wir betreffs kritischer Infrastrukturen immer mit dem Feuer spielen. Ohne zu wissen, wie groß die Gefahr wirklich ist und ab wann wir nicht mehr vorsorgend handeln können, sind wir permanent mit dem Problem des kairos, bzw. des richtigen Augenblicks für ein vielleicht noch mögliches Gegensteuern konfrontiert. Umgekehrt leistet dieses einer leichtfertigen Einstellung Vorschub, insbesondere wenn wir kritische Grenzen anscheinend bereits überschritten haben und die Katastrophe noch ausbleibt und Selbstheilungskräfte sich als offenbar hinreichend erweisen.

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Siehe hierzu beispielsweise Charles Perrows „normal accidents“ und die schon mit der Kybernetik einsetzende „human factors“-Forschung, die wesentlich darin besteht, die Menschen so weitgehend wie möglich aus den Systemen herauszurechnen, bzw. als über Routinen, Protokolle oder Notfallpläne zu fixierende Systemkomponenten berechenbar zu machen und als Fehlerquellen zum Verschwinden bringen – siehe etwa Perrow, Charles: Normal Accidents. Living with High-Risk Technologies, Princeton 1999. Die Verschiebung angesichts von Wissensgrenzen und Grenzen der technischen Kontrollierbarkeit zu einem regulatorischen Modus der permanenten Aufmerksamkeit, habe ich zuletzt in Bezug auf den regulatorischen Diskurs zur nuklearen Bedrohung thematisiert: Nordmann, Alfred: Four Horsemen and a Rotten Apple. On the Technological Rationality of Nuclear Security, in: Jahrbuch Technikphilosophie 2018. Arbeit und Spiel 4 (2018), S. 283–297.

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„Diese Rohstoffe sind kritisch für die Realisierung unserer Zukunftskonzepte, beispielsweise der Energiewende.“ Mit dieser Formulierung kommen wir in der Gegenwart an, mit ihrer Wissenschafts- und Technikforschung (STS), mit einer Philosophie der Technowissenschaften und einem Konstruktivismus, der kein Sozialkonstruktivismus ist. Es geht hier nicht vor allem darum, was Kritikalität ist, sondern was der Begriff der Kritikalität in seinen unterschiedlichen Bestimmungen zu leisten vermag. Kritikalität wird dabei durchaus als eine objektive Eigenschaft aufgefasst, nach der Systeme oder Infrastrukturen klassifiziert werden können, dies aber nicht im Sinne einer Natureigenschaft, einer property, sondern im Sinne einer auf Handlungsoptionen relationierten Eigenschaft, einer affordance, die Handlungsdruck oder Forschungsförderung gewährleistet.10 Hiernach wird „Kritikalität“ zwar zugeschrieben und ist doch keine bloße Zuschreibung, sondern die Einrichtung oder Institution einer neuen Art von Entität, die weder der Natur noch der Kultur angehört.11 „Kritische Infrastruktur“ steht somit in einer Reihe mit Begriffen wie „Material“, „Konfliktmineralien“, „strategic metals“ oder „kritische Rohstoffe“, sie bezeichnen keine „matters of fact“ sondern „matters of concern“.12

10 Hier also begegnet dieses Resümee dem einleitenden Beitrag von Jens Ivo Engels, der jedoch einen relationalen Begriff vorzufinden meint, während er ihn allererst postuliert. 11 Der „ontologische Status“ dieser matters of concern ist vornehmlich von Bruno Latour herausgearbeitet worden, insbesondere in Latour, Bruno: Pandora’s Hope. Essays on the Reality of Science Studies, Boston 1999 – dort etwa in Kapitel 5 mit dem Titel „The Historicity of Things: Where Were Microbes before Pasteur?“. 12 Markus Lederer und Judith Kreuter arbeiten an der TU Darmstadt mit dem Begriff der criticalization in Analogie zur „Kopenhagener“ securitization-Theorie, die davon ausgeht, dass eine Frage der „national security“ (im Unterschied zur technischen safety, also z.B. der Betriebssicherheit) performativ sprachlich ausgezeichnet werden muss. Dieser Ansatz kann analytisch aufgefasst werden (wie kommt es zu security-Fragen, was bedeuten sie?), aber auch eine normative Wendung erhalten (wie werden Fragen von security oder criticality richtigerweise ausgezeichnet, also so, dass sie auf wichtigen Handlungsbedarf und Lösungsoptionen verweisen?). Vgl. Buzan, Barry/Wæver, Ole/de Wilde, Jaap: Security. A New Framework for Analysis, Boulder 1998.

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Wir können und müssen nun also fragen, was eine Kritikalitätszuschreibung, bzw. Kritikalität als affordance erfolgreich macht. Ist es ihre Rolle schon für die Aufrechterhaltung von Produktionsketten, also im Sinne von funktional unabdingbaren Voraussetzungen, oder ist es vielmehr ihre Rolle für die Realisierung von „grünen“ oder „nachhaltigen“ Produktionsketten? Hieran knüpft sich die analytische Frage des Historikers an: Wie werden Produktionsketten konzipiert, warum gerade so, dass dieser oder jener Rohstoff unersetzbar ist? Warum also verengen sich Produktionsketten so, wie kommt es zur Schließung?13 Dagegen kann die Frage der Akteure, einschließlich der Materialwissenschaft eine normative Wendung nehmen: Wie sollte die Kritikalität von Rohstoffen verstanden und dargestellt werden, damit sie den notwendigen Handlungsdruck, bzw. erstrebenswerte Handlungen erzeugt? Wie kommen wir beispielsweise bezüglich der kritischen Rohstoffe über die Frage bloßer Versorgungssicherheit hinaus? Wenn Rohstoffe „kritisch“ sind, nur weil es mögliche Versorgungsengpässe gibt, hören sie auch wieder auf, „kritisch“ zu sein, sobald sich Märkte entspannen und Preise sinken. Vielleicht gibt es also richtigere, treffendere, angemessenere Weisen, wie die Kritikalität von Rohstoffen bezeichnet werden müsste – beispielsweise in Bezug auf Umweltbelastung oder Arbeitssicherheit. Mit der Frage „Was macht die Zuschreibung von Kritikalität als affordance auf angemessene Weise handlungsorientierend?“ wird Kritikalität genutzt, um eine Öffnung für alternative Designs oder für Materialsubstitution zu bewirken. Die innere Spannung dieses analytisch-normativen Ansatzes besteht nun darin, dass wir uns ganz und gar auf wissenschaftlich-technische Modellierungskapazitäten verlassen müssen, wenn es darum geht, kritische Engpässe und Probleme auf dem Weg zu einer grünen Technologie oder nachhaltigen Wirtschaft zu identifizieren und einer Vielzahl von Lösungsansätzen zuzuführen. Mit dem Mut der Verzweiflung lassen wir uns auf technisch-wissenschaftliche Angebote ein, die Probleme so zu definieren, dass sie mit technischen Mitteln vielleicht lösbar sind.14 Dabei dürfen wir beeindruckt sein von der Zunahme mathematischer Modellierungsmöglich-

13 Vgl. wiederum den Beitrag von Sebastian Haumann in diesem Band. 14 Vgl. hierzu das Problem der „organizational frames“, wie es von Lynn Eden in Whole World on Fire. Organizations, Knowledge, and Nuclear Weapons Devastation (Ithaca 2004) thematisiert wird.

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| Alfred Nordmann

keiten, und müssen dennoch immer befürchten, dass wir uns im Vertrauen darauf etwas vormachen.

LITERATUR Bachelard, Gaston: Philosophie des Nein, Frankfurt am Main 1980. Buzan, Barry/Wæver, Ole/de Wilde, Jaap: Security. A New Framework for Analysis, Boulder 1998. Dupuy, Jean-Pierre: On the Origins of Cognitive Science. The Mechanization of the Mind, Cambridge 2009. Eden, Lynn: Whole World on Fire. Organizations, Knowledge, and Nuclear Weapons Devastation, Ithaca 2004. Hertz, Heinrich: Die Prinzipien der Mechanik in neuem Zusammenhange dargestellt, Leipzig 1894. Höhler, Sabine: Spaceship Earth in the Environmental Age, 1960–1990, Abingdon 2014. Latour, Bruno: Pandora’s Hope. Essays on the Reality of Science Studies, Boston 1999. Meyer, Carla/Patzel-Mattern, Katja/Schenk, Gerrit Jasper: Krisengeschichte(n). „Krise“ als Leitbegriff und Erzählmuster in kulturwissenschaftlicher Perspektive – eine Einführung, in: Meyer, Carla/Patzel-Mattern, Katja/Schenk, Gerrit Jasper: Krisengeschichte(n). „Krise“ als Leitbegriff und Erzählmuster in kulturwissenschaftlicher Perspektive, Stuttgart 2013, S. 9–23. Nordmann, Alfred: Four Horsemen and a Rotten Apple. On the Technological Rationality of Nuclear Security, in: Jahrbuch Technikphilosophie 2018. Arbeit und Spiel 4 (2018), S. 283–297. Perrow, Charles: Normal Accidents. Living with High-Risk Technologies, Princeton 1999. Soentgen, Jens: Volk ohne Stoff. Vom Mythos der Ressourcenknappheit, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 68, 2 (2014), S. 182–186. Soentgen, Jens: Zur Eschatologie des CO2, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 68, 4 (2013), S. 366–374.

Produktive Spannungen | 225

Steffen, Will/Richardson, Katherine/Rockström Johan et al.: Planetary boundaries: Guiding human development on a changing planet, Science 347, 6223 (2015).

Autorinnen und Autoren

Engels, Jens Ivo, ist seit 2008 Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Technischen Universität Darmstadt. Seit 2016 ist er Sprecher des Graduiertenkollegs KRITIS (‚Kritische Infrastrukturen: Konstruktion, Funktionskrisen und Schutz in Städten‘). Er wurde mit einer Arbeit über die öffentliche Wahrnehmung des französischen Königtums im 18. Jahrhundert 1998 in Freiburg promoviert und habilitierte sich 2004 an der gleichen Universität mit einer Arbeit über die westdeutsche Naturschutz- und Umweltbewegung. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählt neben der Geschichte von Infrastrukturen die Geschichte der politischen Korruption seit der Frühen Neuzeit. Eifert, Stephanie, Doktorandin im Arbeitsgebiet der Mittelalterlichen Geschichte im Graduiertenkolleg KRITIS beschäftigt sich in ihrer Dissertation mit der Kritikalitätszumessung als analytisches Werkzeug einer mittelalterlichen ISG. Dies wird an einer Fallstudie zu den spätmittelalterlichen Städten an Rhein und Main erprobt. Stephanie Eifert studierte Geschichte an der Johannes-Gutenberg Universität in Mainz mit dem Beifach Archäologie im Bachelor und dem Schwerpunk Mittelalter im Master. Fekete, Alexander, ist seit 2012 Professor für Risiko- und Krisenmanagement am Institut für Rettungsingenieurwesen und Gefahrenabwehr der Technischen Hochschule Köln. Zuvor war er Referent am Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe in Bonn, im Bereich Kritische Infrastrukturen. Er promovierte an der United Nations University – Institute for Environment and Human Security (UNU-EHS) in Kooperation mit der Universität Bonn zum Thema Soziale Verwundbarkeit gegenüber Hoch-

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| Was heißt Kritikalität?

wasser. 2018 habilitierte er sich an der Universität Würzburg zum Thema „Urban Disaster Resilience and Critical Infrastructure“. Folkers, Andreas, ist zurzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Goethe-Universität Frankfurt, an der er im Frühjahr 2017 mit seiner Dissertation „Das Sicherheitsdispositiv der Resilienz. Katastrophische Risiken und die Biopolitik vitaler Systeme“ (erscheint 2018 unter diesem Titel im Campus-Verlag) promoviert hat. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen politische Soziologie der Sicherheit, Biopolitik/Technopolitik/Kosmopolitik sowie der Wissenschafts- und Technikforschung. Haumann, Sebastian, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet Neuere Geschichte mit Schwerpunkt Stadt- und Umweltgeschichte der TU Darmstadt. 2017 habilitierte er sich an der TU Darmstadt mit einer Arbeit zur Nutzung von Kalkstein als Flussmittel während der Industrialisierung. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Umwelt- und Technikgeschichte, sowie in der modernen Stadtgeschichte. Münzberg, Thomas, ist seit 2017 Projektleiter in der Pro-Science Gesellschaft für wissenschaftliche und technische Dienstleistungen mbH und weiterhin als Lehrbeauftragter für Risikoanalysen und Katastrophenvorsorge tätig. Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich Schutz Kritischer Infrastrukturen und der Entwicklung von Risiko-, Vulnerabilitäts- und Resilienzkonzepten für die Zwecke der Entscheidungsfindung im Notfall-, Krisen- und betrieblichen Kontinuitätsmanagements sowie im Bevölkerungsschutz. Nordmann, Alfred, lehrt seit 2002 Philosophie und Geschichte der Wissenschaften und der Technowissenschaften an der Technischen Universität Darmstadt. An der Schnittstelle von Wissenschafts- und Technikphilosophie untersucht er einerseits die Spielarten objektiver Erkenntnis, andererseits erkenntnistheoretische, metaphysische, ästhetische Aspekte technowissenschaftlicher Forschung. Ottenburger, Sadeeb Simon, promovierte an der Karl-Ruprechts-Universität Heidelberg und am Exzellenzcluster für Mathematik an der Rheini-

Autorinnen und Autoren | 229

schen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn über topologische Fragestellungen. Seit 2016 arbeitet er am Institut für Kern und Energietechnik (IKET) und am Center for Disaster Management and Risk Reduction Technology (CEDIM) am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) im Bereich des Smart Resilience Engineerings. Seine Forschung befasst sich u. A. mit der Modellierung der Resilienz-Entwicklung hinsichtlich des Einsatzes neuer Technologien und ihrer Auswirkungen auf den Versorgungsgrad. Hierbei stehen die Stromversorgung und Verkehrsinfrastrukturen im besonderen Fokus. Schenk, Gerrit Jasper, seit 2009 Professor für Geschichte des Mittelalters an der Technischen Universität Darmstadt. 2001 Promotion in Stuttgart mit einer Arbeit über spätmittelalterliches Zeremoniell, wissenschaftlicher Mitarbeiter und Assistent an den Universitäten Heidelberg, Essen und Stuttgart, Stipendiat der Deutschen Historischen Institute Paris und Rom, Nachwuchsgruppenleiter an der Universität Heidelberg. Forschungsschwerpunkte: Rituale, historische Katastrophen, Stadt-, Begriffs-, Umwelt- und Infrastrukturgeschichte; historische Ausstellungen, eHumanities.

Soziologie Sighard Neckel, Natalia Besedovsky, Moritz Boddenberg, Martina Hasenfratz, Sarah Miriam Pritz, Timo Wiegand

Die Gesellschaft der Nachhaltigkeit Umrisse eines Forschungsprogramms Januar 2018, 150 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-4194-3 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-4194-7 EPUB: ISBN 978-3-7328-4194-3

Sabine Hark, Paula-Irene Villa

Unterscheiden und herrschen Ein Essay zu den ambivalenten Verflechtungen von Rassismus, Sexismus und Feminismus in der Gegenwart 2017, 176 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3653-6 E-Book PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3653-0 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3653-6

Anna Henkel (Hg.)

10 Minuten Soziologie: Materialität Juni 2018, 122 S., kart. 15,99 € (DE), 978-3-8376-4073-1 E-Book: 13,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4073-5

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Soziologie Robert Seyfert, Jonathan Roberge (Hg.)

Algorithmuskulturen Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit 2017, 242 S., kart., Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3800-4 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-3800-8 EPUB: ISBN 978-3-7328-3800-4

Andreas Reckwitz

Kreativität und soziale Praxis Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie 2016, 314 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3345-0 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3345-4

Ilker Ataç, Gerda Heck, Sabine Hess, Zeynep Kasli, Philipp Ratfisch, Cavidan Soykan, Bediz Yilmaz (eds.)

movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies Vol. 3, Issue 2/2017: Turkey’s Changing Migration Regime and its Global and Regional Dynamics 2017, 230 p., pb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3719-9

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