Was Amerika ausmacht: Multidisziplinäre Perspektiven 3515093966, 9783515093965

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German Pages 231 [233] Year 2009

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Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT
WAS AMERIKA AUSMACHT. MULTIDISZIPLINÄRE PERSPEKTIVEN
DAS AUSERWÄHLTE VOLK. GESCHICHTE UND NATIONALE IDENTITÄT DER USA
DIE KLASSISCHE ANTIKE IN AMERIKA
EXZEPTIONALISMUS UND MISSION. PRIVILEG ODER GESTEIGERTE VERANTWORTUNG FÜR AMERIKAS ROLLE IN DER WELTPOLITIK?
VOM SCHMELZTIEGEL ZUR SALATSCHÜSSEL: MULTIKULTURALISMUS UND DER AMERIKANISCHE TRAUM IM SPIEGEL DER LITERATUR
„THE AMERICAN DREAM“? ETHNISCHE MINORITÄTEN UND IHRE AUSBILDUNGS- UND ARBEITSMARKTSITUATION
SCHUTZ ODER VERBOT VON HASSREDE? EIN STREIT ZWISCHEN AMERIKA UND DEUTSCHLAND
STAAT UND MARKT – DIE VEREINIGTEN STAATEN VON AMERIKA UND EUROPA IM VERGLEICH
„THE FIRST OF OUR LIBERTIES … A LUSTRE TO OUR COUNTRY“. RELIGIONSFREIHEIT IN AMERIKA UND EUROPA – EIN VERGLEICH
PRAGMATISCHE WAHRHEIT: WAS UNS IM LEBEN WEITERBRINGT
WAS IST ‚AMERIKANISCHE‘ MUSIK? IDENTITÄTSSUCHE UND FREMDWAHRNEHMUNGEN
GANZ AMERIKA UNTER DEM STERNENBANNER? DAS PROJEKT EINER GESAMTAMERIKANISCHEN FREIHANDELSZONE AUS LATEINAMERIKANISCHER PERSPEKTIVE
EUROPA UND DIE USA. WOZU BRAUCHEN WIR DIE AMERIKANER (NOCH)?
AUTORINNEN, AUTOREN UND HERAUSGEBER
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Was Amerika ausmacht: Multidisziplinäre Perspektiven
 3515093966, 9783515093965

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Philipp Gassert / Detlef Junker / Wilfried Mausbach / Martin Thunert (Hg.) Was Amerika ausmacht

Philipp Gassert / Detlef Junker / Wilfried Mausbach / Martin Thunert (Hg.)

Was Amerika ausmacht Multidisziplinäre Perspektiven

Franz Steiner Verlag Stuttgart 2009

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-09396-5

Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © 2009 Franz Steiner Verlag, Stuttgart Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Printed in Germany

INHALTSVERZEICHNIS Vorwort ..................................................................................................................7 Philipp Gassert Was Amerika ausmacht. Multidiziplinäre Perspektiven ...................................9 Detlef Junker Das auserwählte Volk. Geschichte und nationale Identität der USA..............19 Alexander Demandt Die klassische Antike in Amerika...................................................................33 Knud Krakau Exzeptionalismus und Mission. Privileg oder gesteigerte Verantwortung für Amerikas Rolle in der Weltpolitik? ................47 Dorothea Fischer-Hornung und Dieter Schulz Vom Schmelztiegel zur Salatschüssel: Multikulturalismus und der Amerikanische Traum im Spiegel der Literatur ................................73 Werner Gamerith „The American Dream?“ Ethnische Minoritäten und ihre Ausbildungs- und Arbeitsmarktsituation ..........................................95 Winfried Brugger Schutz oder Verbot von Hassrede? Ein Streit zwischen Amerika und Deutschland ............................................ 115 Manfred G. Schmidt Staat und Markt – die Vereinigten Staaten von Amerika und Europa im Vergleich ..............................................................................129 Gerhard Besier „The First of Our Liberties… A Lustre to Our Country.“ Religionsfreiheit in Amerika und Europa – ein Vergleich ............................141 Andreas Kemmerling Pragmatische Wahrheit: Was uns im Leben weiter bringt ............................161 Thomas Schmidt-Beste Was ist ‚amerikanische‘ Musik? Identitätssuche und Fremdwahrnehmungen ..........................................................................177 Hartmut Sangmeister Ganz Amerika unter dem Sternenbanner? Das Projekt einer gesamtamerikanischen Freihandelszone aus lateinamerikanischer Perspektive ...........................................................195

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Inhaltsverzeichnis

Beate Neuss Europa und die USA. Wozu brauchen wir die Amerikaner (noch)?.............209 Autorinnen, Autoren und Herausgeber ..............................................................231

VORWORT Die Frage, was Amerika ausmacht, hat europäische Beobachter seit je her fasziniert. Während die einen die Unterschiede betonten, einen amerikanischen Exzeptionalismus oder deutsche und europäische Sonderwege sahen, glaubten andere, dass Amerika und Europa dem gleichen Modernisierungspfad folgen würden. Letztere Auffassung gewann in der Hochmoderne von den 1890er bis in die 1960er Jahre an Gewicht und war besonders ausgeprägt in den ersten Jahrzehnten nach 1945, als die USA auf dem Höhepunkt ihres weltweiten Einflusses standen. In jüngster Zeit hingegen, vor allem seit dem 11. September 2001, betonen Europäer und Amerikaner wieder stärker die transatlantischen Unterschiede. Der vorliegende Sammelband enthält Vorträge, die – mit Ausnahme des Einführungsbeitrags von Philipp Gassert – im Rahmen der Vorlesungsreihe „Typisch Amerikanisch“ zwischen 2003 und 2007 am Heidelberg Center for American Studies (HCA) der Universität Heidelberg gehalten wurden. Das HCA möchte damit der interessierten Öffentlichkeit, den Studierenden innerhalb und außerhalb Heidelbergs, sowie den Kolleginnen und Kollegen in den Amerikastudien einen Einblick in seine Arbeit geben. Wie die Vorlesungsreihe verfolgt der Band ein doppeltes Ziel: Erstens will er zur Versachlichung der Debatte über die Vereinigten Staaten von Amerika beitragen, indem er ausgewiesene Experten zu Wort kommen lässt, die das europäisch-amerikanische Spiel wechselseitiger Beobachtungen und Konkurrenzen historisch kontextualisieren. Sie zeigen, dass der verallgemeinernde europäische Amerikadiskurs mit mangelndem Verständnis für inneramerikanische Ungleichzeitigkeiten und Vielfältigkeiten einhergeht. Zugleich werden im Rahmen eines Gesellschaftsvergleiches auf empirischer Basis Unterschiede konkret benannt, die sich z. B. bei einer Analyse der sozialstaatlichen Systeme und der Rechtskulturen ergeben. Schließlich gehen mehrere Beiträge explizit oder implizit exzeptionalistischen Wahrnehmungsmustern nach, auf denen amerikanische Selbstdeutungen basieren. Zweitens möchte dieser Sammelband am Beispiel der Amerikastudien eine notwendige Diskussion über Chancen und Grenzen inter- und multidisziplinärer Zusammenarbeit in den Geisteswissenschaften eröffnen. Ist Interdisziplinarität bei Anträgen für Drittmittelprojekte und Forschungsgelder in Zeiten der Exzellenzinitiativen de rigeur, so wird hier für eine Kooperation historisch gewachsener, ihre „disziplinäre“ Eigenständigkeit wahrender Fächer plädiert. Ein multidisziplinärer Ansatz hält die spezifische Methodik intakt, weil gerade über die unterschiedlichen Herangehensweisen im Dialog der Fächer und Ansätze sich die für innovative Forschung fruchtbarsten Fragestellungen ergeben. Die dynamische Entwicklung des HCA seit seiner Gründung im Jahr 2004 mit Umzügen, personellen Veränderungen, neuen Studiengängen und einem dicht gedrängten Ereigniskalender hat die Fertigstellung dieses Bandes leider immer wieder verzögert und die Geduld unserer Autorinnen und Autoren mitunter auf eine harte

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Vorwort

Probe gestellt. Umso mehr freuen wir uns über das fertige Produkt. Der besondere Dank der Herausgeber gebührt den HCA-Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Jens Hofmann M.A., Dr. Holger Klitzing und Dr. Katja Nagel, ohne deren tatkräftige Unterstützung und sorgfältige Redaktion der Band nicht hätte erscheinen können. Heidelberg, im April 2009

Philipp Gassert, Detlef Junker, Wilfried Mausbach und Martin Thunert

WAS AMERIKA AUSMACHT. MULTIDISZIPLINÄRE PERSPEKTIVEN Philipp Gassert Der Gegenstand bedarf eigentlich keiner Begründung: Als führende Weltmacht und eine von zwei Supermächten haben die Vereinigten Staaten von Amerika – diese sind hier durchgängig mit „Amerika“ gemeint – den Verlauf der Geschichte des 20. Jahrhunderts und damit die Geschichte Deutschlands und Europas entscheidend geprägt. Zugleich waren die USA aus europäischer Sicht in den letzten 100 Jahren stets mehr als eine bedeutende militärische und politische Macht: Als paradigmatische Gesellschaft der Moderne standen sie seit dem frühen 20. Jahrhundert im Fokus transatlantischer und europäischer Selbstverständigung.1 Lange bevor amerikanische Politiker und Soldaten das Schicksal Europas mit zu lenken begannen, war Amerika ein Faktor der europäischen Kultur. Darin steckt eine Ironie: Denn Amerika war anfangs eine Ausgründung, oder wie es ein bedeutender Historiker einmal formulierte: ein „Fragment Europas“; und es hat bis heute viel mit der einstigen europäischen Mutterkultur gemeinsam. Indes unterschieden sich Neue und Alte Welt von Anfang an. Der Prozess der Abnabelung begann exakt im Augenblick der Gründung der ersten Kolonien. Noch für Generationen sahen sich europäische Siedler in Nordamerika als Engländer, Holländer, Schweden, Deutsche, Schotten, Iren und Franzosen. Doch entfernte sich das koloniale Leben rasch von europäischen Vorbildern. Amerika kannte keinen Erbadel, es war ländlich, wies eine hohe Bevölkerungs- und Siedlungsdynamik auf. Es machten sich afrikanische und indianische Einflüsse bemerkbar, wie umgekehrt die Konfrontation mit diesen „rassisch“ Anderen die europäischen Siedler einer gemeinsamen Identität bewusst werden ließ.2 Auch war die religiöse und ethnische Vielfalt ohne Beispiel; die räumlichen und natürlichen Gegebenheiten brachten andere Lebensverhältnisse und Kommunikationsweisen hervor. Eine sukzessive Verselbständigung der amerikanischen Kultur gegenüber Europa war das Signum der ersten Jahrhunderte der USA bzw. ihrer kolonialen Vorgänger.3 Insofern hat die Frage, was Amerika ausmacht, europäische Beobachter seit je her fasziniert. Der französische Landedelmann Hector St. John de Crèvecoeur nannte 1782 „den Amerikaner“ einen „neuen Menschen“, der alte Bindungen und 1 2 3

Vgl. Rob Kroes, French Views of American Modernity: From Text to Subtext, in: Michael Kazin u. Joseph A. McCartin (Hrsg.), Americanism: New Perspectives on the History of an Ideal, Chapel Hill 2006, S. 221–241. Jon Butler, Becoming America. The Revolution before 1776, Cambridge, Mass. 2000; Peter Silver, Our Savage Neighbors. How Indian War Transformed Early America, New York 2007. Winfried Fluck, Kultur, in: Peter Lösche (Hrsg.) unter Mitarbeit von Anja Ostermann, Länderbericht USA. Geschichte – Politik – Wirtschaft – Gesellschaft, Kultur, 5. aktualisierte und neu bearbeitete Aufl. Bonn 2008, S. 712–812.

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Vorurteile hinter sich lasse.4 Mit der Pose des Provinzlers kokettierend – eine im 18. Jahrhundert beliebte Form der Selbststilisierung – begründete er die Tradition des Exzeptionalismus (d. h. der Andersartigkeit) Amerikas.5 Diese hat sich seither im amerikanischen und europäischen Selbstverständnis tief eingewurzelt. Crèvecoeur stellte europäische und amerikanische Fragen: Was passierte, wenn europäische Immigranten in Nordamerika siedelten? Wie wirkten sich religiöse und ethnische Vielfalt aus, wie die natürlichen Bedingungen, wie eine Regierung von Volkes und nicht von Gottes Gnaden? Auch die Enttäuschungen, die der aufgrund der revolutionären Wirren in den 1770er Jahren von seiner Hofstatt im Staat New York vertriebene Crèvecoeur erlebte, sollten im europäischen Amerikabild noch Karriere machen. Für Crèvecoeur war Amerika „anders“ (exzeptionell). Es hob sich in seiner sozialen Wirklichkeit klar vom alten Europa ab.6 Ein zweiter französischer Aristokrat, Alexis de Tocqueville, machte in den 1830er Jahren eine andere Rechnung auf. Für ihn war Amerika der Vorläufer, dem andere Länder folgen würden. Tocqueville sah im „amerikanischen Experiment“ ein Modell – womit er einen seit den puritanischen Neugründungen in Massachusetts eingeschliffenen Topos übernahm und die amerikanische Erfahrung tendenziell entgrenzte und globalisierte.7 Selbstverständlich war sich Tocqueville der enormen Distanz bewusst, die zwischen dem Europa des Bürgerkönigs Louis Philippe und dem Amerika Andrew Jacksons lag. Auch er betonte das Neuartige der demokratischen und marktwirtschaftlichen Doppelrevolutionen, die im frühen 19. Jahrhundert Amerika erfassten. Indes nahm diese gesellschaftliche Umwälzung nur eine generelle Entwicklung vorweg: „Die gleiche Demokratie, die über die amerikanische Gesellschaft herrscht, [schien mir] in Europa sich rasch der Herrschaft zu nähern.“8 Dieses, von Tocqueville erstmals voll ausformulierte Konvergenz-Modell machte vor allem im 20. Jahrhundert Karriere, als Amerikas politischer, wirtschaftlicher und kultureller Einfluss auf dem Höhepunkt stand. Als das westliche Europa sich nach 1945 unter die Fittiche der amerikanischen Hegemonialmacht begab, hoben europäische und amerikanische Beobachter gern auf innerwestliche Angleichungstendenzen in der Moderne ab.9

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J. Hector St. John de Crèvecoeur, Letters from an American Farmer and Sketches of Eighteenth Century America (hrsg. von Albert E. Stone), London 1986, S. 69–70. Die Exzeptionalismus-Debatte füllt ganze Bibliotheken, jüngst aus deutscher Perspektive: Elisabeth Glaser u. Hermann Wellenreuther (Hrsg.), Bridging the Atlantic: The Question of American Exceptionalism in Perspective, New York 2002. Zu Alterität im deutschen Amerikadiskurs des späten 18. Jahrhunderts Walter Schmitz, Nordamerikanisch-deutsche Literaturbeziehungen, in: Walter Killy (Hrsg.), Literaturlexikon, Bd. 14: Begriffe, Realien, Methoden, Gütersloh 1993, S. 162–163; Volker Depkat, Amerikabilder in politischen Diskursen: Deutsche Zeitschriften von 1789 bis 1830, Stuttgart 1998. Vgl. Detlef Junker, Power and Mission: Was Amerika antreibt, Freiburg 2003. Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika (hrsg. von Jacob P. Mayer), Stuttgart 1985, S. 15. Alexander Stephan, A Special German Case of Cultural Americanization, in: ders. (Hrsg.), The Americanization of Europe: Culture, Diplomacy, and Anti-Americanism after 1945, New York 2006, S. 69–88.

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In diesem Sinne waren seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert (elitäre) Amerikastudien und (populäre) Amerikakritik oft Futurologie. Man diskutierte am amerikanischen Beispiel über die liberale Moderne, deren Eckwerte es in Europa noch zu realisieren galt.10 Oder deren Auswüchse man von Europa fern halten wollte.11 In der Hochmoderne von etwa 1890 bis 1960 betonten – im Guten wie im Schlechten – europäische Beobachter den modellhaften Charakter der USA. Amerika-Wahrnehmungen folgten mehrheitlich dem Tocquevilleschen Konvergenzmodell, vor allem in den beiden Jahrzehnten nach 1945 als Modernisierung oft synonym mit Anglo-Amerikanisierung verwendet wurde.12 Erst seit den 1970er Jahren (zum Teil ausgelöst durch Vietnam, Watergate, die Reaganesquen Rekonstruktionsversuche amerikanischer Stärke sowie die neokonservative und neofundamentalistische Wende von Politik und Gesellschaft der USA) haben divergente Ansätze in Europa als Deutungsmodelle wieder Hochkonjunktur. Seit dem 11. September wurde es Mode, Unterschiede zwischen Europa und Amerika hervorzuheben.13 Auch in den USA hat sich in den vergangenen Jahrzehnten ein neuer Exzeptionalismus stärker bemerkbar gemacht.14 Darauf macht in den folgenden Kapiteln insbesondere Knud Krakau aufmerksam. In der spät- oder postmodernen Konstellation, die sich seit den 1970er Jahren in den westlichen Gesellschaften durchzusetzen begann – und für die Amerika sich einmal mehr als Vorreiter erweisen könnte15 – scheinen in dem atlantischen Spiel des wechselseitigen Vergleichens wenigstens in der öffentlichen Wahrnehmung die Unterschiede zu dominieren. Amerikanische Religionssoziologen wie Peter L. Berger heben etwa auf die europäische Säkulari10 Ernst Fraenkel, Amerika im Spiegel des deutschen politischen Denkens, Köln, Opladen 1959; Frank Trommler, The Rise and Fall of Americanism in Germany, in: ders. / Joseph McVeigh (Hrsg.), America and the Germans. An Assessment of a Three-Hundred-Year History, Bd. 2, Philadelphia 1985, S. 333–342; Detlef J. K. Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt a. M. 1987, S. 178 ff. 11 Berndt Ostendorf, Rechter Antiamerikanismus? Kulturalistische Ausdeutungen der Globalisierungsangst, in: Frank Trommler u. Elliott Shore (Hrsg.), Deutsch-amerikanische Begegnungen. Konflikt und Kooperation im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2001, S. 320–341, hier S. 325; Philipp Gassert, What then is the Anti-American, this new Man? On Power and Culture in the Anti-American Century, in: Britta Waldschmidt-Nelson, Markus Hünemörder u. Meike Zwingenberger (Hrsg.), America and Europe: Cultures in Translation, Heidelberg 2006, S. 119–130; Viktor Otto, Deutsche Amerika-Bilder: Zu den Intellektuellen-Diskursen um die Moderne 1900–1950, Stuttgart 2006. 12 Vgl. Dean C. Tipps, Modernization Theory and the Comparative Study of Societies, in: Comparative Studies in Society and History 15, 1973, S. 199–226; Hans-Ulrich Wehler, Modernisierungstheorie und Geschichte, Göttingen 1975, S. 11. 13 Jürgen Habermas, Der gespaltene Westen (Kleine Politische Schriften, X), Frankfurt a. M. 2004; Andrei S. Markovits, Amerika, dich hasst sich’s besser. Antiamerikanismus und Antisemitismus in Europa, Hamburg 2004. 14 Amy Kaplan, The Tenacious Grasp of American Exceptionalism, in: Comparative American Studies 2, 2004, S. 153–159. 15 Umberto Eco, Travels in Hyperreality, San Diego 1986; Jean Baudrillard, Amérique, Paris 1987; Rob Kroes, American Culture in European Metaphors. The West as Will and Conception, in: ders., If You’ve Seen One, You’ve Seen the Mall. Europeans and American Mass Culture, Urbana 1996, S. 1–42, hier S. 40 f. Zur Postmodernisierung vgl. Philipp Gassert, Mark Häberlein u. Michael Wala, Kleine Geschichte der USA, Stuttgart 2007, S. 13 und 499 ff.

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sierung als Exzeptionalismus ab, während in Amerika (wie in der islamischen Welt) der religiöse Fundamentalismus im Anwachsen begriffen sei.16 Sehr viel Zuspruch erhielt dieser erneuerte Differenz-Amerikanismus seit dem Irak-Krieg 2003, als eine oft von nur geringer Kenntnis inneramerikanischer Widerstände gegen diesen Krieg getrübte Amerika-Kritik in Europa älteste Stereotypen wie den angeblichen Konformismus der Amerikaner mit Verve zu artikulieren begann.17 Ein grundsätzliches Problem des verallgemeinernden europäischen Amerikadiskurses – in der exzeptionalistischen wie in der Konvergenz-Variante – war und ist ein mangelndes Verständnis für inneramerikanische Ungleichzeitigkeiten und Vielfältigkeiten. Europäische Beobachter wissen oft wenig von der inneren Pluralität und Diversität der amerikanischen Gesellschaft. Dabei müsste die Frage nach dem Umgang mit Differenz im Inneren, die ein Zentralproblem der amerikanischen Geschichte ist, angesichts europäischer Leitkultur-Debatten hierzulande auf fruchtbaren Boden fallen. Dies geben Dorothea Fischer-Hornung und Dieter Schulz zu bedenken. Relativ klar lassen sich euro-amerikanische Unterschiede etwa bei einer vergleichenden Analyse der Wohlfahrtsstaatlichkeit benennen, wie Manfred G. Schmidt in seinem Beitrag über Markt und Staat herausarbeitet. Auf der Ebene der durch Rechtssystem und Verfassung kodifizierten Werte werden amerikanische bzw. deutsche und europäische Standpunkte von einer berufenen Institution (Supreme Court, Bundesverfassungsgericht, Europäische Gerichtshöfe) verbindlich definiert. Winfried Brugger zeigt am Beispiel von Hassrede und Gerhard Besier am Beispiel der Religionsfreiheit, dass in den USA individuelle Freiheits- und Abwehrrechte weiter gezogen werden. Doch jenseits staatlicher Strukturen und verfassungsrechtlicher Diskurse, wo es seinerseits in Europa enorme Bandbreiten gibt, greifen viele Aussagen über „typisch amerikanisches“ notwendig kurz. Die Frage, „was Amerika ausmacht“, ist, wie gesagt, kein rein europäisches Thema, sondern Kern inneramerikanischer Selbstfindungsprozesse. Die Antworten fallen je nach Perspektive des Beobachters in Raum und Zeit unterschiedlich aus. Sie reichen von kulturellen Normierungsversuchen eines standardisierten Amerikanismus, wie etwa in der progressiven Reformbewegung und im Ersten Weltkrieg18, bis zur radikalen Ablehnung einer wie auch immer gefügten amerikanischen „Identität“. Danach sei die Koexistenz von Parallelkulturen letztlich das Wesensmerkmal der US-Gesellschaft.19 Dieser Diskurs ist weder historisch noch gegenwärtig abgeschlossen. Zwar wird es immer wieder empirisch gestützte und verifizierbare Aussagen 16 Peter L. Berger, Secularization Falsified, in: First Things, Nr. 180, Februar 2008, S. 23–27. 17 Uwe Srp, Antiamerikanismus in Deutschland: Theoretische und empirische Analysen basierend auf dem Irakkrieg 2003, Hamburg 2005. 18 Vgl. Dietrich Herrmann, „Be an American!“ Amerikanisierungsbewegung und Theorien zur Einwandererintegration, Frankfurt a. M. 1996; Jörg Nagler, Nationale Minoritäten im Krieg. „Feindliche Ausländer“ und die amerikanische Heimatfront während des Ersten Weltkrieges, Hamburg 2000. 19 Donald E. Pease u. Robyn Wiegman (Hrsg.), The Futures of American Studies, Durham, London 2002; zur Kritik an der transnationalen Wende der American Studies, die durch die Hintertür den Exzeptionalismus wieder hereinbringe vgl. Winfried Fluck, Theories of American Culture (and the Transnational Turn in American Studies), in: REAL – Yearbook of Research in English and American Literature 23, 2007, S. 59–77.

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darüber geben, welche Konzepte amerikanischer Identität(en) zu einem bestimmten Zeitpunkt dominierten. In diesem Sinne greifen Dorothea Fischer-Hornung und Dieter Schulz die Grundspannung von „Einheit und Vielfalt“ und „Ideal und Wirklichkeit“ als zentrale Achsen der amerikanischen Selbstverständigung auf. Metaphorische Redeweisen wie der berühmt-berüchtigte Schmelztiegel (melting pot) dienten der Definition einer einheitlichen amerikanischen Leitkultur und zugleich der Marginalisierung von Gruppen („unmündigen“ Indianern und Afroamerikanern, südund osteuropäischen Einwanderern, Katholiken, Juden usw.). Diesen wurden Segnungen des amerikanischen Traums vorenthalten, wenn sie dem lange dominierenden angelsächsischen protestantischen Ideal nicht entsprachen. Daher werden im Zeichen des Multikulturalismus im inneramerikanischen Identitätsdiskurs in jüngerer Zeit Bilder wie das von der „Salatschüssel“ (salad bowl) bevorzugt. Konfrontiert mit ihren europäischen Wurzeln, betonten amerikanische Intellektuelle seit dem frühen 19. Jahrhundert die Eigenständigkeit der amerikanischen Kultur. Deren Emanzipation von europäischen Vorbildern wurde seit den 1830er Jahren verstärkt eingefordert. Negative Feindbilder waren in dieser Zeit in Bezug auf Europa eher selten.20 Hier dominierte die positive Variante, nämlich amerikanische Kultur als neuartig, weil der demokratischen Ordnung angemessen und von ihr geprägt, zu definieren. Ralph Waldo Emerson (The American Scholar, 1837) und andere schrieben eine demokratische Kultur herbei. Dabei erfassten derartige Tendenzen nicht allein den bereits mehrfach untersuchten literarischen Betrieb, sondern erstreckten sich auf alle Teilgebiete amerikanischer (Hoch)kultur. Komponisten, dies macht der Beitrag von Thomas Schmidt-Beste deutlich, suchten seit dem 19. Jahrhundert einen genuin amerikanischen Musikstil zu entwickeln, der populäre Themen zwar inkorporierte, sich aber dennoch als „seriöse“ Musik im europäischen Sinne verstand. Auch in Bezug auf die philosophische Erkenntnis wurde im 19. Jahrhundert von Transzendentalisten wie Emerson und Thoreau das demokratische Credo hoch gehalten, sei doch der Mensch zur intuitiven Erkenntnis auch ohne Anleitung durch geistige und geistliche Autoritäten fähig.21 In dieser Tradition demokratischen Philosophierens steht auch der von Andreas Kemmerling hier untersuchte Pragmatismus, der – typisch amerikanisch? – Wahrheit als das definierte, „was uns im Leben weiter bringt“. Historische Mythen haben bei der Konstruktion amerikanischer Identitäten und bei der Abgrenzung nach außen stets eine wichtige Rolle gespielt. Auf der Suche nach historischen Vorbildern für ihr Gemeinwesen konnten die elitären (und des Lateinischen und Griechischen mächtigen) Gründerväter gar nicht anders, als auf Rom zurück zu gehen, wie Alexander Demandt unterstreicht. Die Herausforderungen einer republikanischen Regierungsform und die Gefährdungen des Imperiums für die Freiheit, wurden am römischen Beispiel diskutiert. Mit Rom habe Amerika das Sendungsbewusstsein geteilt, zugleich wie die antike Großmacht andere Völker assimiliert. Detlef Junker macht die Suche nach einer Identität anhand der in den 1990er 20 Detlef Junker, The Manichean Trap: American Perceptions of the German Empire, 1871–1945 (GHI Occasional Papers, Nr. 12), Washington, D.C. 1995. 21 Vgl. Dieter Schulz, Amerikanischer Transzendentalismus. Ralph Waldo Emerson, Henry David Thoreau, Margaret Fuller, Darmstadt 2002.

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Jahren hitziger werdenden Deutungskonflikte um die Geschichte („history wars“) deutlich. Als Instrument der patriotisch-monumentalen, zugleich hegemonialen, sprich anglo-amerikanischen Konsensbildung wurden interessengeleitet Unterschiede verwischt. Aber zugleich entzündet sich an hegemonialen Geschichtsbildern Kritik, wenn Marginalisierte in historischem Unrecht Ansprüche gründen und aus diesem kritischen Impuls heraus historische Forschung betreiben.22 Der die europäischen Beobachter ebenso faszinierenden (wie provozierenden) Rolle der USA als Weltmacht gehen drei Beiträge nach: Knud Krakau diskutiert die Verbindung von Exzeptionalismus und aktiver Missionsidee. Diese verschmolz lange vor Wilson unter dem Schlagwort der Manifest Destiny zu einer expansiven außenpolitischen Ideologie, deren Opfer nicht zuletzt die Völker südlich der Grenze wurden. Indes übersehen europäische Beobachter oft, dass die expansive Missionsidee im inneramerikanischen Kontext als sozialer Kontrollmechanismus diente.23 Da Lateinamerika über zwei Jahrhunderte im Fadenkreuz des amerikanischen Imperialismus stand, überrascht es nicht weiter, wie Hartmut Sangmeister betont, dass die Einrichtung einer amerikanischen Freihandelszone in Lateinamerika oft ungute Erinnerungen weckt und auch aus historischen Gründen auf große praktische Schwierigkeiten stößt (während umgekehrt nordamerikanische Verschwörungstheoretiker die NAFTA als Nukleus eines hemisphärischen Superstaates bekämpfen). Schließlich sind die europäisch-amerikanischen Verwerfungen nach dem 11. September nichts völlig Neues, wenn auch der Wegfall der eisernen Klammer des Kalten Krieges die strategischen Gewichte verlagerte. Dennoch „brauchen wir die Amerikaner noch“, wie Beate Neuss plädiert. Beide Seiten sollten sich darauf besinnen, dass die jeweils andere ein „unverzichtbarer Partner“ bei der Bewältigung globaler Probleme vom Umweltschutz bis hin zur Sicherheitspolitik sei. *** Neben der sachlichen Diskussion „amerikanischer Themen“ verfolgt dieser Sammelband ein programmatisches Anliegen. Es soll der multidisziplinäre Ansatz wieder stärker eingebracht werden als dies in den europäischen Amerikastudien lange Zeit üblich war. Als 1953 in Marburg die Deutsche Gesellschaft für Amerikastudien (DGfA) gegründet wurde, sahen die Vertreter und Vertreterinnen der Nachkriegsamerikanistik Amerikastudien als „kooperatives Experiment“ verschiedener Disziplinen (Geschichte, Geographie, Literaturgeschichte, Sprachwissenschaft, Politische Wissenschaft, Soziologie). Diese sollten ihre spezifischen Fragestellungen und Methoden beibehalten, jedoch bei der Erforschung amerikabezogener Themen eng kooperieren. Der spätere Freiburger Politik-Ordinarius Arnold Bergstraesser plädierte in seinem Marburger Gründungsvortrag, der im ersten Band des Jahrbuchs für Amerikastudien an erster Stelle abgedruckt wurde, dass „Bearbeiter auch eines Teilaspektes“ der Amerikastudien mehr Offenheit für Theorien und Methoden 22 Elaine Tyler May, „The Radical Roots of American Studies“: Presidential Address to the American Studies Association, November 9, 1995, in: American Quarterly 48 / 2, 1996, S. 179–200. 23 Anders Stephanson, Manifest Destiny: American Expansionism and the Empire of Right, New York 1995.

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anderer Disziplinen an den Tag legen sollten. Zugleich lehnte Bergstraesser in seinem Plädoyer für Multidisziplinarität eine regionalwissenschaftliche Synthese der Disziplinen ab.24 Dieser kooperative, die Disziplinen nicht transzendierende (daher multidisziplinäre und nicht interdisziplinäre) Ansatz der westdeutschen Nachkriegsamerikanistik hatte eine doppelte Stossrichtung. Einerseits grenzte man sich historisch rückwärtig von einer synthetisierenden Auslandskunde und holistischen Kulturwissenschaft ab, wie sie in der Weimarer Republik und dann vor allem von den NSAuslandswissenschaftlern zwischen 1933 und 1945 propagiert worden war.25 Insofern war Bergstraessers Plädoyer Teil einer postfaschistischen Rekonstruktion des überkommenen Fächerkanons, wie er aus dem 19. Jahrhundert an den deutschen Universitäten überliefert war. Andererseits wollte der DGfA-Gründungszirkel mit seinem Plädoyer für Amerikastudien als „kooperativem Experiment“ von dem in der Ära Adenauer dominierenden, primär philologischen Verständnis der Länderund Amerikastudien als Sprach- und Literaturwissenschaft weg. Man näherte sich den in den Vereinigten Staaten zu dieser Zeit stark propagierten American Studies und Area Studies an.26 Bergstraesser plädierte für multidisziplinäre Amerikaforschung, weil er eine Integrationswissenschaft als kulturwissenschaftliche Synthese ablehnte. Doch zugleich stemmte er sich gegen den Methodenkonservatismus der Philologien. In der Praxis hat sich seit der Wiederaufnahme seriöser Amerikaforschung in Deutschland in den 1950er Jahren die von Bergstraesser und anderen Mitgliedern der DGfA-Gründerkohorte favorisierte inter- bzw. multidisziplinäre Zusammenarbeit nur zeitlich begrenzt und an wenigen Orten bewährt. Anfangs nur in Frankfurt, später vor allem an dem in den 1960er Jahren gegründeten John F. Kennedy-Institut der Freien Universität Berlin, wurde der kooperative Ansatz verfolgt.27 Im übrigen Westdeutschland, aber auch in der DDR28, und daran festhaltend seit 1990 im vereinigten Deutschland, wurden und werden Amerikastudien als Amerikanistik, d. h. als Studium von Sprache und Literatur institutionalisiert, und in dieser Tradition stehend erst in jüngerer Zeit verstärkt als amerikanische Kulturstudien (cultural 24 Arnold Bergstraesser, Amerikastudien als Problem der Forschung und Lehre, in: Jahrbuch für Amerikastudien 1, 1956, S. 8–14. 25 Philipp Gassert, Vor der DGfA: Deutsche Amerikaforschung zwischen Erstem Weltkrieg und früher Bundesrepublik, in: Michael Dreyer, Markus Kaim u. Markus Lang (Hrsg.), Amerikaforschung in Deutschland: Themen und Institutionen der Politikwissenschaft nach 1945, Stuttgart 2004, S. 15–39; Sabine Sielke, Theorizing American Studies: German Interventions into an Ongoing Debate, in: Amerikastudien / American Studies 50.1 / 2, 2005, S. 53–98, hier S. 61. 26 Robert E. Spiller, Value and Method in American Studies: The Literary Versus the Social Approach, in: Jahrbuch für Amerikastudien 4, 1959, S. 11–24; Olaf Hansen, American Studies: Zur Theorie und Geschichte der Disziplin, in: Jahrbuch für Amerikastudien 18, 1973, S. 130– 172. 27 Vgl. Hans Galinsky, American Studies in Germany, in: Marshall W. Fishwick (Hrsg.), American Studies in Transition, Philadelphia 1964, S. 232–252, hier S. 236 f. 28 Zu den American Studies in der DDR vgl. Reiner Schnoor (Hrsg.), Amerikanistik in der DDR. Geschichte – Analysen – Zeitzeugenberichte, Berlin 1999.

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studies) neu definiert. Diese haben sich in ihren Fragestellungen und ihrer Methodologie modernisiert, führen jedoch eine textzentrierte philologische Tradition fort.29 Noch 1964 beobachtete Hans Galinsky, der zu den deutschen Nachkriegsamerikanisten der zweiten Generation gehörte, dass nirgendwo in der Bundesrepublik Amerikastudien im Sinne der in den USA gängigen Definition der American Studies als ganzheitliche Kulturwissenschaft betrieben werde. Doch hielt er die Möglichkeiten des von Bergstraesser geforderten multidisziplinären, kooperativen Ansatzes für begrenzt, weil die von universalen Kulturbegriffen geprägte deutsche Philologie eine Abneigung gegen das Studium national definierter Kulturen hege.30 Dies ist in der Zwischenzeit in den deutschen American Studies längst nicht mehr der Fall. Doch hat dieser besondere deutsche Universalismus paradoxerweise in nichtphilologischen Disziplinen wie der Geschichtswissenschaft zur Marginalisierung nicht-deutscher (einschließlich amerikanischer) Themen geführt.31 Zu diesen tief eingewurzelten akademischen Traditionen kommen die Beharrungskräfte der Institutionen hinzu, weil das Lehrstuhlsystem eine dynamische Entwicklung der deutschen Universitäten lange bremste. Auch praktische gesellschaftliche Erfordernisse etwa der Lehrerausbildung an den Universitäten, die Rücksicht auf die Lehrpläne an höheren Schulen zu nehmen haben, haben zur Marginalisierung amerikanischer Themen außerhalb des Englisch-Unterrichts geführt, während letzterer seit den 1970er Jahren das amerikanische und britische Englisch gleichberechtigt nebeneinandergestellt hat. Nicht-deutsche Themen haben es in der Geschichtswissenschaft schwer, obwohl globale und europäische Geschichte in den Theorie-Debatten der Historiker und Historikerinnen gegenwärtig Hochkonjunktur haben.32 Systematische Sozialwissenschaften wie Soziologie und Politikwissenschaft sind dagegen von vorneherein nicht auf eine spezielle Regionalexpertise angelegt. Zugleich werden auch nach dem cultural turn Spezialisten für die Kultur und Literatur der USA in der philologischen, textorientierten Tradition ausgebildet. Kontextorientierte Vertreterinnen der Geschichte und der Sozialwissenschaften blieben deshalb bei entsprechenden Stellenbesetzungen Außenseiter. Trotz der in Drittmittelanträgen und Exzellenzinitiativen verlangten und in Antragstexten ostentativ proliferierenden Interdisziplinarität stößt die Überwindung 29 Grabbe, 50 Jahre DGfA, S. 172; die Gründe dafür liegen in der Entwicklung der Literaturgeschichte. Diese verstand sich seit dem 19. Jahrhundert mit der Linguistik als Teilgebiet der Sprachwissenschaften und nicht der historischen Wissenschaften, vgl. Thomas Finkenstaedt, Kleine Geschichte der Anglistik in Deutschland, Darmstadt 1983. 30 Galinsky, American Studies, S. 243. 31 Dazu Reinhard R. Doerries, The Unkown Republic: American History at German Universities, in: Amerikastudien / American Studies 50.1 / 2, 2005, S. 99–126; Philipp Gassert, The Study of U.S. History in Germany, in: Silvia Horton u. Kees van Minnen (Hrsg.), Teaching and Studying U.S. History in Europe: Past, Present, and Future, Amsterdam 2007, S. 117–132. 32 Wilfried Loth u. Jürgen Osterhammel (Hrsg.), Internationale Geschichte. Themen, Ergebnisse, Aussichten, München 2000; Eckhardt Fuchs u. Benedikt Stuchtey (Hrsg.), Across Cultural Borders: Historiography in Global Perspective, Lanham, MD 2002; Jessica Gienow-Hecht u. Frank Schumacher (Hrsg.), Culture and International Relations, New York 2003; Eckart Conze, Ulrich Lappenküper, Guido Müller (Hrsg.), Geschichte der internationalen Beziehungen. Erneuerung und Erweiterung einer historischen Disziplin, Köln / Weimar / Wien 2004.

Was Amerika ausmacht. Multidisziplinäre Perspektiven

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von Fächergrenzen auf erhebliche forschungspraktische Schwierigkeiten. Interdisziplinarität, die ja zunächst einmal nur ein Gespräch über Disziplingrenzen hinweg ist, muss einerseits den daher nicht notwendig berechtigten Vorwurf des Dilettantismus und mangelnder wissenschaftlicher Solidität entkräften. Andererseits fällt schon innerhalb der etablierten Disziplingrenzen angesichts der Explosion der Ansätze, Themen und Perspektiven eine innerdisziplinäre Syntheseleistung schwer. Hier sehen sich die kleineren Fächer innerhalb der Amerikanistik (wie die Politologie und die Geschichtswissenschaft) mit der doppelten Herausforderung konfrontiert, das Gespräch innerhalb ihrer Disziplin zu pflegen und zugleich über Disziplingrenzen hinweg innerhalb der Amerikastudien zu kooperieren. So wurde in der westdeutschen Nachkriegsamerikanistik der in den USA favorisierte Ansatz nie dominant. Wie es Hans-Jürgen Grabbe in einem Überblick über 50 Jahre DGfA prägnant formulierte: „Die grundsätzliche Skepsis in der Methodenfrage ist aber geblieben.“33 Wie der Politikwissenschaftler und Mitbegründer des Berliner John F. Kennedy-Instituts Ernst Fraenkel einst in Anlehnung an Bergstraesser meinte, wird es auch in Zukunft darum gehen müssen, „interfakultativ“ zu kooperieren.34 In dieser Tradition von Bergstraesser und Fraenkel sieht sich das Heidelberger Amerikazentrum. In Heidelberg soll Multidisziplinarität, d. h. ein Ansatz, der die Methodik der jeweiligen Disziplin intakt lässt, in der fächerübergreifenden Kooperation zu einer wechselseitigen Befruchtung in der Auswahl von Fragestellungen und Themen führen. Unter dem Dach des Heidelberg Center for American Studies (HCA) findet sich Amerikaforschung im Sinne einer themenbezogenen Kooperation zusammen, ohne dass hier einer interdisziplinären Kulturwissenschaft bzw. Integrationswissenschaft nach dem Vorbild der alten Auslandswissenschaften oder der parallelen American Studies das Wort geredet würde. Kurz: Gemeinsame Themen bringen die Amerikastudien in konkreten Projekten zusammen. Der vorliegende Band vermittelt einen Eindruck davon.35

33 Grabbe, 50 Jahre, S. 170. 34 Ernst Fraenkel: Arnold Bergstraesser, 14. Juli 1896–24. Februar 1964, in: Jahrbuch für Amerikastudien 10, 1965, S. 13. 35 Siehe dazu auch die Jahresberichte des HCA, in: http://www/hca.uni-heidelberg.de/ueberuns/ index.html.

DAS AUSERWÄHLTE VOLK. GESCHICHTE UND NATIONALE IDENTITÄT DER USA Detlef Junker Während meiner Zeit als Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Washington hatte ich mir an einem 4. Juli auf den Stufen des Kapitols einen Stehplatz gesichert, um mitzuerleben, wie einige Hunderttausend Amerikaner europäischer, afrikanischer, asiatischer und lateinamerikanischer Herkunft ihren nationalen Gedenktag feiern. Ich ließ mich beeindrucken von einer eigentümlichen Mischung aus Vaterlandsliebe, Hollywood, Coca Cola und Popcorn; aus Lobpreis der großen Vergangenheit Amerikas und der hoffnungsfrohen Gewissheit, dass die einzig verbliebene Supermacht der Welt auch im nächsten Millennium eine besondere Mission zu erfüllen habe und könne. Ich wollte erfahren, wie diese Hunderttausende, umgeben von patriotischen Denkmälern wie dem Washington Monument, dem Jefferson- und Lincoln Memorial, in Liedern und Hymnen die amerikanische Dreieinigkeit von Gott, Vaterland und Freiheit besingen; wie diese Nation von Einwanderern, die selbst oder deren Vorfahren alle irgendwann von irgendwoher in die Neue Welt emigriert waren, sich an solchen Festtagen immer aufs neue konstituiert, indem sie ihrem Gründungsmythos vom „süßen Land der Freiheit“ (sweet land of liberty) Dauer und Zukunft verleiht.1 Das Verhältnis von Erinnerungskultur und nationaler Identität der USA faszinierte mich nicht nur in Washington. Es war neben der Natur das überragende Leitmotiv der Reisen, die meine Frau und ich durch die USA unternahmen: Von Washington und den Schlachtfeldern von Virginia bis zu den Black Hills, von Hawaii bis San Antonio, von New Orleans bis Key West, von Plymouth Rock bis Seattle. Im Jahre 2000 besuchte ich mit einer Gruppe Heidelberger Studierenden die historischen Stätten der Amerikanischen Revolution von Boston über Philadelphia und New York zu den geschichtsträchtigen Stätten am Colonial Parkway, Williamsburg, Jamestown und Yorktown; 2002 weilte ich ebenfalls mit Heidelberger Studierenden auf einer Exkursion im amerikanischen Süden, die uns unter anderem

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Vgl. Len Travers, Celebrating the Fourth: Independence Day and the Rites of Nationalism in the Early Republic, Amherst 1997; Diana Karter Applebaum, The Glorious Fourth: An American Holiday, an American History, New York 1989. Als Fallstudie zu den Feiern im Jahre 1976 aus Anlaß des 200. Jahrestages der Unabhängigkeit vgl. die vorzügliche Studie: American Revolution Bicentennial Administration (Hrsg.), The Bicentennial of the United States of America, Final Report to the People, Washington D.C. 1977. Zur Erinnerungskultur über drei founding fathers vgl. Ann Karal Marling, George Washington Slept Here. Colonial Revivals and American Culture, 1876–1986, Cambridge 1988; Nian-Sheng Huang, Benjamin Franklin in American Thought and Culture 1790–1990, Philadelphia 1994; Merrill D. Peterson, The Jefferson Image in the American Mind, New York 1960.

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nach Atlanta, Nashville, Memphis, Vicksburg, Natchez, Jackson (Miss.), Montgomery (Ala.), Savannah, Charleston, Columbia (S. C.) und Athens führte. Diese Konfrontation mit der amerikanischen Erinnerungskultur, man kann auch sagen mit der amerikanischen politics of memory, zog mich immer wieder in den Bann der Argumente des großen Anti-Aufklärers und scharfen Kritikers der modernen Geschichtsschreibung, in den Bann von Friedrich Nietzsche. Nietzsche lieferte gleichsam den Schlüssel, um die verwirrende Fülle der Eindrücke und Erfahrungen zu ordnen. Bekanntlich hat Nietzsche in seiner berühmten Schrift aus dem Jahre 1874 „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ tatkräftige Völker vor der Verwissenschaftlichung ihrer Geschichtsschreibung gewarnt, weil ein Übermaß an geschichtlichem Wissen, das diese neue Wissenschaft produziere, die Kraft zur Erneuerung zerstöre und für Individuen, Gruppen und Völker gerade keine Identität stiften könne. Nur der vorwissenschaftliche, d. h. der monumentalisch-heroische, der antiquarische und der kritische Umgang mit der Geschichte, könne dem Leben, der Tat und der Gegenwart dienen. Nietzsches Einsichten sind ein geeignetes Mittel, um leitmotivisch den öffentlichen Umgang der Amerikaner mit ihrer Geschichte zu strukturieren. Im Einzelnen möchte ich in diesem Beitrag erstens zeigen, dass Nietzsches klassische Unterscheidung einer heroischen, antiquarischen und kritischen Geschichtsbetrachtung das gesamte Spektrum des öffentlichen, d. h. des nicht-wissenschaftlichen Verhältnisses der Amerikaner zu ihrer eigenen Geschichte, erfasst; und zugleich behaupten, dass, auf das Ganze der amerikanischen Geschichte gesehen, die heroisch-patriotische Variante der Erinnerungskultur ihre dominierende Rolle nie verloren hat; zweitens zeigen, dass die großen Kontroversen um die Interpretation der amerikanischen Geschichte, von vielen als history wars bezeichnet, in der Sache immer ein Zusammenstoß zwischen der patriotischen und kritischen Geschichtsbetrachtung im Nietzsche’schen Sinne gewesen sind; drittens ausführen, dass es in diesen „Geschichtskriegen“ nie um die bessere historische Erkenntnis, sondern immer um die Identität der Nation gegangen ist. Das hat seit der Gründung der Union Unterschiedliches bedeutet. Heute steht für viele Amerikaner das explosive Problem im Mittelpunkt, welchen Platz das europäische Erbe des weißen Amerika im Selbstverständnis einer Gesellschaft und Nation behalten soll, deren demographische Trends auf eine multiethnische und – möglicherweise – multikulturelle Zukunft hinauslaufen. Ich beginne mit dem ersten Problemkreis und meiner These, dass die überwiegende Mehrzahl der Amerikaner weiter ein heroisches-patriotisches Verhältnis zur eigenen Geschichte pflegt, wobei Inhalt und Intensität dieses Verhältnisses natürlich von Person zu Person unterschiedlich sind.2 Dies entspricht den Ergebnissen 2

Eine deutschsprachige Gesamtdarstellung zur amerikanischen Erinnerungskultur gibt es nicht. Aus der Fülle der amerikanischen Literatur vgl. John Bodnar, Remaking America. Public Memory, Commemoration, and Patriotism in the Twentieth Century, Princeton, NJ 1992; ders. (Hrsg.), Bonds of Affection: Americans Define Their Patriotism, Princeton 1996; William Rea Furlong, Byron McCandless, Harold D. Langley, So Proudly We Hail: The History of the United States Flag, Washington D.C. 1981; John R. Gillis (Hrsg.), Commemorations: The Pol-

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einer großangelegten, vergleichenden Studie zum Nationalstolz von 23 ausgewählten Nationen durch das National Opinion Research Center an der Universität von Chicago aus dem Jahre 1998. Die Grundlage dieser 1995 durchgeführten Untersuchung waren 28 000 Interviews. Die Interviewten wurden auf doppelte Weise befragt. Fünf Fragen zielten auf den allgemeinen Nationalstolz (General National Pride), zehn Fragen auf den Stolz über besondere Leistungen des eigenen Landes (National Pride in Specific Achievements). Dann wurden diese beiden Nationalstolz-Varianten in einer Gesamtwertung zusammengeführt. Das Ergebnis: Die Amerikaner sind, auch was ihren Nationalstolz angeht, die Nummer Eins in der Welt. Amerikaner sind stolzer auf ihr Land als irgendein anderes Volk. Fast 90% der Amerikaner würden lieber amerikanische Staatsbürger bleiben, als Bürger irgendeines anderen Landes werden. Wir alle haben erlebt und gesehen, wie sich die amerikanische Nation nach dem Terrorangriff des 11. September 2001 patriotisch zusammenschloss. Diese patriotische Reaktion ist nichts Außergewöhnliches. In allen großen innen- und außenpolitischen Krisen und Kriegen der USA seit dem Unabhängigkeitskrieg stieg das patriotische Fieber an, erhöhten sich der Konformitätsdruck, die Versuchung zur Hexenjagd und zur Gefährdung der bürgerlichen Grundfreiheiten. Dieses patriotische Fieber hat allerdings in der bisherigen Geschichte die amerikanische Demokratie nie ernsthaft gefährden können, es stieg gleichsam nie über 40 Grad Celsius an. Denn langfristig hat sich immer die andere, die liberale, antistaatliche Tradition Amerikas durchgesetzt. Das wird, so vermute ich, auch in Zukunft so sein. Es ist zum Beispiel überaus bezeichnend, dass der Versuch des damaligen Justizministers John Ashcroft zur vorbeugenden Terrorismusbekämpfung mit Hilfe von Postboten, Müllmännern und Nachbarn eine Art Blockwart-System einzuführen, völlig gescheitert ist. In der Gesamtwertung des Nationalstolzes folgen auf den nächsten Plätzen übrigens Österreich, Kanada, Irland und Neuseeland; Westdeutschland folgt auf Platz 16, Ostdeutschland und Russland finden sich vor den letztplatzierten Staaten Lettland und Slowakei gemeinsam auf den Plätzen 20 und 21. Wurde nur nach dem allgemeinen Nationalstolz gefragt, so lag Österreich noch vor den USA auf Platz eins, Westdeutschland und Ostdeutschland auf den vorletzten Plätzen vor der Slowakei. Die Studie lässt auch keinen Zweifel daran, dass Deutschlands verschwun-

itics of National Identity, Princeton 1994; Jürgen Heideking, Geneviève Fabre u. Kai Dreisbach (Hrsg.), Celebrating Ethnicity and Nation: American Festive Culture from the Revolution to the Early Twentieth Century, Providence 2001; Michael Kammen, Mystic Chords of Memory. The Transformation of Tradition in American Culture, New York 1991, George Lipsitz, Time Passages: Collective Memory and American Popular Culture, Minneapolis 1990; Cecilia Elizabeth O`Leary, To Die For: The Paradox of American Patriotism, Princeton 1999; G. Kurt Piehler, Remembering War the American Way, Washington 1995; Hal Rothman, Preserving Different Pasts: The American National Monuments, Urbana, Ill. 1989; Wilbur Zelinsky, Nation into State: The Shifting Symbolic Foundations of American Nationalism, Chapel Hill 1988.

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dener Nationalstolz mit der negativen Einschätzung der eigenen Geschichte und den Schuldgefühlen der Deutschen zusammenhängt.3 Kehren wir zurück zu den USA: Trotz eingestandener Kritik an einzelnen Aspekten der eigenen Geschichte feiert diese Mehrheit mit robustem Selbstbewusstsein immer aufs Neue ihre große Vergangenheit, als Manifestation ihrer Auserwähltheit und Einzigartigkeit und als Auftrag an die Zukunft, die amerikanische Sendung zu erfüllen. Die amerikanische Geschichte wird zugleich als Entfaltungsprozess der Freiheit begriffen und siegesamerikanisch angestrichen, um ein Wort Jakob Burckhardts über die siegesdeutsche Kultur nach der Reichsgründung von 1871 abzuwandeln. Diese Debatte über Amerikas Auserwähltheit, seine besondere Mission, sein Verhältnis zu Gott, Vorsehung und Geschichte wird – in stets wechselnden politischen, sozialen und kulturellen Konstellationen – seit den ersten Siedlern geführt, d. h. seit 400 Jahren. Der andauernde Diskurs, wie man heute sagen würde, über die besondere Mission der USA gehört selbst zum Kern der amerikanischen Identität. Deshalb konnte man sagen, wenn man lange genug an einem Amerikaner kratze, komme der Erlöser zum Vorschein.4 Es ist selbstverständlich, dass dieser Diskurs im wesentlichen von der amerikanischen Ober- und Mittelschicht getragen wurde, zunächst von den protestantischen Geistlichen, nach Revolution und Aufklärung von Politikern, Intellektuellen und Publizisten, die gebildet und artikuliert genug waren bzw. sind, um sich daran zu beteiligen. Der gemeine Mann (the common man) ist entweder nicht interessiert oder unterschiedlich ergriffener Zuschauer erinnerungskultureller Spektakel. Am beliebtesten sind die sogenannten re-enactments, das lebendige Nachspielen historischer Ereignisse. Dieses amerikanische Sendungsbewusstsein hat seinen Ursprung in einer säkularisierten Geschichtsteleologie des 18. Jahrhunderts. Die Amerikaner verstehen sich, wie viele Völker vor und neben ihnen, als ein auserwähltes Volk. Die in erster Linie vom Geist der Aufklärung geprägten Gründungsväter der Union integrierten und verwandelten christlich-puritanische Sendungsvorstellungen der neuenglischen Siedler wie das „auserwählte Volk“, „das Volk, das mit Gott einen besonderen Bund geschlossen hat“, die Vorstellung von Amerika als „Gottes neuem und letztem Israel“ in die Idee einer weltlich-politischen Mission der USA. Denn die Unabhängigkeit des neuen Staates von England wurde von den Siedlern durch eine für die damalige Staatenwelt revolutionäre Theorie mit einem universalen Anspruch begründet, den die junge Republik stellvertretend für die Menschheit in die Tat umsetzte: Durch den Anspruch aller Menschen und Völker auf Volkssouveränität, 3 4

“Americans are World’s Most Patriotic People, National Opinion Research Center at the University of Chicago Finds”, in: http://www-news.uchicago.edu/releases/98/980630.patriotism. shtml. Vgl. zum Problem der besonderen Mission der USA mit reichhaltiger, weiterführender Literatur: Knud Krakau, Exzeptionalismus – Verantwortung – Auftrag. Atlantische Wurzeln und politische Grenzen der demokratischen Mission Amerikas, in: Alois Mosser (Hrsg.), „Gottes auserwählte Völker“. Erwählungsvorstellungen und kollektive Selbstfindung in der Geschichte, Frankfurt a. M. 2001, S. 89–116.

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Grundrechte, Eigentum, rechtlich begrenzte und aufgeteilte Staatsgewalt und durch das „Streben nach Glück“. Seitdem prägen Herrschaft und das Versprechen der Freiheit, imperium et libertas, das Janusgesicht der amerikanischen Geschichte. Diese Verschmelzung von Christentum und Aufklärung, von Christentum und demokratischer Mission hat die besondere zivile Religion Amerikas hervorgebracht, eine unverwechselbare Mischung aus christlichem Republikanismus und demokratischem Glauben: eine Nation, wie man gesagt hat, mit der Seele einer Kirche. Die amerikanische Nation hat keine Ideologie, sie ist eine. Die amerikanische Geschichte ist in dieser Ideologie der Sendung gleichsam eingekapselt, sie ist, um wieder mit Nietzsche zu sprechen, von einer „umhüllenden Atmosphäre“ umgeben, die sie vor allzu großer Selbstkritik schützt, ihr die Fähigkeit belässt, zur Identität der amerikanischen Nation beizutragen und sich in Abgrenzung vom „Anderen“ und „Fremden“ der eigenen Identität zu versichern. Die amerikanische Zivilreligion produziert bei Bedarf die notwendigen Feindbilder. Nach dem Muster des spätantiken Religionsstifters Mani haben die Amerikaner besonders ihre Kriege und Bürgerkriege als radikale Gegenüberstellung eines guten und eines bösen Weltprinzips gedeutet. Jeder Feind saß damit automatisch in der manichäischen Falle des amerikanischen Sendungsbewusstseins5: zuerst die Indianer, dann England und Georg III., die Spanier und Mexikaner, im 20. Jahrhundert vornehmlich die Deutschen, Japaner, Russen, Chinesen, Nordvietnamesen und Iraker, der Faschismus, Nationalsozialismus und Kommunismus. Das große Problem der amerikanischen Weltpolitik nach dem Ende des Kalten Krieges lag darin, dass die manichäische Falle leer war. Es gab mehrere Anwärter für diese Leerstelle – China, Nordkorea, der Irak, der Islam im allgemeinen -; die Deutschen gehören glücklicherweise zurzeit nicht mehr dazu. Nach dem 11. September spricht einiges dafür, dass diese Stelle auf absehbare Zeit durch den internationalen islamistischen Terrorismus besetzt sein wird. Im Kern liegt dieser Sendungsidee nach ihrer Säkularisierung, wie schon angedeutet, ein geschichtsphilosophisches Fortschrittsmodell des 18. Jahrhunderts zugrunde. Dieses Modell hat es den Amerikanern seit dem Unabhängigkeitskrieg gestattet, die Ereignisse ihrer Geschichte, und zwar schon in ihrem aktuellen Vollzug, durch eine patriotisch-heroisch-providentielle Sinnstiftung zu erhöhen; Zyniker würden sagen, die Sinngebung des Sinnlosen zum zentralen Bestandteil ihrer Identität zu machen. Die Amerikanische Revolution, die Expansion über den Kontinent (manifest destiny), der Amerikanische Bürgerkrieg, die Beteiligung am Ersten Weltkrieg, Zweiten Weltkrieg und dem Kalten Weltkrieg, ja überhaupt Amerikas dominierende Rolle im 20. Jahrhundert sind schon von den Zeitgenossen so gedeutet worden. Besonders der Amerikanische Bürgerkrieg6, oft als zweite amerikanische 5 6

Detlef Junker, Die manichäische Falle. Das deutsche Reich im Urteil der USA 1871–1945, in: Klaus Hildebrand (Hrsg.), Das deutsche Reich im Urteil der großen Mächte und europäischen Nachbarn, München 1996, S. 141–158. Lerone Bennet, Forced into Glory, Abraham Lincoln’s White Dream, Chicago 2000; David Blight, Race and Revision: The Civil War in American Memory, Cambridge 2001; Eva Maria Brownanell, Die Amerikaner und ihr Krieg: Eine Analyse der Jahrhundertfeiern des Civil War in den Vereinigten Staaten 1961–1965, Stuttgart 1978; Merrill D. Peterson, Lincoln in Ameri-

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Revolution bezeichnet, die aus den „Vereinigten Staaten“ erst eine Nation machte, und Präsident Lincoln spielen in diesem Zusammenhang eine herausragende Rolle. Lincolns Gettysburg-Address, seine berühmte Ansprache von nur 272 Wörtern, die einer Schlacht des Bürgerkrieges und den toten Soldaten auf dem Schauplatz des blutigen Gemetzels einen geschichtsphilosophischen Sinn verlieh, wird heute als Geniestreich interpretiert.7 In Washington blickt der Sitzriese Lincoln deshalb zu Recht auf das Washington Monument. Vor dem 11. September wurde in der amerikanischen Hauptstadt heftig darüber gestritten, ob sein freier Blick auf dieses Monument durch das geplante Ehrenmal zur Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg behindert werden könnte; zur Erinnerung an einen Krieg, den die Amerikaner laut Umfragen heute für den größten und den gerechtesten Krieg ihrer Geschichte halten.8 Der Werbefeldzug für diese geplante Gedenkstätte wurde von einer Welle der Verklärung der aussterbenden Weltkrieg II-Generation begleitet, die sich nachhaltig als die Greatest Generation in Erinnerung brachte, mit einer unübersehbaren Spitze gegen die vaterlands- und pflichtvergessenen softies der 68er Gerneration,9 die Marihuana rauchten, sich vor dem Vietnam-Krieg drückten und, wie Präsident Clinton, ihre Sexualität nicht unter Kontrolle bekommen konnten. Lincoln gilt im Norden, Osten und Westen der USA als zweiter Gründungsvater der Nation, als Savior of the Union, the Great Emancipator, a Man of the People, First American and Self-Made-Man. Südlich von Washington dagegen ist Lincoln auf den öffentlichen Plätzen so gut wie nicht anwesend. Auf unserer Reise in den Süden haben wir ihn nur einmal entdecken können, auf dem Schlachtfeld von Vicksburg, wo die Unionstruppen siegten. Auf der anderen Seite gelang es den unterlegenen Südstaaten nach dem Bürgerkrieg ebenfalls, durch ein apologetisch-glorifizierendes Gedankenkonstrukt, genannt der Lost-Cause-Mythos, die Niederlage zugleich zu rechtfertigen und im heroisch-patriotischen, ja freiheitlichen Sinne umzudeuten, eben als Freiheitskampf des Südens gegen die Aggression des Nordens.10 Bis heute ist die Geschichtspolitik der Südstaaten über den Bürgerkrieg ein einziger Versuch, südstaatliche und nationale Identität miteinander zu versöhnen. Aus der Warte des wissenschaftlichen Historikers hat das natürlich sehr oft zu haarsträubenden Geschichtsklitterungen geführt. In diesen Erinnerungskriegen gibt es auch Kompromisse. Eine der Überraschungen unserer Exkursion in den Süden war für uns die Entdeckung, dass die can Memory, New York 1994; Barry Schwartz, Abraham Lincoln and the Forge of National Memory, Chicago 2000. 7 Garry Wills, Lincoln at Gettysburg. The Words that Remade America, New York 1992. 8 Vgl. Gallop Poll Releases, Dec. 6, 1999; Studs Terkel, The Great War. An Oral History of World War II, New York 1984. 9 Tom Brokaw, The Greatest Generation, New York 1998. Zur Kritik an dieser Idealisierung vgl. John Balzar, „Greatest Generation“ Had a Bad Side, Too, in: International Herald Tribune, 31. August 2001, S. 5. 10 Gary W. Gallagher u. Alan T. Nolan, The Myth of the Lost Cause and Civil War History, Indiana 2000.

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öffentlichen Plätze zunehmend politisch korrekt ausgestaltet werden. Auf der einen Seite des Platzes findet man eine Statue des Präsidenten der südstaatlichen Konföderation, Jefferson Davis, aus der Perspektive der Nordstaaten immerhin das Symbol der Sezession und Sklaverei; auf der anderen Seite des Platzes eine Statue des Helden der Bürgerrechtsbewegung, von Martin Luther King, Jr. Schließlich sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, dass die „Amerikanisierung des Holocaust“, die mittlerweile ubiquitäre Konfrontation der Amerikaner mit dem absolut Bösen, der amerikanischen Nation die immerwährende Möglichkeit gibt, das Böse zu externalisieren und zugleich die Notwendigkeit der eigenen Mission, der freiheitlich-demokratischen Sendung, zu erneuern.11 Im Angesicht des Holocaust überzeugt sich die amerikanische Nation immer aufs Neue, die einzig unersetzliche Nation zu sein, wie es die ehemalige Außenministerin Madeleine Albright vor einigen Jahren formulierte. Der Holocaust ist nicht nur zum Zentrum der Identität der amerikanischen Juden, sondern auch zu einem wichtigen Bestandteil der amerikanischen Zivilreligion geworden. Die zwei Millionen Besucher des Holocaust-Museums in Washington D.C. erfahren diese Dialektik hautnah: Nach der Konfrontation mit den überwältigenden Szenen der Unmenschlichkeit finden sie sich im monumentalen Zentrum Washingtons wieder, neben dem Washington Monument und inmitten der Denkmäler der Freiheit und der amerikanischen Mission. Der seltsame Name dieses Museums trifft diesen Sachverhalt genau: United States Holocaust Memorial Museum.12 Dieser patriotisch-missionarische Umgang ist nicht mit dem zweiten, im Sinne Nietzsches dem Leben dienenden Umgang mit der Vergangenheit identisch, mit der antiquarischen Geschichtsbetrachtung. Sie kann sich aber in Gruppen und Individuen überlappen. Dieser antiquarische Umgang ist friedlicher, bedarf auch in der Regel keiner Feindbilder. Er entspringt einem bewahrenden und verehrenden Verhältnis zur Vergangenheit, aus einer Sehnsucht, sich den Wurzeln der eigenen Existenz zu vergewissern. Er sucht, um mit Nietzsche zu sprechen, „das Glück, sich nicht ganz willkürlich und zufällig zu wissen, sondern aus einer Vergangenheit als Erbe, Blüte und Frucht“ herausgewachsen zu sein. Er manifestiert sich in der Pflege lokaler, regionaler und nationaler Traditionen in Geschichtsvereinen, Museen, Nationalparks, Schlachtfeldern und anderen historischen Stätten, besonders in einer 11

Zur amerikanischen Diskussion vgl. Hilene Flanzbaum (Hrsg.), The Americanization of the Holocaust, Baltimore 1999; Jeffrey Shandler, While America Watches: Televising the Holocaust, New York, Oxford 1999; Tim Cole, Selling the Holocaust. From Auschwitz to Schindler. How History is Bought, Packaged, and Sold, New York 1999; Peter Novick, The Holocaust in American Life, Boston 1999 (dt. Übersetzung: Nach dem Holocaust. Der Umgang mit dem Massenmord, Stuttgart, München 2001); Norman G. Finkelstein, The Holocaust Industry. Reflections on the Exploitation of Jewish Suffering, London, New York 2001 (dt. Übersetzung: Die Holocaust Industrie. Wie das Leiden der Juden ausgebeutet wird, München 2001). Durch die Übersetzung der Bücher von Novick und Finkelstein ist die in den USA geführte Diskussion über die „Amerikanisierung des Holocaust“ auch in Deutschland angestoßen worden. Vgl. Petra Steinberger (Hrsg.), Die Finkelstein-Debatte, München 2001; Ernst Piper (Hrsg.), Gab es wirklich eine Holocaust-Industrie?, Zürich, München 2001. 12 Zu dieser These vgl. Detlef Junker, Die Amerikanisierung des Holocaust, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. September 2000, S. 11.

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amerikanischen Leidenschaft, dem schon genannten re-enactment, dem lebendigen Nachspielen etwa der Schlachten des Bürgerkrieges, der Expedition von Lewis und Clark oder der Landung amerikanischer Truppen in der Normandie im Jahre 1944, nachgespielt 1994 an der Küste Louisianas. Vor allem sind Millionen von Amerikanern in den letzten Jahrzehnten auf die Suche nach ihren eigenen Vorfahren gegangen. Das genealogische Interesse, die genealogische Forschung und die sie unterstützenden Institutionen und Publikationen haben einen gewaltigen Aufschwung erlebt. Obwohl es auf diesem Feld seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine gewisse Tradition gibt, bedeuten in diesem Fall die 1960er Jahre eine Zäsur. Das Gedenken an den 100 Jahre zurückliegenden amerikanischen Bürgerkrieg und seine Vermarktung im Fernsehen, auch die erste Weltkonferenz über Quellen zur genealogischen Forschung an der wichtigsten Institution der Welt in diesem Bereich, der Family History Library der Mormonen in Utah, scheinen diese Entwicklung beschleunigt zu haben. Heute gehört die Familienforschung zu Amerikas beliebtesten Hobbys. Nach Umfragen interessieren sich fast 120 Mio. Amerikaner dafür, ungefähr 20 Mio. sind aktiv an der Ahnenforschung beteiligt, die im übrigen in den letzten Jahren durch die Computertechnik revolutioniert wurde.13 Die „Deutungskriege“ (history wars)14 der amerikanischen Erinnerungskultur entspringen weniger aus den konkurrierenden Ansprüchen der – oft komplementären – patriotischen und antiquarischen Geschichtsbetrachtung, sondern aus den Konflikten zwischen dem heroisch-patriotischen und dem kritischen Umgang mit der Geschichte. Auch die Kritik diene, so Nietzsche, nicht in erster Linie der Vermehrung unseres Wissens, sondern dem Leben. Um leben zu können, müsse der Mensch auch die Kraft haben, die Vergangenheit zu zerbrechen und aufzulösen, sie vor Gericht zu ziehen, peinlich zu inquirieren und endlich zu verurteilen. Es gehe darum, die Ungerechtigkeit eines Dinges, eines Privilegs, einer Kaste oder Gruppe zu beweisen, sich gleichsam a posteriori eine andere, eine bessere Vergangenheit zu geben und daraus Ansporn und Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu gewinnen. Natürlich hat es Kritik an Aspekten der amerikanischen Geschichte seit Gründung der Vereinigten Staaten gegeben. Die öffentliche Bedeutung dieser Kritik ist aber in den letzten vier Jahrzehnten, seit der Bürgerrechtsbewegung, dem Vietnamkrieg und der revolutionären Änderung der Einwanderungsgesetze in den 1960er Jahren, erheblich gewachsen. Sie hat qualitativ und quantitativ eine andere Dimension angenommen. Die Ursachen dafür liegen in zwei realgeschichtlichen Veränderungen. Die erste und wichtigste ist ein demographischer Trend, der im Wesentlichen durch die Einwanderungsgesetze von 1965 initiierte Anstieg der nicht-wei13 Vgl. http://www.familysearch.org. 14 Todd Gitlin, The Twilight of Common Dreams: Why America is Wracked by Culture Wars, New York 1995; Paul Gilroy, There Ain’t No Blacks in the Union Jack: The Cultural Politics of Race and Nation, London 1987; Edward T. Linenthal u. Tom Engelhardt (Hrsg.), History Wars. The Enola Gay and other Battles for the American Past, New York 1996; Joyce Appleby, Recovering American’s Historic Diversity: Beyond Exceptionalism, in: Journal of American History 79, September 1992, S. 419–431.

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ßen Minderheiten aus Lateinamerika und Asien. Zusammen mit den Indianern und schwarzen Amerikanern machen sie gegenwärtig fast 30% der amerikanischen Bevölkerung aus, und zwar ungefähr 84 Millionen von rund 300 Millionen Amerikanern. In amerikanischer Terminologie: 12,1% African-Americans, 12,5% Hispanics, 3,7% Asians und 0,7% Native Americans. 1,6%, also ungefähr 4,6 Millionen Amerikaner, verstehen sich als Angehörige von zwei oder mehr Rassen. Im Jahr 2000 haben die Lateinamerikaner die schwarzen Amerikaner zum ersten Mal überholt. Es gibt Hochrechnungen, nach denen die Nachfahren der Europäer im Jahre 2050 ihre Mehrheit verlieren werden.15 Der zweite, realgeschichtlich allerdings weniger wichtige Grund liegt in einer erheblichen Veränderung der Forschungsprogramme und Schwerpunkte an den geistes- und sozialwissenschaftlichen Abteilungen der amerikanischen Universitäten. Die Beschäftigung mit unterdrückten Minderheiten, Frauen eingeschlossen, ist sprungartig angestiegen. Die 1968er Generation hat die wichtigste amerikanische Fachzeitschrift, die American Historical Review, fest im Griff. Die neue Triade von race, class, und gender dominiert. Diesem neuen Paradigma liegt durchaus ein kritischer Impuls im Sinne von Nietzsche zugrunde. Für die meisten ihrer Vertreter ist die neue Dominanz der Minderheiten-, Sozial-, Klassen-, Geschlechter-, Kulturund Alltagsgeschichte weit mehr als eine wissenschaftsinterne, theoretische Korrektur der traditionellen Zugänge wie Politik-, Verfassung-, Wirtschafts-, Militärund Kirchengeschichte. Sie sind von der Hoffnung beseelt, dass die Aufdeckung vergangener Abhängigkeits- und Unterdrückungsverhältnisse zur Emanzipation in der Zukunft beitragen kann, und in diesem Sinne wiederholen sie den alten Traum der Einheit von Theorie und Praxis. Eine besondere Spannung durchzieht die rund zweihundert black studies programs, die seit Mitte der 1960er Jahre an den Universitäten und Colleges der USA eingeführt wurden; personifiziert in den öffentlichen Kontroversen zwischen dem schwarzen Harvard Historiker Henry Louis Gates Jr., der fast im Rankeschen Sinne für die Freiheit der Wissenschaft von der Politik plädiert, und dem schwarzen Historiker Manning Marable von der Columbia University, für den es im Marxschen Sinne darauf ankommt, die Welt nicht nur zu interpretieren, sondern zu verändern. Für die Minderheiten und ihre Sympathisanten unter den Weißen ist der kritische Blick auf die amerikanische Geschichte eindeutig zur moralischen Waffe im politischen Kampf um gesellschaftliche Anerkennung, Besitzansprüche und Rechte geworden. Es gibt fast einen Wettbewerb um die größte Leidensgeschichte. Ein Teil der schwarzen Bewegung ist neidisch auf die Art und Weise, wie es den amerikanischen Juden gelungen ist, den Holocaust im öffentlichen Bewusstsein Amerikas zu verankern. Sie unternimmt verstärkt Anstrengungen, um die Leidensgeschichte der Afro-Amerikaner als black holocaust zu deuten. Diese Minderheiten wollen „die andere Seite“ Amerikas gewürdigt sehen: die mörderischen Konsequenzen der Eroberung der beiden Amerikas durch die Europäer, die Ausrottung und Enteig15 Daten nach Population Reference Bureau, Social Science Data Analysis Network, http://www. prb.org/Template.cfm?Section=PRB&template=/ContentManagement/ContentDisplay. cfm&ContentID=3390.

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nung der Indianer, die Sklaverei und das System der Apartheid, das bis in die 1960er Jahre in den Südstaaten der USA regierte; den Beitrag Mexikos und anderer Lateinamerikaner zur Geschichte der USA, die Halbierung dieses Staates in der Mitte des 19. Jahrhunderts; die lange Geschichte der gegen die Asiaten diskriminierenden Einwanderungsgesetze, überhaupt den tief in der amerikanischen Gesellschaft verankerten Rassismus. Wie schon angedeutet, entzündeten und entzünden sich die meisten Konflikte um die Deutung der amerikanischen Geschichte – und damit komme ich zu meinem zweiten Problemkreis – zwischen der patriotischen und kritischen Interpretation. Auch das hat eine lange Tradition. Hier seien beispielhaft besonders drei Auseinandersetzungen von nationalem Interesse vorgestellt, in die der amerikanische Kongress während der 1990er Jahre selbst eingriff, in zwei Fällen sogar massiv. Es handelte sich 1992 um die angemessene Würdigung des 500. Jahrestages der „Entdeckung“ Amerikas durch Kolumbus;16 1994 / 95 um die Revision der amerikanischen Geschichtsbücher17 und ebenfalls 1994 / 95 um den 50. Jahrestag des Abwurfs der Atombombe auf Hiroshima.18 Die 1984 vom Kongress eingesetzte Kommission zur Vorbereitung der Kolumbus-Feiern und ihre Planungen für das Jubiläum gerieten in das Feuer scharfer Kritik durch die Interessenvertretung amerikanischer Indianer wie das American Indian Movement, durch andere Minderheiten und durch Vertreter einer kritischen Geschichtsschreibung. Aus der Sicht der Millionen Menschen, die vor der Ankunft 16 Einen guten Einblick in die Kontroversen des Jahres 1992 bieten: Washington Post National Edition (October 7–13, 1991, S. 11–12); The New York Times (October 12, 1992, S. B7); The New Yorker (February 24, 1992, S. 57–75); The Marxist Review of Books: “Columbus: rediscovering America”, in: http://www.informinc.co.uk/LM/LM41/LM41_Books.html. Zur Begründung der Einsetzung einer offiziellen Jubiläumskommission verabschiedete der Senat ein Gesetz. In der Begründung hieß es u.a.: “Those favoring the bill contended: This legislation is designed to insure that the great event of 1492, which enlarged the globe as well as man‘s spirit, will be observed in an appropriate and thoughtful way. Although the anniversary is still 8 years away, it is certainly not too soon to begin to plan for the observance of the 500th birthday of the New World. We should therefore support this bill. The total appropriation for the Jubilee Commission is $2 million. The small expenditure that is involved year by year will be like bread cast upon the water: It will return to us manyfold in the number of visitors that will come to this country. Further, we will develop other important assets in the course of the commemoration. It is one of the ironies of history that Columbus‘ contemporaries never appreciated the enormous contribution Columbus made to the expansion of European civilization and, in fact, to the creation of a new civilization. We who are the ultimate beneficiaries of his vision, courage, and travail must see that his memory and achievement do not suffer the same fate in 1992 that occurred in his lifetime. Not only will this celebration stimulate us to reflect on the meaning of Columbus‘ discovery, but it will also give us the opportunity to strengthen our ties with Spain, Italy, and the countries of the Western Hemisphere. Finally, it should be emphasized that the Commission will complement – and not compete with – the 1992 Chicago World‘s Fair. In sum, passage of this bill and the establishment of the Jubilee Commission will help us properly observe Columbus‘ discovery, perhaps the greatest event in the history of the secular world.” In: http://www.senate.gov/~rpc/rva/982/9824.htm. 17 Gary B. Nash, Charlotte Crabtree u. Ross E. Dunn, History on Trial. Culture Wars and the Teaching of the Past, New York 1997. 18 Vgl. Linenthal / Engelhardt, History Wars, Anm. 14.

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von Kolumbus in beiden Amerikas lebten, habe es, so ein Sprecher der Indianer, nichts zu entdecken gegeben. Und dann folgte die lange Liste europäischer Schandtaten nach der Entdeckung, den transatlantischen Sklavenhandel eingeschlossen, die kürzlich von einem US-Historiker zusammenfassend als „The American Holocaust“19 gedeutet wurde. Die Kritik an Kolumbus, für 200 Jahre ein Held in den amerikanischen Schulbüchern, erzwang erhebliche Veränderungen der geplanten Feiern. Aus „Entdeckung“ wurde in vielen Fällen eine politisch korrekte „Begegnung“ (encounter) zweier Kulturen. Die Smithsonian Institution, der größte nationale Museumsverbund der USA, förderte in Washington D.C. aus diesem Anlaß eine Ausstellung mit dem Titel Seeds of Change, die nachweisen wollte, wie Zucker, Mais, Kartoffeln, das Pferd und ansteckende Krankheiten gleichzeitig die Alte und Neue Welt veränderten. Einen in gewisser Hinsicht ironischen Verlauf nahm der Streit um neue Richtlinien für die Vermittlung von Geschichte, und zwar der amerikanischen und der Weltgeschichte, an den Schulen der USA, der inzwischen auch in der deutschen Geschichtswissenschaft sachverständig beschrieben wurde. Eine von Präsident Bush dem Älteren unter patriotischen Vorzeichen eingesetzte Kommission kam zu dem Schluß, dass die mangelnden Geschichtskenntnisse amerikanischer Kinder und Studenten durch neue, nationale Standards verbessert werden müssten. Die von einer Gruppe von Historikern in Kalifornien erarbeiteten Richtlinien erregten allerdings einen Teil der Öffentlichkeit und den Senat so sehr, dass der Senat im Jahre 1995 die Richtlinien überparteilich mit 99 zu 1 Stimmen als unverantwortlich und böswillig verdammte. Die Stoßrichtung der Kritik war eindeutig: Die Richtlinien über die Geschichte der USA würden durch eine übermäßige Kritik die nationale Tradition verzerren, die Richtlinien über die Weltgeschichte die Bedeutung des europäischen Erbes vernachlässigen. Der wichtigste Fall der letzten Jahre war allerdings die erbitterte Auseinandersetzung um die geplante Ausstellung zum 50. Jahrestag des Abwurfs der Atombombe auf Hiroshima. Für die Ausstellung war das Air and Space Museum in Washington D.C. vorgesehen, ein Teil der Smithsonian Institution. Die Wissenschaftler und Kuratoren hatten, gestützt auf die wissenschaftliche Kontroversliteratur, seit 1988 damit begonnen, eine Ausstellung vorzubereiten. Der Besucher sollte durch mehrere Räume mit verschiedenen Leitmotiven geführt werden. Zu diesen Leitmotiven zählten: Der Krieg auf dem pazifischen Kriegsschauplatz 1944 / 45; die Entwicklung der amerikanischen Atombombe, das sogenannte Manhattan-Projekt; die in der Geschichtswissenschaft heiß umstrittene Frage nach den Motiven der Regierung Truman für den Abwurf beider Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki und die schon damals diskutierten Alternativen; die Vorbereitung des Abwurfs der Atombombe, mit dem Flugzeugrumpf des restaurierten Bombers Enola Gay als zentralem Ausstellungsstück; drastische Bilder der Auswirkung der Abwürfe auf die japanische Zivilbevölkerung; schließlich ein Raum, der die 19 David E. Stannard, Uniqueness as Denial: The Politics of Genocide Scholarship, in: Alan S. Rosenbaum (Hrsg.), Is the Holocaust Unique? Perspectives on Comparative Genocide, Colorado 1996, S. 170.

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Bedeutung von Hiroshima für den Anfang des nuklearen Zeitalters thematisieren sollte. Die Ausstellung wurde also thematisch in den Zusammenhang des Endes des Zweiten Weltkrieges, des Beginns des Kalten Krieges und des nuklearen Zeitalters gestellt. Obwohl die Planer der Ausstellung keinen Zweifel daran ließen, dass aus ihrer Perspektive der pazifische Krieg durch japanische Aggression und Expansion verursacht wurde, hätte der amerikanische Besucher die Ausstellung mit gemischten Gefühlen verlassen. Einige hätten sogar den Schluß ziehen können, dass die Amerikaner den Krieg mit einem Kriegsverbrechen größten Ausmaßes, der Tötung von 100.000 Menschen, überwiegend Zivilisten, beendeten. Die Ausstellung hätte eine tragische, keine heroische Geschichte präsentiert. Als diese Pläne bekannt wurden, brach ein Sturm der Entrüstung los, der schließlich dazu führte, dass der amerikanische Senat das Projekt einstimmig verdammte und der Smithsonian Institution ohne Umschweife drohte, die finanzielle Grundlage zu entziehen. Das Museum musste, wie Japan 50 Jahre zuvor, fast bedingungslos kapitulieren und die Ausstellung aufgeben. Geblieben ist nur der nackte Rumpf der Enola Gay, der im Museum zu besichtigen ist. Angeführt von der Air Force Association, einem Veteranenverband, der sich zur Lobby der US-Luftwaffe und der Rüstungsindustrie entwickelt hat, wollte eine Koalition aus Veteranen, Politikern und Kommentatoren kein Jota von der traditionellen, heroischen Geschichte abweichen: Tapfere amerikanische Soldaten gaben ihr Bestes für Freiheit und Vaterland in einem gerechten Krieg, der dank Atombomben schneller beendet werden konnte und Hunderttausenden von Amerikanern das Leben rettete. Der Enola Gay-Bomber habe, so hieß es einstimmig in der Resolution 257 des Senates aus dem Jahre 1994, den Krieg zu einem „gnädigen Ende“ (merciful end) geführt.20 Die Kritik richtete sich gegen das Museum und besonders gegen die unpatriotischen Intellektuellen und Historiker, die das eigene Nest beschmutzten. Der damalige republikanische Mehrheitsführer im Senat, Newt Gingrich, ein erstklassiger republikanischer Ideologe und ein drittklassiger College-Geschichtsprofessor, erklärte vor der Jahresversammlung der amerikanischen Gouverneure: „The Enola Gay fight was a fight, in effect, over the reassertion by most Americans that they‘re sick and tired of being told by some cultural elite that they ought to be ashamed of their country.“21 Diese Geschichtskriege sind, und damit sei der dritte Problemkreis angesprochen, Ausdruck einer immerwährenden Suche der amerikanischen Nation nach Identität und Selbstvergewisserung, die das Land seit seiner Unabhängigkeit begleitet hat. What then is the American, this new man? Heute würde man ergänzen: This new woman? Die neue Herausforderung liegt in dem, was ich die „doppelte 20 Vgl. Linenthal / Engelhardt, History Wars, S. 73. 21 Ebd., S. 187. vgl. auch die umfangreiche Dokumentation der öffentlichen Debatte in: Kai Bird und Lawrence Lifschultz (Hrsg.), Hiroshima’s Shadow, Stonycreek, Conn., 1998, S. 312–409 sowie die geschichtswissenschaftliche Debatte in: Michael J.Hogan (Hrsg.), Hiroshima in History and Memory, New York 1996. Siehe zuletzt: Andrew Rotter, Hiroshima: The World’s Bomb, New York 2008.

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Globalisierung“ oder die „äußere und innere Globalisierung“ der USA nennen möchte. Zur äußeren Globalisierung: Die einzig verbliebene Supermacht der Welt hat einen globalen außenpolitischen Interessenradius. Ihre militärische Stärke, Marktmacht, Innovationsfähigkeit und die weltweite Präsenz der US-amerikanischen Populärkultur machen die USA zum wichtigsten Agenten der wirtschaftlichen, technischen und gesellschaftlichen Globalisierungstendenzen der Gegenwart. Noch nie in der Weltgeschichte hat eine einzige Nation so viel Macht und Einfluss kumuliert, was in den weitentfernten Provinzen dieses informellen Imperiums, etwa in Europa, mit wachsendem Unbehagen registriert wird. Den wachsenden Anteil von Amerikanern nichteuropäischen Ursprungs an der Gesamtbevölkerung möchte ich als „innere Globalisierung“ des Landes bezeichnen. Beide Tendenzen relativieren zugleich die bisher dominante Tradition und das europäische Erbe. Der Versuch, an den Schulen und Colleges ein neues globales Curriculum einzuführen, eine Weltgeschichte, die die Geschichte aller Kontinente, ihrer gegenseitigen Verflechtungen und Interaktionen, berücksichtigt, ist überaus bezeichnend. Dieses globale Curriculum soll die eurozentrische Perspektive einer amerikanischen Erfindung ersetzen, den nach dem Ersten Weltkrieg eingeführten Geschichtskurs über Western Civilization; im Studentenjargon ironisiert als Western Civ from Plato to NATO; von Minderheiten und Frauen kritisiert als ein Kurs, der nur von toten, weißen, europäischen Männern handle (dead white European males). Die damalige Präsidentin der American Historical Association, eine Historikerin des europäischen Mittelalters, verkündete im Februar 1996 nach der Rückkehr aus dem wiedervereinigten Berlin programmatisch den Abschied von der eurozentrischen Tradition. Noch sind die Kurse über Weltgeschichte allerdings in der Minderheit, wenn auch mit steigender Tendenz an den Colleges vertreten. Nach einer Statistik aus dem Jahr 1998 wurden im Jahre 1995 an den Colleges der USA 2745 Kurse über Weltgeschichte und 4379 Kurse über die westliche Zivilisation angeboten.22 Die kritische, multikulturelle und multiethnische Neudeutung der amerikanischen Geschichte wird, wie könnte es anders sein, in den USA zugleich als Gefahr und als große Chance begriffen, Amerikas Sendung für die Welt zu erneuern. Die nationale, patriotische Kritik reicht von gelebter Empörung, Fremdenfeindlichkeit und verstecktem Rassismus bis zu besorgten Reflektionen von Liberalen im europäischen Sinne wie Arthur Schlesinger Jr., der in seinem Bestseller „The Disuniting of America“23 davor warnt, dass die Nation durch eine Aufgabe des europäischen Erbes Gefahr laufe, auseinanderzufallen. Alles das, was Amerika groß gemacht habe – individuelle Freiheit, politische Demokratie, das System der checks and balances, der Rechtsstaat, Menschenrechte, kulturelle und wirtschaftliche Freiheit – gehöre zum europäischen Erbe. Die neuen Einwanderer aus Asien und Lateinamerika kämen schließlich in die USA, um genau diese Freiheiten in Anspruch 22 Zahlen nach dem Mitteilungsblatt der American Historical Association: Perspectives 36, May 1998, S. 25. 23 Arthur M. Schlesinger, Jr., The Disuniting of America: Reflections on a Multicultural Society, New York, London 1991.

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zu nehmen. Nur durch die Aneignung dieses europäischen Erbes, die englische Sprache eingeschlossen, könnten sie hoffen, Amerikaner zu werden und zugleich die wachsenden Konflikte zwischen den nicht-weißen Minderheiten selbst einzuhegen. Die Versuche indianischer, afro-amerikanischer und hispanischer Gruppen, zwar amerikanische Staatsbürger bleiben, sich aber historisch und kulturell aus Amerika hinausdefinieren zu wollen, halten Liberale wie Arthur Schlesinger Jr. für einen Sprengsatz, der die Einheit der Nation gefährden könnte. Die nicht-weißen Minderheiten müssten sich, wie Generationen weißer Einwanderer vor ihnen, im Verlauf von ein bis zwei Generationen assimilieren und amerikanisieren. Carol M. Swain, eine afro-amerikanische Juraprofessorin an der Vanderbilt University (Nashville), die sich über Harvard und Princeton nach oben gearbeitet hat, spricht in ihrem neuen Buch von einem zwar friedlichen, aber wachsenden „neuen, weißen Nationalismus“, der auf subtile Art und Weise den Kern der multiethnischen Gesellschaft in Frage stelle; und zwar genau deshalb, weil aus deren Perspektive das europäische Erbe verraten werde. „The new white nationalism, in this sense, might be considered a kind of repackaged, relabeled and transformed white supremacy as aiming its appeal on a broader and better educated audience.“24 Andere sehen den kritischen Umgang mit der amerikanischen Geschichte als die große Chance, die USA in den Stand zu setzen, erneut ihre Einzigartigkeit unter Beweis zu stellen und eine neue, große Sendung zu erfüllen: als ein erfolgreiches Modell einer multikulturellen und multiethnischen Gesellschaft, die unterhalb der für alle Staatsbürger geltenden Freiheiten und Gesetze mehrere Geschichten und mehrere Kulturen gelten lässt; und als ein erfolgreiches wirtschaftliches Modell, gerade weil die innere Globalisierung die Nation besser als andere Völker in den Stand versetze, mit den Herausforderungen der äußeren Globalisierung fertig zu werden. Dieser neue Exzeptionalismus hat durch die Wahl Barack Obamas zum ersten afro-amerikanischen Präsidenten der USA eine dramatische Bestätigung erfahren. Nietzsches Beobachtungen gaben mir die Möglichkeit, die öffentlichen Konflikte der Amerikaner um die Deutung ihrer Geschichte zu strukturieren. Sie pflegen mit Hingabe zugleich einen heroischen, antiquarischen und kritischen Umgang mit ihrer Vergangenheit. Nietzsches Befürchtung, dass eine institutionalisierte Geschichtswissenschaft dieses in seinem Sinne “gesunde” Verhältnis von Vergangenheit und Leben zerstören könne, scheint mir allerdings im Falle der USA gegenstandslos zu sein. Diese tatkräftige Nation mit einer herablassenden Skepsis gegenüber den Intellektuellen steht nicht in der Gefahr, dem Wahlspruch zu folgen: fiat veritas, pereat vita.

24 Carol M. Swain, The New White Nationalism in America: Its Challenge to Integration, Cambridge, MA u.a. 2002, S. 16.

DIE KLASSISCHE ANTIKE IN AMERIKA1 Alexander Demandt Als ich 1997 auf Einladung des dortigen Deutschen Historischen Instituts hin Washington besuchte, hörte ich einen Fremdenführer erklären, die Statue auf der Spitze des Capitols sei ein Indianer. Wußte er nicht oder wollte er nicht wissen, daß es sich um eine Personifikation der Freiheit handelt, um die Libertas von Thomas Crawford? Wahl und Form des Motivs war 1863 keine Reverenz vor den Ureinwohnern Amerikas, die ja noch militärisch niedergeworfen werden mußten und dann über ein halbes Jahrhundert auf ihr Bürgerrecht warteten. Die Statue erinnert an die Verbundenheit mit Alteuropa. Schon der Name „Capitol“ verweist zurück auf das antike Rom, und der Baustil bestätigt das. Der architektonische Kerngedanke, die Verbindung von Kuppelbau mit Tempelvorhalle, führt über Palladios Rotonda in Vicenza zurück auf Kaiser Hadrian und sein Pantheon in Rom. Diese genuin römische Bau-Idee zeigten auch die Capitole anderer Städte, die ich sah. Nirgendwo hat der Klassizismus solche Triumphe gefeiert wie in Nordamerika. Nirgendwo gibt es so viele Säulen, nirgendwo so viele Tempelgiebel, Kuppeln, Pilaster, Architrave wie in der Neuen Welt. Klassizistisch sind Rathäuser und Kirchen, Banken und Bahnhöfe, Postämter und Straßenbahn-Depots. Der Adler im Staatswappen der USA gemahnt an den Vogel Juppiters; wie dieser den Blitz, hält er in der einen Klaue ein Bündel Pfeile, in der anderen einen Zweig, der vom Ölbaum Athenas oder vom Lorbeer Apollons stammen könnte, und wird gekrönt von der Devise E Pluribus Unum „Aus Vielen (wird, werde oder wurde) Eines“. Als das Wappentier der Staaten gewählt wurde, gab es Widerstand gegen den ubiquitären Adler. Benjamin Franklin empfahl stattdessen einen urecht amerikanischen Vogel, nämlich den turkey, den Truthahn. Franklin war kein Ornithologe wie Alfred Brehm. Dieser bemerkte über die Pute: „Ihre Dummheit ist erschreckend“.2 Als Kompromiß einigte man sich auf den heimischen Bald Eagle, Haliaëtus leucocephalus. Heraldik liebt Raubtiere. Wie in der bildenden Kunst und in der staatlichen Symbolik so ist die klassische Antike auch in der Literatur präsent. Nur zwei Beispiele. Als die früheste literarische Leistung in Transatlantik gilt die Übersetzung von Ovids Metamorphosen durch George Sandys, erschienen in London 1626. Das Denkmal für ihn in Jamestown trägt die Inschrift Primo Poetae Americano. Mit Hexametern aus den Metamorphosen begrüßte Henry David Thoreau den Frühling in Concord. Sein Buch von 1854 Walden or Life in the Woods verherrlicht das Leben in der Natur, 1 2

Festvortrag zum 65. Geburtstag von Detlef Junker am 26. Juni 2004 in der Alten Aula der Universität Heidelberg. Für eine kritische Durchsicht danke ich Knud Krakau. Alfred Edmund Brehm, Brehms Tierleben, Bd. 5, Leipzig, Wien 1900, S. 612.

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abseits der Zivilisation, aber bereichert durch die Klassiker. Homer, Aischylos, Platon, aber auch Cato, Vergil und Ovid in den Originalsprachen sah er als Wege zu wahrem Menschentum. „Bücher sind der aufgespeicherte Reichtum der Welt“ – und es ist klar, welche er meint.3 Thoreaus Heimat Concord trägt einen lateinischen Namen und befindet sich damit in großer Gesellschaft. Auf der Landkarte Amerikas ist die Antike allgegenwärtig. Da finden sich altbekannte Ortsnamen wie Rome, Sparta, Olympia, Syracuse, Corinth, Utica, Palmyra, Memphis, Ithaca – und Athens gleich sechsmal. Den Namen „Philadelphia“ entnahm William Penn dem Neuen Testament. Philadelphia war eine der sieben Gemeinden Kleinasiens, an die Johannes seine Offenbarung sandte, eine Stadt, gegründet um 150 v. Chr. durch den „bruderliebenden“ König Attalos II Philadelphos von Pergamon. Andere Ortsnamen Amerikas zitieren antike Götter wie Neptun, Dichter wie Homer, Denker wie Seneca (S. C.), Feldherren wie Hannibal, Gelehrte wie Euklid, Staatsmänner wie Cincinnatus. Dutzende von Orten enden auf -polis; so Teutopolis in New Mexico. In der Goldsucherstadt Central City gibt es, sehr sinnig, eine Heureka-Street. Welche historischen Erinnerungen in der amerikanischen Öffentlichkeit sich an diese antiken Ortsnamen knüpfen und ob überhaupt – das ist ungewiß. Gleichwohl wird die Antike bis in die jüngste Zeit regelmäßig wiederbelebt. Im 18. Jahrhundert war das dominante Medium das Theater, im 19. Jahrhundert war es der Roman, seit dem 20. Jahrhundert ist es der Film. So wie die beliebten biblischen Themen kommen antike Stoffe mit beträchtlichem Aufwand in die Kinos. Nach Quo Vadis (1951), Ben Hur (1959), Spartacus (1960) und Cleopatra (1963) jüngst der Gladiator (2000), Troja (2004) und Alexander (2004). In unserer postheroischen Epoche brauchen wir Helden wenigstens auf der Leinwand. Griechischer Mythos motiviert und dekoriert technische Modernität, selbst in der Raumfahrt. Das zeigen Namen für Raketen und Kosmosprojekte wie Apollo, Atlas und Aurora, wie Mercury und Nike, Saturn und Titan. *** Die Verbindung zur Antike wurde in ganz Übersee dokumentiert, nicht nur in den USA. Denn verdankt Amerika nicht schon seine Entdeckung der Antike? Im Jahre 1873 erhielt der Direktor des Nationalmuseums von Rio de Janeiro die Kopie einer achtzeiligen Steininschrift, die bei Paraiba an der Nordküste Brasiliens gefunden worden sein soll. Der Text, 1874 publiziert, ist mit phönizischen Buchstaben in einer Sprache abgefaßt, die dem Hebräischen nahesteht. Er berichtet, zwölf Söhne Kanaans aus Sidon und drei Frauen seien an die Küste verschlagen worden, nachdem sie mit ursprünglich zehn Schiffen, im 19. Jahr des Königs Hiram II von Tyros (533 v. Chr. 4) in Eziongeber am Roten Meer aufgebrochen, zwei Jahre unterwegs waren und mehrere Leute verloren hatten. Zweimal werden Götter und Göttinnen genannt und um Schutz gebeten. Für die Glaubwürdigkeit des Fundes sprach, dass 3 4

Henry David Thoreau, Walden oder Leben in den Wäldern, Jena 1905, S. 99 ff.; S. 313 ff. Josephus, contra Apionem I 21 § 157.

Die klassische Antike in Amerika

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die Diktion philologisch unanstößig ist. Versuche, den Stein, von dem die Abschrift stammte, an Ort und Stelle aufzufinden, mißlangen allerdings. Freilich wäre auch dieser unschwer zu fälschen gewesen. An der grundsätzlichen Möglichkeit, dass karthagische Seefahrer den Atlantik überquert haben könnten, war nicht zu zweifeln. Und wer sollte schon in Brasilien imstande gewesen sein, einen korrekten phönizischen Text zu verfassen? Und was sollte sein Motiv gewesen sein? So hat es bis in unsere Zeit Verfechter seiner Echtheit gegeben.5 Die Gegner konnten indes auf einen verdächtigen Umstand verweisen. Kaiser Pedro II hatte damals gerade eine Pilgerfahrt ins Heilige Land hinter sich, und dies könnte den Anlaß geboten haben, eine uralte Verbindung zwischen Südamerika und der antiken Welt zu konstruieren. Der Kaiser selbst war in der Sprachwissenschaft bewandert und so angesehen, dass er als Mitglied in die Akademien von Paris, München und Berlin gewählt wurde. Korrekt sind ebenso die historischen Umstände. Die Abfahrt aus Eziongeber bei Akaba setzt eine Umsegelung Afrikas voraus, wie sie u.a. von Herodot (IV 42) für die Zeit um 600 erwähnt wird. Karthagische Münzen aus der Alexanderzeit, 1749 gefunden auf der Azoreninsel Corvo, beweisen die Fähigkeit der Punier, ins offene Meer vorzustoßen. Das war ja schon beinah der halbe Weg über den Atlantik. Auch eine Suche nach Land im Westen lässt sich motivieren. Die Karthager pflegten enge Beziehungen zu den Griechen, und bei ihnen war der Glaube an Land im Atlantik verbreitet. Platon6 überliefert den Mythos von Atlantis, jener Insel im Westmeer, die diesem den Namen gegeben hat. Sie sei größer als Asien und Afrika zusammen gewesen, dann aber im Luxus verkommen und im Meer versunken. Schon Homer fabelte von Elysium und den Inseln der Seligen im fernsten Westen, von einer Insel, wo die Sonne sich wendet und paradiesische Zustände herrschen.7 Der Geograph Strabon (III 2, 13) erklärte, Homer verdanke sein Wissen den Phöniziern. Die antiken Berichte über das Land im Atlantik erscheinen nicht nur als Überlieferung aus fernster Vergangenheit, sondern ebenso als Vision auf die fernste Zukunft. Unter Nero verfasste Seneca seine Tragödie Medea. Darin ging es um das Schicksal der pontischen Königstochter und die kühne Seefahrt der Argonauten über das Schwarze Meer. Das Chorlied auf die mutigen Schiffer endet in einem Ausblick auf die Leistungen der Gegenwart und die Entdeckungen der Zukunft. Schon jetzt, so Seneca, beherrschen wir die See, und es werden Zeiten kommen, in denen der Okeanos, das Weltmeer im Westen sich öffnet, eine ungeheure Landmasse (ingens tellus), ja neue Welten (novi orbes) werden von Thetys, der Meeresgöttin, erschlossen, und die am weitesten entfernte Insel wird nicht mehr Thule sein: nec sit terris ultima Thule (Medea 364 ff). Theopomp, ein jüngerer Zeitgenosse des Aristoteles, erklärte Europa, Asien und Afrika für Inseln im Weltmeer, jenseits dessen das eigentliche Festland liege. Es sei unermesslich. Die Menschen 5 6 7

Cyrus H. Gordon, The Authenticity of the Phoenician Text from Parahyba, in: Orientalia 37, 1968, S. 75 ff; S. 425 ff; Lienhard Delekat, Phönizier in Amerika, Bonn 1969. Dagegen: Guy Bunnens, L´Expansion phénicienne en Méditerranée, Brüssel 1979, S. 43 f. Platon, Kritas 108 E ff; Timaios 24 E ff. Homer, Odyssee IV, S. 561 ff; XV, S. 403 ff.

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dort seien doppelt so groß, würden doppelt so alt, und ihre Gesetze bestimmten das Gegenteil von dem, was hier gelte.8 Es gibt auch ein Amerika in der Antike. Bemerkenswerter als die Koinzidenz zwischen Vergangenheit und Zukunft in diesen Nachrichten ist die Begegnung von West und Ost. Denn das Land des Glücks wurde während der Antike auch in Fernost vermutet. Die Schätze des Orients lokalisierte Strabon (II 5, 32) in Indien, den Garten Eden suchte der Reisephilosoph Junior9 im äußersten Osten. Immer wieder sind es Gold und Edelsteine, die das Glück symbolisieren. Fernwest und Fernost schließen sich zusammen in der Lehre von der Kugelgestalt der Erde. Nachdem sie schon Hesiod, Parmenides und Pythagoras vertreten hatten10, erörterte sie Platon im Timaios (62 C ff). Da der Himmel eine Hohlkugel sei, gebe es für ihn kein Oben und kein Unten, und dasselbe gelte für den Zentralkörper, die Erde. Denn wenn ein Mensch sie umrunde, würde er zum Gegenfüßler (antipous). Aristoteles verwarf zwar die Idee von Antipoden, indem er die Mitte mit der Bezeichnung „unten“ belegte, vertrat aber die Kugelgestalt der Erde nachdrücklich.11 Das Meer jenseits der Säulen des Herakles im Westen und das Meer jenseits von Indien im Osten sei dasselbe, so daß man auf dem Weg über den Atlantik Asien erreichen müsste. Um 220 v. Chr. berechnete Eratosthenes in Alexandria den Erdumfang12, sein Ergebnis ist erst im 17. Jahrhundert verbessert worden. Die Erkenntnis von der Kugelgestalt der Erde übernahmen u.a. Strabon, Cicero und Seneca.13 Unter Trajan jedoch präsentierte Marinus von Tyros eine Neuberechnung des Erdumfangs. Er reduzierte die annähernd zutreffenden 250 000 Stadien des Eratosthenes auf 180000, und diese falsche Zahl fand Eingang in das griechische Standardwerk zur Geographie bei Claudius Ptolemaeus. Seit dem frühen 15. Jahrhundert lag es in lateinischer Übersetzung vor und wurde benutzt von Petrus Alliacus, dem Kanzler der Sorbonne, in dessen 1483 gedrucktem Buch Imago Mundi. Er inspirierte Kolumbus. Insofern verdankt sich Amerika nicht nur dem Wissen der Antike, sondern auch einem Irrtum der Antike. Denn nur die unzutreffende kurze Entfernung von Küste zu Küste bot Aussicht auf Bewältigung. Hätte der Zufall dem Kolumbus nicht Amerika in den Weg gelegt, so wäre er auf dem Pazifik verhungert.14 *** Die Antike hat nicht nur der Entdeckung, sondern ebenso der Gestaltung Amerikas Pate gestanden. René de Châteaubriand15 benannte 1831 als die drei historischen Wurzeln Europas das Christentum, das Germanentum und die klassische Antike. 8 9 10 11 12 13 14 15

Aelian, Varia Historia III 18. Jean Rougé (Hrsg.), Expositio totius mundi et gentium, Paris 1966, S. 350. Diogenes Laertios VIII 48. Aristoteles, De caelo 308 a 20; 297 b 24. Kleomedes I 10. Strabon II 5, 10; Cicero, De re publica VI 20 f; Seneca, Naturales Quaestiones IV 11, 2. Alexander Demandt, Sternstunden der Geschichte, München 2000, S. 152 ff. François-René de Châteaubriand, Études ou discours historiques sur la chute de l´Empire romain, Paris 1831.

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Und dasselbe gilt für das frühneuzeitliche Amerika. Die Gedankenwelt der ersten Kolonisten speist sich aus der Bibel, aus dem englischen Common Law, das wäre die germanische Komponente, und aus der vorchristlichen antiken Literatur, um die es uns jetzt geht. Sie bot das Fundament für die säkulare Bildung beiderseits des Atlantiks.16 Die führenden Köpfe unter den ersten englischen Siedlern waren in der Antike zu Hause. Nachdem schon Francis Bacon 161217 die Verse aus Senecas Tragödie Medea als in Amerika erfüllte Prophezeiung gedeutet hatte, diente die Fahrt der Argonauten dem mythischen Rollenspiel der Publizisten von Virginia. Öfter als Platons Atlantis und Homers Elysium wurde die Suche nach dem Goldenen Vlies beschworen. Amerika, das neue Kolchis, bot einem zweiten Jason und seinen mutigen Seefahrern ungehobene Schätze nun im fernen Westen. Näher noch als dieser mythische lag ein historischer Rückbezug: die Entsendung von Kolonien durch die Römer ins ganze Mittelmeergebiet, lieferten diese doch den zentralen Begriff colonia für die Landnahme in Übersee. Der römischen Tradition konnte man ebenso das Denkbild für eine glückliche Zeitenwende entnehmen, so geschehen 1702 bei Cotton Mather, dem Vergil der Neuen Welt.18 Vergils vierte Ekloge mit der Verheißung eines novus ordo saeclorum – vom Humanismus bis zum Faschismus strapaziert – sie erscheint auf den Dollarnoten. Die Parole einer neuen aurea aetas diente Hoffnungsträgern und Weltverbesserern stets als klassischer Ornat. Am deutlichsten wurde der Einfluß der antiken Autoren vor und während der Unabhängigkeitsbewegung. Benjamin Franklin berichtet in seiner Autobiographie, daß sein Vater Plutarchs Lebensbeschreibungen besaß, in denen der Knabe „mit Begeisterung“ las. Ebenso beeindruckten ihn Xenophons Erinnerungen an Sokrates, namentlich dessen dialektische Methode. Seinem Tugendbüchlein gab Franklin das Motto: O vitae Philosophia dux! (O Lebensleiterin Philosophie!) O virtutum indagatrix (Finderin der Tugenden), expultrixque vitiorum (Vertreiberin der Laster) … Unus dies, bene et ex praeceptis tuis actus (ein Tag, gut und nach deinen Vorschriften verbracht) peccanti immortalitati est anteponendus (sei dem Sünder mehr wert als die Unsterblichkeit). Der Spruch stammt aus Ciceros Tusculanen (V 5). Als Vorbilder wählte der junge Franklin sich Jesus und Sokrates.19 Eine Fundgrube für Antikenbezüge sind die Schriften von Thomas Jefferson. Dort begegnen uns u.a. Alexander der Große, Antoninus d. h. Marc Aurel, Caesar, Cato, Cicero, Demosthenes, Epiktet, Epikur, Fabius Cunctator, Homer, Livius, Platon, Plutarch, Ptolemaios, Pythagoras, Seneca, Siculus d. h. Diodor, Sokrates, Theokrit, Theognis, Vergil und Xenophon. Tacitus war für Jefferson der bedeutendste 16 Robert R. Bolgar (Hrsg.), Classical Influences on Western Thought A.D. 1650–1870, Cambridge 1979; Jan W. Schulte-Nordholt, Translatio studii and American Identity, in: Rob Kroes (Hrsg.), The American Identity: Fusion and Fragmentation, Amsterdam 1980, S. 65 ff. 17 Francis Bacon, On prophecies, in: ders., Essays, London 1806, S. 170 ff. 18 Margarita Mathiopoulos, Amerika: das Experiment des Fortschritts, Paderborn 1987, S. 83 f. 19 Benjamin Franklin, Autobiographie (hrsg. von Anselm Schlösser), Berlin 1956, S. 22; S. 30; S. 147; S. 151; Richard M. Gummere, The American Colonial Mind and the Classical Tradition, Cambridge 1963, 125 ff.

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Autor der Weltliteratur – ohne Ausnahme.20 Die Korrespondenz von Jefferson und John Adams enthält Exkurse über altgriechische Metrik, über das Vokabular Ciceros und Interpretationen zu Kleanthes und Theokrit. Jefferson zeigt, dass er des Griechischen mächtig war, anders als seine modernen Herausgeber21, wie die mitunter sinnlos entstellte Schreibung bezeugt. Auf seiner Rheinreise 1788 besuchte Jefferson am 2. April auch Duisburg, wo damals die Reste des Legionslagers von Quinctilius Varus gezeigt wurden, den Arminius einst im Teutoburger Wald besiegt hat. Jefferson memoriert, nicht ganz richtig, aber auch nicht ganz falsch: in the time of Tiberius, I think it was. Jefferson wollte das Lager aufsuchen, doch fand er in der ganzen Stadt – in Wirklichkeit ein „ummauertes Dorf“ – keinen Menschen, mit dem er sich auf Englisch, Französisch, Italienisch oder Latein hätte verständigen können.22 Rheinauf besuchte er dann Düsseldorf, Köln, Bonn, Koblenz, Nassau, Wiesbaden, Frankfurt und Mainz. Er lobte den Wein, die Fische und das Wildpret. Alt-Heidelberg, namentlich die Schloßruine, rühmte er in den höchsten Tönen: romantic and pleasing beyond expression. Die Krone aber war das große Faß, the famous ton of Heidelberg, new built in 1751. Mit Bedauern bemerkte er: There is no wine in it now. Jeffersons Landsitz in Virginia, Monticello, erinnert im Namen an den Mons Caelius in Rom, wo die reichen Senatoren wohnten, und in der Anlage an eine Villa Rustica, wie der ältere Cato23 sie beschreibt. Der jüngere Plinius24 hätte seine Lust an den Ausblicken gehabt, ebenso an den aus der Alten Welt mitgebrachten Kunstwerken. Wie Cato war Jefferson in einer Person: Advokat und Staatsmann, stolzer Großagrarier und skrupulöser Sklavenhalter, fasziniert von griechischer Kultur und durchdrungen von römischer Moral. So wie Cato hat auch Jefferson das Verhältnis zu seiner Lieblingssklavin erfolglos verheimlicht.25 1937, als auch in Deutschland der Klassizismus zum letzten Mal Konjunktur hatte, entstand auf der Mall das Jefferson Memorial, wieder nach dem Vorbild von Hadrians Pantheon in Rom. Jefferson selbst hat nach diesem Muster die Bibliotheksrotunda seiner Universität in Charlottesville gestaltet. Als Grabmal wünschte er sich 1826 einen Obelisken von 9 Fuß Höhe, wie er schreibt: für seine Manen. Zu Jeffersons Zeit florierte, ja kulminierte der Rekurs auf die Antike, zumal in der Diskussion um die Verfassung der Vereinigten Staaten.26 Deren Entstehung vermittelt uns das grundlegende Geschichtswerk von George Bancroft, der 1818 in Göttingen und 1820 in Berlin die Alten Sprachen studiert hatte. Er zeigt, wie die amerikanische Revolution aus dem Geist der Aufklärung lebte, als die Macht der christlichen Tradition hinter den Glauben an die menschliche Vernunft zurücktrat und die Bibel gegenüber den griechischen und römischen Denkern an Autorität 20 21 22 23 24 25 26

Mathiopoulos, Amerika, S. 90. Thomas Jefferson, Writings (hrsg. von Merrill D. Peterson), New York 1984, S. 269; S. 597. Ebd., S. 634. Cato, De agricultura III 2; XIV 1 ff. Plinius, Briefe II 17; V 6; 9, 7. Plutarch, Cato maior 24. Alexander Demandt, Der Idealstaat. Die politischen Theorien der Antike, 2. Aufl. Köln 1993, S. 417 ff.

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verlor. Die von den Humanisten wiederentdeckten Schriften der heidnischen Antike wurden im 18. Jahrhundert politisch virulent, wie in Westeuropa, so auch in den Dreizehn Kolonien. Die politischen Sprecher waren großenteils Juristen, die intellektuelle Elite der Zeit, geschult im römischen Recht und bestens bewandert in der antiken Literatur. Latein kannten alle, viele auch Griechisch. Neben den Originalquellen kursierten zahlreiche Übersetzungen ins Englische und Französische, aber auch Anthologien und populäre Kurzfassungen, die belegen, welches Gewicht eine Aussage bekam, wenn sie durch einen Verweis auf ein antikes Ereignis oder in Form eines Klassikerzitats vorgebracht werden konnte. Die Antike bot überwiegend positive, vorbildhafte Beispiele, daneben aber auch negative, abschreckende. 1787 bemerkte Franklin über die Entstehung der Verfassung: We have gone back to ancient history for models of government and examined the different forms of those Republics, which having been formed with the seeds of their own dissolution, now no longer exist.27 Die christliche Tradition trat zurück. Mit bissigem Humor fragte ein Geistlicher in North Carolina, als dort die Verfassung ratifiziert werden sollte: „Bei wem sollen wir schwören, da christliche Werte nicht mehr zählen: bei Jupiter, Juno, Minerva, Proserpina oder Pluto?“ In der Grundsatzfrage, ob die Kolonien einen Anspruch auf Selbständigkeit hätten, bot das Altertum Antwort. Eine historische Argumentation konnte auf die griechischen Tochterstädte verweisen, die stets autonom waren und nur in einem Pietätsverhältnis zu ihrer Metropolis standen; eine philosophische Beweisführung durfte sich auf Ciceros Lehre vom Naturrecht berufen, das ebenso alt sei wie die Menschheit selbst, jedem Vernunftwesen einsichtig und keinem Machthaber unterworfen28, so John Adams. Grundlegend für die Verfassung und die politische Begrifflichkeit überhaupt wurde die Politik des Aristoteles, des archphilosopher, wie John Locke ihn nannte.29 John Corbin schrieb 1950: The theory of our Constitution derives from Aristotle, and was put into successful practice in ancient Rome, in eighteenth-century England, and in our early state constitution, before it was given its most perfect embodiment by the Convention of 1787.30 In seiner Politik hatte Aristoteles die Terminologie der Staatsformen kanonisiert und bestimmt, was unter Monarchie und Tyrannis, unter Aristokratie, Oligarchie und Demokratie zu verstehen sei. Zudem beeindruckten die von Aristoteles vertretenen Prinzipien von Freiheit und Gleichheit, von bürgerlichen Pflichten und Rechten, von Herrschaft und Gehorsam in Personalunion. Die absolutistischen Legitimitätskriterien der dynastischen Tradition und des Gottesgnadentums in Europa waren für die amerikanischen Gründungsväter ebenso abwegig wie für Aristoteles. Sein Leitgedanke war die ausgleichende Gerechtigkeit zwischen gleichberechtigten Bürgern, eine Gerechtigkeit, die durchaus auch eine soziale Dimension aufwies, indem ein idealer Staat aus idealen Bürgern 27 Max Farrand (Hrsg.), The Records of the Federal Convention of 1787, Bd. 1, New Haven 1911 / 1966, S. 451. 28 Cicero, De re publica III 33; Ders., De legibus I 18; II 8. 29 George Patrick Henderson, The Revival of Greek Thought 1620–1830, New York 1970. 30 Gummere, Colonial Mind, S. 176.

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jedem einen Spielraum eröffnete, jedem eine Privatsphäre garantierte, aber weder großen Reichtum noch große Armut zuließ. Das ideale Leben war für Aristoteles nicht das Streben nach Reichtum auf Kosten der Mitbürger, sondern die Entfaltung der arete, der virtus, der Leistung in der und für die Gemeinschaft. Auch dieser Gedanke belebte die Diskussion zwischen den Republikanern und den Liberalen der Revolutionszeit. Denn man wusste sehr wohl, dass weder die griechische Demokratie noch die römische Republik überlebt hatte, und erklärte dies aus moralischem Versagen. Wo hingegen statt der Verantwortung jedes Einzelnen für das Wohl des Ganzen das größte Glück für die größte Zahl angestrebt wird, so der Gedanke von Bentham (1789), da darf eine kleine Zahl, eine Minderheit ausgebeutet werden. Dies war für Aristoteles auf Bürgerebene inakzeptabel. Dennoch ging es ohne Ausbeutung nicht ab, wie seine Verteidigung der Sklaverei lehrt. Zwar kam für ihn eine Versklavung von Griechen durch Griechen nicht in Frage, wohl aber die von Barbaren. Diesen bescheinigte er Vernunft, Kunstsinn und Tapferkeit, bestritt aber ihre Fähigkeit zur Selbstbestimmung.31 Diese später, selbst bei Thomas von Aquino akzeptierte Charakteristik ließ sich unschwer auf die Schwarzen übertragen, und so konnte Aristoteles auch zitiert werden, wenn die Sklavenhaltung – so 1550 in den Cortes zu Madrid- gerechtfertigt werden sollte. Theodor Mommsen nannte die Sklaverei das „Grundübel“ der antiken Staaten und prophezeite Nordamerika ähnliche Konflikte wie dem spätrepublikanischen Rom, wenn drüben die „Drachensaat“ der Negersklaverei aufgehe.32 Abgesehen von der Sklavenfrage würden wir heute das Staatsideal des Aristoteles als „Demokratie“ bezeichnen. Er selbst hat das nicht getan. Seinen Idealstaat nannte er Politie, Bürgerstaat schlechthin. Demokratie war für ihn dessen Entartung in Pöbelherrschaft, instabil wankend zwischen Anarchie und Tyrannis. Die Politie verkörpert den Typus der Mischverfassung, die monarchische, aristokratische und demokratische Elemente vereint, ein Gedanke der von Polybios in dem vielgelesenen 6. Buch seines Werkes (VI 10, 7) abstrakt entwickelt und konkret in der römischen Republik entdeckt wurde.33 Die drei Elemente müssten, so fordert Polybios, wie bei einem wohlgebauten Schiff im Gleichgewicht stehen. Das weist voraus auf Bolingbroke mit seinen checks and balances und auf Montesquieu mit seiner division des trois pouvoirs.34 Die von Polybios beschriebene, von Cicero übernommene Idee der Mischverfassung von Sparta und Rom genoss bei den Founding Fathers, insbesondere bei Madison, Hamilton und John Adams entschieden höheres Ansehen als die attische Demokratie. John Adams verwahrte sich 1787 gegen eine Gleichsetzung von „Republik“ und „Demokratie“.35 Die Verfassung Solons habe nur hundert Jahre gehal31 Aristoteles, Politik 1252 b 5; 1255 a 5. 32 Theodor Mommsen, Römische Geschichte, Bd. 3, Leipzig, Berlin 1856, S. 511; S. 532. 33 Reinhold Meyer (Hrsg.), The Classick Pages: Classical Reading of Eighteenth Century Americans, University Park, PA 1975, S. 121; ders., Classica Americana. The Greek and Roman Heritage in the United States, Detroit 1984. 34 Charles de Montesquieu, Esprit des Lois XI 6, in Rom: XI 13 ff. 35 Willi Paul Adams, Republikanische Verfassung und bürgerliche Freiheit. Die Verfassungen

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ten und auch in dieser Zeit – wie die Tyrannis des Peisistratos lehrt – die Freiheit nicht schützen können.36 Demokratie sei Tyrannei der Mehrheit und ihrer Demagogen gegenüber einer ungeschützten Minderheit. Abschreckend waren, für Adams die Exzesse während des Peloponnesischen Krieges, insbesondere die Ausschreitungen in Kerkyra.37 Man wusste, dass die „souveräne Canaille“ (mit Schiller zu sprechen) in Athen krasse Fehlentscheidungen gefällt hat, oligarchische Umstürze erlitt und außenpolitisch versagte, während die republikanischen Römer ein Weltreich schufen. Demokratie, so meinte man, sei nur in kleinen, überschaubaren Gemeinwesen praktikabel und überdies durch Herrschaft der Straße und Demagogenauftritte gefährdet. Der Begriff „Demokratie“ hatte in der amerikanischen Verfassungsdiskussion einen abfälligen Beigeschmack. In den Schriften von Jefferson, auf den sich ja die Demokratische Partei zurückführt, findet man nirgendwo ein Bekenntnis zur „Demokratie“; im Text der von ihm verfassten amerikanischen Unabhängigkeitserklärung sowie in der von Madison konzipierten Verfassung kommt der Begriff überhaupt nicht vor, weder als Substantiv noch als Adjektiv. Dasselbe gilt für den Gedanken der Gleichheit. Das hat Gründe. Immanuel Kant stellte 1795 fest, dass Demokratie als Herrschaft der Mehrheit „notwendig ein Despotism“ sei. Er forderte Repräsentation.38 Trotzdem gab es einzelne glühende Verfechter demokratischer Prinzipien, so Thomas Paine39 mit seiner Bemerkung von 1792: What Athens was in miniature, America will be in magnitude. Dennoch dauerte es bis 1828, ehe sich die positive Konnotation des Demokratiebegriffs durchsetzte und mit der Präsidentschaft von Andrew Jackson 1829 eine Partei sich „demokratisch“ zu nennen getraute. Positiver sah man das republikanische Rom. John Adams schwärmte für Cicero: All the ages of the world have not produced a greater statesman and philosopher united than Cicero.40 Von ihm übernahm Adams die Staatsdefinition: res publica est res populi.41 Cicero habe die in der ewigen Vernunft begründeten drei Stützen des Staates herausgestellt: den Magistrat als Exekutive, den Senat als Kontrollorgan und das Volk als beschließende Instanz. The Roman constituency formed the noblest people and the greatest power, that has ever existed.42 Die Begeisterung für das republikanische Rom spiegelt sich in den lateinischen Pseudonymen der amerikanischen Verfassungsväter. Das war zeitüblich. Aus der Französischen Revolution43 kennen wir die „Brutusse, Gracchusse, Publicolas, die und politischen Ideen der amerikanischen Revolution, Darmstadt u.a. 1973, S. 103; S. 108. 36 John Adams, A Defence of the Constitutions of Government of the United States of America, [London 1787 / 1788], Bd. 1 / 3, New York 1971, S. XXIV. 37 Adams, Defence, Bd. 3, S. 355; Thukydides III 82 ff. 38 Immanuel Kant, Zum Ewigen Frieden, Königsberg 1795. Erster Definitivartikel. 39 Thomas Paine, The Rights of Man, Part II, Albany, NY 1792. 40 John Adams, Works IV 295. 41 Cicero, De re publica I 39. Volk sei nicht jede zusammengelaufene Menschengruppe, sondern eine Gemeinschaft, durch rechtliche Übereinkunft und gemeinsamen Nutzen vergesellschaftet. 42 Adams, Defence, Bd. 1, S. 175. 43 Harold Talbot Parker, The Cult of Antiquity and the French Revolutionaries, Chicago 1937.

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Tribunen, die Senatoren und Caesar selbst“, so Karl Marx 1852 im Achtzehnten Brumaire. Ähnlich zuvor schon in England. 1768 bis 1772 erschienen im Public Advertiser zu London heftige Angriffe auf den Absolutismus Georgs III unter dem Titel Junius Letters. Jeder Gebildete verstand die Anspielung auf die beiden Freiheitshelden, auf Lucius Junius Brutus, den Gründer der römischen Republik, und auf Marcus Junius Brutus, den Caesarmörder. Die Belege für derartige Charaktermasken aus den Staaten sind Legion.44 John Dickinson mit seinen Fabius Letters beschwor Quintus Fabius Cunctator, der Rom vor Hannibal gerettet hatte. William Smith tarnte sich als „Cato“, Samuel Adams als „Vindex“. Franklin firmierte mit „Agrippa“, Hamilton mit „Manlius“. Deckname für Washington war „Scaevola“, für Jefferson „Scipio“, für John Adams „Brutus“. Wenn die drei Verfasser der Federalist Papers (1787 / 88) mit Publius zeichneten, so dachte man wohl an die Ableitung von populus-Volk. Auch die Bösewichter der Römerzeit feierten Urständ: die politischen Gegner nannte man Tarquinius, Verres oder Catilina. Die Römer verstanden sich nicht als Abstammungsgemeinschaft, anders als die Griechen, sondern als politischer Verband. Gemäß der Legende vom Trojaner Äneas sahen sie sich als Einwanderer. Entsprechend der Sage vom Asyl des Romulus begrüßten sie jeden tüchtigen Zuwanderer. Es war ihr Stolz, immer wieder Neubürger aufgenommen und eben dadurch alle anderen Staaten überflügelt zu haben.45 Noch in der Spätantike war Rom ein asylum mundi totius – eine Zufluchtsstätte für alle Welt.46 Dieses Selbstverständnis findet sich ebenso in Amerika. Erklärte Oliver Wendell Holmes senior 1858: We are the Romans of the modern world, the great assimilating people47, so zitiert er das durchaus positiv gemeinte Bild vom melting pot. Freilich gab es in Rom auch kritische Stimmen. Negativ klingt Ciceros Vergleich der Römer seiner Zeit mit einer conluvio, dem Kanalwasser. Juvenal (III 62) parallelisierte Roms gemischte Bevölkerung mit dem Tiber, in den sich alles Mögliche ergieße. Im Allgemeinen wurde der Charakter des Imperiums als Vielvölkerstaat jedoch begrüßt. An Rom gemahnt nicht zuletzt das amerikanische Sendungsbewusstsein. Rom sah nach Vergil (Aeneis VI 847 ff) seine Aufgabe darin, Frieden und Fortschritt unter den Völkern zu sichern. Der Pax Romana entspricht die Pax Americana. Die Parallele ist oft gezogen worden, u.a. von Arnold Toynbee48, sie orientiert sich an dem amerikanischen Selbstverständnis als universale Zivilisationsmacht und Weltpolizei. Idealistische Impulse, politischer Machtwille und materielle Motive fließen in beiden Fällen zusammen. Die jüngsten Interventionen haben die USA als neues Rom wieder ins Gespräch gebracht.49

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Gummere, Colonial Mind, S. 13. Livius IV 3, 13; Tacitus, Annalen XI 24. Ammian XVI 10, 5. Johannes Urzidil, Amerika und die Antike, Zürich 1964, S. 91. Arnold Joseph Toynbee, America and the World Revolution, New York 1962, 16 f. Ernst Renatus Zivier, Pax Americana – Bellum Americanum. Auf dem Weg zu einem neuen Völkerrecht oder einem neuen Völkerunrecht?, in: Recht und Politik 39, 2003, Heft 4, S. 194 ff.; Peter Bender, Weltmacht Amerika – das Neue Rom, Stuttgart 2003.

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Zunächst dominierte allerdings die innenpolitische Perspektive. 1783 wurde der Cincinnatus-Orden gegründet, so benannt durch Friedrich Wilhelm Baron von Steuben50 – eine Kameradschaft von zweitausend Offizieren zur Verteidigung der Verfassung. Nach der bei Livius (III 25 ff.) überlieferten Legende war der Patrizier Lucius Quinctius Cincinnatus (deutsch: der Lockenkopf) 458 v. Chr. vom Acker geholt und zum Diktator ernannt worden, hatte die Feinde besiegt, um wieder auf sein Gut zurückzukehren. Das Ordenszeichen zeigt die Szene seiner Berufung auf dem Brustschild des Adlers mit der küchenlateinischen Umschrift Omnia Relinquit Servare (statt ad servandum oder ut servarent) Rem Publicam. Erster Präsident der Cincinnati wurde George Washington, der sich damals nach seinem Sieg über die Briten auf sein Gut Mount Vernon zurückgezogen hatte. Zwei Jahre zuvor war der Versuch, ihn nach römischem Vorbild zum Diktator zu ernennen, an sechs Stimmen gescheitert. Der Sprecher von Virginia drohte schon 1776 für einen solchen Fall mit Tyrannenmord, gemäß der Devise im Staatssiegel Sic Semper Tyrannis. Die von Horatio Greenough (1805 bis 1852) geschaffene Marmorstatue George Washingtons zeigt ihn als Römer in der Toga, bestimmt für die Rotunde des Capitols.51 Die Kontrolle der Machthaber war stets ein Kardinalproblem. Man brauchte, suchte und fand Vorbilder für die Neue in der Alten Welt. Die Verfassung von Pennsylvania von 1776 reaktivierte das altrömische Amt des Censors, des Sittenwächters. Die Staaten Virginia und Delaware garantierten ihren Amtsträgern während der Dienstzeit Immunität, so wie die römischen Magistrate sie genossen, unterwarfen sie anschließend jedoch einer Überprüfung nach dem Muster der römischrechtlichen Quaestio de repetundis. Begründetes Misstrauen gegenüber den Repräsentanten führte zur Einrichtung eines Zweikammersystems. Das Oberhaus, das in Europa als Gegengewicht zur Monarchie diente, war in Amerika als Pendant zum House of Commons gedacht. Antikes Beispiel war der Areopag von Athen, der die Verfassung überwachte, die Gerusie in Sparta mit den Ephoren und natürlich der römische Senat, der dem amerikanischen den Namen gab.52 Dieser müsse die Exekutive wie die Legislative kontrollieren, damit nicht die arme Mehrheit die reiche Minderheit auf legalem Wege enteignet und sich einem populären Diktator ausliefert. Abschreckendes Beispiel war die römische Entwicklung von den Gracchen zu Caesar.53 Alle antiken Republiken hätten einen Senat besessen, meinte Madison. Diese Einrichtung garantiere die Freiheit.54 Der eigentliche Streitpunkt in der amerikanischen Verfassungsfrage war bekanntlich das Verhältnis zwischen Föderalismus und Zentralität. Welche Rechte mussten die Einzelstaaten der gemeinsamen Regierung übertragen, so dass diese handlungsfähig war, zumal im Kriegsfall, ohne dass die Freiheiten der zehn kleineren Kolonien darunter leiden müssten? Diese Diskussion wurde mit Argumenten aus 50 51 52 53 54

Jefferson, Writings, S. 632. Heute in der Smithsonian Institution. Gummere, Colonial Mind, S. 186; Adams, Republikanische Verfassung, S. 248. Farrand, Records, Bd. 1, S. 430 ff. Gilbert Chinard, Polybios and the American Constitution, in: Journal of the History of Ideas 1, 1940, S. 38 ff.; S. 55 f.

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der griechischen Geschichte geführt. Das Problem war nicht neu. Das antike Hellas bestand aus zahlreichen selbständigen Stadtstaaten, die zum ersten seit archaischer Zeit dauerhafte religiöse Kultbünde, Amphiktionien, bildeten; die zum anderen in der klassischen Periode sich zeitweilig zu Militärbündnissen, zu Symmachien, zusammenschlossen; und zum dritten in hellenistischer Zeit regelrechte Bundesrepubliken bildeten. Der Begriff Amphiktionie wurde im Jahrzehnt vor der amerikanischen Revolution viel zitiert, unter anderem von George Mason, und taucht dann in der Vorgeschichte des Völkerbundes mehrfach auf, so in Deutschland bei Kant 1795, in Amerika bei John Sharp Williams 1914.55 Mason lobte vor allem die Symmachie, mit der die Griechen die Perserkriege bei Marathon und Salamis siegreich bestanden hatten. Ihre späteren Niederlagen gegen die Makedonen und die Römer führte John Dickinson auf einen Mangel an Geschlossenheit zurück. Gleichwohl pries er den dritten Bundestyp, die von Polybios als mustergültig beschriebene achäische Liga. Sie wird als demokratike kai synhedriake politeia bezeichnet56, als demokratischer und parlamentarischer Staat, als Bundesrepublik mit einem doppelten Bürgerrecht, das die Zugehörigkeit zu einer Stadt und zum Bund umfasste. Die Liga war auf Zuwachs angelegt und ist gewachsen. Beitrittswillige Poleis mussten gegebenenfalls ihr monarchisches Regime abschaffen und sich als Demokratie konstituieren, dann konnten sie gemäß Polybios (II 38) als gleichberechtigte Mitglieder aufgenommen werden. Das imponierte James Monroe – so stellte er sich das Wachstum der Vereinigten Staaten vor.57 Die achäische Liga wurde im 3. Jahrhundert v. Chr. von einem Synhedrion, einem Parlament, regiert, das von den einzelnen Mitglied-Städten beschickt wurde. An der Spitze stand ein jährlich gewählter unbesoldeter Strategos, der nach je einem Zwischenjahr wiedergewählt werden konnte. Der ähnlich aufgebaute lykische Bundesstaat umfasste 23 Stadtgebiete, die je nach Größe eine, zwei oder drei Stimmen im Rat besaßen. Montesquieu58 sah hier das Muster einer föderativen Republik und fand Zustimmung bei James Madison und Alexander Hamilton.59 In den Papieren von George Washington entdeckte man eine Skizze dieses Verfassungstyps. Die Parallelen verblüffen: So wie die achäische Bundesregierung tagte der amerikanische Kongress anfangs abwechselnd in verschiedenen Städten. Aus Besorgnis vor der Dominanz einer Hauptstadt bauten die Achäer Megalopolis, bauten die Amerikaner die Stadt Washington sozusagen auf die grüne Wiese. Und dort steht ja auch das Capitol, das die Verbindung zwischen Amerika und der Antike sinnfällig macht. Es unterstreicht zugleich die Beziehungen zu Europa, damit auch zu Deutschland. Diese bestehen nicht zuletzt in wissenschaftlicher Zusammenarbeit, wie das Heidelberg Center for American Studies eindrucksvoll bezeugt. In welcher Form auch immer: Geschichte verbindet. 55 56 57 58 59

Gummere, Colonial Mind, S. 184. Polybios XXXI 2, 12 Gummere, Colonial Mind, S. 182. Montesquieu, Esprit de Lois IX 3. Winfried Breil, Republik ohne Demagogie. Ein Vergleich der soziopolitischen Anschauungen von Polybios, Cicero und Alexander Hamilton, Bochum 1983.

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In den Jahren 1867 bis 1874 war George Bancroft Gesandter der Vereinigten Staaten in Berlin. Er verkehrte im Hause von Theodor Mommsen, der ihm einen poetischen Gruß60 widmete: Wir sind vom selben Schlage, / Uns hebt dieselbe Flut. Ihr braucht die alte Sage, / Wir brauchen frisches Blut. Des Einen Volks Begründung, / Das war, das ist uns Rom. 61 Vertiefung und Verbündung / Schafft jetzt am Völkerdom. So klingt hier die Parole, / Sie klingt auch drüben wohl: Vom alten Kapitole / Zum neuen Kapitol!

60 F. Pauly, Theodor Mommsen und Schleswig-Holstein, in: Schleswig-Holstein. Monatshefte für Heimat und Volkstum 7, 1955, S. 127 ff.; S. 130, vgl. Albert Wucher, Theodor Mommsen. Geschichtsschreibung und Politik, 2., neubearb. Aufl. Göttingen 1968, S. 212. 61 Hier zitiert Mommsen: e pluribus unum.

EXZEPTIONALISMUS UND MISSION. PRIVILEG ODER GESTEIGERTE VERANTWORTUNG FÜR AMERIKAS ROLLE IN DER WELTPOLITIK? Knud Krakau Vor wenigen Jahren begann auf einer Konferenz, die dem Vergleich nationaler Missionsideologien gewidmet war, ein amerikanischer Religionshistoriker seinen Beitrag über „The American Israel“ mit dem Satz: „It is a scholarly commonplace that Americans have believed themselves to be providentially chosen for a special mission.“1 Nun könnte man den Verdacht hegen, dass die hier angedeutete Präokkupation mit amerikanischer Einzigartigkeit und Mission ebenso wie die American Studies Bewegung, die diese Topoi besonders intensiv diskutierte, ein Produkt des Konsensdrucks und der Konsensus-Historiographie im zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg gewesen sei. Ganz in diesem Sinne schien der Vietnam-Krieg, der jenen Konsens zerbrechen ließ, auch das Exzeptionalismus-Argument zum Schweigen gebracht zu haben. Daniel Bell proklamierte 1975 „The End of American Exceptionalism“. Die Vietnam-Erfahrung habe Amerika in eine „nation like all other nations“ verwandelt2, ähnlich kurz darauf eine Essay-Sammlung von Richard Rosecrance: America as an Ordinary Country.3 Parallel dazu diskutierte man noch bis in die frühen 1990er Jahre (unter Außenseitern bis heute) sehr breit Amerikas „Niedergang.“4 1

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James H. Moorhead, The American Israel: Protestant Tribalism and Universal Mission, in: William R. Hutchison und Hartmut Lehmann (Hrsg.), Many Are Chosen: Divine Election and Western Nationalism, Minneapolis 1994, S. 145–166, hier 145. – Neben diesem vorzüglichen Aufsatz einige weitere grundlegende Werke zu Exzeptionalismus und Mission in Amerika: Ernest Lee Tuveson, Redeemer Nation: The Idea of America’s Millennial Role [1968], Chicago u.a. 1980; Russel B. Nye, This Almost Chosen People, East Lansing, MI 1966; Charles L. Sanford, The Quest for Paradise, Urbana, IL 1962; Edward McNall Burns, The American Idea of Mission: Concepts of National Purpose and Destiny [1957], Westport, CT 1973; Loren Baritz, City on a Hill: A History of Ideas and Myths in America [1964], Westport, CT 1980; Walter A. McDougall, Promised Land, Crusader State: The American Encounter with the World Since 1776, Boston, New York 1997; Tami R. Davis und Sean M. Lynn-Jones, ’Citty upon a Hill’, in: Foreign Policy 66, 1987, S. 20–38; David K. Adams u. Cornelis van Minnen (Hrsg.), Reflections on American Exceptionalism, Staffordshire, Eng. 1994; Leland D. Baldwin, The American Quest for the City of God, Macon, GA 1981; Michael Hunt, Ideology and U.S. Foreign Policy, New Haven, CT 1987; eine nützliche Textsammlung ist Winthrop S. Hudson (Hrsg.), Nationalism and Religion in America: Concepts of American Identity and Mission, New York 1970. Daniel Bell, The End of American Exceptionalism, in: The Public Interest, Herbst 1975, abgedr. in: Nathan Glazer u. Irving Kristol (Hrsg.), The American Commonwealth – 1976, New York 1976, S. 193–224. Richard N. Rosecrance (Hrsg.), America As an Ordinary Country, Ithaca, NY 1976. David P. Calleo, Beyond American Hegemony: The Future of the Western Alliance, New York 1987; Paul Kennedy, The Rise and Fall of the Great Powers: Economic Change and Military

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Doch die „Todeserklärung“ für Exzeptionalismus und Missionsdenken erwies sich als verfrüht. Schon in der Phase der „Rekonstruktion amerikanischer Stärke“ z.Z. der Präsidenten Carter, Reagan, G.H.W. Bush5 wird der missionarische Exzeptionalismus nicht nur bei diesen politischen Akteuren, sondern auch im scholarly discourse wieder sichtbar. Soziologe Nathan Glazer und Historiker John L. Gaddis berufen sich auf den Wilsonschen Internationalismus und denken über das – damals noch bevorstehende – Ende des Kalten Krieges als Wirkung der global ausstrahlenden Demokratie nach.6 Daniel Bell widerruft seine pessimistische Prognose mit einer Arbeit „American Exceptionalism Revisited“ und gründet seinen neuen Optimismus darauf, dass Amerikas „moderne Zivilgesellschaft“ Gegenstand der „Mission durch Beispiel“ sein werde.7 Noch unbekümmerter beschwört der Politologe Robert W. Tucker 1986 im intellektuellen Sprachrohr der Reagan-Administration The National Interest das totgesagte Ideal: […] the United States was created not only to promote the freedom and happiness of its citizens; the new ‚Empire of Liberty‘ […] was also intended to serve the cause of freedom in the world. […] The contagion of freedom […] cannot be confined to North America.8

Die Diskurse über Exzeptionalismus und Mission sowie jener über Amerikas Niedergang können scheinbar unverbunden nebeneinander herlaufen. Denn der Diskurs über Erwähltheit und Mission ist von Natur aus immun gegen das Argument nationaler Schwäche. In Amerika ist er nämlich nicht erst – wie in der Regel vergleichbare Phänomene bei anderen Großmächten (Frankreich, Russland, Deutschland) – das Spätprodukt nationaler Machtentfaltung zur Rechtfertigung imperialer Politik. Er ist vielmehr schon Teil des amerikanischen „Geburtserlebnisses“ (Ranke) in der Frühphase extremer Existenzunsicherheit: „We were a messianic nation from our birth.“9 Und weiter: Auserwähltheit und Mission verwirklichen sich in und gegenüber der Welt in zwei ganz unterschiedlichen Modi: passiv durch die beispielund richtunggebende Leuchtkraft des eigenen conduct and example wie Alexander Hamilton es schon im ersten Artikel der Federalist Papers beschrieb10, oder aktiv Conflict from 1500 to 2000, New York 1987; Walter Russell Mead, Mortal Splendor: The American Empire in Transition, Boston 1987. Aber: Joseph S. Nye, Jr., Bound to Lead: The Changing Nature of American Power, New York 1991; Henry R. Nau, The Myth of America’s Decline: Leading the World Economy into the 1990s, New York, Oxford 1990. 5 Helga Haftendorn u. Jakob Schissler (Hrsg.), Rekonstruktion amerikanischer Stärke: Sicherheits- und Rüstungskontrollpolitik der USA während der Reagan-Administration, Berlin 1988. 6 Nathan Glazer, American Values and American Foreign Policy, in: Commentary 62 / 1, Juli 1976, S. 32–37; John L. Gaddis, How the Cold War Might End, in: The Atlantic Monthly 260 / 5, November 1987, S. 88–100, hier S. 92. 7 Daniel Bell, ’American Exceptionalism’ Revisited: The Role of Civil Society, in: The Public Interest 95, 1989, S. 38–56. 8 Robert W. Tucker, Exemplar or Crusader? Reflections on America’s Role, in: The National Interest 5, 1986, S. 64–75, hier S. 64 und 70. 9 Reinhold Niebuhr u. Alan Heimert, A Nation So Conceived: Reflections on the History of America from its Early Visions to its Present Power [1963], Westport, CT 1983, S. 123. 10 Alexander Hamilton, Federalist No. I, in: Jacob B. Cooke (Hrsg.), The Federalist, Middletown, CT 1961, S. 3.

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durch positive Einwirkung auf diese Welt durch mannigfache Formen von Internationalismus und Intervention. Der passive Missionsmodus ist also mit nationaler Schwäche, Niedergang, decline durchaus vereinbar, sie stellen den Missions-Diskurs überhaupt nicht in Frage. Daniel Bells Aussage war schlicht falsch. Inzwischen hat das Thema – und zwar seine aktivistisch-interventionistische Variante – längst neue Konjunktur. In der Politik nahm Präsident Carter die missionarische Tradition bewusst wieder auf: Sie sollte helfen die Vietnam-Wunden zu „heilen“ und die Nation zu rekonstituieren. Amerikas Politik sei „designed to serve mankind“, damit es seine frühere „moral stature“ wiedererlange.11 Reagan sah Amerikas Mission in seiner „crusade for freedom“ gegen das „empire of evil […] the struggle between right and wrong and good and evil.“12 Seine MittelamerikaPolitik suchte er durch Berufung auf die bekanntesten exzeptionalistischen rhetorischen Figuren und historischen Zeugen in diesen Kontinuitätszusammenhang zu stellen, der sie in amerikanischen Augen legitimiert. Als „citty upon the hill“ (nach John Winthrop)13 sei Amerika begabt mit der Macht „to begin the world over again” (nach Thomas Paine)14 und deshalb verpflichtet zur Hilfe für die „freedom fighters” in Nicaragua – „our brothers […] the moral equal of our Founding Fathers.”15 Und wie zu erwarten, definieren sich aus der einzigartig überlegenen Machtposition der Vereinigten Staaten nach dem Ende des Kalten Krieges heraus insbesondere die religiöse Rechte und teilweise auch die mit ihr koalierenden Neokonservativen (die aber auch schlicht real- oder machtpolitisch argumentieren) außenpolitisch über diese Thematik.16 Präsident G. W. Bush jedenfalls, von beiden inspiriert, bekannte 11 Carter nach Davis / Lynn-Jones, Citty upon a Hill, S. 27. 12 Präsident Reagan, Remarks at the Annual Convention of the National Association of Evangelicals, 8. März 1983, Orlando, FL, in: Weekly Compilation of Presidential Documents, 1983, S. 364–370, hier S. 369. 13 John Winthrop, A Modell of Christian Charity, Predigt auf der Arbella 1630, in: Perry Miller u. Thomas H. Johnson (Hrsg.), The Puritans, Bd.1, rev. Ed. New York 1968, S. 195–199. Winthrop lehnt sich dabei unmittelbar an die Bergpredigt Matthäus 5:14 an. 14 Thomas Paine, Common Sense [1776], (hrsg. von Isaac Kramnick), Hammondsworth, Eng. 1976, S. 120. 15 Präsident Reagan, Rede auf der Conservative Political Action Conference, 1. März 1985, in: Weekly Compilation of Presidential Documents, 1985, S. 243 und 245; vgl. auch die in Anm. 12 erw. Rede vom 8. März 1983. 16 Vgl. zum Neokonservatismus insbes. im außenpolitischen Zusammenhang: Ivo H. Daalder u. James M. Lindsay, America Unbound: The Bush Revolution in Foreign Policy, Washington, DC 2003; Stefan Halper u. Jonathan Clarke, America Alone: The Neoconservatives and the Global Order, Cambridge, Engl. 2004; Walter Russell Mead, Power, Terror, Peace, and War: America’s Grand Strategy in a World at Risk, New York 2004, S. 88 f., 109 f. und 117; ders., Special Providence: American Foreign Policy and How It Changed the World, New York 2002; Owen Harries (Hrsg.), America’s Purpose: New Visions of U.S. Foreign Policy, San Francisco 1991; Michael Mandelbaum, The Ideas that Conquered the World: Peace, Democracy, and Free Markets in the Twenty-First Century, New York 2002; Max Boot, The Savage Wars of Peace: Small Wars and the Rise of American Power, New York 2002; zur Verbindung mit der religiös-fundamentalistischen Rechten s. Samuel Hill u. Dennis Owen, The New ReligiousPolitical Right in America, Nashville, TN 1982; Michael Lienesch, Redeeming America: American Piety and Politics in the Christian Right, Chapel Hill, NC, London 1993, Kap. 5, bes. S. 223 ff.

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sich ohne Zweifelsanfechtung zu dieser amerikanischen Tradition: „America is a nation with a mission“17 – „[…] the mission to promote liberty around the world.“18 Dieses Thema wird vielfach wiederholt und variiert. Und auch auf der wissenschaftlichen Ebene ist America’s Mission: The United States and the Worldwide Struggle for Democracy in the 20th Century von Tony Smith beileibe nicht das einzige Werk dieser Art.19 Der Exzeptionalismus-Diskurs kann sich natürlich auf den empirisch-historischen Vergleich beschränken, d. h. Differenzen in den sozio-politischen Strukturen verschiedener Nationen herausarbeiten (so schon Tocqueville, kürzlich Seymour M. Lipset).20 Der spezifisch amerikanische Exzeptionalismus-Diskurs meint aber natürlich etwas ganz anderes. Er interpretiert derartige Differenzen oder die geographische Distanz Amerikas zu Europa seit Amerikas Frühzeit religiös oder moralisch, jedenfalls normativ. Er konstruiert Amerika als Utopie, als Verkörperung nicht korrumpierbarer Tugend und Unschuld, als Vision einer Neuen Welt. Sie verheißt die Verwirklichung der in der Alten nicht realisierten oder realisierbaren individuellen wie kollektiven, religiösen und sozialen, politischen Träume – als das „gelobte“ und heilsgeschichtlich von Gott „verheißene“ Land. Die Prämisse: Auserwähltheit oder Exzeptionalismus, führt konsequent zum Gedanken der Mission: Herausgehoben durch Gott, Vorsehung, Geschichte, Schicksal und auf universal verstandene Werte und Normen gegründet, verleiht diese Sonderrolle Amerika einerseits Privilegien, begründet aber auch gesteigerte Verantwortung zur Pflege der Werte, die diese Privilegien rechtfertigen, zunächst bei sich selbst, und erzeugt schließlich die Pflicht, sie anderen – der Welt – zu vermitteln. Mit anderen Worten: Amerika projiziert sie auf die Welt: Mission durch conduct and example oder durch aktive Intervention. Trotz gelegentlicher Zweifel an dieser Sonderrolle zieht sich die Überzeugung von ihrer konstitutiven Bedeutung für Amerikas Identität durch seine Geschichte, von John Winthrop bis zu G. W. Bush. Die Dichter, Historiker, Soziologen, Publizisten, die diese Selbstinterpretation wie auch die Zweifel daran immer wieder artikulieren, deuten und auch kritisieren, tragen eben dadurch zu dieser Konstruktion amerikanischer Identität und Mythologie nachhaltig bei. Exzeptionalismus und Mission sind integrierende und heilende nationale Mythen, die Harmonie, Einheit und Sinn stiften, in Zeiten innerer und äußerer Krisen 17 Präsident G. W. Bush, State of the Union Address, 20. Januar 2004. 18 Präsident G. W. Bush, Remarks at the 20th Anniversary of the National Endowment for Democracy, U.S. Chamber of Commerce, Washington DC, 6. November 2003. 19 Tony Smith, America’s Mission: The United States and the Worldwide Struggle for Democracy in the Twentieth Century, Princeton, NJ 1994. Vgl. daneben etwa H.W. Brands, What America Owes the World, Cambridge, MA 1998; Frank Ninkovich, The Wilsonian Century: U.S. Foreign Policy Since 1900, Chicago, London 1999; Amos Perlmutter, Making the World Safe for Democracy: A Century of Wilsonianism and its Totalitarian Challengers, Chapel Hill, NC 1997; Walter Russell Mead, Special Providence. 20 Seymour Martin Lipset, American Exceptionalism: A Double-Edged Sword, New York 1996; s. auch Byron E. Shafer (Hrsg.), Is America Different? A New Look at American Exceptionalism, Oxford 1991; Michael Kammen, American Exceptionalism Reconsidered, in: American Quarterly 45, März 1993, S. 1–43.

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ebenso wie in Phasen gefestigter Stärke. Mythen sind „crucial instruments in cultural reproduction“.21 Sie bieten ein „world image convincing enough to support the collective and individual sense of identity.”22 Sie vermitteln den Mitgliedern der (nationalen) Gemeinschaft die Erfahrung, dass sie einen „mindset” teilen und in derselben „thought-world” leben. Mythen sind Kernelemente in der „constitution of collectivities.“23 Das ethnisch heterogene Amerika, „geschichtslos“ d. h. ohne gemeinsames ethnisches, kulturelles und historisches Erbe, bedarf ihrer deshalb in besonderem Maße, es konstruiert seine nationale Identität durch die Pflege des Glaubens an diesen Exzeptionalismus und die daraus abgeleitete Aufgabe der Mission für seine universalistisch verstandenen Grundwerte. Anthropologen sprechen von Amerikas „myths of election and civilizing mission.“24 Auch der literarische und wissenschaftliche Diskurs darüber, selbst dort noch wo er den Mythos kritisiert, ist Teil dieses mythologischen und kulturellen Reproduktionsprozesses. Nun zur historischen Genese und Entfaltung dieser Selbstinterpretation: Exzeptionalismus und Mission. Grob vereinfachend kann man argumentieren, dass sie ihre Existenz und Wirkungsmacht im amerikanischen Argumentations- und Motivationsrepertoire durch die Jahrhunderte jeweils unterschiedlichen zeitgenössischen Phänomenen und Zusammenhängen verdanken: im 17. Jahrhundert der Religion, im achtzehnten der Aufklärung und Politik, im neunzehnten der kontinentalen, demographischen und wirtschaftlichen Expansion und im zwanzigsten der allgemein überragenden Machtstellung der USA. 17. JAHRHUNDERT Die zum Gründungsmythos gehörende religiöse Erfahrung des 17. Jahrhunderts in ihrer puritanisch-calvinistischen Ausprägung Neuenglands hat in ganz besonderem Maße amerikanische Denk- und Verhaltensmuster geprägt. „The Puritan settlers in the 1600s embarked on a divinely appointed errand in the wilderness.“25 Die identitätsprägende Wirkung der religiösen Kultur Neuenglands ist vielfach diskutiert und bestätigt worden. Einer der mythisch – „heiligen“ Texte der puritanischen Frühzeit wird immer wieder herangezogen, in der historischen Analyse wie im politischen Tagesgeschäft. Wie oben erwähnt beruft sich Präsident Reagan auf John Winthrops Predigt „A Model of Christian Charity,” in der dieser seine Zuhörer während der Überfahrt auf 21 George Schöpflin, The Function of Myth and a Taxonomy of Myths, in: Geoffrey Hosking u. George Schöpflin (Hrsg.), Myths and Nationhood, London 1997, S. 19–35, hier S. 20; Conrad Cherry charakterisiert den amerikanischen Exzeptionalismus als “empowering national myth,” zit. bei Moorhead, American Israel, S. 146; siehe auch Nicholas Cords u. Patrick Gerster, Myth and the American Experience, Glencoe, IL 1973, oder die Arbeiten von Clifford Geertz, Mircea Eliade, Claude Lévy-Strauss u.a. 22 Erik H. Erikson, Young Man Luther: A Study in Psychoanalysis and History, London 1958, S. 19–20. 23 Schöpflin, Function of Myth, S. 20. 24 Ebd., S. 20 und 31. 25 Moorhead, American Israel, S. 145.

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der Arbella 1630 nach Amerika ermahnte: „[…]for wee must consider that wee shall be as a Citty upon a Hill, the eies of all people are uppon us.“26 Die realhistorische Entwicklung, die sich entwickelnde Autonomie der neuen Gesellschaften, das für die Zeit ungewöhnliche Ausmaß an Selbstregierung und ihre allmählich zunehmende wirtschaftliche Prosperität – all dies wird heilsgeschichtlich interpretiert auf der Grundlage der Bundes- oder covenant-Theologie. Amerika ist erwählt, „set apart“ zur Verwirklichung des göttlichen Heilsplanes in Amerika. Diese Sicht amerikanischer Geschichte wird bei Jonathan Edwards oder noch 100 Jahre später bei Lyman Beecher von der Überzeugung getragen: „that the millennium would commence in America.“27 Diese postmillennialistische Lesart der biblischen Heilsgeschichte sieht das Millennium als Prozess stetiger Vervollkommnung des „gelobten Landes“ Amerika: „The New American Israel,“ bis zum Ende der Welt und dem Jüngsten Gericht. Auserwähltheit, und daraus folgen: Pflicht und Verantwortung zunächst für sich, für Amerika selbst. Es gilt das eigene Haus in Ordnung zu halten, individuell und kollektiv, entsprechend dem göttlichen Heilsplan oder später dem republikanischen, d. h. der Verfassung. Diese Überzeugung trägt noch die großen Reformbewegungen im 19. Jahrhundert. Dieser Pflichtenaspekt in Winthrops Arbella-Text wird jedoch meist nicht mit zitiert, deshalb sei er hier hinzugefügt:

Wee are entered into Covenant with [God] for this worke [settlement in America] (…) he will expect a strickt Performance of the Articles contained in it.[…]Soe that if wee shall deale falsely with our god in this worke […] we shall be made a story and a by-word through the world […].

Also: Herausgehoben aus der Welt, daraus abgeleitet Verantwortung für sie. Was immer in Amerika geschieht, ist diesem Verständnis zufolge in seiner Bedeutung und Wirkung nicht auf Amerika beschränkt, sondern hat menschheitsgeschichtliche Bedeutung. Amerika handelt stellvertretend für die Menschheit, deren Geschick sich in Amerika entscheidet. Daneben gibt es aber auch die radikale, apokalyptische, prämillennialistische Lesart der Heilsgeschichte.28 Das Millennium ist nicht von dieser Welt, es beginnt erst nach deren Untergang in Armageddon, angekündigt durch die Wiederkehr Christi, und nach dem endgültigen Sieg über das Böse (den Antichrist). – Diese Vorstellungswelt spiegelt sich in der immer wieder zu beobachtenden Dämonisierung des jeweiligen (äußeren) Gegners. Unter dem Einfluss einer an politischer Bedeutung 26 Winthrop, wie Anm. 13. 27 Lyman Beecher, A Plea for the West, 2. Aufl. (1835), abgedr. in: Conrad Cherry (Hrsg.), God’s New Israel: Religious Interpretations of American Destiny, Englewood Cliffs, NJ 1971, S. 120. – Vgl. auch Nathan O. Hatch, The Sacred Cause of Liberty: Republican Thought and the Millennium in Revolutionary New England, New Haven, CT 1977, S. 155 f. 28 Zu den theologischen Konzepten Post- und Prämillennialismus vgl. James H. Moorhead, The Erosion of Postmillennialism in American Religious Thought, 1865–1925, in: Church History 53, 1984, S. 61–77; ders., Between Progress and Apocalypse: A Reassessment of Millennialism in American Religious Thought, 1800–1880, in: Journal of American History 71, 1984, S. 524–42; zu Premillennialism siehe Timothy P. Weber, Living in the Shadow of the Second Coming, erw. Ausg. Chicago, London 1987; Ernest R. Sandeen, The Roots of Fundamentalism: British and American Millenarianism, 1800–1930, Chicago, London 1970.

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zunehmenden fundamentalistischen und neokonservativen Rechten berief sich Präsident G. W. Bush explizit auf Reagans „evil empire“-Formel, variierte sie zur „axis of evil“ und charakterisierte die Terrorismuskrise als „monumental struggle of good versus evil.“ Amerikas Aufgabe deshalb ist es „to fight the world of evil“.29 Aber ist das mehr als nur Rhetorik oder äußerliche Parallele? Wie konnte die Mythologisierung der Geschichte und Rolle Neuenglands überleben in einer Welt, in der schon im späteren 17. Jahrhundert die Geistlichkeit im Predigttypus der Jeremiade30 den Schwund der Glaubensintensität beklagte, wie konnte sie (was ja immer wieder behauptet wird) für das heutige Amerika relevant und prägend bleiben, über alle „mood shifts“ und allen radikalen Wandel in der amerikanischen Gesellschaft hinweg, auch hinweg über die Erosion des „Christian America“ in den 1920er und 30er Jahren? Immerhin diagnostizierte man damals wenn nicht den totalen Zerfall der traditionellen protestantischen Hegemonie in Amerika, so doch eine „Krise des protestantischen Establishments” mit der Folge, dass „the Puritan heritage lost its hold on the leaders of public life.”31 Darauf aber folgten, beginnend in den 1960er Jahren, eine Revitalisierung und Re-Fundamentalisierung (Re-Puritanisierung?) des Protestantismus als Reaktion auf counter culture, Multikulturalisierung und Werteverschiebung im Gefolge der inneren Konflikte um den Vietnamkrieg. Über ihre Verbindung mit dem Neokonservatismus entfalten sie aktuelle Wirkung. Und für die langfristig prägende Kraft puritanischer Ideen verweisen Historiker einmal darauf, dass über 200 Jahre lang die Erzieher der Nation in neuenglischen oder doch im weiteren Sinne puritanischen Colleges ausgebildet wurden; ferner auf die massenhafte Expansion der stark millennialistischen kongregationalistischen, presbyterianischen und baptistischen Kirchen in den Süden und Westen der USA im späten 18. und 19. Jahrhundert. Sie waren Träger und Verbreiter millennialistischer Weltsicht einschließlich ihrer politisierten Aspekte und erreichten große Teile der Bevölkerung, insbesondere „virtually all the largest economic groups in the white social hierarchy.“32 18. JAHRHUNDERT Doch zurück zum 18. Jahrhundert. Hier beschreibt das vielfach als Deutungsangebot gelieferte Stichwort „Säkularisierung des Mythos“ eher das Ergebnis, als dass es dieses erklärte. Heimert und Bercovitch verweisen auf das Great Awakening (ca. 29 Präsident Reagan, „evil empire“ wie Anm. 12; Präsident G.W. Bush, Reden, 1. März 2003 auf dem Flugzeugträger USS Abraham Lincoln; State of the Union Address, 20. Januar 2002; remarks in Photo Opportunity with the National Security Team, Cabinet Room, The White House, 12. September 2001 und remarks at National Day of Prayer and Remembrance, National Cathedral Washington DC, 14. September 2001. 30 Vgl. Sacvan Bercovitch, The American Jeremiad, Madison, WI 1978. 31 Sydney E. Ahlstrom, A Religious History of the American People, New Haven, CT 1972, S. 915; S. 899; und Robert T. Handy, A Christian America: Protestant Hopes and Historical Realities, 2. rev. ed. New York 1984, S. 170 und 184. 32 Ruth H. Bloch, Visionary Republic: Millennial Themes in American Thought, 1756–1800, Cambridge, MA u.a. 1985, S. XV und passim.

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1720–40), N. Hatch auf die französischen Kriege und die Revolutionszeit als Mittler zwischen der (amerikanischen) Früh- und der Neuzeit des 18. Jahrhunderts, zwischen der religiösen und der säkularen Sphäre33, und auf die aus ihrer Symbiose entstehende spezifisch amerikanische Nationalismus-Synthese eines neuen säkularen „civil“ oder „political millennialism,“34 einer „civil“ oder „political religion.“35 Aufklärung, Politik und Recht ersetzen im Amerika des 18. Jahrhunderts36 das Heilsgeschehen als Bezugsrahmen für den Exzeptionalismus und als Gegenstand für Verantwortung und Mission, genauer: die universal-menschheitliche Sache der Freiheit, der Demokratie, des Republikanismus, des higher law der Verfassung und der rule of law. Geistlichkeit und Politiker revitalisieren die alten (mythischen) Interpretationsmuster durch ihre Fokussierung auf diese nunmehr neuen säkularen Gegenstände. Die puritanische millennialistische Heilsgeschichte wird säkularisiert, und das heißt: politisiert, die „cause of God“ wird zu „freedom“ („civil“ oder „political millennialism“). Der andauernde „struggle of liberty versus tyranny“ erscheint in postmillennialistischer Tradition „as nothing less than the conflict between heaven and hell,“ an dessen Ende aber der Sieg der Freiheit (später: Demokratie usw.) – theologisch die Erlösung – stehen wird. Religion wird Politik, politische sind religiöse Fragen. Unter dem Eindruck der revolutionären Ideologie sind Inhalt und Ziel der Heilsgeschichte nicht mehr individuelle Erlösung, sondern „the cosmic advance of liberty and decline of tryranny.“37 Die amerikanische Republik als der dauerhafte Sitz der Freiheit (zu ergänzen: Demokratie, Fortschritt, Menschenrechte) wird so zum „primary agent of God’s meaningful activity in history.“38 Ein anderer Autor interpretiert gar die amerikanische Revolution als „in itself a religious experience“39 – d. h. als Gründungsmythos oder Ur-Erfahrung der amerikanischen civil religion. 33 Alan Heimert, Religion and the American Mind: From the Great Awakening to the Revolution, Cambridge, MA 1966, Kap. 8 und 9; Sacvan Bercovitch, American Jeremiad, S. 99, 105 f., 110, 113, 117, 129 und Kap. 4; Nathan O. Hatch, Sacred Cause, Kap. 1. 34 Michael Lienesch, The Role of Political Millennialism in Early American Nationalism, in: Western Political Quarterly 36, 1983, S. 445–465. 35 Der berühmte Aufsatz des „Vaters“ des Begriffes „Zivilreligion“, Robert N. Bellah, Civil Religion in America, in: Daedalus 96, Winter 1967, wurde nachgedruckt in: Daedalus 117, Sommer 1988, S. 97–118; ders., The Broken Covenant: American Civil Religion in Time of Trial, New York 1975; aus der umfangreichen weiteren Literatur sei an dieser Stelle nur noch auf John F. Wilson, Public Religion in American Culture, Philadelphia 1979, verwiesen. 36 Statt weiterer Nachweise zur Aufklärung in Amerika vgl. die vorzügliche zusammenfassende Analyse zentraler und prägender Elemente bei Hans R. Guggisberg, Autonomie, Republikanismus und Demokratie: Zur Entstehung der USA, in: ders., Zusammenhänge in Historischer Vielfalt: Humanismus, Spanien, Nordamerika, Basel 1994, S. 287. Ergänzend dazu siehe nur noch das in diesem Zusammenhang besonders anregende Buch von Robert A. Ferguson, Law and Letters in American Culture, Cambridge, MA 1984. 37 Hatch, Sacred Cause, Zitate auf S. 53 f. und 175. 38 John Smylie, National Ethos and the Church, in: Theology Today 20, Oktober 1963, S. 313– 321, hier S. 314. 39 Catherine L. Albanese, Sons of the Fathers: The Civil Religion of the American Revolution, Philadelphia 1976, S. 6, allgemein Kap. 1, Hervorhebung im Original.

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Im Übergang vom „sacred to profane America,“40 von christlicher millennialistischer Mythologie zu revolutionärer Aufklärung und den modernen Begriffen Freiheit, Demokratie und liberaler Kapitalismus als Begründung für und Inhalt von Exzeptionalismus und Mission in ihrer modernen säkularen Gestalt, bleiben viele Fragen offen. Aber die Folgen sind erkennbar. Lyman Beecher beschreibt sie 1835 in ihrem bereits erwähnten Text über das Millennium in Amerika: „[…] it is by the march of revolution and civil liberty, that the way of the Lord is to be prepared.“ Und: „[…] from this nation shall the renovating power go forth.“41 Amerika ist weiterhin „set apart“ und in die besondere Verantwortung genommen, aber jetzt nicht mehr von einem persönlichen Gott, sondern von einem eher unpersönlichen Schicksal – destiny, providence, history. Aus der Sonderrolle folgt wiederum die Aufgabe, diese nunmehr säkularen Werte zunächst in Amerika zu verwirklichen, aber in der Verantwortung für die Menschheit, deren Demokratieund Freiheitschancen sich stellvertretend in Amerika entscheiden: „[…] we have been called to fight out, not the liberties of America only, but the liberties of the world itself.“42 Mit der amerikanischen Revolution für diese Werte, schreibt Richard Price 1785 begins a new era in the history of mankind, […] next to the introduction of Christianity among mankind, the American Revolution may prove the most important step in the progressive course of human development.43

In einer Predigt als „discourse upon the political welfare of God’s American Israel,“ verknüpft Ezra Stiles, kongregationalistischer Geistlicher und Präsident von Yale, den traditionellen puritanischen Erwähltheitsglauben mit den Ideen der Aufklärung und des republikanisch-demokratischen Prinzips der Selbstregierung und des beginnenden liberal- individualistischen Kapitalismus zu einer säkularen Vision der amerikanischen Mission: Das letzte von der Menschheit noch nicht versuchte politische Experiment

seems to have been reserved in providence to be realized in America. […] a democratical polity for millions […] Never before has the experiment been so effectually tried of everyman’s reaping the fruits of his labor and feeling his share in the aggregate system of power.44

Ein eindrucksvolles Beispiel für die Geburt des Exzeptionalismus aus dem Geist der Aufklärung und zugleich die Antwort auf die Frage, wie die aus ihm erwachsende Missionsaufgabe zu realisieren sei: nämlich zunächst passiv, durch bloßes Beispiel, dabei sich gründend auf die volle Gewissheit der universalen Gültigkeit der eigenen politischen und moralischen Grundlagen, gibt Alexander Hamilton im 40 William A. Clebsch, From Sacred to Profane America: The Role of Religion in American History, New York 1968. 41 Lyman Beecher, Plea for the West, S. 120. 42 Ezra Stiles, The United States Elevated to Glory and Honor. A Sermon Preached […], 8. Mai 1783, Auszüge in: Hudson, Nationalism and Religion, S. 63–70, hier S. 68. 43 Richard Price, Observations on the Importance of the American Revolution, and the Means of Making it a Benefit to the World […], [1785], in: Bernard Peach (Hrsg.), Richard Price and the Ethical Foundations of the American Revolution: Selections from his Pamphlets […], Durham, NC 1979, S. 177–224, hier S. 182 f. 44 Stiles, United States Elevated, S. 65–67.

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allerersten Absatz in der ersten Nummer der Federalist Papers: Es sei Amerikanern vorbehalten

by their conduct and example, to decide the important question, whether societies of men are really capable or not, of establishing good government from reflection and choice, or whether they are forever destined to depend, for their political constitutions, on accident and force.

Eine Fehlentscheidung an diesem zentralen Punkte treffe nicht nur Amerika und die Amerikaner, sondern sei „the general misfortune of mankind” – ein eindrucksvoller Beleg für die Überzeugung von der Missionspflicht durch eigenes „conduct and example.“45 Amerikas sogenannter Isolationismus ist kein Widerspruch dazu. Mission wirkt durch die Leuchtkraft der beispielhaften eigenen gesellschaftlichen und moralischen Ordnung. Aktiver Interventionismus ist nicht erforderlich. Deshalb bedeutet Isolationismus nicht Abwendung von der Welt oder Verweigerung von „Verantwortung“ für sie, sondern vor allem Handlungsfreiheit und letztlich Unilateralismus. Das ist der Sinn von Washingtons Farewell Address oder John Quincy Adams’ Rede zum 4. Juli 1821: Amerika werde im griechischen Unabhängigkeitskrieg auch nicht für die „Sache der Freiheit“ eingreifen: „America does not go abroad in search of monsters to destroy. She is the well-wisher to the freedom and in-dependence of all. She is the champion only of her own.“ Aber es werde die „general cause“ durch die „benignant sympathy of her example“ vorantreiben. Direktes Engagement mache Amerika letztlich zur „dictatress of the world“ und dabei werde es Freiheit und Würde – seine Unschuld – verlieren und seine eigentliche Mission korrumpieren.46 19. JAHRHUNDERT Das 19. Jahrhundert erweitert die Tradition des exzeptionalistischen Missionsgedankens vor allem um die kontinentale Dimension für seine praktische Entfaltung. Dessen passive „conduct and example“-Variante schlägt um in die aktiv-interventionistische. Die kontinentale Perspektive existierte zwar für das amerikanische (missionarische) Selbstverständnis schon seit der Kolonialzeit, konnte dort aber naturgemäß nur begrenzte praktische Wirkung entfalten. Sie richtet sich einmal gegen die Ureinwohner, im 19. Jahrhundert dann gegen Frankreich und England im Norden, Westen und Süden, gegen Spanien und später Mexiko im Süden und Westen. Objekt der exzeptionalistischen Begehrlichkeit ist also zunächst der nordamerikanische Subkontinent. Gelegentlich greift sie weiter: Ich erwähne die All MexicoBewegung der 1840er Jahre, das Interesse an der Karibik und an Mittelamerika, mindestens am Isthmus, immer schon an Kuba, gelegentlich sogar an ganz Amerika bis nach Feuerland. Das ist natürlich ein weites Spektrum zwischen konkret betrie45 Hamilton, Federalist No. I, wie Anm. 10. 46 John Quincy Adams, Rede am 4. Juli 1821, in: Walter LaFeber (Hrsg.), John Quincy Adams and American Continental Empire. Letters, Papers, and Speeches, Chicago 1965, S. 42–46, hier S. 45.

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bener Politik und expansiven Fantasien. Die Realgeschichte dieser Expansion können wir hier ignorieren. Angetrieben wird sie von einer starken demographischen, wirtschaftlichen, industriellen und kommerziellen Dynamik, der schwache und wenig entwickelte Rivalen gegenüber stehen. Eine Nation lebt aber als solche von ihren inneren Begründungszusammenhängen. Interessant ist hier deshalb zu beobachten, wie Amerika diese oft aggressiv und brachial betriebene Strategie mit den universalistischen Werten seiner exzeptionalistischen Missionsideologie in nicht nur apologetische Übereinstimmung bringt, sondern als deren Forderung und Konsequenz interpretiert. Die Expansion, so kürzlich ein amerikanischer Historiker, derived from the primordial, exceptional American commitment to liberty. Without freedom to grow, the nation would not be free at all. […] U.S. citizens saw barriers and restraints on expansion as intolerable assaults on their liberty.47

Weder fremde Mächte noch die eigene Regierung also hätten sie an der Expansion hindern können. Das mag zunächst deskriptiv zutreffen, legitimiert aber darüber hinaus in amerikanischer Perspektive zugleich die Expansion und ist insofern Orwell’sche Logik: Sie setzt eine größere „Freiheit“ amerikanischer als die der Bürger anderer Staaten in Amerika voraus. Senator Stephen A. Douglas begründet dieses „höhere Recht“ mit biblischen und früh-darwinistischen Argumenten: „[…] increase, and multiply, and expand, [that] is the law of the nation’s existence.“48 Jefferson löst den Widerspruch auf, indem er den mit dem Begriff „empire“ verbundenen Aspekt von Herrschaft und Ungleichheit durch seine Erweiterung zum „Empire of Liberty“ – um 1900 ausgeweitet zum überseeischen „democratic empire“ – dialektisch transformiert und in die exzeptionalistische Missionstradition einbindet.49 Bekanntester Ausdruck dieser neuen aktivistischen exzeptionalistischen Mission ist in den 1830er bis 1850er Jahren das Schlagwort Manifest Destiny.50 Es geht um die Annexion von Texas, den US-Mexikanischen Krieg, den Streit mit England um Oregon, um die Küstenregion am Pazifik von Mexiko bis Kanada. Die Zeit wird durch nationalistische und mit ihnen eng verwobene religiös-emotionale Ausbrüche – das Second Great Awakening und moralisierende Reformbewegungen51 – geprägt. 47 Walter A. McDougall, Promised Land, S. 78. 48 Senator Stephen A. Douglas, in der zweiten der berühmten Debatten mit Lincoln am 27. Aug. 1858 in Freeport, IL, in: Roy P. Basler (Hrsg.), The Collected Works of Abraham Lincoln, Bd. 3, New Brunswick 1953, S. 54 f. 49 Robert W. Tucker u. David C. Hendrickson, Empire of Liberty: The Statecraft of Thomas Jefferson, New York, Oxford 1990, Kap. 3 III, Kap. 26. 50 Dazu immer noch grundlegend Albert K. Weinberg, Manifest Destiny: A Study of Nationalist Expansionism in American History [1935], Chicago 1963; Reginald Horsman, Race and Manifest Destiny: The Origins of Racial Anglo-Saxonism, Cambridge, MA, London 1981; Frederick Merk, Manifest Destiny and Mission in American History, New York 1963 / 1966; William Earl Weeks, Building the Continental Empire: American Expansion from the Revolution to the Civil War, Chicago 1996; zuletzt Anders Stephanson, Manifest Destiny: American Expansion and the Empire of Right, New York 1995. – Als Textsammlung unentbehrlich ist Norman A. Graebner (Hrsg.), Manifest Destiny, Minneapolis, New York 1968. 51 Zu den periodischen fundamentalistischen Erweckungsbewegungen der 1730er, 1830er, 1920er und 1980er Jahre s. Michael Lienesch, Redeeming America: American Piety and Politics in the

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Sie bündeln alle bisher erwähnten Grundlagen und Elemente von Exzeptionalismus und Mission zu einem aggressiven, wenn auch diffusen Ideologem. Dazu gesellt sich ein zunächst noch unspezifischer Rassismus. In The United States Magazine and Democratic Review äußert der Journalist John O‘Sullivan schon 1839 die Überzeugung, die rasche und breite Zustimmung findet, Amerika sei

destined to manifest to mankind the excellence of divine principles […practiced by] hundreds of happy millions, calling […] no man master, but governed by God’s natural and moral law of equality. […] For this blessed mission to the nations of the world, [i.e.] to establish on earth the moral dignity and salvation of man […] has America been chosen; and her high example shall smite unto death the tyranny of kings, hierarchs, and oligarchs, and carry the glad tidings of peace and good will where myriads now endure an existence scarcely more enviable than the beasts of the field.52

Die Annexion von Texas, so spinnt er diesen Gedanken 1845 weiter, gehorche dem „manifest design of Providence in regard to the occupation of this continent.“ Denn dieser Kontinent sei „allotted by Providence for the free development of our yearly multiplying millions.“ Dem amerikanischen „manifest destiny” dürfe Mexiko sich nicht entgegenstellen, denn es habe bestenfalls einen „artificial title of sovereignty”53 – der überlegene amerikanische Titel dagegen (gegenüber Mexiko ebenso wie gegenüber England in Bezug auf Oregon) „is by the right of our manifest destiny to overspread and to possess the whole of the continent which Providence has given us.”54 Gegen Ende des Jahrhunderts wird im Kontext der Imperialismus-Debatte55 der Manifest Destiny-Gedanke wieder aufgenommen. Er überspringt jetzt die kontinentalen Grenzen und verbindet sich einerseits erneut mit den traditionellen religiösen Motiven, andererseits mit dem social gospel, mit Darwinismus und Rassismus, schließlich mit der demographischen und sozialen, wirtschaftlichen und politischen Dynamik, die aus der „Neuen Einwanderung“ und Urbanisierung, aus Industrialisierung und „Überproduktion,“ aus den damit verbundenen psychischen

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New Christian Right, Chapel Hill, NC, London 1993. – Zu den Reformbewegungen s. etwa Ronald G. Walters, American Reformers 1815–1860, rev. ed. New York 1997; Steven Mintz, Moralists and Modernizers: America’s Pre-Civil War Reformers, Baltimore 1995. John O’Sullivan, The Great Nation of Futurity, in: The United States Magazine and Democratic Review, November 1839, S. 426–430; abgedr. auch in Graebner, Manifest Destiny, S. 15– 21. John O’Sullivan, Annexation, in: The United States Magazine and Democratic Review, Juli 1845, S. 5–10. Ders. am 27. Dez. 1845, hier zitiert nach Graebner, Manifest Destiny, S. XXXIX. Zu der endlosen Literatur einige im gegenwärtigen Zusammenhang wichtige Hinweise: HansUlrich Wehler, Der Aufstieg des amerikanischen Imperialismus, Göttigen 1974, Teil I; David Healy, U.S. Expansionism: The Imperialist Urge in the 1890s, Madison, WI 1983; Walter LaFeber, The American Search for Opportunity, 1865–1913, Cambridge, Engl. 1993; ders., The New Empire: An Interpretation of American Expansion from 1860 to 1898, Ithaca, NY, London 1963 / 1998; Ernest R. May, American Imperialism: A Speculative Essay [1957], Chicago 1991; ders., Imperial Democracy: The Emergence of America as a Great Power [1961], New York 1973); Richard Hofstadter, The Paranoid Style in American Politics and Other Essays, New York 1967; Richard W. Van Alstyne, The Rising American Empire [1960], New York 1974.

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Spannungen und aus Revolutionsfurcht resultiert. Dieses Gebräu von Ideologemen hilft, die imperialistische Politik um die Jahrhundertwende und der folgenden Jahrzehnte in den Kategorien traditionellen exzeptionalistischen Missionsdenkens jedenfalls für die Angehörigen der durch den Mythos konstituierten thought-world zu erklären und damit zu legitimieren. Als Beleg sei hier Rev. Josiah Strong mit seinem Bestseller Our Country zitiert. Viele Zeitgenossen, Politiker wie Theodore Roosevelt u.a., denken ähnlich: Amerikaner – this race of unequaled energy […] – the representative […] of the largest liberty, the purest Christianity, the highest civilization – having developed […] traits calculated to impress its institutions upon mankind, will spread itself over the earth […] the result of this [final] competition of races will be the ‚survival of the fittest’ […] this race is destined to dispossess many weaker races, assimilate others, and mold the remainder, until […] it has Anglo-Saxonized mankind.56

Und wenig später macht Senator Beveridge im Hinblick auf die kolonialen Erwerbungen aus dem spanisch-amerikanischen Krieg deutlich, dass amerikanische Mission sich nicht mehr mit der Stärkung der beispielgebenden inneren Ordnung begnügen, sondern deren normative Grundlagen aktiv nach außen tragen werde:

The dominant notes in American life henceforth will be not only self-government and internal improvement, but also […] world improvement. It is the arduous but splendid mission of our race. It is ours to govern in the name of civilized liberty. It is ours to administer order and law in the name of human progress.57

Bei beiden zuletzt genannten Autoren erfahren die traditionellen exzeptionalistischmissionarischen Impulse zusätzliche Schubkraft durch das im späteren 19. Jahrhundert auch in außenpolitischen Zusammenhängen wirkende Rassen-Ideologem. Es impliziert aber nicht (nur) biologistische Rassendifferenzierung und -hierarchisierung. Der eher diffuse Begriff „race“ (etwa „Anglo-Saxon race“) ist vor allem im Kontext der in dieser Zeit ebenfalls verbreiteten evolutionären Kultur- oder Zivilisationstheorien zu sehen. Sie postulierten eine lineare Entwicklung von „primitiven“ zu „höheren und höchsten“ Stufen der Zivilisation und sahen in der „AngloSaxon [gelegentlich gleichgesetzt mit „Teutonic“, etwa bei John W. Burgess] civilization“ den höchsterreichbaren Stand zivilisatorischer Möglichkeiten. Er versammelte in sich die dem Menschen schlechthin möglichen Errungenschaften von „civilized liberty“ und „human progress.“ Dieser herausgehobene Status verpflichtet wiederum – vertrautes Denkmuster – seine Repräsentanten, Völker niedrigerer auf höhere „Zivilisationsstufen“ zu heben: „to educate the Filipinos, and to uplift and civilize and Christianize them,“ so Präsident McKinleys bekannte Formel – Mission in zeitgenössischem Gewande.58 Wenn die „Zivilisatoren“ für dieses Ziel das 56 Josiah Strong, Our Country: Its Possible Future and Its Present Crisis, New York 1885, S. 159–161, 163, 165 f. und 170–180; ders., Expansion under New World Conditions, New York 1900. 57 Sen. Albert J. Beveridge, For the Greater Republic, Not For Imperialism, Rede in Philadelphia am 15. Februar 1899, in: Hudson, Nationalism and Religion, S. 117–119. 58 Zit. nach Paul S. Boyer et al., The Enduring Vision: A History of the American People, 2. Aufl. Lexington, MA, Toronto 1993, S. 717. – Dazu William R. Hutchison, A Moral Equivalent for Imperialism: Americans and the Promotion of ‘Christian Civilization,’ 1880–1910, in: ders.

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Instrument Krieg verwenden, so ist das nicht nur eine Frage der „honor of the flag,“ sondern ebenso natürlich wie vor allem zivilisatorische Leistung. Denn, so Theodore Roosevelt, er repräsentiere den „triumph of civilization over forces that stand for the black chaos of savagery and barbarism.“ Gelegentliche Grausamkeiten gegenüber einem “very cruel und very treacherous enemy”(den Philippinos im Kolonialkrieg nach 1900) seien bedauerlich, aber als Preis für den zivilisatorischen Fortschritt gerechtfertigt, denn „warfare that has extended the boundaries of civilization at the expense of barbarism and savagery has been for centuries one of the most potent factors in the progress of humanity.” 59 20. JAHRHUNDERT Das 20. Jahrhundert leiht dem exzeptionalistisch-missionarischen Argumentationsrepertoire vor allem die Macht der USA als wirtschaftlich-industrielle, später politisch-militärische Groß- und schließlich einzige globale Weltmacht. Was die Rolle der „internationalen Polizeimacht,“ die Theodore Roosevelt 1904 für die USA in Lateinamerika beansprucht, was die amerikanischen Positionen in den Kriegen dieses Jahrhunderts, was die Truman-Doktrin oder den Manichäismus des John F. Dulles oder Ronald Reagan über ihre Verankerung in der amerikanischen exzeptionalistisch-missionarischen Tradition hinaus für das kollektive Bewusstsein Amerikas legitimiert und ihnen zugleich weltweit Respekt sichert, ist zunächst amerikanische Macht. Dazu kommt aber in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts jedenfalls in der sog. „westlichen Welt“ auch deren Zustimmung auf der Basis des universalistischen amerikanischen Wertekanons. Sie lässt die amerikanische Vormachtstellung als nicht-imperiale, sondern benevolente, schützende Hegemonie erscheinen, im Sinne von H. Triepel oder Geir Lundestad als „empire by invitation.“60 Vor diesem Hintergrund lässt sich argumentieren, dass die präventive und präemptive amerikanische Sicherheitsdoktrin der Administration George W. Bushs vom Sepund Torben Christensen (Hrsg.), Missionary Ideologies in the Imperialist Era: 1880–1920, Aarhus 1982, S. 167–178. 59 Theodore Roosevelt, Ansprache auf dem National Cemetary, Arlington, VA, am Memorial Day, 30. Mai 1902, zit. in dem vorzüglichen Aufsatz zu dieser Thematik von Paul A. Kramer, Race-Making and Colonial Violence in the U.S. Empire: The Philippine-American War as Race War, in: Diplomatic History 30, 2006, S. 169–210, für das Zitat s. S. 169. – Oder Theodore Roosevelt.: “Every expansion of civilization [auch durch Krieg] makes for peace.[…] expanding power was doing a duty to civilization.” Aus: “Expansion and Peace,” The Independent, 21. Dezember 1899, S. 3401–05, abgedr. in: Hermann Hagedorn (Hrsg.), The Works of Theodore Roosevelt, Bd. 15, Citizenship, Politics and the Elemental Virtues, New York 1925, S. 282–292, hier S. 287. Ferner allgemein Horsman, Race and Manifest Destiny, wie Anm. 50; Eric T. L. Love, Race over Empire: Racism and U.S. Imperialism, 1865–1900, Chapel Hill, NC, London 2004. 60 Heinrich Triepel, Die Hegemonie, Stuttgart, Berlin 1938; Geir Lundestad, Empire by Invitation, in: ders., The American „Empire“, New York, Oslo, Oxford 1990, S. 54–62; ders., The United States and Western Europe since 1945: From „Empire” by Invitation to Transatlantic Drift, Oxford u.a. 2003.

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tember 2002 und ihre Anwendung im Irak diese Zustimmung weitgehend in Frage stellt und der Weltstruktur deshalb US–imperiale Züge verleiht. Weitgehend konstante inneramerikanische Billigung erfahren die offiziellen Argumentationsmuster aber deshalb, weil sie Elemente des tief verwurzelten exzeptionalistischen Missionsdenkens evozieren und aktivieren. Wilsons liberaler Internationalismus, der üblicherweise als Hauptbeispiel des missionarischen Exzeptionalismus im 20. Jahrhundert gilt, ist im Hinblick auf diese Wurzeln nicht eigentlich innovativ. Er nimmt alte religiöse und säkulare Traditionen wieder auf: Amerikaner als „custodians of the spirit of righteousness, of […] justice, of […] hope.“ Allerdings gibt er ihnen jetzt eine anhaltend aktivistische Wendung und sucht die von Amerika immer angestrebte außenpolitische Handlungsfreiheit („Unilateralismus“) mit der aktiven, normativ-universalistischen Spielart des amerikanischen Exzeptionalismus praktisch zu versöhnen. Eher traditionell sind bei Wilson Denkfiguren wie Old – New World-Polarisierung, Selbstbestimmung, freier Handel und Freiheit der Meere; als Folge der Gleichsetzung von „Christianity and Americanism“ aber auch Krieg als „Christian crusade for democracy“ – „to make the world safe for democracy“ – „to end war“ als permanente Friedenssicherung.61 Zumindest im instrumentellen Ansatz innovativ dagegen erscheint das Konzept der Friedenssicherung durch organisierte kollektive Sicherheit auf der Basis einer internationalen rule of law (Völkerbund, später Vereinte Nationen) – all dies, wie einer der besten jüngeren Kenner Wilsons zusammenfasst, als Ausdruck der „American Mission to redeem the Old World.“62 Selbst der aus dem Progressivismus stammende Ansatz63 zur Stärkung des in Amerika traditionell schwachen Staates – er sollte die sozialen Herausforderungen der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert bewältigen helfen und führte zu den New Deal- oder Great Society-Programmen – verknüpft diesen inneren Reform-Impuls mit den traditionellen exzeptionalistisch-missionarischen Elementen. Walter McDougall u.a. deuten Marshall Plan und Point Four, Allianz für den Fortschritt bis hin zum Vietnamkrieg als fehlgeleitete, nach außen gewendete liberal-progressive New Deal-Politik, die eine gouvernementale Verantwortung für nunmehr weltweite soziale und demokratische Entwicklungen postuliert: „global meliorism.“64 Der im 61 Vgl. Kurt R. Spillmann, Amerikas Ideologie des Friedens, Bern, Frankfurt a. M., New York 1984; Warren F. Kuehl, Seeking World Order: The United States and International Organization to 1920, Nashville, TN 1969; J. Martin Rochester, Waiting for the Millennium: The United Nations and the Future of World Order, Columbia, SC 1993, Kap. 1 und 7. 62 Lloyd E. Ambrosius, Woodrow Wilson and the American Diplomatic Tradition: The Treaty Fight in Perspective, Cambridge, MA u.a. 1987, Kap. 1, S. 9–15; Thomas J. Knock, To End All Wars: Woodrow Wilson and the Quest for a New World Order, Princeton, NY 1992; Tony Smith, America’s Mission, Kap. 3 und 4; David Steigerwald, Wilsonian Idealism in America, Ithaca, NY, London 1994, Kap. 1 und 2. 63 Die Klassiker sind immer noch: Herbert Croly, The Promise of American Life [1909], Boston 1989, S. 272–279, 289 ff. und 308–314; Edward A. Ross, Social Control: A Survey of the Foundations of Order, New York 1901; später z. B. David W. Noble, The Progressive Mind, 1890–1917, Chicago 1970, S. 53–64 und 165–179. 64 McDougall, Promised Land, Kap.8; Walt W. Rostow, The Stages of Economic Growth: A NonCommunist Manifesto, 3. Aufl. Cambridge, Engl. u.a. 1990; kritisch dazu Howard Wiarda,

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New Deal-Milieu politisch aufgewachsene links-liberale Henry Wallace ironisiert diese Strategien als „animated by the missionary spirit to go into all the world and preach the gospel […] of investment, science, technology, and productivity to all peoples.“65 Der Untertitel von Rostows bekanntem Buch – A Non-Communist Manifesto66 – und vor allem natürlich die hybride Projektion der „international version of our Great Society programs“ auf Vietnam67 diskreditierten den „global meliorism“-Ansatz vor allem in der Dritten Welt, an die er sich ja eigentlich richtete. Eine noch naiv ungebrochen optimistische Bestätigung dagegen liefert Henry R. Luce 1941 mit seinem berühmten „American Century“ Artikel. Als „dominant power in the world“ habe Amerika „the manifest duty […] to […] feed all the people of the world,“ und zwar offenbar physisch wie politisch und spirituell: nämlich als powerhouse from which the ideals [des amerikanischen Credo] spread throughout the world and do their mysterious work of lifting the life of mankind from the level of the beasts to what the Psalmist called a little lower than the angels.68

Neokonservative Internationalisten der 1990er Jahre wie Ben Wattenberg knüpfen unbefangen an diese Tradition an: Nur Amerikaner besäßen heute „the sense of mission […] once called Manifest Destiny.“ Die Antwort auf die Frage nach dem „American Purpose“ nach Ende des Kalten Krieges bringt er auf den bündigen Punkt: „neo-manifest destinarianism.“69 Interventionen in den letzten Jahren in Mittelamerika (Grenada, Panama – ich übergehe die Interventionen des Kalten Krieges) bekräftigen explizit den klassischen missionarischen Exzeptionalismus. Politiker und neokonservative Völkerrechtler begründen sie mit der „Menschenrechtsrevolution im Völkerrecht,“ welche die veralteten Normen über Souveränität und Nichteinmischung neu geschrieben habe und es nicht nur erlaube, sondern mangels kollektiver Alternativen sogar gebiete, notfalls einseitig militärisch zu intervenieren, um Bevölkerungen von einer die Menschenrechte verletzenden „Ty-

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Ethnocentrism in Foreign Policy: Can We Understand the Third World?, Washington DC 1985; Tony Smith, America’s Mission, Kap. 8; Walter Russell Mead, Mortal Splendor, wie Anm. 4, zeichnet ein kritisches Bild dieses “liberal empire.” Zitiert in Peter W. Rodman, More Precious than Peace: The Cold War and the Struggle for the Third World, New York u.a. 1994, S. 62. Wie Anm. 64. Harry G. Summers Jr., On Strategy: A Critical Analysis of the Vietnam War, Navato, CA 1982, S. 171. Der Vietnamkrieg ist oft ähnlich interpretiert worden: Lloyd C. Gardner, Pay Any Price: Lyndon B. Johnson and the Wars for Vietnam, Chicago 1995, S. XIV, 98, 192–196 und 320; Robert Dallek, The American Style of Foreign Policy: Cultural Politics and Foreign Affairs, New York, Oxford 1983 / 1989, S. 243 f. In der Zeitschrift Life, 17. Februar 1941, S. 61–65. – Dazu Donald W. White, The American Century: The Rise and Decline of the United States as a World Power, New Haven, CT 1996; Michael Hogan (Hrsg.), The Ambiguous Legacy: U.S. Foreign Relations in the “American Century”, Cambridge, MA 1999. Ben J. Wattenberg, Neo-Manifest Destinarianism, in: Owen Harries (Hrsg.), America’s Purpose: New Visions of U.S. Foreign Policy, San Francisco 1991, S. 107–114, hier S. 110; s. auch andere Beiträge darin von ausgewiesenen (Neo-)Konservativen: P. Buchanan, J.J. Kirkpatrick, C. Gershman, Ch. Krauthammer.

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rannei“ zu befreien. Dabei dürfe, ja müsse der Intervenient – d. h. die USA – alle relevanten Entscheidungen letztlich allein treffen.70 FRÜHES 21. JAHRHUNDERT Das sind gewissermaßen Vorübungen für die Bestimmung der amerikanischen Rolle in der Welt zu Beginn des 21. Jahrhunderts, insbesondere im Nahen und Mittleren Osten, Afghanistan und Irak. G. W. Bush berief sich dafür wie eingangs erwähnt ausdrücklich auf Amerikas traditionelle „mission to promote liberty [man darf getrost ergänzen: and democracy] around the world.“71 Es handelt dabei, wie immer, nicht (nur) für sich, sondern stellvertretend in der Verantwortung für „mankind:“ „The cause we serve is right, because it is the cause of all mankind.“ Der Krieg in Afghanistan, und dann Irak, ist ein „war to save civilization“ – „America is the hope of all mankind.“72 Aus diesem Zusammenhang heraus wurden weitreichende Privilegien geltend gemacht: das „Recht“ auf (eindeutig völkerrechtswidrigen) „preemptive war“73 oder gewaltsamen „regime change“74 in Staaten, die des Terrorismus oder des Besitzes von Massenvernichtungswaffen verdächtigt wurden. Über alle damit zusammenhängenden Fragen sollten die Vereinigten Staaten völlig allein entscheiden – das ist der Kern der sog. „Bush Doctrine.“75 Die Begründungen 70 So nachdrücklich Anthony D’Amato, The Invasion of Panama Was a Lawful Response to Tyranny, in: American Journal of International Law 84, 1990, S. 516–524; ders., Intervention in Grenada: Right or Wrong?, in: New York Times, 30. Oktober 1983, S. 18. Für den Zuammenhang s. Knud Krakau, Bellum iustum v. bellum legale: Zum Gewaltdiskurs in der amerikanischen Außenpolitik, in: Manfred Berg u. Philipp Gassert (Hrsg.), Deutschland und die USA in der Internationalen Geschichte des 20. Jahrhunderts, Festschrift für Detlef Junker, Stuttgart 2004, S. 137–155, hier bes. S. 145–151. 71 Präsident G. W. Bush, Rede am 6. November 2003, wie Anm. 18. 72 Präsident G. W. Bush, State of the Union Address vom 20. Januar 2004; Rede am 8. November 2001 im World Congress Center, Atlanta, GA; am 9. September 2002, Ellis Island, NY. 73 The National Security Strategy of the United States of America, The White House, Washington DC [17.] September 2002) bes. S. 1–4 und 13–15. – Und “Authorization for the Use of Military Force against Iraq,” Congressional Joint Res. vom 11. Oktober 2002 (da vom Präsidenten unterzeichnet ein formelles Gesetz), mit 296:133 Stimmen im House of Representatives und 77:23 im Senate angenommen, abgedr. in: New York Times, 12. Oktober 2002. 74 Der in Anm.73 erwähnte Military Force Act wiederholt in seiner ersten „Whereas“-Erwägung den im Iraq Liberation Act, Publ. Law 105–338 formulierten „Sense of Congress that it should be the policy of the United States to support efforts to remove from power the current Iraqi regime and promote the emergence of a democratic government to replace that regime.“ – Explizite Forderungen nach “regime change” bei Bush, Rede am 17. März 2003 im Weißen Haus; Pressekonferenz, 6. März 2003; Press Briefing durch Pressesekretär Ari Fleischer, 28. Februar 2003; Vizepräsident R. Cheney, Rede am 26. August 2002 vor den Veterans of Foreign Wars. 75 Vgl. Round Table: The Bush Administration’s Foreign Policy in Historical Perspective, in: Diplomatic History 29, Juni 2005, S. 395–444, mit Beiträgen von Melvyn P. Leffler, Robert Kagan, Walter L. Hixson, Carolyn Eisenberg, Daniel W. Drezner, Arnold A. Offner, Anna Kasten Nelson; s. ferner Lloyd E. Ambrosius, Woodrow Wilson and George W. Bush: Historical Comparisons of Ends and Means in Their Foreign Policies, in: Diplomatic History 30, 2006, S. 509–543.

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hierfür entnahm Bush allemal dem Argumentationsrepertoire des missionarischen Exzeptionalismus. Das universale Ziel, nämlich „freedom […] is not for us alone, it is the right and capacity of all mankind.“76 Aber Amerika obliegt gesteigerte Verantwortung dafür, denn es ist ihm zu Schutz, Wahrnehmung und Durchsetzung anvertraut:”[…] this great ideal of human freedom [is] entrusted to us in a special way.”77 Von wem anvertraut, wer oder was begründet Pflichten solcher Art, die aus „trust“ erwachsen? Sie entstehen zunächst offenbar aus nationaler Politiktradition („From the Fourteen Points to the Four Freedoms to the [i.e. Reagans] speech at Westminster“), aber sie werden auch auferlegt von übernationalen, ja transzendenten Mächten: Zeit, Natur, Geschichte: „The advance of freedom is the calling of our time; it is the calling of our country […] liberty is the design of nature […] liberty is the direction of history” – und in älterer (für einen bedeutenden Teil des amerikanischen kulturellen Spektrums durchaus wieder zeitgemäßer) Terminologie könnte er hinzufügen: „Providence“ oder „God.“ In seinem Einsatz für Freiheit und Demokratie also handelt Amerika als agent jener höheren Mächte und erfüllt den Auftrag, den es willig angenommen hat: „America has put our power at the service of [this] principle.“78 Hier scheint der alte covenant-Gedanke durch. Dabei ist durchaus fraglich, ob die Außenpolitik der Bush-Administration wirklich in der von Bush selbst (s. vorigen Absatz) reklamierten Kontinuität des Wilsonschen (liberalen) Internationalismus stand, immerhin würde sich Bush selbst sicher nicht gerade als „liberal“ definieren. Man wird das aber nach dem Gesagten für die Ebene einer oft inflationär ideologischen, exzeptionalistisch-missionarischen Rhetorik, abstrakter Zielsetzung und Motivation sicher zu bejahen haben. Auch das strategische Konzept, Frieden und eigene Sicherheit durch globale „Demokratisierung“ (dazu sogleich) zu gewährleisten, ist ähnlich strukturiert. Die von der Administration gewählten Mittel – militärische Gewalt bis zum preemptive war und gezielt gewaltsamer regime change – und ihr weitgehend unilateralistischer modus operandi stellten jedoch einen radikalen Bruch dar mit den Grundlinien der Außenpolitik Wilsons und der meisten seiner Nachfolger, Demokraten und Republikaner, ganz besonders F. D. Roosevelt und Truman, Eisenhower und Kennedy, selbst noch Reagan, mit Ausnahme der Vietnamkriegspräsidenten Johnson und Nixon. Trotz aller Schwächen und Abweichungen zeichnete sie sich durch Zurückhaltung in der Gewaltfrage aus, war sie prinzipiell multilateralistisch und kooperationsorientiert, suchte sie Völkerrecht und internationale Institutionen zu entwickeln und zu stärken statt sie zu reduzieren, orientierte sie konkrete Strategien an vorhandenen Mitteln und blieb sich deren Begrenzungen im Großen und Ganzen bewusst (oder scheiterte dort wo sie sie ignorierte). Die Bush-Administration und vor allem die sie zum guten Teil tragenden Neokonservativen dagegen waren geprägt von der triumphalistischen Interpretation der Überwindung des Kalten Krieges und leiteten daraus die Vorstellung praktisch unbegrenzter und (auch nach dem 11. September) nicht verwundbarer amerikanischer 76 Präsident G. W. Bush, Rede am 6. Nov. 2003, wie Anm. 18. 77 Ebd. 78 Ebd.

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Machtüberlegenheit (militärisch und wirtschaftlich) ab. Nimmt man dies als Umsetzung von Fukuyamas These, das Ende des Kalten Krieges habe endgültig erwiesen, dass das demokratische politische und privat-kapitalistische wirtschaftliche System das einzig historisch relevante und legitimierte und deshalb überlegene Modell sei, charakterisiert John L. Gaddis die Außenpolitik der Βush-Administration treffend als „Fukuyama plus force.“79 Konfrontiert man sie mit letzten Entwicklungen im Nahen und Mittleren Osten, diskreditiert sie sich als Omnipotenzfantasie, die zu einer falschen Ziel-Mittel-Konfiguration mit fatalen Konsequenzen geführt hat. – Die Kontinuität von Wilson zu G. W. Bush existiert also nur partiell, im ideologischen Bereich.80 Ein anderer Gedanke jedoch stiftet Kontinuität, die wiederum weiter als bis zu Wilson zurückreicht: Sicherheit durch Expansion. „Fundamentally, the cause of expansion is the cause of peace“ für die Vereinigten Staaten.81 Im 19. Jahrhundert verstand sich dieses Konzept der Friedenssicherung durch Expansion territorial innerhalb des kontinentalen Amerika. Aber schon zu dieser Zeit war nicht nur territoriale Ausdehnung gemeint, sondern immer zugleich Ausdehnung demokratischer Herrschaft – Jeffersons „empire of liberty.“ Im zunehmend von amerikanischer Macht geprägten 20. und 21. Jahrhundert bedeutet das aber nicht mehr Expansion durch direkten territorialen Zugewinn. Vielmehr geht es darum: die Welt wo immer möglich politisch, ideologisch und wirtschaftlich nach Maßgabe amerikanischer Werte – Demokratie, Freiheit, freies privates Unternehmertum – so zu strukturieren, dass die Vereinigten Staaten sich in ihr sicher fühlen und wirtschaftlich prosperieren können. Um sich gegen Gefährdungen amerikanischer Grundwerte von außen abzusichern, wird Amerika seine überlegene Macht (hard and soft power) einsetzen und seine „area of predominance“ oder „its sphere of responsibilities“ sichern und ausdehnen, bis wohin: „everywhere“82 – also globale Hegemonie oder ein neues „empire“ etablieren (die Begriffe sind austauschbar), und zwar alles in „defensiver“ Absicht. Für uns ist wichtig, dass „promoting democracy,“ dieses klassische exzeptionalistisch-missionarische Ziel, einerseits unmittelbares und selbständiges Politikziel ist um der Wertigkeit von Demokratie im amerikanischen Normenhaushalt willen; zweitens ist „Demokratisierung“ politisches Instrument oder Mittel, um Frieden und 79 John Lewis Gaddis, Surprise, Security, and the American Experience, Cambridge, MA 2004, S. 90; auch Walter R. Mead, Power, Terror, wie Anm. 16. 80 Vgl. die sorgfältige und ausführliche Analyse der inzwischen ebenso umfangreichen wie kontroversen Literatur zu diesen Fragen in dem schon in Anm. 75 erw. Aufsatz von Lloyd E. Ambrosius, Woodrow Wilson and George W. Bush: Historical Comparisons of Ends and Means in Their Foreign Policies, in: Diplomatic History 30, 2006, S. 509–543. 81 Theodore Roosevelt, Expansion and Peace (1899), wie Anm. 59, S. 290. – “Security through expansion” ist der Tenor des Buches von James Chace u. Caleb Carr, America Invulnerable: The Quest for Absolute Security from 1812 to Star Wars, New York 1988. 82 John L. Gaddis, Surprise, S. 13, 30 f. und 42 f. – Ich habe das die “ubiquity of America’s [security] concerns” genannt, s. Knud Krakau, ’We cannot be an island:’ The Ubiquity of American Concerns, in: Kristiaan Versluys (Hrsg.), The Insular Dream: Obsession and Resistance, Amsterdam 1995, S. 7–32. Vgl. auch Frank Ninkovich, Modernity and Power: A History of the Domino Theory in the Twentieth Century, Chicago 1994.

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eigene Sicherheit zu gewährleisten. So wird für John L. Gaddis Wilsons alte Formel „to make the world safe for democracy“ in der Ära Bush zum „national security imperative.“83 Dazu gehört natürlich die hier nicht weiter zu erörternde Prämisse (Kant, Theodore Roosevelt), eine auf demokratische Prinzipien gegründete Staatengemeinschaft verbürge generell oder jedenfalls für die USA mehr Frieden und Sicherheit als eine wie auch immer anders organisierte. Drittens ist Demokratisierung Chiffre für andere „harte“ realpolitische strategische Ziele (Sicherung des Zuganges zu Ressourcen wie Öl u.a.). Dies zusammen konstituiert die sicherheitspolitische Dimension des exzeptionalistisch-missionarischen Syndroms. In diesem Lichte erst erschließt sich dann die Mehrdimensionalität präsidentieller Rhetorik, wenn Bush „our commitment to the global expansion of democracy“ für eine von drei Säulen amerikanischer Sicherheitspolitik erklärte84 oder für den Mittleren Osten eine „forward strategy of freedom for the Greater Middle East“ fordert, in der Irak eine Katalysator-Funktion zugedacht war; mit der Etablierung der Demokratie dort sollten sich „freedom and democracy“ in der ganzen Region ausbreiten.85 Diese historisch-genetische Übersicht über die Entwicklung des missionarischen Exzeptionalismus in Amerika wirft viele weitere Fragen auf, so etwa: Was bedeuten Pluralisierung der Kirchen und Denominationen, Erstarken des Katholizismus, nicht-christlicher Religionen oder des Atheismus für den ursprünglich ja religiös-puritanisch begründeten Erwähltheits- und Missions-Mythos? Ist der Hinweis auf Säkularisierung und civil religion im 18. Jahrhundert eine hinreichende Erklärung für sein Fortwirken? Weiter müsste man nach Klassen oder rassischen und ethnischen Minderheiten differenzieren, denn ich habe eine Homogenität des Diskurses vorausgesetzt, die es so nicht geben kann. Tragen ihn auch soziale Unterschichten, obwohl er eindeutig von Mittel- und Oberschichten artikuliert wird? Hätten nicht Afroamerikaner beispielsweise Grund, sich ihm zu entziehen? Dies sind Fragen – ich kann sie hier nicht verfolgen. Ich will nur auf einige von ihnen eingehen, die direkt oder indirekt mit Außenpolitik zu tun haben. Zunächst: Das Problem der Kausalität. Der missionarische Exzeptionalismus darf in keinem Falle als (monokausale) „Erklärung“ (im Sinne von „Verursachung“) für außenpolitische Entscheidungen missverstanden werden. Es spricht wenig dafür, daß Exzeptionalismus und Missionsgedanke primäre Triebkräfte für sie darstellen. Da das Missionsmotiv sich auf ganz unterschiedliche Weise verwirklichen kann – passiv, durch die Beispielwirkung vorbildlicher Lebens- und Gesellschaftsordnung: durch conduct and example, oder durch aktives Hineinwirken in die Welt – lassen sich auch höchst unterschiedliche, ja konträre außenpolitische Ziele und Strategien auf diese gemeinsame Basis beziehen und in ihren Kategorien „erklären.“ Es geht also sinnvollerweise nicht um Ätiologie, sondern um die Legitimierung außenpolitischer Strategien, wie auch immer sie begründet oder motiviert sein mögen, durch ihre innergesellschaftliche Verankerung in der nationalen Mytholo83 John L. Gaddis, Grand Strategy for the Second Term, in: Foreign Affairs 84, 2005, S. 2–15, hier S. 14. 84 Präsident G. W. Bush, Rede in London, White Hall Palace, 19. November 2002. 85 Präsident G. W. Bush, State of the Union Address, 20. Januar 2004; Rede im Washington Hilton am 26. Februar 2003.

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gie. Der Topos „Exzeptionalismus-Mission“ bezeichnet ein Repertoire von Argumenten, mit deren Hilfe in einem offenen demokratischen System sehr unterschiedliche Positionen um Unterstützung für ihre Ziele werben, indem sie diese in den Strom der nationalen Mythologie einbinden und sie in deren Kategorien „erklären,“ vertraut und akzeptanzfähig machen. So werden die Annexionen von Texas wie der mexikanische Krieg und die Opposition dagegen (z. B. vom jungen Lincoln) mit den jeweils passenden Elementen der exzeptionalistischen Missionsmythologie „begründet;“ mit ihr argumentieren um 1900 Imperialisten und Anti-Imperialisten; mit zentralen Argumenten des Exzeptionalismus- und Missions-Denkens begründet Wilson zunächst die Neutralität und später den Kriegseintritt der USA, wird auf beiden Seiten die Debatte um den sogenannten „Isolationismus“ v. „Internationalismus“ in allen ihren Varianten von 1793 über den zweiten Weltkrieg bis zum Kosovo-Konflikt und zum Irak-Krieg geführt. Auch die Neokonservativen ziehen heute aus ihrem vorausgesetzten exzeptionalistischen Grundverständnis scheinbar widersprüchliche praktisch-politische Konsequenzen. So fordert etwa Patrick Buchanan für die Zeit nach dem Kalten Krieg den konsequenten „Rückzug“ aus der Welt oder definiert Jeane Kirkpatrick Amerika als „a normal country in a normal time,“ ohne „mystical mission.“ Carl Gershman dagegen sieht Amerikas „Purpose“ in seinem traditionellen Ziel: „supporting democracy“ in der Welt, und Charles Krauthammer gar in Amerikas „universal dominion.“86 Deshalb ist die Suche nach den Gründen für den Umschlag von der passiven (conduct and example) zur aktiven (interventionistischen) Variante dieser Mission – oder umgekehrt – müßig, solange man sie allein im Kontext des Missions-Mythos selbst sucht. Sie liegen im Bereich der Politikinteressen und -motive. Diese suchen die ihnen gemäßen Varianten des Mythos und artikulieren sich in ihnen. Der missionarische Exzeptionalismus ist nur ein Element im Gesamtprozess des politischen und speziell außenpolitischen Diskurses und hat insofern funktionale Bedeutung für den Politikprozess. Aber es kann nicht zweifelhaft sein, dass der Exzeptionalismus-Missions-Mythos in diesem angedeuteten Sinne zumindest indirekte Wirkungen auf Amerikas Außenpolitik zeitigt, auch wenn er nicht einzelne Entscheidungen kausal determiniert. Im demokratischen System werden außenpolitische Strategien, Optionen und Entscheidungen vom öffentlichen Diskurs und öffentlichen Stimmungen als Rahmenbedingungen beeinflusst. Je intensiver der Diskurs über Exzeptionalismus und Mission geführt wird – so vermutlich in Krisenzeiten, bei internationalen Herausforderungen – desto mehr engt er die Fähigkeit zur differenzierenden Wahrnehmung und Analyse und entsprechend auch die darauf beruhenden Handlungsoptionen ein. Komplexe nationale und internationale Problemlagen und Ursachenzusammenhänge für Spannungen, Bedrohungen und Konflikte – d. h. gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungsprobleme, Modernisierungsdefizite und ihre psycho86 In dem Band von O. Harries (Hrsg.), America’s Purpose, wie Anm. 69: Buchanan, America First – and Second, and Third, S. 23–34; Kirkpatrick, A Normal Country in a Normal Time, S. 155–163, hier S. 156; Gershman, Freedom Remains the Touchstone, S. 35–42, hier S. 42; Krauthammer, Universal Dominion, S. 5–13, hier S. 13.

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logischen Folgen, kulturelle, religiöse und ähnliche Spannungen usw. – werden auf einfache Erklärungsmuster reduziert oder gar auf einen einheitlichen gewissermaßen personalisierten Gegner projiziert, der dann für sie verantwortlich gemacht wird. Differenzierende Ursachenforschung wird auf diese Weise entbehrlich – oder ihre Ergebnisse werden nicht zur Kenntnis genommen. So versuchte Secretary of State John Foster Dulles bei den Anhörungen zur so genannten Eisenhower-Doktrin in den 1950er Jahren dem außenpolitischen Senatsausschuss ebenso verzweifelt wie (jedenfalls gegenüber den nicht ohnehin schon Überzeugten) vergebens zu erklären, was eigentlich „der internationale Kommunismus“ sei, der nach seiner gewissermaßen regierungsamtlichen Überzeugung den Libanon (damals schon) und den Nahen und Mittleren Osten wie den Rest der Welt bedrohte. Dessen Rolle nimmt – mit Schwerpunkt in derselben Weltregion – spätestens seit „9 / 11“ der fundamentalistische Islamismus oder gar ein „Islamo-Faschismus“ ein. Ihn im Senat zu erklären dürfte der Nachfolgerin von J. F. Dulles ebenso schwer fallen, nur dass heute vermutlich weniger kritische Fragen gestellt würden. Der Prozess der Verdrängung und Nichtverarbeitung von durchaus verfügbaren Informationen87 wird in der Diskussion der Vorgeschichte des Irakkrieges oder der Einschätzung seiner Folgen – etwa ob er die Terrorismusgefahr allgemein verringert oder vergrößert habe88 – sinnfällig demonstriert. Der missionarische Exzeptionalismus weckt Erwartungen, die es gefährlich („unpolitisch“) sein könnte zu enttäuschen. Manichäische Vereinfachungen zwischen dem eigenen Guten und dem anderen Bösen, dem „evil empire,“ lassen wenig Raum für Zwischentöne und Zwischenpositionen in einem starren FreundFeind-Schema. „Identification of U. S. foreign policy with the progressive fulfilment of God’s will on earth limited Wilson’s disposition to compromise.“89 Neutralität, politischer Neutralismus, Blockfreiheit gelten während der Jahrzehnte des Kalten Krieges als Ausdruck von Feindseligkeit, als unmoralisch, ja als Positionierung gegen „das Recht.“ Die Gut-Böse-Polarisierung ist ständige Versuchung, gegen diese Gegner als Inkarnationen des Bösen Kreuzzüge zu führen, der spanischamerikanische Krieg war „the holyest of wars.“90 Der bellum iustum-Gedanke lebt wieder auf, insbesondere, aber nicht erst seit dem 11. September, explizit im intel87 Zu diesen kognitiven Prozessen mit zahlreichen Nachweisen Knud Krakau, Einführende Überlegungen zur Entstehung und Wirkung von Bildern, die sich Nationen von sich und anderen machen, in: Willi Paul Adams u. Knud Krakau (Hrsg.), Deutschland und Amerika: Perzeption und Historische Realität, Berlin 1985, S. 9–18. 88 Vgl. zur Diskussion über den zusammenfassenden, offenbar pessimistischen Bericht aller Geheimdienste vom Frühjahr 2006 zu dieser Frage, der durch Zeitungsberichte im September 2006 bekannt und daraufhin vom Präsidenten in Auszügen veröffentlicht wurde: Mark Mazzetti, Backing Policy, President Issues Terror Estimate; David E. Sanger, Waging War on Terror: Report Belies Optimistic View; und Editorial, The Fine Art of Declassification, alle Beiträge in New York Times, 27. September 2006. 89 Lloyd E. Ambrosius, Wilsonian Statecraft: Theory and Practice of Liberal Internationalism During World War I, Wilmington, DE 1991, S. 3. 90 Ein methodistischer Geistlicher, zit. in Kenneth M. Mackenzie, The Robe and the Sword: The Methodist Church and the Rise of American Imperialism, Washington DC, 1961, S. 107 f. und 96; oder H. Van Dyke, A Sermon 1898, zit. in Hudson, Nationalism and Religion, S. 120.

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lektuellen und völkerrechtlichen Diskurs, als ständiger Subtext in den offiziellen Begründungen für unilaterale Gewaltanwendung bis zur Behauptung des Rechts auf Präventivgewalt.91 Es werden „crusades“ für eine „cause“ geführt, wenn diese nur „righteous“ oder „just“ oder „worthy enough“ ist, nämlich der Erhaltung der eigenen Existenz, der Sicherung des Friedens und der „rule of law,“ der Verbreitung von Demokratie oder der Sicherung der Menschenrechte dient.92 „America’s cause [im Krieg gegen Irak] is right and just.“93 Die Begriffe „crusade“ und „cause“ werden charakteristisch häufig verwendet.94 Wilson suchte „some cause in which it seems a glory to shed human blood if it be necessary,”95 und er verachtete Politik für bloße materielle Interessen als „sehr gefährlich“ und vor allem „degrading.“96 Dabei sind doch gerade diese Interessen kompromissfähig und deshalb befriedenden Lösungen zugänglich, „causes“ sind es in der Regel nicht. Wenn es um sie geht, gibt es kein „substitute for victory“ (MacArthur). „How do you compromise between good and evil?” fragte Reagan, oder: „How do you compromise with men who say […] there is no God?“97 Der Manichäismus des amerikanischen Exzeptionalismus neigt dazu, Außenpolitik – verstanden als langfristig geduldiges Verhandeln komplexer Probleme und Interessengegensätze mit dem Ziel der Interessenwahrung mittels friedenserhaltender und -stabilisierender Kompromisse – durch symbolische Bekräftigung der eigenen moralischen Überlegenheit zu ersetzen oder sie zu reduzieren auf „rhetorical calls for uplifting the world or attempts to avoid and ignore it.“98 So urteilt der Historiker Ambrosius über Wilson: „Hoping either to avoid or redeem the Old World he never dealt with Europe on its own terms.“99 Zuletzt ein besonders problematischer Punkt. Auf der Basis des missionarischen Exzeptionalismus – „uplifting the world“ – definiert sich amerikanische Außenpolitik in hohem Maße gesinnungsethisch. Absichten und Motive – die Verwirklichung der universalistischen Werte des amerikanischen Ethos gegen das jeweilige evil in der Welt – bestimmen aus exzeptionalistisch-missionarischer amerikanischer Perspektive Qualität und Erfolg, sie begründen und rechtfertigen Politik. Die eingesetzten Mittel, die Mittel-Ziel-Relation, die Frage nach den konkreten Wirkungen 91 Vgl. Knud Krakau, Bellum iustum v. bellum legale, wie Anm. 70; ausführlicher ders., Legitimierung von Gewalt in der amerikanischen Außenpolitik, Jenaer Universitätsreden 18, Droysen-Vorlesungen 2001–2003, Jena 2005, S. 81–113. 92 Anatol Rapoport, Changing Conceptions of War in the United States, in: Ken Booth u. Moorhead Wright (Hrsg.), American Thinking about Peace and War, Hassocks, Engl. 1978, S. 59 und 61 ff. 93 Präsident G. W. Bush, Rede am 26. Februar 2003, Hilton Hotel Washington DC. 94 Vgl. Tuveson, Redeemer Nation, Kap. 6. 95 Zit. bei Niebuhr / Heimert, A Nation So Conceived, S. 138. 96 Wilson, A New Latin American Policy, Rede am 27. Oktober 1913 in Mobile, AL, in: Ruhl J. Bartlett (Hrsg.), The Record of American Diplomacy: Documents and Readings in the History of American Foreign Relations, New York 1947, S. 540 f. 97 Zit. bei George W. Ball, The War for Star Wars, New York Rev. of Books, 11. April 1985, S. 38–44, hier S. 38. 98 Davis / Lynn-Jones, Citty upon a Hill, S. 37. 99 Ambrosius, Woodrow Wilson, S. 9.

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von Außenpolitik auf deren Zielgesellschaft, kurz die Handlungs- oder Verantwortungsungsethik wird ignoriert oder vernachlässigt. Die gute („korrekte“?) Absicht entlastet von der Verantwortung für die Folgen. Die Wirkung beispielsweise von Täuschung und Blutvergießen bei der Niederschlagung des Unabhängigkeitskampfes der Philippinos nach 1898 war für Amerika „more than offset by the high purpose – the triumph of republican ideals and institutions – to which that territory would be dedicated,“ so Historiker Michael Hunt.100 Die hier nur vorsichtig angedeutete Kritik wird dann eindeutig von Stillman und Pfaff in Bezug auf den Vietnamkrieg explizit artikuliert: die einzig relevante Moralität in den internationalen Beziehungen ist die „morality of action,“ nicht jene der „high motives.“101 Noch einigermaßen naiv hatte Henry Luce in seinem American Century – Artikel gemeint, „American prestige throughout the world” – als Basis für die Macht der USA – „is faith in the good intentions […] of the whole American people.“102 Eine Politik der guten Absichten aber blendet oft genug die Folgen ihrer Handlungen aus und riskiert, von ihrem Adressaten, den die Folgen treffen, aber die Motive nicht interessieren, nicht verstanden oder völlig anders – und zwar als zynisch – gelesen zu werden. Hier zeigt sich die Fruchtbarkeit der Weberschen Kategorien Gesinnungs- und Verantwortungs-(Handlungs-)ethik. Henry Kissinger kritisierte zwar den Manichäismus amerikanischer Außenpolitik und gab dagegen während seiner langen Amtszeit unter Nixon und Ford den „Realpolitiker.“ So zögerten er und Nixon das Ende des Vietnamkrieges hinaus, um das eigene i.e. amerikanische Gesicht wahren zu helfen. Aber er entwickelte dabei nicht etwa eine verantwortungsethische Dimension für diese Politik: eine jenseits des kurzfristigen Nützlichkeitskalküls liegende moralisch begründbare Gewichtung von Mitteln und Zielen. Seine Kritik an amerikanischer exzeptionalistischer Gesinnungsethik machte ihn nicht schon deshalb zum Handlungsethiker als der er sich selbst wohl sah. Er saß eher zwischen den Stühlen und genoss deshalb auch bei Kritikern des amerikanischen Manichäismus nur begrenztes Ansehen.103 Nun liegt es wohl in der myopischen Natur eines nationalen exzeptionalistischen Weltbildes, dass seine Protagonisten nicht sehen, dass es exzeptionalistisch jedenfalls insofern nicht ist, als auch andere Nationen exzeptionalistisch-missionarische Deutungsmuster ihrer selbst als Teil ihrer nationalen Identitätspolitik pflegen. Diese haben im einzelnen unterschiedliche mythologische, kulturelle, historische Begründungen und Inhalte – Frankreich, Deutschland, Russland, selbst die Schweiz. Wo sie in einer modernen sich globalisierenden Welt sich nicht einfach überlebt oder wie das „deutsche Wesen“ vollauf und endgültig selbst diskreditiert 100 Hunt, Ideology, S. 32. 101 Edmund Stillman und William Pfaff, Power and Impotence: The Failure of America’s Foreign Policy, New York 1966, S. 168 f. 102 Wie oben Anm. 68. 103 Dazu aus der wachsenden Kissinger-Literatur etwa David Landau, Kissinger: The Uses of Power, Boston 1972; Bruce Mazlish, Kissinger: The European Mind in American Policy, New York 1976; Walter Isaacson, Kissinger, New York 1992; zuletzt Jussi Hanhimäki, The Flawed Architect: Henry Kissinger and American Foreign Policy, Oxford, New York 2004.

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haben oder ins Folkloristische abgleiten, hängen ihre Überlebensfähigkeit und Außenwirkung nicht zuletzt von der Dauer ungebrochener Traditionen, dem allgemeinen internationalen Ansehen der Nation ab. Diese Bedingungen sind etwa für Frankreich in hohem Maße gegeben. Auch wenn die mission civilisatrice kaum noch explizit bemüht wird, verleiht doch dieser kulturell verankerte französische Mythos – als Kontrapunkt (oder Pendant) zum amerikanischen missionarischen Exzeptionalismus – den immer wieder auftretenden politischen Irritationen zwischen beiden Ländern seit der Zeit deGaulles bis zum Irak-Krieg eine kulturelle und historische Tiefendimension jenseits konkreter Politik-Differenzen. Die Akteure einer manichäischen Politik laufen Gefahr, moralische oder rechtliche Maßstäbe zu verlieren, keine Begrenzungen anzuerkennen, wenn und soweit sie überzeugt sind, als Vertreter des Prinzips des Guten (der Freiheit, Demokratie etc.) zu handeln. Die Bibel des Kalten Krieges, NSC 68, erklärte praktisch alle Mittel für legitim „which serve the purposes of frustrating the Kremlin design.“104 Der demokratische Staat USA kann, als letzte Konsequenz daraus, wie einst im englischen Recht der König, nicht Unrecht tun, denn die Interessen einer „democracy do not conflict at any point with the interests of mankind.“105 Damit schließt sich der Kreis wieder zu G. W. Bush. Die immer wieder erhobenen Foltervorwürfe wies er mit dem Hinweis auf einen nicht nur faktischen oder kausalen, sondern normativ überhöhten Zusammenhang mit dem „war on terror“ zurück. „Our country is at war, and our government has the obligation to protect the American people. Anything we do to that end, in that effort, any activity we conduct, is within the law. We do not torture.”106 Damit wollte er offensichtlich nicht sagen, dass Handlungen amerikanischer Staatsorgane, die nach welchen Maßstäben auch immer als „Folter“ qualifiziert werden könnten, nicht stattgefunden hätten, sondern dass sie angesichts ihrer Zielsetzung begrifflich nicht Folter sein konnten, sondern eben deshalb „within the law“ gewesen seien. Das ist, ich brauche das nicht zu betonen, kein Plädoyer gegen Demokratie, sondern gegen Hybris – das angebliche Recht, alles überall zu tun, oder für Zurückhaltung und die Anerkennung der Tatsache, dass wir auch für die Folgen unseres Tuns verantwortlich sind.

104 NSC 68, in: Foreign Relations of the United States 1950, Bd.1, S. 234–292, hier S. 244. 105 Bertrand Russell, Zitat aus einem Pamphlet, The Foreign Policy of the Entente, London 1914. Auszüge bei Michael Howard, War and the Liberal Conscience, London 1978, S. 77. – Russell spricht von British democracy; nach McDougall, Promised Land, S. 123 f., teilte Wilson diese Überzeugung. 106 Präsident G. W. Bush, Remarks in Panama City, zit. nach Eric Schmitt u. Tim Golden, Pentagon Plans Tighter Control of Interrogation, in: New York Times, 9. November 2005.

VOM SCHMELZTIEGEL ZUR SALATSCHÜSSEL: MULTIKULTURALISMUS UND DER AMERIKANISCHE TRAUM IM SPIEGEL DER LITERATUR Dorothea Fischer-Hornung und Dieter Schulz I Gesellschaft und Kultur der USA sind ein Gemenge zum Teil höchst heterogener Bestandteile, ein Spannungsfeld von Polaritäten, die sich kaum auf den einen oder anderen Nenner bringen lassen. Max Frisch traf den Nagel auf den Kopf, als er 1952 in einem Essay mit dem Titel “Unsere Arroganz gegenüber Amerika” folgendes zu Protokoll gab:

Amerika ist ja kein Land, das wir Europäer als ein Land zu bezeichnen gewohnt sind, sondern ein Kontinent, nicht von einem Volk bewohnt, sondern von einer Völkerwanderung, die noch keineswegs abgeschlossen ist, und über Amerika zu sprechen, wagen wir bekanntlich nur in den ersten Wochen – womit nicht gesagt sein soll, daß unsere ersten Eindrücke sich nicht nach einem Jahr wenigstens teilweise bestätigen mögen; aber eben nur teilweise, und vor allem vergrößert sich immer, je länger man einer Sache gegenübersteht, das Rätselvolle daran, das Widersprüchliche. Vor die Frage gestellt: Wie ist Amerika? wird derjenige, der den amerikanischen Kontinent auch nur ein Jahr bereist hat, im Gespräch mit seinen Freunden, die Amerika noch nie betreten haben, sich eher durch Unsicherheit auszeichnen.1

Wenn wir uns dennoch nicht scheuen, einen Beitrag zum Thema “Was Amerika ausmacht” anzubieten, so deshalb, weil sich bei aller Komplexität durch die amerikanische Geschichte einige Konzepte und Vorstellungen von der Kolonialzeit und der frühen Republik bis heute mit großer Beharrlichkeit durchgehalten haben – Vorstellungen, die auf Kontinuität und Zusammenhang deuten. Eine davon deutet Frisch selbst an, wenn er die USA nicht als ein Land in unserem Sinne, sondern als einen Kontinent bezeichnet, der nicht von einem Volk, sondern von einer Völkerwanderung bewohnt sei. Neben dem biblischen Bild der ‘Stadt auf einem Hügel’, mit dem der erste Gouverneur von Massachusetts, John Winthrop, seine berühmte Predigt auf der Arbella (“A Model of Christian Charity”, 1630) schließt und das zu den beliebtesten Versatzstücken präsidialer Rhetorik gehört, hat wohl keine Metapher das Selbstverständnis der USA stärker geprägt als die des Schmelztiegels. Das Motto “e pluribus unum” / “aus vielem eines”, das sich auf jeder amerikanischen Münze findet; die Idee Amerikas als einer Nation von Einwanderern, die, aus einer Vielzahl von Ländern kommend, im Verlauf von ein bis zwei Generationen zu einer Einheit verschmelzen und zu Amerikanern werden, hat das amerikanische Selbstverständnis über Jahrhunderte bis heute nachhaltig geprägt. 1

Max Frisch, Öffentlichkeit als Partner, Frankfurt a. M. 1979, S. 25.

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Dorothea Fischer-Hornung und Dieter Schulz

Die folgenden Ausführungen sind nach dem in den USA beliebten Schema von good news vs. bad news gegliedert. Zunächst geht es um die optimistischen Bestandteile des Schmelztiegel-Mythos, um jene Aspekte, die im guten Sinne des Amerikanischen Traums von Freiheit, Selbstverwirklichung und Glück in einer Neuen Welt funktioniert haben oder zumindest diesen Anspruch erhoben. Dann wird die Gegenrechnung aufgemacht: die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit, die Frage, inwieweit der Schmelztiegel nicht funktioniert hat bzw. nur auf Kosten von Gruppen, die eben nicht teilhatten und teilhaben an den Segnungen, die der Amerikanische Traum verheißt. Das Bild vom melting pot war und ist in hohem Maße ein harmonistischer Mythos, es verschleiert Konflikte und sichert ideologisch die Hegemonie bestimmter Schichten und Gruppen, die sich parasitär, durch Ausbeutung oder Ausschaltung anderer, entfaltet haben. Es wurde deshalb in den letzten Jahrzehnten immer wieder in Frage gestellt und von anderen Metaphern, wie denen des Mosaiks oder der Steppdecke und insbesondere der Salatschüssel verdrängt – Bilder, die zwar auf ein Ganzes deuten, zugleich aber den hohen Grad an Selbständigkeit und eben Nicht-Verschmelzung der einzelnen Ethnien und Rassen anzeigen. Damit rückt eine Problematik in den Blick, die auch uns in Deutschland immer mehr auf den Nägeln brennt. Wohl kaum jemand kann sich der Einsicht verschließen, dass die Bundesrepublik mittlerweile de facto ein Einwanderungsland ist. Damit stellt sich auch hier die Frage, in welchem Maße eine Gesellschaft sich kulturellen Pluralismus oder gar “Parallelkulturen” leisten kann, und inwieweit wir einer “Leitkultur” bedürfen, der alle, gleich welcher Herkunft, sich anzupassen haben.2 In den USA tobt darüber seit den 1980er Jahren ein heftiger Streit. Die trotz gelegentlicher separatistischer Bestrebungen (etwa in der Back to Africa-Bewegung eines Marcus Garvey um 1920) im Großen und Ganzen über zwei Jahrhunderte funktionierende Anerkennung des American Way ist Selbstzweifeln und Attacken gewichen, die auf die unterdrückerischen und zerstörerischen Auswirkungen der weißen Hegemonialkultur abheben. Eine mexikanisch-amerikanische Autorin wie Ana Castillo erteilt den für die dominante Kultur verantwortlichen Anglos eine entschiedene Absage; wie die schwarze Nobelpreisträgerin Toni Morrison argumentiert sie, der Amerikanische Traum habe der Konstruktion eines rassistischen und patriarchalischen Systems gedient und damit ausgedient. Seit dem Erscheinen von Samuel Huntingtons Bestseller von 1996 ist die griffige Formulierung vom “Kampf der Kulturen” in aller Munde, und der renommierte Historiker Arthur M. Schlesinger, Jr., warnt in The Disuniting of America vor dem Zerfall eines Grundkonsenses, der seit dem 18. Jahrhundert über alle Differenzen hinweg die Kontinuität und Kohärenz der Vereinigten Staaten garantiert habe.3 2

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Einen Überblick über die wichtigsten Positionen der Debatte in Deutschland bietet Hartwig Pautz, Die deutsche Leitkultur: Eine Identitätsdebatte, Stuttgart 2005. Vgl. Norbert Lammert (Hrsg.), Verfassung – Patriotismus – Leitkultur: Was unsere Gesellschaft zusammenhält, Hamburg 2006. Ana Castillo, Massacre of the Dreamers: Essays on Xicanisma, New York 1995; Toni Morrison, Playing in the Dark: Whiteness and the Literary Imagination, Cambridge, MA 1992; Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York

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Der Blick zurück in die Geschichte kann die Probleme nicht lösen, aber doch verdeutlichen, was auf dem Spiel steht. Für die eine wie die andere Seite der Debatte beziehen wir uns oft auf die Literatur der USA, “Literatur” freilich in dem weiten, in der Amerikanistik seit langem gebräuchlichen Sinne, der neben der ‘schönen’ Literatur auch nichtfiktionale Werke wie Essays, Interviews oder die bereits erwähnten Reden amerikanischer Politiker einschließt. Die Fokussierung auf Texte ergibt sich aus unserer Fachkompetenz, sie ist aber auch sachlich legitim. Wie die Rede vom Amerikanischen Traum signalisiert, war und ist “Amerika” in hohem Maße eine Idee mit erheblichen mythisch-fiktionalen Bestandteilen. Seit ihren Anfängen hat amerikanische Literatur sich auf die Idee des Projekts Amerika bzw. USA verpflichtet gefühlt, und diese Verpflichtung hält auch im Zeitalter von Film, Fernsehen und neuen Medien ungebrochen an.4 II Der locus classicus des Schmelztiegel-Mythos datiert aus der Zeit der frühen Republik. Einige der besten Amerika-Bücher wurden von Franzosen geschrieben – Alexis de Tocquevilles De la démocratie en Amérique (1835 / 40) dürfte das bekannteste sein –, und auch die Letters from an American Farmer (1782), denen die folgende Passage entnommen ist, stammen von einem französischen Aristokraten. Ihr Autor, Michel-Guillaume St. Jean de Crèvecœur, hatte zunächst im letzten der French and Indian Wars (1754–60) auf französischer Seite gedient und sich dann mit seiner amerikanischen Frau in Orange County, New York, auf einer Farm niedergelassen. Im Unabhängigkeitskrieg schloss er sich den Loyalists, den Anhängern der britischen Krone, an und musste schließlich, als sich deren Niederlage abzeichnete, nach Frankreich zurückkehren. Der dritte, mit der Frage “What is an American?” betitelte Letter enthält eine der berühmtesten amerikanischen Selbstdefinitionen: Was also ist der Amerikaner, dieser neue Mensch? Er ist weder ein Europäer noch der Nachfahre eines Europäers; daher die seltsame Blutmischung, die man in keinem anderen Land findet. Ich könnte Ihnen eine Familie zeigen, deren Großvater Engländer war, seine Frau Holländerin, ihr Sohn heiratete eine Französin, deren vier Söhne jetzt Frauen aus vier verschiedenen Nationen haben. Ein Amerikaner ist jemand, der alle überkommenen Vorstellungen und Gebräuche hinter sich gelassen hat und nun neue empfängt dank der neuen Lebensart, für die er sich entschieden hat, dank der neuen Regierung, der er gehorcht, und dank der neuen Stel-

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1996; dt.: Kampf der Kulturen (übers. von Holger Fliessbach), München 1998; Arthur M. Schlesinger, Jr., The Disuniting of America: Reflections on a Multicultural Society, New York 1992. – Vgl. James Davison Hunter, Culture Wars: The Struggle to Define America, New York 1992; Charles Taylor, Multiculturalism and “The Politics of Recognition”, Princeton, NJ 1992; dt.: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung (übers. von Reinhard Kaiser), Frankfurt a. M. 1997; Louis Alchorn, Creating Bosnia in America: Why the Multicultural / Multiethnic Society Will Destroy the United States, Pittsburgh 1996; Nathan Glazer, We Are All Multiculturalists Now, Cambridge, MA 1997; Samuel P. Huntington, Who Are We? America’s Great Debate, New York 2004. Vgl. Carin Freywald u. Michael Porsche (Hrsg.), The American Dream: Festschrift für Peter Freese, Essen 1999.

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Dorothea Fischer-Hornung und Dieter Schulz lung, die er jetzt einnimmt. Er wird zum Amerikaner, indem er in den weiten Schoß unserer großen alma mater aufgenommen wird. Hier werden Individuen aller Nationen zu einer neuen Rasse von Menschen verschmolzen, deren Taten und Nachkommen einmal große Veränderungen in der Welt bewirken werden. … Der Amerikaner ist ein neuer Mensch, der nach neuen Prinzipien handelt; er muss deshalb neue Ideen und Ansichten haben. Aus erzwungenem Müßiggang, sklavischer Abhängigkeit, Armut und fruchtloser Plackerei hat er den Übergang zu Arbeit ganz anderer Natur geschafft, die durch Wohlstand belohnt wird. – Dies ist ein Amerikaner.5

Unverkennbar ist das gewaltige Pathos, das aus diesen Worten spricht: der Gedanke, dass mit der Verschmelzung von Angehörigen verschiedener Nationen ein neuer Mensch – man beachte die Häufigkeit des Wörtchens new! – die Bühne der Weltgeschichte betritt. Crèvecœur betont das Moment der Diskontinuität: Der Amerikaner – das unum, das e pluribus hervorgeht – entsteht durch einen Identitätsbruch; er ist grundsätzlich verschieden von dem Einwanderer aus der Alten Welt, als der er zunächst den neuen Kontinent betreten hat. Eine wesentliche Voraussetzung für die Entstehung des Amerikaners als eines neuen Menschen sieht Crèvecœur in der neuen Regierungsform: An die Stelle der Despotie, der “servile dependence”, der er in der Alten Welt unterworfen war, tritt in Crèvecœurs Darstellung das im Titel des Buches beschworene Bild des freien Bauern, dessen Entfaltungsspielraum durch eine sanfte, republikanische Regierungsform eher erweitert als eingeschränkt wird. Zusätzlich begünstigt wird die Entfaltung dieses neuen Menschen und dieses neuen Systems durch die geopolitischen Bedingungen des Kontinents: die Verfügbarkeit eines schier grenzenlosen geographischen Raums mit schier grenzenlosen Ressourcen. Für Crèvecœur ist der im Schmelztiegel Amerika entstehende neue Mensch somit zum einen an spezifische Bedingungen gebunden, zugleich ermöglicht die spezielle Situation Amerikas die Verwirklichung von Prinzipien, die im Rahmen der Aufklärung universellen Anspruch erheben. Die Weite des Landes ist eine Besonderheit Amerikas im Unterschied zu Europa, die Grundsätze aber, die sich in der Neuen Welt verwirklichen lassen, gehören – wie Thomas Jefferson es um die gleiche Zeit in der Declaration of Independence (1776) formuliert – zu den unveräußerlichen Menschenrechten, der Idee nach zu den Rechten aller Menschen. Insofern 5

Übers. Dieter Schulz. Im Original: What then is the American, this new man? He is neither a European, nor the descendent of an European: hence that strange mixture of blood, which you will find in no other country. I could point out to you a family, whose grandfather was an Englishman, whose wife was Dutch, whose son married a French woman, and whose present four sons have now four wives of different nations. He is an American, who, leaving behind him all his antient prejudices and manners, receives new ones from the new mode of life he has embraced, the new government he obeys, and the new rank he holds. He becomes an American by being received in the broad lap of our great alma mater. Here individuals of all nations are melted into a new race of men, whose labours and posterity will one day cause great changes in the world. … The American is a new man, who acts upon new principles; he must therefore entertain new ideas and form new opinions. From involuntary idleness, servile dependence, penury, and useless labour, he has passed to toils of a very different nature, rewarded by ample subsistence. – This is an American. Crèvecœur, Letters from an American Farmer (hg. von Susan Manning), Oxford 1997, S. 43–45. Vgl. Peter Bischoff (Hrsg.), America, the Melting Pot: Fact and Fiction, Paderborn 1978, S. 14–15.

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fungiert der Schmelztiegel Amerika als praktische Umsetzung von Idealen, von denen die europäische Aufklärung nur hat träumen können; Amerika bedeutet, in Ralf Dahrendorfs griffiger Formulierung, angewandte Aufklärung.6 Die Letters from an American Farmer verbinden das Bild des Schmelztiegels mit dem Gedanken einer besonderen welt- und menschheitsgeschichtlichen Mission Amerikas. In säkularisierter Form knüpft der Aufklärer Crèvecœur, wie Thomas Jefferson und die anderen Gründerväter der USA, an das Selbstverständnis der puritanischen Kolonisten an, die im 17. Jahrhundert – nach der aus ihrer Sicht gescheiterten englischen Reformation – auf der anderen Seite des Atlantiks die vielleicht letzte Chance sahen, ein christliches Gemeinwesen auf biblischer Grundlage zu schaffen. Religiöses Pathos ist mit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts jedoch keineswegs erledigt, es hält sich vielmehr als Konstante amerikanischer Ideologie bis heute durch. Davon zeugte nicht zuletzt die Rhetorik von George W. Bush. In welchem Maße dies auch für die Schmelztiegel-Metapher gilt, belegt eindrücklich das 1909 veröffentlichte Drama The Melting-Pot. Sein Verfasser, der englisch-jüdische Zionist Israel Zangwill, widmete das Werk dem Präsidenten Theodore Roosevelt. Das Stück spielt im Milieu der ‘neuen’, nach 1880 in den USA eingetroffenen Einwanderer. Die Hauptfigur – ein aus Bessarabien stammender Jude namens David, der jetzt in New York lebt und eine Christin (!) geheiratet hat – fungiert über weite Strecken als Sprachrohr des Autors. So auch in der folgenden Passage:

… Amerika ist Gottes Tiegel, der große Schmelztiegel, wo alle Volksgruppen Europas verschmelzen und umgeformt werden! Hier steht Ihr, rechtschaffene Leute, denke ich, wenn ich sie auf Ellis Island sehe, hier steht Ihr … in Euren fünfzig Gruppen, mit Euren fünfzig Sprachen und Geschichten, und Euren fünfzig Blutfehden und Rivalitäten. Aber lange werdet Ihr nicht so bleiben, Brüder, denn hier seid Ihr zu den Feuern Gottes gekommen – ja, dies sind die Feuer Gottes. Zum Teufel mit Euren Fehden und Streitereien. Deutsche und Franzosen, Iren und Engländer, Juden und Russen – hinein mit Euch allen in den Tiegel! Gott ist dabei, den Amerikaner zu schaffen.7

Der Zusammenhang von amerikanischer Identität, melting pot und Universalitätsanspruch durchzieht die amerikanische Literatur. Erstaunlicherweise findet er sich auch bei Autoren, die in mancher Hinsicht eher zu den Kritikern, wenn nicht gar zu den pessimistischen Deutern des amerikanischen Traums zählen. Ein eklatantes 6

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Ralf Dahrendorf, Die angewandte Aufklärung: Gesellschaft und Soziologie in Amerika, München 1963. – Zum freien Bauern als Idealbild des Amerikaners bzw. der Vision der USA als einer agrarischen Republik siehe auch Thomas Jefferson, Notes on the State of Virginia von 1787, bes. Query XIX (“Manufactures”). Übers. Dieter Schulz. Im Original: “… America is God’s Crucible, the great Melting-Pot where all the races of Europe are melting and re-forming! Here you stand, good folk, think I, when I see them at Ellis Island, here you stand … in your fifty groups, with your fifty languages and histories, and your fifty blood hatreds and rivalries. But you won’t be long like that, brothers, for these are the fires of God you’ve come to – these are the fires of God. A fig for your feuds and vendettas! Germans and Frenchmen, Irishmen and Englishmen, Jews and Russians – into the Crucible with you all! God is making the American.” Zit. nach Edna Nahshon (Hrsg.), From the Ghetto to the Melting Pot: Israel Zangwill’s Jewish Plays, Detroit 2006, S. 288. Vgl. Bischoff, America, the Melting Pot, S. 35.

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Beispiel ist Herman Melville, der große Tragiker des klassischen amerikanischen Romans. Sein Hauptwerk, Moby-Dick (1851), ist als Allegorie des Untergangs Amerikas, sein Held, Captain Ahab, als Personifikation amerikanischer Hybris, eines alle Grenzen sprengenden Individualismus mit seinen verheerenden Konsequenzen gedeutet worden. Umso überraschender erscheint die folgende Passage aus dem Roman White-Jacket, 1849, knapp zwei Jahre vor Moby-Dick erschienen. Das 36. Kapitel von White-Jacket endet mit einer Hymne auf Amerika als Hort der Freiheit, der alle Menschheitshoffnungen versammelt. Melville spricht nicht ausdrücklich vom ethnischen Schmelztiegel, aber das Bild der Bundeslade oder Arche, verbunden mit der Analogie zwischen den USA und Israel, dem auserwählten Volk, enthält die gleiche Vorstellung, die Crèvecœur im dritten Brief der Letters from an American Farmer formuliert hatte: den Gedanken, dass die USA als Vielvölkeramalgam die Ideale der Menschheit bündeln und damit eine Zäsur der Weltgeschichte darstellen:

… wir Amerikaner sind das auserwählte Volk – das Israel unserer Zeit; wir tragen die Bundeslade mit den Freiheiten der Welt. Vor siebzig Jahren entrannen wir der Versklavung, und außer dem Erstgeburtsrecht – begreifen wir doch einen ganzen Erdteil in uns – hat uns Gott als künftiges Erbe die weiten Bereiche der politischen Heiden gegeben, die alle noch kommen und sich im Schatten unserer Lade niederlegen werden, ohne daß sich blutige Hände zu erheben brauchen. Gott hat es vorherbestimmt, die Menschheit erwartet große Dinge von unserem Stamm, und große Dinge bewegen wir in unserer Seele. Die übrigen Nationen müssen bald hinter uns bleiben. Wir sind die Pioniere der Welt, die Vorhut, ausgesandt in die Wildnis der Unerprobten, um in der Neuen Welt, die die unsere ist, einen neuen Pfad zu bahnen. … Lange genug haben wir uns selbst misstraut und haben gezweifelt, ob wirklich der politische Messias gekommen sei. Doch ist er gekommen, in uns, wenn wir nur seinen Eingebungen eine Stimme geben wollten. Seien wir immer dessen eingedenk, daß bei uns, fast zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit, nationaler Eigennutz grenzenlose Menschenliebe ist; denn wir können Amerika nicht Gutes tun, ohne zugleich der Welt Liebesgaben zu reichen.8

Ronald Reagans Inaugural Addresses klingen im Vergleich hierzu beinahe unterkühlt, und in der Tat haben manche Kritiker gemeint, dieser chauvinistische Erguss könne bei einem Autor wie Melville höchstens als Satire gewertet werden. Mag 8

Herman Melville, Weissjacke, oder Die Welt auf einem Kriegsschiff (übers. von Barbara Cramer-Nauhaus), Leipzig 1954), S. 212–213. Im Original: … we Americans are the peculiar, chosen people – the Israel of our time; we bear the ark of the liberties of the world. Seventy years ago we escaped from thrall; and, besides our first birth-right -–embracing one continent of earth – God has given to us, for a future inheritance, the broad domains of the political pagans, that shall yet come and lie down under the shade of our ark, without bloody hands being lifted. God has predestinated, mankind expects, great things from our race; and great things we feel in our souls. The rest of the nations must soon be in our rear. We are the pioneers of the world; the advance-guard, sent on through the wilderness of untried things, to break a new path in the New World that is ours. … Long enough have we been sceptics with regard to ourselves, and doubted whether, indeed, the political Messiah had come. But he has come in us, if we would but give utterance to his promptings. And let us always remember, that with ourselves, almost for the first time in the history of earth, national selfishness is unbounded philanthropy; for we can not do a good to America but we give alms to the world. Zit. nach Herman Melville, White-Jacket, or The World in a Man-of-War, Northwestern-Newberry Edition, Evanston, IL 1970, S. 151.

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sein. Andererseits findet sich aber immer wieder auch bei amerika-kritischen Autoren ein rhetorisches Muster, das einer der prominentesten Amerikanisten, Sacvan Bercovitch, als Modell der Jeremiade beschrieben hat.9 Gemeint ist damit das im Alten Testament vor allem mit dem Propheten Jeremias verbundene, im 17. Jahrhundert von den puritanischen Einwanderern in die Neue Welt importierte und – so Bercovitchs These – mindestens bis zum Bürgerkrieg in der politischen Rhetorik ebenso wie in der Literatur dominante Argumentationsschema der Konfrontation amerikanischer Ideale mit amerikanischer Wirklichkeit, wobei noch die schärfste Kritik an amerikanischen Verhältnissen sich im Rahmen eines Grundkonsenses bewegt, der an Amerika glaubt. In der soeben zitierten Melville-Stelle schimmert dieses Modell gegen Ende durch, wenn der Erzähler den Messias in Amerika angekommen sieht, mit der – entscheidenden – Einschränkung: “if we would but give utterance to his promptings” – wenn wir nur auf ihn hörten und seine Eingebungen rein zum Ausdruck brächten. Was hier nur kurz aufscheint, wird im 20. Jahrhundert geradezu modellhaft an zwei um die gleiche Zeit entstandenen Dokumenten deutlich: John F. Kennedys berühmtes Buch A Nation of Immigrants (postum 1964 erschienen) und Martin Luther Kings berühmter Rede vom 28. August 1963, dem Abschluss und Höhepunkt des Bürgerrechts-Marsches auf Washington. Beide beklagen einen von rassischer und ethnischer Diskriminierung gekennzeichneten Status quo, und sie dringen auf Abhilfe im Namen amerikanischer Ideale und Traditionen. Kennedy, der erste Katholik und Irisch-Amerikaner im Weißen Haus, hatte bereits als Kongressabgeordneter und Senator eine Reihe von Gesetzesvorhaben initiiert, mit denen die seit der Jahrhundertwende zugunsten nord- und westeuropäischer Einwanderer eingeführten Quotenregelungen gelockert werden sollten. In seinem Buch erinnert er an die Freiheitsstatue und die auf ihr angebrachte Inschrift, um dann die tatsächlichen Verhältnisse zu kritisieren: Die berühmten Worte von Emma Lazarus auf dem Sockel der Freiheitsstatue lauten: “Gebt mir eure müden, eure armen, eure geknechteten Massen, die sich danach sehnen, frei zu atmen.” Bis zum Jahre 1921 spiegelten diese Worte unsere Gesellschaftsform getreulich wider. Nach dem geltenden Recht könnte man hinzufügen: “… solange sie aus Nordeuropa stammen und nicht gar zu müde oder gar zu arm oder ein bisschen krank sind, niemals einen Laib Brot gestohlen haben, nie fragwürdigen Organisationen beigetreten sind und ihr gesamtes Tun der vorangegangenen zwei Jahre belegen können.”

Dieser Zustand widerspricht Kennedy zufolge fundamentalen amerikanischen Prinzipien, er muss deshalb durch eine neue Einwanderungspolitik geändert werden:

Die Einwanderungspolitik sollte großzügig sein, fair und flexibel. Dann könnten wir der Welt und unserer eigenen Vergangenheit ehrlichen Herzens und offen ins Gesicht blicken. Eine derartige Politik wäre nichts anderes als das erneute Bekenntnis zu alten Prinzipien. Sie wäre Ausdruck unserer Übereinstimmung mit George Washington, wonach “die Brust Amerikas sich darbietet nicht nur den reichen, angesehenen Fremden, sondern den Unterdrückten und Verfolgten aller Nationen und Religionen. Sie werden wir willkommen heißen und an unseren

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Sacvan Bercovitch, The American Jeremiad, Madison, WI 1978.

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Dorothea Fischer-Hornung und Dieter Schulz Rechten und Privilegien teilhaben lassen, wenn Würde und Verhalten diese Wohltat verdient erscheinen lassen.10

In seiner als “I have a dream” in die Geschichte eingegangenen Rede verfolgt Martin Luther King eine ähnliche Strategie. Im ersten Teil der Rede beklagt er, dass der Amerikanische Traum – die Verheißungen der Declaration of Independence, der Verfassung, der von Abraham Lincoln unterschriebenen Proclamation of Emancipation – noch immer nicht eingelöst sei. Was die Lage der Schwarzen betrifft, so King, sind die Schwarzen immer noch nicht frei – “the Negro is still not free.” Der melting pot hat katastrophal versagt, von einer Teilhabe der Schwarzen an den Segnungen amerikanischer Zivilisation kann hundert Jahre nach Lincolns Proklamation immer noch keine Rede sein. Worauf es nun ankommt, ist die Argumentationsstrategie Kings, die sich rhetorisch von vornherein in die Tradition des Amerikanischen Traums stellt und nicht diesen selbst, sondern die Diskrepanz zwischen Verheißung und Wirklichkeit anklagt. Die archaisch-biblisch klingende Eröffnungswendung “Fivescore years ago” (“vor fünfmal zwanzig” = hundert Jahren) bietet ein Echo des Anfangs der berühmtesten amerikanischen Rede überhaupt, Lincolns Gettysburg Address (1863), und mit dem ausdrücklichen Bezug auf Unabhängigkeitserklärung und Verfassung markiert er den Traum, den er im zweiten Teil der Rede mit der refrainhaft wiederholten Wendung “I have a dream” beschwört, als eine Variante des Amerikanischen Traums: Nicht um dessen Irrelevanz oder Nichtigkeit geht es, King besteht im Gegenteil auf dessen ungebrochener Legitimität, und zwar ganz handfest – typisch amerikanisch? – in pekuniärer Bildlichkeit, indem er mit den in die Hauptstadt der USA gekommenen Demonstranten darauf besteht, einen Scheck einzulösen: “In a sense we’ve come to our nation’s capital to cash a check.”11 Nach dem Muster der Jeremiade werden amerikanische Ideale nicht in Frage gestellt, sondern im Gegenteil beschworen als kritischer Maßstab, dem die Wirklichkeit sich stellen muss. In Kings “I have a dream”-Rede fungiert die Vorstellung von Amerika als Schmelztiegel im Sinne einer impliziten Metapher; sie wird nicht ausdrücklich formuliert, sie beherrscht mehr unterschwellig, darum aber nicht weniger wirksam den Gang der Rede. In welchem Maße die Metapher auch heute noch affirmativ eingesetzt werden kann, lässt sich am Beispiel einer ethnischen Gegenwartsautorin aufzeigen. Bharati Mukherjee gehört zu den prominentesten und meistdiskutierten Vertreterinnen südasiatisch-amerikanischer Literatur. 1940 in Kalkutta geboren, an 10 John F. Kennedy, Die Nation der vielen Völker (übers. von Horst Jordan), Düsseldorf 1965, S. 89 f.; S. 99. Im Original: Immigration policy should be generous; it should be fair; it should be flexible. With such a policy we can turn to the world, and to our own past, with clean hands and a clear conscience. Such a policy would be but a reaffirmation of old principles. It would be an expression of our agreement with George Washington that “The bosom of America is open to receive not only the opulent and respectable stranger, but the oppressed and persecuted of all nations and religions; whom we shall welcome to a participation of all our rights and privileges, if by decency and propriety of conduct they appear to merit the enjoyment. Zit. nach John F. Kennedy, A Nation of Immigrants, New York 1964, S. 77; S. 83. Vgl. Bischoff, America, the Melting Pot, S. 96 f., S. 101 f. 11 Martin Luther King, Jr., I Have a Dream: Writings and Speeches that Changed the World (hg. von James Melvin Washington), San Francisco 1992, S. 102.

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Schulen in Indien, England und der Schweiz ausgebildet, kam sie 1961 als Studentin in die USA, erwarb in dem berühmten Writers’ Workshop der University of Iowa zunächst den Magistergrad, dann den Ph.D. in English and Comparative Literature. Nach einem 14-jährigen Aufenthalt in Kanada kehrte sie 1980 in die USA zurück und brachte es bis zum Distinguished Professor im English Department der University of California in Berkeley. Die Protagonistinnen ihrer Kurzgeschichten und Romane kommen in der Regel wie die Autorin selbst aus Indien, und sie erkämpfen sich ihren Platz in der amerikanischen Gesellschaft. Der Vorgang der Assimilation ist alles andere als unproblematisch, die Heldinnen zahlen oft einen hohen Preis, und ihre Lage ist manchmal auch am Schluss keineswegs komfortabel. Amerikanerin-Sein ist für Mukherjee, wie es Henry James für andere Schriftsteller-Generationen formuliert hatte, “a complex fate” – eine durchaus schwierige, prekäre Angelegenheit, stets überschattet von der Möglichkeit des Scheiterns.12 Eines aber steht für sie außer Frage: die Richtung des Prozesses weg von der traditionalistischen Ausgangskultur hin zur relativ offenen amerikanischen Gesellschaft. Dieser Prozess wird ganz im Sinne Crèvecœurs als Traditionsbruch verstanden, aus dem ein neuer Mensch hervorgeht, und wie Crèvecœur sieht Mukherjee darin vor allem eine Chance und weniger ein Risiko. In einem oft zitierten Interview mit Bill Moyers erinnert sie die Erregung, die sie bereits bei ihrer Ankunft in der Neuen Welt verspürte: “Als ich landete, 1961 als Studentin, wusste ich sofort, dass ich hier hingehöre. Es war Liebe auf den ersten Blick.” Trotz Rassismus, Ghettos, trotz Identitätskrisen im Zusammenhang mit ethnischer Diskriminierung erlebt sie den Amerikanischen Traum gerade in seiner Schmelztiegelfunktion als Befreiung hin zum Entwurf eines neuen, lebendigeren Selbst: Schon bei der Landung als Studentin 1961 … wusste ich, dass ich hier hingehörte. … Was Amerika mir bietet, ist Romantik und Hoffnung. Ich kam aus einem Kontinent, in dem Zynismus, Ironie und Verzweiflung herrschen. Eine traditionalistische Gesellschaft, wo man ist, was man ist, je nach der Familie, in die man hineingeboren wurde, die Kaste, die Klasse, das Geschlecht. Plötzlich fand ich mich in einem Land, … wo ich Teile meiner Biographie hinter mir lassen und eine völlig neue Biographie für mich erfinden konnte. … Dabei töten wir unser altes Selbst, sehr schmerzhaft, und oft gewaltsam. Das ist vielleicht ein bedauerlicher, aber unvermeidlicher Vorgang. Ich denke aber, daß er auch etwas Befreiendes hat. Trotz des Schmerzes, trotz der Gewaltsamkeit, trotz der Verletzung des alten Selbst: die Freiheit zu haben, Fehler zu machen, eine völlig neue Lebensgeschichte für sich zu erfinden – das ist spannend.13

12 Vgl. Marius Bewley, The Complex Fate: Hawthorne, Henry James and Some Other American Writers, London 1952. 13 Übers. Dieter Schulz. Im Original: I knew the moment I landed as a student in 1961 … that this is where I belonged. … What America offers me is romanticism and hope. I came out of a continent of cynicism and irony and despair. A traditional society where you are what you are, according to the family that you were born into, the caste, the class, the gender. Suddenly, I found myself in a country … where I could choose to discard that part of my history that I want, and invent a whole new history for myself. … In doing that, we very painfully, sometimes violently, murder our old selves. That’s an unfortunate, perhaps, but inevitable process. I want to think that it’s a freeing process. In spite of the pain, in spite of the violence, in spite of the bruising of the old self, to have that freedom to make mistakes, to choose a whole new history for oneself, is exciting. Zit. nach Bharati Mukherjee, Interview in: Bill Moyers, A World of

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Mukherjee hält wenig von Multikulturalismus und Bindestrich-Identität; sie will nicht Indian- oder Asian-American sein, sondern American ohne Wenn und Aber. Offenbar kann der melting-pot-Mythos über zweihundert Jahre nach seiner klassischen Formulierung durch Crèvecœur immer noch offensiv vertreten werden. Freilich ist Mukherjees Position im Umfeld der multi-ethnischen Gegenwartsliteraturen keineswegs selbstverständlich, und sie wird von vielen Zeitgenossen als naiv belächelt. Die Frage nach dem Warum dieser skeptischen Einschätzung führt uns zu den “bad news”. III Fragt man jemanden aus den USA nach seiner Herkunft, so erhält man oft eine Antwort wie die von Tennessee Reed, dem Sohn des Schriftstellers Ishmael Reed:

Ich bin zur einen Hälfte russisch / jüdisch / tatarisch. Meine andere Hälfte ist ein Achtel Cherokee-Indianer, ein Achtel weiß (dänisch, französisch und irisch) und ein Viertel nigerianisch. Mein Name ist Tennessee, das in der Sprache der Cherokees „Biegung im Fluss“ heißt. Mein Nachname ist Reed, schottisch-irische Herkunft. … Seit meiner Kindergartenzeit haben Menschen rassistische Bemerkungen über meine Herkunft gemacht. Manche Weiße hassen mich, weil ich schwarz und jüdisch bin, und manche Schwarze hassen mich, weil ich hellere Haut habe.14

Ishmael Reed hat einmal darüber spekuliert, was wohl aus Alex Haleys berühmten Buch und der Fernsehserie Roots geworden wäre, hätte Haley seinen irischen statt afrikanischen Vorfahren nachgespürt – anstatt Kunta Kinte zum Beispiel Seamus Haley aufgespürt. Haleys Wahl, sich auf seine afrikanischen Wurzeln zu konzentrieren, folgt zwingend der Logik der amerikanischen Geschichte. Nach dieser Logik wird er als „schwarz“ – und ausschließlich „schwarz“ – definiert. Bebe Moore Campbell schildert in ihrem 1996 erschienenen und unter dem Eindruck der Rassenausschreitungen in Los Angeles im Jahre 1992 geschriebenen Roman Brothers and Sisters folgendes Gespräch zwischen zwei Freundinnen. Beide sind Leitende Angestellte in einer Bank in Los Angeles. Mallory ist weiß, Esther ist schwarz: Mallory zu Esther: „Also liegt Dir viel daran, schwarz zu sein […] Ich meine nur, dass es für Dich einen sehr großen Teil Deiner Identität darstellt. Sogar mehr als Amerikanerin zu sein, schwarz zu sein, steht bei Dir an erster Stelle, nicht? […] Weißt Du, meine Familie kam vor vielen Generationen aus Frankreich und England, aber das ist für mich bedeutungslos. Mir ist

Ideas II: Public Opinions from Private Citizens (hg. von Andie Tucher), New York 1990, S. 3; S. 8. 14 Übers. Dorothea Fischer-Hornung / Dieter Schulz. Im Original: I am one-half Russian / Jewish / Tartar. My other half is one-eighth Cherokee, one-eighth white (Danish, French, and Irish), and one-quarter Nigerian. My name, Tennessee, is Cherokee for ‘Bend in the River.” My last name, Reed is Scots-Irish. […] Since I was in kindergarten, people have made racist comments about my heritage. Some white people hate me because I’m black and Jewish, and some black people hate me because I’m light skinned. Zit. nach Tennessee Reed, Being Mixed in America, in: Ishmael Reed (Hrsg.), MultiAmerica: Essays on Cultural Wars and Cultural Peace, New York 1998, S. 113 f.

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nichts von deren Bräuchen oder Sprache geblieben. Meine Mutter hat nicht einmal französisch gekocht. Mir bedeutet meine ethnische Herkunft nichts, nicht wie bei Dir“, sagte sie sehnsüchtig. […] Esther erwidert: „Du brauchst keine ethnische Herkunft, Mallory. Du hast die Privilegien, die Dir deine Haut verleiht. Du denkst nicht an Deine Hautfarbe, weil Du es nicht musst. Die Verkäuferinnen in Saks Fifth Avenue folgen Dir nicht auf Schritt und Tritt und rätseln, ob Du gerade etwas geklaut hast – nur weil Du weiße Haut hast. Und der Verkäuferin ist es ganz egal, ob Du gerade auf einem Schiff aus Bosnien angekommen bist. Es ist egal, ob Du französischer, englischer oder irischer Abstammung bist. Du bist weiß und Weiße haben die Macht in diesem Lande.“ „Wir Weiße haben vielleicht die Macht erhalten, aber unsere Identität verloren. Unsere Identität wurde einfach in den Schmelztiegel geworfen“, sagt Mallory. Esther hält dagegen: „Nun ja, dafür ist ja der Schmelztiegel da – für Weiße. Niemand wird im Tiegel verschmolzen, außer Weiße wie Du. Italiener und Deutsche und Schweden können einfach in den Schmelztiegel hineinspringen und sich alle eine wunderbare Identität aneignen. Warum glaubst Du, dass Latinos sich nicht die Mühe machen, Englisch zu lernen? Sie wissen, dass der Tiegel nicht für Leute mit brauner Haut, dunklen Augen und glatten schwarzen Haaren gedacht ist. Sie wissen, dass sie nicht verschmolzen werden, also verzichten sie nicht auf ihre Kultur, nur um den halben Traum zu ergattern.15

Dieser Dialog spiegelt ein komplexes Zusammenspiel wider: die Frage der Rassenzugehörigkeit und der ethnischen Identität in der US-amerikanischen Gesellschaft. Für viele Amerikaner(innen) ist ihre Herkunft derart selbstverständlich, dass es ihnen unklar ist, dass dies für einige andere Gruppen in der Gesellschaft nicht zutrifft.16 Sie beklagen sich darüber, dass Minoritäten einfach zu viel auf ihre Her15 Übers. Dorothea Fischer-Hornung / Dieter Schulz. Im Original: “You are all so invested in being black,” Mallory said, as she and Esther got ready for bed. “I mean, that’s such a huge part of your identity, isn’t it? Even more than being an American, being black comes first, doesn’t it?” She didn’t stop to let Esther answer, her mind was so full of her own thoughts as she replayed snippets of the conversation she’d heard in Traces. “I mean, way back when my family in is English and French, but that means nothing to me. We don’t have any customs or language from our heritage: my mother never even cooked French food, I don’t have a sense of – of ethnicity, not the way you do,” she said wistfully. “You have your roots,” Esther smiled. “But Mallory wasn’t smiling. “Yes. That’s exactly what I mean.” “You don’t need ethnicity, Mallory. You have the privilege that your skin gives you. You don’t think of your color as an issue, because it’s not. Sales clerks don’t chase you around Saks Fifth Avenue trying to figure out what you stole because you are white. And the saleslady doesn’t give a damn if you jus got off the boat from Bosnia. It doesn’t make any difference if you’re French or English or Irish. You’re white, and white people have the power in this country.” “White people have power, but we’ve lost our identity. It got thrown into the melting pot.” “Well, yeah. That’s what the melting pot is for: white folks. Nobody blends in except you all. It’s for all the Italians and Germans and Swedes to jump in and claim one glorious identity. Why don’t you think none of the Latinos are bothering to learn English? They know that the pot’s not for people with brown skin, dark eyes, and straight black hair. They know they won’t mix, so they’re not going to give up their culture for half the dream.” Zit. nach Bebe Moore Campbell, Brothers and Sisters, New York 1995, S. 334. 16 Morrison, Playing in the Dark: übt grundlegende Kritik an der „Unsichtbarkeit“ von Afroamerikanern als Rasse und Ethnizität. Siehe auch Valerie Melissa Babb, Whiteness Visible: The Meaning of Whiteness in American Literature and Culture, New York 1998; Mike Hill, Whiteness: A Critical Reader, New York 1997.

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kunft pochen und eigentlich immer nur jammern. „Get over it“ – stellt euch nicht so an. Wir haben es geschafft, warum ihr nicht! Die Vereinigten Staaten waren schon immer innerlich gespalten. Traum und Wirklichkeit klafften oft weit auseinander. Der Amerikanische Traum war potenziell ein Alptraum für die, die nicht in das Gesamtbild hineinpassten. Die bürgerliche Revolution, die zur Gründung der US-amerikanischen Demokratie vor über 200 Jahren führte, schloss die Ureinwohner und die Sklaven afrikanischer Abstammung von den demokratischen Grundrechten aus. Der Widerspruch zwischen den wahrhaft revolutionären bürgerlichen Grundrechten, die in der US-Verfassung garantiert werden, und dem Grundsatz in derselben Verfassung, wodurch bestimmte Gruppen auszuschließen waren, verursacht ein ständiges Spannungsfeld in der amerikanischen Gesellschaft: Einheit, Verschmelzung, „Melting Pot“ einerseits und Dissens, Ausgrenzung gewisser Gruppen durch ihre Rasse oder manchmal auch durch ihre Ethnizität andererseits – also die (manchmal schon sehr kaputte) Salatschüssel. Die bewusste oder unbewusste Selbstausgrenzung ist oft die Reaktion auf diesen grundsätzlichen Widerspruch und das daraus resultierende Spannungsfeld. Diese scheinbar einfache bipolare (schwarz / weiß) oder trianguläre (schwarz / weiß / rot) Dynamik der Trennung weißer Einwanderer und anderer Rassen ist aber wesentlich komplexer, als es auf den ersten Blick erscheint. So wandelte sich zum Beispiel die Definition von „weiß“ im Laufe der US-amerikanischen Geschichte. Italiener aus dem Süden, Juden oder Iren wurden zeitweilig auch als „swarthy“ – also „dunkel“ oder „schwarz“ – betrachtet, dennoch waren sie im legalen und sozialen Gefüge der Vereinigten Staaten nie so „schwarz“ wie auch nur die hellsten Afro-Amerikaner(innen). Bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es Bundesstaaten, die noch mit Rassenkategorien operierten, die auf Blutsrecht beruhten. Die „one drop of black blood“-Regelung definierte den Menschen als „Schwarz“, bei dem ein noch so geringer Anteil schwarzen Blutes vorhanden war – mit allen Konsequenzen der amerikanischen Apartheid. Die Rassentrennung wurde erst 1954 de jure mit einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofes in Brown versus The Board of Education of Topeka beendet, existiert de facto aber weiterhin in vielen Bereichen. Die „schwarzen“ europäischen Immigranten grenzten sich im Laufe ihrer Amerikanisierung bewusst von den Sklaven oder ihren Nachkommen ab. Ein interessantes Beispiel bietet Al Jolson in dem Film The Jazz Singer.17 Im ersten weitverbreiteten Tonfilm der Geschichte, der 1927 gedreht wurde – und damit nur wenige Jahre nach der größten Einwanderungswelle osteuropäischer Juden – wünscht sich der Sohn jüdischer Einwanderer nichts sehnlicher als statt eines Kantors in einer Synagoge ein Jazz Singer im Nachtclub zu sein. Er anglisiert seinen Namen von Jakie Rabinowitz zu Jack Robin und tritt in black face auf. Er ahmt den Tanz- und Gesangsstil der Schwarzen nach, und es entsteht ein wahres Zerrbild afroamerikanischer Jazz-Kultur. In den sogenannten Minstrel Shows des späten 19. und frühen 20.

17 Siehe Michael Rogin, Blackface, White Noise: Jewish Immigrants in the Hollywood Melting Pot, Berkeley, CA 1996.

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Jahrhunderts18 war es weit verbreitet, dass weiße (und manchmal auch afro-amerikanische) Entertainer sich mit verrußtem Kork einschwärzten. Im Gegensatz zu den Nachfahren der afrikanisch-amerikanischen Sklaven konnte Al Jolsen, der „schwarze“ jüdische Einwanderer, aber sein Make-up nach der Vorstellung entfernen und schien danach umso weißer. Die Amerikanisierung einer ursprünglich abgelehnten Einwanderergruppe geschieht in The Jazz Singer sowohl durch als auch gegen die Kultur der Amerikaner(innen) afrikanischer Abstammung. Wie Malcolm X bemerkte: „Jeder ungebildete Weiße (honky), der gerade vom Schiff kam, ist schon ein Amerikaner. Polacken sind schon Amerikaner. Alles, was aus Europa kam, jedes blauäugige Ding, ist schon amerikanisch. Aber wir, die schon so lange hier in Amerika gelebt haben, sind immer noch nicht Amerikaner.“ Viele europäische Einwanderer, so unterdrückt sie zu Hause auch gewesen sein mögen, waren sich dennoch sehr bald und sehr wohl im Klaren darüber, dass sie besser waren als Schwarze und Indianer. Wenn man noch an die Realisierung verfassungsmäßiger Rechte glaubt, kann man, wie Martin Luther King, nach Integration streben. Ist diese Hoffnung aber vereitelt, dann bleibt nur die Möglichkeit, sich aus dem System auszuklinken. Es bleibt das mehr oder minder freiwillige Weggehen („Back to Afrika“, bewusste Umsiedlung in Reservate oder Rückwanderung der Immigranten) oder gar die revolutionäre Gewalt. Die ersten Anträge von vier befreiten Sklaven wurden 1773 (also noch in der Zeit vor der amerikanischen Revolution) in Boston gestellt. Die ehemaligen Sklaven stellten den Antrag, sie an „irgendeine Küste Afrikas“ zurückzubringen, da sie nicht genau wussten, woher sie verschleppt worden waren. Auch die weißen Gründerväter wie Thomas Jefferson, selbst Sklavenhalter, diskutierten ernsthaft über eine Wiedereingliederung der Sklaven in Afrika. In Virginia, wo etwa 40% aller Sklaven lebten, gab es 1777 einen „Emanzipationsantrag“, in dem vorgeschlagen wurde, dass befreite Sklaven „irgendwohin“ geschickt werden sollten, wo sie „wahrhaft frei und unabhängig“ werden sollten.19 Gleichzeitig sollte die gleiche Anzahl von Weißen herbeigeschafft werden, um ihre Stellen einzunehmen. Im selben Jahr 1777 versammelten sich die Cherokee-Indianer um Onitositah (Corn Tassle) als Sprecher. Dieser kehrte die übliche Richtung der Verschmelzung von rot zu weiß (was ja sowieso ausgeschlossen war) um: Ihr fragt vielleicht, warum die Indianer nicht den Boden bestellen und wie Weiße leben. Wäre es nicht angebracht für uns zu fragen, warum Weiße nicht jagen und leben wie wir? Der Große Gott der Natur hat uns unterschiedlich geschaffen. Es stimmt, dass er Euch viele Vorteile gegeben hat. Aber er hat uns nicht geschaffen, eure Sklaven zu sein. Wir sind separate Völker.20

18 Siehe Eric Lott, Love and Theft: Blackface Minstrelsy and the American Working Class, New York 1995; Sarah Meer, Uncle Tom Mania: Slavery, Minstrelsy, and Transatlantic Culture in the 1850s, Athens, GA 2005. 19 Siehe Scott L. Malcomson, One Drop of Blood: The American Misadventure of Race, New York 2000, S. 178–82. 20 Übers. Dorothea Fischer-Hornung / Dieter Schulz. Im Original: You may say: Why do not the Indians till the ground and lice as we do? May we not, with equal propriety, ask: Why the white people do not hunt and live as we do? […] The great God of Nature has placed us in different situations. It is true that he has endowed you with many superior advantages. But he has not

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Amerikaner(innen) afrikanischer Herkunft und Amerikas Ureinwohner merkten sehr schnell, dass sie nicht im großen Schmelztiegel erwünscht waren. Sowohl viele Weiße wie auch Rote und Schwarze wollten nicht aus pluribus ein unum machen. Die Gründung Liberias im Jahre 1822 durch ehemalige US-Sklaven mit der nach Präsident James Monroe benannten Hauptstadt Monrovia war auch das Resultat des separatistischen Grundgedankens, die Lösung sollte eine Re-Afrikanisierung sein und von der American Colonization Society ausgeführt werden.21 Die größte Back-to-Africa-Bewegung initiierte Marcus Garvey, selbst ein Einwanderer aus Jamaika, in den1920er Jahren. Unter großer Beteiligung der Bevölkerung Harlems gründete er die Universal Negro Improvement Association (UNIA) und die Black Star Schiffsgesellschaft. Fünfundzwanzigtausend Anhänger(innen) kamen in den New Yorker Madison Square Garden, um ihn zu hören: „Europa für die Europäer, Asien für die Asiaten und wir verlangen Afrika für die Afrikaner in den USA und Übersee“.22 Hier zeigen sich Ähnlichkeiten mit der Rhetorik der radikalen white supremacists wie der des Ku Klux Klan. Dieser Logik folgend nahm Garvey sogar Kontakt mit dem Klan auf, weil er ihn als ehrlicher empfand als die meisten white liberals. Wahrhaftig ein Pakt mit dem Teufel, könnte man meinen, aber so sind manchmal die Auswüchse in einer rassistischen Gesellschaftsordnung.23 Garvey war sehr geschickt im Einsatz kultureller Symbolik. Er ließ sich von der UNIA als provisorischer Präsident von Afrika wählen, obwohl er, wie auch bis auf wenige Ausnahmen seiner Anhänger, noch nie den afrikanischen Kontinent betreten hatte. Er zeigte sich in einer äußerst schmucken militärischen Uniform komplett mit Federhelm und ließ sich in offenen Limousinen durch Harlem kutschieren. Garvey verbreitete somit ein Gefühl der Macht und vermittelte Stolz auf eine eigenständige – wenn auch fiktive –afrikanische Kultur: die Kultur, eines großen, wenn auch (noch) kolonialisierten und versklavten Kontinents. Er schuf auf kultureller Ebene, was Benedict Anderson für den nationalen Staat als „erdachte / imaginierte Gemeinschaft“ (imagined community)24 beschrieben hat. Dieser separatistische Ansatz lebte vierzig Jahre später in der Black-Power-Bewegung der1960er Jahre wieder auf, und er findet seine Fortsetzung heute in der Afrozentrismus-Bewegung, die die Menschheit in warme „Sonnenmenschen“ mit vielen Hautpigmenten (with Rhythm; with Soul) und kühle „Eismenschen“ mit fehlenden Pigmenten (no Rhythm; no Soul) aufteilt.25 Black-is-Beautiful: natürliches Haar (Afros), das Lernen von Swahili, das von black nationalist Ron Karenga neu

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created us to be your slaves. We are a separate people. Zit. bei Malcomson, One Drop of Blood, S. 53. Siehe ebd., S. 181 f. Marcus Garvey zit. nach Amy Jaques Garvey (Hrsg.), Garvey and Garveyism, New York 1970, S. 52. Übers. Dorothea Fischer-Hornung / Dieter Schulz. Siehe Malcomson, One Drop of Blood, S. 220–24. Siehe Benedict R. Anderson, Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, New York 1983. Siehe Leonard Jeffries, Our Sacred Mission, , Zugriff am 8. November 2006.

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eingeführte Kwanzaa-Fest und das dekorative Tragen von gewebten Kente-Stoffen aus Westafrika werden nicht nur akzeptiert, sondern als Ausdruck einer positiven Bewertung der African roots interpretiert.26 Der Islam in seiner ureigensten USamerikanischen Ausprägung – The Nation of Islam (Black Muslims) mit ihrem charismatischen Sprecher Minister Louis Farrakhan – findet immer mehr Anhänger(innen), besonders in den Ghettos der Großstädte, und wird in diesem Kontext verständlicher. Die geschilderte Dynamik ist auch der Nährboden, auf dem die diversen lebendigen Literaturen Amerikas wachsen. Toni Morrison ist wohl die bekannteste in einer ganzen Reihe von afro-amerikanischen Autor(innen) wie Langston Hughes, Nela Larson, Zora Neale Hurston, Chester Himes, Richard Wright, James Baldwin, Ralph Ellison, Ernest Gaines, Ismael Reed, Walter Mosley, Paule Marshall, Alice Walker, Gloria Nailor, um nur einige zu nennen. Morrisons Romane veranschaulichen eine große Bandbreite der Ursachen und Wirkungen der American Apartheid: In The Bluest Eye (dt. Sehr blaue Augen) schildert sie den Wunsch eines kleinen schwarzen Mädchens, genauso blaue Augen zu haben wie ihre weiße Puppe. In Beloved (dt. Menschenkind) tötet die Mutter ihre eigene Tochter, um sie vor der Versklavung zu retten. Der Geist der Tochter, Beloved, trägt für die Leser(innen) die Last der amerikanischen Geschichte in die Gegenwart. Morrisons Paradise (dt. Paradies) schildert den Zerfall einer nach dem amerikanischen Bürgerkrieg gegründeten freien schwarzen Gemeinde, die sich in ihrer eigenen puristischen Rassenreinheit und einem eisernen Patriarchat versteinern. Diese Gemeinschaft ist der Herausforderung, die die Anwesenheit einer nichtbürgerlichen und rassisch gemischten Gruppe von Frauen in ihrer Mitte darstellt, nicht gewachsen. In Morrisons Romanen stehen die verheerenden Auswirkungen der „Ursünde“ der Rassentrennung im persönlichen wie im öffentlichen Bereich im Mittelpunkt. Warum halten wir uns so lange auf mit den Belangen der Afro-Amerikaner(innen) im Kontext des integrativen und separatistischen Ansatzes – des Schmelztiegels oder der Salatschüssel? Wir kommen nochmals auf die „Urverfehlung“ der US-Verfassung zurück, einer Verfassung, die die Versklavung von Menschen festschrieb und die Ausrottung der Ureinwohner in Kauf nahm und somit das Versprechen der Unabhängigkeitserklärung nicht einlöste. Die de jure strikte Rassentrennung der Vergangenheit und die de facto Rassentrennung der Gegenwart wie auch die verschiedenen Bewegungen, die sich entweder dieser widersetzten oder sie zu überwinden versuchten, waren und sind die Ausgangsbasis für die meisten Bürgerrechts- und Widerstandsbewegungen in den USA. Die Frauenbewegung ist seit dem 19. Jahrhundert eng mit den Emanzipationsbemühungen der schwarzen Bevölkerung verbunden. Die Red-Power / American-Indian-Bewegung und die Chicano-Bewegung der Mexican Americans bedienten sich – mit Modifizierungen natürlich – der Taktik und Rhetorik der Afro-Amerikaner. In neuester Zeit gehen auch die (white)-ethnic-power-Bewegungen, wie die der Irish, Polish und Italian Americans, diesen Weg. Die Vereinigten Staaten sind nicht nur, nach John F. Kennedys bereits erwähntem Buch, eine „Nation von Einwanderern“, sondern auch eine Nation von „Misch26 Siehe z. B. Angela Shelf Medearis, The Seven Days of Kwanzaa, New York 1994.

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lingen.27 Die “Mestizianisierung” der amerikanischen Bevölkerung – der oben zitierte Ishmael Reed ist dafür nur eines von vielen Beispielen – ist längst Realität. Aber erst im letzten U.S. Census (der alle zehn Jahre im ganzen Land stattfindenden Volkszählung und -befragung) wurde eine Kategorie “gemischt” (“two or more races”) eingeführt.28 Seit der allerersten Volkszählung im Jahre 1790 musste stets eine eindeutige (aber sich ständig verändernde) Klassifizierung angekreuzt werden. Im Jahre 2000 sah die Statistik nun folgendermaßen aus: „White“ (75%), „Black or African American“ (12.3%); „Native American or Alaska Native“ (0.9%); „Asian“ (3.6%); „Native Hawaiian or other Pacific Islander“ (0,1%), „Some other race“ (5.5%) und „Two or more races“ (2.4%). Die Hispanics / Latinos (13%) benötigen ein Combi-Klassifizierungssystem, nach Rasse und Ethnizität.29 Die Selbsteinschätzung der ethnischen und rassischen Zugehörigkeit der Befragten wurde schon 1960 zugelassen. Vor dieser Zeit wurde die Kategorisierung den Befragern überlassen, mit dem Ergebnis, dass alle zehn Jahre ein sprunghafter Zuwachs an bestimmten Volksgruppen stattfand. In der Vergangenheit wurden viele Menschen offensichtlich nach dem Aussehen falsch eingestuft. Darüber hinaus gibt es wohl auch Modeerscheinungen in diesem Bereich. So sind Indianer anscheinend „in“. Seit 1960 hat sich zum Beispiel die Anzahl derjenigen, die sich selbst als Indianer deklarieren, verdoppelt, eine Zahl, die nicht auf das Bevölkerungswachstum zurückgeführt werden kann. Oder geht es bei dieser Kategorisierungssystematik vielleicht noch um viel mehr? In der Tat stehen vielfach handfeste wirtschaftliche Interessen auf dem Spiel. Durch Affirmative Action-Programme (in Deutschland oft „Quoten“ genannt) haben Minderheiten Anspruch auf Maßnahmen und Gelder, die die in der Vergangenheit ungerechte Behandlung bestimmter Gruppen (Afro-Amerikaner(innen), Indianer(innen), Frauen, Behinderte usw.) ausgleichen sollen. Indianer haben das „Recht“, in Reservaten zu leben, und diese Reservate sind in mancherlei Hinsicht extraterritorial – und sei das Reservat nur eine Kirchengemeinde mit einem kleinen Gelände wie das der Mohegan-Indianer in Connecticut. Die Mohegans haben, wie viele andere Tribes auch, die

27 Hier möchten wir kurz ein weiteres faszinierendes Beispiel anführen, das der in Kalifornien lebenden „Punjabi Mexican Americans“. Die Punjabi-Einwanderer im 19. Jahrhundert waren ausschließlich Männer, die auf Grund der Gesetze gegen die Ehe zwischen Farbigen und Weißen meistens Frauen aus Mexiko heirateten. Jetzt, etwa fünf Generationen später, heben sie sich von den neuen Einwanderern aus dem südasiatischen Subkontinent ab, indem sie sich schlicht als Hindus (nicht Punjabis) bezeichnen, obwohl sie ausschließlich Spanisch und / oder Englisch sprechen und Christen sind. Siehe Karen Isaksen Leonary, Making Ethnic Choices: California’s Punjabi Mexican Americans, Philadelphia 1992. 28 Eine signifikante Änderung in den Fragen für 2000 war die zusätzliche Anweisung: „Mark [X] one or more races to indicate what this person considers himself / herself to be“. Im Jahre 1990 lautete die Anweisung: „Fill ONE circle for the race that the person considers himself / herself to be“. Vgl. U.S. Census Bureau, Major Differences in Subject-matter Content between the 1990 and 2000 Census Questionnaires, , Zugriff am 3. November 2006. 29 U.S. Census Bureau, Overview of Race and Hispanic Origin, , Zugriff am 2. November 2006.

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Rechtslage der Extraterritorialität genutzt und dort ein äußerst erfolgreiches Casino eröffnet, in einem Bundesstaat, in dem Glücksspiele verboten sind.30 Es geht oft um harte wirtschaftliche Interessen wie die Verteilung von Stipendien, Studien- und Arbeitsplätzen. Und schon fühlen sich die Weißen benachteiligt. Einige Klagen sind schon vor dem Obersten Gerichtshof auf Grund von reverse discrimination (umgekehrter Diskriminierung) verhandelt worden. Den multikulturellen Ansatz in den USA kann man mittlerweile in zwei Lager teilen:31 hard multiculturalism, das die harte, separatistische Linie und die gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Unterdrückung betont – also ein ziemlich kaputtes Mosaik – und soft multiculturalism, das die Einheit und Toleranz in der amerikanischen Gesellschaft mittels Festen und kulinarischen Genüssen zelebriert, wobei jeder und jede stolz auf die eigenen Wurzeln sein kann – der I’m-OK-you’reOK-Ansatz. Alle üben sich in Toleranz und Liebe – also viele bunte Einzelteile, die sich zu einem schönen Mosaik fügen – „boutique Multiculturalism“ nach Stanley Fish. Curricula in vielen Bundesstaaten haben sich das Salatschüssel-Paradigma zu Eigen gemacht: diversity, plurality und respect sind mittlerweile Schlüsselbegriffe. Die Ethnics jeglicher Schattierung sind mittlerweile (wieder) „unmeltable“ und lassen sich nicht einfach in einen Schmelztiegel werfen, ja sie „entschmelzen“ sich geradezu. Unter einigen europäischen Einwanderungsgruppen ist eine kleine aber lautstarke Bewegung entstanden – Hyphenated Americans, die Bindestrich-Amerikaner. Gesellschaften wie die National Italian American Foundation, die Polish Roman Catholic Union, und die N.Y.P.D. (New York Police Department) Steuben Association sprießen aus dem Boden. Bücher wie Italian Pride: 101 Reasons to Be Proud You’re Italian32 werden verhökert. Tom Hayden, Gründungsmitglied der amerikanischen Students for a Democratic Society (SDS), Mitglied des Senats im Staate Kalifornien von 1992 bis 2000, Ex-Ehemann von Jane Fonda und jetzt selbstbekennender Irish American Nationalist, läßt sich in Irish Hunger: Personal Reflections on the Legacy of the Famine (1995) über die wieder auferstandenen Geister der irischen Vergangenheit aus, die totgeschwiegene Scham, in der Vergangenheit arm und unterdrückt gewesen zu sein. Hayden beschreibt dies pathetisch als eine „allgemeine Hungersnot der Emotionen“. Er ging, wie so viele Amerikaner, nach Europa, um seine irischen Wurzeln aufzuspüren. Mit ihm reiste sein zweijähriger Sohn, der seine ersten prägenden Eindrücke von Irland bekommen sollte, seine „gestohlene Identität“ wiederzugewinnen. Hayden beschreibt das folgendermaßen: 30 Zu Mohegan Casinos siehe Malcomson, One Drop of Blood, S. 116–17; Sun City im Bophuthatswana-Homeland in Südafrika stellte zu Zeiten der Apartheid ein ähnliches Phänomen dar, siehe und . 31 Siehe Mathias Hildebrandt, Multikulturalismus und Political Correctness in den USA, Wiesbaden 2005. 32 Federico Moramarco u. Stephen Moramarco, Italian Pride: 101 Reasons to Be Proud You’re Italian, New York 2003.

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Dorothea Fischer-Hornung und Dieter Schulz Wenn es je eine Archäologie der irischen Identität geben sollte, fände man vielleicht unter der bequemen Villa eines irischen Amerikaners oben auf dem Berg ein Einfamilienhaus in einem Vorort, darunter eine bescheidene Wohnung in der Innenstadt, darunter einen Keller in New York, und dann der enge Bauch eines Schiffes – schließlich die verrotteten Überreste einer Hütte aus Stein über einem schalen irischen Grabfeld. Diese Gräber und Ruinen liegen tief in unserem Inneren verborgen. Wir können nicht zu unserer Heimat zurückkehren, aber wir werden in unserem jetzigen Leben nie eine Heimat haben, bis wir an den Ort, der uns entrissen wurde, zurückkehren können. Dieser Prozess hat mir geholfen, die Hungersnot meiner Gefühle zu heilen.33

Jedes irische Lied und jedes irische Gedicht lässt jetzt Haydens Blut aufwallen. Ein solches romantisierendes und gar nationalistisches Blut-und-Boden-Gerede mag seiner Seele gut tun, aber wenn er seine Erfahrungen bewusst in den Kontext des Holocausts oder der Geschichte der Sklaverei stellt, hört man neue, wenn auch anders gestimmte Töne eines ethnic tribalism. IV Die Bedeutung der Ethnizität wird neuerdings auch von denen verneint, die jegliche Unterschiede von Rasse oder Ethnizität ablehnen (post-race und post-ethnicity). Ausgehend von der Erkenntnis, dass wir sowieso alle „Mischlinge“ (mixed race) sind, propagieren sie das Ende aller Kategorien. Andererseits lässt sich eine Verhärtung des Isolationismus beobachten, besonders entlang der südlichen Grenze der U.S.A. zu Mexiko. Dieser Neo-Isolationismus entspricht der Reaktion auf die erste große Einwanderungswelle Ende des 19. Jahrhunderts. Sie hatte dazu geführt, dass am Anfang des 20. Jahrhunderts beinahe 14 Prozent aller US-Amerikaner ausländischer Herkunft waren. Nach einer deutlichen Reduktion der Einwanderung nach dem Zweiten Weltkrieg und während des Kalten Krieges und durch die restriktive Einwanderungspolitik der 1960er Jahre waren Anfang der 1970er Jahre nur noch fünf Prozent der Amerikaner im Ausland geboren. Nach den Lockerungen der Zuwanderungsgesetze in den 1990er Jahren waren bis zum Jahr 2000 wieder über elf Prozent der Gesamtbevölkerung im Ausland geboren – mehr als eine Verdoppelung innerhalb einer Dekade.34 Die Herkunftsländer und das Bildungsniveau der Einwanderer haben sich während der letzten 30 Jahre signifikant verändert, mit der höchsten Zuwanderungszahl aus Mexiko (etwa ein 33 Übers. Dorothea Fischer-Hornung / Dieter Schulz. Im Original: If there could be an archeology of the past self, you might find below the comfortable hillside home of an Irish-American today a single-family suburban one, and below that an inner-city apartment, and below that a cellar in New York, and before that a cargo hold, and finally, the burned decaying ruins of a stone cottage in an Irish field of shallow graves. Those ruins, those graves, are deep in ourselves. We cannot go home again, but we will never be at home in our present lives until our memories can return to the places from which we have been severed. Through this process I have begun to end the famine of my feelings. Tom Hayden, Irish Hunger: Personal Reflections on the Legacy of the Famine, Boulder, CO 1998, S. 283. 34 U.S. Census Bureau, The Foreign-Born Population: 2000, , Zugriff am 8. November 2006.

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Drittel), ein Viertel aus Ost- und Süd-Asien, ein Zehntel aus der Karibik. Die „klassische“ Immigration aus Europa beträgt jetzt nur noch 13 Prozent der Gesamtimmigration.35 Ungefähr 340.000 Arbeiter aus Mexiko migrieren jedes Jahr in die Vereinigten Staaten, davon etwa die Hälfte illegal. Gegenwärtig schätzt man, dass über zweieinhalb Millionen nicht dokumentierter Migranten aus Mexiko in den USA leben.36 Nicht überraschend ist, dass die Fremdsprache, die am häufigsten zu Hause gesprochen wird, Spanisch ist, mit 28 Millionen Menschen, die Spanisch als Muttersprache haben, und nur die Hälfte davon spricht Englisch als Zweitsprache. Kalifornien ist der Bundesstaat mit dem weitaus größten Anteil an Migranten, die Spanisch sprechen, und gleichzeitig mit dem höchsten Prozentsatz an illegalen Einwanderern. Von den geschätzten vier bis fünf Millionen Migranten ohne legalen Status lebt etwa die Hälfte in Kalifornien. Einerseits haben Gesetze, die Einwanderer und Flüchtlinge unterstützen, sowie auch Moratorien, die illegale zu legalen Einwanderern machen, die Zahl der Immigranten erhöht, andererseits aber haben sie die feindselige Reaktion auf Ausländer und Ausländerinnen und alle, die nicht Englisch sprechen, verstärkt. Diese Reaktion spiegelt sich in den 1990er Jahren wider in den vielen Gesetzen, die im Staate Kalifornien verabschiedet wurden: •

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Starke Einschränkungen des Zugangs zu öffentlichen Schulen und Universitäten sowie der allgemeinen sozialen Unterstützung und der öffentlichen Gesundheitsdienste (1994) Verbot von Quotenregelungen zur Unterstützung von Menschen, die aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Rasse oder Ethnizität benachteiligt waren (effektives Ende aller Affirmative Action -Programme im Jahr 1996) Beendigung der Programme zur Förderung der Zweisprachigkeit in öffentlichen Schulen im Rahmen der English only -Gesetzgebung (1998).37

Transnationality und cosmopolitanism sind Begriffe, die unter vielen Intellektuellen im Trend liegen. Viele US-Bürger sehen jedoch in dieser Weltoffenheit die Gefahr eines Auseinanderdividierens und Auseinanderlebens der Amerikaner. Dafür steht Huntingtons These, dass der Kern der amerikanischen Identität – was er als anglo-protestantische Kultur mit ihrem Glaubensbekenntnis zu amerikanischen Werten beschreibt – dabei ist, sich aufzulösen. Schon 1993 – lange vor den Angriffen am 11. September 2001 – sah er in seinem Beitrag zu Foreign Affairs wie auch in seinem folgenden Buch The Clash of Civilizations zum gleichen Thema den Konflikt zwischen den Kulturen, vor allem die Auseinandersetzung zwischen der westlichen und islamischen Welt, als das Problem der Gegenwart und unmittelbaren Zukunft.38 Sein neuestes Buch beschreibt darüber hinaus auch die Gefahr, die 35 U.S. Census Bureau, Current Population Survey, 2003, Annual Social and Economic Supplement, , Zugriff am 24. Oktober 2006. 36 Department of Homeland Security, Illegal Alien Resident Population, , Zugriff am 4. November 2006. 37 Vgl. Proposition 187, Proposition 209 und Proposition 227, in: Wikipedia, List of California Ballot Propositions: 1990–1999, , Zugriff am 7. November 2006. 38 Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations: The Next Pattern of Conflict, in: Foreign Affairs 72 / 3, 1993, S. 22–49 und ders., Clash of Civilizations.

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sich aus der Massenimmigration aus Mexiko ergibt. In Who Are We? The Challenges to America’s National Identity,39 sieht er in der Hispanisierung und einer potentiellen binationalen Struktur der USA eine große Gefahr. Er misstraut auch den Eliten, die nicht mehr viel von Patriotismus und nationaler Identität halten. Huntington glaubt, viele Intellektuelle tolerieren es fälschlicherweise, wenn Einwanderer ihre eigene Sprache zuungunsten des Englischen sprechen. Dies sei eine fehlgeleitete Toleranz, die dem Multikulturalismus einen höheren Stellenwert einräumt als einer soliden nationalen Identität. Folgerichtig ist Huntington auch ein Anhänger von Restriktionen in Bezug auf Immigration. Er möchte gerne eine Wiederbelebung traditioneller amerikanischer Werte. Welche politischen Konsequenzen Huntingtons Thesen haben können, veranschaulicht eine BBC News Online-Überschrift vom 4. Oktober 2006: „US-Präsident George W. Bush unterschreibt umstrittenes Gesetz zur Finanzierung eines 1125 Kilometer langen Zauns entlang der mexikanischen Grenze“.40 Die afrikanisch-amerikanische Autorin Toni Morrison wie auch die Indianerin Leslie Marmon Silko sind eine Bedrohung für Huntingtons anglo-protestantische Kernwerte, genauso wie die Texte der Neueinwanderinnen, die chinesisch-amerikanische Maxine Hong Kingston und die mexikanisch-amerikanische Gloria Anzaldúa. Dennoch bringen gerade die neuen Einwanderer aus Asien und der Karibik oft die gleiche Einstellung gegenüber den Vereinigten Staaten mit wie die früheren Einwanderer aus Europa. Elaine Kim, eine Amerikanerin koreanischer Abstammung, bemerkt folgendes: Meiner Ansicht nach kommt das, was am dramatischsten die Amerikaner aus Asien von anderen Menschen dunkler Hausfarbe trennt, am klarsten zum Ausdruck in ihrer Einstellung demgegenüber, was wir als „Amerika“ betrachten. Für viele Indianer(innen) bedeutet Amerika gestohlenes Land. Für viele Chicanos mexikanischer Abstammung heißt es besetztes Land, das vor 150 Jahren von Mexiko erobert wurde. Für viele Amerikaner(innen) afrikanischer Abstammung heißt Amerika ein Land, das auf Grund der Sklaverei unter erzwungener Arbeit aufgebaut wurde. Für eine große Anzahl der Amerikaner(innen) aus Asien – besonders die neuesten Einwanderer – heißt Amerika „gelobtes Land“ oder das Land wo Träume sich verwirklichen lassen.41

39 Ders., Who Are We? The Challenges to America’s National Identity, New York 2004. 40 Übers. Dorothea Fischer-Hornung / Dieter Schulz. Im Original: US President George W. Bush has signed a controversial bill into law that will pay for a 700mile fence along the border with Mexico. Zit. nach BBC News Online, , Zugriff am 24. Oktober 2006. 41 Übers. Dorothea Fischer-Hornung / Dieter Schulz. Im Original: In my view, what most dramatically separated Asian Americans from other people of color has been manifested in terms of attitudes toward what we call “America.” For many Native Americans, America means stolen land. For many Chicanos, it means occupied territory conquered and taken from Mexico 150 years ago. For many African Americans, it means the country built on slave labor brought here by force. For a large number of Asian Americans, especially of the recent and immigrant generation, America means “promised land” or “dream country. Zit. nach Elaine Kim, Asian American Gatekeepers?, in: Reed, MultiAmerica, S. 205–221, hier: S. 209.

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Vielleicht bringt Gloria Anzaldúa die Ironie am klarsten zum Ausdruck, die im Bau eines Eisernen Vorhangs entlang der südlichen Grenze der Vereinigten Staaten liegt. In Borderlands / La Frontera: The New Mestiza hat sie bereits 1987 klar zum Ausdruck gebracht, dass es keine physische oder sprachliche Grenze geben kann. In ihrem Buch wechselt sie frei zwischen Englisch, Kastilianisch-Spanisch, den Dialekten aus dem nördlichen Mexiko, dem Tex-Mex-Sprachgemisch und dem indianischen Nahuatl. Dies sagt mehr über die Realität der Vereinigten Staaten als jedes Wiederaufkeimen eines puristischen Anglo-Protestantismus.

„THE AMERICAN DREAM“? ETHNISCHE MINORITÄTEN UND IHRE AUSBILDUNGS- UND ARBEITSMARKTSITUATION Werner Gamerith „THE AMERICAN DREAM“ From rags to riches, so lautet eine der bekanntesten Floskeln, mit denen die offene Gesellschaft der USA und ihre Disposition für einen raschen sozialen Aufstieg des Individuums illustriert werden. Die sinngemäße Übersetzung dieses geflügelten Worts, „vom Tellerwäscher zum Millionär“, gilt in Europa geradezu als Konstante amerikanischer Beweglichkeit, die auch das Unmögliche möglich werden lässt. Diese und ähnliche Stereotype verliehen den USA in der Wahrnehmung ausreisewilliger Europäer eine besondere Aura. Aus wirtschaftlichen, aber auch kulturellen und religiösen Impulsen verbanden sich mit der Neuen Welt Assoziationen eines „gelobten Lands“, welche die USA immer deutlicher als vorrangiges Ziel der Emigration aus Europa in den Mittelpunkt rücken ließen.1 Lobbyisten und geschäftstüchtige Spekulanten auf beiden Seiten des Atlantiks taten ein Übriges, um die allgemeine Aufmerksamkeit auf ein scheinbar blühendes Gemeinwesen der jungen, freien Republik zu lenken. Bewusst in freundlichen Farben gehaltene Werbebroschüren über die Vorzüge amerikanischen Lebens, die eine realistische Bewertung des Alltags in den USA erschwerten, sowie oft überschwängliche briefliche Berichte von Verwandten und Freunden zementierten das Image vom Paradies auf der anderen Seite des Atlantiks, in dem gleichsam Milch und Honig fließen und das einen schnellen beruflich-sozialen Aufstieg garantiert. Doch the American Dream vom schnellen Geld und von vermehrter sozialer Anerkennung ging nur für wenige Personen in Erfüllung. Die Realität endete allzu oft in völlig anderen Verhältnissen: Überbordende Städte mit bis auf die letzten Nischen gefüllten Mietzinshäusern, erdrückende Armut, wuchernde Kriminalität und politischer Nepotismus kennzeichneten die soziale Entwicklung seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts2, und mit jeder weiteren, geradezu sprichwörtlichen 1

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Vgl. Gerald D. Nash, Creating the West. Historical Interpretations 1890–1990, Albuquerque 1991; Lutz Holzner, American Ideologies and the Building of Compromise-Landscapes in Urban America, in: Klaus Frantz (Hrsg.), Human Geography in North America. New Perspectives and Trends in Research (= Innsbrucker Geographische Studien, 26), Innsbruck 1996, S. 289–299. Vgl. exemplarisch für New York: Richard Plunz, A History of Housing in New York City. Dwelling Type and Social Change in the American Metropolis, New York 1990; Eric Homberger, Scenes from the Life of a City. Corruption and Conscience in Old New York, New Haven, London 1994.

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Schiffsladung von Immigranten vergrößerten sich die sozialen Bruchlinien. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs war die ethnische, soziale, kulturelle, religiöse und wirtschaftliche Vielfalt in den großen Bevölkerungszentren der US-amerikanischen Ostküste und des Mittelwestens so weit vorangeschritten, dass die Utopie des amerikanischen Traums angesichts immer chaotischerer Zustände in den Städten zusehends verblasste. Aus den Millionen von Einwanderern der Generationen von 1850 bis 1910 waren nur einige wenige, besonders erfolgreiche Tycoons hervorgegangen, die zusätzlich zu den traditionellen politisch-ökonomischen Eliten aus der Zeit der Kolonien und der frühen Unabhängigkeit eine neue, schmale Schicht von Reichen und Superreichen bildeten. Die Moguln des Finanzsektors, des Einzelhandels, der Schwerindustrie und der Ölförderung – symbolisiert durch die Namen Morgan, Stewart, Carnegie und Rockefeller – bildeten gleichsam die Inkarnation des American Dream, der an der Masse der Bevölkerung jedoch vergleichsweise spurlos vorüberging. Weniger ausladenden Luxus, aber immerhin komfortablen Wohlstand konnte sich in diesen Jahren und Jahrzehnten ein selbstbewusstes, arriviertes Bürgertum sichern. Ihm war zwar nicht die Möglichkeit beschieden, seine finanziellen Kapazitäten ostentativ darzulegen (wie dies in den Stadtpalästen und Landvillen der Magnaten an der New Yorker Fifth Avenue oder an Newports oder Maines Küste geschah3), die Bourgeoisie konnte allerdings an den wichtigsten technischen Errungenschaften des Fin-de-Siècle teilhaben und davon profitieren. Auch für sie ging der amerikanische Traum, jedenfalls in Ansätzen, in Erfüllung.4 Für die jeweils aktuellsten Immigranten aus Europa, die sich in privilegierten Fällen als gelernte Handwerker und Arbeiter betätigten, sich jedoch meist als ungelernte Hilfsarbeiter verdingen mussten, lag eine beruflich-soziale Emanzipation sehr häufig außerhalb jeder Reichweite. Ihre Hoffnung ruhte auf ihren Kindern und Enkeln, und ein Aufstieg in der sozialen Hierarchie schien nur durch eine kulturelle Anpassung späterer Generationen an die Leitbilder der angelsächsisch-protestantisch geprägten Ideale5 möglich. Es lässt sich somit festhalten, dass das amerikanische Verständnis von Glück und Zufriedenheit und sein Idealzustand der Realisierung (das berühmte Diktum vom pursuit of happiness) von sozialen Hierarchien abhängt, die Angehörigen der Eliten eine privilegierte Position verschaffen, während sich einfachen Arbeitern und Angestellten kaum die Gelegenheit bietet, den American Dream umzusetzen – es sei denn in Form der Mobilität zwischen den verschiedenen Generationen. Zu 3

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Vgl. beispielsweise: Kate Simon, Fifth Avenue. A Very Social History, New York, London 1978; Stephen J. Hornsby, The Gilded Age and the Making of Bar Harbor, in: The Geographical Review 83, 1993, S. 455–468; William K. Wyckoff, Landscapes of private power and wealth, in: Michael P. Conzen (Hrsg.), The Making of the American Landscape, New York, London 1990, S. 335–354. Vgl. Frederic Cople Jaher, The Urban Establishment. Upper Strata in Boston, New York, Charleston, Chicago, and Los Angeles. Urbana, Chicago u.a. 1982. Vgl. Howard G. Schneiderman, The Protestant Establishment: Its History, Its Legacy – Its Future?, in: Silvia Pedraza u. Rubén G. Rumbaut (Hrsg.), Origins and Destinies. Immigration, Race, and Ethnicity in America, Belmont, CA u.a. 1996, S. 141–151.

The American Dream

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den sozialen Differenzen gesellen sich markante ethnische Spezifika. Nahezu die gesamte Schicht der wohlhabenden, reichen und schwerreichen US-Amerikaner bestand in der Blütezeit des späten 19. und des frühen 20. Jahrhunderts aus Angehörigen der weißen Majorität. Die Zahl der begüterten Schwarzen konnte als quantité négligeable gehandelt werden. Nur eine Handvoll freier Schwarzer hatte es vor dem Bürgerkrieg zu Ansehen und Wohlstand bringen können, und die Situation änderte sich auch nach der offiziellen Emanzipation von der Sklaverei nur wenig. Auch für den weitaus größten Teil der Hispanics und Asian Americans blieb The American Dream nicht mehr als eine unerreichbare Metapher, mit der die eklatanten ethnischen Ungleichgewichte innerhalb der US-amerikanischen Gesellschaft kaschiert werden sollten. Die Idealvorstellung einer nach oben offenen und nach meritokratischen Prinzipien organisierten Gesellschaft, in der Leistung durch eine adäquate soziale Position gleichsam belohnt wird und die von den Gründervätern als hehres Gegenstück zu den feudalen sozialen Verfassungen Europas konzipiert worden war, zeigt in der Realität des US-amerikanischen Alltags also gravierende soziale, besonders ethnische Verwerfungen. Der Traum von Freiheit, der sich für viele im großen Geld und im schnellen Glück widerspiegelt, manifestiert sich schichtenspezifisch und umfasst diverse ethnische Gruppen auf unterschiedliche Weise. Mit aller Deutlichkeit treten diese Differenzen im Schulwesen zutage – ein Umstand, der nicht überrascht, wenn wir die biographische Periode der späten Kindheit und der Adoleszenz als entscheidende Phase betrachten, in der die Weichen für Prozesse und Mechanismen der sozialen Reproduktion gestellt werden. In diesem Lebensabschnitt von sechs bis achtzehn Jahren werden die individuellen Fundamente für den beruflichsozialen Status festgelegt und Ansprüche auf sogenannte Gatekeeper-Funktionen vorbereitet. Meist in Abhängigkeit von den sozialen Verhältnissen im Elternhaus erfolgt eine Orientierung nach geläufigen, bekannten Mustern, die in einer Übernahme der sozialen Werte, Einstellungen und Verhaltensschemata resultieren. Über den Bildungsprozess, seine Erfolge und Misserfolge sowie über die eminent wichtige Schnittstelle zum Arbeitsmarkt konstituieren sich Produktion und Reproduktion des sozialen Status – und damit der sozioökonomischen Möglichkeiten, die individuellen Vorstellungen vom American Dream in die Realität umzusetzen. Vor diesem Hintergrund des perpetuierenden Mechanismus sozialer Reproduktion möchte ich in meinen folgenden Ausführungen dem formalen Ausbildungsprozess und der Arbeitsmarktsituation bestimmter sozialer, vor allem ethnischer Gruppen in den USA besonderes Augenmerk schenken. Aus forschungspragmatischen Gründen muss ich mich dabei vor allem auf den Bereich der öffentlichen Schulbildung in den public schools konzentrieren. Die Beschränkung auf Daten des Zensus von 1990 und auf diverse Stichprobenerhebungen aus den 1990er Jahren ergibt sich ebenso aus einer Forschungspragmatik; zwar liegen ausgewählte Ergebnisse des Zensus von 2000 vor, die den Stand von 1990 meist in akzentuierter Form bestätigen, eine Kombination mehrerer Variablen zum Bildungswesen und Arbeitsmarkt ist allerdings erst eingeschränkt verfügbar. Nach einem Blick auf den Status quo im öffentlichen Bildungssystem der USA möchte ich einige Faktoren analysieren, die für den unterschiedlichen Schulerfolg verschiedener ethnischer Minoritäten aus-

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schlaggebend sein können. Der Würdigung der wichtigsten dieser Faktoren wird eine kurze Untersuchung der Situation ethnischer Minderheiten im US-amerikanischen Arbeitsmarkt folgen. Allen Analyseschritten liegt ein räumlicher Ansatz zugrunde, der auf die Kontextualität der beteiligten Einflussfaktoren und ihre räumliche Gebundenheit abzielt. ETHNISCHE MINORITÄTEN IM US-AMERIKANISCHEN SCHULWESEN – DER STATUS QUO Eine Reihe von Indikatoren zur Ausbildungssituation – und zwar sowohl umfassende Daten des Bureau of the Census als auch Stichprobenerhebungen ausgewählter Spezialuntersuchungen – bestätigen eindeutig eine ethnische Hierarchisierung der US-amerikanischen Bevölkerung. Aus geographischer Sicht fällt dazu besonders auf, dass sich die Ungleichgewichte im Schulerfolg und im formalen Ausbildungsniveau der US-Amerikaner auch in zahlreichen, vielfach über Jahre und Jahrzehnte hinweg persistenten räumlichen Diskrepanzen niederschlagen.6 Seit dem Census des Jahres 1940 wird die höchste abgeschlossene Ausbildungsstufe (educational attainment) ermittelt. Generell lässt sich für den Zeitraum von 1940 bis in die Gegenwart konstatieren, dass sich das formale Ausbildungsniveau der US-amerikanischen Bevölkerung in Richtung höherwertiger Abschlüsse verschoben hat. 1940 besaßen 4,6% der US-Amerikaner im Alter von mindestens 25 Jahren eine Ausbildung von vier oder mehr Jahren College.7 Bis 1990 war der Anteil dieser College-Absolventen auf mehr als ein Fünftel (21,4%) der Gesamtbevölkerung im Alter von mindestens 25 Jahren gestiegen. Vor allem die 1960er und 1970er Jahre hatten eine merkliche Bildungsexpansion gebracht. 1990 besaßen mehr als 1,2 Millionen Amerikaner ein Doktorat, das höchstmögliche formale Ausbildungsniveau. Diesem Potential steht eine Personengruppe ohne Schulausbildung in vergleichbarer Größe gegenüber: Knapp zwei Millionen verfügen über keine formale Bildung und rangieren damit am untersten Ende der Qualifika6

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Vgl. die umfassenden Studien zur historischen Verankerung der Bildungsbenachteiligung bestimmter ethnischer Gruppen, z. B. Anthony Gerard Albanese, The Plantation School, New York u.a. 1976; James D. Anderson, The Education of Blacks in the South, 1860–1935, Chapel Hill, London 1988; Henry Allen Bullock, A History of Negro Education in the South. From 1619 to the Present, Cambridge, Mass. 1967; Robert Freeman Butts, Public Education in the United States: From Revolution to Reform, New York u.a. 1978; James D. Cockroft, Latinos in the Struggle for Equal Education (= The Hispanic Experience in the Americas), New York u.a. 1995; Werner Gamerith, Education in the United States – How Ethnic Minorities Are Faring, in: Franz-Josef Kemper u. Paul Gans (Hrsg.), Ethnische Minoritäten in Europa und Amerika – Geographische Perspektiven und empirische Fallstudien. (= Berliner Geographische Arbeiten, 86), Berlin 1998, S. 89–104; Clarence Lusane, The Struggle for Equal Education, New York u.a. 1992; Diane Ravitch, The Schools We Deserve. Reflections on the Educational Crises of Our Times, New York 1985; Meyer Weinberg, A Chance to Learn. The History of Race and Education in the United States, Cambridge u.a. 1977. Donald J. Bogue, The Population of the United States. Historical Trends and Future Projections, New York, London 1985, S. 413.

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tionspyramide. Es erscheint legitim, unter dieser Gruppe eine deutliche Mehrheit an Analphabeten oder Personen mit sehr eingeschränkten Lese- und Schreibkenntnissen zu vermuten. Die qualitative Veränderung der höchsten formalen Abschlüsse, die sich verstärkt in der Nachkriegszeit vollzieht, zeigt deutliche geschlechtsspezifische und ethnische Divergenzen. Zwar konnten Frauen ihren niedrigen Anteil an CollegeAbsolventen – er betrug 1940 noch nicht einmal vier Prozent aller Frauen im Alter von mindestens 25 Jahren – im Laufe der vergangenen Jahrzehnte beständig erhöhen und sukzessive an den entsprechenden Anteil bei Männern angleichen, eine Gleichstellung ist aber trotz einer Feminisierung höher qualifizierter Berufe noch nicht erreicht worden. Eine Aufschlüsselung ausgewählter höchster und niedrigster formaler Ausbildungsniveaus nach detaillierten ethnischen Gruppen zeigt eine äußerst bemerkenswerte Verteilung zugunsten der weißen Bevölkerung und zum Nachteil der meisten Minderheiten. Die Anteile der beiden Extremgruppen in der Bildungshierarchie, der Personen mit Doktorat und der Personen ohne formale Schulbildung, liegen bei jeweils rund einem Prozent. Hinsichtlich der Personen ohne Schulbildung liegen sowohl die weiße Mehrheitsbevölkerung als auch die Gruppe der Japanese Americans in der Statistik vorne; die entsprechenden Anteile bleiben bei unter einem Prozent. Völlig konträr stellt sich die Situation für verschiedene ost- und südostasiatische Ethnien dar, bei denen Personen ohne formale Ausbildung beträchtliche Anteile stellen. Sie erreichen bei Kambodschanern über 30%, bei Hmong, Angehörigen eines Bergvolks aus Laos, die im Zuge des Vietnamkriegs in die USA flohen, gar mehr als die Hälfte. Die sozioökonomischen Folgen für eine ethnische Gruppe, deren Angehörige zu mehr als 50% keine formale Schulbildung aufweisen, liegen auf der Hand. Auffallenderweise besitzen nicht nur diese Flüchtlingsgruppen, sondern auch vergleichsweise etablierte und seit Generationen ansässige Ethnien mit relativ niedrigen aktuellen Einwanderungsraten wie etwa die Chinese Americans hohe Anteile von Personen ohne formale Schulbildung. Beinahe sieben Prozent der Chinesen in den USA haben niemals eine Schule besucht oder die erste Schulstufe absolviert. Eine besonders benachteiligte soziale Position von Frauen innerhalb der chinesischen Immigrationsgesellschaft sowie eine nach wie vor gerade in den großen Kernstädten (San Francisco, New York City, Chicago) sehr strikte ethnische Siedlungs- und Wohnsegregation der Chinesen in Chinatowns, die den Ausbildungsprozess einem konkurrierenden Vergleich mit anderen ethnischen Gruppen praktisch entzieht, mögen für diesen hohen Anteil formal nicht ausgebildeter Personen unter Chinesen in den USA ausschlaggebend sein. Parallel zu dieser Konzentration im Bereich der Niedrigstqualifizierten zeigt die Bildungsstatistik für Chinesen in den USA einen bemerkenswert hohen Anteil von Personen mit höchstem Abschlussniveau. Mehr als drei Prozent der Chinesen in den USA besitzen einen Doktoratsabschluss; damit nehmen sie – neben den Indern, deren höchst selektive Zuwanderung sich vor allem aus Akademikern rekrutiert8 – eine Spitzenposition unter allen ethnischen Gruppen ein. Somit sind Chine8

Vgl. z. B.: Arthur W. Helweg, Affluent Immigrants: East Indians in the United States, in: Mi-

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sen sowohl an der Basis als auch an der Spitze der formalen Ausbildungshierarchie stärker vertreten als der Durchschnitt der Bevölkerung, bedingt durch eine sozial und wirtschaftlich spezifische Auswanderung einerseits und einen starken siedlungsstrukturellen Zusammenhalt in den USA andererseits. Aus China, zumal aus Hongkong, erfolgt eine in aller Regel hoch qualifizierte Einwanderung; viele Chinesen leben zudem seit mehreren Generationen in deutlich abgegrenzten Stadtvierteln in den USA, ohne dabei mit der Notwendigkeit einer drängenden Assimilation, die sich auch auf schulischer Ebene widerspiegeln würde, konfrontiert zu sein. Diese bipolare Ausbildungsstruktur findet ihr ökonomisches Pendant in einer stark gegensätzlichen beruflichen Verteilung der Chinesen in den USA9, die auch innerhalb der ethnischen Gruppe immer wieder für (Generationen-)Konflikte sorgt. Neben Indern und Chinesen weisen auch Japaner und Koreaner deutlich höhere Anteilswerte von Höchstqualifizierten auf, als sie für die Gesamtbevölkerung zu verzeichnen sind. Das formale Ausbildungsniveau offenbart in den USA markante soziale Diskrepanzen, die durch eine ethnisch differenzierte Betrachtung noch weiter akzentuiert werden. Eine ethnische Grobgliederung in Weiße, Schwarze, Asiaten und Hispanics wird den eklatanten Unterschieden innerhalb der ethnischen Großgruppen nur ansatzweise gerecht. Zu den Asian Americans rechnen so verschiedenartige Gruppen wie Hmong oder Japaner, deren Bildungsstrukturen in den USA nach wie vor auf die soziale und schulische Situation in ihren jeweiligen Ursprungsländern weisen. Zumindest aus einem kritischen, assimilationstheoretischen Blickwinkel kommt diesem Befund enormer Stellenwert zu, weil er demonstriert, wie ungebrochen stark sich die ethnischen Disparitäten im formalen Ausbildungsprozess auch Jahre oder Jahrzehnte nach erfolgter Einwanderung in die USA manifestieren. Auch die divergenten formalen Ausbildungsmuster der Hispanic-Subgruppen untermauern die Vermutung, dass im Hinblick auf die Makrostrukturen der Ausbildung eine sozioökonomische Integration der verschiedenen Minderheitengruppen in den USA aktuell – wenn überhaupt – nur rudimentär erfolgt. Die US-amerikanische Bevölkerung zeigt in ihren formalen Ausbildungsniveaus sehr markante räumliche Muster und Gegensätze. Die absolut unterste Hierarchie der formalen Ausbildungsebenen wird von Personen besetzt, die niemals eine Schule besuchten oder die erste Schulstufe nicht abschlossen, und zeigt ausgeprägte räum-

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gration World 16, 4 / 5, 1988, S. 12–15; Ashakant Nimbark, Some Observations on Asian Indians in an American Educational Setting, in: Parmatma Saran u. Edwin Eames (Hrsg.), The New Ethnics. Asian Indians in the United States, New York 1980, S. 247–271; Parmatma Saran, Pains and Pleasures: Consequences of Migration for Asian Indians in the United States, in: The Journal of Ethnic Studies 15 / 2, 1987, S. 23–46. Vgl. exemplarisch: Wen Lang Li, Two Generations of Chinese Americans: Differentials in Education and Status Attainment Process, in: Plural Societies 17, 1987, S. 95–107; Rubén G. Rumbaut, Origins and Destinies: Immigration, Race, and Ethnicity in Contemporary America, in: Silvia Pedraza u. Rubén G. Rumbaut (Hrsg.), Origins and Destinies. Immigration, Race, and Ethnicity in America, Belmont, CA u.a. 1996, S. 21–42, hier S. 39; Sau-ling Cynthia Wong, The Language Situation of Chinese Americans, in: Sandra Lee McKay u. Sau-ling Cynthia Wong (Hrsg.), Language Diversity. Problem or Resource? A Social and Educational Perspective on Language Minorities in the United States, Cambridge, Mass. u.a. 1988, S. 193–228.

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liche Konzentrationen vor allem im Süden und Südwesten der USA. Besonders der texanische Grenzstreifen gegen Mexiko, Gebiete der Hopi- und Navajo-Indianerreservationen in Utah, Arizona und New Mexico, Teile des kalifornischen Längstals sowie einzelne Bereiche in Alaska werden durch hohe Anteile an Personen ohne Schulbildung charakterisiert. Für einzelne Counties, vor allem in Texas, registrierte der Census 1990 über 15% Personen ohne Schulbildung. In dieser Region sind ebenso wie im kalifornischen Längstal vor allem mexikanische Landarbeiter und Erntehelfer für die hohen Anteilswerte niedrigstqualifizierter Personen verantwortlich.10 Praktisch der gesamte Süden der USA ist durch vergleichsweise hohe Anteile von Personen ohne Schulbildung gekennzeichnet. Besonders deutlich zeigen sich im Kartenbild das Gebiet des unteren Mississippi in den Staaten Louisiana und Mississippi sowie der ländliche black belt im Süden Alabamas und Georgias. Nahezu idealtypisch zeichnet die Variable der Niedrigstqualifizierten die historische, aber dennoch bis heute fassbare Trennung zwischen den Nord- und den Südstaaten entlang der Mason-Dixon-Linie nach, wenn man von einer Ausbuchtung nach Norden im Appalachen-Gebiet Kentuckys absieht. In den Staaten nördlich dieser Linie nehmen niedrig qualifizierte Personen ohne Schulbildung nur eine marginale Position im Schwankungsbereich einiger Zehntel Prozentpunkte ein. Die Daten des Zensus gewährleisten einen guten Überblick über den erreichten Ausbildungsstand der US-amerikanischen Bevölkerung. Der Zensus ist allerdings nicht in der Lage, Angaben darüber zu liefern, wie dieser Status quo im schulischen Prozess zustande kommt. Hier ist man auf andere Datenquellen, die meist auf der Basis von Stichproben beruhen, angewiesen. Diese Daten, die in der Regel an den einzelnen Schulen erhoben werden, betreffen vor allem das disziplinäre Verhalten der Schüler und – letztendlich als Resultat dieses Verhaltens – das einschneidende Moment eines vorzeitigen Ausscheidens aus der Schule (Dropout).11 Aus zahlreichen Medienberichten und Schilderungen von Betroffenen sind die sozialen Desintegrationserscheinungen sowie der infrastrukturelle und pädagogische Notstand an vielen US-amerikanischen public schools, vor allem in den schulischen Massenbetrieben der großstädtischen Zentren, bekannt. Gewalt, offener Drogenhandel und -konsum, verdeckte Waffenarsenale, Vandalismus, verbale Atta10 Vgl. Anne Brunton, The Chicano Migrants, in: Livie Isauro Duran u. H. Russell Bernard (Hrsg.), Introduction to Chicano Studies. A Reader, New York 1973, S. 485–497; James J. Parsons, A Geographer Looks at the San Joaquin Valley, in: The Geographical Review, 1986, S. 371–389; Refugio I. Rochin, Rural Latinos: Evolving Conditions and Issues, in: Emery N. Castle (Hrsg.), The Changing American Countryside. Rural People and Places, Lawrence, KS 1995, S. 286–302. 11 Vgl. Perry Gilmore u. David Smith, Mario, Jesse and Joe: Contextualizing Dropping Out, in: Henry T. Trueba / George Spindler / Louise Spindler (Hrsg.), What do Anthropologists Have to Say About Dropouts? The First Centennial Conference on Children at Risk, New York, Philadelphia, London 1989, S. 79–92; George J. Papagiannis / Robert N. Bickel / Richard H. Fuller, The Social Creation of School Dropouts. Accomplishing the Reproduction of an Underclass, in: Youth & Society 14 / 3, 1983, 363–392; Henry T. Trueba, Rethinking Dropouts: Culture and Literacy for Minority Student Empowerment, in: ders. / George Spindler / Louise Spindler (Hrsg.), What do Anthropologists Have to Say About Dropouts? The First Centennial Conference on Children at Risk, New York, Philadelphia, London 1989, S. 27–42.

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cken sowie Eigentumsdelikte in allen Nuancen machen viele der innerstädtischen Schulen zu brisanten sozialen Krisenherden. Bilder von bewaffneten Wachleuten, die in Schulhöfen patrouillieren, und von Metalldetektoren an Schuleingängen, mit denen einem steigenden Schusswaffengebrauch an Schulen Einhalt geboten werden soll, gehören mittlerweile zum Alltag städtischer Schulen in den USA.12 Unter den Strafmaßnahmen auf schulisches Fehlverhalten sind – in der Reihenfolge der Schwere der Strafe – vor allem körperliche Züchtigung (corporal punishment), vorübergehende Suspendierung vom Unterricht innerhalb und außerhalb der Schule (suspension) sowie ein endgültiger Verweis von der Schule (expulsion) zu erwähnen. Ein in US-amerikanischen Schulen weithin, wenn auch nicht allgemein praktiziertes Instrument als Reaktion auf schulisches Fehlverhalten stellen verschiedene Formen körperlicher Züchtigung dar. Was einer liberalen Pädagogik europäischen Zuschnitts im Rahmen des schulischen Ausbildungsprozesses als befremdlich oder gar kontraproduktiv erscheinen muss, findet in Form von Handschlägen, Ohrfeigen und Fußtritten in zahlreichen US-Klassenzimmern statt. Verfechter einer deterrence theory betonen hier den positiven Gehalt körperlicher Strafaktionen und den Abschreckungseffekt, der für diese Strafen postuliert wird.13 Je früher an Schülern mit diesem Medium ein abschreckendes Exempel statuiert wurde, umso günstiger sind nach Ansicht dieser Pädagogenschule die Chancen auf eine weitgehend konfliktfreie Bewältigung des schulischen Ausbildungsprozesses. Für die gesamten USA existieren Schätzungen, nach denen jährlich ungefähr 1,5 Millionen Schüler mit der Strafe körperlicher Züchtigung konfrontiert sind.14 Es steht zu vermuten, dass die Dunkelziffern deutlich höher liegen als die vom U.S. Office for Civil Rights (OCR) in mühsamer Kleinarbeit zusammengetragenen Daten einer großen, nationalen Stichprobe ausgewählter öffentlicher Schulen. Körperliche Strafen an den öffentlichen Schulen werden in den USA jedoch nicht uneingeschränkt praktiziert; sie sind in einigen Bundesstaaten verboten. Überaus aufschlussreich präsentiert sich die räumliche Verteilung der US-Bundesstaaten, in denen körperliche Züchtigungsmaßnahmen an öffentlichen Schulen untersagt sind. Neben einigen Staaten des Westens, von denen besonders Utah mit seiner eigentümlichen Verschmelzung von Religion, amtlicher Verwaltung und öffentlichem Schulsystem zu erwähnen ist, haben auch verschiedene Bundesstaaten im Mittelwesten körperliche Züchtigungsmethoden von den Schulen verbannt. Zudem fällt auf, dass ganz Neuengland und weitere wichtige Staaten des Nordostens wie New Jersey oder New York keine körperlichen Strafen an ihren Schulen zulassen. Demgegenüber werden diese disziplinären Maßnahmen in fast allen Staaten des Südens nicht nur toleriert, sondern auch gründlich praktiziert. Einmal mehr zeigen sich großräumige Bildungsstrukturen mit einem markanten Nord-Süd-Gegensatz. In 12 Vgl. die ebenso bedrückende wie mittlerweile „klassische“ Studie zu diesem Thema bei Jonathan Kozol, Savage Inequalities. Children in America’s Schools, New York 1991. 13 Vgl. Kenneth J. Meier / Joseph Stewart, Jr. / Robert E. England, Race, Class, and Education. The Politics of Second-Generation Discrimination, Madison 1989, S. 119. 14 Vgl. Kenneth J. Meier / Joseph Stewart, Jr., The Politics of Hispanic Education. Un paso pa’lante y dos pa’tras. (= SUNY Series, United States Hispanic Studies), Albany, NY 1991, S. 132.

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vielen Südstaaten sind bis heute je nach Standpunkt des Betrachters sehr traditionelle bis ausgesprochen reaktionäre schulische Ausbildungsmuster, Erziehungsmethoden und Disziplinierungsrituale anzutreffen. Eine andere im US-amerikanischen Bildungssystem weit verbreitete Disziplinarstrafe für Schüler besteht in einer zeitweiligen Entlassung vom Unterricht (inschool suspension) oder von der Schule (out-of-school suspension). Schüler, die mit bestimmten Schulregeln immer wieder in Konflikt geraten, werden normalerweise nach mehreren Verwarnungen vom regulären Unterricht suspendiert und in separaten Lerngruppen betreut. Vielfach wird die dabei versäumte normale Unterrichtszeit durch spezielle Nachsitzungen am Nachmittag kompensiert. Bei neuerlichem Fehlverhalten wird eine Suspendierung außerhalb der Schule mit einer maximal möglichen Dauer von zehn Tagen ausgesprochen.15 Suspensions stellen disziplinäre Maßnahmen dar, die primär in Sekundarschulen eingesetzt werden.16 In Elementarschulen wird in der Regel nicht auf dieses Instrument zurückgegriffen. Suspendierungen als Disziplinarstrafe haben den Vorteil, dass sie relativ einfach zu implementieren sind, selbst wenn die Richtlinien, nach denen Suspendierungen auszusprechen sind, von Schulbezirk zu Schulbezirk variieren. Allerdings sind Suspendierungen aus pädagogischem und erziehungsphilosophischem Blickwinkel mit deutlichen Fragezeichen zu versehen17 – vor allem was einen langfristigen Erfolg dieser Maßnahme anbelangt. Durch Suspendierungen werden die Lernmotivationen der ohnehin meist nicht besonders angespornten Schüler mit disziplinären Problemen nicht gerade gesteigert. Suspendierungen von Schule und Unterricht werfen zudem eine ethisch-moralische Schwierigkeit auf, die aus dem Widerspruch zwischen Schulpflicht und Recht auf Schule und Bildung einerseits sowie aufgenötigte Abwesenheit von der Schule andererseits resultiert. Dennoch erzielen Suspendierungen kurzfristig gewisse positive Wirkungen, vor allem einen reibungsloseren Unterrichtsablauf und eine erhöhte Aufmerksamkeit für schulische Probleme durch die Eltern. Vor allem die Suspendierung innerhalb der Schule, die den „Delinquenten“ nicht gänzlich von der Schule verbannt, sondern ihn weiterhin am Lerngeschehen teilhaben lässt, erscheint vielen Erziehungswissenschaftlern eine vielversprechende Alternative zur bisher weitgehend praktizierten Suspendierung außerhalb der Schule – immer unter der Prämisse, dass die suspendierten Schüler unter einer eigens dafür trainierten Aufsicht stehen. Eine weitere denkbare 15 Je nach Bundesstaat sind Suspendierungen vom Unterricht oder von der Schule im Höchstausmaß von in der Regel drei Tagen erlaubt (vgl. Susan C. Kaeser, Suspensions in School Discipline, in: Education and Urban Society 11 / 4, 1979, S. 465). Die durchschnittliche Dauer der Suspendierung schwankt jedoch auch nach der ethnischen Zugehörigkeit der betroffenen Schüler. Robert E. England u. Kenneth J. Meier, From Desegregation to Integration. Second Generation School Discrimination as an Institutional Impediment, in: American Politics Quarterly 13 / 2, 1985, S. 227–247, hier S. 233, konnten dazu empirisch untermauern, dass Minderheitenangehörige durchschnittlich einen Tag länger vom Unterricht oder von der Schule verbannt werden als weiße Schüler. 16 Vgl. Janet Eyler / Valerie J. Cook / Leslie E. Ward, Resegregation: Segregation Within Desegregated Schools, in: Christine H. Rossell u. Willis D. Hawley (Hrsg.), The Consequences of School Desegregation, Philadelphia 1983, S. 126–162; S. 181–210, hier S. 142. 17 Vgl. Annemarie Buttlar, Grundzüge des Schulsystems der USA, Darmstadt 1992, S. 29.

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Alternative zum erzwungenen Fernbleiben von der Schule bieten sämtliche Möglichkeiten des verpflichtenden Schulbesuchs an Samstagen, und zwar dort, wo Samstage ansonsten schulfrei sind.18 Werden Suspendierungen an US-amerikanischen high schools ausgesprochen, so liegen die Ursachen dafür zumeist im vorzeitigen Verlassen von Unterrichtseinheiten (cutting classes) sowie im unentschuldigten Fernbleiben vom Unterricht (truancy). Dazu kommen Rauchen in nicht dafür vorgesehenen Bereichen und andere Verstöße gegen die Hausordnung, aber auch gegen die Regeln beim Transport im Schulbus. In fast allen Fällen werden diese genannten Vergehen, die anderen Personen gegenüber nicht gewaltsam oder gefährlich sind, mit vorübergehenden Suspendierungen geahndet19, während rohe körperliche Gewalt, Eigentumsdelikte, Drogenhandel und -missbrauch sowie Waffenbesitz in der Regel zum endgültigen Schulverweis führen. Auch die disziplinären Maßnahmen an den Schulen folgen einer ethnischen Differenzierung. Schwarze Schüler sind nicht nur häufiger in Disziplinarmaßnahmen verwickelt, sondern werden auch oft wegen anderer Vergehen und Verstöße suspendiert als Weiße. Schwarze werden eher wegen subjektiver Übertretungen, wie etwa ungebührlichem Verhalten oder Nichtbeachtung der Kleidungsvorschriften, disziplinär belangt, während Weiße eher wegen objektiver Entgleisungen, wie beispielsweise Drogenmissbrauch oder Besitz von Waffen, dem Unterricht oder der Schule fernbleiben müssen.20 Auch Hispanics werden relativ häufiger vom Unterricht oder von der Schule suspendiert als weiße Schüler. Von Hispanic-Schülern, aber auch von schwarzen und indianischen Kindern, wird oft berichtet, dass gerade ihre kulturellen Werte und traditionellen Verpflichtungen auslösendes Moment für eine Suspendierung sein können. Bis in die 1960er und 1970er Jahre war etwa an vielen, vor allem konservativ geprägten public schools das Tragen von langem Haar verpönt, wodurch zahlreiche hispanische und indianische Kinder in Konflikt mit der Schulordnung geraten mussten. Traditionelle hispano-amerikanische oder indianische Werte ließen sich kaum mit angloamerikanischen Vorstellungen in Einklang bringen, und daraus resultierende Konflikte endeten oft in temporären Schulverweisen oder erzwungener Freistellung vom Unterricht. Das Problem der vorübergehenden Entlassung von der Schule (out-of-school suspension) betrifft vor allem African Americans und Hispanics. In allen Bundesstaaten des Südostens wurden während des Schuljahres 1991 / 92 jeweils mehr als zehn Prozent der schwarzen Schüler mindestens einmal von ihrer öffentlichen Schule verwiesen. Dass in diesen Südstaaten auch sehr viele weiße Schüler mit Suspendierungen konfrontiert werden, unterstreicht die Bedeutung der übergeordneten Bildungsstrukturen und pädagogischen Leitlinien in diesem Teil der USA. 18 Vgl. Meier / Stewart, The Politics of Hispanic Education, S. 221. 19 Vgl. die Liste möglicher Vergehen, die unweigerlich in einer suspension enden, bei: Edith R. Sims, Effective Teaching and Schooling for Black Children, in: Joan M. Lakebrink (Hrsg.), Children at Risk, Springfield, Ill. 1989, S. 140–159, hier S. 147. 20 Vgl. Jaqueline Jordan Irvine, Black Students and School Failure. Policies, Practices, and Prescriptions. (= Contributions to Afro-American and African Studies, 131), Westport, CT 1990, S. 18.

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Umgekehrt können strukturelle Bildungsparameter gegenüber der ethnischen Komponente auch in den Hintergrund treten, etwa bei den Suspendierungswerten der Asian Americans, die – praktisch unabhängig von den großräumigen Disparitäten der verschiedenen Ausbildungs- und Qualifikationsindikatoren – in fast allen Staaten nur marginal von schulischen Disziplinierungsmaßnahmen in Form von suspensions tangiert werden.21 Dieser Befund für asiatischstämmige Schüler fügt sich sehr gut in das positive Bild ein, das generell von Asian Americans in der Schule gezeichnet wird und das vor allem mit kulturspezifischen Dispositionen, bestimmten Verhaltenstraditionen und aufgeschlossener Erwartungshaltung erklärt wird. Das disziplinäre Verhalten an der Schule besitzt eine wichtige Indikatorfunktion für die Chance eines positiven oder das Risiko eines negativen oder fehlenden Schulabschlusses. Personen, die eine formale schulische Ausbildung abbrechen und somit ohne high school-Zeugnis bleiben, sind im späteren beruflichen Werdegang gegenüber high school-Absolventen deutlich benachteiligt. Auch wenn der Anteil dieser Dropouts während der vergangenen einhundert Jahre beständig auf immer niedrigere Werte gesunken ist, so dass das Problem der Schulabbrecher heute rein quantitativ keinen herausragenden Stellenwert mehr besitzen dürfte, konzentriert sich das Interesse vieler Sozial- und Erziehungswissenschaftler nach wie vor auf dieses kleine, aber immer extremer stigmatisierte Ausbildungssegment. Das wissenschaftliche Engagement ist dabei besonders auf das enge Zusammenspiel unterschiedlicher Erscheinungsformen von Marginalisierung und Ausgrenzung fokussiert. Bestimmte soziale, ethnische, kulturelle und demographische Merkmale verdichten sich im Konnex mit dem Dropout-Prozess zu einem höchst explosiven Phänomen, das die US-amerikanische Gesellschaft außerordentlich beansprucht. Das Risiko eines vorzeitigen Ausscheidens aus der Schule ist in den USA ohne Zweifel eng mit der ethnischen Zugehörigkeit des Schülers verknüpft. Bei Angehörigen ethnischer Minoritätengruppen besteht eine deutlich höhere Bereitschaft oder Notwendigkeit, die high school ohne regulären Abschluss zu verlassen. Enorme Gegensätze hinsichtlich der Dropouts lassen es nicht unangebracht erscheinen, von einer „Ethnisierung“ des Schulerfolgs zu sprechen.22

21 Eine bezeichnende Ausnahme dazu bilden Alaska und vor allem Hawaii. Obwohl Asian Americans seit Mitte des 19. Jahrhunderts das Gros der Bevölkerung Hawaiis stellen, sind dort besonders Chinesen und Japaner einer seit Generationen währenden Diskriminierung im öffentlichen Sektor ausgesetzt (vgl. Eileen H. Tamura, Americanization, Acculturation, and Ethnic Identity. The Nisei Generation in Hawaii, Urbana, Chicago 1994), deren Auswirkungen auch noch aktuell im Bildungssystem spürbar sind. 22 Damit soll nicht impliziert werden, dass allein der ethnische Faktor zur Erklärung dieser Divergenzen heranzuziehen ist. Auch schichtenspezifische Determinanten, die selbst wiederum ethnisch strukturiert sind, müssen berücksichtigt werden. Möglicherweise könnte auch die Utopie einer ethnisch homogenen Gesellschaft an der Dropout-Problematik nur wenig ändern: »[…] differences in educational processes and outcomes would persist unchanged even if ethnic and racial differences in interpretive procedures were eleminated. This is so, we contend, because dropping out and other forms of educational failure are structurally determined consequences of the routine working of basic institutions in a class-based society.« Zit. nach Papagiannis / Bickel / Fuller, School Dropouts, S. 374.

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Die Dropout-Raten zeigen seit Anfang der 1970er Jahre eine kontinuierliche Verbesserung, ohne dass jedoch von Seiten der Pädagogen Entwarnung gegeben werden könnte. Mitte der 1990er Jahre lag die allgemeine Abbrecherrate bei zwölf Prozent. Ein merklicher Fortschritt konnte bei den African Americans registriert werden, denen es seit den frühen 1970er Jahren zusehends leichter fällt, die high school-Ausbildung zu einem positiven Abschluss zu bringen. Betrug die DropoutRate unter der schwarzen Bevölkerung im Alter zwischen 16 und 24 Jahren 1972 noch mehr als 21%, so war dieser Anteil bis 1995 auf zwölf Prozent gesunken. Das Dropout-Risiko ist in verschiedenen Großregionen unterschiedlich hoch. Auch wenn sich die Wahrscheinlichkeit eines Schulabbruchs durch die kartographische Analyse nicht exakt quantifizieren lässt, so kann man doch vertretbar postulieren, dass im Süden der USA die Disposition zum frühen Ausscheiden aus der Schule wesentlich deutlicher angelegt ist als im Mittelwesten und in den Great Plains.23 Wenn man ein Gebiet mit extrem hohen Abbrecherraten diagnostizieren wollte, so müsste die Wahl auf den südlichen Raum der zentralen Appalachen (westliche Teile der Bundesstaaten Kentucky und Tennessee, nördliche Gebiete der Staaten Alabama und Georgia) fallen. Neben Schülern aus dem Süden laufen auch verhältnismäßig viele Schüler der westlichen Bundesstaaten Gefahr, die high school-Ausbildung zu keinem positiven Ende bringen zu können. Umgekehrt spielt der Dropout-Prozess in vielen Gebieten des Mittelwestens praktisch keine große Rolle; das Risiko, die Schulausbildung ohne Abschlusszeugnis zu beenden, ist hier sehr gering. Der Abbruch einer high school ist in den USA stigmatisiert und bedeutet für den betreffenden Schüler eine Reihe gravierender ökonomischer Nachteile, die ihm in ihrer Reichweite möglicherweise erst nach dem Verlassen der Schule bewusst werden. Viele Entscheidungsträger vertreten eine Position strenger Zeugnisgläubigkeit (credentialism) und orientieren danach ihr Verhalten. Mehrere Umfragen haben ergeben, dass der weitaus überwiegende Teil der US-Amerikaner den Werten der Ausbildung und der Bedeutung der Schule – vor allem der high school – ein ungeteiltes Credo entgegenbringt. Das Wohl und Wehe der Nation wird vielfach mit ihrem bildungspolitischen Geschick verknüpft.24 So verwundert es nicht, dass formale Bildungsabschlüsse nicht nur bei formalen Bewerbungen, sondern auch in informellen Gesprächen und Gutachten eine eminent wichtige Rolle spielen. In diesem Zusammenhang stehen auch die graduellen, oft sehr sublim artikulierten Nuancierungen in der Bewertung der Abschlussdiplome verschiedener high schools und Hochschulen. Die Wahrnehmung von Image und Prestige und die Realität der Ausbildungseinrichtungen fließen hier ineinander, so dass sich kaum mehr feststellen lässt, wo das bildungspolitische Faktum endet und der institutionelle Mythos beginnt. Die Jahrzehnte seit dem Zweiten Weltkrieg brachten mit der Erhöhung des durchschnittlichen formalen Ausbildungsniveaus der US-amerikanischen Bevölkerung auch eine beständige Aufwertung der schulischen Mindeststandards zur Inte23 Vgl. Ruth B. Ekstrom et al., Who Drops Out of High School and Why? Findings from a National Study, in: Teachers College Record 87 / 3, 1986, S. 356–373, hier S. 366. 24 Vgl. Ernest L. Boyer, High School. A Report on Secondary Education in America, New York u.a. 1983, S. 281 f.

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gration in den Arbeitsmarkt. Während noch in der Zwischenkriegszeit viele berufliche Stellen ohne high school-Diplom besetzt werden konnten und ein CollegeAbschluss nur für Führungspositionen unabdingbar war, hat sich spätestens seit den 1960er Jahren die Notwendigkeit eines high school-Zeugnisses für standardisierte Tätigkeiten, selbst im untersten Bereich der Qualifikationshierarchie, vollends durchgesetzt. Leitende Positionen können praktisch ausnahmslos nur von Akademikern bekleidet werden. Fast keine Bewerbung ohne formale Schulbildung hat wirklich Aussicht auf Erfolg.25 HINTERGRÜNDE DER SITUATION ETHNISCHER MINORITÄTEN IM BILDUNGSWESEN Eine Fülle von Einflussfaktoren ist für das schlechtere schulische Abschneiden von Kindern aus ethnischen Minoritätengruppen verantwortlich. Unzählige sozialwissenschaftliche Studien waren um eine Klärung und um eine Gewichtung der ursächlichen Kräfte für den mangelnden Schulerfolg vieler nicht-weißer Kinder bemüht, doch ihr Resultat ist alles andere als eindeutig und zufriedenstellend. Auch hochkomplexe statistische Analysen sind nicht in der Lage, das Scheitern an der Schule auf eine exakte Zahl von Parametern zurückzuführen. Vielmehr kristallisiert sich ein kompliziertes Bild heraus, das multiple Kausalzusammenhänge zulässt und unterschiedliche Faktoren je nach Betrachtung und Hintergrund der Analyse in unterschiedlicher Gewichtung einbezieht. Im Wesentlichen können vier Faktorenbündel unterschieden werden, welche die Ausbildungs- und Qualifikationsstrukturen ethnischer Minoritäten in den USA determinieren. Zunächst ist von den historischen Wurzeln und Traditionen auszugehen, ohne deren Kenntnis ein Verständnis der aktuellen Entwicklungen im Schulwesen unmöglich erscheint. Ein weiterer Erklärungsansatz wird die institutionellen und strukturellen Zwänge und Spezifika hervorheben, die das System der öffentlichen Schulen in den USA prägen. Ideologische Konstruktionen von public schooling und das für US-amerikanische public schools charakteristische Finanzierungsmodell müssen in diesem Zusammenhang betrachtet werden. Ein drittes Faktorenbündel rankt sich um gesellschaftliche Dispositionen gegenüber Minoritätengruppen und umfasst Aspekte wie Diskriminierung, Stereotype, Vorurteile oder Assimilation. Schließlich dürfen persönlich-individuelle Faktoren und ihre Wirkung auf den Schulerfolg nicht übersehen werden. Dazu gehören die Motivation der Schüler, Prägungen aus der Familie und dem Elternhaus sowie der Freundeskreis der Schüler, dessen Einfluss lange Zeit grob vernachlässigt wurde. Aus geographischer Sicht sind die räumlich fassbaren Ungleichgewichte besonders auch vor dem Hintergrund ihrer großen zeitlich-historischen Beständigkeit von herausragendem Interesse. Ich möchte mich deshalb im folgenden auf einige Facetten histo25 Vgl. z. B. Gary G. Wehlage u. Robert A. Rutter, Dropping Out: How much Do Schools Contribute to the Problem?, in: Teachers College Record 87 / 3, 1986, S. 374–392, hier S. 375; Carol C. Yeakey u. Clifford T. Bennett, Race, Schooling, and Class in American Society, in: Journal of Negro Education 59 / 1, 1990, S. 10.

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risch-geographischer Traditionen beschränken, die – neben den anderen genannten Faktoren – für die Situation ethnischer Minoritäten im öffentlichen Schulsystem der USA verantwortlich sind. Aus der Fülle der Indikatoren, die eine Benachteiligung bestimmter Minoritätengruppen (vor allem der African Americans und der Hispanics) im öffentlichen Schulwesen nahelegen, können nur einige wenige exemplarisch herausgegriffen werden. Die ethnische Trennung gestaltet sich besonders eindrucksvoll, wenn wir die Entwicklung des öffentlichen Schulsystems betrachten, das bis in die Nachkriegszeit von ethnischen Barrieren gekennzeichnet war. Die Bereitstellung allgemeiner und kostenloser Schulbildung vollzog sich für bestimmte ethnische Gruppen mit Verzögerung und in einem offenkundig schwerfälligeren Tempo als für die weiße Mehrheitsbevölkerung. Die Tradition eines sehr weitmaschigen, wenn nicht überhaupt fehlenden Netzes öffentlicher Schulen tritt wohl am deutlichsten bei den African Americans in Erscheinung. In ihrer Schul- und Bildungsgeschichte reiht sich Verbot an Verbot; unterbrochen wird diese Sequenz – zunächst wenig spürbar und effizient, später immer deutlicher und energischer – durch Bemühungen um eine adäquate Teilhabe an der allgemeinen Professionalisierung, die das Ausbildungs- und Qualifikationswesen seit Mitte des 19. Jahrhunderts kennzeichnet. Mit ihrem unfreien Sklavenstatus, der die schwarzen Amerikaner seit ihren ersten Passagen aus Afrika begleitete, verbanden sich entsprechend eingeschränkte Bildungs- und Qualifikationschancen.26 Das System der „erzwungenen Unwissenheit“ (compulsory ignorance) war für die Bildungspolitik der weißen gegenüber der schwarzen Bevölkerung kennzeichnend.27 Wer an der Beibehaltung der billigen, unfreien Arbeitskraft der schwarzen Sklaven interessiert war, musste die Bedeutung des divergenten Schulsystems zur Zementierung bestehender sozialer Ungleichgewichte erkannt haben. Gesetzliche Bestimmungen, die der schwarzen Bevölkerung jegliche Möglichkeit zum Erwerb einer auch nur elementaren Schulbildung absprachen, waren für die antebellum-Situation in vielen Südstaaten charakteristisch. Legale Sanktionen und formelle Richtlinien hinderten einen Großteil der Schwarzen an einem regulären 26 Auch wenn mit einiger Sicherheit davon ausgegangen werden kann, dass viele versklavte Schwarze Wissen und handwerkliche Fertigkeiten bereits aus ihrer afrikanischen Heimat in die Neue Welt mitbrachten (vgl. L. H. Whiteaker, Adult Education within the Slave Community, in: Harvey G. Neufeldt u. Leo McGee (Hrsg.), Education of the African American Adult. An Historical Overview. (= Contributions in Afro-American and African Studies, 134), New York u.a. 1990, S. 3–10), muss das allgemeine Bildungsniveau unter den African Americans bis weit ins 19. Jahrhundert als ausgesprochen kümmerlich betrachtet werden. Dass Sklavenhalter ihre Untergebenen in privaten Anstrengungen des Lesens, Schreibens und Rechnens kundig machten, wie es vielfach überliefert ist (Whiteaker, Adult Education, S. 4), kann nur als die Ausnahme von der Regel gelten (Laurie Russell Hatch u. Kent Mommsen, The Widening Racial Gap in American Higher Education, in: Journal of Black Studies 14 / 4, 1984, S. 457–476). Im übrigen entsprangen Bemühungen dieser Art nicht immer purer Nächstenliebe, sondern gründeten oft auf dem Hintergedanken, Sklaven durch Vermittlung eines christlich geprägten Arbeitsethos, dessen dogmatische Fundamente nun durch die Schriftkundigkeit der auf diese Weise instruierten Schwarzen eigenständig rezipiert werden konnten, “gefügig” zu machen (Bullock, Negro Education, S. 11). 27 Vgl. Weinberg, A Chance to Learn, S. 11.

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Schulbesuch und dämpften die Erfolge verschiedener Alphabetisierungsbemühungen, mit denen sich kirchlich-religiöse Gruppierungen und philanthropische Gesellschaften engagierten. Wer – formal oder auch nur informell – Sklaven im Lesen und Schreiben unterwies, ging in manchen Bundesstaaten ein hohes Risiko ein. Vielen African Americans blieb keine andere Möglichkeit, als sich in geheimen Schulen und an verborgenen Orten zu treffen. So wurden Zusammenkünfte under the trees organisiert, die den Zweck hatten, ein belangloses soziales Ereignis vorzutäuschen, während hier in Wirklichkeit elementare Lese- und Schreibkenntnisse weitervermittelt wurden. Auch ist die Existenz von Nachtschulen überliefert, in denen verbotenes Wissen und unerlaubte Fertigkeiten unterrichtet wurden.28 Die schulische Situation für Schwarze blieb auch nach erfolgter Loslösung von der Sklaverei trist. Die zwischen 1880 und der Zeit des Ersten Weltkriegs überaus rasante Entwicklung des allgemeinen Sekundarschulwesens ging am schwarzen Bevölkerungsteil der USA zunächst völlig spurlos vorüber. 1916 konnten für die gesamten USA nicht einmal 70 (!) high schools für African Americans registriert werden.29 In regionalen Einzelfällen gestaltete sich die Unterversorgung durch public high schools noch gravierender: 1911 fand sich in ganz Maryland, das damals von 200 000 Schwarzen bewohnt war, nur eine einzige schwarze Sekundarschule, nämlich in Baltimore. In zahlreichen großen Städten des Südens herrschte ein eklatantes Missverhältnis in der Bereitstellung von high schools für weiße und schwarze Schüler vor. In New Orleans beispielsweise bestanden für gut 25 000 weiße Personen im Sekundarschulalter (15 bis 19 Jahre) vier Einrichtungen, während für knapp 9 000 Schwarze keine Möglichkeit gegeben war, eine high school zu besuchen. Wo eine high school für Schwarze vorhanden war, bot sich meist ein armseliges Bild. Die verzweifelte Ausstattungssituation, in der sich viele, vor allem ländliche, Schulen der Südstaaten befanden, spiegelt sich summarisch in Vermögensaufstellungen, die beispielsweise für die Mitte der 1930er Jahre vorliegen, und – noch durchdringender – in exemplarischen Einzelschilderungen, aus denen die Unzulänglichkeiten besonders plastisch hervortreten. So wusste der Schulinspektor für das staatliche Schulwesen für Schwarze in Mississippi für den Zeitraum von 1933 bis 1935 über die schwarzen Schulgebäude und ihre Ausstattung folgendes zu berichten: Of the 3,753 Negro schoolhouses in Mississippi, 2,313 are owned by public school authorities. The other 1,440 schools are conducted in churches, lodges, old stores, tenant houses, or whatever building is available. […] The Negroes themselves, in some cases, are building and repairing their schoolhouses out of their own meager savings and with their own labor. School buildings need to be erected to displace the many little shanties and churches now being used […] There is also dire need for school furniture and teaching materials – comfortable seating facilities, stoves, blackboards, erasers, crayon, supplementary reading materials, maps, flash cards, and charts. In many of the 3,753 colored schools of the State there is not a decent specimen of any one of the above mentioned items. In hundreds of rural schools there are just four blank, unpainted walls, a few old rickety benches, an old stove propped up on brickbats, and two or

28 Vgl. John Hope Franklin u. Alfred A. Moss, Jr., From Slavery to Freedom. A History of African Americans, 7. Aufl. New York 1994, S. 160. 29 Vgl. W. Augustus Low / Virgil A. Clift (Hrsg.), Encyclopedia of Black America, New York u.a. 1981, S. 335.

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Werner Gamerith three boards nailed together and painted black for a blackboard. In many cases, this constitutes the sum total of the furniture and teaching equipment.30

Ein Schüler beschrieb eine typische schwarze Schule im östlichen Texas mit folgenden Worten:

The building was a crude box shack built by the Negroes out of old slabs and scrap lumber. Windows and doors were badly broken. The floor was in such condition that one had to walk carefully to keep from going through cracks and weak boards. Daylight was easily visible through walls, floor, and roof. The building was used for both church and school. Its only equipment consisted of a few roughhewn seats, an old stove brought from a junk pile, a crude homemade pulpit, a very small table, and a large water barrel. All the children drank from the open barrel which was refilled with fresh water only when it became empty. Water was hauled to the schoolhouse and poured through a window into the barrel. There was no blackboard and there were no desks. When the children wrote, their knees served for desks. Fifty-two children were enrolled. All these crowded into a single small room, with benches for but half the number. The teacher and pupils had tacked newspapers on the walls to keep the wind out. Rain poured through the roof, and school was dismissed when it rained. No supplies, except a broom, were furnished the school by the district during the year.

Diese einprägsame Schilderung entspricht auch weitgehend den Erfahrungen der Lehrer an schwarzen Landschulen des Südens. So wusste der einflussreiche schwarze Pädagoge W. E. B. DuBois Folgendes über seine Zeit an einer ländlichen Schule in Tennessee im Jahre 1886 in seinem Buch The Souls of Black Folk (1903) zu berichten: The schoolhouse was a log hut, where Colonel Wheeler used to shelter his corn. It sat in a lot behind a rail fence and thorn bushes, near the sweetest of springs. There was an entrance where a door once was, and within, a massive rickety fireplace; great chinks between the logs served as windows. Furniture was scarce. A pale blackboard crouched in the corner. My desk was made of three boards, reinforced at critical points, and my chair, borrowed from the landlady, had to be returned every night. Seats for the children – these puzzled me much. I was haunted by a New England vision of neat little desks and chairs, but, alas! the reality was rough plank benches without backs, at times without legs. They had the one virtue of making naps dangerous – possibly fatal, for the floor was not to be trusted.31

Die knappen Mittel waren auch – neben anderen Faktoren, wie dem jahreszeitlichen Rhythmus des Arbeitskräftebedarfs in der Landwirtschaft – für das kurze Schuljahr an schwarzen Schulen verantwortlich. Die Unterschiede zwischen weißen und schwarzen Schulen konnten beträchtlich ausfallen. Anfang des 20. Jahrhunderts betrug die durchschnittliche Dauer eines Schuljahrs an den schwarzen public schools im County Wilcox (Alabama) 80 Tage; für weiße Schüler hingegen dauerte das Schuljahr mit 140 Tagen beinahe doppelt so lang. Es existieren Berichte, nach denen in manchen ländlichen Gebieten der Südstaaten das Schuljahr nicht länger als zwei Monate dauerte.32

30 Zit. nach Doxey A. Wilkerson, Special Problems of Negro Education [1939], Westport, CT 1970, S. 28 f. 31 Zit. nach Andrew Gulliford, America’s Country Schools, 3. Aufl. Niwot, CO 1996, S. 103. 32 Vgl. James R. Grossman, A Certain Kind of Soul, in: James Oliver Horton u. Lois E. Horton (Hrsg.), A History of the African American People, New York 1995, S. 94–117, hier S. 108.

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Wie gesagt, die Liste der Belege für zwei völlig unterschiedliche Schulsysteme, welche die Tradition einer black undereducation begründen, ließe sich ellenlang fortsetzen. Vergleichbare Prozesse lassen sich auch für die Hispanics und für manche Teilgruppe der Asian Americans, besonders für die chinesischen Einwanderer der ersten Generation, feststellen. Es fehlt an dieser Stelle der Platz, diese historischen Traditionen ausführlicher zu würdigen – und auch die weiteren Faktoren, die zu einer räumlichen Persistenz von Ausbildungsstrukturen beitragen, können hier nicht vertieft erörtert werden. Die Hinweise auf strukturelle Gegensätze in der Finanzierung des öffentlichen Bildungssystems oder auf die ideologisch-ideengeschichtliche Verankerung des Prinzips der Eigenverantwortlichkeit jedes Staatsbürgers – und die daraus abgeleitete Bedeutung der lokalen Schuladministration, verbunden mit einer Skepsis gegenüber bundesstaatlichen oder nationalen Schulbehörden – müssen an dieser Stelle genügen. ETHNIZITÄT UND ARBEITSMARKT Abschließend soll auf einige Aspekte der Beteiligung ethnischer Minoritäten am US-amerikanischen Arbeitsmarkt eingegangen werden. Die Schnittstelle zwischen Ausbildungsprozess und Arbeitsmarkt kann unterschiedlich definiert werden. Zentrale Weichenstellungen erfolgen sicherlich bereits in den Jahren der Grund- und der Sekundarschule. Ein positiver high school-Abschluss korreliert sehr stark mit einem erfolgreichen Studium an einem College oder an einer Universität; umgekehrt wird ein fehlendes high school-Diplom dem betreffenden Schüler große Schwierigkeiten bereiten, einen Arbeitsplatz mit einer attraktiven Tätigkeit zu bekleiden. Sowohl makrostatistisch als auch auf einer individuellen Ebene wird die Benachteiligung ethnischer Minoritäten im Schulsektor gleichzeitig als berufliche Marginalisierung im Arbeitsmarkt fassbar. Durch die Konzentration bestimmter Minderheiten auf gering entlohnte und wenig qualifizierte Routinearbeiten werden die Möglichkeiten für eine sozioökonomische Emanzipation und Integration limitiert. Von wenigen Ausnahmen – vor allem unter asiatischen Einwanderern der zurückliegenden zwei bis drei Jahrzehnte33 – abgesehen, sind berufliche Schlüsselpositionen eine Domäne der weißen US-Amerikaner. Vor allem in so sensiblen und einflussreichen Bereichen wie im Medien- oder Rechtswesen (Verleger, Herausgeber und Reporter; Anwälte und Richter), die klassische gatekeeper-Positionen – also berufliche Tätigkeiten mit weitreichender Entscheidungsbefugnis und durchschlagender Kontrollmöglichkeit – beherbergen, sind Weiße überdurchschnittlich vertreten. African Americans ist es hingegen kaum gelungen, in diese Berufsfelder vorzudringen. Die berufliche Elite setzt sich nahezu ausschließlich aus Weißen und we33 Seit den späten 1960er Jahren ist das US-amerikanische Gesundheitssystem sowohl hinsichtlich des medizinischen als auch des Pflegepersonals in eine starke Abhängigkeit von der Immigration aus Asien (Indien, Iran, Philippinen) geraten. Bereits Mitte der 1970er Jahre stammte ein Fünftel aller US-amerikanischen Ärzte aus dem Ausland (vgl. z. B. Sucheng Chan, Asian Americans. An Interpretive History, Boston 1991, 147 f.).

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nigen Asian Americans zusammen. Einer Untersuchung von Alba / Moore34 zufolge nehmen Minderheiten lediglich 3,9% aller beruflichen Elitepositionen ein. 43% dieser Elite stellten WASPs, weitere 19,5% andere Personen protestantischer Konfession. Katholiken besetzten mehr als 17% der einflussreichen Stellen in Wirtschaft und Politik, Juden gut 11%. In den obersten Etagen der Konzerne und Massenmedien fanden sich nach dieser Studie überhaupt keine Angehörigen ethnischer Minoritäten. »Americans who are not White or Protestant tend to be underrepresented in positions of decision-making authority.«35 Die Entscheidungsgewalt in wirtschaftlichen und kulturellen, teilweise auch politischen Belangen konzentriert sich also in den Händen der weißen Bevölkerungsmehrheit. Eine Analyse der Hochqualifizierten im Sinne der Absolventen eines Doktoratsstudiums (Ph.D. oder Professional School Degree) nach ihrer ethnischen und beruflichen Zusammensetzung kommt im Resultat zu einem ähnlichen Übergewicht der weißen Bevölkerungsmehrheit. Besonders eklatant zeigt sich die weiße Vorherrschaft im Berufsfeld der Rechtsanwälte und Richter, das 1990 zu mehr als 94% aus Weißen bzw. zu mehr als 98% aus Angehörigen nicht-hispanischer Herkunft bestand. Der mächtige Mediensektor wird kaum von Schwarzen mitbestimmt. Von den mehr als 1100 kommerziellen Fernsehstationen befindet sich nur etwa ein Prozent im Eigentum von African Americans. Magere vier Prozent der Journalisten sind Schwarze; nur eine von 1710 Tageszeitungen steht in schwarzem Besitz.36 Erschwerend kommt für die schwarze Minderheit hinzu, dass ihre wenigen hochdotierten Stellen oft nur scheinbare Schlüsselpositionen darstellen, in denen der tatsächliche Entscheidungsfreiraum limitiert ist. So wird in diesem Zusammenhang von token and nonessential roles gesprochen. Realistische Aufstiegsmöglichkeiten bieten sich African Americans eher im öffentlichen Sektor als in der Privatwirtschaft. Über den public-Sektor eröffnen sich Schwarzen auch in jenen Berufsfeldern Chancen, die ihnen im Wettbewerb der Privatwirtschaft weniger zugänglich sind. So steht etwa über ein Drittel aller schwarzen Rechtsanwälte im Dienst der Regierung. Weitere wichtige öffentliche Arbeitgeber für die schwarze Minderheit stellen das Militär, Bundes-, Staats- und Kommunalverwaltungen sowie der U.S. Postal Service dar. Je ein Fünftel aller Militärs und Postangestellten besteht aus African Americans. Der Nachteil relativ geringerer Gehälter im öffentlichen Sektor wird durch eine in der Privatwirtschaft unerreichbare Arbeitsplatzsicherheit wettgemacht. Der Aufstieg der schwarzen Minderheit in höhere, leitende Positionen des öffentlichen Sektors kann im wesentlichen als ein Erfolg der legistischen Veränderungen im Zuge der Bürgerrechtsbewegung der 1950er und 1960er Jahre gewertet werden. Bis dahin war ein beruflicher Aufstieg in der Verwaltung und eine Karriere als Spitzenbeamter für African Americans undenkbar gewesen. Noch in der Zwischenkriegszeit ließ die Bürokratie in Washington D.C. keine berufliche Entfaltung von Schwarzen zu. Das U.S. State Department hatte African Americans lediglich als Chauffeure, Boten, Türsteher und Portiere beschäf34 Zit. nach Richard T. Schaefer, Racial and Ethnic Groups, 3. Aufl. Boston, Toronto 1988, S. 103. 35 Ebd. 36 Vgl. Joe R. Feagin, Racial and Ethnic Relations, 3. Aufl. Englewood Cliffs, NJ 1989, S. 228.

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tigt; zwischen 1924 und 1940 war es keinem einzigen Schwarzen gelungen, eine höhere Stelle im Bereich des U.S. State Department zu bekleiden.37 Auch in der Politik haben sich Schwarzen in den zurückliegenden zwei bis drei Jahrzehnten neue Möglichkeiten aufgetan. Bereits vor dem historischen Erfolg Barack Obamas als Präsidentschaftskandidat waren Schwarze vor allem in kommunalen Behörden und politischen Ämtern gut vertreten und einigermaßen fest verankert. New York, Los Angeles, Chicago, Denver, Seattle, Washington D.C., Philadelphia, Detroit, Baltimore, Cleveland, Atlanta, Memphis und New Orleans sind nur eine Auswahl von US-amerikanischen Großstädten, die von gewählten schwarzen Bürgermeistern regiert werden (oder in der jüngeren Vergangenheit regiert wurden). So bescheiden sich diese Erfolge in der beruflich-sozialen Mobilität der African Americans ausnehmen, so bemerkenswert sind sie im Hinblick auf die traditionell untergeordnete Position, die Schwarze in der beruflichen Hierarchie einnahmen. Lange Zeit verband sich mit Schwarzen die Assoziation eines wenig qualifizierten Dienstleisters, der seinem (in aller Regel weißen) Vorgesetzten als williger Befehlsempfänger gehorchte – ein Bild, das sich noch aus der Zeit der Sklaverei erhalten haben mag. Der Beruf der Haushaltshilfe war für viele African Americans, zumal Frauen, bis in die Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg die einzig realistische Option auf ein geregeltes Einkommen. Noch 1940 verzeichnete die Statistik 2,4 Millionen schwarze Haushaltshilfen – bei einer Gesamtsumme von 52 Millionen Erwerbstätigen.38 Auch im Einzelhandel bekleiden African Americans überdurchschnittlich häufig niedrige Positionen mit Routineaufgaben, etwa als Personal an den Einkaufskassen. FAZIT Wenn man diese Ausführungen, die aus Platzgründen nur einige der wichtigsten Aspekte zur Frage ethnischer Minoritäten in den USA und ihrer Situation im Bildungswesen und Arbeitsmarkt behandeln konnten, auf diejenigen Punkte prüft, die als „typisch amerikanisch“ gelten könnten, so wird man zwangsläufig bei den enormen sozial- und wirtschaftsgeographischen Disparitäten stehenbleiben, die sich zwischen Angehörigen unterschiedlicher Ethnien auftun. Diese Gegensätze blicken auf eine jahrzehnte- oder jahrhundertelange Tradition zurück und werden durch strukturelle Komponenten, wie etwa die von Lokalsteuern abhängige Finanzierung des öffentlichen Schulsystems, verstärkt. „Typisch amerikanisch“ ist also am ehesten die enorme Bandbreite, in der sich Lehren und Lernen an den öffentlichen Schulen abspielt. „Typisch amerikanisch“ ist aber auch die wachsende Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit – zwischen der Ideologie der public school als Garant für gleiche Startbedingungen unter den verschiedenen Bevölkerungsgruppen und 37 Vgl. Robert D. Manning, Washington, D.C.: The Changing Social Landscape of the International Capital City, in: Pedraza u. Rubén G. Rumbaut (Hrsg.), Origins and Destinies. Immigration, Race, and Ethnicity in America, Belmont, CA u.a. 1996, S. 373–389, hier S. 377. 38 Vgl. Andrew Hacker, Two Nations. Black and White, Separate, Hostile, Unequal, New York 1992, S. 113.

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der Realität der public school als Reproduktionsinstrument sozialer Ungleichheit. Auch – durchaus nicht unumstrittene – affirmative action-Programme zur selektiven und bewussten Verbesserung der Bildungssituation bestimmter ethnischer Gruppen haben diesen „typisch amerikanischen“ Gegensatz bisher nicht wesentlich ausgleichen und dessen soziale Sprengkraft entschärfen können.

SCHUTZ ODER VERBOT VON HASSREDE? EIN STREIT ZWISCHEN AMERIKA UND DEUTSCHLAND1 Winfried Brugger STREIT UM DIE RECHTLICHE EINORDNUNG VON HASSREDE Die Meinungsfreiheit wird in liberalen Staaten traditionell hochgehalten. Grundrechte schützen sie und Verfassungsgerichte betonen ihren hervorgehobenen Stellenwert. Gilt das auch noch, wenn es sich bei den Äußerungen um umstrittene und anstößige Minderheitenansichten handelt, die die Mehrheit empörend findet? Auch dann ist die Meinungsfreiheit in modernen Rechtsordnungen verfassungsrechtlich geschützt, ja gerade dann, denn die Mehrheitsmeinung braucht keinen Grundrechtsschutz, sie ist kulturell verankert und politisch abgesichert. Es ist die von der herrschenden Sicht abweichende Meinung, die Schutz gegen Mehrheitsunterdrückung braucht – und auch verdient. So sehen es Klassiker der Meinungsfreiheit. Voltaire, prominenter Vertreter der französischen Aufklärung, vertrat die Auffassung: „Ich lehne ab, was Sie sagen, aber ich werde Ihr Recht, Ihre Meinung zu äußern, bis zum letzten verteidigen.“2 Der englische Philosoph Bertrand Russell betonte: „Es ist ein wesentlicher Bestandteil der Demokratie, dass größere Gruppen, ja sogar Mehrheiten, Toleranz gegenüber abweichenden Gruppierungen üben, wie klein diese immer sein mögen und wie groß die Empörung der großen Gruppen und Mehrheiten auch sein mag. In einer Demokratie ist es notwendig, dass die Bürger lernen, solche Empörungen auszuhalten.“3 Ganz in diesem Sinne urteilen Verfassungsgerichte. So betont der Supreme Court der Vereinigten Staaten, dass „anstößige Rede“ über den 1. Zusatzartikel der Bill of Rights geschützt ist.4 Nichts anderes hören wir vom Bun-

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Vortrag gehalten im Wintersemester 2002 / 03 im Rahmen der vom Heidelberg Center for American Studies organisierten Vortragsreihe „Typisch amerikanisch“. Eine ausführlichere Fassung dieses Beitrags findet sich im Archiv des öffentlichen Rechts 128, 2003, S. 372 ff. Siehe auch den Aufsatz: Protection or Prohibition of Aggressive Speech? Arguments from the Liberal and Communitarian Perspectives, in: Paul van Seters (Hrsg.), Communitarianism in Law and Society, Lanham, MD 2006, S. 163 ff. Oft wird dies als wörtliches Zitat Voltaires angesehen. Simon Lee, The Cost of Free Speech, London 1990, S. 3, weist darauf hin, dass dies eine nachträgliche Zusammenfassung von Voltaires Philosophie ist. Zitiert in John Dewey / Horace M. Kallen (Hrsg.), The Bertrand Russell Case, New York 1941, S. 183, hier zitiert nach Harry M. Bracken, Freedom of Speech. Words Are Not Deeds, Westport, CT 1994, S. 32. Übersetzung von W.B. Vgl. generell zum Schutz von offensive speech Winfried Brugger, Einführung in das öffentliche Recht der USA, 2. Auflage München 2001, § 14 IV.

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desverfassungsgericht: Auch eine „überzogene oder gar ausfällige Kritik“ fällt unter die Meinungsfreiheit.5 Gilt dies auch noch, wenn es sich um Hassrede handelt? Um diese Frage beantworten zu können, ist zunächst näher auf den Begriff einzugehen. „Hate Speech“ umfasst „Äußerungen …, die geeignet sind, eine Person oder eine Gruppe zu beschimpfen, einzuschüchtern oder zu belästigen, sowie solche, die geeignet sind, zu Gewalt, Hass oder Diskriminierung aufzurufen.“ Grund für den Hass oder die Diskriminierung ist meist „Rasse, Religion, Geschlecht oder sexuelle Orientierung“.6 Deshalb wird das Thema Hassrede auch unter Rassenhetze behandelt. Zwar liefert diese Definition noch kein konkretes Anschauungsmaterial, das man offensichtlich braucht, um Hassrede von „normal“ anstößiger Rede zu unterscheiden, aber immerhin lässt sich so nachvollziehen, warum diese Art von Rede vielleicht keinen Schutz verdient: Warum sollte eine Rechtsordnung, die Bürger integrieren oder jedenfalls friedliche Zustände sichern will, Hass schützen? Hass schürt Unfrieden, kann zu Gewalt führen. Im Überblick betrachtet, lässt sich die Haltung aufgeklärter Rechtsstaaten und des Völkerrechts gegenüber Hassrede weder auf „immer geschützt“ noch auf „nie geschützt“ reduzieren. Vielmehr kommt das Recht ihr manchmal zu Hilfe, manchmal nicht. Aber im weltweiten Vergleich lassen sich zwei Staatengruppen ausmachen, die klare Akzente für und gegen Hassrede setzen.7 Das Verfassungsrecht der USA schützt hate speech fast immer, auch wenn solche Rede erhebliche Kosten für die Würde, Ehre oder Gleichheit der Angegriffenen oder die Zivilität der öffentlichen Auseinandersetzung und den öffentlichen Frieden mit sich bringt. Deutschland und die Mitgliedsstaaten des Europarats sowie das Völkerrecht sehen dagegen bei Hassrede eher Hass als Rede vorliegen und versagen Rede einen generellen Vorrang vor dem Schutz von Würde, Ehre, Gleichheit, Zivilität und öffentlichem Frieden. Es handelt sich bei diesen Unterschieden nicht um juristische Petitessen, sondern um gegensätzliche Legitimierungsstrategien im Systemvergleich von Staaten, die alle unter „demokratischer Rechtsstaat“ firmieren. Um die Differenzen zu illustrieren, benutze ich einen hypothetischen Fall, der aber, wie sich zeigen wird, nicht aus dem Nichts gegriffen ist. Nehmen wir an, wir sitzen eines schönen Nachmittags auf den Stufen des Kapitols in Washington, D.C. Plötzlich wird die Stille unterbrochen. Eine Demonstrantin hält ein Plakat in die Höhe und erhebt ihre Stimme: „Wacht auf, Ihr müden Massen. Ich verkünde Euch drei Botschaften, und Ihr tut gut daran, sie zur Kenntnis zu nehmen und zu billigen! Die erste Botschaft ist: Unser Präsident ist ein Schwein. Damit Ihr versteht, was ich sagen will, habe ich auf meinem Plakat zwei Bilder gemalt. Auf dem einen Bild seht Ihr unseren Präsidenten als Schwein, das mit einem anderen Schwein kopuliert; das zweite Schwein, wie leicht zu erkennen ist, trägt eine Richterrobe. Das andere Bild zur Veranschaulichung meiner Botschaft zeigt den Präsidenten in einer Toilette in einer erotischen Pose mit seiner Mutter. Die zweite Botschaft ist: Alle unsere Sol5 6 7

Vgl. BVerfGE 93, 266 (294). So Anja Zimmer, Hate Speech im Völkerrecht, Frankfurt a. M. u.a. 2001, S. 17 m.w.N. Nachweise bei Winfried Brugger, Constitutional Treatment of Hate Speech, in: Eibe Riedel (Hrsg.), Stocktaking in German Public Law, Baden-Baden 2002, S. 117 ff.

Schutz oder Verbot von Hassrede?

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daten sind Mörder! Die dritte Botschaft lautet: Schluss mit der Invasion und Überfremdung unseres Landes durch diese kriminellen Ausländer, die unsere Freiheit und unser Eigentum bedrohen und uns mit Drogen überschwemmen!“ Wären diese drei Botschaften grundrechtlich geschützt oder nicht? In den USA fallen alle diese Botschaften unter den Schutz der Redefreiheit und setzen sich auch gegenüber konkurrierenden Interessen durch. Die gleichen Worte, auf den Stufen des Reichstags in Berlin oder anderswo in Deutschland geäußert, wären Straftaten, und die Berufung auf die Meinungsfreiheit würde daran nichts ändern. Wo, wie und warum ergeben sich diese Unterschiede? DAS ANWENDBARE RECHT UND DIE ABWÄGUNGSREGELN DES BVerfG Das Grundgesetz enthält wie alle modernen Verfassungen ein Grundrecht der Redefreiheit. Art. 5 I formuliert: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten …“. Unter Meinung versteht das BVerfG Aussagen, die „durch die subjektive Beziehung des Einzelnen zum Inhalt seiner Aussage geprägt sind … Für sie ist das Element der Stellungnahme und des Dafürhaltens kennzeichnend … Insofern lassen sie sich auch nicht als wahr oder unwahr erweisen. [Es kommt nicht darauf an,] ob die Äußerung begründet oder grundlos, emotional oder rational ist, als wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos eingeschätzt wird … Eine Meinungsäußerung verliert den grundrechtlichen Schutz nicht dadurch, dass sie scharf oder verletzend formuliert ist …“.8 Das BVerfG weist wie der Supreme Court Argumente zurück, wonach Worte, die verletzen, schon gar nicht dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit unterfallen, sondern als (sozusagen tätliche) Attacke dem leichter einschränkbaren allgemeinen Freiheitsrecht zugeordnet werden. Während diese Zuordnung von verletzenden Worten zur Redefreiheit in Amerika aufgrund des generellen Vorrangs von jeder Art von Rede vor anderen Verfassungswerten in fast allen Fällen das Ergebnis vorherbestimmt, trifft in Deutschland eher das Gegenteil zu. Die stark meinungsfreiheitsfreundliche, ja gar libertär klingende Bestimmung des Schutzbereichs verspricht weit mehr, als sie hält, denn bei wirklich verletzenden, die Mehrheit empörenden Meinungsäußerungen wird über die einschlägigen Grundrechtsschranken ein Großteil dessen zurückgenommen, was vorher bei der Bestimmung des Schutzbereichs als grundsätzlich schutzwürdig eingestuft wurde. Exemplarisch soll dies anhand von zwei Normen dargestellt werden, die für die Lösung der drei Ausgangsfälle eine entscheidende Rolle spielen: Beleidigung und Volksverhetzung im deutschen Strafgesetzbuch. Der 14. Abschnitt im StGB befasst sich mit „Beleidigung“, wobei der Begriff in der Überschrift in einem weiteren Sinn zu verstehen ist als der engere § 185, der formuliert: „Die Beleidigung wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe … bestraft.“ Beleidigung im 8

BVerfGE 90, 241 (247).

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weiteren Sinn umfasst die §§ 185 bis 200 StGB, also etwa auch die Üble Nachrede des § 186 StGB und die Verleumdung des § 187 StGB, während die Beleidigung im engeren Sinn, also § 185 StGB, diese beiden Normen gerade ausschliesst. Geschützt ist in den Beleidigungsvorschriften die Ehre, die dem inneren oder allgemeinen Achtungsanspruch des Menschen einerseits, dem sozialen Geltungsanspruch des Menschen andererseits zukommt. Neben den die Ehre schützenden Vorschriften enthält das StGB im 7. Abschnitt „Straftaten gegen die öffentliche Ordnung“, von denen hier die Volksverhetzung des § 130 StGB behandelt wird, weil sie für die Bestrafung von Hassrede besonders illustrativ ist. Die Vorschrift sieht in Abs. 1 folgendes vor: „Wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, 1. zum Hass gegen Teile der Bevölkerung aufstachelt oder zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen gegen sie auffordert, oder 2. die Menschenwürde anderer dadurch angreift, dass er Teile der Bevölkerung beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.“ Abs. 2 bestraft mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe vergleichbare Schriften, die auf näher bestimmte Weise unter das Publikum gebracht werden. Dieser Absatz ist deshalb interessant, weil er durch den Bezug auf „nationale, rassische, religiöse und durch ihr Volkstum bezeichnete Gruppe[n]“ eine Konkretion der Definition von hate speech bereitstellt.9 Absatz 3 des § 130 StGB schließlich pönalisiert Auschwitz-Lügen jeder Art, die auch unter Hassrede fallen, hier aber nicht diskutiert werden. Diese Sanktionierungen von Hassrede in den §§ 185 ff. StGB und § 130 StGB sind von der Rechtsprechung als verfassungsgemäß eingestuft worden. Die verfassungsrechtliche Rechtfertigung kommt auf zwei Ebenen zustande: einer abstrakten und einer konkreten. Abstrakt verweist das BVerfG auf Verfassungsnormen, die ein Gegengewicht zur Meinungsfreiheit bilden und konkurrierende Interessen schützen. Im Vordergrund stehen der Schutz der Menschenwürde der durch Hassrede Angegriffenen (Art. 1 I), das Recht auf Persönlichkeitsentfaltung (Art. 2 I), die Gleichheit (Art. 3 I) und der Ehrenschutz der Attackierten sowie der Jugendschutz (Art. 5 II). Auf dieser abstrakten Ebene der Abwägung von Normen finden sich also deutliche Gegengewichte zu einer Verabsolutierung von Meinungsfreiheit. Hier ergibt sich ein erster Unterschied zur US-Verfassung. In dieser ist die Redefreiheit nicht einer von mehreren Grundrechtsartikeln, sondern in Anordnung und Wichtigkeit der erste Artikel der Bill of Rights. Ihn umgibt in Amerika die Aura, die bei uns die Menschenwürde in Anspruch nimmt, ja Menschenwürde wird von vielen als durch den aufrechten kommunikativen Gang konstituiert angesehen. Ferner enthält das First Amendment keine expliziten Schranken; das stärkt den Eindruck eines besonders wichtigen, gegenüber anderen Interessen vorrangigen Rechts. Schließlich gibt es keine ausdrückliche Verankerung der Menschenwürde und des Ehrenschutzes.10 Diese hervorgehobene Stellung des First Amendment will ich 9 Vgl. oben Fn. 6. 10 Ganz so einseitig ist das Bild freilich nicht. Grenzen der Meinungsfreiheit finden sich zwar nicht im Text des First Amendment, aber in der Rspr. des Supreme Court, worauf noch einzugehen sein wird. Rassische Gleichberechtigung ist ein Wert, den die amerikanische Verfassung

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durch ein Zitat aus einer Supreme Court-Entscheidung illustrieren. In West Virginia State Board of Education v. Barnette formulierte das Gericht wie folgt: “[If] there is any fixed star in our constitutional constellation, it is that no official, high or petty, can prescribe what shall be orthodox in politics, nationalism, religion, or other matters of opinion …”11 Was die konkrete Abwägung angeht, so hat das BVerfG fallgruppenbezogene Regeln entwickelt. „Danach beansprucht die Meinungsfreiheit keineswegs den Vorrang vor dem Persönlichkeitsschutz … Vielmehr geht bei Meinungsäußerungen, die als Formalbeleidigung oder Schmähung anzusehen sind, der Persönlichkeitsschutz der Meinungsfreiheit regelmäßig vor … Bei Meinungsäußerungen, die mit Tatsachenbehauptungen verbunden sind, kann die Schutzwürdigkeit vom Wahrheitsgehalt der ihnen zugrundeliegenden tatsächlichen Annahmen abhängen. Sind diese erwiesen unwahr, tritt die Meinungsfreiheit ebenfalls regelmäßig zurück … Im übrigen kommt es darauf an, welches Rechtsgut im Einzelfall den Vorzug verdient. Dabei ist aber zu beachten, dass in Fragen, die die Öffentlichkeit wesentlich berühren, eine Vermutung zugunsten der freien Rede spricht …“12 Auf dieser konkreten Ebene der Abwägung wird der Unterschied zwischen Deutschland und Amerika noch deutlicher. In den USA ist die Meinungsfreiheit in aller Regel, von ganz engen, noch anzusprechenden Ausnahmen abgesehen, das gegenüber anderen Interessen und Verfassungswerten vorrangige Recht – ein preferred right. In Deutschland dagegen sind Persönlichkeitsschutz und dahinter stehende Menschenwürde wichtiger. Bei deren Verletzung, bei Formalbeleidigung und Schmähung und unwahren Behauptungen tritt die Freiheit der Rede zurück. Trotzdem will das BVerfG nicht auf den traditionellen Sonderstatus von freier Rede verzichten, der sich in der Rhetorik aller demokratischen Rechtsstaaten wiederfindet. Den Ausweg findet das Gericht über die These, die Meinungsfreiheit sei zwar kein generell vorrangiges, aber doch ein speziell bedeutsames Grundrecht. In der Lüth-Entscheidung findet sich die grundlegende Formulierung: „Das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung ist als unmittelbarer Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit in der Gesellschaft eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt … Für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung ist es schlechthin konstituierend, denn es ermöglicht erst die ständige geistige Auseinandersetzung, den Kampf der Meinungen, der ihr Lebenselement ist … Es ist in gewissem Sinn die Grundlage jeder Freiheit überhaupt, ‚the matrix, the indispensable condition of nearly every other form of freedom’ (Cardozo).“13 Der spezielle Rang der Meinungsfreiheit wird also über eine duale Funktionsbestimmung abgesichert: Zum einen ist die Äußerung von Meinung konstitutiv für Menschsein und damit für jeden Menschen als solchen, unabhängig von einer Bewertung der Folgen, die die Äußerung für andere oder das Gemeinwesen hat. Zum anderen stellt das Gericht aber auch auf vor allem in den Zusatzartikeln 13 bis 15 unterstützt, und der 14. Zusatzartikel enthält ein allgemeines Gleichheitsrecht. 11 319 U.S. 624, 642 (1943). Diese Passage steht für die Botschaft: Der Staat hat sich in Bezug auf die Meinungsbildungsprozesse der Bürger neutral zu verhalten. 12 BVerfGE 90, 241 (248). 13 BVerfGE 7, 198 (208).

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die Folgen ab. Je nachdem, ob diese für das grundgesetzliche Gemeinwesen als demokratischer Rechtsstaat positiv oder negativ sind, ist an besonders starken oder weniger ausgeprägten Schutz für Rede zu denken. Am klarsten wird diese Überlegung im Fall öffentlichkeitsbedeutsamer, politischer Rede: Der Schutz solcher Rede ist historisch und systematisch der Kern von Meinungsfreiheit. Sie verdient besonders starken Schutz; amerikanisch gesprochen handelt es sich um high-value speech. Dogmatisch umgeformt führen diese Funktionsüberlegungen das BVerfG zu drei Folgen: Bei Einschränkungen der Meinungsfreiheit insbesondere über die Schranke der „allgemeinen Gesetze“ in Art. 5 II GG genügt nicht jedes „normale“ öffentliche Interesse; vielmehr müssen die Schranken „in ihrer das Grundrecht beschränkenden Wirkung ihrerseits im Lichte der Bedeutung dieses Grundrechts gesehen und so interpretiert werden, dass der besondere Wertgehalt dieses Rechts, der in der freiheitlichen Demokratie zu einer grundsätzlichen Vermutung für die Freiheit der Rede in allen Bereichen, namentlich aber im öffentlichen Leben, führen muss, auf jeden Fall gewahrt bleibt“.14 Zweitens setzt ein „allgemeines“ Gesetz in der Regel voraus, dass das Gesetz sich nicht gegen Meinung an sich oder eine spezielle Meinung richtet; allerdings ist solches „Sonderrecht gegen Meinung“ nicht immer ausgeschlossen. Ausnahmen hält das BVerfG für möglich, und unter diese Ausnahmen fallen die zahlreichen Sanktionen gegen Hassrede. Drittens müssen die Gerichte bei einer vom Staat sanktionierten Meinung eben dieser Meinung auch eine freiheitsfreundliche Interpretation zukommen lassen. Soweit eine Äußerung mehrere Deutungen zulässt, dürfen die Exekutivorgane und letztlich die Gerichte von der illegalen Bedeutungsvariante nur dann ausgehen, wenn sie zuvor andere, gleichfalls mögliche, legale Deutungen überzeugend augeschlossen haben.15 Im amerikanischen Verfassungsrecht werden diese drei Punkte aufgenommen, aber zugunsten der Meinungsfreiheit noch verschärft: Die Redefreiheit ist nicht nur ein „besonders wichtiges“, sondern ein in fast allen Fällen „vorrangiges“ Recht. Sonderrecht gegen Meinung hat demnach nicht nur eine gewisse verfassungsrechtliche Verdächtigkeit, die dann doch in nicht wenigen Fällen überwunden werden kann, wie in Deutschland. Vielmehr ist viewpoint discrimination wirklich verdächtig und führt in den USA in aller Regel zur Verfassungswidrigkeit. Nicht wenige Autoren bezeichnen solches Meinungssonderrecht (favoritism) als „Todsünde“, auch wenn diese mit bester Absicht begangen wird, nämlich um Hassrede zu eliminieren.16

14 BVerfGE 7, 198 (208). 15 Vgl. etwa BVerfGE 82, 272 (280 f.). 16 Vgl. Kathleen Sullivan, Freedom of Expression in the United States: Past and Present, in: Thomas R. Hensley (Hrsg.), The Boundaries of Freedom of Expression and Order in American Democracy, Kent, OH u.a. 2001, S. 1 (9): “[V]iewpoint discrimination by the government is the cardinal First Amendment sin, all the more when it is directed against political dissent … Under this approach, one may express any idea one wants as long as it remains on the side of the mind / body line, no matter how unpatriotic and no matter how far beyond the pale it might seem in civilized society.”

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ANALYSE STREITIGER FÄLLE Nach dieser Skizze der Dogmatik der Meinungsfreiheit in Deutschland und Amerika wende ich mich einschlägigen Fallgruppen zu. Beleidigung von einzelnen Personen Hassrede richtet sich meist gegen Kollektive oder Individuen als Mitglieder solcher Kollektive. Doch kann sich exzessive Kritik auch gegen einzelne Personen richten und nach deutschem Recht strafbar sein, wenn sie sich als Beleidigung im Sinne von § 185 StGB darstellt. Beleidigung ist nach herrschender Meinung ein illegaler Angriff auf die Ehre einer Person durch Kundgabe eigener Missachtung oder Nichtachtung. Der Begriff bekommt deutlichere Konturen, wenn man drei unterschiedliche Arten von Ehre unterscheidet, die Angriffspunkt verbaler Attacken werden können. (1) Im elementarsten Sinn umschreibt Ehre den Personstatus eines jeden Menschen. Respekt verdient jede Person, unabhängig davon, ob sie etwas leistet, wieviel sie leistet oder ob sie sich „etwas geleistet“ hat, etwa als Straftäter. Dies ist der Achtungsanspruch, der jedem Menschen gleichermaßen zukommt und dessen Kernschutz in Art. 1 I GG liegt. Verletzt ist diese Ebene von Ehre, und eine Beleidigung liegt vor, wenn einem Menschen durch eine Äußerung dieser elementare Achtungsanspruch bestritten wird. Im Zentrum stehen demnach verbale Attacken, die dem Angegriffenen den Menschenstatus bestreiten, etwa in Form von Behauptungen rassischer Über- und Unterlegenheit, oder wenn eine Person mit Tieren gleichgestellt und dadurch der Menschenwürdestatus bestritten wird. (2) Die zweite Ebene von Ehre bezieht sich auf die Bewahrung und den Schutz von Minimalanforderungen im gegenseitigen Umgang. Hier geht es um elementare zivile Umgangsformen sowie um die Beachtung sozialer Rollen und Stellungen durch entsprechende Kommunikationsformen, ohne dass man wirklich meinen muss, was man sagt. Kernpunkt ist der soziale Achtungsanspruch, der verfassungsrechtlich vor allem im Persönlichkeitsrecht des Art. 2 I GG angesiedelt ist. Dieser soziale Achtungsanspruch kann verletzt sein und eine Beleidigung i.S.d. § 185 StGB liegt vor, wenn abwertende Urteile ausgesprochen oder Charaktermängel vorgeworfen werden. Beispiele sind etwa der als „Scheißbulle“ titulierte Polizist oder das als „Lump“ und „Idiot“ bezeichnete Gegenüber. (3) Die dritte Ebene von Ehre kommt dann ins Spiel, wenn Tatsachen behauptet werden, die den sozialen Geltungsanspruch, die Reputation des Angegriffenen dadurch beeinträchtigen, dass die Umwelt oder ein Teil derselben vor dem Hintergrund einer solchen Behauptung „mit so einer Person“ nichts mehr zu tun haben oder keine Geschäfte mehr abschließen will. Verfassungsrechtlich geht es ebenfalls um das Persönlichkeitsrecht des Art. 2 I GG; im Hintergrund steht in den Fällen, in

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denen Ansehen und Einkommen verknüpft sind, Art. 12 GG, das Grundrecht auf ungehinderte berufliche Entfaltung und Gelderwerb. Strafrechtlich wird hier der Schritt getan vom § 185 StGB, der solche schädlichen Tatsachenbehauptungen nur zwischen Äußerer und Angesprochenem umfasst, zu den §§ 186 und 187 StGB, die solche Behauptungen als Beleidigung im weiteren Sinn unter Strafe stellen, nämlich als Üble Nachrede oder Verleumdung. Diese liegen etwa vor, wenn jemandem nachgesagt wird, er habe eine Straftat oder schlimme moralische Verfehlungen begangen. Damit kommen wir zum ersten Ausgangsfall. Dort hatte die Demonstrantin den Präsidenten ein Schwein genannt und zur Veranschaulichung ein Plakat gemalt, auf dem zum einen der Präsident als Schwein dargestellt war, das mit einem anderen Schwein in der Robe der Justiz kopulierte; zum anderen wurde der Präsident auf der Toilette in einer erotischen Pose mit seiner Mutter dargestellt. Die Bezeichnung als Schwein und das erstgenannte Bild deuten evident auf eine öffentlichkeitsbedeutsame und politische Problematik hin. Auch ohne genauere Untersuchung des Vorfalls weiß man: Dem Präsidenten wird eine Manipulation der Justiz vorgeworfen oder zugetraut. Solche Kritik zu schützen, ist das Kernanliegen der Meinungsfreiheit. Als öffentlichkeitsbedeutsame Äußerung sollte diese Äußerung stark geschützt sein, und nach amerikanischer Auffassung wäre sie dies auch; sie würde sich gegen den Achtungsanspruch des Präsidenten durchsetzen. Anders jedoch das BVerfG in dem Franz-Josef-Strauß-Karikaturfall, der den realen Hintergrund des hypothetischen Falles bildet. Das BVerfG sieht in diesem Fall eine nicht geschützte Schmähkritik vorliegen. In den Worten des Gerichts: „Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass für Karikaturen Übertreibungen ‚strukturtypisch’ sind und Personen, die … im öffentlichen Leben stehen, in verstärktem Maße Zielscheibe öffentlicher, auch satirischer Kritik sind, überschreiten die Darstellungen bei weitem die Grenze des Zumutbaren … Dem Beschwerdeführer ging es … anders als in den üblichen Darstellungen nicht nur darum, bestimmte Charakterzüge oder die Physiognomie eines Menschen durch die Tiergestalt zu kennzeichnen oder zu überspitzen, beabsichtigt war offenkundig ein Angriff auf die personale Würde des Karikierten. Nicht seine menschlichen Züge, seine persönlichen Eigenarten, sollten dem Betrachter durch die gewählte Verfremdung nahegebracht werden. Vielmehr sollte gezeigt werden, dass er ausgesprochen ‚tierische’ Wesenszüge habe und sich entsprechend benehme. Gerade die Darstellung sexuellen Verhaltens, das beim Menschen auch heute noch zum schutzwürdigen Kern seines Intimlebens gehört, sollte den Betroffenen als Person entwerten, ihn seiner Würde als Mensch entkleiden. Damit missachtet der Beschwerdeführer ihn in einer Weise, die eine Rechtsordnung, welche die Würde des Menschen als obersten Wert anerkennt, missbilligen muss.“17 Wenn wir diesem Ergebnis des BVerfG folgen, dann wäre auch die zweite Zeichnung der Demonstrantin eine strafbare Beleidigung. Anders sähe dies der amerikanische Supreme Court, wie der Fall Hustler Magazine v. Falwell zu erken-

17 BVerfGE 75, 369 (379 f.).

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nen gibt, der Pate für den fiktiven Fall gestanden hat.18 Dort hatte ein Untergericht dem Kläger Jerry Falwell, einem Fernsehprediger und damit einer Person zwar nicht der Politik, aber des öffentlichen Lebens, ein hohes Schmerzensgeld zugesprochen für die vorsätzliche Zufügung seelischer Leiden („intentional infliction of emotional distress“) durch das Hustler Magazine. Diese im Umfang stark umstrittene Anspruchsgrundlage baut nicht auf der Behauptung und dem Nachweis falscher Tatsachenbehauptungen auf, sondern auf der Tatsache, dass manche Worte wirklich verletzen – das Gericht hatte der Parodie nicht die Behauptung unterstellt, Jerry Falwell hätte tatsächlich sexuelle Beziehungen mit seiner Mutter gepflegt. Das Urteil wurde vom Supreme Court aber aufgehoben. Das Oberste Gericht sah mit der Vorinstanz keine Tatsachenbehauptung vorliegen, die zu einer Verurteilung als „Diffamierung“ (defamation) hätte führen können, sondern ein krasses, exzessives Werturteil. Die Karikaturisten trauten offenbar – dem Strauß-Fall ähnlich – Jerry Falwell alles Mögliche zu und hielten gar nichts von seinem Charakter und seinen Predigten zur Sexualmoral. Solche Urteile darf man nach dem Supreme Court äußern, jedenfalls gegenüber in der Öffentlichkeit stehenden Personen. Deren Ehrenschutz setzt sich gegenüber exzessiver Kritik, auch Schmähkritik, nicht durch, vielmehr muss die öffentliche Auseinandersetzung offen und robust geführt werden können, damit ja keine möglicherweise relevante Kritik aus dem Markplatz der Meinungen ausgeschlossen wird. Grenze ist nur defamation im Sinne der Fallgruppe (3) des deutschen Ehrschutzsystems. Die deutschen Ehrfallgruppen (1) menschlicher Achtungsanspruch an sich und (2) sozialer Geltungsanspruch gegenüber überzogenen (aber ohne tatsächliche Grundlage aufgestellten) Werturteilen gibt es in den USA nicht oder jedenfalls nur in marginaler Ausprägung.19 Wie die beiden Vergleichsfälle belegen, ergeben sich die Differenzen zwischen Deutschland und Amerika vor allem bei stark negativen Werturteilen anderen gegenüber, die den Angegriffenen wirklich treffen. Textlich lässt sich diese Differenz mit der schon erwähnten Tatsache erklären, dass das Grundgesetz, anders als die US-Verfassung, in der Abwägung zwischen Meinungsäußerung und Ehre bzw. Würde deutlichere Akzente auf die letztgenannten Positionen setzt. Historisch sieht sich das deutsche Verfassungsrecht durch den Nationalsozialismus gerechtfertigt oder gar genötigt, dem Schutz der Menschenwürde besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Kulturell schließlich baut Deutschland auf einer Tradition auf, die Elementarbestandteile von Zivilität im gegenseitigen Umgang nicht nur gesellschaftlich schätzt und verfassungsrechtlich hochhält, sondern zur Vermeidung von Verlet18 Vgl. 485 U.S. 46 (1988). 19 Ausnahmen betreffen aggressive oder sexuelle Rede am Arbeitsplatz, die zur Einschüchterung der Attackierten führt, oder ernsthafte Drohungen mit Gewalt. Versuche, an Universitäten hate speech codes zu etablieren, sind zum großen Teil gescheitert. Zum Schutz selbst nationalsozialistischer Propaganda siehe Collin v. Smith, 578 F.2nd 1197 (1978). Anders als hate speech können hate crimes streng, ja strenger als sonstige Straftaten bestraft werden, vgl. Brugger, Einführung, S. 175. Letzteres mag deutschen Juristen inkonsequent erscheinen, lässt sich aber auf die für Amerika grundlegende Differenz zwischen Rede und Handlung (speech versus conduct) zurückführen, vgl. oben Fn. 16.

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zungsfällen auch strafrechtlich sanktioniert. Man könnte auch sagen: Deutschland benutzt das Strafrecht, um die äußere Zivilität des Umgangs vorsorglich hochzuzonen, etwa im Sinne der Maxime: Jeder Bürger in Ansätzen ein Aristokrat mit den entsprechenden Umgangsformen, auch wenn durch diese staatlich durchgesetzte Zivilität in einigen wenigen oder auch zahlreichen Fällen die Offenheit und Robustheit kommunikativer Auseinandersetzung leidet. Auf der Strecke bleibt manchmal oder auch öfter die Spontaneität der Auseinandersetzung, und weniger Gebildete oder Disziplinierte haben eher das Nachsehen – ein Gleichheitsverstoß gegenüber dem „einfachen Volk“? Zudem wird die Ernsthaftigkeit der traditionellen Behauptung, das Strafrecht sei nur „ultima ratio“, relativiert. In den USA hält sich das Recht aus solchen Zivilitätskonflikten heraus. Diese Konflikte sollen in der Gesellschaft und nicht per Staatsgewalt gelöst werden. Man könnte auch sagen: Das Recht zont nicht hoch, sondern herunter: Jeder hat das Recht, grob zu sein. Das bringt zwar Kosten für soziale und manchmal auch allgemein-menschliche Achtungsansprüche mit sich, soweit nicht gesellschaftliche Normen Zivilität durchsetzen, verbürgt aber andererseits, dass keine möglicherweise bedeutsame Meinung verloren geht. Implizit mutet das Recht und muten die Gerichte der Öffentlichkeit auch zu, zwischen „dem Rechten“ im Sinne des Moral und Sittlichkeit Entsprechenden, und „dem Recht“ zu unterscheiden; nicht alles, was man tun darf, sollte man auch tun. Zudem sind die Gerichte in weit weniger Fällen als in Deutschland gezwungen, sich in das oft unentwirrbare und unvorhersehbare Dickicht von Auseinandersetzungen zwischen Ehransprüchen und Äußerungsrechten zu begeben. Solche Auseinandersetzungen um den zwischen den Bürgern erwartbaren Respekt nehmen in multikulturellen Gesellschaften noch zu. Die amerikanische Antwort auf diese Entwicklung ist: Das müssen die Mitglieder dieser Gruppen und auch diese Gruppen selbst unter sich ausmachen; das Recht hält sich in aller Regel zurück. Das deutsche Ehrenrecht dagegen mischt sich ein und will mit dem Strafrecht Ehrverletzungen vielgestaltiger Art abschrecken und notfalls auch bestrafen. Kollektivbeleidigung Kollektivbeleidigung kann in Deutschland nach den §§ 185 ff. StGB bestraft werden, aber auch unter den Volksverhetzungsparagraphen fallen. Personenmehrheiten sind unter bestimmten Voraussetzungen beleidigungsfähig. Hier interessiert vor allem die Kollektivbeleidigung im weiteren Sinn der „Sammelbeleidigung“. Diese ist im Grunde eine Ansammlung von vielen Individualbeleidigungen, bei der die Ehre eines jeden unter der Sammelbezeichnung angegriffen wird. Es muss aber wirklich eine Attacke auf die persönliche Ehre eines jeden vorliegen, und nicht nur mancher, vieler oder typischer Vertreter der Gruppe, weil es ansonsten bei der Beleidigung von einzelnen unter einer Kollektiv- oder Sammelbezeichnung an der Bestimmbarkeit und Individualisierbarkeit des Ehrangriffs fehlt. Umgesetzt auf die Strafrechtsdogmatik führt dies zu der Anforderung, dass die Gruppe von der Allge-

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meinheit deutlich abgegrenzt sein muss, was in der Regel nur bei Minderheitsgruppen der Fall sein dürfte. Das führt zum zweiten Ausgangsfall, in dem die Demonstrantin „Alle unsere Soldaten sind Mörder“ verkündet hatte. Liegt darin eine strafbare Kollektivbeleidigung, die von der Meinungsfreiheit nicht abgedeckt ist? Der Ausgangsfall ist dem realen Soldaten-sind-Mörder-Fall20 ähnlich, weicht aber in einem Detail ab: Nicht „Soldaten sind Mörder“ ist die Botschaft, sondern „Alle unsere Soldaten sind Mörder“. Das kann nach der Rechtsprechung des BVerfG den entscheidenden Unterschied machen. In dem realen Fall hatte das BVerfG die Verfassungsmäßigkeit einer Kollektivbeleidigung unter anderem mit dem Argument verneint, bei „Soldaten sind Mörder“ sei nicht klar, ob nur und ob alle Soldaten der Bundeswehr oder ob auch andere Soldaten, vielleicht sogar alle Soldaten der Welt gemeint gewesen seien. Zur Individualisierung einer Kollektivbeleidigung bedürfe es aber der in dem Fall nicht vorhandenen bzw. vom Strafgericht nicht überzeugend nachgewiesenen Spezifizierung der Attackierten. In meinem Ausgangsfall wird dieser Zweifel durch die Formulierung „Alle unsere Soldaten“ beseitigt. Dann gälte nach der Rechtsprechung des BVerfG, dass „die Strafgerichte von Verfassungs wegen nicht gehindert [wären], in den (aktiven) Soldaten der Bundeswehr eine hinreichend überschaubare Gruppe zu sehen, so dass eine auf sie bezogene Äußerung auch jeden einzelnen Angehörigen der Bundeswehr kränken kann, wenn sie an ein Merkmal anknüpft, das ersichtlich oder zumindest typisch auf alle Mitglieder des Kollektivs zutrifft.“21 In den USA könnte die Aussage „Alle unsere Soldaten sind Mörder“ nicht als Kollektivbeleidigung bestraft werden. Die Begründung wäre ziemlich einfach: Zum ersten wird nur defamation vom Schutz der Redefreiheit ausgenommen, was in diesem Fall die faktische Behauptung voraussetzt, dass eine bestimmte Person „Mord“ oder vielleicht noch „Totschlag“ begangen hat; die bloße Behauptung, das Soldatengeschäft liege moralisch auf der gleichen Stufe wie Töten oder Morden, würde nicht ausreichen. Ferner existiert in den USA die Kategorie der Kollektivbeleidigung nicht, es müssten wirklich einzelne Personen auftreten, die vergleichbar den §§ 186 und 187 StGB „diffamiert“ worden sind. Das Fehlen der Kategorie Kollektivbeleidigung in den USA wird auch illustriert durch einen vergleichenden Blick auf die Volksverhetzung in § 130 StGB. Diese Strafvorschrift, die „Teile der Bevölkerung“ (Abs. 1) oder nationale, rassische, religiöse oder durch das Volkstum bestimmte Gruppen (Abs. 2) vor näher bezeichneten rhetorischen Attacken schützen soll, hat starke Ähnlichkeiten mit der Kollektivbeleidigung der §§ 185 ff., doch ist das geschützte Rechtsgut letztlich ein anderes: der öffentliche Friede. Es soll ein Volksverhetzungsklima verhindert werden, das Volksverhetzungsstraftaten fördert. Oder englisch gesagt: Die Vorschrift geht davon aus, dass hate speech zu hate crimes führen kann, und will diese Gefahr einer Gefahr mindern. Es handelt sich um ein abstraktes Gefährdungsdelikt, das, strafrechtlich gesprochen, deutlich vor der drohenden Straftat oder deren Anstiftung liegt. 20 BVerfGE 93, 266. 21 Ebd., 302.

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Diese Vorschrift stellt eine weitreichende Einschränkung der Redefreiheit dar, soweit eine Äußerung aggressive Züge hat und gegen Gruppen gerichtet ist. Im Grunde ist § 130 StGB ein Strafrechtsschwert zur Kontrolle der politischen Wetterlage, ein Klimadelikt. Nach amerikanischer Ansicht liegt in solcher „Meinungsdiskriminierung“ die Todsünde in bezug auf die Respektierung von Redefreiheit. Seit langem geht der Supreme Court davon aus, aggressive Äußerungen gegen Individuen wie Kollektive könnten nur dann kriminalisiert werden, wenn sie zu der klaren und gegenwärtigen Gefahr eines illegalen Aktes führten – einer clear and present danger, oder wenn die Äußerung in der konkreten Situation den Umschlag von Wort zu Tätlichkeit erwarten lässt (fighting words). In neueren Entscheidungen sagt das Gericht, der Staat dürfe die allgemeine Befürwortung von Gewalt oder Illegalität nur dann kriminalisieren, wenn „such advocacy is directed to inciting or producing imminent lawless action, and is likely to incite or produce such action“.22 Nach dieser Rechtsprechung wären große Teile des § 130 StGB verfassungswidrig. Damit komme ich zur dritten Botschaft unserer Demonstrantin, die einem amerikanischen Fall nachempfunden ist: „Schluss mit der Invasion unseres Landes durch diese kriminellen Ausländer, die unsere Freiheit und unser Eigentum bedrohen und uns mit Drogen überschwemmen.“ Diese Botschaft wäre in den USA verfassungsrechtlich geschützt, in Deutschland dagegen nicht geschützt, sondern kriminalisiert als Volksverhetzung nach § 130 I StGB.23 Zwar sind bei uns sachliche Berichterstattungen über die Kriminalität von bestimmten Teilen der Bevölkerung erlaubt, selbst wenn sie geeignet sind, ein feindseliges Klima gegen bestimmte Gruppen zu schaffen oder zu verstärken, und insgeheim vielleicht sogar in böser Absicht erfolgen. Aber „sachlich“ in dem hiermit vorausgesetzten Sinn war die Kritik nicht, sondern pauschal und nach deutscher Rechtsprechung diffamierend24, weil sie Teile der Gruppen generell mit den genannten Gruppen gleichstellt und mit dem Makel des Straftäters und Drogenhändlers versieht.

22 Sogenannter Brandenburg-Test, nach Brandenburg v. Ohio, 395 U.S. 444 (1969). Es handelt sich um eine Variante des zuvor genannten clear and present danger test. 23 Eventuell kommt auch eine Strafbarkeit nach den §§ 185 und 186 StGB in Form der Kollektivbeleidigung in Betracht. 24 Vgl. Herbert Tröndle u. Thomas Fischer, StGB, 50. Auflage München 2001, § 130 Rn. 11: „Gemeint ist [mit Aufstacheln zum Hass] … ausländerfeindliche Propaganda in Form von pauschalen Diffamierungen und Diskriminierungen.“

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ZUM UNTERSCHIEDLICHEN KULTURELLEN HINTERGRUND IN DEUTSCHLAND UND DEN USA Welche Überlegungen stehen hinter der Rechtsprechung der USA, die dem deutschen Rechtsverständnis deutlich widerspricht? Mehrere Gründe lassen sich anführen: Erstens gehen die Amerikaner davon aus, dass in einem Wettbewerb von Meinungen oder Tatsachenbehauptungen die „guten“ Meinungen und „wahren“ Behauptungen sich gegenüber den „schlechten“ Meinungen und „unwahren“ Behauptungen durchsetzen werden, während in Deutschland der kollektive Instinkt entgegengesetzt ist. Etwas überspitzt, aber in der Sache durchaus treffend formuliert: Die Schreckgespenster der Volksverhetzung in Deutschland heißen Pogrom, Massaker und Genozid. Der Kontrast wird anhand der Botschaft 3 unserer Demonstrantin deutlich: Wenn die Behauptungen über die Kriminalitätsraten von Ausländern und deren Lebensführung nicht stimmen, wird sich das nach der amerikanischen Auffassung zur Redefreiheit im Laufe einer offenen Diskussion schon herausstellen. Ein solches Ergebnis, wenngleich über verbale Attacken erkauft, ist nach US-Sicht letztlich integrativer als das in Deutschland schnell gezückte Strafrechtsschwert. Und soweit die Daten stimmen oder lediglich übertrieben sind, wird in vielleicht überzogener Wertung jedenfalls ein öffentlich bedeutsames Problem diskutiert; das muss in einer freiheitlichen Demokatie möglich sein. Zweitens haben Amerikaner mit dieser Art von aggressiver Rede nicht nur schlechte, sondern auch positive, befreiende Erfahrungen gemacht: Es sind ja schließlich nicht nur Mehrheiten oder von der Mehrheit unterstützte oder geduldete Minderheiten, die gegen andere Gruppen hetzen, sondern unterdrückte Minderheiten haben über eine expansive Sicht der Meinungsfreiheit ebenfalls die Möglichkeit, auf ihre Probleme mit drastischen Worten hinzuweisen. Das ist in den USA etwa während der Bürgerrechtsbewegung oder während des Vietnam-Kriegs auch geschehen. In Deutschland dagegen wird Hassrede nur von möglichen negativen Folgen her gesehen. Drittens bewegt Amerikaner ein tiefgreifendes Misstrauen gegen die Staatsorgane, denen sie im Zweifel nicht zutrauen, in jedem Fall oder jedenfalls langfristig „gute“ von „schlechten“ Meinungen abzugrenzen; solche Differenzierungen sollten besser in der Gesellschaft zwischen allen Gruppen herausgefunden werden. Deutschland dagegen ist, trotz der schlechten Erfahrungen in der jüngeren Vergangenheit, weit staatsvertrauender. Ein etatistischer Grundton in Dur herrscht vor. Das drückt sich in der schon angesprochenen unterschiedlichen Behandlung von „Sonderrecht gegen Meinung“ aus: Während „Meinungsdiskriminierung“ jeder Art, auch gutmeinender Art, in den USA eine verfassungsrechtliche Todsünde darstellt, ist solches Sonderrecht in Deutschland gegenüber „bösen Meinungen“ durchaus akzeptabel, wie die Verfassungsmäßigkeit der Normen gegen Hassrede zeigt. Schließlich führt – viertens – in Amerika der stärkere Schutz von Meinungsfreiheit gegenüber Ehre und Würde dazu, dass im Zweifel bei Hass-Rede die Amerikaner mehr auf Rede – das sachliche Anliegen – schauen, und die damit verbundene

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Aggression als notwendiges Übel, oft als psychologisch verständliches Anzeichen der Empörung, in Kauf nehmen. Es gilt die Maxime: Urteilen ist mit Fühlen verbunden, und starke Beurteilungen führen tendenziell zu intensiven Gefühlen – auch von Empörung, Ablehnung und Hass. Das ist nach amerikanischer Sicht der Preis der Freiheit, den alle zu zahlen haben: aufrechter Gang in der öffentlichen Auseinandersetzung, in Rede und Gegenrede, und Abwehr eines Betroffenheitskults, in dem die Rolle des Opfers und anschließenden Klägers attraktiver erscheinen mag als diejenige des aktiven Streiters um die Achtung, die man für sich und seine Bezugsgruppe einfordert. Deutschland dagegen schaut bei Hass-Rede eher auf das Hasselement und will dieses zugunsten eines expansiven Ehren- und Würdeschutzes eliminieren, auch auf Kosten einer Beschränkung öffentlichkeitsbedeutsamer Kritik.

STAAT UND MARKT – DIE VEREINIGTEN STAATEN VON AMERIKA UND EUROPA IM VERGLEICH Manfred G. Schmidt Die Vereinigten Staaten von Amerika1 und Europa2 haben vieles gemeinsam: Sie sind wohlhabende, marktwirtschaftliche, verfassungsstaatliche und demokratisch verfasste Länder und gehören zu den Staaten, die untereinander nicht Krieg führen. Doch nicht nur Gemeinsamkeiten prägen Amerika und Europa, sondern auch große Unterschiede. Amerika ist, gemessen an seiner Pro-Kopf-Wirtschaftskraft, besonders reich, Europa hingegen im Durchschnitt wohlhabend, aber nicht so reich wie die USA.3 Hinzu kommen politische Unterschiede.4 Die Vereinigten Staaten von Amerika sind eine der ältesten Demokratien, Europa hingegen besteht aus teils älteren, teils jüngeren Demokratien. Auch die Demokratieform ist unterschiedlich: Amerika ist das Paradebeispiel des präsidentiellen Regierungssystems mit relativ schwachen Parteien und Mehrheitswahlrecht. Die meisten europäischen Demokratien hingegen haben parlamentarische Regierungssysteme mit starken Parteien, ja mit ausgebautem „Parteienstaats“-Charakter, und Verhältniswahlsystem. Zudem sind die USA das Land der vielen checks and balances: Zügelung der Macht, Machtaufteilung, wechselseitiges In-Schach-Halten sind die Markenzeichen der politischen Institutionen Amerikas. In Europa gibt es das auch, insbesondere im Machtaufteilungsstaat der Bundesrepublik Deutschland5, aber in Europa ist der Einheitsstaat häufiger und der Zentralisierungsgrad der Staatsorganisation größer. 1 2

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Soweit nicht anders ausgewiesen, werden im Folgenden die Vereinigten Staaten abkürzend als „Amerika“ bezeichnet. Im Besonderen die „EU-15“, die EU-Mitgliedstaaten vor der Osterweiterung der Europäischen Union (EU), die in diesem Beitrag der besseren Vergleichbarkeit mit den USA halber im Mittelpunkt stehen. Die „EU-15“ umfassen Belgien, die Bundesrepublik Deutschland, Dänemark, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Österreich, Portugal, Spanien, Schweden und das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland. Wenn in diesem Kapitel von „Europa“ gesprochen wird, sind, sofern nichts anderes erwähnt wird, die „EU-15“ gemeint. Im Zuge der Osterweiterung wurde die EU erheblich heterogener. Entsprechend größer ist in der erweiterten EU die Binnen-Varianz – und mitunter ist diese größer als die Differenz zwischen den USA und Europa insgesamt; vgl. Jens Alber, Das „europäische Sozialmodell“ und die USA, in: Leviathan 34 / 2, 2006, S. 208–233. Hinsichtlich der Staat-Markt-Arbeitsteilung, die im Folgenden im Zentrum steht, sind die Hauptergebnisse dieses Beitrages jedoch im Wesentlichen auch auf die Gesamtheit der Mitgliedsstaaten der osterweiterten EU übertragbar. OECD in Figures 2006–2007, Paris 2006, S. 12 f. Arend Lijphart, Patterns of Democracy. Government Forms and Performance in Thirty-Six Countries, New Haven, London 1999; Gabriel A. Almond, G. Bingham Powell Jr., Kaare Strom u. Russell J. Dalton, Comparative Politics Today. A World View, 9. Aufl. New York u.a. 2008; Josep M. Colomer (Hrsg.), Political Institutions in Europe, 3. Aufl. London 2008. Manfred G. Schmidt, Das politische System Deutschlands. Institutionen, Willensbildung und

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Auch das Verbändewesen und die Parteienlandschaft unterscheiden Europa von Amerika. In Europa wirken hochorganisierte, meist politisch einflussreiche Gewerkschaften, die bis über 90% der Beschäftigten in ihren Reihen zählen, so in Schweden. Die amerikanischen Gewerkschaften hingegen mobilisieren nur eine Minderheit der Arbeitnehmerschaft, und haben mit 14% nach Korea die niedrigste Organisationsdichte in der gesamten OECD-Welt.6 Europa ist zudem die Region mit den vielen staatsfreundlichen politischen Parteien – unter ihnen sozialistische, sozialdemokratische, christdemokratische und grüne Gruppierungen. Amerika kennt solche Parteien nicht – doch dafür besitzt es zwei pragmatische marktfreundliche Parteien. Entsprechend unterschiedlich ist die parteipolitische Färbung der Regierungen. In Europa sind Regierungen mit überwiegend sozialdemokratischer oder christdemokratischer Färbung gang und gäbe, in Amerika hingen wechseln sich mehr oder minder marktfreundliche Regierungen an der Macht ab. DIE ARBEITSTEILUNG ZWISCHEN STAAT UND MARKT IN AMERIKA UND EUROPA: DIE STAATSQUOTE IM VERGLEICH Überdies unterscheidet die Arbeitsteilung zwischen Staat und Markt Europa von Amerika. Amerika legt seit Anfang an und bis auf den heutigen Tag in der Regel mehr Wert auf einen schlanken Staat, eine starke Marktwirtschaft und großen Spielraum für sonstige private oder bürgerschaftlich-assoziative Tätigkeiten.7 In den meisten europäischen Ländern hingegen setzt die große Mehrheit der Bürger und der Politiker auf einen relativ starken, insbesondere in der Daseinsvorsorge präsenten Staat und steht in kritischer Distanz zur Marktwirtschaft. Die Arbeitsteilung zwischen Staat und Markt wird im Folgenden anhand eines besonders aussagekräftigen Indikators erfasst werden, nämlich anhand der Staatsquote, dem Anteil aller öffentlichen Ausgaben am Bruttoinlandsprodukt.8 Die Staatsquote ist im Zuge der Industrialisierung, der Urbanisierung und der Demokratisierung kräftig gewachsen, aber in Amerika erheblich langsamer als in Europa. Um 1870 lag die Staatsquote in den USA bei nur 4%, in Schweden bei 6% und in Deutschland bei 10%. 1937, zwei Jahre vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, betrug die Staatsquote in den USA 9%, in Schweden 10% und in Deutschland, wo der an

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Politikfelder, München 2007. Employment Outlook 2004, Paris 2004, S. 145. Manfred G. Schmidt, Wohlfahrtsstaatliche Politik unter bürgerlichen und sozialdemokratischen Regierungen. Ein internationaler Vergleich, Frankfurt a. M., New York 1982; Francis G. Castles, Comparative Public Policy. Patterns of Post-war Transformation, Cheltenham-Northampton, MA 1998; ders. (Hrsg.), The Disappearing State? Retrenchment Realities in an Age of Globalisation, Cheltenham-Northampton, MA 2007; Detlef Junker, Wilfried Mausbach u. Martin Thunert (Hrsg.), State and Market in a Globalized World. Transatlantic Perspectives, Heidelberg 2009. Ergänzend kommen Indikatoren des regulativen Staates in Frage, vgl. Nico A. Siegel, Moving beyond expenditure accounts: the changing contours of the regulatory state, 1980–2003, in: . Castles, Disappearing State, S. 245–272.

Staat und Markt – die Vereinigten Staaten von Amerika und Europa im Vergleich

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die Macht gelangte Nationalsozialismus für den Krieg rüstete, schon 42 Prozent.9 Fast 70 Jahre später, im Jahr 2005, war die Staatsquote in den USA bei 36,4% angelangt, in Deutschland bei 46,7% und in Schweden bei 56,6 Prozent. Und in den EU15-Staaten lag die Staatsquote 2005 im Durchschnitt bei 47,1 Prozent.10 In Kriegszeiten hat die Staatsquote sogar noch viel höhere Werte erreicht.11 Big government kennzeichnet demnach auch Amerika. Manche Kritiker, wie Joseph Schumpeter, haben daraus geschlossen, dass Amerika wie Europa auf dem „March into Socialism“12 unterwegs sei. Das war übertrieben. Aber unverkennbar schlugen Amerika und mehr noch die europäischen Staaten einen Weg ein, der im Großen und Ganzen mit dem Gesetz des wachsenden Staatsbedarfs, das Adolph Wagner (1835–1915), ein Nationalökonom im kaiserlichen Deutschland, begründet hatte, übereinstimmte. Wagner zufolge wachsen Umfang und relative Größenordnung der Staatsaufgaben und des hierfür erforderlichen Finanzaufwands mit zunehmender Industrialisierung, Urbanisierung und Technikentwicklung. Hierdurch werde der „Rechts- und Machtzweck“ des Staates zunehmend vom „Cultur- und Wohlfahrtszweck“ ergänzt, so Wagner beifällig, denn er gehörte zu den Konservativen, die für einen sozialpolitisch engagierten Staat eintraten.13 Allerdings sind auch die amerikanischen und die europäischen Abweichungen vom Wagner’schen Gesetz berichtenswert. Denn relativ zum Stand der wirtschaftlichen Entwicklung, insbesondere zum preisbereinigten Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt, erreicht die Staatsquote in Amerika (und im Übrigen auch die der meisten anderen englischsprachigen Industriestaaten) nur unterdurchschnittliche Werte. In Nordeuropa hingegen sorgte die Regierungspolitik insbesondere der sozialdemokratischen Regierungsparteien seit den 1960er Jahren für den Auf- und Ausbau einer überdurchschnittlich hohen Staatsquote – relativ zum Stand der ökonomischen Entwicklung. Und nur in den kontinentaleuropäischen Staaten, insbesondere in Deutschland, folgt die Staatsquote in Friedenszeiten in etwa einem Trend, der dem Wagner’schen Gesetz in großem Maße entspricht.14

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Vito Tanzi, Policies, Institutions and the Dark Side of Economics, Cheltenham-Northampton, MA 2000, S. 34. OECD in Figures 2006–2007, Paris 2006, S. 58 f. Allein die amerikanischen Bundesausgaben beliefen sich in der ersten Hälfte der 1940er Jahre auf 45 Prozent. Vgl. David McKay, American Politics and Society, 5. Aufl. London 2001. Joseph A. Schumpeter, The March into Socialism, in: ders., Capitalism, Socialism and Democracy, London, New York 1996 (1949), S. 421–433. Adolph Wagner, Staat (in nationalökonomischer Hinsicht), in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. 7, Jena 1911, S. 727–739. Manfred G. Schmidt, Staat und Markt in den demokratischen Industrieländern, in: Spektrum der Wissenschaft, 1996 / 11, S. 36–44.

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QUELLEN DER UNTERSCHIEDLICHEN STAAT-MARKT-ARBEITSTEILUNG IN AMERIKA UND EUROPA Warum variiert die Arbeitsteilung zwischen Staat und Markt? Und warum ist insbesondere die Staatsquote in Europa erheblich höher als in den USA? Zwei Analysestrategien kommen für die Beantwortung in Frage15: erstens die Erkundung der für die Staatsausgaben verantwortlichen Quellen, insbesondere die finanzpolitisch wichtigen Staatsaufgaben, und zweitens die Untersuchung der tiefer liegenden gesellschaftlichen und politischen Fundamente der Staatsausgaben. Die Quellen der Staatsausgaben lassen sich am besten anhand der Programme erfassen, für die öffentliche Mittel ausgegeben werden. Deren Analyse fördert die folgenden Ergebnisse zutage: •

• • • •



Der Unterschied zwischen der amerikanischen und der europäischen Staatsquote kann nicht mit den öffentlichen Ausgaben für Recht und Ordnung erklärt werden – diese sind in USA nicht geringer als in Europa, sondern höher.16 Den Unterschied können auch nicht die Militärausgaben oder die Ausgaben für Polizei erklären, denn beide sind in den USA relativ zum Bruttoinlandsprodukt sogar erheblich höher als im Durchschnitt der EU-15-Staaten.17 Auch die öffentliche Forschungsfinanzierung in den USA steht hinter derjenigen der meisten europäischen Staaten nicht zurück.18 Gleiches gilt für die Finanzierung der Umweltschutzpolitik.19 Der Unterschied zwischen der amerikanischen und der europäischen Staatsquote ist auch nicht bei den öffentlichen Bildungsausgaben zu suchen: Der Anteil der öffentlichen Bildungsausgaben am Wirtschaftsprodukt ist in den USA mit 5,1 gegenüber 5,0% auf nahezu gleicher Höhe.20 Auch der Anteil der öffentlichen Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP) kann die Unterschiede zwischen Amerika und Europa nicht erklären: Den neuesten Zahlen zufolge liegen die öffentlichen Gesundheitsausgaben in Amerika mit 6,9% des BIP (2005) nur geringfügig unter dem Durchschnitt der EU-15 (7,1%). Zudem ist der Sozialproduktanteil der amerikanischen öffentlichen Gesundheitsausgaben seit 1960 stärker gewachsen als die öffentlichen Gesundheitsausgaben in den EU-15-Staaten.21

Diese Befunde zeigen, dass Amerika in Politikfeldern mit sozialinvestivem Charakter (wie den Gesundheitsausgaben) und in zukunftsorientierten Politikfeldern (wie 15 Analog zu Mancur Olsons Unterscheidung von „sources“ und „causes“ der von Land zu Land unterschiedlichen Wirtschaftswachstumsraten (Mancur Olson, The Rise and Decline of Nations. Economic Growth, Stagflation, and Social Rigidities, Princeton 1982, S. 4). 16 Paul Norris, Expenditure on Public Order and Safety, in: Castles, Disappearing State, S. 133– 158, hier: S. 137; OECD Factbook 2007. Economic, Environmental and Social Statistics, Paris 2007. 17 Vgl. Tom Cusack, Sinking budgets and ballooning prices: recent developments connected to military spending, in: Castles, Disappearing State, S. 103–132 und Norris, Expenditure on Public Order and Safety, S. 138. 18 Vgl. OECD in Figures 2000, Paris 2000, S. 70 f. Und weit überdurchschnittlich ist der Sozialproduktanteil der Summe der öffentlichen und der privaten Forschungsausgaben in Amerika (OECD Factbook 2007). 19 Vgl. OECD in Figures 2002, Paris 2002, S. 48–49. 20 Stand 2004. Quelle: Education at a Glance 2007, Paris 2007. 21 OECD Health Data 2007, Paris 2007.

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Bildung und Forschung) mit ebensoviel Staat aufwartet wie die meisten europäischen Staaten! Und in die sicherheits- und militärpolitischen Bereiche investieren die amerikanischen Regierungen sogar einen insgesamt beträchtlich höheren Anteil ihres Sozialproduktes als die Kernländer der Europäischen Union. Folglich sind weder die sicherheits- und militärpolitischen Felder noch die sozialinvestiven und die zukunftsorientierten Politikbereiche verantwortlich für den Unterschied zwischen der amerikanischen und der europäischen Staatsquote. Worin wurzelt aber dann der Unterschied zwischen der amerikanischen und der europäischen Staatsquote? Die Lösung des Rätsels ist insbesondere in der Sozialpolitik zu suchen und in ihr zugrundeliegenden politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Konstellationen. Zunächst zur Sozialpolitik: Europa ist die Weltregion mit einem besonders weit ausgebauten, größtenteils aus öffentlichen Ausgaben finanzierten Wohlfahrtsstaat. Der Unterschied zum sozialpolitischen Profil der USA ist groß. Gemessen an den öffentlichen Sozialausgaben scheint Amerika ein Land mit einer schlanken, unterdimensionierten, lückenhafteren Sozialpolitik zu sein: Seine Sozialleistungsquote beläuft sich mit 17,4% im Jahre 2003 nur auf rund 50 bis 60% der Sozialleistungsquoten der führenden europäischen Wohlfahrtsstaaten.22 Esping-Andersens Indikatoren des Schutzes, den die Sozialpolitik gegen Marktabhängigkeit gewährt, stützen diesen Befund: Auch dieser Schutz ist in Amerika schwächer als in Europa.23 Entsprechend großmaschiger ist das Netz der öffentlich finanzierten sozialen Sicherungssysteme: Amerika kennt keine verfassungsrechtliche Verpflichtung zu sozialstaatlicher Politik – im Unterschied etwa zu Deutschland, dessen Verfassung 22 The Social Expenditure data base: An Interpretative Guide. SOCX 1980–2003, Paris 2007: Tabelle 5.5. Allerdings ist das „spending-service-clichée“ zu bedenken. Hohe (öffentliche) Sozialausgaben erfassen nur einen Teil des öffentlich bewerkstelligten Sozialschutzes. Davon zeugen insbesondere die neueren Schätzungen der sogenannten Nettosozialleistungsquote (Willem Adema, Maxime Ladaique, Net Social Expenditure, 2005 edition: more comprehensive measures of social support, Paris 2005). Sie ermöglichen die Messungen des Gesamtaufwandes für Sozialschutz. Gemessen am Gesamtaufwand für Sozialschutzangelegenheiten schrumpft der Unterschied zwischen Amerika und Europa, und vor allem zwischen Nordeuropa und Amerika: Berücksichtigt man nicht nur die öffentlichen Sozialausgaben, sondern auch die sozialpolitisch gezielten „tax expenditure“ und zudem gesetzlich vorgeschriebene private Sozialleistungen, nimmt der Vorsprung Europas vor den USA ab. Rechnet man die freiwilligen Sozialleistungen hinzu, insbesondere die betriebliche Sozialpolitik, die in Amerika besonders weit ausgebaut ist (Martin Seeleib-Kaiser, Globalisierung und Sozialpolitik. Ein Vergleich der Diskurse und Wohlfahrtssysteme in Deutschland, Japan und den USA, Frankfurt a. M., New York 2001), liegen die USA im OECD-Länder-Vergleich nicht länger am unteren Ende der Rangreihe, sondern auf dem Platz 5 – hinter Frankreich, Deutschland, Schweden und Großbritannien (berechnet nach The Social Expenditure data base, Table 5.5). Allerdings sind die Amerika-EuropaUnterschiede in der Verteilung der Sozialleistungen und ihrer Kumulierung insbesondere bei Beschäftigten des primären Arbeitsmarktes unübersehbar (Bo Rothstein, Sven Steinmo (Hrsg.), Restructuring the Welfare State. Political Institutions and Policy Chance, New York 2002). Überdies fehlt in den USA eine Basissicherung nach Art der deutschen Sozialhilfe, des Sozialgeldes bzw. „Hartz IV“. 23 Gemessen an den „Dekommodifizierungs“-Indizes von Gosta Esping-Andersen, The Three Worlds of Welfare Capitalism, Cambridge 1990.

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einen „sozialen Rechtsstaat“ und einen „sozialen Bundesstaat“ verlangt und den Staat auf das „soziale Staatsziel“ verpflichtet.24 •



• • •

Konsequenterweise fehlt in Amerika ein leistungsfähiges unterstes Netz der sozialen Sicherung wie es beispielsweise die deutsche Sozialhilfe bzw. mittlerweile das Zusammenwirken von Sozialhilfe, Sozialgeld, Wohngeld und „Hartz IV“ darstellt, die jedem Bedürftigen eine Mindestsicherung garantiert, und zwar auf einem Niveau, das erheblich über dem der untersten Lohngruppen der amerikanischen Wirtschaft liegt und im Fall einer Familie mit Kindern beispielsweise nahe an das Einkommen der unteren Lohngruppen im öffentlichen Dienst der Bundesrepublik Deutschland heranreicht. Die niedrigere Sozialleistungsquote Amerikas erklärt sich ferner aus der Frugalität der amerikanischen Arbeitslosenversicherung: Die Arbeitslosenversicherung ist im Vergleich zu den EU-15-Staaten durch größere Selektivität, kürzere Leistungsdauer und niedrigeres Niveau der Versicherungsleistungen gekennzeichnet. Hinzu kommt die Schwäche der staatlichen Arbeitsmarktpolitik, sodass der ganze aufwendige Bereich der „Arbeitsförderung“ (der beispielsweise in Deutschland bis zu 4% des BIP konsumiert) in den USA finanziell erheblich geringer zu Buche schlägt. Nicht vorgesehen ist in der amerikanischen Sozialpolitik überdies eine Pflegesicherung. Zudem ist der Krankenversicherungsschutz notorisch lückenhaft: Die Zahl der Staatsbürger ohne ausreichenden Krankenversicherungsschutz wird auf mehr als 41 Millionen geschätzt.25

GESELLSCHAFTLICHE, POLITISCHE UND WIRTSCHAFTLICHE URSACHEN DES SOZIALPOLITISCHEN UNTERSCHIEDS ZWISCHEN EUROPA UND AMERIKA Woher rührt der sozialpolitische Unterschied zwischen Europa und Amerika? Welches sind seine tiefer liegenden Ursachen, seine politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Fundamente? Zu den tiefer liegenden Ursachen26 gehört – erstens – ein politisch-kultureller Faktor: Anthony King hat ihn auf die einprägsame Formel gebracht, Amerikas Staatsquote sei niedrig, weil das amerikanische Volk eine niedrige Staatsquote wolle.27 Und ein Experte der Steuerpolitik, Sven Steinmo, sekundierte King mit der 24 Hans F. Zacher, Grundlagen der Sozialpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, in: Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung / Bundesarchiv (Hrsg.), Grundlagen der Sozialpolitik. Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. Bd. 1, Baden-Baden 2001, S. 333–684. 25 Claus Tigges, Vom Gesundheitssozialismus weit entfernt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 5, 7. Januar 2004, S. 7. Zu den aktuellen Bemühungen der Obama Administration, dies zu ändern, siehe Theodore R. Marmor u. Jonathan Oberlander, Health Reform: The Fateful Moment, in New York Review of Books, 13. August 2009. 26 Im Folgenden wird die große Variationsbreite der Sozialpolitik in den verschiedenen US-Bundesstaaten ausgeblendet – zugunsten einer Analyse, die Amerika insgesamt charakterisiert. Vgl. zu den Bundesstaaten: Virginia Gray, Russell L. Hanson (Hrsg.), Politics in the American States, 8. Aufl. Washington D.C. 2004; Marius Busemeyer, Die Bildungsausgaben der USA im internationalen Vergleich: Politische Geschichte, Debatten und Erklärungsansätze, Wiesbaden 2006, S. 49–160. 27 Anthony King, Ideas, Institutions and the Policies of Government, in: British Journal of Political Science 3 / 3, 1973, S. 291–313 und 3 / 4, 1973, S. 409–423.

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These, die amerikanische Staatsquote sei so gering, weil die Amerikaner Steuern hassten.28 Das ist nicht falsch, aber zu sehr vereinfachend. Steuern sind auch bei anderen Völkern nicht beliebt – und doch haben diese mitunter eine weit höhere Staatsquote als Amerika. Zudem scheinen die Europäer die Amerikaner beim Steuerhinterziehen zu übertreffen. Das suggerieren jedenfalls Schätzungen der Schattenwirtschaft: Diese ist in Europa, Friedrich Schneider zufolge, höher als in den USA. In Amerika wird die Schattenwirtschaft Anfang des 21. Jahrhunderts auf 8,7% des BIP geschätzt, in Europa variiert sie zwischen 9,4% in der Schweiz und 28,5% in Griechenland, während sie in Deutschland bei 16,3% liegt.29 Gleichwohl macht die politisch-kulturelle Erklärung auf einen wichtigen Unterschied zwischen Amerika und Europa aufmerksam: Die Eigeninitiative und die Präferenz für nichtstaatliche Lösungen haben in Amerika mehr Gewicht. Dem liegt, so eine verbreitete Deutung, ein „kompetitiver Individualismus“ als kultureller Kern zugrunde – im Unterschied zum „solidarischen Etatismus“, der in Europa kulturell bestimmend sei.30 Das hat auch Folgen für die Pflichten der Regierenden gegenüber den einfachen Leuten. In Europa gilt seit langem die Sorge der Obrigkeit für die Untertanen als eine selbstverständliche, tief verwurzelte Verpflichtung. Der ständige „Geist des Verbesserns“31, der auch die amerikanische Demokratie durchweht, so schon der scharfsichtige Tocqueville in seinem Buch über die Demokratie in Amerika von 1835 / 1840, zielt dort stärker als in Europa auf gesellschaftszentriertes Verbessern ab. In Europa hingegen setzt der „Geist des Verbesserns“ vor allem auf den Staat und erst in zweiter Linie auf die Gesellschaft. Hinzu kommen – zweitens – politisch-institutionelle Effekte. Amerika ist das Land der vielen checks und balances und der vielen institutionellen Sperren gegen big government. Auch das wirkt gegen eine staatszentrierte Politik und bremst das Streben nach Steueranhebungen oder Erhöhung der Sozialbeiträge.32 Das wiederum drückt auf das Niveau der Staatsquote und ihre Wachstumsdynamik. In Europa hingegen sind in vielen Ländern die institutionellen Rahmenbedingungen für staatszentrierte Lösungen größer und für steuer- und ausgabensteigernde Politiken günstiger. Für Schwedens Sozialdemokraten beispielsweise war und ist es ungleich leichter, die Steuern zu erhöhen und die öffentlichen Ausgaben zu steigern als für 28 Sven Steinmo, Why is Government so small in America?, in: Governance 8, 1995, S. 303– 334. 29 Friedrich Schneider, The Size and Development of the Shadow Economies of 22 Transition and 21 OECD Countries, IZA Bonn Discussion Paper 514, June 2002, S. 13. 30 So der Vorschlag von Dieter Fuchs, Die demokratische Gemeinschaft in den USA und in Deutschland, in: Jürgen Gerhards (Hrsg.), Die Vermessung kultureller Unterschiede, Wiesbaden 2000, S. 33–72. Roller (Edeltraud Roller, Marktwirtschaftliche und wohlfahrtsstaatliche Gerechtigkeitsprinzipien in Deutschland und den USA, in: ebd., S. 89–119) zufolge liegen allerdings die Hauptdifferenzen eher in unterschiedlichen etatistischen (sozialpolitischen) Gerechtigkeitsprinzipien: egalitärer Etatismus (in Europa und vor allem in Deutschland) versus anti-egalitärer Etatismus (in den USA) seien die Hauptpole. 31 Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, München 1976 (franz. 1835 / 40), S. 242. 32 Vgl. Sven Steinmo, Taxation and Democracy, New Haven 1993.

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Regierungen, die gegen viele institutionelle Hindernisse und gegen viele Mitregenten regieren, wie in Amerika. Noch wichtiger ist ein dritter Faktor: die politischen Akteure und ihr Zusammenwirken mit den Institutionen. Auch in dieser Hinsicht ist die Differenz zwischen Amerika und Europa groß. Europa ist voll von Parteien unterschiedlichster Färbung – von rechtspopulistischen bis kommunistischen Gruppierungen reicht das Spektrum. Der Schwerpunkt aber liegt bei drei Parteienfamilien – und diese sind bis heute die wichtigsten Regierungsparteien: a) säkular-konservative Parteien, b) zentristische Parteien mit starker Neigung zum Sozialstaat und c) Linksparteien sozialdemokratischer Art oder Labour-Parteien, beide unverkennbar Wohlfahrtsstaatsparteien.33 Die Parteienlandschaft der USA ist davon grundlegend verschieden. Dort gibt es weder nennenswerte sozialistische Parteien, noch sozialdemokratische Parteien, keine christdemokratischen Gruppierungen und keine grüne Parteien. Vielmehr wird das amerikanische Parteiensystem im Wesentlichen von zwei Parteien dominiert, den Demokraten und den Republikanern. Diese sind bei allen Unterschieden im Kern Parteien mit Vorliebe für privatwirtschaftliche, marktliberale Lösungen, mit Präferenz für nicht-etatistische Lösungen – sofern es um Felder außerhalb der Zukunftsvorsorge und der Sozialinvestitionen und jenseits der Militärpolitik geht. Hier liegt eine weitere zentrale Ursache der sozialpolitischen Unterschiede zwischen Amerika und Europa. Diese Unterschiede haben eine starke parteipolitische Grundlage in der Parteienlandschaft insgesamt und in der parteipolitischen Zusammensetzung der Regierungen im Besonderen: Überdurchschnittlich stark sind Angebot und Nachfrage staatlicher Leistungen und entsprechender öffentlicher Finanzen sowohl unter sozialdemokratisch geführten Regierungen als auch im Falle christdemokratisch gelenkter Staaten. Zwar differieren ihre Sozialstaatsmodelle, doch sind beide Parteien bereit, für Sozialschutz in großem Umfang Ausgaben zu tätigen. Im Unterschied dazu geht von marktliberalen Regierungsparteien, wie den Republikanern in Amerika, in aller Regel ein dämpfender Effekt auf die Staatsquote aus. Mitunter kommen in Europa auch Koalitionsbildungszwänge ins Spiel und tragen ihrerseits zur Steigerung der öffentlichen Leistungen bei – und auf diese Weise zu höheren öffentlichen Ausgaben. Den teuren „Aufbau Ost“ im vereinigten Deutschland kann man mit solchen Koalitionsbildungszwängen erklären: Mehrheiten im Bundestag und Bundesrat erzielen nur die Koalitionen, die auch die ostdeutschen Abgeordneten und die ostdeutschen Bundesländer einbinden – um einen buchstäblich hohen Preis der Subventionierung des Ostens durch den Westen (rund 5% des BIP jährlich). Ähnliche Konstellationen existieren auch in anderen Koalitionen, z. B. in Belgien, wo jede finanzielle Unterstützung des flämischen Landesteils eine gleichwertige Unterstützung des wallonischen Teils nach sich zieht. Überdies wirken Wahlbeteiligung und Median-Wähler mit: In den USA ist die Wahlbeteiligung niedrig, in Europa hoch, auch bei den Unterschichten und somit 33 Überdies werden in Europa diese Parteien seit den 1980er Jahren von grünen Parteien flankiert, die in manchen Ländern Regierungsmacht auf regionaler Ebene und auf nationaler Ebene gewonnen haben, so in Belgien, Finnland, Frankreich, in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren von 1998 bis 2005 und in Irland seit 2007.

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bei einem wichtigen Teil der Sozialpolitikklientel. Deshalb verlangt die europäische Wählerschaft insgesamt ein Mehr an ehrgeiziger Sozialpolitik. Zudem führt die hohe Wahlbeteiligung der Unterschichten dazu, dass der wahlentscheidende Median-Wähler viel niedriger in der Schichtungs- und der Einkommensverteilungsstruktur angesiedelt ist als in Amerika.34 Weil aber der europäische Median-Wähler viel stärkere Präferenz für staatlich-kollektive Leistungen einschließlich sozialpolitischer Leistungen an den Tag legt als der amerikanische Median-Wähler, stärkt auch dieser Faktor die Nachfrage nach staatlicher Daseinsvorsorge und entsprechend höheren Staatsfinanzen. Tiefer liegende sozialstrukturelle Faktoren beeinflussen ebenfalls die Unterschiede der amerikanischen und der europäischen Staatsquote. Vor allem die gesellschaftlichen Konfliktlinien sind hierbei wichtig. Die Konfliktlinien in Europa sind meist religiöser und konfessioneller Art sowie ökonomischer Natur. In Amerika hingegen ist die Struktur der Konfliktlinien andersartig: Die Klassenkonfliktlinie spielt keine nennenswerte Rolle, aber die ethnische Fragmentierung ist sehr stark und mit ihr die ethnischen Spannungslinien. Doch diese Konstellationen bremsen die Umverteilungsbereitschaft zwischen den verschiedenen Gruppen, dämpfen insoweit auch staatsinterventionistische Neigungen und stehen ehrgeizigen wohlfahrtsstaatlichen Umverteilungen im Wege. Unvollständig wäre die Analyse der Ursachen der hohen europäischen und der niedrigen amerikanischen Staatsquote ohne zwei weitere Faktoren: das Wirtschaftswachstum und die dort begründete Chance zur „anonymen Sozialpolitik des Marktmechanismus“35 einerseits und die Alterung der Gesellschaft andererseits. Bei beidem hat Amerika gegenüber Europa Vorteile: Das langfristige Wirtschaftswachstum ist in Amerika höher als in Europa36 und erlaubt somit – unter sonst gleichen Bedingungen – ein höheres Niveau an Pro-Kopf-Sozialleistungen und ein höheres Maß an „anonymer Sozialpolitik des Marktmechanismus“. Außerdem ist die amerikanische Gesellschaft erheblich jünger als die europäische: 2005 waren dort 12,4% der Bevölkerung mindestens 65-jährig, in den EU-15-Staaten hingegen schon 17,4%.37 Beides hat erhebliche Konsequenzen für die Staatsquote diesseits und jenseits des Atlantiks, wie ein Gedankenexperiment verdeutlicht: Hätten die USA im Jahre 2005 eine so hohe Seniorenquote wie die Bundesrepublik Deutschland – 18,9%38 –, und bliebe alles andere gleich, dann läge der Anteil der öffentlichen Alterssicherungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Amerika nicht wie derzeit bei 34 Jens Alber, Hat sich der Wohlfahrtsstaat als soziale Ordnung bewährt?, in: Karl-Ulrich Mayer (Hrsg.), Die beste aller Welten? Marktliberalismus versus Wohlfahrtsstaat, Frankfurt a. M., New York 2001, S. 59–112, hier: S. 64 u. ders., Das „europäische Sozialmodell“ und die USA, in: Leviathan 34 / 2, 2006, S. 208–233. 35 Hans Rosenberg, Große Depression und Bismarckzeit. Wirtschaftsablauf, Gesellschaft und Politik in Mitteleuropa, Frankfurt a. M. 1976 (engl. 1963), S. 217. 36 So jedenfalls im Jahresdurchschnitt der Wachstumsraten des preisbereinigten Bruttoinlandsproduktes von 1974 bis 2005. Berechnungsbasis: OECD Economic Outlook (diverse Ausgaben). 37 OECD Factbook 2007. Economic, Environmental and Social Statistics, Paris 2007: Table „Ratio of population aged 65 and over to the total population“. 38 Ebd.

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6,2%39, sondern beim 1,52-fachen dieses Wertes, also bei 9,4% des BIP. Würde man den Alterungseffekt auf die Gesundheitsausgaben hinzurechnen, kämen weitere Prozentpunkte hinzu. Damit läge die amerikanische Staatsquote nicht mehr bei 36,4%, sondern bei über 40% – mit weiter steigender Tendenz bei zunehmender Alterung40, und damit nahe bei der deutschen Staatsquote. Man kann die Rechnung auch aus dem Blickwinkel der Bundesrepublik Deutschland aufmachen. Läge die Seniorenquote, d. h. der Bevölkerungsanteil der mindestens 65-Jährigen in Deutschland, nicht bei 18,9% wie im Jahre 2005, sondern auf dem Stand der USA (12,4%, was 65,6% der deutschen Quote entspricht), dann würden für die öffentlichen Rentenausgaben in Relation zum BIP in Deutschland nicht 11,5% ausgegeben41, sondern unter sonst gleichen Bedingungen nur 7,5 Prozent. Die Staatsquote wäre rechnerisch demnach um vier Prozentpunkte niedriger, und bei Berücksichtigung der Gesundheitsausgaben wahrscheinlich sogar rund sechs Prozentpunkte niedriger. Die deutsche Staatsquote läge in diesem Fall nicht bei 46,7%, sondern bei rund 40%, also dort, wo Amerikas Staatsquote sich befände, wenn die Alterung der Gesellschaft in den USA so weit vorangeschritten wäre wie in Deutschland. Ferner ist dies zu bedenken: Hätten die EU-15-Staaten eine Pro-Kopf-Wirtschaftskraft wie die USA – 41 657 US-Dollar im Jahre 2005 statt 31 047 US-Dollar, also das 1,34-fache42 –, und bliebe alles andere gleich, auch die absolute Höhe der Staatsausgaben in Euro, läge die durchschnittliche europäische Staatsquote nicht bei 44,9%, sondern bei 35,1% – also auf einem Stand knapp unter der amerikanischen Staatsquote von 36,4 Prozent! Die Berücksichtigung der unterschiedlichen Altersgliederung der Bevölkerung in Amerika und Europa macht demnach auch bei den Staatsausgaben einen Unterschied – und vermag einen Teil der Differenz in der Staat-Markt-Arbeitsteilung zwischen Amerika und Europa zu erklären. Und mehr noch gilt das für die unterschiedliche Wirtschaftskraft.

39 1,52 ergibt sich aus der Division von 18,9 (Deutschlands Seniorenquote) und 12,4 (Amerikas Seniorenquote). Öffentliche Rentenausgaben schließen Witwen- und Waisenrenten ein und sind in Prozent des BIP ausgedruckt (Stand: 2003). Quelle: The Social Expenditure data base: An Interpretative Guide. SOCX 1980–2003, Paris 2007, S. 20. 40 Dies wird Amerika auch prognostiziert. Allerdings verläuft die Alterung langsamer und wird zu einem niedrigeren Stand als in Europa führen. Für 2050 wird Amerika eine Seniorenquote (65+) von 20,6% vorhergesagt – für die EU-15 allerdings eine von 28,8%. Vgl. OECD Factbook 2007, Tabelle „Ratio of population aged 65 and over to the total population“. 41 OECD Factbook 2007, S. 20. Zahlen für 2003. 42 In Kaufkraftparitäten und zu laufenden Marktpreisen. Quelle: OECD Factbook 2007, Tabelle „Gross national income per capita“.

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SCHLUSSFOLGERUNG Die großen Unterschiede in der Staat-Markt-Arbeitsteilung zwischen Europa und den USA liegen nicht in den zukunftsorientierten Politikfeldern. Dort sind die USA so europäisch wie die Europäer und mitunter staatsfreundlicher als diese. Sie liegen auch nicht im Bereich Militärpolitik und innere Sicherheit – dort sind die USA viel stärker engagiert als die europäischen Staaten. Die Unterschiede liegen vor allem in der Sozialpolitik. Gewiss: Auch Amerika kennt den Auf- und Ausbau der Sozialpolitik.43 Doch die amerikanische Sozialpolitik wird, insbesondere was die öffentlichen Leistungen angeht, am kürzeren Zügel geführt, sie ist sparsamer, und ihr Schutz ist – nicht zuletzt aufgrund ihrer Fokussierung auf die Arbeitnehmer des primären Arbeitsmarktes – löchriger als der Schutz, den die europäische Sozialpolitik gewährt, die Vorfahrt vor fast allen anderen Staatsaufgaben genießt, flächendeckend ist und die meisten zuverlässig schützt, aber auch teuer ist. Warum wird die amerikanische Sozialpolitik viel stärker gezügelt, und warum wird für sie, gemessen an den öffentlichen Bruttosozialausgaben, viel weniger vom volkswirtschaftlichen Reichtum abgeführt als in Europa? Die Antwort ist – nach den hier vorgelegten Befunden zu urteilen – in einem Bündel von Ursachen zu suchen. Die wichtigsten sind: •

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die politisch-kulturellen Differenzen, insbesondere die unterschiedlichen Einstellungen zum Staat – die Bürgerschaft der USA ist bislang staatsdistanzierter, die der europäischen Staaten hingegen staatsfreundlicher, die Natur der wichtigsten gesellschaftlichen Konfliktlinien – hier stehen die starken ethnischen Konfliktlinien Amerikas den Umverteilungspolitiken nach europäischem Muster im Wege, die parteipolitischen Unterschiede – der Hauptunterschied verläuft diesbezüglich zwischen den marktliberalen Parteien Amerikas und den christlich-zentristischen oder linken Sozialstaatsparteien Europas, die politisch-institutionellen Rahmenbedingungen – in den USA wirken viele institutionelle Barrieren gegen big government, in Europa sind diese Barrieren insgesamt kleiner an Zahl und geringer an Gewicht, Wahlbeteiligung und Lagerung insbesondere des Median-Wählers – niedrige versus hohe Wahlbeteiligung und hohe bzw. tiefe Lagerung des Median-Wählers in der Sozialstruktur sind die Hauptunterschiede zwischen Amerika und Europa, nicht zuletzt ist auch der Altersaufbau der Gesellschaft wichtig – die Bevölkerung der USA ist jünger, diejenige Europas älter und dies hat, bei sonst gleichen Bedingungen, entsprechend höhere Kosten bei der Alterssicherung zur Folge, und die Unterschiede im volkswirtschaftlichen Wohlstand – die USA sind wohlhabender als Europa.

Der Unterschied der Staat-Markt-Arbeitsteilung zwischen Amerika und Europa ist trotz aller Annäherung nach wie vor beträchtlich und kann gut erklärt werden: Er basiert auf tief sitzenden Unterschieden der Wirtschaft, der Bevölkerungsstruktur, der Kultur und der Politik in den Vereinigten Staaten von Amerika und den Kernländern Europas. 43 Vgl. Axel Murswieck, Gesellschaft, in: Peter Lösche, Hans Dietrich von Loeffelholz (Hrsg.), Länderbericht USA. Geschichte – Politik – Wirtschaft – Gesellschaft – Kultur, Bonn 2004, S. 594–697.

„THE FIRST OF OUR LIBERTIES … A LUSTRE TO OUR COUNTRY“. RELIGIONSFREIHEIT IN AMERIKA UND EUROPA – EIN VERGLEICH Gerhard Besier Als Thomas Jefferson1 – Hauptverfasser der Unabhängigkeitserklärung, Mitautor der Verfassung und dritter Präsident der Vereinigten Staaten – gegen Ende seines Lebens den Text für seinen Grabstein entwarf, wollte er seine drei bedeutendsten Leistungen festhalten.2 In seinen Augen waren das: Der Entwurf zur Unabhängigkeitserklärung, das Statut für Religionsfreiheit in seinem Heimatstaat Virginia und die Gründung der Universität von Virginia.3 In dem Virginia Statut der Religionsfreiheit vom Januar 1786 heißt es in aufklärerischem Pathos, es handele sich um eine „gottlose Anmaßung“ staatlicher wie kirchlicher Gewalt, sich der Herrschaft „über den Glauben anderer“ zu bemächtigen und „Privilegien und Vorteile“ an die Zugehörigkeit zu einer verordneten Religion zu binden.4 Indem man die Menschen „mit einem Monopol weltlicher Ehren und Einkünfte“ besteche und so ihre Bereitschaft erzeuge, „sich äußerlich“ zu der verordneten Religion „zu bekennen und sich 1

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Vgl. Joseph J. Ellis, Sie schufen Amerika. Die Gründergeneration von John Adams bis George Washington, München 2002, bes. S. 28 ff.; S. 71 ff.; S. 125 ff.; S. 192; S. 195 ff.; S. 332 f.; William J. Hoye, Demokratie und Christentum. Die christliche Verantwortung für demokratische Prinzipien, Münster 1999, S. 181 ff. Vgl. Joseph J. Ellis, American Sphinx: The Character of Thomas Jefferson, New York 1997, S. 296; Hans-Dieter Gelfert, Typisch amerikanisch. Wie die Amerikaner wurden, was sie sind, München 2002, S. 154. Siehe auch Rainer Prätorius, In God We Trust. Religion und Politik in den USA, München 2003; Detlef Junker, Power and Mission. Was Amerika antreibt, Freiburg / Br. 2003. Zu den unterschiedlichen Verfassungsvorstellungen zwischen den Kolonisten und dem Mutterland vgl. Hermann Wellenreuther, Ausbildung und Neubildung. Die Geschichte Nordamerikas vom Ausgang des 17. Jahrhunderts bis zum Ausbruch der Amerikanischen Revolution 1775 (Geschichte Nordamerikas in atlantischer Perspektive von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. 2), Münster 2001, S. 489 ff. Virginia Statut der Religionsfreiheit vom 16. Januar 1786, zit. nach Herbert Schambeck, Helmut Widder u. Marcus Bergmann (Hrsg.), Dokumente zur Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika, Berlin 1993, S. 145–148. Siehe auch John J. Patrick u. Gerald P. Long (Hrsg.), Constitutional Debates on Freedom of Religion, Westport, London 1999, S. 53–55 (The Virginia Statue for Religious Freedom). Mit Recht schreibt John T. Noonan, Jr. (The Lustre of our Country. The American Experience of Religious Freedom, Berkeley, Los Angeles, London 1998, S. 4), die Verdienste James Madisons um die Religionsfreiheit, sein Kampf um mehr als um religiöse Toleranz, nämlich “for free exercise itself”, seien durch Jefferson „überschattet“. Vgl. auch ebd., S. 59 ff. Siehe auch William L. Miller, The First Liberty. America’s Foundation in Religious Freedom, 2. Aufl. Washington D.C. 2003, bes. S. 69 ff.; Joseph Laconte, Faith and the Founding: The Influence of Religion on the Politics of James Madison, in: Journal of Church & State 45, 2003, S. 699–715.

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anzupassen“, korrumpiere man auch die Prinzipien jener Religion. Auch sei es „ein gefährlicher Fehlgriff“, wenn ein Magistrat „das Bekenntnis oder die Verkündigung von Prinzipien unter Vorgabe ihrer schädlichen Tendenz“ zu behindern suche, denn damit vernichte er „sofort alle religiöse Freiheit“. Nur wenn eine Religion „gegen den Frieden und die gute Ordnung“ verstoße, dürfe die Regierung eingreifen. Die Wahrheit werde sich gegen den Irrtum ohnedies durchsetzen, wenn nur dem „freien Argument der Debatte“ weiten Raum gegeben werde. Die Religionsfreiheit gehöre zu den „natürlichen Rechten der Menschheit“ und dürfe durch kein Gesetz widerrufen oder eingeengt werden.5 Der Erste Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten, verabschiedet im Dezember 1791, bekräftigte die von Jefferson aufgestellten Grundsätze. Danach ist es dem Kongress verboten, per Gesetz eine Staatsreligion einzuführen („Establishment Clause“) und die freie Religionsausübung einzuschränken („Free Exercise Clause“).6 Davon unberührt blieb freilich der Wille der führenden protestantischen Denominationen, die kulturelle Dominanz ihrer religiös-politischen Tradition7 durch Nichtregierungsorganisationen („Faith-based NGO’s“)8 und informelle Überein5

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In der Verfassung der Vereinigten Staaten von 1787 (ratifiziert 1788) findet Religion nur einmal, im Artikel VI, Erwähnung. Hier heißt es, „niemals [dürfe] ein religiöser Bekenntnisakt zur Bedingung für den Antritt eines Amtes oder einer öffentlichen Vertrauensstellung im Dienst der Vereinigten Staaten gemacht werden“. Zit. nach Schambeck u.a., Dokumente, S. 181. Vgl. ebd., S. 182 f.; Patrick / Long, Constitutional Debates, S. 67. Vgl. zur ursprünglichen Intention der Trennung von Staat und Kirche auf Bundesebene – nämlich die Garantie, die bestehenden staatskirchlichen Verhältnisse in den einzelnen Bundesstaaten nicht zu beeinträchtigen, Hoye, Demokratie und Christentum, S. 138 ff. Siehe auch Phillip E. Hammond, With Liberty for All. Freedom of Religion in the United States, Louisville, KY 1998, S. 1 ff., der den impliziten Widerspruch zwischen beiden Clauses diskutiert. Die „Separationists“ favorisieren „No Establishment“, verzichten daher auf alle staatliche Unterstützung und nehmen dafür Einschränkungen der „Free Exercise“ als öffentliche Religionsausübung (nicht die individuelle) in Kauf; die „Accommodationists“ dagegen erwarten von der Regierung, dass sie die öffentliche Ausübung von Religion fördert, was zwangsläufig das Verbot der „Establishment Clause“ relativiert. R. J. Neuhaus (A new Order of Religious Freedom, in: John Witte jun. (Hrsg.), Christianity and Democracy in Global Context, Boulder, CO 1993, 106 f.) meint demgegenüber: […] there is no conflict, no tension no required `balancing`between free exercise and no-establishment. There are not two religion clauses. […] The no-establishment part of the religion clause is entirely and without remainder in the service of free exercise. Free exercise is the end; noestablishment is a necessary means to that end. No-establishment simply makes no sense on its own.” Vgl. auch Clyde Wilcox / Ted G. Jelen, Religion and Politics in an Open Market. Religious Mobilization in the United States, in: dies. (Hrsg.), Religion and Politics in Comparative Perspective. The One, the Few, and the Many, Cambridge, New York 2002, S. 289–313; hier S. 297 ff. Siehe dazu Gerhard Besier, In Contradiction to the Grassroots? The Stance of the Federal Council of the Churches of Christ (FCC) towards the “Third Reich”, in: Kyrkohistorisk årsskrift, Lund 2003, S. 139–156. Vgl. Mark R. Amstutz, Faith-Based NGOs and U.S. Foreign Policy, in: Elliot Abrams (Hrsg.), The Influence of Faith. Religious Groups and U.S. Foreign Policy, Lanham, MD 2001, S. 175– 187; Andrew S. Natsios, Faith-Based NGOs and U.S. Foreign Policy, in: ebd., S. 189–200. Zu Recht schreibt Natsios, die Wurzeln der NGOs “reach back into the ancient religious traditions out of which they come even if their registration with the United Nations and the U.S. government dates to the World War II period and its immediate aftermath.” Vgl. Natsios, S. 189 f.

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künfte mit Regierungsstellen auf allen Ebenen zu stärken. In den 1950er Jahren entwickelte sich zu diesem Zweck ein mächtiger religiöser Lobbyismus bei den Regierungen der einzelnen Bundesstaaten wie auch in Washington D.C.9 Allerdings droht der Verlust der Steuerbefreiung, wenn eine religiöse Gruppierung exzessive Ausgaben für politische Zwecke tätigt oder politische Kandidaten finanziell unterstützt.10 Um zu verhindern, dass der liberal-säkulare Staat zu einem religiösen Staat wird, sollen auch religiös inspirierte Anliegen – in Sprache und Zielsetzung wie hinsichtlich ihrer Auswirkungen – als Basis von Regelungen für alle nach den Grundsätzen der säkularen Verfassungstradition in gesamtgesellschaftlich durchsetzbare Argumente transformiert werden11 – eine Forderung, die freilich in den 1990er Jahren durch die sog. Kommunitarismus-Debatte in Zweifel gezogen wurde.12 Thomas Jeffersons berühmte Metapher von der Wall of Separation beginnt Siehe zur jüngsten Entwicklung unter der Bush-Administration: Derek H. Davis, A Not So Charitable Choice: New Religious Movements and President Bush’s Plan for Faith Based Social Services, in: ders. / Barry Hankins (Hrsg.), New Religious Movements & Religious Liberty in America, Waco 2002, S. 181–198; vgl. auch Laura R. Olson, Mainline Protestant Washington Offices and the Political Lives of Clergy, in: Robert Wuthnow u. John H. Evans (Hrsg.), The Quiet Hand of God. Faith-Based Activism and the Public Role of Mainline Protestantism, Berkeley, Los Angeles, London 2002, S. 54–79. 9 Vgl. Daniel J. B. Hofrenning, In Washington But Not of It. The Prophetic Politics of Religious Lobbyists, Philadelphia 1995. Heute sehen manche zwei gegensätzliche religiöse Gruppierungen am Werk – „cultural modernists, including secular citizens and mainline Protestants, seek to promote a tolerance for diversity and an individualist moral ethic, while cultural conservatives, led by orthodox evangelical Protestant churches, seek to support moral conformity, enforced through the power of law […]. Many scholars see American religion increasingly dividing into these two camps, and becoming increasingly associated with the two major political parties […].” Wilcox / Jelen, Religion and Politics, S. 295 f. 10 Vgl. solche Überlegungen im Zusammenhang mit den Aktivitäten der Mainline Churches gegen den Vietnam-Krieg in den 1960er und 1970er Jahren wie im Blick auf die Religious Right in den 1980er Jahren: Gerhard Besier, Protestantismus, Kommunismus und Ökumene in den USA, in: ders. / Armin Boyens / Gerhard Lindemann, Nationaler Protestantismus und Ökumenische Bewegung. Kirchliches Handeln im Kalten Krieg (1945–1990), Berlin 1999, S. 323– 652; hier S. 522 ff. 11 Vgl. zum sog. Lemon Test; Lemon vs. Kurtzman (1971), wiedergegeben bei Patrick / Long, Constitutional Debates, S. 178 ff. Die Verfassungsväter vermieden gezielt die Erwähnung Gottes in der Constitution, denn sie wollten eine Regierung of the people, by the people, and for the people schaffen – nicht eine solche von Gottes Gnaden. Das hinderte sie und ihre Nachfolger im Amt nicht, über ihre religiösen Überzeugungen zu reden und auf deren Grundlage zu handeln. Bis heute erwartet der Wähler, über die religiöse Einstellung und Praxis des politischen Kandidaten informiert zu werden. 12 Vgl. einerseits John Rawls, A Theory of Justice, Cambridge, Mass. (1971) 1990, andererseits Stephen L. Carter, The Culture of Disbelief: How American Law and Politics Trivialize Religious Devotion, New York 1993 oder Charles Taylor, Die Formen des Religiösen in der Gegenwart, Frankfurt a. M. 2002. Vgl. auch John Rawls, Collected Papers (hrsg. von Samuel Freeman), Cambridge, Mass. 1999. Rawls politischer Liberalismus formuliert keine liberale Weltanschauung, sondern liberale politische Prinzipien, nach denen sich auch nichtliberale Lebensformen und Denkweisen in einer pluralistischen Gesellschaft zu richten haben. Gute Einblicke in Rawls Konstruktion seiner Gerechtigkeitsphilosophie gibt auch sein Buch „Geschichte der Moralphilosophie. Hume – Leibniz – Hegel, Frankfurt a. M. 2002. Siehe ferner J. Judd Owen,

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– nicht erst seit dem 11. September 2001 – in der amerikanischen Gesellschaft an common sense zu verlieren.13 Derek Davis hat vorgeschlagen, das amerikanische Verständnis des Verhältnisses von Staat, Religion und Gesellschaft als ein komplexes Zusammenspiel von drei unterschiedlichen Regelsystemen zu verstehen: Trennung von Staat und Kirche, Integration von Religion und Politik und allgemeine Anerkennung einer Zivilreligion.14 Es gehört zu den „amerikanischen Paradoxien“, dass gegen Jeffersons aufklärerischen Grundsatz individueller Religionsfreiheit immer wieder verstoßen wurde – etwa, wenn man Menschen zum Wehrdienst zwingen wollte, die aus religiösen Motiven eine Beteiligung am Krieg ablehnten.15 Dieser Widerspruch liegt darin begründet, dass hinter dem Freiheitsverständnis der amerikanischen Aufklärung, besonders in Krisensituationen, ein älteres Freiheitsverständnis hervortritt – das „erweckungspuritanische“.16 Ihm geht es nicht um den Schutz der Privatsphäre, sondern um die Freiheit, Gottes Gebote zu befolgen. Während das aufklärerische Freiheitsverständnis den Einzelnen gegen Übergriffe des Staates schützen will, sucht das puritanische Freiheitsverständnis die Moralgesetze aufzurichten. Denn diese schützen die moralische Freiheit gegen Satan, der die Bürger unter die Knechtschaft des Lasters und der Unwissenheit führen will.17 Thomas Jefferson gelang es wie keinem zweiten, die Widersprüche von Puritanismus und Aufklärung in seiner Person aufzuheben.18 „Er war idealistischer Materialist, ein gottesfürchtiger Aufklärer und ein für das Grundrecht der Freiheit eintretender Sklavenhalter.“19

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Religion and the Demise of Liberal Rationalism. The Foundational Crisis of the Separation of Church and State, Chicago 2001. Zur Rolle, die Rawls der Religion in einer gerechten Gesellschaft beimisst, vgl. Donals A. Dombrowski, Rawls and Religion: The Case for Political Liberalism, Albany, N.Y. 2001. Siehe zur Diskussion Hoye, Demokratie und Christentum, S. 160 ff. („Anti-Individualismus im Puritanismus“); Wilcox / Jelen, Religion and Politics, S. 297 ff. Vgl. Derek H. Davis, Thomas Jefferson and the „Wall of Separation“ Metaphor, in: Journal of Church & State 42, 2003, S. 7–14. Vgl. Derek H. Davis, Explaining the Complexities of Religion and State in the United States: Separation, Integration, and Accomodation, in: ders. / Gerhard Besier (Hrsg.), International Perspectives on Freedom and Equality of Religious Belief, Waco 2002, S. 169–181. Siehe auch Robert Wuthnow, The Restructuring of American Religion. Society and Faith Since World War II, Princeton 1989, S. 241 ff.; Derek H. Davis, From Engagement to Retrenchment. An Examination of First Amendment Activism by America’s Mainline Churches, 1980–2000, in: Wuthnow / Evans, The Quiet Hand of God, S. 317–342. Vgl. z. B. Donald B. Kraybill u. Carl F. Bowman, On the Backroad to Heaven. Old Order Hutterites, Mennonites, Amish, and Brethren, Baltimore 2001; Shawn Francis Peters, Judging Jehovah’s Witnesses. Religious Persecution and the Dawn of the Rights Revolution, Kansas 2000; siehe im Überblick: Noonan, The Lustre of our Country, S. 41 ff. Vgl. dazu Frank Kelleter, Amerikanische Aufklärung. Sprachen der Rationalität im Zeitalter der Revolution, Paderborn 2002, S. 242 ff. Vgl. Gelfert, Typisch amerikanisch, S. 56 f. Zum Verhältnis von „Great Awakening“ und Aufklärung, „preparationists“ einerseits und „predestinarians“ andererseits, vgl. Wellenreuther, Ausbildung und Neubildung, S. 314 ff. Im 18. Jahrhundert beginnt, als Quintessenz religiöser Erfahrung, die wahre Bekehrung zu „Wiedergeborenen“. Gelfert, Typisch amerikanisch, S. 155. Erst seit 1998 ist Jeffersons sexuelle Beziehung zu einer

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Zu den amerikanischen Besonderheiten gehört freilich auch, dass FreiheitsVerletzungen aus puritanischem Geist niemals das letzte Wort bleiben. Ist die Krise vorüber, meldet sich die aufklärerische Freiheit entweder von selbst zurück oder sie wird in zähen Auseinandersetzungen vor dem Obersten Gerichtshof erstritten. Solche Rechtsstreitigkeiten und die sie tragenden Persönlichkeiten gehen dann als Meilensteine des amerikanischen Freiheitswillens in die Schulbücher ein und dokumentieren zugleich, dass freedom eben nicht for free ist. Sie muss vielmehr erkämpft werden, und wer das Banner der Freiheit hochhält, kann sich eines Platzes in der Geschichte dieses Landes sicher sein. In Sachen Religionsfreiheit hat es im 19. und 20. Jahrhundert nicht weniger als 34 berühmte Rechtsstreitigkeiten vor dem Supreme Court gegeben – „Schlüsselfälle“, in denen vielfach Einzelpersonen gegen öffentliche Einrichtungen klagten. Dass in Amerika ausgerechnet die Religionsfreiheit immer wieder zum Prüfstein bürgerlicher Freiheiten gegenüber den reglementierenden Begehrlichkeiten des Staates werden konnte, hängt mit den inbrünstig gepflegten Gründungsmythen des Landes zusammen. Obwohl bestenfalls zehn Prozent der weißen Siedler wegen religiöser Unterdrückung die europäische Heimat verließen20, wurden insbesondere die puritanischen Sakral-Legenden zum festen Bestandteil der kollektiven Erinnerung aller Amerikaner. Darin spielen biblische Déjà-vu-Erlebnisse eine zentrale Rolle. Von covenant, Exodus und Landnahme, dem Wagnis der Immigration in die unendliche, menschenleere wilderness ist hier die Rede.21 In einer Art Wüstenwanderung erzielt dieses zweite ‚Erwählte Volk’ Gottes politische Befreiung und ethische Reinigung. Als Frucht des neuen Bundes, unverbrüchlicher Treue und gesegneter Arbeit verwandelten die Gottesfürchtigen, unter Führung eines typologisch vorgestellten „Nehemia Americanus“22, die unendliche öde Weite ins Gelobte Land und erfüllten so seine Vorsehung. Der „Heilsplan Amerika“ darf mit seiner geographisch begrenzten Teil-Verwirklichung freilich nicht schon als erfüllt angesehen werden. Er ist lediglich Bürge aller kommenden Heilserwartung, erstreckt sich also auch in die Zukunft, nimmt zuweilen globale missionarische Züge an und wird sich erst am Ende der Tage vollenden. „… tief in ihrem Innern sind die Amerikaner auch heute noch überzeugt, dass sie den göttlichen Auftrag haben, das Licht der Freiheit und der Demokratie in alle dunklen Winkel der Erde zu tragen“23 – zuweilen auch

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Mulattensklavin durch eine DNA-Untersuchung zweifelsfrei erwiesen. Vgl. Ellis, Sie schufen Amerika, S. 275. Vgl. Charles H. Lippy, Pluralism Comes of Age. American Religious Culture in the Twentieth Century, Armonk, NY u.a. 2000, S. 8. Vgl. dazu Ulrike Brunotte, Puritanismus und Pioniergeist. Die Faszination der Wildnis im frühen Neu-England (Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten, Bd. 50), Berlin 2000. Als solcher bezeichnete sich John Winthrop, zit. bei Ulrike Brunotte, Puritanismus und Pioniergeist. Die Faszination der wilderness als Herausforderung für den amerikanischen Puritanismus, in: Kirchliche Zeitgeschichte 7, 1994, S. 44–58; Zitat: S. 54. Vgl. auch Dieter Schulz, The American Way: John Cotton, Roger Williams und die Paradoxien des Dissents, in: Rolf Kloepfer u. Burckard Dücker (Hrsg.), Kritik und Geschichte der Intoleranz. Dieter Harth zum 65. Geburtstag, Heidelberg 2000, S. 23–40. So Gelfert, Typisch amerikanisch, S. 15. Vgl. Nathan O. Hatch, The Democratization of American Christianity, New Haven, London 1989. Der Amerika-Freund Karl R. Popper berichtete,

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gegen den Willen der unfreien Völker, wie von Kritikern vermerkt wird.24 Vor diesem Hintergrund ist es kein Zufall, dass nach den Lehren der erfolgreichsten25, weil „amerikanischsten“ aller Religionen Jesus Christus am Ende der Tage im neuen Jerusalem Salt Lake City, der Metropole des Mormonenstaats Utah, wiederkommen wird.26 „A Vision, a plan and a church: these are three major elements of Mormonism“27, schreibt Douglas J. Davies und fährt fort: „The first vision produced a prophet, the plan of salvation a blueprint of doctrine, and the church an organization through which the vision and plan are realized.“ Die Hoffnung der Mormonen, dass Jesus Christus ausgerechnet in Amerika auf die Erde zurückkehrt, fußt freilich auf älteren Auserwähltheits-Traditionen. Nach einem Hauptwerk des kolonialen Puritanismus, den Magnalia Christi Americana des Geistlichen Cotton Mather, soll am Jüngsten Tag allein Amerika vom Weltbrand verschont bleiben. Der skizzierte Gründungsmythos adelt die Religionsfreiheit zum Inbegriff bürgerlicher Freiheit überhaupt. Im Juli 1995 revitalisierte William Jefferson Clinton diese Legende. Er, der wie kein anderer Präsident im Blick auf die biographischen Paradoxien seinem berühmten Vorgänger und Namensgeber Thomas Jefferson ähnelte, verkündete seinen Landsleuten: „Religionsfreiheit ist vielleicht die kostbarste aller amerikanischen Freiheiten. Darum wurde sie von vielen unsere ‚erste Freiheit’ genannt.“28 In wenigen Sätzen erzählte er dann die Geschichte von den frühen Religionsflüchtlingen bis zum ersten Zusatzartikel der Verfassung. Dann kommt jener Satz, der nicht nur den pädagogisch-politischen Motor in der Geschichte Amerikas, sondern auch das missionarische Anliegen der USA während der Besatzungszeit Deutschlands illustriert.29 Clinton sagte: „Die Begründer unserer Nation wussten, dass Religion dazu verhilft, unserem Volk einen Charakter zu geben, ohne den eine Demokratie nicht überleben kann.“30 Dann geht er auf den langen, zu diesem Zeitpunkt noch nicht entschiedenen Streit ein, nach dem Schulgebete31 und christliche Symbole schließlich aus den öf-

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er habe “nirgendwo […] eine so freie Luft geatmet wie in den Vereinigten Staaten von Amerika”. Karl R. Popper, Alles Leben ist Problemlösen. Über Erkenntnis, Geschichte und Politik, München 1996, S. 281. Auch für ihn steht die Geschichte Amerikas unter dem Motto: “Der Kampf für die Freiheit geht weiter.” Siehe ebd., S. 279. Vgl. z. B. Hans-Eckehard Bahr, Erbarmen mit Amerika. Deutsche Alternativen, Berlin 2003, bes. S. 46 ff. Nach der Römisch-katholischen Kirche (63,7 Mio. Mitglieder), den Southern Baptists (16 Mio.), der Evangelisch-methodistischen Kirche (8,3 Mio.) und der Kirche Gottes in Christus (5,5 Mio.) stehen die Mormonen heute mit 5,2 Mio. Mitgliedern auf dem 5. Platz – vor der Evangelisch-Lutherischen Kirche (5,1 Mio.). Vgl. ideaSpektrum 8, 2002, S. 12. Vgl. Robert Mullen, Die Mormonen. Geschichte einer Glaubensbewegung, Weilheim / Obb. 1968. Douglas J. Davies, An Introduction to Mormonism, Cambridge 2003, S. 1. Zit. nach Patrick / Long, Constitutional Debates, S. 300. Vgl. auch Edmund Spevack, Allied Control and German Freedom. American Political and Ideological Influences on the Framing of the West German Basic Law (Grundgesetz), Münster 2001. Zit. nach Patrick / Long, Constitutional Debates, S. 300. Vgl. auch Frank Lambert, The Founding Fathers and the Place of Religion in America, Princeton 2003. Siehe dazu auch Martin Sterr, Lobbyisten Gottes – Die Christian Right in den USA von 1980

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fentlichen Schulen verbannt wurden – im Namen der Religionsfreiheit! Und trotz solcher Entscheidungen gab und gibt es indirekte und informelle, aber nichtsdestoweniger enge Verbindungen zwischen Christentum und Politik. In den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts, mehr als 50 Jahre nach den bekannten Beobachtungen des französischen Katholiken Alexis de Tocqueville32, schrieb der Brite Lord James Bryce: „Die ganze Angelegenheit kann man zusammenfassen, indem man sagt, dass das Christentum zwar nicht als die legal etablierte Religion verstanden wird, aber doch als die Nationalreligion. Obwohl ihr Gemeinwesen insofern gottlos ist, begreifen die Amerikaner es so, dass der religiöse Charakter einer Regierung in nichts anderem als dem religiösen Glauben der einzelnen Bürger und in der Konformität ihres Verhaltens diesem Glauben gegenüber besteht.“33 Dieses inoffizielle, außerlegale protestantische Establishment prägte bis in die 1880er Jahre die soziale und kulturelle Wirklichkeit der Vereinigten Staaten. In der Phase danach, die bis etwa in die 1940er Jahre reicht, veränderten immer neue Immigrations-Wellen das konfessionelle und ethnische Gesicht Amerikas. Der römische Katholizismus etwa, seit jeher Inbegriff des freiheitsfeindlichen Klerikalismus, stieg zur größten geschlossenen Religionsgemeinschaft in den USA auf. Auf das protestantische Establishment wirkte diese Entwicklung traumatisch. Als die Puritaner uneingeschränkte Religionsfreiheit proklamiert hatten, sollte diese den Anhängern des „Antichristen“ in Rom, den Feinden der Freiheit, natürlich nicht zugestanden werden.34 1928 schickte sich der New Yorker Gouverneur und demokratische Präsidentschaftskandidat Alfred E. Smith an, das Weiße Haus zu erobern.35 Es nützte dem bekennenden Katholiken wenig, dass er an seine Glaubensgenossen appellierte, ihn nicht aus konfessionellen Gründen zu wählen, sondern nur dann, wenn sie überzeugt seien, dass seine Wahl den besten Interessen des Landes diene. Nicht zuletzt wegen der unbarmherzigen protestantischen Attacken unterlag er schließlich dem Republikaner Herbert C. Hoover. Da Smith gegen die Prohibition opponiert hatte, feierten die aufgehetzten protestantischen Grassroots seine Niederlage als Rettung aus der Doppelbedrohung von „Rum and Romanism“. Zehn Jahre später, Ende 1939, kam es zu einem schweren Eklat zwischen dem protestantischen Kirchen-

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bis 1996. Zwischen Aktion, Reaktion und Wandel, Berlin 1999, bes. S. 178 ff.; S. 198 ff.; S. 209 ff.; S. 242 ff.; S. 278 ff. Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, 2 Teile [1835 / 40], Zürich 1987. Zu Tocqueville siehe auch Karl-Heinz Breier, Alexis de Tocqueville (1805–1859), in: Bernd Heidenreich (Hrsg.), Politische Theorien des 19. Jahrhunderts, 2., neubearb. Aufl. Berlin 2002, S. 265–287. James Bryce, The American Commonwealth, Bd. 2, London 1888, S. 576 f. Vgl. Lippy, Pluralism, S. 5 f. Vgl. auch J. Bryan Hehir, Religious Freedom and U.S. Foreign Policy: Categories and Choices, in: Abrams, Influence of Faith. S. 33–52. Ironischerweise sieht Hehir die Wurzeln der Religionsfreiheit in der naturrechtlichen Ethik der katholischen Tradition begründet und nennt als einen Meilenstein für die Durchsetzung wie die Vorordnung dieses fundamentalen Menschenrechts vor den anderen die Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils zur Religionsfreiheit (1965). Ebd., S. 44 ff. Vgl. Randall Balmer, Religion in Twentieth Century America, Oxford 2001, S. 37 f.

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bund Amerikas und Präsident Franklin Delano Roosevelt36, weil dieser den Protestanten Myron C. Taylor zu seinem persönlichen Repräsentanten beim Vatikan berufen hatte. Dass der amerikanische Präsident eine Art Sonderbotschafter nach Rom entsandte und damit quasi-diplomatische Beziehungen zu dem obersten Feind der Religionsfreiheit aufnahm, war den Repräsentanten des amerikanischen Protestantismus ein schändlicher Verrat an ihrer Kultur.37 Als Präsident Harry S. Truman 1950 den ehemaligen General und „Befreier Roms“, Mark Clark, zum Nachfolger Taylors machen und ihn mit offiziellen Botschafter-Würden ausstatten wollte, entfachte auch er mit diesem Plan einen Sturm protestantischer Entrüstung.38 Der weltberühmte amerikanische Sozialpsychologe Gordon W. Allport schrieb damals: „Zur Zeit gibt es in den Vereinigten Staaten eine lebhafte Diskussion über die Frage, ob die katholische Kirche eine Gefahr für die demokratische Freiheit bilde, ob die katholische Kirche, falls sie in der Regierung die Mehrheit hätte, den anderen die Freiheit des Glaubens verweigern würde. So gestellt ist das Problem realistisch und wartet auf eine echte Antwort. Ist die Antwort Ja, so haben wir ein echtes Aufeinandertreffen absoluter Werte. Ist die Antwort Nein, könnte die ganze Frage vernünftigerweise fallengelassen werden. Wenn die Beschuldigung trotz klarer Verneinung dieser Frage fortbesteht, so handelt es sich um Vorurteile. Aber wie viele andere wird auch diese Frage nicht sachlich gestellt. Parteigänger auf beiden Seiten umgeben und vernebeln die Frage nur, um ihren Hass zu maskieren.“39 Das sollte noch eine Weile so bleiben. Doch 1960, zehn Jahre nach der Clark-Affäre, kämpfte der konservativ-evangelikale Protestantismus dann vergeblich gegen den katholischen Präsidentschaftskandidaten John F. Kennedy.40 Billy Graham, Norman Vincent Peale und viele andere aus der evangelikalen Szene scheiterten mit ihren katholikenfeindlichen Parolen, weil die katholische Bevölkerung, viele Schwarze und führende liberale Theologen aus dem Mainline-Protestantismus und vor allem die gewerkschaftlich organisierten Arbeiter den demokratischen Kandidaten aus politischen Gründen unterstützten. Die innere Pluralisierung des Protestantismus41 war so weit fortgeschritten, dass es nicht einmal mehr zu einer gemeinsamen Gegnerschaft reichte. Die protestantische Kulturreligion der Euro-Amerikaner hatte einer multiethnischen, konfessionsindifferenten Zivilreligion weichen müssen, die zwar Elemente des puritanischen Geistes in sich aufnahm, aber eben auch Bestandteile ganz ande36 Vgl. Detlef Junker, Franklin Delano Roosevelt (1933–1945): Visionär und Machtpolitiker, in: Jürgen Heideking (Hrsg.), Die amerikanischen Präsidenten. 41 historische Portraits von George Washington bis George W. Bush, 4. Aufl. München 2005, S. 308–322. 37 Vgl. Gerhard Besier, „The friends … in America need to know the truth …“. Die deutschen Kirchen im Urteil der Vereinigten Staaten (1933–1941), in: Jahrbuch des Historischen Kollegs München 1998, S. 23–76; hier S. 54–56. 38 Vgl. Besier, Protestantismus, Kommunismus und Ökumene in den USA, S. 363 f. Erst seit 1984 unterhalten die USA offizielle diplomatische Beziehungen zum Heiligen Stuhl. 39 Gordon W. Allport, Die Natur des Vorurteils [1954], Köln 1971, S. 445. 40 Vgl. Besier, Protestantismus, Kommunismus und Ökumene in den USA, S. 421–423. 41 Vgl. zu dieser Entwicklung Rodney Stark, One True God. Historical Consequences of Monotheism, Princeton u.a. 2001, S. 228 ff.

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rer Provenienz enthält.42 Seither ist es deren Funktion, mithilfe kultureller Sinngebungssysteme – Vorstellungen, Bedeutungen, Symbolen und Ritualen43 – das nationale Leben mit religiöser Bedeutung aufzuladen.44 In Gestalt des Trylon of Freedom hat die Religionsfreiheit auf dem Capitol Hill in Washington D.C., dem amerikanischen Tempelbezirk der Zivilreligion, ihre visuelle Repräsentanz erhalten.45 Symbolträchtige Akte des höheren Einvernehmens zwischen den amerikanischen Präsidenten und dem offiziellen Protestantismus hatte es freilich, trotz des Ersten Verfassungszusatzes und der zurückgehenden protestantischen Dominanz, noch bis in die 1950er Jahre immer wieder gegeben. 1958 legte Dwight D. Eisenhower den Grundstein für das protestantische Interchurch Center an der Upper West Side von Manhattan.46 Seine Gegenwart symbolisierte noch einmal die gerade noch intakte Fusion des Mainline-Protestantismus mit den amerikanischen MittelklasseWerten. Die riesige Kirchenburg sollte bald zum triumphalen Wahrzeichen protestantisch-ökumenischer Homogenisierung werden, aber auch – damit verbunden – zu einem Monument vergehender Macht.47 Zusammen mit der fortschreitenden religiösen Diversifizierung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts48 verschärften sich die Auseinandersetzungen über die genaue Bedeutung des Ersten Zusatzes der amerikanischen Verfassung. Sie reichen bis in die unmittelbare Gegenwart.49 Drei Bundesgesetze markieren Höhepunkte dieser Kontroversen: Der Equal Access Act von 198450, der Religious Freedom Restoration Act von 1993, den der Oberste Gerichtshof als nicht mit der Verfassung vereinbar wieder außer Kraft setzte51, und schließlich der International Religious 42 Vgl. dazu ebd., S. 244 ff. und aus deutscher Perspektive Wolfgang Vögele, Zivilreligion in der Bundesrepublik Deutschland, Gütersloh 1994, bes. S. 319 ff.; ders., Menschenwürde zwischen Recht und Theologie. Begründungen von Menschenrechten in der Perspektive öffentlicher Theologie, Gütersloh 2000, bes. S. 23 ff.; S. 440 ff. Im Unterschied zu den USA scheint in Deutschland das Bestreben zu bestehen, auch die „öffentliche Theologie“ zivilreligiöser Überzeugungen durch die traditionellen christlichen Konfessionen zu bestimmen. 43 Vgl. Eugene F. Hemrick, One Nation Under God. Religious Symbols, Quotes, and Images in Our Nation’s Capital, Huntington 2001. 44 Vgl. Rolf Schieder, Civil Religion. Die religiöse Dimension der politischen Kultur, Gütersloh 1987, bes. S. 74 ff. 45 “In Front of the Federal District Court, across the street from the east wing of the National Gallery of Art, stands the three-sided Trylon of Freedom in which early pilgrims praying before a cross represent freedom of religion.” Hemrick, One Nation Under God, S. 36. 46 Vgl. Balmer, Religion, S. 42 f. 47 Vgl. Lippy, Pluralism, S. 18 ff.; S. 154 f. 48 Siehe zu diesem Prozess auch Edwin S. Gaustad (Hrsg.), A Documentary History of Religion in America since 1865, 2. Aufl. Grand Rapids 1993. 49 Vgl. Noah Feldman, Divided by God. America’s Church-State Problem – And what we should do about it, New York 2005. 50 Vgl. Patrick / Long, Constitutional Debates, S. 204 ff. Dieses Gesetz wollte die First Amendment-Rechte von Schülern und Studenten stärken, ihren religiösen Überzeugungen an Schule, College und Universität Ausdruck zu verleihen. Vgl. auch Besier, Protestantismus, Kommunismus und Ökumene, S. 619. 51 Vgl. Günter Krings, Religionsfreiheit und Staat in den USA. Der Streit um den Inhalt der Religionsklauseln der Bundesverfassung, in: Religion-Staat-Gesellschaft 1, 2000, S. 261–292; hier S. 282–285.

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Freedom Act von 1998. Dieser sollte nicht zuletzt für das Verhältnis zu den europäischen Verbündeten zu einer ernsthaften Belastung werden und die bis dahin camouflierten Unterschiede im Freiheitsverständnis offen legen.52 Unberührt von diesen Auseinandersetzungen, auf die wir gleich zurückkommen wollen, war der Wille zur Pluralisierung des Christentums von vorneherein allgegenwärtig. Die Koexistenz verschiedener protestantischer Denominationen nebeneinander sollte die freie Religionsausübung gewährleisten und die Dominanz einer bestimmten Kirche verhindern.53 Wenn keine religiöse Gemeinschaft vom Staat privilegiert würde, so die Logik, dann müssten auch alle auf gleicher Ebene stehen – nicht zuletzt in der Wahrnehmung durch die Justiz und die Regierung. Diese Maxime wird in den Vereinigten Staaten bis heute als eine entscheidende Innovation in der Geschichte religiöser Kulturen betrachtet54 und einhellig gegen verschiedene Anfragen von außen verteidigt. Tatsächlich führten diese Rechtsverhältnisse zu einem sich immer mehr diversifizierenden religiösen Markt, der – alle religiösen Aktivitäten zusammengenommen – bis heute hohe Wachstumsraten verzeichnen kann.55 Das heißt: Immer mehr Bürger der USA gehören – in bemerkenswertem Gegensatz zu Europa56 – einer religiösen Gemeinschaft an. Sechsundneunzig Prozent aller Amerikaner glauben an Gott, 80% an ein Leben nach dem Tod, 72% an den Himmel und 56% an die Hölle; 79% beten zu Gott.57 Im Jahr 2002 gaben 59% der Amerikaner an, „Religion spiele eine sehr wichtige Rolle in ihrem Leben“, in Deutschland waren es weniger als die Hälfte, nämlich 22%, in Frank52 John Rawls plädierte für weitest gehende Toleranz gegenüber “nichtliberalen, aber zivilisierten“ Gesellschaften. Allein gegen Staaten, die Menschenrechte verletzen, besitzen liberale Gesellschaften das Recht auf Intoleranz. John Rawls, The Law of Peoples. With “The Idea of Public Reason Revisited”, Cambridge, Mass. 1999, bes. S. 59 ff.; S. 80 ff. (deutsch: Das Recht der Völker. Enthält: “Nochmals: Die Idee der öffentlichen Vernunft”, Berlin, New York 2002, bes. S. 71 ff; S. 185 ff.). Vgl. auch Rainer Forst, Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs, Frankfurt a. M. 2003. 53 Zu Recht betont Hoye, Demokratie und Christentum, S. 176, dass am Anfang der amerikanischen Demokratiegeschichte Religionsfreiheit und Gewissensfreiheit zusammenfallen. Gret Haller, Die Grenzen der Solidarität. Europa und die USA im Umgang mit Staat, Nation und Religion, Berlin 2002, S. 135, bringt dies im interkontinentalen Vergleich auf die Formel: Europa habe sich „für die Freiheit zum Staat“ entschieden, „um die Freiheit von der Religion durchsetzen zu können, während sich die Vereinigten Staaten umgekehrt zur Freiheit vom Staat bekannten, um die Freiheit zur Religion durchsetzen zu können.“ Von daher sei die Menschenrechtspolitik in Europa eine Angelegenheit des „starken Staates“, in den USA dagegen sei sie im religiösen Bekenntnis verankert. Frederic Cople Jaher, The Jews and the Nation. Revolution, Emancipation, State Formation, and the Liberal Paradigm in America and France, Princeton 2002, zeigt, dass dieser dynamische religiöse Pluralismus nicht allein christlichen Denominationen zugute kam und darüber hinaus zu einer partiellen Transformation des religiösen in einen kulturellen bzw. ethnischen Pluralismus führte. 54 Vgl. Lippy, Pluralism, S. 7. 55 Vgl. Roger Finke u. Rodney Stark, The Churching of America, 1776–1990. Winners and Losers in our Religious Economy, New Brunswick 1992. 56 Vgl. Michael Argyle, Psychology and Religion. An Introduction, London, New York 2000, S. 200 ff., der die britischen mit den US-amerikanischen Verhältnissen vergleicht. 57 So Life, Dezember 1998. Vgl. auch Die Welt, 29. Mai 1999, S. 7.

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reich gar nur 11 Prozent.58 Allerdings verlieren die traditionellen protestantischen Hauptkirchen, zum Teil in dramatischem Ausmaß59, ihre Gläubigen an junge dynamische Religionsgemeinschaften und konservativ-evangelikale Netzwerke.60 Zur Pfingstbewegung bekennen sich allein zwölf Millionen Amerikaner; die Mormonen verzeichnen einen Zuwachs von 40% pro Dekade.61 Diese Entwicklung kann als Ergebnis der prinzipiellen Gleichbehandlung aller Religionsgemeinschaften in der amerikanischen Gesellschaft gesehen werden. Inhaltliche, also auf die religiösen Lehren bezogene Gewichtungen, sind unbekannt. In den Religions-Statistiken werden die Religionsgemeinschaften entweder nach dem Alphabet oder nach der Zahl ihrer Mitglieder aufgelistet.62 Natürlich besitzt der amerikanische Staat auch kein Definitionsrecht darüber, welche Gemeinschaft als Religion gelten kann und welche nicht. Er, konkret der Internal Revenue Service, eine Abteilung des Department of Treasury, entscheidet allerdings über die beantragte Steuerbefreiung durch eine selbsterklärte Religionsgemeinschaft.63 Wenn kommerzielle Gesichtspunkte die transzendenten überwiegen, werden die Steuerbefreiung und damit der begünstigte Status als Religionsgemeinschaft verweigert. Ansonsten sind alle religiösen Bekenntnisse und Denominationen horizontal und pluralistisch gleichgestellt. In europäischen Ländern mit einem sog. „Kooperationsmodell“ zwischen Staat und Kirchen64, in Deutschland etwa, schleicht sich dagegen eine religiöse Maßstabsbildung nach den Kriterien der beiden großen Volkskirchen ein, und nicht selten fungieren deren „Experten“ als staatliche Ratgeber bei der Beurteilung einer „umstrittenen“ Religion.65 Im Ergebnis entsteht faktisch eine Art Hierarchisierung der Religionen, 58 The Pew Research Center For The People & The Press, Washington D.C. (www.people-press. org). 59 Das gilt besonders für die Presbyterianische Kirche in den USA (PCUSA), die seit 1965 von 4,2 auf 2,5 Millionen Mitglieder geschrumpft ist und jedes Jahr weitere 35.000 Mitglieder verliert. Siehe dazu und zu den Hintergründen ideaSpektrum 28, 2001, S. 19–21. Vgl. auch Gerhard Besier, From Mainline to „Sideline“? Zur Entwicklung der protestantischen Hauptkirchen und ihrer evangelikalen Konkurrenz in den USA (1945–1990), in: Kirchliche Zeitgeschichte 13, 2000, S. 456–481. 60 Siehe zum rasanten Wachstum der Evangelikalen in den USA ideaSpektrum 8, 2000, S. 11 – unter Berufung auf den US-Informationsdienst „Religion Today“. 61 Vgl. Die Welt, 29. Mai 1999, S. 7. 62 Die römisch-katholische Kirche ist mit nahezu 65 Millionen Gläubigen, also ca. 23% der Bevölkerung, die größte Einzelkirche der USA. Siehe zu den übrigen Kirchen The Yearbook of American and Canadian Churches, 2002. Über die historischen Ursprünge der Kirchen gibt John Gordon Melton, Melton‘s Encyclopedia of American Religions, 8. Aufl. Detroit 2009, Auskunft. 63 Vgl. beispielsweise zu dem Anerkennungsverfahren der Church of Scientology einen kritischen Artikel in der Time vom 6. Mai 1991. Daraufhin verklagte Scientology das Magazin auf Unterlassung und Schadensersatz in Höhe von 416 Mio. Dollar. 1996 verlor Scientology diesen Prozess. 64 Vgl. zu den staatskirchenrechtlichen Systemtypen Gerhard Robbers (Hrsg.), Staat und Kirche in der Europäischen Union, Baden-Baden 1995, bes. S. 352 ff. 65 Vgl. z. B. Michael Browne, Should Germany Stop Worrying and Love the Octopus? Freedom of Religion and the Church of Scientology in Germany and the United States, in: Indiana International & Comparative Law Review 9, 1998, S. 155–202.

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an deren Spitze die beiden großen Kirchen stehen.66 Von den theologisch qualifizierten Gipfeln dieser kulturell nicht mehr überbietbaren, christlichen Hochreligionen geht es dann allmählich in die Niederungen bis hinab zu den sogenannten „Psycho-Organisationen“ – eigentlich „gefährliche“ Missbildungen, denen, im Widerspruch zu ihrer eigenen Einschätzung, ein religiöser Gehalt direkt abgesprochen wird.67 In diesem Zusammenhang vertreten selbst Kenner der amerikanischen Szene die Auffassung, dass in den Kirchen der Vereinigten Staaten „Theologie kaum eine Rolle“68 spiele; darin sehen sie einen wichtigen Unterschied zu Deutschland. Demgegenüber ist zu betonen, dass es in den USA selbstverständlich eine höchst beachtliche Kultur theologischer Lehre und Forschung gibt.69 Aber diese tritt wegen der etwas lärmenden Frömmigkeit der Tele-Evangelisation und der sogenannten „Mega-Kirchen“ mehr noch als anderswo in den Hintergrund. Anders als hierzulande finden freilich schwer verständliche theologische Abhandlungen kaum ein Achtungs-Publikum. Die große Mehrheit der Amerikaner honoriert vor allem das, was ihr unmittelbar plausibel und benutzerfreundlich erscheint. Im religiösen Bereich ist das meist ein eng an der Bibel orientiertes, alltagstaugliches Christentum, das seine Frömmigkeit durch sozialkaritative Arbeit dokumentiert. Diese auch im religiösen Bereich pragmatisch-konsumorientierte Haltung, ein deregulierter religiöser Markt und der missionarische Anspruch werden von amerikanischen wie deutschen Beobachtern manchmal als „McJesus Worldwide, Inc.“ charakterisiert.70 Der religiöse Markt und der Selbsthilfemarkt haben eine große Überschneidungsfläche. Insofern ist Religion nur ein Anbieter auf dem „Markt des self-improvements“71 und muss sich daran messen lassen, welche praktischen Ergebnisse sie auf dem „feel good“-Feld erzielt. Dieses wichtige Kernanliegen amerikanischer Religionen tendiert zum Individuell-Therapeutischen. Darin eingeschlossen ist eine „mind cure“, für die zum Beispiel die Religionsgemeinschaft „Christian Science“72 denselben Status beansprucht wie die Schulmedizin.73 Auch die ideologisch-religiöse Rechtfertigung politischen Handelns, der bis heute ungebrochene Sendungsglaube, spielt in den USA eine enorme Rolle. Für den amerikanischen Präsidenten Harry S. Truman war die Welt in „zwei große Rich66 Vgl. z. B. das von Horst Reller und anderen hg. lutherische „Handbuch Religiöse Gemeinschaften und Weltanschauungen“, 5. Aufl. Gütersloh 2000. 67 Vgl. Derek H. Davis (Hrsg.), Religious Liberty in Northern Europe in the Twenty-first Century, Waco 2000, bes. S. 107 ff.; ders. / Besier, International Perspectives, bes. S. 121 ff. 68 Gelfert, Typisch amerikanisch, S. 17. 69 Vgl. Mark A. Noll, Das Christentum in Nordamerika, Leipzig 2000, bes. S. 182 ff.; Reinhard Hütter, „After Dogmatics“? Beobachtungen zur evangelischen Systematischen Theologie in den USA und in Deutschland an der Jahrhundertschwelle, in: Theologische Literaturzeitung 125, 2000, S. 1104–1122. 70 Vgl. Claus Leggewie, Amerikas Welt. Die USA in unseren Köpfen, Hamburg 2000, S. 123– 130. 71 Vgl. Prätorius, In God We Trust, S. 188. 72 Vgl. Mary Baker Eddy, Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift, 12. Aufl. Boston 1998. 73 Vgl. Prätorius, In God We Trust, S. 179; S. 183.

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tungen“ eingeteilt: eine demokratische, der Freiheit verpflichtete Lebensform und eine autokratische, die Freiheit unterdrückende.74 Damit brachte er ein Lebensgefühl zum Ausdruck, das in vielen amerikanischen Religionen – auch in christlichen – wie selbstverständlich gepflegt wird: die Aufteilung der Welt und ihrer Bewohner in Gute und Böse. Und wer die ihm gebotene Chance nicht ergreift, also nicht ins Lager der Guten wechselt, der muss nach dieser eigenartigen Philosophie mit negativen Konsequenzen rechnen. Wie unterschiedlich die mentalen Voraussetzungen zwischen den USA und Europa im Blick auf das Religions- aber auch das Staatsverständnis sind, illustriert jene Geschichte, die dem Religious Freedom Restoration Act von 1993 vorausgegangen war und die dieses Gesetz motiviert hatte: Alfred Smith, Mitglied einer Native American Church, verlor seine Stelle als Berater einer privaten Klinik für Drogenrehabilitation, weil er selbst Peyote, eine halluzinogene Droge, eingenommen hatte.75 Smith berief sich darauf, dass er die Droge allein zu sakramentalen Zwecken im Rahmen eines religiösen Rituals zu sich genommen habe, wie Generationen von Gläubigen seiner Religionsgemeinschaft zuvor. Der Staat Oregon wollte jedoch keine religiöse Ausnahme im Blick auf die staatliche Gesetzgebung zulassen, was zur Folge hatte, dass der nunmehr beschäftigungslose Smith auch keine Arbeitslosenunterstützung erhielt. Der Drogenkonsument aus religiösen Motiven sah darin eine Verletzung seines Rechts auf freie Religionsausübung. In der Entscheidung des Obersten Gerichtshofes zugunsten des Staates Oregon im Jahre 1990 sahen viele Amerikaner eine empfindliche Zäsur in der Rechtsprechung ihres Landes. Sie befürchteten eine grundsätzliche Wende in Sachen Religionsfreiheit – derart, dass die Tendenz nun dahin gehe, dem Staat das Recht auf Einschränkung der individuellen Religionsfreiheit einzuräumen. Über siebzig religiöse Organisationen und Bürgerrechtsgruppen höchst unterschiedlicher Provenienz bildeten eine Coalition for the Free Exercise of Religion. Einig war sich die überaus heterogene Koalition beinahe nur in der Verteidigung dessen, was sie für essentiell hielt – nämlich das Recht auf freie Religionsausübung. Ihre Lobby-Arbeit zeitigte einen beachtlichen Erfolg.76 Das Gesetz zur Wiederherstellung der Religionsfreiheit fand die ungeteilte Zustimmung des Repräsentantenhauses und passierte mit 97 zu drei Stimmen den Senat. Am 16. November 1993 unterzeichnete Präsident Clinton den Religious Freedom Restoration Act. Er lobte das Gesetz, weil der Staat auf einem sehr hohen Niveau zu einer Prüfung veranlasst werde, bevor er jemandes freie Religionsausübung beschneiden könne. Senator Edward Kennedy zählte das Gesetz zu den bedeutendsten Stücken legislativer Arbeit in Sachen Religionsfreiheit, die jemals vom Kongress verabschiedet worden seien.77 74 Vgl. Peter Bender, Weltmacht Amerika – Das neue Rom, Stuttgart 2003, bes. S. 140 f.; siehe auch Herfried Münkler, Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, Berlin 2005, bes. S. 224 ff.; Gerhard Besier u. Gerhard Lindemann, Im Namen der Freiheit. Die amerikanische Mission, Göttingen 2006, S. 213 ff. 75 Vgl. Patrick / Long, Constitutional Debates, S. 130 ff. Siehe auch Krings, Religionsfreiheit, S. 271 f.; Hammond, With Liberty for All, S. 46 ff. 76 Vgl. Patrick / Long, Constitutional Debates, S. 275 ff. 77 Vgl. ebd., S. 275.

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Dem Gesetz zufolge sollte verhindert werden, dass der Staat einem Individuum ohne Weiteres die Folgen seiner freien Religionsausübung würde aufbürden können. Dies sollte auch dann nicht der Fall sein, wenn die Bürde in einem Gesetz bestand, das allgemeine Gültigkeit beanspruchte. Falls die Regierung in einem konkreten Fall dennoch auf der Einhaltung des Gesetzes bestehe, müsse sie ihr zwingendes Interesse nachweisen und zeigen, dass sie dafür den am wenigsten restriktiven Weg gewählt habe.78 Als der Oberste Gerichtshof am 25. Juni 1997 das Gesetz für „unconstitutional“ erklärte79, traten an seine Stelle eine Reihe anderer Gesetze. Überdies verabschiedeten etwa ein Dutzend Bundesstaaten Gesetze, die sich ganz auf der Linie des Religious Freedom Restoration Act bewegten.80 Damit waren die Auseinandersetzungen über Religionsfreiheit freilich nicht beendet. Bis in die jüngste Zeit bewegen die Amerikaner Debatten über Fragen, ob staatliche Schulgutscheine für den Besuch privater Schulen in kirchlicher Trägerschaft oder das allmorgendliche Treuegelöbnis im Einklang mit der Verfassung und mit dem First Amendment stehen.81 In Montgomery, Alabama, kam es im neuen Jahrhundert zu schweren Auseinandersetzungen, weil ausgerechnet der Vorsitzende des dortigen Obersten Gerichtshofes eine wuchtige Skulptur im Gerichtsgebäude hatte aufstellen lassen.82 Sie zeigt ein aufgeschlagenes Buch aus Granit, in dem die Zehn Gebote zu lesen sind. Bürgerrechtsorganisationen beanstandeten, dass das Monument im Gerichtsgebäude den Ersten Zusatz zur amerikanischen Verfassung verletze, und klagten mit Erfolg. Im Sommer 2003 musste der Stein des Anstoßes entfernt werden. Im Frühjahr 2002 tobte im katholischen Cleveland (Ohio) eine heftige Auseinandersetzung um die sog. Schulgutscheine, mit denen der Staat in einigen Bundesstaaten Kindern aus einkommensschwachen Familien den Besuch einer privaten Schule finanziert.83 Sechsundvierzig der 51 privaten Schulen in Cleveland werden von religiösen Einrichtungen, überwiegend der katholischen Kirche getragen. Sechsundneunzig Prozent der 4456 bedürftigen Kinder zwischen 5 und 14 Jahren besuchen eine konfessionelle Privatschule, denn diese verlangt nicht mehr Schulgeld als den Gegenwert der Gutscheine – 2500 Dollar. Da die Public Schools in den ärmsten Gegenden katastrophal schlechte Ergebnisse erzielen, erhöht der Besuch einer Privatschule die Chancen der Kinder beträchtlich. Aber sie müssen in katholischen Privatschulen unter Kreuzen und mit Sprüchen wie „Jesus is your best friend“ leben und lernen. Darum kritisieren Lehrergewerkschaften und Bürgerrechtsgruppen, dass mit den Schulgutscheinen die Trennung von Staat und Kirche unterlaufen werde. Man pumpe Steuermittel in die Privatschulen, anstatt mit staatlichen Geldern die öffentlichen Schulen zu reformieren. Trotz der hohen Religiosität in den Staaten votierten Umfragen zufolge 50,2% gegen die Gutscheine, 42% 78 Vgl. Section 3 des Gesetzes, wiedergegeben in: ebd., S. 276 f. 79 Vgl. City of Boerne (Tex) v. Flores (1997), ebd., S. 310–321. 80 Vgl. wysiwyg://64/http:/www.religioustolerance.org/rfa.htm. Siehe auch Associated Press, 21. November 2002: Pennsylvania Senate passes religious-freedom measure. 81 Vgl. Krings, Religionsfreiheit, S. 286 ff. 82 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. August 2003, S. 35. 83 Siehe Die Zeit, 27. März 2002, S. 39.

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dafür. Im Zweifelsfall entschieden sich die religiösen Amerikaner also mehrheitlich immer noch für den Vorrang des Trennungsgebotes vor allen anderen Überlegungen. Am 27. Juni 2002 erklärte der Oberste Gerichtshof mit fünf zu vier Stimmen die Vergabe von Schulgutscheinen an arme Schüler für verfassungsgemäß.84 Am 25. Februar 2004 bekräftigte dagegen der Supreme Court noch einmal das Trennungsgebot, indem er entschied, dass Studierende der Theologie durch den Staat nicht finanziell unterstützt werden dürften.85 Die Gegenseite, darunter auch die Bush-Administration, hatte eine solche Zahlungsverweigerung als religiöse Diskriminierung verstehen wollen, die der Verfassung widerspreche. Das Problem in den USA besteht darin, dass zwar Staat und Kirche getrennt, Gott und Vaterland aber untrennbar miteinander verbunden sind. Sobald die allen gemeinsame zivilreligiöse Grundlage der Gesellschaft in Frage gestellt wird, erhebt sich geschlossener Protest. Das musste im Juni 2002 das kalifornische Bundesberufungsgericht erleben, als es das an vielen Schulen übliche Treuegelöbnis, die sog. „Pledge of Allegiance“86, für verfassungswidrig erklärte.87 Dieser meist zum täglichen Schulbeginn abgelegte Treueschwur lautet: „Ich schwöre Treue auf die Fahne der Vereinigten Staaten von Amerika und die Republik, für die sie steht, eine Nation unter Gott, unteilbar, mit Freiheit und Gerechtigkeit für jeden.“ Die erst 1954, mitten im Kalten Krieg, eingefügte Formulierung „eine Nation unter Gott“, so entschied die Richterkammer des Court of Appeals, verletze das Trennungsgebot. Die Empörung beider Parteien in Washington war so groß, dass Sitzungen im Senat unterbrochen werden mussten. Der Senat verabschiedete eine Resolution zur Beibehaltung des Fahneneids, Dutzende von Mitgliedern des Repräsentantenhauses scharten sich vor dem Kapitol zusammen, sprachen gemeinsam das Treuegelöbnis und sangen „God Bless America“. Der damalige Justizminister Ashcroft und Kaliforniens ehemaliger Gouverneur Davis, ein Demokrat, ersuchten das Gericht um Prüfung seines Spruchs. Als Reaktion auf den Proteststurm setzte Richter Goodwin, der Autor der Mehrheitsmeinung, die Rechtskraft des Urteils einstweilen aus.88 Am 14. Juni 2004 revidierte der Supreme Court schließlich das von den unteren Instanzen ausgesprochene Urteil bezüglich des Fahneneids an Schulen aus technischen Gründen. Damit half er sich indirekt selbst aus der Bredouille, denn jede seiner Sitzungen wird mit den Worten eröffnet: „God save the United States and this Honorable Court.“89 Zwar hielt der Supreme Court in früheren Urteilen Gebete im Schulunterricht, auch wenn sie freiwillig erfolgten, für verfassungswidrig, aber die Mehrheit der Richter hielt es für grundsätzlich erlaubt, dass amerikanische Gemein84 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29. Juni 2002, S. 41. 85 Vgl. New York Times, 26. Februar 2004. 86 Vgl. Derek H. Davis, The Pledge of Allegiance and American Values, in: Journal of State & State 42, 2003, S. 657–668. 87 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28. Juni 2002, S. 45. Siehe auch Lee Canipe, Under God and Anti-Communist: How the Pledge of Allegiance Got Religion in Cold War America, in: Journal of Church & State 45, 2003, S. 305–323. 88 Evelyn Nieves, Judges Ban Pledge of Allegiance From Schools, Citing ‚Under God‘, in: New York Times, 27. Juni 2002; Excerpts From Federal Court Ruling on the Pledge of Allegiance, in: ebd. 89 Vgl. Hoye, Demokratie und Christentum, S. 179.

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den zur Weihnachtszeit Krippen aufstellten, da das Weihnachtsfest mitsamt seinen Symbolen inzwischen auch einen säkularen Charakter erhalten habe und damit zum zivilreligiösen Kulturgut („ceremonial deism“) avanciert sei. Unabhängig davon tobt seit den 1990er Jahren hintergründig ein Kulturkrieg um das First Amendment.90 Während die Gerichte in den 1970er und 1980er Jahren den Trennungsgedanken immer solider zu befestigen trachteten, versuchen seit den 1990er Jahren die Religious Right-Bewegung und eine republikanische Mehrheit, diesen auszuhöhlen. Nach den Schulen in religiöser Trägerschaft könnten über ähnliche Umwege auch kirchlich geleiteten Sozialeinrichtungen und Wohltätigkeitsorganisationen staatliche Gelder zufließen.91 Paul Stevens, einer der vier überstimmten Richter am Supreme Court, erinnerte seine fünf siegreichen Kollegen nach dem Gutschein-Urteil daran, das die Trennung von Staat und Religion nicht als bloße Kaprice der Verfassungsväter zu begreifen sei. Vielmehr begründe sie die Religionsfreiheit und wehre dem Risiko religiösen Zwists. Angesichts des hohen Stellenwerts der Religionsfreiheit im eigenen Land und vor dem Hintergrund des damit eigentümlich verquickten, missionarischen Impetus der Vereinigten Staaten, kann es nicht verwundern, dass die USA sich in der Nachkriegsära vermehrt auch um die Förderung der Religionsfreiheit in aller Welt bemühen.92 Sie hatten maßgeblichen Anteil an der Formulierung der Universellen Erklärung der Menschenrechte sowie deren Verkündung durch die allgemeine Versammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948. Hier heißt es in Artikel 18: „Jeder hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht schließt die Freiheit ein, seine Religion oder Überzeugung zu wechseln, sowie die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung allein oder in Gemeinschaft mit anderen, öffentlich oder privat durch Lehre, Ausübung, Gottesdienst und Kulthandlungen zu bekennen.“ Als aktives Mitglied der UN-Menschenrechtskommission setzten sich die USA in der Folgezeit immer wieder für die Durchsetzung der Religionsfreiheit in verschiedenen Teilen der Welt ein. Während der 1970er Jahre ahndeten sie die Einschränkungen der Religionsfreiheit und des Rechts auf Auswanderung, insbesondere von Juden, gegenüber der UdSSR mit Handelsbeschränkungen. Etwa gleichzeitig machten sich amerikanische Diplomaten für eine Verankerung der Religionsfreiheit in den entscheidenden KSZE-Dokumenten stark. 1977, nach der Wahl Jimmy Carters, wurden die legislativen Voraussetzungen dafür geschaffen, dass das State Department Jahresberichte über die Einhaltung der Menschenrechte in anderen Ländern vorlegte. Der erste Report erschien Anfang Februar 1979 und enthielt zur Religionsfreiheit nur einen Satz. Er betraf die stark eingeschränkten Möglichkeiten der Religionsausübung in Saudi Arabien. In den 1980er Jahren sorgten ver90 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1. Juli 2002, S. 33. 91 Vgl. Jenniver Loven, Bush to Enact ‚Faith-Based’ Measure, in: Associated Press, 12. Dezember 2002. 92 Vgl. hierzu und zum Folgenden T. Jeremy Gunn, The United States and the Promotion of Freedom of Religion and Belief, in: Tore Lindholm / W. Cole Durham, Jr. / Bahia G. Tahzib-Lie (Hrsg.), Faciliating Freedom of Religion or Belief: A Deskbook, Dordrecht (NL) 2001, S. 162– 188.

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schiedene Kongressinitiativen für einschlägige Konferenzen und Hearings. Nach Reisen in die einschlägigen Länder entstand ein Programm zur Unterstützung religiös Verfolgter und Inhaftierter. 1988 legte das regierungs-offiziöse United States Institute of Peace (USIP) ein Programm auf, das den Titel „Religion, Ethics and Human Rights“ trug. Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks verstärkten internationale Organisationen, allen voran die OSZE ihre Anstrengungen zur Durchsetzung der Religionsfreiheit in aller Welt. In diesem Zusammenhang nahmen konservative Amerikaner immer wieder auch die VR China in den Blick. Mitte der 1990er Jahre stellte die US-Helsinki-Kommission fest, dass es auch in Europa Probleme mit religiöser Intoleranz gebe und dass im Bereich der OSZE Minoritätsreligionen diskriminiert würden. Gleichzeitig klagten überwiegend konservative religiöse Vereinigungen über die Verfolgung von Christen und forderten die Clinton-Administration zum Handeln auf.93 Daraufhin veranlasste Secretary of State Madeleine Albright amerikanische Diplomaten in aller Welt, ihr besonderes Augenmerk auf die Verletzung von Religionsfreiheit zu legen. Auf Anforderung des Kongresses legte das State Department dann Ende Juli 1997 einen Bericht vor. Bereits zuvor war von der Regierung ein zwanzigköpfiges Secretary of State’s Advisory Committee on Religious Freedom Abroad eingesetzt worden, das 1998 und 1999 jeweils einen Bericht vorlegte. Die Kommission empfahl der Regierung die Einrichtung einer hochrangigen offiziellen Stelle innerhalb des State Department, die sich mit Angelegenheiten der Religionsfreiheit befassen sollte. Eine von zwei Gesetzesinitiativen konnte schließlich den Senat wie das Repräsentantenhaus überzeugen. Der im Oktober 1998 von beiden Häusern des Kongresses einstimmig verabschiedete International Religious Freedom Act verurteilte die Verletzungen von Religionsfreiheit in aller Welt und sollte die Grundlage dafür bilden, auf solche Verletzungen zu antworten. Auf administrativer Ebene wurde innerhalb des State Department ein Büro für Internationale Religionsfreiheit eingerichtet, das über alle Verletzungen berichten und die Aktivitäten zur Förderung der Religionsfreiheit koordinieren sollte. Der Act verpflichtete das State Department, jedes Jahr einen öffentlichen Bericht über den Zustand der Religionsfreiheit in allen Ländern der Welt vorzulegen. Der Präsident der Vereinigten Staaten hatte dem Gesetz zufolge „Aktionen“ zur Durchsetzung der Religionsfreiheit auf den Weg zu bringen. In ernsten Fällen, die Skala der Interventionen reicht von eins bis fünfzehn – ist von „Sanktionen“ die Rede. Neben dem Büro wurde eine hochrangige neunköpfige Kommission für Internationale Religionsfreiheit etabliert und der Nationale Sicherheitsrat um einen Spezialberater für Religionsfreiheit erweitert. Zur Beförderung der Maßnahmen wurden entsprechende Mittel bereitgestellt und Teile des US-Botschaftspersonals eigens für die neue Aufgabe instruiert. Mitte Mai 2001 berichtete Le Monde diplomatique über die verheerenden bilateralen Auswirkungen des Gesetzes auf die französisch-amerikanischen Beziehungen. Es vergifte das freundschaftliche Verhältnis zwischen Europa und den USA. Denn in den seit 1998 erscheinenden Jahresberichten wurden auch Frankreich, Deutschland, Österreich und Belgien schwerwiegende Verstöße gegen die 93 Vgl. Hehir, Religious Freedom, S. 35 ff.; S. 49 f.

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Religionsfreiheit vorgeworfen.94 Die französische Politik zur Eindämmung des Sektenwesens95, so schrieb der Journalist Bruno Fouchereau in dem offiziösen Blatt empört, werde „in die Nähe blinder Verfolgungswut gerückt“ und Frankreich vorgeworfen, „es sei auf dem Weg zu einem neuen Vichy-Staat“.96 Aufgrund seiner Recherchen gelangte er zu dem Ergebnis, dass es sich bei den Beamten des Büros für internationale Religionsfreiheit um fundamentalistische Ignoranten ohne Kenntnis der französischen Rechtsverhältnisse, der französischen Kultur und der französischen Sprache handele. Das ganze Religionsfreiheitsprogramm der amerikanischen Regierung führte Fouchereau auf den Einfluss der Church of Scientology in den USA zurück. Da auch die Amerikaner im diplomatischen Verkehr wie in den offiziösen Veröffentlichungen nicht gerade zimperlich vorgingen, erhielt der seit langem schwelende Antiamerikanismus97 in Frankreich neue Nahrung. Kritische Beobachter diagnostizierten als Ursache für die andauernden Verstimmungen einen religiös aufgeladenen Gegensatz: Es gehe letztlich um einen Zusammenstoß zweier konkurrierender Welterlösungsmodelle, bei dem Frankreich den kürzeren gezogen habe.98 Dass einstmals das vorrevolutionäre, aufgeklärte Frankreich die amerikanische Rebellion, wie die Erklärung der Grundrechte und der Unabhängigkeit durch die Kolonisten, geradezu enthusiastisch begrüßt hatte – in den Augen von Turgot, dem aufgeklärten französischen Finanzminister Ludwigs XVI., bedeutete Amerika 1778 so etwas wie die „Hoffnung des Menschengeschlechts“99 – davon ist heute kaum noch etwas zu spüren. Vor dem Hintergrund des zum modernen französischen Gründungsmythos geronnenen, aufgeklärt-liberalen Geist des Laizismus verletzt jede vormodern anmutende Frömmigkeit die kulturelle Ehre der Nation.100 Nur 94 Als Tom Farr, Direktor des Office of International Religious Freedom, im Herbst 2001 nach den Reaktionen auf den ersten veröffentlichten Bericht im September 1999 gefragt wurde, antwortete er: „Governments that are criticized in the reports have, not surprisingly, reacted negatively. Some of them charge that the reports represent a form of ‘cultural imperialism’ by the United States, which has no right to impose its moral norms on others” (http://usinfo.state. gov/journals/itdhr/1101/ijde/farr.htm). 95 Zum französischen Anti-Sektengesetz von Mai 2000 vgl. Willy Fautré, The Sect Issue in France and Belgium, in: Davis / Besier, International Perspectives, S. 43–56, und Maurice Verfaillie, Historical-Sociologigal Factors which changed the Perception of Religious Pluralism in France, in: ebd., S. 57–68. Vgl. auch die vornehmlich auf Frankreich gemünzte Resolution der Assembly of the Council of Europe vom 18. November 2002, wonach den Mitgliedsstaaten nahe gelegt wird, keine Sondergesetzgebung im Blick auf religiöse Minderheiten zu betreiben. 96 Le Monde diplomatique, 11. Mai 2001. 97 Vgl. Philippe Roger, L’ennemi américain – Généalogie de l’antiaméricanisme français, Paris 2002. 98 Vgl. Jean-François Revel, L’obsession anti-américaine. Son fonctionnement, ses causes, ses inconséquences, Paris 2002. Zur französischen «Seelenlandschaft» vgl. auch Albrecht Betz (Hrsg.), Französisches Pathos. Selbstdarstellung und Selbstinszenierung, Würzburg 2002. 99 Gustav Schelle (Hrsg.), Œuvres de Turgot et documents le concernant, Bd. 5, Glashütten / Ts. 1972, S. 539. Siehe auch den Bündnisvertrag mit Frankreich vom 6. Februar 1778, abgedruckt bei Schambeck u.a., Dokumente, S. 127–129. 100 Vgl. Gerhard Besier, La France et l’Allemagne. Les différences dans la législation concernant les Eglises nationales et les rapprochements réels dans la politique confessionnelle de ces pays, in: Kirchliche Zeitgeschichte 14, 2001, S. 533–547. Siehe auch Hans-Georg Franzke, Frankreich, seine Laizität und Europa, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 36, 2003, S. 357–359.

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noch 31% der Franzosen gehören überhaupt einer der etablierten christlichen Kirchen an.101 Beide Konfessionen, also auch der römische Katholizismus, beschränken sich in Frankreich auf den privaten Raum und zeigen ein säkularisiertes Gesicht. Das ist eben die Frucht des französischen Fortschritts! Wie könnte man es auf diesem kulturellen Zenit zulassen, dass ausgerechnet aus Amerika stammende „Sekten“ das Rad der Geschichte um mehr als zweihundert Jahre zurückdrehen wollen? Ganz in dieser Tradition steht das seitens der Präsidenten-Kommission zur Laizität vorbereitete Verbot gegen das „ostensible“ Tragen religiöser Insignien (Kopftuch, Kreuz, Kippa) an öffentlichen Schulen.102 Zwischen „cultuel“ und „culturel“ gibt es eine tiefe Kluft, die in der französischen Gesellschaft erst überbrückt wird, wenn religiöse Ereignisse oder Gestalten zu nationalen Symbolen aufsteigen (z. B. Jeanne d’Arc oder Clovis). Anders steht es mit Deutschland. Es will an seinem paternalistischen „Kooperationsmodell“ von Staat und Kirche festhalten und im Interesse seiner „Volkskirchen“ den religiösen Raum vom „Sektenwesen“, das als bedrohlich empfunden wird, soweit wie möglich freihalten.103 Darum wird immer wieder die durch die Amtskirchen repräsentierte, gemeinsame christliche Tradition als das entscheidende Fundament der deutschen Gesellschaft und ihrer kulturellen Identität beschworen.104 Ein offenes Aufbegehren gegen die USA wegen deren wiederholter Rügen, auch Deutschland verletze die Religionsfreiheit, hat es bisher nicht gegeben.105 Abgesehen von den bekannten historischen Sperren, die eine solche Reaktion erschwert hätten, bringt die deutsche Zurückhaltung vor allem das Unverständnis gegenüber dem amerikanischen Anliegen zum Ausdruck. Mehr noch als der in Deutschland oft folgenlos gebliebene bzw. verinnerlichte Freiheitsgedanke besitzt die hoch risikobehaftete Ausübung der Freiheit hierzulande einen eher geringen Stellenwert.106 Freiheit rivalisiert vielmehr ernsthaft mit Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit107, vor allem aber mit dem Bedürfnis nach institutionalisierter Sicherheit – selbst im Bereich des Religiösen. Hier mögen einige der Motive für den klammheimlich ge101 ideaSpektrum 48 / 02, S. 10. 102 Vgl. Die Zeit, 22. Januar 2004, S. 8. Das entsprechende Gesetz passierte am 10. Februar 2004 mit großer Mehrheit das französische Parlament. 103 Vgl. Gerhard Besier, Current Problems of Religious Minorities in Germany, in: Davis / Besier, International Perspectives, S. 121–128. 104 Vgl. Gerhard Besier, Künstlicher Kulturkampf, in: Die Welt, 19. Januar 2004. Ulrich Fülbier, Die Religionsfreiheit in der Bundesrepublik Deutschland und in den Vereinigten Staaten unter spezieller Berücksichtigung der jeweiligen Methodik der Verfassungsinterpretation, Berlin 2003, vertritt die Auffassung, dass der verfassungsrechtliche Schutz der Religionsfreiheit in Deutschland weiter reiche als in den USA, räumt aber ein, dass die Privilegierung der Amtskirchen „auch als freiheitsbeschränkendes Moment wahrgenommen“ werde und darin ein Grund für die Zunahme der Kirchenaustritte zu sehen sei (ebd., S. 319; S. 321; S. 324). 105 Charakteristisch für das binnenamerikanische Verständnis der deutschen ReligionsfreiheitsVerhältnisse ist Derek H. Davis, Religious Persecution in Today’s Germany: Old Habits Renewed, in: ders. (Hrsg.), Religious Liberty in Northern Europe in the Twenty-first Century, Waco 2000, S. 107–124. 106 Vgl. Besier / Lindemann, Im Namen der Freiheit, bes. S. 272 ff. 107 Vgl. Elisabeth Noelle-Neumann u. Renate Köcher (Hrsg.), Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 1998–2002, München 2002, S. 602 f.

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pflegten Antiamerikanismus schlummern.108 Dieser ist nicht zum wenigsten aus Neid geboren und gilt der nicht auf Sicherheit bedachten, unbekümmerten Freiheitsversessenheit der Amerikaner.

108 Vgl. zum deutschen Antiamerikanismus: Dan Diner, Feindbild Amerika. Über die Beständigkeit eines Ressentiments, München 2002. Siehe auch Claus Leggewie, Amerikas Welt. Die USA in unseren Köpfen, Hamburg 2000; Wilfried Röhrich, Die USA und der Rest der Welt. Ein kritischer Essay, Münster 2002.

PRAGMATISCHE WAHRHEIT: WAS UNS IM LEBEN WEITERBRINGT Andreas Kemmerling Wenn es eine Philosophie gibt, die die Bezeichnung „typisch amerikanisch“ verdient, dann ist es der Pragmatismus, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von einer kleinen Gruppe von Denkern im Umkreis der Harvard-Universität entwickelt wurde. Es ist die erste, und soweit ich sehe: die einzige, nennenswerte autochthone Strömung in der Philosophie Amerikas. Sie ist dort entstanden und im wesentlichen verblieben; das soll heißen: Die einzigen noch heute leidlich bekannten bekennenden Vertreter des Pragmatismus waren und sind Amerikaner. In seiner Wirkung reichte der Pragmatismus weit über Amerika hinaus, und es dürfte im Einzelnen oft schwer zu beurteilen sein, welche seiner Facetten wo ihre Spuren hinterlassen haben, wie sehr z. B. das verifikationistische Sinnkriterium des Wiener Kreises auch durch die Rezeption der Gedanken von Autoren wie William James inspiriert ist. Als philosophischer Gesamtentwurf jedenfalls traf der Pragmatismus außerhalb Amerikas auf eine Ablehnung, die man einhellig nennen könnte, wenn sie nicht so unterschiedlich ausgefallen wäre. In Deutschland wurde er vor dem Ersten Weltkrieg meist nur sehr oberflächlich rezipiert und als vulgär, unphilosophisch, irrational, relativistisch und opportunistisch verworfen.1 Im Philosophischen Jahrbuch von 1908 war zu lesen: „Eine neue Modephilosophie tritt uns entgegen, diesmal von jenseits des Ozeans aus dem Lande des Dollars, der als Ideal dieser Philosophie betrachtet werden muß. Dieselbe degradiert die Wahrheit zur Nützlichkeit, wie schon ehedem in ähnlicher Geistesrichtung aus dem Lande der Krämer die Herabwürdigung der Sittlichkeit zur Utilität zu uns herüber importiert wurde“.2 Aber auch der große Bertrand Russell, aus ebenjenem Lande der Krämer, weiß kein gutes Haar an dem zu lassen, was er im Pragmatismus findet. Er hält ihn jedenfalls in seinem Kern – in dem, was er über Wahrheit zu sagen hat –, für ersichtlich falsch. Nicht viel anders scheint es sich in Frankreich und Italien verhalten zu haben. Der Pragmatismus war außerhalb Amerikas, wie Rolf-Peter Horstmann vor wenigen Jahren in der Einleitung zu einer Sammlung von Übersetzungen einiger kleiner Arbeiten von James bemerkt hat, nicht mehr als eine Episode der neuesten Geschichte der Philosophie.3 Innerhalb Amerikas mag das anders sein. Die Kultserie „Raumschiff Enterprise“ lieferte vor wenigen Jahren ein Indiz für die ungebrochene Wirkungsmacht 1 2 3

Zur deutschen Pragmatismus-Rezeption siehe Hans Joas, Pragmatismus und Gesellschaftstheorie, Frankfurt a. M. 1992, S. 114–145. C. Gutberlet, Der Pragmatismus, Philosophisches Jahrbuch 21, 1908, S. 437–458; zit. nach Joas, Pragmatismus, S. 119. William James, Was ist Pragmatismus?, Mit einer Vorbemerkung von Rolf-Peter Horstmann, Weinheim 1994, S. 12.

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von James‘ Philosophie: In einer Folge dieser Fernsehserie muss sich Captain JeanLuc Picard, der Philosoph unter den Raumschiff-Kommandanten, einer Herzoperation unterziehen. Er verlässt zu diesem Zweck die Enterprise und begibt sich in einem Shuttle zu einer Raumbasis, auf der die Operation durchgeführt werden soll. Begleitet wird er nur von dem jungen Fähnrich Wesley Crusher, der kurz vor seiner Aufnahmeprüfung in die Akademie der Sternenflotte steht. Es entspinnt sich folgender Dialog4: Picard: Ich habe Dir doch ein Buch gegeben. Hast Du es inzwischen gelesen, Wesley? Crusher: Nur zum Teil. Picard: Besser als gar nicht. Crusher: Mir bleibt leider nur wenig Freizeit. Picard: Es gibt kaum Wichtigeres als das Studium der Philosophie. Crusher: Bei meinem Examen wird mich sicher niemand nach William James fragen. Picard: Nach wichtigen Dingen wird nie gefragt.

Bedenken wir, dass dieser Dialog erst weit in der Zukunft stattfinden wird und dass der Captain mit dem französischen Namen offenbar William James (nicht Platon, nicht Thomas von Aquin, nicht Descartes oder Locke, nicht Kant oder Hegel, nicht Heidegger oder Wittgenstein, nicht Gadamer oder Derrida, sondern William James) für den wichtigen Philosophen hält, der in die Hand jedes vielversprechenden jungen Mannes gehört. Ich weiß nicht, ob und in welchem Maße dies eine verbreitete Einschätzung in den USA ist. Sicherlich aber nicht einmal an den Philosophie-Departments der besten Universitäten. Kaum ein namhafter amerikanischer Philosoph vertritt heute noch die Lehren des Pragmatismus. Und Hilary Putnam, von dem einige der wichtigsten Arbeiten der letzten Zeit zum Pragmatismus stammen, hält bei aller Sympathie den Kern des Pragmatismus, seine Wahrheitstheorie, für einen Irrtum.5 Typisch amerikanisch mutete der Pragmatismus den europäischen Philosophen insbesondere auch in dem Stil an, in dem er vorgetragen wird. Er ist dezidiert unprätentiös. Es gibt da keine Feierlichkeiten, in denen Gelehrsamkeit sich selbst zelebriert, keinen Gestus des Predigens vom Berge herab. Es gibt auch keine beckmesserischen Begriffszergliederungen, keine Fußnoten, die sich auf die großen Alten berufen oder von ihnen absetzen. Der Pragmatismus präsentiert sich gelegentlich mit einer Hemdsärmligkeit, die je nach Geschmack des Rezipienten als erfrischend oder als geschmacklos empfunden wird. Insbesondere William James, der bedeutendste Propagandist des Pragmatismus, war ein Meister des unakademischen Tons, auch wo es um scheinbar letzte und tiefste Dinge geht. Wenn er beispielsweise erklärlich zu machen versucht, weshalb die Annahme, dass Gott existiert, unter pragmatischen Gesichtspunkten als wahr betrachtet werden kann, flicht er ohne jede Warnung die Analogie mit dem automatic sweetheart ein. Solch ein automatischer Liebling ist, so James,

4 5

Zitiert nach der Einleitung von K. Schubert und A. Spree zu William James, Pragmatismus: ein neuer Name für einige alten Denkweisen, Darmstadt 2001, S. 7. H. Putnam, Pragmatism, Oxford 1995.

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ein Körper ohne Seele, der absolut ununterscheidbar ist von einem Mädchen, das lacht, spricht, errötet, uns hegt und pflegt und alle weiblichen Dienste so taktvoll und liebenswürdig verrichtet, als ob eine Seele in ihr wäre. Würde irgendjemand sie als ein vollwertiges Äquivalent betrachten? Gewiß nicht, und warum nicht? Weil wir nun einmal so gebaut sind, daß unser Egoismus nach nichts mehr sich verzehrt als nach innerer Sympathie und Anerkennung, Liebe und Bewunderung. Den Wert dessen, wie wir äußerlich behandelt werden, bemessen wir vornehmlich danach, welches Bewußtsein nach unserer Überzeugung darin zum Ausdruck kommt. Pragmatisch gesehen würde der Glaube daran, daß wir es mit einem automatischen Liebling zu tun haben, nicht funktionieren [would not work] … Mit dem gottlosen Universum verhielte es sich exakt genauso. Selbst wenn die Materie alles Äußerliche verrichten könnte, das Gott tut, würde die Idee des gottlosen Universums nicht so befriedigend funktionieren, denn das Hauptbedürfnis nach einem Gott, das der moderne Mensch hat, ist das Bedürfnis nach einem Wesen, das ihn innen erkennt und wohlwollend beurteilt. Die Materie enttäuscht diese Sehnsucht unseres Egos, und deshalb bleibt Gott für die meisten Menschen die wahrere Hypothese, und zwar aus eindeutig pragmatischen Gründen.6

James behandelt hier in seiner typischen Manier zwei ehrwürdige Probleme der philosophischen Tradition: das Problem der Existenz Gottes und das Problem des Vorhandenseins von Bewußtsein in anderen Lebewesen. Was diese Probleme für James so besonders interessant macht, ist der Umstand, dass es auf sie seines Erachtens keine rein empirische oder intellektuelle Antwort gibt: Alle menschlichen Beobachtungen und bloßen Vernunfterwägungen lassen sowohl die Hypothese zu, dass es Gott (oder fremdes Bewusstsein) gibt, als auch die entgegen gesetzte Hypothese. Und das vorgestellte Zitat gibt uns auch schon einen ersten Eindruck von einem Kerngedanken des Pragmatismus, und zwar: dass die Wahrheit eines Gedankens darin besteht, dass er etwas leistet, nämlich etwas zur Befriedigung unserer Bedürfnisse —die ja auch emotionaler Art sind— beiträgt. Doch lassen wir nun die Frage beiseite, wie typisch und wie exklusiv amerikanisch der Pragmatismus ist. Fragen wir uns: Was ist der Pragmatismus eigentlich? Was besagt insbesondere seine berühmt-berüchtigte Wahrheitstheorie? Und was an ihr lässt sie in den Augen fast aller heutigen Philosophen als so klar falsch erscheinen? *** Der ursprünglich führende Kopf und philosophisch bedeutendste Denker dieser Gruppe war Charles Sanders Peirce (1839–1914), ein Mann, der einen summa cum laude-Abschluss im Fach Chemie besaß und auch mit anderen Naturwissenschaften und der Mathematik bestens vertraut war. Seine akademische Karriere war ein Fehlschlag; unter widrigen und über einige Zeit hinweg erbärmlichen Lebensumständen produzierte er in der ländlichen Einsamkeit von Pennsylvania ein Werk, das originelle und brillante Beiträge zur Zeichentheorie und Metaphysik, zur formalen Logik und Wahrscheinlichkeitstheorie umfasst. Sein Freund William James (1842– 1910) ist als Zweiter zu nennen; er machte den Pragmatismus berühmt, allerdings nicht immer ganz im Sinne von Peirce, der es deshalb vorzog, seine Lehre mit einem anderen Etikett zu versehen. James war Doktor der Medizin, allerdings nie 6

William James, The Works of William James, Bd. 2, Cambridge, Mass. 1975, S. 103.

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praktizierender Arzt, er gründete 1875 das erste experimental-psychologische Laboratorium in Amerika und hatte bis kurz vor seinem Tode den Lehrstuhl für Psychologie und Philosophie in Harvard inne. Die dritte große Figur des klassischen Pragmatismus war John Dewey (1859–1952), ein Doktor der Philosophie, der sich insbesondere auch unter dem Einfluss der Lektüre von James‘ 1890 erschienenen Principles of Psychology vom Hegelschen Idealismus löste und sich dem Pragmatismus anschloss. Der Pragmatismus hat viele Namen: Peirce nannte seine Version „Pragmatizismus“, um sie gegen allerlei Verwässerungen und Popularisierungen abzugrenzen, die mit dem Etikett „Pragmatismus“ assoziiert wurden. James bezeichnete seine Position auch als „radikalen Empirismus“; Dewey die seine vorzugsweise als „Instrumentalismus“. Wir dürfen uns den Pragmatismus also nicht als ein festgefügtes Lehrgebäude oder philosophisches System vorstellen; vielmehr ist er eine Strömung, in der sich philosophische Konzeptionen teilweise recht unterschiedlicher Ausprägung und Gewichtung bewegen. Dies hat sich bis auf den heutigen Tag nicht geändert. Wichtige Elemente des Pragmatismus finden sich bei fast allen bedeutenden amerikanischen Philosophen der letzten 50 Jahre —ich nenne Quine, Goodman, Sellars, Davidson und Putnam—, aber es gibt kaum einen darunter, der sich ohne Einschränkungen als Pragmatist bezeichnen ließe. Die bekannteste Ausnahme eines waschechten, bekennenden Pragmatisten unserer Tage ist Richard Rorty.7 Was ihn dazu macht, ist der Umstand, dass er vorbehaltlos das Kernstück des Pragmatismus akzeptiert: die berühmt-berüchtigte Wahrheitstheorie. Doch dazu später mehr. Zunächst einmal möchte ich einige Charakteristika des Pragmatismus skizzieren, die einen Eindruck vom Geist dieser philosophischen Strömung vermitteln sollen. Von philologischen und historischen Einzelheiten sehe ich dabei ab. Was ich hier skizzenhaft zusammenstelle, muss mit einer erheblichen Prise Salz genommen werden. Erkenntnis ist ein Prozess, in dem die Welt und der menschliche Geist gemeinsam etwas erzeugen, das vorher nicht bestand. Das Ergebnis, das wir im Erkenntnisprozess anstreben, ist keine Abbildung der Wirklichkeit, sondern ein Instrument, in das frühere Ergebnisse eingeflossen sind und das uns zu noch besseren Ergebnissen befähigen soll. Jeder Wissensanspruch ist angreifbar. Die Ergebnisse unserer Erkenntnisbemühungen sind desto besser, je zuverlässiger sie uns dazu in die Lage versetzen, unsere praktischen Bedürfnisse und sonstigen Wünsche zu befriedigen. Einen anderen Maßstab für den Erfolg unserer Erkenntnisbemühungen gibt es nicht. Etwas, das keine praktischen Bedürfnisse zu befriedigen hilft, ist kein Wissen. Ob es eine ultimative Realität gibt, eine Welt an sich, deren innere Struktur mit Hilfe ewiger Wahrheiten eins-zu-eins zu beschreiben ist, ist eine müßige, vor-pragmatische Frage. Oder besser gesagt: Der Begriff einer unabhängig existierenden Realität ist ein nutzloser Begriff einer nutzlosen Metaphysik und Erkenntnistheorie. Was es gibt, das ist ein Korpus von immer besser begründeten Überzeugungen. Und dass es Realitäten gibt, bestreitet der Pragmatist ebenfalls nicht; was er bestreitet, 7

Richard Rorty, Philosophical Papers, 3 Bde., Cambridge 1991 – 1998.

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ist, dass sich über die eine Realität an sich („Reality with the big R“8) — über ihr Wesen an sich, über ihre Struktur an sich, über ihre Bestandteile an sich — etwas Haltbares oder auch nur Brauchbares aussagen lässt. Manche unserer Überzeugungen bewähren sich, und manche von denen, die sich bewähren, sind wahr. Doch Überzeugungen selbst wiederum sind keine Abbildungen, die einer von ihnen wesentlich verschiedenen Wirklichkeit ähnlich sind oder ihr wenigstens strukturell entsprechen. Wahrheit besteht nicht in einer eins-zu-eins Abbildungsbeziehung zwischen einer Überzeugung und der Wirklichkeit an sich. Überzeugungen sind Gewohnheiten, Neigungen zu Verhalten; es sind Gemütszustände, für die eine gewisse Beruhigung charakteristisch ist, die mit ihnen einhergeht. Und eine Überzeugung ist desto wahrer, je besser sie dazu geeignet ist, im Verbund mit andern Überzeugungen zu praktischem Erfolg zu führen. Praktischer Erfolg ist die Befriedigung realer menschlicher Bedürfnisse, zu denen auch die Bedürfnisse des Theoretikers zu rechnen sind, der einfache, elegante Theorien möchte, die zuverlässige Vorhersagen und aufschlussreiche Erklärungen gestatten. Um genauer zu verstehen, worauf es dem Pragmatisten ankommt, ist es nützlich zu sehen, wogegen er etwas hat. Viele Philosophien lassen sich, zumindest was ihren Grundtenor angeht, am besten verstehen, wenn man weiß, was sie am heftigsten ablehnen. Und diese Ablehnung ist oft nicht nur (und manchmal gar nicht) so sehr die Konstatierung eines sachlichen Dissenses, sondern nicht selten die Eruption eines intellektuellen Sentiments, das von geheimer Sehnsucht nach dem Abgelehnten bis zu dessen Hass und Verachtung reicht. Ja, das, dessen Ablehnung eine Philosophie am tiefsten inspiriert, muss es gar nicht wirklich geben. Die produktivste Reibung kann eine Philosophie aus einem bloß erträumten Gegner beziehen, aus einem Cliché, das so, wie es nun endgültig überwunden werden soll, in Wirklichkeit nie vertreten wurde. Manchmal ist das, was in einer Philosophie am unerbittlichsten bekämpft wird, ein Pappkamerad, dessen Auffassungen niemand jemals mehr zuneigte, als der Philosoph selbst, der sich nun deren Widerlegung widmet. Kurz, wenn ich jetzt eine Skizze des inbegrifflichen Gegners des Pragmatismus à la James gebe, ist dies nicht als Versuch der Darstellung einer in der Philosophiegeschichte nachweislich vertretenen Position zu nehmen. Gelegentlich wird gemutmaßt, James‘ offen bekundeter Ekel vor der Hegelschen Metaphysik sei der entscheidende Hinweis auf das eigentliche Feindbild seines Pragmatismus. Selbst wenn dies richtig wäre, so ist meine Skizze des inbegrifflichen Gegners, gegen den James sich richtet, nicht als eine Skizze irgendeiner jemals vorgetragenen Philosophie gedacht. Selbst die genaueste Rekonstruktion der Lehren von Voltaires Dr. Pangloss ergäbe keine Skizze von Leibniz‘ Metaphysik. Der Gegner des Pragmatisten redet gerne über Absolutes oder das Absolute. Darüber, wie es sich verhält, jenseits aller Bedingungen, unter denen Dinge und Verhältnisse stehen. Der Gegner bevorzugt das Abstrakte gegenüber dem Konkreten. Er gibt uns lieber Auskunft darüber, was die Zeit ist, als darüber, wie viel Uhr es ist. Er kann ausführlichst über den Begriff des Hundes dozieren, versteht aber nichts von Hunden. 8

James, Works, Bd. 1, S. 125.

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Der Gegner ist theorie-monistisch. Er meint, es gebe letzten Endes nur eine einzige wahre Beschreibung der Wirklichkeit. Der Gegner ist ein Freund des rein Spekulativen. Er möchte lieber aus begrifflichen Beziehungen Einsichten in die realen Verhältnisse deduzieren, als seine Begriffe aufgrund der sinnlich wahrnehmbaren Verhältnisse korrigieren. Deshalb bevorzugt er das Apriorische, das unabhängig von jeder Erfahrung Wissbare, vor dem Aposteriorischen, dem nur auf Grund von Erfahrung Wissbaren. Der Gegner ist ein Intellektualist, ein Rationalist, insofern er der Vernunft, dem intellectus purus, die eigentlichen Erkenntnisleistungen zubilligt. Der gesunde Menschenverstand gilt ihm so wenig wie die sinnliche, im Leben erspürte Erfahrung, sobald es um Wahrheit geht. Der Gegner ist Objektivist; er meint, dass das, was ist, so ist, wie es ist, und damit basta. Er ist nicht bereit, Platz dafür zu lassen, dass vieles für den einen so ist, und für den andern anders. Mit seinem Objektivismus beansprucht der Gegner eine Perspektive jenseits des gewöhnlichen menschlichen Standpunkts, von dem aus die mögliche Divergenz des Mitmenschen immer im Blick behalten wird. Der Gegner ist, in diesem Sinne, kein Humanist.9 Der Gegner neigt dem Dogmatismus zu. Er vertritt ein starres, geschlossenes System abstrakter apriorischer Prinzipien, und wenn es in Konflikt mit unseren Erfahrungen gerät, so neigt er zu dem Befund: Umso schlimmer für unsere Erfahrungen. *** Der Pragmatist hingegen ist ein Freund des Konkreten, des sinnlich Erfahrbaren, der intellektuellen Bodenhaftung, des Erkenntnis-Pluralismus, des Verweilens im Rahmen der menschlichen Möglichkeiten. Er ehrt den Zweifel als etwas, das den Erkenntnisprozess in Gang hält. Seinen Gegner greift der Pragmatist im Wesentlichen mit zwei Waffen an: mit seiner Methode und mit seiner Wahrheitstheorie. Die Methode ist vornehmlich dazu da, überflüssige Dispute, wie sie besonders auch aus der Metaphysik vertraut sind, zu beseitigen, die anders nicht zu beseitigen sind. Die pragmatische Methode soll uns zu dem eigentlichen Gehalt, dem cash value, einer Behauptung — auch der extravagantesten Hypothese — führen, indem unerbittlich die Frage gestellt wird: Was besagt das konkret? Woran wird oder würde in unserem Leben spürbar, dass die Hypothese wahr ist und nicht falsch? Der Wert dieser Methode soll vornehmlich in zweierlei liegen: Erstens darin, Pseudo-Hypothesen als das zu entlarven, was sie sind: ohne Bezug auf etwas, was für uns einen erlebbaren Unterschied machen könnte. Zweitens darin, leeren Streit zwischen sachhaltigen Hypothesen zu vermeiden, die nur scheinbar miteinander unverträglich sind. Denn manches, was so klingt, als sei es miteinander unverträglich, ist — im Lichte der pragmatischen Methode

9

Der terminologische Sinn, in dem James gelegentlich von „Humanismus“ spricht, ist allerdings ein etwas anderer; vgl. dazu James, Works, Bd. 2, S. 72.

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betrachtet — ohne weiteres miteinander verträglich. Wir werden der pragmatischen Methode in ihrer zweiten Anwendung später noch einmal begegnen. Das eigentliche Herzstück des Pragmatismus ist für James jedoch die Wahrheitstheorie. Durch sie sei die Methode motiviert: Wer eingesehen hat, so meint James offenbar, dass Wahrheit das ist, was der Pragmatismus verkündet, wird sich auch dessen Methode zueigen machen. Aber nicht umgekehrt: Nicht jeder, der die Methode des Pragmatismus für gut hält, wird auch dessen Wahrheitstheorie akzeptieren. Was ist eine Wahrheitstheorie? Im einfachsten Fall wäre sie eine Definition des Begriffs der Wahrheit. In dem Falle, dass Wahrheit ein undefinierbarer Grundbegriff ist, sollte eine Wahrheitstheorie eine systematische Darlegung dessen sein, welchen Beitrag der Wahrheitsbegriff zu unserem Begriffssystem insgesamt beisteuert, in welchen aufschlussreichen Beziehungen der Begriff der Wahrheit zu andern Begriffen steht, die uns wichtig sind; ich nenne eine eher zufällige Auswahl: Tatsache, logische Konsequenz, Überzeugung, Lüge, Wissen, Wirklichkeit und Redlichkeit. James vertritt die Auffassung, dass Wahrheit definierbar ist. Er rühmt den Pragmatismus an einer Stelle als den einzigen ausgearbeiteten Versuch, Wahrheit definitiv zu charakterisieren: „Die These des Pragmatismus besagt, daß die Relation, die ‚Wahrheit‘ genannt wird, sich konkret definieren läßt. Wir Pragmatisten sind die einzigen, die einen ausgearbeiteten Versuch machen, mit Bestimmtheit zu sagen, worin Wahrheit tatsächlich besteht.“10 Am Ende, in seinem letzten Buch The Meaning of Truth aus dem Jahre 1909 (er starb ein Jahr darauf), klingen seine Definitionen höchst einfach: Wahr seien solche Gedanken, die uns zu einer wohltuenden Interaktion mit dem anleiten, was uns konkret sinnlich spürbar ist, sobald es auftritt;11eine Überzeugung, die funktioniert, sei wahr für das Individuum, für das sie funktioniert: „What works is true and represents a reality, for the individual for whom it works.“12 Werfen wir einen kurzen Blick zurück auf ältere Wahrheitstheorien, um einen Sinn dafür zu gewinnen, weshalb James der Auffassung sein mochte, die pragmatische Definition von Wahrheit sei der einzige verfügbare ausgearbeitete Versuch zu sagen, worin Wahrheit besteht. *** Eingangs des siebten Kapitels des IV. Buchs der Metaphysik gibt Aristoteles folgende Definition des Wahren und des Falschen: Zu sagen, daß das Seiende nicht ist oder daß das Nichtseiende ist, ist falsch; zu sagen, daß das Seiende ist oder das Nichtseiende nicht ist, ist wahr. (Met 1011 b 27) Es geht aus dem Zusammenhang hervor, dass Aristoteles hier einfache SubjektPrädikat-Sätze im Auge hat, Sätze wie „Sokrates ist blaß“ oder „Theaitetos sitzt nicht“. In solch einem elementaren Aussage-Satz wird einem Einzelding eine Eigenschaft zugeschrieben oder abgesprochen, und Aristoteles‘ Definition von Wahr10 James, Works, Bd. 2, S. 128. 11 Ebd., S. 51. 12 Ebd., S. 132.

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heit ist hier so zu verstehen: Ein eigenschaftszuschreibender Satz (oder ein entsprechender Gedanke) ist wahr genau dann, wenn das betreffende Einzelding die betreffende Eigenschaft hat; und ein eigenschaftsabsprechender Satz oder Gedanke ist wahr genau dann, wenn das betreffende Einzelding die betreffende Eigenschaft nicht hat. Diese Auskunft mag, wie Heidegger in seiner Logik-Vorlesung aus dem Jahre 1925 bemerkt, uns Heutigen sehr trivial erscheinen. „Man muß aber bedenken, daß diese Definition das Resultat der größten philosophischen Anstrengung ist, die Platon und Aristoteles gemacht haben. Sie können sich schwer einen Begriff machen, was es besagt, zu solch einer Trivialität vorzudringen.“13 Verweilen wir noch einen Moment bei Aristoteles‘ Definition. Sie ist interessant in wenigstens zweierlei Hinsicht: zum einen hinsichtlich einer Auskunft, die diese Definition gibt; zum andern hinsichtlich einer Auskunft, die sie nicht gibt. Sie besagt, daß dasjenige, was wahr ist —heute sagt man: der Wahrheitsträger—, ein Gedanke (bzw. ein Aussage-Satz) ist. Was diese Definition nicht besagt, ist, dass Wahrheit eine Beziehung ist, die zwischen Gedanken (bzw. Sätzen) und etwas anderem besteht. Wahrheit wird von Aristoteles als eine Eigenschaft von Gedanken bestimmt, nicht als eine Beziehung zwischen Gedanken und der Welt. Die berühmt-berüchtigte Korrespondenztheorie der Wahrheit besagt hingegen, dass Wahrheit eine Beziehung ist. Und zwar sei sie eine Beziehung, die zwischen Wahrheitsträgern (Sätzen und Gedanken zum Beispiel) und gewissen Dingen besteht, für die sich, um eine möglichst neutrale Bezeichnung zu haben, der Terminus „Wahrmacher“ eingebürgert hat. Solche Wahrmacher sind, darin unterscheiden sich unterschiedliche Versionen der Korrespondenztheorie voneinander, z. B. Tatsachen, Ereignisse, Prozesse, Dinge oder auch die Welt als ganze. Die Korrespondenztheorie der Wahrheit besagt in ihrer allgemeinsten Form: Wahrheit ist eine besondere Beziehung, die zwischen Wahrheitsträgern und Wahrmachern besteht. Thomas von Aquin, der erste bedeutende Vertreter dieser Auffassung, kennt verschiedene Bezeichnungen für jene besondere Beziehung: adaequatio, assimilatio, conformitas, concordia und anderes. Thomas von Aquin geht es, wie Aristoteles und James, vornehmlich um die Wahrheit von Gedanken; was sie sei, erläutert er so: Die Wahrheit des Verstandes ist eine Angleichung von Verstand und Sache [„adaequatio intellectus et rei“] … Das, was der Verstand im Denken sagt und urteilt, muss der Sache angeglichen sein [„oportet esse rei aequatum“], und zwar derart, dass es sich in der Sache so verhält, wie der Verstand sagt.14 Durch die Gleichförmigkeit („conformitas“) von Gedanke und Sache sei Wahrheit definiert, schreibt Thomas an anderer Stelle.15 13

Martin Heidegger, Logik, in: Walter Biemel (Hrsg.), Gesamtausgabe, Bd. 21, Frankfurt a. M. 1976, S. 163. – Diesen Hinweis verdanke ich der Arbeit von Wolfgang Künne: Wahrheit, in: Ekkehard Martens / Herbert Schnädelbach (Hrsg.), Philosophie – ein Grundkurs, Reinbek 1991, S. 116–171. Vom selben Autor stammt das historisch und systematisch umfassendste Werk zur philosophischen Diskussion um den Wahrheitsbegriff: ders., Conceptions of Truth, Oxford 2003. 14 Summa contra gentiles, Buch I, Kap. 59. 15 Summa Theologica I, Quaestio 16, Art. 2.

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Die Beziehung, in der Wahrheit angeblich besteht, wurde mit vielen Namen bedacht: nicht nur Angleichung, Gleichförmigkeit, sondern auch Übereinstimmung,16 Ähnlichkeit, Entsprechung und allerlei anderes mehr. Die gesamte Familie solcher relationalen Wahrheitstheorien wird als die “Korrespondenztheorie” der Wahrheit bezeichnet. Die entscheidende Frage an einen Korrespondenztheoretiker ist natürlich: Welche Beziehung genau meinst Du eigentlich, wenn Du von Korrespondenz sprichst? Denn solange ich das nicht verstehe, verstehe ich auch gar nicht, was damit gesagt ist, dass Wahrheit eine Korrespondenzbeziehung zwischen Gedanken und Sätzen einerseits und Dingen oder Sachverhalten oder Ereignissen oder Tatsachen oder der Welt andererseits ist. In der Tat, die Auskunft, die uns die Korrespondenz-Formel gibt, ist reichlich inhaltsarm. Je geringer der greifbare Inhalt eines Satzes, desto schwerer ist er zu widerlegen. Und darin liegt womöglich ein attraktiver Zug der Korrespondenz-Formel für ängstliche Denker: Sie wirkt unangreifbar. Allerdings hat es nicht an Versuchen gefehlt, nachzuweisen, dass selbst diese in ihrer Dürre kaum angreifbar wirkende Formel nicht zutreffen kann: dass es keine inhaltliche Erläuterung dessen, was Korrespondenz hier heißen könnte, gibt, durch die das Wesen von Wahrheit angemessen erfasst wird. Und nicht wenige — so zum Beispiel René Descartes, der deutsche Logiker Gottlob Frege, der polnische Logiker Alfred Tarski und der amerikanische Philosoph Donald Davidson — haben bestritten, dass Wahrheit überhaupt definiert werden kann. Manche Begriffe sind eben völlig grundlegend, sie lassen sich nicht auf andere Begriffe in einer aufschlussreichen Weise zurückführen. Doch der Pragmatismus bestreitet weder die Definierbarkeit von Wahrheit noch die grundsätzliche Angemessenheit eines korrespondenztheoretischen Ansatzes. Auch William James bestreitet nicht, dass Wahrheit in der Entsprechung zwischen Wahrheitsträger und der Realität besteht. Aber er wendet sich mit großer Entschiedenheit gegen eine rivalisierende Auffassung davon, worin diese Entsprechung zwischen Gedanke und Wirklichkeit besteht. Die korrespondenztheoretische Position, gegen die der Pragmatismus sich wendet, bezeichnet James vorzugsweise als die absolute Konzeption von Wahrheit. Sie besagt folgendes: Die Wirklichkeit, von der unsere Gedanken, Sätze und Theorien handeln, existiert in vollständiger Unabhängigkeit davon, wie wir sie erleben und zu begreifen versuchen. Sie besitzt eine objektive innere Verfasstheit, nach der es sich bemisst, ob unsere Gedanken, Sätze und Theorien wahr sind oder nicht. Die Korrespondenzbeziehung, die Wahrheit ausmacht, ist eine Abbildbeziehung: Ein Gedanke ist wahr, wenn er die objektive Wirklichkeit (oder eine Realität, d. h. einen Ausschnitt der objektiven Wirklichkeit) so repräsentiert, wie sie an sich ist. Doch ist dabei zu beachten, dass die repräsentierte Wirklichkeit absolut unabhängig ist von der Art und Weise, wie Menschen sie in ihren geistigen und sprachlichen Repräsentationen erfassen. James nennt dies auch gerne die copy theory of correspondence. Ersichtlich hat sie Merkmale der Position des eingangs geschilderten Gegners, den James bekämpft. Ihr ist eine absolute Konzeption der Wirklichkeit eingeschrieben. Und das 16 So Kant, Kritik der reinen Vernunft (B 82).

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heißt: Es werden in ihr metaphysische Voraussetzungen gemacht, von denen bezweifelt werden darf, dass sie überhaupt angemessen sind, und erst recht, ob sie zum Begriff der Wahrheit selbst gerechnet werden dürfen. Das, wogegen der Pragmatismus von James sich im wesentlichen richtet, ist die Annahme, Wahrheit sei die Beziehung zu einer alle Erfahrung übersteigenden, absoluten Wirklichkeit, wie der Abbildtheoretiker sie postuliert. Der Pragmatismus tritt der copy theory of correspondence entgegen, also: der Abbildtheorie mit ihrer Konzeption einer einzigen, absoluten, objektiven Wirklichkeit. Er bestreitet nicht, dass Wahrheit in einer Korrespondenzbeziehung besteht; er bestreitet, dass die Korrespondenzbeziehung, in der Wahrheit besteht, eine Abbildung der angeblich absoluten Wirklichkeit ist – ja, dass sie überhaupt eine Abbildung von etwas Vorgegebenem, einem Urbild, ist. Wahrheit ist vielmehr, so darf man James, der nicht besonders deutlich in der Schilderung dieser Einzelheiten ist, vielleicht verstehen, eine Beziehung zwischen gewissen unserer Erfahrungen (mit “experience” meint James sowohl begriffliche Gedanken, als auch vorbegriffliche Wahrnehmungen) und unseren Erlebnissen oder Wahrnehmungen. Ein Gedanke ist wahr, wenn er sich in das Gesamtsystem unserer Gedanken, Wahrnehmungen und Erlebnisse so einfügt, dass er funktioniert: wenn er mit unseren bisherigen Gedanken, Wahrnehmungen und Erlebnissen harmoniert und dazu beiträgt, dass künftige Wahrnehmungen und Erlebnisse befriedigend ausfallen, sei es weil wir sie in unserem überlegten Handeln angestrebt haben, sei es insofern, als wir sie zumindest vorhersehen konnten, auch wenn wir sie nicht angestrebt haben. “In keinem Fall muß Wahrheit jedoch in einer Beziehung zwischen unseren Erfahrungen und etwas Urbildlichem oder über die Erfahrung Hinausgehenden bestehen”.17 Wahrheit ist eine Beziehung, aber keine zwischen dem, was wir denken und wahrnehmen, und etwas ganz anderem, das außerhalb und absolut unabhängig von uns vorgegeben wäre. Wahrheit ist eine Beziehung, deren Relata — d. h. deren durch die Beziehung aufeinander bezogene Glieder— sich immer (und zwar nicht zufällig, sondern: prinzipiell) in der Reichweite menschlicher Erfahrung befinden. Wahrheit spielt sich, lax gesagt, grundsätzlich nur in dem uns Zugänglichen ab. Etwas gänzlich von uns Unabhängiges, wie etwa eine absolute Realität, selbst wenn es sie gäbe — was im Lichte der pragmatischen Methode nur eine leere Hypothese ist —, solch eine absolute Realität hätte mit Wahrheit nichts zu schaffen. Wahr ist ein Gedanke, der uns im Leben weiterbringt – der uns im Zusammenhang mit unsern andern Gedanken und Wahrnehmungen zu erfolgreichem Handeln führt. Ob irgendein einzelner Gedanke tatsächlich wahr ist, muss immer eine offene Frage bleiben, so offen wie die Frage, was die Zukunft bringt, auf die er uns einstellen soll. Etwas, das uns bisher, sei es auch noch so gut im Leben, weitergebracht hat, mag uns mit einem Schlage diesen Dienst versagen. Und das gilt für jeden einzelnen Gedanken. Aber nie für allzu viele auf einmal. Erweisen kann sich die Falschheit eines bisher gehegten Gedankens nur vor dem Hintergrund vieler anderer Gedanken, die zu diesem Zeitpunkt immer noch Bestand haben, die selbst aber auch nicht davor gefeit sind, sich später einmal als falsch zu entpuppen. (Auch deren künftige Falsifikation ist nur vor dem Hintergrund vieler anderer Gedanken 17 James, Works, Bd. 2, S. 76.

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möglich, die dann immer noch Bestand haben, jedoch selbst wiederum nicht davor gefeit sind, sich bei noch anderer Gelegenheit als falsch herauszustellen. Und immer so weiter.) “Wahr ist ein Gedanke, der uns im Leben weiterbringt”, dieser Spruch muss recht verstanden werden, um auf den Pragmatismus à la James zu passen. Was uns im Leben weiterbringt, ist nicht das, was uns nur durch die kommende Nacht rettet oder den nächsten Tag ersprießlich macht. Es ist das, was uns auch durch die darauf folgenden Nächte und Tage bringt: etwas, das Bestand für das ganze Leben hat: was auch immer es bringen mag. Eine Garantie für die Wahrheit auch nur eines einzigen Gedankens, den wir jetzt hegen, gibt es nicht; jeder von ihnen mag sich noch am letzten unserer Tage als falsch erweisen. Aber eine gewisse Art von tröstlicher Sicherheit gibt es: Nicht alle unsere Gedanken können am Ende falsch sein. Über das Schicksal jedes einzelnen unserer Gedanken, ob er wahr ist oder nicht, entscheidet erst die gesamte künftige Erfahrung. Man kann verstehen, dass James seine Position auch als radikalen Empirismus bezeichnet hat. *** So weit mein Versuch, den Pragmatismus und im Besonderen seine Wahrheitstheorie zu skizzieren. Wir haben einiges erörtert, das uns sympathisch klingen mag. Dennoch gilt die Wahrheitstheorie des Pragmatismus heutzutage als ein so kompletter Fehlschlag, dass sie in der gegenwärtigen Fachdiskussion um den Wahrheitsbegriff fast nur noch mit ein paar Nebenbemerkungen bedacht wird. Und ich denke, diese Einschätzung ist im Wesentlichen richtig: Die Wahrheitstheorie des Pragmatismus taugt nichts. Sie ist zu pragmatisch, um wahr zu sein. Sie gibt uns, dazu gleich mehr, eine falsche Auskunft darüber, was Wahrheit ist; aber sie sagt uns manch Kluges darüber, was wir vernünftigerweise für wahr halten sollten. Beides gilt es auseinanderzuhalten. Die Frage: Was ist Wahrheit? ist eine andere als die: Welche Überzeugungen sollten wir vernünftigerweise haben? Dass wir im Falle des empirisch und intellektuell unauflösbaren Zweifels vernünftigerweise das glauben sollten, was uns unter dem Strich am meisten befriedigt, mag wohl ein weiser Rat sein. Aber zugleich mag es eine falsche Auskunft sein, dass Wahrheit selbst davon abhängt, was uns befriedigt, oder im Leben weiterbringt. *** Versuchen wir, ein wenig Struktur in die Frage zu bringen, was Wahrheit ist. Und nehmen wir mit dem Pragmatismus einmal an, dass Wahrheit eine Beziehung ist. Dann sollten wir dreierlei auseinanderhalten: Es ist eines, anzugeben, worin eine Beziehung besteht; es ist ein anderes anzugeben, wie die Sachen beschaffen sind, zwischen denen sie besteht; und es ist ein drittes anzugeben, wie sich herausfinden lässt, ob diese Beziehung zwischen zwei betreffenden Sachen tatsächlich besteht. Entsprechend ist in puncto Wahrheit also zu beachten, dass drei Fragen nicht miteinander vermengt werden:

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Die Frage nach dem Wesen der Wahrheit. Was für eine Art von Beziehung ist sie: eine logische Beziehung? Eine statistische? Eine kausale? Eine Ähnlichkeitsbeziehung? Ja, ist sie überhaupt eine Beziehung? Und falls ja, worin besteht sie? Ist Wahrheit nicht vielmehr eine Eigenschaft? Falls ja, was für eine? Die Frage nach den Relata dieser Beziehung, falls Wahrheit denn eine ist, lautet also: Was sind das für Dinge, die wahr sein können? Und was für Dinge sind das, zu denen sie in der Wahrheitsbeziehung stehen? Wenn wir unterstellen, dass Gedanken und Sätze zu den Dingen gehören, die wahr sein können, und wenn wir unterstellen, dass Wahrheit eine Beziehung zu Realitäten oder zur Wirklichkeit ist, dann gehören beispielsweise Fragen wie die folgenden in diese zweite Rubrik: Was sind eigentlich Gedanken, und was an ihnen ist es, das sie wahrheitsfähig macht? Was sind eigentlich Realitäten? Oder: Was ist das eigentlich: die Wirklichkeit? Die Verifikationsfrage. Wie lässt sich herausfinden, ob ein gegebener Gedanke tatsächlich in der Wahrheitsbeziehung zur Wirklichkeit oder zu einer Realität steht? Lässt sich das überhaupt je herausfinden – definitiv entscheiden? Auf die erste Frage antwortet der Pragmatismus à la James zunächst einmal: Wahrheit ist eine Beziehung. Als Antwort auf die zweite Frage sagt er: Es ist eine Beziehung zwischen Gedanken und der erfahrbaren Realität; oder besser: zwischen Gedanken und dem, wie wir Realität erleben; also, nun zugespitzt: zwischen Gedanken und gewissen unserer Erlebnisse. Und auf die Frage, ob sich die Wahrheit eines beliebigen Gedankens jemals definitiv herausfinden lässt, legt der Pragmatismus die Antwort nahe: Nein, letzten Endes nicht; es könnte immer geschehen, dass künftige Erfahrungen ergeben, dass der Gedanke nicht wahr ist, gleichgültig wie gut er bisher funktioniert hat. Wenn aber Wahrheit eine Beziehung zwischen unseren Gedanken und gewissen unserer Erlebnisse ist, wie lässt sie sich dann genauer angeben? Die genauere Auskunft, die uns James gibt, sei noch einmal wiederholt: Wahrheit besteht in einer Beziehung zwischen einem unserer Gedanken und unseren früheren, jetzigen und insbesondere unseren künftigen Erlebnissen; die Beziehung, die dann vorliegt, wenn die Gedanken uns gut tun, befriedigen, „funktionieren“, uns im Leben weiterbringen. Wahr seien Gedanken, so formuliert James einmal, „in dem Maße, in dem sie uns unsere geistigen und physischen Aktivitäten erleichtern, uns äußere Macht und inneren Frieden bringen“.18 Es gibt eine Reihe von Gründen, weshalb dies heute kaum jemand mehr für eine haltbare Antwort auf die Frage danach hält, was Wahrheit ist. Erstens ist es ja platterdings so, dass auch ein falscher Gedanke uns ein Leben lang gut tun kann. (Russell erwähnte in diesem Zusammenhang einmal den Glauben an den Weihnachtsmann.) Zweitens ist Wahrheit nichts Personen-Relatives; es gibt keine PeterWahrheit und eine entgegen gesetzte Otto-Wahrheit. Das Für-wahr-Halten ist personen-relativ; und wenn wir sagen „Für Peter ist das wahr, für Otto aber nicht“, so meinen wir damit nur, dass der eine es glaubt und der andere nicht. Wir meinen nicht, dass ein und dasselbe zugleich wahr und falsch ist. Wenn der Pragmatist hingegen einen Gedanken als wahr bezeichnet, dann meint er, so James, „immer: wahr 18 James, Works, Bd. 2, S. 43.

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für den, der erlebt, daß der Gedanke funktioniert“.19 Ja, wir finden sogar Formulierungen wie: „Wahrheit ist nur unsere subjektive Beziehung zu Realitäten.“20 Drittens, Wahrheit ist kein Begriff, der sich steigern oder mit Graden näher bestimmen lässt. Doch James spricht oft davon, dass etwas wahrer sei als etwas anderes, und auch davon, dass etwas in dem-und-dem Maße wahr sei. Die Hypothese zum Beispiel, dass Gott existiert, so haben wir eingangs gehört, sei wahrer als die, dass er nicht existiert — jedenfalls für den, dem sie mehr Befriedigung verschafft. Aber alle wahren Gedanken sind „im gleichen Maße“ wahr: nämlich einfach wahr. Wahrer als wahr gibt es nicht; und „weniger wahr als einfach wahr“ heißt eben: nicht wahr. Wahrscheinlichkeit ist etwas ganz anderes als Wahrheit; sie ist personen-relativ und lässt verschiedene Grade zu. Wollte James also gar nicht definieren, was Wahrheit ist? Wollte er vielleicht nur einen Hinweis darauf geben, dass die Frage nach der Wahrheit häufig fruchtlos ist, weil wir oft ja doch nicht definitiv feststellen können, was wahr ist, und uns damit bescheiden müssen, das Wahrscheinlichere zu glauben? Oder das, was uns besser in den Kram passt? Wollte er Wahrheit gar nicht definieren, sondern umdefinieren? Oder wollte er gar nicht charakterisieren, was Wahrheit ist, sondern nur das, was uns den besten Hinweis auf sie gibt? Russell erwägt diese Vermutung einmal: Und falls Nützlichkeit in den Augen des Pragmatisten nur ein Wahrheitskriterium ist, dann werden wir antworten: Erstens ist das kein nützliches Kriterium, denn gewöhnlich ist es schwieriger herauszubekommen, ob eine Überzeugung uns nützt, als herauszubekommen, ob sie wahr ist. Zweitens wird uns kein apriorischer Grund angegeben, warum Wahrheit und Nützlichkeit immer Hand in Hand gehen sollten; mithin ließe sich Nützlichkeit nur dadurch als Wahrheitskriterium erweisen, daß induktiv gezeigt wird, daß Wahrheit in allen bekannten Fällen mit Nützlichkeit zusammen auftritt. Aber dazu müßten wir schon in vielen Fällen wissen, was wahr ist. Und deshalb muß die pragmatische Theorie der Wahrheit schließlich verworfen werden — und zwar deshalb, weil sie nicht ‚funktioniert‘.21 Bei aller Sympathie, die wir für den Pragmatismus hegen mögen — für seine Attacke auf jede Abbildtheorie der Wahrheit mit ihrer absoluten Konzeption von Wirklichkeit oder für seine Methode, nutzlose Hypothesen und Streitereien zu vermeiden—, was den selbsterklärten Kern des Pragmatismus angeht, seine Wahrheitstheorie, ist Russell recht zu geben: Diese Theorie funktioniert nicht. Man müsste Wahrheit allzu pragmatisch betrachten, um sie einfach für das zu halten, als was der Pragmatismus sie uns verkaufen will. Der gesunde Kern des Pragmatismus liegt in seiner Methode, nicht in seiner Wahrheitstheorie. Die Methode ist dazu da, metaphysische Dispute zu beseitigen, die anders nie zu einem Ende kommen könnten. Die Methode liegt darin, Klärungen herbeizuführen: Begriffe werden geklärt, die dunkel oder mehrdeutig sind; unterschiedlich formulierte Hypothesen werden dadurch zur Klarheit gebracht, dass sie entweder als ein und dieselbe erwiesen werden oder dass gezeigt wird, worin ihr 19 Ebd., S. 97. 20 Ebd., S. 89. 21 Bertrand Russell, Transatlantic ‚Truth‘, in: Albany Review 2, 1908, S. 410.

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Unterschied konkret liegt; Pseudo-Hypothesen werden als solche enttarnt, indem enthüllt wird, dass sie keine praktischen Konsequenzen für uns haben. Wenn kein praktischer Unterschied zwischen zwei Auffassungen auszumachen ist, bedeuten beide praktisch dasselbe, und aller Streit ist eitel. James erläutert diese Methode mit einem berühmten Beispiel:

Vor einigen Jahren war ich mit einer Gesellschaft in den Bergen. Wie ich nun einmal von einem einsamen Spaziergang zurückkomme, finde ich die ganze Gesellschaft in einem heftigen philosophischen Streit begriffen. Der Gegenstand des Streits war ein Eichhörnchen. Man hatte sich folgendes überlegt: So ein Eichhörnchen habe sich auf der einen Seite eines Baumes festgekrallt, und auf der andern Seite des Baums stehe ein Mann, der versucht, es zu Gesicht zu bekommen. Zu diesem Zwecke geht er, so schnell er kann, um den Baum herum. Doch wie schnell auch immer er ist, das Eichhörnchen bewegt sich genauso schnell in entgegengesetzter Richtung. Der Baum bleibt immer zwischen den beiden; er bekommt das Eichhörnchen nie zu sehen. Das philosophische Problem, das sich daraus ergibt, ist nun dieses: Geht der Mann um das Eichhörnchen herum oder nicht? Gewiß, er geht um den Baum herum und das Eichhörnchen ist an diesem Baum. Aber geht er auch um das Eichhörnchen herum? In der unbegrenzten Muße unseres Ausflugs in die freie Natur waren die Argumente für und wider bald erschöpft. Es hatten sich zwei gleich große Parteien gebildet, die hartnäckig auf ihrer Position beharrten. Als ich hinzukam, versuchten natürlich beide Seiten, mich für sich zu gewinnen, um damit die Mehrheit zu bilden. Mir fiel die alte scholastische Regel ein: Triffst Du auf einen Widerspruch, triff eine Unterscheidung! Ich suchte nach einer Unterscheidung und kam auf folgendes: „Welche Partei recht hat“, sagte ich, „hängt davon ab, was mit der Wendung ‚um das Eichhörnchen herumgehen‘ praktisch gemeint ist. Wenn damit gemeint ist, daß der Mann erst nördlich vom Eichhörnchen ist, dann östlich, dann südlich, dann westlich von ihm, dann geht er zweifellos um es herum. Wenn hingegen damit gemeint ist, daß er sich erst vor dem Eichhörnchen befindet, dann rechts von ihm, dann hinter ihm, dann links von ihm und schließlich wieder vor ihm, dann geht er genauso offensichtlich nicht um es herum, denn das Eichhörnchen gleicht ja jede Bewegung des Mannes aus und wendet ihm deshalb beständig den Bauch zu. Sobald diese Unterscheidung gemacht wird, gibt es keinen Anlaß, weiter zu streiten. Beide Seiten haben Recht und beide Seiten haben Unrecht, je nachdem, wie der Ausdruck ‚um etwas herumgehen‘ verstanden wird – ob in der einen praktischen Weise oder in der anderen.“22

James nennt diese Anekdote gleich darauf trivial, aber er hätte sie nicht in einer Vorlesung erzählt und diese veröffentlicht, wenn er sie nicht für sehr aufschlussreich gehalten hätte. Und sie ist es. Sie zeigt, dass es Fragen gibt — James nennt die Eichhörnchen-Frage maliziöser Weise eine philosophische Frage —, die sich erst dann entscheiden lassen, wenn eindeutig gemacht worden ist, welche Beobachtungen als Grundlage der Entscheidung gelten sollen. Soll die Beobachtung, dass der Mann einen Kreis gegangen ist, in dem sich das Eichhörnchen befindet, die maßgebliche sein? Oder die Beobachtung, dass er ihm nie anders gegenüberstand als von Bauch zu Bauch? Diese beiden Beobachtungen schließen einander nicht aus; und das zeigt, dass die Frage, ob der Mann um das Eichhörnchen herumgegangen ist, mehrdeutig war. Die eine Anwendung der pragmatischen Methode besteht darin, darauf hinzuweisen, dass zwei Auffassungen, die einander zu widersprechen scheinen, im Lichte ihrer pragmatischen Konsequenzen betrachtet ganz Unterschiedliches besagen kön22 James, Works, Bd. 1, S. 27 f.

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nen, so dass sie einander in Wirklichkeit gar nicht widersprechen und jeder Streit darum, welche nun wahr ist, witzlos ist. Beide mögen wahr sein. Eine zweite Anwendung besteht darin, zu zeigen, dass zwei einander scheinbar widersprechende Auffassungen pragmatisch gesehen genau dasselbe besagen, so dass jeder Streit darum wiederum witzlos ist. Viele scheinbar konfligierende Auffassungen in der Metaphysik sind, so James, von dieser Art. Gibt es Substanzen oder gibt es nur Eigenschaftsbündelungen? Ist menschlicher Geist etwas Materielles, oder ist er vielmehr etwas Nicht-Materielles? Existiert Gott, oder gibt es ihn vielmehr nicht? Alles, was wir konkret erfahren können, lässt nach James jeweils beide Auffassungen zu. In solchen Fällen kommen zwei kognitive Verhaltensweisen in Frage: zum einen die Indifferenz (man zuckt angesichts der prinzipiellen Unentscheidbarkeit die Achseln); zum andern die Entscheidung für diejenige Auffassung, die einem mehr Zufriedenheit schenkt. Und welche Auffassung das ist, dies mag von Mensch zu Mensch verschieden sein. „Wenn Du die Indifferenz zwischen zwei scheinbar miteinander konfligierenden Überzeugungen als schmerzhaft empfindest, glaube das, was Dich glücklicher macht.“ Dies ist eine durchaus humane und tolerante Empfehlung. Der Pragmatist übertreibt allerdings, wie wir gesehen haben, wenn er hinzusetzt: Was Du dann glaubst, ist wahr (eben weil es Dich glücklicher macht).23

23 Ich danke Claudia Nissle für hilfreiche Hinweise bei der Überarbeitung des ursprünglichen Vortragstextes.

WAS IST ‚AMERIKANISCHE‘ MUSIK? IDENTITÄTSSUCHE UND FREMDWAHRNEHMUNGEN Thomas Schmidt-Beste We have listened too long to the courtly muses of Europe. The spirit of American freedom is already suggested to be imitative, tame. … We will walk with our own feet; we will work with our own hands; we will speak our own minds.1

Mit diesen Worten forderte Ralph Waldo Emerson bereits im Jahr 1837 in The American Scholar eine eigene, eben „typisch amerikanische“ Kunst ein, da man schon „zu lang den höfischen Musen von Europa gelauscht habe“. Bei diesem Selbstfindungsprozess einer nationalen Kunst, den Emerson hier einfordert, ist die Musik zwar nicht explizit erwähnt; man darf aber wohl davon ausgehen, dass sie als eine der ‚Musen‘ mit gemeint war. Es scheint der Mühe wert, diesen Selbstfindungsprozess gerade in der Musik etwas genauer unter die Lupe zu nehmen: Es handelt sich nämlich um einen Prozess, der durchaus anders verlief als etwa in der Literatur. Mehr noch als in anderen Künsten verlief er weder geradlinig noch anfechtungsfrei, nicht in der Definition durch die Amerikaner und schon gar nicht in der immer skeptischen Außenansicht durch die europäischen Zeitgenossen. Der Frage danach, ob und wie ‚amerikanische‘ Musik (bzw. genauer gesagt: US-amerikanische Musik) zu einer eigenen Identität fand, wie diese Identität sowohl intern als auch extern definiert wurde und schließlich wer wann die Definitionshoheit über diese Identität für sich in Anspruch nahm, soll in drei Schritten nachgegangen werden: Zunächst soll die Suche der amerikanischen Komponisten nach einer eigenen ‚Sprache‘ bis zum Höhepunkt dieser Bemühungen etwa um 1940 beschrieben werden. In einem zweiten Abschnitt soll dagegen die europäische Perspektive gestellt werden, da man auf der anderen Seite des Atlantiks ein über weite Strecken ganz anderes Bild davon hatte, was denn in der Musik ‚amerikanisch‘ sei. Drittens und letztens soll auf die Zeit nach 1945 eingegangen werden, in der – wie in der Musik überhaupt – die Kontakte intensiver und die Grenzen fließender werden; dass dies auf europäische Vorurteile gegenüber dem, was ‚amerikanische‘ Musik sei, nur begrenzt Einfluss hatte, steht auf einem anderen Blatt. Zunächst also zu den Anfängen in Amerika selbst: Musik in Amerika gab es natürlich schon lange, aber die Forderung Emersons nach einer genuin amerikanischen Kunst schien gerade im Hinblick auf die Musik vorerst utopisch. Für eine ‚amerikanische‘ Musik – allemal eine amerikanische Kunstmusik – fehlten im ganzen 19. Jahrhundert die institutionellen Voraussetzungen, die die Unabhängigkeit von europäischen Vorbildern überhaupt ermöglicht hätten. Denn es sollte ja 1

Ralph Waldo Emerson, The American Scholar, in: Robert E. Spiller u. Alfred E. Ferguson (Hrsg.), The Collected Works of Ralph Waldo Emerson, Bd. 1: Nature, Addresses, and Lectures, Cambridge, Mass. 1971, S. 69 f.

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auch nicht irgendeine Musik sein, sondern Musik von entsprechendem ästhetischen Rang: Gewiss hatte sich schon im 19. Jahrhundert an der Ostküste eine durchaus eigene Tradition des Kirchengesanges herausgebildet, und gewiss hatte der 1826 geborene Stephen Foster in seinen Liedern durch die Mischung aus irisch-schottischer Folklore und den plantation songs der afro-amerikanischen Sklaven einen in der Tat ganz eigenen und bis heute als ‚typisch amerikanisch‘ verstandenen Tonfall entwickelt;2 aber mit Way down upon the Swanee River oder My Old Kentucky Home schien es eben doch nicht getan. Im Gegensatz dazu war die anspruchsvolle – oder sich zumindest als anspruchsvoll gebende – Musikkultur in den Städten fast ausschließlich europäisch bzw. spezifisch deutsch geprägt. Die wenigen musikalischen Institutionen an der Ostküste – in Boston, New York, Philadelphia und Chicago – bezogen ihr Personal fast ausschließlich aus Europa, vor allem aus Deutschland.3 In dem 1855 vom Ostfriesen Theodor (Theodore) Thomas gegründeten Orchester (aus dem später das Chicago Symphony Orchestra hervorging) spielte 1870 nur ein einziger Musiker, der nicht in Deutschland geboren war4, und das älteste professionelle Orchester des Landes, das New York Philharmonic Orchestra, wies noch 1892 gerade einmal drei Musiker auf, die nicht deutscher Abstammung waren.5 Bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs gab es kaum einen namhaften Dirigenten, der nicht in Deutschland geboren oder deutschstämmig gewesen wäre: Carl Bergmann, Leopold und Walter Damrosch, Theodore Thomas, Anton Seidl, Emil Paur in New York (seit 1842); Joseph Otten, Alfred Ernst und Max Zach in St. Louis (ab 1880), Georg Henschel, Wilhelm Gericke, Arthur Nikisch, erneut Emil Paur, Karl Muck und Max Fiedler in Boston (ab 1881), Thomas in Chicago (ab 1891), Frank van der Stucken in Cincinnati (ab 1895), Fritz Scheel und Karl Pohlig in Philadelphia (ab 1900), Emil Oberhoffer in Minneapolis (ab 1903).6 Aufgeführt wurden ebenso fast ausschließlich Werke europäischer Komponisten – wenn nicht, wie im Fall der Oper, zunächst überhaupt nur in Form von europäischen Truppen auf Tournee; die ersten in Amerika tätigen Komponisten wie der 1781 geborene Böhme Anton Philipp (oder Anthony Philip) Heinrich stammten sowieso aus Europa, und bis weit ins 20. Jahrhundert waren auch praktisch alle in Amerika geborenen Musiker gehalten, ihre Ausbildung jenseits des 2 3

4

5 6

Vgl. Charles Hamm, Music in the New World, New York, London 1983, S. 230 ff. Vgl. hierzu allgemein Jessica C.E. Gienow-Hecht, Sound Diplopmacy: Music and Emotions in Transatlantic Relations, Chicago 2009; Thomas Schmidt-Beste, The Germanization of American Musical Life in the 19th Century, in: Josef Raab u. Jan Wirrer (Hrsg.), Die deutsche Präsenz in den USA / The German Presence in the U.S., Münster 2008, S. 513–539; Katherine K. Preston, Art music from 1800 to 1860, in: David Nicholls (Hrsg.), The Cambridge History of American Music, Cambridge 1998, S. 186–213. Vgl. ebd., S. 336 f. Zu Theodore Thomas, einer der schillerndsten Figuren des amerikanischen Musiklebens im 19. Jahrhundert, vgl. allgemein Theodore Thomas, A Musical Autobiography (hrsg. von George P. Upton), Chicago 1905, repr. New York 1964; Ezra Schabas, Theodore Thomas. America‘s Conductor and Builder of Orchestras, 1835–1905, Urbana, Chicago 1989. Vgl. Howard Shanet, Philharmonic. A History of New York‘s Orchestra, New York 1975, S. 142. Vgl. John H. Mueller, The American Symphony Orchestra: A Social History of Musical Taste, Bloomington 1951, S. 48 f.

Was ist ‚amerikanische‘ Musik? Identitätssuche und Fremdwahrnehmungen

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Atlantik zu genießen, aus Prestigegründen und aufgrund des schlichten Fehlens von einheimischen Ausbildungsstätten. Eine nationale Musik schien selbst denen unrealistisch, die sie eigentlich anstrebten. Der aus Philadelphia stammende William Henry Fry, dessen Oper Leonora von 1845 im Spanien des 16. Jahrhunderts spielt, beklagte – ähnlich wie James Fenimore Cooper für die Literatur – eine „poverty of material“ für eine wirklich amerikanische Musik: „The action laid in this country [in the United States] could not be illustrated with original music, since the original type is wanting.“7 Genau diesem Mangel an originalem und originellem Material galt es also abzuhelfen. Seit den 1850er Jahren häufen sich dementsprechend die Manifeste und Appelle amerikanischer Musiker und Komponisten, die für eine ‘Amerikanisierung’ der Kunst eintraten, sowohl im Sinne einer stärkeren Berücksichtigung einheimischer Werke im Konzertsaal (womit nicht zuletzt die eigenen Werke gemeint waren) als auch im Sinne einer genuin amerikanischen Musik. Hohes Pathos ist dabei an der Tagesordnung, und Anklänge an Emerson werden überdeutlich, wenn etwa der erwähnte Fry im Jahr 1853 eine Unabhängigkeitserklärung der amerikanischen Musik fordert:

It is time we had a Declaration of Independence in Art, and laid the foundation of an American School of Painting, Sculpture and Music. Until this Declaration of Independence in Art shall be made – until American composers shall discard their foreign liveries and found an American school – and until this American Public shall learn to support American artists, Art will not become indigenous to this country, but will only exist as a feeble exotic, and we shall continue to be provincial in Art. The American composer should not allow the name of Beethoven or Handel or Mozart to prove an eternal bugbear to him, nor should he pay them reverence; he should only reverence his Art, and strike out manfully and independently into untrodden realms, just as his nature and inspirations may invite him, else he can never achieve lasting renown.8

Was aber könnte als “original type” der amerikanischen Musik gelten?9 Das seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts in Europa probate Mittel der ‚Nationalisierung‘ ist die Verwendung von – real oder vermeintlich authentischem – Material aus der einheimischen Volksmusiktradition; und dieser Weg schien auch den amerikanischen Nationalisten der naheliegendste. Nur: Was genau konnte als ‚typisch amerikanische‘ Folklore gelten, deren Umsetzung in anspruchsvoller Musik einen nationalen Stil würde begründen können? Seit den 1880er Jahren, die wohl als Anfangszeit eines weiter verbreiteten ‚Amerikanismus‘ in der musikalischen Komposition der USA gelten können, wurden drei mögliche Quellen für eine solche Musik genannt: erstens die Musik der indianischen Ureinwohner, zweitens die Musik der afro-amerikanischen Sklaven und drittens das Liedgut der weißen, primär der angelsächsischen Einwanderer. Eine vierte Möglichkeit, die spätere Komponisten als 7 8 9

Zitiert nach Barbara Zuck, A History of Musical Americanism, Ann Arbor 1980, S. 19. Zitiert nach Betty E. Chmaj, Fry versus Dwight: American Music‘s Debate over Nationality, in: American Music 3, 1985, S. 63–84. Zum Folgenden vgl. neben Zuck, Musical Americanism, auch Michael Broyles, Art music from 1860 to 1920, in: Nicholls, Cambridge History of American Music, S. 214–254, hier S. 249–253; Hamm, Music in the New World, S. 410–459 („The Search for a National Identity“); Hermann Danuser, Auf der Suche nach einer nationalen Musikästhetik, in: ders. / Dietrich Kämper / Paul Terse (Hrsg.), Amerikanische Musik seit Charles Ives, Laaber 1987, S. 51–59.

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‚typisch amerikanisch‘ für sich in Anspruch nahmen und von der ebenfalls noch zu sprechen sein wird, war nicht die Integration bestimmter folkloristischer Elemente in der Musik, sondern ein bestimmtes Klangbild, das durch klare Linien und offene, ‚weite‘ Texturen dem amerikanischen Selbstverständnis entsprechen sollte. Die erste Richtung, diejenige der so genannten indianists, fand ihren prominentesten frühen Vertreter ironischerweise nicht bei den amerikanischen Komponisten selbst, sondern bei einem Europäer: Antonin Dvořák.10 Dvořák war von 1892 bis 1895 Direktor des New Yorker Conservatory of Music und damit der erste wirklich bedeutende europäische Komponist, der längere Zeit in dem ‚musikalischen Entwicklungsland‘ USA zubrachte. Über die spezifische Amerika-Rezeption Dvořáks wird im nächsten Abschnitt noch zu sprechen sein. Jedenfalls löste das explizite Interesse Dvořáks an indianischer und afro-amerikanischer Folklore und vor allem die Demonstration, dass es möglich war, diese Folklore – oder was man dafür hielt – ästhetisch befriedigend in anspruchsvolle Instrumentalmusik zu integrieren, eine ganze Welle vergleichbarer Kompositionen in den USA aus, auch wenn der ebenfalls um einen nationalen Stil ringende Komponist Edward McDowell die entsprechenden Bemühungen etwas gehässig mit den Worten kommentierte: „Masquerading in the so-called nationalism of Negro clothes cut in Bohemia will not help us.“11 Gleichwohl verhalf die von Dvořák mit ausgelöste nationalistische Welle in der amerikanischen Musik gerade auch den Indian Suites aus McDowells eigener Feder zu größerer Prominenz; McDowells Antipathien richteten sich wohl eher gegen die Tatsache, dass ein ‚Zugereister‘ größeren Erfolg mit amerikanistischer Musik haben sollte als die Einheimischen. Dabei hatte McDowell selbst in Frankfurt und Darmstadt studiert, und die ‚indianischen‘ Melodien, die er in seinen Suiten verwendete, stammen aus einer Leipziger Dissertation eines amerikanischen Studenten, Theodore Bakers Die Musik der nordamerikanischen Wilden (Leipzig 1882) – mit stark nach abendländischen Folklore-Vorstellungen bereinigten MelodieTranskriptionen.12 Der fruchtbarste der indianists war der eine halbe Generation jüngere, 1872 in St. Paul, Minnesota, geborene Arthur Farwell, der alles an indianischen Liedern sammelte, was er finden konnte, die Melodien mehrstimmig vertonte, mit ihnen auf Tournee ging und mit der Wa-Wan Press sogar einen eigenen Verlag zur Verbreitung indianischer Musik gründete.13 Auch Farwell kombiniert aber die simple Pentatonik seiner Melodien (die schon für sich genommen misstrauisch macht, da Pentatonik eher ein Charakteristikum europäischer als echter indianischer ‚Volksmusik‘ ist) mit einem spätromantisch-Brahmsschen Klaviersatz – immerhin hatte auch er bei Engelbert Humperdinck in Deutschland studiert, und 10 Vgl. Zuck, Musical Americanism, S. 56–59. Vgl. auch Tara Browner, „Breathing the American Spirit“: Thoughts on Musical Borrowing and the „Indianist“ Movement in American Music, in: American Music 15, 1977, S. 265–284. 11 Zitiert nach Zuck, Musical Americanism, S. 60. Vgl. auch Richard Crawford, Edward McDowell: Musical Nationalism and an American Tone Poet, in: Journal of the American Musicological Society 64, 1996, S. 518–560. 12 Theodore Baker, Über die Musik der nordamerikanischen Wilden, Leipzig 1882; engl.: On the Music of the North American Indians, New York 1977. 13 Vgl. Zuck, Musical Americanism, S. 61–65.

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das Ziel war ja gerade die Integration der ‚eigenen‘ Musik in die anspruchsvollen Genres. Nun konnte kein amerikanischer Komponist zu irgendeiner Zeit behaupten, die indianische Folklore sei wirklich etwas eigenes, allemal nicht im späten 19. Jahrhundert, wo die Indianer entweder ermordet oder in Reservate abgedrängt worden waren. Hier vermischen sich somit zwei ihrer Intention nach eigentlich konträre kulturelle Tendenzen des 19. Jahrhunderts – Nationalismus und romantischer Exotismus – zu einem nicht unproblematischen Ganzen. Dies wurde naheliegender Weise schon von den Zeitgenossen erkannt: John Tasker Howard trifft den Nagel auf den Kopf, wenn er 1921 schreibt: It is not probable that the impress of the Indian music will be strongly felt. The race itself is dying out, and the exotic flavor of their wild songs and dances is too far removed from the comprehension of the rest of us to ever become vital to our artistic expression.14

Und Howard schlägt auch gleich die Alternative vor:

The music of the American Negro, as we know it, is nearer to us and closer to our own conception of musical expression. The Negro has been more among us than has the Indian, and although the racial distinction has been strongly emphasized, the black people have not been put in reservations by themselves. By intermingling, our musical expressions have found common ground.15

Obwohl Howards Bewertung des Verhältnisses zwischen Schwarz und Weiß für die Zeit etwas optimistisch wirkt, zeigen bereits die Übernahmen der plantation songs der Sklaven durch Stephen Foster in der Mitte des 19. Jahrhunderts, dass der musikalische Kontakt hier wirklich enger war und weiter zurückreicht als bei den Indianern. Wirkliche Authentizität konnte im Bereich der ernsten Musik zwar nur der 1895 geborene William Grant Still für sich in Anspruch nehmen, dessen Afro-American symphony (1931) das erste öffentlich aufgeführte Orchesterwerk eines afroamerikanischen Komponisten war, aber Stücke on Negro themes hatten sich schon seit der Mitte des 19. Jahrhunderts einer gewissen Beliebtheit erfreut, wenn auch zunächst nicht im Sinne eines musikalischen Nationalismus, sondern als rhythmisch-melodischer Kolorit, als exotische Anreicherung des Repertoires. Typisch hierfür sind die Kompositionen des Klaviervirtuosen Louis Moreau Gottschalk, geboren 1829 in New Orleans als Sohn eines in Deutschland aufgewachsenen Engländers spanisch-jüdischer Herkunft und einer französischen, in Haiti groß gewordenen Mutter. Gottschalk verarbeitete (angesichts seines kosmopolitischen Stammbaums kaum überraschend) in seinen virtuosen Klavierstücken Einflüsse aller Art, vor allem aber karibische Themen und Rhythmen, z. B. in Bamboula, Danse de nègres op. 2 (1846–48) oder Souvenir de Porto Rico op. 31 (1857 / 58). Auch hier ist es wieder die Mischung aus abendländischem Tonsatz – in diesem Fall der Klavierstil Frédéric Chopins – und exotischer Rhythmik und Melodik, die den Reiz des Stückes schon auf die Zeitgenossen ausmachte; noch heute überrascht die Nähe einer 14 John Tasker Howard, Our Folk-Music and its Probable Impress on American Music of the Future, in: The Musical Quarterly 7, 1921, S. 167–171, hier S. 168. 15 Ebd.

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Reihe von Gottschalk-Kompositionen zum ein halbes Jahrhundert später aufkommenden Jazz.16 Eine wirklich treibende Kraft in der amerikanischen Musik wurde die afroamerikanische Tradition aber erst durch ihre eigene Integration in die Unterhaltungsmusik des Mainstream, den Ragtime und später den Jazz. Es würde hier zu weit führen, die komplexen Transformationsprozesse nachzuvollziehen (die keineswegs ausschließlich, streckenweise nicht einmal primär tatsächlich von Schwarzen betrieben wurden), vermittels derer sich diese Musik durchsetzte; gleichwohl wurde sie primär als black music wahrgenommen und rezipiert.17 Ragtime und Jazz hatten neben ihren sehr distinktiven und auch in symphonischer Verarbeitung immer erkennbaren rhythmischen Eigenschaften den zusätzlichen Vorteil, dass sie rasch auch im Ausland populär wurden und somit ein auf ihnen beruhendes Stück auch ohne erklärenden Titel sofort als ‚typisch amerikanisch‘ erkennbar war. Nach dem heute nahezu vergessenen Henry F. Gilbert, der bereits ab 1915 ‚ernste Musik‘ schrieb, die auf Ragtime-Material basierte18, waren es vor allem die 1920er Jahre – d. h. die ohnehin als ‚Jazz Age‘ bezeichnete Epoche – in denen sowohl europäische als auch amerikanische Komponisten versuchten, Jazz und anspruchsvolle Musik miteinander zu verbinden.19 In den USA traf dies glücklich zusammen mit der Herausbildung einer Generation junger, zwischen 1895 und 1900 geborenen Komponisten, die zwar fast sämtlich ihre kompositorische Ausbildung bei Nadia Boulanger in Paris genossen hatten, deren Selbstbewusstsein, Gruppengeist und nicht zuletzt kompositorisches Talent der Idee einer ‚amerikanischen‘ Musik zum ersten Mal ein jenseits von Liebhaberzirkeln gehörtes Echo verschafften: Es handelt sich dabei vor allem um Aaron Copland, Virgil Thomson, Walter Piston und Roy Harris. Nicht alle Mitglieder dieser Generation schrieben in den 1920er Jahren ausschließlich Jazz-inspirierte Werke; die aus Frankreich mitgebrachte Vorliebe für Igor Stravinsky und dessen von scharfen Instrumentalfarben, komplexen Rhythmen und streckenweise auch dem verfremdeten Einsatz russischer Folklore geprägter Stil waren aber so kompatibel mit den Vorgaben des Jazz, dass sich beides oft bis zur Ununterscheidbarkeit überschnitt. Das Sprachrohr dieser Generation war der als Sohn russischer Einwanderer 1900 in Brooklyn geborene Aaron Copland, der auch als erster Amerikaner bei Boulanger studiert hatte und sich nach seiner Rückkehr massiv auch für eine institutionelle Förderung neuer amerikanischer Musik einsetzte: Seine Music for the Theatre von 1925 macht am deutlichsten Gebrauch von Jazz-Elementen – und klingt dennoch auch unverkennbar nach Stravinsky.20

16 Vgl. S. Frederick Starr, Bamboula! The Life and Times of Louis Moreau Gottschalk, Oxford, New York 1995. 17 Vgl. Jeffrey Magee, Ragtime and early jazz, in: Nicholls, Cambridge History of American Music, S. 388–417. 18 Vgl. Zuck, Musical Americanism, S. 75–78. 19 Vgl. hierzu den Überblick bei Hugh Wiley Hitchcock, Music in the United States: A Historical Introduction, Englewood Cliffs 1969, S. 175–196 („ The 1920‘s“). 20 Vgl. Howard Pollack, Aaron Copland. The Life and Work of an Uncommon Man, Urbana, Chicago 1999, S. 128–134.

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Gewissermaßen ‚von der anderen Seite‘ kam der heute wohl bekannteste Komponist, der Jazz und anspruchsvolle Genres miteinander zu vereinen suchte: George Gershwin. Auch er war Kind jüdischer Emigranten aus Russland und wuchs in Brooklyn auf, aber seine Karriere verlief ganz anders: Er genoss keinerlei klassische Ausbildung, sondern verdiente sich seinen Unterhalt von Anfang an als Pianist und Songwriter am Broadway. Er lernte den Jazz somit gewissermaßen auf Augenhöhe kennen, da Jazz-Elemente gerade in den 1920er Jahren massiv auch am Broadway Einzug hielten. In den ‚ernsten‘, d. h. für Symphonieorchester bzw. Operbühne geschriebenen Werken – der Rhapsody in Blue, dem Klavierkonzert in F-dur und der Oper Porgy and Bess – ist demnach für Gershwin das anspruchsvolle Medium und nicht der Jazz das Fremde, Neuartige. Während sich so Copland den Vorwurf einhandelte, keinen authentischen Jazz zu schreiben (was er auch nie anstrebte), wurde Gershwin die mangelnde Beherrschung formaler Regeln und orchestraler Technik vorgehalten.21 Auch Jazz konnte sich als ‚typisch amerikanische‘ Musik im Bereich der EMusik aber nicht als Konstante behaupten; schon 1941 schrieb Copland über seine eigene zwiespältige Beziehung zum Jazz und dessen ‚Nationalcharakter‘: True, it [jazz] was an easy way to be American in musical terms, but all American music could not possibly be confined to two dominant jazz moods – the ‚blues‘ and the snappy number. The characteristic rhythmic element of jazz (or swing, to give it its new name), being independent of mood, yet purely indigenous, will undoubtedly continue to be used in serious native music.22

Da die Komponisten eines der Grundelemente des Jazz, das Improvisatorische, notwendigerweise preisgeben mussten, blieb eine begrenzte Anzahl von rhythmischen Elementen und Stimmungen, deren Neuigkeitswert bald abgenutzt schien, wenn auch die Rhythmen als solche die neue Musik dauerhaft bereicherten (und auf beiden Seiten des Atlantiks auch konsistent als ‘typisch amerikanisch’ wahrgenommen wurden). Nur im Musiktheater, das von der Broadway-Show zehrte, die ihrerseits Elemente des Jazz absorbiert hatte, hielt sich dessen Einfluss noch in den späteren 1930er und den 1940er Jahren. Allemal das linksgerichtete politische Musiktheater des New Deal, das eine breite Bevölkerungsschicht ansprechen wollte und dessen musikalischer Höhepunkt wohl in Marc Blitzsteins The Cradle will Rock von 1937 zu sehen ist, setzt Elemente des Jazz nach wie vor unverkennbar ein23, eine Tendenz, die sich in Bühnenwerken wie etwa Leonard Bernsteins West Side Story auch nach dem Zweiten Weltkrieg fortsetzte. Auch die Verfechter afro-amerikanischer Folklore mussten sich aber den Vorwurf gefallen lassen, es sei sowohl ästhetisch wie moralisch fragwürdig, die Musik einer unterdrückten Randgruppe der amerikanischen Gesellschaft als Inbegriff des ‚Amerikanischen‘ anzusehen; der Reiz dieser Musik läge allenfalls – ähnlich wie 21 Vgl. Larry Starr, Tonal Traditions in art music from 1920 to 1960, in: Nicholls, Cambridge History of American Music, S. 471–495, hier S. 472–476. 22 Aaron Copland, Our New Music, New York, London 1941, S. 227; vgl. auch Pollack, Aaron Copland, S. 113–120. 23 Vgl. Eric A. Gordon, Mark the Music: The Life and Work of Mark Blitzstein, New York 1989.

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bei der der Indianer – nicht darin, dass sie das ‚Eigene‘, sondern gerade darin, dass sie das ‚Andere‘ repräsentierte. Dies nimmt – kaum überraschend – bisweilen rassistische Züge an, wie in den Überlegungen des aus Virginia stammenden Pianisten und Komponisten John Powell, der, obgleich in jungen Jahren Komponist einer Rhapsodie Negre (1917), den Indianismus und den Afro-Amerikanismus im Jahr 1923 gleich in einem Atemzug abfertigt:

When the negro music is analyzed, we see at once that that part of it which is purely African is almost as meagre and monotonous as the Indian music. […] We Americans, so-called, are no more black Africans than we are red Indians; and it is absurd to imagine that the negro idiom could ever give adequate expression to the soul of our race.24

Die Konsequenz ist für Powell offensichtlich:

We have seen that our only hope for a nation in America lies in grafting the stock of our culture on the Anglo-Saxon root. Is it not equally evident that, if we desire a music characteristic of our racial psychology, it must be based upon Anglo-American folk-song? Here the whole gamut of life is aptly and beautifully expressed […] I must urge all American composers to avail themselves of this unparalleled opportunity. In this way, not only will our racial heritage be used to give us a national music, but the resulting music will become one of the most important means towards the end of achieving a national consciousness.25

Unabhängig davon, ob man die anglozentristische Rhetorik Powells teilt oder nicht, lag die Verwendung von Liedern der weißen Leitkultur – sowohl in Form von weltlicher Folklore als auch von Kirchenliedern – als Vorlage natürlich nahe, wenngleich immer mit dem potentiellen Makel behaftet, dass es sich in Wirklichkeit ursprünglich um britisches Liedgut und damit nicht um ‘echt amerikanische’ Musik handelte. Vor allem nachdem die Jazz-Periode in der Kunstmusik der1920er Jahre im Abklingen begriffen war, trat dieses Repertoire gleichwohl immer stärker in den Vordergrund.26 In der Rückschau wird dabei heute Charles Ives als Pionier der angloamerikanisch inspirierten Kunstmusik angesehen: Ives verarbeitete schon in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts seine persönlichen Jugenderinnerungen aus dem Kleinstadtleben Neuenglands in Musik und integrierte dabei Folklore- und Kirchenliedzitate in einem komplexen und durchaus modernen musikalischen Satz. Ives – im Hauptberuf Manager einer sehr erfolgreichen Versicherungsagentur – wirkte jahrzehntelang fast völlig im Verborgenen. Als seine Musik in den 1930er Jahren endlich einem weiteren Publikum bekannt wurde, wurde sie jedoch sofort und ganz selbstverständlich in den Kontext des ‚typisch Amerikanischen‘ eingeordnet. Aaron Copland erinnert sich an seine ersten Ives-Erlebnisse: „I was amazed. There we were in the twenties searching for a composer from the older generation with an ‚American sound‘, and here was Charles Ives composing this incredible music – totally unknown to us!“27 Ives selbst lehnte das Konzept einer ‚typisch amerikanischen‘ Musik allerdings strikt ab – für ihn war alle Musik individuell und 24 John Powell, „Lectures on Music“ (1923), zitiert nach Hamm, Music in the New World, S. 421 f. 25 Ebd., S. 422. 26 Vgl. Zuck, Musical Americanism, S. 139–153. 27 Aaron Copland / Vivian Perlis, Copland: 1900 to 1942, New York 1984, S. 204.

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universell zugleich und jeder Komponist musste selbst entscheiden, welches für ihn die besten Vorbilder waren. Das Qualitätsmerkmal ist für ihn die Ehrlichkeit – ‘Authentizität’, wenn man so will – des Komponisten, nicht der Grad an ‘nationaler’ Einfärbung: A composer born in America […] may be so interested in ‚negro melodies‘ that he writes a symphony over them. He is conscious (perhaps only subconscious) that he wishes it to be ‚American music‘. He tries to forget that the paternal negro came from Africa. Is his music American or African? That is the great question which keeps him awake! But the sadness of it is that if he had been born in Africa, his music might have been just as American, for there is good authority that an African soul under an X-ray looks identically like an American soul. […] In other words, if local color, national color, any color, is a true pigment of the universal color, it is a divine quality, it is part of substance in art – not of manner.28

Gleichwohl war es vor allem die angelsächsische Folklore, die in den 1930er Jahren und noch mehr in den patriotischen Kriegsjahren in den Vordergrund trat und für sich in Anspruch nehmen konnte, als ‚typisch amerikanisch‘ zu gelten, zumal in den 1930er Jahren auch – unterstützt durch New Deal-Gelder – das Sammeln von musikalischem Volksgut durch Ethnologen wie Charles Seeger und Elie Siegmeister begann.29 In den in dieser Zeit entstandenen Kompositionen ging das Integrieren der Folksongs anders als bei Ives allerdings mit einer bewussten Rücknahme der musikalischen Komplexität einher, nicht zuletzt gemäß der ebenfalls im New Deal propagierten Vorstellung einer musikalischen Volksbildung, in der sich Anspruch mit Breitenwirkung verbinden sollte. Viele Komponisten schlossen sich diesem Ziel an, und ‚Folksong Symphonies‘ entstanden in großer Zahl – wobei entweder das Ziel der Breitenwirkung oder das des musikalischen Anspruchs nicht selten weit verfehlt wurde. Die gelungensten in dieser Zeit entstandenen Werke – wie Aaron Coplands Ballette Appalachian Spring, Billy the Kid und Rodeo oder Virgil Thomsons Symphony on a Hymn Tune – gehören aber bis heute zu den in Amerika meistgespielten und auch völlig unangefochten als ‚typisch amerikanisch‘ geltenden Werke. Geradezu den Status eines Klassikers erlangte Aaron Coplands Appalachian Spring von 1944, in dem ein Lied der Shaker-Gemeinde mit dem programmatischen Titel The Gift to be Simple verarbeitet wird. Denn Einfachheit, Klarheit, das bewusst anti-elitäre Schreiben für einen möglichst weiten Hörerkreis wurde in den 1930er und 1940er Jahren selbst unabhängig von folkloristischen Elementen zu einem ‚nationalen‘ Anliegen – wenn auch zu einem, das in dieser Zeit auch in Europa weite Verbreitung fand: „I felt that it was worth the effort to see if I couldn‘t say what I had to say in the simplest possible terms“, schreibt Copland 1941 über seine Werke der 1930er -Jahre.30 Am deutlichsten wird dies in bewusst patriotischen Kompositionen wie den allenthalben komponierten Märschen und Fanfaren, aber auch in musikalischen Appellen an die Grundwerte der Republik, wie etwa Randall Thompsons The Testament of Freedom nach Worten von Thomas Jefferson (1943) oder Coplands Lincoln Portrait (1942). Auch 28 Charles Ives, Essays before a Sonata and other Writings (hrsg. von Howard Boatwright), New York 1961. 29 Vgl. Zuck, Musical Americanism, S. 139–153. 30 Copland, Our New Music, S. 229.

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unabhängig von direkt propagandistischen Kontexten war ein entsprechender Tonfall aber weitverbreitet: Als Hauptvertreter dieser Richtung gilt Roy Harris, der passender Weise aus Oklahoma stammte und dessen weitschweifende Melodien, unregelmäßige Phrasen und strenges Klangbild generell die vielbeschworene ruggedness Amerikas und seiner Einwohner sowie die unendlichen Weiten des amerikanischen Westens zu verkörpern schienen. „There is indeed an air of the West in his music“, schreibt ein Kritiker im Jahr 1939 – „whether or not it is everything that it has been called remains to be determined. At any rate, we have another interesting instance of our persisting racial self-consciousness and root-seeking; a quest, it must be added, in which the composer concurs.“31 Fassen wir zusammen: Spätestens seit dem späten 19. Jahrhundert waren amerikanische Komponisten ganz bewusst auf der Suche nach einer nationalen musikalischen Identität, nach einem ‘typisch amerikanischen’ Ton. Eine Übereinkunft darüber, wie dieser Ton sich gestalten solle, ließ sich aber nicht einmal über kurze Zeiträume hinweg herstellen; zu vielfältig waren die zur Verfügung stehenden Optionen; zu wenig etabliert waren die Institutionen, die eine bestimmte Musik – oder die Musik überhaupt – hätten tragen können; zu vielfältig waren vor allem aber die individuellen Vorstellungen der Komponisten, zumal sich – etwas überspitzt ausgedrückt – im amerikanischen Komponisten die europäisch-romantische Vorstellung vom eigenschöpferischen Genie mit der des amerikanischen rugged individualism kreuzten und gegenseitig verstärkten. So schreibt Elliott Carter noch 1976 über sich selbst in den 1930er Jahren: Für mich indessen wurde es bald klar, […] dass im Grunde das Faktum, Amerikaner zu sein, ausreichen musste, dass, welchen amerikanischen Charakter meine Musik auch immer haben würde, es letzten Endes doch mein Charakter, mein Charakter im Schaffen meiner Musik, sein würde und dass es unerheblich wäre, welche Wahl ich träfe, wenn ich nur die Musik schriebe, die ich am liebesten schreiben wollte. Das, so glaubte ich, würde amerikanische Musik sein.32

*** Wie nun aber wurde das Bemühen der amerikanischen Musiker um eine ‚eigene‘ Musik auf der anderen Seite des Atlantiks wahrgenommen – was galt in Europa als ‚typisch amerikanisch‘? Für das 19. Jahrhundert lässt sich konstatieren, dass eine Rezeption schlicht nicht stattfand. Die provokant-rhetorische Frage des englischen Kritikers Sidney Smith aus dem Jahr 1820 „In the four quarters of the globe, who reads an American book? Or goes to an American play? Or looks at an American picture or statue?“33 impliziert, dass es immerhin möglich gewesen wäre, ein amerikanisches Buch zu lesen, ein Theaterstück zu besuchen oder ein amerikanisches Bild zu betrachten, auch wenn das seiner Meinung nach nicht der Mühe wert gewesen wäre. Amerikanische Musik hingegen wird nicht erwähnt, da sie aus europä31 Zitiert nach Zuck, Musical Americanism, S. 237. 32 Allen Edwards (Hrsg.), Flawed Words and Stubborn Sounds. A Conversation with Elliott Carter, New York 1971, S. 31; zit. nach Renate Groth, Über die Konzerte Elliott Carters, in: Danuser / Kämper / Terse, Amerikanische Musik seit Charles Ives, S. 177–190, S. 177. 33 Edinburgh Review 32, 1820, S. 69–80; zitiert nach Zuck, Musical Americanism, S. 17.

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ischer Sicht schlicht nicht existierte. Wenn überhaupt, dann wurden die Vereinigten Staaten als Exportmarkt für Stellen suchende Musiker und unternehmungslustige Gastdirigenten oder Sänger angesehen. Die wie oben erwähnt stark auf Europa ausgerichtete Musikkultur der wohlhabenden Ostküsten-Oberschicht und die fast selbstverständliche Notwendigkeit, als angehender Musiker in Europa – und das hieß im 19. Jahrhundert vor allem: in Deutschland – zu studieren, leistete dieser eurozentrischen Sichtweise weiteren Vorschub. Die USA, als ‘musikalisches Entwicklungsland’, waren somit als Empfänger von Musik durchaus bekannt und zumindest finanziell auch attraktiv; eine wirklich eigenständige Musikkultur wurde ihnen aber nicht zugestanden.34 Der früheste bedeutende Fall von Interesse an amerikanischer Musik ist die bereits erwähnte Rezeption des böhmischen Komponisten Antonin Dvořák, der von 1892 bis 1895 in den USA lebte und arbeitete. Dvořák, der bereits in seiner Heimat durch ‚nationale‘ Töne aufgefallen war – man denke an die Slawischen Tänze – interessierte sich von Anfang an auch für die Folklore seines Gastlandes; direkt oder indirekt amerikanisch inspiriert sind die 9. Symphonie („Aus der neuen Welt“), das Streichquartett F-dur op. 96 (das „Amerikanische Quartett“) sowie das Streichquintett Es-dur op. 97, die Suite A-dur op. 98, die „Biblischen Lieder“ op. 99, die Sonatine G-dur op. 100 für Violine und Klavier und die „Humoresken“ op. 101.35 Dvořák ging es dabei aber nicht um Authentizität, sondern um persönliche Eindrücke bzw. einen charakteristischen Tonfall. Dies zeigt sich schon daran, dass eine seiner Hauptinspirationsquellen für indianische Kultur Henry Wadsworth Longfellows Versepos Hiawatha war, also seinerseits das Werk eines weißen Amerikaners, der dem exotischen Ideal des ‚edlen Wilden‘ nachträumt, vergleichbar etwa der europäischen Begeisterung für den halbfiktiven keltischen Barden Ossian (nachempfunden in den Schriften des schottischen Schriftstellers James Macpherson) im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Fast naiv wirkt Dvořáks Beschreibung des Inspirationsprozesses für die Sinfonie aus der neuen Welt in einem Artikel für den New York Herald vom 13. August 1893: Now, I found that the music of the Negroes and of the Indians was practically identical. I therefore carefully studied a certain number of Indian melodies which a friend gave me, and became thoroughly imbued with their characteristics – with their spirit, in fact. […] I have not actually used any of the melodies. I have simply written original themes embodying the peculiarities of the Indian music, and, using these themes as subjects, have developed them with all the resources of modern rhythms, harmony, counterpoint and orchestral colour.36

Es ist müßig, das mangelnde historische, musikalische und ethnologische Bewusstsein zu kritisieren, dass sich in Dvořákschen Aussage manifestiert – die Folklore der Schwarzen und der Indianer hat in Wirklichkeit nicht allzu viel gemeinsam. Genauso müßig ist es, die wahrscheinliche Quelle seiner ‘Indianermelodien’ zu be34 Vgl. Gienow-Hecht, Sound Diplomacy; Schmidt-Beste, The Germanisation of American Musical Life. 35 Vgl. Hartmut Schick, Studien zu Dvořáks Streichquartetten, Laaber 1990 (= Neue Heidelberger Studien zur Musikwissenschaft 17), S. 264–282 („Amerikanisch oder böhmisch“), hier bes. S. 264 f. 36 Zitiert nach Zuck, Musical Americanism, S. 57.

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lächeln: erneut Bakers Leipziger Dissertation Die Musik der nordamerikanischen Wilden. Bedeutsamer als die Frage, wie authentisch die Inspiration Dvořáks für seine ‚amerikanischen‘ Melodien ist, ist die prinzipielle Art und Weise, in der er sich der Musik seines Gastlandes näherte: Ganz im Stil der europäischen Nationalromantik des 19. Jahrhunderts betrachtete er die USA nicht als gleichwertigen Partner eines musikalischen Austausches, sondern – in kolonialer Attitüde – als Lieferant von urwüchsigem Material zur Anreicherung des eigenen Komponierens, ganz gleich den anderen beiden Tonfällen, die dem Jahrhundert so lieb waren: dem ‚nordischen‘ – man denke an Felix Mendelssohn Bartholdys Hebriden-Ouvertüre, an den Dänen Niels Wilhelm Gade und an den Norweger Edvard Grieg – sowie dem bereits erwähnten ‚slawischen‘.37 Dvořák selbst zieht die Parallelen zwischen dem indianisch-afrikanischen Stil, den er in den USA vorfand oder vorzufinden glaubte, und den europäischen Folklore-Tönen, wie aus dem Artikel für den New York Herald ebenfalls hervorgeht: I found that the music of the two races [the Indians and the Negroes] bore a remarkable similarity to the music of Scotland. In both there is a peculiar scale, caused by the absence of the fourth or seventh, or leading tone. In both the minor scale has the seventh invariably a minor seventh, the fourth is included and the sixth omitted.38

Dennoch war er überzeugt, in der Symphonie aus der neuen Welt einen ‘typisch amerikanischen’ Tonfall getroffen zu haben “My symphony is also on the same lines – namely: an endeavour to portray characteristics, such as are distinctly American.”39 Die pentatonischen Skalen der Symphonie werden somit im Grunde von folkloristischem Gemeingut nur dadurch zu ‘amerikanischen’, dass sie als solche bezeichnet werden. Die Rezeption indianischer Folklore durch Dvořák blieb – auch unabhängig von dem Grad ihrer Authentizität – jedoch ein Einzelfall in der europäischen Musik, wenn man von Ferruccio Busonis Indianischer Fantasie aus dem Jahr 1913 absieht. Ab dem Anfang des 20. Jahrhunderts wurde eine Musik aus Amerika in Europa dann sehr wohl rezipiert, ja sogar populär und durchaus als ‚typisch amerikanisch‘ wahrgenommen – aber sicher ganz anders, als es sich die ‚Amerikanisten‘ in den Vereinigten Staaten vorgestellt hatten: Es war eben nicht die Musik von Komponisten wie Farwell oder MacDowell, geschweige denn von Charles Ives, den ja selbst in den USA kaum jemand kannte; das heißt es war nicht die – wie auch immer durch ‚nationale‘ Elemente charakterisierte anspruchsvolle Musik, sondern es war die ihrerseits durch Elemente der afro-amerikanischen Kultur geprägte amerikanische Unterhaltungsmusik, die Tanzmusik, der Ragtime, schließlich der Jazz.40 Auch hier waren die Europäer den Amerikanern selbst einen halben Schritt voraus: Bereits 1908 hatte Claude Debussy mit dem Klavierstück Golliwog‘s CakeWalk einen Typus der afro-amerikanischen Unterhaltungsmusik aufgegriffen, und 37 Vgl. hierzu grundsätzlich Walter Wiora, Europäische Volksmusik und abendländische Tonkunst, Kassel 1957. 38 Zitiert nach Schick, Studien, S. 265. 39 Ebd., S. 264. 40 Vgl. überblickshaft Hermann Danuser, Die Musik des 20. Jahrhunderts, Laaber 1984 (= Neues Handbuch der Musikwissenschaft 7), S. 159–166.

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in den darauf folgenden Jahrzehnten zeigten zahlreiche Komponisten großes Interesse an dieser als exotisch, neuartig und interessant empfundenen Musik, vor allem an deren Rhythmen: Stravinsky komponierte mehrere Ragtimes, und vor allem der Franzose Darius Milhaud, dessen Musik immer für eine ironische Verarbeitung historischer oder aktueller Modelle gut war, integrierte Anfang der 1920er Jahre eine Zeitlang mit Begeisterung Jazzrhythmen in seine Kompositionen. Da der Jazz bzw. die amerikanischen Unterhaltungstänze allemal in Deutschland auch einen kaum anders als rasant zu nennenden Einzug in Variété und Musiktheater gehalten hatten, war auch hier der Jazz in allen Genres allgegenwärtig: Paul Hindemith schrieb in seiner Suite 1922 einen „Shimmy“, einen „Boston“ und einen „Ragtime“, und im zeitkritischen Musiktheater Kurt Weills und Ernst Kreneks war der Jazz als Abbild der alltäglichen Musikszene natürlich fester Bestandteil. Auch wenn die Art und Weise der Rezeption dieser Musik insofern anders gelagert ist, als der Jazz in Europa musikalische Realität war und nicht wie die Melodien der Indianer oder der schwarzen Plantagenarbeiter gewissermaßen erst ethnologisch erschlossen werden musste, so ist die ideologische Grundlage dieser Rezeption jedoch mit der Dvořáks und Busonis prinzipiell identisch: Der Reiz dieser Musik lag in ihrem Neuigkeitswert, ihrer Fremdartigkeit und ihrer – vermeintlichen oder tatsächlichen – Ursprünglichkeit, Unverbrauchtheit und rhythmischen Variabilität, die wiederum mit dem schon damals verbreiteten Stereotyp von der urtümlichen, angeborenen Musikalität und Rhythmusbegabtheit der Afro-Amerikaner zu tun hatte. Kurz, wir haben es erneut mit einem Exotismusphänomen zu tun. Allenfalls etwa im Berlin der 1920er Jahre, wo der Jazz schon ein gewisses Heimrecht erlangt hatte, könnte man dessen Integration fast schon wieder als Reaktion auf etwas eigenes und nicht etwas fremdes verstehen. An den Produkten der ‚ernsten Musik‘ Amerikas zeigte man dagegen kein Interesse – einige Kompositionen wurden auf Festivals für Neue Musik aufgeführt, aber eine weitere Publikumsresonanz blieb aus. So verwundert es nicht, dass der Jazz und die unscharf darunter subsumierten übrigen Gattungen der amerikanischen Unterhaltungsmusik als die amerikanische Musik schlechthin, als die einzige amerikanische Musik, die es gab, verstanden wurde. Und die wurde in konservativen Kreisen noch dazu mit einer Mischung aus Unverständnis und Abscheu gesehen. So charakterisiert der in die USA emigrierte deutsche Musikwissenschaftler Carl Engel in Guido Adlers Handbuch der Musikgeschichte von 1924 den Einfluss des Jazz auf Mitteleuropa – gar nicht einmal nur abwertend – wie folgt:

Diese Einfuhr [europäischer Musik] hält aber kaum Schritt mit der immer mehr zunehmenden Ausfuhr von typisch amerikanischen Hits (Schlagern), die oft eines unnachahmlichen Schwunges, einer kecken Harmonik nicht entbehren. Ja, heute sehen wir, wie nach den vielen Jahren der musikalischen Abhängigkeit von Europa die todeskranke Zivilisation des Mutterbodens sich ängstlich, fast phrenetisch, an die Exportwaren der amerikanischen Belustigungszauberer klammert; und jeder Notenschreiber sucht sein Heil in ‚Bostons‘, ‚Shimmies‘, ‚Foxtrots‘ und dem krönenden Erzeugnis einer lärmenden, vielstimmigen Metropolis, der sogenannten ‚JazzMusik‘. Die Tanzwut des Mittelalters, durch die kriegsgelähmte und pestentnervte Völker wieder mit dem Lebenstrieb, mit dem Willen zur blinden Fortpflanzung aufgepeitscht wurden, holt

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Thomas Schmidt-Beste sich heute in Amerika die aphroditischen Rhythmen, die hysterischen Umlaute dieser grandiosen, im Werden begriffen Volksmusik.41

Und das Vertrackte an der Situation gerade der1920er und 1930er Jahre war, dass die teilweise ihrerseits etwas verkrampften Bemühungen der amerikanischen Komponisten um einen ‚eigenen‘ Tonfall diesem Vorurteil, Amerikas Musik sei ausschließlich Jazz, ja auch noch Vorschub leisteten: Die amerikanischen Komponisten aus dem Bereich der ‚ernsten Musik‘, die in Europa aufgeführt wurden und damit überhaupt wahrgenommen werden konnten, waren ja Copland, Thomson, Harris – mit Stücken, die, wenn sie versuchten, eigene Wege zu gehen, entweder von Folklorismen (über die man sich in Europa längst erhaben glaubte) oder vom Jazz geprägt waren. So urteilt etwa Theodor Adorno, ohnehin ein Jazz-Skeptiker, in einer Rezension des Festivals der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik in Frankfurt 1927 über die bereits erwähnte Music for the Theatre Coplands wie folgt: Gar nicht fossil, sondern höchst zeitgemäß gibt sich die ‚Music for the Theatre‘ von Aron Copland, wieder eine Gebrauchsmusik, wieder mit Strawinsky, außerdem mit Jazz und vor allem, was sie am letzten sein dürfte: ehrlich langweilig.42

An dieser Vorstellung von Amerika als einem Land ohne ernste Musik ändert sich bezeichnenderweise auch durch die vielen Emigranten wenig, die nach 1933 in die USA kamen. Einige, wie Kurt Weill oder Erich Wolfgang Korngold, verschrieben sich ganz dem American way of life und schrieben Musik für Broadway-Shows und Hollywood-Filme; andere, wie Schönberg und Stravinsky, sahen sich in Kalifornien in all ihren Vorurteilen bestätigt: Schönberg etwa beschreibt den Kompositionsunterricht, den er in Los Angeles gab, mit den Worten „dass ich etwas so überflüssiges zu tun habe, wie Einstein, wenn er in einer Mittelschule Mathematik zu unterrichten hätte.“43 Die amerikanische Musikszene profitierte von den Emigranten natürlich ungemein, und der Anschluss an die europäische Avantgarde, der sich in den 1950er Jahren vollzog, hätte ohne sie sicher nicht stattfinden können; eine andere Einstellung der Europäer zur amerikanischen Musik wurde durch sie (auch nachdem viele wieder zurückgekehrt waren) aber nicht in Gang gesetzt. *** Schon 1933 hatte der Komponist Henry Cowell in seinem Aufsatz Trends in American Music die folgende programmatische Aussage getroffen: 41 Guido Adler, Handbuch der Musikgeschichte, Frankfurt a. M. 1924. 42 Theodor W. Adorno, Die stabilisierte Musik. Zum fünften Fest der I.G.N.M. in Frankfurt am Main (1927), in: Gesammelte Schriften, Bd. 19, Frankfurt a. M. 1984, S. 100–112, Zitat auf S. 112. Den entsprechenden Abschnitt über die Werke der Vertreter diverser internationaler Schulen leitet Adorno mit dem Satz ein: „Die Nationalkomponisten aller Länder vereinigten sich.“ Vgl. ebd., S. 108. 43 Zitiert nach Giselher Schubert, „Ein bißchen daheim sein“. Zu den Problemen der in die USA emigrierten Komponisten in den dreißiger und vierziger Jahren, in: Danuser / Kämper / Terse, Amerikanische Musik seit Charles Ives, S. 73–89, hier S. 77. Zur Situation der aus Europa in die USA emigrierten Musiker allgemein vgl. Horst Weber (Hrsg.), Musik in der Emigration 1933–1945. Verfolgung-Vertreibung-Rückwirkung, Stuttgart, Weimar 1993.

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American composition up to now has been tied to the apron-strings of European tradition. To attain musical independence, more national consciousness is a present necessity for American composers. The result of such an awakening should be the creation of works capable of international standing. When this has been accomplished, self-conscious nationalism will no longer be necessary.44

Cowells Worte erwiesen sich als zumindest teilweise prophetisch: Die Integration der amerikanischen mit der europäischen Musikkultur, die mit den Exilkomponisten in den frühen 1940er Jahren ihren Anfang genommen hatte, wurde nach 1945 tendenziell noch enger – durch den Wegfall politischer Schranken und auch dadurch, dass nicht wenige Exilanten wie etwa Arnold Schönberg, Igor Strawinsky, Kurt Weill und Ernst Krenek es vorzogen, in den Vereinigten Staaten zu bleiben und dort zahlreiche Schüler hatten. Zudem sind die Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ohnehin diejenigen, in denen sich das Musikleben auf beiden Seiten des Atlantiks zu einer Vielfalt, ja Unübersichtlichkeit entfaltete, in der das Kriterium einer homogenen, ‘typischen’ Musik mehr und mehr hinfällig wurde. Die ersten Werke, die diejenige internationale Statur erreichten, die nach Cowell Voraussetzung für eine eigenständige amerikanische Musik war, waren allerdings nicht die der nationalistischen Tradition. Der Folklorismus und die bewusste Simplizität der 1930er und 1940er Jahre rückten in der E-Musik-Szene in den Hintergrund – von Nachzüglerwerken wie der Coplandschen Oper The Tender Land von 1952 abgesehen; an ihre Stelle trat wie auf dem Kontinent eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Entwicklungen. Der Mathematiker und Komponist Milton Babbitt war 1947 der erste, der die strenge Reihenorganisation der Zwölftontechnik auf alle anderen Parameter der Musik (Lautstärke, Rhythmus etc.) ausdehnte – er wurde somit noch vor den Europäern zum ersten Komponisten der ‚seriellen‘ Musik und gilt bis heute als einer der Pioniere der amerikanischen Avantgarde. Als eine aus der Zwölftonmusik hervorgegangene Technik war auch das serielle Komponieren Babbitts aber natürlich von Europa inspiriert, abgesehen davon, dass die streng rationale Durchkonstruktion des musikalischen Materials jegliche ‚nationalen‘ Charakteristika beim Hörer wie beim Komponisten hinfällig erscheinen ließen. Dasselbe gilt für die elektronische Musik, die ihre wichtigsten frühen Vertreter in den 1960er und 1970er Jahren ebenfalls in den USA fand. Trotz dieser Integration vieler amerikanischer Komponisten in eine zunehmend globalisierte Musikszene stößt man in der amerikanischen Musik der Nachkriegszeit aber vor allem auf einen Namen, der nicht integrierte, sondern spaltete: John Cage. Cages Auftritte auf den Donaueschinger Musiktagen 1954 und den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik 1958 führten zu großen Irritationen beim anwesenden Fachpublikum – aber nicht, weil er zu konservativ gewesen sei, sondern weil er Dinge anzutasten wagte, die in Europa noch Dogma waren: Cage stellte dem strengen Serialismus der Darmstädter Schule, in dem alle musikalischen Parameter vor der Komposition durch Reihen festgelegt wurden, das zusammen mit Morton 44 Henry Cowell, Trends in American Music, in: Henry Cowell (Hrsg.), American Composers on American Music. A Symposium, Stanford 1933, repr. New York 1962, S. 3–13, hier S. 13; dt.: Die verschiedenen Richtungen amerikanischer Musik, in: Danuser / Kämper / Terse, Amerikanische Musik seit Charles Ives, S. 206–212, hier S. 212.

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Feldman und Earle Brown entwickelte Konzept der „indeterminacy“ entgegen, in dem maximale Kontrolle durch maximale Freiheit des oder der Interpreten ersetzt wird.45 Der zu Recht als Provokation aufgefasste Auftritt von Cage in Darmstadt 1958 war Gegenstand heftiger Kontroverse und Polemik46 – was jedoch, um beim Thema zu bleiben, nie zur Sprache kam, war die Frage, ob diese Musik (oder die zugrunde liegenden Ideen) nun ‚typisch amerikanisch‘ seien. Dem stark von ostasiatischer Philosophie beeinflussten Universalisten Cage selbst wäre eine solche Selbsteinschätzung nie in den Sinn gekommen, obgleich ihm der Topos von Amerika als dem Land der Freiheit und des Brechens mit festgefahrenen Traditionen Europas durchaus zur Verfügung gestanden hätte. In den Darmstädter Reaktionen auf Cage fällt zwar durch dessen Hauptverfechter, Heinz-Klaus Metzger, das Wort, Amerika habe durch Cage „zum ersten Mal eine Musik bekommen“47, aber die Cage-Gegner gehen darauf nicht näher ein: Der Komponist wurde als Provokant, als Scharlatan hingestellt, aber nicht als ‚typisch amerikanisch‘. Seine Nationalität schien als solche keine Rolle zu spielen, obwohl er zu der Zeit als der wichtigste amerikanische Komponist gelten konnte. Möglicherweise passte die Tatsache, dass hier ein Amerikaner daherkam, der auf einmal nicht mehr auf europäische Entwicklungen reagierte, sondern ein eigenes Konzept verfocht, das noch avantgardistischer als die Avantgarde des Serialismus war, und so wenig in das Weltbild von den USA als musikalischem Entwicklungsland passte, dass man über die Herkunft von Cage einfach hinwegging. Eine Mehrzahl der in den USA tätigen Komponisten scheint auch in der Folgezeit das ‚Nationale‘ durchaus von sich zu weisen, ganz im Sinne des Virgil-Thomson-Wortes: „The way to write American music is simple. All you have to do is to be an American and then write any music you wish.“48 Noch in einem 2002 erschienenen Sonderband der Zeitschrift Current Musicology wurden dreißig – fast ausschließlich amerikanische – Komponisten und Komponistinnen zu den Grundlagen und Motivationen ihres Schaffens befragt – und kein einziger davon stellte sein Schaffen als spezifisch amerikanisch geprägt dar. Im Gegenteil hebt einer der Altmeister der amerikanischen Szene, der mittlerweile achtzigjährige Ned Rorem, in seinem Beitrag hervor, dass die Periode der ‚amerikanischen Musik‘ streng genommen eigentlich schon vorbei sei:

American music, for the moment, will be defined as music penned by Americans after 1925 […] stemming from the economical leanness promoted by Nadia Boulanger, and then coming to a close around 1955, when the serial killers took hold with a featureless canvas that could in no way be identified as national.49

45 Vgl. Christopher Shultis, Cage and Europe, in: David Nicholls (Hrsg.), The Cambridge Companion to John Cage, Cambridge 2002, S. 20–40. 46 Vgl. Kritiken und Dokumente zu Cage und Darmstadt 1958, in: Heinz-Klaus Metzger (Hrsg.), Darmstadt-Dokumente, Bd. 1, München 1999 (= Musik-Konzepte, Sonderband), S. 175–183. 47 Ebd. 48 Virgol Thomson, On Being American, in: The New York Herald Tribune, 25. Januar 1948; zitiert nach Zuck, Musical Americanism, S. 153. 49 Ned Rorem, Screeds, in: Current Musicology 67 / 68, 1999.

Was ist ‚amerikanische‘ Musik? Identitätssuche und Fremdwahrnehmungen

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Eine allzu breite Öffentlichkeit nahm diese Entwicklungen allerdings ohnehin nicht wahr; wenn man – auf beiden Seiten des Atlantiks – in den späten 1950er Jahren einen Nichtspezialisten zu einem ‘typisch amerikanischen’ Werk befragt hätte, wäre die Wahl wohl nicht auf Cage, sondern eher auf Leonard Bernsteins West Side Story gefallen, das irgendwo zwischen Oper und jazz-geprägtem Musical einzuordnen ist. Und es handelt sich dabei nicht um ein Einzelwerk: Die Berührungsängste mit populären Genres waren in den USA nie so generell und so dogmatisch ausgeprägt wie in Europa, und gerade im nicht durch staatliche Subventionen aufrechterhaltenen Musiktheater war und ist auch der Publikumserfolg eine nicht zu unterschätzende Kategorie – auch dies möglicherweise ‚typisch amerikanisch‘. Die avantgardistischen Komponisten suchten dagegen typischerweise ein Auskommen als Professor an einer Musikhochschule oder Universität, wie dies etwa auch John Cage tat, der unter anderem an der University of Illinois, der Wesleyan University in Connecticut und der University of California in Davis lehrte. Ein Bewusstsein, dass der schon bei Bernstein anzutreffende Eklektizismus der Musikstile schließlich wirklich etwas ‚typisch amerikanisches‘ sein könnte, kristallisiert sich allerdings zumindest in Ansätzen seit den 1970er und vor allem seit den 1980er Jahren heraus: In dem Maße, in dem einerseits die postmoderne Ästhetik den freien Stilmix ästhetisch adelte und in dem andererseits immer mehr Immigranten nicht nur aus Europa, sondern auch aus Asien und Lateinamerika die Szene zu prägen begannen, greift – etwas verspätet – die Idee des melting pot auch auf die Eigendefinition amerikanischer Musik über. In einem Interview-Artikel der Los Angeles Times vom 27. Mai 2001 mit dem Titel The Many Meanings of American wurden in Amerika lebende Komponisten verschiedener Herkunft nach ihrer Definition ‚amerikanischer‘ Musik befragt: Der aus Argentinien stammende Osvaldo Golijov antwortet: „I think ‚open‘ is American“, die Kubanerin Tania Leon nennt ihre kubanisch-amerikanische Musik „totally syncretic“, und der Angelsachse Stephen Stucky wird am deutlichsten: „Listeners on this side of the Atlantic are more open. The content of American music can be anything. […] There is a movement in John Adams‘ Chamber Symphony called ‚Mongrel Airs‘, and that is an essential characteristic of the whole hemisphere. Not a melting pot, but the stew kind of thing, where different things exist side by side in great chunks“.50 Vor allem was die wieder zunehmende Integration folkloristischer Elemente betrifft, erlangt deren Verwendung durch Komponisten, die tatsächlich der entsprechenden Kultur entstammen, somit gewissermaßen einen höheren Authentizitätsgrad als Vergleichbares in Europa, wo dieselbe Vorgehensweise sich wiederum dem ‘Exotismusvorbehalt’ hätte stellen müssen. Dieser ‘neue Amerikanismus’ geht zudem in der Regel mit der Rückkehr zu einer weniger anspruchsvollen, tendenziell tonalen Tonsprache und mit wieder klar identifizierbaren –auch folkloristischen – Topoi einher und erfreut sich daher auch einer großen Publikumsresonanz: Der durch die Rezeption asiatischer und afrikanischer Musik geprägte Minimalismus 50 John Henken, The Many Meanings of American: Four composers taking part in the Ojai Festival examine their place in music of this hemisphere, in: The Los Angeles Times, 27. Mai 2001.

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eines Steve Reich oder Philip Glass und die das politische Tagesgeschehen aufgreifenden Opern von John Adams füllen Konzert- und Theatersäle. Gerade der von Stephen Stucky herausgehobene John Adams (geb. 1947) hat in Werken wie der Oper Nixon in China (1987) und The Death of Klinghoffer (1991) oder in dem zum ersten Jahrestag des 11. Septembers in New York uraufgeführten Oratorium On the Transmigration of Souls (2002) durchaus nationale Themen mit einer vergleichsweise traditionellen, und das heißt auch für musikalisch-darstellende Topoi offenen, Musiksprache verbunden, und sein postmoderner Mix aus Minimalismus, dissonanter Tonalität und verschiedenen historischen Stilen zwischen Choral und Musical könnte durchaus den melting pot oder besser gesagt den stew symbolisieren. Und in der Tat ist Adams vom San Francisco Chronicle als „Voice of America“ bezeichnet worden;51 doch er selbst hat seinen Stil nie als spezifisch ‚amerikanisch‘ deklariert: „Nationalism is really odious“, äußert er sich in dem erwähnten Interview der Los Angeles Times, beruft sich allerdings gleichfalls auf die Idee des Eklektizismus als ‚amerikanischem‘ Charakterzug – „The best American classical music is very open, very embracing.“52 Die auch im Ausland als ‚typisch amerikanisch‘ rezipierte Musik wird dagegen nach wie vor von Komponisten am Übergang zur Unterhaltungsmusik geprägt, die in dem immer noch im Grunde als einzig ‚typisch‘ amerikanisch geltenden postCoplandschen Idiom des mild dissonanten Folklorismus mit leicht angejazzten Harmonien und Rhythmen verharren; das beste und eben auch verbreitetste Beispiel hierfür sind Soundtracks aus Hollywood, vor allem die von John Williams (Star Wars, Indiana Jones, Saving Private Ryan). Insofern überrascht es kaum, dass aus europäischer Sicht als wirklich ‚amerikanische‘ Musik im Grunde fast immer Unterhaltungsmusik – und das heißt vor allem: der Jazz oder was man dafür hielt – gegolten hat und gilt. Wenn man gehässig sein wollte, dann löffeln die Amerikaner damit im Grunde bis heute nur die Suppe aus, die sie sich in den 1920er und 1930er Jahren in ihrer Suche nach einem ebenso ‚nationalen‘ wie publikumswirksamen Ton selbst eingebrockt haben und die durch den anhaltenden Mangel an Berührungsängsten mit den ‚unterhaltenden‘ Genres bis heute warmgehalten wird. Dieser Ton war zwar in der anspruchsvollen Musik des Landes nie allein bestimmend und ist seit dem Zweiten Weltkrieg nurmehr eine Stimme unter vielen. Die einzige Rezeption ‚amerikanischer‘ Musik, die über einen ganz engen Kennerkreis hinausgeht, lässt sich aber in dem Satz zusammenfassen, mit dem Dietrich Schwanitz – der wie immer mit traumwandlerischer Sicherheit den bildungskleinbürgerlichen Nagel auf den Kopf trifft – in seinem Bildung-Buch die Beschreibung der Musik der USA beginnt: „Der Beitrag Amerikas zur Musik geht auf die Kultur der AfroAmerikaner zurück: den Jazz.“53 Die Rezeption amerikanischer Musik in Europa hat offenbar immer noch einen weiten Weg vor sich. 51 Joshua Kosman, Voice of America. Composer John Adams Speaks for the Nation, in: San Francisco Chronicle, 18. Mai 2003. 52 Henken, The Many Meanings of American. 53 Dietrich Schwanitz, Bildung. Alles, was man wissen muss, beb. Sonderausg. Frankfurt a. M. 2002, S. 452.

GANZ AMERIKA UNTER DEM STERNENBANNER? DAS PROJEKT EINER GESAMTAMERIKANISCHEN FREIHANDELSZONE AUS LATEINAMERIKANISCHER PERSPEKTIVE Hartmut Sangmeister Vor mehr als 160 Jahren hat der berühmte Amerika-Reisende Alexis de Tocqueville in seinem Werk „Über die Demokratie in Amerika“ die Verschiedenheit der beiden Amerikas zur Zeit der Entdeckungen wie folgt beschrieben:

Als die Europäer an den Gestaden der Antillen und später an den Küsten Südamerikas landeten, glaubten sie sich in die Fabelgegenden versetzt, von denen die Dichter sangen. […] Alles, was das Auge in diesen zauberhaften Gegenden sah, schien für die Bedürfnisse des Menschen bereitet oder zu seiner Lust bestimmt. […] Unter diesem glänzenden Mantel lauerte der Tod; damals bemerkte man ihn nicht, und von der Luft dieser Klimate ging zudem eine gewisse erregende Wirkung aus, die den Menschen an die Gegenwart bannte und ihn den Zukunftssorgen entrückte. Nordamerika bot einen anderen Anblick: hier war alles streng, ernst, feierlich; es schien, als sei es zum Wohnsitz des Geistes bestimmt, wie das andere zur Heimat der Sinne erkoren war.

Wenn in unseren Tagen Reisende den amerikanischen Kontinent in seiner ganzen Länge durchqueren, dann stellen sie möglicherweise keinen Unterschied mehr zwischen Nord und Süd fest, zwischen dem angeblichen Wohnsitz des Geistes und der vermeintlichen Heimat der Sinne. Denn von Alaska bis Feuerland vermitteln Coke, McDonald‘s und Pay-TV die Illusion, vertrautes Terrain nicht verlassen zu müssen: Überall ist Amerika, ein riesiger Kontinent ohne wirkliche Grenzen. Typisch amerikanisch eben! Wer etwas genauer hinschaut, für den ist freilich eine Grenzlinie zwischen den beiden Amerikas unübersehbar: Sie verläuft zwischen dem reichen Nordamerika der USA und Kanadas auf der einen Seite, dem viel ärmeren Lateinamerika auf der anderen, südlichen Seite. Gut bewacht, erstreckt sich diese Grenze über 3000 km entlang dem Tijuana River, dem Río Bravo del Norte und dem Río Grande. Die Wohlstandskluft zwischen Nord- und Südamerika zu überwinden, ist eine der optimistischen Erwartungen, die mit dem Projekt einer Gesamtamerikanischen Freihandelszone – der Free Trade Area of the Americas (FTAA) oder Área de Libre Comercio de las Américas (ALCA) – verknüpft waren. Jedoch wurde und wird die Vision eines Amerikas ohne ökonomische Grenzen, eines panamerikanischen Wirtschaftsblocks zum allseitigen Vorteil, nicht überall in der Region geteilt. Vor allem in Lateinamerika gab es schon immer gewichtige und begründete Vorbehalte gegenüber dem von den USA zeitweise mit Nachdruck betriebenen FTAA-Projekt. Dieser Beitrag stellt zunächst das Projekt einer Gesamtamerikanischen Freihandelszone vor, das nach den ursprünglichen Vorstellungen der USA bis spätes-

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tens zum Ende des Jahres 2005 hätte Realität werden sollen. Im zweiten Teil werde ich auf einige historische Ereignisse eingehen, die im kollektiven Gedächtnis lateinamerikanischer Gesellschaften verzeichnet sind, Ereignisse, die auf die Beurteilung der gringos nördlich des Río Grande bis heute nachwirken und Vorbehalte gegenüber der US-Lateinamerikapolitik zu erklären helfen. Der dritte und letzte Teil widmet sich unterschiedlichen Positionen innerhalb Lateinamerikas gegenüber der FTAA-Initiative und kommt dabei auch auf die Rolle Europas in der schwierigen transatlantischen Dreiecksbeziehung zu sprechen. VON MIAMI ÜBER SANTIAGO NACH QUEBEC: DAS PROJEKT EINER GESAMTAMERIKANISCHEN FREIHANDELSZONE Miami / USA (1994) – Santiago / Chile (1998) – Quebec / Kanada (2001): Das sind die Stationen von drei Summits of the Americas, Gesamtamerikanischer Gipfeltreffen als neuem Forum des panamerikanischen Dialogs, bei denen das Projekt einer panamerikanischen Freihandelszone auf der Tagesordnung stand. Zu dem ersten Gipfeltreffen hatte im Dezember 1994 der damalige US-Präsident Bill Clinton die Staats- und Regierungschefs der beiden Amerikas nach Miami eingeladen – unter Ausschluss Kubas. Der US-Administration war daran gelegen, nach dem erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen mit Kanada und Mexiko über die Bildung der NAFTA, der Nordamerikanischen Freihandelszone, ihre Beziehungen zu Lateinamerika auf eine neue Grundlage zu stellen und damit auch auf die Veränderungen des internationalen Systems nach dem Ende der bipolaren Weltordnung zu reagieren. Eine der wichtigsten Initiativen des Miami-Gipfeltreffens war der Vorschlag, den Handel innerhalb der westlichen Hemisphäre durch die Gründung einer Gesamtamerikanischen Freihandelszone zu fördern. Und tatsächlich stimmten die in Miami versammelten Staats- und Regierungschefs von 34 Staaten Nordamerikas, Südamerikas und der Karibik grundsätzlich diesem Projekt zu – allerdings noch ohne festen Zeitplan und mit vielen offenen Detailfragen. Erst vier Jahre später wurden in der Abschlusserklärung des zweiten Gesamtamerikanischen Gipfeltreffens – im April 1998 in Santiago de Chile – konkrete Schritte zur Bildung der FTAA angesprochen und dem Gipfelprozess mit der Bildung der Summit Implementation Review Group zur kontinuierlichen Überprüfung der Umsetzung der Gipfelvereinbarungen eine institutionelle Grundlage gegeben. Nach weiteren drei Jahren, 2001, verkündeten die bei dem dritten Gesamtamerikanischen Gipfeltreffen in Quebec erneut versammelten 34 Staats- und Regierungschefs ihre Absicht, auf der Basis eines vorläufigen Entwurfs für ein FTAA-Abkommen bis Januar 2005 die Verhandlungen über die Verwirklichung des freien Marktzugangs auf dem gesamten amerikanischen Kontinent abzuschließen. Als Datum für das Inkrafttreten der Gesamtamerikanischen Freihandelszone wurde das Jahresende 2005 genannt. Vorbehalte gegen diesen Zeitplan (und gegen die in dem Vertrags-Entwurf enthaltene Demokratie-Klausel) wurden lediglich von dem venezolanischen Staatschef Hugo Chávez vorgebracht. Und von dem seinerzeitigen brasilianischen Staatspräsidenten Fernando Henrique Cardoso wurde die Einbeziehung

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Kubas in den FTAA-Prozess angesprochen – ein Thema, das bei der US-Regierung allerdings kaum auf Interesse gestoßen sein dürfte. Auch ohne Kuba wäre die FTAA – nach der erweiterten EU – der weltweit zweitgrößte Handelsblock, und in dem FTAA-Gebiet würden mehr als 850 Millionen Menschen leben, rund 15 Prozent der Weltbevölkerung. Die Feststellung ist trivial, dass die USA die eindeutige politische und wirtschaftliche Führungsmacht dieses Wirtschaftsblocks wären. Bedeutsamer ist die Feststellung, dass das FTAA-Projekt von Anfang an nicht nur eine ökonomische Dimension hatte, sondern auch eine eminent politische Dimension. Diese Feststellung gilt sowohl aus der Perspektive der USA, als auch aus lateinamerikanischer Perspektive; aber aus den beiden Perspektiven ergeben sich durchaus unterschiedliche Beurteilungen des FTAA-Projektes – trotz aller vordergründig einvernehmlich verabschiedeten Gipfelerklärungen. Für Lateinamerika lesen sich die FTAA-Passagen in der Abschlusserklärung des dritten Gesamtamerikanischen Gipfeltreffens im Jahr 2001 durchaus verheißungsvoll, wenn es dort heißt, dass das FTAA-Projekt ein Schlüsselelement zur Anregung von Wirtschaftswachstum und für das Wohlergehen der Hemisphäre sei. Und weiter heißt es dort: Der freie Handel, ohne Subventionen oder illoyale Praktiken, begleitet von einem wachsenden Strom produktiver Investitionen und einer größeren wirtschaftlichen Integration, wird das regionale Wohlergehen begünstigen, das Lebensniveau erhöhen, die Arbeitsbedingungen der Völker Amerikas verbessern und die Umwelt schützen.

Für die Mitgliedschaft in der FTAA soll eine Demokratie-Klausel gelten, ähnlich der Demokratie-Klausel, wie sie bei dem Gipfeltreffen in Quebec für die weitere Teilnahme an den Gesamtamerikanischen Gipfeltreffen verabschiedet wurde. Demzufolge bedeutet „jeder Wechsel oder inkonstitutionelle Bruch der demokratischen Ordnung in einem Staat der Hemisphäre ein unüberwindliches Hindernis für die Teilnahme der Regierung dieses Staates an dem Prozess der Gipfel der Amerikas“. Die für die FTAA-Verhandlungen vereinbarten Grundsätze sahen vor, dass Entscheidungen nur im Konsens getroffen werden können, dass dabei insbesondere auch die Unterschiede im Hinblick auf Größe und Entwicklungsniveau der teilnehmenden Volkswirtschaften zu berücksichtigen sind, und dass bestehende bilaterale Handelsvereinbarungen und subregionale Integrationsabkommen auch nach Bildung der Gesamtamerikanischen Freihandelszone weiterhin Bestand haben können, sofern sie mit den Regeln und Vorschriften der Welthandelsorganisation (WTO) vereinbar sind. Zudem solle für die FTAA das Prinzip des single undertaking gelten, d. h. alles müsse in einem einzigen Abkommen geregelt werden und nichts sei entschieden, solange nicht in allen Punkten Einvernehmen bestehe. Hätten sich mit der Verwirklichung des FTAA nicht enorme wirtschaftliche Chancen für Lateinamerika eröffnet? Lateinamerikanische Produzenten würden einen verbesserten Zugang zu den Märkten Nordamerikas erhalten, und damit zu dem US-Markt als umsatzstärksten Markt der Welt, der ohnehin bereits jetzt für viele lateinamerikanische Volkswirtschaften der wichtigste Absatzmarkt für ihre Exporte ist. Etwas mehr als die Hälfte der lateinamerikanischen Exporte geht derzeit in die USA. Durch eine Gesamtamerikanische Freihandelszone würden zudem die noch bestehenden Zollschranken zwischen den lateinamerikanischen Staaten beseitigt,

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so dass auch der bislang noch relativ schwache intraregionale Handel in Lateinamerika zusätzlichen Auftrieb erhalten könnte. In der Theorie trägt Freihandel dazu bei, den Wohlstand aller Beteiligten zu mehren. Globaler Freihandel bedeutet zumindest theoretisch eine win-win-Situation, bei der sich alle besser stellen – vorausgesetzt, alle Partner können zu gleichen Bedingungen am freien Handel teilnehmen. Solange dieser weltumspannende theoretische Idealzustand noch nicht erreicht ist, stellen regionale Freihandelszonen allenfalls eine zweitbeste oder sogar nur eine drittbeste Lösung dar, und Außenhandelstheoretiker können über die damit verbundene Verteilung von Wohlfahrtsgewinnen und –verlusten heftig streiten – mit falschen und richtigen Argumenten. Die politische Praxis regionaler wirtschaftlicher Kooperation und Integration wird vermutlich durch solche wirtschaftstheoretische Dispute allenfalls marginal beeinflusst, zumal auch außerökonomische Gründe und Ziele für Projekte grenzüberschreitender wirtschaftlicher Zusammenarbeit von Staaten mitbestimmend sein können – oder sogar Ausschlag gebend. Regionale Freihandelszonen gibt es für die Mitgliedsländer nicht umsonst. Der tatsächlich zu realisierende wirtschaftliche Gewinn bei einem Übergang zum Freihandel hängt von vorhandenen komparativen Außenhandelsvorteilen und von dem bislang bestehenden Zollschutz gegenüber ausländischen Konkurrenten ab. Solange potenzielle Verlierer des Freihandels keine Gewähr haben, für ihre Verluste von den Gewinnern des Freihandels kompensiert zu werden, leisten sie Widerstand oder sie versuchen zumindest, die Risiken des Freihandels durch Ausnahmeregelungen zu minimieren. Potenzielle Verlierer des Freihandels gibt es nicht nur in Lateinamerika, sondern auch in den USA und Kanada und sie würden in der Phase konkreter Verhandlungen versuchen, vielfältige Ausnahmeregelungen und Marktzugangsbeschränkungen zu ihren Gunsten durchzusetzen. Die FTAA-Verhandlungen wurden durch kontroverse Vorstellungen der Beteiligten in wichtigen Fragen belastet. Es sind vor allem drei zentrale Punkte, in denen die Standpunkte weit auseinander lagen und immer noch liegen: • • •

Die Verknüpfung des geplanten Freihandelsabkommens mit der Verpflichtung aller Vertragspartner zur Beachtung von Umweltschutznormen und Arbeitnehmerrechten. Die Liste der sogenannten „sensiblen Produkte“, die von der Handelsliberalisierung während einer Übergangsfrist ausgenommen werden. Die Frage der Exportsubventionen, insbesondere für Agrarprodukte.

Die meisten Regierungen der Staaten Lateinamerikas und der Karibik lehnen es ab, Freihandelsvereinbarungen mit der Verpflichtung zur Beachtung von Umweltschutznormen und Arbeitnehmerrechten zu verknüpfen. Denn Produkten aus Lateinamerika bliebe der Zugang zu den nordamerikanischen Märkten verschlossen, wenn sie den in einem FTAA-Abkommen vereinbarten Umweltauflagen nicht genügen oder wenn bei ihrer Herstellung bestimmte arbeitsrechtliche Normen verletzt werden. Gerade ein solcher Mechanismus wurde und wird aber von verschiedenen politischen Kräften in den USA und in Kanada mit Nachdruck gefordert. Dort haben sich Umweltschutzgruppen und Gewerkschaften mit ihren Forderungen schon einmal durchgesetzt: In dem NAFTA-Abkommen der USA und Kanadas mit Mexiko waren Fragen des Umweltschutzes und der Arbeitsbedingungen ausgeklam-

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mert worden, aber sie wurden nachträglich in komplementären Verhandlungen geregelt. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrung hatte der frühere Präsident George W. Bush – an innenpolitische Adressaten gerichtet – während einer Rede bei dem dritten Gesamtamerikanischen Gipfeltreffen 2001 in Quebec bekräftigt, dass die Öffnung des US-Marktes einher gehen solle mit einer „starken Verpflichtung, unsere Umweltstandards zu schützen und die der Arbeit auszuweiten“; aber er hatte gleichzeitig hinzu gefügt, dass man es nicht zulassen dürfe, den Geist des Freihandels durch die Umwelt- und Arbeitsstandards zu zerstören. Dieser relativierende Zusatz war zur Beruhigung der lateinamerikanischen Verhandlungspartner gedacht. Anlass für strittige Diskussionen in den FTAA-Verhandlungen bot zweitens die Liste der sogenannten „sensiblen Produkte“, die für eine Übergangsfrist von der Handelsliberalisierung ausgenommen bleiben sollen. Konsens war anfänglich nur, dass durch Ausnahmeregelungen insgesamt 15% des Handelsvolumens nicht überschritten werden sollen; jedoch blieb offen, ob jedes Land selbst entscheiden darf, für welche seiner Produkte die Ausnahmeregel gilt. In diesem Falle könnte jedes Land diejenigen Produkte als „sensibel“ deklarieren, die international nicht wettbewerbsfähig sind, deren freier Handel aber für ein anderes FTAA-Land von besonderer Bedeutung wäre. Setzten beispielsweise die USA Stahlbleche aus nationaler Produktion auf die Liste der „sensiblen“ Produkte, dann träfe dies brasilianische Stahlexporteure, deren Produktionskosten zu den niedrigsten der Welt zählen. In gleicher Weise könnte Brasilien seine Papier- und Zelluloseindustrie vor der direkten Konkurrenz mit kostengünstiger produzierenden Unternehmen aus den USA oder Kanada schützen. Von höchster Brisanz in den FTAA-Verhandlungen war und ist drittens das Thema Agrarprotektionismus und Subventionierung von Agrarexporten. Ungeachtet aller Freihandelsrhetorik schützen die USA und Kanada ihre Landwirtschaft durch Einfuhrzölle, nichttarifäre Hemmnisse sowie durch offene und verdeckte Subventionen vor unliebsamer ausländischer Konkurrenz; so ließen sich die USA die Unterstützung der landwirtschaftlichen Produktion im Jahr 2001 schätzungsweise 49 Mrd. US-Dollar kosten. Vor allem Brasilien mit seinem enormen agrarischen Exportpotenzial forderte mit Nachdruck, innerhalb einer FTAA auf jegliche Subventionierung von Agrarexporten zu verzichten; zudem solle es untersagt werden, durch den Subventionswegfall innerhalb der FTAA eingesparte Mittel zur Unterstützung von Agrarexporten in andere Regionen einzusetzen, da dies den Wettbewerb auf Drittmärkten zu Lasten der Anbieter aus anderen FTAA-Ländern verzerren könne. Die USA und Kanada wollen hingegen das Thema Agrarsubventionen im Rahmen der WTO-Doha Development Agenda geregelt sehen, um auch die Europäische Union in entsprechende Verpflichtungen einzubinden (die sich ihren Agrarprotektionismus im Jahre 2001 sogar über 93 Mrd. US-Dollar kosten ließ). Alle drei zuvor genannten Punkte bargen von Anfang an ein erhebliches Konfliktpotenzial für die weiteren FTAA-Verhandlungen, bis hin zum Risiko des Scheiterns. Die lateinamerikanischen und karibischen Verhandlungspartner erwarteten, dass die USA und Kanada zu größeren Zugeständnissen bereit sein sollten als die Entwicklungsländer der Region. Und sie konnten sich dabei auf den für die FTAA-

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Verhandlungen vereinbarten Grundsatz berufen, dass die Unterschiede im Hinblick auf Größe und Entwicklungsniveau der teilnehmenden Volkswirtschaften zu berücksichtigen sind. Jedoch ist das Pochen auf diplomatisch formulierte Verhandlungsgrundsätze eine Sache, die normative Kraft faktischer Verhandlungsmacht eine andere. Diese Verhandlungsmacht ist zwischen den Beteiligten des FTAAProjektes asymmetrisch verteilt. In der Vergangenheit haben die USA aus ihrer Position der Stärke gegenüber Lateinamerika kaum einen Hehl gemacht. Dies ist eine der Lehren, die in Lateinamerika aus der schwierigen Geschichte des Verhältnisses zu der Hegemonialmacht im Norden immer wieder gezogen werden musste. WAS DIE GESCHICHTE ZUM VERHÄLTNIS LATEINAMERIKA – USA LEHRT: SCHÖNE WORTE UND HÄSSLICHE FAKTEN „Armes Mexiko“, pflegen Südamerikaner zu sagen, „so nahe bei den USA und so fern den lateinamerikanischen Bruderländern!“ Damit paraphrasieren sie den Ausspruch des mexikanischen Diktators Porfirio Díaz, der 1848 geklagt haben soll: „Poor Mexico, so far from God, so near to the United States.“ Tatsächlich musste Mexiko im 19. Jahrhundert – 1848 im Frieden von Guadalupe Hidalgo und einige Jahre später, 1854 im Gadsden-Kaufvertrag – etwa die Hälfte seines Territoriums an die USA abtreten. Aber nicht nur zu Lasten Mexikos haben die USA ihr Territorium und ihre Einflusszone arrondiert. Nach dem siegreichen Krieg gegen Spanien bedienten sich die USA 1898 aus den Resten des iberischen Weltreiches und beherrschten de facto u.a. Puerto Rico und Kuba. 1903 erfanden die USA auf Kosten Kolumbiens den Staat Panama, um sich indirekt das Nutzungsrecht an der geplanten Kanalzone zu sichern. Seit dem 19. Jahrhundert haben die USA ihren Anspruch auf Vormundschaft über die lateinamerikanischen und karibischen Staaten durch Uminterpretation der Monroe-Doktrin von 1823 („Amerika den Amerikanern“) und Ausweitung zu einer Theorie des Manifest Destiny legitimiert. In aller Deutlichkeit hatte US-Präsident Theodore Roosevelt 1904 die Prinzipien US-amerikanischer Hegemonialpolitik in Lateinamerika formuliert; er ließ die lateinamerikanischen Nachbarn wissen, dass eine Politik nicht toleriert werde, die von den Rechts- und Wertevorstellungen der USA abweiche oder deren wirtschaftlichen Interessen entgegen laufe. In dem Roosevelt-Corollarium heißt es:

Wenn eine Nation zeigt, dass sie versteht, mit vernünftiger Leistung und mit Anstand in gesellschaftlichen und politischen Angelegenheiten zu handeln, wenn sie die Ordnung aufrechterhält und ihre Schulden bezahlt, braucht sie keine Einmischung durch die Vereinigten Staaten zu fürchten. […] Unsere Interessen und die unserer südlichen Nachbarn sind tatsächlich identisch. […] Wir würden uns nur als letztes Mittel einmischen, und auch nur dann, wenn offenbar würde, dass ihre Unfähigkeit oder mangelnde Bereitschaft, zu Hause und außerhalb ihrer Grenzen Gerechtigkeit walten zu lassen, die Rechte der Vereinigten Staaten verletzt.

Offensichtlich haben die USA ihre Rechte und Interessen in Lateinamerika häufig als verletzt angesehen. Denn die Liste der offenen US-Interventionen in den Ländern südlich des Río Grande und im karibischen Raum ist lang; auf dieser Liste

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stehen zwischen 1898 und dem Zweiten Weltkrieg Kuba, die Dominikanische Republik, Haiti, Mexiko, Nikaragua und Panama, nach dem Zweiten Weltkrieg fanden militärische US-Interventionen in Kuba, Guatemala, der Dominikanischen Republik, in Grenada, Nikaragua und Panama statt. Hinzu kommt die skandalöse Liste verdeckter US-Mitwirkung bei der Etablierung von Militärregimen in Lateinamerika, wie beispielsweise in Brasilien (1964) und in Chile (1973). Im Bedarfsfalle konnte man zur Durchsetzung von US-Interessen in Lateinamerika auch Statthalter beauftragen. Standard Oil schickte 1932–35 die bolivianische Armee in den ErdölKrieg gegen Paraguay (das von dem Ölmulti Shell unterstützt wurde). Die United Fruit Company hat in einigen zentralamerikanischen Ländern und sprichwörtlichen karibischen „Bananenrepubliken“ zeitweilig wie ein Staat im Staat agiert. Ein historischer Rückblick auf die US-Lateinamerikapolitik hilft zu verstehen, warum Appelle Washingtons an panamerikanische Zusammengehörigkeit bei den lateinamerikanischen Adressaten häufig ungute Erinnerungen an den immer wieder mit Gewalt durchgesetzten Anspruch der USA wecken, zu einer besonderen Mission in der gesamten Neuen Welt ermächtigt und verpflichtet zu sein – zu einer Mission im eigenen Interesse. Schon 1829 hatte Simón Bolívar, der Held des lateinamerikanischen Freiheitskampfes gegen die spanische Kolonialmacht, geschrieben: „Die Vereinigten Staaten scheinen von der Vorsehung dazu ausersehen, Amerika im Namen der Freiheit ins Elend zu stürzen“ – so, als habe er die Durchsetzung des Hegemonialanspruchs der USA gegenüber Lateinamerika vorhergesehen. Die Legate der gemeinsamen Geschichte belasten die USA als Verhandlungspartner in Lateinamerika bis in unsere Tage mit einem Vertrauens- und Glaubwürdigkeitsproblem. Die schönen Worte panamerikanischer Rhetorik von US-Politikern haben allzu häufig im Gegensatz gestanden zu den hässlichen Fakten der USLateinamerikapolitik. Dies galt für Präsident Roosevelts good neighbor policy und Präsident Kennedys „Allianz für den Fortschritt“ genauso wie für die Enterprise for the Americas-Initiative von Präsident George Bush Sr. In lateinamerikanischen Medien werden immer wieder viele Facetten des politischen Glaubwürdigkeitsproblems der USA thematisiert, z. B. der dortige Umgang mit der Todesstrafe, die Weigerung von Ex-Präsident George W. Bush Jr., das Kyoto-Protokoll zu unterzeichnen oder dessen Nichtigkeitserklärung der Unterschrift seines Amtsvorgängers Bill Clinton unter das Abkommen über den Internationalen Strafgerichtshof (ein Vorgang, der von der Bush-Administration mit dem Neologismus unsign verbrämt wurde). Durch das Glaubwürdigkeitsproblem der USA wird auch die Demokratie-Klausel relativiert, die in dem FTAA-Vertragsentwurf vorgesehen war. Für die lateinamerikanischen Gesellschaften in ihrem keineswegs konsolidierten Prozess der (Re-)Demokratisierung kann diese Demokratie-Klausel nur insoweit einen Garantiewert haben, als auf ihre Durchsetzung Verlass ist – Verlass auch auf die USA, als dem mit Abstand stärksten Akteur innerhalb eines zukünftigen Regionalbündnisses. Zweifel daran werden nicht nur in Lateinamerika formuliert, sondern auch in den USA selbst. Im Hinblick auf die Rolle von US-Diplomaten bei dem gescheiterten Putsch gegen Venezuelas Präsidenten Hugo Chávez im April 2002 schrieb Paul Krugman in der New York Times (16.04.2002) unter der Überschrift „Losing Latin America“: „Surely the worst thing about this episode is the betrayal of our demo-

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cratic principles; ‘of the people, by the people, for the people’ isn’t supposed to be followed by the words ‘as long as it suits U.S. interests’.“ Meinungsumfragen des unabhängigen US-Forschungsinstituts The Pew Research Center For The People & The Press in acht lateinamerikanischen Ländern ergaben im Jahr 2002, dass das Ansehen der USA im Vergleich zu früheren Jahren deutlich gesunken war. Die Mehrheit der Befragten äußerte die Ansicht, dass die Politik der Vereinigten Staaten zu einer Verschärfung der Unterschiede zwischen Arm und Reich beitrüge, und dass die Weltmacht keinen entscheidenden Beitrag zur Lösung der Weltprobleme leiste. In allen lateinamerikanischen Ländern, die in die Meinungsumfrage einbezogen waren, wurde eine zunehmende „Amerikanisierung“ der eigenen Gesellschaft mehrheitlich abgelehnt – abgesehen von der verbreiteten Wertschätzung für US-Wissenschaft und Technologie und der imitierenden Bewunderung US-amerikanischer Massenkulturgüter. Durch den Irak-Krieg und die menschenrechtsverletzenden US-Praktiken in dem „Krieg gegen den Terrorismus“ haben die USA in der öffentlichen Meinung der lateinamerikanischen Gesellschaften weiter an Ansehen und Glaubwürdigkeit verloren. Ungeachtet ihrer sinkenden Popularität blieben die USA in dem FTAA-Projekt de facto die agenda-setting nation, während sich die lateinamerikanischen und karibischen Verhandlungspartner in der Rolle der rule takers befinden. Leider hält der rule maker die vereinbarten Spielregeln nicht immer ein. Dies wurde von lateinamerikanischen Akteuren in ihrer FTAA-Verhandlungsstrategie und in dem Kosten-Nutzen-Kalkül möglicher Alternativen berücksichtigt. Faktum ist, dass es innerhalb Lateinamerikas deutliche Meinungsunterschiede bei der Beurteilung des FTAA-Projektes und bei der auszuwählenden Verhandlungsstrategie gab und gibt. Die Befürworter verweisen auf die Vorteile des erleichterten Zugangs lateinamerikanischer Produzenten zu den nordamerikanischen Märkten. Kritiker des Vorhabens befürchten eine Integration der beiden Amerikas unter dem Sternenbanner, die angesichts der wirtschaftlichen Übermacht der USA einen Rückfall Lateinamerikas in die Rolle eines Primärgüterlieferanten des Kolonialzeittyps bedeuten würde. Ohnehin mag der Terminus „Gesamtamerikanische Freihandelszone“ aus lateinamerikanischer Perspektive irreführend erscheinen, solange die Liberalisierung des Handels durch nichttarifäre Hemmnisse in den USA und in Kanada begrenzt bleibt und solange US-Kapital zwar ungehindert nach Süden fließen kann, der nordwärts gerichteten Mobilität lateinamerikanischer Arbeitskräfte aber an den Grenzzäunen des Río Grande gewaltsam Einhalt geboten wird.

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DAS FTAA-PROJEKT AUS LATEINAMERIKANISCHER PERSPEKTIVE Schon einmal, vor mehr als 100 Jahren haben die USA einen Vorschlag zur Bildung eines gesamtamerikanischen Wirtschaftsblocks unterbreitet. Dies geschah auf der I. Konferenz der Amerikanischen Staaten, die 1889 / 90 auf Einladung des US-Präsidenten Grover Cleveland in Washington, D.C. stattfand. Damals schlugen die USA die Bildung einer kontinentalen Zollunion mit reziproken Vorzugszöllen für die teilnehmenden Länder aus den beiden amerikanischen Halbkontinenten vor; der Vorschlag zielte darauf ab, den US-Industrien in der gesamten Region Wettbewerbsvorteile zu verschaffen und die Konkurrenz aus Großbritannien und anderen europäischen Industrienationen auszuschalten. Allerdings scheiterte die Realisierung des Projektes an der fehlenden Unterstützung durch lateinamerikanische Staaten. Vor allem Argentinien, Brasilien und Chile lehnten die Idee einer gesamtamerikanischen Zollunion ab, durch die sie eine Gefährdung ihrer traditionellen Handelsbeziehungen zu Europa befürchteten. Die USA änderten daraufhin ihre Taktik und begannen, mit einzelnen lateinamerikanischen Ländern bilaterale Handelsverträge und präferentielle Zollabkommen auszuhandeln. So unterzeichneten beispielsweise die USA und Brasilien 1891 ein bilaterales Zollabkommen, von dem sich das südamerikanische Land ein Quasimonopol für den Zuckerabsatz auf dem US-Markt versprach. Aber schon wenig später handelten die USA ein ähnliches Abkommen mit Spanien aus, das den Zucker aus den spanischen Besitzungen in der Karibik ebenfalls zollvergünstigte, so dass brasilianischer Zucker seinen Wettbewerbsvorteil verlor. Und bereits 1894 kündigte US-Präsident Cleveland das Zollabkommen mit Brasilien und verhängte ohne vorherige Ankündigung einen 40-prozentigen Zoll auf Zuckerimporte aus Brasilien. Parallelen zu der gegenwärtigen (Handels-)Politik der USA gegenüber Lateinamerika sind unverkennbar. Der ursprünglich für Ende 2004 terminierte Abschluss des FTAA-Abkommens ist in weite Ferne gerückt, da die Verhandlungen de facto paralysiert sind. Bei dem Treffen der Handelsminister der 34 an dem FTAA-Projekt beteiligten Staaten Nord- und Südamerikas sowie der Karibik im November 2003 in Miami konnte man sich lediglich auf die Zustimmung zu einem Kompromiss auf der Ebene des kleinsten gemeinsamen Nenners verständigen. Dieser Kompromiss bedeutete, dass ein FTAA-Abkommen, sofern es überhaupt zustande kommt, nicht mehr beinhalten wird als eine „FTAA light“ – unverbindliche Rahmenvereinbarungen zur Förderung des Freihandels in den beiden Amerikas. Den teilnehmenden Ländern wird es möglich sein, sich selektiv und mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten an der Schaffung einer kontinentalen Freihandelszone zu beteiligen. Die USA, die ursprünglichen Hauptprotagonisten der Idee einer gesamtamerikanischen Freihandelszone, tendieren inzwischen erkennbar dazu, sich von dem FTAA-Projekt zu Gunsten bilateraler Handelsabkommen zu verabschieden. In solchen bilateralen Verhandlungen haben sie als agenda-setting nation ein noch stärkeres Gewicht als in multilateralen Verhandlungen und sie können mithin ihre eigenen Interessen leichter durchsetzen, ohne substanzielle Konzessionen machen zu müssen, während vor allem die kleineren lateinamerikanischen und karibischen

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Staaten als Verhandlungspartner bei einem Nebeneinander von multilateralen und bilateralen Verhandlungen kaum über die hierfür erforderlichen Managementkapazitäten verfügen. Schritt für Schritt formierten die USA eine „Parallel-FTAA“: Ein Freihandelsabkommen mit Chile trat am 1. Januar 2004 in Kraft, mit den zentralamerikanischen Staaten und der Dominikanischen Republik ist 2005 ein Central American Free Trade Agreement (CAFTA) abgeschlossen worden, im Februar 2009 trat ein Handelsabkommen mit Peru in Kraft, weitere bilaterale Freihandelsabkommen mit Panama und Kolumbien harren der Ratifizierung durch die Parlamente. Durch die Intensivierung der US-Angebote an die Andenstaaten sollen Bestrebungen Brasiliens und Venezuelas konterkariert werden, eine Comunidad Sudamericana de Naciones (CSN) zu schaffen, eine Staatengemeinschaft zwölf südamerikanischer Länder, mit dem Ziel einer verstärkten regionalen Kooperation und Integration. Alle an dem FTAA-Prozess beteiligten Staaten Lateinamerikas und der Karibik gehören einem oder sogar mehreren subregionalen Integrationsbündnissen an. Die Blockkohäsion dieser bestehenden Integrationsbündnisse hat sich durch die FTAAPerspektive bzw. durch bilaterale Handelsabkommen mit den USA nachhaltig verändert, so dass die bisherigen Integrationsstrategien unter Kosten-Nutzen-Erwägungen neu kalkuliert werden müssen. Dabei lassen sich drei Optionen unterscheiden: Erstens bietet sich die Strategie des bandwagoning an, des Schulterschlusses mit der US-Politik, sofern die eigenen Interessen mit denen der USA weitgehend übereinstimmen. Eine zweite Strategie ist die des counter-balancing, die Behauptung eigener lateinamerikanischer Positionen in der Auseinandersetzung mit den USA, indem versucht wird, die bestehenden subregionalen Integrationsprojekte zu vertiefen und zu erweitern. Drittens lässt sich eine Strategie kooperativer Konfrontation verfolgen, d. h. die Verweigerung unkonditionierter Gefolgschaft für das kontinentale Integrationsprojekt der US-Politik, mit der Absicht, durch Kooperationsverweigerung die Debatte in den USA zu beeinflussen und / oder die US-Administration in den FTAA-Verhandlungen zu Zugeständnissen zu bringen. Viele zentralamerikanische und karibische Staaten neigen der ersten Option zu; im Hinblick auf die geographische Nähe zu den USA und unter Berücksichtigung der bestehenden wirtschaftlichen Beziehungen betrachten sie das FTAA-Projekt – in stillschweigender Übereinstimmung mit den USA – als eine Süderweiterung der NAFTA, als Greater NAFTA. Mexiko hingegen, als bislang einziges lateinamerikanisches NAFTA-Mitglied, würde mit der FTAA (alias gesamthemisphärische NAFTA-Erweiterung) seinen bislang privilegierten Zugang zu dem US-Markt einbüßen. Für eine Strategie des counter-balancing fehlt den lateinamerikanischen Integrationsbündnissen die ökonomische und politische Potenz; dies gilt auch für das bislang bedeutendste regionale Integrationsprojekt in Lateinamerika, den MERCOSUR, den Gemeinsamen Markt des Südens, der 1991 von Argentinien, Brasilien, Uruguay und Paraguay gebildet wurde. Immerhin war Brasilien, die größte

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Volkswirtschaft Südamerikas, lange Zeit Wortführer jener lateinamerikanischen Staaten, die bei dem FTAA-Projekt der dritten Option einer kooperativen Konfrontation zuneigen. Die Schaffung einer Gesamtamerikanischen Freihandelszone wurde in Brasilien stets nur als eine von mehreren Integrationsoptionen betrachtet und die Beteiligung an dem FTAA-Prozess nicht um jeden Preis angestrebt. Seit die USA im Juni 1990 die Enterprise for the Americas Initiative lanciert hatten, ist die brasilianische Außenpolitik in ihrer Einstellung gegenüber gesamtamerikanischen Integrationsplänen im wesentlichen unverändert geblieben, auch wenn der diplomatische Ton im Laufe der Zeit gewechselt wurde. Aus der brasilianischen Perspektive wollen die USA das FTAA-Projekt als Instrument nutzen, um lateinamerikanische Integrationsvorhaben überflüssig zu machen und ein Lateinamerika nach US-Vorstellungen zu modellieren. Im brasilianischen Kongress wurde sogar die Forderung gestellt, die Frage eines möglichen Beitritts zu der Gesamtamerikanischen Freihandelszone durch ein Plebiszit entscheiden zu lassen. In Brasilien wird befürchtet, durch eine FTAA-Mitgliedschaft erhebliche Souveränitätsrechte zu verlieren, insbesondere bei dem Einsatz handels-, industrie- und technologiepolitischer Instrumente. Zudem wird die Gefahr gesehen, dass bei einer völligen Öffnung der brasilianischen Märkte aus dem labilen außenwirtschaftlichen Gleichgewicht des Landes wieder ein chronisches Ungleichgewicht wird. Dennoch hat die brasilianische Regierung seinerzeit einer Formalisierung der Verhandlungen zur Bildung der Gesamtamerikanischen Freihandelszone zugestimmt, verfolgte damit aber wohl die (vage) Hoffnung, als Gegenleistung Zugeständnisse der US-Administration zu erhalten. Pikanterweise hatte Brasilien als einer der Hauptgegenspieler der USA in dem FTAA-Prozess ab November 2002 zusammen mit den USA die Co-Präsidentschaft der Verhandlungen übernommen. Die brasilianische Außenpolitik pflegt die „südamerikanische Identität“ zu beschwören und sie kann sich darauf berufen, dass alle südamerikanischen Staatsoberhäupter bei ihrem Gipfeltreffen im Jahr 2000 in Brasília die Absicht bekräftigt haben, die in Südamerika bestehenden subregionalen Integrationsbündnisse über ein Freihandelsabkommen zu verknüpfen, und dabei auch Chile, Guyana und Surinam einzubeziehen. Freilich ist dieses von Brasilien lancierte Projekt einer Südamerikanischen Freihandelszone politisch schon wieder weitgehend obsolet geworden, nachdem 2006 mit der Aufnahme Venezuelas in den MERCOSUR (und dem gleichzeitigen Austritt des Landes aus der Andengemeinschaft) die nationalistischpopulistischen Kräfte in der Region Auftrieb erhalten haben, die in Präsident Hugo Chávez und dessen Vision einer „bolivarianischen Alternative für unser Amerika“ ihren Wortführer sehen. Präsident Chávez hatte schon am Vorabend des IV. Gesamtamerikanischen Gipfeltreffens der Staats- und Regierungschefs 2005 in dem argentinischen Mar del Plata angekündigt, dass das FTAA-Projekt bei dieser Gelegenheit beerdigt würde. Dies war dann auch faktisch der Fall. Das fünfte Summit of the Americas im April 2009 in Trinidad und Tobago stand ganz im Zeichen des neuen US-Präsidenten Barack Obama, der einen Neustart in den Beziehungen zwischen den USA und Lateinamerika ankündigte. Offiziell sollte das FTAA-Vorhaben zwar primär merkantilen Zwecken dienen, aber es hatte eben nicht nur eine ökonomische Dimension, sondern es diente auch

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politischen Zielsetzungen der USA. In gewisser Weise ging es bei dem FTAA-Projekt auch darum, Lateinamerika gegenüber dem europäischen Integrationsmodell zu immunisieren. Der erfolgreiche europäische Integrationsprozess mit seiner schrittweisen Süd- und Osterweiterung wird in Lateinamerika durchaus als Modellvorlage für eigene Integrationsbemühungen gesehen. Das EU-Modell beinhaltet grenzüberschreitende Regionalfonds zur Strukturangleichung und innergemeinschaftliche Ausgleichszahlungen für Integrationsverlierer – Mechanismen, die in der NAFTA nicht existieren und auch in dem Entwurf für den FTAA-Vertrag nicht vorgesehen waren, der sich eng an den NAFTA-Vertrag anlehnt. Die Unterschiede zwischen US-amerikanischen Integrationsvorstellungen und dem europäischen Integrationsmodell resultieren letztlich aus unterschiedlichen Konzeptionen des Gesellschaftsvertrages, der in der europäischen Tradition alle Bürger einbindet, das Privateigentum mit sozialen Pflichten verknüpft und Unterstützung für die Schwächeren verlangt. In den USA widersprechen Sozialbindung des Eigentums und staatlich organisierte Umverteilung dem nachdrücklich gepflegten Gründungsmythos. Eine Wahl zwischen wirtschaftlicher Integration nach US-Regeln und dem europäischen Integrationsmodell haben die schwachen lateinamerikanischen Volkswirtschaften realistischerweise nur dann, wenn ihnen konstruktive europäische Angebote gemacht werden. Dabei tut sich die EU allerdings schwer, wie die seit mehreren Jahren stockenden Verhandlungen über ein transatlantisches, bi-regionales Freihandelsabkommen mit dem MERCOSUR zeigen. Zwar verbindet die EU mit ihren Freihandelsangeboten auch entwicklungspolitische Unterstützungs- und Beratungsangebote, aber in der für Lateinamerika essentiellen Frage eines Abbaus des Agrarprotektionismus zeigen die Europäer genauso wenig Kompromissbereitschaft wie die US-Administration. In gewisser Weise ging und geht es bei dem FTAA-Projekt und dem US-Projekt einer „Parallel-FTAA“ auch um eine Neubestimmung des schwierigen transatlantischen Dreiecksverhältnisses USA – Lateinamerika – Europa. Bekanntermaßen sind Dreierverhältnisse nicht immer frei von Spannungen und unliebsamen Überraschungen. Wir Europäer dürfen also gespannt sein, ob sich doch noch erfüllt, was US-Präsident Taft 1910 äußerte; damals, als die hispano-amerikanischen Republiken das hundertjährige Bestehen ihrer Unabhängigkeit feierten, hatte Präsident Taft erklärt: Der Tag ist nicht fern, da drei Sternenbanner die Ausdehnung unseres Staatsgebietes kennzeichnen: eines am Nordpol, das andere am Panamakanal und das dritte am Südpol. Die ganze Hemisphäre wird in der Tat – wie jetzt bereits moralisch – unser sein, dank der Überlegenheit unserer Rasse.

Typisch amerikanisch? Nicht unbedingt, denn die Geisteshaltung hinter diesem Zitat des US-Präsidenten aus der Hochzeit des Imperialismus dürfte sich wohl nicht allzu sehr von dem Gedankengut unterschieden haben, das seinerzeit auch in Europa geäußert wurde. Wenn Europa heute dezidiert eine andere politische Haltung gegenüber Lateinamerika einnehmen will als die USA, dann genügt es nicht, bei Gipfeltreffen eine „strategische Partnerschaft“ zwischen Europa und Lateinamerika zu beschwören. Ein Unterschied zwischen europäischer und US-amerikanischer

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Lateinamerika-Politik müsste sich beispielsweise auch in substanziellen Zugeständnissen der Europäischen Union in Freihandelsabkommen mit lateinamerikanischen Partnern niederschlagen.

EUROPA UND DIE USA. WOZU BRAUCHEN WIR DIE AMERIKANER (NOCH)? Beate Neuss Im Jahr 2002 warf die konfrontative Politik gegenüber den Vereinigten Staaten – nicht zuletzt der Ton der Auseinandersetzung und schließlich der demonstrative Schulterschluss Deutschlands mit Frankreich und Russland – die Frage auf, ob dies nicht Vorboten eines „deutschen Weges“ wären, der einer transatlantischen Scheidung gleichkommt? Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder traf sich allein im Jahr 2003 sechs Mal mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, hatte jedoch 16 Monate keinen persönlichen Kontakt mit dem amerikanischen Präsidenten, worüber er eher Stolz als Befremden zum Ausdruck brachte. Wie kommentierte die amerikanische Seite das gestörte transatlantische Verhältnis? Condoleezza Rice, damals Sicherheitsberaterin des Weißen Hauses, gab die Devise aus: „Punish France, ignore Germany, forgive Russia“. Die deutsch-amerikanischen Beziehungen waren also seit dem Herbst des transatlantischen Missvergnügens, den explizit antiamerikanischen Äußerungen und der deutsch-französischen Gegenmachtbildung gestört. Keine Frage, es hatte sich eine Kluft zwischen Deutschen, Franzosen und Amerikanern aufgetan. Wir verstanden uns nicht mehr, Gesprächsfäden waren abgebrochen. Die Symptome waren eindeutig: Wir betrieben eine Exegese des bilateralen Verhältnisses, die an Kreml-Astrologie erinnerte: Der Händedruck Kanzler Schröders mit Präsident Bush wurde nach Sekunden gemessen – daraus schloss man auf die Temperatur der Beziehungen und stellte schließlich die Diagnose: sind die Beziehungen noch „vergiftet“ (poisoned) oder bereits wieder „entgiftet“ (depoisoned)? Es mag kein Gift mehr gespritzt worden sein, aber die Experten waren sich damals einig: es gab keine Chance, ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen den beiden damaligen Regierungsspitzen wieder her zu stellen. Das Funktionieren der administrativen Ebenen darunter konnte dieses Defizit nicht kompensieren, sobald es zu schwierigen politischen Fragen kam. Meinungsverschiedenheiten und Reibungen zwischen der Bundesrepublik und den Vereinigten Staaten gab es immer wieder – aber nie den Abbruch des Gesprächs auf höchster Ebene. Auch gingen die Verwerfungen der Jahre 2002 und 2003 tiefer als je zuvor; sie betrafen die Regierungsebene, die veröffentlichte Meinung, auch die in Umfragen gemessene Einstellung der Bevölkerung zu Amerika und den Amerikanern. Hier und dort entstand in der allgemeinen öffentlichen Debatte gar der Eindruck, dass nicht Staaten wie der Irak oder Nordkorea eine Gefahr darstellen, sondern die USA, ja, dass die Welt ein besserer Platz wäre, gäbe es die Weltmacht Amerika nicht.

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Lag dem gegenseitigen Missvergnügen die Unverträglichkeit von Spitzenpolitikern zugrunde oder doch eher ein struktureller Wandel der transatlantischen Beziehungen und eine auseinanderdriftende Weltsicht? Die Vereinigten Staaten waren und sind in Deutschland und Europa präsent. Durch Geschichte und Kultur sind beide, Europäer und Amerikaner, Teil einer atlantischen Gemeinschaft, wie es Hannah Arendt formulierte. Die USA sind durch ihr Engagement in Europa in den vergangenen 60 Jahren, durch ihre Mitgliedschaft in der NATO und der OSZE sowie durch ihre Direktinvestitionen in Deutschland und Europa eine europäische Macht. Sie sind es vor allem auch politisch. Weil Europa seine Probleme allein nicht lösen konnte und kann. Aber wird es nicht Zeit, dass wir Europa „europäisieren“? Dass wir eine eigenständige Weltpolitik, also Außen- und Sicherheitspolitik, betreiben, eine Gegenmacht gegen die Amerikaner schmieden, um unsere, durch unsere europäische Geschichte geprägte klügere, weil weniger auf militärische Macht und Intervention bauende Politik durchzusetzen? Wozu brauchen wir die Amerikaner noch? Diese Frage impliziert, dass wir – wir, das heißt: die Deutschen, die Europäer – die Amerikaner in Europa zumindest gebraucht haben. Es ist unabdingbar, einen Blick auf die amerikanische Rolle in Deutschland und Europa zu werfen, um die Frage nach den deutsch-amerikanischen Beziehungen und nach der transatlantischen Partnerschaft im 21. Jahrhundert zu beantworten. Nur in Verbindung mit der Stellung, den Aufgaben und der Bedeutung der Vereinigten Staaten in der Vergangenheit ist ihre Rolle in Europa im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts zu beurteilen. Auch eine Prognose über das transatlantische Verhältnis in den kommenden Jahren ist nur auf dieser Basis möglich. Dabei gibt es Unterschiede zwischen dem deutsch-amerikanischen und dem europäisch-amerikanischen Verhältnis zu beachten. Ich werde zu differenzieren versuchen. Schließlich war als eines der ersten Opfer der Konfrontation über den Irak-Krieg das europäische „Wir“ in der Außen- und Sicherheitspolitik zu beklagen. Die Antwort auf die Frage, ob das „alte“ und das „neue“ Europa überhaupt eine gemeinsame Außenpolitik betreiben wollen, hängt von der Antwort auf die Frage ab, ob und wie sich Europa europäisieren will. Wie wurden die USA zu einer bis heute offenbar unverzichtbaren europäischen Macht – was machte das deutsch-amerikanische bzw. europäisch-amerikanische Verhältnis aus? Ich werde zunächst die Rolle der USA als europäische Macht während des Kalten Krieges beleuchten, hier lautet die These: Die USA sind der von den Europäern eingeladene „wohlwollende“ Hegemon. Ich werde weiterhin auf das veränderte Verhältnis seit dem Ende des Kalten Krieges eingehen. Hier lautet die These: Der strukturelle Wandel der Beziehungen verändert die Qualität der Beziehungen. Ferner werde ich nach der Bedeutung der USA für Deutschland und Europa heute fragen. Die These hier: Bei allen Divergenzen und Problemen: Ein anderer Partner außerhalb Europas ist nicht zu sehen, beide Seiten sind aufeinander angewiesen.

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Abschließend werde ich eine Prognose für die künftige Entwicklung der Beziehungen wagen: Eine Europäisierung Europas in Form einer Gegenmacht zu den USA führt in die erneute Spaltung Europas und mindert seinen Einfluss in der Diskussion über die neue Weltordnung drastisch. DIE USA ALS EUROPÄISCHE MACHT: DER EINGELADENE, WOHLWOLLENDE HEGEMON Die Vereinigten Staaten wurden mit dem Eintritt in den Zweiten Weltkrieg zu einer europäischen Macht. Ihr zweiter militärischer Auftritt in Europa innerhalb nur weniger Jahrzehnte war durch den Eroberungsfeldzug Hitlers und durch die deutsche Kriegserklärung an die Vereinigten Staaten vom 11. Dezember 1941 erzwungen. Die Gefahr, dass die amerikanische Gegenküste in Europa von Asien bis zum Atlantik durch einen totalitären, nach innen und außen aggressiven Staat dominiert würde, der alle europäischen Partner der USA, mit Ausnahme Großbritanniens, unterjocht hatte und den U-Boot-Krieg bis vor die Küsten Amerikas trug, musste abgewendet werden. Anders als 1918 jedoch wollte Washington die Nachkriegsordnung nicht allein den Europäern überlassen. Der Rückzug in die Isolation nach dem Ersten Weltkrieg war nach Analysen aller führenden amerikanischen Politiker ein gravierender Fehler gewesen, weil die Nachkriegspolitik der Europäer – Stichworte Versailles und Reparationszahlungen – eine Ursache für den Zweiten Weltkrieg gewesen war. Dieser Fehler sollte nicht wiederholt werden. Den USA lag an einer grundlegenden Neuordnung Deutschlands – heute hat sich dafür der Begriff Regimewechsel eingebürgert – und Europas primär aus einem Grund: Der eigenen und der weltweiten Sicherheit. Sie wollten nicht innerhalb einer Generation erneut amerikanisches Blut auf europäischem Boden vergießen. Seit der berühmten Abschiedsrede George Washingtons galt: Europe is the continent where war is inherent – Europa als Kriege gebärender Kontinent. Diese Entwicklung der Geschichte sollte durchbrochen werden. Den Grund für die Kriege, nicht nur die des 20. Jahrhunderts, sahen die Amerikaner in den politischen Strukturen Europas: im Nationalstaatensystem mit seinen Kämpfen um Hegemonie und Gleichgewicht. Im Zentrum des Sicherheitsproblems stand im 20. Jahrhundert Deutschland. Der „deutschen Frage“ – für unsere europäischen und amerikanischen Partner immer die Frage nach der Rolle Deutschlands in Europa – kam somit Priorität zu. Sie war bald verwoben mit dem anderen Sicherheitsproblem, dem Kalten Krieg, in dem Deutschland „Frontstaat“ war. Da die Sowjetunion der von ihr eroberten Region gewaltsam ihr stalinistisches System aufzwang, revidierte Präsident Truman die Politik seines Vorgängers Roosevelt. Dieser hatte in den Kriegskonferenzen den Rückzug amerikanischer Truppen vom europäischen Boden innerhalb von zwei Jahren angekündigt. Der Kalte Krieg band die Vereinigten Staaten länger an Europa, als es eine europäische Neuordnung unter anderen Umständen getan hätte.

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In der Rolle des „benign hegemon“ (Joseph Nye), des gütigen Hegemons (Helga Haftendorn),1 handelte Washington als internationale Ordnungsmacht, nahm in seine Außenpolitik die Interessen anderer Staaten auf und kreierte ein System multilateraler Institutionen, dessen Mechanismen und Regeln Frieden, Sicherheit und Handel stabilisieren sollten und dem es sich selbst unterwarf. Vor diesem Hintergrund übernahmen die Vereinigten Staaten in den Jahren nach 1945 zwei Rollen in Deutschland und Europa, die sie bis heute spielen: Sie wurden zum European Pacifier2, also zum Friedensstifter und zum European Balancer, zur Ausgleichsmacht. Als pacifier gaben und geben sie Anstöße und Hilfe zur Neuordnung Europas und als balancer glichen und gleichen sie europäische Machtunterschiede aus: Das Gefälle zwischen dem bald wieder zu einem ökonomischen Koloss heranwachsenden Deutschland und seinen Partnern und das Machtgefälle zwischen Westeuropa und der weit nach Mitteleuropa vorgedrungenen Sowjetunion. In beiden Rollen gaben sie Deutschland und Europa überhaupt die Chance, sich zu dem zu entwickeln, was sie heute sind: demokratisch, wohlhabend, in der EU integriert, somit eingebunden in ein dauerhaftes, Frieden garantierendes Verflechtungssystem. Einige bedeutende Stationen auf diesem Weg zum pacifier und balancer seien hier kurz erläutert. Mit der Truman-Doktrin vom März 1947, dem Angebot, den freien Völkern Europas auch militärische Hilfe zu leisten, wurden die USA zum Garanten der Integrität Europas und Deutschlands: Ihr militärisches Gewicht war von nun an Substitut für die fehlende militärische Kapazität Westeuropas, das ausgeblutet und verarmt kein Gegengewicht zu der in fast voller Kriegsstärke verbliebenen Roten Armee bieten konnte. Für Europa war jedoch diese Bereitschaft der Amerikaner, sich dauerhaft militärisch an den Kontinent zu binden, eine unabdingbare Voraussetzung für seine Entwicklung. Erst die NATO, ein von den Westeuropäern gewünschtes Bündnis, das die USA an sie binden sollte, gab den Westeuropäern Sicherheit vor der Sowjetunion – und die Sicherheit, die es ihnen ermöglichte, den Wiederaufstieg einer souveränen Bundesrepublik zuzulassen. Weder die kleinen Nachbarn Deutschlands, noch Frankreich fühlten sich ohne amerikanische Präsenz sicher. Es kostete die britische und französische Regierung Überzeugungsarbeit, Washington sicherheitspolitisch an Europa zu ketten, und es kostete die amerikanische Regierung intensive innenpolitische Überzeugungsarbeit, die politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Voraussetzungen für das Engagement im MarshallPlan (3% des jährlichen Bruttosozialprodukts) und die Gründung der NATO zu schaffen. Das Atlantische Bündnis wurde auf Bitten der Europäer geschaffen “to keep the Americans in, the Russians out and the Germans down“– um den bekannten Satz des ersten NATO-Generalsekretärs, des Briten Lord Ismay zu zitieren. Der Einfluss der USA in Europa, ihre militärische Präsenz erfolgte auf Einladung. In den Worten Geir Lundestads konnten die USA ein „Empire by Invitation“ errichten.3 1 2 3

Helga Haftendorn, Der gütige Hegemon und die unsichere Mittelmacht: Deutsch-amerikanische Beziehungen im Wandel, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B29–30, 1999, S. 3–11. Josef Joffe, Europe’s American Pacifier, in: Foreign Policy 54, 1994, S. 64–82. Geir Lundestad, Empire by Invitation? The United States and Western Europe 1945–1952,

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Seine Aufgabe als European Pacifier sah Washington in erster Linie darin, dem europäischen Nationalstaatensystem eine Struktur zu geben, die ihm seine inhärente Kriegslüsternheit nahm: Der Marshall-Plan vom Juni 1947 hatte zwei Ziele: er sollte durch Wiederaufbau und Wirtschaftswachstum Wohlstand schaffen, um die verelendeten Nationen immun gegen den Kommunismus zu machen, und er war so strukturiert worden, dass er die kurz zuvor noch Krieg gegeneinander führenden Staaten zwang, wirtschaftlich miteinander zu kooperieren. Sie sollten ihre Isolation und gegenseitige Abgrenzung aufgeben, miteinander in politischen Gremien ihre Konflikte friedlich austragen. Wirtschaftliche Verflechtung als Schlüssel zu Wohlstand, Demokratie und Frieden – das waren die Ziele des Marshall-Plans. Die wirtschaftliche und schließlich politische Integration Europas in der Montanunion (EGKS), EWG und Euratom und später die Weiterentwicklung zur Europäischen Union, ihre zaghaften Versuche, in der internationalen Politik mitzusprechen, wären ohne die Rolle der USA nicht zustande gekommen. Diese Konzepte haben sich Europäer erdacht, angeregt von amerikanischen Politikberatern und deren Ideen, mit welchen Ansätzen der Nationalismus und das nationalstaatliche Denken auf dem alten Kontinent überwunden werden könnten, wie der zersplitterte, geschwächte und daher gefährdete Kontinent geeint werden könnte. Die Verhandlungen führten die Europäer. Sie führten nur zum Erfolg, weil die Präsenz der Amerikaner in der NATO die nötige Sicherheit bot – in der Rolle des balancer, und weil die amerikanische Diplomatie Kompromisse zwischen den Europäern vermittelte, die sie selbst nicht zustande gebracht hätten – in der Rolle des pacifier. Die Verhandlungen zu den europäischen Verträgen der 1950er Jahre konnten nur gelingen, weil die USA als Geburtshelfer zur Stelle waren. So überzeugte Washington Frankreich, Interessen des schwachen Deutschland zu berücksichtigen, Deutschland erfuhr, wo Grenzen französischer Kompromissfähigkeit waren. Großbritannien wurde davon abgehalten, den europäischen Integrationsprozess zu sabotieren. Die amerikanische Regierung wünschte ausdrücklich, dass ihr in den Europäern ein starker, selbstbewusster Partner heranwachsen möge.4 Deutschland und Europa konnten ihren erfolgreichen Weg nur gehen, weil er auf der sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Absicherung durch die USA beruhte. Die schwachen Nachkriegsregierungen Europas, in manchen Ländern zunächst noch unter starkem kommunistischen Einfluss, hätten kaum die Zuversicht besessen, die Voraussetzung einer wirtschaftlichen Dynamik ist, noch die Kraft gehabt, sich dem sowjetischen Druck auf westliche Positionen zu widersetzen, weder in Griechenland, noch in der Türkei, schon gar nicht im geteilten Berlin. Von zentraler Bedeutung war die Überzeugung Washingtons, an einem freien West-Berlin und an der Option einer deutschen Wiedervereinigung festzuhalten, in der Bundesrepublik stationiert zu bleiben und somit der Bundesrepublik und dem westlichen Europa das Gefühl der Sicherheit zu geben, unter deren Schutzschirm Europa seine Prosperität entwickeln konnte. Der von Kanzler Helmut Schmidt an-

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Journal of Peace Research 23 / 3, 1986, S. 263–277. Beate Neuss, Geburtshelfer Europas? Die Rolle der Vereinigten Staaten im europäischen Integrationsprozess 1945–1958, Baden-Baden 2000.

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gestrebte NATO-Doppelbeschluss intendierte, mit der Stationierung amerikanischer Raketen auf deutschem Boden das eurostrategische Gleichgewicht wiederherzustellen, die Abkoppelung der USA zu verhindern und die Anwesenheit amerikanischer Soldaten an der innerdeutschen Grenze zu erzwingen, um durch ihre unmittelbare Involvierung im Konfliktfall den Grad der Abschreckung zu erhöhen. Die Anbindung der USA an Europa war also bis 1990 stets ein essentielles Bedürfnis der Europäer. Umgekehrt ist das heutige Europa ganz entscheidend auch ein Produkt amerikanischer Politik – ohne amerikanisches Engagement sähe es anders aus – nicht zu unserem Vorteil. Der Prozess der deutschen Einheit und das Ende des Ost-West-Konflikts sah noch einmal die Amerikaner als herausragende Akteure in der Rolle des balancer und pacifier auf dem europäischen Kontinent: die deutsche Einheit setzte beides voraus. Ohne die nachhaltig den anderen europäischen Partnern wie auch Gorbatschow vermittelte Auffassung, dass ein vereintes Deutschland keine Gefahr für den europäischen Frieden darstelle; ohne die Versicherung Washingtons, auch ohne Ost-West-Konflikt an der NATO festzuhalten und somit in Europa zu verbleiben, wäre die deutsche Einheit nicht so schnell und nicht in so gutem Einvernehmen mit seinen west- wie osteuropäischen Partnern erfolgt.5 Die Politik der Regierung Bush senior war zentral in der Schaffung des Konsenses für diese einvernehmliche Regelung – ein Grund, warum Bush Jun. so sensibel auf die Äußerungen im deutschen Wahlkampf reagierte. Margaret Thatchers Memoiren referieren in aller Deutlichkeit das britische Misstrauen gegen ein wiedervereinigtes Deutschland.6 Sie stand nicht allein. Allein unter den Partnern Deutschlands standen vielmehr die Vereinigten Staaten: als vehemente Befürworter der deutschen Einheit. In den vier Jahrzehnten bis zur großen Zäsur 1989 / 90 ist die Rolle der Vereinigten Staaten für Europa die einer wohlwollenden Hegemonie gewesen. Das heißt nicht, dass es nicht intensive Reibungen im deutsch-amerikanischen oder amerikanisch-europäischen Verhältnis gegeben hätte. Kaum war die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft gegründet, prägten Handelskonflikte das Verhältnis: der Weg führte vom sogenannten Hähnchen- und Bananenkrieg zu Auseinandersetzungen über hormongefütterte Rinder und transgenem Mais. Der Vietnam-Krieg wurde von vielen europäischen Politikern kritisiert, besonders von den Medien und der Öffentlichkeit. Steter Reibungspunkt seit Ende der 1960er Jahre war die amerikanische Währungspolitik: ihr benign neglect gegenüber der Dollarstabilität führte zur Aufwertung der D-Mark und zu europäischen Währungsturbulenzen. Bitter konnten auch die Auseinandersetzungen über NATO-Doktrinen und Strategie sein: der Wechsel von der Doktrin der massiven Vergeltung – massive retaliation – zur flexiblen Antwort – flexible response – erfolgte gegen den Widerstand Bundeskanzler Adenauers. Die Stationierung von Waffensystemen führte zu Zwistigkeiten. Beispiele gibt es zuhauf. Die Gefährdung der Deutschen –nicht zuletzt die prekäre Sicherheitslage

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Philip Zelikow / Condoleezza Rice, Sternstunde der Diplomatie. Die deutsche Einheit und das Ende der Spaltung Europas, Berlin 1997. Margaret Thatcher: Downing Street No. 10. Die Erinnerungen, Düsseldorf, Wien u.a. 1993.

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Berlins – einerseits und die strategische Bedeutung des Landes für die USA andererseits sorgten im Kalten Krieg jedoch stets für eine Begrenzung der Differenzen. Immer wieder hat es also Kritik an dem amerikanischen Verbündeten gegeben: Seitens regierender deutscher Politiker eher im direkten Umgang mit dem Partner hinter verschlossenen Türen, nur gelegentlich auch öffentlich – so war Schmidts Kritik an Carters Sprunghaftigkeit und Inkonsistenz sehr wohl in der Presse nachzulesen. Auch andere europäische, nicht zuletzt französische Regierungsstimmen waren öffentlich zu vernehmen. Demonstrationen auf der Straße gingen über Kritik an amerikanischer Politik weit hinaus und gaben sich immer wieder gern gepflegten antiamerikanischen Klischees hin, die von keinerlei Differenzierungswunsch getrübt wurden: USA – SA – SS hieß es beispielsweise in den frühen 1970er Jahren. Auch die Vereinigten Staaten kritisierten ihre Partner: Europa sei wohlhabend geworden, aber militärisch zu schwach geblieben, um sich selbst zu verteidigen, geschweige denn fähig, die USA in ihrer Rolle als Ordnungsmacht auch außerhalb Europas zu unterstützen. Washington kritisierte, dass Europa sich mit einer teilbaren Entspannung abfand, übte Kritik an der europäischen Wirtschafts- und Handelspolitik, besonders aber der Agrarpolitik, und war enttäuscht, dass das vereinte Deutschland nicht die Rolle übernehmen konnte, die es der alten Bundesrepublik angeboten hatte: partners in leadership zu sein. Allerdings war stets klar, dass sich die gewünschte starke deutsche oder auch europäische Partnerschaft nicht in Form einer Gegenmachtbildung ausprägen durfte. Der deutsch-französische Freundschaftsvertrag, der angetrieben wurde von de Gaulles Bestreben, Deutschland von der Seite der USA weg zu ziehen, schürte amerikanisches Misstrauen, wie auch die ersten Versuche der EG, eine eigenständige europäische Außenpolitik zu schaffen. Henry Kissingers Opposition gegen die EPZ 1974 war nicht zu übersehen. Ebenso groß war später die Ablehnung von Plänen für eine WEU, die unabhängig von der NATO sein sollte. DAS NEUE TRANSATLANTISCHE VERHÄLTNIS: THE UNCHALLENGED HEGEMON ODER „AMERICANS ARE FROM MARS, EUROPEANS ARE FROM VENUS“7 Was war also neu an den Auseinandersetzungen der Jahre 2002–2004? War nicht alles schon da? Sahen wir tatsächlich eine Änderung in den deutsch-amerikanischen, europäisch-amerikanischen Beziehungen, einmal abgesehen von einer deutschen Regierungspartei, die den Einfluss auf den amerikanischen Partner durch Äußerungen im Bundestagswahlkampf 2002 verspielte? Neu war, dass die Strukturen der transatlantischen Beziehungen sich in den 1990er Jahren drastisch verändert haben. Damit musste sich die Qualität des Verhältnisses zwangsläufig ändern. Es würde nicht mehr den Charakter, das Vertrauen und die Nähe der Zeit während des Kalten Krieges zurück erhalten, sondern würde sich dauerhaft verändern. 7

Robert Kagan, Power and Weakness, in: Policy Review 113, June-July 2002, S. 3–28.

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Ironischerweise lag dies an dem Erfolg der amerikanischen Politik in Europa. Die Vereinigten Staaten und Europa haben die Rollen getauscht, die sie in den letzten Jahrhunderten gespielt haben. Zum einen: Die idealistischen Werte, die Europa in der Weltpolitik insbesondere während der Irakkrise hochhielt und an denen es noch immer festhält – Verrechtlichung und Multilateralisierung der internationalen Beziehungen, Integration, Toleranz, Konfliktlösung durch Handel und wirtschaftliche Instrumente, geduldiges Aushandeln und Vermitteln sind die Werte, die die USA den Europäern für ihr Binnenverhältnis nach 1945 vermittelt hatten. Es waren aber auch die Werte eines schwachen Amerika im 18. und 19. Jahrhundert, während die europäischen Staaten Machtpolitik betrieben und militärische Gewalt einsetzten. Washington konnte seinen Einfluss auf Europa im letzten Jahrhundert so geltend machen, dass dieses seine Werte höchst erfolgreich übernahm, allerdings nur, Ironie der Geschichte, weil sie nun selbst schwach waren und Amerika die machtpolitische Absicherung der europäischen Entwicklung übernommen hatte. Europa wurde Zivilmacht, weil Washingtons Machtpolitik den Europäern das schützende Gehege schaffte. Unmittelbar verändert hat sich 1990 das Abhängigkeitsverhältnis der Europäer von den USA. Vier Jahrzehnte lang war die Sicherheit Westeuropas auf Biegen und Brechen vom Engagement der Vereinigten Staaten in Westeuropa abhängig. Die USA hatten vermocht, den Westteil des Kontinents in eine Friedensordnung zu transformieren, sie konnte nun ausgedehnt werden auf Mittelosteuropa, mit der Hoffnung, dass Russland nicht nur seine Bedrohlichkeit verlieren würde, sondern sich als demokratischer Staat in westliche Organisationen einbinden lassen würde. Somit blieb nur auf den ersten Blick im transatlantischen Verhältnis nach 1989 / 90 zunächst alles beim Alten. Die Vereinigten Staaten blieben damals und bleiben heute unabdingbar in der Rolle des balancer: Sowohl die westlichen wie die östlichen Nachbarn sind dankbar für die amerikanische Präsenz, die eine doppelte Versicherung bedeutet: gegen ein Wiederaufleben deutscher wie russischer Hegemonialbestrebungen, also gegen die beiden Gefahren des 20. Jahrhunderts. Auch dies ist ein Grund für einige osteuropäische Staaten, sich eng mit den USA verbunden zu fühlen. Aber die Zäsur von 1989 / 90, der Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 ließ die USA auch als einzige Supermacht zurück, während Europa schwächer wurde, weil es seine strategische Bedeutung verlor und gleichzeitig nicht in der Lage war, Konflikte in seinem Vorhof zu bewältigen. Dabei hatte es zunächst so ausgesehen, als werde sich das vom Druck der Bedrohung seitens der Sowjetunion befreite Europa zu einem Machtfaktor in einer multipolaren Welt aufschwingen: „Im post-historischen Paradies des Friedens und Wohlstands“ (Kagan) schien Europa mit dem Maastrichter Vertrag zur Gründung der Europäischen Union nicht nur mit einer gemeinsamen Währung das weltpolitische Gewicht Europas zu stärken, sondern auch durch die Schaffung einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zu einem überregionalen Akteur zu werden. Amerikanische Wissenschaftler und Journalisten waren sogar geneigt, in der Europäischen Union die Supermacht des 21. Jahrhunderts zu sehen. Allerdings zeigte sich bald, dass die der Weltpolitik entwöhnten Europäer sich nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes erst recht auf sich

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konzentrierten und neue Gefahren sowohl in Europa, wie weltweit nicht wahrnehmen wollten.8 Die USA mussten wieder in der Rolle des pacifier agieren: Europa versagte auf dem Balkan. Gegen den kriegerischen Zerfallsprozess Jugoslawiens hatten die europäischen Staaten noch die Instrumentarien der in Gründung befindlichen Europäischen Union eingesetzt. Sie setzten ihre zivilstaatlichen Instrumente ein: Sie boten diplomatische Vermittlungsversuche zwischen den Kontrahenten an, setzten wirtschaftliche Anreize ein und die Drohung ihres Entzugs, also: Sanktionen. Sie unterschätzten, dass die nationalistische Fanatisierung außer Kraft setzt, was demokratische und marktwirtschaftliche Staaten antreibt, nämlich Wohlstandswahrung und Wohlstandsmehrung. Nach internen politischen Diskussionen, widersprüchlicher Politik zwischen Deutschland, Frankreich, Großbritannien und anderen europäischen Staaten galt die Hoffnung dem Einsatz der UNO. Sie mussten jedoch mit ansehen, wie UNO-Blauhelme wehrlos rassistischen Säuberungen und Exekutionen gegenüberstanden. Erst der militärische Eingriff der amerikanischen Luftwaffe beendete die Kriege auf dem Balkan. Aus diesen Ereignissen zogen Europäer und Amerikaner völlig unterschiedliche Schlüsse. Während die Europäer ihre Militärhaushalte auf niedrigem Niveau hielten und nur zögerlich mit dem Aufbau einer europäischen militärischen Komponente begannen, verstärkte die amerikanische Regierung Umstrukturierung, Modernisierung und Ausbau ihrer militärischen Kapazität. Das Auseinanderdriften der Bedrohungsanalysen beider Partner verstärkte die Entfremdung: Der Überfall des Irak auf Kuwait, die von Machtpolitik, Rassismus und Nationalismus angetriebene Politik im zerfallenden Jugoslawien, der Terrorismus gegen die USA 1993 mit dem ersten Anschlag auf das World Trade Center und auf die Botschaften in Afrika, das Wissen über ungesichertes Nuklearmaterial, chemische und biologische Kampfstoffe in der GUS verfestigte in Washington den Eindruck anarchischer internationaler Beziehungen, die nur mit machtpolitischen Instrumenten zähmbar seien. Während die Europäische Union sich in der Welt von John Locke und Woodrow Wilson sah, erkannte Washington die Welt des Thomas Hobbes.9 Insbesondere die Deutschen, die vierzig Jahre Frontstaat gewesen waren und auf dem Pulverfass gesessen hatten, waren nur auf sich konzentriert und hatten den Blick nicht frei für die neu entstehenden Gefahren. Sie gaben sich der Illusion einer Friedensdividende in einer nach europäischem Muster befriedeten Welt hin und waren nicht bereit, sich auch mental auf eine noch bedrohlichere Realität einzustellen. Entsprechend waren die Reaktionen: Die Europäer schränkten ihre Verteidigungsausgaben systematisch ein, sie gingen auf 2% des BIP zurück, für die Bundesrepublik waren es während der Irakkrise offiziell 1,5%, de facto nur gut 1%, wobei 55% der Mittel für Personalausgaben anfielen. Die USA hingegen hielten

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C. Fred Bergsten: America and Europe: Clash of the Titans?, in: Foreign Affairs 78, 1999, February-March, S. 20–34. Kagan, Power and Weakness.

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ihren Militärhaushalt auf 3% des BIP, in Anbetracht des rasanten Wirtschaftswachstums eine deutliche Steigerung in absoluten Zahlen. Damit sind wir bei einem weiteren Element des Strukturwandels in den Beziehungen: Europa vermochte weder Anfang der 1990er Jahre noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine einheitliche Politik zu formulieren. Aber selbst wenn es sie hätte formulieren können, es fehlte die Bereitschaft, der politische Wille, sie materiell, d. h. in den Verteidigungshaushalten abzusichern. Europa hat außenpolitische Ambitionen, zu dem ihm die Machtmittel fehlen. Aber nicht nur die Machtmittel fehlen: Die EU-Partner sind nicht einmal fähig, eine konsistente europäische Haltung zu formulieren. Trotz GASP gibt es keine einheitliche Haltung in Europa. Der Krieg um Kuwait und die Einsätze gegen Serbien machten Differenzen zwischen Europäern und Amerikanern deutlich, die auch danach relevant blieben: In beiden Fällen bewiesen die Europäer große Geduld bei Ausschöpfung aller diplomatischen Mittel und setzten große Hoffnungen auf die UNO. In der Zwischenzeit mussten viele Menschen ihr Leben lassen, Srebrenica steht hierfür als Symbol. Die USA jedoch sahen angesichts der Politik beider Diktatoren die Mittel der Diplomatie und Sanktionen als bereits ausgeschöpft an. Der Einsatz im Irak 1991, mehr noch der im Kosovo und schließlich der im Frühjahr 2003 im Irak, offenbarten zudem die Diskrepanz in den Potentialen drastisch: Europäer und Amerikaner, die NATO-Partner, sind in der Militärtechnologie Lichtjahre voneinander entfernt. Die Europäer haben die falschen Waffensysteme, zu unmoderne zudem, Ausrüstung wie Soldaten sind überwiegend noch immer ausgerichtet auf die historisch überholte Aufgabe einer Verteidigung gegenüber einem Angriff des Warschauer Pakts. Nur die USA verfügen über Waffensysteme, die power projection über weite Distanzen ermöglichen, mit präziser Wirkung und vergleichsweise geringen zivilen Schäden. Sie modernisieren diese Systeme in beachtlichem Tempo weiter. Die Unfähigkeit wie Unentschlossenheit der Europäer im Kosovo-Krieg ließen die USA von der NATO als „Dial and Error“ sprechen. Selbst weitgehend impotent, erbittet Europa amerikanische Einsätze, kritisiert dann aber amerikanische Entscheidungen. Die Rückständigkeit hat zwangsläufig ein geringeres politisches Gewicht, d. h. geringeren politischen Einfluss zur Folge, da Europa weder als vollwertiger Partner kooperieren, noch politische Strategien mit glaubwürdiger militärischer Drohung untermauern kann. In Anbetracht der neuen, durch den 11. September deutlich gewordenen Herausforderungen glaubte man im Washington der Administration George W. Bushs, Europa entfalle als politischer Partner von Gewicht. Somit bietet sich aus amerikanischer Sicht nur noch eine Arbeitsteilung an, in der die europäischen NATO-Partner für Washington Aufgaben der Logistik, der Sicherung des Friedens und des nation-building übernehmen. In der Arbeitsteilung zwischen Sheriff und Saloonkeeper liegt Treibstoff für den Kontinentaldrift. Wenn ich von Europäern spreche, muss hier natürlich differenziert werden: Die Briten, ungeschlagen im Zweiten Weltkrieg, mit einer langen Tradition militärischer Eingriffe außerhalb Europas, teilen amerikanische sicherheitspolitische Analysen öfter als die Kontinentaleuropäer. Amerikaner, Briten und Franzosen sind geprägt von der „lesson of Munich“, der Appeasement-Politik des Münchner Abkommens

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(1938). Ihr Wille, die Zukunft ihrer Nation durch aktive Weltpolitik mit zu gestalten, unterscheidet sie besonders von den Deutschen. Diese haben nach ihrer Geschichte im 20. Jahrhundert verständlicherweise ein besonders gebrochenes Verhältnis zum Einsatz von Machtmitteln. Frankreich geht es in erster Linie um die Markierung einer eigenen politischen Linie. DER 11. SEPTEMBER – EIN „TRANSFORMATIVE MOMENT“ AMERIKANISCHER POLITIK UND TRANSATLANTISCHER BEZIEHUNGEN Trotz aller tief empfundenen Mitleidsbekundungen in Europa: Der 11. September markierte einen tiefen Einschnitt. Die Vereinigten Staaten befinden sich seitdem subjektiv und objektiv im Krieg – die Europäer nicht. Da der Angriff am 11. September nicht unseren Bildern von einem Krieg entsprach, ebenso wenig wie die amerikanischen Reaktionen den üblichen Strategien der Terrorismusbekämpfung, und weil Europa diese Erfahrung des Terrorismus nicht teilt, waren die Reaktionen emotional wie politisch höchst unterschiedlich. Den Amerikanern wurde Überempfindlichkeit vorgeworfen, weil sie keine Erfahrung mit dem Terrorismus hätten. Hier liegt bereits das erste Missverständnis: auch die USA hatten Erfahrungen mit Terrortoten, sowohl im eigenen Land wie von Landsleuten außerhalb der eigenen Grenzen. Es ist die Dimension des Angriffs, es ist die enorme Zahl von Toten, die alle europäischen Länder zusammen in einer dreißigjährigen Periode des Terrorismus nicht erleiden mussten; es ist das Ziel des Anschlages – ein herausragendes Symbol der USA –, es ist die traumatische Erfahrung out of the blue im eigenen Land angegriffen zu werden und es ist das gewählte Mittel, das zivile Flugzeuge mit Passagieren zu einer militärischen Angriffswaffe transformierte. Zur neuen Dimension des Krieges gehört die langfristige und sophistizierte Vorbereitung des Anschlages durch eine globale Organisation. Aus amerikanischer Sicht mangelte es den Europäern nach dem Anschlag vom 11. September an ausreichender Sensibilität für die Neuartigkeit und Dimension der neuen sicherheitspolitischen Bedrohung. Der 11. September hatte für die USA zwei unmittelbar wirkende Folgen. Erstens: Der worst case, den die Planungsstäbe nach den Bombenattentaten auf das World Trade Center und die Botschaften in Ostafrika in den 1990er Jahre erörtert hatten, war eingetreten. Er demonstrierte, dass Bedrohungen nicht länger allein von Staaten ausgehen, sondern auch von transnational operierenden Netzwerken, von privaten Gruppen oder gar von Einzelnen. Die Folge dieser Erfahrung war, zweitens, eine noch geringere Toleranz gegenüber Staaten mit Massenvernichtungswaffen. Die von ihnen ausgehende potentiell noch größere Gefahr wurde nun erst recht als inakzeptabel angesehen. Washington suchte nach 2001 nach einer Eindämmung terroristischer Gefahren, auch solcher mit Massenvernichtungsmitteln, die von Gruppierungen wie von Staaten gleichermaßen ausgehen können. Eine Mehrheit in den USA sah und sieht im 11. Septem-

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ber eine neue Form des Krieges und nicht nur einen größeren terroristischen Anschlag. Washington reagierte zum Befremden der Europäer ebenfalls mit einer neuen Form des Krieges. Da das System der Abschreckung hier anders als im Kalten Krieg nicht griff, versuchten die USA mit den Mitteln der Prävention der Gefahr neuer, womöglich noch verheerender Attacken zuvorzukommen.10 „We can not let our enemies strike first“. Der 11. September machte den USA ihre asymmetrische Verwundbarkeit bewusst. Asymmetrisch, weil die Bedrohung nicht mehr in sowjetischer Nuklearbewaffnung gesehen wird, die als rationales und kalkulierbares Moment in einem System wechselseitiger gesicherter Vernichtung (mutual assured destruction – MAD) Abschreckung als gesichert erscheinen ließ. Gegen Selbstmordattentäter aber ist diese Abschreckung nicht mehr möglich. Sie können eine sensible, hoch technisierte Gesellschaft und Infrastruktur mit Massenvernichtungswaffen treffen oder zivile Mittel in Waffen verwandeln, ohne dass direkte Abschreckung noch möglich erscheint. Die neue Strategie versuchte den Gefahren durch Prävention zuvor zu kommen. Als eine Methode der Prävention erschien den USA dabei der Regimewechsel, um, so das erklärte Vorbild, wie nach dem Zweiten Weltkrieg durch eine politische Neuordnung Gefahrenherde zu beseitigen. Der Mittlere Osten erschien ihnen im besonderen Maße als Quelle vielfältiger Bedrohung. Für die Europäer war und ist die Situation subjektiv wie objektiv eine andere. Sie sind zunächst nicht angegriffen worden. Die Politik hatte dem Eindruck nicht entgegengewirkt, dass auch künftig die USA das gesuchte Ziel sein werden – auch die Planung eines Anschlags auf den Straßburger Weihnachtsmarkt 2000, die Attentate auf Djerba und Bali, selbst die Anschläge in Madrid 2004 und London 2005 sowie die verhinderten Anschläge auf Ziele in Europa – auch in Deutschland – haben dieses europäische Lebensgefühl nicht grundsätzlich verändert, denn die Anschläge in Djerba, Madrid und London unterscheiden sich von denen des 11. September durch ihre Größenordnung und die Wahl der Mittel. Anders als in Amerika werden die Dimensionen potentieller Angriffsmittel, wie nukleare Waffen, z. B. dirty bombs, sowie chemischer und biologischer Kampfstoffe nicht öffentlich diskutiert. Das lag nicht nur an dem Versuch der US-Regierung, mit den Warnungen den War on Terror zu legitimieren. Der BND z. B. hatte im Frühjahr 2002 auf die Veröffentlichung einer Bedrohungsanalyse für Deutschland gedrängt, die jedoch in einem Wahljahr nicht erscheinen durfte. Es sind in erster Linie die Briten, die seit 2004 die Öffentlichkeit für die Gefahr von verheerenden Anschlägen mit nuklearen, biologischen oder chemischen Komponenten sensibilisierten.11 Vor diesem unterschiedlichen Hintergrund mussten amerikanische und europäische, insbesondere deutsche Reaktionen auseinander klaffen. 10 Karl-Heinz Kamp, Von der Prävention zur Präemption? Die neue amerikanische Sicherheitsstrategie, in: Internationale Politik 12, 2002, S. 19–24. 11 In einem höchst ungewöhnlichen Schritt trat die Generaldirektorin von MI 5 an die Öffentlichkeit und wies auf die Möglichkeit von Anschlägen mit ABC-Material hin. Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. November 2006.

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So lebten Amerikaner und Europäer, zumal Deutsche, nach dem 11. September sowie im Zuge der Irakkrise in zwei unterschiedlichen Welten: 1. Sie unterschieden – und unterscheiden sich noch – in der Perzeption der Bedrohung wie in der als adäquat angesehenen Reaktion. Die meisten Europäer sahen die Bedrohungslage als tolerabel an; amerikanische Politiker waren nicht bereit, abzuwarten, bis sie sich verschlechtert, weil sie die Gefahren als zu groß einschätzten. Während die Amerikaner sich die Frage stellten, welche Gefahren drohten, wenn sie nicht eingriffen, im Irak zum Beispiel, fragten die Europäer hingegen fast ausschließlich, welche negativen Folgen ein Eingreifen haben würde. Amerikanische Politiker neigten dazu, ein Eingreifen als Beginn einer Lösung des Problems zu sehen, Europäer sahen es als den Beginn einer Katastrophe. Das war bei der Befreiung Kuwaits so, das war im Vorfeld des Irak-Kriegs so. Darin spiegeln sich unterschiedliche Mentalitäten, mehr aber noch unterschiedliche Machtpotentiale. Der Irak-Krieg verlief zunächst in drastischem Kontrast zu europäischen Prognosen: Weder kam es zu einem Stalingrad in der Wüste, noch zu Hunderttausenden von zivilen Toten. Erst Monate und Jahre nach den eigentlichen Kampfhandlungen entstanden auch in den USA auf breiterer Front Zweifel, ob militärisches Eingreifen zu einem erfolgreichen Regimewechsel und zum Frieden führt. Eine Schlussbilanz kann noch nicht erstellt werden. Eines ist indes klar: den Frieden zu gewinnen, erweist sich als größere Herausforderung, als den Krieg zu gewinnen. 2. Große Teile der „strategischen Gemeinde“ in den USA gehen – darin unterscheiden sie sich von den Europäern – nicht davon aus, dass Diktatoren sich an das internationale Recht oder an Resolutionen der Vereinten Nationen halten. Sie unterscheiden zwischen einer verrechtlichten internationalen Sphäre demokratischer Staaten, in der Regeln aufgestellt und eingehalten werden können und einer internationalen Sphäre des Krieges aller gegen alle – diktatorischer Staaten gleichermaßen wie fanatisierter Einzeltäter oder organisierter Gruppen – deren Opferzahlen in die Hunderttausende gehen können und wo der Regelbruch vorausgesetzt werden muss. 3. Wichtige Kräfte in Washington sahen das Völkerrecht als einen in Recht geronnenen Ausdruck einer konkreten weltpolitischen Lage, die bei neuen Herausforderungen die Anpassung des Rechts erforderlich oder es unter Umständen notwendig macht, sich darüber hinweg zu setzen; Europäer hingegen gehen davon aus, dass das internationale Recht die Anarchie des internationalen Systems eindämmen und transformieren wird und dass die Nichteinhaltung des Rechts die größeren Gefahren birgt. 4. Beide Seiten haben in den letzten 50 Jahren ihre Konzeption und ihr Verständnis von Souveränität getauscht: Europäische Staaten fassen Teile ihrer staatlichen Souveränität in der EU zusammen. Die Übertragung von Souveränität auf internationale Organisationen bleibt für die USA inakzeptabel. Die USA bestanden vielmehr auf ihrer uneingeschränkten staatlichen Souveränität, was bis heute anhält. Dies hat unterschiedliche Bewertungen und Strategien zur Folge. Die besonders von deutscher und französischer Seite stark kritisierte National Security Strategy von 2002, die sogenannte Bush-Doktrin, ist Ausdruck dieser Einschätzungen. Sie konstatiert für den souveränen Staat den Anspruch auf „pre-emp-

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tive strikes“ (vorbeugende Schläge) im Falle „einer spezifischen Bedrohung“.12 Damit reklamieren die USA eine moralisch begründete Legitimation uneingeschränkter Souveränität jenseits des Völkerrechts – mit mutmaßlich problematischen Rückwirkungen auf die internationalen Beziehungen. Andere Staaten werden gleiches Recht beanspruchen. Unterschiedliche Bedrohungswahrnehmungen, die vielstimmige, aber uneinheitliche europäische Reaktion und die aus den Balkan-Einsätzen herrührende Einschätzung, mit den Europäern gemeinsam nicht adäquat reagieren zu können, erweckte im Washington der Jahre 2002 und 2003 den Eindruck, in letzter Konsequenz auf sich allein gestellt zu sein. Warfare by committee, d. h. die Erörterung der Ziele vor jedem Lufteinsatz durch die beteiligten Nationen, wie im Kosovo, dies sollte nach dem 11. September nicht erneut versucht werden. Die Quintessenz: Die amerikanische Regierung nahm seit 2001 stärker als je zuvor den Primat der Entscheidungs- und Handlungsfreiheit in Anspruch. Sie führte den Krieg gegen den Terrorismus mit einer coalition of the willing, ohne bisher zu den als möglich erachteten militärischen Alleingängen gegriffen zu haben. Die Amerikaner agierten nicht unilateral, wie oft behauptet, sondern praktizierten einen Multilateralismus à la carte: Sie allein haben die Option, zwischen Unilateralismus und Multilateralismus zu wählen, weil sie die notwendigen Machtressourcen besitzen. Und so nutzten sie die NATO als tool box, indem sie Verbündete mit passenden Fähigkeiten für gemeinsame Aktionen auswählten. Die Europäer hingegen hatten und haben in ihrer Ohnmacht diese Option nicht. Sie müssen die USA multilateral einbinden, um eine gewisse Chance der Mitgestaltung, wenn schon nicht Mitentscheidung, wahrnehmen zu können. Auch aus der Verdrängung aus Entscheidungsprozessen resultierte die europäische Verstimmung. WOZU BRAUCHEN WIR DIE AMERIKANER NOCH? Was für ein Verbündeter ist diese Supermacht? Kann man mit ihr weiter zusammenarbeiten, wenn z. B. die für den Irak-Krieg gegebene Legitimation, nämlich ein Regime zu beseitigen, weil es Massenvernichtungswaffen hat, schließlich als Propaganda-Argument diskreditiert wird, wie es der stellvertretende amerikanische Verteidigungsminister Wolfowitz nach dem militärischen Sieg im Irak schließlich getan hat? Sicher, die Politik der Bush-Administration in ihrer Ungeduld gegenüber europäischen Positionen war von Arroganz der Macht geprägt. Ob es sich um das Kyoto-Protokoll handelte oder den Internationalen Strafgerichtshof, Washington ging einen Weg der Abstinenz bei multilateralen Vereinbarungen. Dem stand freilich eine Arroganz der Ohnmacht gegenüber. Die Europäer hatten nachweislich keine Lösung für internationale Probleme anzubieten und sie besaßen nicht die notwendigen Instrumente, weder auf dem Balkan, noch im Irak, noch im Nahen Osten. Sie hatten nicht den politischen Willen, an dieser Situation 12 Die Nationale Sicherheitsstrategie der Vereinigten Staaten vom 17. September 2002, in: Internationale Politik 12, 2002, S. 113–138.

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etwas zu ändern. Wenn es sich um einen griechisch-türkischen Inseldisput im Mittelmeer handelte, wenn Spanien und Marokko über die winzige Petersilieninsel stritten und erst recht, wenn es um die Befriedung des Balkans ging – Europa war nicht in der Lage, diese Probleme allein zu lösen. Die Europäer mussten und müssen auf die amerikanische politische Macht sowie amerikanische militärische Instrumente zurückgreifen, meinen dann aber, dass diese gemäß europäischen Vorstellungen eingesetzt werden müssten – eine nicht umsetzbare Konzeption. Zur Arroganz dieser Ohnmacht gehörte es auch, Argumente der USA – z. B. gegen das Kyoto-Protokoll und den Internationalen Strafgerichtshof – nicht mehr wahrzunehmen und sie nicht mehr ernsthaft zu diskutieren. Wenn also das Missvergnügen so beträchtlich ist, sollten dann nicht die transatlantischen Beziehungen gelockert werden? Die NATO-Ehe dauerte annähernd 60 Jahre – die Partner haben sich auseinander gelebt – also die Scheidung einreichen? Wofür brauchen wir die Amerikaner noch – stehen sie nicht, wie manche Äußerung vermuten lässt – einer „heilen Welt“ entgegen? Die provokative Gegenfrage lautet: Sähe nicht eine Welt ohne die Führungsrolle der Vereinigten Staaten sehr viel schlechter aus? Wer sonst könnte regulierend eingreifen, Gewalt eindämmen, schnell und mit den notwendigen Instrumenten? Wer sonst könnte in Regionen fern Europas Stabilität garantieren, die wichtig für unser politisches und wirtschaftliches Wohlergehen sind (Koreanische Halbinsel, die Sicherheit Japans und Taiwans)? Keiner der europäischen Konflikte nach 1990 entstand wegen den USA, sondern eher, weil die USA nicht von Anfang an zur Stelle waren. Richtig ist auch, dass die Europäer allein die Konflikte nicht eindämmen konnten. Entstanden die vielen neuen Herausforderungen, unter denen der politisch bedingte Terror in seiner neuen Dimension nur eine der Gefahren ist, entstand die neue Weltunordnung nur wegen den USA? Sicher nicht. Aber die Vereinigten Staaten wurden aufgrund ihrer Sichtbarkeit, ihrer Überlegenheit als Objekt der Bewunderung und des Hasses zum ersten Ziel des globalisierten Terrors. 1990 / 91 löste sich die bipolare Weltordnung auf. Eine neue ist noch nicht etabliert. Eine Weltordnung braucht Führung – wie alle Ordnungssysteme. Die Deutschen und andere europäische Staaten streben eine multipolare Welt an, vor allem weil ihnen dies eine stärkere Beteiligung an der Weltpolitik ermöglichen würde, aber auch, weil sie von einem Mächtegleichgewicht eine friedlichere Welt erwarten. Was aber gibt Anlass zu dieser letzten Vermutung? Sicher nicht die Erfahrung der europäischen Geschichte: Das multipolare Gleichgewichtssystem Europas konnte Kriege nicht verhindern. Da die Welt nicht friedlich ist und nach Prognose aller Experten allein aufgrund der Probleme eines rasanten Bevölkerungswachstums und ethnischer Auseinandersetzungen vermehrt Konflikte gebären wird, brauchen wir, brauchen die Europäer, die USA als Ordnungsmacht. Es könnte sogar im wohlverstandenen Eigeninteresse liegen, den USA eine globale Führungsrolle zuzugestehen. Gerade weil Europa keine Weltpolitik verfolgt bzw. verfolgen kann und weder Willen noch Potenzial für eine Führungsrolle besitzt, sind wir auf die Vereinigten Staaten angewiesen. Selbst die geplante europäische Eingreiftruppe, die 2003 entstanden ist, wird voraussichtlich erst jenseits des Jahres 2012 voll einsetzbar sein und wird wohl auf von Ame-

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rika gestellte militärische Infrastruktur und Logistik angewiesen bleiben. Wird die Eingreiftruppe in der Lage sein, größere Kampfeinsätze zu führen – ohne amerikanische Hilfe? Die Erfahrungen seit 1945 sprechen dagegen. Allerdings zeigten die Einsätze auf dem Balkan und im Kongo, dass die Europäer ein gutes Stück selbständiger sind als noch vor einem Jahrzehnt. Ferner: Es ist eine Illusion zu glauben, islamistische Terrorgruppen hätten lediglich die USA als Ziel. Sie sind das prime target, nicht das only target, wie Djerba, Bali, Madrid und London gezeigt haben. Auch hier bedarf Europa der amerikanischen Unterstützung, der Aufklärung, der technologischen Hilfe. Und es benötigt das amerikanische Abschreckungs- und Drohpotential. Die Eindämmung terroristischer Staaten und Gruppierungen bedarf vieler Strategien. Eine wichtige ist zweifellos, dem Terrorismus den sicheren Stützpunkt zu nehmen, d. h. Staaten auch mit militärischen Drohungen davon abzuhalten, Terroristen zu beherbergen. Eine weitere Strategie ist es, dafür zu sorgen, dass failing states, also zerfallende bzw. fragile Staaten, nicht von Terrororganisationen übernommen werden. Last but not least gilt die Droh- und Abschreckungskomponente auch gegenüber Staaten, die die internationale Sicherheit mit Massenvernichtungswaffen bedrohen. Wir vergessen gar zu leicht, dass erst die Kriegsvorbereitungen der USA den Irak unter Saddam Hussein dazu veranlasst hatten, die UN-Inspekteure nach vier Jahren wieder ins Land zu lassen. Nordkorea zeigte sich erst nach dem Irak-Krieg gesprächsbereit. Keine dieser Aufgaben wird Europa schultern können. Auch aus wirtschaftlichen Gründen brauchen wir eine funktionierende Partnerschaft. Die Vereinigten Staaten sind der Motor der Weltwirtschaft. Mehr als die Hälfte aller amerikanischer Direktinvestitionen sind in Europa getätigt (600 Mrd. $); 4,1 Mio. europäische Arbeitsplätze hängen an ihnen. Gleichermaßen sind die USA der Schwerpunkt europäischer Direktinvestitionen (800 Mrd. US $ und 7 Mio. Arbeitsplätze in den USA). Die finanzielle Abhängigkeit und der Grad wirtschaftlicher Verflechtung sind also sehr hoch. Die enge Verflechtung des transatlantischen Wirtschaftsraums verträgt keine tiefe Verunsicherung der politischen Beziehungen. Beide Seiten würden leiden. Vielmehr stehen Amerikaner wie Europäer vor den großen Herausforderungen durch den Aufstieg asiatischer Mächte: Nur gemeinsam lässt sich die Wahrung z. B. der Intellectual Property Rights, – eine wichtige Wurzel unseres Wohlstandes -, der Sozialstandards und – die Erkenntnis setzt sich auch allmählich in den USA durch – der Kampf gegen den Klimawandel erfolgreich bestehen. Die Divergenzen, die sich in den letzten 10–15 Jahren ergeben haben, gründen auf dem Unterschied der Machtressourcen, der daraus folgenden Einstellung zu Machtmitteln und der ebenfalls damit verbundenen Stellung in der Weltpolitik. Was sind amerikanische Machtressourcen? Das militärische Potential, selbstverständlich. Nach dem 11. September begann die Administration den Verteidigungshaushalt beträchtlich aufzustocken. Heute entspricht er der Summe der nachfolgenden elf größten Militärhaushalte. 300 000 Soldaten stehen in 140 Ländern. Dennoch ist der US-Militärhaushalt mit heute ca. 3,5% des BIP deutlich geringer als zu Zeiten des Kalten Krieges. Aber es ist nicht die militärische Kapazität allein. Gleichermaßen bedeutend sind die Bereiche Wissenschaft, Wirtschaft, ja auch Gesellschaft, also in den Worten von Joseph Nye die „soft power“ Amerikas. Ferner:

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Die USA sind ein dynamischer Staat. Ihre Bevölkerung hat sich seit 1950 fast verdoppelt – 2007 wurde die 300 Millionen-Marke überschritten. – und wird auf absehbare Zeit im Durchschnitt weit jünger sein als die europäische. Die Belastung der Sozialsysteme aufgrund der europäischen Überalterung wird Folgen für die europäische Handlungsfähigkeit haben. Die US-Wirtschaft verzeichnete bis Mitte 2008 nicht nur eine enorme Steigerung beim BIP, sondern auch bei der Zahl der Arbeitsplätze. Zwischen 1980 und 2000 wurden netto 35 Mio. neue Arbeitsplätze geschaffen (insgesamt 70 Mio., bei 35 Mio. Verlust). Am Vorabend der Finanz- und Wirtschaftskrise erwirtschafteten die Vereinigten Staaten 31% der weltweiten Produktion. Weiterhin: Die wissenschaftliche Innovationskraft der USA ist unübertroffen. Medizinische Forschung, Grundlagenforschung und Computertechnologie sprechen für sich. Auf diesen harten und weichen Machtfaktoren gründet sich die amerikanische Position. So war es den Vereinigten Staaten möglich, einen hohen Militärhaushalt beizubehalten, wovon Europa, das seine Verteidigungsausgaben kürzte, profitierte. Washington benötigte den Militärhaushalt, weil es sich auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion als Ordnungsmacht in einer weltweiten Verpflichtung sieht und als Sicherheitsgarant einsteht. Unser eurozentristischer Blick übersieht oft, dass Washington als pacifier und balancer, also als Ordnungsmacht, auch im Fernen Osten engagiert ist: Es garantiert die Sicherheit der zweitgrößten Industriemacht Japan, Taiwans und Südkoreas – und damit das Funktionieren der Weltwirtschaft, folglich auch den Wohlstand und die Zukunftschancen Europas. Wenn man wohl zu recht davon ausgeht, dass eine dauerhafte Partnerschaft auf einem Wertekonsens beruht, so bieten sich nur die Vereinigten Staaten an – und den USA nur Europa! Umfragen zeigen, dass die Übereinstimmung in den grundlegenden Werten und Ansichten, aller Divergenzen zum Trotz, nach wie vor sehr hoch ist. Dennoch unterscheiden sich beide Seiten nicht nur in der Einschätzung ihrer eigenen Gefährdung, sondern zunehmend auch in ihrer wertgebundenen Weltsicht. Die Amerikaner sind nach einer Untersuchung des Council on Foreign Relations das patriotischste Land der westlichen Welt. Eine beachtliche Zahl der USBürger schätzt traditionelle, moralische Werte wie Religion und Familie und sieht auch die internationale Politik in moralischen Kategorien – das schlug sich im Sprachgebrauch der Bush-Administration nieder: axis of evil. Diese Werte und die Art ihrer Artikulation sind den Europäern fremd geworden. Diese Wertestruktur bewirkte auch eine unterschiedliche Sichtweise der Weltpolitik und fördert in Amerika die Bereitschaft für Verteidigungsausgaben. WAS WIRD AUS DEN EHEMALS HERZLICHEN BEZIEHUNGEN? Nun, herzlich wurden die Beziehungen während der Amtszeiten Bushs und Schröders nicht wieder. Das lag an persönlichen Unverträglichkeiten, liegt aber auch an den veränderten transatlantischen Strukturen. Deutschland war unter Schröders Kanzlerschaft als Partner nicht mehr relevant, weil es seine Haltung kategorisch festgelegt hatte und mit dem damaligen

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Frankreich die Koalition gegen die USA orchestrierte. Die Irakfrage im Wahlkampf zu instrumentalisieren, wie Schröder es tat, hatte einen anhaltenden Einbruch deutschen Einflusses zur Folge. Deutschland als designierter partner in leadership war einmal primärer Ansprechpartner der Amerikaner in Europa, weil es anders als die Briten voll in der EU und ihrer Währungsunion und anders als die Franzosen voll in der NATO integriert war. Die Rolle als bedeutender Partner der USA sicherte ihm auch eine besondere Wertschätzung Moskaus. Die osteuropäischen Staaten, wie auch Spanien und Italien orientierten sich mit Vorliebe an Berlin. Diese Zeiten sind auch nach dem Auftauen der Beziehungen nach dem Amtsantritt Angela Merkels als Bundeskanzlerin 2005 vorbei. Die Aufgabe der rot-grünen Bundesregierung 2002 wäre es gewesen, als Land mit großem Einfluss einerseits die Europäer zu einer gemeinsamen Haltung zusammen zu führen, andererseits mit ihnen gemeinsam auf die Haltung der USA einzuwirken. Da es auf jegliche Einflussnahme verzichtete, weder die Europäer zusammenführte, noch das Gespräch mit dem amerikanischen Präsidenten suchte, vielmehr den Vertrauensbruch beging, nicht, wie dem Präsidenten in Berlin im Mai 2002 zugesagt, die Irakfrage aus dem Wahlkampf heraus zu halten, war das Ansehen Deutschlands in Washington während der Irak-Krise dramatisch gesunken. Großbritannien wurde, als sich die Bundesregierung auf den „deutschen Weg“ begab, bestärkt, sich den USA als Partner anzubieten. Frankreich unter Jacques Chirac erhöhte 2002 / 2003 seinen Einfluss, indem es gemeinsam mit den Russen eine Sicherheitsratsresolution auf den Weg brachte. Italien, Spanien und neue NATO-Mitglieder im Osten und künftige EU-Mitglieder stellten sich an die Seite Washingtons und damit Londons. Der Verlust an Ansehen und Einfluss wurde in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts verschärft durch die deutsche Wirtschaftslage. Der „kranke Mann Europas“ wirkte seinerzeit dämpfend auf das europäische Wirtschaftswachstum und weckte allerorts Sorgen: Die „Fäule im Herzen Europas“13 wirkte sich auch auf den Europäischen Konvent aus, in dem das traditionell für eine Vertiefung und Föderalisierung der Integration stehende Deutschland mit seinen Anliegen nicht mehr ernst genommen wurde. Mit Blick auf Amerika wie auf Europa: Deutschland konnte nur noch reagieren, nicht mehr führen. Auch das führte zu einer Belastung des transatlantischen Verhältnisses. Die Blockadeversuche haben Deutschland unter der Kanzlerschaft Schröders, noch mehr als Frankreich unter dem damaligen Präsidenten Chirac, in das politische Abseits geführt und beide Länder vorübergehend ihrer Gestaltungsmacht, insbesondere der Möglichkeit, Einfluss auf Washington auszuüben, beraubt. Was gebietet also das deutsche und europäische Interesse nach dem Ende der Irak-Krise und der (auch) daraus resultierenden transatlantischen Verstimmung? Die Fortsetzung und Intensivierung der damaligen deutsch-französisch-russischen Politik, nämlich die Bildung einer Gegenmacht, um die USA einzudämmen ist nicht nur deutschen, sondern auch europäischen Interessen entgegengesetzt. Die Bildung einer Gegenmacht im Sinne einer Blockademacht war und ist aussichtslos und kontraproduktiv: aussichtslos, weil dazu militärisches Potential gehört, das Europa we13 Rot at Europe’s Core, Newsweek, 13. Januar 2003, S. 24 ff.

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der aufbringen will, noch kann. Aussichtslos, weil es Europas politischen und ökonomischen Interessen schaden wird. Aussichtslos, weil es Europa spalten würde und weil Russland immer der Freund des Mächtigsten sein will und es sich nicht mit den USA verderben würde. Kontraproduktiv würde die Gegenmachtbildung sein, weil der amerikanische Hegemon in dieser Situation nicht länger als gütiger Hegemon agieren würde: Es wird kein gegen die USA geeintes Europa geben können, weil viele Europäer dies nicht wollen und weil Washington allemal über ausreichend „soft power“ verfügt, um wichtige Staaten aus der europäischen Front herauszubrechen. So ist eine europäische Verteidigung ohne London unvorstellbar. Aber keine britische Regierung würde sich an einer von der NATO und somit den USA völlig losgelösten Sicherheitspolitik beteiligen. Die Beschädigung der transatlantischen Beziehungen, wie sie nach dem August 2002 zu beobachten war, hatte bereits schwerwiegende Kollateralschäden zur Folge: Die EU-Mitglieder waren in außenpolitischen Fragen noch nie so weit voneinander entfernt, wie zur damaligen Zeit. Das Misstrauen war in der EU seit langem nicht so groß wie damals, noch heute hat die Regierung Merkel mit den Folgen zu kämpfen. Die damalige Strategie Chiracs und Schröders, ein „europäisches Europa“ im Gegensatz zu einem „atlantischen Europa“ zu konstruieren, verspricht auch längerfristig keinen Erfolg. Zu sehr ist den europäischen Politikern bewusst, dass die Gegnerschaft zur Hegemonialmacht den eigenen Interessen nicht förderlich ist. Wenn nicht Gegenmachtbildung, was liegt dann im europäischen Interesse? Im europäischen, letztlich aber im gegenseitigen transatlantischen Interesse wäre eine Rolle Europas als Partner der USA, durchaus auch im Sinne einer partnerschaftlichen Korrektivmacht. Ein dominantes, aber isoliert agierendes Amerika dient nicht den europäischen oder globalen Interessen. Aber wie gelingt die partnerschaftliche Umarmung der Vereinigten Staaten? Die Europäer brauchen einen Partner in der Weltpolitik. Gleiches gilt aber für die Hypermacht USA, unabhängig davon, ob in Washington die Hegemonialisten dominieren – wie unter George W. Bush – oder nicht. Die Hegemonialisten gingen, bestärkt von der europäischen Blockadepolitik zur Zeit des Irak-Kriegs davon aus, dass amerikanischen Interessen besser gedient sei, wenn es die außenpolitischen Ziele allein definiert und das Aufkommen anderer Mächte verhindert. Aber auch die amerikanische Hypermacht ist einsam, denn die Probleme in dieser vernetzten Welt lassen sich nicht alleine lösen: Terrorbekämpfung, nation building, Bekämpfung internationaler Kriminalität und vor allem friedenssichernde Maßnahmen setzen enge und vertrauensvolle Kooperation voraus – ganz zu schweigen von der Bekämpfung der Weltwirtschaftskrise. Washington konnte und kann nicht alle Probleme alleine schultern. Joseph Nyes Bild von den internationalen Beziehungen als eines Schachspiels auf drei Ebenen, bei dem nur auf der obersten Ebene nach unilateralen Regeln gespielt wird, ist zutreffend.14 Schon die Wirtschaft erzwingt Multilateralismus: Beide atlantische Seiten prägen mit ihrer Wirtschafts- und Handels-

14 Joseph S. Nye Jr., The Paradox of American Power. Why the world’s only superpower can’t go it alone. New York 2002.

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Beate Neuss

macht das internationale Wirtschaftssystem. Das geht nur miteinander – nicht gegeneinander. In Anbetracht der Herausforderungen durch die Folgen der Globalisierung für die Wirtschaft und Gesellschaft (z. B. Weltarbeitsmarkt, Sozialstandards), der Gefahren durch den Terrorismus und die Strukturveränderungen im internationalen System: Wer käme da als enger Partner für die Europäer in Frage? Das autoritäre Russland? China, Indien? Wer teilt die gleichen Werte und das gleiche Menschenbild? Je diffuser und gefährlicher die weltpolitischen Gefährdungen sind, desto eher brauchen die Europäer die Amerikaner – das gilt auch umgekehrt. Was war und ist zu tun? Zunächst musste das deutsch-amerikanische Verhältnis repariert werden – eine mühevolle Angelegenheit, die Bundeskanzler Schröder in seinem letzten Amtsjahr bereits begonnen hatte. Angela Merkel ist es seit 2005 bis zum Ende der zweiten Amtszeit George W. Bushs gelungen, die Reparaturarbeit fortzusetzen und Vertrauen zurück zu gewinnen, trotz offener Worte zu Guantanamo und anderen Verletzungen internationalen Rechts. Ohne die konstruktive Mitwirkung der heimlichen Führungsmacht in Europa ist eine annähernd gleichgewichtige Partnerschaft der EU mit den USA, die in der Lage wäre, die amerikanische Regierung zu beeinflussen, nirgendwo erkennbar. Um weiterhin Einfluss auf die amerikanische Regierung zu gewinnen, ist ein einheitliches Auftreten Europas unabdingbar, dieses zu vermitteln, war traditionell die Rolle Deutschlands, bevor es 2002 den Weg der Spaltung antrat. Da Europa als Staatenverbund einen bürokratischen und langwierigen Entscheidensprozess nicht vermeiden kann und in der militärischen Komponente schwach bleiben wird, werden die Amerikaner die Europäer bzw. die EU vielleicht nicht als gleichgewichtigen Partner anerkennen – aber wohl doch als Partner. Die Europäer werden ihren Anteil in der Partnerschaft leisten müssen, dazu gehört gewiss auch ein effizienteres, spezialisiertes militärisches Potential und die politischmoralische Rückendeckung amerikanischer Politik. Die schwerfällige Entscheidungsfindung und der große Unterschied in der militärischen Leistungsfähigkeit der Europäer wird weiterhin zu ad hoc Koalitionen mit NATO- und EU-Partnern führen, abhängig vom Potential, das sie zu bieten haben, zusammengestellt nach den Bedürfnissen Washingtons: „The mission defines the coalition.“ Ferner können die Europäer den USA unverzichtbare politische und wirtschaftliche Hilfe anbieten, wie auch politische Flankendeckung für eine amerikanisch dominierte Weltordnungspolitik. Die Europäer werden ihre gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik intensiver und effektiver gestalten müssen – notfalls auch ohne europäische Verfassung. Dennoch werden die militärischen Defizite eine Arbeitsteilung erzwingen. Wir werden uns auf diese Arbeitsteilung einlassen, nicht gerne und mit den bekannten Folgen: Wie immer die USA handeln – die Europäer werden lamentieren. Die Vereinigten Staaten werden in der Rolle des Weltpolizisten peace enforcement betreiben – wiewohl nach dem Irak-Debakel deutlich zurückhaltender; die Europäer werden, ihren Möglichkeiten entsprechend, ihre Instrumente als Zivilmacht einsetzen und den erzwungenen Frieden wirtschaftlich absichern. Zufrieden mit der Arbeitsteilung wird keine der Seiten sein – viel Raum für transatlantische Ressentiments!

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Sollten wir uns dennoch auf die Arbeitsteilung und auf die Rolle der USA als Partner einlassen? Ja! Nur so kann wieder Einfluss gewonnen und erhalten werden. Nur so kann auch die wohl nun unabdingbare Reform des Völkerrechts unter Einbeziehung der USA erreicht werden, was allein seine Durchsetzbarkeit garantiert. Eine völkerrechtliche Ordnung ohne oder gegen die USA ist von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Madeleine Albright hat Recht: Die USA sind eine „unverzichtbare Macht“ – in jeder Hinsicht. Deutschland und Europa tun gut daran, diese Erkenntnis in ihre politischen Konzeptionen aufzunehmen. Das Scheitern der amerikanischen Irak-Politik und das Wiedererstarken der Taliban in Afghanistan hat seit 2006 zu einem erkennbaren Umdenken in den USA geführt – die Politik unter dem Zeichen des Mars war keine Lösung, was eine neue Offenheit gegenüber europäischen Ansätzen der Konfliktlösung bewirkt hat. So sollte in Washington zu Beginn der Amtszeit Barack Obamas die Erkenntnis Wurzel schlagen, dass Europa der „unverzichtbare Partner“ ist – entsprechend sollten beide Seiten ihren Umgang miteinander gestalten: partnerschaftlich, kritisch, nicht konfrontativ.

AUTORINNEN, AUTOREN UND HERAUSGEBER Besier, Dr. Dr. Gerhard, Professor für Europastudien und Kirchengeschichte im 20. Jahrhundert, Philosophische Fakultät, Technische Universität Dresden. Brugger, Dr. Winfried, Professor für Öffentliches Recht, Allgemeine Staatslehre und Rechtsphilosophie, Juristische Fakultät, Juristisches Seminar, Universität Heidelberg. Demandt, Dr. Alexander, Professor em. für Alte Geschichte, Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin. Fischer-Hornung, Dr. Dorothea, Universitätsdozentin, Anglistisches Seminar, Neuphilologische Fakultät, Universität Heidelberg. Gamerith, Dr. Werner, Professor für Regionale Geographie, Philosophische Fakultät, Fachbereich Geographie, Universität Passau. Gassert, Dr. Philipp, Professor für die Geschichte des europäisch-transatlantischen Kulturraumes, Philologisch-Historische Fakultät, Universität Augsburg. Junker, Dr. Dr. h.c. Detlef, Distinguished Senior Professor der Universität Heidelberg, Gründungsdirektor des Heidelberg Center for American Studies (HCA), Universität Heidelberg. Kemmerling, Dr. Andreas, Professor für Philosophie und Fellow des Marsilius-Kollegs, Philosophische Fakultät, Universität Heidelberg. Krakau, Dr. Knud, Professor em. für Neuere Geschichte, John F. Kennedy-Institut für Nordamerikastudien, Abteilung Geschichte, Freie Universität Berlin. Mausbach, Dr. Wilfried, Wissenschaftlicher Geschäftsführer des Heidelberg Center for American Studies (HCA), Universität Heidelberg. Neuss, Dr. Beate, Professorin für Internationale Politik, Institut für Politikwissenschaft, Philosophische Fakultät, Technische Universität Chemnitz. Sangmeister, Dr. Hartmut, Professor für Entwicklungspolitik und Studiendekan, Alfred-Weber-Institut, Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Universität Heidelberg. Schmidt, Dr. Manfred G., Professor für Politische Wissenschaft und Dekan der Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Institut für Politikwissenschaft, Universität Heidelberg. Schmidt-Beste, Dr. Thomas, Professor of Music and Head of School, College of Arts and Humanities, School of Music, Bangor University, Wales. Schulz, Dr. Dieter, Professor em. für Amerikanische Literaturwissenschaft, Anglistisches Seminar, Neuphilologische Fakultät, Universität Heidelberg. Thunert, PD Dr. Martin, Universitätsdozent für Politikwissenschaft, Heidelberg Center for American Studies, Universität Heidelberg.